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OSTEUROPA-INSTITUT IN BRESLAU

JAHRBUCHER FOR

KULTUR UND GESCHICHTE DER SLAVEN

IM AUFTRAGE DES OSTEUROPA-INSTITUTS HERAUSGEGEBEN VON

FELIX HAASE-BRESLAU, ERDMANN HANISCH-

BRESLAU, ROBERT HOLTZMANN-BERLIN, JOSEF

MATL - GRAZ, HEINRICH FELIX SCHMID-GRAZ,

KARL STAHLIN-BERLIN, KARL VOLKER- WIEN, WILHELM WOSTRY-PRAG

SCHRIFTLEITUNG: ERDMANN HANISCH

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N. F. BAND VI 1930

PRIEBATSCH’S BUCHHANDLUNG BRESLAU, RING 58

Reprinted with the permission of Osteuropa - Institut JOHNSON REPRINT CORPORATION JOHNSON REPRINT COMPANY LTD.

111 Fifth Avenue, New York, N.Y. 10003 Berkeley Square House, London, W. 1

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First E 1966, Johnson Reprint Corporation

Printed in West Germany Druck: Anton Hain KG, Meisenheim (Glan)

OSTEUROPA-INSTITUT IN BRESLAU

JAHRBUCHER FOR KULTUR UND GESCHICHTE DER SLAVEN

IM AUFTRAGE DES OSTEUROPA-INSTITUTS HERAUSGEGEBEN VON

PAUL DIELS-BRESLAU, FELIX HAASE -BRESLAU, ERDMANN HANISCH-BRESLAU, ROBERT HOLTZ- MANN -BERLIN, JOSEF MATL-GRAZ, HEINRICH FELIX SCHMID-GRAZ, KARL STAHLIN- BERLIN, KARL VOLKER-WIEN, WILHELM WOSTRY-PRAG

SCHRIFTLEITUNG: ERDMANN HANISCH

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N. F. BAND VI HEFT I 1930

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PRIEBATSCH’S BUCHHANDLUNG BRESLAU, RING 58, UND OPPELN

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I ABHANDLUNGEN

POLEN UND DIE WELTWIRTSCHAFT®*)

Von Dr. S. Gargas, Privatdozent an der Universität Amsterdam.

Polen ist in Schmerz und Wehen am Ende des Weltkrieges November 1918 wiedergeboren. Diese Wiedergeburt erfolgte ın- mitten eines beinahe weltwirtschaftlichen Chaos und in einer, gerade für Polen besonders prekären wirtschaftlichen Lage. Wiewohl es selbst kein kriegführender Staat gewesen ist, waren die wirtschaftlichen Folgen und Nachwehen des Krieges hier viel schwerwiegender wie sonst in Mittel- und Westeuropa. Vor allem, weil der Krieg und der Kriegszustand mit all seinen wirtschaftlichen Zwangsmaßregeln und siner Vernichtung von Kapital und Menschenleben, hier zwei volle Jahre länger gedauert hat als sonst in Europa. Haben sich doch hier beinahe unmittelbar nach dem Weltkriege die Kämpfe mit den Ukrainern und der Krieg mit Sovet-Rußland angeschlossen, dem erst der Friedensvertrag von Riga 1921 ein Ende gemacht hatte.

Und sodann war auch Polen, der polnische Staat, nicht Subjekt des Weltkrieges, war es kein Kriegspartner im eigentlichen Sinne des Wortes, aus dem einfachen Grunde, weil Polen als Staat zur Zeit des Weltkrieges überhaupt nicht bestanden hatte, so war es nichtsdesto- weniger Kriegsobjekt, nicht nur in dem Sinne, daß die Polnische Frage und ihre Lösung in der oder jener Richtung, und in dem oder jenem Ausmaße, eines der Kriegsziele der beiden kriegführenden parteien gewesen ist, sondern vor allem aus dem Grunde, weil Polen ein Kriegsgebiet im eminenten Sinne des Wortes gewesen ist, weil in Polen, auf polnischer Erde und auf polnischem Boden, gar viele Schlachten geschlagen wurden, weil Polen nicht einmal, sondern mehr- mals das Aufmarschgebiet der beiden kriegführenden Mächtegruppen undderen Armeen gewesen ist und weil ein jeder derartige Aufmarsch naturgemäß mit der Einengung und Störung, vielfach auch mit der Vernichtung der friedlichen wirtschaftlichen Arbeit verbunden war.

Es waren eben in Polen die Folgen der Kriegsoperationen iugerst weitreichend gewesen. Durch den Weltkrieg wurde vor allem wendlich viel mobiles Kapital vernichtet.

*) Vortrag gehalten für die „Europäische Union“ im Haag, am 1. Mai 1929.

Vor dem Weltkriege betrug doch die Gesamtsumme der Depo- if siten aller Art gegen dreitausend Millionen Goldfranken oder hundert Goldfranken per Kopf der Bevölkerung. Ende 1923, in einem währungspolitisch allergefährlichsten Augenblicke, betrug hingegen die Gesamtsumme der Depositen nur fünfundzwanzig Millionen Goldfranken oder dreieinhalb Goldfranken per Kopf der Bevölkerung. |. Mit der Zeit besserte sich wohl die Lage, da Ende Juli 1925, dem , währungspolitisch günstigsten Zeitpunkte, die Verhältnisse ein viel |; besseres Aussehen aufwiesen als im Jahre 1923, aber immerhin ooch e weit davon entfernt waren, den Vorkriegszustand zu erreichen. Die 4 Gesamtheit der Depositen betrug damals nämlich sechshundertdrei- 5. undvierzig Millionen Goldfranken, was auf den Kopf der Bevölke- . rung einundzwanzig Goldfranken ausmachte, also kaum 20% der Vor- kriegsvorräte. Mit anderen Worten, Polen war im Juli 1925, in dem, wie gesagt, allergiinstigsten Zeitpunkte, rund fünfmal ärmer als vor ', dem Kriege.“) Diese schwerwiegende Tatsache kann jedoch keineswegs ` auf das leichte „polnische Blut“ zurückgeführt werden, sondern hat tiefere volkswirtschaftliche Ursachen.

Hatte doch das Gros der Angehörigen des polnischen Staates seine Ersparnisse vor dem Kriege in russischen Rubeln, österreichischen Kronen und deutschen Marken angelegt. Als nun die Währung Ruf- lands, Österreichs und Deutschlands, im Gefolge des Krieges beinahe völlig entwertet wurde, so schmolz auch das Vermögen so vieler polnischer Staatsangehöriger beinahe völlig zusammen, wodurch ge- waltige polnische Kapitalien völlig vernichtet wurden. Die während des Weltkrieges in diesen drei Staaten eingetretene Gepflogenheit, die laufenden Ausgaben mittels der Notenpresse zu decken, legte auch ` dem neuen polnischen Staate schon in die Kinderwiege große Hinder- = nisse in den Weg.?) a

Wohl wurde am 1. Februar 1924 die Notenpresse für den Bedarf des Staatsschatzes eingestellt. Am 8. Februar desselben Jahres wurde der Kurs der polnischen Mark bei einem Verhältnis von einer Million achthunderttausend Mark für einen Goldfranken stabilisiert. Amn 31. März 1924 haben die Finanzeinkünfte des Staates zum ersten Male seine monatlichen Ausgaben überstiegen. Am 28. April 1924 trat die Währungsreform ins Leben und die polnische Notenbank (Bank Polski) begann ihre Tätigkeit. Am 1. Juli verlor die polnische Mark den Charakter einer VA mit Zwangskurs.) Damit war wohl der Weg zur Gesundung eröffnet, aber neue Kapitalien wurden da- durch an sich noch nicht geschaffen. |

Die Schaffung neuer Kapitalien war nicht leicht durchzuführen, | solange die Inflation nicht völlig überwunden war, da die Inflation das Geldkapital vernichtet und verbraucht und das Sparen natur- |

e WS M. Szawleski, Polska na de gospodarki światowej. Warszawa 1928,

3) F. Młynarski, Kryzys i Reforma walutowa. Lwów 1925, S. 62. ) F. Młynarski, Kryzys i Reforma walutowa. Lwów 1925, S. 8.

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emäß hintanhalt. Auch die Erinnerung an die noch unlängst er- ıttenen Verluste übte auf Geldbelegungen einen stark hemmenden Einfluß aus und verringerte den Sparsinn der Bevölkerung.“) Zudem wurden auch nach bereits Äkircheeiührter Währungsreform die Bank- depots bei der dann verfügten Aufwertung recht stiefmütterlich be- handelt, weil die Aufwertung kaum 5% dieser Depots betrug, wobei das Maximum des aufgewerteten Betrages ohne Rücksicht auf die Höhe der Erträge den Betrag von 125 Zloty nicht überschreiten durfte. Freilich, die Vernichtung des mobilen Kapitals durch den Weltkrieg und als Folge desselben war keine spezifisch polnische Er- scheinung, da nach den Internationalen Übersichten des statistischen Reichsamtes für das Deutsche Reich?) der Goldbestand in Millionen Mark folgende Ziffern aufwies: 1913 1925

In Mittel- und Osteuropa „„ 1044 2 260 In den neutralen Ländern Europas . 1320 4 028,5 In Entente-Europa. . . . . . . . 12578 7 217,2

In Europa insgesamt . . . 2 . . 24 278,8 13 396,2 In den Vereinigten Staaten von Amerika 7917,2 18 507,8

Diese Ziffern besagen folgendes: Während vor dem Kriege der Kapitalbestand viel größer als nach dem Kriege sowohl in Mittel- als Osteuropa als auch in den Ententeländern gewesen ist, ist in den neu- tralen Ländern Europas eine geradezu umgekehrte Entwicklung zu beobachten. Hier hat der Weltkrieg das Steigen des Kapitals um das Dreifache zur Folge gehabt.

Nichtsdestoweniger ist Europa als Gesamtheit ärmer geworden, da sein Kapitalbestand von 24,278 Millionen Mark gesunken ist, während in demselben Zeitraum das Kapital der Vereinigten Staaten von Amerika mehr als um das Zweifache gestiegen ist, nämlich von 7917,2 Mark auf 18 507, 8 Mark.

Die Vernichtung des mobilen Kapitals war mithin keine spezifisch polnische Erscheinung. Nichtsdestoweniger hatte sie in Polen weiter-

ehende Folgen, wie sonst in Europa, weil diese Kapitalvernichtung ier vollkommener gewesen ist, da ja doch auch Polen vor dem Kriege nicht gerade als reich gelten konnte. Zudem betraf die Ver- nichtung nicht nur Geld, sondern auch Güter- und Warenvorräte, sowie Arbeitsvorrichtungen. Infolge der Vernichtung des Bodens, der Wirtschaftsgebäude sowie des lebenden Inventars erlitt insbesondere die polnische Landwirtschaft Verluste, die auf über 5 Milliarden Gold- franken geschätzt werden.“) Die Industrie erlitt infolge der Kriegs- operationen, der Kriegsrequisitionen u. ä. Verluste in Vorrichtungen und Waren, die auf 3,3 Milliarden Goldfranken geschätzt werden. Während die Industrie der kriegführenden Länder durch die Not-

B. Friediger, Żródła kryzysu bankowego w Polsce (Przewroty walutowe i po wielkiej wojnie. Kraków 1928), S. 216.

5) Jahrbuch des Statistischen Reichsamtes 1926, S. 116. ©) Szawleski, a. a. O.

wendigkeit der Deckung des Kriegsbedarfes eine gewisse Belebung er- fuhr, erfolgte in Polen eine starke Rückentwicklung. Während 1914 in Kongreßpolen 325 000 industrielle Arbeiter aftigt waren, fiel ihre Zahl 1918 auf 47000, also auf 14% des Vorkriegsstandes. Aus ähnlichen Gründen und Ursachen erhielt Polen seinen Eisenbahnpark im Zustande völligen Ruins. Seine ersten Jahre begann Polen mithin im Zustande eines großen Geld- und Warenhungers. Der starke Geld- hunger fand seinen sprechendsten Ausdruck in dem überaus starken Steigen des Zinsfußes. Während dieser Zinsfuß vor dem Weltkriege ein halbes Prozent monatlich oder 6% jährlich betrug, stieg er 1925 auf 3—5% monatlich oder auf 36% bis 60% jährlich (Sic!). Und das waren nur die Diskontsätze. Der Rediskont ıst noch erheblich teurer. Vor dem Kriege betrug der Unterschied zwischen Diskontsatz und Rediskontsatz etwa 2%. 1927 ist dieser Unterschied auf 6% gestiegen. Wenn also der Diskontsatz der polnischen Emissionsbank z. B. 10% beträgt, so wird der Rediskontsatz auf 16% festgesetzt.

Noch in der neuesten Zeit wird von einem hervorragenden pol- nischen Nationalökonomen”) mitgeteilt, daß die Bank von Polen (Bank Polski) im Rahmen der für die Kunden festgesetzten Kontin- gente 8% diskontiert. Solide Banken, die legal vorgehen, diskontieren mit 12% (dem höchsten gesetzlich zulässigen Zinsfuß), verfügen jedoch nicht über die nötigen Mittel, um den ganzen Bedarf zu diesem Preise zu decken, deshalb werden dann auch erstklassige Wechsel zu 15%, ja sogar zu 20% durch Winkelbanken diskontiert. Ja, noch April 1929 wird vom Polnischen Institut für Konjunkturforschung festgestelit, daß der sog. private Diskont in Lodz sich im Verhältnis von 22% er- hielt, wenn auch der Diskontsatz der Banken andauernd auf 11—12% notiert wurde.“

Der sog. Straßendiskont ist der eigentliche Ausdruck der pol- nischen Geldverhältnisse, dem Zinsfuße der ausländischen Börsen ver- wandt, da er durch das freie Spiel von Angebot und Nachfrage ge- formt wird. In der Zeit der Inflation wurden auf der sog. „schwarzen“, also behördlich nicht genehmigten Börse, Valuten und Devisen gekauft und verkauft zu einem Kurse, der den gesetzlich zu- lässigen erheblich überschritt. Heutzutage gehören wohl derartige Operationen der Vergangenheit an, schon aus dem Grunde, weil sie sich nicht mehr bezahlt machen. Hingegen wird Geld auch heutzu- tage recht häufig oberhalb des gesetzlich zulässigen Kurses geliehen. Der Verkehr dieser Art, der außerhalb der Börse zu extrem hohen Preisen sich vollzieht, weist auf ein unzureichendes Angebot von Kapital hin. Der achtprozentige Diskontsatz der Bank Polski ist ein Privilegium, das nur wenigen zuteil wird.

Eine dauernde Besserung der Verhältnisse kann nur erfolgen, wenn der Unterschied zwischen dem Diskontsatz der Bank Polski und dem Diskontsatz, der von den Gläubigern verlangt und erhoben

N) A. Krzyżanowski, Bierny Bielans Handlowy. Kraków 1928, S. 90. ®) Konjunktura gospodarcza, II, 94.

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wird, eine Verringerung erfahrt. Eine gewichtige Ursache dieser geradezu enormen Diskontunterschiede ist die ungeheure Zersplitte- rung des polnischen Bankwesens. Nach den Angaben des (inzwischen zurückgetretenen) Finanzministers Czechowicz gab es in Polen 1926 nicht weniger als 109 Banken mit einem Gesamtvermögen von kaum 153 000 000 Zloty.) Der Verkehr ist dadurch zersplittert und die Verwaltungsspesen sind übermäßig hoch.“) Der starke gegenseitige Wettbewerb bei der Geringfügigkeit der verfügbaren Vorräte hat Unvorsichtigkeit bei der Wahl der Kunden und bei der Verteilung der Kredite zur Folge, was wiederum erhebliche Verluste für die Banken nach sich zieht. Diese sind in Polen zu schwach, was die 5 Massen abschreckt, in diesen Banken ihre Ersparnisse zu egen.

In der Zeit der Inflation entstand eine ganze Menge kleiner An- stalten, die weder größere Eigenkapitalien noch Depositen besaßen, je mehr die Sparsamkeit unter dem Einflusse der Inflation zurück- ging und Anlagen in Varen oder Devisen suchte, um so größer wurde die Zahl der Banken. Es war dies eine höchst krankhafte Entwick- lung, die mit dem volkswirtschaftlichen Charakter der Banken als Geldsammelstellen im Widerspruche stand. je weniger Geld diesen Sammelstellen zufloß, desto größer wurde die Zahl dieser Sammel- stellen. Die Kreditvermittlung wuchs im umgekehrten Verhältnis zum Stande der Kapitalisierung, was naturgemäß den Kredit ver- teuern mußte.) Die Besserung der Bankverhältnisse in Polen ist mithin durch die Verminderung der Anzahl der Finanzinstitute ganz wesentlich bedingt.

Alle diese Momente waren naturgemäß nicht darnach angetan, das Vertrauen des ausländischen Kapitals zu Polen zu stärken. Im Gegenteil, dieses starke Mißtrauen kam bei fast allen, in den ersten Jahren des neuen Staates aufgenommenen öffentlichen Anleihen zu einem vielfach recht krassen Ausdruck, was sich vor allem in der Not- wendigkeit der Bestellung von Pfändern für diese Anleihen äußerte. So mußte die italienische Tabaksanleihe im Betrage von 125,5 Mil- lionen Zloty durch Verpfändung der Erträge des polnischen Tabaks- monopols erkauft werden, die heutzutage 350 000 000 Zloty, also einen weit höheren Betrag als der ganze von Italien geliehene Betrag, jährlich ausmachen.) Überdies mußte Polen sich verpflichten,

der von ihm benötigten ausländischen Tabaksrohstoffe in Italien einzukaufen, was auf die Qualität der polnischen Zigaretten einen höchst nachteiligen Einfluß ausübte. Die Dillon-Anleihe mit einem effektiven Betrage von 141,6 Millionen Zloty wurde gesichert durch

) Współpraca rza du ze sterami gospodarczemi państwa. Sprawozdanie z naradny gospodarczej, odbytej 30 i 81 ziernika 1926 (wydawnictwo komitetu ekonomicznego ministrów, Warszawa 1927), S. 81

10) Ahnlich B. Friediger, a. a. O., S. 244.

11) F. Młynarski, Kryzys i Reforma walutowa. Lwów 1925, S. 68.

12) W. Fabierkiewicz, Podstawowe wytyczne Polityki kredytowej (Zagadnienia gospodarcze Polski współczesnej, Warszawa 1928), S. 13.

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Eisenbahnbruttoertrage (etwa 1,5 Milliarden jahrlich), sowie durch den Ertrag der Zuckerakzise (etwa 100 Millionen jährlich). Die Zündhölzchenanleihe im Betrage von kaum 33,5 Millionen Zloty zog eine langfähri e Verpachtung des Zündhölzchenmonopols unter recht SE Bedingungen nach sich. Die Harriman-Anleihe im Betrage von 10 Millionen Dollars zwecks Investierungen in den Zinkunternchmungen der Firma Giesche & Co. in Oberschlesien zog die Erlassung eines besonderen Gesetzes betreffend die Unterstiitzung der Zinkindustrie nach sich. Die sogenannte Ulen-Anleihe für die polnischen Kommunen mußte durch das ganze Vermögen der die Anleihe aufnehmenden Selbstverwaltungskörper, eine Garantie der polnischen Wirtschaftsbank sowie eine Sondergarantie der Staats- regierung sichergestellt werden.

Beweisen all diese Tatsachen die enormen finanziellen Schwierig- keiten, mit denen der neue Staat in seinen Kinderjahren zu kämpfen

tte, so sind andererseits auch zahlreiche Ta en zu vermerken,

welche darauf hinweisen, daß das Vertrauen des Auslandes wenn auch vor der Hand hauptsächlich in Form von kurzfristigen An- leihen an polnische Banken allmählich zurückzukehren beginnt, was zweifellos, wenigstens zum Teile, auf den hohen polnischen Diskont- satz zurückzuführen sein dürfte. Betrugen doch die ausländischen Kai iar i der polnischen Devisenbanken (d. h. der größeren Banken, denen der Ankauf fremder Devisen gestattet war) in Tausenden polnischer Zloty:

Am 31. 12. 1926: 282 060,

31. 12. 1927: 397 609,

31. 12. 1928: 535 439.)

Also immerhin ein langsames jedoch konstantes Steigen der aus- lindischen Verpflichtungen, was auf ein andauerndes steigendes Ver- trauen in die polnische Volkswirtschaft hinweist.

Dieses wachsende Vertrauen des Auslandes stützt sich auch auf zahlreiche Aktiv-Posten der polnischen Volkswirtschaft, wenn auch viele dieser Aktiv-Posten eher als potenzielle Entwicklungsmöglich- keiten denn als aktuelle Wohlstandsäußerungen zu Seck e sind.

Dies gilt vor allem von der Bevölkerung, die heutzutage in Polen die Ziffer von 30 Millionen Menschen bereits überschritten hat und die noch immer im ständigen starken Steigen, hauptsächlich durch natürlichen Bevölkerungszuwachs, begriffen ist. Ist es doch seit

ahren die Eigenart der polnischen Lande, daß sie in ganz Europa den öchsten Bevölkerungszuwachs aufweisen.“)

Auf 10000 der polnischen Bevölkerung betrug der jährliche Geburtenüberschuß über die Todesfälle in den Jahren 1900—1904 im Gouvernement Wolhynien 199, in Podolien 180, in der Provinz Posen (in den Jahren 1901—1910) 197, in Westpreußen 181.

18) Konjunktura gospodarcza, II, S. 82.

44) J. Buzek, Po na wzrost ludnosci ziem polskich w wieku XIX. Kraków 1915. e E

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D ee 5 .

Sehr interessant ist ein Vergleich der Bevölkerung bewegung Frankreichs mit der der Provinz Posen; beide Linder haben dieselbe Sterblichkeit, da jedoch Posen eine fast zweimal so hohe Geburten- häufigkeit aufweist, gehört es zu den Ländern mit dem größten natürlichen Bevölkerungszuwachs, während Frankreich seit etwa 30 Jahren überhaupt keinen natürlichen Bevölkerungszuwachs be- sitzt. Wenn auch in Mittel- und Westeuropa der rschuß der Geburten eine riickliufige Bewegung aufweist, diirfte Polen noch mehrere Jahrzehnte hindurch einen höheren natürlichen Zuwachs als andere Staaten Europas, vielleicht mit der einzigen Ausnahme Ruß- lands, aufweisen. Diese vor dem Weltkriege bereits gemachten Beob- achtungen gelten unvermindert von der Nachkriegszeit. Infolge des starken natürlichen Bevölkerungszuwachses ist die Bevölkerung Polens 1926 um 451 000 Seelen, 1927 um 427 000 Seelen gestiegen.“) Dieser große natürliche Bevölkerungszuwachs in Polen Ee be- sonders stark zum Ausdruck, wenn man den polnischen Bevölkerungs-

Kooffizienten mit dem anderer großer europäischer Staaten nach dem Stande von 1926 vergleicht. So betrug dieser Kooffizient in Deutschland 7,0, in Italien 10,9, in Großbritannien 6,7, in Frank- reich 1,3, in Polen hingegen 15,2. Polen marschiert mithin in dieser Hinsicht geradezu an der Spitze der Großstaaten Europas. Der große natürliche Bevölkerungszuwachs gibt Polen eine verhältnismätige große Anzahl junger Leute unterhalb 21 Jahren, also in einem Alter, das nicht nur am zeugungsfähigsten, sondern auch wirtschaftlich am produktivsten ist.

Diese Zahlen beweisen auch, daß, wenn dieser Bevölkerungs- zuwachs noch anhält (und nichts weist auf das Gegenteil hin) Polen in etwa 20 Jahren die vierte Stelle unter den europäischen Staaten der Zahl der Bevölkerung nach einnehmen dürfte.

Wird Polens landwirtschaftliche Produktion durch Meliorationen vergrößert, wobei besonders in den östlichen Provinzen Polens an fast unbegrenzte Möglichkeiten zu denken ist, so wird Polen nicht eine Bevölkerung von 30 Mill., sondern eine von 50 Millionen Seelen nicht nur haben, sondern auch ohne besondere Schwierigkeiten er- nähren können. Freilich sind das nur potenzielle Entwicklungs- möglichkeiten, während die aktuellen Existenzbedingungen hinter diesen potenziellen Entwicklungsmöglichkeiten sehr weit zurück- stehen. Diese Diskrepanz hatte seit einer Reihe von Jahren und hat noch heutzutage eine enorme polnische Auswanderung zur Folge.

Die Auswanderung ist heutzutage in Polen ein notwendiges Übel. Angesichts der aktuellen Erwerbsmöglichkeiten ist das Land geradezu übervölkert. Das gilt vor allem vom platten Lande, das ja ın Polen bei weitem überwiegt. Hinzu kommt noch die industrielle Arbeits- losigkeit, der starke Bevölkerungszuwachs, die geringe Kapazität der Arbeitsstätten, um den Bevölkerungszuschuß aufzunehmen. All diese

18) L. Studnicki, L’acroissement de la population en Pologne (le Messager Polonais, IV) Nr. 288, S. 6.

Momente zwangen und werden wohl auch in Zukunft zur Aus- wanderung zwingen. Welch große Bedeutung die Auswanderung fiir Polen besitzt, beweist die Tatsache, daß vor dem Kriege die jährliche Auswanderungsziffer 900 000 Personen alljährlich umfaßte.

Die polnische Auswanderung besitzt auch für die polnische Zahlungsbilanz eine große Bedeutung, da die Ersparnisse der polni- schen Emigranten gar häufig ihren Weg nach der Heimat nahmen, und hier besonders in den beschränkten Verhältnissen der Bewohner des platten Landes eine große Rolle spielten.

Die polnische Auswanderung ist bereits seit einem halben Jahr- hundert überall eine wohlbekannte Erscheinung. Anders ist es mit der polnischen Ware, die vor dem Kriege zumeist durch Vermittlua fremder Exportfirmen in Berlin, Wien oder St. Petersburg das Lan verließ.“) Am Anfang des Bestandes des neuen polnischen Staates, angesichts der Vernichtung des Landes und des großen Waren- hungers, deckte der polnische Export kaum den fünften Teil des 2 Importes. Er wendet sich hauptsächlich nach den ihm

reits vor dem Kriege bekannten Märkten, also angesichts des staat- lichen Außenhandelsmonopols in Sovetrußland und der durch ihn bedingten starken Einfuhrbeschränkungen nach Deutschland und der Nachfolgestaaten der ehemaligen österreichisch - ungarischen Monarchie.

Der Außenhandelsverkehr ist daher schwach entwickelt. Der durchschnittliche monatliche Export in den Jahren 1924—1927 kommt in folgenden Ziffern (in Millionen Goldfranken) zum

Ausdruck: 1924 1925 1926 1927 1924—1927 Import 123 133 75 140 118 Export 105 105 109 121 110.

Diese Ziffern weisen darauf hin, daß Polen auf seiten des Importes großen Schwankungen unterworfen ist, je nach dem Ernte- 5 dem Zustande der Währung und den Tendenzen der Zoll- politik.

Im Welthandelsverkehr ist der Anteil Polens sehr bescheiden. Wiewohl es 1,5% der Erdbe völkerung besitzt, beträgt der Anteil Polens am Welthandelsverkehr kaum 1%. In der polnischen Handels- bilanz kommt recht deutlich der Charakter Polens als eines Rohstoff- lieferanten zum Ausdruck.

Wiewohl auch viele Rohstoffe und Halbfabrikate nach Polen importiert werden, um hier einer Verarbeitung und Veredelung ent- gegenzugehen, weist nichtsdestoweniger der ache Export auf dem Gebiete der Veredelungsindustrie eher Riickgang als Fortschritt auf. Die industriellen Erzeugnisse in den Jahren 1924—1926 bildeten etwa 30% des Exportwertes, wahrend in den Jahren 1926—1927 ihr Anteil auf etwa 20,5 zugunsten der Erzeugnisse der Landwirtschaft und des Bergbaues gefallen ist. Das Hauptgewicht des Exportes wendet sich

16) Szawleski, a. a. O., S. 410.

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mithin immer mehr in der Richtung des Exportes der billigen and unverarbeiteten Massenartikel. Die Erzeugnisse des Bergbaues und der Landwirtschaft bilden beinahe 80% des Wertes des Exportes, ins- besondere Holz, Kohle, Rohöl und ihre Derivate, repräsentieren dem Werte nach beinahe die Hälfte des Exportes, dem Volumen nach sogar beinahe 90% des Exportes.

Die Steinkohlenlager ziehen sich im Süden Polens hin. Das Steinkohlenrevier Polnisch-Oberschlesien, das größte und wichtigste des Landes, birgt über 100 Milliarden Tonnen abbaureifer und qualitativ hochwertiger Steinkohlen und würde bei gleichbleibender jährlicher Förderung zirka 2000 Jahre reichen. Die im polnischen Staate, im Dombrowaer, Krakauer, Teschener und oberschlesischen Reviere befindlichen Steinkohlenlager bilden dem Ursprunge nach ein Ganzes, sind ein Teil des Schlesisch-Mährisch-Krakauer Kohlen- beckens. Die im Dombrowaer Kohlenbezirk geförderte Steinkohle steht zwar der oberschlesischen an Qualität nach, findet aber als aus- gezeichnetes Brennmaterial ausgedehnte Verwendung. Im Krakauer Kohlenrevier weisen die im Norden des Bezirkes gelegenen Gruben eine der Dombrowaer Qualität nachstehende Kohle auf. In den reichen Kohlengebieten im Südwesten von Krakau werden jedoch auch Fettkohlenlager festgestellt. Der polnische Teil des Teschener Schlesiens besitzt produktive Kohlenschichten auf einem Gebiet von 200 Kilometern. Die hier geförderte Kohle besitzt die Eigenschaften der Krakauer Kohle. Mit seiner durchschnittlich 25 Millionen Tonnen jährlich betragenden Steinkohlenförderung steht Polen an vierter Stelle unter den Kohlenproduzenten Europas.

Die gesamte Kohlenproduktion Polens vor dem Kriege betrug 1913 gegen 41 Millionen Tonnen Steinkohlen, wobei jene Gebiete, die heutzutage zu Polen gehören, selbst 27,7 Millionen Tonnen ver- brauchten. Der Produktionsüberschuß wurde fast ausschließlich ın den Staaten verbraucht, denen die einzelnen polnischen Gebietsteile angehörten.“) Da die in Polen herrschenden Staaten Polen zumeist wie eine Kolonie behandelten, so war die innere Aufnahmefähigkeit des polnischen Marktes noch mehr herabgedrückt und die Not- wendigkeit eines polnischen Kohlenexportes noch stärker dargetan. Nun ist Rußlands Aufnahmekapazität seit der bolschewistischen Revolution sehr stark gesunken. Die Cecho-Slovakei und Rumänien führen eine stark autarkische Wirtschaftspolitik. Drei Jahre hin- durch, seit dem Anschluß Oberschlesiens und Polens, wurde durch den Genfer Vertrag die Möglichkeit einer intensiven oberschlesischen Kohlenausfuhr nach Deutschland gewährleistet. In dem Genfer Ver- trage wurde Polen bis 1925 ein Kohlenausfuhrkontingent von 500 000 Tonnen nach Deutschland zugesichert. Da Deutschland sich der weiteren Fortsetzung dieses Importes nach 1925 widersetzte, kam es bekanntlich zum Ausbruch des deutsch-polnischen Zollkrieges.

150 A Cybulski, Rozwój, Przemyslu węglowego e niepoldieglej Polsce, (Przemysł i Handel 1928). |

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Dieser dreijahrige Export ist wohl eine zeitliche Erleichterung der Lage der oberschlesischen Kohlenindustrie gewesen, trug jedoch in keiner Weise zur Lösung des dauernden Kohlenexportproblemes bei.

Die Frage der Kohlenausfuhr erlangte denn auch für die polnische Kohlenindustrie, besonders nach 1925, eine geradezu vitale Be- deutung. Ging doch von diesem Zeitpunkte 64,03% der ganzen polnischen Kohlenausfuhr nach Deutschland. Seit dem englischen Kohlenstreik hat sich jedoch die Lage grundsätzlich geändert. Die oberschlesische Kohlenindustrie eroberte neue belangreiche Absatz- märkte in den skandinavischen Ländern und in Südeuropa. Auf diese Weise wurde es möglich, daß der polnische Kohlenexport im Jahre 1927 1579000 Tonnen betrug, also den Stand des Jahres 1924 er- reichte, das ist in jener Zeit, wo der durch den Genfer Vertrag ge- sicherte deutsche Absatzmarkt noch nicht ins Stocken geraten war. Auch die Produktionsziffern aus dieser Zeit beweisen die Konkurrenzfähigkeit der polnischen Kohlenindustrie und die Erträg- ee eines weitgehenden Verzichtes auf dem deutschen Absatz- markte.

1927 wurden in Polen 38 084 000 Tonnen Kohle geholt, also nur 6,5% mehr als in dem Jahre der englischen Konjunktur (1926) und im Vergleiche mit der Zeit vor dem Verluste des deutschen Absatz- marktes stieg die Produktion sogar um 9,4%. Die Lage der polni- schen Kohlenindustrie hat sich mithin in den letzten Jahren erheb- lich gebessert. Die Kohle spielt in der polnischen A eine viel überragendere Rolle als in den anderen Kohle exportierenden Ländern Europas. Im Verhältnisse zum Gesamtexport dieser Länder betrug in den Jahren 1923—1927 der Kohlenexport:

1923 1924 1925 1926 1927

Deutschland. . O, 7 0,9 31 6,4 5,6 Cecho-Slovakei 3,9 2,7 1,8 3,4 1,9 England. . . 13,0 9,0 6,5 4,0 Polen 26,6 20,9 11,6 19,6 13,6.**)

Noch stärker tritt dies zutage, wenn wir das Aktivsaldo des Kohlenverkehrs, also den Netto-Wert des Exportes, betrachten. Dann erhalten wir für Deutschland im Jahre 1925 1,5%, im Jahre 1926 5,7%, im Jahre 1927 4,5%, für die Cecho-Slovakei entsprechend 0,2%, 1,5%, 0,2% des Wertes des Gesamtexportes. Für Polen bleiben diese Ziffern angesichts des sehr geringen Exportes fast ohne Anderung.

Die Schaffung von für die Vergrößerung des Kohlenexportes nach dem Auslande günstigen Bedingungen war jedoch für Polen mit erheblichen Opfern verbunden, so mit der Gewährung von Kontin- genten für Einfuhr italienischer Orangen und von gleichwertigen Kontingenten für Lettland, Schweden und Norwegen in bezug auf Waren, deren Einfuhr verboten war. Auch die Erreichung geeigneter

ze 18) Sprawozdanie komisji ankietowej Tom V. Wegiel. Warszawa 1928,

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Eisenbahntarife für die Beförderung polnischer Kohle über die Cecho- Slovakei und über Osterreich war unmöglich ohne Gewährung von Kompensationen an diese Staaten beim Abschluß von Handels-

verträgen. Wohl ist auch der innere Verbrauch der Kohlen im all- mählichen Steigen begriffen. Er betrug auf den Kopf der Bevölkerung: 1924 700 kg, 1925 710 „, 1926 730 „, 1927 840

Der Aufstieg des inneren Kohlen verbrauches ist jedoch in Polen viel langsamer als in der Cecho-Slovakei, in Belgien und in Frank- reich, so daß die polnische Steinkohle auf die ausländischen Absatz- märkte geradezu angewiesen ist, unter der Gefahr, daß sich sonst der Betrieb der polnischen Kohlenwerke nicht rentiert, wobei noch ganz wesentlich für die Zukunft der Umstand in Betracht kommt, daß die veredelnde Industrie in Polen noch wenig entwickelt ist.

Eine Verständi der polnischen Kohlenindustrie mit der eng- lischen ist angesichts der ungünstigen Lage des Weltmarktes ein dringendes Gebot der Notwendigkeit. Es ist wohl zu erwarten, daß die englische Kohlenindustrie sich dieser Erkenntnis nicht länger widersetzen wird, nachdem das Eindringen der polnischen Kohle auf die neuen Märkte der polnischen Kohle eine durchaus günstige Marke verschafft hatte. Hat doch die englische Monatsschrift The Compendium über den Wert nach England eingeführter fremder Kohle eine besondere Enquete durchgeführt und deren Ergebnisse in den Nummern 8—9 vom Jahre 1926 veröffentlicht.

Die dort gemachten Meinungsäußerungen sind für die polnische Kohle im allgemeinen äußerst vorteilhaft. Die aa iy es The Compendium gelangt denn auch zu dem Ergebnis, daß die n Sorten der ausländischen Kohle mit der englischen vollständig konkurrenzfähig sei, was besagen will, daß England auf den Aus- landsmärkten kein Monopol mehr besitze ohne Rücksicht auf die zweifellos ungeheuren Vorteile der englischen Kohle.

Eine geringere handels- und wirtschaftspolitische Bedeutung haben neben der Steinkohle auch die in verschiedenen Teilen Polens vorkommenden reichlichen Vorräte an Braunkohlen der Miozän- und Trias-Formation, sowie große Torflager, die jedoch bei den großen teinkohlenvorräten in den Hintergrund treten. Hervorzuheben sind die Braunkohlenlager in der Gegend von Zawiercie, die Braun- kohle in geringer Tiefe aufweisen. Braunkohle kommt ferner in Galizien, Posen und Pomerellen vor. Allerdings hat die Braun- kohlenförderung nur lokale Bedeutung. Ä

Die Eisenerzlager Polens sind noch zu wenig erforscht, als daß eine annähernde Berechnung ihrer Vorräte möglich wäre. Ost- schlesiens abbaureife Erzlager werden auf 16 Millionen Tonnen ge- schätzt. Größere Erzvorkommen weist Kongreßpolen in den

19) E. Kwiatkowski, Postep gospodärczy polski.

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Kohlenrevieren in Czenstochau und Radom auf, die sich auf einer Fläche von 10000 qkm hinziehen. Die Erzablagerungen bestehen im Westen hauptsächlich aus reichen Sideriterzen, im Osten aus ärmeren Siderit- und Rasenerzen. Die Erzvorräte belaufen sich auf etwa 260 Millionen Tonnen, mit einem Gehalt an reinem Metall von 100 Millionen Tonnen. Die Erze weisen einen niedrigen Gehalt an Eisen (35>—40%) auf und stehen infolgedessen den ukrainischen und den schwedischen nach.

Auch in dieser Industrie bildete der durch den Genfer Vertrag festgesetzte 15. Juni 1926 als Ende der durch diesen Vertrag sicher- gestellten deutsch-polnischen Wirtschaftsgemeinschaft einen wirt- schaftspolitisch Pede Wendepunkt. Bis zu diesem Zeit- punkte hatten die polnischen Eisenhütten in Oberschlesien völker- rechtlich den Bezug eines Jahreskontingentes von 235 000 Tonnen Brucheisen zugesichert, wodurch alle Schwierigkeiten in der Ver- sorgung der nölnischen Hüttenindustrie behoben waren.“) Das Ver- bot der Ausfuhr von Brucheisen von Deutschland bedeutete nach Ab- lauf dieses Zeitraumes eine ganz erhebliche Schwierigkeit und wird wohl erst in dem nunmehr abzuschließenden deutsch- polnischen Handelsvertrage behoben werden können.

1927 haben alle europäischen Eisenhütten ihre Produktion an Gußeisen von 1913 erheblich überschritten. Die polnische Gußeisen- erzeugung hat jedoch in diesem Jahre kaum 70% des Vorkriegs- zustandes erreicht. Auch hierin äußern sich die weitgehenden und so nachteiligen Folgen des Weltkrieges. 1918 nach dem Rückzuge der Besatzungsmächte bildete die polnische Hüttenindustrie nur eine große Ruine. Es gab damals niche einen einzigen Hochofen. Der Vernichtung unterlagen sowohl die technischen Vorrichtungen und die Maschinen als auch die Verkehrsmittel.

Der Eisenbahnverkehr war höchst mangelhaft. Der Kohlen- ankauf bedeutete damals ein äußerst schwer zu lösendes Problem, da die Kohlenausbeutung in den damals Polen angehörenden Kohlen- rcvieren, dem Dombrowaer und dem Krakauer, nur unbedeutend

ewesen ist. An Brucheisen mangelte es zwar nicht, aber seine Zu- uhr war mit Schwierigkeiten verbunden. Aber eine intensive Hilfe der Regierung in Form von staatlichen Kohleneinkäufen, ergiebiger Regierungskredite, endlich Beförderungserleichterungen, erweckten die polnische Hüttenindustrie Juni 1919 zu neuem Leben. Eine neue Lage entstand für die polnische Hüttenindustrie am 15. Juni 1922, als Oberschlesien an Polen angegliedert wurde, wodurch an Polen auch die großen oberschlesischen Hüttenanlagen kamen.

Während die Eisenhütten Konreßpolens während des Welt- krieges fast vollständig vernichtet worden waren, wiesen die ober- schlesischen Eisenhütten eine völlig unverminderte Produktionskraft auf, nachdem für diese Hütten die Kriegszeit eine geradezu glänzende Epoche bedeutete, betrugen doch damals die ausgeschütteten

3°) H. Glück, Hutnictwo żelazne w Polsce (Przemysł i Handel 1928).

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Dividenden 20—30%. Die Hüttenindustrie Kongreßpolens be- fürchtete denn auch nicht ohne Grund einen rücksichtslosen und ruinösen Konkurrenzkampf seitens der oberschlesischen Hütten- industrie.

In der ersten Zeit nach der Angliederung Oberschlesiens an Polen, d. h. in den Jahren 1922 und 1923, beachtete die oberschlesische Hiittenindustrie den polnischen Absatzmarkt recht wenig, da ihre Erzeugnisse gerade 1 infolge der Ruhrbesetzung durch die französische Armee in ganz Deutschland gesucht wurden. Es war dies jedoch die Zeit der Inflation, sowohl der deutschen als auch der polnischen Mark, wodurch wohl eine glänzende Scheinkonjunktur geschaffen wurde, gleichzeitig jedoch die Grundlagen des von der Inflation berührten Virtschaftsorganismus völlig untergraben wurden. Die aus der vergrößerten Produktion erzielten Mark- Milliarden schmolzen in den Bankdepots recht schnell völlig zu- sammen, und dies um so mehr, als die oberschlesischen Hütten in- folge des Miftrauens zu der Stabilität der polnischen Verhältnisse in dieser Zeit irgendwelche größeren Investierungen völlig unterlassen haben. So war denn auch das einzige Ergebnis dieser scheinbar glänzenden Konjunktur die fast völlige Vernichtung des Betriebs- kapitals der oberschlesischen Unternehmungen und eine erhebliche Beschädigung der Produktionskapazität, der damals stark über- lasteten, aber nicht erneuerten und nicht modernisierten Anlagen. Gleichzeitig ging die Kaufkraft des ganzen deutschen und polnischen Absatzgebietes erheblich zurück.

Am 15. Juni 1926 um 12 Uhr nachts hörte der Import der polnischen Kohle und des polnischen Eisens in Deutschland auf, was selbstredend der polnischen Kohlen- und Eisenindustrie sich äußerst peinlich fühlbar machen mußte. Die polnische Hüttenindustrie richtete nunmehr eine gespannte Aufmerksamkeit auf den inneren Markt ın Polen, aber erst das Jahr 1927 brachte den oberschlesischen Hütten eine entschiedene Besserung der Lage. Vor allem ist der innere Konsum des Eisens von 239 426 Tonnen in 1926 auf 368 456 Tonnen in 1927 gestiegen. Sodann stieg auch der polnische Eisen- export von 104824 Tonnen in 1926 auf 170370 Tonnen in 1927. Der Zollkrieg mit Deutschland zwang geradezu die oberschlesischen Hütten, neue Absatzgebiete zu suchen und verlieh ihnen einen eminent exportpolitischen Charakter.

Dazu war vor allem eine völlige Verständigung der einzelnen Gruppen der polnischen Hüttenindustrie nötig, die auch tatsächlich recht bald zustande kam. Schon am 1. August 1925 wurde das ober- schlesische Eisenhüttensyndikat gebildet und bald darauf trat diesem Syndikat auch die Sosnowitzer Röhren- und Eisenfabriksgesellschaft bei. Schwieriger gestaltete sich die Frage einer internationalen Ver- ständigung, welche jedoch für die polnische Hüttenindustrie, die ihre Erzeugnisse nach 33 Ländern exportiert, geradezu zu einer Lebens- frage wurde. Die polnische Hüttenindustrie hatte unzweifelhaften Willen, dem internationalen Eisenverbande beizutreten, kann jedoch

2 ur 6 15

weder auf den Ausbau seiner Exportmöglichkeiten, noch auf den des inneren Absatzmarktes verzichten, da beide in ihrer .Entwicklung aus exogenen Gründen stark gehemmt waren, daher nicht der rein augenblickliche Stand und die potenziellen Entwicklungsmöglichkeiten, zum Ausgangspunkte beim Festsetzen der, Polen zuzuweisenden Absatzkontingente genommen werden müssen. Am 8. Mai 1928 wurde endlich der Standpunkt der polnischen Eisenhütten dahin fest- gelegt, daß der polnische Markt den polnischen Hütten unein- geschränkt überlassen wird und der internationale Eisenverband diesen Markt der polnischen Hüttenindustrie garantiert, daß mit dem Augen- blicke der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Handelsvertrages die polnischen Hüttenverhandlungen mit den deutschen Hütten in der Frage des polnischen Eisenausfuhrkontingentes nach Deutschland eröffnen werden. Diese Bedingungen wurden jedoch von dem inter- nationalen Eisenverbande nur teilweise angenommen. Der polnische Export sollte danach auf 300 000 Tonnen Gußeisen jährlich beschränkt werden und überdies sollte dieser Kontingent von dem Steigen der Produktion für den Bedarf des inneren Marktes abhängig gemacht werden, in der Weise, daß für jedes 1000 Tonnen des vergrößerten polnischen Eisenkonsums der Ausfuhrkontingent um je 333 T. ver- ringert werden sollte. Da die polnischen Eisenhütten diese Be- dingungen ihrerseits als unannehmbar erklärten, so gelangten die internationalen Verhandlungen ins Stocken.

Zink- und Bleierze der Trias liegen im südwestlichen Teile Polens. Neben dem bereits ziemlich viel erschöpften Vorkommen bei Tarnowitz ın Oberschlesien sind reichliche Vorräte bei Beuthen, ferner in Kongreßpolen in der Wojwodschaft Kielce und auch bei Krakau vorhanden.

Die Kupfererzvorkommen Polens sind von geringer Bedeutung und auf die Gegend von Kielce beschränkt. Schwefel kommt in der Gegend von Krakau vor und am Fuße der Karpathen. Auch in Kongreßpolen und in Oberschlesien finden sich schwefelhaltige Ge- biete, die jedoch nicht genügend untersucht sind und deren Ertrag bis jetzt gering ist. Überaus zahlreich und reich sind die galizischen Erdölquellen. Die Naphtafelder, deren Gehalt auf mehrere 100 Milli- onen Doppelzentner Roherdöl geschätzt wird, ziehen sich auf einer Strecke von 400 Kilometer längst der Karpathen, von Neu-Sandez bis an die Quellen des Pruth hin. Rohnaphta wird in den Bezirken Krosno, Sanok, Sambor und vor allem Drohobycz zutage gefördert. Die seit mehr als 60 Jahren betriebene Ausbeutung der in Galizien befindlichen Erdöllager erreichte ihren Höhepunkt im Jahre 1909 mit einem Ertrage von 2000000 T. In den folgenden Jahren ist eine Verringerung der Produktion zu verzeichnen, die schließlich infolge von Kriegsschäden noch mehr herabsank. Indessen beweisen geo- lcgische Untersuchungen, daß die Erdöllager noch lange nicht er- schöpft sind und ihr Vorrat schätzungsweise rund 270 000 000 T. beträgt. Dank weiteren Bohrungen gelang es auch in den letzten Jahren, die Produktion etwas zu heben, was zum Teil auf die Be-

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seitigung der staatlichen Beschränkungen des Pctroleumhandels und auch die unter starker Zuziehung ausländischen Kapitals durchge- führten Neuinvestierungen zurückzuführen sein dürfte. Auch die Bohrungen werden intensiver und weitgehender durch auf Brennstoff- ersparnis in Anwendung verbesserter Bohrmethoden gerichtete Be- strebungen und haben die Rentabilität der Gruben bedeutend erhöht. Einen kraftvollen Aufschwung hat die Raffinerieindustrie genommen. Während vor dem Kriege nur 40—48% der Produktion an Ort und Stelle verarbeitet wurde, stieg im Jahre 1921 unter dem Einflusse des Ausfuhrverbotes von Rohöl dieser Prozentsatz auf 90%. In den folgenden Jahren wurde die ganze Produktion, samt den Lager- beständen im Lande verarbeitet und heute wird das Verarbeitungsver- mögen der Raffinerien auf etwa 200% der gegenwärtigen Produktion geschätzt. Die steigende Herstellung von Petroleumerzeugnissen spiegelt sich in folgenden Ziffern wieder: im Jahre 1913 betrug die Produktion 304 000 T., 1921: 572000 T., 1922: 658300 T., 1923: 610 000 T., 1924: 770 792 T., 1925: 800 000 T., 1926: 709904 T. und 1927: 619 295 T. Diese steigende Entwicklung machte es Polen mög- lich, einen Teil der Raffinationsprodukte ins Ausland zu senden, deren Export vorwiegend nach eutschland, Usterreich, der Cecho- slovakei und Ungarn gerichtet, in den letzten Jahren bis zum Aus- bruch des deutsch-polnischen Zollkrieges 60% der Gesamtproduktion ausmachte.

An der polnischen Petroleumindustrie sind zahlreiche aus- ländische Kapitalien beteiligt, es überwiegt jedoch bei weitem das amerikanische, so daß hier die Standard Oil Company die polnische Rohölproduktion monopolistisch beherrscht, nicht immer zu Nutz und Frommen Polens, da dieser Einfluß der Standard Oil sich vielfach produktionshemmend auswirkt. Deshalb wird es auch in den Kreisen der polnischen Rohölproduzenten außerordentlich bedauert, daß insbesondere das englisch-niederländische Petroleumkapital, die Royal Dutch voran, in Polen sich so außerordentlich zurückhaltend benimmt. Die Royal Dutch wäre in Polen als Gegenpart zur Standard Oil sehr willkommen.

Polen ist ferner reich an Steinsalzen, sowohl in Gestalt von reinem Kristallsalz als auch von Salzschlamm mit einem 40—45prozentigen Gchalt an reinem Salz. Außerst kompakte Salzlagen befinden sich in Galizien, wo sie in Wieliczka, Bochnia und Stebnik in Stollen von 150 Meter Tiefe abgebaut werden. Außer mehreren Salzquellen, im früheren Kongreßpolen, deren Salz durch Auskochen gewonnen wird, befinden sich noch kegelförmige Salzlager in Großpolen, und Stein- salz ist weiter in Schlesien und im Posener Land bekannt. Die Salz- industrie ist die älteste Industrie auf polnischem Boden. Nach dem Weltkriege hat die Salzgewinnung eine bedeutende Steigerung er- fahren und heute deckt die Produktion nicht nur die Bedürfnisse des Inlandes, sondern gestattet auch eine Ausfuhr. Die Salzproduktion der galizischen Gruben übersteigt um mehr als 35% deren Ergiebigkeit vor dem Kriege. Eine ähnliche Erscheinung läßt sich im posener und

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im kongreßpolnischen Gebiete feststellen. Das Salz ist von guter Qualität und frei von schädlichen Verunreinigungen. Die Entwick- lung der Salzindustrie bildet einen wichtigen Faktor des polnischen Wirtschaftslebens schon mit Rücksicht auf die chemische Industrie. Mit Ausnahme einer Grube in Großpolen, die der Firma Solvay- Werke angehört, sind alle Salzgruben Eigentum des Staates. Kali- salze in Gestalt von Kainit und Sylvinit sind in Kalusz und Stebnik in Ostgalizien in reichlichen Lagern vorhanden, die erst in letzter Zeit intensiver ausgebeutet werden. Die bis jetzt festgestellten Vorräte in Kalusz werden bis jetzt mit ca. 5000000 T., in Stebnik auf 10 bis 12 Millionen T. geschätzt. Außerdem bewiesen Bohrungen in anderen Gegenden Polens das Vorhandensein von Kalisalzen, die mit ähnlichen Ablagerungen in Deutschland identisch sind. In allerjüngster Zeit wurden große neue Kalilager aufgedeckt, deren Ertragsmöglichkeit aber vor 10 bis 15 Jahren nıcht in Frage kommt. Die Produktion der Kaliwerke in Kalusz und Stebnik ist von 4 628 T. im Jahre 1912 auf 176984 T. im Jahre 1925, auf 207 389 T. ım Jahre 1926 und schließ- lich auf 276054 T. ım Jahre 1927 gestiegen. Da aber die polnische Landwirtschaft jährlih an 500000 T. Kalisalz braucht, so ist bei stärkerer Ausbeutung die Möglichkeit gegeben, sich in dieser Be- ziehung unabhängiger vom Auslande zu machen.

Bei einer Darstellung der natürlichen Reichtümer Polens dürfen die Energiequellen Polens nicht unerwähnt gelassen werden, welche die zahlreichen und starken Wasserfälle bilden. Die nur zum ge- ringen Teile ausgenützte Wasserenergie der Karpathen wird auf 500 000 PS. berechnet und wäre hinreichend, ganz Polen bis in die entferntesten Teile des Landes mit Elektrizität zu versorgen. Die Verwertung der Wasserkräfte zu Elektrizitätszwecken steht erst im Anfangsstadium der Entwicklung. Ferner nennen die polnischen Ost- gebiete reiche Torflager ihr eigen, die zur Gewinnung elektrischer Kraft verwendet werden könnten. Derzeit besitzt Polen 10 Kilowatt auf den Kopf der Bevölkerung. Die Elektrifizierung, eine der wichtigsten Aufgaben der Entwicklung Polens, ist heute Gegenstand eifriger Verhandlungen mit ausländischen Interessenten zwecks Kapitalbeteiligung. Immerhin sind all diese polnischen Bodenschätze eher potentielle Kräfte als aktuelle, da die Industrie Polens, die meistens auf seinen natürlichen Reichtümern aufgebaut ist, vorderhand im Stadium der Entwicklung sich befindet und ihr Wachstum von der intensiven Ausnutzung der ungeheuren Vermögenswerte, die der polnische Boden in sich birgt, abhängig ist. Eine viel größere aktuelle Bedeutung hat die polnische Landwirtschaft.

Auf ein Gesamtgebiet Polens von 838 323 Quadratkilometer um- faßte das landwirtschaftlich bebaute Gebiet 48,6%, die Wiesen und Weiden 16,9%, die Wälder 24%, die Städte und ungenützten Flächen 10,4%. Die südöstlichen Gebietsteile, die einen außerordentlich frucht- baren Boden besitzen, haben eine verhältnismäßig sehr niedrige, durchschnittliche Ernteergiebigkeit: nämlih 10—12 Zentner vom Hektar. Diese östlichen und südlichen Gebiete Polens mit der so ge-

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ringen Ernteergiebigkeit umfassen jedoch 53,1% der Gesamtfläche des Staates.“) Das Gesamtergebnis der polnishen Landwirtschaft ist daher auch mehr als bescheiden zu nennen. Betrug doch die durch- schnittliche Ernte an Weizen pro Hektar in Polen 1170 Kilogramm, in Deutschland hingegen 1800, in Dänemark aber gar 2900 Kilo-

m, d. h. die Intensivität der dänishen Landwirtschaft war 60%

öher als die der polnischen.

Und weist doch die polnische Handelsbilanz gerade auf landwirt- schaftlichem Gebiete andauernd Defizite auf. So betrug dieses Defizit (in bezug auf die vier wichtigsten Getreidearten) im Wirtschaftsjahr 1926/27 119 038 000 Zioty, im Wirtschaftsjahr 1927/28 145 589 000 Zioty. Besonders im Verhältnis zu Deutschland zeitigen diese Ver- hältnisse recht bemerkenswerte Folgen. Betrug doch während der letzten drei Jahre der deutsche Export von Getreide und Mehl nach Polen rund 295 000 Tonnen, der polnische Export dieser Waren nach Deutschland hingegen nur 280000 Tonnen, ales um 15000 Tonnen weniger. Dem Werte nach ist der Überschuß des deutschen Getreide- exportes über dem polnischen noch erheblich größer. Die größte Bedeutung hat denn auch heutzutage nicht der Export von Getreide und Mehl, sondern der Export von Vieh, Fleisch, Geflügel. Der ganze polnische Viehvorrat betrug nach der polnischen statistischen Viertel- jahresschrift B.V. Heft 2 vom Jahre 1928 6 333 456 Stück, von denen rund 800 000 Stück ausgeführt wurden, ein übrigens auf diesem Ge- biete zweifellos ganz erheblicher Fortschritt, da vor dem deutsch- ng Zollkrieg der polnische Viehexport kaum 400 000 Stück

en hatte.“)

Die praktische Folge des deutsch- polnischen Zollkrieges ist auch nur der Nutzen dritter Staaten. Duobus litigantibus tertius gaudet. Die polnischen Schweine werden auch weiterhin nach Deutschland trotz Zollsperre exportiert, aber auf Umwegen, nämlich über Oster- reich und die Cechoslovakei, mit dem Ergebnis, daß der polnische Schweineziichter für seine Ware einen erheblich niedrigeren Preis er- halt, während der deutsche Importeur genötigt ist, die höheren Trans- 5 und die Gebühren der österreichischen und decho- slovakischen Mittelsmänner zu bezahlen, also die polnischen Schweine zu erheblich höheren Preisen als vor dem Zollkriege einkauft.

In der Zeit der Zerrüttung der Währung war die Landwirtschaft in einer schlechteren Lage als die Industrie: Der Produktionsprozeß in der Landwirtschaft dauert linger und die PE Be- völkerung, die weit von dem Mittelpunkte des Bank- und Börsen- lebens lebt, paßt sich schwerer und langsamer den Folgen der In- flation an. Bei der Hebung der Nominalpreise für ihre Erzeugnisse hat die Landwirtschaft schwerer und langsamer sich dem Goldpreis- niveau angepaßt. In der Zeit des Rückganges der Währung blieb der Goldindex der landwirtschaftlichen Preise hinter dem Index der

21) „Czas“ (Krakau) vom 1. November 1928. 27) „Czas“ v. 8. Okt. 1928.

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Industriepreise erheblich zurück. In dieser Hinsicht trat eine grund- sätzliche Änderung nach der Stabilisierung der Währung ein.

Die große Spannung der Schwankungen im polnischen Import äußerte sich besonders in der Inflationszeit auch in Polen in der größten Spannung zwischen dem landwirtschaftlichen und dem in- dustriellen Preisindex, also in der sog. Preisschere:“) diese begann sich zu schließen, und zwar zugunsten der Landwirtschaft. Die Schere schloß sich durch schnelleres Heben des inneren Armes, der den land- wirtschaftlichen Preisindex bedeutete.

Die Struktur der polnischen Volkswirtschaft hat zur Folge, daß die Besserung der Absatzverhältnisse der Landwirtschaft, die den größten Teil der Bevölkerung umfaßt, auch den inneren Markt für Produkte von Industrie und Bergbau vergrößerte. Das stärkere Steigen der landwirtschaftlichen Preise in Gold sicherte der polnischen Landwirtschaft durch die Hebung ihrer Kaufkraft einen größeren Anteil am Volkseinkommen.

Die durch die Stabilisierung der Währung erfolgte Besserung der Lage der Landwirtschaft hatte für das Ausland auch eine unmittel- bare Bedeutung, da es auch den Import mancher, gerade in der Land- wirtschaft benötigten Waren steigerte, so den Import von Kunst- dünger, der trotz einer gleichzeitigen starken Steigerung der eigenen Produktion von 348 000 T. in 1925 auf 488000 T. in 1927 gestiegen war, sowie den Import der landwirtschaftlichen Maschinen von 4205 T. in 1926 auf 11701 T. in 1927.)

Wohl ist dem Steigen des Verbrauches die Steigerung der Pro- duktion nicht in demselben Maße gefolgt. Wenn die Produktions- steigerung mit der Konsumsteigerung auch nur einigermaßen Schritt halten und dadurch das Gleichgewicht der Handelsbilanz wieder her- gestellt würde, so müßte diese Produktionssteigerung vor allem die Landwirtschaft und die landwirtschaftliche Produktion betreffen.

Der Gedanke der wirtschaftlichen Selbstgenügsamkeit, der be- sonders nach dem Weltkriege in so vielen Staaten und Ländern Europas überaus volkstümlich geworden ist, hat auch Polen nicht ver- schont. Wie vor dem Kriege, so erklingen auch jetzt gar häufige Rufe nach Boykott fremder Ware. Nur vergißt man dabei in Polen, daß jede handelspolitische Maßregel, handelspolitische Gegenmaß- regeln auf der Gegenseite hervorzurufen pflegt. Dabei kann doch Polen als ein Kulturland auch nicht auf jede Auslandsware verzichten. Das was tatsächlich ausgeschlossen werden könnte, spielt handels- politisch so gut wie gar keine Rolle. So z. B. könnten wohl italieni- sche Orangen, die für etwa 6000000 Złoty in Polen importiert wurden, vom polnischen Markte ausgeschlossen werden. Wenn aber Polen sich tatsächlich zu einem derartigen Einfuhrverbote entschließen sollte, so würde seine Handelsbilanz sich wohl um 6 000000 Zloty

22) F. Młynarski, Rola rolnictwa w bilansie handlowym. Warszawa 1928,

24) F. Mlynarski, a. a. O., S. 7 und 8.

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bessern, aber Italien würde wohl aufhören, polnische Kohle zu im- portieren, was einen handelspolitischen Verlust von 15 000 000 Zloty nach sich ziehen müßte.

Die heutige Schicksalsverbundenheit Polens mit Westeuropa ist auch aus dem wesentlich gleichen Konjunkturverlaufe in Polen einer- seits, in Deutschland, Usterreich, der Tschechoslovakei andererseits zu ersehen.“)

Ein wesentlich gleicher Konjunkturlauf wie in Polen ist insbe- sondere auch in Deutschland zu beobachten. In Polen wie in Deutsch- land bringt das Ende des Jahres eine gewisse Besserung der Lage, die am Anfang des Jahres 1925 ganz deutlich wird. Die Besserung ver- andert sich dann in Polen in der zweiten Hälfte des Jahres 1925 in eine heftige Krisis.

Ebenso wie Deutschland hatte auch Polen nicht nur eine In- flation, sondern zwei. Der Unterschied war nur der, daf die zweite Inflation in Polen eine Geldinflation war, verursacht durch eine über- mäßige Emission von „Scheidenoten“ (currency notes), während sie in Deutschland den Charakter einer Kreditinflation besaß, verur- sacht durch den ungeheuren Zufluß der ausländischen, vor allem der amerikanischen Kredite. Ihr Einfluß auf die Industrie war in Polen wie in Deutschland gleich. Sie schaffte eine mehrmonatliche Inflations- konjunktur, welche infolge ihres durchaus künstlichen Charakters sich nicht lange erhalten konnte und die mit einer noch schärferen Krisis enden mußte.

Die Inflationskonjunktur, durch die zweite Inflation verursacht, wurde im zweiten und dritten Viertel 1925 unterbrochen. Die Besse- rung beginnt in Deutschland Anfang 1926. Januar 1926 steigen die Aktienkurse und vom Februar geht die Zahl der Arbeitslosen zurück. Der Produktionsindex ist vom Mai dieses Jahres im Steigen begriffen. In demselben Jahre trat auch in Polen ein Umschwung der Lage zu- tage. Die ersten Äußerungen dieses Umschwunges traten im No- vember und Dezember 1925 zutage, im Februar 1926 war der Um- schwung fast Hess hie Der weitere Lauf der Jahre 1926 und 1927 ist ebenso in Deutschland wie in Polen Zeit der Besserung und eines die Besserung begleitenden Auflebens. In der zweiten Hälfte 1927 wurde der Höhepunkt der höchsten wirtschaftlichen Entwicklun schon überschritten, sowohl in Polen als auch in Deutschland. Sowo in Polen als auch in Deutschland beginnt seit November 1927 die Arbeitslosigkeit wieder zu steigen. Ähnlich war auch der Konjunktur- verlauf in Österreich und der Cechoslovakei. Die Konjunktur hat eben einen hervorragend internationalen Charakter und weist be- sonders in benachbarten und wirtschaftlich aufeinander angewiesenen Ländern wesentlich denselben Verlauf auf, ohne Rücksicht darauf, ob die in Betracht kommenden Völker sich lieben oder hassen.

38) O. Lange, Konjunktura w życiu gospodarczem Polski 1923— 1927, (Przewroty walutowe i gospodarcze po wielkiej wojnie Kraków 1928), S. 417.

2]

Die enge weltwirtschaftliche Verflecht Polens hat zur Folge, daß für die weltwirtschaftliche Zukunft Polens seine Entwicklungs- tendenzen von ausschlaggebender Bedeutung sein dürften. Und da ist es von Belang, festzustellen, daß der polnische Export wohl weder einen ausgesprochen landwirtschaftlichen, noch einen ausgesprochen industriellen Charakter trägt, daß jedoch, inwieweit es sich um einen Industrieexport handelt, ein entschiedenes Übergewicht, die wenig ver- feinerten Artikel bilden, die für andere Industriezweige eigentlich den Rohstoff abgeben“) und nur einen ganz unbedeutenden Bestand- teil, die Fertigfabrikate, bilden, daß ferner auch der auf Pflanzen- zucht beruhende landwirtschaftliche Export nur etwa 10% des Ge- samtexportes ausmacht, daß hingegen im ständigen und stetigen Steigen der Export der Erzeugnisse der polnischen Viehzucht begriffen ist. Im Jahre 1926 betrug er nur 16,9% des Geamtexportes, 1927 2,8%, 1928 hingegen schon 23,5%, wobei hier vor allem das lebende Vieh und die Molkereiprodukte in Betracht kommen, hier wiederum vor allem aber der Schweineexport.

So faßte denn auch m. E. mit Recht die allgemeinen Entwicke- lungstendenzen des polnischen Exportes das polnische Institut für Konjunkturforschung dahin zusammen, daß vor allem der Export der Erzeugnisse der Viehzucht gestiegen ist, während der Export der landwirtschaftlichen Erzeugnisse je nach dem Ergebnisse der Ernte schwankte, der Export der Erzeugnisse der sog. Agrarindustrie hin- gegen im Rückgange begriffen war.“) Großen Schwankungen unter- ag auch der Export von Holz und Kohle.

Die strukturellen Daseinsbedingungen der polnischen Volkswirt- schaft haben auch zur Folge, daß eine tiefere volks- und weltwirt- schaftliche, daß die sog. westliche Orientierung Polens trotz erheb- licher politischer Widerstände im Wachsen begriffen ist. Der natür- liche Absatzmarkt für Polens Rohstoffe, besonders für Produkte seiner Landwirtschaft und seiner Viehzucht ist Deutschland. Daher das große Bedürfnis an geregelten Handelsbeziehungen, an einem regelrechten Handelsvertrag mit Deutschland. Freilich verhehlt man sich in Polen keineswegs, daß, falls es zu diesem lange erwartetem und in beiderseitigem Interesse herbeigewiinschten Handelsvertrage kommen wird, der hervorragend agrarische Charakter Polens, der schon jetzt 80% der Gesamtbevölkerung umfaßt, sich noch vertiefen dürfte. Nun glaube ich aber keineswegs, daß der vorwiegend land- wirtschaftliche Charakter eines Landes mit seiner kulturell und materiell niedrigen Entwicklungsstufe identisch sei, nachdem zahl- reiche Beispiele (Dänemark) das Gegenteil beweisen. Auch dürfte diese geopolitisch natürlichste internationale Arbeitsteilung wirt- schaftspolitisch sich am meisten reibungslos entwickeln. Immerhin darf man sich nicht verhehlen, daß ein großer Teil des polnischen Volkes zum Teile von gänzlich anderen wirtschaftspolitischen Idealen

20) Konjunktura gospodarcza II, S. 58. 27) Konjunktura gospodarcza II, S. 54.

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beseelt ist. Das lang dauernde Streben nach Wiederherstellung der staatlichen Unabhängigkeit hat naturgemäß auch wirtschaftspolitische Selbstgeniigsamkeitsideale erzeugt. Dabei kamen besonders in Kongreßpolen noch äußerst lebendige Erinnerungen an eine erst vor kurzem dahingeschwundene Vergangenheit. War doch Kongreß-

len zur Zeit seiner Zugehörigkeit zu Rußland nicht sein Hinter-

d, sondern eher sein Vorderland gewesen. Es veredelte die russischen Rohstoffe, aber lieferte sie nicht. Vielmehr erstreckte sich der Export der polnischen Industrie nicht nur auf das europäische Rußland, sondern auch auf das asiatische und dehnte sich sogar bis auf den fernen Osten aus.

Das hat zahlreiche große private Reichtümer großgezogen, die vielfach auch das politische Denken vieler Polen beeinflußte und die Reminiszenz an diese Zeiten spielt auch noch heutzutage in Polen eine große Rolle. Man weist in ce Zusammenhange darauf hin, daß die östliche Orientierung zum mindest in wirtschaftspolitischer Be- ziehung eine stärkere Industrialisierung Polens ermöglichen dürfte und dadurch das ökonomische Gleichgewicht von Industrie und Land- wirtschaft, damit aber auch einen höheren Grad der wirtschaftlichen Autarkie, sicherstellen würde. Es unterliegt wohl keinem Zweifel, daß Rußland ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten ist. Zur- zeit sind jedoch diese Möglichkeiten recht begrenzt. Das ganze kommunistische System, besonders aber die grundlegende Außerung desselben, das russische Außenhandelsmonopol ist nicht darauf ge- richtet, die Bedürfnisse der russischen Volksmassen zu steigern, sondern die Deckung dieser Bedürfnisse planwirtschaftlich sicher zu stellen.“) Der heutzutage recht wenig aufnahmefähige russische Ab- satzmarkt dürfte sich deshalb nur langsam vertiefen. Das kann nicht ohne tiefgehende Rückwirkungen auf die polnische Wirtschaftspolitik bleiben, die jedoch zurzeit geradezu gezwungen ist, sich hauptsäch- lich nach dem Westen zu orientieren, um ihre Zahlungsbilanz auch nur einigermaßen aktiv zu gestalten, aber selbstredend kann Polen auch seine wirtschaftspolitischen Ausdehnungsmöglichkeiten auch nach dem Osten, wenn auch vielleicht im weiteren Stadium der russischen Wirtschaftsentwicklung, nicht aus den Augen verlieren und ist genötigt, die Ausbeutung derartiger Möglichkeiten auch handels- vertragsrechtlich mit anderen Staaten, insbesondere auch mit Deutsch- land, sich vorzubehalten und sie sicher zu stellen.

Insbesondere gilt dies mit Rücksicht auf die Lage Polens als eines Durchgangsgebictes, welche es geradezu prädiziniert, Mittler zwischen Völkern, insbesondere Mittler zwischen Westen und Osten zu werden. Polen verfügt über den besten Zugang zu Lande, nach dem immer- hin auch jetzt großen, wenn auch wie gesagt erheblich geschwächten russischen Markte, was um so mehr in die Wagschäle fällt, da der Seeweg durch die Ostsee aus klimatischen Rücksichten einen großen

38) Vergleiche darüber S. Gargas, Le monopole du commerce exterieur en Russie Soviötique (Journal des economistes 1929), S. 187—144.

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Teil des Jahres nur schwer zugänglich ist, der Seeweg über das Schwarze Meer wiederum verhältnismäßig sehr lange, mithin auch nicht immer rentabel ist.“) Polen hat mithin in einem gewissen Grade im Verhältnisse zu Rußland ein Verkehrsmonopol, welches ihm große weltwirtschaftliche Vorteile bietet, da es die Nachbarn im Westen geradezu zwingt, mit Polen zu unterhandeln, wenn der russische Markt nicht verloren gehen soll. Diese Lage legt jedoch Polen auch erhebliche Pflichten auf, besonders auf dem Gebiete des Verkehrswesens (der Eisenbahnen und der Wege), das in recht argem Zustande von Polen übernommen und dessen Vervollkommnung und Ausbreitung ein gebieterisches Erfordernis ist, wenn Polen seinen weltwirtschaftlichen Aufgaben gerecht werden soll. Nur dann näm- lich wird es in der Lage sein, wirklich ein Mittler zwischen Westen und Osten zu werden und zu bleiben.

39) „Czas“ v. 17. Juni 1929.

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DIE REISE KATHARINAS Il. NACH SUDRUSSLAND IM JAHRE 1787

Von Theresia Adamczyk.

Es könnte eine Aufgabe sein, den einzigartigen und berühmten Zug der großen Katharına in das alte Taurien als rein kultur- historisch fesselndes Ereignis zu betrachten, im Schauspiel der Reise das Bild des an seinem Ende stehenden Jahrhunderts mit allem Licht und Schatten wie ein Gleichnis zu sehen. Aber ehe man so, das Ganze überschauend, deuten könnte, scheint es notwendig, die Einzelzüge klar zu erkennen. Gerade das Hauptmotiv, den poli- tischen Grundzug, hat man bisher überschen. Es wird das Thema dieser Arbeit sein.

Der Plan der Reise reicht weit zurück. Schon 1780, bei der Zu- sammenkunft von Mohilev, hatte Joseph II. seiner Verbündeten ein neues Zusammentreffen in Cherson versprochen. Am 1. Juli 1787 schreibt Katharina an Zimmermann, sie wundere sich, daß so viele Gerüchte über ihre Reise umgingen, sie habe sie sich schon seit drei Jahren vorgenommen, damals, um einen Anfall von Hypochondrie zu heilen, der allerdings jetzt vorüber sei. Das wäre dann im Jahre 1784 gewesen. In diesem Jahre beginnen auch die offiziellen Vor- bereitungen. Befehle der Kaiserin, Potemkins, des Senats ergehen an die Gouvernements und Städte. Potemkin ist in fieberhafter Tatig- keit.) Am Ende des Jahres 1785 erhält Ligne eine Aufforderung Katharı an ihrer Reise nach Taurien teilzunehmen, die 1786 wiederholt wird, mit detailliertem Programm. In diesem Jahre werden auch die Gesandten, Cobenzl*) und Ségur, ) offiziell zu der Reise ein- geladen. Joseph II. erwähnt in einem Brief an Kaunitz (9. August 1786)*), daß er eine Aufforderung, nach Cherson zu kommen, täg- lich erwarte, daß er aber wenig Neigung habe, ihr nachzukommen.

1) Vgl. Sborn. 27 u. a. S. 840f.

2) Font. 54, 75. Cob. an Jos. 1. Nov. 1786. 8) Ség. Mém. I, 422.

) Arneth, S. 277 f. Anm.

Als sie dann wirklich erfolgte (16. August a. St.), geschah das in einer merkwiirdigen Form, als Postskriptum, ganz nebenbei, was Joseph so in Zorn brachte, daß er in einem Brief an Kaunitz*) für seine hohe Verbündete das bekannte Wort prägte: „La Princesse de Zerbst Catherinisee.“ Kaunitz wußte ihn zu Ce und Katharina erhielt, ebenfalls in der Form eines Postskriptums, eine Zusage. Noch aber war es nicht bestimmt, daß der Kaiser von Cherson aus Katha- rina in die Krim begleitete.

In Rußland aber und dem übrigen Europa begannen schon die wildesten Gerüchte über die Reise umzugehen, und in Kiev, dem eigentlichen Ausgangspunkt der Fahrt, sammelten sich Abgesandte aus Europa und Asien, um die Beherrscherin des Nordens im Triumph zu sehen; denn das Ansehen einer Triumphfahrt erhielt die Reise durch die ungewöhnlichen Vorbereitungen, deren Einzelheiten man ausführlich in den Arbeiten Alexander Brückners®*) findet.

Wozu aber begab sich Katharina mit ihrem ganzen Hofstaat, mit den Gesandten der europäischen Mächte auf die Reise?

Offiziell bekanntgegeben war eine Inspektionsreise der Kaiserin in die neuerworbenen Provinzen. Befremdend jedoch wirkt der außergewöhnliche Aufwand, der in ihrem Verlauf sichtbar wird, „la marche triomphale“,*) „notre impériale caravane“) die in die Augen fallende Inszenierung.

Eher paßt hierzu die Bezeichnung der Fahrt durch Brückner als eine „Lustreise“, eine „partie de plaisir“) der Kaiserin; einige schnitte der Fahrt wirken durchaus so.

Es ist aber unmöglich, den dominierenden politischen Ton, der bald lauter, bald verdeckter mitklingt, zu überhören. Brückner be- gnügt sich in dieser Beziehung mit unbestimmten, widerspruchsvollen Hinweisen. In seiner letzten speziellen Arbeit über die Reise”) ist von einer politischen Bedeutung des Unternehmens nirgends die Rede, nur gelegentlich heißt es etwa (S. 486): IIyremecrgxe .... ge MOTXO He HMETb BAXHOTO IIOXHTHYECKAO anaden . . . während er in seinem früheren Werk über Katharina doch immerhin sagt (S. 356): „. . Und in der Zeit einer solchen Spannung und Erregung erschien Katharina an den Grenzen ihres Reiches, in Cherson und Sevastopol, umge von ihren Gesandten, und Ministern, in Gesellschaft Joseph II., von welchem man wußte, daß er zu einer Teilung der Türkei die Hand

zu bieten bereit war; in solcher Zeit revidierte man angesichts der

Welt die Streitkräfte, über welche Rußland verfügte. Kein Wunder, daß die partie de plaisir der Kaiserin die Bedeutung einer schwer- wiegenden politischen Aktion gewann.“

8) Ibid.

6a) Vgl. noch Esipov: Kievsk. Star. XXXI, 175 ff.

2) Ség. Mém. I, 422 f.

7) Ibid.

8) Kath. II. S. 356.

®) Putesestvie Ekateriny II v Krym. Istor. Vestnik. XXI. 1885.

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Aber auch hier ist anscheinend zu verstehen: eine politische Aktion in den Augen der Zeitgenossen und nicht in der Uberzeugung Brückners, andernfalls hätte seine spätere Arbeit diesen neuen Ge- sichtspunkt hervorheben müssen.“)

Die politische Lage des Zeitpunktes der Reise allein läßt nach- denken. Seit der Erwerbung der Krim durch Rußland war das Ver- haltnis zur Pforte immer gespannter geworden. In der Türkei rüstete man ganz offen, unter den Augen Europas, während Katha- rina hinter der Maske der friedliebenden Herrscherin das „große Projekt“ mit Zähigkeit im Auge behielt.

Die Annexion der Krim war ein Anfang gewesen. Die Reise liegt in derselben politischen Linie. Schon vor 1783 war sie geplant,“) als eine „Reise nach Cherson“, gerade nach Cherson, der Basis für jede kriegerische Operation gegen die Pforte. Damals wurde ihr ein poli- tischer Zweck nicht abgesprochen. Bezborodko und Potemkin gaben ihm die Formulierung „Konsolidierung der Freundschaft der Alli- ierten“, ) denn eine Zusammenkunft mit Joseph II. war von vorn- herein vorgesehen. Durch immer wieder auftretende Seuchen in Cherson wurde die Fahrt stets weiter hinausgeschoben.

Als sie dann aber 1787 wirklich stattfand, hatte sich die Spannung zwischen Rußland und der Pforte durch den vom Pascha von Achal- zich unterstützten Einfall der Lesghier in Georgien so verschärft,

die geringste kriegerische Bewegung von einer Seite heraus- fordernd wirken mußte. Und gerade da, als die diplomatischen Ver- handlungen auf des Messers Schneide standen und die Pforte nach- drücklicher ihre Rüstungen betrieb, “) begab sich Katharina mit auf- falligem Prunk in den Süden ihres Reiches, vereinigte sich mit ihrem Alliierten und hielt eine imponierende Heerschau über ihre zu- sammengezogenen und verstärkten Truppen ab.“)

Das politisch-kriegericha Moment ist nicht zu verkennen. Katharinas Ville zum Krieg, zu weiterer Eroberung, wenn auch nur des Cherson einengenden und beschränkenden Landzipfels mit Otakov,"*) wurde von ihr anfangs sehr wohl verborgen. Vor allem wollte sie nicht die Angreifende sein und eine unantastbare Fassade bewahren, um immer einlenken zu können; deshalb die sich

se) Esipov (s. u. Literatur verzeichnis), der, soweit ich sehe, letzte Betrachter der Taurischen Reise, verzichtet überhaupt darauf, die breite Masse der von ihm zusammengetragenen Einzelheiten zu wägen. Seine Stoffsammlung kann zur Aus- füllung des Rahmens dienlich sein. In der vorliegenden Arbeit sollte das Be- deutungs volle herausgehoben werden.

10) Fontes 58, 89. Cob. an Jos. 2. Aug. 1780.

11) Ibid. u. Fontes 53, 484. Cob. an Jos. 3. Nov. 1784.

13) Nach Zinkeisen, Gesch. d. osmanischen Reiches VI, 614 war die ganze Türkei von religiösem Fanatismus und der Stimmung zum „heiligen Krieg“ gegen Rußland erfaßt.

13) Vgl. Fontes 54, 57.

18) Pot. zu Ség. Mém. II, 26: .. mais au moins devriez-vous consentir à laisser resserrer les Turcs dans des frontières plus naturelles, plus convenables, pour évitert des guerres dont on est à chaque instant menacé.“

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stets wiederholenden Versicherungen des Vertreters ihrer offiziellen Politik, Bezborodkos, und im Anfang auch Potemkins, Rußland würde nur zum Krieg schreiten, wenn seine Ehre beleidigt und an- gegriffen sei.“)

Eben das ist auch die Ursache der Haltung Bulgakovs ın Kon- stantinopel, der bis zum letzten Augenblick die friedlichen Absichten Rußlands versichert, weil er nicht unterrichtet war; beständig fehlten ihm in Momenten der Entscheidung feste Instruktionen.?*) Diese seine zweideutige Haltung bot der Türkei eine Gelegenheit mehr, die russische Ehre anzugreifen. Katharina machte ihre Politik hinter diesen Kulissen. Ségur, der notgedrungen als Vertreter Frankreichs, gerade diese Symptome beobachtet, erkennt diese Stellung Katha- rinas deutlich, wenn er nach den Chersoner Verhandlungen, die die Forderungen Rußlands an die Pforte im Grunde überhaupt nicht eingeschränkt hatten, zu Joseph II. sagt:“) „... tout dépend de la manière dont en. elle-même considère ces propositions, et du ton avec lequel elles seront présentées; peut-étre ne les regarde-t- elle que comme de bons matériaux préparés pour un manifeste. Tout est prét; et dés qu’elle le voudra; sous prétexte que les Turcs tardent A la satisfaire sur les griefs dont elle se plaint, une partie de ses troupes peut attaquer Oczakov et Akerman... .“

Katharina wollte den Krieg, denn sie wollte Eroberung, das heißt: Ruhm.

Im Verlauf der Reise tritt diese Absicht immer klarer hervor; an vielen gelegentlichen, oft nur scheinbar scherzhaften Bemerkungen der Kaiserin und ihrer Begleiter, die sich des Zweckes der Fahrt sehr bewußt waren, läßt sich dieser Vorsatz wohl deutlich beweisen.

Aber er trat dabei in einer Form auf, die auch die öster- reichischen Politiker, denen das „große Projekt“ vertraut war, über- raschte. Katharina, wie auch ihre Mitarbeiter, brachten unzweifelhaft ihren Willen zum Ausdruck, auch ohne tätige Unterstützung Oster- reichs das Unternehmen gegen die Türkei zu wagen. Rußland fühlte sich allein stark genug, es wünschte von seinem Verbündeten nur diplomatische Hilfe.

18) Font. 54, 152, Cob. an Kaunitz 8. Juni 1787: . . et lui (Bezborodko) de son coté m’assüre toujours que l’Impératrice ne desire nullement la guerre: ce ne s’y prêtera que dans le cas sa dignité blessée ne lui permettroit pas autre parti. Vgl. auch S. 154. Pot. zu Ség. Mém, I, 881: .. je suis prêt à vous signer, si vous le voulez que nous n’attaquerons pas les Turcs; mais songez-y bien, s’ils nous attaqueront, nous pousserons la guerre et nos armes aussi loin que possible.“ Ség. Mém. II, 26. Ség: J’entends ... . vous voulez Oczakov et Akerman ... c'est à peu près demander Constantinople; c'est declarer la guerre pour prouver le désir de conserver la paix.“ Pot.: „. .. Non . Mais, si ON nous attaque nous prendrons les indemnités qui nous conviendront. Il serait cependant possible, si vous le voulez, et sans combattre, de rendre indépendants les princes de Moldavie et de Valachie ...“ Ség.: „Sans combattre! Vous ne le croyez pas.“ 16) Vgl. Zinkeisen VI, 614 ff. Sbornik 26, 187. Bezborodko an Voroncov, Aug. 1787. 17) Ség. Mém. II, 81.

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Schon einige wenige herausgegriffene Aussprüche geben eindeutig darüber Auskunft. Katharina schreibt 1783 an Potemkin: ,,...Ich bin fest entschlossen, auf niemanden zu rechnen und meiner eigenen Kraft zu vertrauen. Ist der Kuchen erst gebacken, wird jeder Eßlust ver- spüren. Ich rechne aber so wenig auf meine Alliierten, als ich den Donner, oder richtiger, das Wetterleuchten der Franzosen fürchte.“ Oder man höre die Kiever Tagebuchstelle Chrapovickijs:“) „. ee (Pforte) no ¥ymoMy COBBTY BOOpVXaO Tb, HO MH MORCMD CAMH HAYATD: 1—e Axammuickoe Abo: 2—e CMbHa rocnokxaps, Kb HAM YKIOHHB- marocs, koero He BHIAaXNM'b....”

Im Verlauf der Fahrt wird die Sprache immer offener. Ein Brief Cobenzls an Kaunitz aus Sevastopol’*) z. B. bringt eine An- zahl von 5 in denen man sich von russischer Seite ganz offen ausspricht. Einige Auszüge aus diesem Brief lauten: (Katharina zu Joseph II.) „. . que la France bien loin de pouvoir penser 4 une guerre, n' avoit pas de quoi payer le courrant de ses dépenses en temps de paix, que par conséquent le moment paroissoit favorable et qu'il falloit en profiter. Au reste ajouta !’Impératrice contre les Turcs je me vois assez forte, il suffit que Vous ne m’ empéchiez pas.

(Potemkin zu Ligne): ,,...dites 4 Sa Majesté Empereur, si vous en avez loccasion, que nous ne Lui demandons autre chose contre les Turcs que de nous laisser faire et tout au plus de faire quelque démonstration entre temps en notre faveur...

(Potemkin zu Joseph II.): „. (la France) feroit d’abord beaucoup de bruit, qu'elle iroit jusqu’ aux démonstrations de toute espace, mais qu'elle finiroit par prendre elle même un part du gfiteau.“*)

In einem anderen Brief an Kaunitz”) äußert sich Cobenzl: . Mais la possibilité que |’Impératrice nous a avouée d’entrer en

même sans nous, en nous laissant après le choix d’être ou spectateurs ou acteurs, mérite la plus sérieuse attention. II seroit très fâcheux que la Russie s’emparat d’Oczakow et de son territoire, sans que nous de notre côté ne fissions aucune acquisition...

Dieser Plan gibt auch der kurzen, verletzenden Einladung Katha- rinas an Joseph II. erst einen Sinn. Sie glaubte, ihn nicht nötig zu haben, und sıe wollte ihm dies zeigen. Joseph II. verstand sie erst, als er persönlich mit ihr zusammentraf und ihre eigene Sprache hörte. Schon ın Cherson, wo zunächst nur oberflächlich die Rede von Politik war, sah er klar, er schrieb an Kaunitz:“) „...L’Imp£ratrice meurt d'envie de recommencer avec les Turcs; elle n’écoute sur ce chapitre aucun raisonnement, car son amour-propre et son bonheur l’aveug-

18) Chrap. S. 17 f. 7. April 1787. 10) Font. 54, 151 ff. 8. Juni 1787. 20) ib.

21) ib. S. 152.

22) ib. S. 158.

33) Font. 54, 164 ff. 18. Juni 1787. 24) Arneth S. 292 Anm.

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lent au point qu’elle se croit seule suffisante d’exécuter tout ce qu’elle veut, sans que jy coopére, et c'est par qu'elle s’imagine de faire évanouir toutes les difficultés que je lui ai fait sentir relativement au Roi de Prusse, et 4 la France.“ Und nicht erst berauscht durch ihre kriegerische Machtentfaltung hat Katharina ihren selbständigen Plan gefaßt. Er war seit langem gereift, ihre Machtmittel, die ihr der von Potemkin arrangierte Triumphzug zeigte, waren ihr eine er- wartete Bestätigung.

Jee? II. war widerwillig zur Zusammenkunft gekommen, im Glauben, Katharina wolle ihn enger verpflichten; das Bündnis aber aufzugeben, wovon damals in Politikerkreisen das Gerücht ging, lag ihm fern. Sein Wort, das der damalige preußische Gesandte in Kon- stantinopel, Diez, als Beweis dafür anführte:“) „Mit seinen Freunden muß man nun einmal den Becher bis auf den Grund leeren“, läßt sich eher entgegengesetzt deuten. Die Ereignisse der Reise, wie man sehen wird, kräftigten jedenfalls die Beziehungen der beiden Herrscher. Aus dem Brief, den Joseph nach der Entscheidung in Konstantinopel, am 30. August 1787”) an Katharina schrieb, wird man keine Be- denken von seiner Seite mehr herauslesen können. Es heißt da unter anderem: „. . . Je sens la juste indignation que cela doit donner V. M. I., et je la partage bien sincérement avec Elle. Que ne sommes- nous dans ce moment à Sevastopol? On ne pourrait s’empécher d'aller par un bon vent souhaiter à grands coups de canon le bon jour au Grand-Seigneur et à ses insolents conseillers. Pour moi, fidèlé aux engagements, qui me lient comme allié 4 V. M. I., et encore plus par le tendre attachement et la sincére amitié que je Lui ai voués pour la vie, je suig prét 4 Lui prouver par tous les moyens possibles, combien Sa cause est la mienne... D

Die einzelnen Ereignisse der Fahrt werden die Plane Katharinas am besten erhellen.

Den Verlauf der Reise kann man vielleicht, ähnlich wie ein Schauspiel, durch eine Kurve darstellen, die kurz ansteigt, dann einen Ruhepunkt, ein retardierendes Moment, bildet, um in zwei An- läufen zu einem Höhepunkt hinanzusteigen und schnell wieder ab- zufallen. Daraus ergeben sich die durch die Hauptetappen gegliederten Abschnitte der Reise.

Das Vorspiel, oder was ich so nennen möchte, reicht von der Abreise von Carskoe-Selo, am 18. Januar (n. St.), bis zur Ankunft in Kiev (9. Februar); den Aufenthalt in Kiev, bis zum 3. Mai, be- trachte ich als das retardierende Moment. Von hier bis zur Abfahrt aus Cherson am 28. Mai ergibt sich der erste Hauptteil der Reise. Den Übergang zum zweiten großen Teil bildet ein kurzes Zwischen- spiel in der Steppe zwischen Cherson und Perekop, am 29. und 30. Mai. Der zweite Teil umfaßt die Reise von der Ankunft in Bach- Cisaraj, am 31. Mai, bis zur Durchfahrt durch Perekop, am 11. Juni.

36) Zinkeisen VI, 621 Anm. Diez, Depesche v. 10. Juli 1787. 26) Arneth S. 299.

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Von da ab bildet die Riickreise tiber Poltava, Chafkov und Tula nach Moskau (8. Juli) und später Carskoe-Selo (22. Juli) das Nachspiel.

Die Hauptetappen des ersten großen Teiles, also von Kiev bis Cherson (3. Mai bis 28. Mai) sind Kanev (6. und 7. Mai), Kremen- tug (11. bis 14. Mai), Ekaterinoslav (20. Mai), Cherson (23. bis 28. Mai); die des zweiten Bachlisaraj (31. Mai bis 1. Juni), Inker- man—Sevastopol’ (2. bis 3. Juni), wieder Bachtisaraj (4. bis 5. Juni), Simferopol’—Karasubazar (6. Juni), Staryj-Krym—Karasubazar (7. bis 10. Juni).

Der erste Teil der Fahrt wirkt, von hier gesehen, nur wie eine, wenn auch prächtige, Ouverture zu dem Triumphzug der eigentlichen Reise. Die Kaiserin hatte am 1. Januar wie gewöhnlich ihren Neu- jahrsempfang abgehalten und verabschiedete sich abends mit einem großen Ball offiziell von Petersburg. Am folgenden Tag reiste sie, nach Anhören der Messe in der Kazaner Kirche nach Carskoe-Selo, wohin ihr am 6. die drei Gesandten, Cobenzl, Ségur und Fitzherbert, folgten und den Abend mit ihr verbrachten. Die Kaiserin war sehr schweigsam und schien verstimmt. Ségur bemerkt, die Reise habe wie ein dunkles Ereignis auf allen gelastet. Katharina aber war wohl mehr mit Familiensorgen beschäftigt. Sie hatte nämlich beabsichtigt, die Großfürsten Alexander und Konstantin mit auf die Reise zu nehmen. Kurz vorher aber waren beide erkrankt, und Konstantin, an dem ihr gerade in diesem Fall am meisten lag, ihres „großen Projekts wegen, war noch nicht wieder hergestellt, zur großen Freude seiner Mutter, der Großfürstin, mit der Katharina schon vorher deswegen einen unangenehmen Briefwechsel gehabt hatte. Außerdem war die Kaiserin über die Affaire des Bruders der Groß- fürstin, des Prinzen von Württemberg, erregt, den sie eben aus Ruß- land verwiesen hatte. Chrapovickij 535 darüber am 4. Januar (a. St.). Zu allem kam noch eine leichte Erkrankung Mamonovs; Katharina begann die große Fahrt mit nicht gerade heiteren Ge- fühlen.“

Auch über den drei Gesandten lag eine gedrückte, wie von künftigen Gewittern und Unheilen, wie Ségur sagt,“) erfüllte Stim- mung. Der später Schreibende glaubt das als Vorahnungen großer, künftiger Umwälzungen deuten zu müssen. Aber er selbst war von politischen Augenblickssorgen erfüllt: die Beziehungen Rußlands zu Frankreich schienen durch die Drohung der Reise gegen die Türkei

efahrdet; dazu kam die innere Finanzkrise Frankreichs. Gering- kigi ere Dinge rein privater Art verdüsterten die Stimmung Fitzherberts. Cobenzl aber, geborener Höfling, war eigentlich stets von einer unverwüstlichen Heiterkeit, niemals von Stimmungen sichtbar beeinflußt. Unter den drei Diplomaten dominierte er nicht nur als Vertreter der alliierten Macht; der Schüler Kaunitz’ wußte sich am russishen Hof seiner Fähigkeiten und Mittel zu bedienen.

27) Font. 54, 96 ff. Cob. an Jos. 18. Jan. 1787. 28) Ség. 1, 428.

1 RE 6 31

Er besaß in hohem Grade jenes „talent de séduire“, das Friedrich der Große in seinem politischen Testament für einen Diplomaten am russischen Hof wünschte. Er vernachlässigte niemanden, er gewinnt Bezborodko genau wie das Hoffräulein Protasova. „La cour semblait son élément“, sagt Ségur von ihm, vielleicht mit einem leisen Be- dauern über seinen eigenen Mangel hierin. Denn dieser französische Diplomat, dessen Freunde Nassau und Ligne waren, der mit Lauzun und de Broglie in Amerika gekämpft hatte, der die Gesellschaft von Schriftstellern und Künstlern suchte, besaß eine gewisse Schwerblütig- keit, die ihn gelegentlich bedrückte. Trotzdem hatte er bei Katharina roßen Erfolg, sie schätzte seine Kenntnisse, seine Lebensart, sein iterarisches Talent, seinen Geist und nahm ihn in den Kreis der Habitués ihrer Tafelrunde der Eremitage auf. Auch auf dieser Reise, die für Ségur als Vertreter Frankreichs sehr unangenchme und schwierige Lagen brachte, wußte er sich in der Gunst der Kaiserin zu behaupten. Cobenzl schreibt an Joseph:“) ,,L’Impératrice traite à merveille le Comte de Ségur, qui a fait tout ce qu'il falloit pour réussir complétement ici, et que le Prince Potemkin aime comme son enfant. Neben diesen beiden sehr verschiedenen Menschen, die beide erfolgreiche Politiker waren, tritt Lord Fitzherbert etwas zu- rück. Er hatte politisch überhaupt keine Erfolge aufzuweisen, wie ja England in der Politik Katharinas in diesem Zeitpunkt ziemlich in den Hintergrund geschoben ist. Aber auch er fügte sich dem glänzenden Kreis der Persönlichkeiten um Katharina ein; seine Melancholie und seine ständige gelangweilte Miene, unter der sich „un esprit fin et orné““ ) verbarg, sah Katharina mit Vergnügen in der wechselnden Reihe ihrer Tafelrunde. |

Die drei Gesandten schlossen sich in Carskoe-Selo einem Hofstaat an, oa) dem allerdings noch die interessantesten und wichtigsten Per- sönlichkeiten fehlten. Da waren Mamonov, ,„lenfant gâté“, wie Joseph II. ihn nannte,“) der sich außerordentlich gut an die Gesell- schaft um die Kaiserin anpaßte, sich mit Ligne und den Gesandten anfreundete, so daß Cobenzl an Joseph schrieb:“) „. .. ayant reçu une bonne éducation, et doué d’ailleurs d’assez esprit naturel 4 une con- versation beaucoup au dessus du celle de ses prédécesseurs, et qu’ on peut plus aisément causer avec lui... II a des talens, dessine fort joliment...“ Mit Potemkin verband ihn eine gemeinsame Liebe zur Musik. Ihm reihten sich die übrigen Höflinge an: Andrej Suvalov, der Mazen, der Oberkammerherr Ivan Suvalov, der sich eben durch Tadeln der Petersburger Normalschulen unbeliebt gemacht hatte, der Graf von Anhalt, der als Generaladjutant die Kaiserin begleitete und

2) Font. 54, 130. 25. April 1787.

30) Ség. I,

30a) Eine Liste der Mitreisenden bei Esipov: Kievsk. Star. XXXI (1890) 891 f. und XXXIII (1891) 72 f.

$1) Ség. II, 86.

32) Font. 54, 188 f. 25. April 1787.

33) Ligne, Lettres. S. 28.

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von ihr sehr ausgezeichnet wurde, der Hofmarschall Barjatinskij, der immer Beschäftigte, der Oberstallmeister Naryskin, „le meilleur des hommes et le plus enfant“,**) der „buffon de la cour“, mit dem Katharina gern zu ihrer Erheiterung Politik treibt, denn, sagt sie: „C'est un grand plaisir que de lui donner à arranger I Europe“.“

So setzte sich denn am 18. Januar der riesige Zug der kaiser- lihen Karawane in Bewegung. Er bestand aus vierzehn Reisewagen, die auf Kufen gesetzt waren, hundertundvierundzwanzig Schlitten und vierzig Ersatzschlitten. Auf jeder Station standen fiinfhundert- undsechzig Pferde zum Auswechseln bereit. Es war die kälteste Zeit des Jahres und der Winter war ungewöhnlich hart. Der pomphafte Zug von Schlitten, von denen jeder verschwenderisch mit Pelzen und Fellen ausgestattet war, zog in rasender Schnelligkeit über die einsamen weißen Ebenen. Während vieler Tage blieb die Land- schaft unverändert, und Ségur, wie wohl auch die übrigen Ausländer, fühlten sich durch die Einförmigkeit bedriickt. Die Kaiserin änderte ihre gewohnte Tageseinteilung nicht, sie erhob sich an den verschie- denen Halteplätzen wie immer um sechs Uhr und arbeitete, um neun fuhr man ab, um zwei Uhr hielt man zum Diner und fuhr wieder weiter bis sieben Uhr. Da es sehr früh dunkelte, waren zu beiden Seiten des Weges in kurzen Zwischenräumen riesige Scheiterhaufen auf- geführt, die bei Anbruch der Nacht in Flammen gesetzt wurden. Es schien allen ein seltsamer Anblick, wie mitten durch die tiefste Ein- samkeit ein taghell erleuchteter Weg führte, auf dem die orientalische Pracht der Schlitten dahinsauste. ,,C’était ainsi que la fière auto- catrice du Nord, au milieu des plus sombres nuits voulait et comman- dait que la lumière se fit.“)

Im Schlitten der Kaiserin befanden sich beständig Mamonov und das Hoffräulein Protasova; dazu lud sie dann abwechselnd die Ge- sandten usw. ein. Es war natürlich, daß am ersten Tag Cobenzl be- fohlen wurde, als Gesandter der verbündeten Macht, am zweiten Tag erst Ségur und Fitzherbert.

An jedem Aufenthaltsort fand die Kaiserin einen Palast oder ein elegantes Haus, das besonders für diesen Zweck hergestellt war, in dem sie vielleicht eine Nacht, oft nur die wenigen Stunden des Diners verbrachte, und das dann für immer verödet dastand und verfiel. Die Gesandten erhielten in den Städten bequeme Wohnungen bei reichen Einwohnern, gelegentlich mußten sie aber auch, in den Dörfern, mit den Hütten der Bauern zufrieden sein, und Ségur stellte dann manch- mal Betrachtungen an über die Armseligkeit der Bauern, die in so grellem Gegensatz zu dem Prunk des für eine Stunde in ihre Mitte versetzten Hofes stand. Gewöhnlich verweilte man nicht länger als einen Tag in den Städten. Die Kaiserin empfing den Adel, die Kauf- mannschaft und gab einen großen Ball. In jedem Gouvernement, das sie berührte, wurde sie vom Generalgouverneur empfangen. Aus dem

28) An Grimm, 2. Jan. 1787. Sborn. 28, 891. 35) Ség. I, 429.

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Tagebuch Chrapovickijs erfährt man, daß sie am 22. Januar Berichte über das Gouvernement Pskov von Repnin, der sie in Velikija Luki erwartete, lobte, daf sie mit denen Passeks (23. Januar), iiber das Gouvernement Mohilev, gar nicht zufrieden war und dem Sekretär befahl, Erkundigungen über die Kosten der Illumination einzuziehen. Denn auch die Feuerwerke, die später ein so riesiges Ausmaß an- nahmen, begannen schon hier, nur fragte die Kaiserin Potemkin nıemals nach den Kosten.

In Smolensk, der einzigen größeren Stadt, die der Zug vor Kiev berührte, blieb die Kaiserin drei Tage, zum Teil gezwungen durch Krankheit Mamonovs, der, wie Katharina sich (an Grimm) 5 . . . S est couché tout de son long dans son lit, avec une fièvre de cheval et un mal de gorge affreux .. .“ und durch eine plötzlich unter der Dienerschaft auftretende Augenkrankheit. Die drei Tage vergingen unter endlosen Festlichkeiten, Bällen, Reden usw.; da außer dem ansässigen auch der Adel aus der weiteren Umgebung zu- sammengekommen war, schien die Oberfläche des Lebens eine gewisse Zivilisation anzudeuten, „mais“, schreibt Ségur, „sous cette écorce légère l’observateur attentif retrouvait encore facilement la vieille Moscovie“.

Schon in Smolensk begann der Menschenzusammenlauf, der sich später immer noch steigern sollte. Als man Katharina darauf auf- merksam machte, gab sie ironisch zur Antwort:“) .. . H Meß BAA CMOTpETL Ryuam codnparor es.“

Seit man das Petersburger Gouvernement verlassen hatte, hatte die Landschaft sich langsam verändert. Hinter Porchov überschritt man eine Hügelkette, der Eindruck der Einöde verschwand, und Smolensk überraschte mit seiner herrlichen Lage am Abhang des Berges über dem Dnepr die gelangweilten Reisenden. Von Smolensk ab wurden die Dörfer zahlreicher, die Landschaft immer schöner, je weiter man sich dem Süden näherte. An der Grenze des Gouverne- ments Kiev endlich wurde die Kaiserin am 4. Februar von Rumjancov auf seinem Gut WySenki empfangen und nach Kiev geleitet, wo man in der Nacht vom 9. zum 10. Februar ankam.“)

Während dieses Teiles ihrer Reise, über den die Quellen sich hinsichtlich irgendwelcher Reformen ganz ausschweigen, und der sich nicht sehr von ihren früheren Fahrten unterscheidet, hatte Katharina ihre Geschäfte nicht vernachlässigt. Sie erledigte regel- mäßig ihre Korrespondenz (u. a. jede Woche einen Brief an die Groß- fürsten Alexander und Konstantin, an den Thronfolger usw.), sie

38) Sborn. 28, 898. 19. Jan. 1787. 37) Chrapov. S. 13. 17. Jan. 1787.

37a) Über frühere Zarenbesuche in Kiev unterrichtet V. S. Ikonnikov (s. u. Literaturverzeichnis) S. 15 ff., 24 ff., 48 ff. Gegen Peters d. Gr. Bemühungen um die Veste Kiev (Stützpunkt der Südfront) 1706 und 1709 hebt sich die Südreise seiner Tochter (1744) eigenartig genug ab. In ihrer Suite übrigens die junge Katharina mit dem Thronfolger.

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verlor ihre iibrigen politischen Pline nicht aus dem Auge (lange Ge- 5 mit Ségur über den französisch- russischen Handelsvertrag, der

in Kiev endgültig abgeschlossen wurde), sie hatte die Unter- nehmungen und Fortschritte der einzelnen Gouvernements, die ihr in schriftlichen Berichten vorgelegt wurden, gelobt und getadelt, sie beschäftigte sich mit der Vorbereitung der Duell Gesetzgebung, sie las Blackstone. Auch in Kiev, wie auf der weiteren Fahrt, führte sie ein Leben wie in Carskoe-Selo oder in Petersburg.

„Ah! Bon Dieu! Quel train! Quel tapage!“ ruft Ligne inmitten des Völkergewühls von Kiev aus,“) „que de diamants, d'or, de plaques et de cordons, sans le Saint Esprit! De chaines, de rubans, de turbans et de bonnets rouges, fourrés ou pointus! ... des

is . . . sont venus en députation ainsi que plusieurs autres sujets des frontières de la grande muraille de cet empire chinois et de celui de Perse et de Byzance... Louis XIV. aurait été jaloux de sa soeur Cathérine II.“ Wie in einem magischen Theater sah man Antike neben der neuen Zeit, Zivilisation neben Barbarei; Kaukasier, Georgier, Kalmüken neben Europäern aller Länder umdrängten den Palast Katharinas, der auch hier für sie gebaut war. ,,C’était tout Orient accouru pour voir la moderne S&miramis recevant les hommages de tous les monarques de l’Occident.‘”) Und bald nach ihrer Ankunft, nachdem sie Kiev und die Umgegend besucht hatte und verstimmt und unangenehm berührt zurückgekommen war (Rumjancov wurde sehr ungnädig behandelt), begann sie inmitten der alten, halb zerstörten Stadt, in der sie notgedrungen den Eisgang des Dnepr erwarten mußte, Hof zu halten und empfing Europa und Asien. Damit kam in das Völkergemisch eine gewisse Ordnung, Kreise der Politik, des Geistes, der Hofgesellschaft sonderten sich.

Mit großem Vergnügen hatte Katharına den Fürsten de Ligne empfangen; Bezborodko, der Hüter ihrer politischen Pläne, höflich und schweigsam, Potemkin, eben von einer Reise in die Krim zurück- gekehrt, waren erschienen; die Kaiserin sah ihren Kreis der Eremitage vollzählig um sich, noch vermehrt durch den Prinzen von Nassau- Siegen, den „Weltumsegler“, der von Potemkin eingeführt und sehr gnädig empfangen worden war. Mitten in der alten Hauptstadt war plötzlich der Geist des 18. Jahrhunderts aufgestanden. Um eine geistvolle Fürstin scharten sich Männer, erwachsen und erzogen in der alten Kultur Europas, gewöhnt an vertrauten Umgang mit den Größten ihrer Zeit, die die Welt gesehen hatten und überall in ihr heimisch waren; die Lebenskunst und die Kultur der Lebens- führung des Zeitalters schien sich auf den Trümmern einer ver- gangenen Zeit zu erheben. Katharina genoß die Situation, die Augen Euro waren auf sie gerichtet, auf dieses, schon dem Äußeren nach, unerhörte Unternehmen, das unfaßbar schien und Unheil und Um- sturz nach sich ziehen mußte.

38) Ligne, Lettres. S. 8f. 20) Ség. II, 4 i

Vom Kreise um Katharina liefen die Fäden, durch den nächst größeren Ring der Hofgesellschaft, in die einzelnen Gruppen, die sich in Kiev schnell gebildet hatten.

Naturgemäß waren die Häuser der Gesandten die Mittel punkte für die politisch Interessierten, deren Länder sie vertraten, daneben traten die russischen Politiker, angeführt von Bezbo- rodko, die beiden polnischen Parteien, die eine ge- führt von Branicki, die andere die Poniatowski-Partei, von Nassau und Stackelberg, dem „Vizekönig von Polen“. Die polnische: Partei besonders machte sich durch Intrigen und Unklugheiten unbeliebt, so daß Potemkin gelegentlich u A mußte. Branicki und seine An- hänger versuchten mit allen Mitteln, noch jetzt die vorgesehene Be- pegnung mit dem König von Polen zu verhindern oder doch erfolg- os zu machen. Nassau arbeitete mit aller Macht dagegen. Aber was er als „Paladin“ der Kaiserin vor Branicki voraushatte, glich die Nichte Potemkins, die mit Branicki verheiratet und Ehrendame der Kaiserin war, wieder aus. Wenn hier um ganz bestimmte Ziele ge- kämpft wurde, auch das natürlich unter der Oberfläche, so ging es in der übrigen politischen Gesellschaft nicht so heiß her. Die drei Ge- sandten Bon sich sogar schließlich vereinigt und machten Russen und Fremden gemeinsam die Honneurs. Ihr Haus glich, wie Ségur sagt,“) einem „Café de l'Europe“ „on y trouvait des hommes de toutes les nations, on y entendait les langages de tous les pays, on s’y nourissait des mets, des fruits et des vins de toutes les contrées,

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on y jouait 4 toutes les sortes des jeux“.

Es war das politische Element, es waren die verschiedenartigen politischen Probleme, die alle diese Kreise bewegten. Auch der Fürst von Ligne, Mittelpunkt der Gruppe, die, weniger aktiv, betrachtend und überlegen die Zauberwelt dieser Reise genoß, hielt es für not- wendig, eine Rolle im politischen Spiel zu übernehmen und gelegent- lich als „diplomatischer Jockey“ für Osterreich aufzutreten. Zu thm fand sich Nassau, der spanische Grande, im Eremitagekreis der Un- verwundbare genannt, auch er im Grunde unbeschwert von politi- scher Verantwortung, ein Abenteurer, robust aktiv, nicht geistig wie Ligne. Aber wie dieser hätte auch er von sich sagen können: „Moi qui n’ai rien à risquer et peut-être quelque gloire à acquérir. . .‘“*®) Im Gefolge Katharinas waren diese beiden Paladine die Aben- teurer, wenn auch verschiedener Prägung, des westlichen Europa. Mit diesen beiden Gestalten, zumal mit derjenigen Lignes, dem Inbegriff westlicher Verfeinerung, kontrastierte die „urrussische“ Figur Potemkins. Bessere Begleiter für ihre Reise nach Taurien konnte die „Cleopätre du Nord“, die „neue Semiramis“ nicht finden.

Während sich die Geister so schieden, blieb Potemkin außerhalb. Von allen umworben, besonders den Polen, „petite et grande Pologne“, bemerkt Ligne, hielt er in der Pelerskaja Lavra

40) Ség. II, 4. aa) Ligne, Lettres. S. 11.

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über der Stadt Hof, von orientalischem Prunk umgeben, und empfing, nach Laune im Paradeanzug oder im Négligé, ganz Europa bei sich, das heißt, er empfing es gewöhnlich nicht, sondern ließ es im Vorzimmer stehen.“)

Im Verlauf der drei Monate in Kiev folgten Feste auf Feste, der ganze Glanz des Carenhofes wurde aller Welt entfaltet, noch dazu durch einen Zug orientalischen Pompes verstärkt. Wie angeregt, ja ausgelassen und erwartungsvoll man besonders im engeren Kreis war, wo man das Eigenartige der Situation am besten fühlte, geht aus einem Brief Katharinas an Grimm hervor.“) „... die Leute sind ganz ausgelassen; sie rasen und sprechen und lachen einige Male alle zu- gleich, und ich höre und sehe zu, und sitze dabei ganz still, in einer Ecke; ja, das ist ein Leben, und dennoch nennen sie das: une vie fort douce; die dollen Leute!“ f

Bei Katharina, aber auch bei allen anderen, stellte sich allmählich Müdigkeit und Überdruß ein. Am 8. Februar schon schreibt Katha- rina an Grimm: „. . . . nous avons passé tous ces jours-ci en bals, en fétes, en mascarades et aujourd'hui lundi, Dieu merci, le caréme a commencé et a mis fin 4 tous ces bruits.“**) Aber nur die großen Feste hörten auf, dafür besuchte Katharina mit ihrem Gefolge die Kirchen und die Lavra. Chrapovickij notiert am 15. Februar: 64. Gun Bb OGUPB UX nemeparb H NIPURIANBIBAIHCK KO BCEMB MO maus“

Unter dieser anscheinend nur von nichtigen Dingen erregten Oberfläche war jedoch während der ganzen Zeit die Politik nicht ein- geschlafen. Katharinas türkische Absichten, noch verborgen, aber von den meisten erwartet, gaben allen Gesprächen und Scherzen den doppelten Sinn, den alle verstanden, besonders in der nahen Um- sabang der Kaiserin. Ligne schreibt an die Marquise von Coigny:**) „On désire et on craint la guerre. On se plaint du ministère d' Angleterre et de la Prusse qui y excitent les Turcs; et on les agace continuellement . . .“ Katharina fürchtete den Krieg kaum. Aller- dings war sie hier in Kiev, am Anfang der Reise, noch zurückhaltend und vielleicht unsicherer als später, nachdem sie ihre Kampfmittel gesehen und sich versichert hatte, daß ihr Plan ausführbar sei.

Auch die russischen Politiker verhielten sich zurückhaltend. Bezborodko blieb es bis zum Ende der Fahrt. Er war beständig den Redeangriffen Cobenzls ausgesetzt, der ihn (gewiß mit Recht) für einen Anhänger der Allianz mit Osterreich hielt, aber unterschätzte, daß er vor allem der Vertraute Katharinas war. Cobenzl erhielt auch in Kiev auf seine Vorstellungen, der gemeinsame Feind Preußen müsse zuerst unschädlich gemacht werden, ehe man an das „große Projekt“

1) Vgl. SE II, 5: . . il semblait qu'on y assistät A l’audience d'un visir de Constantinople, de Bagdad ou du Caire; le silence et une sorte de crainte y ent.“ 2) Sborn. 28, 994. 26. Febr. 1787. 83) Sborn. 28, 898. ) Ligne, Lettres. S. 11.

gehen könne (dessen Anhänger er übrigens mehr als Joseph II. war), die stetig wiederkehrende Antwort, Rußland würde nur zum Krieg schreiten, wenn seine Ehre beleidigt würde. Potemkin allein geht aus seiner Reserve heraus, und seine Haltung ist ganz kriegerish. Er verschmäht nicht, wie schon früher,“) auch mit den gröbsten Mitteln zu arbeiten, so etwa die Vertreibung der Türken aus Europa (man sprach schon sehr offen), als eine Kulturtat hin- zustellen; man höre Ségur, den Vertreter der türkenfreundlichen Macht: „Ce sera peut-être enfin de Kioff que s’élanceront les armées vengeresses qui chasseront d’Europe les féroces musulmans, et qui par favorisent les efforts de l’heroique Grèce, trop longtemps abandonnée au joug intolérable et 4 la féroce cruauté de ses oppresseurs.

Wenn auch noch nicht so offen, wie dann weiterhin, das poli- tische Moment an die Oberfläche trat, so trifft Ségur doch den Kernpunkt sehr genau: „La cour de Cathérine devenait le foyer de la politique et le point sur lequel se fixaient tous les regards des hommes d'Etat.)

Endlich, nachdem eine allgemeine Kanonade den Eisgang des Dnepr verkündet hatte, am 3. Mai (22. April), konnte Chrapovickij in sein Tagebuch schreiben: BRThTau us» Kiega na raıepaxr‘.*”*)

Obgleich die Kaiserin das Gouvernement Potemkins noch nicht betreten hatte, setzte bereits seine Regie ein; denn so kann man es nennen, der ganze Weg war auf das Sorgfältigste hergerichtet. Vom Dnepr aus sah Katharına die Ufer wie eine Folge schöner Bilder an sich vorüberziehen. Jede der verschiedenen Stationen hatte ihre be- sondere Bedeutung, Kanev und Cherson sozusagen als außenpolitische Haltestellen, Ekaterinoslav, Krementug und wieder Cherson als innenpolitische. Ein großer Verbündeter Potemkins war der Früh- ling, den er mit Geschick ausnutzte. Die Gesellschaft, aus Kiev und vom Winter befreit, bestieg in der besten Laune die Flotte, die mächtig und eindrucksvoll auf dem Dnepr lag. Ségur schildert sie: „La flotte, la plus pompeuse, qu’un grand fleuve efit jamais portée. Elle était composée de plus de quatre-vingt bâtiments avec trois mille hommes d’équipage et de garnison; à leur téte marchaient sept galéres d'une forme élégante, d'une grandeur majestueuse, peintes avec art, garnies d Cquipages nombreux, lestes, uniformément vêtus. L’or et la soie étincelaient dans les riches appartements construits sur les tillacs. L’une des galères qui suivaient celle de Impératrice reçut

45) . Mém. I, 401, Pot.: „Convenez que l’existence des musulmans est un veritable fléau pour l'humaniték. Cependant, si trois ou quatre grandes uissances voulaient se concerter, rien ne serait plus facile que de rejeter ces éroces Turcs en Asie, et de délivrer ainsi de cette peste l'Egypte, l’Archipel, la Grèce, et toute l'Europe. N’est-il pas vrai qu'une telle entreprise serait à la fois juste, utile, réligieuse, morale et héroique?

as) Ség. II, 1.

47) Ség. II, 22.

47a) Zum Kiever Aufenthalt Katharinas vgl. auch Ikonnikov a. a. O. S. 51 ff.

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A son bord M. M. de Cobenzl et Fitz-Herbert; une seconde fut assignée au prince de Ligne et à moi; les autres étaient destinés au 8 Potemkin, à ses niéces, au grand-chambellan, au grand-

yer, aux ministres et aux grands que Cathérine avait admis à ’honneur de l’accompagner. Mademoiselle Protasoff et le comte Mamonoff étaient és dans la galère de Sa Majesté. Nous trouvämes chacun sur les nötres une chambre et un cabinet dont le luxe égalait Vélégance, un divan commode, un excellent lit, en taffetas chiné et un secrétaire en acajou. Chaque galère avait sa musique. Une foule de chaloupes et de canots voltigeaient sans cesse à la téte et sur les flancs de cette escadre qui ressemblait aux créations de la féerie.“*)

„Feerie“, ein Wort, von Ligne gefunden, schien allein den all- gemeinen Eindruck, das Märchenhafte der Situation, wiederzugeben. Die Gesellschaft war wir Katharina selbst, in heiterster Stimmung, die Art der Reise war außergewöhnlich und abwechslungsvoll. Das Gefolge wurde zum Diner oder zum Abendcercle durch ein Signal auf die kaiserliche Galeere, die den Namen ,,Dnepr“ führte, gerufen. Auf jeder Galeere begrüßte eine ansehnliche Kapelle Abfahrt und An- kunft der einzelnen Bewohner; in kleinen Booten begab man sich zur Kaiserin, was bei stürmischem Wetter nicht ohne Gefahr war, aber den Reiz des Einzigartigen nur noch erhöhte. Nach ihrer Gewohn- heit hatte Katharina nıemals mehr als zehn Personen zum Diner, als „Herrin einer romantischen Tafelrunde“, wie Andreae sagt. Ihr wöchentlicher großer Empfang fand auf einer besonders dazu be- stimmten Galeere statt. Ligne hätte auf die Frage, was sie eigent- lich auf den Galeeren wollten, geantwortet: „Nous amuser, et voguent les galères!) Und das war auch die Hauptbeschäftigung während der Flußreise, die ganz das Bild einer Lustfahrt, „brillante et agréable“, ) bietet.

Bei dieser Lebensweise ergaben sich natürlich die eigenartigsten und heitersten Situationen. So schildert etwa Ségur seine morgend- lichen Vergnügungen: „Le prince de Ligne dès le matin frappant contre la faible cloison qui séparait son lit du mien, il me réveillait pour me réciter des impromptus en vers et en chansons qu'il venait de composer, et, peu de temps aprés, son chasseur m’apportait une lettre de quatre ou six pages, la sagesse, la folie, la politique, la

alanterie, les anecdotes militaires et les épigrammes philosophiques, . mélées de la maniére la plus originale. Il exigeait une prompte réponse: aussi ne fut jamais plus suivi et plus exact que cette étrange correspondance quotidienne, entre un génér

autrichien et un ambassadeur francais, couchés l'un à côté de Pautre sur la même galère, non loin de |’Impératrice du Nord et

48) Ség. II, 29 ff. ) Ligne, Lettres. S. 19. 80) Ibid.

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naviguant sur le Borysténe, 4 travers le pays des Cosaques, pour aller visiter celui des Tartares.)

Die Abendunterhaltungen beim Billardspiel waren angeregt und heiter. Man sprach iiber Philosophie, Literatur, Geschichte, ohne sich auf gefährlichere, das heißt politische Gebiete zu begeben, man ver- glich gelegentlich die moderne Zeit mit der antiken, nannte Frank- reich Attika, England Karthago, Preußen Macedonien, stellte Katha- rinas Reich mit dem des Cyrus in eine Linie.“) Ligne führt in einem seiner Briefe auch den Vergleich Katharınas mit Kleopatra in der launigsten Weise durch:“) diese Kleopatra verschlinge nicht Perlen, sondern verschenke sie, sie reise nicht, um Cäsaren zu verführen, eine auch politisch zu deutende Anspielung auf Joseph, an denen die Unterhaltungen überhaupt reich waren, usw. Dieser Name Kleo- patra, tauchte, je weiter sie nach dem Süden kamen, immer häufiger auf, da er für den orientalisch-zauberhaften Rahmen wie geschaffen schien. Daneben aber erscheint noch eine andere Gestalt der Antike, mit der Katharina sich gern vergleichen läßt, die der Iphigenie. Sie selbst nennt die Krim „das Land, das Iphigenie bewohnte“.™) Ségur, Nassau, Ligne, alle greifen diese Bezeichnung auf. Sah sich die Kaiserin als Kulturträgerin für die Krim, oder Taurien, wie sie es nannte? Oder liebte sie vor allem den Vergleich mit der über das Meer nach Griechenland (Konstantinopel lag ja in der gleichen Rich- tung) schauenden Priesterin?

„Si vous saviez tout ce qui se dit et se fait journellement sur ma galère, vous mourriez de rire. Tout ce monde qui va avec moi s’est si bien accoutumé chez moi, qu’ils sont comme s ils étaient à la maison“, schreibt Katharina an Grimm.) Gleich danach schildert sie ihm eine Episode eines solchen Abends. Da stellt Cobenzl Reim- worte zusammen, aus denen Ségur aus dem Stegreif Gedichte macht, während Mamonov ihn dabei zeichnet und Katharina im gleichen Augenblick Ligne drei Worte sagt, aus denen er eine lange Geschichte, ebenfalls in Versen, entwickelt.

In solcher Stimmung verging die Fahrt. Das Land sah vom Schiff und im Frühling sehr viel freundlicher aus, als am Wintertage vom Wagen. Dazu hatte Potemkin die Ufer festlich her- gerichtet. Städte, Dörfer und Bauernhäuser waren durch üppige Girlanden und Triumphbogen fast ganz verkleidet, eine bunt und möglichst gut gekleidete Menge bevölkerte und belebte beständig die Ufer. Man sagt, es seien häufig dieselben Volkshaufen gewesen, die sich der Kaiserin zeigten, Potemkin habe sie jeweils weitergeleitet und neu angeordnet. Das läßt sich kaum beweisen. Das Land hatte Menschen genug, sie waren vielleicht auch hierher, wie nach Kiev, aus der Ferne gekommen, um die Carin zu sehen. Vielleicht waren sie auch

51) Seg. II, 48 f.

52) Ség. II, 32.

53) Ligne, Lettres. S. 20.

58) Sborn. 27, 378 f. Kath. an Ligne. September 1786. 85) Sborn. 28, 409. 8. Mai 1787.

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von Potemkin herbeibefohlen worden; jedenfalls aber wurden sie von

in seinem Programm verwendet. Man sah in der Ebene die Manöver der Kosaken in prächtigen Uniformen, sah große weidende Herden, erblickte an den Ufern wimmelnde Märkte, die sich nach der Vorbeifahrt der Flotte in nichts auflösten. Der Dnepr war von Booten mit singenden Mädchen und Burschen belebt usw. Zur Lan- dung wurden immer Punkte gewählt, die landschaftlich schön oder durdi ein Landhaus, ein sauberes Dorf ausgezeichnet waren. Abend für Abend gab es Illuminationen.

Katharinas Lustfahrt war durch keinen Mißton gestört. Sie sah

ein blühendes Rußland in prächtigen Einzelbildern an sich vorüber-

eiten. Die nördlichen Provinzen, Kiev vershwanden und ver-

laßten. „Le prince Potemkin fait aller toute la machine a son plaisir“, schrieb Joseph II. an Lascy.“)

„Die Elemente, die Jahreszeit, Natur und Kunst, alles schien sich zu verschwören, um den Triumph dieses mächtigen Günstlings zu sichern. Er hoffte, indem er seine Herrscherin in dem Augenblick mit so viel Zauber umgab, in dem sie die durch ihre Waffen neu er- oberten Landschaften durchschiffte, ihren Ehrgeiz zu entflammen un ihr A Wunsch einzuflößen, kühn neue Eroberungen zu ver-

en.“

Ségur sieht, wenn er dies schreibt, vielleicht ein wenig zu viel. Es scheint, daß Potemkins Ansichten und Pläne gelegentlich schwankten, daß er nicht immer aus eigensten Kriegsgelüsten solch offene Sprache führte, wie oftmals Se Ségur gegenüber, sondern daß er vor allem Katharinas Gedanken und Wünsche kannte und sie zu erfüllen strebte, da sie ihm nur nützlich sein konnten.

Am 6. Mai ging die Flotte beim Städtchen Kanev vor Anker, wo der polnische König seit langem Katharina erwartete. Würden- träger der Kaiserin holten ihn in einer prächtigen Schaluppe ein, die er mit den Worten betrat: ,,Messieurs, le roi de Pologne m’ a chargé de vous recommander le comte de Poniatowski“, e) eine Geste der Verlegenheit. An Bord war der gesamte Hofstaat um die Kaiserin versammelt. Nach einer förmlichen Begrüßung zogen sich beide Majestäten zu einer halbstündigen Unterredung zurück. Das Diner Katharina schien verlegen, Stanislaw melancholisch war nach Lignes Schilderung sehr angeregt, während Ségur schreibt: „On parla peu, on mangea peu, on se regarda beaucoup.) Nachdem unter Kanonen- donner die Gesundheit Stanislas ausgebracht worden war, verließ er die Galeere. Er hatte keinen längeren Aufenthalt erbitten können. Die Kaiserin begleitete ihn bis auf das polnische Ufer und kehrte auf ihr Schiff zurück, während der König den Russen einen großen Ball gab und abends ein prachtvolles Feuerwerk. Darstellung eines

s) Arneth, Anh. S. 855. 19. Mai 1787. 57) Ség. II, 54.

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Ausbruchs des Vesuvs.) Die Kaiserin ließ ebenfalls ihr Geschwader illuminieren. „Je crains de devenir lampion“, sagte Ligne.) Und wirklich war die Zusammenkunft verp wie das Feuerwerk. Es war weder eine romanhafte Begegnung,“) wie Ségur erwartete, noch eine der Geschichte gewesen, und wie Cobenzl berichtet:“) „. . . sans qu'il se soit rien traité qui puisse avoir influence sur les affaires générales de l Europe pour Pavenir.“

Auf Seiten Katharinas schloß Chrapovickij diese Episode mit der schlichten Eintragung in sein Tagebuch am 25. April: “TIpiaraoe CBHXaHie Cb KOPOXeMb [loxbckamb Ba raxepaxt, npe lb Kanesomws.“ und einen Tag später setzte er noch hinzu: “. . OHH XOBOAbHH, WO H36aBHIHCh Dgepamggro Geanoxofc ra.

Der Erfolg des polnischen Königs war kläglih. Auf alle seine Forderungen (Abschaffung des Conseil permanent, Feststellung der Erblichkeit der Krone in seiner Familie), sogar auf Wiederbezahlung seiner Schulden, hatte er abschlägige oder unbestimmte Antworten erhalten. „Il y dépensa trois mois et trois millions pour voir lim- pératrice pendant trois heures.

Der nächste große Haltepunkt war Krementug. Hier empfing Potemkin die Kaiserin förmlich an der Grenze seines Gouvernements. Ein weites Palais im Geschmack der Kaiserin stand bereit, mit einem von Potemkin unlängst unter großen Kosten angelegten englischen Garten. Für alles, bis auf das Kleinste, war gesorgt, sogar der Blick aus ihren Gemächern auf die Stadt war mit Überlegung gewählt. Die Stadt selbst war von Menschen angefüllt. Der Adel der ganzen Gegend war zusammengeströmt. Katharina gab ihre Audienzen, wie überall, empfing Geistlichkeit, Adel, Kaufmannschaft und gab zum Schluß einen großen Ball.

In Krementug zum erstenmal hatten die Begleiter der Kaiserin Gelegenheit, Potemkins Arbeit aus der Nähe zu sehen. Und das, was ihnen in schönster Wirklichkeit vorgeführt wurde, als Anfang von Potemkins Tätigkeit, war ein militärisches Lager, das außer zahl- reicher Infanterie acht Regimenter Kavallerie, ein Bataillon Grena- diere und ein Regiment Jäger umfaßte, in tadelloser Form, voll- ständig neu eingekleidet. Gleich am ersten Tag wurde vor Katharina ein großes Manöver abgehalten. Ségur bemerkt darüber:“) ,,J’ ai vu peu de troupes plus belles et de plus brillante tenue.“ Katharinas Zufriedenheit war unverkennbar, sie war strahlender Laune. „Depuis Pétersbourg à Kioff“, sagte sie zu Potemkin,"*) „j' ai cru voir le ressort de mon empire détendu et usé; ici je le retrouve dans toute son activité et dans toute sa vigueur.“

60) Ligne, Lettres. S. 23.

61) Ség. II, 89.

2) Font. 54, 140. Cob. ag Jos. 6. Mai 1787. 83) Ligne, Lettres. S. 22.

6) Ség. II, 42 f.

65) Ibid.

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So war hier zum erstenmal der Ton angeschlagen worden, der von jetzt ab die Reise deutlich bestimmen sollte, der kriegerische. Wer sprach noch von dem angeblichen, eigentlichen Zweck der Reise, der Besichtigung der Fortschritte der inneren Kulturarbeit?

Katharina verließ Krementug nach zwei Tagen. Das alte Leben wurde auf den Galeeren fortgesetzt. Die politischen Ausblicke waren verschwunden, wieder fuhr man an Potemkins russischen Genre- bildern vorüber. Aber es ging langsamer vorwärts. Es kamen Gegen- winde, einige Barken, auch Galeeren, liefen auf Sandbänke auf. Chrapovickij hatte schon am 29. April, also noch vor Krementug, eine Meldung, daß die kaiserliche Galeere ans Ufer gedrückt worden war, aus dem offiziellen Reisejournal, das er seit Petersburg führte, streichen müssen. (29. April.) Jetzt wurde die Kaiserin unruhig. Sie fürchtete, Joseph II. in Cherson warten zu lassen. Als sie erfuhr, daß er ihr schon entgegenkomme, ließ sie sich plötzlich an Land setzen und fuhr ihm mit wenigem Gefolge entgegen. . . et nous courümes si bien“, schreibt Katharina an Grimm,“) „que nous nous rencon- trämes au milieu des champs nez a nez; la première parole qu'il me dit fut que voila tous les politiques bien attrapés: personne ne verra notre rencontre; lui il était avec son ambassadeur, et moi avee le prince de Ligne, habit rouge“) et la comtesse Branitska. . .“

Joseph II., der „Graf von Falkenstein“, fand den Zug Katharinas in der größten Unordnung; die eine Hälfte war gelandet, die andere befand sich noch auf den Galeeren. Die Kaiserin hatte das Programm Potemkins gestört. Sein Apparat versagte für den Augenblick. So konnte Joseph schreiben:“) „La confusion qui régne dans ce voyage, est inexprimable.“ In Kajdaki verbrachte man einen ganzen Tag, den 19., um Potemkin Zeit zu lassen, den Zug wieder zu ordnen.

Am 20. kamen die Kaiserin und ihre Begleiter in Ekaterinoslav an, das vorerst nur aus einem Landhaus Potemkins mit einem schönen Garten und zwei Treibhäusern bestand. Die Stadt sollte auf einer Höhe gebaut werden, von der man einen herrlichen Blick auf die Katarakte des Dnepr hatte, aber wo es auch kein Wasser gab.“) Schon 1784 war der Befehl, eine Universität zu errichten, erlassen worden, auch Professoren waren schon berufen. Es lagen ferner groß- artıge Pläne vor von der künftigen Kathedrale wie von der Stadt, es sollte ein Gerichtsgebäude im Stil der römischen Basiliken, eine Börse, Theater und Konservatorium, zwölf Fabriken geben. Na feierlicher Messe in einem in eine Kirche verwandelten Zelt legten beide Herrscher den Grundstein zu der neuen Kathedrale, die, worauf besonders Potemkin großen Wert legte, länger sein sollte, als die Peterskirche. Joseph II. soll boshaft gesagt haben:“) „Ich habe

ee) Sborn. 28, 410. 15. Mai 1787.

87) Mamonov.

e) Arneth, Anh. S. 356. Jos. an Lascy. 19. Mai 1787. es) Ség. II, 84.

Te) Masson: Mémoires sécrets de Russie. I, 105.

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ein großes Werk vollbracht Ihre Majestät hat den ersten, ich den letzten Stein zu einer Stadt gelegt.“

Gleich nach der Zeremonie verließ die Gesellschaft Ekaterinoslav und fuhr in die Steppe hinaus auf Cherson zu. Hier in Ekaterinoslav hatte Potemkin versagt, gerade hier, wo es sich um Kulturarbeit, um wirkliche Fortschritte handelte, war nichts, oder doch unglaublich wenig, getan worden. Nur schien es niemanden von der Suite auf- zufallen; jedenfalls tadelte es niemand.

Die Fahrt wurde jetzt äußerst eintönig. Man fühlte sich, wie in der nordrussischen Ebene, bedrückt von dieser weiten, gleichmäßig grünen Fläche, die sich unermeßlich hinzog. Dagegen war auch der Zauberer Potemkin machtlos. Auf Ségur wirkte sie wie eine un- geheure, einförmige Leinwand, auf der ein Maler angefangen habe zu malen. Schaf- und Pferdeherden, gelegentlich auch bebaute Felder, bildeten die spärliche Malerei, aber die stammte nicht von Potemkin.

Desto mehr wirkte das nächste große Ereignis, Cherson. Mitten aus der Ebene, am Ufer des Dnepr, erhob sich vor den erstaunten Reisenden eine imposante Festung. Dieser dritte Aufenthaltsort, an dem man die Ergebnisse Potemkinscher Arbeit sehen wollte, trug ebenfalls das kriegerische, und nur das kriegerische Gesicht, das schon Krementug und die gelegentlichen Manöver oder Vorbeimärsche von Truppen angekündigt hatten. |

Eine Festung mit einem Arsenal von 600 Kanonen mit ge- nügender Munition, Kasernen für 24000 Mann, drei Kriegsschiffe, eben hergestellt, auf der einen Seite, dagegen keine, oder ungenügende, Kais zum Anlegen der Handelsschiffe, keine Lagerhäuser, schlecht organisierte Gerichtshöfe auf der anderen Seite. Dazu kamen noch, was die Ausländer hier genau sahen, die ungesunde Lage inmitten von Sümpfen (die Stadt hatte beim Bau allein 20 000 Menschenleben gekostet), der Sanduntergrund, die Unbefahrbarkeit des Dnepr: die Handelsschiffe mußten 30 Werst unterhalb anlegen, und der Handel bestand vorläufig nur aus der polnischen Einfuhr.”‘) Aber alle diese Mängel verdeckte das kriegerische Gepränge innerhalb dieser doch trotz vieler Fehler imposanten Bee die auch auf Joseph II. ihren Eindruck nicht verfehlten: „Cela a l'air de quelque chose.) Der gewöhnliche Rahmen der Festlichkeiten wurde überschritten, „Pour les fétes, Cherson est, en vérité, une Alexandrie“, bemerkt Ligne,”) seinen Vergleich mit der Zeit Kleopatras fortfiihrend. Am ersten Tag schon findet der Stapellauf der drei Schiffe, von denen das eine den Namen „Joseph II.“ erhält, in festlicher Aufmachung statt. Katharinas gute Laune ist unerschütterlich. Sie schreibt an Saltykov, an Eropkin Briefe voll vom Lobe Potemkins und Chersons und betont immer wieder: „Dieses Kind lebte vor acht Jahren noch nicht... Ich kann sagen, daß alle meine Erwartungen erfüllt sind...“ Hatte sie also überhaupt nur kriegerische Wünsche gehabt?

71) Vgl. Seg. II, 47 f. Arneth, Anh. 858 f.: Jos. an Lascy. 90. Mai 1787. 72) Arneth ibid. 859. 73) Ligne, Lettres. S. 20.

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Auf der Fluß fahrt selbst war das Politische immer zurückgetreten, sie bewahrte durchaus den Charakter einer Lustfahrt. An den Landungspunkten aber erhob es sich naturgemäß, da man den Dingen näher kam, wieder an die Oberfläche. So auch in Cherson, und noch stärker als je vorher. Es gab verschiedene äußere Anlässe. Ein Gesandter Neapels, der Marquis de Gallo, erschien, um über einen Handelsvertrag mit Rußland zu verhandeln und lenkte damit die Blicke über Konstantinopel hinaus ins Mittelmeer. Bulgakov, wie auch der österreichische Gesandte in Konstantinopel, von Herbert, waren angekommen, es fanden geschäftliche Besprechungen statt, deren Thema vor allem Mäßigung der russischen Forderungen an die Pforte war. Die Kaiserin versuchte sogar einmal öffentlich, den Kaiser in ein politisches Gespräch zu ziehen.

Sofort meldete sich auch Konstantinopel. Ein türkisches Ge- schwader erschien vor der Dneprmündung und verhinderte einen ge- planten Abstecher der Kaiserin nach Kinburn, gegenüber von Otakov. Sie verzichtete in sichtbar übler Laune auf diesen eigenartigen Er- kundungsmarsch auf türkisches Gebiet. Ligne erzählt eine kleine charakteristische Episode hierüber.“) Der Prinz von Nassau hatte der Kaiserin auf einer Karte die Lage auseinandergesetzt und erbot sich er wünschte selbst leidenschaftlich den Krieg und war nur des- wegen nach Rußland gekommen —, sie von diesem Hindernis zu be- freien. Katharina gab der Karte einen kleinen Stoß, fing an zu lachen und reichte sie dem Fürsten zurück. „Je regarde cela comme un joli avant-coureur d’une jolie guerre que nous aurons bientöt, jespere“, schließt Ligne.

Nachdem Katharina noch zahlreiche Beförderungen in der Cher- soner Marine vorgenommen und Geschenke an die Beamten verteilt hatte, verließ sie am 28. Mai Cherson, um sich über Berislav und die Landenge von Perekop nach Bachlisaraj zu begeben. Die erste Hälfte der großen Reise war beendet. Sie zeigt das Bild der Lustreise einer großen Fürstin, schon mit einem leicht orientalischen Zug. Sichtbar bleibt immer der rote Faden der politischen Absicht, der zum Schluß ganz offen liegt.

Katharina war befriedigt; es war, als ob sie neue Kräfte emp- fangen hätte. Sie äußerte Chrapovickij gegenüber, sie könne nun mit frischem Kopf und den besten Kenntnissen in der Eremitage weiter- arbeiten (18. Mai), und es war unverkennbar, daß auch ihre Begleiter unter dem Eindruck einer Machtkundgebung Rußlands standen, die im SE Teil der Reise noch eindrucksvoller und bedeutsamer wurde.

Man hatte den Dnepr überschritten und war wieder in die Steppen hinausgefahren. Die Reise ging so rasch wie möglich vor sich. Man nächtigte am 29. in Berislav und fuhr an Perekop vorüber in die Krim hinein. Wieder war es eine kriegerische Ouverture, die die Reihe der Wunder des neu erworbenen Landes eröffnete. Mitten in

18) Ligne, Lettres. S. 26.

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der Steppeneinöde, an dem einzigen Requisit, das Potemkin hatte finden können, einer weißen griechischen Steinbrücke, die über einen kleinen Fluß führte, hatte er, wie es für die ganze Steppenfahrt, für alle Haltepunkte angeordnet war, ein Zeltlager von asiatischer Pracht errichtet. Hier sah Katharina, aus ihrem Zelt tretend, unerwartet ein glanzvolles Manöver der Donkosaken sich entfalten, das plötzlich die Einöde in einen Kriegsschauplatz verwandelte. Die Gesellschaft war überrascht und begeistert, Joseph II. hingerissen; er erkundigte sich genau nach der Stärke des Heeres und unterhielt sich lange mit dem Ataman.”) Bemerkenswert die Zurückhaltung Katharinas. Prüfte sie die Wirkung bei den anderen, besonders bei Joseph? Chrapovickij schreibt hier (aus dem Munde der Kaiserin) in sein Tage- buch (19. Mai): ,,Cela fait naitre de réflexions.“

Eine Andeutung, wie nüchtern Katharina im übrigen rechnete und die Dinge ansah, sich auch durch Potemkin kaum blenden lief, ist ihre Anrede an Potemkin bei dieser Gelegenheit: ,,Voila un de vos tours!“

Abends, als Joseph II. mit Ségur zwischen den Zelten umher- wanderte (Nassau erzählt, es wäre überhaupt nur von den Kosaken die Rede gewesen), bemerkte er:“) „Quel singulier voyage! ... et qui aurait pu s’attendre à me voir avec Cathérine II et les ministres de France et d'Angleterre, errant dans le désert des Tartares! C'est une page toute neuve d'histoire. Und Ségurs Antwort: „Il me semble plutôt que c'est une page des „Mille et une Nuits“, que je m’appelle Giafar et que je me promène avec le calife Huran-al-Raschid deguisé selon sa coutume.“ Es schien in der Tat allen, als ob sie in einem lebten. „Je ne sais plus je suis, ni dans quel siècle je suis.

Gleich nach Uberschreiten der Landenge wurde die Kaiserin von einer Eskorte von 1000 berittenen Tataren empfangen, sie selbst hatte das für ihre Krimreise gewünscht, ein Vertrauensakt, der, da er so wenig erwartet wurde, Erfolg hatte. Ligne bemerkte zu Ségur,”) als der Zug, von Tataren umgeben, sich in Bewegung setzte, es wäre ein merkwürdiges, ganz Europa erregendes Ereignis, wenn diese Tataren plötzlich die erhabene Katharina und den mächtigen römi- schen Kaiser samt ihrem Gefolge einschiffen und zur Erheiterung des Beherrschers der Gläubigen nach Konstantinopel bringen würden. Und wirklich wollen Zeugen bei Joseph II. eine gewisse Unruhe be- merkt haben. Die Tatarensuite aber rettete der Kaiserin vielmehr das Leben, als bei der Einfahrt in Bachtisaraj ihre Pferde auf dem steil abfallenden Wege durchgingen. Mit Bachlisaraj betrat man sichtbar den Orient. Die Landschaft, die Menschen, die sich der An-

76) Ség. II, 55 f.

78) d' Aragon S. 152.

77) gie, II, 55.

78) Ligne, Lettres. S. 81. 79) Ség. II, 60.

80) Ligne, Lettres. S. 29.

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kunft ihrer Beherrscherin gegenüber nicht sehr interessiert verhielten, wurden südlich. Das Märchen aus „Tausend und eine Nacht“) hatte wirklich begonnen.

Der verlassene Khanpalast von orientalischer Pracht, der sich selbst in einer Inschrift rühmte, schöner als alles in Damaskus, Stam- bul und Ispahan zu sein,“) nahm die ganze Gesellschaft auf. Potem- kin, Ligne, Nassau und die drei Gesandten bewohnten den früheren Harem und befanden sich dort sehr wohl. Eine heitere, ausgelassene Stimmung begann alle zu beherrschen. Joseph II., der in dieser Be- ziehung gelegentlich etwas unbeholfen, wurde von ihr erfaßt, wie Katharina selbst. So schrieb Joseph an Lascy:“) . . je loge dans appartement qu’ habitait autrefois le frère du Khan, qui m'avait que de vieilles femmes, par conséquent mes idées n'y sauraient étre

e couleur de rose.“

Die Festlichkeiten und Illuminationen zeichneten sich durch be- sondere Pracht aus; auch in der Suite gab man sich gegenseitig Feste, wo vor allem Potemkin besondere Attraktionen, wie tiirkische Tänze- rinnen usw., vorführte.

Schon während des ersten Teils der Reise konnte man das lang- same Ansteigen des politishen Elements bis unter, teilweise schon über die Oberfläche hinaus verfolgen. Katharina hielt es nicht mehr für notwendig, zu schweigen. So erzählt Ligne eine Unterhaltung:“) . . Leurs Majestés impériales se tataient quelquefois sur les pauvres diables de Turcs. On jetait quelques propos en se regardant. Comme amateur de la belle antiquité eg d'un peu de nouveautés, je parlais de rétablir les Grecs; Catherine parlait de faire renattre des Lycurgues et les Solons. Moi je m’étendais sur Alcibiade; et Joseph II., qui était plus pour Pavenir que pour le passé, et le positif [que] pour la chimère, disait: Que diable faire de Constantinople? On prenait, comme cela, bien des iles et des provinces, sans faire semblant de rien.“ Das waren Scherze, aber sie zeugen von der Stimmung Katharinas, die Joseph, der so kühl und sogar ablehnend man denke an seinen ersten ab- fälligen Bericht aus Cherson, dessen Urteile er dann später revidierte zu dieser Zusammenkunft gekommen war, mitgerissen hatte. Man höre u. a. Lignes Beobachtung:“) „Point de réserve entre ces deux grands souverains. Ils se contaient les choses les plus intéres- santes....“

Aber noch war Potemkins größtes Schauspiel nicht vorgeführt. Am 31. Mai war man in Bachlisaraj angekommen, am 2. Juni fuhr man nach Inkerman gegenüber Sevastopol’ an der berühmten Bucht. Während des Diners im Hause Potemkins öffneten sich plötzlich unter Musik die Balkontüren, und Katharina sah die weite Bucht von Sevastopol’ vor sich, ihre Flotte in Schlachtordnung, auf beiden

81) Ibid. S. 81.

82) Arneth, Anh. S. 361. 1. Juni 1787. 83) Ligne, Lettres. S. 38 f.

se) Ibid. S. 89.

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Ufern von tatarischen Regimentern, ebenfalls in Kampfstellung, flankiert. Während die Admiralsflagge gehißt wurde, donnerten alle Kanonen. Zugleich aber hatte Katharina sich erhoben und auf das Wohl „du meilleur de ses amis“, Joseph II. getrunken. „Cette scene étoit réellement attendrissante“, schreibt Cobenzl an Kaunitz.”)

Ohne Zweifel hatte der Vorgang Eindruck gemacht, und als jetzt die Kaiserin eine Schaluppe, eine genaue Imitation des großherrlichen Schiffes in Konstantinopel, bestieg, verstärkte sich die Wirkung noch durch die Disziplin und Gewandtheit der Matrosen des Geschwaders, das aus 3 Linienschiffen, 12 Fregatten, 20 kleineren Schiffen, 3 Bom- bardierbooten, 2 Brandern bestand. Ségur sagt:“) „C’&tait réellement un prodige d' activité“, Cobenzl:*) „... Toute l’escadre est munie de tout ce qu'il lui faut, pour mettre a la voile au premier ordre .. ., und vor allem Joseph II., der auf mehreren Schiffen war, schreibt nachdenklich an Lascy:“ ) . il faut avouer que ce spectacle était aussi beau que possible“, während er zu Nassau bemerkt:“) „En verité, il faut ötre venu ici pour croire ce que je vois... c'est in- croyable.“

Der Hafen hatte seine natürlichen Vorzüge: „Sevastopol est le plus beau port que j’aie vu de ma vie... ., schreibt der Kaiser.“) Aber Potemkin hatte auch angefangen, eine neue Stadt zu bauen. Es gab in Sevastopol’ schon eine beträchtliche Anzahl von Wohngebäuden, ein Zeughaus, ein Lazarett, allerdings überfüllt und in schlechtem Zustand, und einen Palast für die Kaiserin, den Potemkin „Tempe“ nannte, mit einer Terrasse, die der von Versailles glich. Hier hielt Katharina feierliche Audienzen ab, u. a. auch eine für ihre adligen mohammedanischen Untertanen in der Krim, wo auch Ligne und Nassau, die beide Besitzungen erhalten hatten, in der grün-goldenen Uniform Tauriens, die Katharina eingeführt hatte, erschienen. küßte in Ligne ein Ritter des goldenen Vlieses der russischen Kaiserin als Untertan die Hand.

Die kriegerishe Atmosphäre hatte eigentlich alle ergriffen. Zum erstenmal, stellte Nassau fest, blieben Katharina und der Kaiser jetzt im Gespräch allein, das sehr eifrig zu sein schien, später wurde Po- temkin und ein Ingenieur hinzugezogen.

Als abends, wie überall eine große Illumination veranstaltet wurde (diesmal wurde ein Fort beschossen, das in bengalishen Flammen aufging), war die Stimmung sehr gemischt. Ligne, Nassau, die Russen begeistert, Ségur nachdenklich; ihn bewegten die gleichen Gedanken wie den deutschen Kaiser, er überlegte, daß der Großherr nur 36 Stunden entfernt in Konstantinopel saß, daß es eim

68) Font. 54, 149. 3. Juin 1787.

86) Ség. II, 66.

87) Font. 54, 149.

88) Arneth, Anh. S. 868. 7. Juni 1787. 89) d’Aragon S. 161 f.

90) Arneth, Anh. S. 868.

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Leichtes für Katharina war, plötzlich mit ihrer Flotte vor seiner Hauptstadt zu erscheinen. Dazu beobachtete er Joseph, der nicht im geringsten daran zu denken schien, einen solchen Verbündeten wie Rußland verlieren zu wollen.

Katharina entging dies nicht, auch ihre Gedanken gingen ja in eicher Richtung.) Es freute sie wahrscheinlich, denn sie führte die eitersten Gespräche. Sie fragte Nassau, ob dies vielleicht dieselben

Schiffe seien, die vor Očakov gelegen hätten, den Kaiser, ob er nicht alle seine verlorenen Besitzungen wiederzuerobern gesonnen sei. Besonders bei der Feier des Konstantintages ließ sie ihren Gedanken freien Lauf. Cobenzl berichtet an Kaunitz:“) „.. . Le jour de la föte du Prince Costantin qu'on passa à Baktschisarai j ai eu occasion de me con- vaincre que 5 a plus que jamais en tête l' execution du grand projet. Elle a beaucoup appuyé sur la singularité de célébrer cette thee précisément dans l’ancıenne capitale de la Crimée, et tout d'un coup elle se reprit en me disant a l’oreille, qu’elle n’avoit pas pris sande que le Comte de Ségur étoit vis-a-vis d’Elle. Au reste, ajouta S. Mté., il est bon qu'il s’accoutume peu a peu a cette idée. Je pris occasion de lui dire que le succés de ces vastes idées dépen- droit de la manière dont la chose seroit entamée, et surtout de |’épo- que qu'on choisiroit pour cela. L’Impératrice me repliqua qu’à la facon d’attendre le bon moment, on perdroit bien des moments.“

Auch der Kaiser, dem sie beim Anblick der Flotte gesagt hatte: „que ce seroit dommage que tout cela dit pourrir dans le port“, “) verstand sie sehr wohl. Er schrieb an Lascy:“) ,,L’Impératrice est fort extasi¢ée de tout ce qu'elle voit et du nouveau degré de puissance qui en résulte pour l’Empire russe. Le prince Potemkin est dans ce moment tout-puissant et fété au-delà de l’imagination. Si je pouvais ötre aussi pres de Berlin et que les Prussiens fussent d’aussi grands bénéts que le sont les Turcs, je vous avoue que je ne résisterais point à la démangeaison de me défaire de pareils voisins.“

Mehr als diese einigermaßen verständnisvolle Stellungnahme des Kaisers hatte Katharina nicht gewollt. Sie ließ am nächsten Tag die Ausbringung der Gesundheit aus dem offiziellen Journal streichen.“)

Es folgte, bevor sie nach Bachtisaraj zurückkehrte, noch ein Be- such auf einem Gute Potemkins, der, nach Joseph,“) „pour nous faire voir un bouc et une chévre d’Angora“, die ganze Gesellschaft auf schlechten Wegen umherfiihrte. Man kam nachts in Bachlisaraj an.

Am 26. Mai verließ man endgültig die orientalische Hauptstadt, in der sie, nach Ligne, gelernt hatten, wie alle übrigen Mohammed

1) Sborn. 27, 411. Kath. an Konstantin Pavlovič: “. . . Tyr BCHOMHHIR MEI gro An Ilerep6ypra 65110 BepcMm% THCAIH NOATOPH, a XO Iaparpaza CYTEH XB0e MopeM%2.“

en) Font. 54, 158. 8. Juni 1787.

es) Ibid. 154.

66) Arneth, Anh. S. 864. 8. Juni 1787.

%) Chrapov. 28. Mai.

6) Arneth, Anh. S. 865. Jos. an Lascy. 7. Juni 1787.

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anzurufen. Während die Kaiserin die Hauptroute innehielt, machten Joseph, Ligne, Nassau, einmal auch Ségur, gelegentliche Abstecher. Joseph II. besichtigte den alten Hafen Balaklava. Ligne und Nassau aber unternahmen einen romantischen Ritt in die Berge an der Küste, um ihren Besitz kennen zu lernen. Ligne, dessen Eigentum der alte Dianatempel geworden war, in dem Iphigenie gelebt haben sollte, verbrachte dort nach seinem Bericht (Lettre V), der fast von Lara oder Werther geschrieben sein könnte, die schönsten Stunden seines Lebens.

Die Kaiserin berührte in rascher Folge Akmetet, Karasubazar und Staryj-Krym. Überall vergingen die Tage in Audienzen, Festen, Illu- minationen, die oft bis zehn Meilen im Umkreis alles beleuchteten.

Überall ließ die Kaiserin reiche Geschenke zurück. Besonders in Karasubazar, wohin eine neue, ausgezeichnete Straße führte und wo Potemkin ein. prachtvolles Haus mit einem englischen Garten besaß, die er scheinbar überall angelegt und für die er den größten Teil seiner Mittel verbraucht hatte, wurde die Kaiserin noch einmal in der Krim gefeiert. Aus Türken, Tataren, Armeniern gemisch:e Reiter- schwärme empfingen sie. Sie besichtigte und lobte die Kasernen und das Arsenal mit 50 Kanonen. Abends erleuchtete das größte Feuer- werk der ganzen Reise den Garten und die Stadt, die Berge waren bis 20 Werst hinaus in drei riesigen Feuerkreisen, die in der Mitte den Namenszug Katharinas trugen, illuminiert. Potemkin hatte eine Kompagnie Petersburger Bombardiers eigens dazu kommen lassen, die die Reise zu Fuß machen mußten.

„Tout est possible dans ce pays-ci“, sagte Joseph II., “) halb neidisch. Ein kurzer Besuch in dem zerstörten Kaffa beendete die Reise, „. . . Pinfortuné et célèbre Théodosie“, schreibt Ségur,*”) „le silence de la destruction y régnait.“ Katharina verweilte nicht lange.

Störte es sie, daß das Ende ihrer Reise durch ihr neu erworbenes Gebiet eine zerstörte Stadt war?

Die Fahrt durch die Krim hatte nur elf Tage gedauert. Sie sollte ursprünglich noch weiter ausgedehnt werden, bis Kerč und Taganrog. Warum sic verkürzt wurde, ob Potemkin nicht vor- bereitet war, dariiber berichten die Quellen nichts. Um der Krim willen war die Reise angetreten worden, und doch hatte gerade sie die kürzeste Zeit in Anspruch genommen. Hatte Sevastopol’, die in Europa bekannt gewordene Erregung der türkischen Hauptstadt, die Nachdenklichkeit Josephs II. der Kaiserin genügt?

In diesem zweiten Teil, dessen Höhepunkt Sevastopol’ war, war das politische Element ganz an die Oberfläche emporgestiegen und vorherrschend geworden, alles andere trat zurück. Es hatte sich eng mit der Wunder- oder Märchenstimmung verbunden und war fast etwas wie ein gefährliches Rauschmittel geworden.

Das Nachspiel, die Rückfahrt, die längere Zeit in Anspruch nahm, näherte sich wieder der gewöhnlichen Reiseart. Schon am 31. Mai fuhr die Kaiserin durch die Tore von Perekop, die die Auf- schrift trugen: Hpeanocaaaa eTpaxr n npunnecna wun: 1787“.

97) Ség. II, 77. 50

Am 2. Juni trennten sich die beiden Monarchen unter Freund- schaftsversicherungen in Berislav. Joseph II., der so kühl und ab- lehnend gekommen war, zeigte sich als bester Verbiindeter. Es wurde sogar ein neuer Besuch des Kaisers in Petersburg verabredet, der aller- dings nie zustande kam.

Die Fahrt wurde über Krementug (15. Juni), Poltava (18. Juni), Chafkov (21. Juni) fortgesetzt. In Poltava erwartete ein großes Schlußtableau Potemkins die Kaiserin. Kurz vorher schon war sie an 11 000 Rekruten für das Südheer voriibergefahren; Potemkin hatte es sich nicht versagen können, auch sie noch vorzuführen. Jetzt krönte das große und prachtvolle Schauspiel der Schlacht Peters des Großen gegen Karl XII. den Triumphzug dieser „voyage aussi romanesque qu historique“. )

Potemkin hatte der Herrscherin also alle ihre Machtmittel vor- geführt, um ihr abschließend verheißungsvoll das Bild eines großen russischen Sieges vorzuhalten.

„Alors“, sagte Ségur,”) „son coup de théatre a eu lieu, la toile est baissée; il va s'occuper d'autres scènes“ (der Regisseur Potemkin nämlich). Vorher aber erhielt er den Lohn seiner kaiserlichen Zu- schauerin. Eine Medaille mit seinem Bild wurde geprägt, auf der sein Name den Beinamen „Tavriteskij“, der Taurier, trug.

Am 8. Juli zog Katharina in Moskau ein. Seufzend schreibt Ligne: “) „Ce n’était plus Cléopâtre à Alexandrie. D'ailleurs César nous avait quittés pour s’en retourner chez lui. Le roman disparut et fit place à la triste réalité . . . Les fêtes s’arrétérent. La bienfaisance vint remplacer la magnificence, et le lux céda a la nécessité. On ne jeta plus l’argent, on le distribua..... Un nuage obscurcit un instant le front auguste et serein de Catherine le Grand.“ In mehreren Gouvernements waren Hungersnöte ausgebrochen. Die Feste brachen jäh ab. Nach diesem Vorspiel war der Vorhang wirk- lich gefallen.

Wohl stiegen wahrscheinlich in Katharina beim Anblick dieser trüben inneren Lage augenblickliche Bedenken auf, ihre Pläne jetzt zu verwirklichen und den Krieg zu wagen. Aber sie waren kaum von Dauer. Man höre nur u. a. den entschlossenen Ton Bezborodkos, den mam für genau unterrichtet halten muß. Er schreibt im August 1787 an Voroncov:') „. . . y Hach BCe TOTOBO H roToBhe, (but BL 1768 roay. . .“

Joseph II., einer der kritischsten Zuschauer der Fahrt, faßt seine Eindrücke so zusammen:“) „On nous a menés d’illusions en illusions. Ce qui est intérieur ici a de grands défauts, mais l' extérieur a autant

de réalité que d’éclat.“ ve) Ség. II, 85. e) Ibid. 10°) Ligne, Lettres. S. 90.

161) Sborn. 26, 189

102) Ség. II, 85.

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So komme ich wieder zu meiner anfänglichen These über den Zweck der Reise zurück. Die offizielle Ankündigung bei ihrem Be- ginn wie die nach dem Abschluß geprägte pomph Erinnerungs- medaille mit der Inschrift: “IIyrs ma IImay lassen auf eine Inaugenscheinnahme der im russischen Süden durchgeführten europäisch-zivilisatorischen Reformen als den eigentlichen Reisezweck schließen. Wo aber ist in Wahrheit davon die Rede? Wo sahen die Reisenden das neugeschaffene Europa? Im nördlichen Rußland ent- deckte man das alte Moskowien, in den Steppen das Kosakenreich, in der Krim die Trümmer des alten orientalischen Reiches. Bei keinem von den Teilnehmern finden sich Berichte über wirkliche, erfolgreiche Neuerungen und Fortschritte, sei es der Verwaltung, des Handels, der Siedlung fast das Wichtigste für die entvölkerten neuen Gebiete oder der Bodenkultur. Ist Europa in dem kriege- rischen Firnis, mit dem Potemkin, der alles andere als ein Europäer war, alle Schäden verdeckte? Europäisch war nur die Herrscherin selbst, und europäischer Geist lebte nur in dem kleinen Kreis von Menschen, der sich um sie gebildet hatte, und das waren fast durch- weg Nichtrussen. Die meisten jener europäischen Reformen standen nur auf dem Papier.

Katharina aber wollte stets nur den Ruhm: „J'aurais tout risqué pour chercher la gloire“, sagte sie zu Ségur und ihrer Gesell- schaft.“) Da er durch Arbeit im Innern nicht in dem erwünschten Maße kam, war diese nun in den Hintergrund geschoben und hatte mehr und mehr einer größeren Glanz verheißenden Außenpolitik Platz gemacht, und sie fand dafür eine ideale Entschuldigung: „. . On peut les (ihre Untertanen) croire heureuses ... Je ne sais pas, si, en les civilisant, comme je l'ai voulu je ne les aurais pas gat ae

In dieser äußeren Politik tat sie folgerichtig einen Schritt na dem anderen. So ist auch ihre Siidreise zu betrachten. Sie ist eine Manifestation der Politik Katharinas, ein Ausdruck ihrer Macht auf dem Höhepunkt ihrer Regierung, eine allgemeine Demonstration ihres Ruhmes, und eine spezielle Demonstration gegen die Türken, womit sich die Festigung Südrußlands als der militärischen Operationsbasis für den demnächstigen großen Krieg gegen das Osmanenreich verbindet.

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103) Ség. II, 34. 108) Ibid. II, 82 f.

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NEUE EINBLICKE IN LEBEN UND WERKE ZIESZKOWSKIS Aus unveröffentlichtem Nachlaß. Von Walter Kühne.

I. Von den deutschen philosophischen Werken Cieszkowskis.

Im Zeitalter des deutschen Idealismus war Graf August Cieszkowski bekannt durch seine deutschen Schriften „Prolegomena zur Historiosophie“ (Berlin 1838) und „Gott und Palingenesie (Berlin 1842) sowie durch die Begründung der Philosophischen Gesell- schaft in Berlin in Gemeinschaft mit dem ihm befreundeten Professor Carl Ludwig Michelet von der Universität Berlin.

Man konnte aus diesen Schriften Cieszkowskis erkennen, wie sein Ringen danach ging, aus dem Geiste der Philosophie Hegels heraus mit Hilfe ihrer eigenen Methode die Intuition als Organ für die realen geistigen Grundlagen der Innenwelt und der Außenwelt zu entwickeln. Nach seiner Auffassung blieben die Hegelianer in der Sphäre der allgemeinen Gedanken stecken, drangen aber nicht zu dem wahrhaft Wesenhaften, wie es z. B. das reale geistige Ich des Einzel- menschen ist, vor. Die Kraft der Intuition beruhte nach ihm auf einer Ausbildung des Willens aus dem reinen Denken heraus, das durch die Philosophie Hegels auf die Höhe seiner Entwicklung ge- bracht worden war.

Cieszkowski gliederte die Entwicklung der Weltgeschichte in drei Perioden: die des Altertums bis auf Christus, die wesentlich das menschliche Fühlen und die aus ihm hervorgehende Sphäre der Kunst ausgebildet habe, die Epoche der Moderne, die das Element des Denkens und die Sphäre der Philosophie entwickelt habe, und die Zu- kunft der Menschheit, in der die Willenssphäre, das Tun in den ein- zelnen Menschen und der Gesellschaft einen eigenen phänomeno- logischen Prozeß durchmachen werden und die wahrhaften sozialen Institutionen geschaffen würden.

Im dritten, 1852 erschienenen, Gespräch seiner philosophischen Trilogie: „Die Epiphanie der ewigen Persönlichkeit des Geistes“, das unter dem Titel „Die Zukunft der Menschheit und die Unsterblich- keit der Seele“ erschien, läßt Michelet Cieszkowski Anschauungen aussprechen, die eine Weiterbildung seiner Lehre von der Intuition

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und dem realen Ich zeigen: Cieszkowski schrieb diesem Ich wieder- holte Erdenleben zu und setzte durch seine Ideen über die Palin- genesie eine Ideenrichtung fort, die Lessing in seiner „Erziehung des Menschengeschlechtes‘“ begonnen hatte, wie Cieszkowski völlig be- wußt war.

Michelet berichtet zwar in seinem Werke „Wahrheit aus meinem Leben“ vom Jahre 1884, daß Cieszkowski mit jener Darlegung seiner Ichlehre in dem Werke von 1852 sehr einverstanden gewesen sei, einige Jahrzehnte später aber war es in polnischen Kreisen, die für Cieszkowski ein Interesse bewahrt hatten, in gewissem Sinne frag- lich geworden, ob Michelets Darstellungen auch authentisch gewesen sei. Für denjenigen, der sich mit der inneren Gedankenrichtung, der Denkart, dem tätigen Denken Cieszkowskis in seinen Werken „Prolegomena zur Historiosophie“ und „Gott und Palingenesie“ zu verbinden weiß, kann es allerdings keinem Zweifel unterliegen, daß die Cieszkowski von Prof. Michelet in den Mund gelegten Auße- rungen über das reale Ich und die wiederholten Erdenleben ganz und gar in der Konsequenz der beiden Werke von 1838 und 1842 lagen.

Alle Bedenken müssen aber vollends verschwinden, da wir jetzt einen Einblick in den jahrzehntelang verschollenen Briefwechsel zwischen Cieszkowski und Michelet haben. Ich fand nämlich bei meinen Arbeiten im Nachlasse Cieszkowskis Abschriften von 18 seiner Briefe an Michelet und 26 Originalbriefe Michelets an Cieszkowski, aus denen u. a. hervorgeht, daß Michelet in höchstem Alter mit Cieszkowski über die Herausgabe ihres ausgewählten Briefwechsels verhandelte.

In seinem Briefe vom 13. Dezember 1850 nun legt Michelet dar, wieweit er ın der Ausarbeitung der literarischen Darstellung der Ideen Cieszkowskis gelangt sei, welche Methode er dabei verfolgt habe und welche Stellung er in dem Gespräch dem Freunde eingeräumt habe. Er bittet ihn dann, ihm einige Notizen über die Palingenesie, die Seelenwanderung oder vielmehr die Verwandlung des Körpers, über den Chor der Seligen usw. zur Verfügung zu stellen, damit er mit größerer Sachkenntnis diesen Ideen antworten könne

Die Antwort Cieszkowskis hierauf vom 28. Dezember 1850 ent- hält im wesentlichen eine Entschuldigung für die verspätete Beant- wortung und dafür, daß er sich nicht ausführlich auf die Fragen Michelets äußern könne, weil er sich jetzt seinem bei ihm weilenden Vater widmen müsse, auch habe er sich durch seine mannigfaltigen anderen Beschäftigungen in den letzten Jahren fühlbar von dem spekulativen Boden entfernt. Zwar bleibe er durchaus bei seiner Grundüberzeugung auf diesem Felde stehen, aber er müsse doch manche Notiz erst wieder durchlesen, manche Studien wieder auf- nehmen, um sich in den Gegenstand wieder einzudenken, bevor er die gewünschten genauen Ausführungen übermitteln könne. „Noch dazu“, so schreibt er (ich übersetze seine Darlegungen hier wörtlich aus dem französischen Text), „würde ich Gefahr laufen, Ihnen Einzel- angaben zu machen, die Sie schon kennen sei es direkt aus meinen

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früheren Schriften oder unseren verschiedenen Unterhaltungen, oder sei es indirekt durch Ihre Schlußfolgerungen aus meinen Gedanken oder im Gegenteil das auszulassen, was Sie mehr interessieren würde. Wenn wir das alles wohl erwägen, so ist also das Beste, was wir tun können, daß wir die Angelegenheit bis zu meiner sehr nahe- liegenden Ankunft in Berlin verschieben. Und wenn Sie dann die Güte hätten, mir die Argumente mitzuteilen, die Sie mir in den Mund gelegt haben und die sicherlich viel durch einen solchen Inter- preten wie Sie gewonnen haben werden, so werde ich mich beeilen, Ihnen alle mir möglichen Aufschlüsse zu geben.“

Bei der Durchsicht der Briefe Cieszkowskis für die geplante Herausgabe hat Ende der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts Michelet die folgende Randbemerkung gemacht: Ich glaube, daß sich dieses be- zieht auf mein drittes Gespräch von 1852.

Also noch im Jahre 1851 hat Cieszkowski die gewünschten näheren Mitteilungen über seine Ideen an Michelet gegeben, dieser hat sie in der Cieszkowski in den Mund gelegten Rede verwertet, und zwar nach seiner gewissenhaften Art, die uns in seinen Briefen und Schriften deutlich entgegentreten, so daß Cieszkowski völlig damit einverstanden sein konnte.

Es will sogar scheinen, als habe Cieszkowski im Jahre 1851 selber seine Anschauungen niedergeschrieben, zum mindesten ist eine Ein- leitung für einen Beitrag zu den philosophischen Gesprächen Michelets noch erhalten, aus der ich eine sehr bemerkenswerte Stelle hier ab- drucken möchte, die von Michelet nicht verwendet worden ist:

„Meine hochgeehrten Herren! Lassen Sie mich zuerst eine Bitte an Sie richten ich weiß, an wen ich sie richte und darum weiß ich zum Voraus, daß sie genehmigt wird. Ich will frei sprechen ich will frei ohne Rückhalt meine Überzeugung über die hier ver- nommenen Ansichten ausdrücken.

Ich bin der jüngste unter Ihnen. Sie sind fast alle durch Wort oder Schrift meine Lehrer gewesen, ich bin mit einem warmen Ge- fühl von dankbarer Pietät gegen die meisten von Ihnen erfüllt, und doch wird mich dieses Verhältnis keineswegs verhindern, meine volle Überzeugung Ihnen gegenüber auszusprechen amicus Plato sed magis amica veritas. Beschuldigen Sie mich nicht eines jugendlichen Übermutes. Mich zwingt meine klare und feste Überzeugung, mich zwingt die Begeisterung der Wahrheit. Dürfte ich sie nicht in vollem Maße und klar aussprechen, so verzichte ich augenblicklich auf das 1 denn kapitulieren und sich akkomodieren ist meine Sache nicht.“

Deutlich und offen drückt hier Cieszkowski seine innige Ver- bundenheit mit den Hegelianern aus, dabei jedoch die Freiheit seiner eigenen Meinung ganz und gar betonend. Diese Haltung war lebens- länglich für ihn charakteristisch.

Alles in allem ist jetzt das deutsche philosophische Gesamtwerk Cieszkowskis in den drei Veröffentlichungen „Prolegomena zur Historiosophie“ von 1838, „Gott und Palingenesie“ von 1842 und

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Darlegungen in Michelets Werk „Die Zukunft der Menschheit und die „Unsterblichkeit der Seele“ als eine tatsächliche Einheit gesichert.

II.

Die Entstehung von Cieszkowskis erster Schrift „Prologomena zur Historiosophie“.

Ein zweiter wichtiger Punkt im Lebenswerke Cieszkowskis, der Zweifeln ausgesetzt scin konnte, war der Zeitpunkt der Abfassung seiner ersten deutschen Schrift „Prolegomena zur Historiosophie“, die 1838 in Berlin erschien.

Cieszkowski hatte nämlich seinem Sohne und literarischen Erben kurz vor seinem Tode Mitteilungen gemacht, die ich hier wieder- geben möchte:

Nach der beendeten Niederschrift der „Prolegomena“ hatte er diese seinem Vater zu lesen gegeben. Der habe ıhr einen sehr hohen Wert beigemessen und beschlossen, in einer besonderen Messe dem Himmel zu danken, der seinen Sohn mit einem solchen Werke und ihn, den Vater, mit einem solchen Sohne begnadet habe. Der Vater sei daher mit ihm zur Kirche gefahren, um eine Messe lesen zu lassen. Während nun sein Vater dem Gottesdienste hingegeben gewesen sei, habe er für sich das Vater-Unser rezitiert und dabei sei ihm wie durchsichtig geworden und sei ihm das aufgegangen, was auszuarbeiten er sein weiteres Leben bestrebt gewesen sei: sein Werk das „Vater-Unser“ (der „Ojcze-Nasz“).

Auf Grund dieser Mitteilungen blieb es immer noch ungewiß, wann die Niederschrift der „Prolegomena“ beendet wurde und wann das für Cieszkowskis Lebenswerk entscheidende Erlebnis, der Aus- gangspunkt seines polnischen Hauptwerkes also, eingetreten war.

Die Prolegomena selber führen allerdings Werke an, die 1837 erschienen sind, wie Hegels Vorlesungen über Philosophie der Ge- schichte, die Ed. Gans herausgegeben hat (auf S. 48, 49 und 121), und Karl Ludwig Michelets „Geschichte der letzten Systeme der Philo- sophie von Kant bis Hegel“ I. Bd. auf S. 103. Aber es könnte immer noch die Behauptung Platz finden, daß die Prolegomena bedeutend früher verfaßt wären wie ich denn tatsächlich auch in Polen selbst gehört habe —. Es könnte die Annahme bestehen, daß das Hinein- arbeiten dieser Anführungen kurz vor der Drucklegung des an sich älteren Manuskriptes geschehen sei, ohne den Text weitgehend zu ändern, da Hegels Lehren ja auch bekannt gewesen wären, bevor seine Vorlesungen von seinen Schülern herausgegeben worden seien.

Über diese Fragen habe ich manche Unterhaltungen mit polni- schen Gelehrten gehabt, für die Cieszkowskis Leben und Werk von entscheidender Bedeutung für ihr eigenes Leben geworden sind.

Eine genauere Datierung und damit ein genauerer Einblick in Cieszkowskis innere Entwicklung ist mir jetzt jedoch möglich ge- worden durch eine Anzahl von Funden in seinem Nachlasse, die mir durch wiederholte schwierige Nachforschungen geglückt sind.

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Es kommen da zunächst zwei Briefe Cieszkowskis aus dem Jahre 1836 in Betracht, die seine damalige geistige Arbeit und seine literari- schen Pläne ganz deutlich erkennen lassen: er rang mit einer kriti- schen Auseinandersetzung mit der Philosophie Hegels, die er aus ihren eigenen Voraussetzungen und ihrer eigenen Methode da fort- führen wollte, wo Hegel nach seiner Meinung nicht ganz auf der Höhe seiner sonstigen Werke und hauptsächlich seiner Logik sei: näm- in der Naturphilosophie und vor allem der Philosophie des

eistes.

Er plane unter anderem, so schrieb er selbst am 30. 6. 1836 an Michelet, eine „Dialektik der Geschichte“, die Hegels Philosophie der Geschichte fortführen und die Geschichtsphilosophie auf neue Grund- lagen stellen wolle. Er müsse dabei natürlich die Werke seiner Vor- gänger und besonders die Hegels zur Hand haben und werde wohl auf die Herausgabe (der Hegelschen Philosophie der Geschichte) durch Ed. Gans warten

In einem weiteren Briefe vom 10. Oktober 1836 aus Warschau teilt er Michelet mit, daß er sich noch nicht ganz ernstlich mit dem Werke beschäftige, von dem er ihm geschrieben habe. Er beschränke sich auf kleine Niederschriften, da er das Ganze möglichst in einem Zuge verfassen möchte. Die Art, wie Michelet seinen Plan einer Dialektik der Geschichte interpretiert habe, werde ihn zur Wahl eines anderen Titels fiir sein beabsichtigtes Werk veranlassen... Zwar könne er nicht ausführlich seinen Plan entwickeln, weil das den Rahmen eines Briefes iiberschreiten werde, aber immerhin wolle er die Ausgangspunkte ganz kurz behandeln, weil Michelet dann schon weiter denken werde.

Im ersten Teile gedenke er das System der Prinzipien zu be- handeln, auf die sich die einzelnen geschichtlichen Systeme stützen, im zweiten Teile die Verwirklichung der Prinzipien in der Zeit, den Faden der Ereignisse und den Gang der Geschichte in seiner organi- schen Totalität und schließlich im dritten Teile die höhere Einheit beider: die Früchte des Baumes der Geschichte, der in dem zweiten Teile sich entfaltet habe und dessen Keim in dem ersten Teile gelegt worden sei... Nach dem Wie werde er das Was und dann das Warum der Geschichte darlegen.

‚In diesem Programm der Gliederung seines geplanten Werkes haben wir die Kapiteleinteilung der „Prolegomena zur Historio- sophie“ von 1838 vor uns: nur hat der Verfasser im gedruckten Werk mit dem zweiten Teile seines urspriinglichen Planes begonnen, dann den ersten Teil folgen lassen und mit dem dritten auch tatsächlich seine Prolegomena beschlossen.

Auf diese Mitteilungen hin muß Michelet seinen jungen polni- schen Freund recht aufgemuntert haben, wie aus einem sehr langen Briefe Cieszkowskis an Michelet vom 18. März 1837 hervorgeht. Dieser Brief ist zwar zum größten Teil bereits im Jahre 1892 in französischer Sprache veröffentlicht worden und zwar in einer Sammlung von 8 Abhandlungen, die Karl Ludwig Michelet zu seinem

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90. Geburtstage dargebracht wurden, aber diese Veröffentlichung ist anz verschollen. Nicht einmal dem Sohne Cieszkowskis war sie kannt, welcher das nachgelassene Hauptwerk seines Vaters heraus- gegeben und ins Französische, die deutschen und französischen Werke seines Vaters ins Polnische übertragen hat und wohl mit allen Ver- ehrern der Werke seines Vaters noch heute in Verbindung steht.

Cieszkowski schreibt in jenem Briefe, daß er noch nicht endgültig an seinem Werke arbeite, aber doch von Zeit zu Zeit einige Blätter seinem Stoß vorbereitender Materialien zufüge.

Es ist mir auch gelungen, den größten Teil dieser Notizen auf Zetteln, die in ihrer Gesamtheit etwa als Cieszkowskis wissenschaft- liches Tagebuch von 1832—1838 und später bezeichnet werden können, aufzufinden. Einige Notizen behandeln den Aufbau der ge- planten Schrift und stimmen überein mit den neuen Erklärungen über sein Werk, die er in seinem Briefe von 1837 dem befreundeten Professor gibt und in denen er beginnt mit der Dialektik der Ge- schichte, die Kategorien der Geschichte anschließt und mit dem Organismus der Geschichte endigt. Schon deutlich erhellt aus dem Briefe wie aus den Notizen, daß er auf dem Wege ist, die Geschichts- philosophie Hegels im Sinne der Methode Hegels selber fortzuführen oder auch positiv zu überwinden. Und man muß die Sicherheit be- wundern, mit der er auf den phänomenologischen Prozeß der Willens- entfaltung als dem Prozeß der Entfaltung des bewußten Denkens folgend hinweist. Die Formulierungen der Notizen

a) Humanität. Ästhetische Bildung. Piekne [Das Schone], b) Selbstbewußtsein. Theorie. Prawdziwe [Das Wahre], c) Selbsträtigkeit. Spontaneität. Dobre [Das Gute]

enthalten schon fast wörtlich diejenigen der Prolegomena über die drei Sphären des geschichtlichen Lebens.

Der Brief an Michelet zeigt vor allem, wie die innere Gliederung des Werkes in Cieszkowski heranreift, die Notizen weisen mehr auf die Höhe seiner Spekulation, seines tätigen Denkens und vor allem auf die Intuition hin, die in ihm die Keime seiner eigenen Welt- anschauung hat aufleuchten lassen. In dieses innere Tun des Geistes bei Cieszkowski Einblick zu gewinnen, ist geschichtlich von großer Bedeutung, weil wir den Keim seiner eigenen Philosophie und den polnischen Hegelianismus dabei geradezu greifbar nahe vor uns

aben.

Es kommt ihm darauf an, über die Sphäre der allgemeinen Gedanken Hegels in den Geist als Selbst, als lebendige Indivi- dualität einzudringen. Er will das schöpferishe „Hervor- bringen“ aus sich selbst, keineswegs aber das Herausgehen oder sogar das Herausbleiben außer sich, oder das Außersich-seyn, wie er selbst in einer seiner Notizen schreibt. Die Stelle enthält im Keime die Ablehnung solcher Tendenzen, wie sie später sein Zeitgenosse Adım Mickiewicz, der einen außerordentlichen Einfluß auf das polnische Geistesleben ausgeübt hat, mit dem Lob der Exaltation im Sinne des

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Gefühlsüberschwanges als der geistigen Grundkraft des Polentums propagierte. Cieszkowski erstrebte von vorhinein die Erhöhung der Ichkräfte, die Eroberung des tätigen Geistes, das Selbsttun, während in Mickiewicz’ Leben, Werken und Lehre die Exaltation zur Selbst- entfremdung, zum Ichverlust und zur Besessenheit führte.

Auf einem weiteren Notizblatt findet sich eine besonders ſeb- hafte Auseinandersetzung mit Hegels Stellung zum Praktischen, zum Tun. Er tadelt, daß Hegel es eine Seite des Theoretischen, als einen Filialausfluß des Denkens sozusagen betrachtet, während es doch eine Stufe des Geistes für sich, ganz abgesondert und sogar die höchste sei. Cieszkowskis Auffassung geht aus seinem Gesichtspunkt hervor, daß die eigentliche Willensentfaltung bisher noch gar nicht eingetreten sei, daß die Denkentfaltung die Menschen gleichsam be- herrscht habe, und es ihnen schwer falle, sich von der Eigenart des Willens eine Idee zu machen: In seiner Reinheit konnte er erst hervortreten, nachdem das denkende Bewußtsein auf die Höhe seiner eigenen Entwicklung gelangt war, wozu Hegel entscheidend und so- zusagen abschließend gewirkt habe.

Man kann immer wieder erkennen, daß Cieszkowski eine tätige Erkenntnis anstrebt und gleichsam vor Augen hat, welche wirklih aus dem Willen des ich, aus dem Selbst, hervorgeht, schöpferisch ist und nicht bloß vorhandene Elemente verbindet. Die Philosophie Hegels bleibt dabei stehen, die von außen gegebene Welt der Natur und die von innen gegebene Welt des Gedanken zu verbinden; er möchte dagegen eine Erkenntnisweise, die sich Neues erobert, für die die Vereinigung des objektiven und des subjektiven Elementes im Sinne Hegels SE de ein Ausgangspunkt, nicht der Endpunkt, ist. In dieser Richtung liegt eine Notizstelle:

„Wenn nach Hegel alles geistige Thun nur diesen Zweck hat, sich der Vereinigung des Sub- und Objektiven bewußt zu werden, so könnten wir gerade umgekehrt mit demselben Rechte behaupten, daß alles Bewußtseyn nur diesen Zweck hat, diese Vereinigung aus sich thätig zu realisieren. (Ph. d. G. S. 38.)

Diese Notiz ist in all ihren Wendungen in die Ausführungen der Prolegomena auf S. 120 und 121 übergegangen. Für unsere Unter- suchung ist der Hinweis der Notiz auf Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte wichtig, der übrigens auch in die Prole- gomena übernommen worden ist, da eben diese Vorlesungen in der Redaktion von Ed. Gans erst 1837 erschienen. Cieszkowski wartete laut seinem Briefe an Michelet vom 30. Juni 1836 auf dieses Werk; nach seinem Erscheinen 1837 wurde es sicher bald von ihm gelesen: die Notiz ist dadurch einwandfrei datiert.

Es ist hiernach gar keine Frage mehr, daß sich Cieszkowski in den Jahren 1836—1838 mit den kommenden „Prolegomena zur Historiosophie“ beschäftigte; sie konnten noch nicht fertig sein und er konnte noch nicht direkt an den Anfängen des „Ojcze-Nasz“ arbeiten, wenn man seine Äußerung zu seinem Sohne berücksichtigt.

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Da Cieszkowski das Grunderlebnis in der Kirche beim Rezitieren des „Vater-Unser“ in die Formen der Philosophie Hegels eingekleidet hat, die eben damals die entwickelteste Terminologie bot, so ist allerdings eine wesentliche Vorarbeit für den „Ojcze-Nasz“ mit der Arbeit an den ersten Entwürfen und der eigentlichen Nieder- schrift der Prolegomena von ihm geleistet worden. Ja, man wird sagen können: der schöpferische Funke, der in sein tätiges Denken fill und ihn zum Weiterdenken der Philosophie Hegels führte, ist schon eine Vorstufe des als ein so entscheidend empfundenen Er- lebnisses in der Kirche, der „mystisch tätigen Intuition“, um in Cieszkowskis späterer Sprache zu reden.

Außer den Briefen vom Jahre 1836 und den Notizen konnte ich noch eine un veröffentlichte Vorrede zu den Prole gomenis auffinden, die meine bisherigen Darlegungen be- kräfti Sie ist in der Handschrift eines seiner Berliner Studien- freunde, Carl Lehmanns, erhalten, der Jahre lang sein Sekretär und Jahrzehnte lang sein getreuer Helfer war, wie aus einem ziemlich um- fangreichen ebenfalls von mir aufgefundenen Briefwechsel zwischen beiden Männern und noch anderen Dokumenten des Nachlasses hervorgeht.

Der Text dieses wichtigen Dokumentes, das zwar nicht datiert ist, sich jedoch selber datiert, lautet folgendermaßen:

Vorrede.

Lange vor dem Erscheinen der Hegelschen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte waren die Hauptresultate derselben ziemlich bekannt geworden, teils durch Hegels wichtige Andeutungen in verschiedenen seiner Werke, teils durch seine und seiner Schüler öffentliche Vorträge. Jedoch hat man, um diesem Gegen- stande näherzutreten und entweder durch Entgegentretung die Entwick- lungslinie dieser Wissenschaft selbst fortzubilden und gleichsam zu verlängern oder durch Hinzutritt den Standpunkt selbst durch speziellere Ausführungen auszubilden und gleichsam zu verbreiten, die Herausgabe des viel- versprochenen und vielversprechenden Werkes sehnlichst abgewartet, da man ver- langte, auf dieses sich erst bestimmt stützen und den Standpunkt in seiner totalen Ausführung auffassen zu können. Das Werk ist erschienen, der neue Ausgangs- punkt ist gewonnen.

Seit dem Augenblicke, wo ich mich mit der Hegelschen Philosophie der Ge- schichte vertraut machte, fing ich an, mit der Anerkennung ihrer so wichtigen Schätze, auch zugleich auch ihre Mängel einzusehen und das nicht bloß innerhalb des Hegelschen Systems selbst, sondern auch außerhalb desselben, d. h. einerseits fand ich dessen Philosophie der Geschichte nicht ganz dem Standpunkt seiner Philosophie überhaupt adaequat ausgebildet und zwar sowohl der Form und Me als auch dem Inhalte nach, andrerseits aber fand ich umgekehrt seine Philosophie selbst noch nicht zu dem absoluten Standpunkte der Weltgeschichte adaequat ausgebildet, also ein gegenseitiger Mangel und ein gegenseitiges Miß- verständnis machte sich mir fühlbar. Der Entfernung des ersten Mangels, nach seinen beiden wieder entgegengesetzten Seiten, sind die zwei ersten Kapitel dieser Schrift bestimmt, sie sind also nur eine Ausbildung des Hegelschen Stand- reg von der Abhilfe des anderweitigen Mangels aber handelt das dritte

apital, das insofern eine Fortbildung dieses Standpunktes ausmacht.

Vor einiger Zeit fing ich an, Materialien an der aus diesen Betrachtungen hervorgehenden Historiosophie zu sammeln und das System derselben zu ent- werfen. Aus subjektiven und objektiven Gründen aber ging ich nicht rasch zu

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Werke und jetzt noch bin ich ziemlich von deren gänzlicher Ausführung entfernt. Ein großer Teil der objektiven Gründe, der auf den Schwierigkeiten beruht, welche die neuen Forderungen der Historiosophie veranlassen, wird aus diesen Blättern selbst einleuchten.

Nach dem Erscheinen des Hegelschen Werkes aber habe ich einen Stütz-

kt für diese neuen Forderungen: gewonnen, und darum finde ich mich durch ieselben objektiven Schwierigkeitsgründe, die mich von der sofortigen Ausführung meines Werkes abhielten, jetzt umgekehrt veranlaßt, diese Prolegomena erscheinen zu lassen, einerseits, um in das künftige neue System einzuführen, anderer- seits (im Text ist hier eine Lücke!)

In diesen Prolegomenis führe ich nichts aus, ich stelle bloß auf. Sie sind auch teils durch Nachdenken über die Historiosophie, teils durch Fragmente aus deren begonnenem Baue entstanden. Dieser Bestandteil ist aber der kleinste, denn sie sollen nicht das System, sondern nur dessen Ansicht darstellen; dasjenige also auch, was sich aus ihm in ihr befindet, muß nachher im Werke mit ganz anderer Bestimmtheit auftreten als es hier perspektivisch geschehen kann.

III. Cieszkowskis Freundschaft mit Michelet.

Wenn auch Cieszkowski in seinen Schriften keinen Zweifel darüber läßt, daß er dem deutschen Idealismus und der Philosophie Hegels die Methode der Darstellung und der Gedankenform ver- dankt, in die er seine Geistesblitze eingekleidet hat, so erscheint doch lediglich von seinen Werken aus sein Zusammenhang mit dem deut- schen Idealismus als ein wesentlich ideeller. Aus Michelets bereits herangezogener Schrift von 1852, in der Cieszkowski redend eingeführt wird, ließ sich wohl seine Zugehörigkeit zu Michelets Kreis, seine Freundschaft mit Michelet erkennen aber sie schien doch wesentlich philosophish. Daß diese Freundschaft aber eine innigere war, geht aus den Äußerungen Michelets in seinem Werke „Wahrheit aus meinem Leben“ von 1884 hervor —, jedoch dieses Werk ist ja auch so gut wie verschollen.

Michelet schreibt darin auf Seite 522:

„Nicht ohne Absicht habe ich mir vom Grafen Cieszkowski zuletzt zu sprechen vorbehalten, wenn ich ihn auch in die erste Reihe meiner Freundschaften stelle. Während des halben Jahrhunderts, in dem wir uns kennen, seit der ersten Vorlesung, die er bei mir hörte, hat unser Verhältnis keinen Augenblick auch nur die leiseste Trübung erfahren, ungeachtet unserer philosophischen eren Ei in mancher Hinsicht abweichend: auch bei der Verschiedenheit unserer Volks- tümlichkeiten und ihrer Standpunkte, unsere staatlichen und weltbürgerlichen An- schauungen sich verschiedentlich mögen gestaltet haben. Nicht nur die Philo- 1 Gesellschaft selbst, auch ihr Organ, den Gedanken, half er mir später gründen.“

Wie beide Männer zueinander standen, zeigt in schöner Weise ihr von mir aufgefundener Briefwechsel. Schon der erste Brief Cieszkowskis an Michelet, auf den ich bereits oben eingegangen bin, behandelt nicht nur Probleme, sondern Leben und Streben beider Männer im weitesten Umfange. So berichtet Cieszkowski von seinen vielen Beschäftigungen, seiner Tageseinteilung, seinen Plänen für das ihm von seinem Vater anvertraute Gut Surhöw bei Lublin, wo er eine Fabrik für Zucker aus Runkelrüben gründen und die Kultur der Maulbeerbäume einführen wolle.

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Im zweiten Briefe scherzt er mit Michelet tiber die Be- stimmung von Michelets erstem Sprößling, schreibt ihm über seine Ideen von der Ehe, empfiehlt ihm für die gemeinsame Lektüre mit seiner Frau George Sand, läd ihn ein, einen Teil seiner Ferien in Polen bei ihm zuzubringen. . .

Im dritten Briefe erzählt er unter anderem vom Karneval in Warschau, von seinem Plane, durch pseudohistorishe Romane seine historiosophischen Ideen für das große Publikum zu verdeut- lichen, beklagt er, daß er die Unterhaltungen mit Michelet entbehre und tee seinen Brief ungebührlich ausgedehnt habe, um doch einen schwachen Ersatz für sie zu haben. Und bittet er schließ- lich Michelet, ihm ja Nachrichten über sein und seiner Familie Leben zukommen zu lassen.

Und auch Michelet geht in seiner Antwort vom 6. Aprıl 1838 nicht nur auf die Probleme ein, die den jungen Philosophen be- schäftigen, sondern berichtet ihm unter anderen, daß er bei seiner Frau mit den geäußerten Ideen über die Ehe etwas in Ungnade gefallen sei und vieles werde tun müssen, um wieder in Gnaden angenommen werden zu können

Im November desselben Jahres beantwortete Michelet zwei bis- her nicht wieder aufgefundene Briefe seines Freundes mit einem Be- richte von seiner Mitarbeit bei der Korrektur der „Prolegomena zur Historiosophie“, seiner und seiner Familie Aufenthalt im Seebade und Ge den neuesten Vorgängen in der Wissenschaft der Natur und des

istes.

Cieszkowski war damals in Paris. Auch hier pflegte er seine freundschaftlichen Beziehungen zu dem Berliner Professor. Für ihn besuchte er z. B. mit Michelet bekannte Philosophen wie Cousin, unterhandelte er mit Verlegern, hielt er Rücksprachen mit Ver- tretern der Akademie. So wurde sein Brief vom 2. Februar 1839 geradezu ein Bericht über seinen Pariser Aufenthalt.

Der Briefwechsel beruht durchaus auf menschlich-freundschaft- licher Grundlage. Leider sind viele Briefe verloren gegangen, auf die in den erhaltenen Antworten angespielt wird: der Austausch von Mensch zu Mensch, der sich in Berlin vollzog, wo sich die Freunde besuchten, wurde im Briefwechsel fortgeführt.

Im Jahre 1843 gründeten beide die Philosophische Gesellschaft zu Berlin und das verband sie noch weiter: diese Gesellschaft war zwar ihr Lieblings-, aber auch ihr Sorgenkind, ging es doch in thr nicht um Ideen allein, sondern um 3 von Menschen mit verschiedenen Ideenrichtungen trotz des gemein- samen Ausgangspunktes in der Philosophie Hegels.

Dieser Briefwechsel wirft überhaupt ein wichtiges Licht auf die Geschichte der Schule Hegels und der Philosophischen Gesellschaft in Berlin. Er läßt erkennen, daß Cieszkowski als Mensch und nicht nur als Kopf mit dem deutschen Idealismus verbunden war. Der letzte Brief von ihm in dem Heft der Abschriften ist vom 31. August 1860

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datiert, der letzte von Michelet erhaltene vom 31. März 1893. Die Hälfte der Briefe Michelets fällt in die Zeit, für die wir leider keine Abschriften oder Originalbriefe seines Freundes haben. Diese Briefe enthalten aber in gleicher oder gar noch stärkerer Weise viele Zeichen der Sympathie, die beide bedeutenden Männer verband.

Schon Michelet hat in den 80 er Jahren des 19. Jahrh., als er selbst sich mit den Vorbereitungen für eine Veröffentlichung seines ausge- wählten Briefwechsels mit Cieszkowski beschäftigte, nicht alles Material zusammenbekommen können, wie es scheint.

Michelets jüngster Sohn, Dr. George Michelet, hat mir noch per- sönlich erzählt, daß der größte Teil der Briefe, die im Besitze seines Vaters waren, nach dessen Tode durch unachtsame Angestellte seines Schwagers vernichtet worden seien. So bedauerlich diese Tatsache auch ist, die vorhandenen Briefe reichen völlig aus, zu beweisen, daß der deutsche Idealismus nicht nur eine Lehre war, die Cieszkowski aufnahm, sondern vor allem ein Lebensstrom, der ihn durchdrang und ihn in seinem ganzen Wesen bereicherte. Einen sehr schönen und vorbildlichen Beweis dafür haben wir in seiner durch mehr als 60 Jahre gepflegten Freundschaft mit seinem Lehrer Michelet.

Wie Cieszkowski in seinen ersten Briefen an Michelet schon zeigt, blieb er dauernd bestrebt, von den Formulierungen Hegels in den lebendigen Gedankenstrom einzudringen, dessen Erscheinungen sie sind: aus ihnen heraus allein konnte er ja Hegel in dessen eigenem Geiste fortführen wollen. Durch sein ernstes Ringen mit den Formulierungen, den festgewordenen Formen des Denkens, in dem Hegel schöpferish lebte, legte Cieszkowski deren Unterstrom frei and konnte ihn gleichsam in sein eigenes Wesen hineinleiten. Diesen Umgang mit dem Lebensstrom des deutschen Idealismus kann man ja gerade bei den slavischen Idealisten überhaupt gut studieren: für sie hatte z. B. die Philosophie Hegels nicht nur einen ideellen, sondern vor allem einen Lebenswert. Cieszkowski nahm Hegels Philo- sophie durchaus als welthistorisches Symptom, sah es also im großen Zusammenhange der Geschichte der Philosophie nicht nur, sondern der allgemeinen Kultur überhaupt. Er schritt vom Gedanken, von dem allgemeinen Gedanken zu den Menschenwesen, den realen Ichen vor, die in sich die Früchte der Arbeit mit der Sinneswelt und mit der Gedankenwelt hineinnehmen, und nach seiner Auffassung von einem Leben in das andere tragen, bis ihre innere Reife so groß geworden, daß sie den Zusammenhang ihrer Inkar- nationen überschauen können und schließlich den letzten Feind, den Tod, überwinden.

Die Bedeutung der Cieszkowskischen Ideen kann man in ihrer 17 Klarheit erst dann so recht erkennen, wenn man sich neben ihnen diejenigen Michelets vergegenwärtigt.

Michelet geht in seiner Weltanschauung davon aus, daß zunächst dem Menschen eine Fülle von sinnlichen Eindrücken und inneren

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Seelenzustinden gegeben -ist, die jeder Ordnung entbehren. Durch unser Denken entdecken wir die waltenden Ordnungskräfte aller dieser Gegebenheiten in den Ideen, die die vielen Einzelheiten der Welt zusammenhalten und durchdringen. In unserem denkenden Be- wußtsein haben wir dann diese Ideen, die in der Welt wirksam sind, in begrifflicher Form gegenwärtig. Was in Welt und Leben als wirksames Gesetz waltet, bringen wir uns zum Bewußtsein. Alle diese Ideen und unsere Gedanken haben eine Uridee zu ihrem Mittelpunkte, die in sich alle befaßt: das ist das Absolute. Auch dieses Absolute bringen wir uns zum Bewußtsein.

Der Charakter aller Ideen ihrer Wirksamkeit nach in der Welt und in ihrer begrifflichen Form in unserem Bewußtsein ist ein allge- meiner gegenüber den zahllosen, zufälligen, mannigfaltigen Einzel- heiten. Man kann deshalb schlechtweg von dem Allgemeinen als dem wahrhaft Seienden in den Dingen reden. Und die vielen Allge- meinen, die vielen Ideen sind dann konzentriert in dem absolut Allgemeinen.

Nun ist damit, daß wir das Allgemeine und das absolut Allge- meine uns denkend zum Bewußtsein bringen, nicht bloß für uns etwas geschehen, daß eben wir uns etwas zum Bewußtsein bringen, sondern zugleich ein Bewußtwerden des Allgemeinen von sich, ein Zum-Bewußtsein-Gelangen des Allgemeinen in unserem Be-

tsein. Wir verschaffen dem Allgemeinen ein Bewußtsein, indem wir es uns bewußt machen.

Dem Allgemeinen gegenüber sind wir einzelne Bewußtseine und teilen wir die Eigenschaft der Einzelheiten, vergänglich zu sein, während das Allgemeine bei allem Wechsel der an ihm auftretenden Einzelheiten sich erhält und fortdauert. Das Bewußtsein, das wir dem Allgemeinen, auch dem absolut Allgemeinen, verschaffen, bleibt dem Allgemeinen gleichsam imprägniert, auch wenn wir Einzel- bewußtseine verschwinden. Gliedweise wecken wir sozusagen das Allgemeine auf, bringen es zum Bewußtsein und der historische

Menschheitsprozeß ıst ein Bewußtwerden des Allgemeinen und Absoluten.

Man könnte im Sinne Michelets etwa sagen, daß die Menschen in ihren denkenden Bewußtseinen die Gedankensphäre mit Bewußt- sein gleichsam imprägnieren, daß im Grunde die einzelnen Menschen nur Organe des absoluten Geistes sind und als solche wieder zugrunde gehen. Das Absolute inkarniert sich in den vielen Einzelnen, zieht sich aus ihnen zurück und überläßt sie der Vernichtung, nachdem sie ihren allgemeinen Zweck erfüllt haben.

Ganz anders ist die Anschauungsweise Cieszkowskis: die vielen einzelnen realen Menschen-Iche imprägnieren sich mit den Früchten ihrer Arbeit an der Sinneswelt und an den Gedanken. Sie inkar- nieren sich in vielen Leben nacheinander, bis die aus den früheren Leben herübergeretteten geistigen Bestimmungen sich in einem neuen Leben wiedererkennen, bis in einer der Umgestaltungen des Geistes

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sein Wille alle Resultate der früheren Stufen gezogen und die Seele aus ihrem Leibe immer ätherischere, seelenhaftere Keime entfaltet und ihn zuletzt vollständig durchdrungen und verklärt hat, damit aber die Seelenwanderung fortfallen kann. („Die Zukunft der Menschheit und die Unsterblichkeit der Seele.. S. 132/133).

In Michelet lebte unzweifelhaft ein Nachklang der Lehre des Averroés von der für alle Menschen gemeinsamen Gedankensphäre, in Cieszkowski der fortgebildete Thomismus, der ja einst heftig die Lehre des Averroés bekämpft hatte. Und gerade die Leugnung des geistigen Ichs, die für Michelet so charakteristisch ist, weil sie wurzelt in seiner Auffassung von dem in den Menschen hinein- und hinausflutenden allgemeinen Denkleben, erweist ihn als zugehörig zur älteren Weltanschauungsströmung, die noch nicht mit dem modernen Individualismus zu rechnen hatte. Cieszkowski dagegen legte den Hauptwert auf eine tätige Erkenntnis aus dem Ich heraus, auf das Selbsttun des Geistes und berücksichtigte so von den ersten Anfängen seiner philosophischen Entwicklung ab das Auftreten der modernen Individualität.

Er fühlte sich durchaus und mit vollem Rechte als Vor- läufer der Epoche der Menschheit, in der die tätigen Einzelindividuen durch ihr geistiges Streben die ihnen überlieferten Elemente der Welt- anschauung und der Kultur auf eine höhere Stufe ihrer Entwicklung bringen und ein Zeitalter wahren Geisteslebens und wirklich sozialer I ısticutionen begründen werden.

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KSAVER SANDOR GJALSKI Von J. Mati, Graz.

Ksaver Sandor Gjalski, povodom njegove sedamdesetogodisnjice. Brastvo XXVII, 34. Knj, Beograd 1927.

1927 vollendete der bedeutendste kroatishe Romanschriftsteller des 19. Jahrhs., Gjalski, sein 70. Lebensjahr. Von den bei dieser Gelegenheit er- schienenen Festartikeln, Aufsätzen u. Studien verdienen zwei besonderes literar- historisches Interesse: die oben genannte Studie von A. Barac u. eine Studie des jungen Agramer Kritikers Ivan Nevistié; Ksaver Sandor Gjalski, Zagreb 1928, 96 S. Der Wert der Studie von Nevistié wird allerdings durch die einseitige Einstellung Nevistic sieht in Gjalski wesentlich nur den feudalen laudator temporis acti und eine gewisse Animosität stark beeinträchtigt; dagegen ist die Studie von Barac als eine grundlegende u. weit ausgreifende vergleichende Würdigung des literarischen Schaffens des Dichters zu werten. Barac, der bereits durch seine Senoa-Monographie, ferner durch seine Studien über Harambasié, Lj. Wiesner (vgl. meine seinerzeitigen Berichte in der Zeitschriftenschau in diesen Jahrbüchern), ferner durch seine neuen Studien über Vjenceslav Novak (Savremenik 1928), über Fran Mažuranić (Srpski Književni Glasnik, N.S. XXIV. S. 114 ff.) u. seine Synthese in der Narodna enciklopedija sich als einer der besten Kenner und methodisch fortschrittlicheren Literarhistoriker der kroatischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts legitimiert hat, zeichnet in dieser Studie das Leben und Schaffen, die geistige und literarische Physiognomie des Dichters, den Stoff und Ideengehalt seiner Werke, seine Stellung und Bedeutung in der kroatischen Literatur und im kroatischen Geistesleben, ohne dabei auf den all- gemeinen kultur-, national- und ideengeschichtlichen Hintergrund zu vergessen. Allgemeines: In bezug auf nationale Konzeptionen bewegte sich das Leben in Kroatien im 19. Jahrh. zwischen einem engherzigen Kroatentum, welches nur das kajkavische Kroatien im Auge hatte, und einem weiten Gefühl für alle Südslaven. In der Mitte zwischen diesen beiden entgegengesetzten nationalen Konzeptionen steht die großkroatische Idee Starčević’, die in ihrem Kern eine jugoslavische Konzeption war. Ausgenommen den Anfang des 19. Jahrhs. entwickelte sich das nationale Leben Kroatiens im Zeichen der nationalen Einheit der Kroaten und Serben (illyrische Bewegung, das jugoslavische Programm Stroßmayers u. Ratkıs in den 60er und 70 er Jahren). In den 70 er und 80 er Jahren ändern sich die nationalen Konzeptionen im Sinne eines exklusiven Großkroatentums (A. Starčević u. das pravaötvo Rechtspartei); die jugoslavisch Orientierten treten in den Hintergrund, das kulturelle und politische Leben entwickelte sich im Zeichen des Kampfes zwischen dem Kroatentum u. dem Serbentum, insbesondere im Zeichen des Kampfes gegen die Träger der illyrischen und jugoslavischen Ideologie. In dieser Richtung entwickelte sich das nationale Leben auch zu Beginn des 20. Jahr- bunderts, nur daß jetzt parallel mit der Tätigkeit der kroatisch-serbischen Koalition immer stärker die Tendenz nach nationaler Einheit der Serbokroaten, besonders in der jungen Generation, zum Ausdruck kommt. Die soziale Struktur Kroatiens

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machte im 19. Jahrhundert eine tiefgreifende Umwandlung durch. Durch die Bauernbefreiung ie) und durch die immer größere Demokratisierung des öffent- lichen Lebens erhielten die Adeligen, der bisher privilegierte Stand, den Todes- stoß. Sie verloren die unentgeltlichen Arbeitskräfte, verstanden sich nicht auf die Verwaltung ihrer Güter u. deren Ukonomisierung in den neuen Verhältnissen, setzten trotzdem die bisherigen luxuriösen Lebensgewohnheiten fort, stürzten sich dabei immer mehr bei Banken und Wucherern ın Schulden u. gingen so zugrunde. Auch die Bauern hatten durch die Bauernbefreiung nicht das bekommen, was sic erwartet hatten. Ungewohnt an ein selbständiges Wirtschaften verfielen sie in Streitigkeiten untereinander, ihre Grundbesitze wurden immer mehr zerstückelt u. sie kamen in Schulden. Aus diesen sozialen Umwälzungen ging gestärkt nur das Bürgertum hervor, welches jedoch von allen Ständen den nationalen Bedürfnissen und Problemen am fernsten stand (— ich halte zwar diese Behauptung von Barac in dieser allgemeinen Form nicht für richtig —), u. seine alten deutschen und jüdischen Traditionen fortsetzte. Mit Rücksicht auf alle diese Erscheinungen bietet das kroatische Leben des 19. Jahrh. in seiner inneren psychologischen Struktur ein außerordentliches reichhaltiges und buntes Bild. In diesem Wechsel politischer Systeme u. gesellschaftlicher Einrichtungen kam es auch zum Wechsel u. Umbruch der Charaktere, zum Gesinnungswechsel dem System zuliebe, zur Korrumpierung usw. In diesem Kampf zwischen den Konservativen u. den neuen Kräften spielten sich tragische Konflikte zwischen dem Festhalten an der Schönheit der Vergangen- heit u. dem Geiste der neuen Zeit ab. Das feudale Kroatien hatte einen be- deutenden kulturellen u. ästhetischen Wert repräsentiert, welcher nach der Bauern- befreiung vollständig zugrunde ging, ohne sich dafür in der neuen kleinen Bourgeoisie ein Aquivalent gefunden hätte. Die politischen Kämpfe waren in Kroatien infolge der so verschiedenen Tendenzen sehr scharf, wurden gewöhnlich aus der Sphäre der prinzipiellen Gegensätzlichkeit in die Sphäre der persönlichen Feindschaft u. des persönlichen Kampfes bis aufs Messer getragen. In diesem Kampfe konnte es vorkommen, daß die radikalsten Träger einer Ideologie aus Haß gegen den politischen Gegner bewußt oder unbewußt Helfershelfer des fremden Regimes wurden. Dieses ganz bunte und verschiedenartige Leben, inter- essant für den Psychologen, Kulturhistoriker und Romanschriftsteller, wurde in der kroatischen Literatur verhältnismäßig wenig bearbeitet und dargestellt. Die ganze Literatur des Illyrismus erschöpfte sich in großen nationalen Phrasen und naiver Erotik. Die Literatur zur Zeit des Absolutismus durfte zich nicht offen mit den Zeitproblemen beschäftigen, so daß erst die Literatur der 60 er und 70 er Jahre etwas tiefer in das Leben der Gegenwart einzudringen anfängt. Diese Hin- wendung zu den realen Problemen des nationalen, kulturellen und sozialen Lebens vollführte August Sen oa. Dieser warf in einer Reihe von Romanen aus der Vergangenheit u. Novellen aus dem gegenwärtigen bürgerlichen Leben eine Reihe nationaler u. soziale Probleme SE die Versuche der Germanisierung un

Magyarisierung, den nationalen Widerstand dagegen, den Verfall des Adels, die Korruption der Behörden, das Kulturproblem des Bauerntums, die Erhebung des Kleinbürgertums, die Charakterlosigkeit der eigenen Leute in der Politik, das sinn- lose Nachäffen fremder Vorbilder. Durch diese charakteristischen literarischen Eigenschaften steht Senoa an der Grenze zwischen Romantik und Realismus, seine realistisch konzipierten Romane hüllte er in einen romantischen Schleier. Erst ın den 80 er und 90 er Jahren, in der sogenannten Periode des kroatischen Realismus, setzten sich in der Literatur die Tendenzen Senoas voll durch. In den 80 er und 90 er Jahren tauchen eine Reihe Schriftsteller auf, die in zahlreichen Werken die allseitige Darstellung des sozialen, politischen und kulturellen Lebens Kroatiens versuchten: Vjenceslav Novak, Eugen Kumilıd, Josip Kozarac, Janko Leskovar, Antun Kovačić. Der fruchtbarste Schriftsteller dieser Epoche, der die meisten aktuellen Probleme des sozialen, kulturellen, politishen und individuellen Lebens der Zeit berührte, war Ksaver Šandor Gjalski. Barac gibt nun eine kurze biographische Übersicht und eine Aufzählung der Werke Gialskis (ein Großteil erschien in der Zeitschrift Vijenac ab Jahrgang 1884, in den Ausgaben der Matica Hrvatska 1884—1906, 1924, einige in den Ausgaben des Društvo hrvatskih književnika 1906, die gesammelten Werke begannen 1913 zu erscheinen; einzelne kleinere Arbeiten erschienen in verschiedenen

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anderen Zeitschriften). Neben der literarischen Originalproduktion trat Gjalski auch in literarischen Kämpfen seiner Zeit aktiv hervor. Er stand zunächst bei Beginn der literarischen Kämpfe zwischen der BEE Generation, den Vertretern der sogenannten Moderne, u. den Alten, gegen n Kampf auf u. erklärte sich als Gegner jeder literarischen Schule und für den nationalen Charakter der Literatur. Im weiteren Verlauf dieser Kämpfe wurde er jedoch selbst hinein- gezogen, von den Jungen als Repräsentant ihrer Richtung reklamiert, schrieb ideologische Aufsätze im Sinne u. in den Organen der Modernisten u. war 1908 bis 1918 Vorsitzender der Vereinigung derselben, des Društvo hrvatskih književnika. Seiner sozialen Herkunft u. Anschauung nach ist Gjalski ein Glied einer Familie mit Herrentradition, mit Feudaltradition, die ein verhältnismäßig hohes Kulturniveau repräsentierte. Seiner nationalen Konzeption nach ist er als Sohn eines Vaters, der aktiv in der illyrischen Bewegung mitbeteiligt war, er- zogen in den slavischen und jugoslavischen Ideen. Während er in seinen Mittel- schuljahren unter dem Einfl er damals um sich greifenden Startevilschen groß- kroatischen Ideologie sich zum Anhänger der exklusiv kroatischen Idee entwickelt hatte, kehrte er später wieder zu den Ideengingen des Illyrismus zurück u. seine weitere Arbeit entwickelte sich im Sinne der jugoslavischen Idee Stroßmayerscher Prãgung. In diese Richtung fällt auch seine öffentliche politische Tätigkeit auf Seite der kroatisch- serbischen Koalition zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Nach der Einigung u. Staatsgründung kehrte er, abgestoßen und im Innern beleidigt durch die Zustände im neuen Staate, wieder ostentativ zu der exklusiv kroatischen Einstellung zurück u. seine Werke aus dieser Zeit (Roman: Pronevjereni ideali, 5 Dolazak Hrvata) geben Zeugnis von dieser Verbitterung. Gjalski, das Produkt eines Milieus mit herrschaftlichen Traditionen, mußte naturgemäß von früh auf Sympathien für diese Tradition, für die Schönheit des Herrentums und eine Aversion gegen die Gemeinheit und Niedrigkeit des Lebens, einsaugen. Anderseits war sein Intellekt genügend lebendig u. seine Bildung entsprechend weit, daß er auch das Unzeitgemäße des Feudalismus u. die Ungerechtigkeit der privilegierten Position einsehen mußte. Und so begeisterte er sich vorübergehend auch für sozialistische und kommunistische Ideen. Aus diesen Momenten heraus kam es bei ihm zu einem Zusammenstoß, zu einem Konflikt zwischen Gefühl und Intellekt, die angeborenen u. anerzogenen Gefühle fesselten ihn an ein Milieu, sein Verstand führte ihn anderswohin. Diesen gleichen Konflikt zeigen alle seine nationalen Anschauungen: Die vernünftige Überlegung führte ihn zur jugo- slavischen Ideologie, doch das Gefühl band ihn an die Tradition des Kroatentums. In der Literatur trat Gjalski in einer Zeit ein, als Senoa theoretisch bereits den Realismus begonnen hatte, ihn jedoch nicht in allen Konsequenzen durchgeführt hatte. Gjalski tritt als der erste ausgesprochene Realist hervor. Als seine literari- schen Vorbilder betrachtet er Turgenjev, Tolstoj, Balzac, Dostojevski. Er selbst

ichnet als sein wichtiges literarisches Prinzip die realistische Darstellung des nationalen Lebens und seiner Erscheinungen. Er verfolgte mit seinen literarischen Arbeiten folgende Tendenz: Das bellerristishe Buch hat dem menschlichen Ge- danken und dem menschlichen Gefühle zu dienen u. der menschlichen Entwicklung in der Hebung dieses Gedankens und Veredelung dieses Gefühles zu helfen und vor allem der Wahrheit zum Siege zu helfen. Er ist ein Gegner jedes ästhetischen Dogmatismus. Mit diesen Lebenserfahrungen und diesen literarischen An- schauungen brachte Gj. in seinen literarischen Schöpfungen einen Großteil des sozialen, politischen und intellektuellen Kroatiens des 19. Jhs. in seinen Haupt- phasen zur Darstellung.

Gj. erfaßt in seinen Werken vor allem drei große Gebiete: 1. die soziale Umwälzung, die in Kroatien nach der Aufhebung der Leibeigenschaft eintrat, 2. die kulturelle, politische u. soziale Entwicklung Kroatiens im Laufe des 19. Jhs., 8. die Probleme des intimsten menschlichen Innenlebens, den Sinn des mensch- lichen Lebens überhaupt. Barac wendet sich mit Recht gegen die bisher bei den Literarhistorikern u. Kritikern übliche Einteilung der Werke des Dichters mit dem Hinweis darauf, daß in der inneren Struktur der Personen in allen Werken Gj.s ohne Unterschied des Stoffes u. der Tendenz eine große Verwandtschaft herrsche. Als Dichter des kroatischen Zagoriens stellte Gj. in einem Großteil seiner Werke jenen sozialen Prozeß dar, der in Kroatien nach der Bauernbefreiung entstand:

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den Verfall des kroatischen Adels, seine Unfähigkeit, sich den neuen Verhältnissen anzupassen, den Zustrom der Fremden, den Verfall u. die Verschuldung der heimischen Wirtschaften. Der kroatische Adel war einerseits durchtränkt von den Traditionen der Superioritit und des Herrentums, anderseits sicherte ihm seine privilegierte Lage die ay ee des Kontaktes mit den kulturellen Errungen- schaften des Westens. das führte dazu, daß der kroatische Adel bei der kulturellen und wirtschaftlichen Rückständigkeit des größten Teiles der Be- völkerung eine gewisse Elite sowohl in den äußeren Manieren, in seinen Be- ziehungen, wie auch in seinem geistigen Leben, repräsentierte. Gj. sah diese Feudalen in der Zeit ihres Verfalles, als die Erinnerung an die Vergangenheit noch zu stark waren, als daß sie sich den neuen Verhältnissen, dem Wirtschaften ohne unbezahlte Arbeitskräfte, hätten anpassen können; in einer Zeit, als das Gefühl des Herrentums in ihnen noch zu tief eingewurzelt war, als daß sie in ihrer schweren materiellen Lage den bisherigen Lebensgewohnheiten entsagen und ihre Not hätten eingestehen können.

So gingen sie zugrunde, einer nach dem andern, langsam und sicher, ohne sich helfen zu können u. ohne das, was um sie herum vorging, zu verstehen, u. sie mußten mit Schmerz sehen, wie ihre eigenen Kinder aus Not und Armut das Bewußtsein ihrer Stellung verloren und sich mit gesellschaftlich Minderwertigen mischten. Doch alle repräsentierten in ihren Persönlichkeiten und ihren Gewohn- heiten ein Leben, in dem eine große Dosis tragischer Größe steckte. Alle diese zagorianischen Herrenhäuser waren voll von Erinnerungen an die Tage einstiger Größe und Herrschaft. Diese Erinnerungen, die noch in den Gegenständen und Leuten lebten, bilden den Kern der zagorianischen Novellistik Gj.s. Gj. ist nicht ein gewöhnlicher laudator temporis acti, er ist in seinen zagorianischen Motiven in erster Linie der Dichter jenes Lebens, der Dichter der zagorianischen Herren- häuser, des Herrenlebens u. seiner hedonistischen Lebensauffassung. Er gestaltete das Leben dieser Menschen, denen Tage und Jahre vorübergingen zwischen Trink- sprüchen, Tanzunterhaltungen, Kurmachereien, lang dauernden Gelagen, die jedoch gleichzeitig Repräsentanten des konservativen Kroatiens waren, das stolz und hart- näckig an seiner Konstitution festhielt. Gj. ist der Dichter der zagorianischen Landschaft, der Idylle des häuslichen Herdes, der zagorianischen Hügel, der romantischen Liebschaften und Tragödien, die sich in dieser von Vergangenheit durchsättigten Umgebung abspielten. Diese zagorianischen Adeligen konnten i hörigen Bauern gegenüber kleine Tyrannen sein, doch gleichzeitig gab es unter ihnen Anhänger Voltaires, der französischen Enzyklopädisten und der französi- schen Revolution. Doch auch die Bauern wußten sich nach ihrer Befreiung von der Adelsherrschaft in der ncuen Ordnung vielfach nicht zu helfen, da sie eben- sowenig wie der Adelige darauf vorbereitet waren, u. gingen vielfach zugrunde. Als Dichter dieser Verfallserscheinungen bringt Gjalski selten seine persönliche Meinung zum Ausdruck, der Dichter in ihm ist stärker als der Ideolog, die Poesie stärker als die These. Die Lebensbeschäftigung in den Mannesjahren führte Gj. in die Bürokratie u. brachte ihn in Verbindung mit den politischen Verhältnissen Kroatiens. Damit erweitert sich seine Belletristik von den zagorianischen Motiven zu allgemein nationalen Gesichtspunkten; seine Novellen und Romane werden damit ein Dokument der kroatischen politischen und kulturellen Zustände des ganzen 19. Jhs., vom Illyrısmus über den Bachschen Absolutismus bis zum Regime des Banus Khuen Hedervary, und es kommt jetzt eine bestimmte politische u. kulturelle Ideologie zum Ausdruck. In dieser Novellistik des politischen Lebens Kroatiens unterscheiden sich scharf die historischen Romane Osvit, Za materinsku riječ von den Romanen und Novellen aus dem gegenwärtigen Leben. In den ersten beiden Romanen bringt der Dichter ein groß angelegtes Bild der illyrischen Be- wegung u. der kroatischen Gesellschaft dieser Zeit in ihrem Verhältnis zu den neuen Ideen der nationalen Wicdergeburt. Im Rahmen erdichteter Fabel gibt er Idealportraits jener Leute, die die Grundlagen des modernen Kroatiens schufen (Janko DraS’kovit, Ljudevit Gaj, Stanko Vraz u. al Parallel mit den „Illyriern“ zeichnet Gj. objektiv auch die Verteidiger magyarischer Tendenzen in Kroatien u. die Verteidiger der alten kroatischen Konstitution, der lateinischen Sprache u. der Privilegien des Adels. Gj. zeichnet ferner die einzelnen Regimes, die nach dem Illyrismus in Kroatien kamen u. deren gemeinsames Prinzip darin bestand, eine

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möglichst verläßliche Bürokratie zu schaffen. Er schildert die Tragik der Leute, die an eine Gerechtigkeit im Staate Usterreichs glaubten, die Tragödien der Familien, deren Ernährer sich etwas freiheitlich gebärdeten u. deshalb den Kriechern und Dienern des Regimes gegenüber zurückgesetzt wurden. (Zur einseitig un- historischen, austrophoben Interpretation dieser Epoche, wie sie Barac gibt, möchte ich kritisch bemerken, daß jede andere Regierung sich feindlich gegen jene Elemente wendete, die gegen das herrschende System waren, im Interesse der Selbst- erhaltung, u. daß es auch im heutigen S.H.S.-Staat seit 1918 nicht anders ist, wie, um nur ein Beispiel zu erwähnen, die Behandlung der republikanischen u. „kom- munistischen™ Intellektuellen beweist.) Gj. zeichnet ferner unverhüllt alle mög- lichen Erscheinungen der Korruption, des Nepotismus, gibt anderseits aber auch eine scharfe Analyse der nationalen Moral u. eine Anklage der nationalen Kreise. In der Zeit, als Gj. am meisten literarisch schaffend tätig war, nahm die Starte vicsche groß kroatische nationalpolitische Ideologie immer mehr überhand, der sich fast die ganze junge Generation zuwendete. Durch die politische Kampfes - weise des Führers Starčević drang in die politischen Debatten an Stelle des mehr akademischen Tones der Anhänger der Stroßmayerschen Ideologie ein brutaler Ton der persönlichen Beleidigung und Herabsetzung. Das politische Leben dieser Epoche der 80 er Jahre, den phrasendrescherischen radikalen Patriotismus der Universitätsjugend, der im schärfsten Gegensatz stand zu ihrer späteren Haltung im Beruf und im Leben, schildert Gjalski in dem Roman U noći. Im ganzen ist das politische Bild Kroatiens bei Gjalski schwarz gezeichnet. Doch auch das Bild des kulturellen Kroatiens ist nicht viel lichter. Die kroatische Gesellschaft der 80 er 1 hat keinen Sinn u. kein Interesse für die höheren kulturellen Bedürfnisse, ümmert sich nicht um die Literatur mit der Ausrede, daß nach noa keine kroatische Literatur bestünde. Dem Menschen der kroatischen bürgerlichen Ge- zellschaft imponierte nur das Fremde, während er auf die Leistungen der nationalen Kultur mit Verachtung herabsah. Der kroatische Literat fand für seine Arbeit nicht nur keine Anerkennung, sondern mußte noch mit heimtückischen Angriffen auf Schritt und Tritt rechnen. Während das kulturelle und politische Zentrum aus seichten Journalisten, charakterlosen Politikern, literarischen Kandidaten und ambitidsen Bürokraten bestand, war die kroatische Provinz ein gewaltiger Sumpf, in dem das Denunziantentum und Pamphlete herrschten u. jeden vernichteten, der seine Umgebung überragte. (Kritisch wäre dazu zu be- merken, daß die quantitativen und qualitativen kulturellen, wissenschaftlichen Leistungen dieser Zeit eine Verallgemeinerung dieser pessimistischen Behauptungen nicht rechtfertigen.)

Die gesamte Belletristik Gj.s hat bei aller Heterogenität des Stoffes dennoch ein einheitliches Merkmal im intimen Bau der Gestalten: Die Hauptpersonen sind nicht nur Protagonisten der Handlung und Träger einer Ideologie, sondern gleichzeitig mehr oder minder Träger einer Tebensohilossphie und diese Lebens- philosophie ist zum größten Teil eine pessimistische: Die Träger der Handlung gehen zugrunde im Kampfe mit einer inferioren Umgebung, die Tüchtigen und Gesunden gehen zugrunde u. die Dummen und Verdorbenen bleiben. Als primäres Motiv tritt diese Auffassung im Roman anne Borislavié zum Vorschein. Au die Analyse des Lebensproblems an sich führt bei Gj. zu einer pessimistischen Lösung. Es gibt nichts, das den Menschen vollständig zufrieden stellen könnte. Die Analyse der Liebe zeigt, daß der tierische Trieb ihre Grundlage ausmacht; die Verserkung in die Wissenschaft zeigt, daß uns alle Wissenschaften zusammen keine endgültigen Ausblicke gewähren. Um sich vor der Verzweiflung des Pessi- mismus zu retten, sucht Gjalski die Verbindungen zwischen dem irdischen und dem überirdischen Leben u. gelangt damit mit seinem Schaffen zu den Novellen okkul- tistischen Inhalts.

Gj.s allgemein literarhistorische Bedeutung: Als Gj. in die kroatische Lite- ratur eintrat, gab es keinen fruchtbareren u. ausgeprägteren Schriftsteller. 1889 war Senoa gestorben, der fruchtbarste unter den ee kroatischen Literaten, der durch den künstlerischen Wert seiner Werke den literarischen Dilettantismus unmöglich gemacht hatte, durch sein reiches und verschiedenartiges Schaffen das literarische Publikum vergrößert u. dadurch die Aktualität seiner Ideen wie durch dıe epischen Eigenschaften seiner Produkte seine Leser dauernd gefesselt hatte. Von

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den kroatischen Realisten, die später zu Ansehen kamen, zeigte in dieser Zeit nur Vjenceslav Novak in seinen Skizzen neue literarische Merkmale.

Das Auftreten Gj.s ist literarhistorisch wichtig wegen der Weite des Stoff- umfanges seiner Belletristik, wegen der Aktualität der Ideen u. wegen des geistigen Niveaus, das diese Belletristik in den 80 er u. 90 er Jahren des vorigen Jahrhunderts veranschaulicht. Bis Šenoa erschöpfte sich die kroatische Novellistik in pseudo- historischen Novellen, romantischen Liebesgeschichten u. Hajdukenmotiven. Senoa brachte mit Tomié eine Erweiterung durch den historischen Roman, durch die Novelle aus dem bürgerlichen u. dem feudalen Leben, blieb jedoch im wesent- lichen ein Darsteller seiner bürgerlichen Gesellschaft. Gjalski bot schon als lite- rarischer Anfänger dem kroatischen Publikum einen Einblick in das innere, intime Leben der Adelsgesellschaft, ging dann auf den politischen, Kultur- und Gesell- schaftsroman über, um damit gesamte kroatische Gegenwartsdasein aus der Nähe des gewöhnlichen Alltags zu umfassen. Er schuf schließlich die ersten psycho- logischen Romane u. Novellen. Noch größer ist Gj.s Bedeutung in bezug auf die Aktualität seiner Werke. War schon Senoa in seiner Belletristik bestrebt, in Verbindung mit den Tendenzen des kroatischen Gegenwartslebens zu sein in den historischen Romanen indirekt und eingekleidet —, so wagte es doch Gj. als erster, die Erscheinungen u. Verhältnisse seiner Zeit gleichzeitig u. parallel mit ihrem Auftreten literarisch zu gestalten (die Misere der kroatischen literarischen Verhältnisse im: Radmilović, den Phrasenpatriotismus der Omladina in: U noći usw.). Auch seine historischen Romane Osvit u. Za materinsku riječ waren letzten Endes aus aktuellen Bedürfnissen entstanden. Einen bedeutenden Fort- schritt gegenüber Šenoa bedeutet Gj.s Auffassung des historischen Romanes. Gi.s Roman erschöpft sich nicht mehr in der Fabel mit bestimmter Tendenz, sondern er wird wie im Westen ein universelles literarisches Spiegelbild der geistigen Strömungen u. der Veränderung in der Struktur der Gesellschaft seiner Zeit. Gj war der gebildetste Erzähler seiner Zeit u. brachte sich in seinen Werken ganz mit seinem geistigen u. emotionalen Lebensgehalt zum Ausdruck. Er besaß unter allen kroatischen Realisten eine verhältnismäßig hohe Kultur, las deutsch, russisch, italienisch u. französisch, verfolgte neben der Belletristik auch die philosophische u. naturwissenschaftliche Literatur. Eine weitere Bedeutung der Bellerristik Gj.s liegt darin, daß Gj. in einer Zeit, als die freie publizistische, Gleiser Meinungsäußerung sowie die politische Freiheit unterbunden war, offener u. frei- mütiger als irgendein anderer Erzähler das kroatische Milieu, die Gesellschaft u. das Regime mit all den Schatterseiten zeichnete. Gj. war einige Jahre nach seinem literarischen Auftreten der populärste kroatische Erzähler. Die bedeutendsten Literaturkritiker der 80 er Jahre M. Srepel u. J. Cuka brachten ihm größtes Interesse u. auch frühzeitig vollste Anerkennung entgegen. T. Grabowski widmete ihm einige Zeit später ein eigenes Buch (Współczesna Chorwacya 1906). Eine Reihe seiner Arbeiten wurden in verschiedene slavische u. westeuropäische Sprachen übersetzt. Die junge Modernistengeneration, die zu Beginn des 20. Jhs. auftrat, feierte Gj. als einen der ihren, weil er spezifisch künstlerische Maßstäbe u. euro- päische Gesichtspunkte in die Literatur hineintrug. Im Lauf des ersten Dezenniums unseres Jhs. ging das unmittelbare Interesse an Gj. etwas zurück.

Das Neue im literarischen Schaffen Gj.s besteht darin, daß er bestrebt war, möglichst viel Leute aus dem Alltagsleben zu gestalten, u. daß er seine Werke mit den aktuellen Ideen seiner Zeit durchtränkte; daß er Schluß machte mit den bisher üblichen erklügelten u. erdichteten Fabeln, daß er das ihn umgebende Leben be- trachtete u. beobachtete u. das nationale Leben u. seine Poesie darzustellen ver- suchte. Der Realismus, wie ihn die kroatischen Schriftsteller der 80er Jahre interpretierten, hat sehr verschiedenen Charakter. Gj.s Realismus erschöpft sich in der Darstellung der realen Lebenstatsachen u. in der Betonung der aktuellen Probleme des nationalen Lebens. In der Kombination dieser realen Tatsachen, im Bau der Fabel, überwiegt jedoch die intime, die Gefühlsseite über die konsequent realistische Auffassung des Lebens. Er feiert die Schönheit der Vergangenheit im Verhältnis zur Häßlıchkeit der Gegenwart. Die Tragik eines Großteiles seiner Personen liegt in der Disharmonie zwischen der idealen u. schönen Welt der Vor- stellung u. der Welt der Wirklichkeit. Seine ganze zagorianische Novellistik ist im wesentlichen eine Glorifikation der alten Zeit. Ein eigentlicher Bazarov-Typ,

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der Träger einer rationalistischen u. realistischen Weltanschauung (David Hermann in: Na rodjenoj grudi) erscheint als antipathische Karikatur. Sein sozialer Exklusivismus macht sich ebenso wie in vielen Werken des soeben (80. August 1929) verstorbenen ragusäischen Dramatikers Ivo Vojnovié in seinen literarischen Werken sehr bemerkbar, ebenso wie die aus seinem Lebensmilieu erwachsene Neigung zur schönen Phrase u. Geste. Trotz seiner Beamtenkarrierc blieben seine Interessen u. sein Arbeitsgebiet im feudalen Kreise. Die Personen, die in seinen Werken das nationale Leben repräsentieren, sind vorwiegend Adelige (daneben Beamte) oder Nachkommen heruntergekommener Adelsfamilien, ihre

cise ist wesentlich die des Adels. Seine Männergestalten sind vorwiegend Salonlöwen, seine Frauen sprechen von ihren Zusammenkünften mit Komtessen u. Gräfinnen. Sein Realismus ist auf der Höhe, wenn er ein Adels- oder Patrizier- haus u. das Leben in ihm beschreibt. Er verfällt jedoch in Pathos u. wird unwahr, wenn er Menschen oder Gegenstände beschreibt, die ihm unsympathisch sind. Seine Frauen sind außerordentliche Schönheiten oder Karikaturen. Ganz reale Männer und Frauen sind bei ihm selten.

Das Innenleben der Haupthelden Gj.s besteht aus vielen großen Ambitionen, großer Empfindlichkeit u. Willensschwäche. Sie fühlen sich unglücklich, weil sie von ihrer Umgebung nicht verstanden werden. Diese Grundnote der Romane Gj.s ist auch gleichzeitig eine persönliche Note des Autors. Ein Mann mit Manieren, mit großer Bildung, mit Traditionen u. damit mit Aspirationen auf gesellschaftliche Stellung mußte seın Leben in einer Zeit verbringen, in der Gewalt über Recht, Dummköpfe u. gewöhnliche Kreaturen über die Intelligenten u. Vornehmen herrschten. Dadurch wurde seine Seele empfindlih u. leicht verwundbar. Mit dieser wesentlich lyrischen seelischen Disposition u. mangelhafter Aktivität war er stärker in der Analyse als in der Ideologie. Im inneren Aufbau seiner Werke sieht man häufig einen Bruch: Er wendet sich von der angefangenen These u. läßt sich von der Fabel zum Schaden der psychologischen Klarheit u. Glaub- würdigkeit auf einen neuen Weg verführen. Auch in seinen Helden sicht man das mehr Iyrische, aber nicht kontemplative Temperament des Autors. In sciner Weltanschauung liegt etwas Zerrissenes, eine Spaltung zwischen Gefühlen u. Verstand, zwischen der Logik des ideellen u. der Logik des emotionalen Lebens. Den größten Umfang nehmen die Liebesfabeln ein. Der Schönheit der Frauen werden Hymnen gesungen. In der Schilderung herrscht auch bei Gj. wie bei Senoa die Schwarz-Weiß-Technik, also von einem konsequenten Realismus noch keine Rede. Der echte Gj. ist nur in den Motiven aus dem Leben des zagori- anischen Adels zu finden. Hier ist er ein Dichter seiner Landschaft, ein Dichter einer im Vergehen befindlichen Lebensform. Hier zeigt er sich als wirklicher Künstler. Hier waltet eine Poesie ähnlich der zagorianischen Lyrik eines Dragutin Domjanić und der Poesie der Dubrovacka trilogija von Ivo Vojnović. Kinen Großteil der Werke schrieb Gj. nach eigenen Aussagen der Tendenz wegen, in einer Zeit, als er als anerkannter u. routinierter Erzähler seine Meinung über aktuelle Probleme des nationalen Lebens zum Ausdruck bringen wollte. Daher finden sich in diesen Werken viel papierene Elemente, viel Konstruiertes, viel psychologisch Unglaubwiirdiges, viel künstlerisch nicht voll Erlebtes und Aus- gereiftes. Gj.s philosophische Erudition ging mehr in die Weite als in die Tiefe. Daher zeigen die literarisch behandelten philosophischen u. wissenschaftlichen Probleme mehr feuilletonistische Leichtigkeit als wissenschaftliche und künstlerische Vertiefung. Bei alledem liegt Gj.s große literarische Bedeutung durch den großen Motivenreichtum, durch die Aktualität und Kühnheit seiner Ideen u. durch die philosophische Fundierung seines Schaffens in der Tatsache, daß er nach

oa am meisten Elemente des kroatischen nationalen (politischen u. geistigen) Lebens in seinen Verken konzentrierte. Durch seine relativ weite philosophische Bildung wurde Gj. geistesgeschichtlich auch insoweit von Bedeutung, als erst durch seine Werke eine Reihe moderner philosophischer Ideenginge Schopenhauersche, ferner die darwinistischen positivistisch- naturwis senschaftlichen, okkultistischen An- schauungen u. Denkweisen in die weitere kroatische Offentlichkeit eindrangen. Die Beobachtungsgabe des Dichters ist verhältnismäßig einseitig; es überwiegen gleiche Typen in verschiedenen Variationen. Stil u. Komposition: Der Stil ist in den meisten Erzählungen ohne besondere persönliche Note, nicht voll durchgebildet.

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In der Wortwahl sind ihm nur die Vorstellungsinhalte wichtig, auf den emotionalen Gehalt wird nicht viel Gewicht gelegt. Attribute u. Epitheta werden nicht individualisierend gewählt. Unter den kroatischen Realisten haben Kozarac, Leskovar u. Novak einen viel mehr ausgeprägten Stil. In einem großen Teile seiner Werke kämpfen der Denker, Erzähler u. der Ideolog mit dem Künstler, häufig zum Nachteil des Künstlers. Die Quantität des Erlebnisgehaltes ist bei manchen Erzählungen gering. Gegenüber den vielfach konstruierten, im Stil unpersönlichen Romanen erweist er sich dort, wo er aus vollem Innenleben schöpft, als vorzüg- licher Kompositor. Mit der patriotischen Tendenz in seinen Werken wurden ın Kroatien einige Generationen der Jugend ım Geiste des nationalen Widerstandes, im Streben nach Charakterhaftigkeit u. im Streben nach Europa, europäischer Geisteshaltung erzogen. Gj. bedeutet in der kroatischen Literatur u. im kroati- schen nationalen Leben ein wichtiges Verbindungsglied zwischen den romantisch- nationalen Stimmungen u. Bestrebungen Kroatiens der 60 er u. 70 er Jahre u. dem modernen Leben. Als Künstler gehört er nicht in die Reihe der größten jugo- slavischen Dichter Njegoš, Kranjčević, Bor. Stanković, Ivan Cankar kommt aber gleich nach ihnen in der Reihe derer, die wichtige Abschnitte der jugoslavischen literarischen u. allgemein nationalen Vergangenheit charakterisieren (Preradovié, Lazarević, Šenoa).

BULGARISCHE HISTORISCHE BIBLIOTHEK

(Blgarska istoričeska biblioteka. Redaktori prof. Dr. V. N. Zlatarski, prof. Dr. P. Nikov. Urednik-Stopanin Strašimir Slavčev, Sofija 1928.)

Von Josef Matl.

Der Plan zur Herausgabe dieser Historischen Bibliothek ist dem schon zu Beginn der bulgarishen Wiedergeburt erwachten und lebendig gewordenen, die nationalkulturelle Wiedergeburt und Aufbauarbeit gestaltenden Bewußtsein ent- sprungen, daß die eingehende Kenntnis der kulturellen und politischen geschicht- lichen Leistung des eigenen Volkes in der Vergangenheit und die damit geweckte Tradition eine Existenz- und Kraftgrundlage des nationalen Lebens, Seins, Schaffens für die Gegenwart und Zukunft bedeute. Eine Wandlung ist auch hier bei den kleinen slavischen Völkern wenn auch nicht in dem Ausmaße, wic bei den älteren, reiferen und dadurch kritischeren und skeptischeren großen west- europäischen Völkern nur insoweit eingetreten, daß der im wesentlichen aus dem romantischen Organismusgedanken entstandene Historizismus durch die er- nüchternden kritisch-positivistischen, empirischen, evolutionistischen Strömungen in der Wissenschaft der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts von den illusions- reichen Höhen naiv-romantischer Idealisierung herabgestiegen und sich zu einer auf kritische Beurteilung der Quellen beruhenden nüchternen Betrachtung der historischen Zusammenhänge und Tatsachen gewandelt hat. Wir in Westeuropa, die wir heute schicksalsmäßig in einer vielleicht für Jahrhunderte entscheidungs- vollen geistigen und politisch-sozialen Umstellungskrise darinnen stecken, sind in letzter Zeit etwas kritisch geworden gegenüber dem Übergewicht des Historizismus ich denke hier vor allem an die in der deutschen und französischen Offentlich- keit zu hörende Losung: Los vom Historizismus aus dem Bewußtsein und Gefühl heraus, daß uns die seit über 100 Jahren gepredigte Rückschau in das Ver- gangene in ihren Auswirkungen zu einer Last zu werden beginnt, die Handlungs- und Urteilsfreiheit gegenüber den Aufgaben der Gegenwart und Zukunft manch- mal schon mehr beschwert als erleichtert. Dies nebenbei. Diese allgemeine kritische Randbemerkung ist nicht als Vorwurf gegen diese vorzüglich redigierte Bulgarische Historische Bibliothek gedacht, für deren Qualität uns die Namen der hier vertretenen führenden bulgarischen Historiker und Fachleute gel vor allem der Name V. N. Zlatarskis, der durch seine bisherigen grundlegenden

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Arbeiten zur bulgarischen Geschichte Proben seines wissenschaftlichen Kritizismus und seines europäischen wissenschaftlichen Niveaus gegeben hat.

Wie schwer sich in der südslavischen Geschichtswissenschaft aus den gegebenen schwierigen Entwicklungsumständen auf dem Wege zum freien Volk und freien Staat, aus der Tatsache, daß das primum est vivere, deinde philosophari und damit das nationalpolitisch zweckbetonte Geschichtsforschen und Geschichts- schreiben bis in die neueste Zeit dauerte, eine streng kritische Auffassung der nationalen Geschichte durchsetzt, möge nur eines illustrieren: Man beobachte die Genesis und Bedeutung der naiv-romantisch-nationalistischen Auffassung und These vom „Erbfeind“, unter dem jeweilig der Türke, Germane oder Italiener verstanden wird. Diese Auffassung, die in den weiten Kreisen der Intelligenz bis heute noch nicht überwunden ist die führenden kritischen Historiker wie L. Haupt- mann, F. Silik, N. Radojtié, V. N. Zlatarskıu. a. sind ja darüber hinaus —, ist zu einer Mentalität, Psychose geworden, die den Blick und den Villen für eine kritische objektive Bewertung der historischen Zusammenhänge und der geschichtlich durch die jeweiligen Kräfte verhältnisse gegebenen Macht- und Abhängigkeitsrelationen trübt durch das Hineintragen von uld problemen und angeblichen Haßtendenzen und für den gegenwärtig notwendigen Neuaufbau die Atmosphäre vergiftet. Daher denn auch bis heute die Vorherrschaft der politi-

schen Geschichte, daher denn auch die gegenüber der polnischen, Cechischen und

russischen geschichtsforschenden Tätigkeit auffallende mangelhafte systematische komparative Erforschung der rechts-, wirtschafts-, sozial-, kulturgeistesgeschicht- lichen Entwicklung. Eine Wandlung zum Besseren ist erst in den letzten Jahren zu bemerken. Ich verweise hier nur auf die Untersuchungen und programmati- schen Arbeitspläne des Serben Dušan Popović (Belgrad), des Slovenen Cremoßnik (Sarajevo), des Kroaten Matasovié (Skoplje), des Slovenen L Hauptmann u. a. Immerhin wird es wohl noch eine Weile dauern, bis eine Geschichte der Süd- slawen in der Art Kljulevskijs Geschichte des russischen Volkes wird geschrieben werden können. Eine Reihe wertvoller Bausteine für eine derartige Geschichte der Südslaven bringt die neue Bulgar. Historische Bibliothek.

Der erste Jahrgang (godina prva) 1928 der neuen Blgarska Istorideska Biblioteka enthält in 4 Bänden folgende Studien, teils in Form populär gehaltener Dessen ung ohne wissenschaftlichen Apparat, teils (nur in wenigen Fällen) mit

pparat:

Bd. I (Tom prvi): Prof. Gavr. J. Kacarov gibt einen Abriß der Ge- schichte und des Wesens des alten Thrakiens (Očerk na istorijata i bita na drevna Trakija. God. I, T. I, S. 1—21). Prof. Bogd. Filo zeichnet die Geschichte und die Bedeutung der römischen Herrschaft in Bulgarien (Rimskoto vladigestvo v Bigarija. T. I, S. 22—48). Der Sprachforscher Prof. St. Mladenov unter- sucht auf Ain Better erer Grundlage die Stellung der Bulgaren Asparuchs in der Reihe des türkischen Zweiges der ario-altaischen Völker (Polozenieto na Asparuhovité Blgari v reda na tjurskija klon ot ario-altajskité narodi. T. I, S. 49—78) und bringt dabei einen kritischen Überblik über die bisherigen Thesen der Herkunft und Zugehörigkeit der Bulgaren (hunnisch, türkisch usw.). Den historischen Prozeß der Formierung des bulgarischen Volkstums im Wege des Zusammenfließens zweier ethnischer Elemente, des bulgarischen und des slavischen, seit den 3 des 8. Jahrh. schildert V. N. Zlatarski in der außerordentlich interessanten und aufs chluß reichen, die politischen, rechtlichen, sozialen und istigen Komponenten aufhellenden Studie (Obrazuvane na bigarskata narodnost’. T. I, S. 74—112).

In die bedeutungsvollste und schicksalsschwerste Epoche der Balkangeschichte führt uns Prof. P. Niko in dem Aufsatz, der die einzelnen Etappen der Eroberung Bulgariens durch die Türken und das Schicksal der letzten Silmanen behandelt. (Turskoto zavoevanie na Blgarija i sadbara na poslednit& Silmanovei. T. I, S. 118—59). In die leider noch immer wenig bekannte und zu wenig ge- würdigte Geschichte der Volkskunst der Balkanslaven, die übrigens vor kurzem durch das epochale Werk des Wiener Kunsthistorikers Strzygowski über die alt- kroatische Kunst (herausgegeben von der Matica Hrvatska) eine wertvolle Be- reicherung erfuhr, leuchtet der Aufsatz des Prof. Kr. Mij ate v über die Kunst-

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handwerke bei den alten Bulgaren hinein. Die im e beigegebenen XVI Bildtafeln vermitteln die nötige Veranschaulichung (H eni zanajati u starité Bilgari. T. I. S. 160—84). Den Unterschied zwischen der 55 schen und bulgarischen Renaissance er Wiedergeburt) zeigt aus gründlicher Kenntnis der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte der 1928 zu früh dahin- geraffte Prof. Iv. D. 8 iImanov in einem kurzen, aber inhaltsreichen Aufsatz (Zapadnoevropejskoto i blgarskoto vzrakdanie. T. I, S. 185—98). Die Be- E des Lebenswerkes des Neofit Hilendarski-Bozveli (1785—1848) in der Geschichte der geistigen und nationalen Befreiung der Bulgaren beleuchtet die gründliche Arbeit des berufenen Kenners Prof. M. Arnaudov (Neofit Hilen- darski-Bozveli. T. I, S. 194—224). Bd. II (Tom vtori). Auf Grund der Ergeb- nisse der Ausgrabungen der letzten Zeit gibt uns Iv. Velkov ein Bild von Pliska, der ersten bulgarischen Residenz, mit Bildern und SE (Pliska prvata blgarska stolica. T. II, S. 1—26). Der Wirtschaftshistoriker Iv. Sakizov, dessen bulgarische Wirtschaftsgeschichte vor nicht langer Zeit im Grundriß der slavischen Philologie erschienen ist, bringt zusammenfassend über- sichtlich die ethnischen Verhältnisse und die soziale Schichtung im mittelalterlichen Bulgarien zur Darstellung (Naselenie i vlast’ v srédnovékovna Bigarija. T. II. S. 27—68). Die religiösen und politischen Ursachen der Kreuzzüge im allgemeinen und den ersten Zug der Kreuzfahrer durch das Balkangebiet im einzelnen schildert Prof. Sv. Georgiev (Prviat krstonosen pochod i blgarskitě zemi. T. II. S. 60—117). Die Persönlichkeit und die politisch-militärische Tätigkeit des aus der südslavischen epischen Volksdichtung gut bekannten „guten Helden“ aus dem Rhodope Momčilo (Momäil Voevoda) zeigt uns im Licht der Geschichte V. N. Zlatarski in seinem Aufsatz (Rodopskijat junak Momtil Voevoda. T. II, S. 118—81). Einen wertvollen Einblick in die geistige Lage und die religiösen Strömungen in Bulgarien im 14. Jh. vermittelt uns V. SL Kiselkov in einer monographie Studie, die das Leben und Wirken und die Lehre Theodosius’ von Trnovo, eines der bedeutendsten Repräsentanten der damaligen bulgarischen Intelligenz, schildert (Kilifarskijat otielnik Teodosij. T. Il, S. 18264) Als Fortsetzung der Lebens reibung des hl. Ivan von Rila, verfaßt vom Patriarchen Euthymij, ist uns in der altbulgarischen Literatur eine Erzhlung von der Über- tragung der Gebeine des hl. Ivan v. Rila aus Trnovo ins Rila-Kloster von Vladislav dem Grammatiker erhalten, die ein getreues Bild der bulgarischen Verhältnisse in der Mitte des 15. Jhs. gibt und in rein literarischer Hinsicht zu den interessantesten Literaturdenkmälern jener Zeit gehört. Prof. P. Ni k o v gibt eine literatur- und kulturgeschichtliche Einleitung zu dieser Erzählung und eine Übersetzung der- selben ins Neubulgarische (Vladislav gramatik Prenasjane moštitě na sv. Ivana Rilski ot Trnovo v Rilskija monastir. T. II, S. 165—87).

Bd. III (Tom treti): In die Prähistorie der bulgarischen Gebiete führt uns der allgemeine Oberblick über die Kultur en in der Vorgeschichte Bul- on von R. Popov (Obst pregled na kulturnité epochi v predistorijata na

Igarija. T. III, S. 1—21). Einen Abriß der Religion der alten Thraker gibt illustriert durch Bildtafeln Prof. D. Detlev (Olerk na religijata na drevnicé traki. T. III, S. 22—55). Die kirchen- und gei ichtlich, wie auch politisch- und sozialgeschichtlich bedeutungsvolle Bogomilenbewegung steht noch im Vorder- rund des Interesses und ist Objekt verschiedener Deutungsversuche (ich verweise

ier auf die bulgarischen und serbokroatischen Arbeiten der letzten Jahre von Ivanov, oev, V. Glušac, V. Klaić, Iv. Pilar). Prof. Iv. Sn&garov versucht das Auftauchen, Wesen, die Glaubenslehre und die Bedeutung der Bogomilen- bewegung vom kirchengeschichtlichen Standpunkt aus klarzulegen (Pojava, so$tnost’ i značenie na bogomilstvoto. T. III, S. 58-75). Die diplomatische Aktion des Zaren Kalojan zur Annäherung an Rom schildert eingehend P. Nikov in dem Aufsatz über die bulgarische Diplomatie seit Beginn des 18. Jahrhunderts (Blgarska diplomacija ot nagaloto na XIII věk. T. III, S. 76—108) V. I Zlatarski legt in dem Beitrag zur Geschichte und politischen Bedeutung der ersten bulgari- schen Deputation nach Rußland (Atanas Nikolaev u. Ivan Atanasov Zambin 1864 in Petersburg) die Anfänge der bulgarisch-russischen politischen Beziehungen im 19. Jh. klar (Prvitk „bulgarski deputati“ v Rusija. T. III, S. 109—190). In

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das gleiche Gebiet leuchtet die Studie des Prof. M. G. Poprukenko über die Rolle Rußlands in der bulgarischen Wiedergeburt des 19. fhs. hinein sowie über das Interesse russischer Kreise an den Bulgaren (Rusija i blgarskoto vzraZdane. T. III, S. 180—147). In gewissem Sinne ergänzend zur vorigen Studie zeigt der en A Gs audc si die Haltung der ete Ik Intelli 5 zu ege i ildun rebungen im inn des 19. Jhs. sowie die eutung der jechischen ee en Wiedergeburt für die bulgarische Kultur (Grcka i Igarska prosvéta v načaloto na XIX. věk. T. III, S. 148—76). Einen weiteren Beitrag zu den russisch-bulgarischen Beziehungen liefert J. Trifunovs Aufsatz über den russischen Anteil in der bulgarischen Kirchenfrage (Rusko ulastie v blgarskija crkoven vipros. T. III, S. 176—87).

Bd. IV (Tom četvrti): Der 4. Band des ersten Jahrganges ist dem Zaren Simeon und seiner Epoche anläßlich der Milleniumsfeier gewidmet. Er enthält folgende Studien: V. N. Zlatarski zeichnet auf breiter Grundlage die politi- sche Tätigkeit des Zaren Simeon (893—927) (Polititeskata dejnost’ na Car Simeona. T. IV, 8—48). Einen sehr willkommenen sprachgeschichtlichen, zusammen- fassenden Überblick über die Entwicklung der bel e Sprache von der Zeit Simeons bis zur Gegenwart gibt uns der berufendste Kenner St. Mladenov (Hiljado godini blgarski ezik—ot Car Simeona do dnes. T. IV, S. 49—78).

Was Zar Simeon und die durch ihn inaugurierte Litcratur und Kultur in der Geschichte der kirchenslavischen und speziell bulgarischen Literaturgeschichte be- deutet, legt eingehend M. Genov in einer Studie dar (Car Simeonovija vék v literatura. T. IV, S. 79—121). Eine anschauliche geistes- und kultur ichtliche Darstellung des geistigen Lebens und der Kultur (Bildung) bei den Bulgaren zur Regierungszeit Simeons gibt J. Trifunov (Duchoven Zivot i prosvéta u. Blgaritě v caruvaneto na Simeona. T. IV, S. 122—47). Das besondere Interesse der Kunstgeschichtler verdient die durch Illustrationen veranschaulichte Arbeit Prof. Kr. Mijatevs über die Kunst bei den Bulgaren im 9. und 10. Jh. (Izkustvoto na Blgaritk prez IX i X v. T. IV, S. 148—79). Die als Quelle wichtige Korrespondenz des bulgarischen Fürsten Simeon mit dem kaiserlichen Delegierten Magister bringt V. N. Zlatarski in bulgarischer Übersetzung mit erläuternden Erklärungen (Prepiskata na blgarskija knjaz Simeona s imperatorskija delegat Lva Magistra. T. IV, S. 180—92). Diesen Simeon-Band eröffnet ein Porträt des Zaren Simeon von Prof. Sim. Velkov, ferner im altkirchenslavischen Text und neubulgarischer Übersetzung das Lobgedicht auf den Zaren Simeon, das uns in einem Sbornik aus dem Jahre 1078 erhalten ist.*)

1) Den Inhalt jener Beiträge der Blgarska Istoriteska biblioteka, die von all- emeinerem Interesse sind, werde ich gelegentlich in der Zeitschriftenschau aus- ührlicher wiedergeben.

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II LITERATURBERICHTE

DIE MARXISTISCHE GESCHICHTS WISSENSCHAFT IN DER SOVETUNION SEIT 1927

Von Fritz Epstein (Hamburg).

1: Chronik der Entwicklung.

Inhaltsübersicht. Vorbemerkung.

Die Kommunistische Akademie. Das Lenin-Institut (und Istpart). Das Marx-Engels-Institut.

M. N. Pokrovskijs 60. Geburtstag. Der Kampf der marxistischen Historiker gegen die Repräsentanten der „bürgerlichen“ Geschichtswissenschaft D. M. PetruSevskij und E. V. Tarle. Das Institut für Geschichte der RANION.

Die Konferenz der Osteuropa-Historiker in Warschau. Die Russische Historiker-Woche in Berlin. Die russische marxistische Geschichtswissenschaft und der VI. Internationale Historiker-Kongreß in Oslo. Die I. Konferenz der marxistischen Historiker der gesamten Sovetunion in Moskau.

Das Verhältnis der marxistischen Historiker zur Akademie der Wissen- schaften der Sovetunion.

Die Begründung des Forschungsinstituts für Geschichte bei der Kommunisti- schen Akademie.

Die marxistische Geschichtswissenschaft in der Ukraine.

Die Konferenz für den Unterriht in den marzistischen historischen Disziplinen: „Geschichte der Kommunist. Partei“, „Leninismus“ und „Geschichte der Kommunist. Internationale“.

Über zwei Jahre erstreckt sich das Erscheinen der zehn letzten Hefte des „Istorik-Marxist“, der in der Sovetunion für das „marxi-

stisch-leninistische“ historische Denken maßgebenden Zeitschrift.“)

1) „Istorik-Marxist“. Žurnal obščestva istorikov-marxistov pri Kommunisti- ¢eskoj Akademii CIK SSSR (izd. Kommunist. Akademii; Moskva 19, Volchonka 14).

Heft 5 (1927) 802 S.; 6 (1927) 819 S.; 7 (1928) 810 S.; 8 (1928) 262 S.; 9 (1928) 250 S.; 10 (1928) 275 S.; 11 (1929) 278 S.; während der Korrektur wurden einige Hinweise auf H. 12, 18 und 14 eingeschaltet, eine eingehende Berücsichti- gung der drei Hefte für den vorliegenden Bericht war indessen nicht mehr möglich. Die vier ersten Hefte des „Istorik-Marxist“ habe ich 1928 in diesen Jahrbüchern (N.F. IV, 277—294) angezeigt.

Die in den Anmerkungen gebrauchten Abkürzungen sind: Izvestija = Izvestija CIK Sojuza SSR i Vseross. CIK Sovetov Rab., Krestj. i Krasnoarm. Deputatov (Moskauer Tageszeitung); Pravda Organ Central’n. Komiteta 1

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Parolebuch des Generalstabs der marxistischen Geschichtsforschung, der ,,Gesellschaft der marxistischen Historiker bei der Kommunisti- schen Akademie“ in Moskau, weisen die neuen Hefte in unvermin- derter Schärfe die beispiellose Eigenart auf, daß ein ausgesprochen

litisches Kampforgan die Geschichtswissenschaft im heutigen Ruß- and repräsentiert. Die historische Forschung und der Geschichts- unterricht sind bewußt in den Dienst der Politik, d. h. der herrschen- den Partei, gestellt.) Die marxistische Geschichtsschreibung ist Aus- druck der Parteipolitik; Streben nach Unparteilichkeit bedeutet Ab-

Moskovsk. Kom. V. X. P. (b.), Mosk. Tageszeitung; Vestnik Komakad. Vestnik Kommunistileskoj Akademii; Vochenbericht Wochenbericht der Gesellschaft für kulturelle Verbindung der Sowjetunion mit dem Auslande; Trudy I und Trudy II = Trudy pervoj vsesojuznoj konferencii ıstorikov-marksistov Bd. I und II (Mosk. 1880). Verweisungen auf den „Istorik-Marxist“ erfolgen in der Regel ohne Nennung der Zeitschrift, wobei die voranstehende Ziffer (1 bis 14) die Nr. des zit. Heftes bezeichnet.

In meiner Übersicht bleibt die methodisch-didaktische Abteilung der Zeit- schrift außer Betracht, die nicht unabhängig von der Stellung des historischen Materialismus im System der marxistischen Wissenschaftslehre und nur in ihrem Zusammenhang mit der Aufgabe der Geschichte im Rahmen der Soverpädagogik richtig eingeschätzt werden kann. Ebenso sind Hinweise auf die sehr zahlreichen Kußerungen zur nichtrussischen Geschichte fast völlig unterblieben, soweit für die Erwähnung nicht besondere Gründe sprachen; auf einige Beiträge zur west- europäischen Geschichte in den letzten Heften des „Istorik-Marxist“ habe ich in der Histor. Zeitschrift Bd. 140 (1920), S. 196 und 692 hingewiesen.

Um das in der Zeitschrift „Istorik-Marxist“ aufgespeicherte bibliographische Material zu erschließen, führe ich häufiger als in meinem ersten Bericht auch be- merkenswerte Rezensionen an. Die Übersicht stützt sich in erster Linie auf die mir durch das Osteuropäische Seminar der Hamburgischen Universität, das Hamburgische Welt-Wirtschafts-Archiv, das Hamburger „Institut für Auswärtige

Politik“ und das Institut für Sozialforschung an der Universität Frankfurt a. M. zugänglichen Materialien.

2) Einige Offenherzigkeiten der Redaktion im Anschluß an eine Aus- einandersetzung Pokrovskijs mit dem Akademiker E. V. Tarile über dessen Werk „Westeuropa in der Epoche des Imperialismus“ (Evropa v epochu imperia- lizma; s. unten S. 109) verdienen Beachtung, weil sie den Klassenkampfcharakter des Organs, die Bestimmung der Zeitschrift, als „Kampfmittel der marxistischen Historiker im Kampf mit feindlichen Ideologien“ (Minc 11, 277) zu dienen, in ungewöhnlicher Schärfe betonen. Tarle hatte sich gegen die persönlich verletzende Art gewandt, in der an seinem Werke Kritik geübt worden war, daß in Pokrovskijs Polemik gegen T. ein spöttischer Unterton mitschwingt, den man als absichtlich kränkende Mißachtung der Überzeugung des Angegriffenen emp- finder, ist nicht zu leugnen. Was die Redaktion Tarle erwiderte, ist bei aller persönlichen Färbung durchaus von prinzipieller Bedeutung: „Des ist der Ton, ın dem wir immer mit unseren nfeinden uns auseinandersetzen werden. Ob Sie zufällig oder absichtlich, mit oder ohne Willen unter deren Zahl geraten sind, das ist eine Frage, die genau so müßig ist wie die Frage nach der moralischen Verantwortung Wilhelms oder Greys für den Krieg. Wir können uns zu cinem

r uns so lebendi en Faktum, wie es der Imperialismus ist, nicht mit „aka- demischer™ Leidenschaftslosigkeit verhalten. Europa in der Epoche des Im- mus darf für Sie nicht ein Thema wie die ägäische Kultur sein. Mit unseren feinden werden wir immer in dem gleichen Ton sprechen, wie mit ihnen Marx und Engels, Plechanov und Lenin gesprochen haben. Wem dieser Ton nicht beh der soll sich nicht in den kampf einmischen und es bleiben lassen, den Standpunkt dieser oder jener Imperialisten gegen die marxistische Analyse in Schutz zu nehmen . . . (9, 109).

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fall, Abgleiten ‘ins Biirgerliche, und umgekehrt wird der Vorwurf, den sih M. N. Pokrovskij vor langen Jahren von Kiese- wetter zuzog: er degradiere die ganze Geschichte zur Partei- polemik, ihm von seinen Anhängern als Verdienst angerechnet.“

In zäher und zielbewußter Arbeit liefert die Kommunistische Akademie beim Zentralen Vollzugsausschuß der Sovetunion, die 1918 errichtete Hochburg des „Marxismus- Leninismus“, für die einzelnen „Sektoren“ der sog. dritten, der „ideologischen“ oder Kulturfront (nach der „politischen“ und der „ökonomischen“ Front) die geistigen Waffen.“) „Die marxistischen Historiker bilden eine Ab- teilung der leninistischen Armee, die gleichzeitig auf mehreren Fronten kämpft“; ) sie fühlen sich als der Stoßtrupp auf dem vielleicht wichtigsten Abschnitt der „ideologischen“ Front, auf der mit geistigen Waffen der Kampf zweier Welten, der bürgerlichen und der prole- tarischen, ausgekämpft wird.)

In der Unterrichtung über die historische Arbeit in der Sovet- union sieht sich der Osteuropa-Historiker heute vor einer gegen die Zeit vor dem Kriege völlig neuen Lage: eine beachtenswerte historische Literatur in ukrainischer,") weißrussischer,®) armenischer,

„Man muß es deutlich aussprechen, daß marxistischer Historiker nicht sein kann, wer sih von der litischen Praxis zurückhält; für den marxistischen Historiker erscheint sein politisches Wirken als die Quelle wissenschaftlich-schöpfe- rischer Arbeit.. Es verstehy sich von selbst, daß außer der praktischen iti- schen Tätigkeit für den marxistischen Historiker noch zureichende Kenntnis der Geschichtstatsachen und Beherrschung der Forschungstechnik der bürgerlichen historischen Wissenschaft gefordert wird.“ P. Gorin, Na istori¢eskom fronte: Pravda Nr. 272 (4104) v. 28. Nov. 1920.

„Die Geschichtswissenschaft ein Blinder, der das nicht sieht! ist ein Stück Klassenkampf“: V. Seltzer (Zel’cer) 10, 251.

„Geschichte ist immer Klassengeschichte, nicht nur deshalb, weil ein Historiker mitunter auf dem Klassenstandpunkt steht, sondern deshalb, weil der Historiker immer den Interessen seiner Klasse dient“: S. Piontkovskij, Oktjabf i russkaja istoriceskaja nauka: Pečat’ i revoljucija 1927 H. 2 S. 112; vgl. diese Jahr- bücher N. F. III (1927), 584—536.

3) Rubinstein 9, 77. Die deutsche Geschichtswissenschaft, die sich eben zur Abwehr der „Historischen Belletristik“ Histor. Ztschr. Bd. 188 (1928) aufraffte, wird selbst von Ranke angefangen bis zu den Teilnehmern am VI. Internat. Historikerkongreß vom Führer der marxistischen Historiker als „Belletristik, die den Interessen ihrer Klasse diente“, abgetan! Vorrede Pokrov- skijs zur Schrift von G. Serebrjakova, Zen&iny epochi Francuzskoj revol- jucii (1929), nach S. Gorodeck ij: Izvestija Nr. 186 (8672) v. 16. Juni 1929.

ta) Die „Kulturfront“ steht traditionell an dritter Stelle; vgl. A. V. Luna ars kij, Tretij front. Novye zadaci i puti narodnogo obrazovanija (Moskau 1924), der die „kommunistische“ und die „militärische“ Front an erster und zweiter Stelle nennt (S. 27).

) Pokrovskij 11, 217: P. KerZencev, Bofba na ideologileskom fronte: Kniga i revoljucija 1929 Nr. 12.

42) C. Friedland (Fridljand). Ob ideologit. borbe na istorič. frorte: Kommunistiéeskaja revoljucija 1929 Nr. 23/24.: ;

5) Über die Geschichtsforshung in der Ukraine s. unten S. 145.

©) Vgl. Vlad. Piéeta, La littérature historique blancheruthéne: Bulletin d'information des sciences historiques en Europe Orientale I (1928), 214—222;

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georgischer) Sprache und in anderen mitunter erst in den letzten Jahren zu Schriftsprachen erhobenen Nationalsprachen“) ist im Ent- sehen. Die Sprachenfrage, in der sich der tiefgreifendste

litische Unterschied des alten und neuen Rußland, wohl das wesent- ichste und sicher ein bleibendes Ergebnis der bolschevistischen Um- wälzung, die Verwirklichung des Nationalitätenprinzips bis ins Extrem auf dem Territorium der Sovetunion, ) nach der kulturellen Seite auswirkt, ist in ihrer Gefährlichkeit für die Zukunft der deut-

ders., Die weiß russische Geschichtsforschung 1922—1928: Slavische Rundschau 1. Jg. (1929), 661—666 und 828—827.

Eine „Weißrussische Gesellschaft der marxistischen Historiker“ (Belorusskoe ob3lestvo istorikov-marksistoo) wurde im Jahre 1927 begründet; in ihrer Vortragstätigkeit stehen Themen aus der Geschichte der revolutionären Be- wegungen in Weißrußland im Vordergrund, z. B. über die Beteiligung am polni- schen Aufstand 1868, die revolutionären Zirkel in Weißrußland in den siebziger Jahren, die Oktoberrevolution in Weißrußland usw. Die Gesellschaft bereitet Veröffentlichungen über die Geschichte der revolutionären Bewegung in Weiß- rußland (S. Agurskij, Revoljucionnoe dviZenie v Belorussi, 1868—1907. Istpart_ CK VKP(b)B, Minsk 1928; vgl. dazu M. Jugov: Ist.-Marxist 18, 254—259), die Geschichte der Partei (Knorin) und die Geschichte der revo- lutionären Bewegungen in Weißrußland in den sechziger Jahren vor. : Panke vi &, O rabote belorusskogo obS&estva istorikov-marksistov: Vestnik Komakad. 27, 294; ebda. 32, 240, Istorik-Marksist 10, 268; vgl. die Referate über: „Rok 1863 na MinszczyZnie“ (Minsk 1927) und ,,Socyjalistyény ruch na Belarusi u proklamacyjach 1905 g.“ in diesen Jahrbüchern N.F.V. (1929) 95 f. und 96. S. auch Anm. 118 a.

Bei der ersten Heerschau der marxistischen Historiker, der Moskauer Historikerkonferenz im Dezember 1928, blieb die Marxistische Geschichtswissen- schaft der weißrussischen Bundesrepublik völlig im Hintergrund; in der Ver- öffentlichung der auf der Konferenz gehaltenen Vorträge ist die Geschichte Weiß- rußlands nicht vertreten. Über die Tagung vgl. unten S. 128.

7) Vgl. A. Zor’jan, Sostojanie armjanskoj istoriografii: 11, 245 f.; Trudy I, 472—488 und II, 621; der Vortrag wurde auf Deutsch gehalten.

8) Vgl. Die historische Wissenschaft in Sowjetgeorgien: Wochenbericht 4. Jg. Nr. 80/81 (28. 7. bis 4. 8. 1928), S. 14—16; M. Poliewktow, Die Ge-

ichtswissenschaft in Georgien in den Jahren 1917—1927: Osteuropa 4. Jg. (1928—29), 171—188.

sa) „Die Geschichte des Volkskommissariats für die Angelegenheiten der Nationalitäten (Narodnyj komissariat po delam nacional’nostej) ist noch nicht

ieben. Es ist zu wünschen, daß dies geschehe“: Skrypnik in der Sitzung

Präsidiums des Nationalitätenrats Zentralen Exekutivkomitees der UdSSR am 11. Febr. 1930 im Glückwunsch an Stalin zum fünfzigsten Ge- burtstag (Izvestija Nr. 45/3892 v. 15. Febr. 1980). Vgl. N. Popov, Stalin und die nationale Linie der Leninschen Partei: Internat. Presse-Korrespondenz 10. Jg. Nr. 2 (7. Jan. 1980); S. Di manite jn, Stalin kak bol’Sevistskij teoretik nacional’nogo voprosa: Revoljucija i nacional’nosti Nr. 1 (1930).

®) Vgl. z. B. Th. Menzel, Der I. Turkologische Kongreß in Baku: Der Islam 16 (1927), 1—76 und 169—228; Ch. Gabidullin, Perechod tjurko- tatarskich narodnostej na latinskij alfavit: Izvestija Nr. 138 (8674) v. 19. Juni 1929; A. Tagi-zade, Latinizacija pis’mennosti narodov SSSR: Pravda Nr. 158 (4287) v. 7. Juli 1929; S. Budrjanskij, Rez. über: Kul’turnaja revoljucija na vostoke. Novyj tjurkskij alfavit v Sovetskom Sojuze. (Moskau- Baku 1930) in der Pravda Nr. 9 (4454) v. 9. Jan. 1980; Sovet Nacional’nostej o tov. I. V. Staline: Izvestija Nr. 45 (3892) v. 15. Febr. 1930; Bericht über die Beratung der Historiker des Orients während der Moskauer Konferenz der marxist. Historiker: Ist.-Marxist 12, 824—838

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schen und der westeuropäischen Osteuropaforschung noch kaum er- kannt. Der Vorgang der Auflösung des den europäischen Osten und Südosten umspannenden Begriffs „Geschichte des Slaventums“ in nur von Spezialisten noch völlig zu beherrschende Nationalgeschichten der slavischen Völker erfährt eine grotesk anmutende Wiederholung und Steigerung und scheint unvermeidlich ein vielfältiges neues Spezialistentum zu erfordern.“) Die Auflösung in Geschichten der Nationalitäten, die zusammengehalten werden durch die Fessel der marxistischen Methode, bildet die Signatur der heutigen Lage der Geschichts wissenschaft in der Sovetunion.

Aus der Zersplitterung der ehemaligen Russischen“ Geschichte in eine Vielzahl von „Geschichten der Völker der Union der Sozia- listischen Räterepubliken“ ergeben sich gleichzeitig für die fernere Behandlung der osteuropäischen Geschichte schwierige methodische Fragen von großer Bedeutung:“) bereits ist in Rußland im Zu- sammenhang mit der Sprachenfrage eine Diskussion darüber im Gange, daß die Geschichte der orientalischen Völker der Union mehr und mehr in die Sphäre und Domäne der Orientalistik rückt.“)

Es wird immer zweifelhafter, wieweit es in Zukunft möglich sein wird, außerhalb Rußlands eine gewisse Übersicht über die historische Arbeit auf dem Gesamtgebiet der Union zu behalten. Aus dieser Schwierigkeit aber ergibt sich, daß ungeachtet seiner ideologischen Einseitigkeit der Wert des „Istorik-Marxist“ für die nichtrussische Forschung sich in dem Maße steigern muß, wie es der Redaktion gelingen wird, für die Zeitschrift als Organ einer das gesamte Gebiet der Union umspannenden Historikervereinigung””) eine regelmäßige und EE Berichterstattung über die historische Forschung Sovetrußlands, zumal über die in nationalen Sprachen abgefaßten Arbeiten, ) zu organisieren und damit den Aufschwung der heimat-

10) Über die Auswirkung der Dezentralisation der Verwaltung und der Sprachenpolitik in der Wirtschaft: H. v. Eckardt, Zur Problematik des Natio- An Archiv für Sozial wissenschaft und Sozialpolitik 58 (1927), 410.

10) Die notwendige Folgerung für den akademischen Unterricht hat als erster V. L Piceta in seiner „Einführung in die russische Geschichte“ (Vvedenie v russkuju istoriju, Moskau 1922) =e ; die nordostrussische, die weißrussische und die ukrainische Quellenkunde und Geschichtsschreibung sind jede für sich

11) Vgl. A. Samojlovié, Kavkaz i tureckij mir: Izvestija ob-va obsledo- vanija i izulenija Azerbajdžana ( Bulletins de soc. scientif. d’Azerbaidjan) Nr. 2 (Baku 1926), 3—9; W. V. Barthold, „Über das Studium der Geschichte der Türkvölker“ und Ubajdulin (Baku), Die augenblickliche Lage und die nächsten Aufgaben der Erforschung der Geschichte der turko-tatarischen Völker bei den Türkvölkern Rußlands selbst, bei Th. Menzel, Der erste turko- logische Kongreß in Baku: Der Islam 16 (1927), 88—40 und 41—46.

12) Vgl. unten S. 181.

13a) Im Kreise der marxistischen Historiker ist man sich bewußt, daß in der gegenwärtigen Entwicklung für die geforderte einheitliche Auffassung des histo- rischen „Schemas auch eine Gefahr liegt: Ein Artikel P. Gorins gegen Javor$kyj Izvestija Nr. 61 (3908) v. 3. März 1980 mißt Javorskyjs Gebrauh der ukrainischen Sprache, deren Kenntnis unter den marxisti- schen Historikern außerhalb der Ukraine wenig verbreitet sei, die Hauptschuld

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kundlichen historischen Forschung”) für umfassendere und zu- sammenfassende Betracht nutzbar zu machen.

Bei regelmäßiger Verfolgung der russischen Presse und der Zeit-

1 gewinnt man freilich immer stärker den Eindruck, daß in den letzten ein bis zwei Jahren der Kampf um den Primat des marxistischen Denkens in der russischen Geschichtswissenschaft cine derartige Ausdehnung und Verschärfung erfahren hat, daß selbst ein zentrales Organ wie der „Istorik-Marxist" von den Äußerungen, Formen und Phasen der Auseinandersetzung der marxistischen Historiker mit der nichtmarxistischen Forschung im eigenen Lande und in der übrigen Welt nur eine unvollkommene Vorstellung ver- mittelt. Der „Istorik-Marxist‘ unterrichtet zwar rasch und zuverlässig, aber nicht umfassend genug über die historische Arbeit der russischen marxistischen Gelehrten und über organisatorische Veränderungen, die für die Entwicklung der Geschichtswissenschaft ın der Sovetunion von Bedeutung sind.

Auf der Berliner Russischen Historiker- Woche und auf dem Internationalen Historikerkongreß in Oslo, den ersten Veranstal- tungen, auf denen die marxistischen Historiker der Sovetunion 1928 im Ausland als scharf ausgeprägte Richtung in der Geschichtswissen-

bei, daß jener jahrelang die Führung der marxistischen Wissenschaft in der Ukraine habe usurpieren können; über die Angelegenheit vgl. S. 148 f.

18) Vgl. z. B. D. Zelenin, Die russische (ostslavische) volkskundliche Forschung seit 1914: Zeitschrift für slav. Philologie I (1924), II (1925) und IV 1927), s. auch „Etnografija“ Nr. 1—4 De S. Nikola je v, Die Heimat- orschung in der Sowjetunion: Wochenbericht 5. Jg. Nr. 9—10 (11. März 1929), S. 16—18; Das Heimatkundeinstitut im Süd wolgagebiet (angegliedert an die Staatsuniversität in Saratov): ebda. A Jg. Nr. 14/15 (7.—14. April 1928), 13 f.; A. M. LadyZenskij, Die ethnographische Erforschung der kaukasischen Völker: ebda. 5. Jg. Nr. 7/8 (25. Febr. 1929), 8—6; Die Heimatforschung im Nordkaukasischen Gebiet: ebda. 5. Jg. Nr. 21/22 (8. Juni 1929), 5—9; im Istorik- Marxist: G. Kokiev zu V. P. Pozidae v, Gorcy Sev. Kavkaza (1926): 3, 289—241; ders. zum Sbornik materialow dlja opisanija mestnostej i plemen Kavkaza, vyp. 45 (1926): 4, 264 f.: N. J. Jakovlev zu G. Kokie v, Ocerki

istorii Osetii I (Vladikavkaz 1926, Os etinskij nau£no-issledovatel’skij institut edenija): 5, 270—278. H. Findeisen, Neue russische Literatur zur Kultur- und Völkerkunde (Gebiet der unteren Volga): Asia Major II (1925), ; K. Azadovskij, Irkutskij universitet i izucenie mestnogo kraja 1918—1928: Desjatiletie Irkutsk. universiteta 1918—1928 (Irkutsk 1928), 26—41;

Wissenschaftliche Tätigkeit in Sibirien: Slav. Rundschau 1 (1929), 177—182; Weifruss. Landeskunde und Ethnographie: ebda. 607 f.; Sumackıj, Pobeda marksistskogo kraevedenija: Bol’Sevik 1929 Nr. 20; Wangenheim, Central’noe bjuro kraevedenija: Archivnoe Delo 20 (1930), 28 f.; meine Referate: „Severnaja Azija“ in diesen Jahrbüchern N. F. 8 (1927), 495—504 und über Publikationen der „Gesellschaft zur Erforschung des Gouvernements Moskau“: ebda. N.F. 5 (1929), 122ff.; die Zeitschriften „Sever“ (Vologda), „Turkmenovedenie“ ee „Tatarovedenie“ (Kazań) usw. Das Dilettantentum in der landes-

ichen historischen Forschung wird scharf abgelehnt; vgl. I. Makarov in Pečat’ i revoljucija 1927 H. 6, 202 f. . .

Zu Beginn des Jahres 1980 setzte das Zentraibiiro für Landeskunde für die besten virtschaftsgeschichtlichen Arbeiten von lokaler Bedeutung (2. B. Mono-

phien über einzelne Industriebetriebe) mehrere ziemlich hohe Preise aus; vgl. Evarin Nr. 810 (8846) v. 80. Dez. 1929.

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schaft hervortraten, begegnete man ihnen eher mit abwartender Skepsis oder mit Anerkennung als prinzipiell ablehnend. Die „Gesell- schaft der marxistischen Historiker wurde seit 1927 immer mehr die treibende Kraft in der historischen Forschung. Ihr Gewicht und ihre Wirkung im kulturellen und politischen Leben verstärkte sich derart, daß erst eine Übersicht über ie wissenschaftliche Leben in der Union 1927—1929 fiir das Teilgebiet der marxistisch orientierten Geschichts- wissenschaft die richtige Einschätzung ihres Hauptorgans ermöglicht.

Ein Versuch, die Stellung der marxistischen Geschichtswissenschaft im eigenen Lande zu umreißen, ihre besonderen innerrussischen welt- anschaulichen und politischen Voraussetzungen und Auseinander- setzungen aufzuzeigen, die auf die historischen Fragestellungen, die Art ihrer Beantwortung und die Organisation der wissenschaftlichen Forschung entscheidenden Einfluß ausüben, stößt auf eine besondere Schwierigkeit. Sie besteht darin, daß die „wissenschaftlichen Ergeb- nisse“ des Marxismus in den sog. Gesellschaftswissenschaften, die das Ausland (von den geschworenen Anhängern des Kommunismus ab- gesehen) als relative Wahrheiten entgegennimmt, dem Inlande gegen- über stets zugleich absolute und politische sind; sie stellen absolute Erkenntnisse vor, indem eine „streng marxistische“ Erklärung grund- sätzlich als die einzige „wirklich wissenschaftliche“ ausgegeben wird,“)

——

18) „Für unsere Zeit ist eine Wissenschaft ohne Marxismus etwas ähnliches wie die kirchliche Weltanschauung, als sie die Lehre Galileis ablehnte. Sie ist ein- fach eine Halb wissenschaft. Das Proletariat kann sich natürlich mit einer Wissen- schaft nicht begnügen, die von der bürgerlichen Gesellschaft für ihre Bedürfnisse zurechtgemacht ist“: A. Luna K ars kij, Der Kampf um das Bündnis der Wissenschaft mit der Arbeit: Das Neue Rußland 6. Jg. (1929), H. 1—2 S. 54 (Ober- setzung des Artikels: „Neuvjaska“ v Akademii Nauk, in den Izvestija Nr. 29 [8565] v. 5. Febr. 1929).

C. Friedland (8, 126): „Marxismus ist, allgemein gesprochen, nicht eine politische Theorie, er ist nichts anderes als das einzige und kog Wort echter Wissenschaft; steht etwas mit dem Marxismus nicht in Einklang, dann auch nicht mit der Wissenschaft in ihren höchsten Ergebnissen“; vgl. auch die Einleitung Fried- lands zu seiner „Geschichte Westeuropas 1789—1914“ (Istorija Zapadnoj Every 1789—1914. C. I: Evropa v epochu promySlennogo kapitalizma, 1789—1871), 1928, und seinen programmatischen Aufsatz „Očerednye zadači marksistskoj istoričeskoj nauki“: Byulleten’ zaoëno - konsul’tacionnogo otdelenija Instituta Krasnoj Professury Nr. 4 (März 1980), 9—16.

„Man muß sich immer wieder klarmachen, daß es cine „objektive historische Wissenschaft“ bei der Bourgeosie nicht gibt und nicht geben kann. Die einzige objektive, wissenschaftliche Methode, die zur Erklärung dessen führt, was existiert, ist die marxistische. Außer der marxistishen Geschichtswissenschaft gibt es eine andere als Wissenschaft nicht“: M. Pokrovskij, Klassovaja bor’ba i SE front“ in der Pravda Nr. 260 (4092) v. 7. Nov. 1928.

Charakteristisch ist, daß der Verfasser des oftiziellen Berichts im „Istorik- Marxist“ (H. 9) über die Berliner Historikerwoche, Minc, später zwei Stellen, die zu unrichtigen Auslegungen Anlaß geben könnten, eine scharfe Interpretation nachschickte. Er wandte sich dagegen, daß seine Ausführungen als Herabminder- ung des Kampfcharakters des Marxismus und seiner Bedeutung als der herrschen- den Weltanschauung aufgefaßt würden und unterstrich, daß die Methode, mit deren Hilfe die „Bourgeoisie“ historische Tatsachen erläutere, nicht wissen t- ich sei; einzig und allein der Marxismus sei die wissenschaftliche Methode: 11, 277. Die Gleichung „wirklich marxistische Geschichte = einzige echt wissen-

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während in politischer Hinsicht die Feststellungen des Historikers möglichst als eine nach zwei Seiten geschliffene Waffe, sowohl gegen die „Klassenfeinde im bürgerlichen Lager wie gegen Opponenten in den eigenen Reihen, verwertbar sein sollen.

Bei zahlreichen historischen Urteilen ist ihre Abhängigkeit von aktuellen politischen Spannungen, wie der Auseinandersetzung Stalins mit der Opposition, offensichtlich; z. B. wenn Rezensenten von der „Streikbrecherrolle Zinov’evs und Kamenevs 1917“ sprechen.“) Der Eindruck drängt sich auf, daß unter den Mitarbeitern des „Istorik- Marxist“ literarische Ausfälle gegen das verfemte oppositionelle Triumvirat Trocij-Kamenev-Zinov’ev eine Zeitlang geradezu Attri- bute der Gesinnungstüchtigkeit bildeten.“) Die Politiker der Trockij- Opposition wurden gewarnt: Sie sollten nicht wagen, ihre Haltung „Wissenschaftlich“ mit Berufung auf die französische Revolution zu begründen.“) Vie bekannt, gipfelten die Anklagen gegen die troc- kistische Opposition im Verdammungsurteil, der Resolution des 15. Parteitags, in dem Vorwurf der „faktischen Verneinung der

schaftliche“ wird fortwährend aufgestellt: 7, 206 (Jugov), 8, 128 (Fried- land); vgl. auch Anlage 2 und 4.

15) „Itrejk-brecherskaja rol’ Zinov’eva i Kameneva v 1917 godu: 8, 808 (L. Mamet); I. Frolov, Anzeige des 20. und 21. Bandes von Lenins Werken: Pravda Nr. 250 (4308) v. 7. Nov. 1929. 10) 8, 159 (Bacvskij); 9, 20 u. 29 (Kin); 9, 88 (Gorin); 11, 218: A. Mühlstein (Milštejn); vgl. auch: E. Kee Bol’teviki v oktjabre: Prolet. revoljucija Nr. 68 1927 H. 10; J. Jakovlev, Voprosy II Vserossijskogo s’ezda sovetov: ebda. Nr. 71 1927 H. 12. Zu den Anklagen vgl. Leo Trotzki, Die Fälschung der Geschichte der russ. Revolution (Berlin: Volkswille [1928)). Das Protokoll des Referats von Skrypnik über das Ukrainische Institut für Marxismus auf der Konferenz der marxist.-leninist. Forschungsinstitute 1928 verzeichnet folgenden Vorfall: Als Rjazanov bei der Erwähnung von Vaganjans Theorie der nationalen Kultur Zustimmung bekundete, bemerkte Pokrovskij als Vorsitzender spitz: „Ich lege Wert auf die Feststellung, daß der Zwischenruf vom Marx-Engels-Institut, nicht etwa von der Kommunistischen Akademie ausgeht“, worauf der Berichterstatter fortfuhr: „Ich bedauere sehr, daß jenes die Ansicht des Marx-Engels-Instituts ist und bin sehr froh, daß der Präsident der Kommu- nistischen Akademie der Sovetunion davon einen Trennungsstrich zieht; denn wir sind der Ansicht, daß die betr. Richtung nicht marxistisch, nicht leninistisch, sondern ihrem Wesen nah trockis tis ch ist und daß man sie theoretisch mit allen Kräften bekämpfen muß“: Vestnik Komakad. 27 S. 811 (auch Prapor Marksizmu 4 1928 Nr. 8 S. 228). Es wirkt beinahe komisch, daß die Redak- tion der offiziellen Geschichte der Kommunist. Partei („Istorija VKP (b)“ . Pod Em. Jaroslavskogo) einen Irrtum in der Zählung der „Attacken des Trockismus gegen die bolschevistische Partei“ (Bd. IV, S. 451) durch eine öffent- liche Erklärung in der Presse richtigstellte, damit ja keine übersehen werde: Pravda Nr. 140 (4274) v. 21. Juni 1929. Vgl. auch D. Kin, Bor’ba na dva fronta v istorii partii (Pravda Nr. 27/4472 v. 28. Jan. 1980): „Die Geschichte des Ischevismus ist die Geschichte des schonungslosen Kampfes mit dem Oppor- tunismus in allen seinen Erscheinungsformen, mit dem Rechts-Revisionismus und der kleinbürgerlichen Revolutionierung eoue onno) S. Agurskij, Bor’ba protiv uklonov na istoričeskom fronte (K voprosu ob istoričeskoj roli Bunda): Prolet. revoljucija 1929 Nr. 11.

17) Zacher 7, 811.

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proletarischen Diktatur in der UdSSSR („Thermidor“) und der damit verbundenen Kapitulations- und Niederlagenstimmung“.”*) A. S. Bubnov, bisher Mitglied des Revolutionären Kriegs- rates, seit September 1929 an Stelle Lunalarskijs Volkskommissar das Bildungswesen in der RSFSR, übermittelte als Sprecher des Zentralkomitees der Partei auf der Jubiläumsfeier für Pokrovskij der marxistischen Historikerschaft den Befehl, aktiv am Kampf mit der Rechtsopposition teilzunehmen: „Nach rechts Feuer!“)

Bei der „Entlarvung“ von Anschauungen, die mit dem orthodoxen Marxismus nicht in Einklang stehen, erscheint wesentlicher als die Behauptung und Sicherung der marxistischen wissenschaftlichen Position der Nachweis, wie sehr derartige Irrtümer dem Proletariat politisch schädlich seien.“) In den letzten Jahren löst ein Fall den anderen ab, in dem die orthodoxe Kritik gegen neue Werke We Ke historischer Irrtiimer einen organisierten Feldzug in der Presse und in Zeitschriften führt.)

48) Deutsche Zentral-Zeitung (Moskau) Nr. 146 v. 28. Dez. 1927. Uber die von der Opposition gegen die Partei erhobene Beschuldigung des „termidor- janstvo“: O. Hoetzsch, Monatsübersicht über die innere Politik Rußlands, Okt. 1927: Osteuropa 8 (1927—28), 57—59; siehe auch: „Vor dem Thermidor.” Revolution und Konterrevolution in Sowjetrußland. Die Plattform der linken Opposition in der bolschewistischen Partei. Hrsg. von den aus der Kommunist. Partei ausgeschlossenen Hamburger Oktoberkimpfern (Hamburg [1927]) und L. Trocki j, Termidor ili partijnaja repeticija termidora? im: Bjulleten’ Oppozicii (Bol’sevikov-lenincev) Bulletin de l' Opposition Nr. 5 (Okt. 1929), 8 f.

Nicht zufällig wird daher von der Sovetforschung die Periode des ,,Thermi- dor“ zum Gegenstand eindringlichen Studiums gemacht; vgl. J. M. Zacher, Problema „Termidora“ v svete novejlich istori&eskich rabot: 6, 286—242. Eine populär gehaltene Schrift von V. Kolokolkin und S. Monosov: Cto takoe Thermidor? (1928) setzte sich zur Aufgabe, neben der Darstellung der Epoche des Thermidor die Theorie des sog. „russischen Thermidor“ ad absurdum zu führen. Sie suchte zu zeigen, weshalb die „Gesetzmäßigkeiten“ dieser Epoche der französischen Revolution nicht auf die russische apse werden könnten. Der Rezensent im ,,Istorik-Marxist“ bedauerte, daß die Schrift zu spät gekommen sei, um im Kampf der Stalin-Mehrheit der Kommunistischen Partei mit der Opposition gegen deren quasi-historische Analogien aus der Epoche der Großen Französischen Revolution als Waffe zu dienen: 8, 210—212.

19) 10, 270; der „Prikaz Nr. 818“ v. 16. Okt. 1929, durch den der Volks- kommissar für Heer und Flotte, Vorolilov, die Verdienste Bubnovs als Leiter der marxistischen Aufklärungsarbeit in der bewaffneten Macht der Union te, hebt seinen „Kampf mit dem gegenrevolutionären Trockismus“ gebührend hervor: Pravda 240 (4874) v. 17. Okt. 1929.

10) Gorin: 9, 86; ders., Klassovaja bor’ba v SSSR i sovremennaja istori- écskaja nauka: Izvestija 23 (8870) v. 24. Jan. 1980.

:ca) Außer der Kritik an Trockij und seinem Kreise, der Bekämpfung Tarles und Javorskyjs, auf die ich später zurückkommen werde, wurden in der letzten Zeit derartige Angriffe geführt gegen Bucharin (vgl. z. B. V. G. Sorin, O razn jach Bucharina s Leninym, 1980), gegen Pereverzev S. Ščukin, Marksizm-leninizm ili Pereverzev? Pravda Nr. 298 (4482) v. 18. Dez. 1929), gegen P. Ta¥karov und G. El’vov (Ob odnoj popytke iskaženija marksizma-leninizma, Mosk. 1929; vgl. dazu die Anzeigen in den Izvestija Nr. 50/3897 v. 20. Febr. 1980 und in der Pravda Nr. 66/4511 v. 8. März 1980), gegen S. M. P (K voprosu o suščnosti ,,aziatskogo“ sposoba proizvodstva, feodalizma, krepostničestva i torgovogo kapitala: Agrarnye

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Die wichtigsten Vorgänge, durch die die marxistische Geschichts- wissenschaft im Bewußtsein der Offentlichkeit zu ihrer heutigen mächtigen Stellung gelangte ein Vorgang, von dem die Chronik der Gesellschaft im „Istorik-Marxist“ nur einzelne Stadien eingehend würdigte —, waren etwa: die Feier des zehnjährigen Bestehens des Sovetstaats (1927); der 60. Geburtstag M. N. Pokrovskijs im Herbst 1928; zwei Konferenzen der marxistisch - leninistischen Forschungseinrichtungen der Sovetunion (Frühjahr 1928 und 1929); der Kampf der marxistischen Historiker gegen PetruSevskij und das von ihm geleitete Institut für Gesch: te der RANION;“ ) die

problemy 1929 Nr. 2 u. sep, Mosk. 1929; vgl. dazu P. Gorin, Klass. bor’ba v SSSR i sovrem. istor. nauka: Izvestija Nr. 28/8870 v. 24. Jan..1980 und I. Frolov in der Pravda Nr. 26/4471 v. 27. Jan. 1980), g Teodoro- vi“: Auffassung der „Narodnaja Volja“ vgl.: VI. Malachovskij, Rez. zu Iv. Teodorovil, Istori¢eskoe značenie partii ,Narodn. Voli“: Pravda Nr. 800 (4484) v. 20. Dez. 1929; Teodorovié, Pobol’fe istoriteskoj ob’ektivnosti V porjadke obsułdenija): Pravda Nr. 806 (4440) v. 26. Dez.; i

Nr. 41 (4486) v. 11. Febr. 1980; Potal, Spornye voprosy istori- teskogo znalenija „Narodnoj Voli“: Bjulleten’ zao&no-konsul’tacionnogo otdelenija IKP (= Institut Krasnoj Professury) Nr. 4 (Mirz 1980), ; vgl. 8

(S „Kre $. M. Dubrovskogo, und (S. e Ze I. Minc, Protiv mechanisticeskoj postanovki me D i erte "bk

Dubrovskij. N. Slepnev, Na den fronta (K itogam diskussi s literaturo- vedéeskoj Kr ereverzeva): Leningradskaja Pravda Nr. 111

Hohes Interesse bieten die von der Kultur- und Propaganda-Abteilung des Zentral-Komitees der Kommunist. Partei ausgegebenen parteiamtlichen Richt- linien, die die zulässigen Anschauungen über die „Narodnaja Volja“ streng fest- legen: Tezisy k 50-letiju „Narodnoj Voli“, z. B. in der Pravda Nr. 98 (4548) v. 9. April 1980.

21) d. h. der Rossijskaja Associacija Naučno issledovatel’skich Institutov ObStestvennych Nauk = Russische Assoziation der wissenschaftlichen Forschungs- institute für Gezellschafta wissenschaften. Der Assoziation gehörten 1928 an: In Moskau zehn Institute für igs ag Disziplinen: Wirtschaft, Landwirtschaft, Organisation des Ackerbaus und der Kolonisation, Landverteilung, Philosophie, Experimentelle ee Sovetrecht, Geschichte, Sprache und Literatur, Archäologie und Kunstwissenschaft, Ethnische und nationale Kulturen der orien- talischen Völker der UdSSR; in Leningrad: Die Akademie für Geschichte der materiellen Kultur; das Leningrader Institut für marxistische Methodologie (vgl. Anm. 48), Institute für vergleichende Sprach wissenschaft und für vergleichende Literaturkunde. Vgl. Fritsche, Associacija nauéno-issledovatel’skich institutov- uéreZdenij: Vestnik Komakad. 27 S. 296—298 und D. A. Magerovskij, Rossijskaja associacija nautno-issledov. institutov oblè. nauk: Pečat’ i revoljucija 1927 H. 7 S. 276—284.

Gegenwärtig, im akademischen Jahre 1980—31, bestehen nur noch die folgenden Institute: 1. für Virtschaft, 2. für exper. Psychologie, B. für Sprache Literatur, 4. für Archäologie und Kunst wissenschaft, 5. für die nationalen und

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erste marxistische Historikerkonferenz in Moskau um die Jahres- wende 1928—1929 und die Umwandlung der Gesellschaft in die „Vsesojuznoe obščestvo istorikov-marksistov“, d. h. in eine die marxistischen Historiker in der gesamten Union umfassende Organi- sation; ferner: die systematische Stärkung des marxistischen Einflusses in der Akademie der Wissenschaften in Leningrad, angefangen von den Ergänzungswahlen zur Akademie zu Beginn des Jahres 1929 vis zur Einleitung eines zurzeit schwebenden gerichtlichen Verfahrens gegen S. F. Platonov; endlich: die Eröffnung eines Kommunist. Historischen Forschungsinstituts bei der Kommunistischen Akademie im Herbst 1929 und die Abhaltung einer Konferenz für die Behandlung des „Leninismus“, der Geschichte der Partei der Bolscheviki und der Geschichte der Kommunistischen Internationale (Komintern) als Unterrichtsfacher im Februar 1930. Neuesten Datums ist M. Ja- vors kyjs Ausstoßung aus der Partei und Entfernung aus allen seinen Amtern. In der ukrainischen marxistischen Geschichtsforschung wird damit eine Periode beendet, für die eiligst das Schlagwort der „Javorꝭ&ina“ geprägt worden ist.“

In den Kampf der Meinungen über die Anwendbarkeit des Ra- tionalisierungsplans der Wirtschaft für das Jahrfünft 1928/29 1932/33 in der Wissenschaft?) wurde die Geschichte mit hineingezogen; z. B. für die Arbeiten in den Archiven wurden konkrete Vorschläge ausgearbeitet..)

Ich beginne meine Ubersicht mit einem kurzen Hinweis auf die Organisation der marxistischen historischen Arbeit an den drei Hauptstätten marxistisch-leninistischer Forschung: der Kommunisti- schen Akademie, dem Lenin-Institut und dem Marx-Engels-Institut.

Die Kummunistische Akademie.

Die Kommunistische Akademie, die wissenschaftliche Haupt- gründung der Partei von V. I. Nevskij mit einem „Vivat Marxismi Academia!“ begrüßt —, ein Komplex wissenschaftlidier

ethnischen Kulturen der Völker des Orients, 6. (in Leningrad) für vergleichende Geschichte der Sprachen und Literaturen des Westens und des Ostens: Institut sravnitel’noj istorii literatur i jazykov Zapada i Vostoka = ILJaZV. Die ademie für Geschichte der materiellen Kultur in Leningrad wird auf Vorschlag des Akad. Marr der Akademie der Wissenschaften angegliedert. 31a) P. Gorin, Ob odnoj poutitel’noj biografii: Izvestija Nr. 61 (3908) v. 8. März 1930. ur SE sıb) Vgl. z. B.: V. Miljutin, O nauéno-issledovatel’skoj rabote v rekons truktivnyj period: Pravda Nr. 257 (4391) v. 5. Nov. 1929; L. Bogo- le pova, O planirovanii nautnych rabot: Pravda Nr. 279 (4418) v. 29. Nov. 1929; über die Aufstellung von Fünfjahresplänen für die russischen Akademien der Wissenschaften vgl. Izvestija Nr. 68 (8910) v. 5. März 1930; V. P. Miljutin,

O direktivah po sostavleniju plana rabot Kommunistiteskoj Akademii: Vestnik Komakad. 32 1929 H. 2 S. 217—224.

210) Einzelheiten in meinem Bericht über das Archivwesen in der Sovetunion im 89. Jahrg. (1930) der Archivalischen Zeitschrift.

21d) Pečat’ i Revoljucija 1928 H. 8 S. 116.

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Institute, Kabinette, Seminare, Kommissionen, Gesellschaften, bildet heute das Zentrum der theoretischen marxistisch-leninistischen Arbeit.”) In der Organisation der russischen Wissenschaft wird ın der letzten Zeit immer stärker die Tendenz bemerkbar, die Arbeit anderer führender wissenschaftlicher Einrichtungen der Union wie des Marx-Engels-Instituts und der Unionsakademie der Wissenschaften noch der Kommunistischen Akademie abzustimmen.

Als ähnliche Organisationen wie die „Gesellschaft der marxisti- schen Historiker“ bestehen bei der Kommunistischen Akademie die Gesellschaften der materialistischen Biologen, der materialistischen Psycho-Neurologen, der marxistischen Statistiker, der marxistischen Pädagogen, der Zirkel der materialistischen Physiker und Mathe- matiker, die Untersektion der kommunistischen Kritiker bei der Sektion der Akademie für Literatur, Kunst und Sprachwissenschaft usw. Außerhalb des eigentlichen „historischen Sektors“, den die Ge- sellschaft der marxistischen Historiker und das Historische Instit at der Akademie“) bilden, leisten historische Arbeit noch eine Reihe von „Dependenzen“:

Zum 70. Geburtstag von Klara Zetkin wurde 1927 eine Sektion für Erforschung der Theorie und Praxis der internationalen (Arbeiter-) Frauenbewegung (Sekcija po izuleniju teorii i praktiki meZdunarodnogo Zenskogo dviZenija) begründet, die u. a. die Teil- nahme der Frauen an den verschiedenen Formen des Klassenkampfes untersucht. Als erste Veröffentlichung ließ die Sektion eine Über- setzung von Klara Zetkins Geschichte der Arbeiterinnenbewegung in Deutschland erscheinen.“) Das Institut für Weltwirtschaft und Weltpolitik (Institut mirovogo chozjajstva i mirovoj politiki) gibt u. a. eine Serie: „10 Jahre der Union e sozialistischen Raterepubliken in kapitalistischer Einkreisung‘“*) heraus und bereitet die Herausgabe einer Serie diplomatischer Dokumente vom Ende des 19. Jahr-

22) A. Udal’cov, Oterk istorii Soc. Akademii (1918—1922 gg.): Vestnik Komakad. 1 (1922), 18—87; Ustav Komm. Akad. pri CIK SSSR: ebda. 19 (1927), 200—276; E. PaSukanis, Kommunisti&eskaja Akademija: Pečat’ i revoljucija 1927 H. 7 S. 250—256; Die Kommunist. Akademie des Zentralexekutiv-Komitees der Sowjetunion: Wochenbericht 8. Jg. Nr. 9—10 (11. März 1927), Bt: Dejatel’nost’ Kommunisti&eskoj Akademii 1918—1928 (Mosk. 1928); O. Lozovij, Do 10—riččja Komunistitnoi Akademii: Prapor Marksizmu 1929 Nr. 2 S. 175—188; G. Thorbecke, Die Kommunistische Akademie: Moskauer Rund- schau Nr. 35 = 2. Jg. Nr. 1 v. 5. Jan. 1980.

22a) Siehe unten S. 140.

23) Vgl. Vochenbericht der Gesellschaft für kulturelle Verbindung der Sowjetunion mit dem Auslande Nr. 89/40 v. 4. Okt. 1927; Vestnik Komakademii 31 1929 H. 1 S. 245; „Die Frau“ 36. Jg. (1928—29), 681. Kl. Zetkin, Celi i zadati sekcii po izueniju teorii i praktiki meZdunarodnogo Zenskogo dvizenija: Vestnik Komakademii 27 (= 1928 H. 3), 240—251.

24) SSSR za 10 let v kapitalistiteskom okruzenii. Den großzügigen Plan einer Kollektivarbeit der Sektion iiber die Vereinigten Staaten in der Niedergangs- Periode des Kapitalismus (, Soedinennye Staty v period zakata kapitalizma“) entwickelte E. Varga im Julihefe 1929 (S. 122—125) des Organs der Sektion „Mirovoe chozjaijstvo i mir. politika“.

89

hunderts bis zum Jahre 1917 vor.“) Von der Kommission zur Er- forschung der Nationalitätenfrage (Komissija po izuteniju nacio- nal'nogo voprosa) wurden Materialien zur Nationalitätenfrage in Rußland in der Periode der provisorischen Regierung 1917 in Finnland, der Ukraine, Pend: Estland, Weißrußland, bei den Völkern der unteren Wolga, in den Gebieten der Tataren und Baschkiren, im Kaukasus, in Transkaukasien und Mittelasien zum Druck vorbereitet; eine weitere Veröffentlichung ist über die Agrar- lanes der nationalen Regierungen in der Epoche des Biirger-

riegs in Aussicht genommen.“) Eine 1928 gegründete Korn- mission für Religionsgeschichte (Komissija po istorii religii) ein Zentrum des wissenschaftlichen Kampfes auf der „antireligiösen Front“ arbeitet über religiöse Fragen im Geiste der marxistischen Methode und har mit der Gesellschaft der marxistischen Historiker Fühlung genommen, um mit ihr dem Beschluß des 12. Parteitages über die Einführung von religionsgeschichtlichem Unterricht an den kom- munistischen Hochschulen Geltung zu verschaffen.“) Schließlich sind Sektionen für Geschichte der Philosophie und für historischen Materialismus im Philosophischen Institut der Kommunist. Akademie zu nennen.

Im Mai 1929 wurde von der Akademie ein Redaktionskollegium für die Herausgabe der Werke des im Oktober 1928 verstorbenen führenden Mitgliedes der Partei I. I. Skvorcov-Stepanov”) gebildet; die Edition der historischen Schriften Skvorcovs wurde

25) Vgl. Vestnik Komakad. 26 (1928), S. 24.

28) Erschienen Anfang 1980: Revoljucija i nacional’nyj vopros. Dokumen i materialy po istorii nac. vopr. v Rossii i SSSR v XX veke. Pod red. S. M. Dimandtejna, Bd. III (1917, Febr. —Okt.).

20a) Vestnik Komakad. 30 1928 H. 6 S. 261 f.

37) Vestnik Komakad. 80 1928 H. 6 S. 262. Eine Schrift eines der Hauptanreger der Sektion, des Prof. M. A. Reissner (t 1928): „Ideologii vostoka. Oterki vostoënoj teokratii“ (1927) stellt nach dem Urteil ihres Rezensenten im „Istorik-Marxist“ (9, 197—200), A. Lukalevskij, einen der ersten Versuche vor, eine marxistische Analyse des Klassengehalts der Religionen des Orients zu geben; z. B. wird das Entstehen des Islam aus der Bewegung des arabischen Handelskapitals im 7. Jahrhundert hergeleitet.

„Wir alle, die wir Materialisten sind, erklären auf das bestimmteste, daß jede religiöse Lehre, von wem sie auch kommen mag, von einer beliebigen Sekte bis zu Tolstoj einschließlich, ihrem Wesen nach reaktionär ist. Indessen die Lehre des N.N. ist reaktionär nicht nur deswegen, weil alle derartigen Lehren reak- tionär sind, sie ist.. gegenrevolutionär“: Die leitende Idee der marxistischen religionsgeschichtlichen Forschung in Rußland hat in dieser zugespitzten Form ein Gelehrter ausgesprochen, von dem eine derartige Formulierung nach seiner wissen- schaftlichen Vergangenheit überrascht und befremdet; weiter konnte der bekannte Sektenforscher V. D. Boné-Bruevié, als er unlängst in einem Prozeß gegen den geschlechtlich abnorm veranlagten Begründer einer religiösen Sekte als Sach- verständiger zugezogen war, den Tendenzen der Prozeßleitung schwerlih ent-

gegenkommen. Vgl. Pravda Nr. 61 (4506) v. 8. März 1980: Delo kontrrevolju- cionera i sadista ...

26) Vgl. M. Pokrovskij, Ivan Ivanovič Skvorcov-Stepanov (1870—1928): Vestnik Komakad. 90 = 1928 H. 6 S. 8—6.

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Pokrovskij, die seiner Publizistik zur Geschichte der Partei N. L. Me$lterjakov und Sorin übertragen.“) Die Sektion für Geschichte der Agrarrevolution und von GE (Sekcija istorii agrarnoj revoljucii i agrarnych dviZenij) ursprünglich nur eine Kommission zur Erforschung der Agrarrevolution beim Agrarinstitut der Kommunistischen Akademie”) hat zunächst die Geschichte der sogenannten Komitees der Dorfarmut (Komitety bednoty = ,,Kombed“), der Bannerträger der sozialistischen Revo- lution im Dorfe, nach Archivalien der Kreise Tambov, Penza und Ivanovo-Voznesensk in Angriff genommen.)

Die Wissenschaftsgeschichte, für die in der Union zuerst die Akademie der Wissenschaften in Leningrad eine besondere Kom- mission (Komissija po istorii znanij) bildete,”®) besitzt neuerdings in einem Kabinett für Geschichte der Naturwissenschaft (Kabinet istorii 5 bei der Kommunistischen Akademie eine eigene marxistische Pflegestatte. Außer Übersetzungen und Bearbeitungen klassischer natur wissenschaftlicher und mathematischer Werke (z. B. von Galileis Discorsi, Kleins Vorlesungen über die Geschichte der Mathematik u. a.) wird das Institut eigene Forschungsarbeiten heraus- bringen: Prof. Mil ko vi & arbeitet über die Geschichte der Geologie im Zusammenhang mit der Romantik und Naturphilosophie am Anfang des 19. Jahrhunderts.“)

Durch Entschließung des Vollzugsausschusses des Zentralexekutiv- komitees der Union vom 12. Juni 1929 wurde die Organisation eines einheitlichen Instituts zur Erforschung von Fragen des Staats, des Rechts und des Sovetaufbaus gutgeheiffen. Das neue Institut Institut gosudarstva, prava i sovetskogo stroitel’stva CIK SSSR i VCIK wurde durch Verschmelzung der Sektion fiir Recht und den Staat (Sekcija prava i gosudarstva) der Kommunistischen Akademie und des bisherigen Instituts für Sovetaufbau (Institut sovetskogo

3°) Izvestija Nr. 108 (8689) v. 9. Mai 1929. |

20) Komissija po izuleniju posledstvij agrarnoj revoljucii: Vestnik Komakad. 26 S. 274,

sea) Als erster Band der „Trudy Komissii po izuč. agrarnoj revoljucii“ er- schienen 1928: Materialy po istorii agrarnoj revoljucii v Rossii. Pod obšč. red. L. N. Kricmana (Nebent.: Matériaux sur histoire de la révolution agraire. Réd. en chef L. Kritzman).

seb) Vgl. M. Bloch, Die Kommission für Geschichte des Wissens an der Akademie der Wissenschaften der Sovetunion: Mitt. zur Geschichte der Medizin und Naturwissenschaften 26 (1927), 281 f.

81) Vgl. Vestnik Komakad. 26 (1928), 24 und 81 (1929), 244 f.; „Die Not- wendigkeit der Gründung einer russ. Gesellschaft für Geschichte der Medizin und Natur wissenschaften und eines Forschungs instituts“ (Referat über einen Vortrag von P. P. Lazarev, Dez. 1926): Mitt. zur Gesch. der Med. u. Naturwiss. 26 (1027), 227—281; H. Zeiß, Das neugegründete Forschungs institut für Geschichte der Natur wissenschaften in Moskau: Archiv für Geschichte der Mathematik, der Natur wissenschaften und der Technik Bd. 11 (1929), 808—816. Unlängst erschien eine Bibliographie der russischen Arbeiten zur Geschichte der Medizin seit 1789: D. M. Ross ijs ki j, Bibliografiteskij ukazatel’ russkoj litertury po istorii medi- ciny s 1780 do 1928 g. (Mosk. 1929).

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5 gebildet.) Die Aufgabe des Instituts wird in seiner Satzung folgendermaßen umrissen: „Die Aufgabe des bei der Kom- munistischen Akademie bestehenden Institut gosudarstva, prava i sovetskogo stroitel’stva CIK SSSR i VCIK“ besteht in der theoreti- schen Bearbeitung der Grundfragen der marxistisch - leninistischen Lehre vom Staat, vom Recht und der Diktatur des Proletariats und darin, auf dieser Grundlage aus dem ganzen praktischen Versuch auf dem Gebiete des Riteaufbaus und des Rechts die wissenschaftlichen Folgerungen zu ziehen.“ Seine wissenschaftliche Arbeit gründet das Institut auf einen Entwurf Lenins für eine Broschüre „Über die Diktatur des Proletariats“, “) der die wichtigsten staats- und ver- waltungsrechtlichen Fragen skizziert, die mit der Verwirklichung der Liktatur des Proletariats auftauchten.

Das neue Institut gliedert sich in sieben Sektionen: 1. für allge- meine Rechts- und Staatslehre; 2. für die Diktatur des Proletariats; 3. für die zentralen Organe und den Staatsapparat; 4. für den Aufbau des Bundes, der Bundes- und autonomen Republiken; 5. für die Stadt- und Dorfrate; 6. für revolutionäre Gesetzlichkeit und konkretes Recht; 7. für die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses. Man darf das neuerdings als Institut prava i sovetskogo stroitel’stva bezeichnete Rechtsinstitut bis zu einem gewissen Grade als historisches Institut auffassen. Nicht nur gehört die Erforschung der Entwicklung des Staats- und Verwaltungsrechts Sovetrußlands zu den Aufgaben fast aller Sektionen; die Errichtung einer histori- schen und einer Rayonierungs- Kommission bringen den Doppelcharakter des Instituts, auf der einen Seite der Begründung einer marxistischen Staats- und Verwaltungslehre und wissenschaft- licher Erforschung der Ausbildung des Sovet-Staatsapparats, auf der anderen Seite den praktischen Erfordernissen der Gegenwart und Zukunft zu dienen —, am klarsten zum Ausdruck.“

*) Vgl.: Wochenbericht der Gesellschaft für kulturelle Verbindung der Sowjetunion mit dem Auslande Nr. 18/19 v. 5. u. 12. Mai 1929; Reorganizacija Instituta sovetskogo stroitel’stva v prezidiume CIK Sojuza SSR: Izvestija Nr. 133 (8669) v. 18. Juni 1929; I. Černjak, V nastuplenie na fronte teorii prava i gosudarstva: Izvestija Nr. 157 (8698) v. 12. Juli 1929.

33) V. I. Lenin o diktature proletariata. Cernovye nabroski i plan nenapisannoj broSjury. 1919—20: Leninskij Sbornik III (1925), 489—518. Bereits 1924 ließ die Sektion für Sovetaufbau der Kommunist. Akademie eine Sammlung von Äußerungen Lenins über die Sovetorganisation erscheinen: Lenin o sovetskom stroitel’stve. Sost. V. Maksimovskij.

3) Schon im „Institut sovetskogo stroitel'stva“ bestand seit dem Frühjahr 1926 eine ständige Historische Kommission, um gemeinsam mit dem Istpart die Geschichte der Zentral- und Lokalverwaltung der UdSSR zu erforschen; unter dem Titel: „Materialy po istorii sovetskogo stroitel’stva“ hat sie wertvolle Doku- mentensammlungen zur Geschichte der Arbeiterräte im Jahre 1917, über die Räte während der Oktoberrevolution und in der Epoche des Kriegskommunismus ver- öffentlicht; vgl. Pravda Nr. 51. (4185) v. 2. März 1929; s. auch Istorik-Marxist 6, 302 f. Als Veröffentlichungen der Histor. Kommission werden 1930 erscheinen: 1. Peterburgskij sovet v 1917 g.; 2. Krest’janskie organizacii v 1918 g.; 8. Sara- tovskij sovet rab. deputatov v 1917 g. S. auch Berman: e delo

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In engster Verbindung mit der Kommunistischen Akademie tagten in Moskau 1927 bis 1929 mehrere wissenschaftliche marxisti- she Kongresse. Außer einer Fachtagung, der „Konferenz der marxistischen Historiker“, ) erlangten für die fernere Entwicklung der marxistischen historischen Forschung Bedeutung die beiden Kon- ferenzen der marxistisch-leninistischen Forschungsinstitutionen der Sovetunion im Frühjahr 1928 und 1929, eine Konferenz der Gesell- schaft der kämpfenden materialistischen Dialektiker und eine Kon- ferenz der marxistischen Spezialisten für Agrarfragen.

Die I. Konferenz der marxistisch-leninistischen wissenschaftlichen Forschungseinrichtungen der Sovetunion fand in Moskau vom 22. bis 25. März 1928 statt;“) ihr gab Pokrovskijs denkwürdige Zu- sammenfassung: „Zehn Jahre Gesellschaftswissenschaften in der UdSSR“) das Gepräge, wobei er auch über die Leistungen der marxistischen Geschichtswissenschaft im ersten Jahrzehnt der Räte- republik Rechenschaft ablegte.

In dem Vortrag unterstrich der Redner eingangs den Klassen- charakter aller Wissenschaften**) und charakterisierte die Gesellschafts- wissenschaften sowohl als „Klassenkampf, gespiegelt in wissenschaft- lichen Formen“ (S. 18) wie als „Waffe des Klassenkampfes“ (S. 6). Fiir die neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts stellte er Lenin als reinen Vertreter der proletarischen und Pobedonoscev als typischen Vertreter der „feudalen“ Ideologie einander gegenüber; der Klassen- und politische Kampf werden vom Kampf der Ideologien umhüllt.

Ausgezeichnet erläuterte Pokrovskij die Wandlung von klein- bürgerlichen, durch die Philosophie von Mach und Avenarius stark beeinflußten Auffassungen, die für den Moskauer Teil der bolsche- vistischen Fraktion noch 1905 offizielle Geltung besessen hätten, zu einer „wirklich proletarischen Ideologie“ nach der Revolution von 1905, eine Entwicklung, die Schriften Lenins (Agrarnaja pro- gramma socialdemokratov; ) Materializm i empiriokriticizm“) u. a.)

20 (1929), 26f.; Vestnik Komakad. 88 1929 H. 8 S. 274 f., ferner A. Angarov, Otdelenie prava i gosudarstva Instituta Krasnoj Professury: Izvestija Nr. 299 (8835) e 19. Dez. 1929.

26) Siehe S. 128 ff.

20) Vgl. Vestnik Komakad. 26 1928 H. 2 S. 238—294 und 27 1928 H. 3 S. 288—816. 87) Obščestvennye nauki v SSSR za 10 let: Vestnik Komakad. 26 = 1928 H. 2 S. 8—80. Das Sammelwerk: Obščestvennye nauki SSSR 1917—1927. Sbornik pod. red. V. P. Volgina, G. O. Gordona, I. K. Luppola (Moskau 1928) mit Beiträgen von P. F. Preobraženskij EE B. S. Zuko (Archäologie), M. V. Ne€kina (Russ. Geschichte), S. F. Oldenburg (Regionale Forschungen), M. N. Peterson (Linguistik) war mir nicht SE

38) Z. B. erklärt er Astrologie und Alchimie für typische feudale Wissen- schaften; die Entstehung der Nationalökonomie war an die kapitalistische Gesell- schaftsstufe gebunden.

38) Vgl Lenin, Agrarnaja programma russkoj social-demokratii. Per- vonacal’ny} tekst rukopisi $ zamelanıjami avtora, G. V. Plechanova, P. B

Aksel’roda, V. IL. Zasuli& i Ju. O. Martova: Leninskij sbornik III (1925), 303—395.

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entscheidend beeinflußt haben. Sodann ging Pokrovskij auf einige Werke, die nach der Oktoberrevolution in verschiedenen Disziplinen einer marxistischen Gesellschaftswissenschaft auf streng materialisti- scher Basis die Bahn gebrochen hätten, näher ein. An die Spitze stellte er drei Werke: Leni.ns „Staat und Revolution“ (Gosudarstvo i revoljucija),*) ferner Bucharins „Wirtschaft der Übergangszeit“ (Ekonomika perechodnogo perioda“), endlich Kritzmanns „Geroiteskij period našej revoljucii (Die heroische Periode unserer Revolution),"*) welches der erste Versuch einer theoretisch haltbaren Wirtschaftsgeschichte der Revolutionsjahre gewesen sei (S. 14). Die Oktoberrevolution erscheint als der Ausgangspunkt aller Richtungen der heutigen marxistischen Gesellschaftswissenschaft, für die die Erforschung der Oktoberrevolution im Mittelpunkt stehe; d. h.: von der Aufhellung der lokalen Bedingungen für die sozialistishe Revo- lution in Rußland schritt sie fort zur Untersuchung der gesellschaft- lichen Zustände vor dem Kriege, während als letztes Ziel die Er- klärung des ganzen russischen „historischen Prozesses“ gesehen von der Warte der Oktoberrevolution vorschwebt.

Nur kurz verweilte Pokrovskij bei den Hauptvertretern der nichtmarxistischen Richtungen in der Geschichtswissenschaft des heutigen Rußland: bei Platonov, der zum reinen Individualis- mus als Erklärungsprinzip gelangt sei und z. B. in seinem „Boris Godunov“ (1924) alle Züge des Klassenkampfes im Moskauer Staat am Ende des 16. und im Anfang des 17. Jahrhunderts getilgt habe; bei „Vipperianischen Richtungen“ (Vipperovskie nastroenija), indem Vippers „Krisis der historischen Wissenschaft“ (Krizis istorileskoj nauki,**) als Manifest der idealistischen Richtung hingestellt und PetruSevskijs „Skizzen aus der Wirtschaftsgeschichte des Mittel- alters) als literarisches Hauptsymptom dafür angeführt wurden; endlich bei dem als „Pseudo-Marxisten“ aus dem marxistischen Lager

a) Neudruck in Bd. XIII der 8. Ausgabe von Lenins Werken (Lenin, Soči- nenija), auch in der vom Lenin-lastitut autorisierten deutschen Ausgabe (,,Simt- liche Werke“, Verl. f. Literatur und Politik) ebenfalls als Bd. XIII (, Materialismus und Empiriokritizismus. Krit. Bemerkungen über eine reaktionäre Philosophie“); vgl. die Anzeige von F. Haase in diesen Jahrbüchern N.F. 4 (1928), 451 f.

41) Neue deutsche Ausgabe: Marxistische Bibliothek Bd. 19 (1929). „Lesen und analysieren wird man es Jahrhunderte, Jahrhunderte wird man es kommen- tieren“ (Pokrovski)).

41a) Liev Natanovit) Kricman (deutsche Namensform: L. Kritsman). Die heroische Periode der Groben Russischen Revolution 5 period velikoj russkoj revoljucii). Ein Versuch der Analyse des sog. „Kriegs- kommunismus“, erschien 1929 als Bd. 16 der ,,Marxistischen Bibliothek“.

42) Zur marxistischen Beurteilung der publizistisch philosophischen Schrift- stellerei des universal gerichteten Althistoriker: W i p pe r, eines der interessantesten Köpfe der durch den Marxismus verdrängten russischen Gelehrtengeneration, seit 1918 vgl. C. Friedland, Krugovorot professora istorii: Pečat’ i revoljucija 1928, H. 6 S. 8—19.

42) D. M. Petrule vs ki j, Oterki iz ekonomiteskoj istorii srednevekovoj Evropy (Moskau 1928); vgl. im Folgenden S. 106 ff.

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heftig befehdeten Tarle“) als einem anderen Vertreter der histo- rischen Reaktion.

Dem hohen Lied Pokrovskijs auf die Ergebnisse der marxistischen historischen Forschung ist nicht bedingungslos zuzustimmen, da aus den eigenen Reihen skeptischere Stimmen gleichzeitig laut wurden. Wenn Pokrovskij z. B. rühmend hervorhob: „Auf dem Gebiete der westlichen Historiographie haben wir eine solche Menge Arbeiten zur Geschichte des Klassenkampfes in der neuesten Zeit, daß sie wahrscheinlich völlig alles aufwiegen, was darüber in Rußland vor der Revolution gearbeitet worden ist“ und als Spezia- listen „N. M. Lukin, Monosov, Friedland, Séegolev, Zacher u. a.“ nannte (S. 27), so ist demgegenüber Rochkins ge- dämpfteres Urteil wohl richtiger und ehrlicher, daß wissenschaftlich für die Geschichte des Westens in den ersten zehn Jahren nach der Revolution lediglich das Werk von Lukin „PariZskaja kommuna“, die einzige streng marxistische Arbeit über die Pariser Commune, einen wirklich großen Fortschritt und Erfolg bedeute.“)

Keiner der von Pokrovskij weiterhin genannten marxistischen Spezialisten für die Geschichte des Sozialismus (V. P. Volgin), für die Geschichte der antiken Welt (A. I. Tjumenev, P. F. Preo- brazenski)), für das Mittelalter (E. A. Kosminskij)") kann sich an Ansehen im Ausland auch nur entfernt mit D. B. Rjazanov und seinem Mitarbeiterkreis am Marx-Engels-Institut messen.

Mit berechtigtem Stolz konnte Pokrovskij darauf hinweisen, daß auf dem Gebiete der russischen Geschichte eine Reihe historischer Probleme sowohl durch Materialveröffentlichungen wie durch die marxistische Betrachtungsweise in den letzten Jahren gefördert worden sind; es genügt, an den Pugalev-Aufstand, die Dekabristen, das Jahr 1905, die Bauernbewegung 1905—1907 und 1917, die marxistische Beleuchtung der russischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts zu erinnern.“)

40) Siehe im Folgenden S. 109.

) Vestnik Komakad. 26 1928 H. 2 S. 284.

) Von ihm s. Russian work on english economic history: The economic history review I (1927), 208—288. Vgl. auch Anm. 188.

.) Da sich der russische Beitrag zu den Gesellschaftswissenschaften und die Leistung russischer Gelehrter in der Geschichtswissenschaft seit 1918 nicht aus- schließlich in der wissenschaftlichen Arbeit innerhalb der Grenzpfähle der Sovet- union erschöpft, erscheint hier als notwendige Ergänzung zu Pokrovskijs Über- blik ein Hinweis auf den Anteil der Emigration an der historischen Forschung im letzten Jahrzehnt berechtigt: Außer zwei Übersichten von A. Florovskij, La littérature historique russe (Emigration). Compte-rendu 1921—1926: Bulletin d'information des sciences historiques en Europe Orientale I, 1—2 (Varsovie 1928), 88—121 und: The work of russian émigrés in history (1921—1927): Slavonic Review VII (1928—29), 216—219 vgl. auch in der „Bibliothèque de la Revue Historique“ im Sammelwerk: Histoire et historiens depuis cinquante ans. Méthodes, Organisation et résultats du travail historique de 1876 à 1926, Bd. I (Paris 1927), den im wesentlichen als Epilog auf die bürgerliche Geschichtsschreibung Rußlands im angegebenen Zeitraum abgestimmten Beitrag „Russie“ von N. Kareev (S. 841—870); s. ferner A. Kizevetter (Kiesewetter), Histoire de Russie. Be des savants russes émigrés 1918—1928: Rev. Histor. 163 (1930),

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Auf der zweiten Konferenz im März 1929 waren u. a. vertreten: die Kommunistische Akademie, das Marx-Engels-Institut, das Lenin- Institut, das Institut der Roten Professur, das Leningrader Institut für Marxismus;) aus der Ukraine das Ukrainische Institut für Marxis- mus und Leninismus in Char’kiv und das Katheder für Marxismus und Leninismus bei der Ukrain. Akademie der Wissenschaften in Kiiv, ferner weißrussische Forschungsstellen. Diese Tagung im Gegensatz zu der des Vorjahres einen betont philosophischen und naturwissenschaftlich - theoretischen Charakter;**) Referate des Aka- demikers A. Deborin über die Probleme der Philosophie des Marxismus und von O. J. Sch mi dt über die Aufgaben der Marxisten in den Natur wissenschaften standen im Mittelpunkt. Deborins Vor- trag war bestimmt, Klarheit zu schaffen über die Aufgaben der marxistisch-leninistischen Einrichtungen im Kampf für den dialekti- schen Materialismus; er polemisierte gegen den Idealismus und jeg-

0 Ober die historische Abteilung des Leningrader Instituts für Marxismus (Leningradskij nau¢no-issled. institut marksizma), in die die Leningrader Filiale des Moskauer Instituts für Geschichte der RM ON umgewandelt wurde, be- richtete auf der Moskauer Historikerkonferenz Seidel are): vgl. 11, 226 f. Die Abteilung besteht aus einer Sektion für die ichte Rußlands und einer Sektion für den Westen. In der Sektion für russische Geschichte arbeiten Gruppen über Geschichte der Agrarverhältnisse; die Narodnikibewegung; die Ausstands- bewegung; die Gewerkschafts- und Genossenschaftsbewegung und über Quellen- kunde; in der zweiten Sektion bestehen Gruppen für Altertum, Mittelalter und die materielle Kultur; für Geschichte der französischen Revolution, die Geschichte der Industrie-Revolution und die Geschichte der II. Internationale. Die Abteilung beabsichtigt, das vor einigen Jahren cingegangene, vom Petrograder Gouverne- mentsrat der Gewerkschaften angeregte „Archiv fiir Geschichte der Arbeit in Ruß- land“ (Archiv istorii truda v Rossii) zu erneuern. Siehe auch Vestnik Komakad. 27 1928 Nr. 8 S. 291

Das Leningrader Wissenschaftl. Forschung: · Institut für Marxismus ist seit

kurzem der Kommunistischen Akademie als ihre Leningrader Filiale angeschlossen; vg. Pokrovskij, Na den fronta: Leningradskaja Pravda Nr. 66/4445 v. 8. März 1980 und S.Gonikman, Licom k socialistiteskoj praktike (Oterednye zadali Leningradskogo otdelenija Kommunistideskoj Akademii): Ebda. Nr. 70/4449 v. 12. März 1980. Vgl. Anm. 99.

Karev (Das Problem einer marxistischen Geschichte der We ger behandelt

werden: Mitt. der Pravda v. 20. Jan. 1980. Vgl. auch S. Alichnjan, Za

TESA marksistsko-leninskij istoričeskij materializm: Kniga i revoljucija Nr.

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lihen Revisionismus, insbesondere gegen die Mechanisten, die sich von der marxistisch-leninistischen Linie in der Philosophie abgewandt hätten.

Bedeutung für die russische Agrargeschichte hatte L. N. Kritz- manns Vortrag: „Analyse des Bauernhofes“, eine Betrachtung der „inneren Struktur und der inneren Veränderungsprozesse des Bauern- hofes als des konstitutiven Elements des bäuerlichen Produktions- systems“, im wesentlichen auf Grund der aus dem Agrarinstitut der Kommunistischen Akademie hervorgegangenen Untersuchung von M. Kubanin: „Die Klassennatur des Zerstückelungsprozesses der bäuer- lichen Virtschaft..)

Eine nachhaltige Einwirkung auf die Leninforschung und die marxistische Theorie dürften philosophische Fragmente aus Lenins Nachlaß (Auseinandersetzungen mit Hegel, Plechanov, Marx) ausüben, über die V. V. Adoratskij vortrug.

In einer Resolution bestätigten sich die Konferenzteilnehmer, der dialektische Materialismus sei die einzige wissenschaftliche Theorie, die dem Proletariat eine umfasende Veltanschauung und eine Waffe im Kampfe für die proletarische Diktatur und die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft gebe. Pokrovskij er- klärte in seinem Schluß wort u. a.: „Nicht zufällig haben wir uns im gegenwärtigen Moment der sozialistischen „Rekonstruktion“, im Moment eines auß erge wöhnlichen Aufschwungs, der an die Oktober- revolution erinnert, zur Erörterung der theoretischen Fragen zu- sammengefunden. Ich meine, daß die Beherrschung der Naturwissen- schaft durch Kommunisten die dringendste Aufgabe ist. Wie einst- mals die Losung ausgegeben wurde: ,,Proletarier aufs Pferd!“ so sollte jetzt die Losung gegeben werden: „Kommunisten zur Natur wissenschaft!“ Solange wir nicht die Natur wissenschaften be- herrschen, werden wir uns in Abhängigkeit von Leuten befinden, die uns ideologisch fremd sind. Die Tatsache, daß wir in den Gesellschafts wissenschaften den Taktstock in unseren Hin den halten, ist ein Zeichen dafür, daß wir auch

*

s) „Klassovaja suStnost’processa droblenija krest’janskich chozjajstv.“ Vstup. stat ja L. Kricmana. (Moskau 1929); vgl. dazu A. Sochin in der Pravda Nr. 121 (4255) v. 80. Mai 1929.

51) Vgl. Adoratskij, V. I. Lenin o. gegelevskoj logike i dialektike: Pro- letarskaja revoljucija Nr. 87 = 1929 Nr. A Mit der Veröffentlichung von Lenins kritischen Bemerkungen zu Hegels „Wissenschaft der Logik“ (mit einer Einleitung von A. Deborin, dtsch. in den „Philosoph. Heften“, hrsg. von Max. Beck, II. Jg. H. 1, (Berlin-Wannsee 1929) hat die „Geschichte des Marxismus-

ini den wertvollsten Beitrag seit Jahren empfangen: V. I. Lenin, Kon- spekt knigi Gegelja „Nauka logiki“ (1914) im: Leninskij sbornik IX. Izd. Instituta Lenina pri CK VKP (b), Mosk. 1929; s. auch I. Podvolockij, Leninskij kon- spekt „Nauki logiki“ i problemy materialisti¢eskoj dialektiki (I): Vestnik Komakad. 81 = 1929 H. 1 S. ITI—XLVII und 82 1929 H. 2 S. 30—78; V. V. Ado- ratskij, O rabotach Lenina po filosofii: Ebda. 32 S. 198—210; M. Mitin, Lenin i gegelevskaja dialektika: Revoljucija i kul’tura 1929 Nr. 7; P. Demczuk, Lenin und Hegel: Der Rote Aufbau 2. Jg. (1929), 271—273.

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auf dem Gebiete der Naturwissenschaften die Aufgabe bewältigen

werden... .“

An die Konferenz schloß unmittelbar eine eintägige Zusammen- kunft der Gesellschaft der kämpfenden materialistischen Dialektiker™) an. Die Gesellschaft besteht erst seit der Jahreswende 1928—29 und ist durch Verschmelzung der Be? allen Mechanisten und Freud- Anhängern gereinigten) Gesellschaft der kämpfenden Materialisten™) und der Gesellschaft der materialistischen Freunde der Dialektik Hegels**) entstanden. Als ihre Hauptaufgabe betrachter die Gesell- schaft das Eintreten für die prinzipielle Reinheit des marxistisch-leni- nistischen dialektischen Materialismus und atheistische Propaganda. Die theoretische Arbeit der Gesellschaft verdient Beachtung auch von seiten der Historiker; bereits von der alten Gesellschaft der kämpfen- den Materialisten wurden atheistische Kampfschriften des 18. Jahr- hunderts wieder ausgegraben und neu herausgegeben..) Der dritte Absatz des $ 1 in der Satzung der Gesellschaft der materialistischen Dialektiker lautet: „Die Gesellschaft betrachtet als ihre Aufgabe auch den Kampf gegen falsche Auslegungen des orthodox-dialektischen Materialismus (ortodoksal'nyj dialekticeskij materializm) in den historischen, den Wirtschafts-, Natur- und anderen Wissen- schaften“ und $ 2 führt unter den besonderen Aufgaben der Ge-

$2) Pravda Nr. 86 (4220) v. 14. April 1929.

Zu einer weiteren Veröffentlichung aus Lenins philosophischem Nachlaß: Konspekt lekcij Gegelja po istorii, konspekt istorii filosotü (I i II tomy) (Leninskij sbornik XII, 1980) vgl. Nik. Karev in der Pravda Nr. 62 (4507) v. 4. Marz 1990.

Vgl. auch I. K. Luppol, Lenin i filosofija. K voprosu ob otnofenii filosofii k revoljuciju. M.-L. ? 1929.

53) Oblẽestvo Voinstvujustich Materialistov-Dialektikov, abgekürzt: OVMD. Sitz: Moskau, OstoZenka 58. Institut Krasnoj Professury.

88) Ob&estvo voinstvujuscich materialistov. 56) Obščestvo materialisticeskich druzej gegelevskoj dialektiki. 86a) Areisticeskie pamflety XVIII stoletija. Pod red. A. M. Deborina.

Die Protestbewegung der christlichen Kirchen gegen die vor allem vom Bund der Atheisten (Sojuz Bezbo2nikov SSSR) betriebene antireligiöse Propadanga in der Sovetunion, insbesondere das Hervortreten des Papstes durch seinen Brief an den Cardinal Bas. Pompilj vom 2. Februar 1990 (vgl. l’Osservatore Romano Nr. 88/21188 v. 9. Febr. 1980) rief die marxistische Wissenschaft zu Gegenkund- N auf den Plan. N. Bu char in führte den Gegenschlag in einem 21 Spalten angen (auch als Sonderdruck verbreiteten) Pamphlet „Finansovyj kapital v mantii papy“ in der Pravda Nr. 65 (4510) v. 7. März 1980, einer historischen Übersicht über die „finstere Institution“ des Papsttums.

Ein „Offener Brief“ russischer Astronomen an den Papst (, Otkrytoe pis mo sovetskich astronomov pape Piju XI“), der am 27. März 1980 in der Pravda (Nr. 85/4530) und in den Izvestija veröffentlicht wurde, bringt eine eigenartige Note in die Diskussion mit der katholischen Kirche. Der Brief sucht die Geschichte der Astronomie, die Haltung der Kurie gegenüber Giordano Bruno, Galilei, Copernicus, Tycho de Brahe, Kepler „und viele andere Märtyrer der Wissenschaft“, gegen das Papsttum auszuspielen und fordert die Offnung der Geheimarchive der Inquisition, in denen der Welt bisher vorenthaltene Schriften Galileis zu vermuten on ... Merkwiirdigere Verfechter der „Freiheit der Wissenschaft" hat es nie gegeben.

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sellschaft die Beschäftigung mit Fragen des historischen Materialismus auf.

KS der Tagung der marxistischen Agrartheoretiker (Konferencija agrarnikov-marksistov) am 25. Mai 1929 wurden auch Sektionen fiir die Geschichte der Agrarrevolution und fiir die Agrarfrage im Orient gebildet;“) A. Heister (Gajster) trug über „Die Ergebnisse der Agrarrevolution in Rußland“ vor.

Das Lenin - Institut.“)

Das Lenin- Institut, das sämtliche gedruckten und handschrift- lichen Materialien, die sich auf Lenin beziehen, vereinigt, besteht seit 1923. Seine Aufgabe ist die Bearbeitung von Lenins Nachlaß, die Erforschung der Geschichte der Russischen Kommunistischen Partei und der Kommunistischen Internationale. Bereits im Herbst 1920 wurde eine „Kommission für die Geschichte der Kommunistischen Partei Rußlands und der Oktoberrevolution“ ) eingesetzt. Die Kom- mission, die mit einem Netz von Filialen arbeitet, hat sich um die Sammlung und Herausgabe von Materialien zur Geschichte der Ok- toberrevolution und der russischen revolutionären Bewegung in den letzten Jahrzehnten ein großes Verdienst erworben. Der weitgehende Parallelismus der Aufgaben der parteigeschichtlichen Kommission und des Lenin-Instituts führte 1928 zur Vereinigung der beiden Ein- richtungen.

se) Vgl. Ustav Ob kes tva voinstvujul& ich materialistov-dialektikov (OVM O): Vestnik Komakad. 81 1929 Nr. 1 S. 248—253; M. B. Mit in, O voinstvujulèem dialektièeskom materializme: Pravda Nr. 29 (4168) v. 5. Febr. 1929; Pravda Nr. 76 (4210) v. 8. und Nr. 89 (4228) v. 18. April 1929.

87) Vgl. Vestnik Komakad. 81 1929 H. 1 S. 240; Pravda Nr. 60 (4208) v. 26. März 1928: K agrarnikam-marxistam.

se) „Das Lenininstitut“: Wochenbericht 8. Jg. Nr 4 (28. Jan. 1927): E. Sallaj, Institut V. I. Lenina pri CK VKP (b): Pečat’ i revoljucija 1927 H. 7 S. 270—275; (E. L.), Das Lenin-Institut: Moskauer Rundschau 1. Jg. Nr. 27/28 v. 17. Nov. 1929. Das Institut gibt drei Reihen heraus: den „Leninskij sbornik“ (bisher 18 Bände) zur Veröffentlichung von Lenin-Materialien, „Leniniana“ (bisher 5 Bände, Bibliographie der russ. Lenin-Literatur 1924—1928), „Zapiski Instituta Lenina (bisher 8 Bände), außerdem die speziellen Istpartorgane: „Proletarskaja revoljucija“ und „Z pola walki“ (Žurnal, posvjašč. istorii revoljucionnogo dviZenija v Polk, in polnischer Sprache). M. Savel’ev, Rabota Instituta Lenina: Trudy I, 28—85; ders.: Vestnik Komakad. 82 1929 H. 2 S. 225—229.

se) Otdel CK VKP (b) po izuteniju istorii Oktjabr’skoj Revoljucii i VKP (b) = „Istpart“; vgl. P. LepeSinskij, Objasnicel’naja zapiska k programme po istorii RKP: Proletarskaja revoljucija 1922 Nr. 5 S. 45—91; N. Bel & i ko v (Literatura po archivnomu delu 1917—1928): Archivnoe delo H. 2 (1925), 158 bis 157: Archiv revoljucii; S. Piontkovskij, Oktjabf i russkaja istori&eskaja nauka: Pečat’ i revoljucija 1927 H. 2 S. 112—121; V. I. Nevskij, Cto sdelano po istorii revoljucionnogo dviZenija za desjat let (1917—1927 g.): Pečat’ i revol- jocija 1924 H. 8 S. 62—69. Über die Tätigkeit der Polnischen Kommission des

Istpart vgl. St. Bo bins ki j, Materialy po istorii pol’skogo bol“ Jevizma: Ist. Marxist 7, 255—260.

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Ausführungen Savel’evs über die Aufgaben des Lenin- Instituts und die Filialen des Istpart, mit denen Anfang Januar 1929 eine an die Konferenz der marxistischen Historiker anschließende Tagung der Vertreter der lokalen Istpartbureaus im Lenin; Institut eröffnet wurde,“) entwickelten das durch die Verschmelzung er- weiterte Programm der „Hochschule der revolutionären Strategie“, wie Trockıj das Institut einmal genannt hat.“) Außer seiner

Hauptaufgabe, der beschleunigten Fertigstellung der Gesamtausgabe

von Lenins Werken, wird das Institut um eine vom 15. Parteitag empfangene Direktive zu erfüllen die Vorbereitung einer wissen- schaftlichen Geschichte der Partei in Angriff nehmen. Savel’ev kündigte ferner eine neue Zeitschrift, ein „Archiv instituta Lenina“ zur Veröffentlichung von Dokumenten aus der Geschichte der Partei an.) Der zweite Redner (Essen) erläuterte die speziellen Aufgaben der lokalen Istpart - Organisationen,“) u. a. wies er auf den unbe- friedigenden Stand der Literatur zur Geschichte der Partei in der Epoche der Reaktion nach 1905 hin. Den Abschluß der Tagung b SE: ein Referat über die parteigeschichtliche Arbeit in Lenin- gi ad.“

) I. vsesojuznoe sovedtanie zavedujußlich mestnymi Istpartami: Izvestija Nr. 6 (8542) v. 8. Jan. 1929; Pjatoe vsesojuznoe soveščanie istpartrabotnikov 5 do 7 janvarja 1929 g. (Stenografil. order), Mosk. 1929; vgl. auch Sa vel evs Bericht über das Lenin-Institut auf dem Moskauer Historikerkongreß: Istorik- Marksist 11, 225 f. und Trudy I, 28—85.

D Rede zum fünfjährigen Bestehen der Sverdlov-Universität: Izvestija Nr. 185 v. 10. Juni 1923.

62) Die Istpart-Organisation bildet einen der beachtenswertesten Versuche,

historische Arbeit zu popularisieren. Ein Artikel von M. Essen Gstpartovskaja

ob&estvennost’: 5, 278—282) berichtet über ein eigenartiges, anscheinend geglückte: Experiment, aus alten Mitgliedern der Partei der Bolscheviki Gruppen zu bilden, um die Arbeit der für die Geschichte der Partei gebildeten Kommissionen zu prüfen und zu ergänzen und namentlich da einzuspringen, wo in der Doku- mentierung der Geschichte der revolutionären Bewegung Lücken vorhanden sind. Um die Erinnerung an die Revolutionsbewegung, illegale Propagandatätigkeit, Gefängnis, Katorga und Strafverbannung wachzuhalten, wurde durch die „Gesell- schaft der ehemaligen politischen Strafgefangenen und Verschickten“ ein revolu- tions-historisches Wandertheater begründet: Izvestija Nr. 200 (8786) v. 81. August 1929. Ober die Bemühungen, im russischen historischen Film den Stil der Ver- gangenheit getreu zu rekonstruieren, vgl. die Beispiele des Regisseurs J. Tar id: Wochenbericht 4 Jg. Nr. 18—19 (5.—12. Mai 1928), 19 f. Als typische Kritik der Aufführung eines historischen Bühnenstücks, von A. Tolstojs „Peter I.“, führe ich aus der Pravda Nr. 69 (4514) v. 11. März 1980 an: „Es ist nichts von jenem Hauch des Handelskapitalismus zu spüren, der die reformatorische Tätig- keit Peters umweht und der die bewegende Kraft seiner Reformen war“

(L. Cernjavski)).

) Über einen Skandal im Krim-Istpart im Zusammenhang mit der Ver-

öffentlihung von P. V. Makarov, Ad’jutant generala Maj-Maevskago. Iz vospominanij nač. otrjada Krasnych partizan v Krymu (Leningrad 1929); vgl. Rul’ (Berlin) Nr. 2681 v. 24 Juli 1929.

68) Vgl. Izvestija Nr. 6 (3542) v. 8. Jan. 1929.

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Das Marx - Engels - Institut.“)

Verhältnismäßig wenig ist bisher im „Istorik-Marxist“ über die Tätigkeit des Marx-Engels-Instituts zu finden;“) auch auf der marxistischen Historikerkonferenz wurde nur über Lenin-Institut vorgetragen. Das Marx-Engels-Institut ist das „marxistische Arsenal“ und erhebt den Anspruch, das einzige „wissenschaftliche Laboratorium“ der Welt für „Marxkunde“, für die Geschichte des wissenschaftlichen Sozialismus und die Geistesgeschichte der Neuzeit, die Arbeiterbewegung und den Klassenkampf des Proletariats im Westen zu sein.“) Die Ausstattung des Instituts mit wissenschaft- lichen Hilfsmitteln allein die Bibliothek zählt bereits 330 000 Bände sucht in der Welt ihresgleichen.“ )

€s) Die Begründung dieses Instituts (wie auch des Lenin-Instituts) wurzelt in dem Glauben, „daß die auf breitester wissenschaftlicher Grundlage vollzogene Errichtung eines Marx-Engels-Kultus einen ideellen Gewinn für die Festi die Sicherung und das Ansehen der Sowjet-Republik bedeutet. Nach den Kaisern, Königen, Feldherren der militärischen Epoche, nach den Entdeckern, Erfindern, Unternehmern des bürgerlichen Zeitalters, nach den Heiligen und Märtyrern

ubenserfüllter Epochen werden nun sozialistische Theoretiker die Staats- ıdeologen einer großen Nation“: A. Meusel in den „Kölner Vierteljahrsheften für Soziologie“ 6 (1926—27), 299.

se) Die eingehende Würdigung der Publikationstätigkeit des Instituts, die bereits 1926 in der ersten Nummer der Zeitschrift verheißen worden war institute K. Marksa i F. Engel’sa pri CIK SSSR: 1, 828—825 —, steht heute noch aus; lediglich Bd. III des „Archiv K. Marksa i E. Engele: (1927) wurde in Heft 7 (S. 279—281) besprochen.

Die monumentale Ausgabe der Werke von Marx und Engels in 27 Bänden (X. Marks i F. Engel’s, Sotinenija), die das Institut unter der Redaktion von D. Rjazanov erscheinen läßt und die 1982 abgeschlossen vorliegen soll, um- faßt in Bd. I—XIV Publizistik, Philosophie und Geschichte, in Bd. XV—XX wirtschaftliche Untersuchungen, in Bd. XXI—XXVII Briefe; die Bände 1—8, 5, 8, 21—28 sind bereits erschienen. Außerdem sind die Vorarbeiten für eine „akademische“ Ausgabe der Werke von Marx und Engels im Gange. Das Institut hat ferner mit der Veröffentlichung der Werke Hegels (bisher Band I, 1: Encik] ija filosofskich nauk. Logika, mit Einl. von A. Deborin: Hegel i dialekti¢eskij materializm), G. V. Plechanovs, K. Kautskys und P. Lafargues be- gonnen und gibt neben den Zeitschriften: „Archiv K. Marksa i F. Engel’sa“ und den „Letopisi Marksizma“ mehrere Serien heraus: „Biblioteka nautnogo

jalizma“, ,,Issledovanije po istorii i teorii marksizma“, „Issledovanija po istorii proletariata i ego klassovoj bofby“, „Biblioteka materializma“, iki socializma“, „Klassıki političeskoj ekonomii“, „Biblioteka marksista“.

Uber die Publikationstätigkeit des Instituts im Jahre 1929 vgl. G. Seidel (Zajdel), Prodvinem v massy aktiva idejnoe nasledie Marksa i Engel’sa: Lenin- gradskaja Pravda Nr. 285 (4859) v. 10. Dez. 1929.

67) Vgl. E. Czobel, Institut K. Marksa i F. Engel’sa: Pečat’ i revoljucija 1927 H. 7 S. 257—200; G. Lenz, Das Marx-Engels-Institut in Moskau: Histor. Zeitschrift Bd. 187 (1928), 498—501; F. Schiller, Institut K. Marksa i F. Engel’sa v Moskvi: Prapor marksizmu 1929 Nr. 4 S. 188—189; A. Bern- feld, Das Marx-Engels-Institut: Moskauer Rundschau Nr. 26 v. 8. Nov. 1929. Das Marx-Engels-Institut: Marx-Engels-Archiv I 3 448—400; über das Archiv des Instituts: Archivnoe delo 20 (1929), 24— ie Kee Bestim - mungen des im Sommer 1929 bestätigten neuen Statuts teile ich im Anhang (S. 190 £.) in Übersetzung mit.

eva) Vgl. den Bericht Rjazanovs vor dem Zentralexekutiv-Komitee der UdSSR am 8. März 1980: Izvestija Nr. 62 (8909) v. 4. März 1980.

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Zum 60. Geburtstag D. B. Rjazanovs, des Begriinders und Leiters des Instituts, im März 1930*”°) erschienen mehrere bemerkens- werte Kundgebungen: A. I. Rykov erklärte die Marxkunde als einen neuen Wissenszweig, der aufs engste mit dem revolutionären Kampf des Proletariats für den Sozialismus verbunden sei,“) das Lenin-Institut erkannte das Marx-Institut als einen der wichtigsten Vorposten im Kampfe der Kommunistischen Partei für die möglichst weite Verbreitung der marxistisch-leninistischen Ideen an“) und das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale rühmte Rjazanovs Institut als eine Stütze aller Sektionen der Komintern in ihrem Kampf mit den Verdrehungen, denen der Marxismus durch die Inspiratoren der Zweiten Internationale ausgesetzt sei. Im Glück- wunsch der nächsten Mitarbeiter des Jubilars, der Parteizelle und des „Kollektivs“ der Mitarbeiter des Marx-Engels-Instituts, hieß es:

„Die Aufgaben und die Rolle des Instituts wachsen mit jedem Tag. Soeben, in der Periode der tiefen Krisis der bürgerlichen Wirtschaft, Politik und Kultur während des gleichzeitigen grandiosen Aufbauens des einzigen Landes der Welt mit der Diktatur des Proletariats, erscheint die marxistisch-leninistische Theorie als die Kraft, mit deren Hilfe das Proletariat alle großen Aufgaben des Aufbaus des Sozialismus in unserem Lande und in der internationalen proletarischen Revolution löst. Die wissenschaftlihe Aufgabe der Arbeiten von Marx und Engels... ,

ebenso die ganze wissenschaftliche Forschungsarbeit des Instituts... dienen diesen großen Aufgaben "ef

Eine Entschließung des Präsidiums des Exekutiv-Komitees der UdSSR auf Grund von Rjazanovs Bericht über die Tätigkeit des Instituts 1928/29 erachtet als notwendig, „daß in der gegenwärtigen Periode der Verschärfung des Klassenkampfs und der verstärkten Ent- wicklung der wissenschaftlichen Tätigkeit in der UdSSR, insbesondere auf dem Gebiet der Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaften, und beim Anwachsen der wissenschaftlichen Cadres das Institut alle Mög- lichkeiten im höchsten Maße ausnutze, um das Hauptzentrum der Forschungs- und Popularisierungsarbeit auf dem Gebiet der Marx- kunde zu werden, indem es seine Arbeit mit der Tätigkeit der Kommunistischen Akademie und des Lenin-Instituts in Einklang bringe“; die Resolution regt an (oder nimmt eher wohl eine An- regung Rjazanovs auf), das Institut solle periodische Konferenzen der

eb) Vgl. E. Czobel D. B. Rjazanov, kak marksoved: Izvestija Nr. 68 (3915) v. 10. März 1990; M. Pokrovskij, D. B. Rjazanov v sovetskom stroitel’stve: Pravda Nr. 69 (4514) v. 11. März 1930; I. Ran, Revoljucioner i ulenyj: Pravda Nr. 81 (4526) v. 23. März 1980; V. Kirpotin, David Borisovič Rjazanov: Leningradskaja Pravda Nr. 88 (4462) v. 25. März 1980; G. Seidel (Zajdel’), D. B. Rjazanov—revoljucioner i ucenyj: Ebda. Nr. 86 (4465) v. 28. März; ders., Rjazanov-istorik: Problemy marksizma (Organ Lenin- gradskogo Otdela Kommunist. Akad.) 1990 Nr. 2.

ec) Pravda Nr. 68 (4518) v. 10. März 1980. 67d) Ebda.

eze) Pravda Nr. 70 (4515) v. 12. März 1930. ef) Pravda Nr. 68.

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„Spezialisten fiir Marxkunde“ (specialisty-marksovedy) aus der ganzen Union veranstalten..)

Fiir die Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung sind die Arbeitsgebiete des Marx-Engels-Instituts und des Lenin-Instituts derart abgegrenzt, daß die Epoche der II. Internationale bis zum Ausbruch des Weltkriegs zur Aufgabe des Marx-Engels-Instituts ge- hört, während die Sprengung der II. Internationale durch den Krieg und die III. EE vom Lenin-Institut bearbeitet werden.

M. N. Pokrovskij.

Der 60. Geburtstag Pokrovskijs“) wurde als Paradetag der russischen marxistischen historischen Wissenschaft, als ein Jubiläum marxistischen historischen Denkens gefeiert. Mit den von der Gesell- schaft der marxistischen Historiker vorbereiteten Kundgebungen des 25. Oktober 1928, der als Tag der offiziellen Feiern festgesetzt worden war, läßt sich keine Ehrung vergleichen, die einem Historiker in einem anderen Lande je zu Lebzeiten zuteil geworden ist. Zum Lobe Pokrovskijs als marxistischer Gelehrter, Revolutionär und Politiker und als Organisator der Wissenschaft bleibt nichts mehr zu sagen übrig. Aus unzähligen Kundgebungen einige markante Bei-

iele: „Sie, der Sie ihr ganzes Leben mit dem revolutionären Kampf

es Proletariats er haben, schreiten in der ersten Phalanx der Kämpfer und halten hoch das Banner Marx-Lenins. . . . Sie schufen die einzige Schule der Welt von revolutioniren marxistischen Historikern und gelten mit vollem Recht als ihr Haupt, als Leader dieser Schule“ heißt es im Glückwunsch seiner Garde, der „Gesellschaft der marxisti- schen Historiker“, nach einer eindringlich formulierten Wiirdigung von Pokrovskijs Verdiensten.“) „Ihnen gehört in der Geschichts- wissenschaft das 20. Jahrhundert, das Jahrhundert des Sieges des Proletariats“, verkündete die Glückwunschadresse der Leningrader

67g) Zadači Instituta K. Marksa i F. Engel’sa. Postanovlenie prezidiuma CIK SSSR: Pravda Nr. 78 (4523) v. 20. März und Izvestija Nr. 88 (3980) v. 25. März 1980; s. auch oben Anm. 67 a.

ei Geb. am 29. August 1868; über Pokrovskijs Lebensgang vgl. außer den biographischen Notizen Anm. 73, die aus Anlaß von Pokrovskijs Kandidatur zum Mitgliede der Akademie der Wissenschaften geschriebene Würdigung seines Lebens und Werkes durch P. Gorin („M. N. Pokrovskij“) in den Izvestija Nr. 238 (8472) v. 12. Okt. 1928; s. auch diese Jahrbücher N. F. 4 (1928), 283. Kurz und bündig begründete der Wahlvorschlag der „Sektion der wissenschaftlichen Arbeiter“ die Präsentation Pokrovskijs zum ord. Mitgliede der Akademie der Wissenschaften mit dem einzigen Satz: „Weil seine Arbeiten den festen Grund für die marxistische Methodologie der russischen Geschichte gelegt haben und weil er gegenwärtig als das allgemein anerkannte Haupt der russischen Schule der marxistischen Historiker anzusehen ist“: Izvestija Nr. 282 (8466) v. 5. Okt. 1928.

Zum Pokrovskij-Jubiläum vgl. die Veröffentlichung des „Komitet po oznamenovaniju O0-letijja M. N. Pokrovskogo“: Na boevom postu marksizma. Stenogramma torzestvennogo zasedanija, posvjalk. 60-letiju so 185 . i 35-letiju naučnoj dejatel’nosti M. N. Pokrovskogo (Mosk. 1929).

Spa) Na boevom postu marksizma 61—63.

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Universität.) „Das ideelle Zentrum, das Frankreich vor hundert Jahren war, befindet sich heute bei uns, an den Ufern der Moskva und der Neva.) Ein stolzer Überschwang spricht aus Worten Lunalarskijs, die Spezialisten Europas beneideten Rußland um die hohe Stufe, die dort die Sicherung der Archivalien und das Editionswesen erreicht hätten.“) Eigentümlich berührt die Be- hauptung Sestakovs im Jubiläums-Hauptartikel des „Istorik- Marxist“, die bürgerliche Geschichts wissenschaft fahre „aus völlig verständlichen Ursachen“ fort, Pokrovskij tot zu schweigen“) —, nachdem man es wenige Vochen zuvor gegenüber dem Führer der russischen Historiker- Delegation in Berlin und Oslo an Aufmerksam- keit und Aufmerksamkeiten gewiß nicht hatte fehlen lassen.“)

e) 10, 267.

70) Archivnoe delo 17 (1928), 75.

71) Izvestija Nr. 249 (8483) v. 25. Okt. 1928. 72) 9, 8.

73) Es würde zu weit führen, hier auf die Außerungen zum Pokrovskij- Jubiläum näher einzugehen; ich begnüge mich mit einigen Hinweisen.

Im „Istorik-Marxist" wurde von A. V. Šestakov („M. N. Pokrovskij istorik-marxist“: 9, 8—17) Pokrovskij als Bahnbrecher des revolutionären Marxismus in der russischen Geschichtsschreibung, von P. Gorin („M. N. Po- krovskij kak istorik pervoj russkoj revoljucii“: 9, 84—57) als Historiker der ersten russischen Revolution von 1905, von D. Kin, („M. N. Pokrovskij kak istorik Oktjabr’skoj revoljucii“: 9, ae) und von N. Rubinstein („M. N. Pokrovskij istorik vneinej politiki“: 9, 58—75) als Historiker der äußeren Politik Rußlands gewürdigt. Eine nüchterne biographische Notiz (M. N. Pokrovskij. Kratkaja biografiteskaja spravka“: 9, 79—88) brachte vor allem die beispiellose wissenschaftsorganisatorische Leistung des Jubilars seit der Oktoberrevolution zur Anschauung und eine durch die Bibliothek des Instituts der Roten Professur zusammengestellte Bibliographie seiner Veröffentlichungen („Materialy k bibliografii M. N. Pokrovskogo 1896—1928“: 9, 218—281) schuf für die „Pokrovskij-Forschung“, von der man heute schon sprechen kann und der die Gefahren einer Pokrovskij-Philologie drohen (vgl. 9, 42 Anm. 1!) die sichere Grundlage.

„Izvestija“ und „Pravda“ brachten am 25. Okt. 1928 besondere Pokrovskij- Beilagen mit Beiträgen u. a. von Lunalarskij, V. Polonskij („P. als Künstler“), V. Fritsche („Der Schöpfer der proletarischen Kultur“), A. Sesta- kov („Der proletarische Historiker P.“), Evg. Krivolein az („Der kämpfende bolschevistische Historiker“): Izvestija Nr. 249 (3488); N. Bucharin („Der Professor mit der Pike“), D. Kin („Der Historiker der proletarischen Revo- lution“), A. Sidorov („P. und die russische Geschichte“), N. Rubinstein („Der Historiker der äußeren Politik“): Pravda Nr. 249 (4081); P. Gorin („Der kämpfende marxistische Historiker“) und S. Dubrovskij („Die Agrarfrage in den Arbeiten von P.“; vgl. A. Heister [Gajster], M. N. Pokrovskij istorik agrarnoj revoljucii: Na agrarnom fronte 1928 Nr. 10 S. 8—6): Pravda Nr. 250 (4082) v. 26. Okt. 1928; A. S. Bubnov („Der Theoretiker der leninistischen Schule“): Izvestija Nr. 251 (8485) v. 27. Okt. 1928 (vgl. dazu Istorik-Marxist 10, 270). Weitere Würdigungen z. B. im Vestnik Komak. 29 = 1928 H. 5 (Lunalarskij, V. Miljutin), Proletarskaja revoljucija Nr. 81 = 1928 H. 10 (P. Gorin, Die historische Begründung der Oktober- revolution in P's Arbeiten), Pečat’ i revoljucija 1928 H. 7 (V. I. Nevskij, Istorik-materialist), Nauènoe slovo 1928 Nr. 10 (J. Min c); Novyj vostok Nr. 25 (1929): V. Gur ko- Krja zin („M. N. Pokrovskij und die Er- forschung der Geschichte des Orients“, S. 29—46) und A. E. Chodorov („M. N. Pokrovskij und die Erforschung des Fernen Ostens“, S. 1—28); Mirovoe

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Der Abstand zwischen der dogmatisch gebundenen marxistischen und einer freien und tiefen Auffassung der Wechselwirkung zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft, die sich in Pokrovskijs Dank- rede auf dem offiziellen Festakt“) zur maflosen Verherrlichung der Klasse des Proletariats als der Wurzel seiner Leistung und der Quelle seiner Kraft vereinfacht, läßt sich kaum schärfer andeuten als durch Gegenüberstellung von Rankes Bekenntnis aus einem ähnlichen Anlasse, ın seiner Dankrede am neunzigsten Geburtstag.

Der Kampf der Schule Pokrovskijs egen die bürgerliche Geschichts- wisse 3

Den Kampf der marxistischen Historiker gegen die geringen Überreste des alten bürgerlichen Professorentums an Hochschulen und wissenschaftlichen Forschungsinstituten macht kein Vorgang der letzten Jahre deutlicher, als die Auseinandersetzungen, die sih an D. M. PetruSevskijs „Skizzen aus der Wirtschaftsgeschichte Europas im Mittelalter“) knüpften. Das Werk, das sich erkenninis- theoretisch an Rickert und Max Weber orientiert, wurde in einer ausgedehnten Diskussion in der Soziologischen Sektion der Gesell- schaft der marxistischen Historiker am 30. März und 6. April 1928 von mehreren Mitgliedern (Pokrovskij, C. Friedland, P. I. Kušner,

chozjajstvo i mirovaja politika 1928 Nr. 11 (F. Rotstein, P. als Historiker der internationalen Beziehungen), Archivnoe delo 16 1928 H. 8 (V. Maksakov, P. und die Frage der Archivorganisation), s. auch Arch. delo 17, 68—75; Ost- europa 4 (1928—29), 308 f. Sogar dem Schicksal, vom gefeiertsten Schmied marxistischer Verse, Dem jan Bednyj, angedichtet zu werden, entging Pokrovskij nicht: ,,Kul’turnejlemu“ in der Pravda v. 25. Okt. 1928.

Frau M. V. Nelkina, die die Unvorsichtigkeit begangen hatte, 1919 als Studentin nicht ganz parteifromm „Die russische Geschichte in der Beleuchtung des ökonomischen Materialismus“ (vgl. diese N. F. IV, 287 Anm. 23), im wesentlichen eine Gegeniiberstellung Rozkovs und Pokrovskijs, zu schreiben (s. dazu V. Nevskij in Pečat’ i revoljucija 1928 H. 7 S. 181—188), und der diese Jugendsünde namentlich zur Zeit des Pokrovskij- Jubiläums wiederholt vor- gehalten wurde (vgl. A. V. Šestakov, M. N. Pokrovskij istorik- marks ist: H. 9; N. Stepanow zu M. Cvibak, Rokkov-istorik, Taškent 1927: 9, 183—187), leistete öffentlich Abbitte, indem sie in einer Erklärung die zahl- reichen Irrtümer und Fehler der Arbeit auf ihre damalige ungenügende marxi- stische Vorbereitung schob (11, 277 f.); sie ist inzwischen längst eine fleißige und „ideologisch untadelhafte Mitarbeiterin des „Istorik-Marksist“ geworden. Bei der Verfeinerung der historischen Kritik des Marxismus durch Unterscheidung des ökonomischen, historischen und dialektischen Materialismus wobei der ökonomische Materialismus als „Materialismus minus Dialektik“ (Pokrovskij) an letzter Stelle rangiert, während „das Wesen des dialektischen Materialismus geradezu darin besteht, alles historisch zu betrachten“ (Rja za - nov: Vestnik Komakad. 26 S. 251) mußte sich das Urteil über die Arbeit von Frau Netkina im Lauf der Jahre ständig verschlechtern. Vgl. A. V. Šesta- k'o v, Proletarskij istorik M. N. Pokrovskij: in den „Izvestija“ Nr. 249 (4383) v. 25. Okt. 1928 und im „Istorik-Marxist“ H. 9.

74) Siehe unten Anlage 2.

78) Siebe Anm. 48; über Petrulevskij 3. E. A. Kos mins ky, Russian . = english economic history: The economic history review Bd. I (1927), 6—21

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S. S. Krivcov, V. D. Aptekar) völlig verworfen, während sich A. I. Neusychin und E. A. Kosminskij mit vielen Vorbehalten dafür einsetzten.

Das Stenogramm der Diskussion ist ein klassisches Dokument zugleich der russischen und der deutschen Wissenschafsgeschichte: Es gibt in der russischen historischen Literatur kein aufschlußreicheres Zeugnis für den deutschen Einfluß in den russischen „Gesellschafts- wissenschaften“, für die Auseinandersetzung der beiden Lager der russischen Wissenschaft, des marxistischen und des nicht nicht- marxistischen, mit der deutschen Philosophie und Soziologie der letzten Menschenalter und mit der Forschung der Schule Dopschs über das Mittelalter. *) Um sich vor dem Marxismus zu retten, erklärte Friedland, nähmen die bürgerlichen idealistischen Historiker zu den „extravagantesten Theorien des geschichtsphilosophischen Denkens im Westen“, zu Max Weber und Troeltsch, ihre Zuflucht, während auf dem Gebiete des konkreten historischen Wissens für sie Dopsch maßgebend sei;“) und er versicherte: „Wir werden einen hartnäckigen Kampf führen gegen den barbarischen Überfall auf den

Marxismus durch die in Mode stehenden westeuropäischen philo- sophischen Schulen und ihre russischen Schüler.“ w)

Nur in der Gesellschaft der marxistischen Historiker konnte es geschehen, daß durch PetruSevskijs Untersuchung hervorgerufene Differenzen über Agrarkommunismus bei den Germanen sich zu einem Streit um die richtige Interpretation einer Stelle in Engels „Ursprung der Familie“ zuspitzten“), und nicht weniger typisch

78) Disput o knige D. M. Petrulevskogo: 8, 79—128: S. S. Krivcov 79—85; C. Friedland 85—90, 126—128; E. A. Kos mins kij 90—95, 117—119; A. D. Udal’cov 9%—90; A. I. Neusychin 99—104, 119—126; P. I. KuSner 104—115; V. D. Aptekar 115—117; vgl. Histor. Ztschr. 140

(1929), 196. Siehe auch die Rez. von A. Kiesewetter: Rul’ Nr. 2828 v. 25. Juli 1928.

mea) Vgl. N. N. Rosenthal (Rozental), Problemy zapadno-evropejskoj sredne-vekovoj istorii v osvedtenii Dopla-Petrulevskogo: Im Sbornik 2 der

nr marksizma (Izd. Leningradsk. nautno-issledov. instituta marksizma), 1929; Friedland, Markzism i zapadno-evropejskaja istoriografija ere einandersetzung mit Tröltsch): Istorik - Marxist 14, 17—21; V. Rudaf, Vozmoinost’ i charakter istoriteskoj nauki (gegen Rickert): Bjulleten . . IKP

(s. oben Anm. 20a), 77) 8, 104.

78) 8, 127; „die Modetheorie der Soziologie Max Webers“: Udal’cov in einer Diskussion über die marxistische Auffassung der Soziologie (12, 207). 7) Kosminskij und Kušner: 8, 88 und 106f.

Wann werden die marxistischen Historiker dahin kommen, das Gutachten zu beherzigen, das Albert Einstein zur Herausgabe von Friedrich Engels „Dialektik und Natur“ im II. Band des Marx-Engels- Archivs“ (herausg. von D. Rjazanov, Frankfurt a. M. 1927) erstattete? Einstein schrieb: „Wenn dieses Manuskript von einem Autor herrührt, der als historische Persönlichkeit nicht interessierte, würde ich zu einer Drucklegung nicht raten; denn der Inhalt ist weder vom Standpunkt der heutigen Physik noch auch für die Geschichte der Physik von besonderem Interesse. Dagegen kann ich mir denken, daß diese

106

1 m GE: m e uw. ER EE BD

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offenbarte sich die Kanonisierung von Marx in einer abwehrenden Bemerkung Neusychins:®) „Gen. Friedland gab D. M. PetruSevskij den Rat, die „Deutsche Ideologie“ von Marx zu lesen. Ein sehr ver- nünftiger Rat. Aber welche Belehrung für die mittelalterliche Ge- schichte vermag er aus einer Arbeit zu schöpfen, die in den vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts geschrieben ist? Er kann daraus interessante Ideen, reiche Impulse auf dem Gebiete der Methodologie entnehmen, aber Tatsächliches zur Frage, ob es bei den Germanen die Gemeinde gegeben hat oder nicht, findet man im Text des Tacitus und nicht in einer überdies in den vierziger Jahren geschriebenen philosophischen Arbeit, wenngleich sie von Marx selbst herrührt“,

eine Ketzerei, mit der der Redner seine Geltung als Marxist aufs Spiel setzte.

A. D. Udal’cov*) argumentierte u. a.: Petrusevskijs Werk sei ein Buch, von dem einer der Diskussionsredner mit Recht sagen konnte, daß es seiner Art nach völlig außerhalb aller der Streitfragen, aller der Diskussionen, aller der Interessen stehe, die den Inhalt der heutigen russischen marxistischen Wissenschaft bilden; es sei nach Westen orientiert und wende sich im Grunde an den Westen. Das Buch sei ein Produkt der westeuropäischen wissenschaftlichen Ent- wicklung; die marxistischen Historiker müßten es überwinden, indem sie an ihm die eigene marxistische Methode schärften und

Schrift für eine Publikation insofern in Betracht käme, als sie einen interessanten Beitrag für die Beleuchtung von Engels’ geistiger Bedeutung bildet“ (S. 141).

Professor KraZeninnikov (Voronež), der es wagte, bei den Neu- wahlen der Hochschullehrer im Frühjahr 1929 freimütig einzugestehen, er sei nicht Marxist, sei es nie gewesen und könne es nicht werden, und fortfuhr: „Auf dem Gebiete der Sprachwissenschaft haben Marx, Engels und Lenin nichts geleistet“, empfing die „gebührende Ant- wort“ durch Entfernung aus dem Amt: Pravda Nr. 187 (4271) v. 18. Juni 1929. Die angeblichen Außerungen von Professoren des Pädagogischen Instituts in Jaroslav, die ein Artikel von A. Vyšinskij in den Izvestija Nr. 3 (3850) v. 3. Jan. 1980 anführte: „Newton hat seine Gesetze auch ohne den Marxismus entdeckt (Prof. Znamenskij), „Botaniker können auch ohne den Marxismus auskommen“ (Prof. Sludskij) oder eine Erklärung des Professors am Kiever Institut für Volkswirtschaft Ptucha: „Mit Politik befasse ich mich nicht. Statistik ist keine politische Wissenschaft“ (Pravda Nr. 271/4405 v. 21. Nov. 1929; dagegen: Sovetskaja statistika dolžna stat’ boevym oruliem! Pravda Nr. 24/4469 v. 25. Jan. 1980) werden als Beweise für „reaktionäre Gesinnung“ angesehen.

Im Glückwunsch der Aspiranten des Instituts für die nationalen Kulturen des Sovet-Orients an Stalin zu seinem fünfzigsten Geburtstag, der die Aus- wirkung der bolschevistischen Nationalitätenpolitik unter den orientalischen Völkern der Sovetunion rekapitulierte, fehlte in der Aufzählung der Wider- stände gegen das „Vordringen der sozialistischen Epoche“ nicht ein Hieb gegen das „reaktionäre Professorentum“; man warf ihm vor, es versuche z. B. die Er- forschung der Sprache oder Literatur von der Erforschung der Entwicklung der materiellen Kultur, die Erforschung der Geschichte von der Erforschung der Ent- wicklung der sozialökonomischen Formation zu trennen; vgl. Europ. Gespräche 8 (1980), 117.

s) 8, 102.

81) Vgl. Friedlands Replik 8, 127.

2) 8, 95, 90.

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dadurch, daß sie dieser konkreten historischen Untersuchung eine Reihe marxistischer konkreter Untersuchungen entgegenstellten. Dagegen fand Kos mins k ij“) daß in Petrulevskijs Unter- suchungen alle Grundkonzeptionen der Mittelalter - Forschung von einem Gesichtspunkt aus behandelt worden seien, der ihre Uber- setzung in die marxistische Sprache“ sehr leicht mache!

In anderem Zusammenhang äußerte Friedland in der Campagne gegen PetruSevskij: Wenn PetruSevskij sich in seinem Auf- satz: „Strittige Fragen der mittelalterlichen Verfassungs- und Wirt- schaftsgeschichte“® gegen Büchers Schema wende, so kämpfe er damit in Wirklichkeit gegen den Marxismus, der nach seiner Ansicht im Grunde das Schema Büchers wiederhole.) Petrulevskijs Er- Srterungen, hervorgegangen aus allgemein bekannter, langjähriger Beschäftigung mit dem Gegenstand, ınsbesondere mit dem Feuda- lismus™) —, bieten weder für seine weltanschauliche Stellung Über- raschendes, noch sind sie in einem die marxistische Forschung ver- letzenden oder herausfordernden Ton vorgetragen. Es bleibt das Geheimnis seiner marxistischen Gegner, wie von ihnen gerade jener Aufsatz als ein „antimarxistisches Manifest) einge- schätzt werden konnte. ö

Pokrovskijs ußwort in der Diskussion“) ist die denkbar schärfste Abrechnung des Seniors der marxistischen Historiker Ruß- lands gleichzeitig mit zwei hervorragenden Vertretern der nicht-

83) 8, 95.

88) Zeitschrift für die gesamte Staats wissenschaft Bd. 85, 1928, S. 468—490 = Übersetzung des 1. Kapitels der ,,Ocerki iz ist. srednev. Evropy“: O neko- torych predrassudkach i sueverijach, tormozjaščich razvitie nauki srednevokovoj istorii, was dort nicht angegeben ist.

84a) Vgl. unten S. 197 Pokrovskijs Ausfall gegen Dopsch in seiner Rede am 25. Okt. 1928.

85) Zum Begriff des Feudalismus bei Petrulevskij vgl. Kosminskij 8, 93 f. und P. I. Kušner 8, 104—108; über den Feudalismus in Rußland vgl. I. Trockij: 8, 188f. S. auch P. B. Struve über die Stellung von N. P. Pavlov-Sil’vanskijs „feudaler Theorie“ in der russischen Rechtsgeschichte: L. L’vov, Beséda s P. B. Struve-ulenym: Rossija i slavjanstvo Nr. 88 v. 17. August 1920; Struve, Feodal’nye elementy v gosudarstvenno-obXest- vennom stroé udél’noj Rusi, im Sbornik russkago instituta v Pragé I (1929). E. A. Kosminskij, Pomestnyj stroj pozdnego srednekov’ja: Bjulleten’ . . . IKP (s. oben Anm. 20 a), 54—62.

Die russischen Historiker haben sich jetzt zu O. Hintzes universal- historischer Anschauung und Einordnung eines russischen feudalen (terminologisch prazis definierten) Imperialismus und seines Zusammenhangs mit der Kultur und dem Imperialismus von Byzanz zu äußern; vgl. Hintze, Wesen und Ver- breitung des Feudalismus: Sitzungsberichte der Preuß. Akad. d. Wiss., Philol.-hist. Kl. Jg. 1929, S. 840f.

e) Friedland: Pod znamenem marksizma 105; s. auch E. Krivo- Zeina: Izvestija Nr. 200 (8588) v. 25. Dez. 1928.

sea) Sehr scharf wandte sich unlängst N. Majorskij in einer Besprechung von Petrulevskijs „Olerki po istorii Anglijskogo gosudarstva i obščestva v srednie veka“: Bjulleten IKP (s. oben Anm. 20 a), 92—96, gegen den Autor.

#7) Novye tecenija v russkoj istoriceskoj literature: 7, 8—17; vgl. Histor. Ztschr. 140 (1929), 196

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marxistischen Geschichtsschreibung, außer mit PetruSevskij, dessen historisch-methodologische Anlehnung an Rickert und Max Weber als Ausdruck bürgerlich-reaktionärer Gesinnung gebrandmarkt wurde, mit dem Mitgliede der Akademie der Wissenschaften Professor E. V. Tarle. Tarle stelle sich zwar in seinem Werke „Westeuropa in der Epoche des Imperialismus) auf den Klassenstandpunkt, allein: „Marxist ist nur, wer nicht nur den ökonomischen Faktor in der Ge- schichte und den Klassenkampf anerkennt, sondern auch die unaus- weihlihen Konsequenzen annimmt, die sozialistische Revo- lution und die Diktatur des Proletariats.“ )

Von Differenzen in Einzelpunkten abgesehen, 2. B. in der Beur- teilung der englischen Arbeiterbewegung und der Aussichten auf eine sozialistische Revolution vor dem Weltkrieg,“) erscheint wesentlich (und im allgemeinen zutreffend) die Charakterisierung Tarles als eines russischen Sekundanten der Entente in der Kriegsschuldfrage.™*) „Die Seiltänzerei, zu der der geehrte Historiker seine Zuflucht nimmt, um die These: „Deutschland ist der Angreifer!“ zu retten, vermag wahrlich die besten Rekorde des Goscirk”) zu überbieten.“ Zum Beweise an. Pokrovskij Tarles Darstellung der Rolle Hartwigs in der Vorbereitung des Balkanbunds, des Verhältnisses der serbi- schen Regierung zu den Verschwörern von Sarajevo,“) der russischen

88) Zapadnaja Evropa v epochu imperializma.

8°) In ver röberter Form nahm auf Grund der Erklärungen Pokrovskijs P. Gorin in der Presse den Kampf gegen Tarle auf: „Na istori¢eskom fronte“ in der Pravda Nr. 272 (4104) v. 23. Nov. 1928.

%) Po. ovskij erklärt einmal den Weltkrieg zum „Präventivkrieg der Bourgeosie, in erster Linie der englischen, gegen die sozialistische Revolution“: »Klassovaja botba i „ideologiteskij front“ in der Pravda Nr. 260 (4092) v. 7. Nov. 1928. Zu Pokrovskijs „Imperialistskaja vojna“. Sbornik statej (1915 bis 1927), Mosk. 1928 vgl. Istorik-Marxist 8, 218—220; vgl. auch das Referat in diesen Jahrbüchern N. F. III (1927), 588 f. über Pokrovskij, Der historische Sinn des Februar (Carismus und Bourgeoisie in der Februarrevolution).

ea) Tarle hat sich z. B. die Kritik von Bourgeois an der deutschen Akten- publikation kritiklos zu eigen gemacht: „Man druckt nur das, was Deutschland nützen kann. Das, was die Angriffspolitik des deutschen Imperialismus in der Wei arg charakterisiert, druckt man nicht“: Aus einem Vortrag Tarles (Archivnoe delo na zapade), Archivnoe delo 11—12 (1927), 100.

81) Gosudarstvennyj cirkus, Staatlicher Zirkus.

em Als Vorabdruck aus einem Werke, das in der Diskussion über die Kriegsursachen und den Kriegsausbruch bald eine Rolle spielen dürfte, veröffent- lihte N. P. Poletika ein Kapitel über den Mord von Sarajevo als diplo- matischen Anlaß zum Kriege: Otvetstvennost’ za mirovuju vojnu (K analizu st. 281 Versal’skogo mirnogo dogovora): Saraevskoe ubijstvo kak diplomaticeskij vod k vojne: 11, 49—82. Das Buch ist Anfang 1980 erschienen. Aus um- assender Materialkenntnis gelangt Poletika in einer Kardinalfrage der Frage der Mitwisserschaft der serbischen Regierung am Attentat zu folgenden, von der modernen russishen Forschung (Pokrovskij 7, 14; Rubinstein 11, 158 f.; Bol’$aja Sovetskaja Enciklopedija Bd. 14, 638 f.: N. G. 8 [Hartwig ) weitgehend geteilten Schlußfolgerungen: Es bestehen keinerlei Zweifel daran, daß die serbische Regierung vorher von dem bevorstehenden ‚Attentat gewußt und sich zu ihm fördernd verhalten hat. Ernsthafte Gründe liegen vor zu glauben, daß einige Agenten der russischen Regierung (der russische Gesandte Hartwig in Bel-

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Mobilmachung, des Eintritts Englands in den Krieg, des Friedens von Brest-Litovsk, des Eingreifens der Vereinigten Staaten. In dem Ab- schnitt über Brest-Litovsk sind die Akzente scharf gesetzt; in der Wahl der Ausdrücke: „Überfall Deutschlands auf Sovetrußland“, „reines Raubmanöver Ludendorff-Hoffmanns“ bricht die Bitterkeit der persönlichen Erinnerungen des Autors als Mitglied der russischen Delegation in Brest-Litovsk durch.“)

Man hat den Eindruck, daß Pokrovskijs massiver Angriff sich nicht bloß gegen die beiden Gelehrten, gegen Einzelpersonen, richtete, sondern daß zugleich die Institutionen, denen sie angehörten, das in den Kreisen der marxistischen Historiker mit unverhohlenem Mißtrauen beobachtete RANION-Institut für Geschichte und die Leningräder Akademie der Wissenschaften getroffen und blofgestellt werden sollten.“)

Das historische Institut der RANION.")

Das Institut für Geschichte der RANION (Institut istorii RANION) wurde neben anderen Forschungsinstituten durch cine Verordnung des Rats der Volkskommissare vom 4. März 1921 be-

grad und der russische Militarattaché Oberst Artamonov sicher, Sazonov und der russische Generalstab möglicherweise) ebenfalls von dem geplanten Anschlag gewußt haben. Nicht ausgeschlossen ist die Möglichkeit, daß man von dem bevorstehenden Attentat auch in Regierungskreisen Frankreichs und Englands wußte (S. 82). Für den letzten Punkt vermag Poletika jedoch außer sehr vagen Vermutungen nichts anzuführen, was die Annahme rechtfertigt. |

®3) Vgl. diese Jahrbücher N.F. IV, 288 Anm. 15.

*) Es muß anerkannt werden, daß die Redaktion dem hart Angegriffenen die Spalten der Zeitschrift zu einer längeren Entgegnung „in ihrer ganzen Un- antastbarkeit“, wie es allerdings spöttisch in einer redaktionellen Vorbemerkung hieß —, öffnete: K voprosu o načale vojny. Otvet M. N. Pokrovskomu (Zur Frage des Kriegsanfangs. Antwort an Pokrovskij): 9, 101—107. Tarles Replik eine gewundene und gekünstelte, nicht besonders glückliche Interpretation seiner von Pokrovskij beanstandeten Formulierungen bedeutet, darin kann man dem Nachwort der Redaktion beipflichten, eine Milderung seiner parteiischen Einstellung zur Frage des Kriegsausbruchs. Im Grunde ist eine Verständigung der streitenden Parteien unmöglich, da Tarles Schwankungen auf einen teilweisen Wandel seiner Ansicht über die moralische Verantwortung für den Kriegsausbruch beruhen; der Marxismus dagegen beschränkt in der Frage der Kriegsursachen seine Analyse im Kerne auf die Erkenntnis der im Imperialismus der Vorkriegszeit wirksamen nationalen, wirtschaftlichen und sozialen Faktoren, aus deren inter- nationalen Spannungen der Weltkrieg notwendig habe hervorgehen müssen. Die Diskussion über die Entstehung des Weltkrieges ist durch das Duell Pokrovskij- Tarle nicht gefördert worden.

N. Rubinstein konnte bei seiner Kritik der Behandlung des Kriegsaus- bruchs in der 2. Auflage von Tarles Buch (Otstuplenie v boevom besporjadke: 11, 157—162) mit Recht von einer Vermengung konkret-historischer Fragen mit dem Problem der moralischen Verantwortung für den Krieg sprechen. Die Be- sprechung der 2. Auflage von Tarles „Oderk novej3ej istorii Evropy (1814—1919)“ Leningrad 1929, in der Pravda Nr. 281 (8465) v. 6. Okt. 1929 zeigt, daß der Kampf gegen T. in unverminderter Schärfe andauert, ebenso eine Rez. von S. Monosov ım „Istorik-Marxist“ 13, 285—238.

DI Vgl. Anm. 21.

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gründet und war 1921—1925 der Fakultät für Gesellschaftswissen- schaften der ersten Moskauer Staatsuniversität“) angeschlossen. Bei den Lehrstiihlen für Geschichte der damaligen Fakultät für Gesell- schaftswissenschaften wurde damals die wissenschaftliche Forschung von der Lehraufgabe der Katheder abgetrennt. Im September 1925 wurde die Verbindung des Instituts mit der Universität gelöst und das Institut ein Glied der oben genannten Russischen Assoziation wissen- schaftlicher Forschungsinstitute für Gesellschaftswissenschaften.

Ursprünglich bestanden im Institut fünf Sektionen für 1. alte, 2. mitte alterliche, 3. neue, 4. russische Geschichte und 5. für Ge- schichte der außereuropäischen Gesellschaften und der Kolonial- politik; die fünfte Sektion wurde bald mit der Sektion für neue Ge- schichte vereinigt. Bei der Verschmelzung des Instituts für Sozio- logie mit dem Institut für Geschichte (1923) erhielt das Institut eine neue Sektion für Ethnologie, während bei der russischen Sektion 1926 eine Unterabteilung für neueste russische Geschichte (19. und 20. Jahr- hundert) unter dem Vorsitz von V. I. Nevskij gebildet wurde. Im Frühjahr 1928 wurden die Sektionen für russische und neue russische Geschichte vereinigt unter kollegialer Leitung von M. N. Pokrovskij (Präsident), V. I. Nevskij, A. E. Presn- jakov, S. V. BachruSin und S. A. Piontkovskij (Sekretär).*) Die Verwaltung des Instituts besorgte ein Kollegium unter dem Vorsitz von D. M. Petru3evskij, dem Direktor des Institut seit der Gründung. Jede Sektion hat ihr eigenes Präsidium. Die wissenschaftlichen Kräfte im Institut (etatsmäßige und nicht etats- mäßige) zerfielen ın wirkliche Mitglieder und in wissenschaftliche Hilfsarbeiter erster und zweiter Stufe.“

Der Zweck des Instituts war ein doppelter: Auf der einen Seite Forschungstätigkeit durch systematische Bearbeitung bestimmter e der Geschichté und Ethnologie; andererseits die Ausbildung qualifizierter Lehrkräfte in diesen Wissenschaften für die Hochschulen und wissenschaftlicher Arbeiter für Forschungsunternehmen. Die Ein- führung der ,,Aspirantur“ beim RANION-Institut für Geschichte, wodurch die Ausbildung der künftigen Hochschullehrer nicht aus- schließlich marxistischen Kräften überantwortet war, erklärte und ver- teidigte Pokrovskij einmal durch Berufung auf den Satz Lenins: „Wir müssen verstehen, den Kommunismus mit den Händen von

#0) I. Moskovskij gosudarstvennyj universitet = I- j MGU.

7) S. meine Notiz in der „Histor. Vierteljahrsschrift“ (1930), und den Nachruf von A. Kiesewetter: Sovrem. Zapiski 41 (1980).

se) 9, 212.

6) Im Frühjahr 1927 wurden in Leningrad gleichzeitig eine Zweigstelle des Instituts (Leningradskoe otdelenie instituta istorii) und ein Institut zur Erforschung des Marxismus und Leninismus ins Leben gerufen; den Vorsitz im Leningrader Kollegium und in der Sektion für russische Geschichte führte A. E. Presnjakov, die Sektion für allgemeine Geschichte wurde von E. V. Tarle geleitet. Die Lenin- grader Filiale wurde später aufgehoben und die Zweigstelle zur historischen Ab- teilung des Leningrader Instituts für Marxismus umorganisiert: 5, 278; 11, 226 f. Vgl. Anm. 48.

u 111

Nicht-Kommunisten aufzubauen . . .) Die historischen Sektionen stellten sich die folgenden Hauptaufgaben:

Sektion für alte Geschichte: Grundfragen der sozialwirtschaft- lichen Geschichte des Altertums unter besonderer Berücksichtigung der Geschichte der Agrarverhältnisse; Geschichte des Städtewesens; religionsgeschichtliche Fragen in der Epoche des Synkretismus (Urchristentum!) und ihre sozialen Voraussetzungen.

Sektion für Geschichte des Mittelalters: Grundfragen der Wirtschafts- und Sozialgeschichte der mittelalterlichen Gesellschaft:

1. Aufhellung des Begriffs „Feudalismus“ als einer soziologischen Kategorie durch Untersuchung der konkreten Besonderheiten der Feudalordnung in verschiedenen Ländern des mittelalterlichen Europa unter Heranziehung des Materials über feudale Verhältnisse in außereuropäischen Ländern, bei heutigen Primitiven und bei Völkern des Altertums; |

2. Untersuchung der Agrarverhältnisse und des Städtewesens im Mittelalter, insbesondere Verfolgung der Anregungen von Dopsch.

Sektion für neue Geschichte: Die Entstehung des Kapitalismus; Sozialgeschichte Englands, Frankreichs und Deutschlands im 18. und 19. Jahr- hundert; internationale Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert; Geschichte der ersten und zweiten Internationale.

Sektion fürrussishe Geschichte: Vorlina-Wirtschaft und Leib- eigenschaft; Geschichte des Handels und der Industrie vom 17.—20. Jahrhundert; Geschichte der äußeren Politik Rußlands im 18. und 19. Jahrhundert; Geschichte der revolutionären Bewegungen vom 17.—20. Jahrhundert; Herstellung eines historisch-geographischen Atlasses.

Auf die Institutstätigkeit die Themen der Vorträge 1927 bis 1929, das Programm der Kollektivarbeit 1928—1929, Publikationen usw. kann hier nicht näher eingegangen werden.“)

Von den im „Istorik-Marxist“ beprochenen Veröffentlichungen des Instituts“) wurden als Mängel das Fehlen einer „bestimmten Konzeption“, das Vorhandensein reaktionärer Prinzipien und die Schwäche der soziologischen Analyse betont;™) Petrulevski; ‚wurde in seinem Nachruf für Savin eine Wendung Ber verübelt, die dem Verstorbenen als Vorzug die Haltung des Wissenschaftlers nach- rühmte, der die Wissenschaft nur um ihrer selbst willen getrieben habe;“) rund heraus wurde geagt: „Die allgemeinen Ideen, die

100) Vgl. M. N. Pokrovskij, O nautno-issledovatel’skoj rabote istorikov: Pravda Nr. 69 (4197) v. 17. März 1929.

101) Vgl. E. Morochovec: 5, 276—278; 6, 206—802; 9, 204— 212.

163) Trudy instituta istorii, Sbornik statej I (Pamjati A. N. Savina), 1926; Uč. zapiski II (1927): 5, 211—217; vgl. auch Pečat’ i revoljucija 1927 H. 2 S. 151 bis 158 (P. Preobraženskij). Über dieselben Bände vgl. das Urteil der Emigration (A. Kiesewetter und P. Bicilli): Sovrem. Zapiski 84 (1928), e 4 ;

193) S, 210, 214.

168) S, 210. Die absolute Gegnerschaft der marxistischen Wissenschaft gegen einen Begriff der „reinen“ Geschichte und der Wissenschaft „um ihrer selbst willen“ kommt in der folgenden Kußerung V. D. Aptekars in der Petrulevskij- Diskussion drastisch zum Ausdruck: „Mir kommt es eigentiimlich genug vor, man in den Mauern der Kommunistischen Akademie, auf einer Sitzung der marxistischen Historiker Zeit mit der en der Ansicht des Gen. Neusychin verliert, es könne am Ende des dritten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts einen Historiker geben, der von der objektiven Wirklichkeit völlig abgewandt gar

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historischen Themata und Konzeptionen der besprochenen Autoren lassen sich sozusagen mit den Prinzipien der marxistischen Methodo- logie nicht messen; sie vom Standpunkt der letzteren kritisieren, bedeutet die idealistische Konzeption der russischen Geschichte kriti- dieren“; ) trotz alledem wurde freimütig als unzweifelhaftes Ver- dienst der Mehrheit der Aufsätze Überfülle an neuen, bis dahin nicht veröffentlichten Quellen, die äußerste Sorgfalt in der Bear- beitung des dokumentarischen Materials und die große, durch um- fassende Heranziehung der einschlägigen Literatur bekundete Gelehr- samkeit der Autoren anerkannt. Bie „Duldsamkeit“ der marxisti- schen Kritik gegenüber den „Sammlern historischer Fakten“, als die ihnen die Mehrzahl der nicht- marxistischen RANION- Historiker galt, besteht eben darin, daß sie, wie Pokrovskij am Beispiel von A. I. Zaozerskij „Caf Aleksej Michajlovič in seiner Wirtschaft‘) hervorgehoben hat, keineswegs die Benutzung der historischen Fakten eines selbst „1000 km vom Marxismus entfernten“ Sammlers ver- schmäht, wenn sie nur nicht verfälscht seien und zur Unterstützung der marxistischen Auffassungen verwandt werden können.“)

Trotz der starken Vertretung der marxistischen Forschung in der Leitung des Instituts machte sich in den letzten zwei Jahren eine wachsende Unzufriedenheit in marxistischen Kreisen mit dem Er- scheinen nicht- marxistischer Untersuchungen von Institutsmitgliedern geltend.“) Seitdem die erbitterte Diskussion um Petrusevskijs „Skizzen aus der Wirtschaftsgeschichte Europas im Mittelalter“ die Geschlossenheit der Phalanx der marxistischen Historiker einer harten Belastungsprobe unterworfen hatte, wurde von marxistischer Seite darauf hingearbeitet, einen deutlichen Trennungsstrich zwischen der marxistischen Forschung und dem RANION-Institut für Geschichte als Sitz und Hort der „wissenschaftlichen Reaktion“ zu ziehen. Diese Bestrebungen sipfelten in der Begründung des Historischen For-

. i der Kommunistischen Akademie im Frühjahr Die marxistische Geschichtswissenschaft und das Ausland.

Die russische marxistische Geschichts wissenschaft, deren Wege in der ersten Dekade der Räterepublik das Ausland nur wenig

nicht mit dem politischen Leben verbunden ist, der ausschließlich in den Reichen (v empirejach) des reinen Wissens schwebt auf der Suche nach der absoluten Wahrheit —“: 8, 115 f. 106) S. 217. 186) Caf Alekskj Michajlovič v svoem chozjajstvé = Zap. istoriko-filol. fakul’teta imp. Petrogradskago universiteta Bd. 185 (1917). 1,4 108) Vgl C. Friedlands Anzeige der von Mitgliedern des RANION- ituts bearbeiteten ,,Chrestomatija po social’no-ekonomileskoj istorii Evropy v novoe i novejice vremja. Pod V. P. Volgina (1929): 11, 184—187; S. 185: „Soll die Chrestomathie den Studenten helfen, sich von der Diktatur der 5 „dogmatischen“ Schemata zu befreien” Vgl. auch Anm. 823.

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beachtet hatte, trat im Beginn ihres zweiten Jahrzehnts durch die Russische Historiker-Woche in Berlin vom 7. bis 14. Juli 1928 und die mit ihr verbundene Ausstellung historischer Literatur, wenig später durch die Teilnahme einer russischen Historikerdelegation am VI. Internationalen Historikerkongreß in Oslo „délégation, celle qui a fait le plus sensation, parce Ou on s’attendait à peine à la voir *) vor die Veltöffentlichkeit. ) „Berlin“, „Oslo“ und durch die I. marxistische Historiker- konferenz am Ausgang des Jahres 1928 „Moskau“ gelten als Sym- bole für den e der Sovet wissenschaft“, demgegenüber Symp- tome des unleugbaren und unaufhaltsamen Verfalls und Niedergan („zakat“, ,,upadotnidestvo’) der bürgerlichen Geek duswinen dial aufgezeigt werdan. )

Der Niedergang der bürgerlichen Geschichts wissenschaft ist nur eine Teilerscheinung im Bankrott der bürgerlichen Kultur überhaupt. Kein Geringerer als Kalinin, der Präsident des Zentral-Exekutiv- Komitees der Union, hat im März 1929 in einer Rede vor dem Unions-Kongreß der Arbeiter für Bildungswesen (Vsesojuznyj s'ezd rabotnikov prosvestenija) über die äußere und innere Lage des Staates in diesem Sinne einen Vorgang der Zeitgeschichte, die Lateran-Ver- träge vom 11. Februar, interpretiert. Die offizielle materialistische“ Wertung jenes Ereignisses, die schon als einzigdastehende Kundgebung eines fremden Staatsoberhauptes in dor italienischen Konkordatsfrage Beachtung verdiente, gebe ich im Anhang in wörtlicher Ubersetzung als a fiir die ganz offizielle Lehre vom ,,Untergang des Abend- andes“.

Warschau. Als ersten Versuch, die russischen Historiker für die inter- nationale Zusammenarbeit zu gewinnen, ließ 1927 das Warschauer Organisationskomitee für die Konferenz der Historiker Osteuropas

106) M. Lhéritier, Le Vie congrès internat. des sciences historiques: Revue de la Société des études historiques Bd. 94 (1928), 840—874.

100) Vor dem Auftreten russischer Historiker in Berlin und Oslo liegt eine engere Fühlungnahme zwischen den skandinavischen Archivverwaltungen und dem Centrarchiv, die im März 1928 auf einer Konferenz in Stockholm zur Einsetzung einer internationalen Kommission zur Erforschung der Beziehungen zwischen Skandinavien und Rußland führte; näheres in meinem Aufsatz über das russ. Archivwesen in der Archival. Zeitschr. Bd. 89 (1960), 806.

1) Z. B. Gorin 11, 219; Mine 11, 277.

116) S. 197. Die slavophile und die russische sozialistische Heilslehre sprechen dem Westen gegenüber die gleiche Sprache: „Lenin hatte Recht, als er sagte, d die Europäisierung unseres Landes im Grunde genommen mit der Oktober- revolution begonnen habe. Doch indem wir von der Europäisierung sprechen, geben wir uns davon Rechenschaft, da ie europäische Kultur durch und durch verderbt ist. Wir sckicken uns nicht an, Europa im Schlepptau zu folgen. Wir gehen einen anderen Weg. Die e Kultur nehmen vir kritisch an und werfen aus ihr alles, was untauglich und schädlich ist, heraus“: Aus einer Rede Luna K arskijs auf dem 14. „All- russischen“ Rätekongreß. Pravda Nr. 110 (4244) v. 17. Mai 1929.

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und der slavischen Linder Einladungen an wissenschaftliche Institu- tionen auch der Sovetunian ergehen. Dieser Schritt stieß wohl auf einen Wink der Regierung auf kühle Ablehnung. An der Konferenz, die vom 26. bis Juni 1927 in Warschau und Krakau tagte und einen Verband der historischen Gesellschaften Osteuropas gründete, nahmen keine Vertreter aus der Sovetunion teil. Am Eröffnungstage der Konferenz begründete A. Boreckij in den vestija ) das Fernbleiben der Sovethistoriker ar überzeugend damit, es sei zu befürchten, daß auf der Konferenz die unbedingt reaktionäre“ panslavistische Idee Macht gewinne; in der Organisation der osteuropäischen Geschichtsforschung wolle Polen sich den Vorrang sichern, um ihn in politische Propaganda umzusetzen; vor allem aber mache die Einladung von russischen Emigranten den Historikern der Sovetunion die Beteiligung an der Veranstaltung unmöglich. In der Schlußsitzung der Konferenz wies M. Handelsman den Vorwurf, Polen strebe in den Wissenschaften nach einer Suprematie, entschieden zuruck.

In der polnischen Initiative zur Einberufung der Konferenz kam (wie 1928 in dem erfolgreichen Bemühen, daß der Siebte Internat. Historikerkongreß in Warschau stattfinden solle) das gehobene Selbst-

tsein der befreiten Nation und das Bedürfnis der polnischen Vissenschaft nach internationaler Geltung zum Ausdruck; der Vor- gang konnte gerade bei Russen die Erinnerung an den 1903/04 von

Russischen Akademie der Wissenschaften vorbereiteten I. Kon- greß der slavischen Philologen und Historiker wachrufen, der damals „en vue des circonstances politiques“ hatte abgesagt werden müssen..)

Die russische Publizistik verfolgt bei der dauernden Spannung zwischen Polen und der Sovetunion die Tätigkeit des Ukrainischen Instituts in Warschau und des am 23. Februar 1930 eröffneten Ost- europa- Instituts in Wilna) mit unverhohlener Feindseligkeit. Zur Wl ie des Wilnaer Instituts: Erforschung des Gebiets und der Völkerschaften zwischen dem Schwarzen und dem Baltischen Meer, schrieb D. Zaslavskij in einem gehässigen Artikel in der Pravda***) folgenden Kommentar: „Vom Meer zum Meer —, das ist die alte traditionelle Lösung der polnischen kriegerischen Szlachta, die Losung der Eroberung von Gebieten und Staaten. Unter dieser Losung erwuchs das historische polnische Köni und unter der gleichen Losung ging es in Trümmer.“ Erst die Zukunft kann er-

1108) S'ezd istorikov v Varšave: Izvestija Nr. 148 (8077) v. 26. Juni 1927.

116b) Conférence des historiens des Etats de l’Europe Orientale et du Monde slave. Varsovie, le 26—29 juin 1927. Il-me partie: Compte-rendu et communi- cations (Varsovie 1928), 41; s. auch: I. M., Die Konferenz der Historiker Ost- europas und der slavischen Länder, in der Prager Presse v. 9. Juli 1927.

110c) Vgl. Pervyj s’&zd slavjanskich filologov i istorikov. I. Materialy po organizacii s’ 1. avgust 1908—maj 1904. (St. Pbg. 1904.)

1104) Vgl. Osteuropa 5 (1928—29), 284.

419) Vedra so sporami...: Pravda Nr. 6 (4451) v. 6. Jan. 1980.

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weisen, ob in Wilna ein Gegenstück zum „Westslavischen Institut” der Universität Posen und dem ,,Baltischen Institut“ in Thorn ge- schaffen worden ist, deren Tätigkeit wiederholt die deutsche Wissen- schaft zu kritischer Abwehr genötigt hat.

Berlin.

Die Berliner Russische Historiker-Woche gab nach Jahren der Isolierung dem Auslande zum ersten Mal eine Anschauung vom Stand der Geschichtsforschung in der Sovetunion; sie war in den Jahren nach dem Kriege neben der Russischen Naturforscher-Woche des 1927 und der Woche der deutschen Technik in Moskau im Januar 1929 die eindrucksvollste Kundgebung zur Erneuerung der inter- nationalen wissenschaftlichen Beziehungen Deutschlands nach dem europäischen Osten. In der Veröffentlichung der 5 einer Reihe hervorragender marxistischer Historiker und von Gelehrten der Vorkriegszeit, die neben den Vertretern der offiziell herrschenden Lehre des historischen, dialektischen Materialismus ohne doktrinäre Bindung weiter im Geiste und mit den Methoden der westeuropii- schen historischen Forschung arbeiten, stehen Namen der beiden Richtungen paritätisch nebeneinander.

Ich beschränke mich hier auf Angabe der behandelten Themen: M. N. Pokrovskij, Die Entstehung des russischen Abeolutismus; 112)

M. J. Ja vori ky j, Die Ergebnisse der ukrainischen Geschichtsforschung in den Jahren 1917—1927; ders., Westeuropäische Einflüsse auf die Ideengestaltung der sozialen Bewegung in der Ukraine im zweiten und dritten Viertel des 19. Jahrhunderts ;112)

V. V. Adoratskij, Das Archivwesen in der Russischen Föderativen Sovet- Republik; 110)

S. F. Platonov, Das Problem, des russischen Nordens in der neueren Historio- graphie ; 115)

V. A. Jurinec, Der soziale Prozeß im Spiegel der ukrainischen Literatur des 20. Jahrhunderts: 10)

D. N. Egorov, „Zur Kritik der mittelalterlichen Geschichtsschreibung West-

europas 110) und „Das Bibliothekswesen in der Union der Sozialist. Sovet- Republiken“; ub)

111) Aus der historischen Wissenschaft der Sovet- Union. Vorträge ihrer Ver- treter während der „Russischen Historiker woche“, veranstaltet in Berlin 1928 von der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas. Hrsg. von O. Hoe tz ch (= Osteurop. Forschungen N. F. Bd. 6), 1929.

113) S. 1—82.

118) S. 98—105 und 88—97.

118) S. 88—57.

115) S, 189—199; russ. u. d. T. „Problema russkogo severa v novejšej istorio- grafii“: Letopiś zanjatij archeografičeskoj komissii za 1927—1928 gody = Vyp. 85 (1929), 105—114; von Pokrovskij in seiner Rede zur Eröffnung des om- munistischen Historischen Instituts als ein „halb-belletristischer Aufsatz“ bezeichnet: „Istorik-Marzist“ 14 S. 7. Vgl. oben Anm. 8.

116) Nicht veröffentlicht.

116a) Nicht veröffentlicht.

116b) S. 79—87.

116

B. PaSukanis, Cromwells Soldatenräte;11%)

M. Dubrovskij, Die Stolypinsche Agrarreform;11)

K. Ljubavskij, Die Besiedelung des großrussischen Zentrums ;

IL Pik eta, Die Agrarreform in den östlichen Bezirken des Litauisch - Weiß

i Staates in der zweiten Hälfte des 16. und zu Beginn des 17. Jahr-

hunderts,11%8)

In der deutschen und in der russischen „offiziellen“ Bericht: erstattung über die Russische Historiker-Woche treten total ver- schiedene Einschätzungen der Veranstaltung hervor, die auch dann, wenn man bei den russischen Äußerungen die unentbehrliche agitatorische Färbung in Anschlag bringt, auf deutscher Seite einiges Befremden hervorrufen müssen.

Berichte des Generalsekretärs der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas, auf deren Initiative die Veranstaltung zurück- ging, beschränkten sich rein referierend darauf, im Sinne der Veran- stalter die wissenschaftliche Bedeutung der Konferenz und der damit verbundenen Ausstellung russischer historischer Literatur zu betonen und vermieden es peinlich-korrekt, auf die politisch gefärbte Be- richterstattung eines Teils der deutschen und in der ausländischen Presse einzugehen.“

118c) S. nr 11 118) S. 106—127; vgl. dazu jetzt: M. K. Ljubavskij, Obrazovanie osnovnoj gosudarstvennoj territorii velikorussko) narodnosti (Akademija Nauk SSSR. Arch f. Komissija). Leningrad 1929.

1180) S. 158—188.

110) Ober die Historikerwoche vgl. „Osteuropa 8 (1927—28), 748 f. ro- ES und Heft 11 (August 1928) des gleichen FA cc ie Die russische

istorikerwoche und die Ausstellung der russischen geschichtswissenschaftlichen

Literatur 1917—27 in Berlin“: S. 745—751 Rede von O. Hoetzsch E auch seine Einführung der oben Anm. 111 genannten Veröffentlichung), 755—759 Rede von Pokrovskij in der Eröffnungssitzung (sympathisch wirkte die achtungs- volle Nennung Th. Schiemanns, des Begründers der osteuropäischen histo- rischen Arbeit an der Berliner Universität; sie konnte den überraschen, der Pokrovskijs Urteil über Schiemanns Nikolaus-Biographie kennt: „samoe černo- sotennoe osvestenie, kakoe možno pridumat“: Pečat’ i Revoljucija 1928 H. 8 S. 102); 751—764 H. Jonas, Bericht über die Tagung; ders., Die Russ. Historiker- woche: Histor. Ztschr. 189 (1928), 220 f.; R. Foerster, in der Histor. Viertel- jahrsschrift 24. Jg. (1927—28), 675 f.; R. Salomon, Die Russ. Historiker-Woche in Berlin: Hamburger Fremdenblatt Nr. 199 v. 19. Juli 1928. Über den an die Berliner Woche anschließenden Besuch einiger russischer Historiker in Hamburg: Osteuropa 4, 145 f.

I. Minc, Marksisty na istoriteskoj nedele v Berline i VI meZdunarodnom kongresse istorikov v Norvegii: Istorik-Marxist 9, 84—96; E. B. Pa$ukanis, Nedelja sovetskich istorikov v Berline: Vestnik Komakad. 80 = 1928 H. 6

delo 15 1 H 2 S. 88—88; M. Javorskij, Nimec’kij „tiZdeA- radjahskoi nauki“: Prapor marksizmu 4 = 1928 H. 8 S. 229—289.

Zur Ausstellung russischer historischer Literatur aus dem Jahrzehnt 1917 bis 1927: M. Pokrovskij, Vystavka sovetskich istori¢eskich knig i dokumentov v Nem. Akad. Nauk: Pravda Nr. 168 (8905) e 15. Juli 1928. „Die Ge- schichtswissenschaft in Sowjet-RuSland 1917—1927.“ Bibliogr. Katalog, herausg. von der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas. Mit einem Vorwort von Prof. O. Hoetzsch (Berlin 1928), dazu die Besprechung von A. N. Makarov in diesen Jahrbüchern N. F. 5 (1929), 260—263.

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In welchem Sinne die russische Delegation sich als politischen Faktor auffaßte und der Historikerwoche politische Bedeutung bei- legte, geht besonders klar aus einer Äußerung im Bericht von I. Minc im „Istorik-Marzist“ hervor, die ihre Spitze gegen die deutsche Sozialdemokratie richtet; von ihr, die im Wahlkampf kurz zuvor einen großen Erfolg errungen hatte und zur Regierung gelangt war, glaubt der Officiosus feststellen zu können: „Die Sovet- Historikerwoche störte ihre Orientierung zur Entente als eine un- angenehme Erinnerung der Entente an die Möglichkeit einer An- 1 zwischen Deutschland und der Sovetunion."

Noch weiter gehen Äußerungen, die M. N. Pokrovskij, der Führer der russischen Delegation in Berlin und Oslo, dem I. marxistischen Historikerkongre in Moskau getan hat und die in gewissem Widerspruch stehen zu den Mitteilungen über ein Inter- view durch den Berliner Korrespondenten der „Izvestija“.“) In seiner Eröffnungsansprache am 28. Dezember 1928 erklärte Pokrovskij über die Berliner Veranstaltung Folgendes:“) „Wir selbst drängen uns nicht auf, aber man „zieht“ uns mit Gewalt, mit allen Mitteln zum Auftreten in Westeuropa; so war es mit der Woche in Berlin, so war es mit Oslo. Für die bürgerlichen Historiker war die Einladung unserer Delegationen ein Mitrel, das interessante Tier mit eigenen Augen zu sehen, “) für uns eröffnete sich damit die Möglichkeit zu breiter ideologischer Einwirkung nicht nur auf das europäische Proletariat, sondern auch auf die ihrer Natur nach ewig schwankenden kleinbürgerlichen Schichten. Taktisch hat das unge- heuere Bedeutung, da nach den Vorten Lenins an der sozia- listischen Revolution nicht nur proletarische, sondern auch alle mit dem Kapitalismus unzufriedenen Gesellschaftsgruppen teilnehmen, darunter das durch seine Masse starke Kleinbürgertum. Um diese taktische Aufgabe erfolgreich zu Ende zu führen, ist jedoch nötig: 1. die bürgerliche Vissenschaft gut zu kennen, 2. in den eigenen Reihen völlige Einheit zu bewahren. . In dem kompakten Auf- treten des kämpfenden Marxismus auf der europäischen Arena liegt der historische Sinn von Berlin und Oslo.“

Diese öffentliche Erklärung bekennt mit Stolz in charakteristi- scher Weise die russische marxistische Geschichtswissenschaft als ein

1) Minc 9, 85. Eine Außerung von Palukanis, der sich wunderte, daß im „Vorwärts“ vom 14. Juli 1920 über seinen Vortrag »Cromwells Soldatenräte“ trotz seiner Ausfälle gegen Bernsteins Auffassung der englischen Revolution objektiv berichtet wurde, verdient in diesem Zusammen- hang angemerkt zu werden: Vestnik Komakad. 80 1928 H. 6 S. 244

131) L. Kajt, Tov. Pokrovskij o nedele sovetskich istorikov: Izvestij Nr. 165 (8890) v. 18. Juli 1928 (auch SEET 8, 768); vgl. ferner den Berich t Kajts in den Izvestija Nr. 156 (8890) v. 7. J

132) Istorik-Marxist 11, 216; das Zitat gibt den genauen Sinn von Pokrovskijs Erklärung; den ausführlicheren Wortlaut nach dem Stenogramm s. Trudy I, 5f.

CH Vgl. hierzu auch Pokrovskij, „Novye“ tetenija v russkoj istori¢eskoj literature: 7, 4

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Instrument jener Politik, die an der Herbeiführung der Welt- revolution arbeitet; derartige Sätze decken prinzipielle Wesens- unterschiede der deutschen und der marxistischen historischen Arbeit auf und dürfen nicht unbeachter bleiben. Bei aller gebotenen Zurück- haltung, die Tragweite von Pokrovskijs aus besonderem Anlaß agitatorisch-rhetorisch möglichst wirkungsvoll zugespitzten Formu- lierungen zu überschätzen, bleibt es tief bedauerlich, daß der itische Stempel, den die politisch akzentuierten russischen ußerungen der Berliner Veranstaltung aufdrücken, die ungastliche Frage der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ ins Gedächtnis zurück- ruft, die einen Mißton in die Harmonie der Berliner Tage brachte und der man in deutschen wissenschaftlichen Kreisen damals und für später nicht eine Spur Berechtigung gewünscht hat.“) Die russischen Äußerungen werfen einen Schatten auf die Ver tung; aber trotz dieser Feststellung bleibt es wahr, daß die wissenschaftliche Beschäfti- gung mit Rußland durch die Russische Historikerwoche bereichert worden ist und neue Impulse empfangen hat. Die damals teils neu angebahnte, teils wieder belebte persönliche Fühlungnahme wirkt in einem fruchtbaren Gedankenaustausch zwischen den Historikern der beiden Länder nach; auch wer den Marxismus, die materialistische Geschichtsauffassung, nicht als die allein berechtigte historische An- schauungsweise anerkennt, konnte sich dem Ernst und dem Eifer, mit dem eine universal gerichtete marxistische historische Schule in der Sovetunion arbeitet, nicht verschließen. Die Historikerwoche wird in der Geschichte der wissenschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Rußland als eine „historische Woche“ fortleben.**®)

Oslo.

Den „unsichtbaren politischen Einschlag, der überall vorhanden war“ (W. Goetz) und der dem Kongreß nah Rein dc e- Blochs Urteil den Stempel einer Zusammenkunft der Nationen statt der einzelnen Gelehrten 8 empfanden die Russen anders: Sie standen auf dem Kongreß a der auch ihnen dort nicht verborgen bleibenden politischen Rivalitäten der Nationen unter- einander und sahen in Oslo nur den Graben, der Sovet-Rußland vom ier tibrigen Europa trennt. Es gab in Oslo keine Darbietung,

i der sie nidit offen oder versteckt Spitzen gegen den

138) (G. W.), Die russische Historikerwoche. Gesamtbild und Ergebnis: Deutsche Allgemeine Zeitung Nr. 826 v. 14. Juli 1928; vgl. die Erwähnung des Artikels in Pokrovskijs Rede an seinem Geburtstag, unten Anlage 2 (S. 192).

135) Nach einer Äußerung Pokrovskijs: Archivnoe delo 15, 88.

198) Vgl. V. Mommsen, Die Historiker tagen: Vossische Zeitung Nr. 208 v. 81. August 1928; W. Goetz, Der internat. Historikerkongreß in Oslo: Frank- furter Zeitung Nr. 658 v. 1. Sept. 1928; H. Reincke-Bloch, Der sechste internat. Historikerkongreß zu Oslo: Histor. Zeitschrift 189 (1928), 818—822. M. L’héritier: s. oben Anm. 108a; F. L. Gans hof, Le congrès historique internat. d’Oslo: Revue Belge de Philologie er d’Histoire 7 (1928), 1686-1602: M. P. Renouvin, Le sixiénie congrès internat. des sciences historiques: 5 1. oct. 1928; besonders drastisch und sarkastisch ist die

ng Pokrovs ki j: Tru iy I, 8. :

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Marxismus glaubten heraushören zu können.““) Immer wieder stößt man auf die Behauptung: „Die Bourgeoisie, die ihre Kräfte für diesen Kongreß mobilisierte, ließ auf ihn natürlich nicht Leute, die dem Marxismus mehr oder weniger nahe stehen, wie Mathiez u. en Seiner Zusammensetzung nach sei Oslo der reaktionärste Kongre gewesen; „ganze Sektionen wurden nur von Pfaffen gebildet.

In den russischen Berichten erscheint die russische Delegation zu sehr heroisiert als ein kleines Häuflein einer Welt von Feinden gegenüber. In Wirklichkeit lag dem Kongreß, der Pokrovskij ins Präsidium gewählt hatte, jegliche Aggressivität gegen die kom- munistischen Gelehrten fern; vergeblich bemühte sich ein russischer Emigrant von Weltruf, der jetzt an der Yale-University wirkende Professor M. I. Rostovcev, die öffentliche Meinung Norwegens und die Kongreßteilnehmer gegen die russische Delegation einzu- nehmen.“)

137) „Etwas gegen den historischen Materialismus bei jeder Gelegenheit zu sagen, ist anscheinend für den europäischen Historiker, der etwas auf sich hält, ebenso unerläßlich, wie auf dem Bankett im Frack oder Smoking zu erscheinen“: Pokrovskij, Klassovaja bor’ba i ,,ideologiteskij front“: Pravda Nr. 260 (4092) v. 7. Nov. 1928. Indem Minc herausfand, daß ein großer Teil der Redner in Oslo dem schwach vertretenen Marxismus Schläge zu versetzen suchte, sah er darin einen Beweis (neben vielen anderen), „wie ak die wissenschaft- lichen Positionen der idealistischen Geschichtsschreibung sind, wenn sie die ganze Kraft ihrer Beweise nur zum Kampf gegen die marxistische Methode ver- wandte“: 9, 95.

Was der Marxist Halvdan Koht, dessen taktvollem Verhalten als Vor- sitzendem des Kongresses bei der Attacke des Professors Rostovcev gegen Pokrovskij die Russen hohe Anerkennung zollen, in seinem Vortrag: „Die Be- deutung des Klassenkampfs in der neueren Geschichte“ „Résumés“ (siehe Anm, 188) S. 145; engl.: „The importance of the class struggle in modern history“ im Journal of Modern History I, 8 (1929) und II, 1 (1980) bot, war nach revolutionir-marxistischhem Urteil „eine Einführung ins Studium des poli- tischen ABC“ (vvedenie v izulenie politgramoty“), mehr nicht (ebda.).

138) Evg. Krivolein a: Izvestija Nr. 299 (8588) v. 25. Dez. 1928.

120) Ebenda.

130) Vgl. Samuel N. Harper, A communist view of historical studies: The Journal of Modern history I, 1 (März 1929), 77 f.

Dem 1925 von der „Akademie für Geschichte der materiellen Kultur“ ver- legten Werke Rostovcevs ,,Skifija i Bosfor“ zollte sein Kritiker im „Istorik-Marxist“, S. N. Bykovskij, eingangs zwar widerwillig Anerkennung als einer für die weitere Erforschung der Skythenfrage grundlegenden und völlig unentbehrlichen Zusammenfassung, einem „typischen Beispiel bürgerlicher Gelehr- samkeit“ (er hätte sich sonst in Widerspruch zur autoritären Meinung des als Begründers einer materialistishen Sprachwissenschaft gefeierten Akademikers J. Marr setzen müssen). Allein mit der verfänglichen Frage: „Kann Rostovcev als ein weißer Emigrant und Feind der Sovetunion frei von politischen Tendenzen sein? vollzog er sodann den Übergang aus der wissenschaftlichen in die poli- tische Ebene und schrieb diesem nach Oslo bestgehaßten Vertreter des Emi- grantenprofessorentums die fällige „vernichtende Kritik“ vom Standpunkt der „marxistischen Ideologie“: 11, 180—182.

Das Urteil A. Kiesewetters in der Rul’ („Chlestakov3£lina“, Rez. des I. Bandes der ,,Trudy pervoj vsesoj. konferencii istorikov-marksistov) Nr. 2788 v. 22. Jan. 1980 über die Sovethistoriker in Oslo ist ungerecht; wenigstens haben 3 und Volgin nach Auferungen bürgerlicher Gelehrter dort Anerkennung gefunden.

120

Wenn in einer Vorschau auf Oslo H. Steinacker scharf pointiert geäußert hatte, Geschichte sei nichts als die Politik der Ver- gangenheit, “) so leugnete nach Oslo ein kommunistischer Historiker, C. Friedland, im „bürgerlichen“ Verhältnis von Geschichte und Politik geradezu den nach rückwärts gerichteten Zug: er fand, daß für das Bürgertum die Geschichtswissenschaft, die sich ihrer „Un-

eilichkeit brüste und gern den „klassenlosen Charakter der

issenschaft“ betone, in Wirklichkeit stets Politik sei und zwar eine gegen die Revolution der Zukunft gerichtete Politik.“) Der Marxismus dagegen sei ehrlicher; hier sei die Geschichtswissenschaft zur Politik erklärt, hier werde die Geschichte als eine scharfe Waffe des Klassenkampfes gebraucht.

Der Kampf der alten nicht-marzistischen und der neuen marxistischen Richtung in der russischen Geschichtswissenschaft trat in Oslo dadurch in Erscheinung, daß Pokrovskij, der Führer der russischen Delegation, als Präsident der durch ihn vertretenen Kom- munistischen Akademie die Vertretung der Sovetunion im „Comité international des sciences historiques“ beanspruchte und damit die in Oslo nicht vertretene Akademie der Wissenschaften, die bis dahin durch ihren ständigen Sekretär S. F. Oldenburg und durch Professor Tarle Sovet-Rußland im Komitee repräsentiert harte, verdrangte. Daß die Sovetunion im Internationalen Komitee künftig marxistisch vertreten sein werde, hob Pokrovskij in seinem Bericht vor dem Präsidium der Kommunistischen Akademie über Oslo am 15. Dezember 1928 besonders hervor;“) politische Be-

181) H. Steinacker, Der Internat. Historikertag in Oslo: Köln. Zeitung Nr. 484 v. 9. August 1928; s. auch St. Wedkiewicz, Przed kongresem historyków w Oslo: Przegląd Współczesny 7. Jg. Bd. 26 (1928), 105—128.

182) O bor’be za marksistskuju istori¢eskuju nauku v SSSR.: Pod znamenem marksizma 1929 Nr. 2/8 S. 108.

133) O poezdke v Oslo: Vestnik Komakad. 80 = 1928 H. 6 S. 281—287; an russischen Berichten über Oslo sind mir außerdem bekannt: I. Minc, Mark- sisty na 5 nedele v Berline i VI meZdunarodnom kongresse istorikov v Norvegii: Istorik-Marxist 9, 84—96; M. Ja vor ſkij, Sostij miZnarodnil kongres istorienij: Prapor marksizmu 5 = 1928 H. 4 S. 216—224; N. Lukin, Šestoj internacional’nyj kongress istorikov: Pravda Nr. 215 (4047) v. 15. Okt. 1928, ins Englische übersetzt von S. N. Harper: A communist view of historical studies, s. oben Anm. 180. Im „Istorik-Marxist“ gab ferner V. Ado- ratskij (Archivnoe delo na VI kongresse istorikov: 9, 97—100) eine kurze

fassung seines Vortrages iiber die Grundprinzipien der Archiv-Organi- sation in der RSFSR und über die wichtigsten Bestände der russischen Archive wor der Osloer Sektion fiir Hilfswissenschaften, Archive und Publikationswesen; s. auch Archivnoe delo 15 (1928), 60 f. und 16 (1928), 60—62.

In der Veröffentlichung des Organisationskomitees des Kongresses: „Vle

congres international des sciences historiques. Résumés des communications résentés au congrès Oslo 1928" finden sich Résumés folgender von Mitgliedern r russischen Delegation in Oslo gehaltener Vorträge: V. V. Adoratskij, Zentralarthiv RSFSR. (S. 19f.); B. Bogaevskij, Die Götte der Töpferei des minoischen Kreta (S. 80 f.): N. A. Dubrovskij, Die Bauernbewegung in Rußland im 20. Jhdt. (S. 144); M. Javorskyj, Westeuropäische Einflüsse auf die Ideenformung der

121

deutung schreibt er der Beteiligung der Russen an den Arbeiten der Sektion für Geschichtsunterricht auf dem internationalen Historiker-

schichtsunterrichts nahm an der Tagung des Comité in ti sciences historiques in Venedig (4.—9. Mai 1929) C. Fried-

Man wird den von Pokrovskij in Berlin und Oslo ange- kündigten russischen Aktenpublikationen, den „Dokumenten zur

Geschichte des im es“ (Dokumen po istorii ees bond vojny) und einer russisch Parall publikation zur 99 n O.

Politik im imperialistischen talter“ mit großen Erwartungen und doch zugleich mit einer gewissen Reserve entgegensehen müssen.) »Die Archive bilden ein politisches Waffenarsenal, mit dem wir noch lange Jahre den politischen Kampf mit den Weiß ardisten führen werden, indem wir ihre Ve angenheit enthüllen uad werden, die Geschichte und stellen. , Nicht in Berlin und nicht in Oslo, aber auf der Moskauer

Tagung wurde yon Maksakov betont, man werde den patriotischen“ publikationen Deutschlands und Englands eine Dokumentensammlung entgegenstellen, auf die sich die marxistisch-

sozialen Bew in der Ukraine im zweiten und dritten Viertel des 19. Jahrhunderts Be. 290 f.) und Lex Josephoviciana (S. 296); V. A. Ju ee jisuptstrdmungen in der zeitgendssischen ukrainischen Lite-

E. A. Kos’mins ij, English Village in the thirteenth century (270f.); M. N. Pokrovskij, Les origines de Pabsolutisme russe au point de vue du matérialisme historique (7 f.); P. Kurz obrakenskij, e realistic features in early religions belief V. P. Volgin, Sozialismus und Egalitarismus in der Geschichte der Sozial- theorien (280 f.). ie von A. S. Fedorovskij „Age de pierre et ige de bronze en

Ukraine d’aprés de nouvelles données“ (s. 62) und „Monuments de l’époque de

la transmigration des peuples en Ukraine“ (S. 126) —, Hrulevékyj "Ukraine et la situation politique de l'Europe Orientale dans la moitié du VIIe siècle, S. 187 f.) und E. Tarle (La classe ouvrière en France à la veille

de la révolution de 1848, S. 291 f.) angekündigten Vorträge fielen durch das Nicht-

erscheinen der Redner auf dem Kongreß aus, während die russischen Delegations-

mitglieder N. M. Lukin und V. Pik eta auf dem Kongreß nicht sprachen. 184) Vestnik Komakad. 30, 285.

Ä 133) Izvestija Nr. 108 (8689) v. 9. Mai 1929; C. Friedland, Tret’fa sessija internacional nogo komiteta istorigeskich mauk: Istorik-Marxist 18, 200—275; R. Holtzmann » Die Tagung der Internat. Historischen Vereinigung zu

Venedig: Minerva-Zeitschrift 5. Js. (1929), 150—152. |

430) Ober eine Äußerung Pokrovskijs zur russischen Dokumentenveräffent-

lihung auf der Moskauer Historikerkonferenz s, diese Jahrbücher N. F. v

1929), 448; vgl. auch Istorik-Marxist 11, 248; (A. P.), K izdaniju diplomati- Rich dokumentov: Arch. dels 15 (1928), 20—28,

137) Maksakov: Archivnoe delo 16 1928 H. 8 8. 17.

122

leninistische Auffassung des Weltkriegs fest verlassen könne,) und N. Rubinstein, der wissenschaftliche Sekretär des Redaktions- komitees, erklärte in einem Vortrag: „Der Krieg der Dokumente“ auf dem zweiten Archivartag der RSFSR Gi s'ezd archivnych rabotnikov RSFSR) am 30. Mai 1929 als Zweck des Unternehmens: „Wir können die kunstvoll hergerichteten Publikationen der Imperialisten zerstören..) Die nichtrussische Kritik der russischen Dokumentenveröffentlichung wird den leitenden Gesichtspunkt bei der Auswahl der Dokumente sorgfältig zu berücksichtigen haben. Politisch ist nicht zu unterschätzen, daß die bevorstehende Veröffent- lichung der diplomatischen Archive aus den Kriegsjahren das Gewicht der sovetrussischen Anklage gegen die Zurückhaltung der anderen Mächte verstärkt“); das russische Beispiel soll für die Kriegszeit eine ähnliche Wirkung auslösen wie die große deutsche Aktenpublikation für die Vorkriegszeit.

Die I. Marxistische Historikerkonferenz.

Der „I. allrussische Historikerkongreß““ (Pervyj vserossijskij s’&zd istorikov), dessen Berufung die Historische Gesellschaft an der Mos- kauer Universität im März 1917 ins Auge gefaßt hatte, %) wäre zweifel- los eine machtvolle und stolze Kundgebung der liberalen Intelligenz für die neu errungene bürgerlich-demokratische Staatsform geworden. Im Weitertreiben der Revolution und durch den Sieg der Bolscheviki fiel das Projekt. Die erste ,,Gesamtunions-Konferenz der marxistischen Historiker“ (Vsesojuznaja konferencija istorikov - marksistov), die die Gesellschaft der marxistischen Historiker zehn Jahre später einberief und die in Moskau vom 28. Dezember 1928 bis zum 4. Januar 1929 nicht nur die Historiker Großrußlands, der RSFSR,

128) Dejatel’nost’ Centrarchiva RSFSR: 11, 228; aus Archivnoe delo 20 (1980), 8 ergibt sich, daß Maksakov nur eine Äußerung Pokrovskijs abwandelte: „Durch diese Serie (Die große Politik der europäischen Kabinette) sicherte Deutsch- land seinem Standpunkt ziemlich fest die Herrschaft in allen, Arbeiten über inter- nationale Beziehungen, die in der nächsten Zeit erscheinen werden. Und nur wir allein in der ganzen Welt sind in der e, dem Standpunkt des deutschen Imperialismus (jetzt auch des englischen und französischen, soweit bereits Bände der englischen und französischen Serien diplomatischer Dokumente erschienen sind) den marxistisch-leninistischen Standpunkt auf diesem praktisch und theo- retisch ungewöhnlich wichtigen Gebiet der Weltgeschichte entgegenzustellen.“

130) Er fügte hinzu: „Und das wird nicht eine der letzten Voraussetzungen für den Si es Proletariats bilden.“ Vgl. „Vojna dokumentov“: Pravda Nr. 128 (4257) v. 1. Juni 1929 und den in Kniga i revoljucija Nr. 18/14 (20. Juli 1929), S. 17—28 („Vojna v dokumentach“) veröffentlichten Wortlaut.

18) Bereits vor fünf Jahren, bei Eröffnung der Archivkurse des Zentral- archivs der RSFSR am 21. November 1924, wurde Pokrovskij schr deut- lich: „Man beachte, wie knauserig die deutsche republikanische Regierung alle Publikationen über den imperialistischen Krieg gibt. Dieselben Briefe Izvol’skijs an Sazonov, die wir längst gedruckt haben, läßt sie jetzt mit großer Reklame und mit Pomp drucken, aber die eigenen Geheimnisse hiitet sie sehr sorgfältig“: Archivnoe delo H. 2 (1925), S. 5f. i

141) Istori¢eskija Izvöstija“, izdav. Istorideskim obščestvom pri imp. Moskovskom universitete, 1917 Nr. 1 (Vorwort).

123

sondern auch Historiker aus der Ukraine, Weißrußland, Trans- kaukasien, Turkmenistan und Uzbekistan vereinigte, bedeutete einen entscheidenden Schritt auf dem Wege zur wirklichen Hegemonie des Marxismus im Machtbereich der Gesellschaft: Hier wurde die Bilanz der historischen Arbeit der russischen marxistischen Gelehrten im ersten Jahrzehnt der Sovetunion gezogen. Hier wurde allen den Marxismus umlauernden Gefahren den offen anti-marxistischen Strömungen im Anschluß an die bürgerliche Wissenschaft West- europas (Petrusevskij), den schwer zu entlarvenden „pseudomarzisti- schen“ Konzeptionen (Tarle) und der „kleinbürgerlichen“, „men- schevistischen“ Geschichtsschreibung (Rozkov, we) der „rechte Glaube entgegengehalten. Hier wurde die Aufgabe der Zukunft in einer programmatischen Erklärung e sas Der Schwur der Konferenz im Ergebenheitstelegramm an Zentralkomitee der Kommunistischen Partei,“) den Marxismus und Leninismus in prin- zipieller Reinheit auf dem Gebiete der historischen Forschung zum Siege zu führen und keine Kompromisse, keinerlei Versöhnung mit der bürgerlichen Geschichtsschreibung zu dulden, wird ebenso wie die Resolution, die offizielle Kriegserklärung der marxistischen Historiker Rußlands an die „bürgerliche“ Geschichtsschreibung im eigenen Lande wie in der übrigen Welt, ihren Platz in der Geschichte unserer Vissenschaft finden.“)

Eine typischere und für den Nicht-Marxisten aufschlußreichere Selbstdarstellung der russischen „marxistisch - leninistischen Ge- schichtsforschung als den offiziellen Bericht über die Tagung) gibt es nicht. Man findet die Feststellung vollauf bestätigt: „Die Kon- ferenz faßte ihre Aufgaben vor allem als politische auf.. und unterstrich durch ihre ganze Arbeit, daf das Bündnis der Politik mit der Wissenschaft jedem marxistischen Historiker als die Haupt- aufgabe erscheint.“ )

Die Sektionen, die auf der Tagung gebildet wurden, lehnten sich an die Sektionen an, in denen sich die reguläre Arbeit der Gesellschaft der marxistischen Historiker vollzieht. Die demonstrative politische Bedeutung der Änderung der ursprünglich in Aussicht genommenen

142) S. Anlage 4a. 288) Ich gebe die Resolution als Anlage 4b im Wortlaut. re 10 Istorik-Marxist 11, 216—265; 12, 800—888 und Trudy I und II (s. oben m. 1). 145) Izvestija Nr. 9 (8545) v. 11. Januar 1929. Vielleicht noch besser trägt zum Verständnis der Tagung der lapidare Satz der boxlustigen Frau Krivo- Zeina bei: „Dem Angriff der bürgerlichen Wissenschaft setzten die marxistischen Historiker ihre wissenschaftliche revolutionäre Faust entgegen“ (ebenda). In der Resolution des Kongresses und in den Zeitschriften- und Pressekommentaren zur Tagung (jedoch nicht im Anm. 144 erwähnten Protokoll im „Istorik-Marxist“) wurde der Vorrat an revolutionärer Phraseologie reichlich in Anspruch ge- nommen; ohne Unterlaß werden die Losungen der Partei: „Kampf für den revo- lutionären Marxismus!“, „Kampf für die Befreiung des Proletariats in der ganzen nr und für den Aufbau des Sozialismus!“ als Richtlinien für die historische rbeit eteuert.

124

Bezeichnung „Sektion für Geschichte Rußlands’*) in „Sektion für Geschichte der Völker der UdSSR“ ist nicht zu verkennen. Die weiteren Sektionen waren: eine Sektion für Geschichte des Vestens, “) eine Sektion für Geschichte der Kommunistischen Partei (der Bolscheviki), eine Soziologische Sektion und eine Sektion für Methodik des Geschichtsunterrichts; daneben traten eine Kommission für die Erforschung der Geschichte der bewaffneten Aufstände, der Revolutions- und Bürgerkriege, ) eine Kommission für Religions- geschichte und eine Beratung der Historiker des Orients“ ) zu- sammen.

An der Konferenz nahmen 123 Delegierte (darunter 10 Frauen) mit beschließender, 273 mit beratender Stimme teil. Unter den be- schließenden Stimmen machten die wirklichen Mitglieder der Gesell- schaft 45,5%, die korrespondierenden Mitglieder 5,7% aus; von den Kongreßteilnehmern waren nicht weniger als 87,8% Mitglieder der Partei, 1,7% werden als „Kandidaten“ der Partei, 9,8% als parteilose Marxisten aufgeführt.“)

Die Eröffnungsansprahe Pokrovski js“) hob in einem Rückblick auf den Internationalen Historikerkongreß in Oslo aufs Schärfste den Klassencharakter alles historischen Vissens hervor und verkündete der bürgerlichen Geschichtsschreibung in der Sovet- union das Todesurteil, das von der Resolution am Schluß der Tagung in aller Form in wurde. In geschickter Regie illustrierten nach Pokrovskijs Rede außer dem Sekretär der Gesellschaft, Gorin, der den Rechenschaftsbericht erstattete, ) Vertreter einiger bedeutender marxistischer historischer Forschungsstätten in Plenarsitzungen den Aufschwung der marxistischen Forschungstätigkeit im ersten Jahr- zehnt der Räterepublik.“

188) S. den Aufruf zum Historikertag: 8, 261.

147) In der Sektion wurde der Wunsch geäußert, engere Zusammenschlüsse derjenigen Marxisten herzustellen, die über die Große französische Revolution

die Arbeiterbewegung in der Epoche der II. Internationale arbeiten.

1072) In der Kommission wurden zwei Vorträge gehalten: B. I. Gore v, Der Krieg in der Geschichte und der Marxismus; S. Rabinovié, Die Kampf- organisationen der Bolscheviki im Jahre 1917; vgl. Istorik-Marxist 12, 821

14%) Die Zusammenkunft war ausgefüllt durch eine große Anzahl vom Refe- raten, die eine Obersicht über die Organisation der orientalistischen Arbeit in der Sovetunion vermittelten: Istorik-Marxist 12, 8

188) 11, 229. Die Statistik des Moskauer Kongresses läßt weder die ursprüng- liche soziale Zugehörigkeit noch das Alter der Delegierten außer Acht: 178% waren bäuerliher Herkunft, während 15,4% aus Arbeiterkreisen, 58, 7 aus Kreisen der „Intelligenz im Angestellten verhältnis stammten. Auch die An- gaben über die Alters- und Berufsschichtung der Delegierten sind nicht un- interessant, indem ca. 70% im Alter zwischen 25 und 85 Jahren standen und ebensoviele Teilnehmer als Geschichtslehrer tätig waren; 82%. der Delegierten hatten gedruckte Arbeiten aufzuweisen (ebenda).

188) Istorik-Marxist 11, 216—218; vgl. oben Anm. 122; der genaue Wortlaut steht in den Trudy I, 8—15.

180) 11, 218—225; Trudy I, 16—27.

181) Es sprachen: Savel’ev für das Lenin-Institut (11, 225 f.; ar 28—85), Javorskyj für das Ukrainische Institut für Marxismus (11, ;

125

Eine Übersicht über die auf der Tagung behandelten Themen braucht einen Vergleich mit anderen „nationalen“ Historikertagungen nicht zu scheuen und vermittelt eine eindringliche Vorstellung von der Intensität und Vielseitigkeit der politisch-historischen marzisti- schen Forschung innerhalb des Rahmens der Parteiparolen.“

I. Sektion für die Geschichte der Völker der UdSSR.

Zum Wesen des Lenin - Kults gehört, daß er in der grandiosen Einseitigkeit und Folgerichtigkeit des revolutionären Heros kein Genüge findet, sondern ihn auf möglichst vielen Gebieten groß und bahnbrechend erscheinen lassen möchte.“) Bei Lenins Fruchtbarkeit als Schriftsteller war es nur eine Frage der Zeit, wann die marxistische Revision der russischen Historiographie“) dahin gelangen werde, Lenin als großen Historiker der marxistischen Historikerschaft zu cooptieren. Nicht als letztes Verdienst wird Pokrovskij kiinfti angerechnet werden, daß er sich selbst in den Schatten Lenins Historiker gestellt hat; unvermeidlich wird Lenin nun in die Reihe der Bees Denker Rußlands einrücken und in der Geschichte der marxistischen Geschichtsschreibung den Ehrenplatz zugewiesen erhalten. In Lenins Schrift: „Was sind die Volksfreunde und wie kämpfen sie gegen die Sozialdemokratie? ) ist nach der Interpretation durch Pokrovskij in seinem Vortrag vor dem Moskauer Historikerkongreß „Leninizm i russkaja istorija“ (Der Leninismus und die russische Geschichte)“) das marxistische Schema der russi-

Trudy I, 86—40), Seidel (Zajdel) für die historische Abteilung des Leningrader Instituts für Marxismus gi, 226 f.; Trudy I, 41—49), Maksakov für das Centr- archiv RSFSR (11, 227 f.; Trudy I, 55—66), Rubač über das Archivwesen in der Ukraine (11, 229; Trudy I, 67—72).

182) Auf eine Anzahl Vorträge gehe ich nach den Sitzungsprotokollen und nach der ausführlichen Berichterstattung der hauptstädtischen Presse erst im zweiten Teil dieses Berichts meiner systematischen Übersicht über den Inhalt des „Istorik- Marxist“ Heft BIL ein; die Trudy . . . . konferencii waren mir bei der Aus- arbeitung des Berichts noch nicht zugänglich, die Verweisungen darauf sind erst in der Korrektur eingesetzt.

wr A. Luther zu V. Polonskij, Lenin über Kunst und Lite- ratur: Osteuropa 8 (1927—28), 894—896; R. Salomon, Lenin und sein Staat: Der Kreis 6 Jg. (1929), 402.

1532) Vgl. vor allem: Russkaja istorileskaja literatura v klassovom osvedétenii. Sbornik statej s predisl. i pod red. M. N. Pokrovskogo. I (= Trudy instituta Krasnoj Professury), Mosk. 1927; II (1980).

184) Cro takoe „druz’ja naroda“ i kak oni vojujut protiv social-demokratov? (St. Pbg. 1894); jetzt V. I. Lenin, Sotinenija I (1927), 51—222. Vgl. auch „Internat. Presse-Korrespondenz“ 1928 Nr. 96.

158) Abgedruckt in: Proletarskaja revoljucija 84 1929 Nr. 1, Trudy I, 801—817 und Litopis Revoljucii 1929 Nr. 1 („Leninizm ta istorija Rosi), s. auch Istorik-Marksist 11. 285 f.; ein früherer Hinweis Pokrovskijs auf Außerungen Lenins zu historischen Fragen: Vestnik Komak. 26 (1928), 268. Wie zu er- warten war, hat der Vortrag Pokrovskijs den Anstoß zu spezieller Beschäftigun mit Lenins historischen Urteilen gegeben; vgl. z. B. V. Nevskij, Lenin istor revoljucionnogo dvizenija: Pečat’ i revoljucija 1929 H. 1; M. Volin, Lenin jak istorik partii; Litopis revoljucii 1929 Nr. 2.

126

schen Geschichte ,,das man richtiger das leninsche nennen sollte“ bereits vorgezeichnet; darum: ,,Lenin war in der russischen Geschichte nicht Spezialist. Hätte sein geniales Büchlein ,,Cto takoe dru2ja naroda?“ eine Magisterdissertation darstellen sollen, so kann man sich vorstellen, was das für ein lautes Gelächter unter den akademischen Historikern hervorgerufen hätte. Und doch steckt in diesem Biichlein weit m russische Geschichte als in drei Dutzend (tri desjatki) gelehrter Dissertationen.“

In der Sektion fiir die Geschichte der Völker der Sovetunion wurde außerdem über die folgenden Themen vorgetragen:

N. Vanag,“") Ober den Charakter des Finanzkapitals in Rußland ;1®) A. M. Pankratova, Probleme der Erforschung der Geschichte der Arbeiter-

in Rußland; 180)

M. Javors$skyj, Ober die heutigen antimarxistischen Richtungen in der ukrai- nischen ichts wissenschaft; 100)

M. Kor but, Die Arbeitergesetzgebung in der 8. und A Staatsduma: 10)

P. Galuz o, Die Periodisierung der Geschichte der nationalen Freiheitsbewegung in Mittelasien; 162)

F. Macharadze, Grusien im 19. Jahrhundert; 105)

Ja. Rathaus er (Ratgauzer), Der soziale Charakter der (azerbajdłanischen) „Muszavat“ - Partei; 0)

A. Zor ! jan, Der Stand der armenischen Geschichtsschreibung. 168)

II. Sektion für Geschichte Vesteuropas.

N. Lukin, Das Problem der Erforschung der Epoche des Imperialismus; 197)

C. Friedland, Die Ergebnisse der Forschung über die große französische Revolution in der Sovetunion; 0)

F. Potemkin, Zur Frage der Methodologie (der Geschichte) der industriellen Revolution; 1)

A Rosenberg, Kritik der neuesten deutschen Theorie über die Entstehung der Monarchie Karls V.; 170)

: 5? Pravda Nr. 7 (4141) v. 9. Jan. 1928; vgl. auch die Resolution (unten

187) In diesen Jahrbüchern N. F. V, 448 irrtümlich Vanaga.

188) Istorik-Marxist 11, 281—285; Trudy I, 818—889.

188) Istorik-Marxist 11, 286—288; Trudy I, 890—425; s. auch Archivnoe delo 17 (1920), 7; vgl. unten S. 144 über die Begründung einer entsprechenden Sektion im Historischen Institut der Kommunist. ie.

100) Pravda Nr. 8 (4187) v. A Jan. 1920; Istorik-Marxist 11, 239—242; Trudy I, 426—468.

101) 11, 242.

163) Istorik-Marxist 11, 242—244; Trudy I, 521—554.

168) 11, 244f.; Trudy I, 484-500.

168) 11, 245; Trudy I, 501—520.

168) 11, 245 f.; Trudy I, 470—488.

188) Einen Hinweis auf die Vorträge in dieser Sektion s. Annales historiques de la Révolution franç. 6 (1929), 218 f.

267) 11, 248—248; Trudy II, 7—52.

388) 11, 248—250; Trudy II, 88—112.

188). 11, 250; Trudy II, 58—82.

178) 11, 251 f.; Trudy II, 289—268 (zu E. Dürrs Forschungen über Kerl d. Kühnen).

TI 127

O. Weinstein (Vajngtejn), Die französischen Handelskolonien in der Levante unter dem alten Regime und in der Epoche der Revolution; 171)

K. Dobroljubskij, Die Teuerung in Paris im Jahre 1795 nach der Ab- schaffung des Maximums; 17)

P. S&egole v, Die „Conjuration des Egaux“;273)

A. Molo k, Der Juniaufstand 1848;174)

G. Seidel (Zajdel’), Die Lehre Babeufs und der Marxismus. 175)

III. Sektion für Geschichte der Kommunistischen Partei.

V. Nevskij, Die Geschichte der Partei als Wissenschaft;1?®)

Ark. Lomakin, Cernylevskij und Lenin; 17e)

K. Popov, Das Problem des Übergangs einer bürgerlich- demokratischen Re-

volution in eine zoꝛialistische; 177

, Rachmetov, Über den Ursprung der menschevistishen Konzeption des

russischen historischen Prozesses;17®)

. Nevskij, Der Nordrussische Arbeiterverband; ire)

Rabinovié, Die militärischen Organisationen der Bolscheviki im Jahre 1917; e)

. Kramol’nikov, Die Konferenz der Bolscheviki in Tammerfors im Jahre 1905; 705)

Sochin, Die Gesetzlichkeit in der Entwicklung der proletarischen Jugend- bewegung. Ac)

> Q V <

171) 11, 252—254; Francuzskie torgovye kolonii na Levante pri starom por- jadke i v epochu revoljucii: Novyj vostok 25 (1929), 216—285; Trudy II, 118—187.

173) 11, 254; Trudy II, 188—157.

173) 11, 255; Trudy II, 158—182.

178) 11, 256; Trudy II, 218—288.

175) 11, 257 f.; Trudy II, 188—212.

De, Pravda Nr. 8 (4187) v. 4. Jan. 1929; Ist.-Marxist 12, 800—808; Trudy I, 178) 12, 818; Trudy II, 248—264.

117) Vgl. Popov, Istoriteskija uslovija pererastanija burZuazno-demokrati- eg revoljucii v proletarskuju: Bolieeik 1928 Nr. 21/22 und 28/24, 1929 Nr. 1, danach „Osteuropa 4 (1928—29), 868 und 625f.; 5 (1929—30), 88f.; Ja. Rez- vulkin, Lenin o pererastanıı burZuazno-demokratileskoj revoljucii v socia- listi¢eskuju: Proletarskaja revoljucija Nr. 81—88 1928 Nr. 10—12; K. Po po v und Ja. Rezvulkin, O pererastanii burZuazno-demokratideskoj revoljucii v socialistileskuju (Učenie Lenina i ego kritika), Mosk. 1980; St. Krivcovs Pravda Nr. 16 ke v. 19. Jan. 1929; D. Kar dale v, Problema pererastanija burZuazno-demokratiteskoj revoljucii v socialistiteskuju v svete leninskoj teorii „amerikanskogo“ i ,,prusskogo“ puti razvitija Rossii: Prolet. revoljucija Nr. 88 == 1929 Nr. 5. Istorik-Marxist 12, 808—807; Trudy I, 114—166.

ive) 12, 811 f.: Trudy I, 166—188.

Sé, Pravda Nr. 4 (4188) v. 5. Jan. 1929; Ist.-Marxist 12, 818f.; Trudy I.

area) Trudy I, 184—209.

1755) 12, 807—810; Trudy I, 210—247.

170c) 12, 810 f.; Trudy I, 279—297. Die „Kommission für Erforschung der Geschichte der Jugendbewegung in der UdSSR und des leninistischen kommu- nistischen Jugendbunds der Gesamtunion“ (Komissija po izuteniju istorii juno- leskogo dvizenija v SSSR i VLKSM [= Vsesojuznogo Leninskogo Kommunisti£. Sojuza Molodesip), abgekürzt: Istmol CK VLKSM (!), veröftentlichte 1929 das Stenogramm der dritten allruss. Konferenz des Jugendbundes im Jahre 1928.

128

IV. Soziologische Sektion.“

N. Marr, Der historische Prozeß im Lichte der japhetitischen Theorie; 101) V. Aptekar, Marxismus und Ethnogeographie; 182)

180) Vgl. G. Lozovik, Do pidsumkiv I vsesojuznoi konferencii istorikiv- marksistiv: Prapor Marksizmu 1929 Nr. 1 S. 174—178.

181) 11, 258—261; Trudy II, 267—3815.

Wa, der alten Geschichte des Orients und der Slaven; vgl. außer dem Abschnitt „Jatetidologija“ in der „Bibliografija Vostoka“ Vyp. I. Istorija (1917—1925). Pod. red. D. N. Egorova (Mosk. 1928), S. 18—81 z.B. V. Aptekar zu I. I. Meséaninov, Chaldovedenie. Istorija drevnego Vana, vključaja drevnejšie svedenija o Zakavkaz’e (Baku 1927): 10, 256f. und S. N. Bykovskij, K voprosu o trech drevnejšich centrach Rusi = Trudy Vjatskogo pedagogič. instituta im. V. I. Lenina III, 6 (1928).

Nach dem von Pokrovskij gelegentlich wiedergegebenen Ausspruch eines Leningrader Kommunisten mug die japhetitische eorie den Marxismus als ihre allgemeine philosophische und soziologische Basis anerkennen, der Marxis- mus dagegen die japhetitishe Theorie als seinen besonderen linguistischen Be- zirk: O tv. nauki v SSSR za 10 let: Vestnik Komak. 26 (1928), 26. „Wenn Engels noch unter uns weilte, würde sich jeder Student mit der Marrschen Theorie beschäftigen, weil sie zum eisernen Bestand der marxistischen Auffassung von der menschlichen Kulturentwicklung gehören würde“: Pokrovskij (1928) nach Dresen, Uber die japhetitishe Theorie: Wochenbericht 5. Jg. Nr. 25/26 (1. 7. 1929); Pokrovskij, Zum vierzigjährigen Jubiläum des Akademie- mitgliedes N. I. Marr: ebda. 4. Jg. Nr. 28/29 (14.—21. 7. 1928), S. 16; A. Gor- deev: Schidnij wit Nr. 5 (1928), 208—210; I. Borozdin: Novyj vostok Nr. 22 (1928), 168—168.

Zur Lehre von Marr vgl.: „Japhetitische Studien zur Sprache und Kultur Eurasiens“ (Stuttgart, Kohlhammer) Bd. I: F. Braun: Die Urbevölkerung Europas und die Herkunft der Germanen (1922), Bd. II.: N. J. Marr, Der japhetitische Kaukasus. Aus dem Russ. von F. Braun (1923) und die Rezensionen von Meillet: Bull. Soc. Linguistique de Paris 27 (1927), Comptes rendus p. 194 und 28 (1927), Comptes rendus p. 226 ff. V. Aptekar, Jafetičeskaja teorija N. J. Marra i marksizm: Novyj vostok 22 (1928), 189—193 und: Na putjach k marksistskoj lingvistike: Vestnik Komakad. 28 (1928), 254—278; V. Sereda, Jafetiöna teorija N. J. Marra i movoznavstvo: Schidnij svie Nr. 5 (1928), 211—215. Jazykovedenie i materializm (Sammelband, hrsg. von N. Ja. Marr), Leningrad 1929; N. Ja. Marr, Aktual’nye problemy i oderednye zadati jafeti¢eskoj teorii (Mosk. 1929: Kommunist. Akad ; Sekcija literatury, iskusstva i jazyka, podsekcija materialist. lingvistiki); E. Boka- rev, Jazykovedenie i marksizm: Meždunarodnyj jazyk 1929 (Juni-Okt.); A. P. Andreev, Revoljucija jazykoznanija. Jatetičeskaja teorija akademika N. Ja. Marra (1929); N. S. Deržavin, Jafetičeskaja teorija akad. N. Ja. Marra: Naučnoe slovo 1980 Nr. 1 und 2.

Bei der Wiederbesetzung des Akademiesitzes „Sprachen und Literaturen der europäischen Völker“ nach dem Tode V. M. Fritshes, für den als Kandidaten N. N. Durnovo, A. V. Lunalarskij, V. F. Pereverzev, V. F. Šišmarev und L. V. Sčerba vorgeschlagen worden waren (Pravda Nr. 287/421 v. 7. Dez. 1929; gewählt wurde im März 1980 Lunalarskij) stießen die Kandidaturen Durnovo und Séerba bei Anhängern Marrs auf energischen Widerspruch: In einer Zuschrift der Dozenten Danilov und Palmbach an die Pravda hieß es: „Die Sovet-Offentlichkeit hat ein Recht darauf, von einem Vertreter der

129

A. Lukalevskij, Die Erforschung der sozialen Grundlagen der Religion in der UdSSR ;1®3)

V. Nikol’skij, Das Protoneolithicum;!*)

G. Natadze, Ein Versuch, den landeskundlichen Faktor in historischen Spezial- untersuchungen anzuwenden (Das, Dorf Kaspi in Grusien); 188)

G. Rochkin, Die Entwicklung der historischen Ansichten von K. Marx. 0)

V. Methodische Sektion.“ S. Krivcov, Methodik und Methodologie der Geschichte 29791 ders., Der Unter- richt in geschichtlicher Methode auf den Hochschulen; 187b) L. Mamet, Die Hauptrichtungen in den Fragen des Geschichtsunterrichts;197c) A. Ioannis iani, Die Organisation des pädagogischen Aufbaus im Geschichts- unterricht; 187d) A. Sluck ij, Lehrbücher und Lehrmittel für die historischen Disziplinen. 1876)

Linguistik eine aktive Anwendung der marxistischen Methode in der Untersuchung der Sprache und in der praktisch- linguistischen Arbeit zu erwarten, die in den letzten Jahren gerade in der UdSSR einen ungeahnten Aufschwung genommen hat: Hier wurde zie zum ersten Male in der Geschichte der Linguistik zur ver- antwortlichsten Mitwirkung am kulturellen Aufbau berufen zur Verbreitung der Kunst des Lesens und Schreibens unter den Verktätigen einer ees An- zahl von Nationalitäten und zur Schaffung von Schriften für bis dahin schrift- lose Völker.

Welchen Nutzen können im gegenwärtigen Stadium des sozialistischen Auf- baus, im gegenwärtigen Stadium auch des Aufbaus im wissenschaftlichen Denken in unserem Lande die Tätigkeit von N. N. Durnovo und L. V. Sterba in der Akademie der Wissenschaften bringen, an denen nicht nur die historisch- materialistischen Ergebnisse des Akademikers Marr, der ein strenges System einer neuen Linguistik geschaffen hat, und einer marxistisch-sprachwissenschaftlichen Pflanzschule vorbeigegangen sind, sondern auch die Arbeiten der Vertreter einer sozialen Dialektologie in Rußland, des Professors Zelenin und des Professors Karinskij!“ (Pravda Nr. 20/4465 v. 20. Jan. 1980).

Gegen die Kandidatur Sidmarev protestierte die Untersektion für Lite- ratur des Westens der Sektion für Literatur, Kunst und Sprache der Kommunist. ‚Akademie: Pravda Nr. 20 (4465) v. 20. Jan. 1980.

In einer Zuschrift des Kollegiums des „Forschungsinstituts für vergleichende Geschichte der Literaturen und Sprachen des Westens und des Ostens“ (s. oben Anm. 21) an die „Leningradskaja Pravda“ (Nr. 114/4498 v. 25. April 1980) finden sich die folgenden charakteristischen Sätze: „Das Institut macht sich in seiner Arbeit die systematische Anwendung der Methode des dialektischen Materialismus in der Sprachwissenschaft zur Aufgabe und. .. teilt die Ansicht, daß die Erforschung der Arbeiten von Marx, Engels, Lenin und Plechanov durch gelehrte Linguisten not- wendig ist... Die japhetitische Theorie ist nach der Ansicht des Kollegiums gegen- wärtig die einzige von allen linguistischen Theorien, die dem Marxismus nahesteht.“

182) 11, 261 f.; Trudy II, 816—840. 183) 11, 262 f.; Trudy II, 388—421.

194) 11, 268 f.; Trudy II, 360—881.

185) 11, 264 f.; Trudy II, 341—359.

186) 11, 265; Trudy II, 882—897.

187) 11, 221.

187a) 12, 314 f.; Trudy II, 458—478. 187b) 12, 319 f.; Trudy II, 584—608. 187c) 12, 815—317; Trudy II, 479—511. 187d) 12, 317—319; Trudy II, 512—588. 187e) Trudy II, 589—583.

130

Der Moskauer Korigreß betrachtete sich als Vorläufer eines inter- nationalen marxistischen Historikerkongresses, “) der innerhalb der nächsten zwei bis drei Jahre einberufen werden soll.

Im Jahre 1918 hätte nach dem Beschluß des Londoner Historiker- kongresses (1913) in „St. Petersburg“ der 4. internationale Historiker- kongreß zusammentreten sollen. Der Krieg machte den frühzeitigen Vorbereitungen dafür ein Ende.) Heute, zwölf Jahre nach dem Termin, schikt Moskau unter gänzlich veränderten Verhältnissen sich an, der Internationale der „bürgerlichen“ Geschichtswissenschaft, deren Weg statt nach St. Petersburg über Brüssel (1923) nach Oslo (1928) führte, eine Internationale der marxistischen Historiker ent- gegenzustellen; der Moskauer Historikertag bildete die erste, vor- läufige Antwort der marxistischen Forschung auf Oslo. Ebenso soll die auf dem Moskauer Kongreß beschlossene Umwandlung der Gesell- schaft in eine Organisation der marxistischen Historiker in der ganzen Union mit Filialgesellschaften in den Republiken“) und der Zeit- schrift „Istorik-Marxist“ als Zentralorgan nur der erste Schritt zur Internationalen Marxistischen 11 sein, zu der man in Oslo mit wenig Glück sondiert hatte.“

In seinem Rückblick auf die Konferenz“) vergleicht Pokrov- ski j die Aufgabe der marxistischen Historiker mit der Lage, die in den vierziger Jahren Solov’ev und Kavelin meisterten, indem sie der alten Schule, deren letzter hervorragender Vertreter Pogodin

188) 11, 225.

180) Nau£nyj istoriceskij žurnal Nr. 2 I, 2 (1918), 157—161: N. Karecv, K predstojal᷑emu IV medzdunarodnomu s’ézdu istorikov; ebda. S. 180—188: Pod- E k predvaritel’nomu s’&zdu istorikov 18—20 dekabrja 1918 goda v Peter-

č; ebda. Nr. 8 = II, 1 (1914), 118—129: Protokoly zasédanij Predvaritel’nago sov ija po voprosu ob ustrojstvě Meždunarodnago Istoričeskago S’ézda v S.- Peterburgě v 1918 godu; Le quatrième congrès international d’histoire: Revue Historique 115 (1914), 468 f.; B. M. Seen Nesostojavlijsja „Vsemirnyj mer ounarcany)) Istori¢eskij kongress E ) v 1918 g. v Peterburgé“: Uč. zap. ist.- ilol. fakul’teca Gosud. Dal’nevostotn. Universiteta IV, 1 (Vladivostok 1922), 45—49. S. auch N. M. Bubnov, Ulenyja prava russkago jazyka ege Titres scientifiques de la langue russe pour l’admission de la langue russe dans les congrés historiques internationaux). Kiev 1913.

100) Bisher bestehen: Ukrainskoe tovaristvo „Istorik-Marksist“ (Char’kiv); Belorusskoe obi<estvo istorikov-marksistov (Minsk); Sektionen in Rostov a Don und Voronež (18, 288); Zakavkazskoe obščestvo istorikov-marksistov (Tiflis): 6, 298; 10, 267; in Baku arbeiter das „Institut istorii klassovoj bor’by v Azer- bajdZane im. Stepano Saumjana“ (Schaumann-Institut für die Geschichte des Klassenkampfs in A.) in der Art einer Gruppe der Gesellschaft: 12, 326.

291) Der gescheiterte Propagandaversuch, in Oslo alle marxistischen Gelehrten zu sammeln und die Griindung von Zweiggesellschaften der russischen Gesellschaft in anderen Ländern in die Wege zu leiten, wird im „Istorik-Marxist“ in einer kleingedruckten Anmerkung mit 24 Zeilen eben erwähnt; zur Besprechung waren außer den Russen nur zwei Personen erschienen: 9, 15; vgl. auch Pokrovskij, Klassovaja bor’ba i ,,ideologiceskij front“: Pravda Nr. 260 (4092) v. 7. Nov. 1928.

19%) Vsesojuznaja konferencija istorikov-marksistov: 11, 8—11; vgl. auch Pokrovskijs Vorwort zur Veröffentlichung der auf der Konferenz gehaltenen Vor- träge: Trudy I, S. VII—XV.

13]

gewesen war, eine neue Auffassung des historischen Geschehens ent- gegenstellten; der Unterschied von damals und heute sei der, daß die Neuerer von damals nur Liberale waren, die heutigen Revo- lutionäre seien.“)

Man wird die Durchführung der in den Resolutionen nieder- gelegten Programme, die einen Maßstab für die Beurteilung der künftigen wissenschaftlichen und organisatorischen Leistungen der Ge- sellschaft und ihrer einzelnen Mitglieder bilden, mit der größten Aufmerksamkeit verfolgen müssen.“) Es kann nicht übersehen werden, daß der marxistischen Forschung der letzten Jahre eine große Zahl fruchtbarer neuer Fragestellungen zu verdanken ist. Die notwendig einseitigen Lösungsversuche befriedigen keineswegs; in der E Produktion herrscht eine Eintönigkeit und sehr häufig ein Mangel an Niveau, die, je länger je mehr, die Enge der Auffassung und den Mangel an allgemeiner Bildung erschreckend hervortreten lassen. Dennoch ist nicht zu billigen, wenn die marxistische historische Arbeit, wie es mitunter geschieht, systematisch herabgesetzt wird. Wenigstens sollte auch bei prinzipieller Ablehnung der in der russischen Ge- 5 gegenwärtig herrschenden Richtung nicht ver- kannt werden, zu welcher Bedeutung das marxistische historische Weltbild im öffentlichen Leben der Sovetunion gelangt ist. Das Beispiel, wie in einem Lande von 150 Millionen ein sehr bestimmtes und sehr waches historisches Bewußtsein herangebildet wird, hat die verdiente Beachtung bisher nicht gefunden.)

198) 11, 5.

1%) Resolution über die Aufgaben der marxistischen Historiker (s. unten Anlage 4b), Resolution iiber methodische Fragen im Geschichtsunterricht und Re- solution über den Schutz wertvoller historischer Archivmaterialien vor Ver- nichtung: Trudy II, 600—614; Resolution der Beratung der Orienthistoriker: Istorik-Marxist 12, 882 f.

1942) Ober den Moskauer Historikerkongreß vgl. Ankündigung und Grund- züge des Programms: 8, 210f. und Vestnik Komakad. 27: O sozyve vsesojuznoj konferencii istorikov-marksistov; Evg. Krivo$eina, K vsesojuznoj konferencii istorikov-marksistov: Izvestija Nr. 200 (8588) v. 25. Dez. 1928 und: Itogi vsesojuznoj konferencii istorikov-marksistov: Izvestija Nr. 9 (8545) v. 11. Jan. 1929; M. N. Pokrovskij, Vsesojuznaja konferencija istorikov- marksistov: Istorik-Marxist 11, 8—11; P. Gorin, O pobede marksistov na fronte nauki: Bol’Sevik 1929 Nr. 2; C. Friedland, O bor’be za marksistskuju isto- ri¢eskuju nauku v SSSR: Pod znamenem marksizma 1929 Nr. 2/8 S. 101—113; ders., Ob ideologi¢. bor’be na istori¢. fronte: Kommunistié. revoljucija 1928—29 Nr. 23/24; I. I. Minc, Pervaja konferencija istorikov-marksistov: Nauénoe slovo 1929 Nr. 2 S. 98—102; A. Sestakov, Na istori¢eskom fronte: Novyj mir 1929 Febr., 236—242; vgl. des Referat in diesen Jahrbüchern N. F. 5 (1929), 447 f.; O. Ju. Germajze, 1—ša Vsesojuzna Konferencija istorikiv-marksistiv u Moskvi: Visti vseukrains’koi Akademil nauk (= Procès-verbaux de l'Aczd. des Sciences d’Ukraine) 1929 Nr. 1 S. 12—18; M. Rubad, Vsesojuznaja konferencija isto- rikiv-marksistiv ta denkt naši čergovi zavdanija: Litopis revoljucii 1929 Nr. 2; Pravda Nr. 3 (4137) v. A Jan., 4 (4138) v. 5. Jan., 7. (4141) v. 9. Jan. 1929.

132

Das Verhiltnis der marxistischen Geschichtswissenschaft zur Akademie der Wissenschaften der Sovetunion.

Von den historischen Unternehmungen der Bundesakademie der Wissenschaften (Vsesojuznaja Akademija Nauk SSSR) in Lenin- grad wurde im „Istorik-Marxist“ einmal in einem knappen, aber durchaus sachlich gehaltenen Literaturbericht Notiz genommen.“ Dagegen war von den dauernden Reibungen zwischen der Aka- demie der Wissenschaften und der Kommunistischen Partei, die stets an die Machtmittel des Staates appellieren kann, im „Istorik- Marxist“ außer dem Angriff Pokrovskijs (des Präsidenten der Kom- munistischen Akademie) gegen den „Pseudomarxismus‘“ des Lenin- grader Akademikers Tarle **) merkwürdig wenig zu spüren, obwohl die marxistische Geschichtswissenschaft bei diesen Vorgängen viel genannt wurde. Es ist notwendig, hier wenigstens diejenigen Momente in den Differenzen zu rekapitulieren, die dazu beigetragen haben, die Machtstellung der marxistischen Richtung in der russischen Geschichtsforschung zu festigen und zu steigern.

Im Auslande mußte das Kesseltreiben befremden, das in der Sovetpresse im November 1928 wegen der Mitarbeit sovetrussischer Gelehrter an ausländischen russischen bezw. ukrainischen Zeitschriften einsetzte und das sich mit besonderer Schärfe gegen ein Mitglied der Akademie der Wissenschaften, den Althistoriker und Archäologen S. A. Zebele v,“) und gegen den Kunsthistoriker A. I. Anisi- mov ) richtete. Zebelev hatte zu der hauptsächlich aus Kreisen der russischen Emigration hervorgegangenen Prager Gedächtnis- Sammelschrift für Kondakov einen Beitrag geliefert.“)

108) J. Trock ij, Obzor statej po russkoj istorii v izdanijach Akademii Nauk SSSR: 5, 221—225.

196) Siehe oben S. 109. 107) Vgl. Izvestija Nr. 271—278 (8505—3507) v. 22.—24. Nov. 1928. 1972) Ebda. Nr. 284 (8518) v. 7. Dez. 1928.

100) Recueil d’études dédiées A la mémoire de N.P. Kondakov (Prag 1926), S. 1—18: S. A. Zebelev, Ikonografiteskija schemy Voznesenija Christova i isto¢niki ich vozniknovenija.

Ein Nachspiel zu dieser 5 bildete ein offener Brief, den der Helsingforser Archäologe A. M. Tallgren, der Mitherausgeber der „Eurasia septentrionalis ae am 16. Dez. 1928 in der Zeitung „Helsingen-Sanomat“ an die Wissenschaftliche Hauptverwaltung (Glavnauka) richtete; die Akademiker S Oldenburg, A. Marr und Zebelev selbst hatten die undankbare Auf- gabe, gegen die von dem finnischen Gelehrten sicher mit Recht, aber mit einigen ırrıgen Details behauptete Bedrohung der freien Forschung in der Sovetunion leichfalls in „offenen Briefen zu protestieren: Izvestija Nr. 19 (8555) v. 24. Jan. 1929: Pis’mo prof. Tal’grena i dostojnyj otvet sovetskich ucenych. Der Unterschied der Voraussetzungen fiir die sogen. „freie Forschung“ in Rußland, wo der Marxismus den Anspruch auf ausschließliche Geltung erhebt, und der grund- sätzlich freien wissenschaftlichen Forschung und Lehre im Westen, die nur für die katholische Forschung er formale Bindungen kennt, kommt in den Ent- gegnungen der russischen Gelehrten nicht zum Ausdruck. Hier ist an eine Aufe- rung Pokrovskijs in Berlin zu erinnern: „Wir sind in dem Maße von der Über- pe unserer Methode überzeugt, daß wir es für eine Herabsetzung derselben halten würden, ihr durch irgendwelche Zwangsmaßnahmen Ausdehnung zu ver-

138

Von entscheidender Bedeutung fiir das Verhältnis der marxisti- schen Wissenschaft zur Akademie der Wissenschaften waren Anfang 1929 die Zuwahlen zur Akademie auf Grund ihres neuen Statuts, ) durch die von marxistischen Historikern Michail Nikolaevité Po- krovskij,) der Direktor des Marx-Engels-Instituts David Borisovič Rjazanov”") und der Historiker der Pariser Commune Nikolaj Michajlovič Luk in“) ihren Einzug in die Akademie hielten,“) Lukin allerdings erst, als die Akademie das Ergebnis der Haupt- abstimmung, in der drei der kommunistischen Partei angehörende Gelehrte unterlegen waren (außer Lukin der Philosoph Deborin und der Literarhistoriker Fritsche, gest. September 1929), in einer Nach- wahl korrigiert hatte.“) Neben den drei führenden marxistischen

schaffen‘ (Osteuropa 8, 758). Wer vermag indessen allein nach marxisti- shen Zeugnissen an dem Druck zu zweifeln, unter dem heute in der Sovetunion alle nicht marxistisch orientierte wissenschaftliche Arbeit, nicht nur die im historischen Bezirk, steht?

106) Ustav Akademii Nauk Sojuza SSR: Sobranie Zakonov Sojuza SSR 1927 Nr. 85, dazu 1928 Nr. 22 (Verordnung Nr. 195, 197, 198).

200) Vgl. Anm. 78. 701) C. Friedland, „D. B. Rjazanov“: Izvestija Nr. 282 (8466) v. 5. Okt.

1928; Biografija D. B. Rjazanova: Izvestija Nr. 68 (8915) v. 10. März 1980; siche auch oben Anm. 67 b.

292) S. Monos ov, „N. M. Lukin“: Izvestija Nr. 287 (8471) v. 11. Okt. 1928. Als Beispiel für Lukins Auffassung der Commune sein Buch „Pariks- ka ja kommuna 1871 g.“ erschien 1980 in 8. Aufl. vgl.: Lukin (-Antono v), Von der Pariser Kommune zur Oktober- Revolution: „Internat. Presse -Korre- spondenz 9. Jg. (1929), 555 f. und 570 f.; von Lukin s. auch N. Louki ne, La revolution française dans les travaux des historiens soviétiques: Annales histo- riques de la révolution française N.S. 5 (1928), 128—138.

203) Unter den als Kandidaten für die wirkliche Mitgliedschaft nominierten zwölf Historikern: D. V. Ajnalov, D. I. Bagalej, V. N. Benelevi&, M. S. Hruševś- kyj, D. N. Egorov, N. M. Lukin, M. K. Ljubavskij, D. M. Petrulevskij, M.N. Po- krovskij, A. E. Presnjakov, D. B. Rjazanov und A. A. Spicyn marschierten ein Beweis für die stramme Organisation der Einwirkung des Parteiapparates auf die zu Wahlvorschlägen berufenen wissenschaftlichen Körperschaften (vgl. z. B. den Bericht über die Versammlung der „Sektion der wissenschaftlichen Arbeiter“ in Kazan zur Aufstellung einer Kandidatenliste: Izvestija Nr. 240/8474 v. 14. Okt. 1928) Pokrovskij mit 29, Rjazanov mit 16 und Lukin mit 9 Nomi- nationen weitaus an der Spitze; alle übrigen Anwärter außer Presnjakov, der viermal aufgestellte worden war hatten nicht mehr als eine oder zwei Nominationen aufzuweisen. Zu berücksichtigen bleibt ferner, daß für einen der vakanten „sozialökonomischen‘“ Sitze Pokrovskij weitere 2, Rjazanov 15 Nomi- nationen erhalten hatte, und daß außerdem unter den Vorsclägen für die „philosophischen“ Sitze einer für Rjazanov abgegeben worden war: Izvestija Nr. 168 402) v. 21. Juni 1928.

204) Ober den Konflikt der Akademie mit der e weder und den Ent- rüstungssturm gegen die Akademie in der Presse wegen des als antisovetistische Demonstration eines Teils der früheren Akademiker hingestellten Abstimmungs- ergebnisses vom 12. Januar 1929 vgl. außer „Osteuropa“ 4 (1928—29), 878 f. und A. Pierre, En U. R. S. S.: Le conflit entre le gouvernement et l’Académie des sciences : Le monde slave 6. Jg. (1929), Bd. I (H. 8), 470—480, insbesondere: J. Larin, Akademiki i politika: Pravda Nr. 20 (4154) v. 25. Jan. 1928; A. Lunaéarskij, „Neuvjazka“ v Akademii Nauk: Izvestija Nr. 29 (8565) v. 5. Febr. 1929, deutsch unter dem Titel „Der Kampf um das Bündnis der

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Historikern wurden die drei Nicht-Marxisten HruSevskyj,

Ljubavskij und PetruSevskij zu ordentlichen Mitgliedern der Akademie gewählt.“)

Vor und nach den Akademiewahlen ersuchte die Redaktion det „Izvestija“ zahlreiche russische Gelehrte aus verschiedenen Disziplinen um Erklärungen über die Bedeutung der Wahlen für die Zukunft der wissenschaftlichen Arbeit in der Union. In den Zuschriften finden sich außerordentlich interessante Äußerungen, welche Erwartungen für die künftigen gesellschaftswissenschaftlichen Aufgaben der Aka- demie die marxistishen Gelehrtenkreise an die Neuwahlen knüpften.

Wissenschaft mit der Arbeit“: Das Neue Rußland 6. Jg. (1929), Nr. 1/2 S. 54 bis 56; Mich. Kol cov, Anekdoty: Pravda Nr. 29 (4168) v. 5. Febr. 1929; „Das Land der Räte braucht die Akademie der Wissenschaften als ein aktives Kollektiv hochqualifizierter wissenschaftlicher Arbeiter und nicht einfach als einen Paradesenat emeritierter Gelehrter, der durch Erbschaft an es übergegangen ist“: S. Romano va, Nekotorye vyvody iz čistki v Akademii Nauk, in den Izvestija Nr. 208 (8744) v. 10. Sept. 1929.

(8710) v. 1. August 1929. Presnjakov (vgl. Anm. ) den Pokrovskij als den bedeutendsten russischen Historiker der auf Platonov folgender Generation gelten läßt (7, 5), ist am 80. September 1929 gestorben; vgl. die Nachrufe von

A. Kiesewetter in der Rul’ Nr. 2704 v. 17. Okt. 1929 und in den Sovrem. Zap. 41 (1930).

308) Professor M. L. Schherwindt (Polytechnisches Institut in Leningrad): „Im Gegensatz zu ihren Leistungen in naturwissenschaftlichen Disziplinen gab die Akademie auf dem Gebiet der ee Wissenschaften mit seltenen Aus- nahmen (z. B. dem Japhetischen Institut; ethnographische Arbeiten) sehr wenig und sie bearbeitet überhaupt kein aktuelles Problem, das unsere Offentlichkeit interessiert. Wen können z. B. solche Arbeiten interessieren wie: Erläuterungen zu den Basiliken des Konstantin Porphyrogenetos oder über die literarische Tätigkeit Epiphanios II., Erzbischofs von Cypern?

Die Aufgabe einer Sovetakademie der Wissenschaften unter den gegen- wärtigen Bedingungen muß darin bestehen, aktuelle Probleme auf dem Gebiet der philosophischen und sozialökonomischen Wissenschaften zu bearbeiten. Diese Aufgabe kann dann erfüllt werden, wenn die Akademie nach Auffüllung ihres Bestandes mit frischen wissenschaftlichen Kräften einen cadre von Vertretern des wissenschaftlichen Marxismus, der anerkannten Ideologie der arbeitenden Klasse, umfassen wird. In der Sovetunion, dem ersten Lande, wo die Diktatur des Proletariats verwirklicht worden ist, darf es einen solchen Zustand nicht geben, daß die Akademie der Wissenschaften, die höchste wissenschaftliche Einrichtung, keine Vertreter des revolutionären Marxismus, der Ideologie des Proletariats, aut- weist. Diesen Mangel müssen die bevorstehenden Wahlen beseitigen. Ohne den Einzug von Marxisten in die Akademie der Wissenschaften ist eine fruchtbare Entwicklung ihrer wissenschaftlichen Arbeit kaum denkbar“ (Izvestija Nr. 110 8844 vom 18. Mai 1928).

Professor A. K. Luppel, verantwortlicher Sekretär der Sektion der wissenschaftlichen Arbeiter: „Die neuen Verhältnisse müssen unausweichlich den bevorstehenden Wahlen ihr Gepräge geben in dem Sinne: daß einzelne Wissen- schaften, einzelne wissenschaftliche Neigungen und Sympathien fich einschränken

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Von den neu zu Mitgliedern der Akademie gewählten Historikern trat im April Hru$evskyj mit dem Vorschlag hervor, bei der Sektion für Gesellschaftswissenschaften der Akademie ein Institut zur Erforschung der Geschichte der Ukraine ée po izuleniju Ukrainskoj Se? zu errichten, indem er auf den Reichtum an Materialien zur ukrainischen Geschichte in den Leningrader Archiven und Bibliotheken hinwies.“)

Im Sommer 1929 wies die Akademie den in den „Izvestija“ an die Adresse des Literarhistorikers V. M. Istrin als Vorsitzenden ihrer „Kommission zur Herausgabe des Worterbuchs der russischen Sprache“ (Komissi ja po sostavleniju slovarja russkogo jazyka) ge- richteten Vorwurf, sie zögere absichtlich, beim Druck des Akademie- wörterbuchs zur neuen Orthographie überzugehen, “) in einer Zu- schrift an die Redaktion entschieden zurück.

und Platz machen müssen anderen Vissenschaften, anderen Neigungen und Sympathien.

Vir wollen diesen Gedanken näher erläutern. Zwei Historiker sind in formalem Sinne ihrer wissenschaftlichen Qualifikation nach gleich, aber der eine

äftige zich sagen wir einmal mit byzantinischer Geschichte, der andere mit der Geschichte Europas in der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolution. Es wäre doch sonderbar, wenn bei sonst gleichen Voraussetzungen die bevorstehenden Vahlen dem ersten den Vorzug gäben. Zwei Philosophen (werden nominiert): von denen der eine sich um die mittelalterliche Philosophie müht, um mystischen oder halbmystischen Idealismus, der andere aktuelle Pro- bleme des dialektischen Materialismus bearbeitet; es ist klar, daß die gegen- wärtigen Wahlen dem Zweiten den Vorzug geben werden. Wenigstens können das die lebendigen und aktiven Vertreter der genannten Wissenschaften mit Recht erwarten‘ (Izvestija Nr. 102/3336 vom 4. Mai 1928).

Professor D. N. Bogole pov: „Fragen des Evangeliums und der bischöf- lichen ‚Erleuchtungsfabriken‘ (Voprosy . . . eparchial’nych svétnych zavodov ge- meint sind das geistliche Schrifttum oder die geistlichen Akademien) müssen Fragen der heutigen Weltwirtschaft und der Bearbeitung aktueller Probleme des Marxismus weichen“ (Izvestija Nr. 121/3355 v. 26. Mai 1929).

Sehr absprechend äußerte sih über die von en der Akademie 1922—1927 bearbeiteten philologischen und historischen Themen Ter- Oganezov in der Pravda Nr. 243 (4075) v. 18. Okt. 1928.

Zwischen der Haupt- und der Nachwahl erklärte ein im Auftrag des Rats der Volkskommissare in der Wahlangelegenheit nach Leningrad entsandter hoher Beamter, Gorbunov: „Die reformierte Akademie der Wissenschaften muß sich aus einer Akademie des überlebten, halbfeudalen Typus in eine Sovet- Akademie verwandeln, die von der alten Akademie als Erbe alle ihre ungeheuren wissenschaftlichen Reichtümer übernehmen soll, aber keinesfalls ihre alten Tradi- tionen, die bei ihr nicht ohne wohlwollendes Zutun der carischen Regierung entstanden sind“ (Pravda Nr. 28/4162 v. 8. Febr. 1929).

207) Izvestija Nr. 95 (4229) v. 25. April 1929.

208) G. Ry klin, Smelee nazad: Izvestija Nr. 112 (8648) v. 19. Mai 1929. Die Behandlung Istrins durch die Presse ist ein Schulfall für die Methode, mißliebige Gelehrte vor der Offentlichkeit herabzusetzen. Von ihm schrieb I. P. Podvolockij („Nauka i politika“ in der Pravda Nr. 26/4160 v. 1. Febr. 1929) während der durch die Akademiewahlen verschärften Spannung zwishen der Akademie und den marxistishen Gelehrten als dem Verfasser „einer ‚wissenschaftlichen‘ Arbeit von der Sorte: „Die Offenbarung des Methodios von Patara und die apokryphen Visionen Daniels“ („Otkrovenie Mefodija Patarskago i apokrifiteskija vidénija Daniila v vizantijskoj i slavjanorusskoj

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Vom Budgetjahr 1929—30 an wurde die Akademie durch Ein- führung der „Aspirantur ) zur „Ausbildung hochqualifizierter wissenschaftlicher Arbeiter“ als Spezialisten fester in das System der wissenschaftlichen Ausbildungsstätten der Union eingegliedert; von hundert Aspirantenstellen (75 in der physikalisch-mathematischen, 25 in der humanistischen Abteilung) entfallen auf Linguistik und Orientalistik je acht, auf Geschichte und Literatur- geschichte fünf und auf Soziologie und Wirtschaft vier.“) Von 350 Bewerbern wurden Anfang Dezember 57 fest angenommen; nicht weniger als 33 von diesen Aspiranten waren Mitglieder der Kom- munistischen Partei. 62 weitere Bewerber wurden vorgemerkt und. hatten sich einem Kolloquium in den „marxistischen Disziplinen“ zu unterziehen..)

Die Präponderanz der Natur wissenschaften, wie sie in der Aus- schreibung des Akademie entgegentrat,”") verstärkt die von mir früher ausgesprochene Befürchtung um die Zukunft der historischen Forschung in Rußland,“) vor allem um die Pflege der mittelalter- lichen Geschichte Rußlands und um das Fortbestehen der Archäographischen Kommission der Akademie als eines autoritativen Gremiums dafür.“) Die Zurücksetzung der historischen Wissen-

literatur“). Durch die Art der Zitierung mußte zugleich der Eindruck hervor- gerufen werden, als werde eine unlängst erschienene Untersuchung angeführt, während es sich in Wirklichkeit um ein im Anfang von Istrins Laufbahn, vor bereits mehr als dreißig Jahren (1897 in Bd. 181—188 der „Ctenija v imp. ob&estv& ist. i drevn. ross. pri Mosk. universitete) erschienenes Werk handelt. Ober die wissenschaftliche Bedeutung des Gegenstands, den Istrin in seiner wissen- schaftlichen Arbeit 5 hat (vgl. seine Miszelle „Otkrovenie Mefodija Patarskogo i Letopi$“: Izv. otd. russk. jaz. i slovesn. ross. Akad. Nauk 1924 g. Bd. 29, S. 880—882), und über die genannte, jeglicher politischen Wertung (solite man meinen) entrückte kirchengeschichtlich-quellenkundliche ER Istrins unterrichtet die Besprechung von C. E. Gleye in der „Byzant. Ztschr.“ (1900), 222—228. Wir wollen es Herrn Podvolockij nicht besonders an- rechnen, daß er von der jedem Historiker bekannten geistesgeschichtlichen Be- deutung des Pseudomethodios keine Vorstellung hat.

200) Izvestija Nr. 187 (8678) v. 18. Juni 1929. Unter dem Titel: „Sdelano na- jat“ nahm D. Zaslavskij in der Pravda Nr. 28 (4468) v. 24. Jan. 1980 die Nörgelei am Akademie-Wörterbuch wieder auf.

10% Vgl.: Vissenschaftlicher Nachwuchs in Sowjet-Rußland: Osteuropa 1 (1925—26), f.

219) Vgl. die Bekanntmachung der Akademie in der Pravda Nr. 224 (4858) v. 28. Sept. 1929.

2108) Izvestija Nr. 286 (8822) v. 5. Dez. 1929.

211) Die Ausschreibung der Akademie nennt Mathematik, Physik, Seismo- logie, Geologie, Mineralogie, Chemie, Zoologie, Biologie, Botanik, Mikrobiologie, Anthropologie, Ethnologie, Ethnographie, Geographie und Expeditionswesen.

213) Diese Jahrbücher N.F. IV, 280 f.

213) Ober die Kommission vgl: Akademija Nauk SSSR za desjat let 1917—1927 (Leningrad 1927), S. 88—95: S. F. Platonov, „Istorija“. Die Arbeitspline der Archäographischen Kommission, die am 9. April 1880 in den „Izvestija" (Nr. 98/8045) bekanntgegeben wurden, kündigen eine Umstellung und neve Richtung ihrer Editionstãtigkeit an: die Kommission wird Materialien zur Geschichte der Arbeiter in der Epoche der Leibeigenschaft (feodal’no-krepostnaya

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schaften im Plan der Aspirantenstellen war nicht in Einklang zu bringen mit Pokrovskijs Erklärung der Geschichte als einer „universellen Wissenschaft oder, genauer gesagt, als dem universellen Zugang zum Verstehen jeden gesellschaftlichen Problems“.

Im Winter 1929/30 spitzte sih das Verhältnis zwischen der Akademie und der Regierung wie nie zuvor zu. Am 5. November 1929 wurde der ständige Sekretär der Akademie, Professor Sergej F. Oldenburg, der diesen Posten seit über zwanzig Jahren be- kleidete, durch einen Beschluß des Rats der Volkskommissare der Sovetunion seines Amtes enthoben. Mit außerordentlihem Geschick hatte sich Oldenburg seit 1918 bemüht, die Tätigkeit der Akademie allmählich den neuen Verhältnissen anzupassen, ohne ihrem wissen- schaftlichen Rufe etwas zu vergeben. Die überraschende Maß- nahme der Regierung hatte folgende Vorgeschichte:: ) Am 19. Ok- tober war der Kommission des Volkskommissariats der Arbeiter- und Bauern-Inspektion, die den Personalstand der Akademie scharf revidierte, ) gemeldet worden, daß in einigen Instituten der Akademie, z. B. in der Akademie-Bibliothek, im PuSkin-Haus und bei der Archäographischen Kommission, Dokumente von politischer Be- deutung aufbewahrt würden. Die sofortige Untersuchung bestätigte die Anzeige; bei den Archivalien, die in der Akademie ausfindig gemacht wurden, handelte es sich in der Hauptsache um Dokumente aus der Zeit der konstitutionellen Monarchie in Rußland, um die Protokolle der Zentralausschüsse verschiedener Parteien, das Archiv der Presse-Hauptverwaltung u.s.w. Diese Dokumente dürften in den ersten Monaten der Revolution in die Akademie in Sicherheit ge- bracht worden sein, was niemals ein Geheimnis gewesen ist; 1925 wurden von der Akademie Akten der sog. Dritten Abteilung der Höchsteigenen Kanzlei und des Polizeidepartements „in beträcht- licher Menge“ an die Archivverwaltung abgegeben. V. Maksa- kov erwähnte die Ablieferung 1927 in der russischen Archivalischen Zeitschrift „Archivnoe delo“ und gab zugleich der Vermutung Aus- druck, daß sich noch weitere derartige Akten bei der Akademie be- fänden.“ ) Das erstaunlichste an der Auffindung der längst in der Akademie vermuteten, wie es nun hieß: von der Akademie verheim-

epocha) und zur Geschichte der Städte im 17. und 18. Jahrhundert veröffentlichen und Materialien für ein Vörterbuch zur Geschichte der Technologie in Rußland bis zur industriellen Revolution sammeln. Als erster Band einer neuen Serie „Materialy po istorii ekonomiteskogo razvitija Rossii“ (pod obščej red. M. N. Pokrovskogo) ist angekündigt: „Krepostnaja manufaktura v Rossii‘: I. Materialy po istorii tul’skich i kalirskich Zeleznych zavodov (1647—1690 gg.), pod red. B. GrekovaiS. Tomsinskogo.

314) Obščestv. nauki v SSSR. za 10 let: Vestnik Komakad. 26 (1928), 24.

214) Vgl. Pravda Nr. 258/4392 v. 6. Nov. 1929; weitere Einzelheiten in meinem Bericht über das russische Archivwesen, Archival. Ztschr. 1930.

214b) Die Zahl der Hilfskräfte, die durch die „Säuberung“ aus dem Dienste der Akademie entfernt wurden, ging in die Hunderte: Pravda Nr. 284/4418 v. 4. Dez. und Izvestija Nr. 300/3836 v. 20. Dez. 1929.

314c) Archivnoe Delo 18 S. 86 Anm. 1.

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lichten Dokumente bleibt, daß die Regierung nicht längst eingegriffen hatte, um Klarheit über die bei der Akademie deponierten Akten- bestände zu schaffen.

Die Archive der Sovetunion haben, so ist es in den letzten Jahren unzählige Male ausgesprochen worden, die Aufgabe, Waffen für den politischen Kampf zu liefern; daher war es leicht, die Nichtanmeldung von Dokumenten zur Geschichte Rußlands in den letzten Jahren des Carismus, die im Grunde nur ein historisches Interesse besitzen, zu einem politischen Vergehen zu stempeln. Außer Oldenburg wurde der Historiker S. F. Platonov, der Präsident der Archäographischen Kommission und Direktor der Akademie-Bibliothek und des Pugkin-Hauses, seiner Funktionen ent- hoben. In Versammlungen „wissenschaftlicher Arbeiter“ und ın der Sovet-Presse knüpfte an diese Vorgänge eine lebhafte Agitation für eine völlige Umgestaltung der Akademie an. Die Revisionskommission beanstandete die wissenschaftliche Qualifikation und die soziale Her- kunft zahlreicher Hilfskräfte der Akademie. 0

Um die Jahreswende wurde die in den letzten Jahren von kom- munistischer Seite so häufig geforderte radikale „Reorganisation der Akademie eingeleitet. Da im Statut von 1927 die besonderen Auf- gaben der Akademie in der „Periode des Aufbaus“ nicht berücksichtigt seien, wurde im Februar 1930 zur Ausarbeitung eines neuen Statuts eine besondere Kommission gebildet, in der die Akademie, der Oberste Volkswirtschaftsrat, die Plankommission, die Kommunisti- sche Akademie und das Komitee für wissenschaftliche Angelegen- heiten beim Zentral- Exekutivkomitee der Sovetunion vertreten waren. Der Entwurf zum neuen Statut stammt von den Aka- demikern Bucharin und Deborin. ““) Der am 1. März als Nachfolger Oldenburgs zum ständigen Sekretär der Akademie ge- wählte marxistische Historiker V. P. Volgin erklärte am 18. März, % das neue Statut werde sich u. a. vom ‘alten vor allem dadurch unterscheiden, daß bei Neuwahlen neben der rein wissen- schaftlichen Qualifikation des Kandidaten seine Mitwirkung an der sozialistischen Umgestaltung des Landes durch seine wissenschaftlichen Arbeiten ein Kriterium bilden werde; Mitglieder der Akademie könnten künftig nur Gelehrte werden, die zur revolutionären Be- wegung des Proletariats nicht feindlich eingestellt seien.

Ein Übereinkommen, das Anfang März zwischen der Unions- Akademie in Leningrad, der Allukrainischen Akademie der Wissen-

3144) Vgl. z. B. Izvestija Nr. 266, 269, 271, 282, 284 von 1929, Nr. 5 von

1980; Pravda Nr. 266, 269, 271, 284 von 1929. Ju. Figat ner, Proverka

ta Akademii Nauk: „VARNITSO“ (Organ Vsesojuznoj Associacii Rabot-

ov Nauki i Techniki dlja sodejstvija socialisti¢eskomu stroitel’stvu SSSR) 1980 Nr. 2.

314e) Leningradskaja Pravda Nr. 59/4488 v. 1. März 1930; s. ebda. Nr. 96/4475 v. 7. April 1980: Zadali rekonstrukcii naučnoj raboty. Doklad. tov. Bucharina v Akademii Nauk.

216!) Izvestija Nr. 78/8925 v. 20. März 1990.

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schaften in Kiev und der Weißrussischen Akademie der Wissen- schaften in Minsk geschlossen wurde, sieht eine planmäßige Reorgani- sation der Akademien vor, die ihre Tätigkeit in Übereinstimmung und die wissenschaftliche Forschungsarbeit der Akademien mit den aktuellen Fragen des sozialistischen Aufbaus in Verbindung bringen soll; die Akademien der Wissenschaften und die Kommunistische

Akademie sollen organisch miteinander verbunden werden..)

Es läßt sich zurzeit nicht übersehen, wie die tiefgreifenden organisatorischen Veränderungen in der Leningrader Akademie auf ihre fernere historische Arbeit und Publikationstätigkeit zurück- wirken werden.

Aus einer Rede A. I. Rykovs in einer Versammlung wissen- schaftlicher Arbeiter am 16. Februar 1930**") erfuhr man, daß die Regierung Beweise dafür zu haben glaubt, daß es in der Unions- Akademie einen konstitutionell-monarchistischen Kreis gegeben habe, und daß S. F. Platonov beschuldigt wird, eine Thronkandidatur des Großfürsten Andrej Vladimirovič propagiert zu haben. Die von Rykov verlesene Ee Aussage des Professors S. V. RoZdest- venskij, eines Schiilers von Parona und wissenschaftlichen Be- amten („Mitarbeiters“) der Akademie, über derartige müßige Kombinationen einer politisch völlig einflußlosen Gruppe von Ge- lehrten, die überdies von der „Sovet-Offentlichkeit“ seit langem arg- wöhnisch beobachtet wird, und die Anklage gegen den hoch ange- sehenen betagten und kränklichen Führer der nichtmarxistischen Historiker, der niemals in seinem Leben eine aktive politische Rolle gespielt hat, muß sehr ernst genommen werden.

Die Begründung des kommunistischen Historischen Instituts.

In den Jahren 1927 und 1928 im Kampf um Petrulevskij verdichtete sich die Opposition der marxistischen Kreise gegen das historische Ranion-Institut immer stärker zu der Forderung, dem Institut ein eigenes marxistisches wissenschaftliches Forschungsinstitut für Geschichte zur Seite oder vielmehr entgegen zu stellen. Die Not- wendigkeit eines kommunistischen Historischen Instituts als unum- gänglicher Voraussetzung für eine systematische wissenschaftliche Forschungsarbeit der Gesellschaft und für die Sicherung eines streng und rein marxistischen Nachwuchses“) zu erweisen, zog der Sekretär

2148) Izvestija Nr. 68/3910 v. 5. März 1980.

214h) Zadaci inZenerno-technileskich i nauénych sil v period socialistiteskoj rekonstrukcii: Izvestija Nr. 50 (8897) und Pravda Nr. 50 (4495) v. 20. Febr. 1980.

218) Die Sorge um den wissenschaftlichen Nachwuchs aus Kreisen der Partei beschäftigte nach der II. Gesamtunionskonferenz der marxistisch-leninistischen Forschungseinrichtungen im März 1929 wiederholt das Zentralexekutivkomitee der Parteı und führte zu entsprechenden Entschließungen; vgl.: O meroprijatijach po ukrepleniju naučnoj raboty: Pravda Nr. 158 (4292) v. 18. Juli 1929; N. Zimin, Nauönye kadry partii: Izvestija Nr. 157 (8608) v. 12. Juli 1929; O nautnych kadrach VKP (b): Pravda Nr. 189 (4823) v. 18. Aug. 1920; die letztere Entschließung forderte zur Erhöhung der Qualifikation der kommu-

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der Gesellschaft, Gorin, bereits in der Eröffnungssitzung des Moskauer Historikertags alle Register. Dem Berichterstatter schwebte in letzter Vollendung eine „Akademie für marxistische Geschichts- wissenschaft“ als ein Gegenstück zur Leningrader Akademie für Ge- schichte der materiellen Kultur vor.“) Im Falle der Nicht- begründung des Instituts für Geschichte werde sich die Gesellschaft nicht als lebensfähig erweisen.)

Den Zweck des Instituts hat Pokrovskij in einem Vergleich am Schluß seiner bereits erwähnten Eröffnungsansprache vor dem Moskauer Historikerkongreß folgendermaßen umschrieben: „Wenn wir für den Kriegsfall Flugzeuge, Tanks und Maschinengewehre rüsten, wenn es bei uns Militärakademien und ielle Einrichtungen gibt, die der Unterweisung in dieser Technik dienen, so müssen wir auch für den „friedlichen“ Kampf auf der ideologischen Front ent- sprechend anleitende wissenschaftlich? Einrichtungen schaffen und die einzige wissenschaftliche Methode zur Erklärung der Geschichte, über die nur wir, wir Marxisten, verfügen, mit der entsprechenden wissen- schaftlichen Apparatur waffnen.) In seinem Rückblick auf die Konferenz unterstrich Pokrovskij die Forderung eines kommunisti- schen Historischen Instituts als einen der wichtigsten Beschlüsse der Tagung, mit dem die marxistische Historikerschaft den Willen zu streng wissenschaftlicher Forschung neben der Popularisierungsarbeit bekundete: „Es ist Zeit, daß die wissenschaftliche Forschungsarbeit des Leninismus auf dem Gebiete der Geschichte bei uns die Formen annimmt, die zu dem Lande passen, wo die Diktatur des Proletariats herrscht und der Leninismus als die einzige annehmbare Ideologie für die weitesten Kreise erscheint..)

Das Präsidium der Kommunistischen Akademie beschloß dem- entsprechend im Frühjahr 1929, bei der Akademie ein Institut für

nistischen wissenschaftlichen Arbeiter u. a. neben Kommandierungen ins Aus- land den weiteren Ausbau der wissenschaftlichen Kommandos im Inland, be- sonders aus der Provinz nach Moskau zur Arbeit in den marxistisch-leninistischen Einrichtungen der Union, vor allem im Marx-Engels- Institut, im Lenin - Institut und in der Kommunistischen Akademie. Für häufigere Kommandierungen mar- xistischer Historiker ins Ausland trat besonders N. Lukin wiederholt ein; vgl. seinen Bericht über den Historikerkongreß in Oslo: Pravda Nr. 215 (4047) vom 15. Oktober 1928 und Istorik-Marxist 5. 1

10) 11, 222 f.; Trudy I, 24; über die Akademie vgl. N. Marr, Gosud. akademija istorii material’noj kul’tury: Pečat’ i revoljucija 1927 H. 7 S. 285—292 und die „Mitteilungen“ (Soobl&enija) der Akademie (I, Leningrad 1926; II 1929).

217) Unter den Gründen, die dazu drängten, eine feste Basis für die kom- munistische historische Forschungsarbeit zu schaffen, führte Gorin u. a. an: „In unserer Zeit tritt die nichtmarxistische Geschichtswissenschaft häufig unter der Flagge formaler Anerkennung des Marxismus auf und verlangt daher von dem marxistischen Historiker neben der marxistischen Methode noch eine sehr beträchtliche Summe von Kenntnissen. Sich lediglich auf die Methode des Marxismus beschränken ohne . Tatsachenkenntnis und ohne die „Technik“ der historischen Forschung geht in jetziger Zeit nicht mehr an.“ (11, 219.) Vgl. auch die Rede Pokrovskijs, Anl. 2 (S. 197).

318) 11, 218.

210) 11, 6.

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Geschichte (Naučno - issledovatel’skij Institut istorii SSSR pri Komakademii) als Zentrum der marxistischen historischen Forschung in der Union zu begriinden. Es wurde Vorsorge getroffen, das Institut eng mit der Arbeit der Gesellschaft der marxistischen Historiker zu verkniipfen; in ihm sollten diejenigen Einrichtungen der Akademie, die bisher schon historisch arbeiteten, aufgehen, in erster Linie die Sektion fiir Methode und Methodologie der Ge- schichte (Sekcija metodiki i metodologii istorii),”) zu der 1928 die Sektionen für Geschichte der revolutionären Bewegung (Sekcija istorii revoljuc. dviZenija) und die methodologisch-soziologische Sektion vereinigt worden war. Auch eine Verschmelzung des Ranion-Insti- tuts für Geschichte mit der Neugründung wurde ins Auge gefaßt. Die „Aspirantur“, d. h. die Vorbereitung des wissenschaftlichen Nach- wuchses für Hochschulen und wissenschaftliche Forschungsstätten, die bisher zu den Kompetenzen des Ranion-Instituts gehörte, sollte an die Neugründung übergehen.“)

Die Offentlichkeit wurde auf den Beschluß des Präsidiums der Kommunistischen Akademie, ihr ein Institut für Geschichte anzu- gliedern, nachdrücklich aufmerksam gemacht: ein Artikel von Pokrovskij selbst, dem präsumptiven Direktor des neuen Instituts, kennzeichnete wenige Tage später in der „Pravda“ ) Ver- öffentlichungen zweier Mitglieder des Ranion- Instituts für Ge- schichte, der Professoren S. B. Veselovskij”) und P. F. PreobraZenskij,”) und eines Mitarbeiters der ersten

220) Vgl. Vestnik Komakad. 31 1929 Nr. 1 S. 289. Die Sektion trat 1928 zum Cerny3evskij-Jubiläum mit einer fünfbändigen Auswahl aus Cerny$evskijs Werken hervor; der erste Band (Historische Schriften) bringt den berühmten Auf- ruf an die herrschaftlichen Bauern (,,Barskim krest’janam“) zum ersten Male in der originalen, unverkürzten Fassung; vgl. Vestnik Komakad. 80 1928 Nr. 6 S. 262; Istorik-Marxist 8, 244.

221) Izvestija Nr. 60 (8596) v. 14. März 1929.

222) O naucno-issledovatel’skoj rabote istorikov: Pravda Nr. 68 (4197) vom 17. März 1929; s. dazu auch M. Pokrovskij, Vse o tom Ze, no neskol’ko drugimi slovami: Pravda Nr. 112 (4246) v. 19. Mai 1929.

233) Veselovskij, K voprosu o proischo2denii vottinnogo režima (Mosk. 1926).

234) Preobraženskij, Tertullian i Rim; vgl. V. Sergeev, Krizis anti¢nogo mira i christianskaja cerkov’: Istorik-Marxist 6 (1927), 227—286 (zurück- haltend anerkennend); N. I. Deratani: Pečat’ i revoljucija 1927 H. 2. S. 149 f.

Als sich Preobraženskij in einer Einsendung an die Redaktion der „Pravda“ gegen die wissenschaftliche Disqualifikation und öffentliche Diffamierung verwahrte, ließ Pokrovskijs Entgegnung an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Man kann der ehrlichste Spezialist in Sovetdiensten sein, kann aufrichtig und eifrig, ohne jede Täuschung für den Sovetstaat arbeiten, ohne dabei Marxist zu scin: das sind zwei völlig verschiedene Qualifikationen. Wir können die Ver- dienste dieses oder jenes ehrlichen Spezialisten hoch schätzen, aber daraus folgt keineswegs, daß wir verpflichtet sind, die Erziehung der künftigen Historiker Nicht-Marxisten anzuvertrauen. Professor Preobraženskij wie auch einige seiner Kollegen haben von allem Sonstigen abgesehen bis jetzt nicht Begriffen; daß in der Wissenschaft die ideologische Frage eine politische Frage ist. Wer an unserer Ideologie zu rütteln sucht, ist unser politischer Feind .. .“ Pravda Nr. 84 (4218) v. 12. April 1929: P. Preobraženskij, Pismo v redakciju. M.

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Kategorie (N. Drukinin) *) in auffallend scharfer Weise. als nichtmarxistische Forschungen.“) Diese Beispiele sollten vor der Offentlichkeit die jedem marxistischen Historiker bereits ins Bewußtsein gehämmerte Notwendigkeit eines eigenen Historischen Instituts für die Ausbildung kommunistischer Historiker noch schärfer beweisen.“) Indem er an eine bereits angeführte Äußerung Lenins“) über den Aufbau des Kommunismus im Anfang mit Hilfe von Nichtkommunisten erinnerte, schloß Pokrovskij seinen Artikel mit einer seiner typischen Lenin-Interpretationen: Lenin habe so gesprochen, als wir noch nicht genug eigene Hände hatten. „Und der große Dialektiker würde uns Dummköpfe schelten, wenn er sähe, daß wir jetzt, wo wir eigene Hände haben, sie nicht aus der Tasche nehmen und die Arbeit fremden Händen überlassen. . .“

Die Regierung sanktionierte den Beschluß des Präsidiums der Kommunistischen Akademie und bestätigte im April das Kollegium des neuen Instituts, außer M. N. Pokrovskij, als Direktor, N. N. Vanag, V.P. Volgin, P. O. Gorin, N. M. Lukin, S. M. Monosov, S. A. Piontkovskij, M. A. Savel’ev, A. D. Udal’cov und C. Fried- land. Im Institut waren vier Sektionen vorgesehen: für die Geschichte der Völker der UdSSR; für die Geschichte Westeuropas und Amerikas; für Geschichte des Orients; ferner eine Sektion für Soziologie.)

Das Institut wurde im November 1929 eröffnet. Vom Ranion- Institut für Geschichte, das in dem neuen Institut aufging, wurden 45 Personen übernommen; 13 Aspiranten wurden neu aufgenommen. Der Aufbau des Instituts entfernte sich etwas von dem ursprüng- lichen Plan, indem zunächst Sektionen für Methodologie der Ge- schichte, für die Geschichte des Industriekapitalismus, für Soziologie,

Pokrovskij, Otvet prof. Preobrakenskomu. In den „Izvestija“ vom 26. März 1980 (Nr. 84/8081) griff F. Teslenko von neuem Preobraženskij, dem er absprechende Außerungen gegen Engels vorwarf, in schärfster Weise an; Pr. verwahrte sich dagegen in einer Zuschrift an die Redaktion (abgedruckt in We bc v. 4. April), Teslenko behielt das letzte Wort (Nr. 98/3945 v. . April).

338) N. M. Družinin, „Zurnal zemlevladel’cev“ (1858—1860 goda.): Uden. zap. instituta istorii RANION II (1927), 251—810.

220) Ich halte die Arbeit von Veselovskij, obwohl sich in ihr in der Tat von "Klassen" -Analyse keine Spur findet und wirtschaftliche Fragen darin stark zurücktreten, für einen wertvollen Beitrag in der Diskussion über die staatsrechts-

geschichtliche Struktur des Moskauer Rußland.

41 In die Polemik gegen das RANION- Institut für Geschichte fällt auch Friedland Kritik an einer aus dem Kreise der Mitglieder und Mitarbeiter des Instituts hervorgegangenen Chrestomathie zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Europas in der neueren und neuesten Zeit (Chrestomatija po social’no-ekonomi- českoj istorii Evropy v novoe i novejšee vremja, pod red. V. P. Volgina. 1929) im Istorik-Marxist 11, 184—187; am Schlusse der Rez. heißt es: „Nach alledem ist offenkundig, daß die Konferenz der marxistischen Historiker nicht ohne Grund feststellte, daß erst die Heranbildung eigener streng marxistischer Cadres über die Zukunft unserer Arbeit entscheiden wird“ (S. 187).

238) S. 111 f.

220) Pravda Nr. 98 (4227) v. 26. April 1929.

10 NF 6 143

fiir die Geschichte des Proletariats der Sovetunion und fiir die Ge- schichte des Orients gebildet wurden. Von der Abteilung fiir die Geschichte des Proletariats wurde mit Unterstiitzung des Zentral- verbands der Gewerkschaften eine Vierteljahrsschrift fiir die Ge- schichte der Arbeiterklasse in der Sovetunion (, Istorija proletariata SSSR“) begründet.

Schon in den wenigen Monaten, die seit der Einweihung des Instituts verstrichen sind, ist deutlich geworden, daß das Kollegium keine Gelegenheit vorbeigehen läßt, die Offentlichkeit zu beein- flussen, indem es sich in der russischen Geschichts wissenschaft sozu- sagen oberrichterlihe Funktionen anmaßt. Gleich in der Er- öffnungssitzung wurde eine Resolution gefaßt, die die Verheim- lichung von Dokumenten in der Akademie der Vissenschaften „politische Gegenrevolution und wissenschaftliches Schädlingstum“ brandmarkte.”®) Am 26. Januar 1930 übergab das Kollegium des Instituts der Presse eine Erklärung zu den bevorstehenden Akademie- wahlen. Es habe beschlossen, die Kandidatur des Genossen V ol g i n”) zu unterstützen und spreche sich entschieden gegen die Kandidaturen Ajnau (Ajnalov), Dovnar-Zapol’skij,”%) Veselov- skij und Egorov aus; es werde an das Gelehrte Komitee beim Zentral-Exekutivkomitee der Sovetunion eine motivierte Erklärung gelangen lassen, warum diese Kandidaturen unerwünscht seien. Es sei notwendig, auf einer erweiterten Sitzung des Präsidiums der Kom- munistischen Akademie zu erörtern, in welcher Form die Tätigkeit der Akademie der Wissenschaften und speziell ihrer kommunistischen Mitglieder am besten durch die Offentlichkeit kontrolliert werden könne. Auch werde man bei der kommunistischen Fraktion der Akademie der Wissenschaften darauf hinwirken, den zweiten vakanten Sitz eines Historikers vorläufig nicht zu besetzen, da die Kandidaturen nicht befriedigten. ) Zu dieser auffälligen Kund- gebung nahm Lunalarskij als Präsident des Gelehrten

32ta) Otkrytie instituta istorii: Izvestija Nr. 270 (8806) v. 20. Nov. 1929. Pokrovskijs Rede bei der Eröffnung des Instituts („Institut istorii i zadali istorikov-marksistov“) ist in Heft 14 des „Istorik-Marxist“ gedruckt.

329b) Über Volgin, der in der Frühjahrssession der Akademie zum Mit- glied gewählt wurde: G. Seidel (Zajdel’), V. P. Volgin, kak istorik socializma: Izvestiya Nr. 18 (8865) v. 18. Jan. 1980.

22%) Eine Zuschrift an die „Pravda“ („Protiv Dovnar-Zapol’skogo“) bezeich- nete den Historiker als „typischen Professor einer Provinzial-Universität": Nr. 2 (4468) v. 24. Jan. 1980.

Im Auftrag des Instituts für turkmenische Kultue (Institue turkmenskoj kul’tury) erklärte V. Karpyé in den Izvestija Nr. 25 (8872) v. 26. Jan. 1990: „Auf völliges Unverständnis stößt die Aufstellung solcher Kandidaturen zur Aka- demie wie die des Prof. Dovnar-Zapol’skij, der nachdem er gesellschaftlich-politisch und wissenschaftlich-methodologisch in Weißrußland Bankrott gemacht hat —, sich jezt bemüht umzusatteln (perevooruZit’sja) und sich mit Orientalistik zu be- schäftigen, insbesondere mit den Problemen des sovetistischen Mittelasien.

Volle Unterstützung finden natürlich solche Kandidaturen wie die der Gen. Lunalarskij und Volgin.“

229d) Izvestija Nr. 25 (3872) v. 26. Jan. 1930.

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Komitees in einer Zuschrift an die „Izvestija“ Stellung:) Das Komitee besitze nicht die Kompetenz, bestimmte Kandidaturen ab- zuweisen. Kundgebungen wie die des Instituts würden durch die gemischten Kommissionen aus Vertretern der Republiken und der Akademie der Wissenschaften zur Kenntnis genommen und auch durch die wählenden Akademiker selbst. Zugleich gab er bekannt, daß in der Frage des vakanten Sitzes das Präsidium der Akademie im Sinne des Wunsches des Instituts für Geschichte entschieden habe.

Als im Februar 1930 M. Javor$kyj, der bis dahin als Führer der ukrainischen marxistischen Geschichtswissenschaft gegolten hatte, aus der Partei ausgeschlossen wurde, nahm das Kollegium des Instituts öffentlich zum „Fall aad Stellung und gab den ukrainischen Historikern die Richtlinie für die neue Periode ihrer Arbeit.“ )

Ukraine.

Zentren der marxistischen historischen Arbeit in der Ukraine sind das 1923/24 gegründete Ukrainische Institut für Marxismus und Leninismus in Char’kiv”®) und das marxistisch - leninistische „Forschungskatheder“ bei der Ukrainischen Akademie der Wissen-

aften in Kiiv (Nauéno-issledovatel’skaja kafedra marksizma- leninizma pri Ukrainskoj Akademii Nauk), mit dem eine Kommission für Geschichte der Partei verbunden ist und das Sektionen für die Ukraine und den Westen besitzt;“) außerdem die ukrainische Ist-

320e) Ulenyj komitet pri CIK = Komitet zavedyvaniju utenymi i uebnymi učreždenijami CIK SSSR. | = we SE?

230!) Nr. 83 (8880) v. 8. Februar 1980.

30g) Siehe Anlage 5. Vgl. dazu die reichlich spi

i dte Entgegnung des Sekretärs des Zentralkomitees der Kommunist. Partei der Ukraine, S. Kosior,

in der „Pravda“ Nr. 95 7 v. 6. April 1980 und: „Ob Javorščine“. Rezoljucija, prinjataja sobraniem partkollektiva Ukrainskogo Instituta Marksizma-Leninizma, in den „Izvestija“ Nr. 101/3948 v. 12. April 1980.

320b) Vgl. Javorskj: Vestnik Komakad. 26 1928 H. 2 S. 272 f.; ders. Ukrainskij institut marksizma (Char’kov): Istorik-Marxist 11, 224; Skrypnik Ukrainskij institut marksizma i leninizma: Vestnik Komakad. 27 = 1928 H. $

S. 808—311; J. Osersky, Organisation und Stand der wissenschaftlichen Arbeit in der Ukraine: Osteuropa 4 (1928—29), 229.

2330) Vgl. Levik, Kievskaja marksistsko - leninskaja kafedra: Vestnik Komakad. 27 1928 H. 8 S. 811—316; als Levik in seinem Bericht vor der I. Konferenz der marxistisch- leninistischen Forschungseinrichtungen erklärte, die marxistischen Kreise der Ukraine betrachteten die Art dieses Katheders, seine Ver- bindung mit der Ukrainishen Akademie der Wissenschaften, als eine besondere Form des Kampfes und als geeignetes Mittel, sich in der Akademie einzunisten, konnte Rjazanov ob solcher naiver Offenherzigkeiten den Zwischenruf: „Ein schlaues Volk!“ nicht unterdrücken; das trug ihm von Pokrovskij (als Vor-

sitzenden der Versammlung) eine Rüge ein: „Ich bitte, sich nationalistischer Be- merkungen zu enthalten!“ (S. 812).

‚Im Sommer 1929 wurde der marxistische Einfluß in der Ukrainishen Aka- demie der Wissenschaften durch einen „Pairsschub“, der ein Gegenstück zur Lenin- rader Akademiewahl bildete, beträchtlich verstärkt; zu den am 29. Juni d. J. inzugewählten 84 neuen Mitgliedern. gehörte im Cyklus der historischen Wissen-

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art-Organisation mit Filialen in Char’kiv, Kiiv und Odessa, die seit 3 ein eigenes Organ: „Litopis revoljucii“, Zurnal istparta CK KP(b)U herausgibt.

Im Char kiver Institut, das eine Zeitschrift „Prapor Marksizmu“ (Fahne des Marxismus) erscheinen läßt, entwickelten die historische Abteilung mit drei historischen Lehrstühlen (für die Geschichte der Ukraine, die Geschichte des Westens und die Geschichte der Partei und der Oktoberrevolution), ferner der Lehrstuhl für Soziologie (mit Kommissionen für den historischen Materialismus und für die Ge- schichte der „bürgerlichen Soziologie“, gemeint ist die Geschichts- auffassung Hrusevsky js) und ein besonderes Katheder für die ukrainische Nationalfrage eine rege Tätigkeit. M. Ja vor Sky j, der Inhaber des Katheders für die Geschichte der Ukraine, machte die größten Anstrengungen, an Stelle HruSevSkyjs „genetischer Ge- schichte“ einer Periodisierung, die eine völlig eigene, vom „Klassen“ standpunkt unberührte historische nationale Entwicklung des ukrainischen Volkes konstruierte —, einem eigenen „marxisti- schen Schema“ der ukrainischen Geschichte Geltung zu verschaffen.“) Von den marxistischen Historikern der Ukraine, die seit dem De- zember 1928 in der „Ukrainischen Gesellschaft der marxistischen Historiker“ (Ukrains ke tovaristvo Istorik-Marksist) zusammen- geschlossen ne) hat in den letzten Jahren keiner einen Beitrag zur marxistischen historischen Arbeit in der Sovetunion geliefert, der über die Grenzen der Ukraine hinaus Beachtung verdient hätte.“)

schaften M. Ja. Javorskyj, der Wortführer der ukrainischen marxistischen Geschichts wissenschaft in Berlin und Oslo 1928 (vgl. Osteuropa 4 (1928—29), 684 und 815 f.); am 30. November wurde Javorskyj zum Mitglied des Präsidiums der Akademie gewählt.

231) Die Stellung, die Javorskyj der Dekabristenbewegung in der ukrainischen Geschichte zuweist, wurde von J. Lossky („Neuere ukrainische wissenschaftliche een zum Dekabristenaufstande‘) in diesen Jahrbüchern N.F. V. (1929), S. 401 gestreift.

232) Bei der Gesellschaft besteht eine Kommission zur Erforschung der West- ukraine, die Veröffentlichungen über die revolutionären Bewegungen in Galizien 1848 und 1918—19 vorbereitet: Vestnik Komakad. 27 1928 H. 8 S. 307.

233) In dieser Hinsicht ist das völlige Fehlen von Besprechungen über aus- gesprochen marxistische ukrainische historische Publikationen in den elf Heften des „Istorik-Marxist“ vielsagend. Daß von der außerordentlich umfangreichen und vielseitigen, international anerkannten (HruSevSkyj-Festschrift!) Editionstätigkeit der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften in dem Moskauer marxistischen Organ fast keine Notiz genommen wurde eine Ausnahme bildet I. Trockijs Anzeige der durch Heranziehung orientalischer Quellen und archäologischen und linguistischen Beweismaterials bemerkenswerten Untersuchung von Pavlo Smir- nov, Volz’kij šljach i starodavni Rusi (Der Volgaweg und die alten Russen). Narisi z ruSkoi istorii VI—IX vv. = Ukrains’ka Akademija Nauk. Zbirnik istori¢no- filologitnogo viddilu Nr. 75 (1928): 10, 244—246 ist weniger erstaunlich, als daß Javorskyj in seinem Vortrag über „die Ergebnisse der ukrainischen Geschichts- forschung in den EE 1917—1927” in Berlin und Oslo 1928 sich auf die Mit- teilung der von ihm sehr überschätzten marxistischen „Ergebnisse“ beschränkte. Die notwendigen Ergänzungen über die nicht marxistisch orientierte ukrainische Forschung, mit der Javorskyj auf der Moskauer Konferenz in seinem Vortrag

146

Die Moskauer Historikerkonferenz erhielt fiir das Verhältnis der „großrussischen“ und der ukrainischen“ marxistischen Forschung be- sondere Bedeutung dadurch, daß Pokrovskij die Ukrainer nachdrück- lich auf die Gefahren einer „klassovo-nacional'nyj metod“, auf die Entstellung des Klassenkampfschemas durch allzustarkes Hineinziehen nationaler (bzw. ethnographischer) Gesichtspunkte hinwies;™*) er machte die größten Anstrengungen, die Gefahren des Nationalismus für die Geschlossenheit der marxistischen Historiker-Phalanx zu bannen: angesichts der einheitlichen Front der „istoriko-kontra- revoljucionery“ beschwor er die Versammlung, eine feste und ein- heitliche Front der russischen und ukrainischen Historiker zu bilden und sofern man von ukrainischen, weißrussischen u. dgl. Traditionen und Ambitionen sprechen könne, diese eine Zeitlang zurückzu- stellen.

Unter diesen Umständen bekundete die Zusammenstellung einer starken, demonstrativ aus den aktivsten Mitgliedern der Gesellschaft zusammengesetzten offiziellen Delegation des Moskauer marxisti- schen Historikerkreises für eine geplante ukrainische Historiker- konferenz) den Willen der „Zentrale“, den nationalistischen Ein-

über die „antimarxistischen Strömungen in der ukrainischen historischen Literatur von heute“ (s. oben S. 127) abrechnete —, bieten: D. Dorolen ko, Ukrainian historiography since 1914: The Slavonic Review Bd. III (1925), 288—289; ders., „Die Entwicklung der ukrainischen Geschichtsidee vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zur enwart™ in diesen Jahrbüchern N.F. IV (1928), 868—879; ders., Die Entwicklung der Geschichtsforschung in der Sowjetukraine in den letzten Jahren: Mitteilungen des Ukrainischen Wissenschaftlichen Instituts in Berlin H. 2 (1928), 85—56; R. Smal’-Stockyj, The Centres of Ukrainian Learning: The Slav. Rev. II (1928), 558—566; I. Krypiskie vy, Létat actuel de histo- riographie ukrainienne: Conférence des historiens des états de l'Europe Orientale et du Monde Slave, II (Varsovie 1928), 100—114; O. Hermajze, Die ukrai- nische Geschichtswissenschaft in der USSR: Slavische Rundschau 1 (1929), 368 bis 866; ders. (Germajze), Ukrainsk. istor. nauka 1917—1927, in den ,,Studii z istorii Ukraini naukovo-doslidéoi katedri istorii Ukraini v Kiivi, Bd. II (Vseukr. Akad. Nauk. 1929). Vgl. auch J. Osersky, Organisation und Stand der wissenschaftlichen Arbeit in der inet Osteuropa 4 Sie 223—226; O. Kolo da, Die Allukrainische Akademie der Wissenschaften: Das Neue Ruß- land 6. Jg. (1929), H. 1 S. 20—22. V. Klinger, Z martyrologji nauki w Rosyi (die Tragödie Sterbakivskij): Przeglad Wspölczesny 6. Jg. Bd. 23 (1927) 56—64; M. Pakul, Vsevitnja istorija na Ukraini za 1917—1928 r.: Prapor Marksizmu 1929 Nr. 2 S. 184—206.

Über den Antrag HruSevékyjs, in Leningrad ein Ukrainisches histo- risches Institut bei der Akademie der Wissenschaften der Sovetunion zu begründen, s. oben S. 186.

ss.) 11, 8f. 235) Vgl. den Bericht über den Historikertag in der Pravda Nr. 8 (4137) v. 4. Jan. 1929. Über nationalistische Tendenzen, die in die Beratung der künf-

tigen Organisation der Gesellschaft der marxistischen Historiker hineinspielten, s. Evg. Krivoleins in den Izvestija Nr. 9 (3545) v. 11. Jan. 1929.

3%) Aufruf zum Ukrainischen Historikerkongreß: Litopis revoljucii 1929 Nr. 1. Beilage; Karetnikova, Ustanovka konferencija Ukrains’kogo tova- ristva „Istorik-Marksist“: Prapor Marksizmu 1929 Nr. 1 S. 174.

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flüssen, die den ukrainischen Marxismus bedrohen, nach Kräften entgegenzuwirken.“

Bereits im Februar 1929, fünf Vochen nach der marxistischen Historikerkonferenz, hatte P. Gorins Besprechung der „Istorija Ukraini v stislomu narisi“ Ja voorSKy js) einen tiefen Gegensatz in der marxistischen Historikerschaft enthüllt. Gorin fand, Javor$kyj seine Aufgabe von einem „formal-nationalistischen“ an- statt vom Klassen-Standpunkt durchgeführt habe, und ging so weit, das Buch eine „nicht bolschevistische“ Arbeit zu nennen. Dieser Kuß erung kam durch die Persönlichkeit des Rezensenten besonderes Gewicht zu, da Gorin als Schriftleiter der Zeitschrift „Proletarskaja Revoljucija“ und als „Gelehrter Sekretär“ der Gesellschaft der marxistischen Historiker über großen Einfluß verfügt. Schon in der Diskussion, die sich an Javorskyjs Vortrag auf der Moskauer Konferenz über antimarxistische Richtungen in der ukrainischen Geschichts wissenschaft anschloß, hatte Javorskyj vor Gorins Angriff, der ihm eine nicht genügend marxistische Formulierung der Ge- schichte der Revolution von 1905 in der Ukraine vorhielt, kapitu- lieren müssen.““) Während des ganzen Jahres 1929 setzte sich Javorskyj gereizt mit seinem unerbirtlichen, ihm dialektisch weit überlegenen Kritiker, dem in der Gesellschaft der marxistischen Historiker sekundiert wurde, auseinander;*°) er führte einen ver- zweifelten Kampf um seine Geltung als marxistischer Historiker, die durch ein Trommelfeuer von Anklagen erschüttert wurde. Vor- würfe, die in der Campagne gegen Javorskyj immer wiederkehrten, waren z. B.: National-Chauvinismus, der für eine nationale „Ab- weichung nach Rechts“ von der Parteilinie die historische Begründung liefere; Feindschaft gegen die Ideen des Internationalismus; Ver- zeichnung der Rolle des Proletariats in der revolutionären Bewegung der Ukraine und Fehler in der Beurteilung der Ukrainischen Kom- munistischen Partei; Irrtümer in der Einschätzung des ukrainischen

337) Zu Mitgliedern der Delegation wurden gewählt: M. N. Pokrovskij, N. M. Lukin, C. S. Friedland, S. M. Dubrovskij, S. S. Krivcov, Evg. Krivoleina, P. O. Gorin, A. M. Pankratova, P. G. Galuzo, P. I. Kulner, D. Ja. Kin, P. I. Anatol“ ev: Izvestija Nr. 108 (3639) v. 9. Mai 1929; es handelt sich bei den Ge- nannten z. T. um hervorragende Spezialisten Dubrovskij für die Agrarverhält- nisse Rußlands im 20. Jahrhundert, Lukin und Friedland für die Geschichte der französischen Revolution, Galuzo für die russische Politik in Mittelasien usw. —, deren Namen im „Istorik-Marxist“ und überhaupt in der marxistischen historischen Arbeit häufig begegnen.

238) Pravda Nr. 34 (4168) v. 10. Febr. 1929.

230) Pravda Nr. 8 (4137) v. 4. Jan. 1929; Trudy I, 467 f.

240) Diskussion zwischen Javorskyj und Gorin: Prapor Marksizmu 1929 Nr. 2, S. 207—218 und Nr. 5, S. 227—229; s. auch Ist.-Marxist 12, 884 f. Vgl. ferner T. Sk ubickij, Rez. von Javorskyjs „Istorija Ukraini“: Ist-Marxist 12, 282—285; im Dezember 1929 hielt Skubickij in der Gesellschaft der marxist. Historiker vor der Sektion für die Geschichte der Völker der Sovetunion einen Vortrag: „Schema istorii Ukrainy v rabotach Javorskogo.“ Vgl. auch V. Suhino-Chomenko, Na marksists’komu istoriènomu fronti: Bil’dovik Ukraini Nr. 17—18 (1929), 42—55 und Nr. 19 S. 40—56.

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Kulakentums und der Zentralen Rada; Idealisierung der kleinen Bauern im Geiste des Narodniki usw. Die „Irrlehren“ hätte Javorskyj im schlimmsten Falle abschwören können, wie er in einzelnen Punkten schon früher seine Ansicht revidiert hatte. Es waren im Grunde nicht die historischen Streitfragen, die zu Beginn des Jahres 1930 Javorskyjs politischer und wissenschaftlicher Laufbahn ein jähes Ende setzten; vielmehr führten Feststellungen über seine politische Vergangenheit, daß er nach dem Kriege in Galizien im Kampf gegen den Bolschevismus in vorderster Reihe gestanden hatte, i der „Säuberung“ der Kommunistischen Partei der Ukraine seinen Aus- schluß her 2

Die Tiefe dieses Sturzes ermißt, wer sich erinnert, daß Javorskyj es gewesen ist, der vor zwei Jahren in Berlin und Oslo die ukrainische marxistische Geschichtswissenschaft repräsentierte, daß er es E ist, der auf der marxistischen Historikerkonferenz als Sprecher der ukrainischen Delegation Pokrovskij als dem „Schöpfer und Organi- sator der einheitlichen ideologischen marxistischen Front in unserer Geschichtswissenschaft“ unter tosendem Beifall den Glückwunsch der Versammlung zum sechzigsten Geburtstag entbot.“)

Die marxistische Geschichtswissenschaft der Ukraine, die in den nächsten Monaten im Zeichen der Bekämpfung der _,,JavorStina“ stehen wird, befindet sich in einer schweren Krise; denn auch ihr be- kanntester Vertreter nächst Javorskyj, Professor O. Ju. Germajze, der als Historiker beim Katheder für Marxismus der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften in Kiev arbeitete, wurde bereits vor längerer Zeit vom Amte suspendiert und befand sich unter den Hauptangeklagten in dem Hochverratsprozeß, der im März 1930 in Char’kiv gegen die Mitglieder eines „Bundes zur Befreiung der Ukraine“ begann; “) am 19. April wurde er zu zwei Jahren Freiheits- entziehung mit strenger Isolierung und Verlust der Rechte verurteilt.

Die Konferenz für den Unterricht in den marxistischen historischen Disziplinen.“ Vom 7. bis 9. Februar 1930 veranstaltete die „Sektion für Ge-

schichte der Kommunistischen Partei und des Leninismus“ der Gesell- der marxistischen Historiker eine Beratung über die Behand-

341) Vgl. A. Seljubskij, Matvej Javorskij avantjurist: Pravda Nr. 59 (4504) v. 1. März 1980; P. Gorin, Ob odnoj poutitel’noj biografii: Izv. Nr. 61 (8908) v. 8. März 1980; M. Skripnik, Pomilki na vipravlenija akademika M. Javorskogo: Bil’$ovik Ukraini 1980 Nr. 2. Vgl. auch die bereits oben er- wähnte Erklärung des Histor. Instituts der Kommunist. Akademie (Anlage 5).

343) Trudy I, 75.

343) Vgl. den Prozeßbericht in der Pravda Nr. 72 (4517) v. 14. März 1930.

34) Pervoe vsesojuznoe sovelèanie po voprosam prepodavanija Leninizma, istorii VKP (b) i Kominterna; vgl. Pravda Nr. 41 (4486) v. 11. Febr. 1930; Izvestija Nr. 43 (3890) v. 18. Febr.; Ja. Bronin, Aktual’nye zadali prepo- davanija leninizma i istorii partii: Kommunistileskaja revoljucija 1930 Nr. 7; ders., K itogam soveitanija po voprosam prepodavanija leninizma, istorii VKP (b) i

149

lung der drei nah verwandten parteigeschichtlichen Disziplinen ,,Ge- schichte der Kommunistischen Partei (der Bolscheviki)“, „Leninismus“ und „Geschichte der Kommunistischen Internationale (= Komintern)“ im Unterricht. Um eine klare Linie der „historischen Front“ für die Parteigeschichte (,,istoriko-partijnyj front“) herauszuarbeiten, war Aufgabe der Referate, die Methoden für die Forshung über Fragen des Leninismus und der Parteigeschichte prinzipiell zu klären. Es wurden folgende Themen behandelt:

Dic Aufgaben des Unterrichts in der Geschichte der Partei und im Leninismus (E. Jaroslavskij);

Die Arbeit des Lenin-Instituts (M. A. Savel’ev);

Die Aufgabe einer wissenschaftlichen Biographie Lenins (V. V. Adoratskij);

Der Leninismus als wissenschaftlihe Disziplin und als Unterrichtsgegenstand (K. A. Popov);

Die Geschichte der Partei als Wissenschaft (D. Ja. Kin);

Der Gegenstand, die Programme und die Methode des Unterrichts tiber dic Ge- schichte der Komintern (Bela K u n). 4)

Viel Mühe wurde darauf verwandt, die Geschichte der Partei, d. h. die Geschichte des Bolschevismus in Rußland, als selbständiges Fach gegen die Geschichte der Sozialdemokratie überhaupt, die Ge- schichte der Arbeiterbewegung und die Geschichte der revolutionären Bewegung und des Klassenkampfes abzugrenzen.

Die Konferenz schlug in Fragen der Theorie des Marxismus die schärfste Tonart an, verdammte alle Versuche, in der „Toga der Orthodoxie“ den Marxismus-Leninismus opportunistisch zu ver- fälschen und bekannte sich unbedingt zu Stalins Definition des Leninismus:

„Der Leninismus ist der Marxismus der Epoche des Imperialismus und der proletarischen Revolutionen. Der Leninismus ist eine geschlossene revolutionäre Weltanschauung, die die Gesamtheit der Erscheinungen der Natur und der mensch- lichen Gesellschaft umfaßt und die mit ihrer Spitze auf die revolutionäre Um- gestaltung dieser Gesellschaft durch das Proletariat gerichtet ist. Als Marxismus einer bestimmten Epoche setzt er sich aus drei Bestandteilen zusammen: der materialistischen Dialektik und dem historischen Materialismus, der marxistischen

litischen Okonomie und dem wissenschaftlihen Kommunismus. Der letztere... ist nichts anderes als die wissenschaftliche Theorie der proletarischen Revolution und der Diktatur des Proletariats. Der Leninismus als besondere wissenschaft- liche Disziplin und als besonderer Unterrichtsgegenstand ist die marxistische Lehre der Epoche des Imperialismus von der proletarischen Revolution und der Diktatur des Proletariats. Oder, mit anderen Vorten: vom Programm der Strategie, Taktik und Organisation des Proletariats im Kampf für seine Diktatur und fir die Ver-

Kominterna: Izvestija Nr. 50 (8897) v. 20. Febr.; D. Kin, K itogam odnogo sovestanija: Pravda Nr. 68 (4518) v. 10. März; „Rezoljucija“: Izvestija Nr. 62 (8909) v. 4. März 1980.

2044) Vgl: E. Jaroslavskij, Zadati izulenija istorii partii: Prole- tarskaja Revoljucija 1980 Nr. 2—8; V. Adoratskij, K voprosu o naučnoj biografii V. I. Lenina (ebda.); D. Kin, Istorija partii kak nauka: Bjulleten’ zao&no—konsul’tac. otdel. Instituta Krasnoj Professury Nr. 4 (1980), 47—538; V. Adoratskij, Ob izučenii partii i leninizma: ebd. S. 44—48,

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wirklichung seiner Aufgabe d. h. für die Aufrichtung der kommunistischen Gesell- schaft.“ 18)

Daß die Geschichte der Partei unlösbar mit den Fragen, die heute die Partei bewegten, mit dem gegenwärtigen Stande des Kampfes der Arbeiterklasse verknüpft sein müsse, bildete ein Axiom in der Aus- sprache über die Geschichte der Partei als Vissenschaft. Dem Ein- wand, daß die Interessen des aktuellen politischen Kampfes eine wissenschaftliche Bearbeitung der Geschichte der Partei, „Objek- tivität“ gegenüber parteigeschichtlichen Fragen ausschlössen, be- gegnete die Konferenz folgendermaßen:

„Dieser Einwand ist seinem Wesen nach unbegründet (nesostojatel’no). Die Politik der Partei des Proletariats ist errichtet auf dem festen wissenschaftlichen Grunde des Marxismus-Leninismus und setzt eine strenge wissenschaftliche Er- forschung der Geschichte der Partei voraus, ohne die eine richtige Politik der Partei unmöglich ist. Die Partei des Proletariats ist interessiert an der wissenschaft- lichsten und an der vollständigen Erforschung ihrer eigenen Geschichte. Zugleich d-mit steht die leninistische Geschichte der Partei der bürgerlichen Objektivität tern. Indem sie in der Untersuchung den Gesichtspunkt der strengsten Parteilich- keit anwendet, der allein eine wirkliche Wissenschaftlichkeit der Untersuchung sichert, dient die Geschichte der Partei ihren Kampfaufgaben der Vernichtung des Kapitalismus, der Sache des Aufbaus des Sozialismus in unserem Lande und dem Kampfe für die internationale Revolution.“ de)

Mit anderen Worten: Die kommunistischen Historiker haben eine leninistische Geschichte der leninistischen Partei zu schreiben.“)

Die Forschungen über die Geschichte der Komintern sollen die Erfahrungen früherer Kämpfe der Komintern zum Eigentum des kämpfenden Proletariats der kapitalistischen Länder und der revolu- tionären Massen der Kolonien machen, sowie die internationale Er-

ziehung des Proletariats und der Werktätigen der Sovetunion ver- stärken und vertiefen.

Man fand, „daß die Interessen der Welt-Revolutions-Bewegung gebieterisch die Erweiterung des Cadres marxistischer Historiker im

248) Bronin, K itogam....

Der Glückwunsch des Instituts der Roten Professur umschrieb Stalins histo- risches Verdienst um die geistige Grundlage des Sovetstaats: „Deine Arbeiten über den Leninismus sind ein Beispiel für die marxistisch-leninistische revolutionäre Dialektik, ein Beispiel für schöpferischen Marxismus im Unterschied vom dog- matischen „Marxismus“, im Unterschied von scholastischen, mechanistischen, quasi- marxistischen theoretischen Erklärungen, die den Opportunisten eigentümlich sind. Deine Auslegung der leninistischen Lehre von der Diktatur des Proletariats, der Lehre vom Klassenkampf, der leninistischen Strategie und Taktik, der leninistischen Lehre vom Gesetz der ungleichmäßigen Entwicklung des Kapitalismus und von der Aufrichtung des Sozialismus in einem einzelnen Lande, Deine Arbeiten über die nationale Frage sind ein sehr wertvoller Beitrag zur marxistisch-leninistischen Wissenschaft.“ Nach der Pravda Nr. 802 (4436) v. 22. Dezbr. 1929. Vgl. auch

V. Adoratskij, I. V. Stalin kak teoretik leninizma: Proletarskaja revoljucija Nr. 95 = 1929 Nr. 12.

7) Bronin, K itogam.... 247) Kin, K itogam....

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Lande der siegreichen Diktatur erforderten“, und daß die wissen- schaftliche Arbeit in den Disziplinen, denen die Arbeit der Konferenz galt, intensiviert werden müsse. Daher soll die Abteilung für die Geschichte der Partei im „Institut der Roten Professur“ in ein selb- ständiges Institut für die Geschichte der Partei (Partijno-istoriteskij institut) mit vier Abteilungen: für die Geschichte der Partei, für den Leninismus, für die Geschichte der Komintern und für die Organı- sation der Partei (partstroitel’stvo) umgestaltet werden.

Die umfangreiche Resolution der Tagung, die den Gang der Ver- handlungen und alle Fragen, die angeschnitten wurden, zusammen- faßt, formuliert in zwei Sätzen präzis die Bildungsaufgabe und den Inhalt der parteigeschichtlichen Disziplinen folgendermaßen:

„Unter den Bedingungen der von uns durchlebten Periode des entschiedenen Kampfes für die Verwirklichung des Sozialismus er- langen Fragen des Unterrichts des Leninismus, der Geschichte der VKP(b) und der Komintern eine besonders große politisch- erzieherische Bedeutung, indem sie als ein machtvolles Mittel für eine bolschevistische Erziehung der proletarischen Massen erscheinen. Beim Studium der Geschichte der Partei ist es notwendig, das Haupt- augenmerk darauf zu richten, daf ihr Studium den Aufgaben des gegenwärtigen Kampfes der Partei diene.“ „In der nächsten Zeit muß die Erforschung und der Unterricht der Geschichte der Partei und des Leninismus seine Aufmerksamkeit auf die Fragen der leninschen Auffassung der Theorie des Klassenkampfes in der Epoche der Übergangsperiode, auf das Problem der „smyčka“ des Proletariats und des Bauerntums, auf die leninsche Lehre über die Übergangsperiode (Kriegskommunismus, NEP, Aufbauperiode), auf das Problem der gegenseitigen Beziehungen der Partei und der Klasse, insbesondere in der Periode der Diktatur des Proletariats,

konzentrieren.“ Abgeschlossen April 1930.

Anlagen*): 1. Das neue Statut des Marx-Engels-Instituts.

2. Auszug aus der Rede Pokrovskijs bei der Feier seines 60. Ge- burtstags. 3. Auszug aus einer Rede Kalinins. 4. Dokumente zur I. Marxistischen Historikerkonferenz. 5. Erklärung des Kollegiums des Historischen Instituts an der Kommunistischen Akademie zum Fall Javorskyj. 6. Resolution der Konferenz für den Unterricht in den marxistischen historischen Disziplinen.

II.

Die „Gesellschaft der marxistischen Historiker“ und ihr Organ „Istorik - Marxist“ 1927—1929.

Inhaltsübersicht:

Tätigkeit der Gesellschaft.

Bericht über den „Istorik-Marxist“:

Alte russische Geschichte. Russische Geschichte des 18. Jahrhunderts. 18. Jahrhundert. 20. Jahrhundert (Russischer Kapitalismus und Imperialismus). Geschichte der revolutionären Bewegung und des Klassenkampfes in Rußland im 20. Jahrhundert. Weltkrieg und ‘Intervention.

Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Orient.

Zur Geschichte der russischen Geschichtsschreibung. Zur marxistischen Forschung über die Geschichte der französischen Revolution.

Der „Istorik-Marxist“ als Rezensionsorgan und bibliographisches Hilfsmittel.

Nur eine Berichterstattung, die in gleicher Ausführlichkeit die Publikationstatigkeit der Kommunistischen Akademie,“ ) des Marx- Engels- Instituts“ *) und des Lenin- Instituts (einschließl. „Istpart“), 8) des „Istprof“, ) der Komintern,“ ) des Revolutionsmuseums der Union,“ ) des Centrarchiv RSF SR) und etwa der historischen Ab- teilungen des Internationalen Agrarinstituts, ) des Instituts der Roten Professur“) und der „Gesellschaft der ehemaligen politischen

338a) Vgl. den „Katalog des Verlages der Kommunistischen Akademie beim Zentralen Vollzugskomitee der Sowjetunion“ (Moskau, Volchonka 14), 1928; deutsch. (65 S.)

uo i Vgl. „Institut K. Marksa i F. Engel’sa. Katalog izdanij“. Gosizdat. 1929. 2) Vgl. „Institut Lenina pri CK VKP(b). Katalog (dan, Gosizdat. 1929. (60 S.).

2418) Komissija istorii prof essional'nogo dviženija v Rossii: Kommission für Er ne der Gewerkschaftsbewegung in Rußland; vgl. B. Nikolajewsky, Die histor. Literatur in Rußland während der

Revolution: Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung 12 (1926), 29.

24) Vgl. „Komintern 1919—1929. Katalog knig“. Gosizdat 1929. (72 S.); vgl. Anm. 277.

2838) Vgl. „Muzej revoljucii Sojuza SSR. Sbornik“: I (1927); II (1929); vgl. Istorik-Marxist 14, 215—217 (L. Mamet); Archivnoe delo 20 (1929) 27 f. (S. I. Mick e vi J).

248) Vgl. „Centrarchiv RSFSR Katalog izdanij“. Gosizdat 1928. (87 S.).

2482) Vgl. „Agrar- Probleme“ (Her. vom Internat. Agrarinstitut, Moskau), H. 1 (1928), 226 f. über die Arbeiten der im „Kabinett für Landwirtschaft und Bauernschaft in der UdSSR“ bestehenden Sektion für die Bauernbewegung im vorrevolutionären Rußland; A. K. Dchiveleg ow (Diivelegov), Die Methoden des Studiums der Geschichte der Bauernbewegungen: ebenda S. 207—211.

3468) Vgl. insbesondere die Sammelbände: Russkaja istoriòeskaja literatura v klassovom osveščenii. Sbornik statej s predisl. i pod red. M. N. Pokrovs- kogo = Trudy instituta krasnoj professury (Mosk. 1927); dazu V. Nevskij in Pečat’ i revoljucija 1927 H. 6 S. 152—155. Ocerki po istorii Oktjabr’skoj

153

Strafgefangenen und Verschickten““ ) verfolgte, könnte den An- spruch erheben, wenigstens der im Zentrum des Staates und am Sitze der Parteileitung geleisteten, offiziell geförderten marxistischen historischen Arbeit gerecht zu werden. Bis jetzt ist im Ausland die Arbeit der marxistischen Historiker der Sovetunion wenig bekannt; die Beschäftigung mit dem Virken der „Gesellschaft der marxisti- schen Historiker‘ als der Vereinigung aller Marxisten, die wissen- schaftlich als Historiker arbeiten,) und als der „breiten Basis für die Propaganda der marxistischen Historiographie“) und die kritische Würdigung ihres Organs, des „Istorik-Marxist“, vermag einen gewissen Ersatz zu bieten. Im Rahmen der zahlreichen von der Kommunistischen Akademie ausgehenden periodischen Veröffent- lichungen und Enzyklopädien, *) die das Reservoir marxistischer wissenschaftlicher Erkenntnis jeweils für die ihnen entsprechenden geistigen Bezirke zum Gebrauch durch die politische Publizistik und Propaganda bilden, b) ist die Stellung und Aufgabe der Zeitschrift „Istorik-Marxist“ eindeutig und unverrückbar festgelegt: marxistische Bearbeitung historischer Fragen, der historischen Methode und der Methodik des Geschichtsunterrichts; Kampf für die Reinheit der marxistischen Prinzipien, gegen die bürgerliche („idealistische“) Ge- schichtsschreibung, gegen Entstellung und Vulgarisierung der histori- schen Methode von Marx und Lenin.

Die letzten Hefte zeugen bereits für die Bemühungen der Redaktion, den Lesern der Zeitschrift eine lebendige Anschauung

revoljucci; pod red. M. N. Pokrovs ko go. Bd. I (1927), dazu P. Gorin: 8, 153—160. Ober das Institut der Roten Professur: Wochenbericht 3. Ig. Nr. 7/8 (25. Febr. 1927), S. 10 f.

3478) Vsesojuznoe obStestvo byvlich polititeskich katorinikov i ssyl’no- poselencev; Veröffentlihungen: Katorga i ssylka. Istoriko-revoljucionnyj vestnik (10. Jg. 1930); „Istoriko-revoljucionnaja biblioteka“ 5 Unter- 5 Dokumente u. a. Materialien aus der Geschichte der revolut. Ver-

ngenheit Rußlands; vgl. A. Mühlstein [Milštejn], Is toriko- revoljucionnaja iblioteka ob&estva politkatorkan 1929 goda: Kniga i revoljucija 1929 Nr. 24); Bio - bibliografiteskij slovar dejatelej revoljucionnogo dviženija v Rossii ot predSestvennikov dekabristov do padenija carizma“ (vgl. 4, 240); Publik. zum Dekabristenaufstand (vgl. 11, 201) u. a.

348) Vgl. diese Jahrbücher N. F. IV, 277. 240) Friedland: Pod znamenem marksizma 1929 Nr. 2—3 S. 105.

a) Ihres „Vestnik“ (Bote) und ihrer Fachorgane: „Na agrarnom fronte“ der Agrarsektion, „Mirovoe chozjajstvo i mirovaja politika (Weltwirtschaft und Weltpolitik) des Instituts für Weltwirtschaft und Weltpolitik, „Sovetskoe gosudarstvo i revoljucija prava“ (Der Rätestaat und die Revolution des Rechts) des Instituts für Recht und Sovetaufbau, „Problemy ekonomiki“ der Sektion für Wirtschaft, „Estestvoznanie i marksizm“ (Naturwissenschaft und Marxismus) der Sektion für exakte und Naturwissenschaft, „Problemy Kitaja“ (Vierteljahrs- schrift des Wissenschaftlichen Forschungsinstituts für China an der Kommunist. Universität der werktätigen Chinesen), „Istorija proletariata SSSR“ (Vierteljahrs- schrift der Sektion zum Studium der Geschichte des Proletariats in der UdSSR am Institut für Geschichte).

249b) Literaturnaja Enciklopedija; Ekonomičeskaja E.; Filosofskaja E.; E. gosudarstva i prava; Kratkaja E. meZdunarodnogo 8 viZenija,

154

von der gesamten historischen Arbeit im Gebiete der Union, auch der nicht marxistisch orientierten Forschertätigkeit, zu vermitteln, ein Bestreben, das der Zeitschrift im Ausland besondere Beachtung sichert. Auffallend wenig berücksichtigt ist in allen bisher erschienenen Heften die nicht Großrussisch geschriebene Literatur.

Der äußere Aufstieg der Gesellschaft, die im Zeitraum 1927 bis 1929 auf so vorzügliche organisatorische Leistungen wie die Veran- staltungen zum Pokrovskij-Jubiläum, die Abhaltung der Moskauer Historiker-Konferenz und die Begründung des kommunistischen Historischen Instituts zurückblicken kann, Bat sich fortgesetzt; am Ende des Jahres 1928 zählte sie 345 Mitglieder.“) Die merkwürdige, im vorliegenden Falle eindeutige Frage nach der „politischen Sr tät“ dieser wissenschaftlichen Gesellschaft wird durch die Feststellung beantwortet, daß von den 169 ordentlichen Mitgliedern 136, von den 176 Korrespondenten 133 zugleich der Kommunistischen Parteı an- gehörten; bei dem nicht der Partei angehörenden geringen Mitglieder- rest handelte es sich um parteilose Marxisten, ,,die den Marxismus voll und ganz, ohne jeglichen Vorbehalt angenommen haben, da der Marxismus seiner Natur nach etwas ist, das keinerlei noch so ge- ringe Vorbehalte zuläßt“.“

Die Gliederung der Gesellschaft in Sektionen, von denen jede eine Art Sondervereinigung der marxistischen Spezialisten auf be- stimmten historischen Arbeitsgebieten vorstellt,) ist gegen früher“) etwas geändert. Gegenwärtig bestehen sechs Sektionen: für die Geschichte der Partci; die Geschichte Rußlands; die Geschichte des Westens und Amerikas; die Geschichte des Orients, eine soziologische und eine methodische Sektion.“) Eine Äußerung des Präsidiums der Kommunistischen Akademie vom März 1928 auf Grund des Tätigkeitsberichts der Gesellschaft“) und der Bericht des Sekretärs der Gesellschaft, Gorin, vor dem 1. Marxistischen Histo- rikerkongreß im Dezember) lassen erkennen, daß die Tätigkeit der Sektionen außer auf die Veranstaltung von Vorträgen und Dis- kussionen sich bis dahin auf die Vorbereitung populär-wissenschaft- licher historischer und historisch-didaktischer Literatur beschränkte; irgend welche von den Sektionen organisierte systematische wissenschaftliche Forschungsarbeit lag nicht vor.

35%) Am 1. Jan. 1926: 29 wirkliche und 11 korrespond. Mitglieder; 1927: 72 wirkl., 89 korresp. M.; 1928: 109 wirkl., 102 korresp. M.; 1929: 169 wirkl. und 176 korresp. Mitgl.; vgl. 6, 297; 11, 218.

351) Gorin 11, 218.

22) Gorin 11, 220.

253) Vgl. 8, 245; 4, 273.

254) 11, 220; 18, 276—281.

255) 7, 308.

sse) 11, 218—225; Trudy I, 16—27. Ders. (Bericht über die Tätigkeit der Gesellschaft auf der zweiten Konferenz der Archivarbeiter der RSFSR, Mai 1929): Archivnoe Delo 20 (1929), 28 f.

155

Uber die von den Sektionen der Gesellschaft ausgearbeiteten historischen Lesebücher wurde auf dem Kongreß folgendes bekannt- gegeben: Die Lesebücher für die Geschichte der Kommunistischen Partei = Knigi dlja &tenija po istorii VKP (b) werden die Geschichte der Partei in fünf Teilen behandeln: Bd. I. Die Entstehung der Sozialdemokratie in Rußland; II. Bildung des Bolschevismus und des Menschevismus; III. Die Partei in der ersten Revolution; IV. Die Partei zwischen den Revolutionen; V. Die Partei in der Revolution von 1917.) Die Serie der Lesebücher zur russischen Geschichte = Kniga dlja Zren po istorii Rossii (unter Redaktion von M. N. Pokrovskij) wird gleichfalls fünf Bände umfassen: I. 17. und 18. Jahrhundert; II. 19. Jahrhundert; III. Das Ende des 19. Jahr- hunderts und die Revolution von 1905; IV. Die Jahre der Reaktion und des imperialistischen Krieges und die Revolution von 1917; V. Der Bürgerkrieg in Rußland.“) In der Reihe der Sektion für Geschichte des Westens (= Kniga dlja &tenija po istorii zapada) sind vier Bände vorgesehen: I. Die Epoche des Handelskapitals; II. Die Epoche des Industriekapitals; III. Die Epoche des Imperialismus und der imperialistische Krieg; IV. Imperialismus und Klassenkampf in der Nachkriegszeit;?°*) Jie Sektion bereitet außerdem eine Serie populär wissenschaftlicher Broschüren zur neuesten Geschichte des Westens (,,Istorija sovremennogo zapada“) vor, in der Bändchen über „Versailles und der Völkerbund“, das moderne Deutschland, Frank- reich, Italien, England, Amerika, den Fascismus, die Sozialdemokratie vorgesehen sind.“) Die Sektion für Soziologie wird mit einem Sammelwerk über die heutigen bürgerlichen und antimarxistischen Tendenzen in der Geschichtswissenschaft (, Sovremennye burZuaznye i antimarksistskie teòenija v istoriòeskoj nauke“) hervortreten.“ )

In ihrer Forschungsarbeit wird die Sektion für die Geschichte der Partei sich an andere mit der gleichen Aufgabe betraute Forschungsstellen, das Lenin-Institut und die Abteilung für Partei-

schichte des Instituts der Roten Professur (Istoriko-partijnoe otde- enie Instituta Krasnoj Professury), anlehnen können.“)

Neben den Sektionen arbeiten wissenschaftlich zwei Kom- missionen: 1. Eine Kommission zur Erforschung der bewaffneten Aufstände und Revolutionskriege (Kom. po izuéeniju voorubennych vosstanij i revoljucionnych vojn) widmet sich mit Vorliebe der historischen und militärtechnischen Untersuchung von Vorgängen aus der jüngsten Vergangenheit, z. B. dem Spartacus-Aufstand 1919, dem Umsturz in Bulgarıen 1923, den Hamburger Unruhen 1923, dem

257) 11, 220.

258) 11, 221; s. auch 8, 244. 25%) ebda.

260) 6, 298.

261) 11, 221.

262) 11, 220.

Staatsstreich Pilsudskis 1926.2) Die partei-taktische Aufgabe dieser historischen Kommission, die als Zelle einer besonderen Sektion für Kriegswissenschaften (Voennaja teorija) an der Kommunistischen Akademie anzusehen ist,) darf nicht außer Acht bleiben; bei Er- wähnung eines Aufsatzes von N. Cuk ak über die Arbeit der Bolscheviki in der Armee wies der Rezensent im „Istorik-Marxist“ darauf hin, welche Bedeutung die wissenschaftliche Beschäftigung der Kommission mit der Theorie und Praxis der kommunistischen Propaganda im Heere für die Bruderorganisationen jenseits der Grenzen der Union haben könne.“)

In der ersten Sitzung der Kommission, am 24. Februar 1928, gab B. I. Gorev einen Überblick über die theoretische Beschäfti- gung mit Fragen des Krieges im marxistischen Lager: Voennaja istorija i marksizm (Kriegsgeschichte und Marxismus).“) Nach Marx und Engels“) wandten sich erst in der imperialistischen Epoche eine Reihe führender Marxisten wie Jaurès, Mehring, Pavlovič, Lenin und Pokrovskij wieder eingehender militärischen Fragen zu, als die mit großer Achtung genannten Forschungen Hans Delbrücks der Kriegsgeschichte neue Bahnen gewiesen hatten. Als kriegsgeschicht- liche Themen, die von der marxistischen Forschung vorzugsweise in Angriff genommen werden müßten, bezeichnete der Redner außer den in der Benennung der Kommission gekennzeichneten speziellen Aufgabengruppen —: „Der Krieg als soziologisches Problem; seine Genesis und Evolution; die Rolle des Krieges als eines charakteristi- schen Moments der Geschichte, als eines entscheidenden Punktes in der Lösung von Gegensätzen, als eines Moments, in dem die Quantität in die Qualität übergeht; ferner: der Zusammenhang des Krieges mit der Virtschaft, Technik und Politik, der Zusammen-

363) 6, 297; 11, 222; über den Hamburger Aufstand im Oktober 1928 vgl. G. Zin ov ev: Bolšaja Sov. Enciklopedija 14 (1929), 478—481!

2632) „Special'naja sekcija voennoj teorii“; „sie wird kommen, Genossen, darauf könnt Ihr Euch verlassen!“ Pokrovskij in seiner Rede auf der Fest- sitzung zum zehnjährigen Bestehen der „Kriegsakademie des Roten Arbeiter- und Bauern-Heeres“ (Voennaja Akademija R{abote] Kfrest’janskoj] Kf[rasnoj] A[rmii]), nach der Pravda Nr. 6 (4140) v. 8. Jan. 1929; s. auch R. Eidemann (Ejdeman), Voprosy voenno-nauénoj raboty: Pravda Nr. 45 (4179) v. 28. Febr. 1929.

2%) 11, 171: A. Šestakov über N. Cu ak, Bol’Sevistskaja rabota v armii (Katorga i ssylka Nr. 49 1928 H. 12).

In ähnlicher Weise wird man im Ausklang von Rubinsteins Artikel über „Pokrovskij als Historiker der äußeren Politik“: an Pokrovskij werde man die tiefe und feine Analyse der Geschichte der Außenpolitik lernen, „solange nicht der terminus ‚Äußere Politik‘ selbst ein Anachronismus wird“ (9, 78), eine ge- schickte Anspielung auf die Weltrevolution sehen müssen, indem nach ihrem Siege sich die Herrschaft des im Bund der Räterepubliken geeinten Proletariats über die ganze Erde erstrecken und es nur noch „Innere Politik“ geben wird.

335) 9, 119—124; „Vojna v istorii marksizma“: 12, 821—323. Als Gorev seinen Vortrag hielt, war noch nicht bekannt, wie eingehend sich Lenin mit Clausewitz’ Buch „Vom Kriege“ beschäftigt hat; Lenins Auszüge und Rand- bemerkungen liegen, von Bubnov eingeleitet, im 12. Band des „Leninskii Sbornik“ (1980) vor.

2658) G. Zinov’ev, Učenie Marksa i Engel’sa o vojne (Moskau 1930).

157

hang von Kriegstechnik und Heeresorganisation; die ‚militärische Taktik. Die politische Geschichte der letzten Kriege; die 55 Funktion des Krieges; die Politik als Mittel des Krieges, als Mittel der Isolierung; Einkreisungen des Gegners als Mittel politischer Rückendeckung u.s. w.“

Die zweite Kommission Komissija po istorii proletariata SSSR arbeitet über die Geschichte der russischen Arbeiter- bewegung; ) eine Unterkommission stellt Ermittlungen über die Materialien zur Geschichte der Arbeiterklasse in den Archiven der Union an.“) Eine dritte Kommission sollte gebildet werden um das Material für eine wissenschaftliche Geschichte des Weltkriegs zu sichten und zu systematisieren (Kom. po dokumentacii imperiali- stiCeskoj vojny 1914—1918 gg.).

Die Zeitschrift wurde in der Berichtszeit weiter von dem ur- sprünglichen Redaktionskollegium™) redigiert, aus dem V. P. Polonskij ausschied, während 1927 N. M Lukin (- Antonov) und Em. M. Jaroslavskij (von Heft 6 ab) und 1928 D. J. Kin und I. I. Minc (von Heft 7 ab) j neu eintraten. Der lange erwogene Plan, neben dem „Istorik-Marxist“ als dem streng wissenschaftlichen Organ der Gesellschaft eine kleinere, populär gehaltene historische Zeitschrift für die breiten Massen herauszugeben, “i) scheint seiner Verwirklichung entgegenzugehen; es soll beabsichtigt sein, darin u. a. Dokumente des en zur Vorgeschichte des Weltkriegs zu veröffent- ichen.

Wiederum erfolgte auf zufällige äußere Anlässe hin wie bei früheren Gelegenheiten (den Jubiläen, die an die Revolutionen von 1905 und 1917, an die Namen Pugatev, Bakunin und Stapov an- kniipften),?") stoßweise die Produktion über bestimmte Fragen;

286) 11, 222.

#07) Archivnoe Delo 17 (1929), 7.

208) 11, 222.

70) S. diese Jahrbücher N. F. IV, 277.

270) 7, 811.

371) 8, 202; 6, 267; 7, 270.

272) Poslédnija Novosti (Paris) Nr. 8080 v. 28. Aug. 1929; nach der Mos- kauer Tageszeitung „Velernaja Moskva“ v. 25. August.

» Historische Makulatur“ bildeten die wenigen Lieferungen eines von der »Krasnaja gazeta“ seit Dezember 1927 in Riesenauflagen hergestellten illustrierten istorischen Almanachs „Minuvlie dni“ (Vergangene Tage), eines auf Sensation und die Instinkte der Masse berechneten Machwerkes, das mit einem angeblichen Tage- buch der Freundin der letzten Carin, Frau A. A. Vyrubova (Verfasserin da „Stranicy iz moej žizni“, Paris 1922), aufwartete; A. A. Sergeev vermochte das Tagebuch im „Istorik-Marxist“ ohne Mühe als eine Fälshung zu erweisen (Ob odnoj literaturnoj poddelke. Dnevnik A. A. Vyrubovoj): 8, 160—172; s. auch 6, 270; 7, 276 f.; P. O. Gorin, Ob odnoj vylazke bul’varščiny: Pravda Nr. 61 (8893) v. 11. März 1928.

273) Vgl. diese Jahrbücher N. P. IV, 278.

Selbst in marxistischen Kreisen wird die Gewohnheit, daß im heutigen Rug- land die Erforschung bedeutender revolutionärer Erscheinungen stark von ihren Jubiläen abhängig geworden ist, als unerfreulich empfunden. Frau Nelkina

153

bereits beginnt sich eine Wellenbewegung der Schriften über jubiläumswürdige Gegenstände abzuzeichnen; nach dem Abebben der Literatur zum zwanzigjährigen Jubiläum der Revolution von 1905 machen sich jetzt die Vorboten des fünfundzwanzigjährigen im nächsten Jahre bemerkbar. Gefeiert wurden in der Berichtszeit so- wohl die 30. Wiederkehr des ersten Kongresses der russischen sozial- demokratischen Arbeiterpartei“) (30. März 1898) wie das fünfund- zwanzigjährige Jubiläum ihres zweiten Kongresses, von dem die bolschevistische Partei ihren Ursprung genommen hat;“) in die Be- richtszeit fielen ferner die Gedenktage der „Prozesse der 50“ und der „193“ vor fünfzig Jahren,“) das Jubiläum des zehnjährigen Be- stehens der Kommunistischen Internationale, “) der Plechanov- Gedenktag, ) der ,,Cerny$evskij-Tag*.?”) Den Höhepunkt der Jubiläumskundgebungen und Schriftstellerei aber bildeten ohne Frage die in Selbstverherrlichung der marxistischen historischen Idee aufgehenden außerordentlihen Ehrungen Pokrovskijs zu seinem 60. Geburtstag.“)

Alte russische Geschichte.

In den Heften 5 bis 11 tritt die ältere russische Geschichte wiederum völlig zurück. Es wiederholt sich das Bild der ersten vier Hefte: keine selbständige Untersuchung handelt über ein Thema, das zeitlich vor der großen französischen Revolution liegt. Dem Ausbau des bibliographischen Teils ist zu verdanken, daß die russische Geschichte bis zum 18. Jahrhundert trotzdem nicht vollständig leer ausgeht. Eine Übersicht über historische Arbeiten in den periodischen Veröffentlichungen der Akademie der Wissenschaften, Mitteilungen über die Tätigkeit des „Instituts für Geschichte der RANION“ und ein Literaturbericht von I. Trockij stellen zusammengenommen eine vorzügliche Orientierung vor. Trockij,’) zu dessen Über-

fand heraus, daß die „bürgerliche Historiographie“ an diesem Zustand schuld sei: ihre Hinterlassenschaft an Fragen sei zu groß, als daß sie von den marxistischen Historikern auf einmal in Angriff genommen werden könnten; man müsse nach irgend einer Ordnung vorgehen; diese zum Glück wenigstens als reichlich „elementar empfundene „Ordnung“ schaffen die Jubiläen! (8, 173).

e ae Russkaja social - demokratičeskaja rabočaja partiją = R. R. D. R. P.; s. 7, 269.

375) Vgl. N. Lj usin: 9, 178 f.

2378) Vgl. L. Kulezycki, Geschichte der Russischen Revolution Bd. II (Gotha 1911), 228 f.

277) Kommunistiteskij Internacional Komintern; vgl. 10 let Kommunistides- kogo Internacionala. Tezisy APO IKKI i APPO CK VKP(b) dlja doklad¢ikov: Pravda Nr. 49 (4188) v. 28. Febr. 1929; Desjat let Kominterna 1919—1929: Pravda Nr. 52 (4186) v. 3. März 1929; G.S., Čto čitat’ po istorii Kominterna: Pravda Nr. 58 (4187) v. 5. März 1929.

378) Vgl. unten Anm. 359 u. 360.

2379) Vgl. Osteuropa 4 (1928—29), 217.

sea) Vgl. oben S. 108—105.

280) Osnovnye voprosy drevnej russkoj istorii v literature poslednich let: 8, 182—191.

11 NF 6 159

sicht die Redaktion anmerkt, sie behalte sich vor, auf die besondere Problematik zurückzukommen, die eine marxistische Würdigung der älteren Perioden der russischen Geschichte in sich schließe, be- spricht die russische Literatur seit 1920 zur Geschichte der russischen Besiedlung und der Entstehung des russischen Staats, zur Kolonisation des russischen Territoriums, schließlich Beiträge zur Sozial- und Wirt- schaftsgeschichte des alten Rußland, insbesondere zur Frage des russischen Feudalismus.“

Die im Referatteil der Zeitschrift nunmehr angebahnte systematische Einbeziehung der älteren russischen Geschichte, die Be- rücksichtigung der byzantinischen Geschichte“) und die immer stärkere Anwendung der marxistischen Betrachtungsweise auf nicht- russische Geschichte, wofür die früher angezeigten Hefte lediglich Beispiele aus der Geschichte der französischen Revolutionen seit 1789 und aus der neuesten Entwicklung des nahen und mittleren Ostens darboten, wird allmählich die bereits öffentlich geforderte ausdrück- liche Berücksichtigung des Altertums) und der mittelalterlichen Ge- schichte im Programm der Zeitschrift herbeiführen.“) Der plan- mäßige Ausbau der Zeitschrift im angedeuteten Sinne ist nur eine Frage der Zeit; der ,,Istorik-Marxist wird damit erst, in vollem Maße nicht nur zum „Handbuch des marxistischen Historikers“, 0) sondern

zur unentbehrlichen Enzyklopädie der marxistischen historischen Forschung überhaupt werden.

281) Vgl. Anm. 85.

282) Die russische Byzantinistik ist durch Beiträge von G. Lozovik ver- treten: einen Nachruf auf den „größten russischen Byzantinisten“ Fedor Ivanovič Uspenskij (1845—1928): 9, 110—114; Anzeige von Ernst Steins, Geschichte des spätröm. Reichs Bd. I: 14, 197—199. Zu Lozoviks Übersicht über die Arbeit der russischen Byzantinisten in der Kriegs- und Revolutionszeit, die zugleich der künftigen marxistischen Byzantinistik die Wege weisen und bereiten will (7 [1928], 228—238: Desjat let russkoj vizantologii) vgl. auch I. Sokolov, Russkaja literatura po vizantinovedeniju s 1914 po 1927 g.: Slavia 7 (1928), 418—426 und 682—700, und V. Waldenberg (Val’denberg): „Byzantion“ IV (1927—28), 1929, S. 481—504 über die russische Byzantinistik 1924—1929.

283) Um auf dem „Poehlmann und seinen ideologischen Genossen vertrauten

Gebiet der Altertumswissenschaft“ (S. Lurje im „Marx-Engels-Archiv“ II, 810) ein marxistisches Paroli zu bieten.

_ 384) Seidel (Zajdel’): 11, 227. Die gleichzeitig gewünschte besondere Ab- teilung über den modernen Orient würde den ,,Istorik-Marxist mit einer speziellen Aufgabe der neuen russischen orientalistischen Zeitschriften vom Charakter des „Novyj vostok“ (Der neue Orient, Moskau) oder „Schidnij svit (Die Welt des Orients, Char’kiv) in Konkurrenz treten lassen; vgl. Mich. Pavlovié (-Vel’tman), Zadalı Vserossijskoj Naučnoj Associacii Vostokovedenija: Novyj vostok 1 (1922), 3—15.

285) Gorin: 11, 219.

286) Daneben kann nicht nachdrücklich genug darauf hingewiesen werden, welche Fundgrube die in ihren historischen Partien von Pokrovskij redigierte Bol’$aja Sovetskaja Enciklopedija für den Historiker bildet, um die offizielle orthodox-marxistische Lesart besonders in Fragen der neueren und neuesten Ge- schichte, der revolutionären und Arbeiter-Bewegung im 19. und 20. Jahrhundert und der Geschichte des Sozialismus kennen zu lernen; zur Behandlung der Ge-

16)

Russische ‘Geschichte des 18. Jahrhunderts.

Zur Geschichte des Pugatev-Aufstandes lieferte einen wertvollen Beitrag S. G. Tomsinskij: „Über den Charakter der Pugadcevséina.“**’)

Die Abhandlung stellt eine Abrechnung vor mit den 1926 von G. E. Meers on („Eine frühe bürgerliche Revolution“) aufgestellten Thesen: 1. Die Pugačevščina war eine frühe bürgerliche Revolution. Sie war der politische Ausdruck des Konflikts zwischen den beiden historischen Typen der ursprünglichen kapitalistischen Akkumulation: der monopolistischen und der vom Monopol durch handelskapita- listische Tendenzen freien Ausbeutung unmittelbarer Unternehmer; 2. Die Niederwerfung der Pugačevščina ist zurückzuführen auf die Verschiedenartigkeit der beiden Typen bäuerlicher handels-kapita- listischer Akkumulation in Rußland im dritten Viertel des 18. Jahr- hunderts, derjenigen im Zentrum (der metropolen) und der kolonialen; 3. das Rätsel der wirtschaftlichen Zurückgebliebenheit Rußlands, sein Abstand von den Ländern Westeuropas rührt aus der Vernichtung des amerikanischen Typus der Entwicklung des Kapitals in den carischen Kolonien her.

In einer Vorbemerkung setzt sich T. mit Meerson begrifflich auseinander; mit auß erordentlicher Beherrschung des gesamten ein- schlägigen Materials untersucht er die gegenseitigen Beziehungen der Klassen im eigentlichen Rußland und in den „Kolonien“ Groß- rußlands (unteres Volgagebiet und das Land jenseits des Ural). Seine Analyse der Gesellschaftsordnung in den Gebieten der Kirgisen und

schichte in der Sovet-Enzyklopidie vgl. A. Sidorov: Vestnik Komakad. 20 (1927), 274—278; G. Seid el (Zajdel’): Ist.-Marxist 7, 239—244; Rich. Salomon, Die Große Sowjet-Enzyklopädie: Osteuropa 8 (1927—28), 613 f. und „Hamburger Fremdenblatt“ Nr. 194 v. 14. Juli 1928; I. Fendel, Novejlaja istorija Zapada v Bol’$oj Sovetskoj Enciklopedii: Kniga i Revoljucija 1980 Nr. 2.

Am 2. Februar 1980 stieß G. K ru min in der „Pravda“ Nr. 32 (4477) einen Alarmruf aus wegen des farblosen Artikels von I. Rubin iiber Lujo Brentano in der Großen Sovet-Enzyklopädie (, Bol ie ostoro2nosti i bol’$evistskoj četkosti!“). Die Aufgabe der Enzyklopa ie wird von ihm folgendermaßen umschrieben: „Sie ist dazu bestimmt, ein Geschlecht im Geiste des konsequenten Leninismus heranzubilden, im Geiste des revolutionären Marxismus, sie ist bestimmt, glühenden Haß gegen die bürgerliche Ordnung einzuflößen, gegen ihre Verteidiger und Ideologen, sie ist berufen, eine sharf geschliffene Waffe der marxistisch- leninistischen Theorie in die Hände derer, die für den Sozialismus kämpfen und ihn aufbauen, zu legen, sie ist bestimmt, das Banner der bolschevistischen Unver- söhnlichkeit gegen jede Abweichung, gegen den geringsten Revisionsversuch, hoch zu halten, sie ist bestimmt, eine ungeheure Rolle bei der Bildung des neuen Menschen zu spielen, der von dem schweren und abscheulichen Erbe einer Ordnung, in der das private Eigentum herrscht, befreit ist.“

387) O charaktere pugacevidiny: 6, 48—78.

288) Rannjaja burZuaznaja revoljucija v Rossii (Pugacev$tina): Vestnik Komakad. 18 (1925), 34—107; in einer neuen Arbeit setzt sich Meerson mit einigen seiner Kritiker (Ljaščenko, Piontkovskij, Kušner, Pokrovskij u. a.) temperament- voll auseinander (K istoriko—sociologileskomu sporu o Pugatevsdine: Utenye zapiski Saratovskogo gosud. imeni N. G. CernySevskogo universiteta Bd. VII, Lief. 8 [Pedagog. fakul’cer], 149—172).

161

Baschkiren zerstört Meersons Vorstellung von einem „amerikanischen Entwicklungstypus“, einer Art Farmertum in jenen Kolonialgebieten; die einzige „Kolonie“ Rußlands, wo man von einem Farmertum sprechen könne, sei das später besiedelte Neu-Rußland gewesen, dessen Kolonisation ausländische Kolonisten Deutsche, Schweden, Bul- garen, Griechen, Juden und Mennoniten die Signatur gaben.

Mit seiner Definition des Pugalev-Aufstandes als eines Bauern- krieges gegen die weitere Ausdehnung der Leibeigenenwirtschaft und gegen die Ausbeutung des Bauerntums in den russischen Grenz- gebieten im 18. Jahrhundert macht sich Tomsinskij Pokrovskijs Erklärung zu eigen.“) In einem Abschnitt: „Die Niederringung des Aufstands“ faßt Tomsinskij die Gründe für das Scheitern der Be- wegung (wie der Bauernaufstände in der russischen Geschichte über- haupt) zusammen. Als Entgegnung auf den letzten Punkt Meersons, über den Grund der wirtschaftlichen Zurückgebliebenheit Rußlands und der langen Dauer der carischen a wird lediglich auf Lenin verwiesen. „Wenn sich der russische Kapitalismus an keiner Stelle über die Grenzen des Gebietes ausdehnen könnte, das er schon zu Beginn der Periode nach der Reform eingenommen hatte, dann hätte dieser Widerspruch zwischen der kapitalistischen Großindustrie und den veralteten Einrichtungen der Landwirtschaft (Fesselung der Bauern an die Scholle usw.) rasch zur völligen Beseitigung dieser Ein- richtungen, zur völligen Freilegung des Weges für den landwirtschaft- lichen Kapitalismus ın Rußland führen müssen. Aber die Möglich- keit für den Fabrikanten, in den kolonisierten Randgebieten einen Markt zu suchen und zu finden, und die Möglichkeit für den Bauer, auf neues Land zu gehen, schwächt die Schärfe dieses Widerspruchs ab und verzögert seine Lösung.“)

1929 erschien nach längerer Pause der zweite Band der von S. A. Golubcov besorgten Quellenveröffentlichung des Zentralarchivs zur Geschichte des Pugadevaufstands.””) Von der Kritik wurde die verkürzte Wiedergabe zahlreicher wichtiger Akten beanstandet. Eine Anzeige des Bandes durch S. Tomsinskij in der „Pravda“ ) läßt die Virtuosität erkennen, mit der einer Publikation von Dokumenten zur russischen Geschichte des 18. Jahrhunderts eine ganz aktuelle, propagandistisch verwertbare Seite abgewonnen wird: Tomsinskij hob

289) Vgl. diese Jahrbücher N. F. IV, 285 Anm. 19.

200) Lenin, Die Entwicklung des Kapitalismus in Rußland: Sämtl. Werke (deutsche Ausgabe) III, 553 (Anm.).

291) Pugalevilina, Bd. II: Iz sledstvennych materialov i oficial’noj perepiski. Centrarchiv. Materialy po istorii revoljucionnogo dvizenija v Rossii XVII ı XVIII vv. pod obitej red. M. N. Pokrovskogo.) Zu Bd. I (1926) vgl. Centrarchiv RSFSR: Katalog izdanij (1928), S. 10 (Hinweis auf die Rezensionen), außerdem die Anzeige von A. Kiesewetterg in den „Sovrem. Zapiski“ 29 (1926), 497—500. Vgl. auch B. H. Sumner, New material on the revolt of Pugachev: Slav. Review VII (1928—29), 118—127 und 838—348 (in Nr. 19 u. 20 der Ztschr.).

292) Nr. 121 (4255) v. 30. Mai 1929; vgl. auch Tomsinskijs Anzeige in der Zeitschrift: Pod znamenem marksizma 1929 Nr. 4.

162

die Verwendbarkeit darin enthaltener Dokumente iiber die Nationali- tatenpolitik Katharinas als Agitationsmaterial hervor, da sie bis zur Februarrevolution Bedeutung gehabt hätten.“)

Russische Geschichte des 19. Jahrhunderts.

Die Dekabristenbewegung ist nur in Rezensionen vertreten,) wenn man von einer Äußerung Pokrovskijs absieht, durch die er Untersuchungen bürgerlicher Gelehrter (Grekov, Presnjakov, Cernov) den marxistischen Historikern als Spiegel vorhielt; er machte aus dem Verdruß über die originale Fragestellung Cernovs, der als erster auf die „Ideologie“ der einfachen Soldaten eingegangen sei, kein Hehl, der „damit eine Aufgabe löste, deren Entscheidung mit

Recht alle von unseren geschworenen marxistischen Historikern er- warten durften“.

205 Die in den Ge Jahren erschienene "Tagebuch, Memoiren- und biographische Literatur zur russischen Geschichte des 19. und im Beginn des 20. Jahrhunderts aus beiden Lagern ist im Besprechungs- teil der Zeitschrift reichlich vertreten.

Russische Geschichte des 20. Jahrhunderts.

Die Beschäftigung der marxistischen Historiker mit der Ge- schichte Rußlands in unserem Jahrhundert empfängt ihre Signatur durch die Frage nach der besonderen Struktur des russischen Kapi- talismus und der Rolle des ausländischen Kapitals in Rußland; in

302) Zur marxistischen Behandlung des Pugatev-Aufstands vgl. auch diese Jahrbücher N. F. IV, 285; ferner I. Berkman zu G. Ladoca, Razin&tina i Pugacevixina (1928): Istorik-Marxist 9, 187 f.; S. TchorZevskij ,Krest’- janstvo i Pugačevščina: Zapiski nau¢nogo obščestva marksistov 1928 Nr. 4; A. CuloSnikov, Kazak-kirgizskie kotevye ordy i Pugatevitina (1778—1774 g.): Novyj vostok Nr. 25 (1929), 201—215.

2%) Rez. zu M. V. NeEkina, Obilestvo Soedinennych Slavjan. Centr- archiv 1927: 6, 278 f. (A. S-ch.); Frau Nelkina über: „Vosstanie dekabristov“ Bd. III V (Centrarchiv): 5, 217—220 und „Dekabristy i ich vremja“. Mee) Moskovskoj ı Leningradskoj sekcii izuceniju dekabristov i ich vremja, I. . Obšč. politkatorZan i ssyl’no-poselencev: 11, 201—208. Vgl. auch Zygm. Z boruck i, Dekabryci w świetle najnowszej historjografſi: Kwartalnik; historyczny 42 (1928), 656—670.

308) „Novye“ te&enija v russkoj istori¢eskoj literature: 7, 5.

90) Vgl. z. B. A. Se bunin zu A. FE. Tjut & e va, Pri dvore dvuch im- peratorov I (1928): 9, 188 f.; I. Volkovik er zum „Dnevnik E. A. Peretca 1880—1888“ gl 5, 252; P. Preobraženskij zum „Dnevnik V. N. Lamzdorfa (1886-1890: 8, 232 f.; N. Rubinstein zu Jurij Solov’ev, 25 let moej diplomatiteskoj služby (1898—1918): 9, 190 f. (eine vollauf berechtigte ungeschminkte Verwerfung): E. Morochovec zu J. Steklov, M. A. unin. Ego Zizh i dejatel’nost’ 1814—1876: 5, 249—251 ( auch 9, 176 zu V. Polonskijs Veröffentlichung: Politièeskaja ispoved’

unina); E. Morochovec zu den ,,Vospominanija L’va Tihomirova st 6, 281—288; B. Koz min zu Nikolaj Morozov, S oružiem v III (1928): 9, 191 f.; S. Ajnzafe zu B. P. Koz min, S. V. Zubatov

i ego korrespondenty (1928): 9, 192 f.: L. Mamet zu I. K. Mihajlov, Cetvert’ veka podpol Kiko (1928): 10, 258 u. a.

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engstem Zusammenhang damit stehen die Fragen nach dem Charakter des russischen Imperialismus (verbunden mit der russischen „Kolonial- frage“) und nach den tieferen Gründen der Teilnahme Rußlands am Weltkriege. In der Erforschung der Periode des „imperialistischen Krieges“ des marxistischen terminus technicus für den Weltkrieg sind die leitenden Gesichtspunkte sein Verstehen als Vorgeschichte der Oktoberrevolution, die Aufhellung der Tätigkeit der Partei in den Jahren 1914—1917 und die Bedeutung des Krieges und der Inter- vention der Alliierten für das Verständnis des Verlaufs der Um- wälzung seit dem Februar 1917.

Die von N. Rožkov™ und A. Finn-Enotaevskij™) vertretene Anschauung von der wirtschaftlichen Zurückgebliebenheit Rußlands und der Langsamkeit im Tempo seiner kapitalistischen Entwicklung vor dem Kriege und der Revolution, d. h. die Behaup- tung einer weitgehend selbständigen wirtschaftlichen und politischen Entwicklung, wird als menschevistische Legende abgetan.“) Die An- sicht, daß sich Rußland in den letzten Jahren vor dem Kriege in der E e des Finanzkapitalismus befunden habe, ist zu einer ziemlich allgemein angenommenen festen Stufe im marxistischen Schema der russischen Geschichte geworden; über den Charakter des Kapitalis- mus im Rußland der Vorkriegszeit, die Rolle des in Rußland vor dem Kriege investierten ausländischen Kapitals und sein Verhältnis zum einheimischen gehen indessen die Meinungen der marxistischen Wirtschaftshistoriker weit auseinander. Über diese Fragen ist in der Sovetunion eine Literatur im Entstehen,“ ) die für die Klärung des

207) Russkaja istorija v sravnitel’no-istori<eskom osveStenii Bd. XII. 298) Finansovyj kapital i kapital proizvoditel’nyj. 29) Gorin: 3, 152.

300) Vgl. z. B. Ronin, Inostrannyj kapital v Rossii (1926); Vorwort von Kritzmann, l. F. Gin din über M. Gol’man, Russkij imperializm. Oterk razvitija monopolisti¢eskoj kapitalizma v Rossii I. II (1927): 5, 191—196; ders., Nekotorye itogi v oblasti izucenija finansovogo kapitala v Rossii (zu E. L. Granovskij, Monopolisti¢eskij kapitalizm v Rossii, Leningrad 1929): Vestnik Komakad. 88 = 1929 H. 3 S. 185—199. Ark. Sidorov zu I. E. Gindin, Banki i promy$lennost’ v Rossii do 1917 g. (1927): 6, 288—286; N. Vanag, O charaktere finansovogo kapitala v Rossii: 11, 1—235; Trudy I, 818—389; ders., Puti kapitalistièesxogo razvitija sel’skogo chozjajstva vo vtoruju polovinu XIX i v nadale XX vv. v Rossii: Bjulleten’ . . IKP G oben Anm. 20 a), 63—68; M. Ju(gov) zu Z. Serebrjanskij, Ot Kerenščiny k proletarskoj diktatury. Očerki po istorii 1917 g. (1928): 9, 1 196; P. Gorin zu A. Sidoro v, Vlijanie imperialističeskoj vojny na ekonomiku Rossii (im Sammelwerk: Očerki po istorii Oktjabr’skoj revoljucii. Pod red. M. N. Pokrovskogo, izd. Istpart CK VKP (b), 1927): 8, 158—158; Pokrovskij, Obščestv. nauki SSSR za 10 let: Vestnik Komakad. 26 1928 H. 2 S. 17 f.; ders., Vsesojuznaja konferencija istorikov-marxistov: 11, 5; siehe auh M. Tajc, O diskussii po finansovomu kapitalu v Rossii (Kniga i revoljucija 1929 Nr. 21) und das Referat zu Heister (Gajster). „Produgol“. K. voprosu o finansovom kapitale v Rossii (im „Krasnyj Archiv“ 1926, H. 18 S. 119—148), in diesen Jahr- büchern N.F. 5 (1929), 443. Methodische Fragen zur Erforshung der Geschichte des Finanzkapitals in Rußland stellen Vanag, Gindin und Granovskij in H. 12 des „Istorik-Marxist“ zur Diskussion.

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Zusammenhangs zwischen der Wirtschaftslage des Landes und der äußeren Politik des caristischen Rußland oder um in der gebräuch- lichen marzistischen Terminologie zu sprechen zwischen dem russischen Kapitalismus und dem Imperialismus des Carismus bereits Wertvolles geleistet hat; für manche Fragen der auswärtigen Politik der Großmächte seit der Jahrhundertwende ist der Schleier, der bisher über der Einwirkung der internationalen Finanzkreise auf den Gang der internationalen Politik lag, durch russische Veröffent- lichungen der letzten Jahre mehr geliiftet worden als durch alle Publi- kationen diplomatischer Dokumente außerhalb Rußlands; in dieser Hinsicht wird man von der vorbereiteten Aktenpublikation wesentlich Neues erwarten können.“)

Die russische Imperialismus-Diskussion sucht vorwiegend den von Lenin herausgearbeiteten eigentlichen Zug des russischen Imperialismus: die eigentümliche Verflechtung von „kapitalistischem“ und „militärisch-feudalem‘ Imperialismus unter der Herrschaft des in Rußland nach der Revolution von 1905 ausgebildeten Systems des monopolistischen Kapitalismus und seine Wandlung im Kriege mög- lichst konkret zu erfassen.

In zweifelloser Überschätzung der Rolle des ausländischen Kapitals in Rußland vertreten Kritzmann (Kricman) und seine Richtung (Ronin, Vanag) die sog. „Theorie der Denationali- sierung des russischen Kapitalismus“ vor dem Kriege; infolge Über- fremdung der russischen Banken durch ausländisches Kapital sei das System des russischen Finanzkapitals kein nationales, russisches mehr gewesen und Rußland in eine Kolonie des westeuropäischen Impe- rialismus verwandelt worden. Einen spezifisch russischen Imperialis- mus habe es nicht gegeben, man dürfe lediglich einen französischen und englischen Imperialismus, der auf dem Territorium des ehe- maligen russischen Reichs operierte, anerkennen. Indem Rußland durch die bolschevistische Revolution aufhörte, der Tummelplatz des englischen und französischen Imperialismus zu sein, hatte die Um- wälzung den Charakter einer Weltrevolution. Vanags Folgerungen, die auf der Schätzung basierten, daß % des ganzen Banksystems Ruß- lands vom ausländischen Kapital kontrolliert worden seien, haben sich

301) Se Anm. 90a, 92, 186—140. Kein Werk trägt z. B. über die wirt- schaftspolitischen und finanziellen Hintergründe der russischen Politik im Fernen Osten um die Jahrhundertwende mehr bei als die ausgezeichnete Serie von Unter- suchungen, die B. Romano v unter dem Titel: „Rossija v Mankkurii“ (1892 bis 1906). Ocerki istorii vneinej politiki samoderkavija v epochu imperalizma) = Izd. Leningradskogo Maien i Instituta imeni A. S. Enukidze 26 (Leningrad 1928) hat erscheinen lassen; vgl. dazu A. Popov: 14, 178—182. Weitausholend und in ähnlicher Weise grundlegend ist das Werk von B. A. Bor’jan: Armenija, meZdunarodnaja diplomatija i SSSR I (1928), II (1929).

ber die besonderen Aufgaben ener Bearbeitung der gedruckten Quellen zur Geschichte der internationalen Beziehungen in der Neuzeit vgl. 11, 247 und Trudy II, 7—52 das Referat über einen Vortrag N. M. Lukins auf dem Moskauer Historikertag: „Problema izucenija epochi imperializma“, in dem er den Zeitraum von den achtziger Jahren bis 1900 als Übergangsepoche, die Zeit- spanne 1900—1914 als die Epoche des klassischen Imperialismus charakterisiert.

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starke Korrekturen gefallen lassen miissen. Nach Gorin hat die gegenseitige Konkurrenz der ausländischen Kapitalien in Rußland dazu geführt, daß daneben das einheimische Kapital weitgehend seine Selbständigkeit behaupten konnte, wodurch zugleich die Beherrschung der russischen Industrie durch das ausländische Finanzkapital ver- hindert wurde. Daher erscheint den Anhängern der „nationalen“ Natur des russischen Finanzkapitals der russische Imperialismus vor dem Kriege selbständig, mit eigenen Zielen; sie erkennen einen dem französischen, englischen, deutschen analogen eigenen russischen „keim- und bastardhaften“ Imperialismus an. Vanag und Ronin hätten den methodischen Fehler begangen, das einheimische Kapital und das in Rußland investierte ausländische Kapital einander gegen- überzustellen, ohne dabei die Spannungen und die Konkurrenz inner- halb des „ausländischen Sektors“ zu berücksichtigen.

Die Entwicklung während des Krieges stellt Gorin in ihren Grundzügen folgendermaßen dar: Nach dem industriellen Auf- schwung 1910—1913 machte sich seit Anfang 1914, als sich die Hoffnungen auf eine Verbreiterung des inneren Marktes durch die Stolypinsche Reform nicht erfüllten, sondern im Gegenteil die Proletarisierung des Bauerntums reißend fortschritt, die Anzeichen einer wirtschaftlichen und sozialen Krise bemerkbar; nur der Kriegs- ausbruch und die Kriegskonjunktur der Wirtschaft ließen sie nicht in voller Schärfe sichtbar werden. Dadurch, daß die russische Re- gierung den Krieg hauptsächlich mit Hilfe von Auslandsanleihen inanzierte, änderte sich das Vorkriegsverhältnis des russischen und ausländischen Kapitials. Nicht nur, daß Rußland in die Schuldknedht- schaft des westeuropäischen Imperialismus geriet: die ausländischen Gelder, die durch Vermittlung der caristischen Regierung in be- deutendem Maße der russischen Bourgeoisie zuflossen, verknüpften deren Interessen aufs engste mit denen der Regierung und ließen die russische Bourgeoisie zu einem politisch bedeutungslosen und in der Revolution des Jahres 1917 hilflosen Faktor herabsinken.

Geschichte der revolutionären Bewegung und des Klassenkampfes in Rußland im 20. Jahrhundert.

Einen wertvollen Beitrag zur Geschichte der politischen Organı- sierung des Bauerntums in der 1. und 2. Revolution, 1905—1907 und 1917, liefert A. Šestakov: „Der Allrussische Bauernverband“ in Form einer Polemik gegen die Rehabilitierungs-Publizistik des ehemaligen Vorsitzenden des Verbandes Semen P. Ma- z uren ko.“ )

303) Vserossijskij Krest’janskij Sojuz: 5, 94—128.

308) Semen Mazurenko, Krest’jane v 1905 g. Mosk. 1925; Semen und Vas. Mazurenko, K istorii krest’janskogo dvizenija 1905g. in den „Puti revoljucii“ (Žurnal vseukr. soveta vsesojuznago ob%. politkatorZan i ea Eno-Bosclence>) Nr. 7 = 1926 H. 4 S. 11—48; S. P. Mazurenko, Krest’- janstvo v 1917 g.: Ebda. Nr. 10 = 1927 H. 1.

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Die Bauernrevolution 1905 vollzog sich im Gefolge der prole- tarischen; von ihr wurde sie befruchtet, von ihr übernahm sie die Kampfformen und -Methoden; im Verständnis der Aufgaben und der Bedeutung des politischen Kampfes stand sie weit hinter der proletarischen zurück. Während das Proletariat in der Revolution von 1905 für den Sozialismus kämpfte, verfolgte die bäuerliche Revolution begrenztere Ziele. Sie beschränkte sich darauf, die Ab- schaffung der Gutsherrschaft und politische Reformen zu fordern und erschien damit als eine typisch bürgerlich-demokratische Revolution, die vom Proletariat im eigenen Interesse gefördert wurde. S. wendet sich gegen Mazurenkos Darstellung, die das Hauptverdienst am Entstehen des Verbandes der Dongruppe der ukrainischen Sozialdemokratie beimißt. Nach S. entstand die Idee des Bauernverbands in der Moskauer landwirtschaftlichen Gesell- schaft.“) In der Geschichte der Revolution von 1905 muß der Ver- band seiner Struktur, seinem Programm und seiner Taktik nach durchaus als eine politische Partei unter Führung kleinbürgerlicher Demokraten bewertet werden, die für das Bauerntum ein gewalt- sames Vorgehen, den bewaffneten Aufstand, ablehnten. Auf dem zweiten Kongreß des Verbandes in Moskau vom 6. bis 10. November 1905, zu dem die Bauern von 23 Gouvernements ca. 200 Delegierte entsandt hatten, wurde erbittert über die einzuschlagende Taktik ge- stritten. Šestakovs Bericht über den Kongreß, “) dem er selbst als Vertreter des Moskauer Komitees der Partei der Bolscheviki bei- wohnte, verhehlt nicht seine tiefe Unzufriedenheit mit der Mäßigung der Einberufer, denen er nicht verzeiht, daß sie sich nicht die Losung des bewaffneten Aufstandes der Bolscheviki zu eigen machten.

Die Erwähnung der Anknüpfungen zwischen den Führern des Bauernverbandes und dem Petersburger Arbeiterrat und seinem Vorsitzenden L. D. Trockij biegt 5. zu einem massiven Angriff gegen Trockijs Taktik in der ersten Revolution ab, der anstatt der einfachen und klaren Parole des bewaffneten Aufstands lediglich den General- streik propagiert habe.“) „Genosse Trockij stand im Jahre 1905 in der Bewertung des allgemeinen litischen Streiks als ent- scheidender Waffe der Revolution und der gegenseitigen Beziehungen zwischen der Arbeiterklasse und dem Bauerntum nicht zu den Bolscheviki, sondern zu ihren Gegnern, den Menscheviki.“ “) Die Gründe, die für die Umbildung des Verbands in eine politische Partei sprachen, wurden bald nach der Novembertagung in einer Broschüre von Serg. Odinokij: Vserossijskaja (zemledel českaja) partija (St. Pbg. 1906) formuliert. Der Kongreß hatte sich für den Boykott der I. Duma ausgesprochen; ein Mitglied des Hauptkomitees, Šapošni- kov, schied jedoch aus dem Verband aus und ließ sich in die Duma

308) S. 97; Zeugnis von A. I. Peres. 208) S. 99—105.

see) S. 106.

207) S. 107.

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wahlen. Er wurde Mitbegriinder der Fraktion der Trudoviki, die in ihre Anträge manche Forderungen des Bauernverbandes auf- nahmen. Mit dem Siege der Regierung löste sich der Verband in Rußland auf; einige Vertreter setzten von den Menscheviki ge- fördert im Ausland als „Ausländisches Bureau des Bauern- verbandes ihre Tätigkeit fort.

Im jahre 1917 organisierten die Brüder Mazurenko mit Unter- stützung der Provisorischen Regierung den Bauernverband aufs Neue, wobei sie weitgehend auf die führenden Mitarbeiter der Bewegun im Jahre 1905 zurückgriffen. Am 12. März 1917 trat der Verban mit einem programmatischen Aufruf „An die gesamte Bauernschaft“ (K vsemu krest’janstvu!“) hervor. In seinen Grundzügen entsprach die Erklärung der politischen Linie der bürgerlichen Regierung. Da der Verband sich als alleinberechtigte Vertretung der Bauernschaft gebärdete, mußte er zu den bolschevistischen Bauernräten und der bolschevistischen Agitation unter der „Dorfarmut“ in einen unüber- briickbaren Gegensatz geraten. Durch Aufstellung eigener Kandidaten zu den Wahlen zur 5 Versammlung (,,Uéreditel’noe sobranie“) bekundete er seinen Parteicharakter. Mit dem Siege der Bauernräte-Idee in der Oktoberrevolution war seine Rolle aus- gespielt.“)

Heft 5 des „Istorik-Marxist“ war der Zehnjahrfeier der Oktober- revolution gewidmet.“)

Pokrovskij sprach in einem einleitenden Beitrag: „Die Ok- toberrevolution in den Darstellungen der Zeitgenossen“) das Ver- dammungsurteil gegen Trocij als Historiker der Oktoberrevolution, indem er in weit ausholender Beweisführung Lenins Schema der Oktoberrevolution kanonisierte: nach dem gleichen Schema, wie sie sich vollzogen habe, müsse die Geschichte der Oktoberrevolution auch geschrieben werden (eine vom Schema abweichende Darstellung ver- diene nicht den Namen Geschichte). Ausgangspunkt jeder marxisti- schen Konzeption der Oktoberrevolution müsse die berühmte Stelle 1 Nachwort zu seiner Broschüre „Die beiden Taktiken“ “)

ilden:

308) Zur Geschichte des Jahres 1905 vgl. ferner: V. Mala chovskij über „1905 g. Istorija revoljucionnogo dvizenija v otdel'nych oterkach“. P red. M. N. Pokrovs ko g o. III. 1 Izd. Komissii CIK SSSR po organizacii prazdnovanija 20-letija revoljucii 1905 g. Istpart CK VKP (b) 1927: 5, 257 bis 259; N. A. Bu bin der zu: „1905 g. Evrejskoe rabotee dvizenie.“ Obzor materialy i dokumenty (1928): 7, 289 f.; E. Jugov über M. Bala ban ov: Or 1905 k 1917 g. Massovoe rabodee dvizenie (1927): 7, 296—299 (in der Schrift sei das menschevistische Schema in der Beurteilung der Arbeiterbewegung nach der 1. Revolution, die Trennung der wirtschaftlichen und der politischen Be- wegung, aufgegeben und im Grunde der Anschluß an die bolschevistische, leninisti- sche Auffassung vollzogen).

300) Über die in Heft 1 bis 4 enthaltenen Aufsätze zur Geschichte des Jahres 1917 vgl. diese Jahrbücher N.F. IV, 292.

310) Oktjabr’skaja revoljucija v ızobraZenijach sovremennikov: 5, 8—885. 311) Dva taktiki (Juli 1905).

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„Der volle Sieg der jetzigen Revolution wird das Ende der demokratischen Umwälzung und der Beginn des entschiedenen Kampfes für eine sozialistische Umwälzung sein. Die Verwirklichung der Forderungen des Bauerntums, die völlige Zerstörung der Reaktion, die Eroberung der demokratischen Republik wird das völlige Ende des Revolutionären in der Bourgeoisie und sogar des Kleinbürgertums bedeuten, wird den Anfang bedeuten des wirklichen Kampfes des Proletariats für den Sozialismus. Je vollständiger die demokratische Um- wälzung sein wird, um so schneller, breiter, reiner, entschiedener wird der neue Kampf durchgefochten werden. Die Losung „Demokratische Diktatur“ bringt bereits den historisch begrenzten Charakter der jetzigen Revolution (1905) zum Ausdruck und die Notwendigkeit neuen Kampfes e der Ge der neuen Verhältnisse für eine völlige Befreiung der Arbeiterklasse von jeglichem Druck und jeglicher Ausbeutung. Mit anderen Worten: Wenn das demokratische Bürgertum oder das Kleinbürgertum bereits eine niedrige Stufe heraufsteigt, wenn nicht nur die Revolution, sondern der volle Sieg der Revolution Tat- sache wird, dann werden wir es fertigbringen, an die Stelle der Losung „Demo- kratische Diktatur!“ die Losung der sozialistischen Diktatur des Proletariats d. h. der vollständigen sozialistischen Umwälzung zu setzen. 112)

Hiermit und mit einer konkreteren Prognose in den „Er- gebnissen der Diskussion über die Selbstbestimmung) habe Lenin das historische Schema der Oktoberrevolution bereits vor der Revo- lution geliefert. Bei gleichbleibenden Grundüberzeugungen verstand es Lenin, in seinem Schema Realitäten, die die Entwicklung der Dinge in seinem Sinne in unvorhergesehener Veise beeinflußten, wie dem „imperialistischen Krieg“, dem Sturz der Monarchie in Rußland —, in vollem Maße Rechnung zu tragen.

Mit Lenin ist jede historische Situation nach dem besonderen jeweiligen Kräfteverhältnis der Klassen zu beurteilen. Trockij da- gegen („Uroki oktjabrja“) rechne mit einem für die ganze Epoche der Revolution gleichbleibenden unabänderlichen Kräfteverhältnis der Klassen. Die Geschichte des Bauerntums, der Bauernrevolution und der bäuerlichen Ideologie werde von Trockij weder gekannt noch ver- standen (S. 23). Trockijs „Oktoberrevolution“ wird so als nicht- marxistisches Werk gestempelt, das ebensogut ein Nichtmarxist hätte schreiben können.“)

Drei Aufsätze handeln über den Eindruck der Oktoberrevolution in England, Deutschland und Frankreich:“!

F. Rotstein, der Verfasser des ausgezeichneten Artikels über England der Großen Sovet- Enzyklopädie,“) spricht auf Grund per- sönlicher Erinnerungen über die Einstellung der englischen Regierung und der Parteien zur Sovetunion in den Jahren 1917-1920.

3118) Vgl. Anm. 177.

313) Itogi diskussii o samoopredelenii (Okt. 1916).

2122) Vgl. Anm. 16.

313) Entsprechende marxistische Veröffentlichungen über den Eindruck der Februarrevolution in den westlichen Ländern sind in diesen Jahrbüchern N.F. 4 (1928), S. 127 f. angezeigt.

313a) Bd. 9 (1928).

31) F. Rotstein (Kotltejn), Anglija i Oktjabr’skaja revoljucija; 5, 36—48.

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Aus dem Deutschen übersetzt ist der Beitrag von P. Frölich: „Die russische Revolution und Deutschland“:“) 1. Die Februar- revolution; 2. Die Februarrevolution und die Politik der deutschen Regierung; 3. Die Oktoberrevolution; 4. Der Brester Friede; 5. Brest- Litovsk und die Sozialdemokratie; 6. Der Feldzug gegen das revo- lutionäre Rußland.

Friedland) verfolgt die Stellungnahme der führenden französischen Blätter, vor allem des ‚Temps‘, des ‚Matin‘, des, Figaro und des ‚Petit Journal‘ zu den Vorgängen in Rußland vom Juli bis Dezember 1917; zugleich im Hinblick auf die französische Arbeiter- bewegung im Jahre 1917 wird die sozialistische Presse (, Humanité“, ‚Journal du peuple‘) eingehender behandelt. Die Regierungsbildung durch Clémenceau am 8. November 1917 das „Ministerium des weißen Terrors“, die „Diktatur des Bajonetts und der Peitsche“ stellt Fr. als die direkte Antwort der französischen Bourgeoisie auf den Oktoberumsturz in Rußland hin (S. 79, 93).

M. Jug ov bespricht in seiner Kritik des 1926 vom Zentral- archiv herausgegebenen Sammelwerks: „Die Arbeiterbewegung im Jahre 1917“ (Rabodee dvikenie v 1917 godu) ausführlich die Materialien über die Einführung des Achtstundentags und das Ver- hältnis der Arbeiterräte zu den Berufsverbänden; er vermißt einen Hinweis auf die Arbeit der Kriegsgefangenen, die in manchen Industrien des Donbezirks und des Ural einen beträchtlichen Prozent- satz der Arbeiterschaft ausmachten (S. 183), und auf die fremd- stämmigen Arbeiter (Chinesen!) im Ural und in Sibirien.“)

A. V. Sestakov (Der Block mit den linken Sozialrevolu- tionären) bespricht das Zusammengehen der Bolscheviki im ersten Vierteljahr nach der Oktoberrevolution mit den linken Sozial- revolutionären, der politischen Organisation der bäuerlichen und kleinbürgerlichen Demokratie. Die Spaltung innerhalb der Partei über der Koalitionsfrage und die wochenlangen Verhandlungen über die Regierungsbildung sind eingehend dargestellt.“)

Von einer Inhaltsangabe der sonstigen Mitteilungen des „Istorik- Marxist“ zur Geschichte der Oktoberrevolution und Bürgerkrieges sehe ich ab. Die Geschichte der Kommunistischen Partei und der Oktoberrevolution ist heute eine mit besonderen Lehrstühlen ausge- stattete historische Disziplin geworden; die einschlägigen Unter- suchungen und vielfach sehr eingehenden Rezensionen sind nur mit dem Gang der Ereignisse, mit den Parteien und mit den handelnden Personen der Revolutionsperiode gut Vertrauten völlig verständlich. Hinzukommt, daß die im „Istorik-Marxist“ enthaltenen Arbeiten und Besprechungen zur Geschichte der Oktoberrevolution nur einen ver-

315) Russkaja revoljucija i Germanija: 5, 49—70 und 6, 8—20.

a bi C. Friedland (Fridljand), Francuzskaja pečat’ ob Oktjabre: 5,

317) K istorii rabocego dviženija v 1917 godu: 5, 172—183. 318) Blok s levymi eserami: 6, 21—47.

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schwindenden Bruchteil des für einen Ausländer unübersehbaren Materials darstellen, das in Büchern und Zeitschriften über jene Periode bereits vorliegt und das fortwährend wächst.“)

A. Sestakov, der die Bilanz der zum Zehnjahrstag der Ok- toberrevolution erschienenen Zeitschriftenaufsätze zog, gelangte zu dem pessimistischen Urteil, daß sich die Journalistik der ihr durch das Jubiläum gestellten Aufgabe nicht gewachsen gezeigt habe: „Es ist Grund vorhanden, zu behaupten, daß mit der historischen Journalistik und insbesondere mit den Problemen der Revolution des Jahres 1917’ bei weitem nicht alles gut bestellt ist. Vor allem fällt in die Augen der begrenzte Kreis von Personen, die über diese Fragen arbeiten, und das Fehlen von Planmäßigkeit in den ihnen über- tragenen ‚sozialen Auftragen‘.“***)

Weltkrieg und Intervention.

Der Weltkrieg erscheint Pokrovskij für Rußland nach L. N. Kritzmann als der Übergang des „militärisch-feudalen Imperialis- mus“ (voenno-feodal’nyj imperializm) ( der äußeren Politik des handels-feudalen Staats) zum Imperialismus der Periode der kapitalistischen Monopole (= der äußeren Politik des Finanz- kapitals).“ “)

Nach russischer Auffassung lag die kriegspolitische Bedeutung des Friedens von Brest-Litovsk weniger in der Beendigung des Krieges mit der mitteleuropäischen Mächtegruppe als im Bruch mit der Entente mit seinen weitreichenden Folgen.“) In großen Zügen schildert ein Rückblick von I. Minc auf die Periode der Intervention vor zehn Jahren“) unter Verwertung einiger jetzt im Archiv der Oktober- revolution befindlicher Stücke aus den Archiven der gegen- revolutionären Bewegung die Vorgeschichte und den Verlauf der Intervention der Alliierten.“)

Mit der Februarrevolution setzten Einwirkungen der Organe der Alliierten auf die Führung des russischen Feldheeres ein, um den Zer- all der russischen Armee aufzuhalten; am Kornilovputsch nahmen zum russischen Heere kommandierte Offiziere der Verbündeten Ruß- lands aktiven Anteil. An Hand der stenographischen Berichte der Parlamentsdebatten geht M. der Ausbildung des Interventions- gedankens in England nach, als die bolschevistische Regierung durch die

319) Vgl. „Die Geschichts wissenschaft in Sowjet-Russland 1917—1927“ (Berlin 1928), S. 51 ff.

$29) 5, 231.

$21) Vgl. 6, 264 f. nah Pokrovskij, Oktjabr’skaja revoljucija i Antanta: Proletarskaja revoljucija 69 = 1927 H. 10; wiederabgedruct u. d. Titel: „Vychod Rossii iz romy in dem Sammelband: M. N. Pokrovskij, Imperialistskaja vojna. Sbornik statej 1915—1927 (1928); s. dort S. 268 f.

32) Pokrovskij, Imperialistskaja vojna. Sbornik state; 1915—1927 (Mosk. 1928), 270.

333) K desjatiletiju neudači intervencii: 11, 88—99.

334) Vgl. auch diese Jahrbücher N.F. IV, 291 über Gurko-Krjažin, Anglijskaja intervencija 1918—1919 g. g. v Zakaspii i Zakavkaze.

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Annullierung der in den Ländern der Entente aufgenommenen Staats- anleihen (10. Februar 1918) und den Sonderfrieden an der Sache der Alliierten „Verrat“ geübt hatte. Als Gründe für das Scheitern der Intervention führt M. die Kriegsmüdigkeit der Interventionstruppen, die Gegensätze im Lager der Alliierten“) und die zweifellos über. schätzte Entwicklung der „revolutionären Bewegung“ in den Inter- ventionsländern an.)

335) Ablehnung von Mannerheims Vorschlag im Juli 1919 zur Zeit der höchsten Bedrohung der Sovetmacht durch Denikin, Koléak und Judenié —, mit vier frischen Divisionen Leningrad zu erobern; vgl. dazu auch: „Znajukxij“, Nelepaja vychodka finskich aktivistov, in den Izvestija Nr. 182 (8718) vom 10. August 1929.

#38) Zur Geschichte Rußlands während des Weltkrieges, zur Geschichte des Jahres 1917 und der Periode der Intervention und des Bürgerkrieges finden sich in Heft 1 bis 11 des „Istorik-Marxist“ bemerkenswerte Rezensionen der nach- folgenden Veröffentlichungen:

S. D. Sazonov, Vospominanija. Berlin 1927: 8, 230—282 (N. R.); M. V. Rodzjanko, Krulenie imperii (1927): 5, 200 f. (E. Gekkin q: Carskaja Rossija v mirovoj vojne (Centroarchiv 1926): 2, 278—280 (G. B. Sandomirskij); Buržuazija nakanune fevral’skoj revoljucii (izd. B. B. Grave 1927): 7, 294 f. (S. Sef); V. P. Semennikov, Politika Romano- vych nakanune revoljucii. Ot Antanty k Germanii (1926): 8, 280 f. (I. Mi nc); Perepiska Nikolaja i Aleksandry (1916—1917 g.) Bd. V (1927): 4, 248—250 (S. Piontkovskij); B. Grave, K istorii klassovoj bor’by v Rossii v gody imperialisti¢eskoj vojny.t Jul’ 1914 8. fevral’ 1917 g. Proletariat i buržuazija 1: 1, 812f. (A. Sestakov); M. G. Fleer, Peterburgskij komitet bol’

vikov v gody vojny 1914—1917 g. (1927): 7, 200—204 (D. Bacvskij); E. I. Martynov, Carskaja armija v fevral’skom perevorote (1927): 4, 250—258 (S. Rabinovid); Z. Serebrjanskij, Ot Kerenktiny k proletarskoj diktature. Očerki pe istorii 1917 g. (1928): 9, 198—196 (M. Ju); Oktjabf v belogvardejskoj osveščenii (I Steinberg, Ot fevralja po oktjabf 1917 g.; V. Cernov, Konstruktivnyj socializm I; P. Miljukov, Rußlands Zusammen- bruch, vgl. diese Jahrbücher N.F. IV, 292; P. Struve, Razmyllenija o russkoj revoljucii; Th. Masaryk, Weltrevolution): 5, 184—190 (S. G. Tomsinskij); A. M. Pankratova, Fabzavkomy i profsojuzy v revol- jucii 1917 g. (1927): 6, 287 f. (M. Jugov); Vserossijskoe soveščanie sovetov rabotich i soldatskich deputatov (Centroarchiv 1928): 8, 282—284 (M. Jug o v): Rabočij klass Urala v gody vojny i revoljucii. Red.: A. P. Tanja ev (Sverdlovsk 1927): 6, 286 f. A. S-ov); M. Kubanin, Machnovščina. Istpart. Otdel po izučeniju istorii Oktjabr’skoj revoljucii i VKP (b). Istorija graždanskoj vojny 8 6, 201—204 (I. Kizrin); P. S. Par fenov (Altajskij), Na s0tzlalatel'skich frontah (zur Geschichte der Republik des Fernen Ostens), 1927: 5, 265—268 (K. Molotov); zu Parfenovs Arbeiten vgl. auch B. S um ja & ij in der Pravda Nr. 110 (8942) v. 18. Mai 1929. Al. Gukovs ki j, Literatura o sojuznoj intervencii v Rossii v gody koj vojny: 6, 242—258 (1. Die Intervention der Franzosen in Südrußland 1918—1919: S. 248—249; 2. Die eng- lische Intervention in Transkaspien und Transkaukasien 1918—1919: S. 249—253); D. Kin, DenikinSina. Istpart CK VKP(b). Istorija gra2danskoj vojny Niall 6, 288—291 (Al. Gukovskij); Poslednie dni Koltakovitiny. Sborni dokumentov (Centrarchiv 1926): 8, 288 f. (N. Rubinstein); Z.L Mirkin, SSSR, carskie dolgi i nali kontr-pretenzii (1928): 10, 254 (Al. Gukovs k ij); S. L. Danisevskij, Opyt Oktjabr’skoj revoljucii: 8, 227—280 (M. Jug o v): V. S. Dragomireckij, Cecho-slovaki v Rossii v 1914—1920 godu (1828): 11, 269 (A. Gukovskij). Vgl. auch die Referate in diesen Jahrbüchern N. F. 5 (1929), 444 f. zu D. Kin, K istorii francuzskoj intervencii na juge Rossii . . . 1919 g. und I. Mi nc, Anglitane na severe (1918—1919 gg. ferner Anm. 824 in dieser Übersicht.

172

Wirtschafts- und Sozialgeschichte.

Die russische Wirtschafts- und Sozialgeschichte ist in den vor- liegenden Heften hauptsächlich durch Rezensionen vertreten.“) Aus einer eingehenden Besprechung der „Geschichte der russischen Volks- wirtschaft“ von Lj a l& enk o) durch Frau M. Ne€kina ist folgendes hervorzuheben:

Das streng nach dem Entwicklungsschema von Marx ge- gliederte Lehrbuch der russischen Virtschaftsgeschichte ist die einzige russische Gesamtdarstellung von den ältesten Zeiten bis zur Oktober- revolution, solange das Werk von Kuliber ““) nicht zu Ende geführt ist. Am Beispiel von Lja$&enkos Abgrenzung der Epoche des Handels- kapitalismus gegen die Epoche des Industriekapitalismus wird deut- lich, wie die allzu schematische Gliederung dem Verständnis von Übergangszeiten in der Wirtschaft schadet. Als letzte Stufe der kapitalistischen Entwicklung Rußlands ist das ursprüngliche Schema um die Stufe des Finanzkapitalismus erweitert, den L. (nah Vanag, Finansovyj kapital v Rossii nakanune mirovoj vojny, 1925) v. J. 1905 an datiert. Die Rez. hebt die Behandlung der bäuerlichen Wirtschaft in der Epoche des Handelskapitalismus und der Moskauer Agrarkrise im 16. Jahrhundert hervor; wesentliche Punkte, in denen das Werk sich ergänzen ließe, seien: stärkeres Eingehen auf die Lage der ncben den gutswirtschaftlichen Verhältnissen in der Forschung zu wenig be- rücksichtigten bäuerlichen Wirtschaft vor der Reform von 1861; die

27) Vgl. L. Trockijs Anzeige seit 1920 erschienener Beiträge zur alt- russischen Wirtschaftsgeschichte: 8, 190 f.; eine instruktive Übersicht über wirt- schaftsgeschichtliche Veröffentlichungen aus den Jahren 1922—1926 gab V. Pit eta: Sovremennaja literatura po istorii narodnogo chozjajstva (Minsk 1927, 14 S.).

328) P. I. Lj aK en ko, Istorija russkogo narodnogo chozjajstva (M.-L. 1927): 6, 221—227; vgl. auch N. L. Rubinstein (Rubin&tejn), Do istorii rosijskogo narodnogo gospodarstva: Prapor marksizmu 5 1928 Nr. 4 S. 64—87.

Der „Istorik-Marxist“ brachte eingehende Besprechungen von drei wirt- schaftsgeschichtlichen Chrestomathien (die besonderen Voraussetzungen für die immer größere Verfeinerung dieses verbreiteten Arbeitsinstruments der Hoch- schulpädagogik wurden in diesen Jahrbüchern N. F. IV, 279 f. angedeutet): M. Ne&kina zu B. D. Grekov und I. M. Trockij, Istorija russkogo narodnogo chozjajstva (Materialy dlja laborat. prorabotki voprosa). I: Promyl- lennyj kapitalizm (doreformennyj period), L. 1926: 4, 287 f.; Ark. Sidorov zu A. M. Bol“ la Kkov und N. A. RoZkov, Istorija chozjajstva Rossii v materialach i dokumentach III (1926): 4, 244 f.; ders. zu N. Vanag und S. Tomsinskij, Ekonomiteskoe razvitie Rossii I. SS promy3lennogo kapitalizma, II. Epocha finansovogo kapitalizma: 8, 220—222.

320) I. M. Kuli ler, Istorija russkogo narodnogo chozjajstva (1925), von Ljaščenko im „Istorik-Marxist“ 8, 225 f. besprochen; über das Verhältnis der deutschen zur russischen Ausgabe stelle ih Anm. 80 meines ersten Berichts über den „Istorik-Marxist“ (N. F. IV, 292) nach frdl. Mitteilung des Herrn Herausgebers des „Handbuchs der Wirtschaftsgeschichte“ dahin richtig, daß K. seine russische Wirtschaftsgeschichte in deutscher Sprache für das Handbuch der Wirtschaftsgeschichte verfaßt hat und daß die deutshe Ausgabe das Original ist. Über die erheblichen Änderungen der (nicht autori- sierten) russischen Ausgabe, namentlich in den Foie Ge Partien des Werkes, vgl. das Vorwort.

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Aufhebung der Leibeigenschaft in ihrer Bedeutung fiir die Entwick- lung der proletarischen Landarbeiterschaft; das caristische Rußland als Kolonialmacht (in Sibirien, dem Kaukasus, in Mittelasien) nach den Anregungen M. N. Pokrovskijs in seinem Buche: Der Marxismus und die Besonderheiten der historischen Entwicklung Rußlands (Marksizm i osobennosti istori¢eskogo razvitija Rossii, 1925, S. 110 ff.); Er- gänzungen zur Geschichte der Wirtschaftstechnik in Rußland; Re- vision der Bibliographie.

Man wird nicht zuweit gehen, wenn man im Vortrag von Frau Pankratova über die Erforschung der Geschichte des russischen Proletariats“) mit seiner Aufstellung eines marxistischen Schemas und einer Fülle, in einer lebhaften Diskussion erörterter Anregungen die Grundlage für eine Teildisziplin der marxistischen Geschichtsforschung sieht. Pokrovskij konnte die Bedeutung gerade dieses Vortrags nicht deutlicher machen, als indem er nach der Konferenz schrieb: ,,Die Ge- schichte unseres Proletariats in ihrer ganzen Eigentümlichkeit ver- stehen heißt die Eigenart unserer proletarischen Revolution ver- stehen.“) Da Frau Pankratova jedoch nur ein System für die Ent- wicklung der Arbeiterbewegung aufstellte und nur solche Fragen an- schnitt, die mit der Tndosteärbeiterschaft zusammenhängen, vermißt man in Pokrovskijs Formulierung einen Hinweis auf die russische Bauernbewegung, da die Eigenart der russischen Revolution in der Verbindung der Bauern- und der Arbeiterbewegung liegt. Eine Reihe von neueren Untersuchungen läßt erkennen, wieviel die Erforschung der Voraussetzungen für die Oktoberrevolution durch Aufhellung der Bauernbewegung in Rußland im 19. und 20. Jahrhundert gefördert wird.“)

330) Vgl. Anm. 159 und das erste Heft der Zeitschrift: Istorija proletariata SSSR (1980).

331) 11, 10.

392) Vgl. die Thesen von S. M. Dubrovskijs Vortrag über „Die Bauernbewegung in Rußland im %. Jahrhundert“ in Oslo im oben (Anm. 188) angeführten „Résumé“; ders., Die Stolypinsche Agrarreform (Vortrag auf der Russ. Historikerwoche in Berlin; s. auch A. Sidorov zu I. I. Litvinov, Ekonomileskie posledstvija stolypinskogo agrarnogo zakonodatel’stva (RANION, Institut ekonomiki): 11, 204—207. Dubrovskij ist Verfasser einer für das Verständnis der Oktoberrevolution grundlegenden Monographie: Krest’- janstvo v 1917 g., deutsch u. d. Titel: S. Dubrowski, Die Bauernbewegung in der russischen Revolution 1917 = Beiträge zum Studium der internationalen Agrarfrage (herausgeg. vom Internat. Agrarinstitut, Moskau) Bd. I (Berlin 1929). Zur Agrarfrage 1917 vgl. ferner: Krest’janskoe dviZenie v 1917 godu. Centrarchiv („1917 g. v dokumentach i materialach“), pod. red. M. N. Pokrovs- kogo i J. A. Jakovleva (dazu A. Šestakov: 5, 262 f.): Agrarnaja revoljucija, II: Krest’janskoe dviženie v 1917 godu; pod red. V. P. Miljutina. Izd. Komakad., Agrarnaja sekcija (dazu O. Lidak: 7, 299—302); A. Šestakov zu O. Čaadaeva, Pomeščiki i ih organizacii v 1917 godu: 9, 196 f. M. Kubanin ergänzt seine frühere Darstellung der Umteilung des Gutsbesitzerlandes im Jahre 1917. Die Schilderung zeigt die vielfach anarchischen Formen der Liquidation des lebenden und toten ım Prinzip nationalisierten oder kommunalisierten wirtschaftlichen Gutsinventars in der Periode vor dem Siege der sog. „Dorfarmut“. Der Vorteil der kleinen Hofbesitzer gab den Aus- schlag: K istorii Oktjabrja v derevne 7, 18—35; ders., Pervyj peredel zemli:

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Ro!:kovs Bemühungen um Aufhellung der „Geschichte der Arbeit“ in Rußland im 19. Jahrhundert ließ Pokrovskij durch die Bemerkung: „Was Rokkov in seinen letzten Lebensjahren für eine „Biographie“ der russischen Arbeiterklasse getan habe, mache eine Menge seiner alten Sünden wieder gut“,) Gerechtigkeit widerfahren. Eine posthume Veröffentlichung: „Die Manufaktur Prochorov in den ersten vierzig Jahren ihres Bestehens“ ) bildet die Illustration zu den von Rozkov in seinem Vortrag: „Zur Methodologie der Ge- schichte industrieller Unternehmen“) entwickelten methodischen Gesichtspunkten für die wissenschaftliche Auswertung von Fabrik- archiven weniger als Materialien zur Geschichte der russischen In- dustrie, der Arbriterbeweruns oder eines Einzelunternehmens als eines bestimmten wirtschaftlichen Organismus als vielmehr zur Erkenntnis der Fabrik als Wirtschaftsorganisation. Die allgemeine Charakteri- sierung der Manufaktur in den dreißiger Jahren auf Grund der in mühseliger Forschung gewonnenen Betriebsstatistik zeichnet das Unternehmen als Wirtschaftsorganisation des handelskapitalistischen Typus auf der Schwelle zur Umwandlung in eine Fabrik des betriebs- kapitalistischen Typus.

Orient.

Die Versuche, eine marxistische Methodologie für die Geschichte des Orients, insbesondere für die Geschichte Russisch-Mittelasiens zu begründen, wofür Ansätze bereits in den früher besprochenen Heften vorlagen,“) werden in engstem Zusammenhang mit der Erörterung der „Kolonialpolitik“ des caristischen Rußland in Mittelasien und der Erforschung der nationalen Freiheitsbewegung und der Oktober- revolution in Turkestan energisch fortgesetzt..) Ihrer Natur nach führen die hier auftauchenden Fragen tief in wenig geklärte und heftig umstrittene völkische, wirtschaftliche und soziale Verhältnisse des Orients, weshalb ich nur an einem Beispiel nach den Ausführungen

Agrarnaja revoljucija 5. Zur Haltung des Bauerntums vom März bis Mai 1917 vgl. auch die Referate in wiesen Jahrbüchern N. k. 8 (1927), 274 f. über M. Martynov, Agrarnoe dvizenie v 1917 g. po dokumentam Glavnogo Zemel’nogo Komiteta (Krasnyj Archiv 1926, H. 14, S. 182—226) und N. F. 4 (1928), 180 über den von J. Jakovlev im Krasnyj Archiv Bd. 15 heraus- gegebenen „Obzor poloZenija Rossii za trimesjaca .. .“.

Die Literatur zur Geschichte der Bauernbewegung in Rußland im Zeitraum 1801—1924 hat E. Morodhovec früher im Vestnik Komakad. 8 (1923), 415—422; 4, 465—472; 5, 276—290; 6, 451—474; 7 (1924), 421—444; 12 (1925), 398—408 zusammengestellt.

333) 11,9; s. auch Ark. Sidorov, Istorileskie vzgljady N. A. Ro ko va: 13, 184—220 und diese Jahrbücher. N.F. IV, 286 f.

334) Prochorovskaja manufaktura za pervye 40 let ee suStestvovanija (1799—1889/40): 6, 79—110; 3. auch M. K. RoZkova, Opyt raboty nad arhivom Trechgornoj Manufaktury, und: Sostav raboti Trechgornoj Manufaktury (vo vtoroj polovine XIX veka): Istorija proletariata SSSR 1 (1930).

338) Vgl. diese Jahrbücher N. F. IV, 287 f. $36) Vgl. diese Jahrbücher N. F. IV, 290 f.

13 HF 6 176

eines der Pioniere dieses marxistischen Forschungszweiges, P. Galuzo, auf die Problematik der bisherigen Untersuchungen hin- weisen möchte.

Galuzo, der in einem Vortrag vor der Sektion für die Geschichte des Orients den Kapitalismus der turkestanischen Kolonie in der Zeit vor der Revolution von 1917 untersuchte,) packte das tur- kestanische Kolonialproblem rein wirtschaftlih an und sah bewußt von der gi foc ares Bedeutung Mittelasiens gegen England-Indien ab. Auf dreifache Weise habe sich die koloniale Ausbeutung Tur- kestans vollzogen: Turkestan sei der Tummelplatz des wucherischen russischen Handelskapitals beim Baumwollaufkauf und in der Kredi- tierung der Baumwollwirtschaft gewesen. Das Land sei einem unred- lichen und bestechlichen staatlichen Verwaltungsapparat ausgeliefert worden. Die dritte Art der Ausbeutung des Landes habe in der Be- drohung des Besitzes an bewässertem und bebautem Land der ein- geborenen Bevölkerung durch die russischen Einwanderer be- standen.“)

Ob die Anwendung der Kategorien des marxistischen Schemas auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung Mittelasiens in den letzten Jahrzehnten zum Verständnis Turkestans als Kolonie des

kaiserlichen Rußlands abgesehen von Differenzen im eigenen Lager“) entscheidend beizutragen vermag, erscheint bei einer

Art Gegenprobe, einem Vergleich mit nichtmarxistischen Begrün- dungen der kolonialen Rolle Turkestans, etwa durch O. H o e t zs dh. und G. Cle in ow, zum mindesten zweifelhaft.“)

337) Kolonial’naja politika carskogo pravitel’stva v srednej Azii: 9, 128—183; N. Ja. Vi tkind, Bibliografija po Srednej Azii (Ukazatel’ literatury po kolonial’noj politike carizma v Srednej Azii). Pod red. A. V. Šestakova = Trudy nautno-issledovat. associacii pri Kommunist. universitete trudjaߣichsja vostoka im. I. V. Stalina vyp. IV (1929). S. auch Anm. 842

338) Gegen die unkritische Übernahme der marxistischen Darstellungen von der Kolonialpolitik des kaiserlichen Rußland in diesem Punkte durch Hans Kohn, „Geschichte der nationalen Bewegung im Orient“ (Berlin 1928) erhebt P. Vitte k im „Archiv für Sozialwiss. und Sozialpolitik“ 62 (1929), 144 f. Ein-

wendungen.

339) Vgl. außer der Diskussion zu Galuzos Vortrag vor allem M. Cviba k, Klassovaja bor ba v Turkestane: 11, 190—144 und 150 f.

40) Russisch - Turkestan und die Tendenzen der heutigen russischen Kolonialpolitik: Schmollers Jahrbücher 37. Jg. (1918), 903—941 und 1427—1473.

341) Die Grundlagen der Nationalitätenpolitik in Russisch-Zentralasien: Osteuropa 4 (1928—29), 559—578; vgl. auch Cleinows methodisch wichtigen Be- merkungen: „Deutsche Rußlandforschung“ in der Zeitschrift: Das Neue Rug- land 6. Jg. (1929), Nr. 1—2 S. 64 f.

342) Siehe ferner: Olerki revoljucionnogo dvizenija v Srednej Azii. Sbornik state} (Moskva, Naučn. Assoc. Vostokoved. pri CIK SSSR, 1926); P.G.Galuzo, Voorukenie russkich pereselencev v Srednej Azii (Taškent 1926: Izd. Sredne- Aziatskogo Kommunist. universiteta im V. I. Lenina), dazu S. Tomsinskij: Peca t“ i revoljucija 1927 H. 3 S. 137 f. und E. Zel’kina: 3, 241 f.; Galuzo, Peres elen&eskaja politika carskogo pravitel'stva v Srednej Azii, dazu A. Sestakov: 6, 267 und 7, 311 Galuz o, E eg ee Olerk istorii Turkestana ot zavoevanija russkimi do revoljucii 1917 goda = Trudy

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„Irandust“, Fragen der Revolution in Giljan.™)

Nach den üblichen Versuchen, den Stand der nationalen Freiheits- bewegung im vorderen Orient (Arabien, Türkei, Persien) gegen den Imperialismus schematisch zu klassifizieren,“) wird die revolutionäre Bewegung in der persischen Provinz ijan 1911—1921 nicht als ein- fache Fortsetzung des Kampfes um die persishe Verfassung (sog. „persische Revolution“ 1905—1909), sondern als ihre höchste Stute sowohl in der Ausbildung der Klassengegensätze wie ihrem Programm nach charakterisiert: „Die Hauptbedeutung der Revolution in Giljan besteht darin, daß in sie diejenigen sozialen Schichten verwickelt waren, die an den vorigen Etappen der revolutionären Bewegung nicht teilgenommen hatten, die Bauernschaft und das Proletariat“ (S. 127). I. kennzeichnet die in der Epoche 1905—1909 sich ab- lösenden Träger der politishen und sozialen Bewegung in Persien (S. 126—131) und erblickt in der Revolution in Giljan die Aufein- anderfolge einer nationalen Befreiungsrevolution gegen den Im- perialismus, einer bürgerlich-demokratischen Revolution gegen den Feudalismus und einer proletarisch - kommunistischen Revolution gegen die Bourgeoisie. In einem chronologischen Schema der revo- lutionären Entwicklung in Giljan endigt die „Vorgeschichte“ mit dem Kampf des. Komitees Ittechad -e Islam mit Khan Kučik an der Spitze gegen die englische Okkupation Persiens 1918—19; die eigent- liche Revolution in Giljan läßt I. mit der Bildung der revolutionären Regierung Giljans unter Khan Kutik im Mai 1920 ihren Anfang nehmen, die eine unmittelbare Folge der Wiederaufrichtung der

nau£no-issledovatel’skoj associacii pri Kommunistieskom universitete trudja$lichsja Vostoka imeni I. V. Stalina, vyp. I (1929), dazu Vl. Larent’ev: 14, 210—212; Galuzo zul. Rezcov, Oktjabf v Turkestane. Taškent 1927: 7, ders. zu P. Alekseenkov, Krest’janskoe vosstanie v Fergane. Taškent 1927 8, 284—288; Šestakov zu L. Rezcov, K voprosu o roli russkogo kapitala v Turkestane: 7, 275; ders. zu P. Alekseenkov, Nacional’naja politika vremennogo pravitel’stva v Turkestane v 1917 g. (in: Prolet. Revoljucija 1928 H. 8 = Nr. 79): 9, 175; Galuzo, O periodizacii nacional’no-osvoboditel’nogo dviženija v Srednej Azii: 11, 242—244 und 7 Trudy I, 521—554), Ja Rachauser (Ratgauzer) Social’naja suščnost’ partii musavatizma: 11, 245 und Trudy I, 501—520. VI. Sumilin zu V. Bartold, Istorija kul’turnoj Zizni Turkestana: 7, 302 f.; I. Chodorov, K voprosu ob istoriteskoj evoljucii zemlevladenija v Turkestane: 10, 121—158.

P. Galuzo forderte am 12. Mai 1930 in der Pravda Vostoka (Taškent) Nr. 106 (2207), daß die Arbeit des Istpart in Mittelasien reorganisiert und ein Mittelasiatisches Institut für die Geschichte der Revolution (Sredne-Aziatskij institut istorii revoljucii) errichtet werde. Er erklärte u. a: „Barthold und seine Freunde und Verehrer sind noch nicht von ihrem Piedestal gestürzt, sie gelten noch weiter als Autorität nicht nur bei der parteilosen und oft kolonisa- torisch gestimmten Intelligenz, sondern sogar bei einigen Mitgliedern der Partei. Mehr als das: der Einfluß ihrer Auffassungen ist mitunter sogar in den Schriften von Marxisten wahrnehmbar.“

343) Voprosy giljanskoj revoljucii: 5, 124—146. 344) z. B.: Der von Kemal eingeschlagene Weg ist der Weg der bürger- lichen Entwicklung, der sich gegen den Imperialismus und die Reste des Feuda-

lismus richtet und durch bürgerliche Reformen eine Agrarrevolution hintanzu- halten sucht.

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Herrschaft der Sovets in Baku war. Die Arbeit ist ein sehr lehr- reiches Beispiel fiir die marxistische Behandlung eines Themas aus der neuesten Geschichte des Orients.“)

S. Majzel, Saad Zaghlul Pascha und seine Rolle in der nationalen Freiheitsbewegung Agyptens.“)

Wie andere Führer der nationalen Freiheitsbewegungen im Orient Gandhi für Indien, Kemal Pascha für die Türkeı, Ab-ul Kerim für Marokko, Al-Atrasch für Syrien —, so wird Zaghlul für Agypten als Personifizierung des Protests und des Kampfes gegen den Imperialismus aufgefaßt. Als Ideologe der ägyptischen Bourgeoisie habe er die nationale Befreiung vorbereitet, de eine andere Klasse, die Masse der Arbeiter und Bauern, vollenden werde.

Zur Geschichte der russischen Geschichtsschreibung.

Heft 8 und 10 des „Istorik-Marxist“ standen im Zeichen des CernyS$evskij- Jubiläums, das von einer besonderen Kommission unter dem Vorsitz Pokrovskijs organisiert wurde.“)

An erster Stelle steht die Wiedergabe von Pokrovskijs Vortrag über CernySevskij als Historiker“) in der Gesellschaft der marxistischen Historiker und der daran anschließenden Diskussion.“) -Pokrovskij führte etwa folgendes aus:) Mit vollem Recht lasse sich auf CernySevskij Lenins Wort anwenden, daß der Publizist der Gegenwarts-Historiker sei. „Publizistik und Geschichte durchdringen sich bei Cerny3evskij fortwährend gegenseitig; wenn er von Ver- gangenem sprach, hatte er ständig die Gegenwart im Auge und ständig suchte er die Gegenwart historisch zu erklären . . . .“ Unrichtig sei, CernySevskıj heute zu einem russischen „nationalen Marx“ zu stempeln; wie Plechanov bereits dargelegt habe, sei Cernylevskij auf dem Gebiete der Geschichte unzweifelhaft Idealist gewesen. So ent- wickelte er in einer Polemik gegen Herzen („Über die Ursachen von Roms Niedergang“) den Gedanken, daß die Vorwärtsbewegung der Kultur ausschließlich der Anhäufung und der Entwicklung des Wissens

345) Vgl. auch 1, 142—158: M. P. Pavlovič, Revoljucija 1905 g. i vostok;

sie he diese Jahrbücher N. F. IV, 290. SES ie: %%) Saad Zaglul Pala i ego rol’ v nacional’no-osvoboditel’nom dviženii

Egipta (1860—1927): 6, 175—194. gg 33 Kommissija po jubileju Cernylevskogo pri prezidiume CIK SSSR:

348) N. G. CernySevskij kak istorik: 8, 8—26; deutsch: N. G. Tscher nyschewski als Historiker, in der Zeitschrift: „Unter dem Banner des Marxismus“ (Verlag für Literatur und Politik, Berlin und Wien) H. 7 = 2. Jg. H. 4 (März-Nov. 1928), 488—465. Über das gleiche Thema vgl. C. Friedland in den „Letopii marksizma“ Nr. 7/8 (1928) und A. Nifontov, K voprosu ob istoriteskich vzgljadach Cernylevskogo: Pod znamenem marksizma 1929 Nr. 11.

349) 8, 185—152.

350) Mein Referat lehnt sich in einigen Formulierungen an die Zusammen- ung in der Internat. Presse-Korrespondenz 9. Jg. Nr. 9 (29. Jan. 1929), . 171 an.

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zu verdanken sei; in einem anderen Aufsatz (, Der Aberglaube und die Regeln der Logik“) verfocht er die „schroff bürgerliche, schroff anti-marxistische und anti-leninistische Theorie“, daß das lange Be- stehen der Leibeigenschaft durch die schlechte Verwaltung verursacht war. Ähnlich führte er in seinem Aufsatz über „Lessing, seine Zeit, sein Leben und Werk“ die Entwicklung des deutschen Volkes im Beginn des 19. Jahrhunderts lediglich auf die Literatur zurück. Die Uneinheitlichkeit von Cerny3evskijs historischer Auffassung versucht P. aus der Entwicklung von CernySevskijs Weltanschauung, wie sie sich in seinen Tagebü ern verfolgen läßt, zu erklären. Sicher ist, daß die Revolution von 1848 auf Cerny3evskij starken Eindruck machte.)

In seinen Ansichten über westeuropäische oder orientalische Geschichte scheint Cernylevskij am ehesten dem Marxismus nahe zu stehen; allein seinem „Marxismus“ war die Vorstellung durchaus fremd, daß die Proletarisierung (proletariatstvo) ein notwendiges Stadium der sozialen Entwicklung ist, ohne das es keine sozialistische Revolution geben kann. Eine Gegenüberstellung der Charakteristik der Junischlacht bei C. (, Cavaignac“) und bei Marx („Klassenkämpfe in Frankreich“) zeigt den Unterschied in der Behandlung der Ereig- nisse. Wenn gewisse Äußerungen CernySevskijs zur Geschichte des Westens vielleicht eine milde Beurteilung nur als ärgerliche „Ab- weichungen“ von der im allgemeinen richtig durchgeführten materi- alistischen Linie zulassen, so stehe es um seine Stellungnahme zu russischen Ereignissen viel schlimmer. Hier gehe ihm der Klassen- instinkt mitunter völlig ab und in einer außerordentlichen Verall- gemeinerung materialistischer Anschauungen beginne er von Dingen zu sprechen, die mit Materialismus gar nichts zu tun haben und die völlig die Charakteristik CernySevskijs durch Plechanov recht- fertigen, der ihn für einen idealistischen Historiker erklärte. Am deutlichsten sei dies aus den „Briefen ohne Adresse“ (Pis’ma bez adres, 1861) zu erkennen, wo sich Cerny3evskij zu der Behauptung verstieg, solange es in Rußland den Absolutismus gebe, könne es keinen Klassenkampf geben. Politisch waren die Briefe außerordentlich kühn, seit Radi§tevs Zeiten hatte die russische Druckpresse ähnliches nicht gesehen. Obwohl die Revolution von 1848 C. die Tatsache des Klassenkampfes und seine gewaltige Bedeutung für die europäische Geschichte hatte erkennen lassen, blieb er gegenüber den Er- scheinungen des Klassenkampfes in der russischen Geschichte, in der Zeit der Wirren, den Aufständen Razins und Pugalevs, den Bauernunruhen und Ermordungen von Gutsbesitzern zu seiner Zeit merkwürdig blind. Der russische Absolutismus hat den russischen Klassenkampf vor C. verhüllt.

Auf den schwachen Seiten von CernySevskijs historischer An- schauung beruhte die Lehre der Narodniki. Ein glänzendes Beispiel

351) Als Lücke empfindet man hier, daß Pokrovskij weitere westliche Ein- flüsse auf Cerny$evskij, z. B. seine Beschäftigung mit der deutschen Geschichts- schreibung (Gervinus, Schlosser, Georg Weber), nicht berücksichtigt.

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seiner historischen Urteilskraft habe C. aber damit bewiesen, daß er 1857 in seinen ,,Zamétki o Zurnalach“ bereits die Bedingungen fiir die Entfaltung des Kapitalismus in Rußland weitschauend entwickelte.

In der Kommission für die Geschichte der Revolutionskriege und bewaffneter Aufstände hielt B. Gorev einen Vortrag über „CernySevskiji und die Revolutionskriege“. ““) Cerny3evskij stand militärischen Fragen eine Zeitlang besonders nahe, indem ihn das Kriegsministerium in der liberalen Reorganisationsperiode der im Krimkrieg maßlos kompromittierten Heeresverwaltung 1858 in die Redaktion des fortschrittlichen militärischen Fachorgans „Voennyj Sbornik“ berief. Gorev verglich CernySevskijs Urteile über „Re- volutionskriege“ seiner Zeit den Juniaufstand von 1848, über die revolutionäre Bewegung in Italien 1859 während des österreichisch- französischen Krieges (Garibaldi!) und über den amerikanischen Bürgerkrieg mit der Auffassung der gleichen Vorgänge durch Marx und Engels. Die Diskussion, in der Svelin und Pokrovskij sprachen, spitzte sich auf die Frage zu, wie der von Marx als „bürgerliche Re- volution“ systematisierte amerikanische Bürgerkrieg wirtschafts- geschichtlich zu beurteilen sei.

Seine Eröffnungsrede auf der offiziellen großen Cerny3evskijfeier benutzte Pokrovskij zu einem wuchtigen Vorstoß gegen die bis- her in der Literatur vertretenen Auffassungen über die Haltung des Bauerntums vor jener Epoche, die heute „zum Glück“ nicht mehr den Namen „Epoche der großen Reformen“ trage.“)

Aus den im Archiv der III. Abteilung der „Höchsteigenen Kanzlei“ des Caren aufbewahrten Gendarmerie-Rapporten der Jahre 1858—1860 gehe hervor, daß die bürgerliche Geschichtsschreibung (Vas. Iv. Semevskij, Ivanjukov) in der Entstehungsgeschichte der sog. „großen Reformen“ einen wesentlichen Zug völlie beiseite gelassen oder als unerheblich betrachtet habe. In einem Auszug aus einem Bericht des Chefs der Gendarmerie an den Caren aus dem Jahre 1858 wird unumwunden die Gärung unter den Bauern zugegeben, die im Laufe des Jahres in 25 Gouvernements zu Unruhen geführt habe und dem Caren nicht die Schuld verhehlt, die Übergriffe der Gutsbesitzer an diesem Zustand trügen; ) ein Bericht der Gouvernementsver- waltung von Tvef enthüllt empörende Einzelheiten. Ein Gen- darmeriebericht aus Saratov weist auf die Gefahr hin, die darin liege, daß die bessergestellten Staatsbauern mit leibeigenen Bauern gemein- same Sache machten und daß sogar Teile des Kleinbürgertums, untere Beamte, Studenten und kleine Hofbesitzer mit den unruhigen Ele- menten sympathisierten.**) Die Gärung unter der Bauernschaft gegen die Branntweinpächter führte außer der Demolierung zahlreicher Kneipen in weıten Bezirken eine überraschend ernsthafte Enthaltsam-

352) Cernylevskij i revoljucionnye vojny: 10, 178—196.

353) Černyševskij i krest’janskoe dviZenie konca 1850-ch godov: 10, 8—12. 154) S. 3.

355) S. 7—9.

180

keitsbewegung herbei. Neben der Unzufriedenheit im Dorfe machten der Regierung Unruhen der am Bau von Eisenbahnen beschäftigten Arbeitermassen beträchtlich zu schaffen. .

Pokrovskij betrachtet Cerny3evskijss „Materialy dlja rebenija krest janskogo voprosa“ (Materialien zur Entscheidung der Bauern- frage) als „ein prächtiges, ein erstaunliches Beispiel einer Kriegslist“ („voennaja maskirovka“)**) und erklärt sie als die auf die Zensur be- rechneten „geschickt maskierten Losungen der Bauernbe wegung.) Aus den Werken CernySevskijs schlage einem die glühende Atmo- sphäre jener Jahre entgegen. „Durch ihn, durch seine Schriften blickt auf uns die Revolution, die in Rußland in den Jahren 1859 1861 ihren Anfang nahm, die 1905 in heller Flamme aufloderte und im Jahre 1917 siegte..)

Em. Gaz ganov: „Die historischen Anschauungen Plecha- novs“ ) treibt Plechanovs Theorien über den Kampf des westlichen Einflusses und des Orients, mit anderen Worten: der Prinzipien der Revolution und der Reaktion in der russischen Geschichte schematisch auf die Spitze: auf der einen Seite die Menscheviki, die Aufklärer, die „Vestler“ (zapadniki), die petrinische Reform, der Westen —, auf der anderen: die Bolscheviki, die Narodniki, die Slavophilen, das Moskauer Rußland = „Orient“. Indem Gazganov Plechanov zum „Narodnik-bakunist“ erklärt, geht er weiter als Lenin, der Plechanovs

200) S. 4

387) S. 12.

358) Heft 8 des „Istorik-Marxist“ bringt über Cernylevskij ferner: den in der t der marxistischen Historiker nicht ohne Widerspruch aufge-

nommenen Vortrag von |: M. Steklov, dem Biographen CernySevskijs N. G. Cernylevskij, Ego Zizh i dejatel'nost“; zur 2. Aufl. des I. Bandes vgl. V. Kirpotin: 11, 162—160), über das Thema: ,,Cerny$evskij und seine politischen Anschauungen“ (C. i ego polititeskie vozzrenija): S. 129—141; einen Beitrag von V. Kirpotin (S. 27—40): ,,Cerny$evskij i marksizm“, der C. nachsagt, er habe die Bedeutung des Klassenkamptes verkannt; einen Literatur- bericht zum Cernylevskij- Jubiläum von M. Netkina (S. 178—179; Forts.: 10, 211—221; s. auch Kniga i revoljucija 1929 Nr. 1): die bedeutendste Erscheinung war der erste Band von Cernylevskijs literarischer Hinterlassenschaft (Literaturnoe nasledie N. G. Cernylevskogo, 1928) mit Cernylevskijs Tagebuch 1849—1858. Der Grundzug der Jubiläumsliteratur war natürlich, das „einzig richtige“, ein „korrekt marxistisches Verständnis“ Cerny3evskijs als des „Ideologen“ der bäuerlichen Revolution Rußlands in den fünfziger und sechziger Jahren zu verbreiten; vgl. insbesondere Ark. Lomakin, Cerny%evskij-predteta našej partii: Izvestija Nr. 271 (8505) u. 272 (8606) v. 22. und 28. Nov. 1928. Immerhin empfand man seine „Bolschevisierung‘‘ durch Steklov, der aus ihm eine Art russischen Marx ge- macht habe, als bedenklich und als einen unrichtigen Maßstab; dem Urteil, Plechanovs Arbeit über Cernylevskij (Nik. Gawr. Tschernyschewski, Stuttgart 1894) habe durch die neuere Forschung an Bedeutung verloren (8, 173) ist die fortwährende Bezugnahme darauf in der marxistischen Cernylevskijliteratur sei es auch nur, um Widerspruch gegen Plechanov anzumelden entgegen- zuhalten. Vgl. auch B. Gore v über Bd. I der Izbrannye solinenija N. G. Cernylevskogo: 18, 252 f.; A. Skafty mov, Das Jubiläum N. G. Cerny- Yevskijs (Bibliograph. Übersicht): Slav. Rundschau 1 (1929) S. 171—177, und die Referate von Veröffentlichungen über Cernylevskij in diesen Jahrbüchern N. F. 3 (1927), 174 f. und 528 f.; N. F. 5 (1929), 125 f. und 488.

850) Istoriceskie vzgljady Plechanova: 7, 69—116.

181

Deutung des Moskauer Staats als Ubertreibung der von den Narod- niki vertretenen Ansichten bezeichnet hatte.“)

D. Kin: N. N. Baturin (1877—1927) als Historiker der Partei.“)

Baturins Hauptwerk, seine populäre, jedoch durch ihr streng bol- schevistisch-leninistisches parteigeschichtliches Schema bemerkenswerte „Skizze der Geschichte der Sozialdemokratie in Rußland“ (Oéerk istorii socialdemokratii v Rossii, zuerst 1906 einer der frühesten Versuche, die Geschichte der russischen Sozialdemokratie im Sinne des bolsche- vistischen Flügels zu schreiben wurde ursprünglich der inter- nationalen Bedeutung des Bolschevismus nicht ganz gerecht; spätere, bisher nicht veröffentlichte Vorlesungen Baturins hätten jedoch in dieser Hinsicht durchaus der bolschevistishen Konzeption ent- sprochen. In seiner Periodisierung der Geschichte der russischen Sozialdemokratie in der Periode vor der „Iskra“ lehnte sich Baturin streng an den Schluß abschnitt von Lenins Schrift: ,,Cto delat’ an. Kins Ausführungen über die Anfänge des russischen Marxismus und der russischen Sozialdemokratie sind beachtenswert, da er zu be- stimmen sucht, inwiefern Herzen, Belinskij, Cerny3evskij und die Re- volutionäre der siebziger er als Vorläufer der russischen Sozial- demokratie angesehen werden können.

V. Gurko-KrjaZin: M. P. Pavlovič als Historiker.“)

Der im Juni 1926 verstorbene marxistische Historiker der inter- nationalen Beziehungen in der Epoche des Imperialismus sah im Im- perialismus eine wirtschaftliche Kategorie, durch die alle kapitalisti- schen Staaten hindurchgehen müßten, wobei er besonders den Einfluß der Schwerindustrie auf die innere Wirtschaft und auf die äußere Politik der imperialistischen Staaten zu zeichnen suchte (Pavlovits sog. „metallurgische Theorie“). Die Überschätzung eines einzelnen öko- nomischen Faktors hatte gewisse Einseitigkeiten in Pavlovids histori- schen Arbeiten zur Folge; z. B. erschien ihm der deutsch-französische Gegensatz im wesentlichen als „klassischer metallurgischer Konflikt“.“) Pavlovičs Hauptwerke sind zusammengefaßt unter dem Obertitel: „Die Grundlagen der imperialistischen Politik und der Weltkrieg 1914—1918“ (Osnovy imperialisti¢eskoj politiki i Mirovaja vojna 1914—1918) das vierbändige Werk: „Der Imperialismus und der Kampf um die Weltstraßen“; der „Imperialismus, die Internationale des Todes und der Zefstörung“, „Militarismus, Marxismus und der Krieg 1914—1918“ und „Der französische Imperialismus“, ferner: „Die RSFSR in imperialistischer Einkreisung“ (RSFSR v imperialisti- českom okruZenii, 4 Bände).

369) Zur heutigen Beurteilung Plechanovs vgl. auch Sestakov (7, 271) und den Hinweis auf die Plechanov- Bibliographie der Zeitschrift Katorga 1 ssylka 1928 Nr. 5: 8. 201.

361) N. N. Baturin kak istorik partii: 6, 195—201. 362) M. P. Pavlovič, kak istorik: 5, 147—152. 203) Siehe auch 8, 218.

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Seine intensive wissenschaftliche und agitatorische Beschäftigung mit Orientfragen im weitesten Sinne und persönliche Fühlung mit den Kreisen, die als Träger der orientalischen Freiheitsbewegungen im Jahrzehnt vor dem Kriege erscheinen, ließ Pavlovič nach der Oktober- revolution zum Pionier einer neuen marxistischen, vor allem auf die Gegenwart und die sog. „Realien“ eingestellten Orientalistik werden,“) die in ihm eine organisatorische Kraft ersten Ranges ver- lor, den Anreger der „Wissenschaftlichen Assoziation für Orient- kunde“ (Nautnaja associacija Vostokovedenija), den Rektor des Mos- kauer Instituts für Orientkunde und Bevollmächtigten des Zentralen Vollzugsausschusses beim Leningrader Orient-Institut.™)

Zur marxistischen Forschung über die Geschichte der Großen Französischen Revolution.

Meine früheren Mitteilungen über die Rolle der Großen Fran- zösischen Revolution in der russischen marxistischen Forschung“) ergänze ich durch einige prinzipielle russische Äußerungen, weil dieser Zweig der Auslandsgeschichte in der Berichtszeit, wie bereits erwähnt, für den politischen Tageskampf unmittelbar die Schlagwort-Analogie des „termidorjanstvo“ geliefert hat.“)

N. Lukin: Die Große Französische Revolution in Arbeiten von Sovethistorikern.“)

Seiner überaus sorgfältigen Ubersicht über nur streng wissen- schaftliche Arbeiten schickt Lukin eine Einleitung voraus, in der er das ausschließliche Interesse der sog. „Russischen Schule“ unter den Erforschern der Französischen Revolution vor dem Kriege (Karéev, Kovalevskij, Ludickij, Tarle u. a.) ) für die Lage des französischen Bauerntums am Vorabend der Großen Revolution aus dem Zu- sammenhang jener Forscher mit den Fragestellungen der russischen Narodniki-Intelligenz der siebziger Jahre und von der Bedeutung, die die Agrarfrage für Rußland um die Jahrhundertwende, insbesondere in der Revolution von 1905 erlangte, herleitet; ihr verhältnismäßi schwaches Interesse für die Epoche der Jakobinerdiktatur oder für die Lage der Arbeiterklasse und zu den Keimen sozialistischer Bewegungen in der Epoche der Großen Revolution führt er außer auf die Schwäche der Arbeiterbewegung in Rußland bis in die neunziger Jahre auf die

et) Vgl. R. Salomon, Die Neuorganisation der orientalistischen Studien in Rußland: Der Islam Bd. 14 (1924), 878—880; Th. Menzel, Das heutige Rußland und die Orientalistik: Ebda. Bd. 17 (1928), 88; N. I. Borozdin, The Progress of Orientology in the USSR: Pacific affairs Nr. 6 (June 1929),

. Ober Pavlovič: Novy Vostok 18 (1927), V—LXXVIII, auch: Wochen- bericht 8. Jg. Nr. 26—27 (8. Juli 1927), 8—11.

388) Diese Jahrbücher N. F. IV, 282. %7) Siehe oben Anm. 18.

i 200 Velikaja francuzskaja revoljucija v rabotach sovetskich istorikov: 5, see) Vgl. diese Jahrbücher N. F. IV, 282, Anm. 14a.

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Zusammensetzung des Lehrkörpers der Universitäten aus liberalen oder Narodniki-Anschauungen zuneigenden Elementen zurück.

Seit dem Umsturz 1917 ist in Rußland eine Gruppe junger marxistischer Historiker im Wachsen, die sich für die Geschichte Frankreichs am Ausgang des 18. Jahrhunderts spezialisiert hat und die z. B. in den Schätzen des Marx-Engels-Instituts an Büchern und Archi- valien einzigartige Arbeitsmöglichkeiten 5 Die Anziehun kraft der Epoche der Großen Französischen Revolution neben der Pariser Commune von 1871 erklärt Lukin folgendermaßen: „Bei aller Verschiedenheit der sozial- ökonomischen Grundlagen der Großen Französischen und der russischen proletarischen Revolution des 20. Jahrhunderts gibt es zwischen beiden unzweifelhaft in einigen Zügen Ahnlichkeiten, die Parallelen zulassen zwischen der Lage der französischen Republik in den Jahren 1793—1795 und der Sovet- republik in den Jahren des Bürgerkriegs und der Intervention, der Ernährungs- und Finanzpolitik in der Epoche der Jakobinerdiktatur einerseits und unserer Virtschaftspolitik in der Epoche des Kriegs- kommunismus andererseits, zwischen der Reorganisation der be- waffneten Kräfte des Konvents und dem Aufbau der Roten Armee usw. Die Jakobinerorganisation selbst mit ihrem streng zentralisti- schen Apparat, ihren Reinigungen, ihren Parteimobilisierungen und der festen Verbindung mit den Massen erinnert in vielem an die Kommunistische Partei der Bolscheviki.“ “)

Unter den Urteilen Lukins ist bemerkenswert die Charakteri- sierung des Kapitalwerks von Karéev: „Die Historiker der Fran- zösischen Revolution““) als eines Werks höchster Erudition und als eines unentbehrlichen Hilfsmittels für die Arbeit auf dem Gebiete der Französischen Revolution; zugleich aber bringt er seine Enttäuschung über den von ihm unbedingt abgelehnten „historischen Idealismus“ des Autors zum Ausdruck.

In seinem Nachruf auf A. Aulard (1849—1928)*”) unter- läßt Lukin, der A. als den bedeutendsten Vertreter der bürgerlich- demokratischen Tradition in der Erforschung der Französischen Re- volution gerecht und sympathisch würdigt, nicht, den Gründen für Aulards Ablehnung der Oktoberrevolution und seine unverhüllte Ab- neigung gegen die Räterepublik nachzugehen und bedauert wegen Aulards nicht zu unterschätzendem Einfluß auf die öffentliche Meinung in Frankreich seine engen Beziehungen zur russischen Emi- pranon Am deutlichsten nahm Aulard zum Bolschevismus in einer

roschiire: „La théorie de la force et la révolution française“ Stellung,

370) Siehe oben S. 101 und Anl. 1 (S. 190).

371) S. 197.

312) Istoriki francuzskoj revoljucii Bd. I: Die französischen Historiker der

ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts; II: Die französischen Historiker der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts; III: Die Erforschung der Revolution außerhalb Frankreichs (deutsche, belgische, italienische, ehe und russische Historiker). Leningrad 1924.

373) 10, 71—88.

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durch die er nachzuweisen suchte, daß die Bolscheviki sich zu Unrecht auf das Beispiel des Konvents beriefen; die Theorie der Gewalt und der Diktatur sei dem ganzen Geist der Französischen Revolution völli fremd gewesen und nie durch ihre Führer geteilt worden. D Mathiez *) in der Erforschung der Französischen Revolution dem Begriff des Klassenkampfes Eingang verschafft habe, daß er Robe- spierre und damit das Regime der Diktatur und des Terrors rehabili- tiert habe, bedeute vom Standpunkt Aulards und seiner Schule aus nichts anderes als den Kommunisten Vorschub leisten.

Friedland’) bezeichnete als das wichtigste Feld der fran- zösischen Revolutionsgeschichte für die marxistischen Historiker die allzusehr vernachlässigte Virtschaftsgeschichte der Revolution, daneben das in den letzten Jahren stark hervortretende spezielle Ein- peen etwa auf den Klassenkampf in Frankreich in der Epoche des

errors, auf die Emigrantenfrage und auf die sozialen Lehren des 18. Jahrhunderts (, Egalitarismus“).“ ) Den Historikern der alten „Russischen Schule“ in der Erforschung der Französischen Revolution habe es am richtigen Verständnis für den Zusammenhang zwischen = N Verhältnissen und dem sozial- politischen Kampf gefehlt.

Der „Istorik-Marxist“ als Rezensionsorgan und bibliographische . Hilfsmittel.

In zahlreichen Referaten tritt das Leninsche Schema als Norm in befremdender Selbstabdankung der Autoren vom Mute zu eigener Verantwortung als Kritiker entgegen; Rückzug auf Lenins Autorität an Stelle des Versuchs einer sachlichen Widerlegung ist in der marxisti- ee Kritik ein häufig angewandtes bequemes Auskunfts- mittel.

374) Vgl. auch diese Jahrbücher N. F. IV, 282, Anm. 14a; der Titel von Aulards Beitrag im „Golos minuvlago na čužoj storond“ N.S. 1 (1926), 7—9 lautet: Russkoe vlijanie v izudenii francuzskoj revoljucii.

874a) Vgl. unten Anlage 2 Anm. 2a und 9.

_ ) Icogi izulenija Velikoj francuzskoj revoljucii za 10 let i zadali sstorikov-marxistov, vgl. Anm. 168.

76) S. Anm. 183.

877) Z. B. 9, 195 (M. je: „Wir denken, daß es in unserer Mitte genügt, festzustellen, daß diese Ansicht den Ansichten Lenins widerspricht“; G. Reich - berg zu P. Kurc (Russko-kitajskie snogenija v XVI, XVII i XVIII stoletijach. 1929: 11, 212) Ot Anwendung des Begriffs „imperialistisch“ auf die russische und chinesische Eroberungspolitik ım 17. und 18. Tabchunder egen die zwischen beiden Reichen wohnenden Völkerschaften: „Das widerspricht der Leninschen Auffassung des Imperialismus“; V. Rachmetov zu S. Piontkovskij (Očerki po istorii Rossii v XIX—XX v. v., 1928): „Der Autor geht mit dem revolutionären Marxismus-Leninismus in einer Reihe prinzipieller Fragen ausein- ander“: 7, 228; O. Lidak gegen V. P. Miljutins Spaltung des Leninis- mus im „reinen“ Leninismus (= Diktatur des Proletariats) und „bedingten“: Leninismus auf Rußland bezogen Theorie der Diktatur des Proletariats in einem Lande mit Überwiegen des Bauerntums (7, 299) usw.

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Unter der alarmierenden Überschrift: „Die Landeskunde in den Händen bürgerlicher Gelehrter“ besprach V. Seltzer (Zel’cer) eine Veröffentlichung der Gesellschaft zur Erforschung des Gouvernements Moskau, “) über die ich früher in diesen Jahrbüchern referiert habe.“) Diese Anzeige ist ein Muster verbissener, denunziatorischer Nörgelei an der wissenschaftlichen Arbeit einiger nichtmarxistischer Gelehrter, „die das Leben des Führers der Revolution, des Proletariats, noch nicht zu interessieren vermochte“ ($. 250). Der Sammelband entspreche nicht den aktuellen Forderungen, weder methodisch noch thematisch. S. erklärt, das Netz der provinzialen wissenschaftlichen Einrichtungen, Lehranstalten, Gesellschaften, Museen usw. diene als Zuflucht für die „bürgerliche Professur“ und ihre Schüler, wo sie völlig unkontrolliert, wenn auch sehr vorsichtig, die bürgerliche Ideologie konservierten; es sei an der Zeit, daß die marxistischen Historiker diesen Verhältnissen größere Aufmerksamkeit schenkten.)

DierussischeZeitschriftenschau des „Istorik-Marxist“ ) vermittelte weiterhin einen vollständigen kritischen Überblick über die folgenden, vorwiegend der Geschichte der revolutionären Be- wegung in Rußland und der Geschichte der bolschevistischen Partei dienenden Periodica: „Proletarskaja revoljucija“ (Institut Lenina pri

. ) Moskovskij kraj v ego prošlom. Olerki po social’noj i ekonomiteskoj istorii XVI—XIX vekov. Pod. red. prof. S. V. BachruSina = en izucenija Moskovskoj gubernii, vyp. I; vgl. Istorik-Marxist 10,

370) N. F. 5 (1929), 122—125.

360) Daß Seltzer das Nichtvorkommen des Wortes „Klasse“ bei Bach- ruin beanstandet (10, 246 die gleiche Feststellung in Seltzers Besprechung des I. Bandes der „Zapiski istoriko-bytovogo otdela gosud. russkogo muzeja“: 8, 227) führt auf einen sonderbaren Auswuchs orthodox-marxistischer ideologischer Splitterrichterei an den Arbeiten von Nichtmarxisten. In ähnlicher Weise teilte Friedland in der Diskussion um PetruSevskij magere Ergebnisse seiner Jagd auf das Wort „Klassenkampf“ in einem Werk von Petrulevskij mit Andererseits wird als „ideologische Eroberung“ selbstgefällig registriert, wenn Historiker der alten Schule mitunter „vielleicht ohne es selbst zu merken“ ihre Auffassungen dem offiziellen Geschichtsbild anzunähern scheinen; vgl z. B. A. Sestakov über N. N. Firsov: Pečat’ i revoljucija 1927 H. 8 S. 189—141; Javorskyj über Bagalej: Vestnik Komakad. 26 (1928), 272. „Aus der allmählichen Annäherung an den Marxismus resultiert die Frucht- barkeit von A. E. Presnjakovs wissenschaftlicher Arbeit und der Erfolg seines methodologischen Vorgehens“: I. Tatarov über A. E. Presnjakov (als Kandidaten für die Zuwahlen zur Akademie): Izvestija Nr. 240 (8474) v. 14. Oke. 1928; vgl. Krivolein a: Izvestija Nr. 209 (8533) v. 25. Dez. 1928; dem Akademiker Petru$evskij, der sich von den marzistischen Lehren immer weiter entferne, trug dieses Verhalten von seiten Pokrovskijs die Kenn- zeichnung: „eine Art umgekehrter Presnjakov“ ein (Novye telenija v russkoj istoriceskoj literature: 7, 5).

381) Vgl. diese Jahrbücher N. F. IV, 293. Beachtenswerte Ausführungen über das russische historische Zeitschriftenwesen brachte die Pravda Nr. 118 (3945) v. 17. Mai 1929 (A. P.): „Istorikeskie i istoriko - revoljucionnye Zurnaly v 1928 g.

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CK VEP [b],”) „Katorga i ssylka“ (Istoriko-revoljucionnyj vestnik; izd. ob3lestva byvSich politkatorZan i ssyl' no- poselencev),“ ) ,,Kras- naja letopi$“ (Organ Leningradskogo istparta)ꝰ ) ,,Litopis revoljucii“ (Zurnal Istparta CK KP[bJU; Zeitschrift des Ukrainischen Istpart),“) »Kommunističeskaja Mysl“ (Organ Sredne-Aziatskogo Kommunisti- českogo universiteta imeni V. I. Lenina, TaSkent)***) ferner über das in diesen Jahrbüchern regelmäßig berücksichtigte und im Ausland von allen russischen historischen Organen weitaus am häufigsten zitierte „Krasnyj Archiv“.“)

Ein erstaunliches Novum bildet in H. 11 unter der Uberschrift „Im weißen Lager“ ) der Beginn von Literaturberichten über histori- sche Veröffentlichungen der russischen Emigration; angezeigt sind zunächst nur periodische Veröffentlichungen und Sammelbände.“ ) Der Versuch, die marxistische Forschung mit der historischen Arbeit der russischen Emigration bekanntzumachen, erscheint wenn auch zunächst nur ein geringer Bruchteil erfaßt ist“) um so beachtens- werter, als demgegenüber die Organe der russischen Emigration in der Unterrichtung ihres Leserkreises auch nur über die wichtigsten peri- odischen räterussischen Veröffentlichungen durchweg versagen; diesen empfindlichen Mangel an Kontakt mit der Publizistik des heutigen Rußland kann die politische Tagesschriftstellerei der Emigration durch

382) 1927 H. 6—9 (= 65—68): 5, 231—234; 10 und 11 (= 69, 70): 6 264—266; 12 (71) und 1928 H. 1 und 2 (= 72, 73): 7, 270—272; 3—5 (= es 8, 199 f.; 6—8 (= 77—79): 9, 175 f.; 9—12 (= 80—83): 11,

383) Den Hauptinhalt dieser Zeitschrift der Organisation unmittelbarer Teilnehmer an der revolutionären Bewegung im kaiserlichen Rußland bilden Memoiren und autobiographisches Material: 1927 H. 4—6 (= 33—35): 5, 236 f.; 7 (86): 6, 267; 8 (= 37) und 1928 H. 1—3 (= 88—40): 7, 272 f.; 4-5 (= 41, 42): 8, 200 f.; 6, 7 (= 48, 44): 9, 176; 8—12 (= 45—49): 11, 171.

ss) 1927 H. 2 (= 23): 6, 266; 8 (24) und 1928 H. 1 (25): 7, 278 f.; 2 (26): 9, 176 f.; 3 (27): 11, 172 f.

205) 6. Jg. (1927), H. 2—4: 5, 235 f.; 5—6. und 7. Jg. (1928), H. 1: 7, 274 f.; H. 2: 8, 201 .

see) 1926/27 H. 1—3: 5, 287 f.; H. 5: 6, 267; H. 6: 7, 275; die Zeitschrift: „Revoljucionnyj vostok“, hrsg. von der Nauéno-issledovat. associacija pri Kom- munist. Universitete trudjalk. Vostoka im. I. V Stalina, wurde bisher nicht be- riicksichtigt.

387) In H. 5—11 des „Istorik-Marksist“ wurden die Nummern 20—30 des KA angezeigt.

388) A. Gukovskij und J. Troc&kij, V belom stane: S. 266—275.

389) „Beloe delo“ H. 4—6 (1928) mit den Aufzeichnungen des Generals Vrangel (vgl. dazu auh V. Mjakotin in den „Sovrem. zap.“ Nr. 38 S. 587—544); „Archiv russkoj revoljucii 19 (1928), „Volja Rossii“ H. 8—11; „Irudy russkich udenych za granicej“, I und II (Berlin 1922/23); „Istorik i sovremennik“ rlin 1922/24), „Na ¢uzoj storone“ (1923—1925), »Golos minuvlago na čužoj storoně“ (1926—1928), „Ulenye zapiski“, osnov. russkoj učebnoj kollegiej v Pragt I (1924), „Zapiski instituta izučenija Rossii“ I, II (Prag 1925). Eine erhebliche Lücke klafft in dem Bericht durch Nichterwihnung der „Sovremennyja zapiski“ (seit 1920) mit einer Fülle von historischen Beiträgen.

3%) Vgl. oben Anm. 47, den Hinweis auf die Übersichten über die russische historische Literatur, die der Emigration verdankt wird.

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noch so aufmerksame Verfolgung und Exzerpierung der russischen Tagespresse nicht ausgleichen, weil die wesentlichen geistigen Aus- einandersetzungen innerhalb der bolschevistischen Partei und der „bolschevistischen Elite“ mit ihren ausländischen Gegnern in Zeit- schriften außer in den oben aufgeführten Organen der Kommu- nistischen Akademie in historischen Zeitschriften und Rezensions- organen, vor allem im „Bol’$evik“, in „Pod znamenem marksizma“, in der „Kommunistileskaja revoljucija“, im „Prapor Marksizmu“ (ukrain.) u. a. ausgetragen werden. Die systematische Unter- schätzung und Nichtbeachtung einer der geistigen Säulen des Sovet- regimes, der politisch-historischen Periodica, durch „das andere Ruß- land“ berührt eigentümlich und ist aus der Absorption durch die Auseinandersetzungen im Lager der Emigration selbst allein nicht zu erklären.

Die Übersicht über die historischen Zeitschriften des Aus- landes***) berücksichtigte deutsche, italienische, französische und eng- lische Organe und beachtete von deutschen Zeitschriften jetzt neben der „Historischen Zeitschrift“ (Bd. 135—137, 139) und dem „Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung“ auch das „Historische Jahrbuch“ (Bd. 46 und 47), das Archiv für Sozial- wissenschaft und Sozialpolitik“ (Bd. 55—57) und die „Zeitschrift für die gesamten Staatswissenschaften“ (Bd. 82 und 83).**) In diesen Übersichten fehlen wieder nicht manche grundfalschen, den deutschen Leser grotesk anmutende Werturteile; z. B. mit M. Braubachs Eintreten für eine gerechtere Beurteilung der Aufklärung („Die Eudä- monia“ 1795—1798. Ein Beitrag zur deutschen Publizistik im Zeit- alter der Aufklärung und der Revolution“: „Historisches Jahrbuch“ Bd. 47) wird der russische Leser folgendermaßen bekanntgemacht: Die kunstvoll aufgesetzte Maske der Objektivität kann indes nicht über die offenbare Sympathie des Autors mit seinen Gesinnungs- genossen in der fernen Vergangenheit hinwegtäuschen.“) F. Meine ckes Abhandlung: „Kausalitäten und Werte in der Ge- schichte“ (,, Histor. Zeitschrift“ Bd. 137) wurde als „Manifest der idealistischen und politischen historischen Schule“ gekennzeichnet. „Meinecke greift an und verteidigt sich, gestützt auf solide Gelehr- samkeit. Die Analyse und Kritik dieses Aufsatzes wäre unserer Meinung nach eine vortreffliche Obung für einen jungen Marxisten: Der eigentümliche Dualismus, die Fetischisierung des Staats und die Verbindung des Idealismus mit Voluntarismus fallen leicht unter den Schlägen des dialektischen Materialismus.“ )

Die Berichterstattung über die monographische historische Literatur des Auslandes wurde stark ausgebaut; über die nichtrussische historische Arbeit im marxistischen Spiegel wird einmal besonders

301) Vgl. diese Jahrbücher N. F. IV, 298. 302) 6, 260 ff.; 11, 173—179.

30) A. Vas jutinskij: 6, 260. 304) Ders.: 11, 178.

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zu sprechen sein. Sehr zahlreichen Rezensionen und zusammen- fassenden Literaturberichten™) tritt seit einiger Zeit nr ausge- wählte, sorgfältig gegliederte Bibliographie der in Deutschland, Eng- land, Fr eich, den Vereinigten Staaten und in der UdSSR er- schienenen historischen Literatur zur Seite.

Zusammenfassend wird man sagen können: Die russische marxistische Geschichtswissenschaft hat in der Berichtszeit die ersehnte internationale Resonanz gefunden. Vor allem bedeutete die Zeitspanne im eigenen Lande die Aufrichtung der nahezu unbe- schränkten Herrschaft der orthodox ,,marxistisch-leninistischen“, dem Stalinkurs unbedingt loyal ergebenen, organisatorisch festgefügten und bewährten „Družina“ Pokrovskijs, der „Gesellschaft der marxisti- schen Historiker“. Noch erscheint das Stadium der Annexion und Erschließung von Teilgebieten der historischen Forschung für die marxistische historische Arbeit nicht beendet.“) Die Begrenzungen des Blickfelds in der nach Universalität strebender Arbeit der russi- schen marxistischen Historiker durch ihre dogmatische Gebundenheit und eine Fülle den Nicht-Marxisten befremdender Züge vornehmlich in der marxistischen Polemik spiegelt am reinsten und vielseitigsten der „Istorik-Marxist“ wieder, dem in der Geschichte des marxistischen historischen Denkens unter allen periodischen Organen zweifellos die erste Stelle zukommt.

395) 2, 250—257: (I. Zvavil, state Ivanič: diese Jahrb. N. F. IV, 208, Anm. 81) Geschichte der äußeren Politik Englands; 5, 205—210: (A. Kudrjavcev) Die Ostindische Compagnie das englisch-holländische Handels- kapital; 6, 286—242 (J. M. Z a ch e r): Problem des „Thermidor“ im Licht der neuesten historischen Arbeiten; 6, 258—260 (L. Tor da j): Der Zerfall Osterreichs; 10, 221—288 (V. A. Vas jutins ki j): Die Industrierevolution in England in der neuesten historischen Literatur.

3%) Für das 1. Halbjahr 1926: H. 4 280—287; 5, 285—802 und 6, 804—3810, für Juli bis Dezember: H. 6, 811—819; 8, 248—260; 9, 282—250; davon Ruß- land: 5, 291—802; 8, 259 f.; 9, 282—289.

In Heft 7—11 ist in der Zeitschrift auf die Zitate in fremden Sprachen große Sorgfalt verwandt, so sinnlose Buchstabenanhäufungen wie in Heft 5 und 6 wiederholen sich nicht mehr; z. B. 5, 229 und 244; 6, 254 und 270; 6, 259: „Heirich Richter Sveick“, EA ist Heinrich Ritter von Srbik als Rezensent von Viktor Bibls „Zerfall Usterreichs“ im 180. Bd. der „Histor. Zeitschrift“.

397) Vgl. z. B. über die Aufgaben einer marxistischen Erforschung der Musikgeschichte A. A. Ostrecov zu S. M. Cemodanov, Istorija muzyki v svjazi $ istoriej ob$lestvennago razvitija: Vestnik Komakad. 27 (1928), 252—269; A. a a Marksistskaja istorija estetiki: Literatura i marksizm 2 (1929); U. Focht, Problematika sovremennoj, marksistskoj istorii literatury: Pečať’ i revoljucija 1927 H. 1 S. 61—72 und H. 2 S. 78—92; R. Beljakov, Istorija russkoj literatury XIX veka v svete leninskogo udenija: Na literaturnom postu 1980 Nr. 2 usw.

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Anlagen.

1. Das neue Statut des Marx-Engels-In..ıtuts. (Zu S. 101.)

Das am 12. Juli 1929 in den „Izvestija“ Nr. 157 (8608) als Verordnung des

Präsidiums des Zentralexekutivkomitees vom 28. Juni veröffentlichte Statut regelt in 28 Paragraphen die allgemeinen Aufgaben ($ 1—5), den Aufbau ($ 6—8), die Verwaltung ($ 15) und die Sonderrechte ($ 16—28) des Instituts.

II.

III.

IV.

Die Aufgabe des Instituts wird folgendermaßen definiert: I. Das Karl Marx- und Friedrich Engels-Institut stellt die höchste wissen-

schaftliche Forschungseinrichtung des Gesamtbundes dar, deren Haupt-

aufgaben sind:

1. Erforschung des Entstehens, der Entwicklung und der Ausbreitung des Marxismus und

2. Erforschung der Geschichte des Proletariats und seines Klassenkampf;

Das Marx-Engels-Institut besteht beim Zentralexekutivkomitee des Bundes der sozialistischen Räterepubliken und erstattet alljährlich dem Präsidium des Zentralen Bundes-Exekutivkomitees einen Rechenschaftsbericht über seine Tätigkeit.

Zur Aufgabe des Marx-Engels-Instituts gehören:

a) Erforschung des Marxismus und Mitwirkung bei seiner Erforschung; b) Erforschung der Geschichte der internationalen Arbeiter- und der kommunistischen Bewegung und Mitwirkung bei ihrer Erforschung:

c) Propaganda des Marxismus unter den breiten arbeiten-

en Massen.

Das Marx-Engels-Institut sucht diese Aufgaben zu verwirklichen durch:

a) Sammlung, Systematisierung, Aufbewahrung und Erforschung von Hand- schriften, Dokumenten, Büchern und Materialien jeder Art, die Be- ziehung haben zum Leben, zur Lehre und zur Tätigkeit von K. Marx und F. Engels und überhaupt zur „Marxkunde“ (marksovedenie), das Vort in weitem Sinne genommen;

b) Herstellung günstigerer Bedingungen für Forscher und issenschaftliche Arbeiter zur Erforschung des Marxismus, wozu Bereitstellung eines Lese- saals mit einem Nachschlage- und wissenschaftlichen Hilfsapparat gehört;

c) Herausgabe sowohl einer vollständigen akademischen Ausgabe wie auch einer Ausgabe ausgewählter Werke von K. Marx und F. Engels in 5 Sprache und in fremden (westlichen und orientalischen)

prachen;

d) Ausgabe von Serien: 1. Bibliothek des wissenschaftlichen Sozialismus, 2. B. des Marxisten, 8. B. des Materialismus, 4. B. der Klassiker der Volkswirtschaft, 5. B. der utopischen Sozialisten, 6. B. der Geschichte der Arbeiterklasse und ihres Klassenkampfes, 7. B. der Geschichte der

litischen Theorien, 8. B. von Dokumenten zur Geschichte des Sozia- ismus und der Arbeiterbewegung, 9. B. der Denkmäler der Geschichte des Klassenkampfs und des Proletariats usw.

e) Herausgabe von Zeitschriften und Sammelwerken über Fragen der Marxismusforschung;

f) Unterhaltung eines für die breiten Arbeiter- und Bauernmassen ge- öffneten Museums für Marxkunde und für Geschichte der internatio- nalen Arbeiter- und der kommunistischen Bewegung;')

g) Organisation besonderer Dauer- und zeitweiliger Ausstellungen über einzelne Perioden der Arbeiter- und kommunistischen Bewegung, über

1) Vgl. H. Huppert, Das Museum des Marx-Engels-Instituts: „Das Neue Rußland“ 5. Jg. (1928

190

„H. 9 S. 82—835.

einzelne Revolutionsepochen und bestimmte Strömungen des gesell- schaftlichen Denkens, ebenso von Vorlesungen und Diskussionen auf Grund der Ausstellungsgegenstände; Unterstützung der Organisation von Museen derselben Art ın den Bundesrepubliken;

h) Veranstaltungen öffentlicher Sitzungen, Berichte und Dispute über Fragen, die zum Bereich der wissenschaftlichen Tätigkeit des Instituts gehören; |

i) Aufnahme und Pflege der Verbindung mit gelehrten Unternehmungen, wissenschaftlichen Einrichtungen und Unterrichtsanstalten sowohl in der UdSSR wie in anderen Ländern.

V. Das Marx-Engels-Institut steht im Staatshaushalt im allgemeinen Vor- anschlag des Zentralexekutivkomitees der UdSSR.

Bestand des Marx-Engels-Instituts: VI. Das Marx-Engels-Institut besteht aus:

a) der wissenschaftlichen Forschungs-Abteilung,

b) der Bibliothek,

c) dem Archiv,

d) dem Museum für Geschichte der revolutionären Bewegungen, des Klassen- ns des Proletariats und fiir das Leben und Werk von Marx und

ngels,

e) einer Bio - Bibliographischen und einer wissenschaftlichen Auskunfts- Abteilung,

f) einer Redaktions-Abteilung der internationalen akademischen Ausgabe der Werke von Marx und Engels mit zwei Unterabteilungen: für Aus- gaben in russischer Sprache und solche in fremden en

g) der Verwaltungs-Abteilung.

VII. Die wissenschaftliche Forschungs-Abteilung besteht aus folgenden 18 Kabi- netten, von denen jedes das eine oder andere Problem der Geschichte des Marxismus oder der Entwicklung des Marxismus und der Arbeiter- und kommunistischen Bewegung in einzelnen Ländern erforscht:

a) Karl Marx- und Friedrich Engels-Kabinett;

b) K. für Geschichte der ersten und zweiten Internationale;

c) K. für Philosophie und Geschichte der Wissenschaft;

d) K. für Volkswirtschaft und Geschichte der wirtschaftlihen Verhält- nisse;

e) K. für Soziologie und Geschichte der gesellschaftlichen Formen;

f) K. für Geschichte des Rechts und der politischen Theorien;

g) K. für Geschichte der sozialistischen und kommunistischen Lehren;

h) K. für Geschichte der revolutionären Bewegungen und des Klassen- kampfes des Proletariats in den germanischen und skandinavischen Ländern;

i) wie h für Frankreih und Belgien;

k) wie h für die südromanischen Länder;

I) wie h für England und die angelsächsischen Länder;

m) K. für Geschichte der internationalen Politik;

n) K. für Geschichte des Marxismus in Rußland und in slavischen Ländern.

Die dem Institut im vierten Abschnitt des Statuts zugebilligten Privilegien sind einzigartig: Das Institut besitzt nicht nur das Verlagsmonopol für die Herausgabe der Werke von Marx und Engels ($$ 17 und 18), sondern $ 17 sichert sein absolutes Anrecht auf alle Original-Dokumente, die sich unmittelbar auf das Werk von Marx und Engels bezichen; das Institut ist ermächtigt, allen staatlichen Stellen auf dem Gebiet der Räterepublik derartige Dokumente ab- zufordern. Von allen Neuerscheinungen über Fragen des Marxismus und der Marxkunde, ebenso über „sozialökonomische, philosophische, historische un andere Fragen, die zum Tätigkeitsbereih des Instituts gehören“, erhält das Institut Pflichtexemplare usw.

13 NF 6 191

2. Aus der Rede Pokrovskijs bei der Feier seines 60. Geburtstages. (Zu S. 105 und Anm. 78.)

Das Stenogramm der Rede ist in der Anm. 68 verzeichneten Veröffent- lichung „Na boevom postu marksizma“ S. 82—48 enthalten; der in Heft 10 des „Istorik-Marxist“ veröffentlichte Wortlaut weist einige Verschiedenheiten auf.

In den einleitenden Worten seiner Rede auf der Jubiläumsveranstaltung am 25. Oktober 1928 erteilte Pokrovskij den Photographen eine Lektion, indem er die Unsitte geißelte, anders als in Westeuropa von einem Redner während des Vortrags (anstatt vorher oder nachher) Blitzlichtaufnahmen zu machen. Dann fuhr er fort:

Ich bin ein prinzipieller Feind nicht allein dieser Unkultur von uns achtet, Genossen, dabei auf die Dialektik der Geschichte: eine ungeheuere Er- rungenschaft der Kultur, die bei uns zu antikultureller Anwendung gelangte . . ..ich kann es Euch nicht verhehlen, ich bin ein prinzipieller Feind der Alters- jubilien .... Was ist Individuelles daran, daß ich sechzig Jahre werde? Auf der Welt kann man einige tausend Sechzigjährige finden. Nicht ohne Schrecken empfing ich als disziplinierter Mensch die Direktive des Zentral- komitees, noch weitere sechzig Jahre zu leben

Ich werde Euch gleich einen kleinen Bericht darüber geben, vie ich Marxist wurde, und Ihr werdet sehen, daß mich die Masse dazu machte. Schon aus tiefer Dankbarkeit gegen die Massen mußte ich vor ihren Vertretern erscheinen

Uns stehen neue Kämpfe bevor . . . Kämpfe u. a. auch auf dieser Front, auf der Front der Geschichts wissenschaft. Manche beschuldigen uns der Unduld- samkeit, revolutionärer Bubenhaftigkeit und anderer mehr oder weniger zweifel- hafter Handlungen, weil wir uns in der letzten Zeit in schneidender ideologischer Kritik gegen die Auferungen der bürgerlich- historischen Weltanschauung wenden, die in der letzten Zeit, fast möchte ich sagen, immer häufiger zu vernehmen sind.

Ich werde mich nicht hinter einem „Verteidigungskrieg“ verstecken, wie man es in den internationalen Beziehungen zu tun pflegt, allein es ist tatsächlich bei- nahe ein Verteidigungskrieg. Uffnet eine beliebige deutsche Zeitung der Rechten, welche Losung werdet Ihr darin finden? Die Losung des Kampfes mit dem Marxismus. Das kehrt bei ihnen beinahe in jeder zehnten Nummer wieder. Als uns nach Berlin gerade die deutsche rechtsstehende Professorenschaft einlud, die die „Deutsche Allgemeine Zeitung“ herausgibt, da mußte man das Jammergeschrei gerade dieser Zeitung hören, die sich damit selbst tadelte: „Vas tun wir, wir machen für die Kommunisten Reklame.“ )

Nehmt den Internationalen Historischen Kongreß in Oslo, auf dem ich

hervortreten mußte. Vor mir trat Dopsch auf, im Ausland die bedeutendste Größe auf dem Gebiet der Geschichte des Mittelalters. Im Verlauf der ihm zu- stehenden halben Stunde erledigte er man muß schon sagen, er besorgte es ründlich Karl Bücher. Ich hörte zu und sagte: Das berührt mich nicht; ich in kein Anhänger Büchers (bjucherianec). Trotzdem bezeichnete man mich in der Polemik als Anhänger Büchers, aber man nannte mich auch einen Anhänger Struves (struvianec), beleidigen konnte mich das nicht . . “)

1) Vgl. oben Anm. 124. ,

2) P. B. Struve, der bekannte Nationalökonom und Wirtschaftshistoriker, gehört zu den schärfsten Gegnern des Sovetregimes; vgl. seine in Paris seit Be- ginn des Jahres 1929 erscheinende Wochenschrift: „Rossija i slavjanstvo“. Organ nacional’no - osvoboditel’noj bor’by i slavjanskoj vzaimnosti. Über von Struve vorbereitete historische Arbeiten („Vvedenie v ekonomiteskuju istoriju Rossii v svjazi s obrazovaniem gosudarstva i kul’turnym razvitiem strany“ u. a.) vgl. L. L’vov, Besäda s P. B. Struve - udenym: „Rossija i slavjanstvo“ Nr. 88 v. 17. August 1929.

Zur Äußerung Pokrovskijs eine Bemerkung Lenins: „Nach seinen Schwan- kungen zwishen Bücher und Marx, zwischen der liberalen und der sozia- listischen Okonomie, ist er (Struve) zum liberalen Bourgeois von reinstem Wasser geworden. Schreiber dieser Zeilen ist stolz darauf, nach Kräften zur Säuberung der Sozialdemokratie von solchen Leuten beigetragen zu haben“: Lenin, Sämtl. Werke (deutsche Ausg.) III, 511 (Anm.).

192

Und nun, Genossen, wo. die Verhältnisse so liegen, daß die französische Delegation auf diesen Kongreß nach Oslo nicht Mathiez mitbrachte, den König der Geschichte der französischen Revolution seit dem Tode des alten Königs Aulard, ) sondern den Monseigneur Baudrillart, der etwas wie eine kirchliche Predigt vorlas, jetzt. . . macht sich die Verschärfung des Klassenkampfes immer fühlbarer. Es ist nicht zweifelhaft, uns stehen Kämpfe bevor; auf uns hoffen in diesen Kämpfen die wenigen Marxisten, die es in Westeuropa und in Amerika gibt, sie bemühen sich, sich um uns zu scharen und wir wären, von allem sonstigen abgesehen, Erzverräter, wenn wir den Fehdehandschuh, der uns von allen Seiten hingeworfen wird, nicht aufnähmen und den Kampf eröffneten. Und wenn jemand eine so süßliche Vorstellung hat, es wäre möglich, daß die bürgerliche Geschichte und die marzistische Wissenschaft nebeneinander bestehen könnten, daß tie, wie Löwe und Lämmchen, friedlich nebeneinander liegen und sich ab und zu lecken könnten, der muß alle diese Hirngespinste kategorisch fahren

Wir sind zum Kampf herausgefordert und wir werden diesen Kampf durch- fechten. Ich schließe mich durchaus dem an, was Gen. Bubnov über das „Feuer nach rechts“ sagte.) Unbedingt müssen wir das Feuer nach rechts eröffnen, wir haben es, in Wirklichkeit bereits eröffnet und werden es natürlich fort- setzen ...

Was für ein Revolutionär bin ich? Ich bin gar kein Revolutionär, wahr- lich, ich bin nur ein Sprachrohr der Massen auf dem Gebiet, das für uns wirklich notwendig ist, auf dem Gebiete der Auslegung der Geschichtswissenschaft.

Erlaubt mir, Euch zu erzählen, wie es gekommen ist, daß ich ein der- dE Sprachrohr wurde. Ich stamme, wie Euch Anatolij Vasil’evit Lunedarskij erzählt hat, aus kleinbürgerlichem Milieu, aus dem Bürgertum, und ich muß sagen, daß nichts besser als dieses Bürgertum mich zur Annahme gerade des historischen Materialismus in seiner elementarsten Form präparierte, weil nirgends die mate- riellen Motive des menschlichen Handelns in gleichem Maße klar sind wie bei dem wenig sichergestellten, halbarmen Kleinbürgertum ... Einerseits, daß sich das Kleinbiirgertum um materieller Vorteile willen die Augen einander aus- kratzt, und auf der anderen Seite die Abneigung gegen den bürgerlichen Libera- lismus führten dahin, daß bei mir der Grund zur allerersten Weltanschauung gelegt wurde, zu einer im höchsten Grade, bis zur Abgeschmacktheit naiven. Ihr wißt, daß ich aus Abneigung gegen den bürgerlichen Liberalismus auf den histo- rischen Idealismus verfiel, eine kuriose Sache, aber es war so. Der damalige bürgerliche Liberalismus liebäugelte sehr mit dem Materialismus und Plechanov schickte nicht ohne Grund an Miljukov als einen der unseren nach Moskau einen Gruf*) . . . Ich setzte das solange fort, bis ich das erste Mal vor der Masse auf- trat. Diese Masse waren Studentinnen (kursistki).5)} Ich kam hin und fing an idealistischen Unsinn®) zu verzapfen über die Philosophie Platos, den Idealis- mus usw. Sie hörten mich leider an, aber ich merkte deutlich genug, daß ich nicht das sagte, was nötig war, daß ich ein tiefes Unbefriedigtsein hinterließ und zur folgenden Vorlesung begann ich mich anders vorzubereiten, d. h. ich be- mühte mich, dem Auditorium diejenigen historischen Tatsachen zu vermitteln, die dieses Auditorium brauchte. Und so kam ich unausweichlich zum historischen Materialismus. “)

za) „M., der jetzige König der Historiker der französischen Revolution“: Pokrovskij, Klassovaja bor’ba i ideologi&eskij front: „Pravda“ Nr 260 (4092) v. 7. Nov. 1928.

3) Siehe oben S. 86 und Anm. 19.

) Vgl. diese Jahrbücher N. F. IV, 285.

5) Hier steht im „Istorik-Marxist“ der Satz: „Vor 85 Jahren, als ich noch nicht Marxist war, unterrichtete ich an den Frauenkursen und hielt dort Vor- lesungen über Geschichte.“

e) Ist.-Marxist: das gewöhnliche „ideologische Geschwätz“.

7) Ist.-Marxist: „Die ernsthafte Beschäftigung mit den historischen Tat- sachen machte mich von allein zum materialistischen Historiker. Denn nur durch

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Ich knüpfte an Leute an, die man nicht dessen verdächtigen kann, daß die Bolscheviki für sie Propaganda treiben, ich knüpfte an an den alten Machiavelli der Mann lebte im 16. Jahrhundert —, des Marxismus kann man ihn wahrlich nicht verdächtigen. Aber lest die Geschichte von Florenz, es ist ein marxistisches Buch; der Klassenkampf zieht sich als roter Faden durch das ganze Buch. Man braucht es fast nicht in die marxistische Sprache zu über- setzen, es ist schon marxistisch.

Nehmt unsere historishen Denkmäler aus der Zeit der Wirren, den Avraam Palicyn, s) den „Chronographen“. ea) Nach Palicyn stellt sich die ganze Zeit der Wirren dar als Episoden aus der Geschichte der Getreidepreise, des Kampfs mit der Teuerung, völlig nach der Schablone von Mathiez letztem Buch a Und das ist im 17. Jahrhundert geschrieben, so daß ich jetzt gerade bei der tiefen Überzeugung beharre, daß jeder Historiker, der ernsthaft historische Tatsachen verstehen will, unausweichlich materialistischer Historiker wird. l

Wenn Ihr Dopsch tiefer studiert, so wäre es nicht schwierig, auch bei dem Dopsch, der seinen Vortrag mit einem Ausruf gegen den historischen Materialis- mus enden ließ, den materialistishen Untergrund zu finden; man kann ihn finden bei einem so rechtsstehenden Manne wie Eduard Meyer, trotzdem er selbst mit Bewußtsein tausend Verst jedem historishen Materialismus fernsteht.

Auf solche Art machte die erste Masse, mit der ich zusammentraf, die Masse der Studentinnen, mich zuerst zum historischen Materialisten, nicht zum Marxisten im heutigen Sinne des Worts, eher zum ökonomischen Materialisten. Sie machte mich gleichzeitig auch zum Demokraten.

Ich bestreite nicht, daß ich ein bürgerlicher Demokrat gewesen bin, und es wäre lächerlich, es leugnen zu wollen, aber wenn mir jemand daraus einen Vor- wurf macht, so sage ich, daß auch Marx und Engels von der bürgerlichen Demo- kratie zum Sozialismus gekommen sind. Wie hätte ich es machen sollen? Man kann mir sagen, es sei eine Schande, sechzig Jahre nach Marx seine Geschichte zu wiederholen, daß die Menschen seitdem etwas gelernt hätten, aber es gibt kein Geschlecht, das Lehren der Geschichte. weniger annimmt als die Historiker.

Es kam das Jahr 1905 ... Ich schloß mich der einzigen revolutionären Partei an, die es gab, der Partei der Bolscheviki. Alle übrigen waren nicht wirkliche revolutionäre Parteien und hier beginnt für mich die gegenseitige Be- rührung mit den Arbeitern. Diese Arbeitermassen gaben mir kolossal viel Ich trat vor die Arbeiter als Propagandist, aber faktisch lehrten sie mich; erst im Arbeiterkampf 1905 sah ich vor mir wirklich die echte Massenbewegung Hier sah ich den echten Klassenkampf, und das Büchlein .. „Russische Ge- schichte in gedrängter Form“ (Russkaja istorija v samom sZatom oterke) ent- stand in den Moskauer Propagandakursen im Jahre 1906, als ich für Arbeiter „Musiktheorie“ las, so nannte sich das, über anderes durfte man nicht Vor- lesung halten. Damals erinnerte ih mich, daß man mich als Kind einmal im Klavierspiel unterrichtet hatte. Zwar war davon außer meiner Abneigung gegen das Instrument nichts haften geblieben, nichtsdestoweniger hoffte ich, indem ich irgendwelche Erinnerungen zusammenkramte, vor denen, die etwa zur Kontrolle kämen, den Musikanten zu spielen. Doch leider kamen sie nicht; sie errieten einfach, womit wir uns beschäftigten, und schlossen diese Kurse.

Das war meine erste Berührung mit den Arbeitermassen. Ich kam mit ihnen daneben außerdem in Berührung während des Wahlfeldzuges zur zweiten Staatsduma und auf dem Londoner Kongreß unserer Partei. Und sie machten

das scharfe Messer der Lehre von Marx und Engels kann man den Gang der Ge- schichte und die Zukunft aufzeigen.“

8) Skazanie Avraamija Palicyna. Izd. Archeograf. Komissii: „Russkaja Istoric. Biblioteka“ XIII u. sep.

sa) Povest’ kn. I. M. Katyreva - Rostovskago vo vtoroj redakcii: Russkaja Istoriceskaja Biblioteka XIII (1909), Sp. 625—712.

°) Vgl. N. Lukin, Der Kampf mit der Teuerung und die sozialistische Be- wegung in der Epoche des Terrors: „Istorik-Marxist“ 10, 203—210.

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mich aus einem ökonomischen Materialisten und bürgerlichen Demokraten zum echten Marxisten

Das ist der große Kummer auf meine alten Tage: daß ich einfach wegen meines Alters, meiner Schwäche, wegen Krankheit mit den Massen ausschließ- lich dann in Berührung komme, wenn es etwa gilt, vor den Arbeitern aus An- laß der Zwanzigjahrfeier des Jahres 1905 zu sprechen usw. Das wirkt möglicher- weise auch auf meine schriftstellerische Arbeit sehr schlimm zurück. Ich hoffe, daß mit den Massen zusammenzukommen mir noch in großem Maße beschieden sein wird, es ist charakteristisch, daß jedesmal, wenn ich irgendetwas Nütz- liches nicht nur im historischen Denken, sondern auch außerhalb meiner Beruf, arbeit getan habe, es immer von diesen selben Massen seinen Anstoß empfing.

Man hat hier von den Arbeiterfakultäten gesprochen. Ich sagte bereits, daß die Arbeiterfakultäten entstanden sind aus dem Bündnis der kommunistischen Studentenschaft des Plechanov-Instituts, des damaligen Marx-Instituts, und der Metallarbeiterschaft des Moskauer Bezirks. Man kam zu mir mit der Idee, ich

iff sie und fing an, sie ins Leben umzusetzen. Das beweist nur, daß ich kein stumpfsinniger Biirokrat bin, aber mein Gedanke sind sie keinesfalls. 10)

Das Institut der Roten Professur entstand ebenso

Das größte Ungliick, das einem Menschen begegnen kann, die Trennung von der Masse, natürlich nicht die physische Trennung (physisch bin ich selbst in bestimmtem Maße abgetrennt), sondern die moralische Trennung —, die Trennung von der Stimmung der Massen, von der Weltanschauung der

, das ist das Schlimmste. 11)

Die marxistische historische Wissenschaft, deren Begründung bei uns im Lande einige meiner . . Biographen mir zuschreiben, verdankt ihre Entstehung dem Proletariat. Die Begründung einer marxistischen Wissenschaft war un- zweifelhaft einfach eine Funktion, ich bin nur ein Sprachrohr der aufsteigenden Massen, die ihre Erklärung in der Geschichte verlangten

Daß unsere Arbeiterklasse sich. .. eine eigene Wissenschaft geschaffen hat, ist ein unbezweifelbares Faktum, daß sie sie schuf, das ist meiner Meinung nach einer der klarsten Beweise dafür, daß diese Klasse die völlige Reife besitzt, um die Macht in die Hand zu nehmen, und für die völlige Gesetzmäßigkeit jener Oktoberrevolution, von der man versucht hat, sie lediglich als einen Soldaten- aufstand usw. hinzustellen. Der wirkliche proletarische Historiker wird der sein, der den Entwicklungsprozeß unserer Arbeiterklasse schildert, wie sie entstand,

10) Vgl. auch Pokrovskijs Zuschrift an die Redaktion der „Pravda“ (Nr. 102 4286 v. 8. Mai 1929): „Aus Anlaß des zehnjährigen Bestehens der Arbeiter- fakultiten empfing ich und empfange ich weiter eine Menge Glückwünsche. Wieder und wieder kann man sich davon überzeugen, daß es ein dankbareres und empfänglicheres Herz nicht gibt als das proletarische. Was tat ich eigentlich vor zehn Jahren? Als an mich der Gedanke der Arbeiterfakultäten herantrat, er stammt nicht, zwanzigmal habe ich das schon erklärt, von mir —, da wies ich ihn nicht von mir, ich bürokratisierte ihn nicht, sondern verhalf ihm zur Ver- wirklichung, soweit es in meinen Kräften stand. Das heißt, ich erfüllte meine Pflicht gegen die Partei und den Staat (partijnyj i sovetskij dolg), weiter nichts. Und zehn Jahre erinnern sich die Leute daran! Ich kann nur kurz wiederholen, was ich auf der Jubiläumssitzung gesagt habe: Nicht die Arbeiter- fakultäten sind mir irgendwie verpflichtet, sondern ich bin den Arbeiterfakultäten verpflichter dafür, daß mein Name mit einem der kühnsten und erfolgreichsten Unternehmen der Arbeiterklasse verknüpft erscheint.“

11) Dazu eine Äußerung Rankes am 21. Dezember 1885, seinem 90. Ge- burtstag: „Das ist eben das Bedeutende, daß die Zeitgenossenschaft eine unend- lihe Wirkung auf das Individuum übt, und zwar nicht durch persönliche Ein- flüsse allein, sondern durch den Zug der Dinge und die einander berührenden Elemente des äußeren und inneren Lebens in ihrer Gesamtheit, für die Lebens- kräfte im Ganzen, die, in stetem Kampf gegen einander, doch zuletzt mit einander zich wieder vereinigen in Höherem und zu vereinigen trachten“: Sämtliche

Werke Bd. 51/52 (1888), S. 596. 195

wie sie sich in der Klemme des caristischen Regimes in eine Klesse verwandelte, wie sie dieses caristische Regime zertrümmerte, wie sie die Macht ergriff. Wenn man dieses grandiose Bild vor Euch zeichnen wird. so wird man einen solchen Menschen den proletarischen Historiker nennen müssen und als den proletarischen Historiker ehren müssen. Aber Leute, die nur unter dem revolutionär- marxistischen Gesichtspunkt das Material umbauten, das stets in den Kursen

Russischen Geschichte bearbeitet wurde —, die kann man nur noch Vorläufer nennen und sogar nicht Johannesse, sondern Vorläufer selbst eines Johannes

Die Chancen werden immer geringer, daß das das Werk eines Einzelnen sein wird. Auf demselben Kong in Oslo spielte sich eine sehr interessante Szene ab —, es trat ein Gentleman auf, der sich dann als ein naher Verwandter des Völkerbunds enrpuppre Ih mug Euch sagen, daß auf den Kongreß nach Oslo zu gehen sich schon deshalb verlohnte, um zu sehen, wie das geehrte b liche Publikum sich zum Völkerbund verhält. Als auf dem Bankett sich der Ver- treter des Völkerbunds erhob, da hörte ihm kein Mensch zu, noch konnte man ihn hören. Man sah, daß auf der Tribüne ein Herr in Frack und weißer Binde stand, der den Mund öffnete, allein was er sagte, konnte niemand vernehmen, man af, trank, klapperte mit Messern und Gabeln, und nicht ein Laut war zu verstehen. Nie in meinem Leben habe ich eine derartige Mißachtung gesehen.

Eine andere Episode, die sich nicht auf dem Bankett, sondern in einer Sitzung der Methodologishen Sektion abspielte: Es trat der Vertreter des Völkerbunds auf und fing an davon zu sprechen, daß die Zeit der individuellen Arbeit in der Geschichte längst vorbei sei, und daß man künftig die Geschichte nur kollektiv bearbeiten könne. Als der geehrte Vertreter des Völkerbunds dies aussprach, erklärte ich, daß es wirklich so sei und daß bei uns das dop so gemacht werde, sodaß ich sehr erfreut darüber sei, daß ich hier Nachfolger unserer Theorie fände.

Genossen, trotzdem das der Vertreter des Völkerbundes sagte, sagte er die Wahrheit. Das individuelle Schaffen auf dem Gebiet der Geschichte, wie auch auf jedem anderen Gebiete, nähert sich seinem Ende, es wird ersetzt durch ein kollek- tives Schaffen und es war von mir eben keine flüchtige Bemerkung, daß es bei uns geschieht. Alle die letzten Arbeiten über die Revolution von 1905, 1) über die Revolution von 1917,32) über den Bürgerkrieg, 10) über die russische Geschichts- schreibung!5) sie alle waren Kollektivarbeiten, alle sind sie Sammelbände von Menographien. Erstens ist es für einen Einzelnen unmöglich, mit dem historischen Material fertig zu werden, das jetzt vorliegt, und zweitens 5 wir uns jetzt daran, kollektiv zu arbeiten. Für bürgerliche Gelehrte ist es schwierig, so zu arbeiten, daher mußte der Völkerbund zur Kollektivarbeit aufrufen. Ich erinnere mich gut daran, daß ein Mensch, der in der alten Zeit interessantes Archivmaterial erlangt hatte, es hinter sieben Schlössern versteckte, damit nicht sogleich irgend ein ge- ehrter Kollege käme, das Material klaue und unter seinem Namen veröffentliche. Das ist eine Tatsache, die, denke ich, nicht einer von den alten Historikern be- streiten wird. Auf Schritt und Tritt begegnete Derartiges. Bei solchen Gepflogen- heiten war es natürlich unmöglich kollektiv zu arbeiten.

Aber wenn bei uns Leute ins Archiv gehen, eine ganze Herde (tabun), und anfangen zu arbeiten, dann empfängt man ein völlig anderes Bild, und ich denke, daß auch die künftigen Historiker unseres Proletariats, aller Wahrscheinlichkeit nach, Kollektiv-Historiker sein werden, und wenn man einstmals für sie Jubiläen veranstalten wird, so wird vor Euch ein Chor auftreten in der Art der „Blauen Bluse“, auf jeden Fall nicht ein einzelner Mensch.

Werte Genossen, Ihr seid alle wohlversehen mit vorzüglicher Munition die bürgerliche Ideologie. Das ist ausgezeichnet. Allein man muß auch wirklich alle Vorteile dieser Lage ausnutzen, wir- Ahr theoretisch stärker als Euere bürgerlichen Vorgänger seid. Wie sehr wir theoretisch stärker sind, das bewies auf dem Kongreß der Angriff einer so grandiosen Größe wie Dopsch. Er ist der größte Spezialist

12—16) Vgl. die Hinweise in Anm. 245, 246, 826 und 882 im II. Teil meines Berichts.

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auf dem Gebiete der Geschichte des Mittelalters, allein Bücher unterscheidet er nicht von Marx. ... Ihr müßt das nehmen, was sich jeder Historiker notwendig aneignen muß und worin man uns auf der alten Universität unterwies, arbeiten über Dokumente, sich kritisch zur Quelle verhalten, analysieren usw. In bezug auf die Technik gab mir viel Vinogradov, in geringerem Kljucevskij. Kljulevskij war ein inner licher Mensch und von ihm konnte man weniger übernehmen, aber Vinogradov war ein westeuropäischer Historiker und er unterwies mich darin

Ich rufe auf zu freundschaftlicher kollektiver Arbeit, zur kollektiven Arbeit eines neuen Typus, wie jede Arbeit von uns, einer Arbeit, die einen Teil in der allgemeinen Arbeit des sozialistischen Aufbaus bilder. In dieser Arbeit bedient Euch

der Waffe, die wir schon längst von unseren Klassenvorgängern uns hätten aneignen sollen; mit dieser Waffe können wir uns von diesen Klassenvorgängern endgültig befreien. Nur auf diesem Wege. Reißt Euch niemals von den Massen los. Haltet immer fest an der klaren revolutionären Linie, die uns die Arbeiterklasse und ihre Partei gibt, und macht nicht Halt vor dem Guten, das man vom Gegner nehmen kann. Die ersten Tanks, die ich im Kreml sah, waren ranzösische, bei Odessa erbeutete Tanks, aber jetzt besitzen wir so viele eigene Tanks, wie es uns beliebt. laßt uns die Geschichte mit den Tanks auch in unserer historischen Arbeit en!

8. Der Niedergang der bürgerlichen Welt. Aus einer Rede Kalinins vor dem Unionskongreß der Arbeiter für Aufklärung.

(Zu S. 114)

„Ich bin der Ansicht, daß der Faschismus einer von den kühnen Versuchen ist, die Mittel ausfindig zu machen suchen, wie es möglich wäre, die Interessen der Arbeiter und des Kapitals zu versöhnen.

Unlängst wurde in Rom ein Übereinkommen zwischen dem Faschismus und dem römischen Papst geschlossen. Dieses Ereignis ist bei uns unbemerkt vorüber- gegangen. Von mir aus muß ich sagen: Es handelt sich hierbei um einen un- geheueren prinzipiellen Vorgang. Dieser Vorgang bedeutet, daß einer der kühnen Reformatoren, der sechs Jahre daran arbeitete und sich mühte, eine zugleich Arbeiter und Kapitalisten umfassende Organisation zu schaffen, zur Vergeistigung dieser Organisation zum römischen Papst gegangen ist. Das bedeuter, daß die Bourgeoisie eigene Ideen nicht besitzt. 140 Jahre sind es her, seitdem die Bour- geoisie (erinnert euch der Großen Französischen Revolution) alle Heiligenbilder als unnützen Plunder für die entstehende bürgerliche Gesellschaft wegwarf. Da- mals war in der Bourgeoisie viel Leben, kreisten in ihr viele innere Säfte und die Bourgeoisie hatte in jenem Moment ihre fortschrittliche Rolle begriffen. Aber jetzt, in ihrem Untergang, ist die Bourgeoisie zum römischen Papst gegangen, sozusagen nach Canossa, wie vor 852 Jahren der deutsche Kaiser Heinrich IV. nach an ging, in grober Kleidung und barfuß, um vom Papst Verzeihung zu erflehen.

Ich bin der Ansicht, daß der Faschismus zum römischen Papst nicht aus eigenem Willen gegangen ist, sondern unter dem Druck der objektiven Logik der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft, die, ungeachtet ihrer materiellen Herrschaft über den Menschen, ungeachtet des Anwachsens ihrer Herrschaft über die Natur, durch Fäulnis im Geistig-Politischen gelähmt wird. Diese Gesellschaft strebt geistig rückwärts, sie strebt nach dem Mittelalter, sie sehnt sich nach der geistigen Herrschaft des römischen Papstes, des Haupts der Katholischen Kirche.

it ist vor Euch meiner Ansicht nach der klarste Beweis für die Degradierung der bürgerlichen Welt im Geistigen und Politischen?) geliefert.“: „Izvestija“ Nr. 55 (8501) v. 7. März 1929.

1) „HAB60266 ApPREË NoRasaTexb Neno NOANTHYECKOR Aerpaxannn CypRy- asHoro MEPA.”

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4. Dokumente zur I. Marxistischen Historikerkonferenz. (Zu S. 124.)

a) Telegramm an das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei.

Die erste Gesamt-Unions-Konferenz der marxistischen Historiker, die den Methoden des Leninismus treu sind, die in ihrer Wissenschaft nicht eine aka- demische Bücherweisheit, sondern eine der stärksten Waffen des Proletariats im Kampf für seine Befreiung und eines der machtvollsten Mittel für den Aufbau der neuen sozialistischen Welt sehen, sendet den wärmsten Gruß dem Führer aller Kämpfer und aller auf diesem Gebiet aufbauend Tätigen, dem Zentralkomitee der Kommunistischen Partei der Union. Lenin hat uns gelehrt, die theoretische Analyse mit revolutionärem Wirken zu verbinden. Lenin hat alle Materialisten aufgerufen, kämpfende Materialisten zu sein. Wir materialistischen Historiker wollen uns auf den Standpunkt Lenins stellen und werden den ideologischen Kampf durch- führen gegen alle, die die Leninsche Lehre verderben und entstellen, die der Ideo- logie des Proletariats die Ideologie der Klein- oder Großbourgeoisie entgegenstellen. Nur der durch Lenin von allen Schlacken und Beimischungen gereinigte Marxismus ist wirkliche Wissenschaft, und nur der, der mit Lenin geht, kann wirklich die Wissenschaft vorwärtsbringen, kann wirklich die Wahrheit erobern. Keine Ver- söhnung, keine Neutralität, keine pseudo-„objektive“-Gelehrsamkeit!

Es lebe die Partei der Bolscheviki, die unerschütterlich die Prinzipien der einzig richtigen Geschichtsauffassung wahrt, des Leninismus!

Die erste Gesamt-Unions-Konferenz der martistischen Historiker. Im Auftrage der Konferenz:

M. Pokrovskij. Nach den „Trudy“ II, 609.

b) Resolution der Konferenz.)

1. Die Gesamt-Unions-Konferenz der marxistischen Historiker, die noch ein- mal die ungeheuere Bedeutung der marxistischen Geschichtswissenschaft als eines der wichtigsten Teile des ideologischen Kampfes des Proletariats für den Sozialis- mus konstatiert, weist darauf hın, daß in unserem Lande ein beträchtliches Kon- tingent von Historikern vorhanden ist, die auf dem Standpunkt von Marx, Engels und Lenin stehen, die verstehen, die Methode des historischen Materialismus zu beherrschen, und die bedeutende Erfolge aufzuweisen haben sowohl auf dem Ge- biete der wissenschaftlich-forschenden wie der wissenschaftlich-popularisierenden und der methodischen Arbeit. Man kann mit vollem Recht von einer Sovet-Schule der marxistischen Historiker sprechen, die sih mehr und mehr durch frische junge Kräfte ergänzt, die ihrer Ideologie nach mit der Arbeiterklasse fest verschweißt sind, die nicht selten aus dem Kreise der Arbeiterschaft stammen, und die die Methode des historischen Materialismus voll und ganz ohne jede Einschränkungen und Vor- behalte anwenden. Der Einfluß dieser Schule geht weit über die Grenzen der historischen Wissenschaft im engen Sinne des Worts hinaus und erstreckt sich mehr und mehr auf Nachbargebiete (Linguistik,?) Archäologie usw.). Nach der Qualität (znalitel’nost’) ihrer 5 Produktion hat diese Schule der marxisti- schen Historiker, die als Ausdruck der Ideen des revolutionären Marxismus und Leninismus erscheint, nicht nur lokale, sondern auch Weltbedeutung, was u. a. be- wiesen wird durch die Übersetzungen von Werken der bedeutendsten Vertreter dieser Schule in fremde Sprachen.

2. Als Mängel der Schule der marxistischen Historiker der SSSR erscheinen:

a) Das Fehlen einer allgemeinen Organisation der marxistischen Historiker für das ganze Land. b) Das Fehlen eines zentralen Organs.

1) „Pravda“ Nr. 4 (4138) v. 5. Januar 1929, „Istorik-Marxist“ 11, 230 f. 2

und „Trudy“ II, 609—612. 2) Vgl. Anm. 181.

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c) Das Fehlen richtig geordneter internationaler Verbindungen.

d) Die Belastung einer ganzen Reihe von Vertretern der Schule durch allerlei Nebenarbeit, die mit ihrer Wissenschaft nichts gemein hat und die nicht gleichzeitig politischen Charakter trägt.

e) Die Schwäche der Entwicklung kollektiver Arbeit in einigen Teilen der Geschichtswissenschaft, insbesondere auf dem Gebiet der Geschichte des Westens.

D Die Zersplitterung und Unorganisiertheit derjenigen marxistischen Historiker, die auf dem Gebiet der Erforschung der Geschichte des Orients jenseits unserer Grenzen wie auch über die Völkerschaften, die zum Bestand der UdSSR gehören, arbeiten.

8. Im Zusammenhang damit erachtet die Konferenz als notwendig:

a) Die Umgestaltung der Gesellschaft der marxistischen Historiker bei der Kommunistischen Akademie in eine die gesamte Union umspannende Organisation mit Bildung von Gesellschaften der marxistischen Histo- riker in den verschiedenen Republiken mit den Rechten von Sektionen der Gesamt-Unions-Gesellschaft bei der „Komm. Akademija CIK SSSR“, wobei die Gesellschaften der Republiken in den Rat der Gesellschaft der marxistischen Historiker Vertreter entsenden sollen.

b) Erklärung des „Istorik-Marxist“ zum Zentralorgan einer die gesamte Union umspannenden Organisation der Gesellschaft der marxistischen Historiker, mit Umwandlung in eine monatlich erscheinende Zeitschrift.

c) Hervortreten von marxistischen Historikern der Sovetunion auf ausländischen Kongressen und Konferenzen, sowie Organisation einer internationalen Konferenz der marxistischen Historiker und der mit dem historischen Materialismus sympathisierenden wissenschaftlichen Arbeiter in Moskau im Lauf der nächsten zwei bis drei Jahre.

d) Entlastung des Grund-Cadres der marxistischen Historiker in weitestem Maße von jeglicher Arbeit, die nicht mit ihrer Spezialität zu- sammenhängt und die nicht für eine erfolgreiche Vervollständigung ihrer historischen Vorbereitung erforderlich ist.

e) Herausgabe einer populären historischen, auf die lesende Masse (wört- ich: den Massenleser, massovyj čitatel’) berechneten Zeitschrift.“)

f) Die Konferenz erachtet als äußerst wichtig die Bearbeitung der Pro- bleme, die mit der Kolonialpolitik der Imperialisten im Orient zu- sammenhängen, und die Erforschung der dem Proletariat feindlichen Ideologien des Orients.

g) Die Erfüllung der praktishen Wünsche der Konferenz wird dem Rat der Gesellschaft der marxistischen Historiker übertragen.

4. Unabhängig von den oben aufgezählten Mängeln organisatorischen Cha- rakters offenbarte die Konferenz gewisse ideologische Unvollkommenheiten in unserer Arbeit. Als die wichtigsten davon erscheinen: Erstens, eine gewisse aka- demische Art einzelner unserer Arbeiter, die Neigung, ihre Arbeit nicht als Teil des allgemeinen proletarischen Kampfes auf einem bestimmten Frontabschnitt an- zusehen, sondern als eine „objektive wissenschaftliche“ Tätigkeit, die man sogar der Politik gegenüberstellt; zweitens, eine Lebensfremdheit und mitunter, auf Grund der Belebung kleinbürgerlicher Ideologie, manchmal auch die Belebung nationalisti- scher Anschauungsweisen der Geschichte bis zur Ersetzung der Klassen-Erklärung durch die „ethnographische“. Die Konferenz fordert die marxistischen Historiker entschieden auf, mit den alten „professoralen“ Gewohnheiten zu brechen und sich zu erinnern, daß bei aller Wichtigkeit akademischer Vollendung (vyderZannost’) unserer Schriften Vorbild für uns nicht die Persönlichkeiten der akademischen Welt sein dürfen, die immer Diener der ausbeutenden Klassen waren und im besten Falle in der „Objektivität“ Zuflucht vor der Politik suchten, sondern die Gelehrten-Revolutionäre, deren Typ in unserem Lande in der Vergangenheit Cernylevskij repräsentierte, in der neuesten Zeit aber Lenin, der für das Ver-

3) Vgl. Anm. 282 meines Berichts.

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ständnis des russischen historischen Prozesses mehr getan hat als alle Inhaber aller historischen Katheder an allen „russischen“ Universitäten.)

Die Konferenz erinnert alle marxistischen Historiker daran, daß wir kämpfende Marxisten sind, deren erste Pflicht besteht im Kampf mit dem Marzis- mus fremden und dem Proletariat klassenfeindlichen Ideologien und ihren Ab- legern, worin sie auch immer bestehen mögen, und wer auch immer ihr Verbreiter sei. Ein solcher Kampf erscheint im ge Ste po Augenblick besonders dringend, wo die Vertreter von Ideologien, die dem Proletariet fremd sind, das Haupt er- heben und zum Angriff übergehen. In dieser Hinsicht kann keine „Neutralität“, kënnen keine Konzessionen, kann nicht irgendwelcher Opportunismus durch unsere Schule geduldet werden, für die es nicht genügt, nur eine materialistische zu sein, materialistische Historiker besaß und besitzt die Bourgeoisie —, sondern die eine

inistische im vollen Sinne dieses Worts sein muß, indem sie alles dem Hauptziel unterordnet, dem Kampf für die Befreiung der Proletariats in der ganzen Welt und der Aufrichtung des Sozialismus.

5. Resolution des Kollegiums des Instituts für Geschichte der Kommunistischen Akademie in der Angelegenheit M. Javorikyj. (Zu S. 149.)

Das Kollegium des Instituts fiir Geschichte der Kommunistischen Akademie, das von dem Fall M. Javorskyj Kenntnis genommen hat (siehe „Pravda“ v. 1. März d. J.), gibt aus Anlaß dieses Faktums seiner Entrüstung darüber Ausdruck, daß M. Javorskyj, ein politischer Hochstapler, während einer Reihe von Jahren sich mit der Bezeichnung als Mitglied der Kommunistischen Partei der Ukraine KP(b)U und als marxistischer Historiker der Ukraine decken konnte, während er ideologisch eae wirkte und die marxistische historische Wissenschaft der Ukraine dis-

editierte.

Das Kollegium des Instituts für Geschichte ist nichtsdestoweniger überzeugt, daß das schädigende Verhalten M. Javorékyjs, das ein schwerwiegendes Faktum für die heutige marxistische Geschichtswissenschaft ist, keinesfalls einen Schatten auf alle marxistischen Historiker der Ukraine und auf die Kommunistische Partei der Ukraine werfen kann, die einen entschiedenen Kampf mit ihren Klassenfeinden beim Werke des sozialistischen Aufbaus führt. Das Kollegium des Instituts für Geschichte der Kommunistischen Akademie kann nicht umhin, die Aufmerksam- keit darauf zu lenken, daß M. Javorskyj nur infolge des Fehlens bolschevistischer Selbstkritik lange eine repräsentative Rolle als marxistischer Historiker der Ukraine spielen konnte; erst als Ergebnis des erbitterten Kampfes im letzten Jahre ist es der Gesellschaft der marxistischen Historiker an der Kommunistischen Akademie gemeinsam mit dem marxistischen Historikern der Ukraine gelungen, die pseudo- marxistische Ideologie M. Javorskyjs zu enthüllen.

Das Kollegium des Instituts für Geschichte ist überzeugt, daß die marxisti- schen Historiker der Ukraine, die auf ihren Schultern den Kampf mit Javorikyj getragen haben, indem sie diese Erfahrung beherzigen, das Erbe Javorskyjs restlos ausroden und das Resultat seiner ideologisch schädlichen Wirksamkeit, die er während einer Reihe von Jahren entfaltet hat, liquidieren werden.

Das Institut für Geschichte der Kommunistischen Akademie ist überzeugt, daß die marxistischen Historiker mehr als je zuvor, indem sie beständig Lenin studieren, einen entschiedenen Kampf für das marxistische Schema der Geschichte der Ukraine führen werden und daß sie ebenso nationaldemokratische wie Groß- macht-Tendenzen enthüllen werden, die man im Zusammenhang mit dem F 1 versucht wieder wirksam werden zu lassen. Die marxistischen Historiker

önnen nicht die geringsten Konzessionen an die Revisionisten zulassen, indem sie sich erinnern, daß die marxistische Geschichts wissenschaft ein organischer Bestand-

a) Vgl. S. 127.

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teil der proletarischen revolutionären Theorie ist, ohne die es, wie Lenin es mehr- fach ausgesprochen hat, keine revolutionäre Praxis gibt.

1. März 1980. Der Direktor des Instituts für Geschichte der Kommunistischen Akademie: M. Pokrovskij. Der Gelehrte Sekretär des Instituts: P. Gorin. (Aus den Izvestija Nr. 61/8908 v. 8. März 1900.)

6. Resolution der Ersten Gesamt-Unionsberatung für Fragen des Unterrichts Leninismus, der Geschichte der Kommunistischen Partei (Bolscheviki) und der Kommunistischen Internationale.

(Zu S. 152.)

Die von der Gesellschaft der marxistischen Historiker einberufene Erste Gesamt-Unionsberatung für Fragen des Unterrichts im Leninismus, der Geschichte der VKP (b) und der Komintern stellt fest, daß unter den Bedingungen der von uns durchlebten Periode des entschiedenen Kampfes für die Verwirklichung des Sozialismus die Fragen des Unterrichts im Leninismus, der Geschichte der VKP (b) und der Komintern eine besonders große politische Bedeutung erhalten, indem sie eine machtvolle Waffe für die bolschevistische Erziehung der proletarischen Massen darstellen. Das Studium des Leninismus, der Geschichte der VKP (b) und der un muß den aktuellen Aufgaben des heutigen Kampfes der Arbeiterklasse

enen.

Angesichts der Verschärfung des Klassenkampfes des Proletariats erhält die revolutionäre Theorie besondere Bedeutung als sein machtvolles Mittel im Kampfe für den Sozialismus. Nur wenn es sich auf die marxistisch-leninistische revolutio- näre Theorie stützt, vermag das Proletariat der Führer zu werden für die brei- testen Massen der armen und mittleren Bauern bei der Ausrodung der Wurzeln des Kapitalismus und der Vernichtung des Kulakentums als Klasse, womit die Kollekti- vierung der Landwirtschaft als ein notwendiges Erfordernis für den sozialistischen Aufbau verbunden ist. Nur die revolutionäre Theorie bietet die notwendige Waffe für den Kampf mit jeglichen opportunistischen Einflüssen auf das Proletariat. Deshalb ist es notwendig, jedes Nachlassen im Kampf für die Reinheit der revo- 5 Theorie, ebenso Versuche, sie opportunistisch auszulegen, schonungslos zu enthüllen.

Bereits zu der Zeit, als die bolschevistische Partei sich bildete, warnte Lenin, man solle niemals einen charakteristischen Zug des Opportunismus vergessen, seine „Unbestimmtheit, sein Zerflicßen, seine Nichtfaßbarkeit; immer entferne sich der Opportunismus seiner Natur nach von der bestimmten und unwiderruflichen Fragestellung, suche die Resultante, er schlängele sich wie eine Natter zwischen ein- ander ausschließenden Gesichtspunkten, bemühe sich um „Übereinstimmung“ mit dem einen sowohl wie mit dem anderen, indem er seine Widersprüche in kleine Korrekturen, Zweifel, fromme und unschuldige Wünsche usw. ausmünden lasse usw.“ (Lenin, Bd. VI, S. 320.)

Dieser Kampf mit den opportunistischen Tendenzen erhält eine besonders große Bedeutung unter den Bedingungen der Diktatur des Proletariats, wo eine Revision des Leninismus in ihrer weiteren Entwicklung unausweichlich zu einem gegen revolutionären Faktor an wächst. Daher ist es notwendig, Abweichungen und Versuche aller Art, den Leninismus zu revidieren, entschlossen zu enthüllen. Es ist nötig, mit aller Entschiedenheit den Kampf mit der im gegenwärtigen Augen- blick besonders gefährlichen Rechts-Ab weichung zu unterstreichen und ebenso auch eine systematische Enthüllung der „linken“ trockistischen Abbiegungen vorzu- nehmen. Indem wir die Vergangenheit erforschen, müssen wir den Kampf der

Bolschevismus feindlichen Gruppen und ihrer Versuche, das Klassenbewuftsein des Proletariats zu zersetzen, enthüllen, müssen wir die historischen Wurzeln des heutigen Opportunismus in allen seinen Spielarten aufdecken und den Prozeß auf-

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hellen, wie oppositionelle Gruppen in der Partei (antipartijnye gruppy) sich in anti- sovetistische gegenrevolutionäre Gruppierungen verwandeln (der Trockismus).

Das reiche Erbe Lenins und der bolschevistischen Partei müssen wir benutzen, um zu zeigen, wie Resultat eines unversöhnlichen Kampfes die revolutionäre Theorie geschmiedet und die mächtige Kommunistische Partei geschaffen wurde. Das Bekanntwerden mit der Erfahrung des früheren Kampfes der Partei erhält um so größere Bedeutung, je mehr wir sehen, daß zahlreiche Kaders sich am Werk des sozialistischen Aufbaus zu beteiligen beginnen, die nicht die Bürde des Kapi- talismus und des unterirdischen Kampfes getragen haben und die nicht durch die Schule des Bürgerkrieges hindurchgegangen sind („Die Jugend“). Unter diesen Be- dingungen erhält die Heranziehung der alten Parteikaders für die bolschevistische Erziehung, um die Erfahrungen des früheren Kampfes der Partei weiterzugeben, eine ungeheure Bedeurung.

Im Kampf mit den Entstellungen des Leninismus erhält im gegenwärtigen Augenblick ein vertieftes Studium der leninistischen Lehre von der Dialektik im historischen Geschehen eine besondere Bedeutung. Es ist notwendig, den anti- leninistischen Gesichtspunkt eines revolutionären mechanischen Wechsels der gesell- schaftlichen Formationen (Genosse Dubrovskij)i) entschlossen zu enthüllen, ebenso auch die nichtleninistische Einschätzung einer historischen Evolution der

„bei der das Bauerntum als eine historisch beständige und unveränderli

Klasse von kleinen Produzenten angesehen wird. Nicht weniger gefährlich ist die Auferweckung der Ideologie der Narodniki und den Idealisierung der kleinen Pro- duzenten, die dahin geführt hat, den Kulak als revolutionär anzusehen (Javorskyj, der jetzt aus den Reihen der VKP (b) ausgeschlossen ist). In Verbindung damit erhält die leninistische Auffassung der gegenseitigen Beziehung des utopischen un des wissenschaftlichen Sozialismus und die Frage nach den Ursprüngen des Bolsche- vismus besondere Bedeutung. Die breit ausgedehnte Diskussion über die „Narod- sik Volja“ offenbarte bei einigen Genossen das Bestreben, dic Rolle des Narod- nicestvo zu idealisieren (Genosse Teodorovit)*), was unter den gegenwärtigen Be- dingungen seinerseits auf eine Idealisierung des kleinen Produzenten herauskommt, Die Beratung erkennt die Wichtigkeit eines vertieften Studiums der Geschichte der VKP (b) als einer selbständigen Wissenschaft an.

In Fragen, die die Methode der Parteigeschichte anlangen, muß der Kampf geführt werden auf der einen Seite gegen einen vereinfachten mechanistischen „naturwissenschaftlichen“ Erklärungsversuch der gesellschafts-geschichtlichen Vor- gänge, bei dem man den spezifischen Charakter der Vorgänge ignoriert; auf der anderen Seite gegen die zur Idealisierung führenden Anschauungen, die auf dem Gebiet der Parteigeschichte das Problem der Gesetzlichkeit der Entwicklung in Frage stellen und es durch das Prinzip der Zweckmäßigkeit er- setzen. Entschiedener Kampf ist nötig gegen Versuche, die Geschichte des Bolsche- vismus und die Geschichte der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (RSDRP) zu vermengen, überhaupt gegen die Versuche, die leninistische Partei als eine Synthese des Bolschevismus und des Menschevismus mit allen seinen Spielarten, darunter auch dem Trockismus, hinzustellen. Die Geschichte der Partei kann eine wissenschaftliche Disziplin nur unter der Bedingung sein, daß sie im strengen Geiste der marxistisch-leninistischen Methode betrieben wird. Nur wenn die reiche Er- fahrung des leninistischen Kampfes für die revolutionäre Theorie im Geiste strenger Parteilichkeit erforscht wird, können wir jeglichen Versuchen, die leninistische Lehre zu entstellen und zu vulgarisieren, Widerstand leisten. (S. das Buch: El’vov und Ta!karov, „Über einen Versuch, den Leninismus-Marxismus zu entstellen“,® die Antwort auf einen ebenso mißglückten Versuch diese Fragen zu erläutern, a das Buch des Genossen Xenophontov: „Die Grundfragen der Strategie und Taktik der VKP (b)“).)

1) S. oben Anm. 20 a. 2) Vgl. oben Anm. 20a.

2) Ob odnoj popytke iskaZenija leninizma-marksizma; vgl. oben Anm. 20 . ) Ksenofontov, Osnovnye voprosy strategii i taktiki VKP (b).

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Eine Anzahl Fehler, die in der letzten Zeit in der Erforschung der Partei- geschichte hervorgetreten ist, stellt uns mit aller Schirfe vor die Notwendigkeit, Lenin sorgfältig zu studieren und die leninistischen Thesen bei der Bearbeitung von Fragen, die heute aktuellen Charakter haben, anzuwenden. In der nächsten Zeit muß sich die Aufmerksamkeit besonders konzentriereg auf die leninistische Auffassung der Theorie des Klassenkampfs in der Epoche der Übergangsperiode (I), auf das Problem des Zusammenschlusses („smyčka“) zwischen Proletariat und Bauerntum, auf eine leninistische Erforschung der Übergangsperiode, auf. das Pro- blem der gegenseitigen Beziehungen zwischen Partei und Klasse, im besonderen in der Periode der Diktatur des Proletariats, auf die Bedeutung der Weltrevolution und der kolonialen Freiheitsbewegungen, sowohl für die Festigung unserer Union wie für den Fortgang der Weltrevolution. Die Erforschung dieser Fragen muß unter dem Gesichtspunkt der praktischen Aufgaben des heutigen sozialistischen Aufbaus betrieben werden, indem dabei diejenigen Anschauungen stracks (neu- klonno) enthüllt werden, die der leninistischen Lehre fremd sind (der Trockismus und die Ideologie der Rechts-Abweichung).

Die Fragen des Unterrichts im Leninismus, in der Geschichte der VKP (b) und der Komintern, die eine ungeheure politisch-erzieherische Bedeutung haben, heischen die Durchführung einer Reihe unaufschiebbarer konkreter Maßnahmen:

1. Die Hochschulen und die kommunistischen Hochschulen haben sich in ihrem Verhalten zum Unterricht im Leninismus, der Geschichte der VKP (b) und = Komintern als selbständiger grundlegender Lehrfächer entschieden um- zustellen.

2. Auf die Ausbildung hochqualifizierter Kaders für Forschung und Lehre im Leninismus, der Geschichte der VKP und der Komintern ist ernste Aufmerk- samkeit zu richten, da konstatiert werden muß, daß die Zahl der Kaders offen- sichtlich unzureichend ist. Dies gilt insbesondere für den Unterricht in der Ge- schihte der Komintern, wo es um Kaders völlig unbefriedigend steht; dazu kommt, daß die Erforschung und der Unterricht der Geschichte der Komintern unter den heutigen Bedingungen, beim Anwachsen der Weltrevolutionsbewegung, einen der wichtigsten Hebel für eine internationale Erziehung der breiten prole- tarischen Massen bildet.

8. Auf das fast völlige Fehlen von Literatur zur Geschichte der Komintern und der ausländischen kommunistischen Parteien ist ernste Aufmerksamkeit zu richten; deswegen wird der Gesellschaft der marxistischen Historiker aufgetragen, zusammen mit dem Lenin-Institut ein kollektives Lehrbuch zur Geschichte der Komintern herauszugeben, ebenso in Form von Lehrmitteln Dokumente zur Ge- schichte der ausländischen kommunistischen Parteien und der westeuropäischen proletarischen Revolutionen zu veröffentlichen.

Es wird festgestellt, daß die von der Gesellschaft einberufene Beratung für Fragen des Unterrichts im Leninismus, der Geschichte der VKP (b) und der Komintern bedeutenden Einfluß auf eine Verbesserung des Unterrichts in diesen Disziplinen haben muß; daher erscheint die Einberufung einer Gesamt-Unions- konferenz der wissenschaftlichen Arbeiter, die auf diesen Gebieten arbeiten, sehr erwünscht; auf einer solchen Konferenz sollen eine Reihe von Referaten gehalten werden, die die wichtigsten und aktuellsten Fragen behandeln.

(Aus den Izvestija Nr. 62/8909 v. 4. März 1930; vgl. auch „Istorik-Marxist“ H. 14.)

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BUCHERBESPRECHUNGEN

Josef Schränil: Die Vorgeschichte Böhmens und Mährens, mit einem Einleitungskapitel über die ältere Steinzeit von Hugo Obermaier. Grundriß der slavischen Philologie und Kultur- geschichte, herausgegeben von R. Trautmann und M. Vasmer. Se Leipzig, Walter de Gruyter & Co., 1928. 375 S. mit

eln.

Lange Zeit hindurch konnte die Vorgeschichtsforschung in Böhmen mit dem allgemeinen Fortschritt der Vorgeschichtswissenschaft nicht Schritt halten. Einen großen Aufschwung hatte sie vor Jahrzehnten durch die Arbeiten des Prager Museumsdirektors Pit erfahren, der mit 5 Eifer für die Bekanntgabe der wichtigeren böhmischen Bodenfunde in Bild und Schrift Sorge har. Pid ist es aber auch hauptsächlich zuzuschreiben, daß die böhmisch e Forschung der Vorkriegszeit sich in eine Sackgasse verrannt hat. Er versuchte ein System von Bevölkerungsgruppen vor allem auf Grund der Bestattungsformen in Böhmen auf- zustellen, dem zuliebe er die methodischen Grundlagen der neuzeitlichen Boden- forschung, Chronologie und Typologie, beiseite schob. Zeitlich und kulturell völlig verschiedene Fundgruppen suchte er zusammenzuschweißen, wenn sie aus gleichartigen Grabformen herstammten. Eine solche Fehlkonstruktion, die be- sonders nachhaltig und verderblich gewirkt hat, war die Verknüpfung der bronze- zeitlichen Urnenfelderbevélkerung mit der germanischen Hinter t der ersten Jahrhunderte nach Chr. Geburt zu einem einheitlichen Volk der Urnen- gräber, das als urslavisch angesprochen wurde. Während die Unhaltbarkeit der Pitschen Aufstellungen in Deutschland bald erkannt wurde, ließ die große Autorität von Pit in Böhmen selbst erst verhältnismäßig spät eine kritische Be- handlung seiner Theorien aufkommen, die geeignet war, der Bodenforschung in Böhmen den Weg zu ungestörter Entwicklung wieder frei zu machen.

Diese Krisis in der Geschichte der böhmischen Vorgeschichtsforschung ist jetzt ücklicherweise völlig überwunden. Die böhmischen und mährischen Ce ien mühen sich mit anerkennenswertem Erfolge, das verlorene Terrain im wissen-

schaftlichen Wettkampf wieder aufzuholen. Ein schönes Beispiel hierfür ist die Darstellung der Vorgeschichte des Sudetenlandes aus der Feder Schränils, der so- eben als Nachfolger von Stocky die Leitung des Prager Museums übernommen hat, welchem Pie dereinst auch vorgestanden hatte. Eine dem neuen Stande der Forschung entsprechende Schilderung der gesamten Vorgeschichte Böhmens und Mährens ist lange gefordert und entbehrt worden. 1925 veröffentlichte der mährische Forscher Cervinka zusammen mit Rzehak und Obermaier im zweiten Bande des Ebertschen Reallexikons der Vorgeschichte auf knapp 50 Seiten eine Übersicht über die Vorzeit der beiden Sudetenländer, die sich bewußt die Ergeb- nisse der 55 zunutze macht und in den Hauptzügen ein treffendes Bild zeichnet. So wertvoll und anregend diese kurze Behandlung ist, so nachteilig ist es, daß sie nach der Gesamtanlage des Lexikons mit dem Beginne unserer Zeit- rechnung abschließen und die gesamte germanische und slavische Frühgeschichte ausschließen mußte.

Ein Jahr später brachte der Wiener Universitätsprofessor Menghin eine Ein- führung in die Urgeschichte Böhmens und Mährens im Sudetendeutschen Verlage Franz Kraus (Reichenberg) heraus. Auf 118 Seiten gibt er eine Darstellung in einem Guß von der Altsteinzeit bis zur Merowinger Zeit; nur die slavische Epoche findet also in seinem Buche keine Berücksichtigung. Sein Bestreben geht weniger dahin, ein eingehendes, lückenloses Bild der Fundgruppen des Sudetenlandes zu bieten, als diese in die Entwicklung der gesamteuropäischen Kulturen richtig einzu- ordnen. Menghin ist mit dieser Lösung dem allgemeinen Bedürfnis glücklich ent-

egen gekommen, wenn auch naturgemäß ein solches Werk, das viel Neuland zu N hat, nicht ganz schlackenlos ausfallen kann.

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Wieder ein Jahr später begannen die Lieferungen von Schränils Vorgeschichte Böhmens und Mährens. Schränil erfaßt in seinem Buche zum ersten Male die ge- samte Vor- und Frühgeschichte einschließlich der slavischen Periode. Er packt seine Aufgabe anders an als Menghin. Mit großer Sorgfalt und Genauigkeit sucht er alle Kulturen des Sudetengebietets und ihre Einzelformen dem Leser vorzu- führen. So nimmt sein Text nicht nur den dreifachen Raum des Menghinschen Buches ein, sondern wird auch von einer erfreulich reichen Zahl von Abbildungen begleitet, die auf 74 Tafeln vereinigt sind. Dieser Bilderatlas ist ein überaus wertvoller Bestandteil des Werkes. Die Abbildungen sind mit Geschick und Ver- ständnis ausgewählt und in der Hauptsache nach guten Photographien hergestellt. Nur ein Mangel macht sich verschiedentlich bemerkbar. Der Verfasser hat dem begreiflichen Wunsche, möglichst viele Gegenstände darzustellen, oft zu sehr auf Kosten der Klarheit der Wiedergabe nachgegeben, die bei dem kleinen Maßstabe naturgemäß leiden muß. Aus der Arbeit spricht in allen ihren Teilen die enge Vertrautheit des Verfassers mit dem Quellenstoff. Bei der eingehenden Be- schreibung der Fundtypen leitet ihn aber auch wieder eine bisweilen übertriebene Genauigkeit; daher ist der Text zu stark mit reinen Formenschilderungen belastet und insbesondere für Fernerstehende in diesen Teilen zu spröde und schwer lesbar. Freilich muß zugegeben werden, daß bei dem oben berührten Stande der Boden- forschung in Böhmen und Mähren viele Vorarbeiten in diese Gesamtdarstellung aufgenommen werden mußten, die in anderen Gebieten bereits durch Einzelunter- suchungen erledigt sind. Auf alle Fälle hat die gewissenhafte Art der Darstellung Schränils den Vorteil, daß man sein Buch stets gern und nutzbringend als Nach- schlagewerk zu Rate ziehen wird.

Die ältere Steinzeit ist ebenso wie bei der Cervinkaschen Behandlung Böhmens und Mährens Obermaier übertragen worden. Leider ist keine Gelegenheit ge- nommen worden, durch neue Abbildungen den großen Aufschwung der mährischen Paläolichforschung zu illustrieren. Die übrigen Vorzeitepochen hat Schränil selbst bearbeitet. Bei der jüngeren Steinzeit kann er sich vor allem auf die um- fassenden Untersuchungen Stockfs stützen. In dem Abschnitt über die ältcste Bronzezeit fällt an ply auf, daß sich Schränil von seiner in einer früheren Ab- handlung aufg ten absoluten Chronologie, die wenig Anerkennung gefunden hat, jetzt lossagt. Setzte er bisher die ältere Stufe der Aunjetitzer Kultur in die Zeit von 1700 bis 1500 und die jüngere von 1500 bis 1200, so nähert er sich nun- mehr den allgemein gebräuchlichen höheren Zahlenwerten. Eine gewisse Unsicher- heit scheint bei ihm in dieser Frage noch zu bestehen, weil er einmal (S. 92) den beiden Stufen das 19. bis 17. und 17. bis 15. Jahrhundert v. Chr. einräumt, sie dann aber wieder (S. 115) in die Zeit von 1900 bis 1700 und von 1700 bis 1500 v. Chr. stellt. Ist die älteste Bronzezeit Böhmens und Mährens recht gut erforscht, so bleiben bei den folgenden Stufen der Bronzezeit und ältesten Eisenzeit noch viele Fragen zu beantworten. Schränil sieht für sein Arbeitsgebiet noch keine Möglichkeit, die bronzezeitliche Kultur des sogenannten Lausitzer Typus aus der Aunjetitzer Stufe abzuleiten, wie es bei den nahe verwandten Erscheinungen in Schlesien nachgewiesen worden ist. Er versucht vielmehr das Auftreten der Lau- sitzer Kultur durch eine Einwanderung aus dem Norden zu erklären. Dabei gibt er selbst zu, daß die Nachkommen der Aunjetitzer Kultur in Böhmen, die er hier ganz nach altem Pitschen Muster allein an dem Bewahren der alten Körpergrabform erkennen will, in der Lausitzer Kultur aufgegangen sind. Wie Schränil selbst hervorhebt, bedarf es noch vieler sachgemäßer Grabungen, ehe man die einzelnen Bronzezeitstile in Böhmen schärfer und sicherer voneinander scheiden kann. Insbesondere bleibt die Herausarbeitung einer genaueren relativen Chrono- logie der Stilgruppen noch eine Aufgabe der Forschung. Alsdann wird sich auch erweisen, ob z. B. die Kultur der jüngsten Bronzezeit in Ostböhmen wirklich durch Einwanderung aus Schlesien zu erklären ist. Der mährischen Podolerkultur, die von Červinka richtig erkannt, von Menghin aber fälschlich der Frühhallstattzeit zugeschrieben wurde, weist Schränil wieder ihren richtigen Platz in der Spät-Hall- stattzeit an. Mit erfreulicher Klarheit und triftigen Gründen deckt er die Fehler der bereits oben erwähnten Urslawentheorie auf. Die Kultur der Urnenfelder- bevölkerung verschwindet auch nach ihm im 5. Jahrh. v. Chr. und zeigt keinen

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Zusammenhang mit der mehr als ein Jahrtausend später aufkommenden slavischen. Recht verwirrend ist es, daß Schränil ın der kelti Besiedlungsepoche ohne be- sondere Begründung die beiden, seit Tischler allgemein als Früh-Latönezeit und Mirtel-Laténezeit bezeichneten Stufen zusammenfassend als „Mittel-Latène- Be aufführt. Die in Böhmen so reich vertretene Früh-Latènezeit ist auch

i der Auswahl der Abbildungen außerordentlich stiefmütterlich behandelt worden. Die germanische Epoche der Sudetenländer wird von Schränil kurz, aber in den Hautpzügen treffend geschildert. Mit Recht wendet er zich ebenso wie vor ihm Preidel gegen die falschen Folgerungen, die Simek auf Grund histori- scher Nachrichten über die Sitze der Markomannen zicht.

Von besonderem Werte ist Schrénils Behandlung der slavischen Zeit (600 bis 1100 n. Chr.), weil, wie bereits erwähnt wurde, eine zusammenfassende Dar- stellung dieser Epoche bisher völlig gefehlt hat. Obwohl er die germanische Be- siedl bis zur Wende des 6. zum 7. Jahrhundert andauern läßt, möchte er die essten Slaven schon vor dem 6. Jahrhundert nach Böhmen einwandern lassen. Für diese zu frühe Ansetzung kann er jedoch keine archäologischen Beweisstücke auf- führen. Die tschechischen Slaven kamen nach Schränil aus ihrer Heimat nördlich der Karpathen über das Weichsel- und Odergebiet nach Mähren und Böhmen. Der ältere Abschnitt der slavischen Besiedlun e bis zum Ende des 9. Jahr- hunderts ist ebenso wie in ganz Ostdeutschland durch Funde schlecht zu belegen. Wichtig sind hier die awarischen Einsprengsel, insbesondere Schmucksachen, in den slavischen Kulturresten. Weit zahlreiher und entwickelter sind die Funde des 10. und 11. Jahrhunderts, also der Zeit der Begründung der Herrschaft der Przemysliden. Mit der Einführung des Christentums und dem Verbot der heid- nischen Bestattungssitten hört auch das wichtigste tage des Archäologen auf. Die reichen Gräber von Kolin und Schellenken mit ihren eigenartigen Schmuckstiicken bilden den Schlußstein für die auf den Bodenfunden fußende Forschung. Sie zeugen von den starken damaligen Beziehungen der Sudeten- länder mıt dem Osten Europas. Die beiden Goldanhänger aus Namiest in Mähren freilich, die Schrénil auf Tafel XLIX, 15 und 17 abbildet, gehören nicht in die ee Zeit, sondern entstammen einem germanischen Funde aus der Zeit um 400 n. Chr.

Für eine etwa notwendig werdende Neuauflage möchten wir den Verfasser bitten, seinem wichtigen Handbuch dann auch Siedlungskarten der einzeinen Epochen beizugeben. Die kulturellen Unterschiede innerhalb des Sudetengebietes, insbesondere die fast während der ganzen Vorzeit bestehende Kulturgrenze zwischen Süd- und Nordböhmen könnten dann dem Leser viel eindringlicher und augenfälliger nahegebracht werden.

Breslau. M. Ja hn.

Dr. Blažena RyncSov4: Listäf a listinäf Oldřicha z Rožmberka z let 1418—1462, sv. I, 1418—1437 (Brief- und Urkundensammlung Ulrichs von Rosenberg 1418—1462, Band I, 1418—1437). Herausgegeben 1929 im Auftrage des Tschechoslovakischen Histo-

rischen Instituts in Prag. Prag 1929.

Das böhmische Geschlecht der Rosenberge ging aus dem Stamm der Witko- witze hervor, deren Name den deutschen Historikern durch die Hypothese ihrer deutschen Herkunft bekannt ist. Das Gebiet der südböhmischen Herrschaft der Witkowitze, bzw. Rosenberge reichte mit einigen Gütern in das benachbarte bayerische und österreichische Land und die gegenseitigen Beziehungen wurden durch Heiraten von Angehörigen des rosenbergischen Geschlechts mit 0 der ober österreichischen Familien Wallsee und Schaumburg schon seit dem 13. Jahr- hundert befestigt. Aber nicht nur wirtschaftlichen, sondern auch politischen Ver- kehr pflegte besonders der bedeutsame böhmische Politiker des 15. Jahrhunderts Ulrich von Rosenberg mit Bayern und Osterreich. Es ist anzunehmen, daß die Herausgabe seiner Korrespondenz eine Menge Material für die Geschichte der bayerisch- böhmischen Beziehungen bringt, da ja gerade er eine wichtige Rolle in der Frage der bayerischen Kandidatur auf den böhmischen Thron nach König Albrechts II. Tode gespielt hat. Bereits im obenerwähnten I. Bande begegnet man

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mehreren Stücken, die private wie auch öffentlich politische Beziehungen Ulrichs von Rosenberg mit den bayerischen Herzögen und Passauer Bischöfen aufzeigen. Ein reicheres Material für diese Beziehungen wird erst der bald erscheinende II. Band dieser Edition bringen. Deshalb wird der über die deutsch-bömischen Beziehungen im 15. Jahrhundert arbeitende deutsche Historiker zu dieser Edition greifen müssen, welche neben den auf Bayern bezugnehmenden Dokumenten auch solche hat, die die Beziehungen Böhmens zu Oberösterreich 5 S

Prag. I. B. Novak, Vorstand des Cechoslovakischen historischen Instituts.

Šrobár, Dr Vavro: Osvobodené Slovensko. Pamäti z rokov 1918—1920. Sväzok prvý. Prag, „Čin“, 1928. 480 S., ein Photo, eine Landkarte.

Vavro Šrobár, Mitunterzeichner des ersten Prager Gesetzes vom 28. Oktober 1918, dann čechoslovakischer Gesundheitsminister und bevollmächtigter Minister für die Slovakei, hat ein Buch geschrieben, das als Material außerordentlich wert- voll, in der Art seiner Anlage weniger befriedigend ist. Es sind keine bloßen persönlichen Memoiren (pamäti); aber die Erweiterung zu einer Gesamtdarstellung wird nur stellenweise und dann so unvollständig versucht, daß wichtigste Ereig- nisse wie die Maifeier von Liptovský Svätý Mikuláš, das Pittsburger Abkommen, die Deklaration von Turčiansky Svätý Martin bei weitem zu kurz kommen. Auch der polemische Gehalt des Buches schwankt nach Stärke und Deutlichkeit außer- ordentlich.

$robär ist entschieden Unitarier. In einer historischen Einleitung bemüht er sich um den Nachweis, daß seit dem Falle des großmährischen Reiches im Grunde alle Zechischen nationalen Bestrebungen auch die Slovakei mit einbezogen hätten. Überzeugender ist S. jedoch, wenn er die £echoslovakische Einheit nicht als histori- sches Faktum, sondern als Postulat verficht. Noch jetzt und auf ein weiteres Jahrzehnt hinaus könne von einer slovakischen Autonomie schon deshalb nicht die Rede sein, weil das Magyarische sich als Umgangssprache, namentlich bei den „Neu- slovaken“, noch stark behaupte (wofür eine amüsante indirekte Bestätigung liefert, indem er es nicht für nötig hält, magyarische Ausdrücke zu übersetzen). Hierzu Simmt auch das von S. in extenso mitgeteilte Verzeichnis national- slovakisch gesinnter Persönlichkeiten, das die kgl. ungarische Regierung 1918 auf- stellen und 1918 ergänzen ließ, und das nur wenige hundert Namen umfaßt. Š. ist sich offenbar dessen bewußt, daß auch in einer demokratischen Welt politische Neuordnungen meist von einer kleinen, aber energischen Minderheit gemacht und erst nachträglich durch die Mehrheit legalisiert werden, und sieht demgemäß in i Konstatierung kleiner Zahlen keine Diskreditierung der nationalen Be- EEN sondern im Gegenteil eine Mahnung zu energischerem Vorgehen.

Als seine Gegenspieler betrachtet 5. neben den Magyaren (deren verzweifelte Bemühungen um Rettung der Slovakei auch unter Kérolyis Herrschaft durch dieses Buch erneut bestätigt werden) vor allem Hlinka und Hodža. Hlinka erscheint weniger als individuelle Persönlichkeit denn als Exponent einer klerikalen Rich- tung, die, ohne gegen nationale Interessen gleichgültig oder ablehnend zu sein, sie jedoch immer hinter den kirchlichen zurücktreten läßt. Diesen Primat religiöser Erwägungen findet man übrigens nicht nur bei den Katholiken, sondern auch bei den Juden der Slovakei, die laut zahlreichen Belegen des Srobdrschen Buches in völliger Verkennung der machtpolitischen Situation und ihrer wohlverstandenen eigenen Interessen sich eigensinnig hinter ein Magyarentum stellten, das damals freilich noch durch den Namen Károlyi symbolisiert wurde. Ganz persönlich zu-

itzt sind Š.s Angriffe gegen Hodža, den „politischen Dichter“. Während des Krieges habe er zweı Eisen im Feuer gehabt. Als er aber nach dem Umsturz am 22. November 1918 als echoslovakischer Vertreter (delegát; er selbst nannte sich bezeichnenderweise vyslanec, Gesandter; vgl. hierzu Beneš, Světová válka, Bd. III, Dok. Nr. 224) und Nachfolger Emil Stodolas nach Budapest geschickt wurde, da habe er wirft 5. ihm vor das von Prag in ihn gesetzte Vertrauen ent- täuscht. Indem er von der ungarischen Regierung die Anerkennung eines auto- nomen „Imperiums des Slovakischen Nationalrates“ verlangte, habe er Fragen an-

14 NF 6 207

geschnitten, die nicht mehr zur Kompetenz Budapests, sondern zu der Prags, evtl. erjenigen der Friedenskonferenz gehörten, und sei so Vater des hungaristischen Autonomismus in der Slovakei geworden, den er später so oft habe selbst be- kämpfen müssen. Insbesondere aber verurteilt S. natürlich Hodžas Demarkations- linien-Abkommen vom 6. Dezember 1918. Hierin wird ihm die historische Kritik recht geben müssen. Hodžas Rechtfertigung dieses eigenmächtigen Schrittes (Beneš, a. a. O., Dok. Nr. 226) als einer dringenden Notwendigkeit des Augenblicks und nur des Augenblicks vermag nicht zu überzeugen, wogegen die Gefahr einer Be- einträchtigung der definitiven &echoslovakischen Grenzlinie durch den moralischen Eindruck dieser Abmachung sehr erust war. Allerdings hätte 5. seine Kritik auch auf diejenigen Kreise in Prag ausdehnen müssen, welche trotz der wiederholten egenteiligen Weisungen des in Paris befindlichen Außenministers (Beneš, a. a. O., Dok. Nr. 214, 216) Hodža auf den von Stodola geräumten Posten nach Budapest schickten und dort beließen.

Außer diesen hochpolitischen Fragen wird auch die politische Tagesarbeit durch §.s Buch, namentlich durch die darin enthaltenen Originalprotokolle der von ihm als Minister für die Slovakei geleiteten Sitzungen, wirksam beleuchtet. Störend ist, daß neben solchen Originaldokumenten sich ein Dokument aus zweiter Hand ungebührlich breit macht: Kristöffys Buch „Magyarország Kälväridja“, welches den ganzen, die Zersetzung der österreichisch-ungarischen Monarchie schildernden, ersten Teil fast ausschließlich beherrscht. S.s Werk schließt einstweilen mit dem Anfang des Jahres 1919 ab; ein zweiter Band ist versprochen.

Berlin. LeopoldSilberstein.

NOTIZEN

Vom 10, bis 14. Juni fand in Breslau die XXII. Tagung des Allgemeinen Deutschen Neuphilologen-Verbandes statt. Der schon seit einiger Zeit disku- tierte Gedanke der Gründung einer slavistischen Sektion hatte auch gerade bei den im praktischen Schuldienst befindlichen Slavisten deshalb eine günstige Auf- nahme gefunden, weil die ganz westlich eingestellte preußische Schulreform für den Unterricht in den slavischen Sprachen keine angemessene Berücksichtigung bietet.

Breslau war seiner Lage nach der gegebene Ort, den Versuch der Gründung einer slavistischen Sektion zu machen. Wir sind dem Deutschen Neuphilologen- Verbande auch äußerst dankbar, daß er uns Gelegenheit bot, uns seiner um- fassenden Organisation einzugliedern. Zu den vorbereitenden Sitzungen waren Prof. Diels- Breslau und der Unterzeichnete vom Ausschuß der Tagung hinzu- gezogen worden. Das Vortragsamt für die slavische Philologie wurde Prof. Diels übertragen. Ein wissenschaftliher und ein die praktischen Fragen des Schulbetriebes behandelnder Vortrag wurden vorgesehen. Den vissenschaftlichen Vortrag hielt Prof. Dr. Gesemann- Prag am Mittwoch den 11. Juni um 17 Uhr über das Thema: „Vom Wesen des Volksliedes, auf- gezeigt an epischen und lyrischen Volksliedern der Slaven (mit Grammophon beispiele n).“ Der Vortrag fand im voll besetzten Raume des Auditorium maximum unserer Universitit statt und erregte mit seinen reichen Anregungen das lebhafteste Interesse aller Zuhörer.

Die konstituierende Sitzung der neuen Sektion wurde dann am Donners- tag, den 12. Juni, im Auditorium V um 17 Uhr mit den Ausführungen des Studienrats Dr. Dittrich - Görlitz über die „Aufgaben des slavis chen Unterrichts“ eingeleitet, an den sich eine sehr lebhafte Debatte anschloß. Diese zeigte aber, wie doch in den für diesen Unterricht grundlegenden Fragen die Meinungen noch stark auseinandergehen und einer weiteren Klärung bedürfen.

Die Beteiligung war erfreulich groß. Von den Anwesenden traten 17 der neuen Sektion bei. Auf den Vorschlag des bisher prisidierenden Prof. Diels wurde als 1. Vorsitzender der Sektion der Unter zeichnete, als Schrift- führer Studienrat Dr. Dittrich gewählt. Nach den IIniversitätsferien wird sich der Vorstand mit den Fachgenossen in engere Fühlung setzen.

E. Hanisch

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OSTEUROPA-INSTITUT IN BRESLAU

JAHRBUCHER FOR

KULTUR UND GESCHICHTE DER SLAVEN

IM AUFTRAGE DES OSTEUROPA-INSTITUTS HERAUSGEGEBEN VON

FELIX HAASE-BRESLAU, ERDMANN HANISCH-

BRESLAU, ROBERT HOLTZMANN-BERLIN, JOSEF

MATL-GRAZ, HEINRICH FELIX SCHMID-GRAZ,

KARL STAHLIN-BERLIN, KARL VOLKER- WIEN, WILHELM WOSTRY-PRAG

SCHRIFTLEITUNG: ERDMANN HANISCH

*

N. F. BAND VI HEFT II UND III 1930

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PRIEBATSCH’S BUCHHANDLUNG BRESLAU, RING 58

INHALTS-VERZEICHNIS

I ABHANDLUNGEN Dobrovsky als Orientalist und sein Weg zur Slavistik von Dr. Theodor Feinki !!!!! Ss a ES OB dei e E a o Der Messianismus bei den Slaven von Prof. Dr. I. Mirtschuk ... . II MISCELLEN

Sophie Kovalevskij von Helene Simon- Eckardt. Conférence des Historiens des Etats de Europe Orientale et du monde Slave von Dr. Otto Forst- Battaglia¶a 2 2 0.

III

LIT ERAT URB ERICH T E Neue Ausgaben siidslavischer poetischer Literatur und Quellen zur Kultur- und Geistesgeschichte von Josef Mattl Die Quellen zur Cechoslovakischen Geschichte in den ersten zehn Jahren der Cechoslovakischen Republik von V4clavHruby ....... Neuere Literatur zur Kirchengeschichte Polens von Karl Völker Archeion von St. Zagaczkowski (Lemberg) ........2..

Przegląd Bibljoteczny von E. Koschmieder........... Drei Polnische Festschriften von Dr. Otto Forst- Battaglia

VI

BÜCHERBESPRECHUNGEN

IV ZEITSCHRIFTENSCHAU .....

V

NOTIZEN

Jan Ptasnik von A. Wagner (Lemberg) - . . . 2: 2 2 2 2 2 2 2.

1 ABHANDLUNGEN

—— EAEE

DOBROVSKÝ ALS ORIENTALIST UND SEIN WEG ZUR SLAVISTIK

Von Dr. med. und phil. Theodor Frankl, Prag.

I

Es ist kaum einem Menschen vergönnt, am Anfang seiner Lauf- bahn seine Lebensaufgabe klar vor sich zu sehen und einem einmal gesteckten Ziel auf gerader Bahn entgegenzustreben. Auch ein genial Begabter muß oft lange tasten und suchen, ehe er zu einem eigent- lichen Arbeitsgebiet gelan Und so bildet auch die Entwicklung Joseph Dobrovskys durchaus keine Ausnahme. Vas aber bei Betrachtung des Lebenslaufs dieses großen Forschers, der zu den Be-

ründern der tschechischen und slavischen 5 gehört,

nders auffällt, sind die Schwierigkeiten, die er überwinden mußte,

um überhaupt studieren zu können und dann die Umwege, auf detien

er zu der Arbeit gelangte, die ihn zu einem der bedeutendsten Männer des tschechischen Volkes werden ließ.

Merkwürdig ist schon seine Herkunft. Seiner Abstammung nach ist Dobrovsky zweifellos Tscheche (seine Vorfahren und auch sein Vater lebten Generationen hindurch in Solnice in Böhmen), er wurde aber am 17. August 1753 bei Gyatmat in Ungarn geboren, eine Tatsache, die auch den ungarischen Schriftstellern dann Anlaß

ab, ihn später, als er schon brühmt war, zu den Ihrigen zu rechnen.“) rigens ist es eine Tatsache, daß er auch in den Schulzeugnissen als „Ungarus Jermetensis“ bezeichnet wird, was uns beweist, daß das Kind Dobrovsky eben als richtiger Ungar betrachtet werden kann. Sogar sein ursprünglicher Name Doubravsky wurde vom ungarischen Geistlichen zum heute bekannten „Dobrovský“ entstellt.

Schon während der ersten Lebensjahre Dobrovskys verließ sein Vater das Militär und ließ sich in Böhmen zwar, aber im deutschen Bischofteinitz, nieder, wo der Knabe natürlich vollkommen deutsch erzogen wurde. Bis jetzt also Nichts, was den Jungen auf den Weg

1) Fr. Palacky, 209

des Tschechentums oder gar der Slavistik bringen könnte. Wie Palack selbst zugibt, wurde Dobrovsky mit Recht zu den Deutschen gezählt, zu denen er auch wirklich nach seiner Erziehung und seinen Schriften viel mehr gehört, als zu den Tschechen.

In Bischofteinitz war der Vater D.s inzwischen gestorben und er erhielt im zweiten Manne seiner Mutter, einem eingedeutschten Kroaten einen grausamen Stiefvater. Das einzig Gute, das D. seinem Stiefvater nachträgt, ist, daß er ihm ein Paar Brocken Kroatisch, also immerhin eine slavische Sprache beigebracht hat.“) So hat D. bis zu seinem 10. Lebensjahr keine Ahnung vom Tschechischen ge- habt und es ist auch jetzt nur ein Zufall, der ihn in die tschechi - sche Stadt Deutsch-Brod gebracht hat.

Wie gesagt, konnte D. mit 10 Jahren kein Wort Tschechisch. Sein Stiefvater hätte sich kaum um seinen Stiefsohn weiter ge- kümmert, den er höchstwahrscheinlich in die Lehre gegeben hätte, aber D.s Mutter, die für ihn litt, und der Pfarrer, der die glänzenden Fähigkeiten des Jungen sah, haben den Mann überredet, den Knaben doch in die Mittelschule zu geben. Und nun geschah es, daß der Stiefvater einen Schuldner in Deutsch-Brod hatte, der nicht zahlen wollte, und daher auf die glänzende Idee kam, den jungen Dobrovsky nach Deutsch-Brod in die Schule zu geben, wo er die Schuld „ab- zuessen“ hätte. So ist der künftige Slavist schließlich doch in eine tschechische Umgebung geraten (1763), wo man in der Schule zwar lateinisch unterrichtete, aber sich doch oft mit Tschechisch ausge- holfen hat, ebenso wie man sich in den Schulen der deutschen Gegenden, wohin Dobrovský sonst gekommen wäre, wenn er über- haupt hätte in eine Schule kommen können, mit Deutsch auszuhelfen gesucht hat.“

In Deutsch-Brod wurde Dobrovský nur als Deutscher behandelt. In einem Briefe an Hanka vom 30. 8. 1828 schreibt Dobrovsky von seinem Leben in der Schule:“

„Als ich in Deutschbrod in die Schule ging (etwa 1764, 1765) schoben (suli) die böhmischen Knaben na némce (d. i. mich) manchen Bubenstreich; sie selbst aber spotteten, indem sie mir wiederholt nachschrien: „Němec brouk, hrnce tlouk, pod lavici je házel“; auch warfen sie mir Steine nach und schlugen meinen Kopf blutig (Ted’ mužové mně o mozek pfipraviti chtzih. Woher nun meine Liebe für Böhmen? Auf * Wohltaten gründet sie sich keines-

wegs.

Als Dobrovsky die vier Klassen der „Lateinischen Schule“ in Deutsch-Brod absolviert hatte, kam er nach Klattau an das höhere Gymnasium, und zwar wieder nur deshalb, weil sein Vater auch hier einen nicht zahlenden Schuldner hatte. Und auch dieser neue Zufall hat auf das ganze Leben Dobrovskys nachgewirkt. Vahrscheinlich

2) Fr. Palacky. 3) Ivan Snegirev 20 (s. S. 14, Anm. 1). ) Casopis keho Musea, 1870, S. 887.

210

hat Dobrovsky dieser Schule, die von den Jesuiten geleitet wurde, den ersten Gedanken zu verdanken, Theologie zu studieren, Jesuit zu werden und in den Orient (Indien) als Missionär zu ziehen. Wir werden noch unten sehen, was fiir eine wichtige Rolle die Theologie in der weiteren Entwicklung von D.s wissenschaftlicher Tätigkeit spielte und vielleicht wan es die od ea Reise nach dem Orient, die, neben der Theologie, seine besonders eifrige Beschäftigung mit den orientalischen Sprachen veranlaßte, ein Studium, das ihm später zur slavischen Sprachwissenschaft brachte.

Im Jahre 1768 wurde D. auch mit dieser Schule glänzend fertig. Da aber sein Stiefvater scheinbar keine Schuldner mehr hatte, zu- mindest keine unpünktlichen, so dachte er natürlich gar nicht daran, den Jungen noch weiter studieren zu lassen. Dobrovsky war aber

on zu weit gekommen, um sich von Brotschwierigkeiten ab-

schrecken zu lassen. Er verließ das Haus seiner Eltern und zog na Prag, wo er seine Bedürfnisse durch Privatunterricht deckte und sich so auch weiter den Studien widmen konnte. |

1771 hatte Dobrovsky die Vorklassen, die philosophischen Kurse, als einer der besten Magister absolviert und trat in die theologische Fakultät ein. Seine Erziehung bei den Jesuiten und die allgemeinen Zustände jener Zeit, wo Theologie beinahe das einzige Studium dar- stellte, dürften ihn dazu bewogen haben. Auch hier zeichnete er sich im Studium und Diskussionen aus, lenkt die Aufmerksamkeit des Jesuiten Prof. Stepling auf sich, der es verstand, den jungen Studenten zu überreden, die Universität zu verlassen und in den Jesuitenorden einzutreten. So eine tüchtige und abte Kraft wollte man sich nicht entgehen lassen. Dobrovsky gehorchte, und nicht ungern. Unter dem Einfluß Steplitz nämlich, der zwar Jesuite, aber Vor- kämpfer der neuesten Ideen war, sah Dobrovský nunmehr die sach- liche Erklärung der Bibel, die Hermeneutik, als seinen Lebensberuf an. Und am Eisen konnte man sich diesen Studien widmen, wenn man Priester wurde.“) Und so finden wir den 19 jährigen“ Dobrovský 1772 in seinem Noviziate in Brünn, mit Vorbereitungen für die Missionärstätigkeit und für eine Reise nach Indien be-

Aber noch bevor das Noviziat D.s abgelaufen war, traten Er- eignisse ein, die seine ganze künftige Laufbahn änderten.

II

Im Jahre 1773 gab der Papst Klemens XIV. der allgemein ver- breiteten Verbitterung gegen den Jesuitenorden nach und hob den Orden durch das Breve „Dominus ac Redemptor“ für die ganze Kirche auf. In verschiedenen Ländern wurde der Orden schon vor- her gewaltsam unterdrückt (Portugal 1759, Frankreich 1764, Spanien

3) J. Vilek, Dějiny české Literatury, druh, dílu část. prvni S. 175 unten. ©) Dobrovský war schon älter, als es für das Noviziat vorgeschrieben war, aber Stepling hat durch seinen Einfluß diese Schwierigkeit zu beseitigen gewußt.

211

und Neapel 1767), jetzt aber mußten die einst allmächtigen Ordens- brüder auch in Osterreich, bzw. Böhmen, weichen. Der Fall der Jesuiten, der den Plan D.s, fenn zu werden und sich der Missions- tätigkeit zu widmen, gewaltsam durchkreuzte, aufhob, übte auch durch seine Nachwirkung auf die Prager theologische Fakultät, wohin sih Dobrovský nadh Abbruch seines Noviziates begeben hat, einen weiteren Einfluß auf D.s Studien und Laufbahn aus. Die Ex-Jesuiten wurden natürlich vom Lehrerbestand der Universität ausgeschlossen, zumindest diejenigen unter ihnen, die der alten unproduktiven Scholastik ergeben waren. Wenige sogenannte Neu-Jesuiten, zu denen übrigens auch Stepling gehörte, wurden aber belassen. Zum Haupt der Theologishen Fakultät wurde der berühmte Scholastenfeind Rautenstrauch ernannt, der auch 1774 mit den Reformen an der Fakultät begonnen hat. Unter den neugegründeten Lehrkanzeln wurde besondere Aufmerksamkeit der Hermeneutik des Alten und Neuen Testaments geschenkt,’) einer Wissenschaft, die gerade zu dieser Zeit großartige Fortschritte gemacht hat. Schon die Pietisten haben gegen Ende des 17. Jahrhunderts das Prinzip der Gleich- wertigkeit der Bibel in allen ihren Teilen durchbrochen, indem zwischen den einzelnen Biichern nach dem Grade ihrer Erbaulichkeit unterschieden wurde. Die Deisten dann drängten auf die Unter- scheidung zwischen Kirchenlehre und Bibel. Der englische Mathe- matiker William Whiston erklirte (1722) in seinem ,,Essay towards restoring the true text of the Old Testament“ den massoretischen Text für eine Fälschung und machte Vorschläge zur Wieder- herstellung des hebräischen Urtextes auf Grund des samaritanischen Pentateuchs, der Septuaginta und anderer Übersetzungen und Zitate. Der Reformierte Alphons Turreth schließlich stellte in seinem „De Sacrae Sripturae interpretatione tractatus bipartibus“ (1728) den Grundsatz auf, daß die Heilige Schrift wie alle Bücher zu verstehen sei. „Das Alles vereinigte sich, um etwa mit der Mitte des 18. Jahr- hunderts eine neue Periode in der Geschichte der Bibelwisenschaft heraufzuführen. Die Textkritik gewann immer mehr einen wissen-

schaftlichen Charakter.“)

Dobrovsky wurde von den neuen Richtungen und Gedanken mitgerissen. Und wohl dank seiner besonderen Begabung fiir Sprach- wissenschaft, einer Begabung, die sich später auf dem Gebiete der Slavistik so glänzend zeigen sollte, hat er sich besonders für die Hermeneutik interessiert, die engstens mit Sprachwissenschaft zu- sammenhingt. Man merke sich wohl, daß Dobrovsky nie seinen Neigungen nachgegeben hätte, um Sachen nur deshalb zu studieren, weil sie ihn interessierten. Er war vor allem Theologe und studierte

7) Auch Dobrovsky selbst sagt darüber (in den Abhandlungen d. königl. böhmischen Ges. d. Wissensch., 1802, I. Bd. S. 35, siehe auch S. 7 unten): „Nach Aufhebung der Jesuiten sollten dem Rautenstrauchischen Plane gemäß die bibl. Sprachen eifriger betrieben, werden.“

6) Bertholet in „Die Religion in Geschichte und Gegenwart“, herausg. von F. M. Schiele, Tübingen 1900, S. 1206.

312

semitische Sprachen nur, weil er damit der Theologie zu dienen glaubte. Seine Neigungen und Begabungen werden ihn nur dazu ge-

racht haben, gerade für diesen Zweig der Theologie mehr Interesse zu empfinden.

Dobrovsky beginnt nun, Hebräisch und Arabisch mit Fleiß und Eifer zu betreiben. Die Bibelwissenschaft, die, wie wir oben sahen, gerade zu dieser Zeit besonderen Fortschritt zu verzeichnen hatte, war inzwischen schon weit genug gelangt, um die Wichtigkeit des Studiums der semitischen Sprachen für das Verständnis des Alten Testaments zu erkennen. Dobrovsky begnügt sich nicht damit, was ihm die Fakultät beim Studium geben kann, sondern arbeitet tage- lang selbständig und allein. Und auch hier hat seine besondere Tüchtigkeit auf diesem Gebiet die Aufmerksamkeit aller auf ihn gelenkt, und als Dobrovsky 1775 zu Fortunat Durych als Hörer des Hebräischen kommt, findet dieser sofort an dem eifrigen Studenten Gefallen, der für eben dieselben Dinge solch ein Interesse zeigt, für die er, Durych, selbst seit langem eine besondere Schwäche empfindet. Es entsteht nun zwischen den beiden eine Freundschaft, die für die wissenschaftliche Entwicklung Dobrovskys entscheidend werden sollte.

III.

In den Abhandlungen der königl. böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften 1802, Band I, S. 31 ff. finden wir eine Biographie Durychs aus Dobrovskys Feder, die uns nicht nur sehr wichtige Auf- schlüsse über das Leben des Gelehrten gibt, sondern auch von hohem Werte für das Verstandnis des Verhältnisses zwischen den beiden Männern ist. Nach dieser Biographie war Durych „zu Turnau in Böhmen am 28. September 1735 geboren“ (S. 31), war also um 18 Jahre älter als Dobrovsky. 1758 hielt er die Priesterweihe und nach einigen Jahren lehrte er als Lektor seine Ordensbriider, „nach- dem er sich nicht wie gewöhnlich aus einigen Kapiteln, sondern aus der ganzen hebräischen Bibel unterzogen hatte, die Theologie und insbesondere die morgenländischen Sprachen zu Wien: 1765—67 zu München, seit 1767 durch mehr als zehn Jahre zu Prag“. Wir lesen dann auf Seite 35: „Nach Aufhebung der Jesuiten sollten dem Rauten- strauchschen Plane gemäß die bibl. Sprachen eifriger betrieben werden. Er ward bei dieser neuen Einrichtung des theologischen Studiums zum königlichen Examinator der griechischen und hebräischen Sprachen . . ernannt. Dieses Amt versah er durch 10 Jahre bis 1784 und supplierte dabei gelegentlich den Professor der hebräischen Sprache.

Durych war also, wie Dobrovsky, ein Theologe, der hauptsäch- lich für orientalische Sprachen Interesse hatte. Wohl gemerkt, ein Theologe. Wir dürfen auf keinen Fall vergessen, daß es nur die Theologie war, die sowohl Durych, als auch Dobrovsky die Mög- lichkeit gab, ohne Gewissensbisse ihrer Neigung zur Sprachwissen- schaft nachzugehen. Und wenn beide später das ursprüngliche Ziel

213

ihrer Sprachstudien vergaßen und sich mit slavischer Sprachwissen- schaft ohne jeglichen Zusammenhang mit Theologie befaßten, so konnte dies nur die Frucht einer Entwicklung sein, die von der Theologie über semitische Sprachwissenschaft und theologische Sla- vistik (etwa Untersuchungen über die slavischen Übersetzungen der Bibel) zur reinen Slavistik führte.

Wenn Durych nun 1775 einen Hörer bekommt, der mit solchem Eifer den Studien desjenigen Faches oblag, dem er selbst seit langem ergeben war, so müssen wir uns nicht wundern, wenn zwischen den beiden Männern ein engeres Verhältnis entstand, als es gewöhnlich zwischen Lehrer und Schüler zu bestehen pflegt: Sie konnten nämlich gemeinsame Studien betreiben.

„Schon ein Mann von mehr als vierzig Jahren“ schreibt weiter Dobrovsky (S. 33) „lernte er mit mir die arabische Sprache. Bald suchten wir alte hebräische Grabschriften auf, bald verglichen wir hebräische Handschriften, wenigstens in wichtigen Stellen, für de- _ Variantensammlung.... Gleiche Studien verbanden uns immer näher.“

De-Rossis „Variae lectiones Vet. Testamenti“ (Parmae 1784) er- schienen viel später. Tatsächlich aber hat diese gemeinsame Arbeit von Dobrovsky und Durych schon viel früher Früchte getragen. Wir befinden uns nämlich in einer Zeit, wo die Textkritik darin bestand,

man aus verschiedenen Varianten den Originaltext heraus-

zubekommen suchte. „Kennicott verglich in Gemeinschaft mit mehreren Gelehrten gegen 1200 hebräische Handschriften und legte die Ergebnisse der Vergleichung in seinem zwei Foliobinde um- fassenden „Vetus Testamentum hebraicum cum variis lectionibus“, Oxonii 1776 und 1780, nieder: Die Ergebnisse brachten ziemliche Ent- täuschung: denn die mit Eifer aufgespürten Handschriften erwiesen sich alle als ziemlich jung, waren reich an Schreibfehlern, aber arm an wichtigen Varianten. Bestätigung fanden diese Ergebnisse durch de-Rossi in seinen vier Quartbände umfassenden „Variae lectiones ex immensa MSS congerie haustae, Parmae 1784—88“. Damit war end- gültig erwiesen, daß auf dem Wege der Vergleichung hebräischer Handschriften für die Hauptfehler des alttestamentlichen Textes keine Heilung zu schaffen war. Um so mehr schenkte man den übrigens schon von Kennicott mitabgedruckten samaritanischen Texte des Pentateuchs und vor allem der Septuaginta Beachtung.“)

Aber noch lange, bevor all diese Enttäuschungen ans Licht kamen, als man noch alle Hoffnungen gerade auf Zusammensuchen und Vergleichen hebräischer Handschriften legte, haben sich die beiden gelehrten Theologen alle Mühe genommen, auch die ihnen zugäng- lichen Handschriften zu durchsuchen. Die Bibliothek des Klemen- tinums und die Privatsammlungen in Prag wurden durchstöbert. Dobrovsky hat sich eine sehr interessante Sammlung von Fragmenten von Bibelhandschriften angelegt, die aus bei Juden beschlagnahmten

2) S. 6, Anm. 2.

214

Handschritten besteht, die man zum Binden christlicher Bücher und zum Beschreiben verwendete. Diese Sammlung befindet sich noch heute im Landesmuseum in Prag und die von Dobrovsky und Durych herausgefundenen Varianten des Bibeltextes in einigen dieser Frag- mente sind die erste Publikation Dobrovskys (wobei er sich sogar genierte, seinen Namen zu nennen) in der Orientalist. Bibliothek von Michaelis, Göttingen 1777, Band XII S. 106—111 unter dem Titel „Pragische Fragmente hebr. Handschriften“. “)

So hat Dobrovsky begonnen. Es war das erste, wissenschaftlich unbedeutende Werk eines Gelehrten, der kurz darauf, nachdem er seinen richtigen Weg in der Wissenschaft gefunden hatte, die ganze Welt von sich reden machte.

IV.

Während des schon oben (S. 213 unten) erwähnten zweijährigen Aufenthalts Durychs in München ist aber das geschehen, was Durych, und später auch Dobrovskf, einen Schritt näher zu ihrem eigent- lichen Lebensberuf der Slavistik bringen sollte. In seinem für die Kenntnis der Beziehungen von Durych und Dobrovsky sehr interessanten Aufsatz „O počatcich slovanské filologie v Cechach, zvlaště o Fortunatovi Durichovi a jeho poměru k Dobrovskému“ in Časopis Musea Království Ceskeho 1896 S. 67—80 sagt F. Pastrnek:

„Durych byl povahy povidy klidné nanejvy$ opatrhe, ba zrovna bäzlive; z jeho péra nevyšlo slovo ostřejší. Avšak jeho nitro zahříval onen svatý ohen lásky ku všemu českému a slovanskému, která každé oběti a největších činů schopna jest. Jiskřička stačila, aby tento oheń roznítila v zápal trválý. Tato jiskra zasáhla vznětlivou mysi Durichovu v Mnichově, jak sám v předmluvě ku své knize »Bibliotheca slavica“ p. XII vypravuje. Jako člen řádu sv. Frautiška de-Paula byl Durych v. r. 1765, jsa 30 rokü stár, poslán do Mnichova, aby tam bratřím svým předńašel theologii a ak jazyk hebrejsky. Když pak záhy zašel do dvorní knihovny, přijal jej tam velmi vlídně tehdejší bibliothekář, slavný bavorský dějepisec Ondř. Felix Oefele. Rozmluva obrátila se brzy na literárné dějiny rozmanítých národů, a Oefele, vida před sebou vědychtivého čecha, toužil na to, že takových literárních dějin slovanských dosud není a počal Durichovi domlouvati, aby on se věci chopil a o literatuře české a též ostatnich slovanů soustavně F Hned mu též návod dal, jak si pe tom počínati, a slíbil, Ze mu potřebné knihy zaopatfi.

Appell slavného učence bavorského . . . neminul se s u&inkem. Durich jal se hned sbirati vědecký materiál, a když se po dvouletém pob v Mnichově navrátil do Prahy, přinesl si již některá „Adversaria“ z byzantských spisovatelů. V Praze pak podařilo se

10) Die Fragmente, denen diese Varianten entnommen sind, u. zw. I. Sam, 15,

: A 16—86; 45, 18—46, 1; 48, 10—27; I. Regum 7, 18—26; 7, 08, 1; II. Regum 12, 1—2; von denen Hanuš nicht weiß, wo sie hin- Kee sind natürlich ebenfalls im Museum und in dieser Sammlung zu inden.

215

mu sep? povzbuditi Adankta Voigts, aby domácí literatuře se věnoval.“

Wie den Voigt, so hat Durych auch Dobrovský immer wieder auf die Slavistik aufmerksam zu machen gesucht. Dobrovský selbst sagt darüber in seiner schon erwähnten (S. 213) Biographie Durychs (S. 33): i

„Allein so lieb ihm auch die Betreibung hebräischer Philologie war, so hatte er doch mehr Hang für slavische Literatur und einen lange gefaßten Vorsatz, sich dieser bei müßigern Stunden ganz zu vidma. Er unterließ es auch nie, mich auf dieses sein Lieblingsfach nebenher aufmerksam zu machen und dafür immer mehr und mehr einzunehmen.“

All dies Zureden hat zunächst nicht viel genützt. Dobrovsky

war vor allem Theologe und nur als solcher hat er sich erlauben können, sich mit Sprachwissenschaft abzugeben, die aber in diesem Falle nur die semitische Sprachwissenschaft sein konnte. Um etwas mehr Interesse für slavische Sprachwissenschaft zu bekommen, hat Dobrovsky erst darauf kommen müssen, daß sich auch auf diesem Gebiet für die Theologie arbeiten läßt. Zunächst hielt er aber nach seinen eigenen Worten die Beschäftigung mit slavischer Sprach- wissenschaft und Literatur für überflüssig, Übrigens können wir denselben Prozeß auch bei Durych verfolgen, der, obzwar er schon seit 1765 Interesse für Slavistik hat, doch erst 1777 sein erstes Werk auf diesem Gebiete veröffentlicht (De slavo-bohemica sacri codicis versione dissertatio Fortunati Durich . . . Pragae 1777), und auch dies ist ein Werk, das sich direkt auf Theologe bezieht. Außer- dem hat es sih Durych vorgenommen, sich der Slavistik „bei müßigern Stunden“ und „nebenher“ zu widmen, wie sich Dobrovský (S. 11 unten) ausdrückt. Man sage uns nicht, Durych sei mit seinem Brotberuf Hebräerunterriht beschäftigt gewesen: noch im ahre 1775 treibt ihn die Energie und der Fleiß dahin, Arabish zu ernen, was uns zeigt, daß er immer noch ein lebendiges Interesse für semitische Sprachen hegte. Und sein Vorsatz, sich der Slavistik nur „bei müßigern Stunden“ zu widmen, gehört eben dieser Zeit an, da ja Dobrovský Durych vor 1775 gar nicht kannte. Diese Theologen konnten eben Slavistik noch nicht als Hauptberuf und -zweck betrachten. Dagegen haben sie es beide schon bald ver- standen, daß sich die Slavistik sehr gut bei den Untersuchungen alter Quellen zur Geschichte des Bibeltextes verwerten ließe. Dobrovský läßt sich von Durych Slavisch beibringen, aber nur „jakožto nového nezbytného prostředku k výkladům textův biblických“ (Vlček 176) und so wurde schließlich das Gebiet der Slavistik berührt und ein Bindeglied hergestellt zwischen der Theologie und der „reinen“ slavishen Sprachwissenschaft.

V

Im Jahre 1776 kommt Dobrovsky ins Haus des Grafen Nostiz. In dessen Bibliothek sucht er vor allem hebräische Handschriften und

216

Varianten aus, so eine hat er noch viel später (1784) in de-Rossis Variantensammlung veröffentlicht (vgl. S. 9 oben). Vir sehen, wie er ncch immer neben seiner slavischen Tätigkeit, die er schon 1779 aufnimmt (siehe noch unten), ergebener Theologe und Hebraist bleibt. Im Hause Nostiz trifft Dobrovsky den Historiker Peltzel an, der sich schon seit langem mit der Geschichte Böhmens beschäftigte, und dieser hat den ihm untergegebenen Dobrovsky veranlaßt, für ihn Material für seine Geschichtswerke zu sammeln. Was für eine Art „Veranlassung“ diese war, läßt sich kaum mehr feststellen. Alle Biographen sprechen von der Bereitwilligkeit, mit der Dobrovsky dem „Freund Peltzel“ half, höchstwahrscheinlih aber war es eine Art Sekretärarbeit.e Was aber feststeht, ist, daß Dobrovský beim Suchen und Stöbern nicht nur Material für sich selbst und nach seinem Geschmack finden konnte (auch auf seine Fragmente hebräischer Handschriften, siehe oben, dürfte er dabei gestoßen sein), ) sondern daß er auch Sachen kennen lernte, für die er sonst vielleicht nie Interesse gehabt hätte. Das Gebiet der Slavistik, das er ursprünglich zumindest für überflüssig hält, wenigstens insofern, als es nicht als Hilfsmittel für die Theologie diente, gewinnt lang- sam, aber sicher, an Boden. ,,Prozkoumévaje hraběcí knihovnu domácí“ sagt Vlček (176) „biblioteku strahovskou, klementinskou a jiné a sbíraje i vypisuje také pro přítele Pelcla látku z dějin domácích, zahloubal se do starého českého jazyka, do staré české literatuty, do staré české historie, a záhy poznal to že je pravým a vlastním jeho polem. Tak Dobrovský vlastně jiz 1778 z pouhého vykladatele bible stal se jazykospytcem, dějespytcem i hystorikem literárním.“

Und richtig hat Dobrovský schon 1778 sein „Fragmentum Pragense evangelii S. Marci, vulgo autographi“ herausgegeben, ein Werk, das eben am besten zeigt, wie er auch für Werke, die nicht zur semitischen Sprachwissenschaft gehören, Interesse hatte, wenn sie nur von einer bestimmten Wichtigkeit für die Theologie waren. Bei dieser Arbeit hat sich Dobrovský auch der slavishen Texte be- dient, wobei ihm Peltzel behilflich war. Auch hier sehen wir, daß das Slavische zunächst nur als Hilfswissenschaft für Dobrovský von Wert ist. Aber schon enige Jahre seines Aufenthaltes in Prag und Zusammenarbeit mit Durych, als auch das Zusammentreffen mit der Gesellschaft der Vorkämpfer der tschechischen kulturellen Selb- ständigkeit, die kennen zu lernen er im Hause Nostiz’ reichlich Ge- legenheit hatte, die Zusammenarbeit mit Peltzel schließlih all dies hat ihn bald in die Reihe dieser Patrioten eintreten lassen. „Ilpesparu YMCTBCHHATO u maniomaxbmaro mpoO6yxaxeHia’ sagt Snegirev'”) IHPNBIeRZN BHWMaHie JloOposckaro E BhsBaau ero Kr Raten CGOBPEMEHHATO COCTOSHIA npocghmenia BI OTEuecTBt.

11) 1774 erschien sein erstes Werk „Kurzgefaßte Geschichte von Böhmen“. 19) Vgl. V. Flajähans, Pisemnictvi české slovem i obrazem, Praha 1901, S. 458 unten. 18) Ivan Snégirev, I. Mo06popcril, ero ZHEHL, YHEHN-AUTEPATYPHHIC TPYALL N SAcıyTrE Mus Aansnonh Anis, Kagans. 1884. S. 217

Euy xoTbIOCL BHACHHTA COCTORHIC YYCÓHHXb gane nenin, crenenb paz- BATİA HAYWHOH M AHTepaTypHOH XBATeALHOCTH, cocTOsHie 6HOLIOTERE u BOOGme cOcTOsHic HAyKb H mCKyccTBD. CB dsTOH TIL OHS npexnpanaap IIospenennoe nananie . . cTaHOBACh army H3XAHİOMb BE bAXb TOTAAMHAXS OTEIECTBOBLAOBL. JloSposesii ne O6HAPYZHBALL noxa IIPCHMYIICCTBEHHOR CKAOHHOCTH Kb KAKOÄ-AHÓO cneniazpbHOC TH BP HOBOH ug Hero OOAACTH . . . opt CTPeMHäcH OBAAABTL BCHÄ prof oGnacrbw, Bb HAUPABACHIAXT: HC TOPHUECKOMB, HCTOPHKOANTE par ypRHOMT H A3bIKO BEAHOMP.

(Die. Zeichen der geistigen und nationalen Renaissance haben die Aufmerksamkeit Dobrovskys auf sich gelenkt und ihn ver- anlaßt, die Kulturzustände seiner Zeit in seinem Vaterlande zu be- obachten. Er wollte sich den Zustand der Lehranstalten klar machen, die Höhe der Entwicklung der wissenschaftlichen und literarischen Tätigkeit, den Zustand der Bibliotheken und überhaupt den Stand der Wissenschaften und Künste. Zu diesem Zwece hat er die „Periodische Ausgabe“ unternommen . . ,) sich dadurch in die Reihe der damaligen Vaterlandsforscher stellend. Dobrovský zeigte keine besondere Bevorzugung irgendeines Spezialfaches auf dem für ihn neuen Gebiete ..., er erstrebte das ganze Gebiet, und zwar nach den historischen, literar- historischen und sprach- wis senschaftlichen Richtungen hin zu beherrschen.)

In diesen von 1779 an regelmäßig erscheinenden Sammelschriften über „Böhmische Literatur zeigt sich schon das außerordentliche Interesse, das Dobrovsky gerade den Zuständen in Böhmen entgegen- brachte. In diesen Sammelschriften sollen, und werden auch, alle in Böhmen erscheinende Schriften besprochen, die böhmischen, deutschen, lateinischen und sogar hebräischen, für die Dobrovsky, wohl als Er-

innerung an seine früheren Lieblingsstudien, ein besonderes Interesse

14) Gemeint ist die „Böhmische Literatur auf das Jahr 1779“, s. S. 16 oben.

15) Auch V, Jagić schreibt die „Umsattlung“ Dobrovskys dem Einfluß der tschechisch patriotischen Umgebung zu. Im Aufatz „Slovjensko jezikoslovje“ (in „Knjizevnik“, Časopis za jazik 1 poviest hrvatsku i srbsku, u Zagrebu 1865, S. 857—358) sagt er: „Borba plemenitih muževa, kakovi su bili Fr. Kinski, Fr. Pelcel, Karlo Tham i Alois Hanke iz HankeSteina, koji se digole, da brane najveću svetinju svakoga naroda, zatim podvostruéena revnost i nastojanje nekih književnika, kano ti su: Pelcel, Prochazka, Rulik, Tomsa itd. oko narodnoga jezika, kojemu je pogibelj prietila to bijahu pojavi, koje ni su mogli ostati ba upliva na njihov (des Duryh und Dobrovský nämlich) naučnı pravac i znanstveno zanimanje. Tako se može protumačiti, zašto su, jeden i drugi, odustali od nauka bogoslovnih, kojimi su se od prije izključivo bevili, te se s većom pomnjom stavili na nauke slovjenske.“ (Der Kampf angesehener Männer, wie es Fr. Kinski, Fr. Pelcel, Karlo Tham und Alois Hanke aus Hankestein waren, die sich erhoben, um das größte Heiligtum eines jeden Volkes zu ver- teidigen, dann der Eifer und Standhaftigkeit einiger Schriftsteller, wie z. B. Pelcel, Prochazka, Rulik, Tomsa usw. für die Sprache des Volkes, der eine Gefahr drohte das waren Erscheinungen, die nicht ohne Einfluß auf ihre (des Durich und Dobrovský nämlich) wissenschaftliche Richtung und bleiben konnten. So kann man es sich erklären, warum sich beide von der Theologie abgewendet haben, mit der sie sih ursprünglich beschäftigt haben, um sih mit einer um so größeren Aufmerksamkeit der slavishen Wissenschaft widmen zu können).

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hatte. Aber nur seine außerordentliche Liebe für sein Volk und Land hat ihn die Zeitschrift so leiten lassen können, daß er sogar Verfolgungen seitens der Beamtenschaft ausgesetzt war. Der Genius hat endlich das Feld gefunden, auf dem er seine schier unerschöpf- baren Kräfte entfalten kann. Von nun an beschäftigte sich Dobrovsky sehr wenig mit den von ihm erst vor kurzem so geliebten semitischen Sprachen. Er arbeitet mit Peltzel, veröffentlicht mit ihm gemeinsam Werke, und wenn er 1783 doch noch sein übrigens vereinzeltes richtiges wissenschaftliches Werk auf dem Gebiete der Orientalistik veröffentlicht (Josephi Dobrovsky, De antiquis hebraeorum charac- teribus Dissertatio, Pragae 1783), so müssen wir darin nicht etwa (wie bei Durychs Arabischstudien, s. S. 12 Mitte) ein Zeichen eines noch immer bedeutenden Interesses für die Orientalistik sehen. Auf dringenden Rat seiner Freunde Peltzel und J. L. Von-Gay (des Bischofs von Königgrätz), die besonders nach einem Jagdunfall mit Dobrovskf'*) um ihn besorgt waren, hat Dobrovský nämlich ver- suchen wollen, doch zu einem festen Posten zu gelangen, indem er eine Professur aus Hebräisch und Hermeneutik (die allein bei den damaligen Zuständen auf den Universitäten für Dobrovsky in Be- tracht kamen) an einer Universität annehme. Um so einen Lehr- posten zu erreichen, hat Dobrovsky eben die oben angeführte Disser- tation schreiben müssen. Als aber auch tatsächlich dem Gelehrten eine Lehrkanzel an der Universität Lvov angeboten wurde, hat er sie kurz entschlossen abgelehnt und hat das weitere ruhige Leben im Hause Nostiz’ in Prag, wo er weiter Slavistik und tschechische Sprachwissenschaft betreiben konnte, vorgezogen. Die Orientalistik war nunmehr für Dobrovsky nur insofern von Wert, als sie seine slavistischen Studien bedeutend förderte und ihm das genaue und gründliche Verständnis der grammatischen Phänomene der slavischen Sprachen“) ermöglichte. Sonst aber war schon Dobrovský weit genug, um einzusehen, daß er nur mit seinem Volke und für sein Volk in dieser für die Tschechen so wichtigen Zeit arbeiten dürfe und daß kein Interesse der Wissenschaft oder der Theologie mehr berechtigte Ansprüche auf seine Fähigkeiten und Kräfte habe, als sein Volk und dessen Zukunft. Dobrovsky gehört nunmehr nur der Slavistik und der tchechischen Renaissance an: Das Interesse für sein Volk und Land hat endgültig das Interesse für seinen Gott und für die Religion verdrängt. VI.

Und so hat Dobrovsky mit seiner Vergangenheit gebrochen. Weder seine Treue zur Theologie, noch seine Begeisterung für die semitischen Sprachen sind erhalten geblieben. Von allen Fesseln be- freit, hat sich der geniale Mann endlich frei und für immer einer heißgeliebten Wissenschaft widmen können. Aber auch Dobrovskys

rise wurde nämlich bei einer Jagd durch einen Schuß verletzt. Siehe darüber Svétozor, 1880, čislo 16, p. 191. 17) Siehe darüber Kap. VI.

219

18 NP 6

Lehrjahre, die ersten Jahre seiner Entwicklung, die er, wie wir eben geschen haben, ganz ohne Zusammenhang mit seiner en Tätigkeit verbrachte, waren keine verlorene Zeit gewesen. e Araber waren die Ersten, die die Grammatik ihrer Sprache be- arbeiteten. Erst von ihnen lernte man diese Kunst in Europa. Und keine geringe Rolle bei der Anregung regelmäßiger Beschäftigung mit der jeweiligen Muttersprache haben überall die sprachwissen- schaftlichen Übungen der Gelehrten gespielt, die aus theologischen Gründen auf dem Gebiete der semitischen Sprachen tätig waren.

Wir haben gesehen, es auch im Falle Dobrovsky die semi- tische Sprachwissenschaft war, die ihn zur Slavistik brachte. Aber nicht nur die Tatsache seiner „Bekehrung“ haben wir der Semitistik zu verdanken, sondern auch in einem sehr hohen Maße die Gründ- lichkeit und Kunst, mit der auf seinem neuen wissenschaftlichen Ge- biet, der Slavistik, arbeiten konnte. Sehr interessant ist, was wir bei V. Jagić (s. S. 15, Anm. 2 von diesem Einfluß von Dobrovskýs RE en Studien auf seine spätere slavistische Werke lesen (S. :

„Dobrovsky posveti se već za rana s osobitom voljom dubljemu nauku istočnih jezika (tako se i upoznao s Durichom), Zeleéi zadobiti učiteljsku stolicu ovih jezika na nekojem bogoslovnom učilištu: to nebijaše bez velike važnosti za njegova ostala jezikoslovna izpitivanja u području slovjenskem. Ja barem držim zbilja u Dobrovskoga za neposredan upliv nauka evrejskih poznatu težnju, do koje je osobito mnogo držao i on sam i njegovi ini suvremenici, da u etimologiji (t. j u tvorenju rieči) svagda najprije razluči i izvadi korjenike

wörter); jer baš o tom znali su slovjenski gramatici prije Dobrovskoga ili veoma malo, ili upravo ništa. Za dokaz navadjam, što se već njegov prvi strogo jezikoslovni spis bavio ovim predmetom: to je godine 1799 izdana razprava.“ „Die Bildsamkeit der slavischen Sprache, an der Bildung der Subst. und Adj. dargestellt.“ Istomu je predmetu razmjerno mnogo mjesta ustupio i u gramatici českoj (Lehrgebäude, 1809), a osobito u gramatici staroslovjenskoj - stitutiones, 1822); napose pako govori još o tom malena knjižica „Entwurf zu einem allgemeinen Etymologikon“ (1813), i jedan zastavak u „Slovanki“ (1814, str. 27—54).“

[Hat sich doch Dobrovský schon bald mit besonderem Eifer den tiefen Studien der orientalischen Sprachen gewidmet (so hat er auch den Durich kennen gelernt), beabsichtigend eine Lehrkanzel für diese Sprachen auf irgendeiner theologischen Schule zu erhalten: das war nicht ohne Wichtigkeit für seine spätere sprachwissenschaftliche Forschungen auf dem Gebiete der Slavistik. Ich zumindest glaube in jener Forschungsrichtung den unmittelbaren Einfluß der Hebräischen Wissenschaft zu erkennen, von der sowohl er, als auch seine anderen Zeitgenossen so viel hielten, u. zw. daß sie in der Etymologie (d. i. die Bildung der Sprache) erst immer die Wurzelwörter herausfinden. Davon wußten die slavischen Grammatiker vor Dobrovsky entweder sehr wenig, oder gar nichts. Zum Beweis erinnere ich, daß sich sein

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erstes streng wissenschaftliches Werk mit diesem Gegenstand befaßt. Das ist die 1799 erschienene Abhandlung „Die Bildsamkeit“ etc. Außerdem wurde dem Gegenstand verhältnismäßig viel Raum in der tschechischen Grammatik (Lehrgebäude, 1809) überlassen und be- sonders in der alt-slavischen Grammatik; endlich handelt auch darüber ein kleines Büchlein „Entwurf“ etc. und ein Aufsatz in der „Slo-

Dieser Aufsatz in der „Slovanka“ heißt: „Wie und mit welcher Vorsicht soll man die Wurzelwörter und Stammsylben aus den vor- handenen Wörterbüchern aufsuchen und sammeln,“ In der Rezension Kopitars (Kleinere Schriften, Wien 1857, S. 275) zu diesem Aufsatz lesen wir weiteres vom Zusammenhang dieser Wurzelwörterstudien Dobrovskys mit seinen früheren Studien auf dem Gebiete der Orien- talistik. Es heißt dort:

„In Verbindung mit dem besonders gedruckten und bereits im vorigen Jahrgange dieser Blätter von einem anderen Rezensenten an- gezeigten „Entwurfe zu einem allgemeinen Etymologikon der slavi- schen Sprachen“, Prag 1813, ohne Vergleich der köstlidiste Aufsatz der ganzen „Slovanka“, “) und Rezensent fürchtet, keinem Slavisten zu nahe zu treten, wenn er behauptet, daß, wenn die übrigen mit ge- höriger Aufmerksamkeit auch eın anderer hätte machen können, dieser nur von einem so tiefen und umfassenden“) Sprach- forscher wie Dobrovsky erwartet werden konnte.“

Und dann noch weiter:

„Adelung bemerkt in der Einleitung zu seinem „Mithridates“, daß nur die volle Einsicht in den Bau einer Sprache, d. i. die Auf- lösung derselben bis in ihre einfachen Wurzeln uns in den Stand setzt und berechtigt, über sie zu urteilen; daß aber diese Auflösung bisher nur an drei Sprachen sei versucht worden: an der hebräischen, wo aber unzeitige Ehrfurcht für rabbinischen Quersinn vom wahren Wege abgeleitet habe; an der griechischen, wo man aber, ungeachtet Hemsterhuis und seine Schüler das wahre geahnt, eben auch den Hebraisten zu Gefallen, auf halbem Wege stehen geblieben; und end- lich an der deutschen seit Wachter . . . Gewiß hätte Adelung, wenn er auch noch Slavist gewesen wire, nach Durchlesung des Entwurfes und dieses Artikels der „Slovanka“ ausgerufen: „Hier ist mehr als Hemsterhuis und Wachter“ .. .“

Wir sehen, Dobrovskfs gelehrte Zeitgenossen waren sich voll- ständig darüber klar, welch einen hohen Wert Dobrovskys Studien auf dem Gebiete der Orientalistik für seine slavistische wissenschaft- liche Tätigkeit hatten. Kopitar ist überzeugt, daß Dobrovsky „mehr als Hemsterhuis und Wachter“ ist. Er meint, daß diese Gelehrten eben nur in den Anfängen einer „Auflösung“ ihrer Sprachen in ihre einfachen Wurzeln waren, während „von einem so tiefen und

18) Wir haben gesehen (S. 19, oben), daß auch V. Jagić diese zwei Werke zu- sammenstellt und als zusammenhängend betrachtet.

10) Von mir gesperrt.

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umfassenden”) Sprachforscher wie Dobrovsky (wobei er natür- lich an Dobrovskys frühere orientalistische Studien denkt) viel mehr „erwartet werden konnte“. So faßt auch Jagić (s. S. 15 Anm. 2) die Worte Kopitars auf (S. 358 Anm. 2 Schluß):

„To su rieči Kopitarove od godine 1815; iz njih može čitatelj uvidjeti, kolika su vaZnost i drugi jezikoslovci onoga vremena stavljali u etimologiju Dobrovskovu, isto tako osvjedotiti se, da je u tom cielom pitanju zbilja bila glavna poluga evrejltina.

[Das sind Kopitars Worte vom Jahre 1815; der Leser kann daraus sehen, welch eine Wichtigkeit auch andere Sprachwissen- schaftler jener Zeit der Etymologie Dobrovskýs zuschrieben und sich auch überzeugen, ob in dieser ganzen Forschung der Haupthebel geblieben ist das Hebräisch e.]

Durch ihren Zusammenhang mit der Theologie haben die semitischen Sprachen Dobrovský zum Sprachwissenschaftler gemacht, aber auch auf den Slavisten Dobrovský haben sie anregend und be- fruchtend gewirkt.

0 Von mir gesperrt.

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DER MESSIANISMUS BEI DEN SLAVEN

Von Prof. Dr. I. Mirtschuk.

Unter Messianismus versteht man allgemein den Glauben an eine besondere, ungemein wichtige und vom Schicksal allein vorher- bestimmte Sendung eines auserwählten Volkes, welches als Träger einer neuen Idee seine Rolle in der Geschichte der Menschheit zu er- füllen hat. Die messianistische Idee, noch im essen wurzelnd, E erst im 19. Jahrhundert wieder an Bedeutung, in Deutsch- and zur Zeit der Befreiungskriege, in Frankreich um die Wende des Jahrhunderts unter dem unmittelbaren Einfluß der Revolution; die stärkste Entfaltung fand der Messianismus jedoch zweifellos unter den Slaven, deren tiefe Religiosität und der damit verbundene Mysti- zismus den geeigneten zur Aufnahme dieser Ideen bildete. Eine starke Förderung erfuhr diese Bewegung unter den Slaven seitens der deutschen historiosophischen Schulen, hauptsächlih durch Herder,') welcher auf. den Fleiß, die Friedensliebe und andere in der Psyche der Slaven schlummernden Vorzüge hinweisend, ihnen eine herrliche Zukunft versprach, sowie durch Hegel, dessen Idee der Wiederkehr, dessen Prinzip der wiederholten Offenbarung des Geistes der Geschichte in den einzelnen Völkern und Stämmen ganz unwillkürlich der Verbreitung des Glaubens an eine von der Vor- sehung bestimmte Mission der Slaven Vorschub leistete. Hegel selbst hat sich nur ein einziges Mal, und zwar eher negativ als positiv, über die Zukunft der slavischen Stämme ausgesprochen: „Es haben zwar diese Völkerschaften Königreiche gebildet und mutige Kämpfe mit den verschiedenen Nationen bestanden; sie haben bisweilen als Vor- truppen, als ein Mittelwesen in den Kampf des christlichen Europa und unchristlichen Asien eingegriffen, die Polen haben sogar das be- lagerte Wien von den Türken befreit, und ein Teil der Slaven ist der westlichen Vernunft erobert worden. Dennoch bleibt diese ganze Masse aus unserer Betrachtung ausgeschlossen, weil sie bisher nicht als ein selbständiges Moment in der Reihe der Gestaltungen der Ver- nunft in der Welt aufgetreten ist. Ob dies in der Folge geschehen werde, geht uns hier nicht an; denn in der Geschichte haben wir es

1) Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte, Sechzehntes Buch, V, S. 23. Berlin, Hempel.

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mit der Vergangenheit zu tun.“) Diese eine Bemerkung Hegels, welche in Wirklichkeit die Frage der zukünftigen Rolle der Slaven offen läßt, genügte, um slavische, unter dem dominierenden Einfluß des deutschen Idealismus stehende Philosophen, hauptsächlich Polen und Russen, zu veranlassen, auf der Grundlage der Philosophie Hegels eigene slavophile Konstruktionen zu schaffen. Die Idee des slavischen Messianismus, welche slavischen Völkern in der Gestaltung der weiteren geschichtlichen Ereignisse eine prominente Rolle zu- weist, hängt natürlicherweise mit allen Prophezeihungen und Theorien über die zukünftigen Schicksale des menschlichen Ge- schlechtes eng zusammen.

Die prägnantesten und charakteristischen Formen des Messianis- mus bietet uns die polnische Literatur des 19. Jahrhunderts. Eine konsequente, auf dem Hegelschen System a ute Konstruktion des Messianismus in Verbindung mit der Schilderung der nächsten Epoche der Weltgeschichte finden wir bei dem polnischen Philo- sophen August Cieszkowski.”) Als treuer Schüler Hegels übernimmt er von seinem Meister das trichotomische Prinzip, ‘cas Prinzip der These, der Antithese und der Synthese, trachtet aber gleichzeitig, über seinen Lehrer hinausgehend, seine Inkonsequenz in der prak- tischen Durchführung des dialektischen Gesetzes in der Geschichte aufzuzeigen und zu korrigieren. Während Hegel im Widerspruch mit seinem eigenen Prinzip die Weltgeschichte in vier Hauptperioden zerfallen läßt, und zwar in die orientalische, griechische, römische und germanische Welt, ohne sich über die Zukunft des menschlichen Geschlechtes den Kopf zu zerbrechen, teilt Cieszkowski, von messia- nistischen Erwägungen getrieben, die bisherige Geschichte in zwei große Epochen: in die Epoche des materiellen, sinnlichen Seins im Altertum, die Thesis, und in die Antithesis, das Christentum, als die Epoche des rein geistigen Lebens. Vor Christi Geburt fühlte der Mensch seine Einigkeit mit der Natur, es gab keinen Zwiespalt, keine Trennung von Subjekt und Objekt, infolgedessen nur einen schwach entwickelten individualistischen Zug; in der Religion herrschte der Pantheismus, im sozialen und im Staatsleben der Despotismus. Christus hat als erster den engen Zusammenhang des Menschen mit der Natur gesprengt, indem er auf seine höhere Bestimmung hinwies. Durch die Betonung des alleinigen Wertes des Lebens im Jenseits untergrub er die Bedeutung des diesseitigen Daseins, welches für die alten Griechen und Römer im Gegensatz zur schattenhaften Existenz nach dem Tode allein erstrebenswert war. Die heidnische Absorp- tion des Individuums durch die Gesellschaft wurde in der christlichen Epoche von der Absorption der Gesellschaft durch das Individuum ersetzt. Aber damit ist die Weltgeschichte nicht zu Ende, das tricho- tomische Prinzip Hegels verlangte außer der Thesis und Antithesis

2) Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Reclam-Ausgabe, 3) „Prolegomena zur Historiosophie.“ „Ojcze nasz“, 4 Bde. „Gott und

Palingenesie.“

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nach einer dritten Epoche, nach der Synthesis. Und in diesem Momente kommt die messianistische Einstellung des Philosophen zum Ausdruck. Indem er nachweist, daß die beiden bisherigen Perioden der menschlichen Geschichte eine starke Einseitigkeit an den Tag legten und einen bereits überwundenen Standpunkt darstellten, kiindet er in seinem Hauptwerke „Vater unser“ den Anbruch der dritten und letzten Epoche an, welche als Synthese die diesseitige 5 des klassischen Altertums mit dem christlichen Streben nach dem allein wertvollen Leben im Jenseits zu einem harmonischen Ganzen vereinigt und auf diese Weise Gottes Reich auf Erden schafft. Im Zeichen dieser Epoche setzt die Mission der Slaven ein, welche die Führung der Menschheit auf dem Vege zu dieser glück- lichen Zukunft übernehmen sollen.

Die Berechtigung zu dieser Auffassung sieht Cieszkowski in der besonderen Eignung der Slaven, diese Mission zu erfüllen, nadidem in ihrem Charakter, in ihrem ganzen Vesen jene Haupteigenschaften vertreten sind, welche den beiden früheren Perioden den Stempel ihrer Eigenart aufgedrückt haben. Der Weltanschauung des Alter- tums entnahmen die Slaven die Affirmation des diesseitigen Lebens, gleichzeitig aber und trotz dieser positiven Einstellung gingen sie einen tiefen, innigen Kontakt mit der christlichen Kultur ein. Diese im Verhältnis zu den beiden früheren Epochen keinesfalls negierende Position sichert den Slaven den Vorrang bei der Besetzung einer dominierenden Rolle in der dritten Epoche.

Der Messianismus der Slaven drückt sich selbstverständlich auch in ihrem Verhiltnis zu anderen europäischen Stimmen aus, welches Problem von Krasiński in seinem Traktat: „Über die Stellung Polens aus menschlichen und göttlichen Riicksichten“ behandelt wurde. Die historische Eigenart der Slaven sucht Krasinski durch ihre Zu- sammenstellung mit dem romanischen Stamme und seinen Haupt- vertretern, den Franzosen, und den Germanen plastisch zu unter- streichen. Die Franzosen haben noch immer den lebendigen geistigen Zusammenhang mit der antiken Welt aufrechterhalten, indem sie ihren politischen und praktischen Sinn sowie eine Vorliebe für praktische Schönheit von ihr übernahmen. Die Germanen lehnen die sinnliche Mannigfaltigkeit in der Wirklichkeit ab und streben nur nach idealer Einheit. Den Ausdruck dieses Strebens bildet die „idealistischeste, die abstrakteste, die am feinsten ausgearbeitete Philosophie“ der Welt. Die Aufgabe der Slaven besteht nun darin, diese divergierenden Richtungen zu einer neuen und höheren Syn-

ese zu vereinigen. Ohne in den einseitigen Realismus der Fran- zosen oder den ebenfalls einseitigen Idealismus der Deutschen Pas zu verfallen, wandten die Slaven ihre größte Aufmerksam-

it der Pflege von zwei Haupteigenschaften ihrer Psyche zu, und zwar der tieten Religiosität, welche in dem Glauben an den fort- währenden Verkehr der überirdischen und der irdischen Kräfte wurzelt und des Gefühls der allgemeinmenschlichen Bruderschaft, welches nach außenhin sich in der uneingeschränkten Nächstenliebe

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manifestiert. Die Liebe zu Gott und die Liebe zum Menschen kann man als den ewigen Sinn ihres Lebens betrachten. Im Vergleich mit dem politischen Stamm der Romanen und dem philosophischen Stamm der Germanen bilden die Slaven ım vollsten Sinne des Wortes den religiösen Stamm, welcher das Sein mit der Idee, das irdische Gesetz mit dem göttlichen Gesetz, die Politik mit der christ- lichen Liebe in einer vollkommenen Synthese vereinigt.“

Denselben Gedankenkomplex finden wir auch bei einer ganzen Reihe polnischer Schriftsteller, wie bei Alexander Tyszynski in seinem „Historischen Abriß der Bildung der Slaven“, weiter bei Karl Libelt und bei Trentowski. Eine gesonderte Stellung unter den polnischen Messianisten nimmt der große Theoretiker Hoene- Wronski’) ein, welchem das Verdienst gebührt, den Terminus „Messianismus“ eingeführt zu haben. In seiner Proklamation vom Jahre 1848 verkündet er der Velt, daß die Mission der Slaven in der endgültigen Erkenntnis der absoluten Vahrheit liege. Die ein- zige Möglichkeit der Erschließung dieser Wahrheit bildet die messianistische Doktrin, eine definitive Union der absoluten Philo- sophie mit der absoluten Religion oder die seit Jahrtausenden von

ristus selbst angekündigte Ankunft des Paraklets oder des Geistes der Wahrheit. Die westeuropäische Welt, welche von dem Glauben an die Unmöglichkeit, die absolute Wahrheit zu erkennen, durch- drungen ıst, war nicht imstande, die messianistische Idee auf- zunehmen, zu ihrer Übernahme und weiteren Entwicklung sind nur urwüchsige Völker berufen, deren Gefühle, von dem alles zersetzenden Kritizismus noch nicht berührt, die Fähigkeit besitzen, das Wort Gottes zu erfassen. Diesen Bedingungen entsprechen aber am besten die mächtigen, dabei tief religiös veranlagten slavischen Völker, deren Aufgabe durch Erschließung des inneren Inhaltes (Wesens) des Absoluten (l’essence intime de l’Absolu) erfüllt werden wird. Diese Völker bewirken dann eine gänzliche Reform des menschlichen Wissens (la reforme absolue du savoir humain) und ermöglichen auf diese Weise die weitere Entwicklung der Menschheit, welche bis nun durch die destruktive Philosophie des Westens aufgehalten wurde. Die messianistische Doktrin, formuliert in den Werken Hoene- Wronskis, bildet für das Slaventum den sichersten Beweis seiner Mission, welche in der Realisierung messianistischer Prinzipien ihre Vollendung findet. Hier wurde der Messianismus der Slaven nicht aus dem ihnen eigenen Mystizismus abgeleitet, sondern vom Stand- punkte des philosophischen Systems Hoene-Wronskis als eine ge- schichtliche Notwendigkeit begründet.

Von dem historiosophischen Messianismus Cieszkowskis, von dem philosophisch fundierten Messianismus Hoene-Wronskis gehen

) Z. Klarneröwna: Stowianofilstwo w literaturze polskiej lat 1800 do 1848. Warszawa 1926. Rozdziat X.

) Hoene-Wronski: 1. „Prodromme du Messianisme.“ 2. „Metapolityka messjaniczna.“ 3. ,Apodyktyka messjaniczne.“ 4. „Prolegomena do Messja- nizmu. 5. „Adresse aux nation slaves sur les destinées du monde.“ Paris 1848.

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wir zu der rein religiösen Begründung der messianistischen Idee über, welche in der polnischen Literatur ihre stärkste Formulierung bei solchen Schriftstellern, wie Jahski,") Krélikowski,’) hauptsächlich aber bei Andreas Towianski®) und unter seinem unmittelbaren Einfluß bei dem großen Genius der polnischen Nation, bei Adam Mickiewicz gefunden hat. Im Lichte der Lehre Towianskis bildet den Grund der menschhchen Seele das religiöse Gefühl, welches als Quelle der inneren Glut den unmittelbaren Verkehr mit Gott vermittelt. Von allen europäischen Völkern haben bloß die Slaven diesen wahren Schatz der Seele in vollkommener Reinheit bewahrt, und zwar weniger ihre höheren intellektuellen Kreise, welche im Verkehr mit dem verdorbenen Europa ihre ursprüngliche Reinheit einbüßten, als das einfache, seit Jahrhunderten unterdrückte und verfolgte Volk. Dieses Volk ist natürlich nicht imstande, mit anderen europäischen, intellektuell höher stehenden Nationen auf dem Wege des Pro- gresses gleichen Schritt zu halten oder gar zu wetteifern, dafür aber ist es berufen, das wahre religiöse Leben hier in dieser Welt zu fördern. Inzwischen hat sich Gott der in jahrhundertelanger Knecht- schaft darbenden Völker erbarmt und ihnen eine neue religiöse Offenbarung zuteil werden lassen, welche die heilige Offenbarung von Christus vervollständigen soll. Mit dieser neuen Offenbarung steht eine neue Epoche der Geschichte der Menschheit im Zu- sammenhang, in welcher es dem Slaventum vergönnt sein wird, die in den Tiefen seiner Psyche verborgenen Qualitäten zur vollen Ent- faltung zu bringen.

Unter dem ausgesprochenen Einfluß dieser Lehre stand Adam Mickiewicz zur Zeit, als er im „College de France“ seine Vor- lesungen über slavische Literaturen hielt. Der große Dichter, gänz- lich von der tiefen Reiigiositit durchdrungen, welche vom Meister Towianski auf ihn hinüberzuströmen schien, sieht die Bestimmung der Slaven in der Herbeiführung einer neuen höheren Phase des Christentums auf Erden, in der Überwindung der passiven Religio- sität des Mittelalters und in der Festigung der neuen Kirche des triumphierenden Christus. Ihre Befähigung zur Erfüllung dieser Aufgabe glaubt er auf ganz originelle Art und Weise begründen zu können, indem er die Geburtsstunde der Slaven zum historischen Dasein ziemlich spät ansetzt und behauptet, daß sie zu allerletzt das Land der Geister verließen und daher noch ganz frische Erinnerungen an dieses Dasein behielten. Ohne auf die Details dieser messia- nistischen Auffassung näher einzugehen, möchte ich nur kurz be- tonen, daß in dieser Gruppe polnischer Messianisten die religiösen Momente beinahe gänzlich das Feld beherrschen und andere Töne nur als Begleitung dieses einen mächtigen Grundtons ganz schwach mitklingen.

) Bogdan Jański: „Polska w związku z powszechną pracą chrzescijanstwa.“ 7) „Polska Chrystusowa“, pismo poświęcone zasadom społecznym.

Paryż 1942. ) List Chodźki do cesarza Mikołaja I, złożony przez Towianskiego. 227

Im Lichte der polnischen messianistischen Literatur erscheint die Mission der Slaven mittels der dialektischen Methode aus historio- sophischen und rein philosophischen Konstruktionen hergeleitet oder aber von einzelnen durch Gott selbst inspirierten Individuen mit prophetischer Überzeugungskraft a priori der Menschheit verkündet. Es muß aber schon jetzt mit vollem Nachdruck hervorgehoben werden, daß auch die philosophisch fundierte Richtung des lachen Messianismus nur vielleicht mit Ausnahme von Hoene-WroAski einen ausgesprochen religiösen Geist atmet. Wir können uns über- zeugen, daß z. B. bei Cieszkowskı trotz seiner dialektischen Aus- gestaltung der messianistischen Theorie die tieferen Wurzeln dieser philosophischen Spekulationen in seiner Religiosität liegen, was nach außenhin bis zu einem gewissen Grade in der Betitelung und Kon- struktion seines Hauptwerkes nach den Worten des Gebetes „Vater unser“ deutlich genug zum Ausdruck kommt. Die Genesis aller messianistischen Systeme der polnischen Romantiker wurzelte im tiefen religiösen Glauben, welcher den Unterbau für die erst darauf ruhende historiosophische Auffassung, für die Interpretation der geschicht- lichen Mission des Slaventums bildet; nur so ist es zu erklären, daß diese im Irrationalen des religiösen Pathos wurzelnde Auffassung im krassesten Widerspruche mit der Wirklichkeit stand und sich trotz- dem von den sonst zwingenden Argumenten dieser Wirklichkeit weder zur Aufgabe noch zur Anderung ihres Standpunktes ver- leiten ließ.

Der Messianismus der Slaven tritt uns noch in einer ganz speziellen Form entgegen, welche bei den Polen im 19. Jahrhundert nach den schweren Schicksalsschlägen der Nation günstige Aufnahme fand und jetzt wieder in der neuesten russischen Literatur, auch durch eine nationale Katastrophe verursacht, eine gewisse Rolle zu spielen beginnt.) Nach dieser Auffasung war Polen nur das Opfer für die Sünden der Menschheit, welches gebracht werden mußte, um eine Erlösung derselben herbeizuführen. Mickiewicz behauptet nämlich in seinen „Ksiegi Narodu“, daß die Menschheit bereits zweimal sich zur Vergewaltigung des göttlichen Willens verstiegen hat, und zwar einmal, da sie Christus ans Kreuz schlug und ein anderes Mal, da sie die politische Selbständigkeit Polens vernichtete. Aber wie auf die Tragödie von Golgatha nicht nur die Auferstehung Christi, sondern auch die Auferstehung des menschlichen Geschlechtes fol wird auch der politische Tod Polens sowohl seine baldige Wiederaufrich- tung, wie auch die Erneuerung der Menschheit nach sich ziehen. Diese ausgeprägteste, wenn auch eng begrenzte Auffassung des Messianismus, nach welcher ein Volk die Rolle des Erlösers über- nimmt, entspringt beinahe ganz dem religiösen Vorstellungs- komplexe, obzwar sie in ihren praktischen Auswirkungen auch nationalen und staatlichen Interessen dient. Denn wie für das Volk

2) „Eurasien“ eine Wochenschrift über Fragen der Kultur und Politik. Paris. Nr. 1: Karsavin: Über den Sinn der Revolution.

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Israel die Weissagungen über das Kommen des Erlösers Messias den mächtigen Antrieb zum Festhalten an dem theokratischen Prinzip und eine reiche Quelle des Trostes in den Jahren der Not und des Leidens bildeten, so war damals der Messianismus für die polnische Nation und jetzt teilweise für die Russen ebenfalls eine gewaltige Stütze in den Zeiten des nationalen Ungliicks. Diese in religiösen Gefühlen wurzelnde Idee bekommt unter dem Druck der konkreten Wirklichkeit eine andere, eine neue Färbung.

Der russische Messianismus ist in der Literatur unter dem Namen des Slavophilentums bekannt, welches die uns schon bekannten Ideen einer besonderen Bestimmung der Slaven in der Entwicklungs- geschichte der Menschheit enthielt. Um die ganze Mannigfaltigkeit der mit diesen Konstruktionen zusammenhängenden Probleme besser verstehen zu können, müssen wir uns vor Augen halten, daß jede Form des Messianismus eine Art Revolution, eine Verkündung neuer Ideen sowie die Lösung der im Mittelpunkt des historischen Interesses stehenden Fragen mit sich brachte. Der Messianismus konnte daher keinesfalls in der Sphäre des rein abstrakten Denkens bleiben, sondern mußte notwendigerweise in engster Beziehung zum konkreten Leben stehen. Slavophile Konstruktionen sind daher eine in den Tiefen des religiösen Gefühls fußende Zusammenfassung der aktuellen Fragen des Tages, in welchen die nationalen Kontroversen, die sozialen Konflikte innerhalb des Slaventums sich wie in einem Spiegel abbilden. Die enge Beziehung dieser Spekulationen zum konkreten Leben des Augenblicks bilder auch einen der Gründe, weshalb der Messianismus vornehmlich unter den Slaven eine so starke Verbreitung fand, da die Umsetzung der Theorie in die Praxis, die Konkretisierung des Denkens zu den grundlegenden Eigen- schaften der slavischen Psyche gehört.

Die slavophilen Ideen vertrat in Rußland hauptsächlich Chom- jakov, ein Mann von großer Bildung und Willenskraft, weicher an die providentielle Sendung seines Vaterlandes glaubte. Als offizieller Verkünder dieser Richtung klammerte er sich mit allen Kräften seiner starken Individualität an die Tradition und behütete mit schonender Sorgfalt das von der Vergangenheit überlieferte Erbe. Diese Gefühle bildeten die Grundlage seines ganzen Philosophierens und fanden in einer sich schrankenlos hingebenden Liebe zu der allein seligmachenden griechisch-orthodoxen Kirche seinen äußeren Ausdruk. Religion und Vaterland sind in seinem Bewußtsein so eng miteinander verflochten, seine Nationalgefühle wurzeln so tief in seinem religiösen Bewußtsein, daß eine Trennung dieser beiden Grundelemente seiner Weltanschauung ein Ding der Unmöglichkeit ist. Den Inhalt seiner Religiosität bildet die bereits erwähnte, schrankenlos hingebende Liebe zur Orthodoxie, die er wieder als sicheres Unterpfand der künftigen Größe seines Vaterlandes hielt.

Die erste Darstellung der Lehre der Slavophilen finden wir in dem von Ivan Kirejevskii unter dem Ttiel: „Übersicht über den gegenwärtigen Zustand der Literatur“ veröffentlichten Artikel

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(1845).*°) Der Verfasser übt scharfe Kritik an dem geistigen Inhalt des westeuropäischen Lebens, dem er Überzeugungsschwäche und innere Entzweiung vorwirft. Die Schuld daran trägt der in West- europa übermächtige Rationalismus, welcher alles für bedeurungslos und nichtig erklärt, was sich in den strengen Regeln der Vernunft nicht ausdrücken läßt. Nachdem die Herrschaft des Rationalismus im heutigen Moment ihren Höhepunkt überschritten hat und der Mensch zur Überzeugung gelangt ist, daß der Verstand allein nicht imstande ist, die tieferen Bedürfnisse seiner Seele zu befriedigen, sucht man nach neuen Prinzipien, welche die weitere Entwicklung der Menschheit ermöglichen würden. Der Weg der Rettung aus dieser aussichtslosen Situation führt aber nach dem Osten, nach Rug- land, welches nicht blindlings die westlichen Muster nachgeahmt, sondern auf Grund der Eigenheiten seiner psychischen Struktur sich eigene Prinzipien des Lebens geschaffen hat. Das Hauptproblem der Gegenwart, dem wir unsere ganze Aufmerksamkeit zuwenden sollen, da von seiner richtigen Lösung die Zukunft des menschlichen Ge- ner abhängt, ist deshalb das Verhältnis des Westens zum sten.

Gerade diese Frage des Verhältnisses zwischen dem Osten und dem Westen behandelt Chomjakov nur in einer weiteren Form einer geschichtsphilosophischen Studie, in seinen nach dem Tode des Verfassers erst erschienenen „Bemerkungen über die Weltgeschichte“. Zur Bildung der neuzeitlichen Staaten Westeuropas trugen nach der Ansicht Chomjakovs drei Faktoren bei, deren strenge Analyse er durchzuführen sich bemüht, und zwar: Rom, das Christentum und die Barbaren. „Rom der erste und wichtigste Faktor hat dem Abendlande eine neue Religion, die Religion eines Sozialkontraktes gegeben, welcher für ein unantastbares Heiligtum, das keiner weiteren Bestätigung von draußen bedurfte, galt, eine Religion des Gesetzes, und vor diesem Heiligtum, das aller höheren Aufgaben und Ziele bar war, aber das materielle Wohl sicherte, neigte die Welt ihr Haupt, nachdem sie einen anderen, edleren und ren Glauben verloren hatte. Das Christentum, der zweite Faktor in der staat- lichen und kulturellen Entwicklung Westeuropas, konnte dem Westen keine neuen geistigen Werte bringen, nachdem es von dem letzteren falsch, im Sinne der römischen Staatsraison begriffen wurde. Dies hatte zur Folge, daß die Kirche unter der starken Abhängigkeit vom Staate litt; später strebte sie selbst eine Machtstellung an und wurde nach langen Kämpfen, welche ihre Organisationskraft auf die Probe stellten, zum selbständigen Staate mit einem uneingeschränkten Herr- scher an der Spitze und den Geistlichen als verläßlichen Organen in seiner Hand. Indessen liegt das Ideal der Menschheit nicht in der Verstaatlichung der Kirche, sondern in der Verkirchlichung des Staates, wenn man sich so ausdrücken darf, also in dem Zustande, in

10) Auch im Briefe I. Kirejevskijs an Grafen E. Komarovskij „Ober den Charakter der Bildung Europas und ihr Verhältnis zur Bildung Rußlands“ (1862).

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welchem der Staat die Prinzipien der Kirche zu seinen Grundpfeilern macht. Die Barbaren schließlich als der dritte Faktor haben wohl mit physischer Gewalt das römische Imperium bezwungen, unterlagen aber selbst der kulturellen. und zivilisatorischen Macht des alten Rom und wurden von seinem Geiste ganz beherrscht. Sie haben zwar große Taten vollbracht, aber die Entzweiung zwischen Staat und Kirche, zwischen Staat und Volk konnten sie nicht aus der Welt schaffen.

Den Gegensatz zum Westen, welcher durch die romanisch-ger- manischen Völker repräsentiert wird, bildet der slavische Osten. Ähnlich wie die polnischen Messianisten beruft sich auch Chomjakov auf das Zeugnis von Herder und wiederholt die schon von den alten Schriftstellern beglaubigte Tatsache, daß die Slaven ein arbeitsames, freiheitsliebendes, 1 und der Musik ergebenes Volk seien. Nachdem sie außerdem in erster Linie sich dem Ackerbau widmeten und widmen und das Kriegsge werbe wenig und nur im Notfalle ausübten, bildete sich bei hen eine demokratische Ge- sinnung aus, die ihnen für die Zukunft den Vorrang unter anderen europäischen Nationen garantiert.

„Wenn die Verbindung der Völker, wenn das Wahre und Gute kein leerer Wahn sind, sondern eine lebendige, niemals absterbende Kraft, so sind die Keime der künftigen Kultur nicht bei dem aristo- kratischen und eroberungssüchtigen germanischen Stamme, sondern bei den Slaven zu suchen. Der Slave als Landmann und Demokrat hat ehrenvolle Aufgaben und eine glänzende Zukunft vor sich.“ Als konkrete Realisierung dieses demokratischen Prinzips wurde von den russischen Slavophilen auf die gemeinsame Bodenverwaltung im russischen Gemeindewesen hingewiesen.

Aber geradeso, wie seinerzeit die polnischen Denker im Rahmen des polnischen Messianismus eine Sonderstellung für ihr Volk bean-

ruchten, trachtete auch Chomjakov den ersten Platz innerhalb des Slaventums für die Russen zu reservieren. Denn die Westslaven waren viel zu lange dem unmittelbaren Einfluß der europäischen Kultur- sphäre ausgesetzt, weshalb sie die wesentlichen Eigenschaften ihrer Psyche aufgeben und sich den geistigen Strömungen des Westens an- sen mußten. Nur die Ostslaven, vor allem aber die Russen onnten mit Hilfe der griechisch-orthodoxen Kirche und der byzan- tinischen Kultur diesen Einflüssen einen entsprechenden Widerstand entgegensetzen und auf diese Weise ihr innerstes Wesen unverändert bewahren. Die Pflege dieser von der Zivilisation unverdorbenen Eigenheiten der slavischen Seele wurde den Russen durch die griechisch- orthodoxe Religion ermöglicht, welche im Vergleich mit dér katho- lischen oder protestantischen Konfession als die einzig wahre Religion und die östliche Kirche als die „Kirche schlechthin“ von Chomjakov bezeichnet wird.

Diese, das ganze Problem unter dem Gesichtswinkel religiös- kirchlicher Interessen behandelnden Ausführungen Chomjakovs wurden in historischer Hinsicht von Konstantin Aksakov ergänzt, welcher die Geschichte Rußlands (inbegriffen auch die Geschichte des

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Kiever Staates) als Realisierung jener Prinzipien darstellt, die von Herder und nach seinem Beispiel von allen Messianisten den Slaven zugeschrieben wurden.

Auch die Kunst, hauptsächlich die schöne Literatur stellte sich in den Dienst der mit der Zeit populär gewordenen Ansichten Chom- jakovs, die in Dostojevskij einen würdigen Interpreten fanden. In seinem Roman „Brüder Karamazov“ treten uns der slavophilen Richtung ähnliche Tendenzen, nur mit der Genialität eines großen Meisters dargestellt, ganz deutlich entgegen.

Auch eine Art Messianismus, nur revolutionären Charakters, schuf eine dem Slavophilentum entgegengesetzte Richtung der Westler mit Aleksander Herzen an der Spitze. Scheinbar jeglichen religiösen Gefühls bar, glaubte Herzen weder an Gott, noch an ein Jenseits und schien sogar nicht anzunehmen, daß andere aufrichtig daran glauben können. Aber Religiosität im Sinne einer GE Disposition, glauben zu wollen, fehlte ihm keinesfalls, was ihn unter anderem trotz seiner westlichen Orientierung zu einem echt russischen Denker stempelt. Nachdem er ohne Glauben nicht leben konnte, klammerte er sich daran, was ihm in Rußland besonders wertvoll erschien, fest und zwar an die russische Gemeinde mit ihren kommunistischen Prin- zipien, und redete sich selbst ein, daß darin die von seinem Vaterlande der Menschheit gebrachte Rettung liegen müsse. Er glaubt an die Ver- wirklichung sozialistischer Ideale, glaubt an die diesbezügliche Mission seines Volkes und dieser Glaube wurzelt in seiner von ihm selbst stark bekämpften Religiosität. Im Gegensatz zur Lehre der Slavo- philen, welche letzten Endes von der Orthodoxie als der russisch- nationalen Kirche und von ihrem Haupt und Repräsentanten, dem Zaren die Erlösung der Menschheit erhofften, setzt Herzen seine ganze Hoffnung auf die russische Revolution und ihren Hauptträger, den Bauer. In dieser messianistischen Anwandlung Herzens ist die Tat- sache interessant, daß Herzen anfangs vom Westen stark angezogen, mit Begeisterung den russischen Boden verließ, um jedoch später nach schweren Enttäuschungen und nach einer schonungslosen und ver- nichtenden Kritik Europas, die er in seinem Buche „Vom anderen Ufer“ gab, sein geistiges Auge wieder gegen Osten zu richten. Zu diesem Resultate gelangte Herzen auf dem Wege des gänzlichen Anarchismus und Nihilismus, welcher später in vielleicht nur noch krasserer Form bei Tolstoj tonangebend ist. Die Zusammenstellung dieser zwei großen Russen bringt uns dem Gedanken nahe, daß die tiefere Quelle der revolutionären Stimmung und des Messianismus Herzens das nach außen hin sich negativ offenbarende religiöse Pathos gewesen ist.

Die slavophile Bewegung fand einen gefährlichen Gegner und einen rücksichtslosen Kritiker in der Person des bedeutendsten russi- schen Philosophen und Denkers des 19. Jahrhunderts, Vladimir Solovjev. Der frühere ziemlich scharfe Kampf zwischen Slavophilen und Westlern finder ın der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neue Repräsentanten in den Personen des allgemein bekannten Denkers

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Tolstoj und des weniger bekannten aber mindestens den gleichen Ruhm verdienenden Philosophen Solovjev. Wenn auch zwischen ihnen gewaltige Differenzen bestehen, so stimmen sie beide in einer Sache vollkommen überein, und zwar in der Überzeugung, daß die religiöse Frage, deren Beantwortung sie ihre Kräfte widmen, für den Menschen von der allergrößten Bedeutung sei. Und auf diesem all- gemeinen Hintergrunde der religiösen Interessen erscheint in ent- sprechender Beleuchtung der Messianismus Solovjevs, dessen Haupt- motive wir dem Vortrag über die russische Idee“) entnehmen. Die Frage, welche hier im Vordergrunde seiner scharfsinnigen Er- wägungen steht, ist die nach dem Sinn des historischen Daseins Ruß- lands. Trotz seiner kritischen Einstellung seinem Vaterlande gegen- über begcistert er sich doch für dieses Riesenreich, welches während der letzten zwei Jahrhunderte mit größerem oder geringerem Erfolg in die Schicksale Europas einzugreifen versuchte; er fragt nach dem idealen Prinzip, welches diesen Staatskörper beseelt, fragt nach dem neuen Vorte, welches das russische Volk der Menschheit zu ver- künden habe. Die Beantwortung dieser Frage sucht Solovjev in der ewigen Wahrheit der Religion. „Denn die Idee einer Nation ist nicht das, was sie selbst von sich denkt in der Zeit, sondern das, was Gott von ihr denkt in der Ewigkeit.“ Es ist hier ungemein wichtig, die Tatsache zu unterstreichen, daß gerade der Messianismus Solovjevs mit der Religion in engster Verbindung steht. Er interessiert sich nur dafür, was Rußland zu tun hat im Namen des christlichen Prinzips, welches es sein eigen nennt und was es der ganzen christlichen Welt bringen kann, der es angehört. Als letztes Ziel, welches im Einvernehmen mit anderen Nationen angestrebt werden soll, erachtet Solovjev die Einheit des menschlichen Ge- schlechtes, deren Grundlage die christliche Kirche bildet. Die russische Idee kann nach Solovjev nichts anderes sein, als eine bestimmte Form der christlichen Idee, welche erst dann mit voller Klarheit erfaßt wird, wenn man den wahren Sinn des Christentums begreift. Und dieser wahre Sinn des Christentums ist die Dreieinigkeit auf Erden, der harmonische Zusammenschluß der Kirche, des Staates und der Ge- sellschaft zu einer großen Einheit. Die russische Idee als ein Aspekt der allgemein christlichen Idee äußert sich nach außen hin ın dem Bestreben, das Bild der göttlichen Dreieinigkeit hier auf Erden zu realisieren.

Nur der Vollständigkeit halber möchte ich noch erwähnen, daß Solovjev einen Vorläufer und Gesinnungsgenossen in P. Tschaadajeff rt hatte, welcher seine Propaganda für die Union mit der römisch-

atholischen Kirche damit begründete, daß Rußland nur nach An- eignung der Errungenschaften der westlich-katholischen Kultur im- stande sein wird, die unfaßbare geistige Tat, zu welcher es berufen ist, zu vollbringen und zwar die Lösung aller in Europa bestehenden

11) „La Russie et l’Eglise Universelle“, Paris 1888; außerdem „Geschichte und Zukunft der Theokratie.“

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Streitfragen zu geben. Ein ausgesprochener Messianismus, welcher hier mit einem tiefen Mystizismus Hand in Hand geht.

Nun bleiben diese Gedanken nicht auf einzelne Persönlichkeiten oder ihren größeren oder geringeren Anhang beschränkt; sowohl in Rußland wie auch in Polen greifen diese Ideen auf weitere Bevölke- rungsschichten, hauptsächlich die der Intelligenz über, erleiden da- durch eine Verflachung, werden aber auf diese Veise zum Gemein- gut der ganzen Nation.

Auch bei anderen slavischen Völkern fand der Messianismus günstige Entwicklungsmöglichkeiten, wenn auch keine so originellen und bedeutenden Vertreter wie bei den Russen und Polen. Eine Er- scheinung mit messianistischem Unterton ist der sogenannte Illy- rismus, eine national- politische Bewegung unter den Südslaven, welche, durch den kroatischen Schriftsteller Ljudovit Gaj um die Mitte des vorigen Jahrhunderts (1835) hervorgerufen, dem ganzen siidslavischen Stamme des illyrischen Dreiecks eine gemeinsame Sprache zu geben versuchte. Viel weiter ausgreifende messianistische Tendenzen zei unter den Ukrainern mehr weniger um dieselbe Zeit (1846) die Cyrillo- Methodische Bruderschaft in Kiev, welche außer der nationalen Viedergeburt des ukrainischen Volkes, außer der Organisation des ganzen Slaventums auf föderativen Prinzipien allgemein- menschliche und soziale Ideale in ihre Statuten aufnahm. Der tschechische Messi- anismus mit Masaryk als seinem Repräsentanten an der Spitze ist nur der Erneuerer derjenigen Ideen, welche das tschechische Volk bereits vor Jahrhunderten beseelten und der Menschheit neue Horizonte eröffneten. In der Reformationsbe wegung, welche mit dem Ende des 14. Jahrhunderts einsetzte, im Kample fi die Freiheit des Denkens und der Überzeugung übernimmt das tschechische Volk die Führer- stelle. Ihm gebührt der Ruhm, zum ersten Male für das neue Ideal des religiös und sozial freieren Menschen den Kampf gegen die bis nun unbezwungene Autorität der Kirche mit Erfolg aufgenommen zu haben. Dieser Kampf ist jedoch nicht gegen die Religion gerichtet, denn die religiöse Weltanschauung, die religiöse Gesinnung und Ge- fühlsweise bleiben auch weiter die eigentlichen Grundlagen der tschechischen literarischen Produktion. Matéj von Janov, Jan Žižka von Trocnov, Jan Hus, Jakübek von Mies, Peter Chelticky und viele andere aus welchem Lager sie auch kommen mögen —, sie atmen alle tief religiösen Geist. Im Hussitismus nun und in den Gemeinde- organisationen der tschechischen Brüder lebt, wenn vielleicht nicht mit vollem Bewußtsein, die messianistische Idee, welche in dem festen Glauben ihren Ausdruck findet, daß das tschechische Volk, das oft für heilig erklärt wird, von Gott ausgewählt worden ist, um an der Ver- wirklichung eines neuen christlichen Lebensideals zu arbeiten. Diese Ideen waren im tschechischen Volke bis zur Hälfte des 17. Jahr- hunderts, d. i. bis zur Zeit der ärgsten Reaktion nach der Schlacht am Weißen Berge sehr lebendig, verstummten aber dann immer mehr, en 5 der neuesten Zeit in Masaryk und seiner Schule wieder auf- zuleben.

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Die Zusammenstellung der Erfolge, welche der Messianismus unter den einzelnen slavischen Völkern sowie auch im übrigen Europa zu verzeichnen hatte, wirft ganz unwillkürlich grelles Licht auf einen

enhang kausaler Natur, welcher zwischen der Idee der pro- videntiellen Send eines Volkes und seiner Staatsidee besteht. Messianismus als Glaube an eine besondere höhere Mission des eigenen Volkes tritt in erster Linie bei Nationen auf, welche sowohl in der Vergangenheit wie auch in der Gegenwart ihr eigenes Staats- leben führten, oder aber auch bei Nationen, welche vor kurzem zwar ihre staatliche Selbständigkeit einbüßten, aber den zur Wieder- herstellung des verlorenen Vaterlandes strebenden Geist in voller Kraft und Energie bewahrten. Der Messianismus der Deutschen während der Napoleonischen Kriege, der Italiener bis zum Jahre 1859, der Polen nach den Teilungen und zwischen den beiden Insur- rektionen, der jetzt einsetzende Messianismus in der sogenannten eurasischen Richtung der russischen Emigration, das Verstummen messianistischer Ideen bei den Tschechen nach der staatlichen Kata- strophe des Jahres 1621 alle diese und noch andere Tatsachen bestätigen die frühere Behauptung in vollem Umfange.

Mich interessiert aber eine andere Seite dieses Phänomens und zwar die ziemlich verbreitete Ansicht, daß der Messianismus im all- gemeinen und der slavische Messianismus im besonderen trotz seiner Vermengung mit religiösen Vorstellungen und Elementen einem anderen Gedankenkomplex entstammt und seine Quellen in erster Linie in der N des erwachenden National ins zu suchen sind. Der tiefere Grund der Verbannung der messianistischen Idee

gewöhnlich als Produkt der polnischen Kultur angesprochen wird, Eefühl als Hauptelement der nationalen

lehrtenwelt populär gemacht und fand ihre Anhänger nicht nur im Slaventum sondern auch im übrigen Europa, umsomehr, da dieser Ansichr sich der sonst so kritische und tiefe Denker Solovjev anschloß. Indem nu. Solovjev dieser Meinung beipflichtet, widerspricht er in

erster Linie sich selbst, denn sein Messianismus ist keinesfalls politisch oder nationalistisch, sondern durch und durch religös fundiert.

Im Gegensatz zu Solovjev und zu der allgemeinen Auffassung erlaube ich mir die Meinung auszusprechen, daß der Messianismus trotz des vielleicht Borger d äußeren Scheins in dem bei allen Slaven vorherrschenden religiösen Gefühl tief verankert ist, und nur in seinen Auswirkungen nicht so sehr mit dem Nationalismus, als eher mit der Staatsidee, mit dem Bewußtsein von der unumgänglichen Notwendigkeit der eigenen Staatlichkeit eine innige Verquickung eingeht, was seinen wirklichen Charakter in einem anderen Lichte erscheinen läßt. Was die Religiosität als Charaktereigenschaft der Ostslaven allein anbelangt, so muß mit vollem Nachdruck hervor- gehoben werden, daß das religiöse Gefühl und noch dazu in großer Potenz nicht nur bei den Russen und Ukrainern, also den Ostslaven, sondern nicht weniger stark bei den Westslaven, also den Polen und Tschechen, den Hauptbestandteil der national-psychischen Struktur bildet. Es ist überhaupt ganz zwecklos, von diesem Standpunkte aus eine Differenzierung der Slaven in eine westliche und östliche Gruppe vorzunehmen, nachdem die Grundlagen des psychischen Le aller Slaven gleiche Züge aufweisen. Man kann natürlich von ver- schiedenen Einflüssen sprechen, unter welchen die einzelnen slavischen Völker gestanden sind, aber in diesem Falle werden wir nicht nur zwei, sondern mehrere Gruppen bekommen.

Diese Teilung in West- und Ostslaven ist seinerzeit aus politischen Gründen erfolgt, um auf diese Weise die nahe Verwandtschaft der Groß- und Kleinrussen zu beweisen und ihren Zusammenschluß zu einer großen russischen Nation organisch zu begründen. Heute ist der Traum der russischen Politiker aus den Zeiten vor dem Welt- kriege von den Ereignissen auf der Weltbühne weit überholt und die Wirklichkeit hat am besten seine Haltlosigkeit bewiesen. Auch die Arbeiten solcher Gelehrten, wie Smal-Stockyj auf dem Gebiete der Philologie, Scerbakivskyj in der Archäologie, Antonovyé in der Kunst- geschichte, soziologische Arbeiten von Starosolskyj u. a. lassen keinen Zweifel mehr zu, daß zwischen den Russen und Ukrainern (abgesehen von rein äußerlichen Ähnlichkeiten, welche durch das Zusammenleben innerhalb des russischen Imperiums bedingt wären) absolut keine tieferen geistigen Zusammenhänge bestehen, wie zwischen Ukrainern und anderen slavischen Völkern wie Tschechen, Polen, Jugoslaven usw. Was nun die Religiosität anbelangt, so ist sie zweifellos allen slavischen Nationen ohne Ausnahme eigen. Zur Zeit des stärksten Aufblühens des Messianismus im 19. Jahrhundert wurde nur von der slavischen Psychik im allgemeinen ohne jedwede Differienzierung ge- sprochen und die Religiosität als ihr Hauptelement angenommen. Die diesbezüglichen Arbeiten ın erster Linie polnischer Verfasser, wie Maciejowski, Tyszynski, Olszewski, Cieszkowski, Mickiewicz, Krasinski u. a., unterstreichen alle als einen Hauptzug in der Menta- lität nicht nur der jetzigen Slaven, sondern auch der Urslaven das Uberwiegen des Emotionellen und die große Rolle der religiösen

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Gefühle in ihrem psychischen Leben. Die nähere Bekanntschaft mit der geistigen Produktion der Westslaven läßt uns auf den ersten Blick konstatieren, daß bei den Polen z. B., in ihrer Literatur, in ihrer Philosophie, ja sogar in ihrer Kunst das religiöse Moment domirierend wirkt. Die ganze polnische Nationalphilosophie trägt einen durch und durch religiösen Charakter. Nehmen wir als Bei- spiel die Philosophen Cieszkowski, Libelt, Hoene-Wroäski oder die großer Dichter Mickiewicz, Krasiński und Słowacki bei jedem von diesen Denkern ist ein ausgesprochen religiöser Einschlag ganz unverkennbar. Und bei den Tschechen, welche arı stärksten den westlichen Einflüssen ausgesetzt waren, wiederholt sich dieselbe Er- scheinung. Die markantesten Gestalten des geistigen Lebens bei den Tschechen, wie Hus, Chellickf, Komenský in der Vergangenheit und Masaryk als Vertreter des modernen Tschechentums verraten alle gleiche Tendenzen. Wenn man die Grundlagen der philosophischen Weltanschauung Masaryks untersucht, muß man zur Überzeugung kommen, daß darin der Religion eine grundlegende Bedeutung zu- fällt. Seine ganze Philosophie erschöpft sich in dem Streben nach der wahren Religion. Das sind Momente, welche jedem in die Augen fallen, der sich mit dem Gegenstande vertraut macht.

Auf die religiös-geistigen Quellen des Messianismus weisen auch jene Erscheinungsformen hin, in welchen er im Laufe der Geschichte aufgetreten ist. Der älteste Boden, welchem der Messianismus seinen Ursprung und seinen Namen verdankt, ist das Judentum, also die Traditionen jenes Volkes dessen ganzes Sein und Nichtsein auf der Religion aufgebaut war, dessen Hauptrolle in der Geschichte der Menschheit darin bestand, das bedeutendste religiöse System hervor- gebradit zu haben. Hier bei den Juden ist der Begriff des Messia- nismus mit religiösen Vorstellungen aufs engste verbunden. Wenn es in der Geschichtsphilosophie allgemein anerkannte Wahrheiten gibt, so muß man als solche die Behauptung betrachten, daß die ganze Bestimmung des jüdischen Volkes, der tiefere Sinn seines Daseins mit der messianistischen Idee, und in einer weiteren Bedeutung mit dem Christentum verbunden ist. In diesem Falle waren die Juden gegen ihren eigenen Willen Träger einer neuen Lehre, welche durch ihre Vermittlung mit der alten messianistischen Idee in Zusammenhang ge- bracht wurde.

Den Völkern des klassischen Altertums war eine solche Idee fremd, sıe fand und konnte auch keinen Resonanzboden finden, aus dem einfachen Grunde, weil die antiken Völkerschaften ihre Nach- barn, die Barbaren viel zu wenig kannten und an ihrem Schicksal ein zu geringes Interesse zeigten, um ihnen gegenüber eine Führer- rolle übernehmen zu wollen. Erst die christliche Religion mit ihrem stark ausgeprägten Begriff der Nächstenliebe war in erster Linie ge- eignet und berufen, auch den Messianismus in dieser Fassung aus- zubilden, daß ein auserkorenes Volk nicht nur bereit ist die ganze Menschheit einer besseren Zukunft entgegenzuführen, sondern auch im Notfalle gewisse Opfer dafür zu bringen. Auf diese Weise er-

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scheint uns der Messianismus als ein Phänomen der christlichen Nächstenliebe, übertragen auf die großen Komplexe der Nationen. Gerade so wie jeder Mensch verpflichtet ist für seinen Nächsten zu sorgen, ihn zu führen, wenn dies auch mit Opfern verbunden wäre, so besteht dieselbe Pflicht auch für ganze Völker. Also nicht das Gefühl der Überhebung, das Bewußtsein einer Ausnahmestellung anderen gegenüber, eine Form, welche infolge der menschlichen Schwächen historische Realität geworden ist, sondern die Liebe zum schwächeren, ärmeren Bruder und Filfsbereitschaft bis zum Aufersten sollte den Grundton für den Messianismus bilden. Daraus ist zu verstehen, daß dieser Gedankenkomplex nur mit der christ- lichen Religion im Zusammenhange steht, während andere religiöse Systeme keine ähnlichen Erscheinungen aufzuweisen haben. Daraus ist auch zu erklären, daß im Mittelalter trotz der starken Prä- ponderanz der christlichen Religion der Messianismus im vollen Sinne des Wortes nur schwer zu konstatieren ist, da in dieser Zeit die Nächstenliebe zur Pflicht eines jeden einzelnen Menschen gehörte und der Begriff der Nation als eines Kollektivs noch fehlte. Es gab nur eine Kirche mit den für sie geltenden Geboten. Spuren von Messianismus können wir wohl in der mittelalterlichen Philosophie konstatieren. Plotin aus der rgangszeit zum Mittelalter, Eriugena und der von ihm abhängige Meister Eckhardt weisen ähn- liche Gedanken auf. Auch während der Kreuzzüge findet die messianistische Idee im Sinne der Aufopferung für die Befreiung des heiligen Landes aus den Händen der Heiden ihre Realisierung. enge zum größten Aufschwung kommt der Messianismus eigent- ich erst im 19. Jahrhundert, also zur Zeit, da die Idee der Nation infolge der französischen Revolution lebendig wurde und die Nächstenliebe als religiöses Element sich vom Individuum auf ein ganzes Kollektiv übertrug. Jedoch nicht in ganz Europa konnte der Messianismus feste Wurzeln fassen; nur bei den Slaven mit ihrer Religiosität und ihrem Mystizismus erreichte er größere Verbreitung und wurde zu einer Art slavischer Religion, welche das geistige Leben dieser Völker bis zu den Träumen über die Weltrevolution in größerem oder geringerem Maße beherrscht.

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II MISCELLEN

SOPHIE KOVALEVSKIJ Von Helene Simon-Eckardt.

Am 15. Januar 1880 wäre Sophie Kovalevskij 80 Jahre alt geworden. Die en wissenschaftliche Welt hätte sie an diesem Tage mit Ehrungen überhäuft, ‚Frauen aller Länder sie als eine der ersten Vorkämpferinnen für Freiheit und Gleichberechtigung gepriesen, alle sozialistisch gesinnten Kreise Europas ihr für ihre Mitarbeit an der Verwirklichung der sozialistischen Idee gedankt. Sie selbst hätte alle Feierlichkeiten und Glückwünsche mit der schmerzlichen Resignation über sich ergehen lassen, mit der sie stets ihren äußeren Erfolgen gegenüberstand. Man begreift jene Frau nicht ganz, wenn man in ihr ein geistiges oder gar nur ein mathematisches Phänomen sieht man verkennt ihr Wesen, wenn man sie für eine bewußte Vertreterin der Frauenemanzipation hält. Es ist endlich an der Zeit, die Legenden zu zerstören, die durch die einseitige, allzu subjektiv geschriebene Biographie von Charlotte Leffler-Edgren und durch die romanhafte Darstellung Klara Hofers entstanden sind und die das Bild Sophie Kovalevskijs zum Teil ent- stellt und verdunkelt haben. Es sei verstattet, ihr Gedächtnis durch einige bisher unveröffentlichte Briefe und Erinnerungen zu erneuern, die Sophie Kovalevskijs Tochter und ihre Freundin Therese Gyldén liebenswürdigerweise zur Verfügung gestellt haben. Einige kurze biographische Notizen mögen die mitgeteilten Briefe

ie Kovalevskij hat in ihren leider nicht beendeten „Erinnerungen“ der besten für ihr Leben und ihre Persönlichkeit ihre Herkunft, Heimat und Kindheit eindringlich beschrieben. Ihr Vater, Ivan Sergeeviè Corvin-Krukovskij, war russischer Offizier und verheiratet mit Elena Pavlovna Baevskij, einer Enkelin des deutschen Astronomen v. Schubert.

Bald nach Sonjas Geburt ziehen Krukovskijs aufs Land. Der General über- nimmt selbst die Verwaltung seines Gutes Palibino im Gouvernement Vitebsk. In den ersten Jahren ist das Kind fast ausschließlich der Dienerschaft anvertraut, wächst also in unmittelbarer Nähe der Gesindestuben auf. Selten kommt es zu den Eltern hinauf. Doch oft genug, um schon früh die unüberbrückbare Kluft zwischen Oben und Unten, zwischen herrschender und dienender Klasse zu emp- finden. In der Einsamkeit, zu der Sonja bereits in der Kindheit durch ihre tiefe Empfänglichkeit und Leidensfähigkeit früh verurteilt ist, gibt ihr nur das Ver- wen in einem Reich heimlicher Träume und Phantasien Trost. Fünfjährig macht sie zum erstenmal Verse, zwölfjährig bedichtet sie einen „Beduinen und sein Pferd“ und „die Gefühle eines Seemanns, der nach Perlen taucht“. Seitdem zweifelt sie nicht mehr daran, daß sie zur Dichterin geboren ist.

Wer sind nun die ersten, die geliebten Vorbilder ihrer Jugend außer Ler- montov und Pulkin, deren Dichtungen sie schon früh heimlich liest? Näher als der Vater, dem sie scheue Verehrung entgegenbringt, 'näher als Onkel Peter Sergeevié, der ihr zuerst die geheimnisvolle Wissenschaft der Mathematik aus der Ferne zeigt, steht ihr die sechs Jahre ältere Schwester: die schöne, vielgeliebte, begabte Anjuta. Diese, kaum siebzehnjährig, hat den Mut, ohne Wissen der Eltern eine selbstverfaßte Novelle an 3 zu schicken, mit dem Erfolg, daß sie in der „Epoka‘ veröffentlicht wird. Sonja berichtet in ihren Erinnerungen über den Sturm, den dieses Ereignis im Hause Krukovskij hervorrief und schildert ihre Begegnungen mit dem Dichter, für den sie vom ersten Augenblick

an eine leidenschaftliche, wenngleich unerwrderte Neigung erfaßt: „So wunderbar es klingen mag: ich, das 14 jährige Mädchen, verstand Dostoevskij wirklich. Ich ahnte ın seinem Herzen eine ganze Welt von zärtlichen warmen Gefühlen; er war für mich nicht nur der geniale Dichter, sondern mehr noch der Mensch, der so viele Leiden erfahren hatte. Hätte Dostoevskij in mein Herz sehen können, so hätte ihn sicher tiefe Rührung ergriffen; aber das ist eben das Unglück der sogenannten Flegeljahre, in denen auch ich mich jetzt befand, daß man tief fühlt, fast so tief wie die Erwachsenen und zugleich seine Gefühle auf so kindische, ja, lächerliche Weise äußert, daß es den Erwachsenen schwer wird, sich vorzu- stellen, was in dem Gemüt eines 14 jährigen Mädchens vorgeht.“

Anjutas kühner Schritt in die Welt bedeutet für die Schwestern den Anfang zur Befreiung vom Elternhaus, von den dort herrschenden politischen und gesell- schaftlichen Vorurteilen, die den Mädchen bisher jeden Verkehr mit Anders- denkenden und jede zielbewußte geistige Betätigung verwehrt hatten. Eines Tages erklären beide dem Vater ihre Absicht, im Ausland studieren zu wollen. Man muß gerecht sein: General Krukovskij war alles andere als ein engherziger Mann mit Standesvorurteilen: geistig vielseitig interessiert, widmete er sich in seiner freien Zeit fast ausschließlich naturwissen tlichen Studien, verfolgte mit seiner Gattin aufmerksam die politischen und literarischen Strömungen seiner Zeit. Der Schlag, mit einemmal beide Töchter verlieren zu sollen an ein abenteuerliches Bohème- leben, wie ihm scheint trifft ihn hart. Energisch widersetzt er sich. Da greifen die Mädchen zu einem damals in Rußland häufig geübten Mittel: sie erzwingen ihre Freiheit durch eine Scheinehe. Der Student der Geologie, Woldemar Kovalevskij, erklärt sich, vor die Wahl zwischen die ältere und jüngere Schwester

estellt, bereit, Sonja zu heiraten. Als der General Erkundigungen einzieht, er- ährt er, daß dem jungen Mann von seinen Universititslehrern eine glänzende wissenschaftliche Zukunft prophezeit wird.

Ein kneppes Jahr bleibt das Ehepaar Kovalevskij noch in Petersburg, 1869 begeben sich beide nach Heidelberg. Und nun beginnt für Sonja das unstete Wanderleben, das sie seitdem mehr oder weniger bis zu ihrem Tode geführt hat das Leben in Gasthöfen und Mietszimmern, zwischen fremden Möbelstücken, angewiesen auf bezahlte Freundlichkeit. Über ihr persönliches Ergehen in den ersten Studienjahren wissen wir nicht viel. Einer der wenigen aus dieser Zeit er- haltenen Briefe folgt hier. Er ist an Sonjas Jugendfreundin Julia Lermontov ge- richtet und ist für uns auch deshalb wertvoll, weil er die Stellung beleuchtet, die damals Universitäten und Dozenten dem Frauenstudium gegenüber einnahmen.

Heidelberg, 28. April 1869. Liebe Julia! .

Ich schreibe Ihnen meine Eindrücke, nachdem ich eben aus der ersten Vor- lesung, der ich in Heidelberg beigewohnt habe, zurückgekommen bin. Ich konnte nicht eher schreiben, da sich erst gestern mein Schicksal endgültig entschieden hat gewiß waren Sie schon ungeduldig.

Aus Petersburg fuhren wir direkt nach Wien, wo ich sofort zu Professor Lange (Physiker) ging, um ihn um Erlaubnis zu bitten, seine Vorlesungen zu be- suchen. Er ließ sich ziemlich leicht dazu bestimmen, aber nach einiger Über- legung entschieden wir uns, doch nicht in Wien zu bleiben. Erstens gibt es hier keine guten Mathematiker, zweitens ist das Leben hier sehr teuer, und so entschlossen wir uns, nach Heidelberg zu fahren, wovon ich immer geträumt habe und das mir immer als ein auserlesener Fleck Erde erschienen ist. Ich fuhr mit meiner Schwester dahin; mein Mann blieb in Wien, da wir die Absicht hatten, zurückzukehren, wenn uns die Verhältnisse in Heidelberg rt erscheinen sollten. Am ersten Tage verzweifelte ich beinahe, so unglücklich verlief alles. Professor Friedrich, den ich persönlich etwas kannte, war nıcht in der Stadt, so ging ich allein zu Professor Kirchhoff. Dieser, ein kleiner Greis auf Krücken, war sehr erstaunt, daß ich, eine Frau, seine Vorlesungen besuchen wollte und erklärte, mich ohne Einwilligung des Prorektors der Universität (Professor Kopp) nicht zu- lassen zu können. Indessen war Professor Friedrich zurückgekehrt, zum großen Glük für mich. Er war sehr liebenswürdig und gab mir eine Empfehlung an den Prorektor. Dieser erklärte mir wiederum, daß er in eine so ungewöhnliche

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Bitte von sich aus nicht einwilligen könne ohne Zustimmung der einzelnen Professoren. So mußte ich noch einmal von vorne beginnen und mich zu Professor Er sagte mir, daß er nichts gegen meinen Wunsch habe und mit Professor Kopp sprechen wolle. Sie können sich denken, wie empört ich über alle diese Verzögerungen war. Am nächsten Tag teilte mir Kopp seinen Beschluß mit: er wollte een, nied einer besonderen Kommission vorlegen. Wieder war ich zu untätigem warten verurteilt, Indessen hatte ich gehört, daß man Auskünfte über mich einholte, und daß eine Dame, die mich gar nicht kannte, erzählt hatte, ich sei Witwe. Da der Professor sich über die Verschiedenheit meiner und ihrer Angaben wunderte, mußte ich meinen Mann, der inzwischen auch gekommen war, persönlich zu ihm schicken, um ihn von der Wahrheit meiner Aus- zu überzeugen. Endlich entschloß sich die Kommission, mich zu den physi- kalischen und mathematischen Vorlesungen zuzulassen. Damit war mein Wunsch erreicht. Heute habe ih nun mit meinen Studien begonnen. Ich werde 18 Stunden in der Woche hören; das genügt vollständig, denn ich muß auch viel zu Hause arbeiten. Nur eins befriedigt mich nicht ganz: nämlich, daß ich die Erlaubnis nur ausnahmsweise erhalten habe, daß Sie wenn Sie kommen, die ganze ichte noch einmal selbst durchmachen müssen. Das zweitemal wird es aber wahrscheinlich leichter sein.

Ih kann mir wohl vorstellen, mit welcher Ungeduld Sie, meine liebe Julia, den Herbst erwarten. Mögen nur Ihre Verwandten ihren Entschluß nicht ändern! Schreiben Sie mir bitte bald und erzählen Sie mir, womit Sie sich jetzt beschäftigen. Ich rate Ihnen nach den bitteren Erfahrungen, die ich gemacht habe, die deutsche Sprache möglichst gut zu lernen. Die wissenschaftliche SP ist leicht zu verstehen und die Vorlesungen machen mir keine Schwierigkeiten, aber in den Gesprächen mit den Professoren fühle ih mich immer sehr gehemmt.

2. Mai. ich konnte den Brief neulich nicht beenden, so füge ich heute noch einiges hinzu. Ich bin sehr beschäftigt und besuche die Vorlesungen. Die Studenten benehmen sich ausgezeichnet. Sie lassen es sich nicht anmerken, daß sie die Anwesenheit einer Frau verwundert. Heidelberg selbst ist so entzückend, daß man es nie mehr verlassen möchte. Sie werden hier sehr gut studieren

können.

Leben Sie wohl. Ich umarme Sie herzlich und bitte Sie, Ihren Eltern meine Empfehlungen zu übermitteln. Meine Schwester ist noch hier, fährt aber schon morgen nach Paris und wird dort bis Anfang Juli bleiben.

Ihre S. Kovalevskij.

Mit einer unerhörten Energie und Ausschließlichkeit vertiefte sich die kaum Neunzehnjährige in mathematische Studien. Durch ihre Leistungen erregt sie bald die Aufmerksamkeit Kirchhoffs und Königsbergers. Diese erste Heidelberger Zeit ist die einzige, in der sich Sonja glücklich ganz erfüllt von ihrer Arbeit fühle. Noch wachsen der Begeisterung mit jeder neuen Aufgabe neue Flügel.

1870 siedelt Sonja, auf den Rat ihrer Lehrer, nach Berlin über. Weierstraß erkennt sofort ihre ungewöhnlichen Fähigkeiten und erteilt ihr da Frauen damals als Hörerinnen an der Universität noch nicht zugelassen wurden zwei- mal wöchentlich Privatunterricht. Damit ist ihre wissenschaftliche Laufbahn ent- schieden. Alle ihre in der Folgezeit entstandenen Untersuchungen gehen von An- regungen Weierstraß’ aus, bauen auf seinen Theorien auf. In Berlin lebt es sich nicht so leicht wie unter dem heiteren Himmel Heidelbergs, einsiedlerisch vergräbt sich Sonja in ihre Arbeit. Ihr Mann setzt seine Studien in München und Jena fort und promoviert, ein bevorzugter Schüler Haeckels, mit einer Dissertation, die ihm den Ruf eines bedeutenden Paläontologen einträgt. Anjuta schreibt begeisterte Briefe aus Paris, das ihrer anregungsbedürftigen Natur mehr zusagt als die süd- deutsche Kleinstadt. Im Quartier Latin, dem Sammelplatz freiheitlich gesinnter Jugend aus allen Teilen Europas, lerat sie ihren späteren Mann kennen: Victor

aclard, Student der Medizin, Freund und Vermittler Blanquis, des Staatsver- rechers und Verschwörers, der damals im Gefängnis neue Wege „zu den Sternen durch die Ewigkeit“ ersann.

1874 erwirbt Sonja den Doktorgrad der EE Fakultät Göttingen in absentia, dank der hervorragenden Abhandlungen und der Empfehlungen

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ihrer Lehrer. Ihre Dissertation „Zur Theorie der partiellen Differential- gleichungen“ gilt noch heute als eine der besten Arbeiten auf diesem Gebiet.

Unruhige Jahre folgen. Zuerst in Petersburg, wo sich beide Kovalevskijs treffen. In der Novelle „Vera Voroncov“ (in Deutschland erschien sie unter dem Titel „Die Nihilistin“) schildert Sonja ihr damaliges Leben, das von Gesellschaften, Konzerten, Theatern, literarischen Tees ausgefüllt ist. Zu ernsthafter wissenschaft- licher Arbeit ist sie véier ee jahrelangen Oberanstrengungen nicht fihig. Wie fast immer in Zeiten des rgangs, drängt nun ihr durch die abstrakte Denktitig- keit allzulang zurückgehaltenes Gefühls- und Phantasieleben gewaltsam zum Aus- broch, Ein Roman „Der Privatdozent“ entsteht. Wie ernst es ihr mit diesem Versuch ist, beweist, daß sie noch zwei Jahre vor ihrem Tode an eine Um- arbeitung denkt. Daneben schreibt sie Gedichte, Zeitungsaufsätze, Rezensionen un ilft ihrem Manne bei der Übersetzung von Brehms „Tierleben“ ins Russi-

e.

1877 stirbt Sonjas Vater, dem sie in den letzten jahren besonders eng ver- bunden war. 1878 vird, in Petersburg, die kleine Sonja geboren. Kurz darauf er- hält Kovalevskij eine Professur an die Universität Moskau. Ober die Jahre dort, über die Konflikte, die nach einiger Zeit wieder zu einer Trennung der Ehe führen, sind wir nur andeutungsweise unterrichtet. Vielleicht wird der dem- nächst erscheinende Briefwechsel zwischen Sonja und Woldemar Kovalevskij hier Klarheit bringen.

1881 verläßt Sonja zum zweitenmal Rußland; ihr Kind läßt sie bei Freunden zurück, Sie begiebt sich fast flieht sie ins Ausland. In Paris widmet sie sich den lange vernachlässigten mathematischen Studien wieder. Damals taucht zuerst, wenn auch nur als vage Hoffnung, die Möglichkeit ihrer Berufung an die Uni- versität Stockholm auf. Vorläufig arbeiter sie an einer Aufgabe, die ihr Weierstraß gestellt hat, lebt aber nicht ganz so einsiedlerisch wie seinerzeit in Berlin. Sie ist eng befreundet mit einem jungen Polen, einem Mathematiker und Dichter; sie sehen sich fast täglich, arbeiten, diskutieren und lesen Micievil zusammen. Im Cake verkehrt sie viel in sozialistischen Kreisen, vorwiegend mit Russen und

olen.

Maria Mendelssohn, cine polnische Sozialistin, berichtet in ihren (bisher un- veröffentlichten) Erinnerungen über ihre erste Begegnung mit Sonja Kovalevskij in Paris. Die beiden Frauen lernten sich bei dem bekannten russischen Revolutionär Lavrov kennen, dem Mittelpunkt eines Kreises sozialistisch gesinnter Intellek- tueller. „.. die schmutzige Straße St. Jacques, eine unsaubere Treppe führt nach dem zweiten Stok. Die Wohnung zwei festlich hergerichtete Zimmer, in denen zwei russische Lampen brennen. Ein durchdringender Geruch von Feuchtig- keit und alten Büchern. Aber was hat das bei einem so liebenswürdigen Wirt zu bedeuten! Lavrov üßt mich mit der gewinnendsten Gastfreundlichkeit. Auf dem Sofa sitzen bereits zwei Damen, mir wird der einzige bequeme Sessel gegenüber angeboten. Lavrov geht im Zimmer auf und ab. Zwei Studenten sind mit dem Samovar beschäftigt. Den Herren werden Gläser mit angeschlagenen Rändern angeboten, den Damen Tassen. Dann öffnet der Wirt feierlich ein Fach in seinem Schreibtish. Zwischen allen möglichen beschriebenen Papieren kommt ein goldumrandeter Teller, der mit Gebäck und Pralinen 3 85 ist, zum Vorschein. Den Studenten wird bedeutet, daß die letzteren nur für die Damen bestimmt sind. Von den Damen ist die eine Frau Joudre, als Mitarbeiterin an der von Clemenceau herausgegebenen sozialistischen Zeitschrift „La Justice“ bekannt, eine kleine zarte Frau mit hübschen, aber verblühten Zügen. Sie wirkt wie eine Puppe aus Sasonishem Porzellan, ihre Stimme ist schwach und piepsig. Ihre ganze Art zu sprechen, erinnert an eine Parodie aus den französischen Précieuses.

Die andere, Sophie Kovalevskij, gleichfalls von kleinem Wuchs, fällt durch den verhältnismäßig zu großen Kopf auf, der von Locken umrahmt ist. Ihre Augen sie sind einmal mit eingemachten Stachelbeeren verglichen worden wiken faszinierend. Ihre 1 sind ungemein lebhaft und temperament- voll, Sie interessiert und fesselt mich sofort. Ich fühle, daß ich einen außer- gewöhnlichen Menschen vor mir habe. Meine eigene Neugier findet ein Echo bei Sophie. Ich bin eben aus dem Posener Gefängnis entlassen, in allen Zeitungen ist unser Fall erörtert worden... .“

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In diesem Kreise geistiger, vorurteilsloser Menschen, denen die Idee alles, materielle Güter nichts bedeuten, fühlt sich Sonja wohl. Seit ihrer frühesten Jugend interessiert sie sich lebhaft für den Sozialismus, begeistert sie sich für eine

die damals die Sache der gesamten studierenden russischen Jugend wer. Allerdings sind ihre eigenen Kräfte stets zu ausschließlich auf ihre wissenschaftliche Tätigkeit gerichtet, als daß sic selbst sie je der Allgemeinheit hätte widmen können und wollen. Doch ihre indirekte Anteilnahme ist nicht weniger wertvoll: ihr warm- i Verständnis, ihre impulsive Hilfsbereitschaft, die niemals Grenzen kennt. In allen Schwierigkeiten weiß sie Rat: sie schreibt Empfehlungen, gibt Geld, ver- mittelt Briefe, verleiht Pässe, bedenkenlos setzt sie Namen und Ruf aufs Spiel.

1888 überrascht sie die verhängnisvolle Nachricht vom Tode ihres Mannes: Selbstmord auf Grund verfehlter Geldgeschäfte. Fünf Tage lang läßt Sonja keinen Menschen zu sich, verweigert sie jede Nahrungsaufnahme. Als sie am sechsten Tage aus tiefer Bewußtlosigkeit erwacht, setzt sie sich, ohne ein Wort zu sagen, im Bett auf und beginnt auf der Decke Zeichen zu malen. Dann bittet sie um Bleistift und Papier und ist bald darauf in eine mathematische Aufgabe vertieft erstes Anzeichen des wieder in ihr erwachenden Lebensgefühls. Von diesem Schlag hat sich Sonja nie mehr erholt. Innerlich und äußerlich gealtert, tritt sie nach diesem Verlust den um sie besorgten Freunden wieder entgegen.

Da erweist sich das Schicksal selten gütig: schon war sie fest entschlossen, durch Privatstunden für sich und ihre kleine Tochter eine Existenzmöglichkeit zu schaffen, als sie den Ruf als Dozentin der Mathematik an die Universität Stock- holm erhält.

Noch einmal darf sie einen Aufschwung erleben, das Lockende einer neuen unbekannten Zukunft kosten: Glücklich reist sie nach Schweden ab. Damals ist sie vierunddreißig. Ein Bild aus jener Zeit und die Schilderung einer Freundin ergänzen sich: (Sie war) . . „von kleiner Gestalt, zart, das Gesicht jedoch voll, mit kastanienbreunem, lockigem Haar, die Züge ungewöhnlich lebhaft, besonders die Augen, deren Ausdruck fortwährend wechselte; sıe blickten zuweilen strahlend lebhaft, dann wieder träumerisch tief. in.

Anfang des Jahres 1884 beginnt sie mit ihren ersten Vorlesungen: „Alge- braische Einleitung zur Theorie der Abelschen Funktionen.“ Sie liest in deutscher Sprache. Nebenher beendet sie eine Arbeit über „Die Brechung des Lichts in einem kristallinischen Medium“.

Drei in mancher Hinsicht interessante Briefe an Maria Mendelssohn geben ihre ersten Stockholmer Eindrücke wieder:

Meine Liebe! Den 26. Dezember 1888.

Eine ganze Ewigkeit habe ich keinen Brief von Ihnen bekommen und die letzten Nachrichten, die ich durch unseren Freund Vollmar!) erhalten habe, lauten nicht sehr günstig. Anscheinend sind Sie noch immer krank und die Sache, die Sie am meisten erfüllt, hat sich zum Schlechten gewandt.

„Die Morgenröte“ erscheint nicht mehr und Ihrem Freunde Mendelsohn droht Gefahr, nach Rußland ausgeliefert zu werden, sobald er seine Strafe in Deutschland abgebüßt har. Wüßten Sie nur, wie traurig ich darüber bin, denn obwohl ich Ihnen nicht schrieb, habe ich viel an Sie gedacht und hatte stets den sehnlichsten Wunsch, Sie wieder zu sehen und mit Ihnen so unbefangen zu plaudern, wie wir es so oft in diesem Sommer getan haben. Erinnern Sie sich noch daran? Aber wer weiß, ob sich unsere Wege jemals wieder kreuzen werden?

Ich bin nun also in Stockholm. Meine mathematischen Vorlesungen fangen in knapp zwei Wochen an und ich denke mit Bangen an die Minute, wo ich zum erstenmal vor meinen Zuhörern erscheinen werde.

Stockholm ist eine recht hübsche Stadt, Was die Gesellschaft anbelangt, so ist sie ein Gemisch von neuen freiheitlihen Ansichten und altmodischen echt deutschen Anschauungen. Es vill mir noch nicht gelingen, mich hineinzufinden. Ih habe viele Freunde, aber ebensoviele Feinde. Die letzten befinden sich

1) Der Sozialist Georg v. Vollmar, den der bayrische Minister v. Müller ein- mal „Bayerns ungekrönten König“ nannte.

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hauptsächlich an der Universität von Upsala. Sie wissen wahrscheinlich, daß die Send holier Universität erst vor kurzem gegründet worden ist, währena von Upsala schon seit Jahrhunderten existiert. Gegenwärtig repräsentieren di beiden Universitäten zwei entgegengesetzte Richtungen: Upsala ist das Zentrum des konservativen orthodoxen ehrtentums. Nach Stockholm zieht es die Jugend, alle freidenkenden und rührigen Schweden. Sie können sich wohl vor- stellen, daß diese beiden Universitäten einen erbitterten Konkurrenzka mit- einander führen. Doch obwohl Upsala den Studierenden größere materielle Vor- teile bietet, hat Stockholm die größere Hörerzahl aufzuweisen. Das ist wohl der Hauptgrund der Verbitterung der Nachbaruniversität. Als meine Vorlesungen in Stokholm offiziell angekündigt wurden, gaben die Mathematikstudierenden in Upsala dieselben Anschläge auch in ihrem Verein bekannt. Darüber brach bei den Professoren große Empörung aus. In einer Sitzung, die einen ganzen Abend lang dauerte, taten sie nichts, als mich verleumden. Sie sprachen mir jedes wissen- schaftliche Verdienst ab, und führten die lacherlichsten und er n Gründe für meine Ubersiedlung nach Stockholm an. Ein derartig lei š Temperament hatte ich bei den rechtschaffenen und friedliebenden Schweden ger nicht erwartet. Unglücklicher weise üben einige dieser Professoren aus Upsala einen sehr großen Einfluß in Schweden aus. Der König, der zuerst die Universität von Stockholm sehr protegierte, aber jetzt davon überzeugt ist, daß sie ein Zentrum freisinniger und radikaler Tendenzen werden kann, hat sich von ihr abgewandt, So stehen also hier die Sachen.

Auf Wiedersehen, meine Liebe! Ich erwarte bald Nachrichten von Ihnen.

Sophie Kovalevskij.

Meine Liebet Stockholm, den 19. Januar 1884. eine Liebe!

Ih bin sehr gerührt, daß Sie sich meines Aberglaubens erinnert und mir einen Kalender für das neue Jahr geschickt haben. Ich glaube fest daran, daß er mir Glück bringen wird. jedesmal, wenn ich ihn öffne, um mir eine Notiz darin zu machen, gedenke ich Ihrer, und das ist mir immer sehr angenehm.

Wie traurig, daß die Angelegenheiten nicht gut stehen. Die Flucht des raten Kameraden?) hat mich tief beeindruckt, daß er Anarchist ist, stimmt mit seiner Individualität und seinem Charakter gut zusammen. Aber selbst wenn man den Anarchismus als die höchste uid ideellste Form betrachtet, die dem menschlichen Geschlecht ein friedliches Leben zu sichern vermag, so muß man doch in Anbetracht des heutigen Zustandes eine langsame Übergangsform für notwendig anerkennen. Ist das nicht selbstverstindlich? Organisation und strenge Disziplin sind unbe- dingt in jedem, auch in unserem Kampf die Hauptsache. Die nächste Generation wird schon einen Schritt weiter sein, sich von den traditionellen Fesseln befreit und in der Wahl der Regierungsform mit weniger Schwierigkeiten als vir zu kämpfen haben.

Ich kann mir Dikstein ohne Ihre Hilfe nicht vorstellen. Wer besorgt dern jetzt die Redaktion der „Morgenröte“? Schreiben Sie mir bitte auch, ob das ge-

nte Abkommen zwischen dem Russen und dem Polen zustandegekommen ist. Ich habe kürzlich an Lavrov geschrieben und ihn gebeten, mir mitzuteilen, ob neue Schriften der Narodnajo Volja erschienen sind und wo ich sie erhalten kann, ohne aber eine Antwort von ihm zu bekommen. Sollten Sie ihn treffen, meine Liebe, so fragen Sie ihn bitte, ob er meinen Brief erhalten hat, und mir Auskunft geben kann. Ich habe hier schon viele Menschen getroffen, die sich lebhaft für den

2) Der „rote Kamerad“ ist Simon Dikstein, einer der ersten pol- nischen Sozialisten. Mit kaum 19 Jahren absolvierte er die Universitat Wa u. Bald darauf wanderte er aus und arbeitete als Drucker in Hamburg und Paris. In Paris widmete er sich später wieder naturwissenschaftlichen Studien. Daneben stand er stets mit anarchistischen Kreisen in Fühlung. Oberempfindlich von Natur, wurde er immer schwermütiger und nahm sich im Jahre 1884 das Leben. Sozialismus interessieren, und zwar in Kreisen, in denen man es am wenigsten hätte erwarten sollen. Vie mir scheint, ist ihre Zahl grof genug in Schweden, um eine starke sozialistische Partei zu bilden. Das wäre eine Aufgabe für die

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Deutschen, denn die hiesigen Verhältnisse sind meiner Meinung nach den deutschen sehr ähnlich, nur daß hier größere Freiheit herrscht, und daß die Schweden, be- sonders aber die Norweger, edien Gedanken zugänglicher sind als die Deutschen.

Wie sehr fügt sich die letzte Katastrophe, die Ihren Freund Varinskij be- troffen hat, in das Bild ein, das ich mir auf Grund Ihrer Erklärungen von ihm gemacht habe. Ich kann es gar nicht glauben das sollte das Ende seines Schick- sals sein? Ein so energischer, gewandter und fähiger Mensch wie er, wird doch eine Möglichkeit finden, sich aus der Falle zu retten! Ich bitte Sie, mir auch über Mendelsohn zu berichten, sobald Sie etwas über ihn erfahren haben. Sein Schicksal interessiert mich sehr.

Ich wußte gar nicht, daß die polnischen Zeitungen über mich geschrieben hatten. Ich freue mich, daß die Polen mich als eine der ihren ansehen, denn was mich selbst anbelangt, so fühle ich für kein Volk eine so große Vorliebe, wie für das polnische. In meiner Kindheit habe ich immer davon geträumt, mich an einem

Inischen Aufstand zu beteiligen und können Sie es mir wohl glauben? je änger ich lebe, um so mehr überzeuge ich mich zu meinem eigenen großen Er- staunen davon, daß ich schon in meiner frühesten Jugend ahnte, was ich später er- a würde. Wer weiß, vielleicht gehen meine Kinderträume noch einmal in E ung.

Augenblicklich habe ich sehr viel zu tun, und bin einzig von dem Wunsch beseelt, meine Song auf der Universität zu befestigen, um auf diese Weise auch anderen Frauen den Weg dahin zu ebnen.

Die neue mathematische Arbeit, die ich kürzlich begonnen habe, fesselt mich außerordentlih. Ich möchte nicht cher sterben, als bis ich das Resultat, nach dem ich suche, gefunden habe. Sollte es mir wirklich gelingen, das Problem zu lösen, so wird meın Name einst zwischen den berühmtesten Mathematikern stehen. Nach meiner Berechnung brauche ich noch etwa fünf Jahre, um zum Ziel zu kommen, aber ich hoffe, daß nach fünf Jahren mehr als eine Frau imstande sein wird, mich hier zu ersetzen; dann kann ich endlich einer anderen Sehnsucht meiner Zigeunernatur folgen, und dann, meine Liebe, werden wir uns irgendwo ereffen. Sie haben jedenfalls versprochen, mich bald in Stockholm zu besuchen, und ich betrachte dieses Versprechen als ein unumstößliches und bindendes.

Mein persönliches Leben ist so fade und uninteressant, wie Sie es sich gar nicht vorstellen können. Und was die „Vögel“ angeht, so kann ich mich höchstens einer Bekanntschaft mit der Eule rühmen. Im Grunde genommen ist ja auch die Eule ein edles und gutes Geschöpf, das man nicht verachten soll. Sie besitzt freilich nicht die Federn des „blauen Vogels“, aber man weiß wenigstens, woran man mit ihr ist, und läuft nicht Gefahr, nach einem Regenguß die Federn ent- färbt zu sehen, wie es bei dem armen weißen Star von Alfred Musset geschehen ist. Denken Sie sich eine Maschine, die rechnet und kalkuliert, dann werden Sie ein getreues Porträt von mir haben. Übrigens habe ich ja den größten Teil meines

in einem solchen Zustand verbracht, bin also an ihn gewöhnt, und doch glaube ich noch an einen schönen glänzenden Sonnenuntergang in der Zukunft gibt es wohl etwas in der Welt, das schöner ist, als ein herrlicher Sonnenunter- gang? Haben Sie darauf geachtet, wie schön in diesem dene die Sonnenuntergänge in Paris sind? Hier sind sie ganz prachtvoll. Sie haben wahrscheinlich davon gehört, daß sich die Laufbahn der Erde mit der eines großen Sternes kreuzt; ist es nicht sonderbar, sich vorzustellen, daß wir einem Körper ganz nahe sind, der beld in dem unendlichen Weltall verschwinden wird?

., Wenn ich Ihnen schreibe, glaube ich fast, mit Ihnen zusammen zu sein und mich mit Ihnen zu unterhalten über dieses und jenes, in bloßen Andeutungen, mit denen wir uns schon verstehen. Dies um so mehr, als es schon ein Uhr nachts ist, also eine Stunde schlägt, die für Stockholm, wo alle mit den Hühnern zu Bett gchen und leider mit ihnen aufstehen, unerhört spät ist. So bin ich denn gez en, von Ihnen zu scheiden. Ich hoffe, Sie lassen mich nicht lange auf Nachricht warten. Meine aufrichtigsten Grüße an Suterland und Dikstein. Dem R. sagen Sie, cs sei nicht nett von ihm, sein Versprechen, mir zu schreiben, nıcht gehalten zu haben, doch kann ihm, wenn er bald schreibt, noch alles verziehen

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werden. Bitte schreiben Sie mir auch über alle unsere Bekannten aus Paris, die Sie treffen, oder von denen Sie hören. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie schön die Erinnerungen an die damalige Zeit für mich sind, und wie teuer mir alles ist, was damit zusammenhängt. vee Herzen re Sonja Kovalevskij.

Meine Liebe! Moskau, den 18. Juni 1884.

Ich danke Dir für Deinen lieben Brief, den ich erst heute erhielt. Eigentlich war ich etwas böse auf Dich wegen Deines langen Schweigens. Ich dachte, Du hättest mich vergessen, Ich höre übrigens über Dich durch Julia K., die Braut, oder besser Frau von Vollmer. Ich kann Dir gar nicht sagen, wie froh ich darüber wäre, wenn Du Deinen Plan, nach Stockholm zu kommen, ausführtest. Wie herr- ich wäre es, wenn wir uns hier alle wiederträfen. Mir scheint es, als hätte ich Dich eine Ewigkeit nicht gesehen.

Ich selbst habe keinerlei Pläne für die Zukunft, mir fehlt jede Piene um welche zu schmieden. Du kannst Dir gar nicht vorstellen, wie ich mich über die guten Nachrichten von meinem kleinen Almanach-Talisman freue. Ich hoffe, Du verrätst meinen Aberglauben an niemanden weiter. Ich bin in der Tat sehr aber- gläubisch, der Verlust des Almanachs hat mich darin noch bestärkt.

In meinem Berufsleben ist alles in Ordnung und so, wie es sein soll, aber ich muß Dir gestehen, daß es in meinem Privatleben trübe aussieht, und ich eine große Leere empfinde. Fordernd und selbstsüchtig hat sich mein kleines Ich in den letzten Monaten oft empört, es wollte die Minderwertigkeit und Vergänglichkeit alles persönlichen Glücks gar nicht einsehen lernen. Eıne große Apathie und Gleichgültigkeit mir selbst gegenüber ist geblieben. Ich wünsche nichts mehr für mich selbst. Es scheint mir, als hätte ich endlich das Ideal eines unpersönlichen Lebenszustandes erreicht. Ich bin jetzt so eine Art Krankenschwester: Ich lebe in Gesellschaft vieler Menschen, die mich eigentlich wenig interessieren, die aber in ihren größeren und kleineren Kiimmernissen meiner Hilfe bedürfen. Das Schlimmste ist, daß ich ihnen nicht wirklich helfen kann. Ich bringe aber nicht etwa ein Opfer, weil ich mit ihnen meine Kanikularzeit verbringe, denn ich sehne mich nirgends anders hin, Deine Begeisterung für Paris teile ich. Es ist schön dort zu wohnen, aber nicht nur auf einige Wochen dort zu sein. Wie glücklich wäre ich, wenn ich dort ein solches Arbeitsfeld wie in Stockholm ommen könnte, aber daran ist überhaupt nicht zu denken! Die Franzosen werden so bald keine Frau zum Professor ernennen, obgleich ich von niemandem so zahl- reiche Komplimente bekommen habe, wie gerade von den französischen Mathe- matikern. Sie finden das nur im Ausland, aber nicht bei sich selbst schön.

Komme doch nach Stockholm, liebe Maria, um etwas Leben in mich zu bringen. Ich bin in großer Gefahr, in ein Lehrbuch der Mathematik verwandelt zu werden, das man nur öffnet, wenn man nach bestimmten Formeln sucht, das aber sofort aufhört zu interessieren, sobald es auf dem Bücherbrett zwischen anderen Werken steht. Ja, ich zweifle sogar, ob es selbst Dir trotz Deiner großen analytischen Fähigkeiten gelingen wird, den Kern zu verstehen, der sich zwischen den Zeilen dieses alten Lehrbuches versteckt.

Ich lese jetzt Tolstois „Beichte“ und “Was sollen wir tun“. Du hast wahr- scheinlich auch schon von diesen Büchern gehört, die, obgleich sie in Rußland ver- boten sind, doch in tausenden von Exemplaren verbreitet werden und in aller Hände gelangen. Tolstoij sucht den Frieden und endet mit dem Sozialismus. Ver- zweiflung und Selbstmord, das sind für jeden denkenden Menschen die Folgen von Verhältnissen, in denen Reich und Arm hart auf einander stoßen.

Genug für heute, liebe Maria. Antworte mir bald und erzähle mir ausführ- lich von Dir. Ich küsse Dich herzlichst Deine Sonja.

[Berlin1884.] Meine Liebe! Vor einigen Tagen erhielt ich Deinen Brief, heute erfuhr ich die traurige Nachricht vom unerwarteten Tod des armen Dikstein. Vollmar ist sehr besorgt

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um Dich und ich denke nicht weniger beunruhigt daran, wie Du dies Ungliick er- tragen wirst. Schreibe mir bald 5 ein paar Vorte, meine Liebe, um uns zu beruhigen. Du wirst begreifen, Deine Freunde, die Deinen lieben pol- nischen Hitzkopf kennen, in einer solchen Stunde besorgt um Dich sind.

Was mag den armen Dikstein zu einem solchen Schritt veranlaßt haben? Es ist ja wahr, das Leben bedeutet kein allzu großes Glück; trotzdem wundern wir uns jedesmal, wenn es jemand frühzeitig von sich wirft. Hast Du „La joie du vivre“ von Zola gelesen? Erinnerst Du Dich noch an den Ausruf des armen gicht- brüchigen Greises, dessen Leben nur noch eine ununterbrochene Agonie war seines Ausrufs, als er die Nachricht vom Tode seiner alten Dienerin empfing: „Wie dumm muß man sein, um sich das Leben zu nehmen.“ Es scheint im oft so zu sein: Diejenigen Menschen, die viel gelitten haben und nichts mehr vom Leben erwarten, hängen am stärksten daran und betrachten es als eine Torheit, sich freiwillig davon loszusagen. Wenn man es recht bedenkt, so ist das Leben eine recht\ hoffnungslose Angelegenheit; aber nun fange ich an, mich selbst in düstere Gedanken zu vertiefen, statt Dich zu ermuntern und zu beruhigen.

lch muß leider zugeben, daß ich zur Zeit an einem „Spleen“ leide, ohne eigentlichen Grund, denn in meinem Leben scheint alles einen guten Verlauf zu nehmen. Du hast vielleicht aus den Zeitungen erfahren, daß ich zum Professor ernannt worden bin, und daß ich eine langjährige Arbeit abgeschlossen habe. Ich habe also allen Gund, mich zu freuen. Und trotzdem fühle ich, wie seit langem nicht, eine große Leere und Langeweile in meinem Leben. Bitte erwähne das nicht etwa in Deinem Brief an Vollmar. Ich fürchte, er wird meinen jetzigen Zustand doch nicht verstehen, und nur betrübt darüber sein. Wahrscheinlich ist es nur eine natürliche Reaktion. Ich habe übermäßig viel gearbeitet, um ein kleines Resultat zu erobern, und jetzt scheint es mir, als wäre daa Resultat der großen Anstrengungen nicht wert gewesen. Hoffentlich ist es nur eine vorübergehende Stimmung, unter der ich leide, hoffentlih kann ich bald mit neuer Freude an meine Arbeit gehen. Schreibe mir bald, meine Liebe! Ich bleibe noch ein paar Wochen in Berlin, dann kehre ich nach Schweden zurück.

Auf Wiedersehen, meine Liebe! Ich erwarte mit großer Ungeduld und Un- ruhe ein paar Zeilen von Dir. Von ganzem Herzen er

eine 8.

Auf de Dauer kann sich Sonja in Stockholm nicht wohlfühlen. Obwohl ihre Tätigkeit an der Universität e DECH ist sie wird noch im ersten Jahre zum Professor ernannt obwohl sie von der sonst so konservativen Gesellschaft vom ersten Tag an gastlih aufgenommen wird. Gerade damals versorgt Schweden, wie nie mehr vor- oder nachher, Europa mit Vorkämpfern einer neuen Generation, junge Kräfte, die das eigene Land stellt, und Flüchtlinge aus dem Osten, denen es Asyl bietet. Sonja steht mit den bedeutendsten Gelehrten und Schriftstellern in persönlicher Fühlung, tritt sozialistischen Kreisen nahe, ist eng befreundet mit Julie Kjellberg (der späteren Frau v. Vollmar), mit Therese Gyldèn und Ellen Key. Zu allen aktuellen Schul- und Bildungsfragen, zu den Problemen der Frauenbewegung nimmt sie Stellung, wenn sie selbst auch nie ostentativ hervor- tritt. Denn ihre Briefe, diese intimsten Selbstzeugnisse, beweisen, daß sie alles andere als eine emanzipierte Frau war.

So schreibt sie nach der Rückkehr von einem mehrwöchentlichen Ferien- aufenthalt in Paris an Maria Mendelssohn:

Liebe Maria! [Stockholm, wahrscheinlich 1885.] Heute früh hatte ich kaum Zeit, herzlich von Dir Abschied zu nehmen und Dir für alle Gastfreundschaft und Fürsorge, die Du mir in Paris erwiesen hast, zu danken. Ehe ich das liebe Frankreich verlasse, umarme ich Dich nochmals herzlich in Gedanken. i Wie stimmen diese immer neuen Trennungen traurig! Eben hat man sith warm und innig aneinander angeschlossen, schon naht die Abschiedsstunde wieder. Du, Marie, bist glücklich, da Du von wirklich treuen Freunden umgeben bist, von Freunden, die Dich nie verlassen, und mit denen Du so viele gemeinsame Inter-

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essen hast. Ich selbst fühle, wie ich mit jedem Abschied älter werde. Ich bin ein armer, ewig umherirrender Jude, und doch wird behauptet, daß gerade der Mathe- matiker der Ruhe und des Gleichgewichts bedarf. Könnte ich mich doch wenigstens auf Dein Versprechen, mich in Stockholm zu besuchen, verlassen. Ich bin aber überzeugt, daß Du mich vergessen wirst, sobald ich mich aus Deiner Sehweite ent- fernt habe. Wehe Euch, wenn Ihr Euer Versprechen vergessen solltet! Es würde nur ein Beweis dafür sein, daß die Polinnen heuchlerisch und oberflächlich sind, und daß es sich nicht lohnt, sich an sie anzuschließen. Aber nein, Du wirst mir das nicht antun. Ich weiß, Du bist ein guter und aufrichtiger Freund.

Ih drücke allen unseren Freunden herzlich die Hand, besonders dem Pan Heinrich. Pan Mendelsohn kannst Du sagen, daß er mich wahrscheinlich gern los sein wollte, und mir deshalb riet, mit dem Achtuhrzug zu fahren.

Ich küsse Dich herzlich und innig. In den letzten Wochen habe ih Dich noch besser als früher kennen gelernt und liebe Dich noch mehr. Ich fühle, daß wir einander sehr nahe gekommen und verwandt geworden sind. Auch Du, Maria, wirst mich ein wenig vermissen; oder wird es den Franzosen gelingen, mich aus Deinem Herzen zu verdrängen? Schreibe mir bald nach Christiania. Auch Pan Heinrich muß mir schreiben. Ich küsse Dich viele Male. Von Herzen

Deine Sophia.

Meine Liebe! ` {Juli 1886.]

Gestern Abend bin ich in Christiania angekommen, wo ich schon erwartet wurde. Ich kam gerade zur rechten Zeit, um noch an den letzten Feierlichkeiten teilzunehmen. Jedenfalls ist eine genügende Anzahl von Festessen, Reden und Toasten für mich vorgesehen, so daß ich zufrieden sein kann. Auch meine Freunde Mittag-Leffler und Frau Edgren sind hier. Wir waren gestern den ganzen Abend zusammen, um über die Ereignisse der letzten Monate zu plaudern. Hat es nicht in Deinen Ohren geklungen, liebe Maria? Eigentlich mußt Du sehr starkes Ohren- klingen gehabt haben. Ich habe überhaupt so viel an Dich gedacht, daß ich ständig das Bedürfnis habe, Dir zu schreiben. Diese weiten Entfernungen und ewigen Abschiede sind doch abscheulich, nicht wahr? Sobald ich Paris verlassen hatte, bemächtigte sich meiner tiefe Traurigkeit und ich denke nur daran, wieder dahin zurückzukehren. Wann wird endlich die glückliche Zeit der Luftschiffe kommen, die Zeit, in der räumliche Entfernungen nicht mehr existieren, denn noch sind sie unerträglich, das versichere ich Dir. Die Fahrt über das Meer war alles andere als angenehm. Frau Atlantis machte sich über mich lustig und in den ersten beiden Tagen habe ich mich recht elend gefühlt. Aber nachdem wir das Skagerak erreicht hatten, nahmen alle meine Leiden ein Ende und so verlief der dritte Tag recht angenehm. Die norwegische Küste ist malerisch und originell. Leider muß ich meine Schilderung unterbrechen. Ich werde erwartet und muß mich beeilen.

Dienstag, den 18. Juli. Ich will den Bief schnell beenden, um ihn heute endlich abzusenden. Der gestrige Tag war sehr anstrengend, wenn auch erfreulich. Man brachte mir große Ovationen. Ih wurde zum Vorstand der mathematischen Sektion gewählt. Während des offiziellen Diners hielt Professor Björkes eine lange Rede mir zu Ehren, und alle Anwesenden, hauptsächlich Studenten sus Christiania, applaudierten so stark, daß die Wände zitterten —“

Liebe Maria!

Erst seit gestern bin ich wieder in einer zivilisierten Umgebung und im- stande Dir zu schreiben. Unsere Reise in die norwegischen Gebirge dauerte viel länger, als ich vermutet habe. Als ich in Dyfved ankam, fand ich zu meiner großen Freude zwei Briefe von Dir vor der eine war nach Christiania, der andere nach Dyfved adressiert. Ich danke Dir, meine Liebe, daß Du mich noch nicht vergessen hast. Wie oft denke ich an Dich! Wie gern möchte ich in Deinem Salon oder richtiger in Deinem Zimmer sein, mich auf das blaue Sopha setzen und mit Dir plaudern. Was waren es für liebe Stunden in vertrauten Gesprächen. Wie gerne hätte ich Dir von meinen verschiedenen Reiseeindrücken erzählt. Es ist viel schwerer, darüber zu schreiben, obgleich meine Eindrücke keinerlei persön-

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lichen Charakter haben. Ich verbrachte mehr als eine Woche in einer Landschule in Norwegen bei einem bekannten norwegischen Sozialisten. Es waren die inter- essantesten Tage der ganzen Reise. Ich nahm an allem, was ich sah und hörte, lebhaften Anteil. Ich werde Dir ausführlich darüber schreiben, sobald ich etwas mehr Zeit habe. Heute habe ich nur noch eine knappe Viertelstunde bis zum Ab- gang der Post und habe Dir doch noch 30 viel zu sagen.

Ich las in den Zeitungen, daß in Warschau ein sozialistischer Geheimbund el gra worden ist, der in Beziehungen zu den Emigranten in Paris steht, und

der Führer der Bewegung verhaftet wurde. Ist das wahr, meine Licbe? Mein Herz schnürte sich zusammen bei der bloßen Vorstellung, daß Deinen Freunden ein neues Unglück zugestoßen sein könnte. Was macht denn Janovié?

Wie traurig, Vollmar und die anderen Sozialisten in Deutschland ver- urteilt worden sind, Schlimme Zeiten! Die schwedischen Zeitungen sind aus- schließlich von der Annäherung zwischen Deutschland und Schweden erfüllt. Sollte sie wahr werden, so haben wir schöne Aussichten vor uns. Meine Reise ist noch nicht zu Ende. In zehn Tagen fahre ich nach Rußland, um meine Tochter zu holen. Meine Freundin, auf die ich gerechnet hatte, kann sie nicht bringen, so muß ich selbst fahren. Ich werde aber ın den ersten Tagen des September wieder zurückkehren. Welche Freude wäre es für mich, wenn Du dann kommen könntest. Bitte schreibe mir gleich darüber und adressiere den Brief nach Stockholm. Ich küsse Dich innigst. Auf baldiges Wiedersehen von ganzem Herzen

Deine Sophia.

Meine teuerste liebe Marie! (1885.)

Dein Brief hat mich wirklich auf das Tiefste betrübt, denn ich verstehe und fühle, was Du in diesem Augenblick empfindest. Vor zwei Jahren war ich in derselben Lage. Damals schien es mir, wie Dir heute, als hätten sich Menschen und Dinge verabredet, um meinen Kummer zu vermehren, mein Einsamkeitsgefühl zu verstärken und mir das Leben von der düstersten und verzweifeltsten Seite zu zeigen. Ist es nicht sonderbar im Leben, daß sich stets, wenn wir von einem Unglück betroffen sind, zehn andere zur gleichen Zeit bei uns einfinden, von allen Seiten her, als hätten sie nur auf den günstigen Augenblick gewartet, um auf uns herabzustürzen. Schon in meiner Kindheit habe ich diese Beobachtung gemacht und seitdem oft Gelegenheit gehabt, sie in meinem eigenen, wie in dem Leben meiner Freunde bestätigt zu sehen. Ich kenne alle lite eng mit denen man diese Tatsache zu erklären pflegt, aber ich muß gestehen, daß mich noch kein einziger je befriedigen konnte. Ich versichere Dir, ungeachtet aller meiner Kennt- nisse und Erfahrungen, trotz der philosophischen Weltanschauung, die ich mir zu bilden versucht habe, ich bin immer noch, wie ein unverbesserlicher Spieler, der resten Überzeugung, daß sich in jedem Menschenleben Glück und Unglück wie Flut und Ebbe ablösen. Wie weiß man aber in diesen Augenblicken jeden Freund-

tsbeweis, den man von anderen erfährt, einzuschätzen. Ich werde nie ver- gessen, liebe Marie, wie gut und zart Du zu mir warst, in der Zeit, als ich so wenige Freunde hatte, Ich kann auch jetzt noch nicht behaupten, daß ich deren viele habe, und daß sie alle aufrichtig and, aber ich habe mich an diesen traurigen Gedanken gewöhnt und nehme ihn ruhiger als früher hin. Wenn Du nur wiiftest, wie traurig ich darüber bin, Dir meine Liebe durch nichts als durh Worte beweisen zu können ja, sogar nur durch einen Brief! Ich weilte so gerne in Deiner Nähe, wollte, Du könntest fühlen wie ich Dich liebe, und wie teuer Du mir bist! Ein Glück, daß Du in Paris zwei Freunde hast, die Dir so treu zugetan sind, zwei Freunde, das ist schon viel, liebe Marie, und doch hast Du n einen Dritten, der Dir, obgleich er weit von Dir entfernt ist, nicht weniger die Treue hält. Be- denke nur, wie kalt und traurig das Leben wäre, wenn wir, die wir Dich lieben, Dich verlieren müßten. Ich hoffe, Du denkst ein wenig daran, und läßt Dich von diesem Gedanken vor unüberlegten Handlungen zurückhalten. Ich danke Stanislaus Mendelsohn noch einmal für die Nachrichten, die er mir über Dich gab. In seinem letzten Brief bittet er mich, auszukundschaften, wie Dein Ergehen in Rußland ist. Hier habe ich natürlich niemanden, der mir diese Frage beantworten könnte, aber ich werde einem meiner Freunde in Petersburg schreiben und ihn bitten, mir ganz

ausführlich zu berichten. 249

Du weißt vielleicht, daß ich seinerzeit in derselben Lage wie Du war. Nach Kovalevskys Tod waren meine Vermögensverhältnisse so verwickelt, lasteten so hohe Schulden auf mir, daß ich auf keinerlei Rest von meinem Vermögen rechnen konnte. Das Schlimmste aber war, daß sich sofort Leute einfanden, die meine ver- zweifelte Lage und meine Gleichgiiltigkeit ausnutzten und meine Lage nach dem Tod meines Mannes noch verschlimmerten, natürlich zu ihren eigenen Gunsten.

Noch heute bekomme ich keine Kopeke aus Rußland, ich lebe einzig von meinem Professorengehalt. Es war eine sehr glückliche Fügung, daß ich diese Stelle gerade in dem Augenblick bekam, als ich es am EE hatte. Es ist heute so schwer, Existenzmittel zu beschaffen, wenn der Me nicht von Jugend auf daran gewöhnt ist, ein Grund mehr, weshalb ich Dir materielle Unabhängigkeit von Deinem Vater wünschen möchte. Es würde Dir gewiß unangenehm sein, auf Kosten Deines Vaters zu leben. Ich werde versuchen, so rasch wie möglich die Auskünfte, die Stanislaus haben möchte, zu geben, und Dich sofort benachrichtigen. Es ist fast überflüssig, Dich zu bitten, mir nur zu nen, worin ich Dir irgenwie nützen kann. Mit Vollmar sprach ich bereits über Deinen Paß, aber ich hoffe, Du brauchst keinen. Der Paß von Julia (Kjellberg, spätere Frau v. Vollmar) steht immer zu Deiner Verfügung; allerdings hast Du so wenig Ähnlichkeit mit einer Schwedin, daß es nur ein Dummer nicht erraten müßte. Vielleicht wendest Du Dich wegen eines Passes doch lieber an meine Freundin Z, Ihr Paß ist in Ordnung, und sie wird ihn Dir gern geben, wenn sie Dir einen Gefallen damit tut. Telegraphiere mir, wenn Du den Paß brauchst. Ich küsse Dich von Herzen, liebe Marie. Immer Deine Sonja.

Ich drücke Stanislaus die Hand, leider besitze ich keinen eigenen Paß. Ich an meinen nach Rußland geschickt, damit ich aus der Untertanenliste gestrichen werde.

Meine Liebe! Stockholm, den 25. Januar 1886.

Durch unseren Freund W. habe ich zu meinem Kummer erfahren, daf Dein Ertschluß unerschütterlih ist. Vollmar hat Dich wahrscheinlich benachrichtigt, daß der Erfüllung Deines schönes Planes keine Hindernisse im W stehen. Julia K. gibt Dir ihren Paß. Nach alledem wirst Du es wahrscheinlich kindisch empfinden (um mich gelinde auszudriicken), wenn ich Dich noch einmal frage: Liebe Maria, hast Du Dir Deinen Plan auch gut iiberlegt, ich kann nicht anders, als Dir sagen, daß Dich Dein lieber echt polnischer, heißer und entziickender Kopf wieder einmal den größten Gefahren aussetzt. Ich habe W. ganz ernst gefragt: ‚Sagen Sie mir die Wahrheit, glauben Sie, daß diese Reise Marıas notwendig oder wenigstens dienlich für die Sache ist? Er hat es verneint. Er ist davon über- zeugt, daß Du zurzeit auf Deinem Platz notwendiger bist, aber das Gefühl der scheinbaren Untätigkeit, das Bedürfnis, Dich selbst zu vergessen, und Dich in Ge- fahren zu stürzen, veranlassen Dich wahrscheinlich zu dieser Reise. Weder ich noch et werden dazu imstande sein, Dich davon abzuhalten, Da in meinen Adern anch polnisch-zigeunerhaftes Blut fließt, verstehe ich Dich, liebe Maria. Du selbst bist Dir nicht klar darüber, welch große Rolle das Bedürfnis nach Selbstauf- opferung, nach Verklärung im Martyrium und die unauslöschlichen Spuren bie Ag Exaltationsdranges bei Deinem Entschluß mitspielen, Spuren, denen weder Verstand noch gesunder Realismus die Wage zu halten vermögen. Liebe Maria, ich kann es mir einfach nicht vorstellen, daß Du, die Du so nervös, zart und lebendig bist, zu einem jahrelangen Gefängnisdasein in Sibirien verurteilt werden könntest, daß Du die Qualen eines unvermeidlichen und langsamen Todes, dem die politischen Sträflinge in Rußland ausgesetzt sind, ertragen könntest. Ein solcher Tod ist schlimmer, als der Tod am Galgen, denn er ist viel qualvoller und eine Hoffnung auf Flucht ist fast aussichtslos. Die wenigen, die von Sibirien zurückkommen, sind körperlich und geistig vollständig zerbrochen, wie z. B. die arme Bardina. Ich habe richtige Sehnsucht nach Dir, liebe Maria, ich konnte mich lange nicht entschließen, Dir zu schreiben, denn alle Gedanken, die aufs Papier ge- bracht werden, erscheinen fade und leblos im Vergleich zu dem, was ich Dir sagen möchte. Das einzig Gute an Deinem Plan wäre, daß Du nach Stockholm kämst, ich hätte dann Gelegenheit Dich zu umarmen,, und mit Dir über Deine Pläne zu

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sprechen. Schreibe mir bald, meine Liebe, ich erwarte mit Ungeduld Nachricht von Dir. Von Herzen Deine S. K.

Ganz unmittelbar und persönlich wirkt trotz der sprachlichen Unbeholfen- heiten der folgende deutsche Originalbrief an Therese Gyldén über die kleine Sonja, die bis zum Jahr 1855 bei den Schwestern Lermontov, den Freundinnen der Mutter, in Rußland lebte.

Liebe, theuere Therese! Moskau, 21. Mai 1884.

Gestern habe ich Deinen Brief erhalten und ich danke Dir herzlich für die freundliche Teilnahme für mich und meine kleine Sonja, welche aus demselben so klar hervorgeht und die mir so unaussprechlich theuer ist, Ich muß Dir gestehen aber, daß Deinen Brief noch Etwas dazu beigetragen hat um diejenige Unent- schlossenheit in welcher ich mich jetzt befinde noch zu vermehren. Wenn ich Dir alle die Bewegungsgründe welche mich dazu neigen um Fufi noch für den nächsten Winter bei den Lermontoff zu lassen, auseinandersetze, wirst Du wahr- scheinlich auch zugeben müssen, daß dieselben von sehr wichtiger Natur sind. Der Hauptgrund ist der, daß sie hier so sehr gut, so wohl körperlich wie auch geistlich, zu gedeihen scheint. Über „großartige“ russische Verhältnisse kann hier zwar keine Rede sein. Der Wohlstand welcher sie hier genießt steht in keinem grellen Widerspruch mit dem welchen sie später bei mir in Stockholm finden wird; Du mußt nicht vergessen aber daß die beiden Schwestern Lermontoff sind zwei der intelligentesten und besten Mädchen, die man überhaupt finden kann. Meine Freundin Julia L. ist eine sehr bekannte Chemikerin (Sie hat fast gleichzeitig mit mir in Göttingen promoviert). Nach allen Anlagen Ihrer Natur scheint sie für das Familienleben geschaffen zu sein und auf meine kleine Sonja hat sie alle die- jenige Liebe concentriert, von welchen Ihr Herz fähig ist. Ihre Schwester Sonja Lermontoff hat von ihren zartesten Jugend eine besondere Neigung für die Pedagogie gehegt. Sie ist auch viel im Auslande gereist um das Schulwesen dort zu studiren und auch jetzt nimmt sie einem tätigen Antheil in eine der hiesigen Schulen. Durch einen sonderbaren Schicksal haben sich diese beiden Mädchen niemals verheiratet und auch unter ihren nächsten Verwandten finden sich keine Kinder. Du kannst Dir selbst denken daß die kleine Sonja es unter der Pflege dieser beiden Mädchen nicht schlecht hat. Du mußt auch gedenken, wie einsam meine kleine Sonja und ich, wir in der Welt stehen. Ihr Geburt wurde durch eine ganze glückliche Familie geehrt worden; 5 Jahre sind bloß seit der Zeit vergangen und jetzt hat sie weder Vater, noch Großeltern, kurz keine natürliche Stütze außer mich. Unter solchen Verhältnissen ist es wohl sehr natürlich das den Band welche sie mit der Familie Lermontoff bindet, mir doppelt theuer ist und daß ich es nicht leichtsinnig wage denselben, wenn auch nicht zu zerreißen, doch jeden- falls löser zu machen. Julia Lermontoff wünscht es sehr Fufi noch für dieses Jahr zu behalten und hat mir versprochen im Anfange des Herbstes 1885 selbst sie nach Stockholm zu begleiten und wenigstens einen Theil des Winters dort mit uns zu verbringen. Den vorangehenden Sommer werde ich auch die Möglichkeit haben mit Fufi zusammen in den Lermontoffs Landgut zu verbringen und werde sie selbst in der schwedischen Sprache etwas unterrichten können, so daß sie nidit ganz unvorbereitet nach Schweden kommt, Denke Dir doch wie schrecklich würden für sie die zwei drei ersten Monate sein, wenn sie in diesem Jahr schon mit mir nach Stockholm käme! Auf der andern Seit ist es von der größten Wichtigkeit für mich die Möglichkeit zu haben mich ungestört diesen Winter meinen Vorlesungen und meinen mathematischen Arbeiten widmen zu können. Wenn ich Fufi mit mir nehmen sollte würde ich gezwungen sein dieselbe den ponien Theile des Tages der Aufsicht einer Bonne zu überlassen, während sie hier ast beständig in der Gesellschaft einer der Frl. Lermontoff ist. Dazu kommt noch die Frage des Haushaltes, welche für eine so wenig erfahrene Hausfrau, wie ich es bin, und in ganz für mich fremden Verhältnissen auch große Schwierigkeiten darbietet. Alle dies Umstände, die Wichtigkeit von welchen Du wohl anerkennen wirst, zwingen mich zu dem Entschluß mich von meinem kleinen Mädchen noch für einen Winter zu trennen. So lange wird unsere Trennung auch nicht dauern,

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denn in December werde ich die Möglichkeit haben sie wieder in Moskau aufzu- suchen. Was nun die Berücksichtigung des „q'en dira-t-on?“ anbetrifft so muß ich gestehen, daß ich demselben ın der Entscheidung einer so wichtigen Frage keinen Platz anerkennen kann: Ich bin ganz bereit in allem, was die Kleinigkeiten des Lebens betrifft, mich nach der Meinung der Welt in Stockholm zu fügen und in meiner Kleidung, in meiner Lebensweise, in die Wahl meiner Bekannten etc. etc. alles auf das sorgfältigste zu vermeiden, was dem strengsten Richter, oder vielmehr der strengsten Richterin Anstoß geben könnte. Wenn aber so wichtige Interessen wie das Wohl meiner Tochter im Spiele sind, muß ich schon ganz nach meinem eigenen Verstande handeln und es wäre eine ganz unvergleichliche Schwäche von mir, andere Berücksichtigung hier beizumischen. Ich bin überzeugt, daß Du, liebe theure Therese, welche wohl selbst bei der Erziehung Deiner Kinder gegen manche Vorurtheile zu kämpfen hast, wirst mir in dieser Beziehung Recht geben müssen. Ich habe meiner Freundin Julia den Inhalt Deines Briefes mit- getheilt und wir haben beide lange und ernsthaft darüber nachgedacht, was für die Kleine das beste sein kann. Wenn wir alle die pro und die contra zusammen- zichen, denke ich doch, daß das Beste wird das folgende sein: Die Kleine bleibt bei Julia noch ein Jahr; die beiden Monate Dec. und Jan. werde ich auch in Moskau verbringen. Den Sommer 1885 werde ich dazu anwenden, die kleine Sonia in der schwedischen Sprache zu unterrichten; im Herbst 1885 kommt sie nach Stockholm und Julia begleitet uns und bleibt bei uns den größten Theil des Winters. (In djesem Jahre würde es ihr, in Folge von verschiedenen Familienumständen un- möglich sein, für längere Zeit Moskau zu 5 Was mich betrifft, so werde ich für dieses Jahr eine kleinere Wohnung (von 8 Zimmern) miethen und eine Köchin nehmen, um etwas mich mit dem Haushalt vertraut zu machen und mich nicht vollständig in der Macht der Bedienung zu fühlen, wenn ich mich definitiv mit meiner Tochter zusammen in Stockholm niedersetze. Du würdest mir einen sehr großen Dienst machen, theure gute Therese, wenn Du die Mühe nehmen wolltest, eine solche Wohnung für mich aufzusuchen irgend- wo zwischen Dir und den Lefflers, genauer kann ich die Ort nicht precisiren, denn Ihr beiden sind für mich die zwei Anziehungspunkten in Stockholm. Eine der Zimmern sollte groß, die beiden andern können auch kleiner sein. Wenn die Küche klein ist, so würde eine Mädchenkammer auch unentbehrlich sein. Für die Anzahl der Treppen bin ich recht gleichgültig, die Sonne ist aber recht wünschens- werth. Was den Preis angeht, so denke ich etwas omkring 700—800 kr. Findest Du Etwas was Dir passend erscheint, so sei so gut und nehme es für mich. Ich überlasse mich vollständig auf Deine Wahl. Recht bedenklich erscheint mir die Frage des Ameublement. Ich habe gar keine Ahnung, was eine einfache aber an- ständige Ameublement von drei Zimmern und Küchengeschirr kosten und wo man eine solche am besten sich anschaffen kann? Da kann Dir gar nicht denken, theure Therese, wie grenzenlos unerfahren ich in allen solchen Fragen bin! Bis dem Jahre 1882 haben alle solche Sorgen mich niemals berührt und ich hatte auch niemals einen Begriff, was eine Sache kosten kann. Seit dem Jahre 1882 habe ich zwar selbständig und in viel reducirteren Umständen, aber dann immer in hotels oder in bres meublés gewohnt, so daß ich mit dem Haushalt doch nichts zu schaffen hatte. Würde es sehr unbescheiden von mir sein, Dich zu bitten, Dich etwas über diese Frage zu erkundigen und mir Etwas darüber zu schreiben? Wie Dir vielleicht die Lefflers erzählt haben, stehen jetzt meine finanziellen Verhält- nisse so, daß ich cs selbst nicht gut wisse, ob ich einiges Vermögen besitze und wie viel. D. H. ıch besitze, gemeinschaftlich mit meinem Bruder, ein großes Haus in Petersbourg; dasselbe ist aber in den letzten Jahren so gut administrirt worden, ich es riskire, für vielen Jahre noch keine Rente davon zu bekommen. Jetzt hat einer meiner Bekannten in 3 es übergenommen, die Sache etwas genauer zu übersichtigen; ich weiß aber nicht, ob es ihm gelingen wird die schon gemachten Fehlern ın Ordnung zu bringen. Jedenfalls muß ich, vorläufig wenigstens, recht ekonomisch leben und keine unnöthige Ausgaben machen. Entschuldige mich, liebe Therese, daß mein Brief so schlecht geschrieben ist. Die kleine Sonia sitzt neben mir während ich schreibe, und ich muß mit jedem Augenblick meinem Schreiben unterbrechen, um eine ihren Fragen zu antworten.

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In wenigen Tagen werde ich jetzt Moskau verlassen und mich nach Berlin begeben. Ich bitte Dich so freundlich zu sein, Deinen nächsten Brief auf dic Ad Linkseraße 88 Professor Weierstraß für Fr. S. Kov. adressiren zu wollen. In Berlin werde ich mein Möglichstes machen um über die Verhältnissen in Göt- tingen etwas genaueres zu erfahren.

Sei so gut und grüße herzlich von mir Deinen Mann. Ich habe hier meinen Manuskript über den Ring von Saturn gefunden und werde Prof. Gylden recht dankbar sein, wenn er es einmal durchblättern wird. Empfehle mich bitte Frau Lendaf Hageby und Hennes Mann. Meine Freundin Julia Lerm. bittet mich, auch Dir Ihren Empfhelung zu überreichen. Ich habe so viel von Dir erzählt, daß sie hat die Empfinden Dich persönlich zu kennen. Vor allem aber bewahre mir Deine mir so unaussprechlich theure Freundschaft. Deine Dir ganz ergebene

Sonia Kov.

In den letzten Jahren mehren sich in den Briefen an die Freundin in Paris die Klagen über ihr Leben in Stockholm. Es ist nicht allein die Abneigung gegen die wesensfremde Stadt, die sie quilt: je größer ihre wissenschaftlichen Erfolge sind, desto bitterer empfindet sie die eigene innere Leere und Einsamkeit. Immer häufiger daher ihre dichterischen Versuche, ihre Flucht in Bezirke, die außerhalb der rein geistigen Sphäre liegen, dem Menschlichen näher. In diese Zeit fällt die Herausgabe ihrer Jugenderinnerungen und der Plan zu einem mehr oder weniger autobiographischen, sozialistischen Roman. Alle ihre literarischen Arbeiten, niemals von irgendeinem igh oder einer Tendenz bestimmt, sind Zeugnisse einer reichen Menschlichkeit, die in Gleichnissen von sich sprechen möchte, die farbiger und blutgefüllter sind als mathematische Formeln,

1886 wird Sonja eine neue Last zu den alten aufgebiirdet: ihre Schwester erkrankt hoffnungslos. Mehrmals muß sie ihre Arbeit im Stich lassen, um nach Rußland zu reisen. Einige Zeilen an Therese Gyldén aus dieser Zeit:

Meine liebe gute Theresa! Ich danke Dir so herzlich für die ausführlichen Nachrichten, die Du mir über meine Sonja gibst und für Deine Fürsorge um sie. Meine Schwester ist leider in einem sehr traurigen Zustand. Es gibt wirklich nichts so Furchtbares wie diese langsam schleichenden Krankheiten. Sie leidet schr, die wichtigsten Organe ihres Körpers sind zerstört, sie selbst hat für nichts weiter Interesse als für ihre Krankheit. Die Ärzte würden es für ein Wunder halten, falls sie wieder gesund werden sollte. Und es ist wahrscheinlich, daß sie noch unbestimmte Zeit unaufhörlich so gequält wird vielleicht noch Monate, vielleicht auch Jahre.

Entschuldige, daß ich heute nicht mehr schreiben kann. Ich bin selbst in einer schr deprimierten Stimmung, ich komme eben von ihrer Seite, sie hat einen schweren Antall von Atemnot gehabt und sich den Tod gewünscht. Es ist furcht- bar, einen Menschen so viel leiden zu sehen und außerstande zu sein, nur im Ge- ringsten zu helfen.

Nochmals Dank, meine liebe gute Theresa. Ein frohes und gutes Weih- nachtsfest Euch allen.

Deine ergebene Sonja.

‚In dieser Zeit beginnt sie eine Novelle „Vae Victis“ und faßt den Gedanken an einen Doppelroman „Wie es war Und wie es hätte sein können“.

Endlich, Anfang 1888, stirbt Aniuta. Nur schwer gelingt es Sonja, sch nach diesem Verlust wieder zu wissenschaftliher Tätigkeit aufzu- raffen. Tage und Wochen vergehen, ohne daß ihre Untersuchungen fort- schreiten. Dabei weiß alle Welt, daß sie sich um den „Prix Bordin ur les sciences mathématiques“ bewirbt, den die französische Akademie reits fünf Jahre lang vergeblich ausgeschricben hat. Kurz vor Ablauf des Termins beginnt sie plötzlich fieberhaft zu arbeiten und führt ihre Abhandlung zu Ende. Am 24. Dezember 1888 wird Frau Professor Kovalevskij in der feier- lichen ee der Akademie der Preis zugesprochen. Klein, blaß, völlig erschöpft steht sie inmitten der ihr zu Ehren enberufenen Versammlung, die erste von der Akademie preisgekrönte Frau, Europas erste Mathematikerin.

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Persönlich geht es ihr in dieser Zeit so schlecht wie möglich. L’oiseau bleu der „blaue Vogel der Liebe entführt sie nicht auf leichten Schwingen in ein erträumtes Wunderland, mit schweren dunklen Flügeln rauscht er an ihr vor- über: ihre Freundschaft und Liebe zu Maxim Kovalevskij stürzt sie in Unruhe, Verzweiflung und Melancholie. Dieser Maxim Kovalevskij ist ein Verwandter ihres Mannes, ein revolutionär gesinnter Sozialpolitiker, von der russischen Ke- gierung, der er unbequem war, ausgewiesen, Typ des russischen Bojaren, klug, gutherzig und großzügig, dabei aber starrsinnig und anspruchsvoll. Er und Sonja sehen sich in Stockholm eine Zeitlang täglıch, dann reisen sie zusammen trennen sich finden sich wieder. Sonja gesteht, daß ihr in den letzten Jahren niemand innerlich so nahe gekommen ist, wie dieser Mann. Zwei Jahre des unent- schlossenen Hin- und Her. Und für Sonja dabei immer angestrengteste Tätigkeit an der Universität. An Neujahr treffen sie sich an der französischen Riviera und beschließen, ım Frühjahr endlich zu heiraten. Über Paris und Berlin reist Sonja nach Stockholm zurück. Sie liest noch zwei Tage mit verzweifelter Anstrengung, am dritten Tag erkrankt sie an einer Lungenentzündung. Treue Freundinnen Therese Gyldén und Ellen Key pflegen sie. „Zu viel Glück“ hört man sie am letzten Abend noch murmeln. Gilt das Vergangenem Zukiinftigem? Am 10. Februar 1891, noch vor Tagesanbruch, stirbt sic. Niemand ist bei ihr außer einer fremden Schwester.

Tiefe Trauer im Freundeskreis, Beileidsbezeugungen aus Berlin, Paris und London, von der Petersburger Akademie, von Mädchenschulen aus russischen Provinzstädten, von Frauen aus ganz Europa. Nachrufe in allen europäischen Zeitungen, in den Fachblättern.

Ergreifend in ihrer Einfachheit sind die Worte, die L. Kronecker der Toten in Crelles Journal (in dem seinerzeit ihre Doktordissertation erschien) widmet. Er schreibt nach einer Würdigung ihrer wissenschaftlichen Verdienste:

„„ . . Sophie von Kovalevskij verband mit einem außerordentlichen Talent sowohl für allgemeine mathematische Spekulation als auch für die bei der Ausführung spezieller Untersuchungen notwendige Technik gewissenhaften unermüdlichen Fleiß, hielt bei intensivster Fachtätigkeit stets ihren Sinn für andere geistige Interessen offen, bewahrte dabei immer ihre Weiblichkeit und erwarb und erhielt sich darum im Verkehr auch die Sympathie derjenigen, die außerhalb ihres fachwissenschaftlichen Kreises standen. Die Geschichte der Mathematik wird von ihr als einer der merkwürdigsten Erscheinungen unter den überhaupt seltenen Forscherinnen zu berichten haben. Ihr Gedächtnis wird durch die zwar nicht zahlreichen, aber wertvollen Arbeiten, welche sıc ver- öffentlicht hat, in der ganzen mathematischen Welt fortdauern, die Erinnerung an ihre bedeutende und dabei anmutsvolle Persönlichkeit wird in den Herzen aller derer fortleben, welche das Glück hatten, sie zu kennen.“

Dieser deutsche Gelehrte hatte mehr als die meisten ihr Nahestehenden begriffen, daß die Größe dieser Frau weit über ihre wissenschaftlichen Leistungen hinaus in der Unteilbarkeit ihres innersten Wesens, in ihrer tiefen Menschlichkeit lag.

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CONFERENCE DES HISTORIENS. DES ETATS DE L’EUROPE ORIENTALE ET DU MONDE SLAVE

Varsovie, le 26—29 juin 1927. Varsovie, Société Polonaise d'Histoire 1927, 1928. 2 Bde. 8°, unpaginiert bzw. 288 Seiten.

Von Dr. Otto Forst-Battaglia.

In einem ersten vorbereitenden Heft waren das Programm und die Inhalts- angaben der fiir den Warschauer Historikerkongreß der osteuropäischen Ge- schichtsforscher von 1927 geplanten Referate enthalten. Der Hauptband druckt die tatsächlich vorgelegten Mitteilungen ab. Es fehlen die angekündigten Bei- träge von Horvath (Projekt einer Geschichte der Balkanländer), Miljukov (Ruß- land und Europa), während der von Mansikka im vorbereitenden Band nicht resumiert worden war. Drei Referate sind deutsch (Hanisch, Strzygowski, Lukinich), sechs französisch (Wharton, Florovskij, Rozwadowski, Krypiakievy!, Mansikka, Balodis), acht in den eigenen Sprachen der Autoren abgefaßt (russische von Evreinov, Okunev, Sachanev, Smurlo, Taranovskij, polnisch von Kutrzeba, ukrainisch von Korduba, &echisch von Novotny). Fast ausnahmslos behandeln sie wichtige Fragen. Es sind zum Teil Berichte über die Organisation und den Stand der Forschung: Hanisch schildert die Wirksamkeit des Osteuropa-Instituts, Korduba die Notwendigkeit einer systematischen Sammlung der slavischen Orts- namen als Grundlage eines für zahlreiche Zweige der Geschichtswissenschaft fruchtbaren Inventars. Wharton zeichnet mit angelsächsischer Großzügigkeit das Programm einer Geschichte des Buchdrucks in Osteuropa. Balodis stellt die von ihm mit viel Erfolg geleiteten Ausgrabungen längst der lettisch-slavischen Sprachgrenze als ein Muster dar, wie durch die Archäologie wichtige Streitfragen der Völkergeschichte entschieden werden können. Krypiakievyés Gesamtbild der ukrainischen Historiographie von heute ist eine etwas trockene Titelaufzählung, die jedoch genügt, um die Stagnation der ukrainischen Geschichtsforschung zu enthüllen, die in noch stärkerem Grade als die polnische sich aufs Nationale be- schränkt und da wieder dem unmittelbar Aktuellen verhaftet bleibt, sich in wirtschafts- und ständegeschichtlichen Studien und in Motivenberichten zum Postulat der völkischen Selbständigkeit äußert. Kein Wunder, denn die ukrai- nischen Historiker sind über die Länder der Emigration (Berlin, Prag, Bratis- lava usw.), sowie die polnischen Ostprovinzen zerstreut, ohne eigentliches Zentrum und ohne genügende Mittel. In der Räte-Ukraina aber darf nichts als historischer Marxismus produziert werden: also Quellensammlungen zur ein- seitig gesehenen Sozialgeschichte und historische Propaganda. Immerhin ragt ein Gel r wie Hruševskyj über die Masse der Zeitgenossen empor. Ganz anders ist das Bild im kleinen, aber kulturell hochstehenden, wirtschaftlich konsoli- dierten Finnland. Drei Universitäten, mehrere gelehrte Gesellschaften mit international angesehenen Veröffentlichungen, vor allem aber Prüfstein von entscheidendem Wert das lebhafte Interesse der Nation für ihre Geschichte, der Geschichtsforscher für die Geschichte auch der anderen Nationen bekunden den hohen Stand der Vissenschaft, von der Mansikka in seinem Referat über den Stand der historischen Forschung in seiner Heimat ein ansprechendes, leider zu wenig um einzelne Persönlichkeiten und Probleme konkretisierendes Ge- mälde entworfen hat.

Strzygowskis nur gedruckt vorliegender, nicht gehaltener Vortrag ist viel- leicht der bedeutsamste des Sammelbandes. Er bietet eine methodologische Aus- einandersetzung über „Geschichte, Vorgeschichte und Fachforschung“ und spinnt das in der „Krise der Geistes wissenschaften“ eingeschlagene Thema weiter aus. Er stellt zunächst die Geschichte der Vorgeschichte gegenüber. Revindiziert für

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die zweitgenannte als ihr eigentümliche Methoden den Vergleich der Denk- mäler statt deren unmittelbare Bewertung; eine relative statt der historischen absoluten Chronologie. An diese nicht so ohne weiteres zutreffende Parallele (hat denn Strzygowski nichts von der vergleichenden Sprachforschung gehört, die eine historische Wissenschaft ist, und von relativen Datierungen in der Ur- kundenlehre, die sich doch zeitlich im geschichtsmäßigen Raum bewegt?), reiht der originelle und kampfesfrohe Wiener Gelehrte sein System der Kunst- geschichte. Über die von ihm so genannten Bestandtatsachen, deren Kunde uns die historischen Quellen vermitteln und denen wir mit einfacher Beschreibung gerecht werden, stellt er die Wesenstatsachen und die Entwicklungstatsachen, bei denen es sih um aus Betrachtung erschlossene Werte und um zu erklärende, wirksame Kräfte handel. Nach Strzygowskis Methoden, de man kann es nicht oft genug wiederholen, im Grunde gar nicht so verschieden von denen der vergleichenden Sprachforschung sind, nur mit weit mehr draufgängerischem Mut aus zeitlich nur relativ, örtlich nur ungefähr zu enträtselnden Zusammen- hängen die „Wesenstatsachen“ ableiten, erfährt die Kunstgeschichte und nicht nur sie, eine völlige Umgestaltung. Der Gegensatz von Barbaren und Kultur- menschen wird geleugnet. Es gibt nur Verschiedenheiten und keine Hierarchie der Kulturen, Verschiedenheiten, die geographisch nr sind und sich auf den Gegensatz der beiden Zonen, der heißen und der kalten zurückführen lassen, die sich in einer dritten, der Mittelzone mischen, in der man bisher alle wirk- liche Kultur beheimatet glaubte. Diese Zonen unterscheiden sich kraft des in ihnen bevorzugten Rohstoffes (der dann wieder für kleinere Sondergebiete jeweils verschieden ist. Holz ist im Norden, Stein am Mittelmeer, rstoff in Hoch- asien zur Hand). Sie unterscheiden sich durch den Zweck des Schaffens: Im Norden dient es der Erleichterung des Kampfes ums Dasein, den Schutz 4 Kälte; es entsteht die Zweckkunst, bei der auch das Ornament nur sinnbil bleibt. Im Mittelmeer und im Süden bekundet sich die Freiheit vom unmittel- baren Naturzwang in der freien Darstellung. Unterschiede weiter in der Gestalt: Der Norden schmückt geometrisch, der Süden durch die Nachbildung von Mensch, Tier und der Natur überhau Unterschiede in der Form: Der Norden füllt Flächen im Sinn des Handwerks; der Süden geht von der Einzelfigur aus. Unter- schied vollends im Inhalt, im seelischen Gehalt: den Norden beherrscht das Sym- bol; im Süden dient die Kunst der Macht.

Daß Strzygowskis Theorien, in denen eine Unmenge Erfahrung und geist- reicher Beobachtung steckt, in ihrer Verallgemeinerung unhaltbar sind, wird von allen Anhängern der klassischen Kunstgeschichte leidenschaftlich behauptet; daß sie bis ins kleinste zutreffen, werden auch die aufrichtigen Bewunderer dieses kühnen Bahnbrechers nicht beanspruchen. Zunächst berührt sich Serzygowskis Lehre stark mit der vom Anthropologischen herkommenden Geschichts- auffassung der Rassentheoretiker. Sie hehe nicht im leeren Raum, sondern sie ist untrennbar von einem Imponderabile, von einem rational nicht weiter erweisbaren Gefühl, daß der Norden nicht ursprünglich barbari - über den Mittelmeerrassen minderwertig gewesen sei. Strzygowskis Schema hat verzweifelte Ähnlichkeit mit einem wohlbekannten, das die kühnen, freien, heldischen Bekenner der in unendliche Weiten sich verlierenden pantheistischen Naturreligion den nüchternen, realistischen, erdgebundenen, unterwürfigen, dem Ritus 3 Theisten gegenüberstellt; nur daß hier nicht der Gegensatz blonde Arier gegen schwarze Südlinge, Westische e tutti quanti, sondern beim politisch nicht unmittelbar beeinflußten Strzygowski, Nordmenschen gegen Süd- menschen lautet. Merkwürdig, daß sich 3 ein paar gesichterte Ergeb- nisse der Sprach wissenschaft entgehen ließ, die er prächtig 5 könnte, nãmlich die sich aufschließende Verwandtschaft der N mit den indoeuropäischen Sprachen und die erstaunlichen Resultate, die einerseits die nähere Bekanntschaft mit Chetitern, dann mit den Tocharischen Ausgrabungen gezeitigt hat. Der ausgezeichnete Kunsthistoriker tite gut, das Interesse, welches er z. B. den zwar genialischen, doch ganz unwissenscheftlichen, nur in der Blickrichtung bedeutsamen Visionen von H. Wirth und den reichliche Dosis von Phantasie besitzenden sehr klugen Kombinationen der Etruskologie Mühle- steins entgegenbringt, auch für die vornehm zurückhaltende, nicht minder

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pu Arbeit der Meillet und Grammont aufzuwenden, wie er ja schon von uchardt und Hrožny Notiz genommen hat.

Ohne Zwcifel, und darin liegt die Bedeutung der Strzygowskischen Studien für uns slavische Historiker im rn, ganz abgesehen von der methodo- apean, die sie fiir die Geschichtsforschung überhaupt hat, wird sich die Aus-

nung des Blickfelds von den Karpathen und von der Weichsel nicht nur bis in den europäischen Norden, sondern über die russischen, sibirischen, hoch- asiatischen Flächen bis an den Stillen Ozean zusammen mit den bahnbrechenden Entdeckungen der Prähistorie in Vorderasien und in Turkestan, in der Wüste Gobi und im Jünnan, zusammen mit der philologischen Ernte der beiden letzten Jahrzehnte und mic der fortschreitenden Vertiefung der anthropologischen Kenntnisse des Ostens zu einem neuen, zum ersten zutreffenden Gesamtbild von der aus den gemeinsamen indo-europäischen (weder indischen noch europäischen) Anfängen sich losschälenden, alsdann in ihren von Peisker mit richtigem Instinkt und hinkender Logik gewitterten Zusammenhängen mit dem turko-tartarischen Kulturkreis sichergestellten altslavischen Geschichte entwickeln. Kehren wir indes nochmals zu Strzygowskis bedeutenden Vortrag zurük. ... An die Wesenswissenschaft als zweite Stufe der Bestandtatsachenlehre reiht er die Ent- wicklungsgeschichte an. Beileibe nicht, was die Historiker sonst als genetische Geschichte bezeichnen. Die Entwicklung: nicht das Nacheinander-, sondern das Auseinanderhervorgehen der geschichtlichen Erscheinungen, wird durch die Be- harrung (die natürliche Tendenz, der Masse die ihr eigentiimliche Wesenheit zu erhalten), durch den Willen (fremder Eroberer oder der eigenen Herrscher, etwas Neues der Masse aufzuzwingen) und durch die Bewegung (die Veränderungen der Wohnsitze) bestimmt. Durch die Entwicklung entstehen erst die Varia- tionen des an sich zum Beharren geneigten Wesens. Nordische Völker kommen nach Süden, nehmen südliche Wesensbestandteile an, zwingen ihre eigenen Be- griffe den unterworfenen Südmenschen auf. Hier müssen wir wieder einschalten, daß Strzygowski, ohne es geradeaus zu wollen, von politischen Zeitströmungen beherrscht wird. Gehorcht seine Wesenswissenschaft der Rassenlehre, so die Ent- wicklungskunde dem historischen Materialismus in seiner marxistischen Form und in seiner Rousseauschen, das Volk vergottenden Variante: die Masse Natur verkörpert das Gesunde und das Rechte. Von den verderbten, entarteten oberen Schichten wird durch. Gewalt, kraft materieller Ausbeutung das Natur- hafte, Wesenhafte beseitigt.

Strzygowski schaltet dann konsequent die Einzelpersönlichkeit aus der Ge- schichte, zumal der Kunst, ebenso aus, wie das die Bol3eviken (in der Theorie) tun. Und die bollevikische Doktrin wird wieder ihre Freude daran haben, wie der Wiener Gelehrte vom Beschauer (der künftig allein vollkommenen Variation des historischen Forschers) fordert, er müsse sich in ein „Werkzeug der Sachen“ verwandeln, die er beschaut. Freilich, richtig verstanden, haben diese Objek- tivisierung schon die bösen Historiker alter Schule gepredigt, wenn sie zeigen wollten, wie „es“ (maa beachte das unpersönliche „es“!) eigentlich gewesen und geworden ist. bis zu dem Glauben, der Strzygowski eignet, diese Objek- tivität werde sich jemals in absolute Wahrheit verwandeln, sei es auch um den Preis des Verzichts auf Persönlichkeit beim Beschauer, zu diesem Glauben vermag ich nicht vorzudringen. Auch auf dem Umweg über Wesenskunde und Entwick- lungskunde wird es kaum gelingen, die Geschichte in eine zeitliche Aufeinander- folge von Experimenten zu verwandeln, aus deren Überbleibseln sich die ver- meinten Regeln der menschlihen Natur, also eine Naturgeschichte ergibt. Dennoch wird man dem Vortrag und dem großangelegten, in vielem Zukunfts- möglichkeiten erschlicßenden System Strzygowskis nicht die geziemende be- wundernde Teilnahme versagen.

Von den konkreten Einzelfragen der Geschichte erörternden Themen steht Rozwadowskis knappe Betrachtung über die Urheimat der Slaven mit dem Strzygowskischen Aufsatz in engerem Zusammenhang. Die Resultate dieses sehr vorsichtigen und mit klarer Absicht sich den populären oder zur Popularität be- stimmten gelehrten Ansichten entgegenstemmenden Artikels sind wesentlich negativ: wir kennen nicht das Volk, das als Sprache das Gemeinslavische hatte; wir dürfen nur vermuten, daß diese Sprache ın einer Gegend östlich der von

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der herrschenden Meinung wie z. B. Niederle angenommenen Urheimat zuhause war (wobei die Flußnamen wichtige Argumente liefern). Wir wissen nicht, ob das Gemeinslavische sich zur Zeit Christi oder 1000 Jahre früher vom indo- europäischen Stamm absonderte. Mit dieser bescheidenen Zurückhaltung knüpft Rozwadowski an Meillets Haltung gegenüber dem Indoeuropäischen an: ein Volk X hat zur Zeit X im Raum X eine Sprache X gesprochen, von der wir nur wissen, daß sie die gemeinsame Mutter der nachweisbar untereinander ver- wandten Tochtersprachen war. Sehr zu begrüßen ist die Ablehnung der ins Aktuell-Politische abschweifenden Theorien vom slavischen Ursprung der so- genannten Lausitzer Kultur (entre le subtil et le ridicule il n’y qu’un pas... Von den Lausitzer Slavenschwärmern zu den Žunkovič und Konsorten ist's nur ein Schritt).

Kutrzeba beschäftigt sich mit den westlichen und östlichen Elementen im slavischen Recht. Er verzichtet darauf, Ähnlichkeiten zu schildern, die sich durch ähnliche Entwicklungsbedingungen erklären oder noch aus urindoeuropäischen Zeiten herrühren mögen (also auf die „Phonetik“ und „Morphologie“ des Rechts) und er beachtet nur den nachweisbaren Import, die den ethymologischen Entlehnungen vergleichbare Rezeption fremder Bestandteile. Bei den Südslaven überwiegt byzantinischer, östlicher Einfluß. Doch nur im serbischen und bulga- rischen Gebiet. Schon die Kroaten und erst recht die Slovenen gehören in die lateinische (und germanische) Kultursphäre, an deren Ausbreitung mittelbar auch Ungarn seinen Anteil hatte. Von den nördlichen Slaven haben die Ruthenen besonders auf kirchlichem Gebiet auf die Stimme von Byzanz gehorcht. Ost- liches Recht, mit sehr beschränkter Geltung waren auf polnischem Boden ferner der armenische Kodex des Datastanagirk und die. Vorschriften des Talmud. Im übrigen herrschten da fast allein die Einwirkungen des germanischen (fränkischen) und römischen Rechts. Des ersten in den Institutionen und in allem, was Städtewesen sowie die freibäuerlihe Kolonisation betrifft, das antike römische Recht im Privatrecht und im Prozeß, das Corpus iuris canonici, in dem natür- lichen Bereich seiner Geltung. Später kamen dann die französischen und engli- schen Einflüsse hinzu, die sich seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts leise, seit der Revolution stark bemerkbar machten. Im allgemeinen reichen die westlichen Institutionen auf slavischem Boden weiter nach Osten als die Grenzen der west- lichen Kultur. Allerdings müssen sie sich einer An ng an die örtlichen Ver- hältnisse unterziehen, und mit bodenständigen GE östlichen Elementen ver- quicken. In dem stoffreichen Aufsatz haben wir nur das Fehlen eines Hinweises auf die besonderen Einflüsse des Nordens zu beklagen (das Nordische dürfen wir nicht ohne weiteres mit dem Vestlichen gleichsetzen). Gerade bei dem von Kutrzeba gewählten Beispiel der Vappen als einer durch östliche bzw. heimische Modifikationen veränderten westlichen Institution ergibt sich durch die mangelnde Unterscheidung des Nordischen ein falsches Bild. Übrigens hätte der Vortrag auch dadurch gewonnen, venn die niederrheinischen, die sächsischen und die schwäbischen Elemente innerhalb des „Westlichen“ schärfer herausgehoben worden wären.

Florovskij untersucht einen Sonderfall innerslavischer Vechselwirkung, der zwischen Russen und Cechen. Er findet diesen gegenseitigen Kontakt hauptsäch- lich auf kulturellem Gebiet, und nur selten auf politischem. Der geschätzte Autor verfällt mitunter in politische Rhetorik und übersieht im Interesse der slavischen Solidarität, daß sich die russisch-&echischen politischen Verbindungen fast stets gegen einen slavischen Dritten, nämlich Polen, kehrten. Prof. Novotny Beles e an der Hand der von ihm zu Prag im erzbischöflichen Archiv entdeckten Dokumente die näheren Umstände, die sich zur Hussitenzeit einer polnisch-litauisch-£echischen Kombination entgegenstellten. Wir erfahren, daß die Prager Machthaber, als sie im Jahre 1420 alternativ Władysław Jagiello und dem Großfürsten Witold die böhmische Krone antrugen, zugleich deren bedingungslosen Beitritt zur hussitischen Lehre verlangten und daß es diese Umstände waren, die damals eine Lösung verhinderten, wie sie später, unter veränderten Bedingnissen, durch die Berufung des braven Königs „Dobrze LAs:zlo“ Tatsache wurde. Lukinich berichtet von einer anderen denkwürdigen Berufung auf einen slavischen Herrscherthron: wie Stefan Bathory König von

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Polen wurde und wie dann später andere Fürsten von Siebenbürgen seinen glor- reichen Spuren zu folgen begehrten. Der Aufsatz bringt nichts Neues.

Maciejowski zeichnete das alte serbische Recht als eine Fundgrube für die ältesten gemeinslavischen Institutionen, als eine Mischung von demokratischen und aristokratischen Anschauungen und durchsetzt von orientalisch-byzantinischen Elementen. Prof. Taranovskij weist diese Auffassung zurück und stellt dagegen fest, im serbischen Recht seien die Spuren des ethnographischen Zusammen- fließens von zweierlei Bevölkerungsgruppen, der sprungweisen Entwicklung des altserbischen Staates und der tiefgreifenden Umwandlung des rezipierten byzan- tinischen Rechts zu sehen. Die Abhandlungen von Sahane und Okunev sind der russishen Kunstgeschichte gewidmet. Sachanev findet die Ornamentik der prähistorischen, vorslavishen Zeit in der russishen Volkskunst wieder. Strzy- gowski spendete hier Beifall, wäre nicht das Tierornament, das zu diesem nordi- schen Aspekt nicht gut paßt. Okunev aber bewegt sih mit seiner Charakte- ristik der russischen Gewölbebauten ganz in der von Strzygowski angedeuteten Richtung und zeigt die Novgoroder mittelalterliche Architektur als Import aus dem gothisch- romanischen Westen. Sogar die Glocken, die berühmten Glocken von Novgorod haben ein romanisches Geläute. Smurlos Mitteilung über ein Diplom Peters des Großen an die Kapuziner, das diesen den Bau einer Kirche in Moskau gestattete, gibt nach dem Original im Archiv der Propaganda zu Rom eine Analyse dieses von Theiner in einer tendenziösen Redaktion ver- öffentlichten Dokuments, mit dem Peter, wie später Katharina, dem Westen Sand in die Augen streuen wollte. Die russishen Methoden: daheim Unter- drückung der Gewissen, nach außen die Pose vornehmer Toleranz, sind sih durch die Jahrhunderte gleichgeblieben. Und dieser Methoden Zeugnisse füllen die Archive ... der Propaganda. Evreinov beschäftigt sich mit den Ergebnissen der Reformen Alexanders I. Unter dem Druck der Zeitverhältnisse, zum Teil unter der Nachwirkung seiner Erziehung durch Laharpe und vor allem dank der Haltung Speranskijs, endlich im Kontakt mit Czatoryski und dem Novosil’cov der liberalen Epoche hat der Car die Gewaltenteilung bei der obersten Be- hörde durchgeführt (nicht die Teilung seiner Gewalt mit anderen). Daß diese Reformen cbenso wie der theoretisch vortreffliche Instanzenzug auf dem Papier allein Wirkung hatten, läßt Evreinov zu wenig klar hervortreten.

Außer den Referaten bringt der Sammelband noch den Extrakt der Sitzungsprotokolle des Warschauer Kongresses: Ansprachen, Fragmente der Dis- kussion, die gefaßten Beschlüsse, unter denen die über das geplante Lexikon slavischer Altertümer und die Herausgabe eines „Bulletin“ der Literatur zur osteuropäischen und slavischen Geschichte allgemeine Beachtung verdienen. Das Organisations-Comité hat uns durch den Druck des vorliegenden Buches eine er- freulihe Gabe beschert und der Tagung ein bleibendes Denkmal errichtet. Unsere Dankbarkeit darf freilich nicht verschweigen, daß die Korrektur der in so viel Sprachen gedruckten Aufsätze viel zu wünschen übrig läßt und daß, wo- ferne das Französisch als Sprache der „Résumés“ bestimmt wurde, eigentlich auch zu erwarten stand, diese würden französisch geschrieben sein. So sind sie zum großen Teil in einem Jargon abgefaßt, wie ihn etwa S. M. der König von Cerdagne geredet haben dürfte. Manches ıst nur komisch, so etwa der „etaint présentes les personnes dont les noms suivent: Doc... Dr... Prof. . ., Dir. . .“ (man denkt an das „prêtre docteur X. Y. der polnischen Radiosender- Programme). Anderes aber traurig. So wenn man nach Vergleich mit dem russischen Text herausbekommt, daß Smurlo mit dem Satz „Par ces diplômes .. . Pierre voulait... attenuer la mauvaise impression produite... par ce qu'il est convenu d'appeler „les massacres de Polotsk“ (juillet 1705)“ sagen will, Peter habe durch Diplome den schlechten Eindruck mindern wollen den die gemeinhin „Das Blutbad von Polock“ genannten Ereignisse hervorgerufen hatten. Man kann von keinem slavischen Historiker fordern, er müsse mit Paul Valéry in Wettbewerb treten. La plus belle fille du monde (und die höchste Gelehrsamkeit) ne peut donner que co qu’elle a, aber die Redaktion des Tagungsberichts hätte den Band durch einen des Französischen wirklich Kundigen durchsehen lassen müssen.

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III LITERATUR BERICHTE

NEUE AUSGABEN SODSLAVISCHER POETISCHER LITERATUR UND QUELLEN ZUR KULTUR- UND GEISTESGESCHICHTE

Von Josef Matl. 1. Naši pjesnici.

Seit einigen Jahren erscheint in Zagreb unter dem Titel Nazi pjesnici im Verlag der Narodna Knjižnica eine Serie Anthologien jugoslavischer (slovenischer, kroatischer und serbischer) Lyriker, von der mir bisher 13 Bändchen vorliegen. Von den Slovenen sind bis jetzt F. Prešeren, St. Vraz und S. Gregorčič ver- treten, von den Kroaten P. Preradović, VI. Nazor, A. G. Matoš, Lj. Wiesner, August Həarambašić; von den Serben Br. Radičević, Gj. Jakšić, L. Kostić, Voj. Ilić, Zmaj. J. J. Wir sehen, daß von den Kroaten auch führende Lyriker der. Moderne in der Auswahl geboten werden (Nazor, Matoš, Wiesner), dagegen von den slovenischen und serbischen Lyrikern nur die bedeutendsten Lyriker des 19. Jahr- hunderts, vor allen des Romantismus, während O. Župančič und M. Rakić u. a. noch fehlen. Die Serie verfolgt einerseits den Zweck, in kleinen handlichen und billigen Ausgaben die Meisterwerke der jugoslavischen Lyrik weiteren Kreisen zugänglich zu machen, ander- seits das gegenseitige literarische Kennenlernen zwischen den Slovenen, Kroaten und Serben zu fördern, das ja bisher, wie ich ge- legentlich meiner Studienreisen in Jugoslavien wie auch an jugo- slavischen Studenten und Journalisten‘ wiederholt feststellen mußte, erschreckend gering ist. Ein weiterer Zweck der Sammlung ist der, für den Literaturunterricht an Mittelschulen geeignete Lektüre zu bieten. In dieser Hinsicht reiht sich diese Serie an die seinerzeitige, leider nur auf die kroatischen Erzähler beschränkte Anthologie kroatischer Erzähler: Hrvatski pripovjedaéi, die der Ver- band der kroatischen Mittelschulprofessoren (Društvo hrvatskih srednjeSkolskih profesora) herausgab. Die ältere Ausgabe redigierte

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M. Ogrizovié (1917). In der Neuausgabe (1926), die der be- kannte Zagreber wissenschaftliche Kritiker und Literaturkritiker I. Esih mit Geschick besorgte und mit gründlichen literarhistorischen Einleitungen und Charakteristiken versah, sind auch die führenden Erzähler der Moderne wie Mato$, Krle2a, I. Andrié u. a. vertreten. Auch die durch D. Bogdanović, den Verfasser des kritisch um- strittenen Pregled knjiZevnosti hrvatske i srpske I—III, besorgte 6. Auflage des bestbekannten literarhistorischen Lesebuches von Franjo Petraéié und Ferdo Z. Miler, Hrvatska čitanka za više razrede srednjih škola. Knjiga II: Povijest književnosti Hrvata, Srba i Slovenaca od početka XIX. vijeka do danas, wäre hier zu erwähnen. Sie umfaßt sowohl in den literarhistorischen Abschnitten als auch in dem dargebotenen literarischen Lesematerial neben der kroatischen auch die slovenische und serbische Literatur. Neue Gesichtspunkte sind nicht festzustellen weder in der grundsätzlichen Auffassung der Epochen oder der einzelnen Dichter noch in literaturpädagogischer Hinsicht. Die herkömmliche Einteilung und Charakteristik in Romantizam und Realizam, die, wie ich in meinem Vortrag über „Romantik und Realismus in den südslavischen Literaturen des 19. Jahrhunderts“ auf dem ersten Slavistenkongreß (Prag, Oktober 1929) darzulegen versuchte, bei einer etwas tiefer gehenden literatur- wissenschaftlichen geistes- und stilgeschichtlichen Betrachtungsweise wohl nicht mehr aufrechtzuerhalten ist, wird unverändert bei- behalten. Gut ausgewähltes Lesematerial aus den Literaturen aller drei jugoslavischen Völker bringt auch die literaturpädagogisch sehr fortschrittliche und moderne Srpska Citanka I—IV (Beograd, 1920) (für die Mittelschulen), 3 von V. M. Jova- no vi, ehemals Professor an der Universität Belgrad, und von M. Ivkovié, ehemals Professor an der Universität Skoplje. Ich verweise hier deshalb auf diese literarhistorischen Lesebiicher, weil sie bei dem Mangel an systematischen Gesamtdarstellungen der neueren südslavischen Literaturen und vor allem bei dem Mangel an Anthologien und Einzelausgaben für literaturwissenschaftliche seminaristisch Übungen an den Universitäten außerhalb Jugo- slaviens als Hilfsbücher in Betracht kommen. Für das slovenische und bulgarische Literaturgebiet sind wir ja etwas besser mit Anthologien versorgt. Es sei hier nur hingewiesen auf die: Noviji slovenski pisci. Životopisi i izbor tekstova. Priredio Dr Fran Ilešić. Zagreb 1919; Matica Hrvatska, 274 S. (eine Fortsetzung der 1907 erschienenen „Slovenske novele i povesti“); ferner auf die bulgarischen: Bl garska beletristika. Antologija. Naredi Vel Jordanov, 826 S., und Blgarski poeti. Antologija. Pod redakcijata na Chr. Cankov. 1922, 504 S., beide herausgegeben vom Ministerstvo na Nar. Prosvěštenie.

Die Anthologien der Serie Naši pjesnici sind nicht nach einem einheitlichen ästhetischen Gesichtspunkt ausgewählt, wie die seinerzeitige, in ihrer Art vorbildliche Antologija novije

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srpske lirike (Zagreb, 1911) des B. Popovic, sondern man will in erster Linie die charakteristischen Gedichte der einzelnen, nach dem derzeitigen literarhistorischen Urteil bedeutenden Lyriker geben und überläßt die Wahl dem einzelnen mit der Auswahl Betrauten. Immerhin wird das ästhetische Moment in dieser Auswahl sowohl in bezug auf die Dichter als auch auf die Gedichte bedeutend mehr be- rücksichtigt, als es in älteren ähnlichen Versuchen, bei denen national- und moralischpädagogische Momente noch eine viel wesentlichere Rolle spielten, der Fall war. Die Sammlung reiht sich an ähnliche Be- strebungen, die literarische Kunst dem nationalkulturellen Leben und der nationalkulturellen Bildung der weiteren Volksschichten nahe zu bringen und fruchtbar zu machen, wie sie bisher vorwiegend die einzelnen Matice (Matica Slovenska, Matica Hrvatska, Matica Srpska) und andere ähnliche nationale Bildungsinstitutionen wie die Srpska Književna Zadruga, Društvo Sv. Jeronima, vertraten. Neben- bei sei hier für das kroatische Gebiet auf die nach dem Weltkriege leider nicht fortgesetzte Sammlung bzw. Ausgabe moderner kroa- tischer Dichter und Schriftsteller Savremeni Hrvatski Pisci verwiesen, die der kroatische Schriftstellerverband Društvo Hrvatskih Knjizevnika herausgab. Ferner sei ergänzend zu den seinerzeit in diesen Jahrbüchern angezeigten (Band III S. 295/96) Nachkriegsausgaben der Matica Hrvatska auf folgende Neuausgaben bzw. neue Ausgaben kroatischer Literatur hingewiesen: August Cesarec, Za novim putem. Novele. 193 Seiten. Dragan Bublié, Atentat. 115 S. Ilija Despot, Kidanje. Nove pjesme. 117 S. Branko Ma$ié, Direktor Prokié. Karakteri i sudbine. 222 S. Venceslav Novak, Izabrane pripovietke. 282 S. (1927) alle übrigen Zagreb 1926. In den stark wirksamen, das jugoslavische Erlebnis und Geschehen der Nachkriegszeit gestaltenden Novellen von Cesarec, Bubli& und Mašić sind drei der bedeutend- sten von den jüngeren kroatischen Nachkriegserzähler gegeben, während mit der Ausgabe der bisher in Zeitschriften verstreuten Novellen des Vj. Novak einer der bedeutendsten kroatischen Er- zähler des Realismus der 80 er und 90 er Jahre neu dem Lesepublikum mit einer einführenden biographisch-literarischen Charakteristik zu- gänglich gemacht wird. Diese Neuausgabe Novaks rief eine gründ- lich fundierte literarisch kritische Neubewertung des Dichters hervor, die der berufene A. Barac im Savremenik XXI (1928), S. 297 ff. vor kurzem gab. Nebenbei sei hier ferner auf die neuen, vorzüglich redigierten slovenischen Anthologien slovenischer Lyriker hin- gewiesen in der Prešernova čitanka, Aškerčeva čitanka, Gregor- čičeva čitanka und Stritarjeva čitanka.

Alle diese Ausgaben wären literarhistorish und für die Lite- raturwissenschaft von keiner besonderen Bedeutung, wenn wir soweit wären, daß wir von den wichtigsten jugoslavischen Dichtern kritische Gesamtausgaben hätten. Das ist aber nur bei einem verschwindend kleinen Prozentsatz der Fall, obwohl zugegeben werden muß, daß nach dem Kriege zunächst bei den Slovenen, seit kurzem auch bei den

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Serben die systematische Arbeit in dieser Richtung eingesetzt hat. Es sei hier nur auf die kritische Gesamtausgabe der Werke von J. Jurčič und I. Tavčar hingewiesen, die I. Prijatelj be- sorgt, auf die Neuausgabe der gesammelten Schriften von F. Masel j- Podlimbarski, besorgt durch J. Slebinger, auf die Heraus- gabe S. Jenkos, die J. Glonar anvertraut war. Bei den Serben bringt die neue Biblioteka srpskih pisaca, von der bereits über zwei Dutzend auch schön ausgestatteter Bände erschienen sind, systematisch kritische Gesamtausgaben der führenden serbischen Dichter. In nächster Zeit soll in Beograd eine Biblioteka savremenih jugoslavenskih pisaca erscheinen, die die gesammelten Werke bedeutender lebender Schriftsteller bringen soll. Zunächst stehen im Programm J. Dučić, V. Nazor, O. Zu- pančič, M. Rakić, D. Domjanić, V. Petrović, M. Krleža. Im allgemeinen muß man immerhin feststellen, daß ein Großteil der Werke der neueren südslavishen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts noch in allen möglichen Zeitschriften ver- graben und versteckt ist und damit jede systematische literatur- wissenschaftliche Forschung außerordentlich erschwert ist. Aus diesem Grunde ist jeder Versuch der systematischen Sammlung und kritishen Ausgabe der literarischen Werke der einzelnen Dichter auch im Interesse der Forschung zu begrüßen.

Bändchen I der Sammlung Naši pjesnici bringt cine Aus- wahl aus den Gedichten von P. Preradović, besorgt und mit einer Einleitung versehen von Br. Vodnik, der seinerzeit eine gründliche Monographie über Preradović gegeben hat. (Vgl. darüber J. Matl, Br. Vodnik als Literarhistoriker. Slavia VII, S. 96). Bd. II: Franjo Prešeren. Antologija. Uredio i predgovor napisao Dr. J. Glonar. 1922. 72 S. Da die Auswahl einem Publikum bestimmt ist, das sonst nicht slovenische Bücher in die Hand nimmt, ist der Text der besseren Verständlichkeit halber an ein- zelnen Stellen modernisiert. Ebenso ist die Akzentuierung Prešerens nicht beibehalten, sondern den Bedürfnissen der Kreise, für die die Ausgabe bestimmt ist, angepaßt; das soll praktish heißen, die Ver- schiedenheit gegenüber der serbokroatischen Betonung ist wenigstens in bezug auf die Tonstelle bezeichnet. Ferner soll ein kurzes Wörter- verzeichnis der im Serbokroatishen unbekannten oder in der slove- nishen Bedeutung nicht bekannten und gebräuchlichen Wörter die Verständlichkeit erleichtern. Das in der Einleitung (S. 6) gebrachte Verzeichnis der Ausgaben und der Literatur über Prešeren wäre heute dahin zu ergänzen, daß die tiefgriindige, besonders auf die ästhetische und formale Seite eingestellte monographische Untersuchung über Prešeren als Dichter und Künstler von August Žigon (Francé PreSéren poet in umetnik. Slovstvene knjižnice 1. zvezek. Celovec- Prevalje 1925 CXCI + 88 + 12 S.) noch zu erwähnen ist. Eine kritishe Gesamtausgabe bereitet der Laibacher Literaturhistoriker Kidrié vor. Die literarhistorische Einleitung über das Leben, die literarische Tätigkeit und Bedeutung (S. 7—19) Prešerens bietet

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nichts wesentlich Neues. Gut ist die Kunstauffassung Preferens und der literarischen Gruppe um die Kranjska Cebela und ihr Kampf gegen die ältere literarische Tradition herausgearbeitet. Die Aus- wahl selbst bringt die bekanntesten Gedichte, Balladen und das epische Gedicht Krst pri Savici.

Bd. III: Gjura Jakšić, Antologija. Izabrao Branko Mašić. Uvod od Jovana Skerlića. 1924. 70 S. Der von dem Verfasser eines der interessantesten serbokroatischen Zeit- und Gesellschafts- romane der Nachkriegszeit (Deda Joksim), von Br. M a šić besorgten Ausgabe ist die von Skerlić übernommene literarhistorishe Wertung als Einleitung vorangestellt. Die Auswahl aus den Gedichten Jakšić, dieses typishen Vertreters der serbishen romantischen Omladina-Lyrik mit all ihrem nationalistischen Pathos, ihrer Rhetorik und ihrem Gefühlsübershwang, bringt neben lyrischen Gedichten auch einige episch lyrische Gedichte.

Bd. IV: Vladimir Nazor, Carmen vitae. Anto- logija. Uredio i pogovor napisao M. Marjanovié, 1922, 261 + 7 S. Die lyrische und epische Versdichtung dieses kroatischen Modernisten, des Dichters des Lebens und der Kraft, des Dichters des jungen kroatischen Nationalismus der Generation, die zu Beginn unseres Jahrhunderts in der kroatischen Offentlichkeit hervortrat (über Nazor vgl. J. Matl, Hauptströmungen in der modernen südslavischen Lite- ratur, in diesen Jahrbüchern, Neue Folge Bd. I S. 28), war uns in der von Br. Vodnik besorgten Gesamtausgabe Djela Vladimira Nazora, Zagreb 1917—18 Knj. 1—V, zugänglih. Auch die Kritik hat sich viel mit ihm beschäftigt und es liegen über ihn und sein dichterisches Schaffen, abgesehen von einer Reihe von Aufsätzen, zwei monographische Studien vor, die eine von A. Barac, die das Gesamtschaffen Nazors, die Grundeinstellung und Entwicklung klar- legt; die zweite von M. Marjanović (Jugoslavenska Njiva 1923 II, S. 190ff. und als Sonderpublikation), die die Entwicklung des dichterischen Schaffens Nazors im Zusammenhang mit dem nationalen Stimmungen untersucht. Marjanović, der kroatische Publizist, Kritiker und nationaler Kämpfer (dzt. Chef des Zentralpreßbureaus der jugoslavischen Regierung), besorgte auch diese Auswahl mit einem kurzen biobibliographischen Anhang.

Bd. V: A. G. Matoš, Pjesme, 1923, 108 Diese Auswahl der Lyrik eines der als Persönlichkeit und als Künstler interessantesten Dichter der neueren kroatischen Literatur, ist besonders zu begrüßen, weil weder die Gedichte noch seine Prosaarbeiten bisher gesammelt vorlagen und weil Mato$ literarhistorisch kritisch noch nicht mit der nötigen Distanz untersucht und gewertet ist. Leider ist auch diese Ausgabe nicht vollständig, da die Epigramme fehlen. Neben Ge- dichten, die als künstlerisch reiner Ausdruck unmittelbarsten, tiefsten persönlichen und nationalen Erlebens zu werten sind (vgl. S. 6, 14, 15, 51, 52), stehen andere bizarre, marinistische, überladen mit Sym- bolen und Vergleichen, die wie geistreiche poetische Spielereien an-

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muten. Charakteristisch die außerordentliche Bereicherung in den Motiven und Symbolen, charakteristisch der plastische Stil gegenüber dem pathetischrhetorischen Stil 4 la Preradovié; charakteristisch die ironisch skeptische kritische Lebenseinstellung als Ausdruck der inneren Zerrissenheit der kroatischen Vorkriegsmoderne gegenüber dem bisherigen naiven, romantisch-patriotischen Patriotismus.*)

Bd. VI: Lazar Kostić, Antologija. Uredio i predgovor napisao Dr. Svet. Stefanović, 1923, 168 S. Kostić gehört als Per- sonlichkeit an und für sich wie auch durch den explosivdynamischen Charakter seiner Poesie zu den interessantesten und originellsten Erscheinungen der serbischen romantischen Omladinadichtung. Svet. Stefanović, der serbische Dichter und Kritiker und bekannte Über- setzer aus der englischen Literatur, der Kostić noch persönlich kannte, gibt in den 44 Seiten Einleitung auf breiter Basis eine in vieler Hin- sicht neue kritische Charakteristik und Bewertung der geistig künst- lerischen Persönlichkeit des Dichters, des weltanschaulichen Gehaltes, der literarischen Einflüsse und der literarhistorischen und national- kulturellen Stellung und Bedeutung im Rahmen der Omladina- Bewegung und der neueren serbischen literarischgeistigen Entwick- lung. Willkommen sind auch die sprachlichen, textkritischen Er- örterungen und Erklärungen in der Einleitung und im Anhange, ohne die eine Reihe von Stellen des auch im Stil und lexikalisch viel- fach eigenwilligen Dichters schwer verständlich wären.

Bd. VII: Simon Gregorčič, Antologija. Uredio, pred- govor i rječnik napisao Dr. A. Barac, 1924, 87 S. Gregorčič, der neben Prešeren, Simon Jenko, Simon Kette, I. Cankar und O. Zu- pančič zweifellos zu den besten slovenischen Lyrikern gehört, hat wiederholt das Interesse auch nichtslovenischer literarischer Kreise erregt. Es sei hier nur auf die breitangelegte, in der generalisierenden Charakteristik der allgemeinen Entwicklung der slovenischen Lyrik zwar kritish angreifbare monographische Analyse hingewiesen, die der čechische Mittelschulprofessor D. Stříbrný im Časopis musea království Českého 1918 (und im Sonderabdruck) veröffentlichte und die J. Glonar in der Sammlung Pota in cilji. Zbirka poljudno-znanst- venih spisov, 10. zv. Ljubljana 1922, 152 S., ins Slovenische über- setzte; ferner auf die Studien der kroatischen Kritiker F. Marković und A. Petravić. Barac, der kroatische Literarhistoriker, brachte aus seiner gründlichen Kenntnis und aus seinen vorbildlichen Studien über die ee Lyriker Harambasié, Nazor, Wiesner, die Kenntnis des notwendigen Vergleichsmaterials für eine gründliche vergleichende Charakteristik der Lyrik des Gregorčič in bezug auf Motive, Intensität und Charakter des Erlebnisgehaltes, künstlerische Qualität des dichterischen Ausdruckes mit, die er uns in der Ein-

*) Neues Material über Mato$ werde ich demnächst auf Grund von bisher unbekannten und unveröffentlichten Briefen des Dichters, die sich in meiner Hand befinden, vorbringen.

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leitung zu dieser Auswahl gibt. Im Anhang ist ein slovenisch-serbo- kroatisches Differenzialwörterverzeichnis beigegeben.

Bd. VIII: Stanko Vraz, Izabrane pjesme. Uredio i predgovor napisao Dr. D. Grdenié, 1924, 212 S. Das Leben und Schaffen dieses aufopferndsten jugoslavischen preporoditelj, der der slovenischen und kroatischen Literaturgeschichte angehört, ist ver- hältnismäßig gut erforscht, da sich sowohl die slovenische wie auch die kroatische Forschung, ganz abgesehen von den polnischen und russischen Studien zum kroatischen preporod, mit ihm beschäftigten und Branko Vodnik ihm eine große monographische Spezialunter- suchung widmete. (Zagreb 1909, Matica Hrvatska.) Daher ist auch Grdenic in seiner die wichtigsten biographischen, literarhistorischen und ästhetischen Tatsachen gut zusammenfassenden Einleitung nicht in der Lage, etwas wesentlich Neues zu sagen. Der Auswahl liegt die von Fr. Markovié besorgte Ausgabe der Matica Hrvatska 1880 zu Grunde. Die ursprüngliche Rechtschreibung ist in der vorliegenden Auswahl der modernen phonetischen entsprechend abgeändert (srce und nicht srdce, slatka statt sladka), ebenso sind die alten Dekla- nationsformen soweit als möglich durch die Formen der heutigen Literatursprache ersetzt.

Bd. IX: Vojislav J. Ilić, Antologija. Izabrao M. Be- govic. Uvod od Jovana Skerli¢éa, 1925, 198 S. Mit der formal außer- ordentlich durchgebildeten und gegenüber der romantischen Lyrik ın den Motiven erweiterten und vertieften Lyrik des Vojislav D tritt die neue serbische Lyrik in eine neue Phase der Entwicklung, die zur objektiven plastischen Lyrik der Moderne, eines M. Rakié und eines I Dučić hinüber führt. M. Begović, der kroatische Dichter, dessen etzte dramatische Werke (Božji čovjek, und Pustolov pred vratima) sich in den letzten Jahren mit Erfolg die europäischen und amerika- nischen Bühnen eroberten, besorgte mit kultiviertem ästhetischen Geschmack die Auswahl der wertvollsten lyrischen und epischen Ge- dichte, ohne jedoch selbst eine literarische ästhetische Neubewertung zu versuchen. Diese wird der Studie von Skerlić entnommen.

Bd. X: Ljubo Wiesner, Pjesme, 1926, 59 S. Der noch lebende kroatische Lyriker Wiesner gehört zu den unmittelbarsten und in der Formgebung kultiviertesten Lyriker der kroatischen Moderne. Einzelne seiner Gedichte wie Moja majka (S. 49) gehören zu den schönsten Gedichten, die uns die kroatische Lyrik gab. Eine eingehende kritische und literarhistorische Bewertung der Lyrik des Dichters hat nach dem Erscheinen dieser Auswahl A. Barac in der Jugoslavenska Njiva gegeben (vgl. mein Referat in diesen Jahr- büchern, neue Folge Bd. III S. 418).

Bd. XI: Branko Radičević, Antologija. Uredio i predgovor napisao Dr. V. Corovi¢, 1926, 125 S. Nach 15 Einzel- ausgaben der Gedichte des Begriinders der modernen serbischen Lyrik erschien eine definitive kritische Ausgabe 1924 anläßlich der Feier der hundertsten Wiederkehr des Geburtstages des Dichters,

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eine Ausgabe in der Redaktion des B. Miljkovié und M. Pav- lovié im Verlag der Srpska Književna Zadruga und der Matica Srpska. Vladimir Corovié gibt in der kurzen Einleitung zu dieser Anthologie neben biographischen und nicht vollständigen biblio- graphischen Daten (vgl. die Studie von Branko Vodnik in der Jugo- slavenska Njiva) eine Charakteristik der geistig-literarischen Phy- siognomie des Dichters, seiner Bedeutung und der äthetischen Qua- lität seiner Kunst.

Bd. XII: August Haramba$i¢é, Antologija. Uredio i predgovor napisao Dr. A. Barac, 1926, 150 S. Die ausführliche Ein- leitung von Barac, die auch als eigene Studie in der Jugoslavenska Njiva erschienen war (vgl. mein ausführliches Referat in der Zeit- schriftenschau in diesen Jahrbüchern Neue Folge Bd. III) gibt eine gut motivierte Neubewertung der literarischen Persönlichkeit. des dichterischen Schaffens und der literarhistorischen und geistesgeschicht- lichen Bedeutung dieses durch Jahrzehnte vielgelobten und dann viel gelasterten Barden des kroatischen Nationalismus Startevié-Kva- ternikscher Prägung der 70 er, 80 er und 90 er Jahre im Rahmen der nationalideengeschichtlichen Entwicklung des kroatischen Volkes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die hier gebrachte Auswahl enthält Gedichte, die für den Dichter charakteristisch sind und heute noch literarischen Vert haben. |

Bd. XIII: Zmaj J. Jovanović, Djuliéi i Djuliéi uveoci. Uredio u peeoporor napisao Dr. V. Corovié, 1926, 167 S. Corovié gibt unter kritischer Heranziehung der bisherigen kritischen und literarhistorischen Literatur über den Dichter in der Einleitung ein abgerundetes Bild der literarischgeistigen Entwicklung und des literarishen Charakters seiner Dichtungen in bezug auf Erlebnis, Ideengehalt und Versifikation.

2. Biblioteka „Bigarska Knižnina“. Izdanie na Ministerstvoto na Narodno Prosvěštnie.

Auf den Wert dieser in ihrer Art für das südslavishe Gebiet besten und billigsten, von wissenschaftlichen Fachleuten und quellen- kritisch mit wissenschaftlichem Apparat gearbeiteten Sammlung bzw. Neuausgabe literarischen und kulturhistorischen Quellenmaterials habe ich seinerzeit gelegentlich der Anzeige der ersten 9 Bändchen (in diesen Jahrbüchern N. F. III, S. 294) hingewiesen.“)

Für uns Slavisten, die wir in nichtslavischen Ländern arbeiten und die neueren literarischen und kulturellen Zeitschriften in den Seminar- und Universitätsbibliotheken nur zum geringen Teile zur Verfügung haben und daher bei literargeschichtlichen Seminar- arbeiten, vor allem bei stil- und geistesgeschichtlichen Untersuchungen

1) In meiner seinerzeitigen Anzeige sind eine Reihe Druckfehler in der Wiede der bulgarischen Namen und Titel stehen geblieben, da durch ein Ver- zehen der Ausdruck ohne meine Korrektur erfolgte.

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zur neueren slavischen Literaturgeschichte, vielfach mit dem Mangel an den nötigen Grundlagen zu kämpfen haben, sind derartige Samm- lungen, ebenso wie die vorhin besprochenen, besonders wichtig.

Nr. 10: Periodikeski pečat? predi osvobo2de- nie to. Prva čast: Spisanija. Sofija 1927, 176 S.

Das Zeitschriften- und Zeitungswesen spielt in der politisch- nationalideologischen, geistig- literarischen Entwicklung der Slaven des 19. und 20. Jahrhunderts, vor allem der kleinen slavischen Völker, infolge der durch die geringe allgemeine Kulturhöhe bedingten mangelhaften Scheidung der einzelnen kulturellen Arbeitsgebiete eine ganz andere, viel wichtigere Rolle als in mittel- und westeuropäischen Ländern. Die Zeitschriften und periodischen Publikationen bilden nicht nur die wichtigste Stoffquelle für die literatur- und kultur-

eschichtliche Forschung daß es hier bei den kleinräumigen Ver-

Bältnissen an Memoiren und Korrespondenzen und ähnlichem Quellenmaterial sehr mangelt, ist ja bekannt —, sie sind selbst Fak- toren der politisch-nationalkulturellen Wiedergeburt, des Aufbaues und Umbaues; sie bilden die Plattform, von der aus sowohl die nationalen wie auch die literarisch-künstlerischen Ideologien und kon- ventionellen Werturteile geformt wurden. Daß der Großteil der

tischen literarischen Werke der Südslaven bis in die Gegenwart

inein in Zeitschriften und anderen periodischen Organen erschienen

ist, kann als bekannt vorausgesetzt werden. Literaturgeschichtlich viel wichtiger ist das Moment, daß die Zeitschriften bzw. die je- weiligen Redaktionen die entscheidenden auswählenden Faktoren dafür waren und sind, was gedruckt werden konnte, also Literatur wurde. Ein verwandtes Beispiel aus der Gegenwart: Wenn heute ein junger Dichter in Beograd oder Zagreb einen Band Gedichte heraus- bringen will, muß er meistens mehrere 1000 Dinar zahlen. Wer also zahlen kann, kann alles, auch die schlechtesten Gedichte, drucken lassen. Von dem oben gekennzeichneten Gesichtspunkt der Be- deutung der periodischen Publikationen aus habe ich wiederholt programmatisch darauf hingewiesen,?) daß man systematische Unter- suchungen unter Heranziehung und Anwendung der Erkenntnisse der philosophischen Soziologie (vgl. z. B. Vierkan dt, Gesellschaftslehre, Stuttgart 1923, ferner W. Jerusalem, Einführung in die Sozio- logie, Wien, Schriften der soziologischen Gesellschaft in Wien I) zur äußeren und inneren Geschichte der einzelnen südslavischen Zeit- schriften und Zeitungen sowie der wichtigsten Kulturinstitutionen machen müsse, Untersuchungen, die über das Biobibliographische

2) Vgl. J. Matl, Vodnik als Literarhistoriker. Ein Beitrag zur Methode und Geschichte der südslavischen Literaturwissenschaft. Slavia VII (1928) S. 854; J. Matl, Dva njemačka časopisa iz šezdesetih godina. Njihov značaj za kul- turnu i političku historiju Južnih Slavena. Nastavni Vjesnik XXXVI (1928) sv. 5—6; J. Matl, Die „Grenzboten“ und die Slavenfrage. I. Teil: Die Grenz- boten und die Südslaven. Sišić-Festschrift. 1980.

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hinausgehen. Dann erst wird man sich an eine systematische Dar- stellung der neuzeitlichen Literatur- und Geistesgeschichte der Süd- slaven wagen können. Systematische Untersuchungen in dieser Rich- tung wurden bisher eigentlich nur auf dem Gebiete der slovenischen Literatur- und Geistesgeschichte durch I. Prijatelj unternommen (vgl. I. Prijatelj, Levstikov politični list „Naprej“, Razprave II, S. 121—220; derselbe Ustanovitev „Ljubljanskega Zvona“ in celov- škega „Kresa“, Razprave III, S. 175—253).

Aus einer ähnlichen Erkenntnis ist sicherlich auch dieses Bändchen über die bulgarische periodische Presse vor der Befreiung entstanden. Der vorliegende erste Teil ist den Zeitschriften gewidmet. Die Aus- wahl der charakteristishen und programmatischen Aufsätze aus den einzelnen Zeitschriften besorgte der Herausgeber V. Pundev, der auch eine prägnante Einleitung über die nationalkulturelle Bedeutung der bulgarischen periodischen Presse, ferner kurze Erläuterungen zur Entstehungsgeschichte und dem Charakter der einzelnen Zeitschriften, sowie fortlaufende sprachliche Erläuterungen formaler, stilistischer und lexikalischer Art beisteuerte und damit die Verständlichkeit und Lesbarkeit der Texte erleichterte. Im Anhang sind biobibliogra- phische Angaben über die Literatur zur Geschichte des bulgarischen Zeitungswesens und über die bedeutendsten Redakteure und Heraus- geber beigegeben. Warum Pundev die wichtigste, leider auch unvoll- ständige zusammenfassende südslavische bibliographische Arbeit über die südslavische Presse, die anläßlich des 10. slavischen Journalisten- kongresses in Beograd 1911 unter dem Titel Jugoslovenska Štampa. Referati i bibliografija (Beograd 1911, 293 S.), heraus- gegeben wurde und in der neben dem slovenischen, kroatischen und serbischen Teil auch ein Abschnitt über die bulgarische Presse zu finden ist es Referat über die Geschichte der bulgarischen Presse von V. Veléev, Bibliographie von St. N. Koledarov und VI. Stani- mirovid), nicht erwähnt, verstehe ich nicht. In der Auswahl sind folgende Zeitschriften vertreten: Ljuboslovie (1842, 1844—1846), Mirozrenie (1850, 1870), Blgarski kniZici (1858—61), Bratski trud (1860—62), Citalisèe (1870). Znanie (1875), Periodi¢esko spisanie na Blgarskoto Knizovno DruzZestvo (1870). Warum die ebenso wich- tigen Carigradski Véstnik und Dunavski Lebed hier in diesem Rahmen nicht vertreten sind, verstehe ich nicht recht. Ich glaube, es wäre für die geistes- und kulturgeschichtliche Erkenntnis der ein- zelnen Epochen und Strömungen besser gewesen, nach einzelnen Epochen vorzugehen und auch die wichtigsten allgemeinen Zeitungen heranzuziehen und nicht die Scheidungen in Zeitungen und Zeit- schriften, die hier nicht berechtigt ist, oder wenigstens für die damalige Zeit nicht berechtigt ist, durchzuführen. Immerhin kann man bei der Lektüre dieses Bändchen sehen, daß man aus diesen ausgewählten programmatischen Aufsätzen ein unmittelbar anschaulicheres Bild von dem geistigen Charakter der einzelnen Epochen der bulgarischen Entwicklung bekommen kann, als aus mancher großen Literaturgeschichte.

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Nr. 11 der Blgarska KniZnina konnte ich nicht in die Hände be- kommen. Nr. 12 bringt eine Neuausgabe der ersten Original- erzahlung der neubulgarischen Literatur der NeSéastna fami- lija. Blgarska narodna povest’ von V. Drumev (1860), Sofija 1927, 99 S. Dieses erschiitternde Bild der Leiden des bulga- rischen Volkes vor der Befreiung kann zwar in bezug auf ästhetische Qualität keinen Vergleich aufnehmen mit anderen späteren. lite- rarischen Gestaltungen dieser Epoche wie z. B. mit den Novellen und Romanen Vazovs, ist aber literargeschichtlich nicht nur deshalb von großer Bedeutung, weil es die erste literarische Leistung dieser Art dar- stellt; es ist auch durch die bekannt außerordentlich große Wirkung auf das damalige bulgarische Publikum wichtig als Dokument des Zeit- geschmackes, des literarischen Niveaus, sowie für die Erkenntnis des Einflusses der Literatur auf das nationale Leben. Die älteren sprach- lichen Formen und Ausdrücke sowie Russizismen, die heute außer Gebrauch gekommen sind, sind unter dem Text durch den Heraus- geber, den Dozenten G. S. PaSev erläutert, der 1927 im Sbornik Mitropolit Kliment eine Studie über die moralischen Ideen und die Prinzipien im künstlerischen Schaffen Drumevs gegeben hat. Pabev zeichnet auch in der Einleitung den literarischen Charakter und die literarhistorische Bedeutung der Erzählung und gibt im Anhang die Literatur über Drumev.

Nr. 13. Dobri P. Vojnikov, Izbrani salinenia, Sofija 1928, 95 S. Der Name Vojnikov ist eng mit der Geschichte des bulgarischen Theaters, dessen Anfänge in die 50er Jahre des vorigen Jahrhunderts fallen, verknüpft. Er ist der Begründer des bulgarischen Theaters, der Begründer des bulgarischen Dramas und der erste bulgarische Dramaturg. Bei allen literarästhetischen Mängeln seiner dramatischen Originalwerke ist er national- und literargeschichtlich ebenso von Bedeutung wie der vorhin genannt Drumev. Der Herausgeber T. Atanasov gibt in der Ein- leitung I—XI eine kurze Übersicht über die Entwicklung des bulga- rischen Theaters und skizziert die Bedeutung Vojnikovs in dieser Entwicklung sowie den Charakter und den literarischen Wert seiner Dialoge und Dramen. In der Auswahl selbst wird uns ein drama- tischer Dialog sowie das Hauptwerk des Dichters, das historische Drama Rajna knjaginja (1866) gegeben.

Nr. 14. Enthält V. Drumevs bedeutendstes literarisches Werk, das 1872 zum ersten Male erschienene historische Drama „Ivanko, Ubiecat na Asénja I. Drama v pet’ dejstvija. Sofija 1928. 200 S. G. St. Pa$ev legt in der Vorrede (I—XII) die Entstehung des Dramas, die Geschichte der Aufführungen, die Aufnahme in der Kritik sowie den literarhistorischen Charakter und die Mängel dar.

Biblioteka ,BeleZiti BIgari“. Izdanje na Minister- stvoto na narodnoto prosvéStenie.

Nr. 1 dieser neuen Bibliothek, die einen ähnlichen Zweck wie die Biblioteka: Blgarska Knjıznina verfolgt, jedoch für das allgemein

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historische Gebiet berechnet ist und die Kenntnis der wichtigsten Persönlichkeiten der nationalen Geschichte weiteren Kreisen ver- mitteln will, enthält: Car’ Boris-Mihail (Vreme, Caruvane 1 velidie) von Ju. Trifonov, Sofija 1927, 67 S. Der bulgarische Historiker Trifonov schildert dem Stande der derzeitigen Forschung entsprechend zunächst kurz zusammenfassend die allgemeine Lage Bulgariens in der Mitte des 9. Jahrhunderts in politischer, ethnischer, sozialer, kultureller und zivilisatorischer Hinsicht und gibt dann eine übersichtliche Darstellung der Regierung des Zaren Boris Mihail, der Christianisierung und der dagegen einsetzenden Gegenbewegung, des Verhältnisses Boris’ zum Papst sowie der Gründung der selbstän- digen bulgarischen Kirche. Der Darstellung sind Reproduktionen Boris’ sowie der ältesten Kirchenbauten (Pliskov), ferner ein biblio- graphischer Anhang beigegeben.

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DIE QUELLEN ZUR CECHOSLOVAKISCHEN GESCHICHTE IN DEN ERSTEN ZEHN JAHREN

DER CECHOSLOVAKISCHEN REPUBLIK Von Vaclav Hruby.

Ich beabsichtige hier keine Bibliographie, kein kritisches Kommentar zu den einzelnen Arbeiten, die den Quellen zur £echoslovakischen Geschichte in den ersten zehn Jahren der Cechoslovakischen Republik gewidmet wurden, sondern ich möchte vielmehr nur kurz die Aufgaben und Ziele, das Streben und dessen Er- gebnisse in ihren Grundideen hervorheben. Es gab auf diesem Forschungsgebiete dreierlei Aufgaben: die archivalischen, die heuristischen und die damit eng ver- bundenen quelleneditorischen.

I. Die archivalischen Aufgaben. Die techoslovakischen Archivare wurden in dem neuen Staate vor zwei große Aufgaben gestellt: a) die Archivorganisation samt der Schriftdenkmalpflege und b) die Revindikation der lechoslovakischen no aus den österreichischen und ungarischen Zentralarchiven in Wien und

udapest.

a) In Osterreich bestand vor dem großen Kriege seit langer Zeit her eine drückende Rivalität zwischen der Staatsverwaltung in Böhmen einerseits und der Landesverwaltung daselbst andererseits, die auch auf das Archivwesen in böhmischen Ländern eine nachteilige Wirkung ausübte. Das staatliche Statthalterei- archiv in Prag hatte zwar die Staatsautorität auf seiner Seite, es kümmerte sich jedoh um die Archivorganisation und die Schriftdenkmalpflege gerade so wie

ar nicht. Das Landesarchiv in Prag demgegenüber konnte mit seinem ernst- ihen Bemühen um einen zweckmäßigen Schutz der Archivalien wenig aus- richten, solange es keine exekutive Macht hatte, die ihm natürlich die Landes- verwaltung ohne die Einwilligung des Staates, also gegen den Willen des rivali- sierenden Statthaltereiarchivs zu verleihen nicht imstande war. Daher kam es, daß es in böhmischen Ländern noch am Beginn des 20. Jahrhunderts keine Archivorganisation gab und die Archivalien gingen hier schneller als sonst wo zugrunde, soweit sie nicht zufälligerweise durch persönliches Eingreifen eines Archivalien- oder Geschichtsfreundes gerettet wurden. Mit dem Umsturze vom 28. Oktober 1918 ist die österreichische Staatsverwaltung aus den böhmischen Ländern verschwunden und es schien, daß nun der Weg zur längst gewünschten Archivorganisation in diesen Ländern frei sei. Über die Archivorganisation und die damit zusammenhängenden Fragen dachten die Cechischen Archivare schon früher recht viel nach. Schon vor dem Umsturze verfaßte der Direktor des böhmischen Landesarchivs in Prag, J. B. Novák, einen Programmartikel „Další úkoly zemského archivu“ (Weitere Aufgaben des Landes- archivs), i) worin er im Rahmen des Arbeitsplanes des genannten Archivs alle modernen Anforderungen der Geschichtsquellenpflege von dem Schutze der Archi- valien an über die Archivinventare und Archiv kataloge bis zum Herausgeben der Geschichtsquellen gründlich besprach. Es kam ihm daher nicht schwer, schon am 20. November 1918 einer Versammlung der dechischen Archivare ein Memo- randum vorzulegen, in dem er die Grundsätze der Organisation der Archivpflege im neuen Staate auseinandersetzte. Er forderte hauptsächlich ein Zentralarchiv in Prag mit Namen Národní archiv československý (Cechoslova-

1) Zprávy zemského archivu království českého V (1918), 271—812.

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kisches Nationalarchiv), worin einerseits die Archivalien des Prager Statthalterel- archivs und des Prager Landesarchivs nebst kleineren Archivdepots, andererseits die aus Wien zurückgebrachten Archivalien, soweit sie die Geschichte des alten böhmischen Staates und des Königreichs Böhmen betreffen, aufzubewahren wären. Die Staatsarchive in Brünn und in der Hauptstadt der Slovakei sollten dic Archi- valien zur Geschichte dieser Länder aufheben. Zum Schutze der Schriftdenkmiler in den Stadt-, Gemeinde- und anderen Archiven auf dem platten Lande sollten einige Kreisarchive gebildet werden und das ganze Archivwesen dem Ministerium des Schulwesens und der Volkskultur unterstellt, welches dasselbe mit Hilfe eines Archivrates zu leiten hätte. Für Fachausbildung der jungen Archivare forderte Noväk eine Archivschule. Diese Forderungen, die, kann man sagen, in der Luft

en, wurden fast von allen Cechischen Archivaren als Programm aufgenommen, wie sich das auch in dem Artikel v českém státě (Archive in dem čechischen Staate)?) von J. Borovička widerspiegelt. Borovička be- gründet die Errichtung des Cechoslovakischen Nationalarchivs durch die Tatsache, daß alle Schriften, die aus der Amtstätigkeit der für die böhmischen Länder und die Slowakei gebildeten Kanzleien und Amter während der Zeit der böhmischen Selbständigkeit und der Unterwerfung zur Zeit der habsburgischen Herrschaft hervorgegangen sind, durch die Erneuerung des čechischen Staates zu einem histo- risch een und vollendeten Material geworden seien, welches in einem historischen Zentralarchive des ganzen Staates aufzubewahren sei. Zu ähnlichem Zwecke solle ein Staatsarchiv in Brünn für Mähren, ein Staatsarchiv in Troppau für Schlesien und ein Staatsarchiv in der Hauptstadt der Slovakei errichtet werden, welches das Archivmaterial der slovakischen Komitatämter und die Slovenica aus den Budapester Zentralämtern in sich vereinigen solle. Diese vier Staatsarchive würden wohl genügen, um das ganze historische Material zur &echoslovakischen Geschichte zusammenzufassen und technisch und wissenschaft- lich zu verarbeiten, so daß für etwaige selbständige Facharchive der einzelnen Ministerien vorläufig kein Platz mehr übrig bliebe.

Der Gedanke des Nationalarchivs, welcher den Cechischen Archivaren nach dem Umsturze ganz klar und selbstverständlich war, verlor kurze Zeit danach bei einem Teile derselben Ardiivare recht viel an seiner Selbstverständlichkeit. Es half wenig, daß er verteidigt wurde von V. Hruby, der in dem Artikel Národní archiv Eeskoslovensky (Cechoslovakisches Nationalarchiv)*) eine Reihe von technischen, administrativen und finanziellen Vorteilen des zu er- richtenden Nationalarchivs aufzähle und betont, wie unzweckmäßig jetzt viele organisch zusammenhängende Archivfonds unter drei Prager Archive geteilt sind, und besonders von B. Jensovsky, der in seinem Aufsatze Archivy a edice (Archive und Editionen)*) den ursprünglichen Programmgedanken dem damals schon fertigen Verwaltungsrahmen des neuen Staates schon anpassen und dadurch konkretisieren konnte. Der vernünftige Gedanke wurde am Ende doch nicht durchgeführt, wobei die &echischen Archivare nicht ohne Schuld waren, wenn auch die lange Unsicherheit, ob man das Nationalarchiv dem Ministerium des Schulwesens und der Volkskultur oder dem des Innern unterstellen soll, sehr ‚viel dazu beigetragen hat. Diese Unsicherheit aber hing wieder mit einer noch tiefer liegenden Unentschiedenheit, ob das &echoslovakische Archivwesen das eine oder das andere Ministerium leiten soll, zusammen. Anfänglich, wie gesagt, waren die Lechischen Archivare darin einig, daß es die Aufgabe des Ministeriums des Schul- wesens sei, eine allgemeine Archivorganisation auszuarbeiten und durchzuführen, in der nicht nur die großen Staatsarchive, sondern auch die Kreisarchive, welche J. B. Novák und B. JenSovsky, oder die Gemeindearchive, wie solche J. Borovička, zum Schutze der Archivalien auf dem platten Lande vorschlugen, mitaufgenommen wären. Das Ministerium des Schulwesens sollte das Archivwesen mit Hilfe eines Staats archivrates leiten, der aus den Direktoren der Staatsarchive, der Archivschule und des Historischen Instituts in Prag und aus

2) Cesky časopis historický 24 (1918), 244—254.

3) Národ III (1919), 160 ff. 4) Cesky časopis historický 26 (1920), Beilage Archivnictví“, 4 ff.

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den von dem Ministerium ernannten Fachleuten zusammengesetzt wire, und das Nationalarchiv sollte in allen Organisationssachen und besonders in den Sachen der Schriftdenkmalpflege zu einem Exekutivorgan des Ministeriums werden. Die anfängliche Einmütigkeit der &echischen Archivare in dieser Grundfrage der ganzen Archivorganisation ist im Laufe der Zeit durch langes Säumen ver- schwunden und trotz der Bereitwilligkeit eines Teiles der Archivare zu einem Kompromisse: die Archivorganisation dem Ministerpräsidium unterzuordnen, konnte nicht einmal das zustande gebracht werden. Und als Ergebnis aller Mühe erscheint die unerfreuliche Tatsache, daß das Cechoslovakische Archivwesen noch heute jedweder Organisation und damit auch jeder Schriftdenkmalpflege entbehrt, sicher nicht zum Nutzen dieser Schriftdenkmäler, der Geschichtsquellen. Die drei Staatsinspektore der nichtstaatlichen Archive: für Böhmen, Mähren samt Schlesien und Slovakei, die von dem Ministerium des Schulwesens und der Volkskultur zur Schutzpflege der am meisten bedrohten Schriftdenk- mäler ernannt wurden, sind das einzige, was bisher in der Cechoslovakei zum systematischen Schutze der Archivalien einzurichten gelang, abgesehen natürlich von zahlreichen Sicherstellungen derselben vor Verschleppung nach dem Auslande in der ersten Zeit nach dem Umsturze. Das ist etwas zu wenig von dem, was in diam Sache den čechishen Archivaren nach dem Umsturze in den Sinn ge- ommen ist.

Sonst aber vermehrten die Zechoslovakischen großen öffentlichen Archive ihre Tätigkeit im neuen Staate vielfach und wesentlich, und zu den alten Archiven und Instituten sind einige neue hinzugetreten, von denen ein jedes in seinem Bereiche für die Cechoslovakische Geschichtsforschung einen großen Gewinn be- deutet. Von den alten Archiven ist in der ersten Linie zu nennen das Landes- archiv in Prag, welches seinen rühmlichen traditionellen Dienst der Ge- schichtsforschung wie durch heuristische, so auch editorische Arbeiten fortsetzte. In den Zprávy českého zemského archivu (Berichte des böhm. Landes- archivs), redigiert von dem Direktor des Archivs J. B. Novák finder man teils die Berichte über die Tätigkeit des Archivs als eines Ganzen, teils auch die Ab- handlungen von einzelnen Beamten, die darin die Ergebnisse ihrer archivalischen und heuristischen amtlichen Aufgaben veröffentlichen. Im Jahre 1925 erschien der sechste Band der „Berichte“, worin neben einigen Aufsätzen, die unten be- sprochen werden, auch ein lehrreicher Bericht Noväks über die Tätigkeit des Archivs in den Jahren 1918—1922 zu lesen ist. Zu diesem Archive hat sich neuer- dings in ehrenvollem Wettbewerb das Archiv des Ministeriums des Innern in Prag (Direktor L. Klicman) gesellt, welches im Jahre 1919 aus dem ehemaligen Statthaltereiarchiv in Prag entstanden ist. Über dessen steigende Tätigkeit wird zeitweise wenigstens in groben Zügen in dem Casopis a a ivnf školy (Zeitschrift der Archivschule) berichtet. Auch dieses Archiv

schon die Arbeiten seiner Beamten, welche aus ihren ämtlichen Aufgaben hervorgegangen sind, in dem Sborník archivu ministerstva vnitra (Revue des Archivs des Ministeriums des Innern) zu veröffentlichen.“) Diese zwei Archive samt dem mährischen Landesarchive in Brünn (Direktor F. Hruby), dem Archive der Sëch Ae Prag (Direktor V. Vojtſſek), welches ebenfalls schon auf einer älteren Tradition zweckmäßig weiter baut und in seinem Sbornik pAfsp&kü k déjindm hlavnfhomésta a Pra hy (Sammlung von Beiträgen zur Geschichte der Hauptstadt Prag) ein wichtiges Publikationsorgan hat, und dem Archive des Nationalmuseums in Prag (Direktor K. Stloukal) bilden eine verläßliche Grundlage der ganzen heuristischen Forschung der lechoslovakischen Geschichtswissenschatt.

Von den neuerrichteten Archiven versammelte das Ceskoslovensky státní archiv zemédélsky v Praze (Cechoslovakisches staatl. Agrar- archiv in P., Direktor A. L. Krejčík) zwar viele Patrimonialregistraturen der Staats- und Stiftungsgüter, sowie auch einige der Privatgüter, trotzdem aber wurde es eher zu einem Forschungsinstitute auf dem Gebiete der Agrargeschichte, als

5) Im Jahre 1926 ist der I. Band erschienen, redigiert von dem Direktor des Archivs L. Klicman.

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zu einem wirklichen Agrararchive, weil ihm manche wichtige Quellen zur Agrar- geschichte, ja vielleicht gerade der Grundstock derselben abgeht und in dem böhmischen Landesarchive aufbewahrt wird. Nichtsdestoweniger ist die Errich- tung dieses Archivs in dem angedeuteten Sinne von großer Bedeutung für die Cechoslovakische Geschichts forschung. Durch das Archiv ministerstva wéic{ zahraniénf{ch (Archiv des Ministeriums des Äußeren, Direktor J. SE &ensky) wurde einerseits die Bürgschaft gegeben, daß die diplomatischen Doku- mente und Akten des &echoslovakischen Staates auch für die Geschichte wohl auf- bewahrt werden, andererseits auch die Möglichkeit gewonnen, in der zweiten Reihe der Publikace arhivu ministerstva zahraniénich věcí (Publi- kationen des Archivs des Ministeriums der Aueren), die unter dem Titel Soupis bohemik (Verzeichnis der Bohemica, d. h. der er zur böhmischen Ge- schichte im Auslande) erscheint, wichtige heuristische Vorarbeiten zur decho- slovakischen Geschichte zu veröffentlichen. Ahnlicherweise werden eher zu Fach- archiven iste nicht historischen Archiven) das archiv ministerstva národní obrany (Archiv des Ministeriums der Nationalverteidigung) und das archiv Národního shromáždění (Archiv der Nationalversamm- lung), wenn auch das erste viele historische Schriften aus den Wiener Archiven ind Amtern aufhebt. Zu einem besonderen Zwecke wurde das archiv Národního osvobození (Archiv der Nationalbefreiung, Direktor J. Wer- stadt) errichtet, das alle geschriebenen und gedruckten Dokumente, welche zur Beleuchtung der Befreiung der Cechoslovakischen Nation aus der Habsburger Herrschaft dienen könnten, folglich auch jene große Literatur von Memoiren, politischen, wirtschaftlichen und geschichtlichen iften und Werken, die in der Zeit des großen Krieges entstanden oder über dessen Geschichte geschrieben werden, zu sammeln hat. Es ist zu erinnern, daß auch die berühmten böhmischen Landtafeln, eine der schönsten Quellen zur Cechoslovakischen Geschichte, endlich zweckmäßig und würdig in dem Archive des Ministeriums des Innern niedergelegt worden sind. Auch um die Stadtarchive®) und die Archive auf dem großen Grundbesitze sorgte man viel mehr als früher, 7) wenn auch die aufgewandte Sorge lange noch nicht ausreichte. Sehr viel haben für ihre Archive einige deutsche

te in Böhmen geleistet. Eine gute Tradition von musterhaft besorgten und der Wissenschaft zugänglichen Privatarchiven in Böhmen haben schon längst die Schwarzenbergischen Archive. Den Stadt- und Gemeindearchiven leisteten sehr gute Dienste die oben erwähnten Archivinspektoren, von welchen V. Vojtíšek in seinem Büchlein O arhiveh městských a obecních a jejích správě (Ober die Stadt- und Gemeindearchive und über ihre Leitung)®) den Stadt- und Gemeindearchivaren manch guten Anlaß und Rat niederlegte. Von den geistlichen Archiven sind besonders drei zu erwähnen, deren Archivare ein gutes Stück Arbeit geleistet haben: das Archiv des St. Veits Ripia in Prag, und das erz- bischöfliche Archiv in Prag, welche beide von A. Podlaha neu geordnet und katalogisiert worden sind, und das erzbischöfliche Archiv in Kroměříž in Mähren, welches von A. Breitenbacher von Grund aus geordnet wird.)

Der unermüdliche Bibliothekar und Archivar des Prager Metropolitan- kapitels A. Po dla ha hat im Jahre 1922 mit einem umfangreichen zweiten Band sein mustergültiges Werk Soupis rukopisü knihovny 5 kapituly Pražské (Verzeichnis der Handschriften der Bibliothek des Prager Metropolitankapitels)!*) abgeschlossen, um im Jahre 1928 einen nicht minder wichtigen Cataloguscodicum manu scriptorum, qui in archivio

€) Vgl. die periodischen Berichte in Časopis archivní školy. 7) Vgl. A. Markus. 8) Knihovna Časopisu československých knihovníků, &. 2 (1924). ©) Vgl. seinen Bericht, Archivy a regisbratury na zabraném velkém majetku zemkovém (Archive und Registraturen auf dem eingenommenen Grofgrund- besitze) in Časopis archivní školy III (1926).

10) Sammlung von Handschriftenverzeichnissen der Cechischen Akademie der Wissenschaften, Nr. 4; einige Nachträge sind im Jahre 1928 erschienen.

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capituli metropol. Pragensis asservantur!) und im Jahre 1926 einen Catalogus collectionis operum artis musicae, quae in bibliotheca capituli metr. Pragensisi?) samt einem Cata- logusincunabulorum,quaeinbibliothecacap. metr. Prag. asservantur?) herauszugeben. Durch Podlahas Verdienst wurden die Biblio- thek und das Archiv des Prager Kapitels zu den mit Katalogen am besten ver- sehenen Instituten der Cechoslovakei. Außerdem erschien im Jahre 1925 von A. Podlaha auch ein Povlechny katalog arcibiskupského ardhivu v Praze (Allgemeinen Katalog des erzbischöflichen Archivs in Prag), welchen, zur ersten Information bestimmt, seine Aufgabe gut erfüllt. Auch die kostbare Handschriftensammlung der Bibliochek des Nationalmuseums in Prag ist endlich durch ein Verzeichnis, das F. M. Bartoš unter dem Titel Soupis rukopisů Národního Musea v Praze (Verzeichnis der Handschriften des National- museums in Prag) in zwei Bänden im Jahre 1926 und 1927 herausgab, der Ge- schichtsforschung zugänglicher geworden. Diese Katalogisierungs werke, welche dem bewährten von der Cechischen Akademie der Wissenschaften und der Kunst herausgegebenen Handschriftenverzeichnisse nachgebildet werden, entdeckten der Wissenschaft ein neues weites Forschungsgebiet. Es ist desto mehr zu bedauern, daß die übrigen lechoslovakischen Archive und eben die wichtigsten durch andere dringenderen Aufgaben, besonders aber durch einen schlimmen Mangel an ge- eigneten Arbeitskräften nicht daß dieselben überhaupt nicht vorhanden wären, sondern daß man sie nicht entsprechend belohnen kann verhindert wurden, die Geschichtsforschung mit ihren wahren Schätzen mittels gedruckten Katalogen und Inventaren gründlicher bekannt zu machen. Bloß das böhmische Landesarchiv konnte den ersten Band eines gründlichen Katalogs des Archivs der böhmischen Krone veröffentlichen, um welches Archiv des alten böhmischen Staates R. Koss bis zu seinem letzten Augenblicke eine unermüdliche Sorge trug. Schade um alles das weite Wissen, das der junge Forscher, der auch die Geschichte des genannten Archivs schreiben wollte, mit sich ins Grab genommen hat! Auf dessen Veranlassung wurde in die Sammlung von Katalogen, Verzeichnissen und Regestenarbeiten, welche das böhmische Landesarchiv unter dem Titel Cesky zemský ardiv. Katalogy, soupisy, regestäfe a rozbory jeho fondü (Das böhmische Landesarchiv. Kataloge, Verzeichnisse, Regestensammlungen und Ana- lysen dessen Fonds) herausgibt, als deren erste Nummer ein Werk eingereiht, das Archiv koruny české (Archiv der böhmischen Krone) benannt, in einigen Bänden des Katalogs, die Beschreibung und die Geschichte des Archivs umfassen sollte. Leider ist das groß angelegte Werk durch Koss’ frühzeitigen Tod ein Torso geblieben, und nur der erste Band unter dem Titel Katalog listin z let 1158 1346 (Katalog der Urkunden von J. 1158—1346) im Jahre 1928 erschienen, bezeugt, wie wissenhaft und sorgfältig Koss sein Werk auszuführen dachte. Eine kleinere Inventarisationsarbeit veröffentlichte F. Roubik in dem Aufsatze Registratura Ceského Närodniho vyboru 2 r. 1848 (Registratur des böhmischen Nationalausschusses aus d. J. 1848).1*) Schließlich ist hier auch ein Werk von J. Celakovsky zu erwähnen, welches zwar schon vor dem großen Kriege fertig war, jedoch erst im Jahre 1920 erschienen ist. Ich meine das Soupisrukopishovanyhvardivuhlavnihomästa Prahy I (Verzeichnis der in dem Archive der Hauptstadt Prag aufbewahrten Handschriften),15) durch welches ein neuer Nachweis erbracht wird, was für ein wertvolles heuristisches Hilfsmittel entsteht, wenn man den Katalog auf einer aus- führlichen, wissenschaftlihen Analyse der katalogisierten Quellen begründet. Leider nicht nur die großen &echoslovakischen Archive sind mit ihren Katalogen und Inventaren . sondern man brachte auch die so wichtige, dringende und schon öfters berührte Frage einer systematischen Inventarisierung der

11) Editiones archivii et bibliothecae capituli metropol. Pragensis XVII.

12) Editiones XIX.

13) Editiones XX.

14) Časopis archivní školy VI (1928), 126—153, vgl. diese Zeitschrift (1929), 580—581.

18) Sborník prispévk& k dějinám hlav. mésta Prahy, I. T. H. 2 (1920).

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kleineren Archive auf dem platten Lande in der Cechoslovakei immer noch nicht auf die Bahn. Auch daran war die Saumseligkeit in der Durchführung einer Archivorganisation schuldig.

Dafür gelang es in Prag eine Archivschule zu errichten, von der schon . BB Novák in seinem oben erwähnten Programmartikel spricht. Novák selbst verfaßte auch gleich nach dem Umsturze einen Entwurf von Statuten und Lehrplane der Schule, welche den Fehler des alten zu viel kathederartigen Wiener Instituts für Österreichische Geschichtsforschung im Auge behielten und die Fach- ausbildung der neuen £echoslovakischen Archivare mehr auf einer womöglich konkreten Kenntnis der Archivdenkmäler, auf größter Archivpraxis zu gründen suchten. Noväks Entwurf, etwas zugerichtet, wurde zur Grundlage der neuen Schule, welche, wenn man auch darin nicht immer von einer praktischen Be- lehrung ausging, unter der Leitung G. Friedrichs für die Ausbildung der aen Archivare und Herausgeber der Geschichtsquellen recht viel be-

eutet.!

b) Die zweite große Aufgabe der techoslovakischen Archivare in dem neuen Staate, war, wie gesagt, die Revindikation einer großen Menge von Archivalien aus den Wiener und Budapester Zentralämtern und Zentralarchiven. Die Zentral- ämter des alten böhmischen Staates blieben zwar auch nach 1620 bis tief in das 18. Jahrhundert in ihrer ein wenig veränderten Funktion weiterhin bestehen, e die wichtigsten von ihnen, die böhmische königliche Kanzlei, später

hmische Hofkanzlei, und die böhmische königliche Kammer siedelten schon seit Ferdinand II. ununterbrochen in Wien, wo also auch ihre Registraturen nach Aufhebung der Ämter zurückgeblieben sind, um schließlich in den österreichischen Zentralarchiven aufbewahrt zu werden. Außerdem sind im Laufe der Zeit auch viele böhmischen Archivalien zum Amtsbedarf der österreichischen Zentral- ämter aus böhmischen Landen nach Wien überführt worden, z. B. unter Maria Theresia das Archiv der böhmischen Krone, welches die Staatsverträge, die Verfassungsurkunden und andere wichtigen Dokumente des alten böhmischen Staates vom Jahre 1158 an enthielt. Mit der Auflösung des alten Osterreichs er- schien auf einmal die Möglichkeit, diese altertümlichen, grundwichtigen böhmischen Archivalien, die als ein Eigentum des erneuerten böhmischen Staates, des Nach- folgers und Erben des alten Staates, anzusehen waren, in Wien zu erheben und in den lechoslovakischen Staatsarchiven niederzulegen. Zu diesem Probleme ist noch ein anderes hinzugerreten: wie die Archivfonds der österreichischen für die ganze Monarchie, also auch für die böhmischen Länder bestehenden Zentral- ämter aus der Zeit nach Maria Theresia, soweit dieselbe die böhmischen Länder betreffen, zu behandeln seien. Die mit diesen Problemen zusammenhängenden Arbeiten, welche die techischen Archivare zu leisten hatten, waren groß und die Art und Weise, wie sich jene Gelehrten ihrer Aufgabe entledigren, zeugt vollends von ihrer Tüchtigkeit. Schon die Prager Archivabrede zwischen der čecho- slovakischen und der österreichischen Republik vom 18. Mai 1920 war eine große Tat, welche besonders durch mühsame heuristische Arbeit der &echischen Archivare ermöglicht wurde. Und eine nicht minder große Tat war die Art und Weise, wic dieselben Archivare die Abrede durch ihre opferwillige Tätigkeit in Wien durch- geführt haben, wodurch ein wahrer Schatz von Geschichtsquellen in die &echo- slovakischen Archive ausgegeben oder zurückgestellt wurde.

Ober diese Arbeiten berichtet * Opočenský in seinem Aufsatze Archivniimluvarepubliky Ces koslovenskésrepublikou Rakousku (Archivabrede zwischen der £echoslovakishen und der öster- reichischen Republik), ic) wo auch zunächst die Prager Abrede selbst, dann die Ab- rede zwischen denselben Staaten über das Schriftenmaterial, das die niederöster- reichischen, der &echoslovakischen Republik abgetretenen Urter betrifft, welche den Nachtrag zu der Prager Abrede bildet, und schließlich ein Auszug aus der lecho- slovakisch- deutschen Abrede über die Übertragung der Gerichtsbarkeit im Hult- 16) Vgl. Cesky časopis historický 25 (1919) 278 und die Berichte über die Tätig-

keit der Schule in Časopis archivní školy. 102) Časopis archivní školy I (1923), 51—141.

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schiner Kreise, soweit dieselbe die Prozeßakten der Straffälle und der unstreitigen Gerichtsbarkeit behandelte, in Beilage abgedruckt werden. Von besonderem Werte sind die Angaben Opotenskys, welche von den Wiener Schriftdenkmälern schon nach Prag überführt und in welchen echoslovakischen Archiven sie aufbewahrt worden sind. Die Breite und Tiefe der damaligen heuristischen Studien der techo- slovakischen Archivare in Wien kommt in einigen ihren Aufsätzen zum Vor- schein. Es sind zu erwähnen die Arbeiten R. Koss’s: Listiny zarchivu markrabatmoravskfchvevideäsk&mstätnimarchivi (Die Urkunden aus dem Archive der Markgrafen von Mähren im Wiener Staats- archive)!T) und Provenience českých archiválií ve státním archivě vídeňském (Die Provenienz der böhmishen Archivalien im Wiener Staatsarchive), 16) die Arbeiten K. Kazbunda’s: Organisace a archiv nejvyššého policeprího úřadu a ministerstva policie (Die Organisation und das Archiv der obersten Polizeistelle un Polizeiministeriums)1%) Archiv rakouského ústavodárného Fils- kého sněmu (1848—1849), rakouské říšské rady (1851—1861) a rozmnožené rady říšskě (1800—1861) (Das Archiv des österreichischen Konstitutionsreichstages, des österreichischen Reichsrates und des vermehrten Reichsrates)**) und Archiv c. k. státní rady 1861—1868 a seznam poradních předmětů týkajících se zemi českých a Slo- venska (Das Archiv des k.k. Staatsrates und das Verzeichnis der die böhmischen Länder und die Slovakei betreffenden Beratungsgegenstände)?1) und schließlich der Artikel J. Proke3’s unter dem Titel O vídeňské likvidaci. Aktalesk&edvorsk&kanceläte (Über die Wiener Liquidation. Akten der böhmischen Hofkanzlei). n) Von diesen Arbeiten sind es besonders die Arbeiten Kazbundas, welche ihre richtig aufgefaßte Aufgabe: das umfang- reiche Archivmaterial zur modernen Geschichte dem Geschichtsforscher näher- zubringen zweckmäßig erfüllen, indem sie einzelne selbständige Archivfonds der prone Zentralarchive in Form von Archivmonographien behandeln. Kazbunda

richt zunächst die Geschichte des Amtes, seine Organisation, Registratur und Ardıie um zum Schlusse ein ausführliches Verzeichnis von Bohemica und Slovenica beizulegen.

II. Die heuristischen Aufgaben. Venn auch laut der Prager Archivabrede eine große Menge des Archivmaterials von Wien nach Prag gelangte, so ist doch immer noch weit mehr davon in Wien zurückgeblieben, denn man konnte natür- lich nicht alles, was die böhmischen Länder betrifft, überführen ohne das Grund- prinzip der ganzen „Liquidationsarbeit“, das archivalische Provenienzprinzip, zu verletzen. Es bleibt also nichts anderes übrig, als das zurückgebliebene Material durch systematische heuristische Arbeit zu erforschen und d planmäßige Ver- öffentlichung von Verzeichnissen der Wiener Bohemica der lechoslovakischen Ge- ee zugänglich zu machen. Leider ist es der &echoslovakischen Ge- schichtsforschung trotz einigen Anläufen bisher nicht gelungen, in Wien aus der dortigen £echoslovakischen historischen Auskunftsstelle ein historisches Institut auszubilden, welches alle die obenerwähnten heuristischen Aufgaben auf sich

nehmen würde.

Inzwischen ist ein ähnliches historisches Institut mit Namen Istituto Cecoslovacco in Rom errichtet eorden 29) Allerdings die Cechische histo- rische Forschung in Rom fußte schon vor dem Umsturze auf einer festen Grund- lage, welche die Arbeit der „Böhmischen Expedition“ geschaffen hat, deren Kosten der böhmische Landesausschuß trug. Die Böhmische Expedition, größtenteils aus den Beamten des böhmischen Landesarchivs zusammengesetzt, verrichtete während

17) Časopis archivní školy I (1928), 1—12.

18) Zprávy českého zemského archivu VI (1925).

19) Časopis archivní školy I (1928), 18—50.

2°) Časopis archivní školy II (1924), 44—111. S

21) Publikace archivu ministerstva zahraničních věci, Rada II, &. 1. 22) Nové Cechy V. 1

23) Über dessen Tätigkeit vgl. die Berichte in Časopis archivní školy.

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ihrer etwa zwanzigjährigen Tätigkeit eine schöne Arbeit, wie einige Publikationen (s. unten) und eine stroke Amal von Abschriften von den Bohemicis der römi- schen Archive und Bibliotheken, die in dem böhmischen Vfg. zeugen. Es ist kaum zu leugnen, daß die große Tradition dieser Böhmi

Expedition zur Errichtung des oslovakischen Instituts in Rom am meisten bei- getragen hat. Grundsätzlich wurde dem Institute zur Aufgabe gestellt die all- gemeine Unterstützung der wisse tlichen, vor allem historischen Cecho- slovakischen Forschung in Italien, hauptsächlich in Rom und zunächst drei konkreten Aufgaben: 1. Systematisches Verzeichnis der Bohemica und Slovenica der römischen und italienischen Archive; 2. Herausgabe der Berichte der päpst- lichen Nunzien auf dem Prager Kaiserhofe seit 1598 an; 8. Herausgabe der Slovenica der römischen Archive. Hat man mit dem Verzeichnen der Bohemica in Rom schon lange vor dem großen Kriege begonnen, durch die Herausgabe der Nunziatur und der Slovenica wurde wesentlich erweitert der ursprüngliche Arbeits- plan der Böhmischen Expedition, der zwei großangelegte Publikationen: Monu- menta’Vaticana res gestas Bohemicas illustrantia (d. h. die Bohemica aus den E Registern des 14. und 15. Jahrhunderts seit 1842; neuerdings wurde die Publikation auf den Zeitraum 1816—1842 erweitert) und Acta sacrae congregationis de propaganda fide res gestas Bohemicas illustrantia (s. unten) aßt. Leider wegen schwieriger heuristischen Vorarbeiten konnte bisher nichts von den geplanten Werken aus- gegeben werden, wenn man auch schon angefangen hat, schr viel davon zu drucken. Von den Arbeiten, die die erste Aufgabe betreffen, ist inzwischen doch eine sehr wichtige Arbeit B. Jenlovskys unter dem Titel Knihovna Barbe- rinia český vyzkum v Rimé (Bibliothek Barberini und die böhmische Forschung in Rom) erschienen, welche über die Fülle der Bohemica in einer der vielen römischen Bibliotheken gut informiert.?*) Sonst wird man auf die Publi- kation der systematischen heuristischen Arbeit des &echoslovakischen Instituts in Rom, sowie auch des Historischen Instituts in Prag (s. unten) noch lange warten müssen, denn der Mangel an tüchtigen Arbeitskräften bedrängt sehr stark alle techoslovakischen wissenschaftlichen Institute. Außerhalb des Arbeitsplanes dieser Institute ist natürlich auch manche heuristische Arbeit erschienen. J. Macürek veröffentlichte ein ausführliches Verzeichnis der Bohemica, welche er in den sieben- bürgischen Archiven und Bibliotheken gefunden hat, unter dem Titel „Pra- meny k ee fee československým v archivech a kni- hovnách sedmihradských (Quellen zur čechoslovakishen Geschichte in den siebenbürgischen Archiven und Bibliotheken)?5) und Nové příspěvky k dějinám československým z archivů a knihoven sed- mihradskych (Neue Beiträge zur čechoslovakischen Geschichte aus den siebenbürgischen Archiven und Bibliotheken). ) J. Prokeš versuchte in seiner Abhandlung Husitika Vatikänsk&knihovny v Rimé (Hussitica der Vatikaner Bibliothek in Rom)?”) über die Akten und Traktate zur Geschichte des Hussitentums in Jahren 1420—1440, die sich in einigen Handschriften der ge- nannten Bibliothek befinden, womöglich vollständig zu informieren und F. Cada verzeichnete die für die Geschichte des Rechtes in böhmischen Ländern wichtigsten Handschriften, welche in der Wiener Nationalbibliothek aufbewahrt werden, ın dem Aufsatze České rukopisy právnické v Národní knihovně ve Vidni?) Noch schwieriger ist die heuristishe Vorarbeit zur Geschichte der Slovakei, weil in der Sache beinahe alles erst zu tun ist. Den Anfang auf diesem Forschungsgebiete versuchte M. Opolenskä4 in ihrem Verzeichnisse Slovenika uherských listen v dom, dvor. a stát. archivu ve Vídni v období let 1248—1490 (Slovenica in den ungarischen

ee 20) Zprávy českého zemského archivu VI (1924), vgl. Cas. arch. školy III. ` 98) Věstník královské české společnosti nauk 1924, VI. 26) Věstník královské české společnosti nauk 1926, II. 37) Publikace archivu ministerstva zahraničních věcí II, 8. 20) Viehrd VII (1925).

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Urkunden des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchives im Zeitraume von 1248 bis 1490).°) Außer diesen größeren erschienen auch mehrere kleinere, mehr ge- legentliche Arbeiten, welche über einzelne Geschichtsquellen berichten.

III. Die quelleneditorischen Aufgaben. In dem neuen Staate wurde der Cechoslovakischen Geschichtsforshung noch eine andere grundsätzliche Auf gestellt, nämlich das zweckmäßigste Herausgeben von umfangreichen Geschichts- quellensammlungen, welche lange, kostspielige heuristische Vorarbeiten erfordern. Vor dem Umsturze war es in böhmischen Ländern das böhmische Landesarchiv in Prag, welches sih im Sinne der Wünsche seines großen ründers, F. Palacky, mehr dem Sammeln von Abschriften der Quellen zur böhmischen Geschichte und deren Herausgeben als den eigentlichen archivalischen Aufgaben: dem Ordnen, Inventarisieren und Katalogisieren seiner Fonds widmete. Es hat sich aber im Laufe der Zeit in diesem Archive soviel ungemein wichtigen Archiv- materials angesammelt, welches geordnet, besonders aber inventarisiert und in ge- druckten Katalogen publiziert werden sollte, daß der Gedanke, die quellen- editorische Tätigkeit des böhmischen Landesarchivs von seiner archivalischen Tätigkeit zu sondern, diese letztere samt den Archivfonds dem Archive zurück- zulassen und die erstere samt der überreichen Abschriftensammlung in ein neues Institut überzutragen, ganz selbstverständlich war. Dieser Gedanke lag auch zu- runde dem Entwurfe V. Hrubys, in Prag ein Staatsinstitut für Geschichts- orschung zu errichten, in welches man die quelleneditorishe Tätigkeit des böhmischen Landesarchivs samt dessen Abschriftensammlung und womöglich auch mit dessen Beamten, soweit sie an den editorischen Arbeiten teilnahmen, über- führen und seinen Arbeitsplan um einige neue dringende Aufgaben erweitern sollte, so daß das neue Institut zum Mittelpunkte und Grundlage aller čecho- slovakischen Geschichtsforschung werden sollte. Die Archivfonds des böhmischen Landesarchivs sollten dem neu zu errichtenden éechoslovakischen Nationalarchive übergeben werden. Der Plan ist jedoch mißlungen, weil das éechoslovakische Nationalarchiv, wie oben gesagt, ausgeblieben und das böhmische Landesarchiv, selbst eigentlich ein „historisches Institut“, neben dem inzwischen im Herbste 1920 errichteten staatlichen historischen Editionsinstitut, Ceskoslavensky státní historický ústav vydavatelský v Praze, und als dessen Rival weiterhin stehen geblieben ist. Damit ist dem neuen Institute die einzig richtige Grundlage seiner Existenz gleich von allem Anfange an genommen und dasselbe ist ein Torso geblieben, denn seine Arbeitsgrundlage ist dadurch ungemein stark beschränkt worden. Hoffentlich wird es in absehbarer Zeit doch gelingen, die quelleneditorische Tätigkeit beider genannten Institute in einem Institute zu ver- einigen, was einerseits als eine Grundforderung der Cechoslovakischen Geschichts- forschung, andererseits als eine Pflicht zu derselben erscheint.

Zur ersten Aufgabe stellte man dem neuen historischen Institute die Heraus- gabe des Urkundenmaterials zur böhmischen Geschichte im Zeitraume 1846 bis 1487, wozu manches schon vor dem großen Kriege vorbereitet wurde. Die Auf- gabe war um so schwieriger, als für die zweckmäßige Ausgabe des Materials wegen seiner Zunahme seit der Mitte des 14. Jahrhunderts eine neue entsprechende Editionsform zu suchen war. V. Hruby schlug vor das umfangreiche Material in vier Abteilungen: 1. der königlichen, 2. der bischöflichen, 8. der städtischen Urkunden und 4. der Urkunden der Adeligen (um die päpstlichen Urkunden handelte es sich nicht, denn jene sind schon in die Urkundensammlung der Monu- menta Vaticana aufgenommen) herauszugeben, von denen jede inhaltlich ver- wandte und aus bestimmten gut organisierten Kanzleien gen hae Urkunden umfassend einen historisch, besonders aber diplomatisch selbständigen Arbeits- abschnitt bedeuten würde. Diese Einteilung des Urkundenmaterials, meinte Hruby, würde nicht nur eine gründlichere, weil logischere Vorbereitung desselben zur Herausgabe, sondern auch ein gründliches diplomatisches Erkennen der könig- lichen böhmischen und markgräflich mährischen, sowie auch der böhmischen und mährischen bischöflihen und städtischen Kanzleien im 14. und 15. Jahrhundert und eine zweckmäßigere Einrichtung der Ausgabe selbst zur Folge haben. Schließ-

20) Publikace archivu ministerstva zahraničních věcí II, 2.

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lich und besonders würde die erwähnte Einteilung des zu edierenden Materials } von den anteilnehmenden Editoren ermöglichen, einen sachlich und forme durch das Material selbst, also logisch abgeschlossenen Arbeitsabschnitt zu be- arbeiten, wodurch sich jeder der Teilnehmer viel mehr wissenschaftlich für seine Arbeit einnehmen könnte, als wenn man die bisher übliche Weise der Ausgabe, wie dieselbe in dem bekannten Werke J. Emlers Regesta diplomatica nec non epistolaria Bohemiae et Moraviae erscheint, beibehalten würde. Diese Regesta häufen das herauszugebende Urkundenmaterial mechanisch in eine chronologische Reihe zusammen, also die königlichen, bischöflichen, städtischen und alle übrigen Urkunden in ein unorganisches Gemisch. Durch dieses mechanische Reihen so verschiedenartigen Materials wäre den Bearbeitern verunmöglicht, dasselbe wissen- schaftlich zu durchdringen, und es würde die Gefahr einer mechanischen Arbeit ent- stehen, welche der neuen Ausgabe eben so verhängnisvoll wäre, wie sie schon den Emlerschen Regesta geworden ist. Trotzdem hat man den Vorschlag Hrubfs nicht angenommen, und es wurde beschlossen, die Ausgabe des böhmischen Urkunden- materials seit 1846, mit welchem Jahre, dem Todesjahre König Johanns, die Emlerschen Regesta abgebrochen wurden, als Fortsetzung derselben Regesta an- zusehen. V. Hrubý sollte bearbeiten den Zeitraum seit der Thronbesteigun Karls bis zu seiner Kaiserkrönung (1346 Aug. 26 bis 1855 Apr. 5) un B. Mend! den folgenden Abschnitt bis zur Krönung Wenzels (1868 Jun. 15). Der erste, als er auf die Masarykuniversität in Brünn berufen war, gab seine Teilnahme an dem Werke auf und B. Mendl gab schon zwei Hefte seines Werkes Regesta diplomatica nec non epistolaria Bohe- miae et Moraviae, pars VI (1855—1868) heraus, welche den Zeit- raum 1855 Apr. 5 1857 Dez. 7 umfaßt.) V. Hruby widmete sich in- zwischen einer anderen Aufgabe, die ebenfalls in den Arbeitsplan des Prager Historischen Instituts aufgenommen wurde, der Herausgabe des Archivs der böhmischen Krone und konnte zunächst den zweiten Band seines Werkes Ärchivum coronae regni Bohcmiae veröffentlichen, welcher die Ur- kunden aus den Jahren 1846 1855 Apr. 5 bringt. 41)

Zur zweiten Aufgabe hat das Prager Historische Institut das böhmische urkundliche Material des späteren 15. Jahrhunderts herauszugeben. Das ist viel- leicht eine noch schwierigere Aufgabe als die erste, denn seit der Mitte des 15. Jahrhunderts nimmt nicht nur die Anzahl der zu edierenden Schriftstücke ungemein zu, sondern auch das Briefmaterial nimmt unter ihnen immer mehr die Oberhand, so daß eine 3 Frage auftaucht, wie das ganze umfang- reiche Schriftenmaterial durch zweckmäßige Edition der Geschichts forschung zu- änglih zu machen sei. Als erste versuchte B. Ry ne lo vi die Aufgabe zu ösen, welche in ihrem Werke List ä a fistin It Oldficha 2 Roim- berka,1418—1462 (Brief- und Urkundensammlung des Ulrichs von Rosen- berg), die richtige Weise gefunden zu haben scheint. Ihre sorgfältige Edition, ge- widmet einer der wichtigsten Persönlichkeiten der böhmischen Geschichte ım 15. Jahrhundert, es Sek zweckmäßig um dieselbe eine große Anzahl von

litisch bedeutsamen kumenten, welche durch diese neue Zusammenstellung ins neue Licht gestellt werden. Ahnlicherweise wird wohl auch das übrige böhmische Brief- und Urkundenmaterial des 15. Jahrhunderts in kleinere Gruppen einzuteilen sein, von welchen jeder ein bestimmt gefaßter historischer Gedanke zugrunde liegen wird. Für das Hauptmaterial aber, d. h. für die Königsurkunden und -briefe werden wohl die Regestenwerke doch die entsprechendste Form der Edition bleiben, weil bei dem Umfange des Materials die Einrichtung der Edition um viel einfacher und dadurch übersichtlicher sein muß und kann als etwa in dem Werke von Rynebovi.

Unter den Publikationen des Prager Historischen Instituts erscheint auch eine Serie des groß angelegten Werkes Desky dvorské království českého (Hoftafeln des Königreichs Böhmen), in welchem der bekannte Geschichtsforscher

20) Vgl. Naše věda X, 98—110 und 210—289. 31) Vg. Cesky časopis historicky 85 (1929), 402—412 und 86 (1930) 222—281; Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 08 (1929) 879—380.

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G. Friedrich die erhaltenen Quaterne der Hoftafeln aus dem 14. und 15. Jahr- hundert in zwei Abteilungen auszugeben beabsichtigt. Eine Abteilung, und zwar fünf libri proclamationum, soll im Rahmen der bekannten schon von Palacky be- griindeten 5 Archiv Cesky (Cechisches Archiv), deren Redak- teur Friedrich ist, und die andere Abteilung: zwei libri citationum, liber venditionum, liber inductionum und: liber obligationum im Rahmen der Publika- tionen des Historischen Instituts veröffentlicht werden. Von beiden Abteilungen ist bisher je der erste Band erschienen: První kniha provolaci z let 1880 bis 81 (Erstes Ausrufungsbuch aus den Jahren 1 1)22) und Prvnikniha

ühonnd z let 1883 1407 (Erstes Vorladungsbuch aus den Jahren 1888 Bis 1407).

Ober den Arbeitsplan des Historischen Instituts, wie sich denselben das Institut in den ersten fünf Jahren unter der Leitung V. Hrubys gebildet hat, berichtet Hrubys Nachfolger J. B. Novák in seinem Artikel O programu státního historického ústavu vydavatelského v Praze das Programm des staatl. historischen Editionsinstituts in Prag), ) wo außerdem als weitere Aufgaben des Instituts die Regesten des böhmischen Königs Johann (1810—1846) und die Ausgabe der böhmischen Landtafeln hingestellt werden. Diese letztere Aufgabe erscheint aber als ungemein schwierig und vorläufig wenig konkret. Auf Anlaß des Historischen Instituts wurde im Jahre 1928 die Zeit- schrift Casopisarcivnf!tkoly (Zeitschrift der 355 BER oa die als gemeinsames Organ des Instituts und der Archivschule über das decho- slovakische Archivwesen und heuristischen Arbeiten zu berichten hat.

Neben dem Historischen Institute setzten natürlich auch die älteren Institute in Prag und Brünn ihre quelleneditorische Tätigkeit nach festem Arbeitsplane fort. Das böhmische Landesarchiv veröffentlichte im Jahre 1928 den ersten Band des großen Werkes Acta sacrae ö de propa- ganda fide res gestas Bohemicas illustrantia,®®) cliches die Bohemica aus dem Archive der zur Abwehr der katholischen Religion im Jahre 1622 errichteten Kongregation umfassen soll. H. Kolman hat dieses Archiv bis zum Jahre 1800 hinauf durch langjährige mühsame Arbeit durchforscht, konnte jedoch in dem genannten Bande erst ein unbedeutendes Bruchstük von den 18000 Abschriften, die er heimgebracht hat, abdrucken, denn seine Edition ist musterhaft vorbereitet. J. B. Novák gab im Jahre 1929 heraus den zweiten umfangreichen Band (741 Textseiten + 125 S. Einleitung in 4°) seiner großen Edition Sn&my roku 1611 (Landtage vom Jahre 1611), die den 15. Band der Hauptpublikaton des böhmischen Landesarchivs der Sn E my české od léta 1526 a% po na li doba (Böhmische Landtage vom Jahre 1526 bis auf unsere Zeit) bildet. Eine ungewöhnliche Fülle von wichtigem Quellenmaterial wurde hier mit gleich ungewöhnlicher Sorgfalt bearbeitet, so daß die Werke Kolmans und Noviks als zwei der besten Cechoslovakischen Quelleneditionen anzusehen sind. Auch die Cehishe Akademie der Wissenschaften und der Kunst hat das ihrige beigesteuert. In ihrer Sbírka pramenů českého hnutí náboženského ve 14 a 15. století (Quellensammlung der böhmischen Religionsbewegung im 14. und 15. Jahrhundert) veröffentlichten V. Novotny im Jahre 1920 seine Arbeit Mistra Jana Husi korespon- dence a dokumenty (Magister Johann Hus’ Korrespondenz und Dokumente) und V. Kybal mit O. Odložilík im Jahre 1926 den fünften Band der Publikation Matéje z Janova mistra Pařížského Regulae Ve- teris et Novi testamenti (Mathias’ von Janov des Pariser Meisters Re- gulae V. et N. t.), worin schon betont wird, daß die Grundlage der Edition, die Kybal ursprünglich unbekannte Handschrift Nr. 211 der Olmützer Kapitel- bibliothek bilden sollte. Neue Quellen zur Geschichte der volkstümlichen Re- ligionsbewegung im 18. Jahrhundert brachten der zweite abschließende Band der

32) Archiv Český, B. 81, 1921.

33) Desky dvorské království českého, B. VII, 1929.

34) Časopis archivní školy III, 120—185. RECH

33) Vgl. Časopis archivní školy III, 158, Cesky časopis historický 30 (1924).

282

Sammlung Listiny k dějinám lidového hnutí náboženského na českém východě v XVIII a XIX. věku (Urkunden zur Geschichte der volkstümlichen Religionsbewegung in böhmishem Osten im 18. und 19. Jahr- hundert) s) von K. V. Adámek und der erste Band der Sammlung Listář k jin am náboženských blouznivců deskfch v století XVIII. a XIX. (Dokumentensammlung zur Geschichte der böhmischen Reli- gionsschwärmer im 18. und 19. Jahrhundert)?”) von J. V. Šimák. Die Histo- rishe Kommission der Matice Moravská in Brünn gab im Jahre 1928 den zweiten Band der von J. Bidlo sehr schön besorgten Publikation Akty Jednoty Bratrské (Akten der Brüderunität) aus, welcher den ersten Band der Blahoslausschen Sammlung umfaßt. Historický spolek v Praze (Historischer Verein in Prag) besorgte weitere Bände der Edition Zpov&dni seznamy arcidiecése Prazké z let 1671—1725 (Beichteverzeichnissc der Prager Erzdiözese aus den Jahren 1671—1725), so daß im Jahre 1918 ein den Chrudimer und Cäslauer Kreis und im Jahre 1928 ein den Bechiner Kreis be- treffender Band erscheinen konnte, beide von J. V. Šim ák bearbeitet, und einen weiteren Band der Edition Dopisy kons is tote podobojſz let 1609 bis 1619 (Briefe des utraquistischen Konsistoriums aus den Jahren 1609—1619) von F. Tischer. Besonders zu erwähnen ist die unermüdliche bs cay A. Podlahas, der außer seinen oben schon erwähnten Katalogen im Jahre 1927 die Aus des sechsten Erectionsbuches der Prager Erzdiözese (— Registerband von Stiftungsurkunden der Kirchen, Kapellen und Altäre) unter dem Titel Libri erectionumarchidioecesis PragensissaeculoXIV.et X V., tomus VI, abgeschlossen hat.

Außer diesen großen Quellenpublikationen hat man gelegentlich auch manche kleinere Quelle veröffentlicht, was unsere rsicht, die nur die Grundideen der Entwicklung der Cechoslovakischen heuristischen Arbeit vor Augen hat, beiseite läßt. Aus demselben Grunde sind in dem vorangehenden Absatze fast nur die Namen angeführt, denn darin handelt es sich um Arbeiten, deren Ursprung schon vor dem großen Kriege zu suchen ist, nicht erst in dem ersten Dezennium der

éechoslovakischen Republik,

26) Historicky archiv Ceské akademie, nr A8. 37) Historický archiv České akademie, nr 46.

283

19 NP 6

NEUERE LITERATUR ZUR KIRCHENGESCHICHTE POLENS

Von Karl Volker. Die von dem Schreiber dieser Zeilen in seinem letzten Literatur-

bericht (N.F. Bd. IV, Heft 2, 1928, S. 233—276) 5 Vor- bedingungen für den Aufschwung der polnischen Geschichtsforschung bestehen weiter fort. Die Neubelebung des historischen Studiums in Polen kommt nach wie vor nicht minder der Kirchengeschichts- schreibung zustatten. Bei dem erhöhten Interesse für die Ostfragen ergibt es sich von selbst, daß auch außerhalb Polens dieses Forschungs- gebiet Beachtung findet, wenn auch begreiflicherweise der Schwer- punkt der wissenschaftlichen Arbeit in Polen selbst liegt. Eine wich- tige Voraussetzung für die Zuverlässigkeit der historischen Forschung bildet das geordnete Archivwesen. Die Aufforderung des Kardinal- Staatssekretärs vom 15. April 1923 an die italienischen Bischöfe, bei ihren Visitationen auf die Erhaltung aller kirchlichen Altertümer Bedacht zu nehmen, fand bei dem Archivar der Prze- mysler röm.-kath. Diözese, Jan Kwolek, williges Gehör. Der- selbe begnügte sich nicht damit, in dem ihm anvertrauten Virkungs- kreis Ordnung zu schaffen. Durch seine Studie über „Die Archive der Przemysler Diözese des lateinischen Ritus“, ) worin er im Rahmen einer historischen Skizze über die einstigen und derzeitigen archi- valischen Bestände des bischöflichen Sprengels berichtet, möchte er das kirchliche Archivwesen in Polen überhaupt in Schwung bringen, wie seine Programmschrift über „Die wissenschaftliche Organisation der Diözesanarchive“?) zeigt. Die Aufbewahrung historischer Nach- richten soll aber nach K. nicht Selbstzweck sein, sondern historische Darstellungen, die sich in Przemysl tatsächlich aus erhöhter archi- valischer Sorgfalt wiederholt ergeben haben, in die Vege leiten. Die umsichtige Arbeit K.s spiegelt zugleich die wechselvolle Geschichte der Przemysler Diözese wider. Aus den gedruckt vorliegenden Tätigkeitsberichten des Archivars über die Zeit von 1927 bis 1929 mit seinem Ausweis über die Neuerwerbungen geht hervor, daß es sich hier um ein ernstes wissenschaftliches Unternehmen, dem allge- meine Nachahmung zu wünschen wäre, handelt. Mit der Er-

1) Archiwa diecezji przemyskiej ob. lad. Im Anhang: Statut i regulamin archiwum diecezjalnego. Przemyśl. Verlag des Archivs, 1927.

2) „Naukowa organizacja archiwów diecezjalnych“. Sonderabdruck aus Nr. 4. Warschau 1928. S. 21.

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schließung der Archive ist nur eine „der Bedingungen der Arbeit an der Kirchengeschichte Polens“, ) über die sih Josef Uminski im Blick auf die allseitige Erfassung des Gegenstandes ausläßt, erfüllt.

Für die Anfänge der Kirche in Polen sind Unter- suchungen über den Ursprung der polnischen Staatlichkeit und Kultur von Wichtigkeit. In dieser Hinsicht enthält die Festschrift‘) anläß- lich des 70. Geburtstages des Altmeisters der Slavistik, Alexander Brückners, beachtenswerte Beitrige. Kazimierz Tymie- niecki entscheidet die Frage „Geschlecht und Staat im ursprüng- lichen Polen?) dahin, es hätten sich zwei Hauptgruppen, eine kleinere, das Geschlecht, und eine größere, der Stamm, nebeneinander herausgebildet, aus deren Wechselwirkung sich die weiteren Ver- bindungen ergeben haben. Mit dieser Auffassung tritt er der üb- ichen Schematisierung der einzelnen Entwicklungsstufen entgegen. Zur Zeit der Christianisierung Polens war zwar der Staatsbegriff daselbst bereits ausgeprägt, für die Gestaltung der vorchristlichen Stammesreligion wurde jedoch das gegenseitige Verhältnis der slavi- schen Verbände mit bestimmend. Eugen Kucharski sucht dem „Rätsel der polnischen Stämme“) näherzukommen, indem er in den Praedenecenti der fränkischen Jahrbücher (824) „das ursprüng- liche Masovien“ vermutet. Zu diesem Ergebnis gelangt er einerseits mit Hilfe der Sprachvergleichung, andererseits unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen und geographischen Begleitumstände des be- treffenden Landstriches. Die Bezeichnung iudex im Dokument „Dagome iudex“ erklärt er dabei als Latinisierung des slavischen Fürstentitels „Sadek“, der Mieszko I. beigelegt wurde. Auf dieses rätselhafte Schriftstück greift auch Mikolaj Rudnicki zurück, dessen Untersuchung „F Dagome iudex und die wagrische Podaga“) wir hier gleich erwähnen. Den Namen „Dagome“ leitet er von der obotritischen Gottheit Podaga, die in der Familie der Piasten ver- ehrt wurde, ab. Indem Mieszko sich in dem Schreiben an den Papst mit diesem Namen, den er von seiner Mutter her hatte, einführte, habe er zugleich Anspruch auf das Land erhoben. In den fränkischen Jahrbüchern heißt es: „Abodriti, qui vulgo Praedenecenti vocantur.“ K. und R. stimmen also darin überein, daß sie zur Erschließung der Anfänge der polnischen Staatlichkeit auf die Beziehungen der ost- elbischen Slavenstämme in der vorchristlichen Zeit zurückgreifen. Die in diesem Zusammenhang unternommenen Erklärungsversuche beider hinsichtlich des kirchenhistorisch wichtigen Dokumentes „Dagome iudex“ sind unbefriedigend. Ganz abgesehen davon, daß es nicht von der Hand zu weisen ist, ob unter Dagome nicht doch Boleslaw

2) O warunkach p nad historyq kościoła w Polsce. Sonderabdruck aus „Archaion“. Nr. 4. Wa u 1928. S. 21.

) Studja Staropolskie. Krakau 1928.

8) Ród i państwo w Polsce pierwotnej. S. 3—9.

e) Mazowsze pierwotne i zagadnienie szczepów polskich. S. 27—68.

7) Pols. Dagome iudex i wagryjska Podaga. In: Slavia occidentalis. VII, 1928. S. 185—165.

285

Chrobry zu verstehen sei, erscheint die Verbindung von Dagome und Podaga ebenso zweifelhaft wie die Erklärung des iudex aus einem angeblichen Titel des Polenherzogs. Gegeniiber solchen geistreichen Kombinationen ist, auch wenn sie mit so viel Scharfsinn, wie in diesen beiden Fällen angestellt werden, die Vorsiht am Platze, zu der Marceli Handelsmann in seinen „Randbemerkungen zu unserer neuesten Literatur über die älteste Geschichte Polens“) er- mahnt. Es muß andererseits der Forschung unbenommen bleiben, jeden ihr gangbar erscheinenden Weg zu betreten, um die Wahrheit zu ergründen.

Auf sichererem Boden bewegt sich die Wissenschaft bei der Be- handlung der Anfänge der polnischen Kultur; umstritten ist aber ihr Ausgangspunkt. Entgegen der s. g. großpolnischen Hypothese, die das polnische Geistesleben von Gnesen, dem Mittelpunkt des Kirchentums, ausgehen läßt, sucht Johann Dabrowski die Frage „Um die Wiege der polnischen Kultur“) dahin zu beantworten, daß man mehrere Zentren, worunter Krakau eine hervorragende Rolle zukomme, annehmen müsse. Dabei macht er auch auf kirchen- politische Begleitumstände aufmerksam, besonders die Erneuerung des Kirchenwesens in Polen unter Kasimir, dem Restaurator, nach dem heidnischen Rückschlag von Krakau aus Erzbischof Aron —, was unerklärlich sei, wenn nicht die kleinpolnische Kirche gewisse Vor- bedingungen hierzu von Haus aus aufgewiesen hätte. Die Bedeutung von Posen-Gnesen für das Reichsganze dürfe man auch unter Boleslaw Chrobry nicht überschätzen, da der Hof seinen Aufenthalt dauernd wechselte; ebenso sei es unangebracht, auf den polnisch- nationalen Einfluß des hohen Klerus, vor allem des Gnesener Metropoliten, vor dem 13. Jahrhundert den Nachdruck zu legen, da die hohen geist- lichen Würdenträger mit ganz geringen Ausnahmen vorher Aus- lander waren. Es ginge nicht an, Verhältnisse, die sich im 13. Jahr- hundert vorübergehend zugunsten Großpolens gestalteten, bereits zwei Jahrhunderte vorher als gegeben anzunehmen. Die Aus- führungen sind sicherlich geeignet, einseitigen Ubertreibungen vorzu- beugen; zugunsten Krakaus müßte er allerdings ein konkreteres Tat- sachenmaterial erbringen, da Kasimirs I. kleinpolnische Einstellung in erster Linie durch die politische und nicht die kulturelle Gesamt- lage bedingt war. In Anbetracht der nahezu ausschließlichen kirch- lichen Bindungen des polnischen Kulturlebens wird man doch an der Tatsache nicht vorbeigehen dürfen, daß der Gnesener Metropolitan- stuhl trotz der Katastrophe nach dem Tode Boleslaw Chrobrys seine Vormachtstellung bald wieder zu behaupten vermochte. Und in Krakau macht sich nicht minder ausländischer Kultureinfluß Aron kam von Köln bemerkbar. Immerhin führte bei Untersuchungen dieser Art das sowohl als auch D.s weiter als der Entweder-oder- Standpunkt.

®) Na marginesie naszej najnowszej literatury o najdawnicjszych dziejach Polski. Brücner-Festschrift S. 64—70

) O kolebkę kultury polskiej. Ebd. S. 10—26. 286

Mit Hilfe der von D. abgelehnten philologischen Methode sucht Eduard Klich die Auswirkung des Christentums im polnischen Geistesleben in anderer Weise durch die Klarstellung der „Polnischen christlichen Terminologie“) darzutun. Durch die 1876 erschienene Untersuchung von Miklosich über „die christliche Terminologie der slavischen Sprachen“ angeregt, stellt er in alphabetischer Reihenfolge siebzig der gebräuchlichsten Ausdrücke aus dem polnischen religiösen Sprachgebrauch mit ihren Abwandlungen zusammen, um alsdann ihre Entstehung zu erklären. Das Wörterbüclein erhält durch den Stellennachweis aus dem bis 1500 in Polen entstandenen Schrifttum, das der Verfasser unter eingehender Berücksichtigung der ein- schlägigen Literatur daraufhin geprüft hat, einen erhöhten Wert. Bei der näheren sprachwissenschaftlichen Untersuchung der einzelnen Wortbildungen ne: K. zu dem Ergebnis, daß Polen seine christ- liche Terminologie in der Hauptsache aus dem Tschechischen her- übergenommen habe; von den 70 Termini nimmt er bei 56 unmittel- bare tschechische Herkunft an und nur bei 16 anderweitige Ent- lehnung; in erster Linie aus dem Lateinischen, und zwar in einem späteren Zeitpunkt, als das polnische Christentum bereits einen aus- gesprochenen römisch katholischen Grundcharakter angenommen hatte. Die deutschen, besonders hochdeutschen, orientalischen und romanischen Wortbildungen läßt K. auf dem Umwege über das Tschechische in den Sprachgebrauch Polens eindringen. Letzten Endes erscheint aber auch die tschechische Kirchensprache nicht als ein selb- ständiges Gebilde, sondern in unmittelbarer Abhängigkeit von der durch die Slavenapostel Cyrill und Methodius geschaffenen alt- slavischen Ausdrucksweise. Wenn man auch in Einzelheiten anderer Meinung sein kann, so wird man doch K. im großen und ganzen zu- stimmen dürfen, zumal er gewagten voreiligen Rückschlüssen auf die allgemeine Gestaltung des polnischen Kirchentums ausweicht. Er läßt selbst die vielfach bejahte Frage offen, ob in Polen vor dem Über- tritt Mieszkos zum Christentum eine altslavische Kirchenbildung be- standen hätte. Es leuchtet durchaus ein, daß sich die Missionare, auch wenn sie von Deutschland kamen, der Begriffsbestimmungen der be- nachbarten christlichen Tschechen, aus ae Reihen übrigens die christliche Gemahlin Mieszkos stammte, bedienten.

K.s Untersuchung stellt uns auf den Boden der Missions- geschichte. Sie geht auch der Frage nach, wie bei den Slaven die heidnische Vorstellungswelt durch die der neuen Religion angepaßten Wortbildungen zurückgedrängt wurde. Das christianisierte Polen empfand die Bekehrung der heidnischen stammesverwandten Nach- barn ebenfalls als pflichtmäßige Aufgabe. Da es aber aus sich her- aus die hierzu erforderlichen Kräfte nicht hervorzubringen ver- mochte, mußte es sich darauf beschränken, auswärtige Missionsunter- nehmungen zu unterstützen. Pommern und Preußen wurden auf diese Weise dem Christentum zugeführt.

10) Polska ER Ap chrzefciahska. Posen 1927. Verlag des Towarzystwo Poznańskie przyjaciół? nauk.

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„Das Leben des Bischofs Otto von Bamberg von einem Prüfeninger Mönch“, ) übersetzt und eingeleitet von A. Hof- meister, vermittelt von der Pommern-Mission einen un- mittelbaren Eindruck. Es handelt sich hier um eine Biographie, die in dem bei Regensburg von Otto selbst begründeten Kloster Prü- fening von einem mit seinem Helden wohl persönlich bekannten Mönd in der Zeit von 1140—1146 zum Zwecke der Vorbereitung seiner Heiligsprechung niedergeschrieben wurde. Ungeachtet der Wundergläubigkeit des Biographen, die derselbe übrigens mit seiner Zeit teilt, und einzelner von H. aufgedeckten Ungenauigkeiten ent- hält die erst in der letzten Zeit in ihrem Wert richtig erkannte Lebensgeschichte gerade über das Verhältnis Ottos zum polnischen Hof sowie über die beiden Pommernfahrten desselben gut beglaubigte Nachrichten. Die Missionstätigkeit des Bischofs beherrscht entchieden die ganze Darstellung, die sich zweifelsohne auf Berichte von Augen- zeugen stützt. H. legt seiner Übersetzung die von ihm selbst auf Grund von drei Handschriften in kritischer Sichtung der Über- lieferung 1924 besorgte Ausgabe anläßlich der 800 jährıgen Gedenk- feier der Einführung des Christentums in Pommern zugrunde.

Auf diese Lebensgeschichte Ottos von Bamberg nimmt auch die Schrift von Pierre David „La Pologne et l’evangelisation de la Pomeranie aux XIe et XIIe siècles“) Bezug. Die Arbeit verfolgt auch eine ee Abzweckung: die Begriindung des moralischen An- spruchs Polens auf den Korridor und Pommerellen. Die Christiani- sierung des Landes wird als eine Angelegenheit der polnischen Krone, wenn auch mit Zuhilfenahme ausländischer Missionare, um deren Friichte sie Kaiser Lothar gebracht habe, hingestellt. Unter voller Anerkennung der Missionserfolge Ottos von Bamberg, dessen gute Beziehungen zu Boleslaw Schiefmund und dem polnischen Klerus unterstrichen werden, ist der Verf. sichtlich bemüht, auch den Anteil Frankreichs an der Gewinnung Pommerns für das Christentum hervorzukehren. In der Person des bei Gallus als „eines episcopus Poloniensis“ erwähnten Franco, auf dessen Rat Wladyslaw Hermann und seine Gemahlin Judith zum hl. Agidius an die Rhone gewall- fahrt sind, erblickt er die Persönlichkeit romanischer Herkunft, die vor dem Auftreten des Bamberger Bischofs die Bekehrung Pommerns ins Auge gefaßt habe. Die Aufhellung der Personalien desselben bildet das eigentliche Kernstück der Untersuchung. Seinen Ausgangs- punkt nimmt er von der Feststellung, daß der bei Gallus namhaft gemachte Franco identisch sei mit dem in der Chronik des Klosters von St. Hubert in den Ardennen im Jahre 1064 hervorgehobenen „episcopus Bellagradensis“ gleichen Namens. Unter dieser Stadt- bezeichnung vermutet er Belgard in Pommern. Die Bezeichnung „episcopus Poloniensis“ bei Gallus erklärt er unter Heranziehung von

11) In „Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit“. Bd. 96, Leipzig. ksche Buchhandlung. 1928. er

12) Etudes historiques et littéraires sur la Palogne médiévale. Paris. Gebethner & Wolff. 1928.

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Analogien dahin, es handele sich um einen Misstonsbischof ohne einen festen Bischofssitz. Franco habe sich als fiir die Glaubensarbeit in Pommern bestimmter Missionar den Bischofstitel nach der Haupt- stadt seines Missionsgebietes beigelegt. Selbst wenn die von dem Verf. aufgestellten Behauptungen den Tatsachen entsprechen, so ist damit für die Missionsgeschichte Pommerns nicht viel gewonnen, da der Verf. über die Bekehrungsarbeit des Franco in Pommern: keine näheren Angaben zu machen vermag. Immerhin besteht die Mög- lichkeit, daß die französischen Benediktiner Missionsfäden über Polen nach Pommern gesponnen haben. Es scheint aber nicht viel dabei herausgekommen zu sein, da Boleslaw Schiefmund den deutschen Bischof Otto von Bamberg heranzog, um mit Erfolg durch- zugreifen.

Die Preußenmission hat Polen mit dem Deutschen Ritterorden in Konflikt gebracht, wodurch die Kirchengeschichte dieser Gebiete auf Jahrhunderte bestimmt wurde. Erich Maschkes Studie „Der Deutsche Orden und die Preußen“) schildert die äußeren Umstände, unter denen sich der Orden an der Ostsee festgesetzt hat. Es ergab sich dabei von selbst, daß er die von demselben angewandte Missionsmethode in den Vordergrund seiner Erörterung rückte. Gewaltsame Heidenbekehrung mit dem Schwert, wie sie aus Augustins de civitate Dei, wonach die Heiden- welt als Teufelsmasse unwirksam gemacht werden sollte, abgeleitet wurde, oder friedliche Gewinnung der Heiden für die Religion Jesu Christi? Die päpstliche Missionspolitik neigte immer mehr der letzteren Auffassung zu, wobei sie seit Innozenz III. darauf Bedacht nahm, das gesamte Missionsgebiet zu einem dem päpstlichen Stuhle unmittelbar unterstellten Missionsstaat auszugestalten, während der Ritterorden es von vornherein auf die Eroberung des Preußenlandes abgesehen hatte, welches Ziel sich am besten auf Grund der Idee einer gewaltsamen FHeidenmission mit dem Schwert erreichen ließ. Spannungen zwischen den beiden Machtkreisen waren unter diesen Umständen unvermeidlich. Der Verf. veranschaulicht die Schwierig- keiten, in die der Orden infolgedessen geraten war, durch den Ver- gleich mit der Bekehrungsarbeit im benachbarten Wirkungskreis des Bischofs von Riga und der Schwertbrüder. An der Sendung des pästlichen Legaten Wilhelm von Modena, der den Streit zwischen den deutschen und dänischen Missionaren daselbst im Sinne der päpstlichen Missionspolitik zu schlichten suchte, sowie an den Be- mühungen des flandrischen Mönchs Balduin von Alma, der die Hemmungen in der estnischen und livischen Mission zugunsten des pästlichen Stuhles auszunutzen trachtete, verdeutlicht M. den Unter- schied zwischen der beiderseitigen Missionstaktik, der auch in die Augen springt, wenn man die Abmachungen Balduins in Kurland mit dem Christburger Vertrag, den der Orden am 7. Februar 1245 mit den Preußen schloß, vergleicht: Dort die unmittelbare Unter-

13) In: Historische Studien. Heft 176. Berlin, E. Ebering, 1928.

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werfung der Getauften unter den päpstlichen Stuhl, hier ein aus- gesprochenes Untertanenverhältnis, das allerdings infolge der Auf- stände im Laufe der Zeit stark zuungunsten der Niedergeworfenen verschoben wurde. Die Begünstigung der an den Erhebungen un- beteiligten Preußen sowie die ec deutscher Kolonisten im Ordensland erscheint, wie der Verf. zeigt, ebenfalls als Ausfluß der Missionsidee des Ordens. Mit der Christianisierung des Landes war derselben allerdings der Boden entzogen, was Polen- Litauen im Zeitalter der Reformkonzile gegen die Daseinsberech- tigung der Deutschen Ritter auch geltend machte. Die historische Gestaltung der Dinge brachte demnach den Orden mit den Voraus- setzungen seiner Staatsgründung in Widerspruh. Das Verhältnis des Ordens zu Polen streift der Verf. nur beiläufig. Zum Ver- ständnis der Ordenspolitik der Jagiellonen tragen aber seine Fest- stellungen nicht wenig bei. Der Verf. hätte noch hinzufügen können, daß der Anschluß des Ordenslandes an die lutherische Refor- mation unter den von ihm geltend gemachten Umständen als ein ge- glückter Versuch zu bewerten sei, aus dem Viderspruch, in den der Orden zu seiner Ursprungsidee geraten war, herauszukommen. Verf. bemerkt, daß noch der alte Sigismund die Verwendung des Ordens zur Türkenbekehrung in Erwägung gezogen habe. Eine Episode, die Verf. „wie ein Vorspiel zu Er geistigen und diplo- matischen Sieg Jagiellos anmutet“, nämlich „Die Bekehrung Gedi- mins“, “) macht V. Forstreuter zum Gegenstand einer be- sonderen Untersuchung. Der litauische Großfürst trat bekanntlich zum Schein zum Christentum über, um sich mit Hilfe der Kurie der Bedrängung durch den Ritterorden zu erwehren. Es wurde die in der Folgezeit erörterte Frage aufgeworfen, ob der Orden überhaupt berechtigt sei, gegen ein christliches Litauen anzukämpfen.

Die Missionsgeschichte ist eng verknüpft mit der Geschichte der Diözesen, insofern bei der Gewinnung von Neuland für das Christentum die Frage der hierarchischen Einordnung desselben sich von selbst aufwarf. Bron is law Włodarski verweist darauf in der Untersuchung des nach seiner Meinung allerdings gefälschten „Angeblichen Dokuments des Pommernherzogs Swieropelk a. d. Jahre 1180) woselbst Rechtsansprüche des Gnesener Metropolitan- stuhles auf Gebiete des Bistums Kammin erhoben werden. V. ver- mutet wohl mit Recht, daß die Fälschung 1236 in der erzbischöf- lichen Kanzlei zu Gnesen begangen worden sei. Uber „Die Zu- gehörigkeit der Breslauer Diözese zur Provinz Gnesen?) handelt M. Vojt as. Rechtlich habe dieses Verhältnis erst durch die Bulle De Salute animarum v. 16. VI. 1821 zu bestehen aufgehört; jedoch

18) „Die Bekehrung Gedimins und der Deutsche Orden.“ In: Altpreuß. Forschungen. 5, 1928. S. 289—61.

18) Rzekomy dokument Świętopełka pomorskiego z 1180 r. In: Roczniki historyczne V, 1929, S. 1—16.

16) Bulletin internat. de l’academie polonaise des sciences et des lettres.

Nr. 1—8, 1928, S. 35—41 (Deutscher Bericht). 290

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seien die Beziehungen. zwischen Breslau und Gnesen mit der fort- schreitenden Eindeutschung Schlesiens seit dem Tode des letzten polnischen Bischofs Nanker (1341) immer losere geworden; nur im Reformationszeitalter sei unter dem Eindruck der vom Luthertum drohenden Gefahr eine vorübergehende Annäherung erfolgt. An einer Reihe von Beispielen zeigt W., daß die Verbindung dennoch nie ganz aufgehört habe. Den angeblichen Verzicht Sigismund II. vom 25. Mai 1624 auf die Einmischung in die Breslauer Diözese hält er für historisch nicht erwiesen. In diesem Zusammenhang sei an Franz Seppelts Vortrag über „Die Epochen der Breslauer Bis- tumsgeschichte im Mittelalter) mit dem Hinweis auf den Aufstieg des Bischofsstuhles in der Zeit der deutschen Besiedlung des Landes erinnert.

Von den Diözesen Polens hat in der letzten Zeit die von Culm (Chetmo) die ausgiebigste literarische Behandlung er- fahren. Der von der bischöflichen Kurie herausgegebene umfassende „historisch-statistische Grundriß über „Die Culmer Diözese“, “) ein Sammelwerk, bietet im allgemeinen Teil eine Ubersicht über die Ge- staltung des Bistums in der Vergangenheit nach den verschiedensten Richtungen, im besonderen ein Bild von seiner derzeitigen Lage, wo- bei auch hier 2. B. bei der Kathedralkirche, dem Priesterseminar, den einzelnen Dekanaten usf. historische Notizen eingestreut werden. Die Namen Glemmas, Czaplewskis und Mahkowskis unter den Mitarbeitern verbürgen einen guten Unterbau der historischen Partien des Buches, das der Geschichtsforschung ebenso wie der kirch- lichen Praxis einen Dienst erweisen möchte. Über die äußere Ge- schichte des 1243 begründeten und 1824 von Culm nach Pelplin ver- legten Bistums, über seine kirchenregimentliche Zugehörigkeit, über die einzelnen zur Diözese gehörenden Landstriche, darunter Pomesamien und Pommerellen, über das Zustandekommen des Kirchenvermögens, über die 55 Bischöfe, die Suffraganbischöfe, das Domkapitel, die Synoden, das Ordens- und Schulwesen, über die Heiligen des bischöf- lichen Sprengels, die Bruderschaften u. dgl. m. werden historisch zu- verlässige Angaben mitgeteilt. In einem besonderen Abschnitt wird der Verlauf der Reformation und Gegenreformation erzählt. Biblio- graphische Zusammenstellungen erhöhen den wissenschaftlichen Wert des Buches, das auch in andern Diözesen, nicht zuletzt im Inter- csse der Förderung historischer Kenntnisse, Nachahmung finden sollte. Eine Begebenheit aus der Geschichte eines heute zur Culmer Diözese gehörenden Teilgebietes, „Den Kampf des Deutschen Ritterordens um die kirchliche Zugehörigkeit des Archidiakonates Pommerellen“, “) schildert in einer besonderen Studie Kazimierz

17) In: Zeitschrift für Geschichte Schlesiens 61, S. 1—11. Š on Diecezja chelminska. Zarys historyczno—statystyczny. Pelplin 1928, l i9) Walka zakonu krzyżackiego z Polską o przynależność archidiakonatu on jego. In: Roczniki towarzystwa naukowego w Toruniu. 84, 1927, . 1 .

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Bieszk. Es sei vorausgeschickt, daß der hier in Frage kommende Landstrich damals zur Dibzese Wioclawek gehörte und erst 1818 Culm angegliedert wurde. B. legt folgenden Sachverhalt dar: Nach der Eroberung des östlichen Pommern im Jahre 1309 war der Ordens- en rebt, daselbst in kirchlicher Hinsicht die landes-

errlichen Rechte, die er im übrigen Ordensland ausübte, gegen die Rechtsansprüche des zuständigen Bischofs von Wioclawek sich an- zueignen; durch die Errichtung eines selbständigen Bistums in Pommerellen hätte er dieses Ziel am sichersten erreicht. Der 1343 zustandegekommene Friedensschluß mit Kasimir d. Gr., der das strittige Gebiet dem Orden endgültig überließ, schien diesen Plan der Verwirklichung näherzubringen. Aus politischen Gründen war aber die Kurie dafür nicht er sondern e sich lediglich damit, daß sie den 1421 zum Bischof von Wioclawek gewählten Johann Pella, einen erklärten Gegner des Ordens, auf den Bischofs- stuhl von Plock versetzte, welche Maßnahme jedoch an dem Wider- stand Jagiellos scheiterte. Im weiteren Verlauf der Ereignisse wurde die Angelegenheit der kirchlichen Verselbstindigung des Archi- diakonates von Pommerellen eine Teilfrage bei den scharfen und langwierigen Auseinandersetzungen zwischen Polen-Litauen und dem Orden, in die das Baseler Konzil, die Kurie, Kaiser Sigismund und die Tschechen eingegriffen. Durch den Thorner Frieden im Jahre 1466, auf Grund dessen Pommerellen an Polen fiel, wurde die Streitfrage zuungunsten des Ordens entschieden. „Die Bemühungen des Groß meisters Küchmeister um die Ausscheidung des Pom- merschen Archidiakonates aus der Wloclawer Diözese im Jahre 1421“, ) stellt derselbe in einem besonderen Aufsatz dar. Zu der neuzeitlichen Geschichte der Diözese Culm hat Alfons Mankowski in den Veröffentlichungen des „Wissenschaftlichen Vereins in Thorn“ einige quellenmäßige Beiträge geliefert. Der von uns 1928 erwähnten?!) Geschichte des Kathedralkapitels daselbst schließt er Untersuchungen über die vermögensrechtliche Lage des Bistums an. Aus dem bischöflichen Archiv veröffentlicht er „Das Inventar der Landgüter des Culmer Bistums aus dem Jahre 1614, ) wobei er in der Einleitung einerseits das Zustandekommen der Liegen- schaften bis zu diesem Zeitpunkt darlegt und andrerseits aus den Inventuraufnahmen in den Jahren 1666, 1676, 1723 und 1759 im ganzen liegen ihm 15 vor Ergänzungen aufnimmt. Auf diese Weise erhält man einen Eindruck von dem Anwachsen des bischöf- lichen Besitzes ın der Zeit von 1243 bis 1759. Die Vermögens- aufstellung des Jahres 1614 ist die älteste erhaltene, ohne daß man aber daraus den Rückschluß ziehen darf, daß vorher keine der-

20) Wielkiego mistrza Michala Kiichmeistera zabiegi z r. 1421 o unieza- leznienie archidiakonatu pomorskiego od diecezyi włocławskiej. In: Zapiski towarz. nauk. w Toruniu. VII, 1928, S. 291—296, 808—820.

21) In: „Jahrbücher“ IV, S. 249.

22) Inventarz dóbr biskupstwa Chelmifskiego z r. 1614. In: Fontes XXII, Towarzystwo naukowe w Toruniu, 1927.

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artigen Aufnahmen vorgenommen worden seien. Die einzelnen An- gaben über Dörfer, Gutshöfe, Mühlen, Seen u. dgl. m. haben in der Hauptsache lokalhistorischen Wert, wenn man aber bedenkt, daß z. B. um den Besitz von Lubaw zwischen dem Bischof und den Ordensritter im 13. Jahrhundert heftige Streitigkeiten ausgetragen wurden, so rücken doch diese Angaben in den Umkreis größeren historischen Geschehens. In analoger Weise bringt derselbe zur Kenntnis „Die Inventare der Güter des Kulmer Kathedralkapitels im 17. und 18. | Zur Grundlage nimmt er das regestum oeconomiae aus dem Jahre 1605, das er durch die späteren Vermögensaufnahmen aus den Jahren 1616, 1651 und 1666 ergänzt. Von den Einnahmen und Ausgaben bringt er dabei nur Auszüge, soweit ihnen eine kulturelle und wirtschaftliche Bedeutung zu- kommt. Ferner druckt er die conscriptio et revisio status bonorum raestimonialium, d. i. ein Verzeichnis der Allodialgiiter, die einzelne Mitglieder des Kapitels durch einige Zeit nutznießen durften, aus dem Jahre 1757 ab; die Beschreibung der Häuser in Abkürzung. Schließlich veröffentlicht er die auf die Vermögensgebahrung des Kapitels sich beziehenden Dokumente aus der Zeit von 1402 bis 1755. Aus dem Ganzen erhält man einen Eindruck von dem Be- sıtzstand des Kapitels in diesem Zeitraum. In Anbetracht der viel- fachen Unstimmigkeiten zwischen den Bischöfen und ihren Dom- kapiteln sind die Schenkungen jener an diese bemerkenswert. Arnold handelt über „Die Anfänge des Plocker Bistums‘.**) Einen interessanten Beitrag zur Geschichte des Krakauer Bischofsstuhles bietet Jan Fıjalek, indem er von den im Inventar des Kapitelarchivs verzeichneten „liturgischen Büchern“, das bischöfliche Benediktionale, das am Wawel „zu Beginn des 12. Jahrhunderts“ in Verwendung stand, vornimmt und daraus „Die Feste und Heiligen der Krakauer Kathedrale”) nach den Kalender- tagen fortlaufend verzeichnet sowie einige Beispiele von Gebeten und Segenssprüchen mitteilt. Da Gebete zum hl. Wenzel darin nicht vorkommen, erscheint Krakau als Entstehungsort ausgeschlossen.

Die wirtschaftliche Seite der kirchlichen Grundherrschaften in Polen beschäftigt auch sonst die Forschung. So behandelt Ja n Warezak vom volkswirtschaftlichen Standpunkt aus „Die Ent- wicklung der Ausstattung des Gnesener Erzbistums im Mittel- alter, “) während Stanislaw Orsini-Rosenberg unter be- sonderer Berücksichtigung der neu aufkommenden Zinshufen- verfassung „Die Entwicklung und den Ursprung des Vorwerk-

.. 38) Inwentarze dóbr kapituly katedralnej Chełmińskiej z XVII i XVIII wieku. Ebd. Fontes XXIII, 1928.

20) Początki biskupstwa plockiego, Kwart. Histor. 48, 1929, Heft 3.

Wi Księgi liturgiczne oraz święta i fwieci katedry krakowskiej z poczgtku XII go. In: Nova Polonia Sacra, 1, 1928, S. 851—864.

29) Rozwój uposażenia arcybiskupstwa gniew. znieńskiego w średniowieczu. In: „Badania z dziejów społecznych i gospodarczych“, Heft 5, Lemberg 1929.

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Frondienstes auf den Gütern des Erzstiftes Gnesen“) beleuchtet. Stefan Inglot schildert „Die sozial-wirtschaftlichen Verhältnisse der Bevölkerung auf den Gütern des Bistums Włocławek in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts“. ) Seine Untersuchung stützt er hauptsächlich auf das Inventar der Güter und Einnahmen des Bis- tums aus dem Jahre 1534 unter Heranziehung anderweitiger Auf- zeichnungen, wie der Kapitelakten aus der Zeit 1435—1518 und 1519—1578, woraus er unter Anwendung der, wie er sie bezeich- nete, historisch-statistisch-geographischen Methode einerseits den Be- sitzstand des Bistums und anderereits die Leistungen der Grund- hörigen zu erfassen sucht. Die Einzelheiten gehören zwar mehr in die Wirtschafts- als in die Kirchengeschichte, aber die Endergebnisse beleuchten doch auch die kirchliche Lage, so wenn der Vert. z. B. die Zahl der zum bischöflichen Besitz gehörenden Dörfer, Wiesen, Wirtshäuser, Mühlen, Bauden u. dgl. m. errechnet oder das Aus- maß der Abgaben an Gerste, Hafer, Stroh, Eiern, an Naturalien und Bargeld feststellt. Es hat auch einen gewissen Reiz, zu erfahren, was die Wirtshausbesitzer, die Müller, die Häusler u. a., aber auch die 5 zu zahlen hatten und was die Glas- und Eisenhütten jährlich abwarfen.

Die Bischofsstühle kamen als Wirtschaftsfaktoren im öffent- lichen Leben Polens nicht in so entscheidender Veise zur Geltung als wie in geistig- moralischer Hinsicht. Die geistliche Gerichtsbarkeit bildete zwar je länger je mehr für den Adel einen schweren Stein des Anstoßes, die betreffenden Gerichtsakten spiegeln aber doch den weitreichenden Einfluß der Kirche auf das Rechtsempfinden des Volkes wider. Infolgedessen ist die Veröffentlichung der ältesten Lemberger Konsistorialakten“) durch Wilhelm Rolny will- kommen zu heißen. Der auf einer vor 20 Jahren zufällig entdeckten Handschrift von 568 Blättern fußende stattliche (S. IX + 674) Band, der die von 1482 bis 1498 reichenden Akten bis 1489 bringt, reiht sich würdig den zahlreichen Publikationen B. Ulanowskis, des Bahn- brechers auf diesem Gebiet, an. Diesen Aufzeichnungen kommt eine um so größere Bedeutung zu, als weder für die Zeit vorher noch für die nächsten 20 Jahre Gerichtsprotokolle sich erhalten haben. Der Umkreis der Agenden wurde durch den Umstand erweitert, daß das Lemberger geistliche Gericht für Przemysl und Kamieniec als zweite Appellationsinstanz zu fungieren hatte. Die größeren historischen Ereignisse, wie der Besuch des Königs in Lemberg, leuchten wohl gelegentlich in den Verhandlungsniederschriften auf, im großen und

27) Rozwój i geneza folwarku pahszczyznianego w dobrah ka gnieznienskiej. In: Prace komisji historyccnej. Bd. IV, 1927, S. 127—284. V die Anzeige von E. Salkind in „Jahrbücher“ N. F. IV, 1928 S. 700.

28) Stosunki spoleczno-gospodarcze ludności w dobrach biskupstwa wioclaw- skiego w pierwszej polowie XVI wieku. In: Archiwum towarz. naukowego we Lwowie, Teil 2, Bd. 8, Heft 4, 1927.

3) Acta officii consistorialis Leopoliensis antiquissima. Bd. I (1482—89). In: Zabytki dziejowe Bd. II. Ebd. 1927.

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ganzen drehen sich aber die Prozesse um kleinliches Gezink der Geistlichen untereinander wegen Ungehorsam, Übervorteilung, Ein- E in die Rechtsbefugnisse anderer, unbefugte Aneignung von remdem Einkommen u. dgl. m. und andererseits um Rechtshändel zwischen Geistlihen und Laien, hauptsächlich wegen Ehrenbeleidi- gungen, die meist durch einen Vergleich beigelegt wurden; über Roheitsakte und Ausschreitungen des Klerus ım 15 Zu- stand wird ebenfalls zu Gericht gesessen. Aus den Mosaiksteinen läßt sich ein Kulturbild zusammensetzen, wobei man allerdings nicht in den Fehler verfallen darf, die Entgleisungen einzelner auf den ganzen Stand zu verallgemeinern. Karl Koranyi behandelt eine kulturgeschichtlich besonders interessante Gruppe von Straf- sachen, die meist vor den bischöflichen Gerichtshöten verhandelt wurden, nämlich das Prozeß verfahren wegen „Zauberei und Be- schwörungen im 15. und in der ersten Hälfte des 16. Jahr hunderts.) Im Unterschied von Westen stellt er fest, daß Prozesse dieser Art in Polen bis ins 17. Jahrhundert zu den Seltenheiten ge- hören und auch da die Schädigung der Mitmenschen an Gesundheit und Besitz auf Anwendung von Zaubereimitteln und nicht auf Ver- bindung mit dem Teufel zurückgeführt wird. In den meisten Fällen gab sich der Gerichtshof mit einem Versprechen der Angeklagten, der schwarzen Kunst abzusagen, zufrieden; und dies sogar in den beiden ersten Fällen, da das geistliche Gericht zunächst sogar die Todesstrafe verhängt hatte (1476 und 1535). Die erste Verbrennung in Polen wegen Zauberei erfolgte 1511, und zwar auf Grund eines Rechtsspruches des Posener Stadtgerichts. Unter den wegen Zauberei Angeklagten überwog bei weitem das weibliche Element.

Für die Höhenlage einer jeden Institution sind die Persönlich- keiten, in deren Hände ihr Schicksal gelegt wird, maßgebend. Karl Maleczynski weist in seinen Ausführungen „Über die polnischen Kanzler im 12. Jahrhundert“) darauf hin. Kazimierz Hartleb beleuchtet „die kulturelle Wirksamkeit des Bischofs und Diplomaten Erasmus Ciotek“,**) des vertrauten Sekretärs des Köni Alexander und erklärten Gegners des Erzbischofs Laski, eines groß- zügigen Förderers der Renaissance und des Humanismus, mit welcher Geistesrichtung er auf seinen wiederholten Romfahrten sowie durch zahlreiche auswärtige Freunde in Berührung kam. le Karwiftska greift zurück auf „die politische Rolle des Bischofs von Wloclawek Wolimir (1259—1278)“,*) der als unentwegter Vor- kämpfer der Freiheit der Kirche im Streit zwischen den piastischen

20) Czary i gusla przed sedami koécielnemi w Polsce w XV i w pierwszej m XVI wieku. Lemberg 1928. Sonderdruck a. d. Kwart. etnogr. „Luc

31) Vgl. Anzeige von Forst-Battaglia in „Jahrbücher“ N. F. IV, 1928, S. 609. = 32) Działalność kulturalna biskupa-dyplomaty Erazma Ciołka. Lemberg

. ss) Polityczna rola biskupa Wolimira. Abdr. a. d. „Ateneum kapłańskie“, Heft 140, 1929.

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Teilfürsten Leszek dem Schwarzen und seinem Bruder Ziemomyslaw um Kujawien gemäß den Interessen des Episkopates handelte. Kurnatowski würdigt die Wirksamkeit des Erzbischofs Johann Laskı,?*) der den ersten Ansturm des Luthertums abzuwehren suchte, während Kazimierz Miaskowski aus „der Geschichte der Familie der Laskis“ ) das verwandtschaftliche Verhältnis des Primas zu dem als Bankier einflußreichen Stefan Fiszel-Pawidzki, einem ge- tauften Juden, der in zweiter Ehe eine Schwester des Erzbischofs heiratete, aufhellt.

Neben dem Episkopat spielte im mittelalterlichen Polen das Domkapitel, bei dem die Fäden der Verwaltung der Diözese zu- sammenliefen, eine bedeutsame Rolle. Darüber gibt Aufschluß die Studie von Tadeusz Silnick i über „die Organisation des Archi- diakonates in Polen“.**) Ungeachtet des Fehlens quellenmäßiger Be- lege aus der Frühzeit nimmt der Verf. das Vorhandensein dieser Ein- richtung in Polen von allem Anfang an, und zwar nach dem ursprüng- lichen Typus, der den Archidiakon nicht, wie später, als Leiter des Archidiakonats eines Teilgebiets der Diözese, sondern als Gehilfen des Bischofs, besonders in der Vermögensverwaltung und Rechtsprechung erscheinen läßt. In der Folgezeit kamen auch in Polen Archi- diakonate allmählih auf. Wiewohl die älteste erhaltene Urkunde über die Errichtung von Archidiakonaten erst aus dem Jahre 1298 und zwar für Posen stammt, nimmt der Verf. an, daß die Gebietsteilung de bischöflichen Sprengel in Wirklichkeit bereits vorher erfolgt sei, da in den Diözesen Wioclawek und Breslau um die Wende des 13. Jahr- hunderts gleichzeitig zwei bis drei Archidiakone erwähnt werden und in der Gnesener und Krakauer Diözese um dieselbe Zeit ebenfalls Archidiakonate nachweisbar sind. Den weiteren Ausbau der Archi- diakonate, auch durch Anlehnung an die gleichzeitig in den Bezirks- hauptstädten aufgekommenen Kollegiatkapitel, verlegt S. in die erste Half te des 13. Jahrhunderts. Als spezifisch polnische Ursachen der Einführung des neuen Typus des Archidiakonates bezeichnet der Verf. die immer mehr überhand nehmende politische Tätigkeit der Bischöfe, die deutsche Kolonisation und die östliche Mission. Es hängt, wie S. ferner zeigt, mit dem Niedergang des Archidiakonates zusammen, daß in den seit dem 14. Jahrhundert entstandenen Diözesen in der Regel die Einteilung des Sprengels in Archidiakonate wegfiel und an deren Stelle die Diakonate traten. Erst im 17. und 18. Jahrhundert wurde in den östlichen Diözesen, wie Lemberg, Przemysl, Wilna eine Gebietseinteilung wieder nach Archidiakonaten vorgenommen. Eine Sonderstellung nahm das zu Posen gehörende Archidiakonat Czersk-

320) L’archevéque Jean Laski. Monde Slave Nr. 8, S. 3869—94, 1928.

38) Z dziejów rodziny Laskich. In: Roczniki historyczne. V, 1929, S. 88 bis 89, Posen.

38) Organizacya archidiakonatu w Polsce. In: Studya nad historyą prawa polskiego. Herausgeg. von Oswald Balzer, X, Heft 2, Lemberg 1927. Dazu den Bericht über denselben Gegenstand in: Sprawozdania towarzystwa naukowego we Lwowie, VII, 1927, Heft 1, S. 28—29.

Warschau, das später zu einer selbständigen Diözese ausgebaut wurde, ein. Aus der gesonderten Behandlung der einzelnen Archidiakonate ersieht man, daß bei ihrer Einrichtung sowohl hinsichtlich des Um- fanges als auch hinsichtlich des Verhältnisses zu der politischen Kreis- einteilung keine einheitlichen Grundsätze beobachtet wurden. Durch das Archidiakonat wurde in der Diözesanverwaltung das Prinzip der Dezentralisation in bezug auf das Gerichtswesen, die Finanzgebarung und das Synodalwesen festgelegt. S. hat eine 1 Verfassungs- frage der katholischen Kirche Polens gründlich und sachlich erfaßt.

Im Laufe seiner Ausführungen verweist S. auf die Verbindung zwischen Archidiakonat und Pfarrorganisation. Über „die Grund- lagen der Pfarrorganisation im Bereich der polnischen Kirche“) be- sitzen wir nun eine ausgezeichnete Studie aus der Feder von Hein- rich Felix Shmid, der auch sonst, nicht zuletzt durch seine kenntnisreichen Literaturberichte, ) der deutschen Geschichtsforschung die kirchenrechtlichen Probleme des slavischen Ostens näher rückt. Die Untersuchung bildet das dritte Kapitel einer groß angelegten Arbeit über „die rechtlichen Grundlagen der Pfarrorganisation auf westslavischem Boden und ihre Entwicklung während des Mittel- alters.) Mit souveräner Beherrschung des Stoffes, die sich be- sonders in den Fußnoten bekundet, rollt der Verf. nicht nur das gesamte durch die Themastellung gegebene Problem auf, sondern geht auch verschiedenen damit mittelbar zusammenhängenden Frage- stellungen mit gewohnter Sachkenntnis auf den Grund. Dabei wägt er alles Für und Wider vorsichtig ab und hütet sich vor gewagten Konstruktionen, wozu die vielfach unzulängliche und unsichere r- lieferung leicht verführen könnte. Seinen Ausgang nimmt er von den Anfängen der kirchlichen Organisation in Polen überhaupt. Die Ent- wicklung Bing, wie Sch. zeigt, von oben nach unten; erst erhielt die junge polnische Kirche Bischofsstühle und sodann lange hernach eine Pfarrorganisation. Im 10. Jahrhundert waren die Kathedralkirchen die einzigen Pfarrkirchen ihrer Sprengel, worauf im 11. Niederkirchen als landesherrliche Gründungen aber ohne eine wirkliche Pfarrorgani- sation zustande kamen. Diese wurde erst durch die Kirchgründungs- tätigkeit des Magnatentums auf seinen Grund und Boden in die Wege geleitet, aber erst durch die Ansiedlung deutscher Kolonisten, die Einrichtungen aus ihrer alten Heimat in die neue verpflanzten, zur vollen Entfaltung gebracht. Die Entstehung von Pfarrgemeinden war aber andererseits erst durch die wirtschaftliche Sicherstellung ermög- licht. Es ist nun besonders verdienstlich, daß der Verf. zur Klar- stellung des Tatbestandes sich nicht damit begnügt, die finanziellen

37) In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte XLVII, Kan. Abt. XVII, 1928, S. 264-858 und XLIX Kan. Abt. XVIII, 1920, S. 235—562; auch als Sonderdruck.

20) Beitr. in „Jahresberichte für deutsche Geschichte“ II, 1928, S. 142 bis 150, 601 bis 788, III. 1929, 8. bis 688.

0) „Jahrbücher N. F. IV, 1928, S. 240 f.

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Grundlagen der Pfarreien aufzudecken, sondern bei dieser Gelegen- heit den ganzen verschlungenen Fragenkomplex der kirchlichen Ein- nahmen in Polen, selbstverständlih im Hinblick auf das Nieder- kirchenwesen aufrollt. In diesem Zusammenhang geht er mit ge- wohnter Griindlichkeit auf das Problem des Zehntwesens ein. Von den Erträgnissen des Zehnts, auf den sowohl der Bischof als auch der Grundherr Anspruch erhoben, sollte nämlich die Dotation der Niederkirchen bestritten werden. Durch das Aufkommen des Dorf- wesens ergab sich der Dorfzehnt, der durch die Erweiterung der Siedlungen infolge Neubruches ebenfalls eine Steigerung erfuhr. Da die Gründer der Pfarrkirchen diese als ihr Eigentum ansahen, gingen sie auch in der Verwendung dieses Zehnts nach eigenem Belieben vor. Allmählich vollzog sich aber der Übergang der Pfarrgemeinde zu einem selbständigen Rechtskörper, wodurch auch die Voraussetzungen das Zehntwesen sich verschoben. Die Verselbständigung der Pfarr- inhaber gegenüber den Grundherren vollzog sich auch in dem Maße, als ihnen noch andere Zuwendungen, wie z. B. das Meßkorn, un- mittelbar von den Dorfinsassen zuflossen. Die Dinge nahmen aber nicht überall den gleichen Verlauf. Sch. fördert die Klärung des Sachverhalts wesentlich, indem er auf die Mannigfaltigkeit der sich ergebenden Gestaltungen, deren Vereinheitlichung erst Kasimir d. Gr. in Angriff nahm, verweist. Auch die Seitenlinien, die der Verf. zieht, wie z. B. über die Kastellaneiorganisation in ihrer Bedeurung für das Niederkirchenwesen, über das Schulzenamt, über das Patro- nat u. a. m., vervollständigen das Gesamtbild dieser gründlichen, die polnische Kirchengeschichtsschreibung erheblich fördernden Unter- suchung.

Einen weiteren Schritt auf dem Wege der inneren Festigung des mittelalterlichen Kirchenwesens in Polen bedeutete der Ausbau des Synodalwesens. In dieser Hinsicht dienen zur Klärung Zbigniew Soc.as „Einige Worte über die Gesetzgebung der Diözesansynoden in Polen im 15. und zu Beginn des 16. Jahrhunderts im Lichte der damaligen sozialen Strémungen“.”) Aus drei voneinander abhängigen Statutensammlungen Włocławek 1402 und Gnesen 1408 und 1512 sucht der Verf. an der Hand der Bestimmungen über das Ver- pea a des Klerus zur Laienwelt die sozialen Hintergründe näher zu erfassen.

Neben dem geordneten Amt bildete einen wichtigen Machtfaktor der inietelalterlichen Kirche in Polen das Klosterwesen, das aus dem Westen dorthin verpflanzt, im Laufe der Zeit mit dem polnischen Volksleben zusammenwuchs. In der Forschung der letzten Zeit überwiegen Einzeluntersuchungen über Ordensniederlassungen und -Personen.

0 Kielka dée o ustawodawstwie synodéw diecezjalnych w. Polsce w XV i pocz. XVI w. na tle ówczesnych pradéw społecznych. In: Pamiętnik 80 lecia pracy naukowej P. Dabkowskiego. Lemberg 1927, S. 205—219.

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Die 9 „Studien und Skizzen“ über „den heiligen Franz von Assisi“, 1) eine Sammlung von Vorträgen, die im Jahre 1927 durch das katholische wissenschaftliche Institut und den Dante-Verein in Krakau veranstaltet wurden, greifen aber doch größere Zusammen- hänge auf, wie auch G. K. Chesterton, der englische Biograph des Heiligen, in dem Vorwort hervorhebt. Auf Polen selbst nehmen drei Beiträge Bezug: Johann Dabrowski geht dem Zusammenhang nach zwischen „der franziszeischen Bewegung und der Wiedergeburt Polens im 13. und 14. Jahrhundert.“) Die Piasten, denen Polen seine Erstarkung verdankt, wie Wladislaw Łokietek und Kazimierz d. Gr., wurden bei ihren östlichen Erwerbungen von den ihnen eng befreundeten Franziskanern, die auch das nationale Schrifttum be- fruchteten, unterstützt; an der Heiligsprechung des polnischen Natio- nalheiligen Stanistaw, ebenfalls einer der Vorbedingungen des Auf- stieges Polens, nahmen sie einen hervorragenden Anteil. Franz Bielak stellt fest, daß „Franziszeische Motive in der polnischen Literatur“) erst in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluß des Werkes von Sabatier nachweisbar sind, während man vorher das fromme Leben des heiligen Franziskus, wie es z. B. bei Skarga der Fall ist, lediglich vom Standpunkt der üblichen Hagio- graphie behandelt hat. Tadeusz Szydlows k i zeigt, wie „die Architektur der franziskanischen Kirchen im Piastischen Polen“) ent- sprechend den durch die Bewegung hervorgerufenen religiösen Be-

ürfnissen dem Gotischen Baustil zum Durchbruch verholfen hat. Bei der Einfachheit ihrer Klöster verwandten die Franziskaner um so mehr Sorgfalt auf die Kirchenbauten, von denen man durch die von $z. in guter Auswahl gebotenen Abbildungen einen unmittel- baren Eindruck erhält. Der Versuch des Verf., die ältesten franzis- kanischen Bauten in Polen in ihrer ursprünglichen Beschaffenheit zu erfassen, verdient Beachtung. Im übrigen enthält das Buch noch zwei Arbeiten von Konstantin Michalski über Dante, eine von Mieczystaw Bramer über die französische Literatur der Gegenwart, eine von Wtadystaw Folkierski über Rousscau, jedesmal in deren Verhältnis zu Franziskus. Roman Dyboski würdigt das Buch von Chesterton über den Heiligen von Assısi und Stanistaw Wadkiewicz bespricht „die franziskanischen Ideale und die Krise der sog. westlichen Kultur“. Polnische Verhältnisse werden in diesen Ausführungen gelegentlich gestreift.

Auf einen größeren Umkreis der Wirksamkeit von Ordensleuten verweisen drei Aufsätze von Kamil Kantak, der auch sonst der Geschichte des Monchtums in Polen seine besondere Aufmerksamkeit schenkt: „Die Ostmission der polnischen Franziskaner-Observanten

/ 4) E Franciszek z Assyzu. Krakowska spółka wydawnicza. Krakau 1928 (18 Abbi dungen). ) S. 178—189. Als Sonderdruck: Ruch franciszkański a odrodzenie Polski w XIII i XIV wieku, 1928.

43) S. 79—98.

“) S. 158—171.

20 NP 6 299

und die litauische Observanten-Provinz (1453—1570)“,*) „Das Leben in den Klöstern der polnischen Bernhardiner vor der Reformation“, und „Übersicht über die Bettelorden in Polen vor der Teilung“)

Einige Angaben über Klostergründungen verdienen Er- wähnung: Karl MaleczyäAski untersucht „das Dokument des päpstlichen Kardinallegaten Humbald für das Kloster Trzemeszno“**) mit dem Ergebnis, diese älteste in der Urschrift erhaltene Urkunde, die Polen besitzt, stamme von dem Titularkardinal von St. Johann und Paul, der im Jahre 1145 sich in Polen aufhielt, weshalb das auf dem Diplom angegebene Datum vom 2. März 1146 als späterer Zu- satz angesehen werden müsse. Potkanski handelt von „der Gründung und Ausstattung des Klosters in Mogilno“.“) WIadys- ław Szoldrski erzählt kurz die wichtigsten Begebenheiten aus der Geschichte der Dominikaner in Thorn“, ') um alsdann die 1821 niedergerissene Dominikanerkirche daselbst auf Grund einer im Archiv der St. Jakobskirche aufbewahrten Handschrift aus dem Jahre 1795 ausführlich zu beschreiben. Adam Wolff stellt aus sechs späteren Abschriften den mutmaßlichen Wortlaut des im Original verloren gegangenen „unbekannten Dokuments des Ziemowit Trojdenowicz für das Kloster Czerwińsk vom 31. I. 1342“) wieder her.

Von Darstellungen aus der Geschichte einzelner Klöster sei verwiesen auf „Die Geschichte des Klosters zu Czarnowanz in Schlesien im Mittelalter“) von Stefanie Pierzchalenka- Jeskowa, die diese Prämonstratenserniederlassung in der Zeit zwischen 1202 und 1211 durch Ludmilla, die Gemahlin des Herzogs Mießko von Ratibor - Oppeln, in Rybnik, von wo sie deren Sohn Kasimir 1228 nach Czarnowanz verlegt habe, ins Leben gerufen sein läßt. Im weiteren Verlauf ihrer Darstellung wendet sie insbe- sondere der wirtschaftlichen Entwicklung des Klosters ihr Augen- merk zu. Karl Thomas Brausmiiller erzählt die wechsel- vollen Geschicke des „Dominikanerinnen-Klosters St. Katharina in Posen“, ) einer Gründung des großpolnischen Herzogs Przemysław II. im Jahre 1283, die durch Kriegswirren vielfach heimgesucht, 1822 für

45) Franziskan. Studien Bd. 14, Heft 1/2, S. 185—168. 40) Przglad teologiczny X, Nr. 2/8. 47) Ebd. IX, S. 867—879. 18) Dokumentum Humbalda kardynała legata papieskiego upatrzonym datą z marca 1146 dla klasztoru w Trzemesznie. In: Roczniki historyczne IV, Heft 2, S. 1—29, Posen 1928. Dazu: Sprawozdania towartystwa naukowego we Lworie VIII, 1928, S. 15 f. = “) O założeniu i uposazaniu klasztoru w Mogilnie. In: Kwartaln. histor. 48.

se) Z dziejöw dominikanów w Toruniu. In: Zapiski tow. nauk. w Tor. VIII, 1929, S. 48—86. Nieznany dokument Ziemowita Trojdenowicza dla klasztoru w Czerwińsku z 81. I 1842 r. Ebd. 42, 1928, S. 67 ff.

51) Dzieje klasztoru w Czarnowgsie na Slasku w wiekach frednich. In: Rocz. histor. IV, 1928, S. 30—84. a 53) $. Katarzyna, klasztor Dominikanek w Poznaniu 1288—1822. Posen 1928.

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Militärzwecke eingezogen, 1826 den Selesianerinnen übergeben wurde. Die bauliche Beschaffenheit des Klosters verdeutlichen mehrere Ab- bildungen. Czestav Bogdalski verzeichnet „Die Denk- würdigkeiten der Kirche und des Klosters der Bernhardiner in Lezajsk“.®) In diesem Zusammenhang sei Stefan Rosiaks „Skizze aus der Geschichte der sozialen Hilfstätigkeit“, „Die Boni- fratren in Wilna“, “) erwähnt, wiewohl die Wirksamkeit der Jünger des Joannes de Deo in Polen erst ins 17. Jahrhundert fällt. Das Wilnaer Kloster, 1635 durch den Bischof Abraham Woyna gestiftet, wurde 1843 durch die russische Regierung eingezogen, um 1924 von neuem zu erstehen. Die Geschichte dieses der Spitalspflege dienenden Konvents stellt d. V. ım Rahmen der Gesamtgeschichte des Ordens, der sich der besonderen Huld des Königs Johann Sobieski erfreute, dar. Die statistische Tabelle über die Kranken und Verstorbenen in der Zeit von 1709 bis 1805 sind von allgemeinem Interesse. Für die Geschichte der Klöster in den Diözesen Luck, Zytomierz und Kamieniec fallen wichtige Notizen ab von der gründlichen Arbeit von Wotlyniak über „Die durch die russische Regierung im 19. Jahr- hundert aufgehobenen kath. Kirchen und Kléster“.**)

Zur Geschichte der Ordenspersonen liefert der früher erwähnte Kamil Kantak cine Reihe von über das Mittelalter hinausgreifenden Einzelzeichnungen in der „Chronik der Stadt Posen“. In der Form von „Silhouetten“ führt er folgende Posener Bernhardiner vor: Klemens aus Radymno,") den ersten polnischen katholischen Polemiker gegen den Protestantismus auf der Kanzel auch in Lemberg und Warschau, dessen in fünf handschrift- lichen Bänden erhaltenen Predigten aus der Zeit von 1527 bis 1553 eine tiefgehende Abneigung gegen die Gegner der römischen Kirchen- einheit erkennen lassen; Innozenz aus Czerniejew,”) den Fortsetzer der Bernhardinerchronik Komorowskis für den Zeitraum 1551—81, der auch seine Kanzelberedsamkeit in den Dienst der katholischen Kirche stellte; Fabian Orzeszkowski,™) den ehemaligen Guardian des 1558 niedergebrannten Klosters zu Fraustadt, der durch seine frommen Lieder den Katholızismus zu stützen suchte; Bonaventura Krzeciek, “) den nach- maligen Generalkommissär und Provinzial der polnischen Ordens- provinz, der auf dem Generalkapitel zu Toledo 1606 die polnischen Reformwiinsche vertrat; Peter aus Posen (Piotr Poz-

ss) Pamiętnik kościoła i klasztoru O. O. Bernardynów w Leżajsku,

Krakau 1929. „% Bonifratrzy w Wilnie (1635—1843), Wilna 1928, Verl. des Konvents der

Bonifratren. S

DI Zniesione kościoły i klasztory rzymsko-kat. przez d rosyjski w wieku XIX. In: „Nova Polonia sacra“, I, 1928, S. 1-812. = á

56) Kronika miasta Poznania. Hrsg. v. Zygmunt Zaleski. Sylwelki Bernardynów Poznańskich V, 1927, S. 80—9%, 248—247.

87) Ebd. S. 247—255.

) Ebd. VI, S. 88—94.

s) Ebd. S. 160—178.

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nanski),%) den viel gereisten und gelehrten polnischen Provinzial in den Jahren 1614—1617 und kleinpolnischen Definitor 1634—1637, der durch seine wissenschaftlichen Arbeiten, besonders die Er- klärungen zu Duns Skotus, das geistige Niveau seines Ordens zu heben sich bemühte; Jan Szklarek, ) den kanonistisch gebildeten Ordensprovinzial 1493/4 und 1499/1500, der sich die Gewinnung der ruthenischen Schismatiker für die Union angelegen sein ließ; Inno- zenz aus Ko$cian,") den Ordensprovinzial 1534/8 und 1540, der der Lockerung der Klostersitten, vor allem durch sein Handbuch für die Novizen, entgegenarbeitete; Jakob Dziaduski,*) den Weihbischof der Posener Diözese, mit dessen Bischof Izdbienski er nicht zuletzt wegen seines unmönchischen Lebenswandels scharfe Kon- flikte auszutragen hatte; Mathias Marjan Kurski,“) den Johann Kasımir 1649 zum Bischof von Bakow, einer außerhalb Polens inmitten einer schismatischen Bevölkerung gelegenen Diözese, ernannte, und der infolge der politischen Schwierigkeiten, die sich aus dem Anspruch des Wiener Hofes auf die Besetzung dieses Bischofs- stuhles ergaben, die ihm 1659 beim Posener Domkapitel angebotene Prälatur als letzter Suffraganbischof aus dem Mönchsstand antrat. Christoph aus Posen (Krzysztof Poznahczyk),*) der Ordensprovinzial 1665, der sich die bauliche Erweiterung des Posener Konvents besonders angelegen sein ließ und im Streit mit den Franziskanern die Gegensätze ohne viel Erfolg zu mildern sich Mühe gab. Ferner bringt Kantak aus den handschriftlichen Be- stinden des Lemberger Ossolineums „Beiträge zur Geschichte der Posener Dominikaner“) für die Zeit 1509—14 und 1552—99, in der Hauptsache biographische Notizen über einzelne Ordenspersonen, die meist nicht weiter hervorragen. Im Jahre 1570 verfügte das Posener Konvent nicht einmal über die zur Wahl eines Priors not- wendige Zahl von Ordensmitgliedern. Ks. Skizzen stützen sich auf quellenmäßigen, meist bisher noch nicht verwerteten Stoff, so daß sie zusammengenommen als Bausteine für eine noch ausstehende um- 5 Geschichte des Ordenswesens in Polen Beachtung ver- ienen.

Das Ordenswesen hat auch für die kulturelle Entwick- lung Polens eine nicht zu unterschätzende Bedeutung erlangt, wie das Land überhaupt kirchlichen Einflüssen die stärksten geistes- geschichtlichen Anregungen verdankt. Die Anfänge des polnischen Schrifttums sind durch kirchlich-religiöse Bedürfnisse beanie „Die Herkunft und Geschichte des Psalters in St. Florian“)

60) Ebd. 240—260.

s6) Ebd. V, S. 867—874. 7) Geneza i historya Psalterza Floryahskiego. In: Spraw. tow. nauk. we Lwowie, VIII, 1928, S. 6f.

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(bei Linz in Österreich), der ältesten bisher bekannten Übertragung biblischer Stücke ins Polnische, der auch einen deutschen und lateini- schen Text enthält, bestimmt Ludwig Bernacki in folgender Weise: Der größte Teil des für die Königin Hedwig bestimmten Psalters wurde im Kloster der regulierten Chorherren in Glatz um 1399 niedergeschrieben; nach dem Tode der Königin wurde er 1405 in Krakau zum Abschluß gebracht, worauf er 1556, bis zu welchem Zeitpunkt er sich in der Fronleichnamskirche am Kasımir befand, in Privatbesitz überging. Bemerkenswert ist auch die Feststellung von dem Vorhandensein einer vollständigen, aus dem letzten Viertel des 14. Jahrhunderts stammenden Psalmiibersetzung in der Fronleichnams- kirche zu Krakau. „Die Miniaturen des Psalters von St. Florian“) untersucht Wtadyslaw Podlaha mit dem Ergebnis, daß in denselben deutsch-tschechische mit italienischen und französischen Einflüssen sich kreuzen, was am besten auf Schlesien als Entstehungs- gebiet schließen lasse. Bei den Randverzierungen unterscheidet er zwei verschiedene Stilgattungen, die auch sonst in den Handschriften des XIV. und XV. Jahrhunderts nachweisbar sind, die Nachwirkung der italienischen Pflanzenornamentik und den provinziellen Stil der tschechisch-mährischen, schlesischen und polnischen Handschriften um die Wende des 15. Jahrhunderts. „Die deutsche Sprache des Florianer Psalters“ macht Stefan Kubica”) zum Gegenstand einer philologischen Arbeit. Er behandelt zunächst in eingehender Untersuchung der Wortbildungen gesondert den Vokalismus kurze und lange Vokale, Diphthonge, Präfixe, Suffixe, Synkope und Apokope und Konsonantismus Halbvokale, Liquidae, Nasale, Labiale, Dentale und Gutturale —, um von hier aus eine Grundlage zum Vergleich des Florianer Psalters mit dem schlesischen Psalter des Peter von Patschkau, der 1340 vollendet wurde, zu gewinnen. Er gelangt dabei zu dem Ergebnis, daß die von Bernacki verfochtene These über die Entstehung des Florianer Psalters in Glatz um 1399 vom sprachwissenschaftlichen Standpunkt sich durchaus vertreten lasse. Während nämlich in der älteren Vorlage die bayerisch-österreichische Diphthongierung fehlt, tauchen Diphthonge im Florianer Psalter immer SIE auf, wie auch die im Peter von Patschkau-Psalter noch nicht völlig durchgedrungene Monophthongierung im Florianer vollendet erscheint, woraus hervorgehe, daß beide auf einer Linie liegen, aber der Florianer Psalter als jüngeres Denkmal anzusehen sei. Einer besonderen Untersuchung unterzieht er die beiden den Florianer Psalter einleitenden, sprachlich aber vom Patschkauer Psalter unabhängigen Prologe; darin weist er dialektische Besonderheiten nach, die in der heutigen schlesischen Mundart im Glätzischen durch- aus üblich seien. Einige Textproben und ein Wörterverzeichnis er- höhen die wissenschaftliche Brauchbarkeit der fleißigen Arbeit. Johann Janéw stellt auf Grund eines textlichen Vergleichs

6) Miniatury Psalterza Florianskiego, ebd. 7 f. 39) Posen 1929.

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der Handschriften Nr. 3336 der Jagiellonischen und Nr. 1116 der Zamojskischen Bibliothek mit der Inkunabel Nr. 60, 682 der Ossolins- kischen Bibliothek fest, daß dieser „altpolnische Übersetzungen des Neuen Testaments) enthaltende Wiegendruck, zugleich nach seiner Meinung die älteste Druckschrift in polnischer Sprache, auf Vor- lagen um die Mitte des 15. Jahrhunderts zuriickgehe. Danach sei das Neue Testament nicht erst im 16. Jahrhundert, wie vielfach an- genommen wird, erstmalig ins Polnische übertragen worden.

Aus den Reihen der Geistlichkeit sind literarische Charakterköpfe hervorgegangen. Dem „Vater der 55 Geschichtsschreibung“, dem Sekretär des Kardinals Ole$nicki und Krakauer Domherrn Jan Długosz’) widmet Władysław Kucharski eine gemeinver- ständliche anschauliche Studie. Er erzählt zunächst den äußeren Lebensverlauf desselben unter besonderer Hervorhebung seines diplomatischen Geschicks, das er z. B. bei den Verhandlungen mit der Kurie wegen der Kardinalswürde Zbigiew OleSnickis wie nicht minder bei dem Thorner Friedensschluß 1466 bekundet hat. Sodann bespricht er die einzelnen Schriften von Długosz, die durchwegs wichtigen kirchenhistorischen Stoff vermitteln, so das Leben des hl. Stanislaus und der hl. Kinga, die Kataloge der polnischen Bischöfe, den liber beneficiorum dioecesis Cracoviensis; am längsten verweilt er bei der historia Polonica, der ersten Geschichte Polens, an der Dl. fünfundzwanzig Jahre gearbeitet hat.

Auch in der bildenden K uns t hat die Kirche befruchtend gewirkt. Stanisława Sawicka behandelt das in der Sammlung des Bayerischen Nationalmuseums befindliche „Polnische illuminierte Gebetbuch aus dem 16. Jahrhundert“, ) eines der vier bisher be- kannten, dessen 16 Miniaturen nach ihrer Feststellung wahrscheinlich Adalbert Gosztold, 1522 Kanzler von Litauen, in der Miniaturschule von Mogilna hat herstellen lassen. Der letzte „Rocznik krakowski“ enthält einige beachtenswerte Arbeiten über Krakauer Kirchenbauten. Marian Friedberg behandelt „Die Gründung und die An- fänge der Kirche der allerheiligsten Jungfrau in Krakau“.”) Ent- gegen der bisherigen Auffassung hält er daran fest, daß diese Haupt- pfarrkirche der chemal en polnischen Krönungsstadt bereits um die Mitte des 13. Jahrhunderts als Ziegel- und nicht als Holzbau: und zwar teilweise bereits mit Türmen aufgeführt worden sei; der Umbau zu der heutigen Gestalt ist, wie die zahlreichen Stiftungen für diesen Zweck erkennen lassen, im 14. Jahrhundert vom Presb - terium aus erfolgt; wie der Verf. aus Aufzeichnungen in den Stadt- büchern zeigt, wurde während des ganzen Jahrhunderts an der Voll- endung des Monumentalbaues, der 1365 den durch das Meisterwerk

70) Przeklady staropolskie Nowego Testamentu. In: Spraw. tow. nauk. we Lwowie, VII, 1927, S. 6—11. 71) Bibl. powsz. Nr. 1187/9. Złoczów. Zuckerkandel 1928. = a Bull. intern. d. Krak. Ak. Viss. 1928, Nr. 4—6, S. 164—169 (deutscher richt). 73) XXII, 1929, S. 1—31.

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von Veit Stoß im 15. Jahrhundert wieder verdrängten Hauptaltar er- hielt, gearbeitet. Über die Gründung der Kirche altspunkt hierfür nur die mit Vorsicht zu behandelnde Notiz bei Diugosz über die Errichtung einer Pfarrkirche durch den Bischof Iwo ım Jahre 1222, hingegen -nicht das gefälschte Erektionsdokument aus dem Jahre 1226 —, über die Ausstattung der Pfarrei —, die wichtigste, aber nicht die einzige in Krakau —, sowie über ihre Rechtslage 1415 ging das Patronat vom Bischof auf die zum guten Teil deutsche Bürgerschaft, für die in ihrer Muttersprache gepredigt wurde, über gibt der Verf. quellenmäßig begründeten Aufschluß. Stanislaw Tomkowicz schildert das Schicksal „des Spital- klosters zur hl. Hedwig“, ) das, 1375 ins Leben gerufen, mitsamt der dazu gehörenden Kirche im Jahre 1800 für Staatszwecke heute befindet sich darin das Korpskommando eingezogen wurde. Das Kernstück der Arbeit bildet die Darlegung des Bauplanes. Georg Szablowski faßt „die St. Markuskirche in Krakau", die 1263 von Bolestaw dem Schamhaften für die Fratres de poenitentia ge- stiftet und um 1411 ausgebaut, wiederholt (1495, 1589, 1724) ein Opfer der Flammen geworden war, bis es sein jetziges Aussehen er- hielt, ins Auge. Im „architektonischen Teil“ seiner Studie beschreibt er die Kirche in ihrem jetzigen Aussehen, greift aber gelegentlich auf ihre Baugeschichte zurück. Auf die kirchliche Innendekoration nimmt Bezug die Untersuchung von Tadeusz Dobrowolski über „die Darstellungen aus dem Leben und Leiden des Herrn in der St. Katharinenkirche zu Krakau" "9 Auf Grund einer eingehenden Analyse der zwölf Bilder, die er in lithographischen Reproduktionen bringt, spricht er die Vermutung aus, der Bilderzyklus sei am Ende des 15. Jahrhunderts in der Krakauer Werkstatt eines weitgereisten Meisters, etwa Johann Gorayczyks, von wenigstens zwei Malern aus- geführt worden. Hingegen erweist Josef Muczkowski „den Totentanz in der Krakauer Bernhardinerkirche“, “) die einzige Dar- stellung dieses im Mittelalter so volkstiimlichen Motivs, als ein Er- zeugnis aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Über „die St. Martinskirche in Posen“,”) ihre äußere Geschichte und innere 55 handeln Stanisław Karwowski und Wacław ayer.

In diesem Zusammenhang sei wegen ihres archäologischen Hinter- grundes auf die Arbeit von Mieczysław Gebarowicz über „Die Anfänge der Verehrung des hl. Stanislaus und seinen mittelalter- lichen Fund in Schweden”) verwiesen. Auch er bringt die Darstel- lungen auf dem Taufbecken zu Tryde mit der Stanislaus-Legende in

74) S. 59—79.

78) $. 80—96.

76) S. 32—58.

17) S. 120—185.

18) Kronika, miasta Poznania VII, 190, $. 1—86, 101—112. `

79) Poczgtki kultu fe. Stanislaws i jego Sredniowieczny zabytek w Szwecyi, Lemberg 1927. |

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Verbindung; von der Auffassung Semkowiczs weicht er aber in der Ausdeutung der einzelnen Bilder, die er im dritten Viertel des 13. und nicht wie jener um die Mitte des 12. Jahrhunderts entstanden sein läßt, erheblich ab. Dadurch verschiebt sich aber die Bedeutung des Fundes von einer Quelle der Legende zu einem Dokument des Kultus in der Zeit des Kanonisationsverfahrens des Heiligen.

Im Kulturleben Polens spielte das kirchliche Bildungs- wesen eine bedeutende Rolle. Von Emil Waschinskis groß angelegtem Werk über „Das kirchliche Bildungswesen in Ermland, Westpreußen und Posen?) fällt auch für die polnischen Gebiete außerhalb dieses Umkreises manche Notiz ab, wie auh Josef Skoczeks „Geschichte der Lemberger Kathedralschule“**) nicht nur eine lokale Bedeutung zukommt.

Aus ihrer geistigen Beweglichkeit heraus griff die Kirche Polens über ihre engeren Grenzlinien ins Weite, um sih in der abend- ländischen Christenheit zur Geltung zu bringen. „Der Prozeß gegen einen polnischen Geistlichen wegen Beleidigung des Papstes Urban VI.“,®) über den Władysław Abraham eine handschriftliche Eintragung aus dem letzten Jahrzehnt des XIV. Jahrhunderts aufgefunden hat, zeigt, daß, wie bedeutungslos der Fall auch gewesen sein mag, man bei der Kurie Außerungen des ständigen Agenten des Gnesener Erzbischofs daselbst diese Stellung wird wohl der Geistliche Laurentius dort bekleidet haben mit Rücksicht auf das Schisma Beachtung schenkte. Diese Nachricht ent- nimmt Abraham Archivalien, die aus der ehemaligen St. Petersburger kaiserlichen Bibliochek an Polen zurückgestellt wurden. Daraus holt er weitere „Beiträge zur Geschichte der Kirche und des Kirchenrechts in Polen“,®) die zum Teil in der eben angedeuteten Linie sich be- wegen. Bei der engen Verbindung von Staat und Kirche wirkten beide zusammen suk das gemeinsame Ziel der Machtentfaltung hin. „Die Kirchenpolitik der Jagiellonen‘**) in ihrem Streben nach Be- festigung der Reichsgeltung nach außen wie Stärkung der Staats- gewalt nach innen beleuchtet Karl Völker an dem Verhältnis der polnischen Krone zum Papsttum, zur Kirchenspaltung und zur Unionsfrage. Vaélav Novotny veröffentlicht einen wichtigen Beitrag „Zur polnischen Kandidatur auf den tschechischen Thron in der Hussitenzeit“,®) nämlich die von ihm im Prager erzbischöflichen Archiv aufgefundenen für Jagiello allerdings unannehmbaren „Be- dingungen“ der Hussiten an den Polenkönig bei dem Angebot der Krone. Wie die Jagiellonen es verstanden haben. die Hussitenfrage

se) Jahrb. N. F. V, S. 104 ff. (Haase).

81) Dzieje Iwowskiej szkoły katedralnej. Lemberg 1928.

82) Proces przeciw księdzu polskiemu o obrazę papieża Urbana VI. In: Brückner-Festschr. S. 106—111.

83) Przyczynki do dziejów kościoła i prawa kościelnego w Polsce. In: Spraw. tow. nauk. we Lwowie VIII, 1928, S. 18 d

8) ZfK G. N. F. X, 1928, S. 3857—3868.

85) K polské kanditure na česky trun v dobè husitské. In: Conférence des historiens des états de l'Europe orientale et du monde Slave II, 1928, S. 187—145.

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ungeachtet aller Ablehnung des Hussitismus für ihre dynastischen Zwecke auszunutzen, so zogen sieauch ausden Unionsverhand- lungen Vorteile. Von welcher Tragweite „das Problem der Kirchen- union“) für das Jagiellonenreich geworden war, ersieht man aus der großzügigen Erörterung der Fragestellung durch O. Halecki, der die verschlungenen Zusammenhänge zwischen der ostslavischen und griechisch-lateinischen Seite der Einigungsbestrebungen im Spiegel der heutigen Forschung klar und anregend auseinandersetzt. Die Stellungnahme der jagiellonischen Herrscher in dieser Angelegenheit wird durch die Verbindungslinien, die H. im Blick auf den Gesamt- komplex des Problems zieht, erst eigentlich verständlich. Kirchen- historishe Fragen des Ostens, wie das Verhältnis Polens zum deutschen Ritterorden und zum schismatischen Rußland, streift der- selbe auch in seinem Vortrag über „Die skandinavische Politik der Jagiellonen“.“) Nach dem kirchlichen Osten weist ferner Leon Białkowski mit seinen Aufsätzen „Aus Ost und West“.®) Aus östlichen Arichvalien sucht er den Einschlag des polnischen Elementes, als dessen festeste Stütze der römische Katholizismus gilt, ın den Grenzgebieten, Rotrußland, Wolhynien und Podolien, zu erhärten. Mitteilungen zur Geschichte des römisch-katholischen Bistums in Kamieniec Podolski, Aktenregesten zur Geschichte des Dominikaner- klosters daselbst wie nicht minder ein Verzeichnis lateinischer Priester in Podolien ım 17. Jahrhundert verdeutlichen den Drang Polens nach dem Osten. In umgekehrter Richtung trug die Kirchen- union zu der auch durch wirtschaftlich-politischa Umstände ge- förderten Polonisierung der in Polen angesiedelten Armenier bei. Der historische Abriß „Die armenische Kirche in Polen“) Czesław Lechickis’, der diesen Zusammenhängen nachgeht, füllt als erste umfassendere Darstellung der Gestaltung dieses im ganzen nur über 4000 Seelen umfassenden Kirchenkörpers eine Lücke aus. Schon der Umstand, daß das armenische Bistum in Lemberg älter ist als das daselbst 1370 begründete römisch-katholische, von dem griechisch- katholischen (1539) gar nicht zu reden, läßt die Besonderheit des Gegenstandes erkennen. Der Verf. stellt die Geschichte der armeni- schen Erzdiözese in Polen im Rahmen der Geschicke des armenischen Volks sowie der armenischen Monophysiten dar, wodurch seine Schrift eine allgemeinere Bedeutung erlangt. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen steht die Annahme der Union durch die polnischen Armenier, die im Anschluß an die Wirksamkeit des mit dem Katholikos zerfallenen Erzbischofs Nikolaus Torosowicz (1630 bis 1681) unter unmittelbarer Einflußnahme der Kurie sowie unter

6) Le problème de l’Union des Eglises. In: Pologne au II. Congrès intern. des sciences histor. Oslo 1928, Warschau 1980. Dazu: Przelom w dziejach unji kość. w XIV w. (Wendepunkt in der Gesch. der kirchl. Union im XIV. Jahrh.) In: Przegl. powsz. 182, 1929, S, 276—297.

97) Derselbe: La politique scandinave des Jagellons. In: Poloque au VI. Congr. intern. des sciences hist. Oslo 1928.

e8) Ze wschodu i zachodu, Lublin 1929. Sonderdr. aus: Pamiętnik lubelski.

239) Kościół Ormianski w Polsce. Lemberg 1928 (10 Abbildungen u. 1 Karte).

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einem deutlichen Druck der polnischen Regierung nach harten Kämpfen allmählich erfolgte. Den Anteil des Theatinerordens an den Einigungsbestrebungen, vor allem hinsichtlich der Heranbildung des Klerus im Geiste der Union mit Rom, hebt er dabei besonders hervor. Die armenische Liturgie sowie die orientalische Architek- tonik der Lemberger Kath e erscheinen heute als die einzigen Erinnerungszeichen an die östliche Herkunft der armenischen Kirche in Polen, deren Mitglieder völlig im polnischen Geistesleben aufgehen. Den Gang der Ereignisse von den Anfängen bis auf die Gegenwart läßt der Verf. nach der Chronologie der einzelnen Träger des Bischofsamtes sich abwickeln.

Bei der Behandlung der Armenier sind die Grundzüge der jagiellonischen Kirchenpolitik insofern unverkennbar, als die Krone sie bei ihrer religiösen Eigenart im Unterschied von der späteren Zeit nach Tunlichkeit beließ. Diese Spannweite der Bewegungsfreiheit ermöglichte auh der Reformation die Ausbreitung. Einen Überblik über die Arbeiten aus dem Forschungsbereih der Reformationsgeschichte in Polen“) bietet Kazimierz Kolbu- szewski, auf dessen eigenen Beiträge, die er nicht erwähnt, hier er- gänzend hingewiesen werden soll, soweit es nicht bereits geschehen a Die von Stanislaw Kot herausgegebene Zeitschrift „Reformacya w Polsce“,®) von der seit unserem letzten Bericht zwei weitere Hefte“) erschienen sind, bildet nach wie vor den Sammel- punkt der Forschungsarbeit auf diesem Gebiet.

Die beiden in französischer Sprache erschienenen und sich er- EE den Gang der Ereignisse zusammenfassenden Darstel- ungen, die von G. David: „Der Protestantismus in Polen bis 1570“) und die von Oskar Heinrich Prentki: „Historischer Essai über den Niedergang der Reformation in Polen“) fördern zwar nicht die Forschung um neue Erkenntnisse, ziehen aber im einzelnen die Linie schärfer, so z. B. Prentki in dem Abschnitt über die Rolle der Jesuiten. Im Rahmen einer Gesamt- würdigung „des Protestantismus bei den Slaven“) kommt Hans Koch auch auf die evangelische Bewegung unter den Polen zu sprechen, wobei er in beachtenswerter Weise als eine der Ursachen des Erfolges der Gegenreformation bei den Slaven die innere Ver- wandtschaft zwishen der an dramatishen Spannungen reichen katholischen Rechtfertigungslehre und dem ,,Bunten, Wechselvollen, mus auf und ab Wogenden“ in dem slavischen Volkscharakter

zeichnet.

20) Przegląd prac z zakresu dziejów reformacyi w Polsce. In: Pamiętnik literacki XXV, 1928, Lemberg.

91) „Jahrbücher“ N. F. 1928, S. 257 u. 26t.

92) Abgekürzt: R w P.

es) V, Nr. 19 u. 20.

94) Le protestantisme en Pologne jus quam 1570. Montpellier 1927.

98) Essai historique sur le dècline de la rèforme en Pologne. Ebd. 1927.

%) Sonderdr. aus „Deutsche Blätter“ VI, 1929, Nr. 12, Posen.

308

Sos" H se RS RM R n-

Von Einzelfragen, die in der Forschung der letzten Zeit erdrtert wurden, verdient besondere Erwahnung der Streit um die Auslegung des Satzes in der Warschauer Konföderation vom 28. Januar 1573, daß die Grundherren berechtigt seien, die unter dem Vorwand der Religion ungehorsamen Hörigen tam in spiritualibus quam in secularibus nach eigenem Gutdünken zu bestrafen. Soll „rebus‘ oder „bonis ergänzt werden? Die Frage der Gewissensfreiheit der ein- zelnen Untertanen hängt davon ab, denn im ersteren Falle wäre der Grundsatz „cuius regio, eius religio“ den Grundherren zugestanden. Dagegen spricht sih Josef SiemieAski in seiner Studie: „Rebus‘ in der Warschauer Konföderation“) aus, indem er für „bonis“ eintritt, wohingegen Stanislaw Ptaszycki durch seine „archäologisch-sprachlichen Erwägungen“ über „die Warschauer Konföderation) zu dem Ergebnis gelangt, die Verfasser hätten an „rebus“ gedacht, während Wacław Sobieski in der Abhand- lung „Aber nicht um den Glauben“) die Ansicht vertritt, der be- treffende Artikel sei absichtlich so unbestimmt abgefaßt worden, da bei den beteiligten Kreisen eine einheitliche Auffassung nicht zu er- zielen war, wiewohl, wie aus einer französischen, litauischen und zwei deutschen Textüberlieferungen hervorgeht, die Mehrheit der Anschauung im Sinne der Ergänzung von „rebus“ zuneigte. Sie mies ki, dem die Auffindung der Urschrift der Konfödera- tion gelungen ist, sucht daraufhin „zur Verteidigung der ‚Güter‘ in der Warschauer Konföderation“) die Einwürfe von Sobieski für sich geltend zu machen, worauf dieser in „einigen Be- merkungen zur Geschichte der Gewissensfreiheit‘“*) seine früheren Ausführungen unter besonderer Hervorkehrung des Toleranz- momentes noch schärfer zusammenfaßt. Siemienski muß man es zu- gute halten, daß er das in Verhandlung stehende Problem nach allen Seiten hin reiflich erwogen und sowohl für „rebus“ als auch für „bonis die Für und Wider ernstlich erwogen hat; dadurch bietet seine Schrift zugleich eine sichere Einführung in das Problem. Dabei strebt er in richtiger Erwägung des Tatbestandes eine Lösung nicht so sehr auf philologischem Wege als aus den historischen Begleit- umständen heraus an. Der unklare Wortlaut läßt doch klar er- kennen, daß es sich bei den Konföderierten in erster Linie darum ge- handelt hat, eine Lockerung des Untertanenverhältnisses der Hörigen gegenüber den Grundherren, sowohl den weltlichen als auch den

geistlichen, von vornherein zu verhindern. Es sollte also in dieser Hinsiht auch durch die gegenseitige konfessionelle Duldung alles beim Alten bleiben. Demnach wäre das ,,tam in spiritualibus quam

07) Rebus w konfederacyi warszawskiej r. 1578. In: Rozprawy z polskiego prawa politycznego. Bd. I, Heft 1, Warschau 1927.

33) Konfederacja warszawska r. 1578. RwP. V, S. 90—97.

d) „A nie o wiarę. Ebd. S. 60—67.

0 W obronie „dóbr“ konfederacyi 1573 r. Ebd. S. 98—108.

a) 5 remarques sur l'histoire de la liberté de conscience. In: Resumés des communications présentées au congrés Oslo 1928, S. 201 f.

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in saecularibus“ nicht anders zu verstehen als das einige Zeilen vorher stehende „tak panów duchownych jako i świeckich“ („sowohl den geistlichen als auch der weltlichen Herren“); sohin sollte man fo 55 im Sinne von Grundbesitz ergänzen. Es muß r doch bedenklich stimmen, daß man in maßgebenden Kreisen, wie die oben angedeutete Textiiberliefe beweist, diese Wendung im Sinne von „rebus“ d. i. Angelegenheiten verstanden wissen wollte. Das „spiritualia“ scheint au darauf hinzudeuten, da das passendere Adjektiv zu bona wohl „ecclesiactica gewesen wäre, wenn auch das polnische „duchowne“ durch spiritualia unmittelbarer wiedergegeben wird. Aber man wird die „res“ von vornherein auf die mit der äußeren Gehorsamsverweigerung, insbesondere bezüg- lich der pflichtmäßigen Abgaben zusammenhängenden Strafmittel be- schränken müssen, da sonst der Grundsatz cius regio eius religio gutgeheißen worden wäre, den doch Katholiken wie Protestanten sich gegenseitig nicht zubilligen wollten. Im übrigen wird man gut tun, in die umstrittenen Worte nicht allzuviel hineinzulegen. Durch den Zusatz „nach eigenem Gutdünken“ hat man den Grundherren ohnehin freie Hand gelassen. Die Grundrichtung ging jedenfalls dahin, die Gewissen zu schonen, wie Sobieski aus den Verhandlungen des Sandomirer Sejmik richtig geschlossen hat. Mit den Bestim- mungen der Warschauer Konföderation setzt sich Josef Siemienski auch in seinem Aufsatz über den Begriff „Dissidenten in der Gesetzgebung) auseinander. Nach seiner Auffassung sei es den Konföderierten nicht um eine grundsätzliche, sondern um eine rein praktische Regelung des Verhältnisses von Katholiken und Protestanten mit Ausschluß der Schismatiker zu tun gewesen, wes- halb aus dem Doppelsinn „Dissidenten“ ebenso die Gleichberechti-

ung wie die bloße Duldung der Evangelischen abgeleitet werden

onnte. Diese Auslegung wurde sehr bald der Warschauer Konföderation, die von Polen den Religionskrieg, von welcher Seite er drohen mochte, fernhalten sollte, unterschoben.

Für die Verbreitung der Reformation in Polen wurden die Auslandsbeziehungen von weitgehender Bedeutung. Theodor Votsckke vermittelt hievon einen unmittelbaren Ein- druck, indem er aus den Matriken der Universitäten Vittenberg,. Heidelberg,) Leiden,“ Altdorf und Frankfurt a. O. die Namen der daselbst studierenden Polen unter gleichzeitiger Vürdi- gung ihrer späteren Haltung in der religiösen Bewegung hervorholt. Diese Studien enthalten zugleich wichtiges Material zur Personal- geschichte des Reformationszeitalters. Uber die Beziehungen zwischen „Helmstedt und Zamość“) handelt Stanisław Kot. In

103) Dysydenci w ustawodawstwie. RwP. V, Nr. 20, S. 81—89. 103) „Jahrbücher“ N. F. 2, 1925, S. 169—200.

104) Ebd. 8, S. 46—07.

108) Ebd. S. 461—486.

108) Ebd. 4, S. 216—252.

107) Ebd. 5, S. 228—244.

100) Helmstedt i Zamość, Zamość 1929.

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SREP ERS S Re

dieser Studie ,,aus der Geschichte der humanistischen Kultur“ steht im Mittelpunkt ,,der letzte deutsche Humanist“ Caselius, ,,dessen Beziehungen zu Polen“) auch Theodor Wotschke auf Grund desselben era nämlich hauptsächlich der in der Wolfen- biitteler Bibliothek befindlichen Briefe desselben beleuchtet. Bei der Gründung der ZamoSéer Akademie (1594), deren „Publikation“ ) Kot zusammen mit der Ankündigung der Errichtung der Königs- berger Albertina (1544) nach einem im Staatsarchiv zu Venedig er- haltenen Exemplar veröffentlicht, holt der Hetmann Jan Zamojski den Rat des Helmstedter Professors, der auch sonstige Verbindungen mit Polen unterhielt, ein. Die von K. in Faksimile abgedruckten Titelblätter der Kundgebungen des Helmstedter Kreises für Zamojski erhöhen den bibliophilen Wert seiner Schrift. Kein geringerer als Melanchthon lenkte die Aufmerksamkeit der Polen auf Caselius. „Die Melanchthon - Probleme“) hinsichtlich Polens erörtert Kazimierz Kolbuszewski als Auftakt einer größeren Arbeit über „Melanchthon und Polen“. Die systematische Erfassung des Briefwechsels desselben mit Polen die bisher bekannten und zer- streut veröffentlichten 45 Briefe unvollständig liegt ihm besonders am Herzen, als Voraussetzung für die richtige Beurteilung der Trag- weite der Studienfahrten von Polen nach Wittenberg und zur Ab- schätzung des Einflusses des Praeceptor Germaniae auf das polnische Schulwesen.

Die Beziehungen zum protestantischen Westen haben das polnische Schrifttum befruchtet. Aus dem Lebenslauf von Nikolaus Re j, dem Vater der polnischen Nationalliteratur, zu- gleich einem eifrigen Vorkämpfer Protestantismus, beantwortet W. Bud ka die Frage: „Wann derselbe zum Protestantismus über- getragen sei!) dahin, er habe den Schritt zwischen 1540, in welchem Jahre er um die Bewilligung zum Bau einer katholischen Kirche für seinen Schwiegervater bei d geistlichen Stellen eingekommen sei und 1543 die damals erschienenen Schriften lassen die Abkehr vom Papsttum bereits erkennen —, vollzogen. Stanislaw Bodniak

t fest, daß „N. Rej auf den Reichstagen ) in der Zeit 1556—1564 wiederholt mit konfessionellen Forderungen, besonders im Kampf um das Interim, gemäßigt und erfolgreich aufgetreten sei. „Die Chronik des Lebens, der Lehre und Taten Jesu Christi des Erasmus Gliczner“,*"*) eines der fruchtbarsten protestantischen Schriftsteller in Polen, druckt Kazimierz Miaskowski nad einem Unikum

108) Arch. f. Ref. gesch. Texte u. Unters. XXVI, Heft 1/2.

110) Publikacya nowych uniwersytetów w XVI. w., Królewiec i Zamośé, Krakau 1929.

111) Problemy Melanchtonowe. In: Sprawozd. z pos. tow. nauk. w. Warsz. XXI, 1928, I S. 27—41.

118) Kiedy M. Rej. zostal protestantem? In: Ruch literacki, 1928.

118) M. R. na sejmach. In: Pam. liter. 1928.

114) Erazma Glicznera kronika żywota, nauk i spraw Jezusa Chrystusa. In: Zap. tow. nauk. w Tor. VII, 1927/8, S. 206—225, 257—268.

Sil

der Kopernikus-Bibliothek in Thorn ab; in der Einleitung macht er die Abfassun dieser lutherisches Gepräge, wenn auch ohne polemische Note, deutlich zur Schau tragenden Evangelienharmonie (1579) durch den großpolnischen Superintendenten im hohen Maße wahrscheinlich. Stanisiaw Tync nimmt „Die beiden protestantischen Pre- digten“, ) die er im Thorner städtischen Archiv aufgefunden, für den Thorner Pastor Martin Murzynski, einen ehemaligen Dominikaner, in Anspruch. Stanistaw Kot veröffentlicht den dem Wid- mungsexemplar eingelegten, eigenhändig geschriebenen „Brief des Andress Frycz Modrzewski an den König Sigismund August bei der Übergabe des Werkes über die Staatsreform“, ) worin die allerdings unerfüllte Bitte um Verleihung einer kirchlichen Pfründe zur Sicher- stellung ungestörter wissenschaftlicher Arbeit auffällt. Auch die Flauptstücke der protestantischen Erbauungs- und Erziehungsliteratur haben Beachtung gefunden. Johann Janów zeigt, „Johann Sandeckı - Malecki?!”) als Übersetzer des Neuen Testaments (1582) völlig von tschechischen Vorlagen abhängig sei; dem von ihm hart befehdeten Seklucyan gebühre infolgedessen der Vortritt. Stanistaw Lempicki läßt sich über „ein unbekanntes Gesang-

aus Pitschen in Schlesien aus dem 17. Jahrhundert“) auf Grund einer Abschrift des im Weltkrieg verlorengegangenen handschrift- ichen Originals aus. Unter den 310 Liedern, die den Bedürfnissen der polnischen Lutheraner Oberschlesiens angepaßt seien, findet er u. a. interessante Varianten von religiösen Dichtungen der protestan- tischen Frühzeit, woraus sich auch für die altpolnische kei neue Erkenntnisse ergeben. Das protestantische Schrifttum sollte auch der Abwehr dienen. Marie Czapska stellt „Die reli- giöse Polemik im ersten Zeitabschnitt der Reformation in Polen“ ““) (bis 1572) dar. Sie sucht die Stellungnahme der 5 Bekämpfer des römischen Katholizismus aus der Haltung der Väter des Protes- tantismus verständlich zu machen, Rej, Modrzewski, Seklucyan, Krowicki u. a. werden auf diese Weise hinsichtlich ihrer Abhängigkeit wie Selbständigkeit in die richtige Beleuchtung gerückt. D. V. be- handelt die einzelnen Streitpunkte, wie Kirchenbegriff, päpstlichen Primat, Bilder- und Heiligendienst gesondert, wobei sie zugleich die Grundgedanken der katholischen Verteidigung hervorhebt. Die Arbeit bedeutet in sachlicher wie De ee e Hinsicht einen Fort- schritt in der Forschung.

$ re Dwa polskie kazania protestanckie Marcina MurzyAkiego. Ebd. S. 150 is 156. 118) A. Frycza Modrzewskiego list do kröla Zygmunta Agusta przy wreczeniu dziela o poprawie Rxltej. Rw. P. V, S. 115—119.

117) Jan Sandecki-Malecki jako redaktor najstarszego lekcjonarza polskiego i jako tlumace Nowego Testamentu 2 r. 1552. In: Bull. intern. der Krak. Akad. Wissensch., 1928, Heft 2.

118) Nieznany kancyonal z Byczyny na Śląsku z XVII w. In: Spraw. tow. nauk. we Swowie VII, 1927, S. 7782.

g ER Polemika religijna pierwszego okresu reformacyi w Polsce. RwP. V,

312

Aus dem Kampf fordert zum Frieden auf dér kleinpolnische Senior Bartholomäus Bythner in einer 1612 herausgegebenen Schrift, die Wilhelm Bickeric als „ein Programm des en lichen Universalismus) im Anschluß an die gleichbetitelte pol- nische Abhandlung E. Bursches’**) würdigt. In Ergänzung der Aus- führungen desselben verweist er auf die Bedeutung der Friedensschrift Bythners für die irenische Literatur besonders Panäus und Comenius und erklärt die Bezeichnung des Seniors als „Polonus“ im Sinne von Staats- und nicht von Volkszugehörigkeit, wie es Bursche haben möchte. In den Rahmen d protestantischen Literaturgeschihte gehört auch die Mitteilung Theodor Wotschkes über die nicht genannt sein wollenden ,,Mitarbeiter an den Acta historico - ecclesiastica in Polen“, “) deren 56 Briefe aus der Zeit von 1736 bis 1752 an die Herausgeber er in der Gothaer Landesbibliothek gefunden hat.

Diese Briefe spiegeln die mißliche Lage, in der sich die Evan- gelischen Polens in der späteren Zeit befanden, wider

über erfahren wir nähere Einzelheiten auh aus Theodor Wotschkes Studie „Der Pietismus im alten Polen“, “) worin er aus dem Briefwechsel des Wengrower Pastors Joh. Friedr. Bachstrom und des Warschauer Militärgeistlichen Adelung mit Halle das Vor- handensein dieser Frömmigkeitsrichtung in Polen erweist. Des- selben „Hilferufe nach der Schweiz‘) umfassen 33 Briefe, die ın der Zeit von 1720 bis 1746 von Lissa aus nach der Schweiz in An- gelegenheit der schwer bedrängten reformierten Kirche in Polen gerichtet wurden. Im Anhang folgen sieben an die maßgebenden Berliner Stellen, auch an Friedrich den Großen, in der gleichen Sache von 1747—1763 verfaßten Berichte. „Ein Lebensbild aus stürmisch bewegter Zeit“, das „des Thorner Pfarrers Simon Weiß, 1623—1688“ entwirft Heuer, vor allem an der Hand von archivalischen Auf- zeichnungen in der Thorner Coppernikus-Bibliothek. Die Wirk- samkeit desselben in Lissa und Thorn fällt in die Zeit des 30 jährigen Krieges, als protestantische Exulanten aus Böhmen und Schlesien in Polen Aufnahme fanden, so daß Lissas Einwohnerzahl auf 12 000 stieg. Andererseits wurden viele Ortschaften 1655/6 durch Feuers- brunst und Pest schwer geschädigt, woraus sich auch für Weiß schwere Rückschläge ergaben.

Der Protestantismus in Polen wurde in seiner Viderstandskraft durch den sogenannten Arianis mus geschwächt. Oskar Bartel kennzeichnet „Die dogmatischen Kämpfe in den Jahren 1559— 1562“, 0 die den Auftakt zur Bewegung bildeten. Żanna Kozmanowa möchte durch ihre Studie über „Die polnischen

180) Deutsche wiss. Zschf. Polen, Heft 16, S. 1—20, 1929.

121) „Jahrbücher“ N. E. IV, S. 267. |

122) Deutsche wiss. Zschf. Polen, Heft 16.

138) Ebd. Heft 15 f., 1929, Sonderdr.

134) Mitt. d. Coppernikusver. zu Thorn, 35, S. 1—28.

128) Walka rel. dogmatyczna w latach 1559 1562. In: Glos Ewang., 1928.

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Brüder, 1560— 1570.0)“ den ersten Baustein zu der noch fehlenden Monographie dieser unbeugsamen Vorkämpfer „einer neuen Weltanschauung“ beisteuern. Den durch den Tod Laskis und die Sendomirer Verständigung abgegrenzten Zeitraum bezeichnet sie als die Periode „der Entstehung und Befestigung der arianischen Ge- meinschaft“. Unter fleißiger Verwertung der vorhandenen Literatur schildert sie in anschaulicher Darstellung die Absonderung der Gegner des kirchlichen Dogmas vom Calvinismus und deren Verselbständi- gung. Wenn auch der äußere Verlauf durch anderweitige Dar- stellungen bekannt ist, so gelingt es doch K., durch straffere Linien- ührung die Zusammenhänge besonders hinsichtlich der handelnden Personen im einzelnen schärfer zu erfassen. Das gilt vor allem von dem letzten Abschnitt, worin sie „die erste Generation der polni- schen Arianer“, die Menschen und ihre Ideologie, auch die sozial- politische, zu kennzeichnen sucht. Über die Anfangszeit des polni- schen Antitrinitarismus führt die Monographie Konrad Görs- kis „Gregor Paul aus Brzezin“*") hinaus. Auf dem Hintergrund der polnischen Reformationsgeschichte kennzeichnet er seinen Helden, der vom Luthertum über den Calvinismus, dem Tritheismus und das Täufertum zum Unitarismus übergegangen ist, als den eigent- lichen Begründer der Sekte „der polnischen Brüder“ trotz seines theologischen Dilettantismus, der ihn seinen dogmatischen Standort dauernd wechseln ließ, dank seiner agitatorischen Begabung und per- sönlichen Anspruchslosigkeit, ungeachtet brennenden Ehrgeizes. G. legt den Hauptnachdruck auf die literarhistorische Bedeutung des- selben, weshalb er auch seine schriftstellerishe Tätigkeit eingehend untersucht. Fausto Sozzinis Anteil an dem Aufbau der nach ihm be- nannten religiösen Gemeinschaft muß fortab nach den Vorarbeiten Gregors, die G. aufzeigt, bewertet werden. Uber den Aufenthalt des „Fausto Sozzini in Krakau“) bringt Włodzimierz Budka neue Einzelheiten, Alexander Kossowski, desgleichen „aus dem Leben der polnischen Arianer in Lublin“, * besonders über das Schicksal ihres Hauses. „Die Angelegenheit der Vertreibung der Arianer im Jahre 1566) klärt Stanislaw Bodniak in auf, die geplante Ausweisung derselben sei auf dem Lubliner Reichstag hauptsächlich an dem Widerstand der Bischöfe gescheitert, die befürchteten, es könnte die Exilierung der einen Gruppe der Ketzer als Duldung der anderen gedeutet werden. Die calvinischen Senatoren waren nicht abgeneigt, dieser Maßregelung der Leugner der Trinität zuzustimmen. Den ensatz zwischen den Vertretern der Rechtgläubigkeit und diesen beleuchtet auch der Vortrag Johann Kvacalas über „Den Kampf des Comenius mit den polnischen

130) Bracia polscy 1560—1570. In: Rozpr. hist, tow. nauk. w Warsz., VII, Heft 2, 1929.

127) Grzegorz Pawel z Brzezin, Krakau 1929.

128) Faust Socyn w Krakowie. RwP. V, Nr. 20, S. 120—128.

120) Z życia Arjan polskich w Lublinie. Ebd. Nr. 19, S. 77—80.

130) Sprawa wygnania arjan w r. 1506. Ebd. S. 52—59.

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Brüdern“) unter Heranziehung der betreffenden Schriften desselben, dem die beiden Schlichtings, Wiszowaty und Ruar, vergeblich eine bessere Meinung vom Glaubensstand ihrer Religionsgemeinschaft bei- zubringen sich bemühten.

Der römische Katholizismus setzte sich gegenüber dem Ansturm des Protestantismus zur Wehr. Im Mittelpunkt der jüngsten Forschung über die Gegenreformation steht die

t des Ermländischen Bischofs Stanislaus Hosius. Eine volkstümliche Lebensgeschichte desselben“) bietet Josef Umins- ki, der auch „einen Bericht über römische Nachforschungen zu einer Monographie über den Kardinal Stanislaus Hosius ) erstattet. Das Schriftchen will zugleich die Bemühungen des polnischen Epis- kopates um die Seligsprechung dieser Säule des römischen Katholizis- mus im Reformationszeitalter unterstützen. Damit ist seine Grund- richtung vorgezeichnet. Das Hauptverdienst Hosius’ erblickt d. V. darin, „daß er ganz Polen und Ermland vor dem Protestantismus gerettet hat“ (S. 103). Darüber hinaus kennzeichnet er ihn als eine Führerpersönlichkeit des europäischen Katholizismus, weshalb er auf seine Auslandsbeziehungen besonderen Nachdruck legt. Gerade wegen der streng katholischen Einstellung des Vs. erhält man von Hosius’ Wirksamkeit, die sich in der gleichen Richtung bewegte, einen unmittelbaren Eindruck. Einzelheiten aus dem Leben des Kardinals beleuchten ergänzend einige Aufsätze, so der von Josef Bielowski „Aus der politischen Wirksamkeit des St. H.“, “) der von H. Cihowski „Über die Polemik des Kardinals H. mit

ohann Laski‘,’**) der von A. Kossowski „H. und Orzechowski im letzten Jahr des Tridentinischen Konzils“.’**)

Nach den beiden preußischen Bistümern, die Hosius innegehabt, weisen drei weitere Arbeiten: M. Gumowski faßt die zerstreuten Nachrichten über den Vorgänger des Hosius auf dem Culmer Bischofs- sitz „Johann Dantiscus und seine Medaillen“) zusammen. Diese kunsthistorische Untersuchung der vier bisher bekannt gewordenen Medaillen zeigt den Bischof im Verkehr mit ausländischen, vor allem deutschen Humanisten. Tadeusz Glemma kennzeichnet „Die preußischen Stände und den Culmer Bischof Peter Kostka während des zweiten Interregnums“."*) Georg Lühr ver- öffentlicht „Die Matrikel des päpstlichen Seminars zu Braunsberg

131) Walka Komenskiego z braémi polskimi. In: Glos Ewang., 1928, War- schau; Sonderdr. a St. H. In: Zywoty Polakéw i Polek dobrze zastuzonych ojczyznie, Nr. 1, 138) Sprawozd. z poszukiwah rzymskich do monografji o kardynale Stanis- ławie Hozjuszu. In: Aten. kaplahsk. XX, S. 176—1883. 134) Z dzialalonoſci publicznej St. Ha. Ebd. XXI u. XXII, 1928. 138) Przegl. teolog. IX, Nr. 8. 138) „Jahrbücher“ N. F. IV, S. 154 (Forst-Battaglia). : 1 Jan Dantyszek i jego medale. In: Zapiski tow. nauk. w Tor. VIII, 1929, : 19. 138) „Jahrbücher“ V, S. 104 (Tyszkowski).

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1578—1798*."**) Diese im Anschluß an die nordische Missions- arbeit des Jesuiten Possevino nach dem Vorbild des Collegium ger- manicum in Rom von Gregor XIII 1578 errichtete und 1798 infolge der Besetzung Roms durch die Franzosen eingegangene Lehranstalt wurde ein Stützpunkt für die auf die Katholisierung des protestanti- schen und schismatischen Nordens gerichteten Bestrebungen. Die 1580 Eintragungen der jetzt im Eigentum der Bibliothek des erm- ländischen Diözesanseminars befindlichen Matrikel, einem echten Pergamentband in Bogenformat, umfassen zwar nur 16 als „Polen“ bezeichnete Studierende, in Anbetracht des kirchenpolitischen Inter- esses der polnischen Krone an den von Braunsberg aus geförderten Unternehmungen man denke nur an die Bemühungen der pol- nischen Wasas um die schwedische Krone und an ihre Unions- bestrebungen bei den Ruthenen lassen sich von hier aus starke Verbindungsfäden mit der Kirchengeschichte Polens ziehen. Diese Zusammenhänge würden erst deutlich hervortreten, wenn man der äteren, in einigen Fällen in der Matrikel angedeuteten Wirksamkeit er einzelnen Zöglinge nachgehen würde.

In dieselbe geistesgeschichtliche Umwelt führt ein die Arbeit von Ernst Sittig „Der polnische Katechismus des Ledezma und die litauischen Katechismen des Daugsza und des Anonymus vom ahre 16057.“ Zur Stärkung des Katholizismus im Abwehr-

ampf gegen den Protestantismus übersetzte der litauische Kanonikus Nikaloius Daugsza 1595 den Katechismus des Spaniers Jakob Ledesma (t 1570) ins Litauische, aber nicht nach dem spanischen Original, sondern nach einer anonymen polnischen Übertragung; wegen zu starker dialektischer Färbung veranstaltete 1605 ein ungenannter Jesuit, der nicht mit Konstantin Szyrwid, dem Herausgeber der ersten litauischen Grammatik, identisch sein kann, eine abermalige Übersetzung dieses Katechismus ins Hochlitauische, ebenfalls nach der

Inischen Vorlage. S. bietet nun eine interlineare Textausgabe

ider litauischen Katechismen unter Voranstellung des polnischen Textes. Dadurch ermöglicht er den sprachwissenschaftlichen Ver- gleich der beiden Textformen in ihrer Abhängigkeit von der polni- schen Urschrift, was auch für den Kirchenhistoriker von Wert ist.

Zur Geschichte der konfessionellen Polemik sei auf die Studie von Stanislaw Bodniak über „Hieronymus Baliński, einen unbekannten katholischen Polemiker am Ausgang des 16. Jahr- hunderts“,'*!) einen ehemaligen Protestanten, dessen nur handschrift- lich erhaltene Streitschriften sich nicht über den Durchschnitt erheben, und auf die Arbeit von Marian Heitzman über „Stanislaw Krzystanowicz und seine Polemik mit Baco von Verulam“ “) wegen

13°) In: Monumenta Histor. Warmiensis, Bd. XI, 1 u. 2. Königsberg 1925/26.

140) In: Ergänzungshefte zur Zeitschr. f. Vergl. Sprachforsch. a. d. Gebiet d. indogerm. Sprachen, Nr. 6. Göttingen 1929.

141) H. B., nieznany polemista katolicki ze schylku XVI w. RwP. V, Nr. 20, S. 104—114.

102) St. K. i jego polemika z Baconem Werulamskim. Ebd. Nr. 19, S. 68—76.

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der englischen Katholikenverfolgungen unter Elisabeth und Jakob I. hingewiesen. Aus dem Aufsatz des Tadeusz Sinko ,,iiber die Nazianz-Studien in Polen?) verdient hervorgehoben zu werden, daß Skarga, der auch eine Lebensgeschichte Gregors von Nazianz kompiliert hat, bei der Bekimpfung der Protestanten diesen griechi- schen Kirchenvater ins Treffen fiihrt, woraus zugleich hervorgeht,

end die Jesuiten in Polen auch die griechische Patrologie gepflegt aben.

Einige in den „Jahrbüchern“ bereits angezeigten Beiträge zur Geschichte des römischen Katholizismus in der Neuzeit seien hier noch einmal erwähnt: H. Cichowski: „Eine ungenannte Jesuiten- polemik des 17. Jahrhunderts“;!*) Stanislaw Bednarski: „Die Beziehungen des Kardinals Bellarmin zu Polen“;*) M. Loret: „Rom und Polen zu Beginn der Regierung Stanisław Augusts“;'**) M. Godlewski: „Der Erzbischof Siestrzencewicz und Stanistaw August in Petersburg.“)

Zum Schluß sei noch die Erwähnung „der Kirchengeschichte Polens“ ) aus der Feder des Berichterstatters gestattet.

143) Z historji studjéw nazjanzenskich w Polsce. In: Nova Polonia sacra, hrsg. v. Jan Fijalek, I 1928, S. 81 „Krakau.

144) N. F. IV, 1928, S. 702.

168) Ebd.

148) Ebd. S. 156.

147) Ebd. S. 848 (Forst- Battaglia).

188) In: Grundriß der slavischen Philologie u. Kulturgesch., Bd. 7, Berlin 1930.

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ARCHEION Czasopismo naukowe poświęcone sprawom archiwalnym.

(Archeion. Wissenschaftliche Zeitschrift für Archivwesen.) H. V—VII. Warschau 1929/30.

Von St. Zajączkowski.

H. V. 1929 Maleczyński K. Ober italienische Archive. (Archiwa włoskie.) Beschrei- bung der Organisation der Staatsarchive, dann der unter der Aufsicht des Staates stehenden Provinzialarchive und endlich der Notariatsarchive; die letztgenannten umfassen Archive sowohl! der öffentlichen wie auch der städtischen Notare. Anhang kurze Nachricht über die gegenwärtige Organisation des Vatikanischen Archivs. groma S. Das Capıtulararchiv in Lemberg. Archiwum kapitulne we Lwowie.) rstellung der Geschichte und der Bestände des Archivs des röm. lat. Domkapitels in Lemberg. Żebrowski T. Entstehung und Verfall des Generalarchivs der Stadt Warshau im Zusammenhang mit der Reform vom 3. Mai. (Powstanie i upadek Archiwum generalnego m. Warszawy w zwigzku z ustrojem 8go maja.) Das von dem Großen Reichstage im April 1791 be- schlossene Städtegesetz vereinigte die Stadt Alt-Warschau mit den umherliegenden Ortschaften zu einer Einheit. Im Zusammenhang damit wurde ein neues Archiv für die neugebildete Stadt geschaffen. Dasselbe wurde aber bald samt allen Ein- richtungen des Großen Reichstages aufgehoben. Manteuffel T. Die Anfänge des gegenwärtigen Burcauarbeitssystems der polnischen Staatsbehörden. (orca współczesnej państwowej biurowości polskiej.) Verf. stellt die Entwickelung des Bureauarbeitssystems in den Behörden des während des Weltkrieges entstehenden olnischen Staates dar, weist auf die dabei auftauchenden Schwierigkeiten hin und spricht die ersten diesbezüglichen Instruktionen und Reglements bis Ende 1920. Siemieński J. Terminologishe Betrachtungen. III. Repertorien. (Roztrząsania terminologiczne. III. Skorowidze.) Verf. stellt den Begriff des archivalischen Reper- toriums fest und unterscheidet verschiedene Kathegorien desselben. Wdowi- szewski Z. Bericht über das Ostrowski’sche Archiv in Maluszyn. (Wiadomość o archiwum Ostrowskich w Maluszynic.) Beschreibung der von der Familie Ostrowski in Maluszyn gegründeten archivalishen Sammlung, welche jetzt dem Grafen St. Potocki gehört. Tyszkowski K. Polonica in den Beständen des Staatsarchivs in Wien. (Polonica w zbiorah Archiwum Państwowego we Wiedniu.) Zusammenstellung der auf Polen bezugnehmenden Akten des Wiener Staats- archivs. Łopaciáski W. und Rybarski A. Die Gebäude der Staatsarchive der Republik Polen. (Gmachy archiwów państwowych Rzeczypospolitej polskiej.) Besprechung der brennenden Frage der Unterbringung der Staatsarchive. Im Anhang Beschreibung der Unterkünfte der einzelnen Archive und Text des Konkurses auf einen Entwurf des Gebäudes des Centralarchivs in Warschau. Ptaszycki St. Inventar des Kronarchivs vom J. 1618. (Inwentarz Archiwum koronnego z r. 1613.) Als Ergänzung des im Archeion, Bd. IV, publizierten Aufsatzes über diese Thema fügt Verf. eine Beschreibung der zwei Handschriften des genannten Inventars, die sich in der Universitäts-Bibliothek in Gießen und Kornik befinden, hinzu. Bibliographie der zugesendeten Publikationen, welche die Archivkunde betreffen oder sich auf das archivalische

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VL : über die Wirksamkeit der Archive. im J. 1927. 8. Präliminar des Budgets für 1928/8 und 1929/80, die Staatsarchive betreffend. 4. Personalangelegenheiten.

Ptaszyck i, St. und Konarski, K., Staatsarchive auf der allgemeinen Landesausstellung in Posen. (Archiwa panstwowe na Powszechnej Wystawie Krajowej w Poznaniu.) Geschichte der Ein- richtung und Beschreibung der Archivalgruppe auf der Posener Aus- stellung; dieselbe umfaßte Pläne des zu errichtenden Gebäudes des Centralarchivs in Warschau, statistische Tabellen und Skizzen, welche den Zustand der Staatsarchive und deren Wirkungskreis illustrierten, dann 5 der wichtigeren Archivalien, Publikationen der Staatsarchivleitung und der einzelnen Archivalbeamten, endlich photographische Aufnahmen der Gebäude, in welchen einzelne Staatsarchive untergebracht sind. Iwaszkiewicz, J., Über das Archiv der Kanzleien des Groffiirsten Konstantin und Nowosil- cow's. (Losy archiwum kancelaryj w. ks. Konstantego i Nowosilcowa.) Der Groffiirst Konstantin, Brader des Zaren Alexander I., wurde mit vielen Militär- und Zivilfunktionen auf dem Gebiete Kongreßpolens und der fünf enannten westlichen Gouvernements betraut und aus diesem Grunde besaß er mehrere Kanzleien. Akten derselben wurden, samt den Akten des russishen Kommissärs bei der Regierung Kongreßpolens, Nowosilcow, während des Aufstandes im Jahre 1830/31 von den Polen beschlagnahmt und einem speziellen Komitee zur Überprüfung angewiesen. Mit dem Verfalle des Aufstandes wurden diese Akten zerstreut. Zwar wurde bald eine russische Kom- mission mit der Bestimmung, sie wieder zu sammeln und in Ordnung zu bringen, gebildet, dieselbe konnte aber ihre Aufgabe nur teilweise erfüllen. Ein kleiner Teil dieser Akten wurde in Warschau zurück- gelassen, der Rest dagegen wurde nach verschiedenen Städten, meisten- teils nach Petersburg, wo sie im Archiv der ehemaligen kaiserlichen Kanzlei sich befinden, abgeschoben. Moraczewski, A., Akten aus der Zeit des November-Aufstandes im Stadtarchiv zu Warschau. (Akta z czasów powstania listopadowego przechowywane w Archiwum miejskiem w Warszawie.) Der November-Aufstand in Kongreßpolen im Jahre 1830/31 gab Veranlassung zu vielen Veränderungen in der Verwaltung der Stadt Warschau, indem die Zahl der städtischen Be- hörden bedeutend vergrößert wurde. Nach der Unterdrückung des Aufstandes wurden die Akten dieser Behörden als ein abgeschlossener Fonds unter der Benennung ,,Revolutionsperiode 1831“ aufbewahrt. Da der Zutritt zu diesen Akten sehr erschwert wurde, so sind sie bis jetzt vollständig erhalten und bilden nun eine wertvolle und nicht ausgenützte Quelle zur Geschichte Warschaus während des Auf- standes. Lutman, T., Uber das Archiv der Familie Borch in Warklany. (Archiwum Borchéw 2 Warklan.) Beschreibung der früher in Warklany (Polnisch-Livland), jetzt. im Ossolinskischen Institut in Lemberg aufbewahrten und hauptsächlich aus dem XVIII. Jahrh. stammenden archivalischen Sammlung der Familie

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Borh. Ajzen, M., Das Szczuczyn’er Archiv der fürstlichen Familie Drucki-Lubecki. (Archiwum szczuczyhskie książąt Druckich- Lubeckich.) Beschreibung der Bestände der srchivalischen Sammlung der Fürsten Drucki-Lubecki, welche früher in Szczuczyn in Litauen war, jetzt aber im Czartoryskischen Museum in Krakau aufbewahrt wird; den wichtigsten Teil dieser Sammlung bilden die Papiere des Fürsten Xaver Lubeck, welcher mehrere Jahre Finanzminister in Regierung Kongreßpolens war. Lopacifiski, V., Ober un- garische Archive. (Archiwa wegierskie.) Kurze Beschreibung der 5 der Archive in Ungarn und des königl. ung. Staats- archivs in Budapest. Wdowiszewski, Z., Ober schweizerische Archive. (Archiwa szwajcarskie.) Darstellung der Organisation der Archive in der Schweiz) Kolankowski, L., Aus dem Königsberger Archiv. Polnische Korrespondenten des Herzogs Albrecht 1525—1568. (Z Archiwum krölewieckiego. Polscy kores- ndenci ks. Albrechta 1525—1568.) Bannan der Korrespondenz erzog Albrechts von Preußen mit seinen Agenten und Konfidenten sowie mit den bedeutenderen Personen in Polen und im daran Aufstellung mancher Editionspostulate. Warezak, J. Tschechoslovakisches Staatsarchiv für Bodenkultur in Prag. (Czecho- słowackie państwowe Archiwum rolnicze w Pradze.) Bericht über Entstehung, Bestände und Wirksamkeit dieses Archivs. Konarski, K. und Iwaszkiewicz, J., Aus den Rappers- wiler Sammlungen. (Ze zbiorów rapperswilskich.) Kritishe Be- sprechung des von A. Lewak verfaßten Katalogs der Handschriften, welche aus der ehemaligen Bibliothek in Rapperswil stammen, jetzt aber in der Nationalbibliothek in Warschau sich befinden (Konarski) und summarische Beschreibung dieser Handschriften auf Grund des genannten Katalogs (Iwaszkiewicz). Kaczmarczyk, K. Das Pauliner-Archiv auf Jasna Góra in Tschenstochau. (Archiwum O. O. Paulinów na Jasnej Górze w Częstochowie.) Geschichte und Be- schreibung der Bestände dieses Archivdepots, worin neben dem Archiv des berühmten Tschenstochauer Convents, Archive anderer Inischer Paulinerklöster und der polnischen Paulinerprovinz ent- Kalten snd. Paczkowski, J., Eugen Casanova, sein Werk und die Archive Italiens. (Eugenio Casanova, jego dzielo i archiwa Italji.) Besprechung der Arbeit Casanovas, Direktors des Haupt- archivs des Königreichs Italien in Rom u. d. T. Archivistica (Siena 1928) und im Anschluß daran Betrachtungen über den Zustand der Staats- und Kirchen-Archive in Italien..— Offizieller Teil um- faßt: 1. Bericht über die Wirksamkeit der Staatsarchivverwaltung im Jahre 1929. 2. Bericht über die Wirksamkeit einzelner Staats- archive im Jahre 1928 und 1929. 3. Auszeichnungen. 4. Personal- angelegenheiten.

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PRZEGLAD BIBLJOTECZNY

Wydawnictwo Zwigzku Bibljotekarzy Polskich. Redaktor: Edward Kuntze. Rocznik I. II. Kraków: Wydano z zasilku Ministerstwa V. R. i. O. P. 1927, 1928. 8°.

Von E. Koschmieder.

Die beiden ersten Jahrgänge einer polnischen bibliochekarischen Fachzeit- schrift liegen abgeschlossen vor uns, die gegenüber den mehr bibliophil gerich- teten Zeitschriften „Exlibris“ und „Silva rerum“ mit den rein bibliothekarischen Fachorganen anderer Länder, wie dem „Zentralblatt für Bibliothekswesen“, dem „Časopis československých knihovniki“, dem „Krasnyj Bibliotekat“ u. a. als 0 für die im „Związek Bibljotekarzy Polskich“ vertretene Gemeinschaft der Bibliothekare ganz Polens in eine Reihe tritt. In ihrem Titel knüpft sie an den „Przegląd Bibljoteczny an, der 1908—1911 vom „Towarzystwo Bibljo- teki Publicznej w Warszawie“ herausgegeben wurde und dann einging. Neben Artikeln über Bibliothekstechnik und ihre wissenschaftlichen Grundlagen, über Ge- schichte und Organisation besonders der wissenschaftlichen Bibliotheken, sowie über Berufs- und Standesfragen der Bibliothekare sollen Arbeiten aus dem Ge- biet der ar aaa Bücherkunde (mit Ausnahme der Technologie des modernen Buches) Aufnahme finden. Rezensionen, Referate und Chroniken sollen laufend aber das Bibliothekswesen und die diesbezüglichen Publikationen berichten sowie die einschlägigen amtlichen Verfügungen der polnischen Behörden zur Kenntnis bringen, und eine Bibliographie soll laufend alle polnischen Arbeiten über Biblio- thekswesen, Bücherkunde, Bibliographie und Bibliophilie registrieren: ein Unternehmen, das von einem rüstigen Fortschreiten der Organisation der Wissen- schaft in Polen zeugt und überall freudige Anerkennung finden wird.

Im Jahrgang 1927 behandelt Stefan Rygiel die Frage der Organisation der obersten Bibliotheksbehörden, indem er zunächst den heutigen Stand der Dinge in Polen charakterisiert, wo die Fachbehörde beim Ministerium lediglich in bibliothekstechnischen Angelegenheiten eine entscheidende Stimme hat, während Personal-, Finanz-, Bau- und Rechtsfragen von der Abteilung des höheren Schulwesens auf Antrag der Bibliotheksdirektionen unter Vermittelung der Uni- versitätsrektorate geregelt werden. Er zieht dann die ausländischen Verhältnisse zum Vergleich heran und schlägt die Schaffung einer Generaldirektion der Biblio- theken als Ministerialdepartement und eines Beirates vor; deren Kompetenzen teils der französischen, teils der deutschen Organisation entnommen sind, und die Universitätsbibliocheken der Selbstverwaltung der Universitäten zu entziehen und diesen Fachbehörden zu unterstellen. Im folgenden Artikel bespricht Aleksander Birkenmajer die Frage der in Organisation befindlichen „Bibljoteka Narodowa“ in Warschau, deren baldiges In-Funktion-Treten der 11000 rewindi- zieren Handschriften, der Registration der Pflichtexemplare und der Rappers- wilschen Bibliothek wegen dringend nötig ist. Birkenmajer erhebt u. a. die Forderung einer sofortigen Festlegung ihres Programms im Anschluß an den Meinungsaustausch hierüber im „Exlibris“ und in „Silva rerum“. Weiter emp- fiehlt er, die Vorbereitungsarbeiten einer Person oder einem Komitee zu über- tragen, und unverzüglich an die Katalogisierung der rewindizierten Handschriften und Drucke und der sonstigen für die Bibliothek bereits bestimmten Samm- lungen heranzugehen. In einer höchst interessanten Arbeit läßt sich dann

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Jan Muszkowski über das polnische Pflichtexemplar-Gesetz aus, das den Verleger im allgemeinen mit einer Abgabe von 7 Exemplaren nichtperiodischer Drucke und 9 Exemplaren von Zeitschriften über 4 Druckbogen belastet. In minutiöser Analyse der polnischen Druckstatistik für 1926 wird mit einwand- freier Methode nachgewiesen, daß der Erhalt der Pflichtexemplare kein Motiv für Beschneidung der Bibliotheksetats abgeben darf, daß das Pflichtexemplar nicht eine kostenlose Wohltat für alle Bibliotheken darstellt. Während die „Bibljoteka Narodowa“ ohne Pflichtexemplar kaum denkbar ist, bedeutet es für die Universitatsbibliotheken zu 50 Prozent einen unnötigen Ballast, und für die im ganzen vom Staat aufgewandten Mittel in diesen Bibliotheken eine Schädigung. Der Ankauf und die Verarbeitung der für die Universitäts- bibliotheken wirklich begehrens werten Drucke in einem Exemplar hätte 1926 bei großzügiger Anschaffung etwa 12 800 zł. gekostet, allein die Verarbeitung aber des gesamten Pflichtexemplars aber 25300 zł. Muszkowski fordert die einzelnen Bibliotheken zu genaueren Berechnungen auf, damit dann einem Abänderungs vorschlag zum Pflichtexemplarges etz nähergetreten werden kann. Eine Arbeit von Kazimierz Dobrowolski gilt schließlich der Bc- schreibung und inhaltlichen Analyse einer im Britishen Museum unter Add. 38 603 aufbewahrten Hs., eines lateinishen Gebetbuches des Prinzen und nachmaligen Königs von Polen Alexander vom Jahre 1491. Die „Miscellanea“ bringen von Adam Bar 6 Seiten Beiträge zu einem Pseudonym- und Kryptonymenverzeichnis von Polen. Von den Rezensionen sind etwa zu nennen Ad(am) B(ar) über Meier, A. V.: Slovarnyj ukazatel’ po knigovedeniju. Leningr. 1924, von Z. Ciechanowska über Hessel, Alfr.: Geschichte der Bibliotheken. Göttingen 1925, von Karol Piotrowicz über Kuhnert, E.: Geschichte der Staats- und Universitäts- bibliothek zu Königsberg. Leipzig 1926. In der Zeitschriftenschau sind be- sprochen: Przewodnik Bi 10 ve 1927, 1—9; Revue des bibliothèques 1927, Nr. 1—9; Zentralblatt für Bibliothekswesen 1927, Heft 1/2; Revista de archivos, bibliotecas y museos 1927, Nr. 1—6; Jahrbuch der deutschen Bibliotheken 1927. Die „Kronika“ gibt die Ministerislerlässe von 1927 über das Pflichtexemplar und Berichte über die Jag. Biblioth. 1918—27, die Univ.-Bibliocheken von Lemberg 1918—27, Posen, Lublin, die Bibl. des Ossolineum’s 1918—27, die Zentral-Heeres-Bibliothek 1917—27, die Rapperswiler Bibliothek 1919—26 und iiber einige kleinere Bibliotheken, Ausstellungen, den Bibliothekarskursus in Wilna, den Gesamtzeitschriftenkatalog aller Institute der Universität Krakau, die Tätigkeit des Poln. Bibliothekars-Verbandes u. a. m.

Im 2. Jahrgang unterzieht Marjan Lodynski das Problem der Warschauer Nationalbibliochek und ihrer festzulegenden Aufgaben im Hinblick auf die Tätigkeit der Jag. Bibliothek in Krakau einer erneuten Untersuchung, wobei er wiederum die Forderung aufstellt, daß der Jag. Bibliothek ihre Stellung als „Bibliotheca patria“ zu belassen sei, während die Warschauer als „Staats- bibliothek“ mit ihrer Sammeltätigkeit in diesem Umkreis von 1918 einzusetzen und eine Vollständigkeit für die zurückliegende Zeit nicht anzustreben hätte. Ein Aufsatz von M. Dzikowski beschäftigt sich mit der Definition des Be- riffes Zeitschrift vom Standpunkte des Bibliothekars. Interessante Richtlinien für die Berechnung bibliothekarischer Arbeitszeit gibt Adam Lysakowski. Unter der Feder Ludwik Finkels ersteht vor uns in ca. 40 Seiten ein lebendiges Bild der bibliothekarischen Tätigkeit Karol Szajnochas im Ossolineum, in welchem reiches Brief- und Aktenmaterial, sowie die Tagebuchaufzeichnungen Szajnochas über seine Arbeiten im Ossolineum besonders am Realkatalog aus- enutzt werden. Über. die Beratungen . und Ergebnisse des Bibliothekars- ongresses Pfingsten 1928 in Lemberg berichtet Aleksander Birken- majer, wobei es sich um Themen handelt wie z. B.: Ausscheidung des „toten“ Buchmaterials in besonderen Bibliotheksarchiven, Realkatalog, Nationalbibliothek in Warschau u. a. Die wichtigsten Aufgaben der polnischen Bibliographie setzt Stefan Vrtel-Wierczynski auseinander. Zur Besprechung kommen hier Fragen wie die Ergänzung und Neubearbeitung des Estreiher für das 19. Jahrhundert und seine Fortsetzung für das 20. Jahrhundert, die bereits vom Tow. Naukowe Warszawskie unter der Leitung von St. Demby, Gabr. Korbut und J. Muszkowski in Angriff genommen ist, die Registrierung der laufen-

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den Bücherproduktion Polens durch das Bibliographische Institut an der National- bibliothek und die damit zusammenhängende Umgestaltung des Przewodnik Bibljograficzny, die Ergänzung und Neubearbeitung der Spezialbibliographien wie Finkels „Bibljografja historji polskiej“, an der M. Handelsman im Gabinet Nauk Historycznych des Tow. Nauk. Warsz. bereits arbeitet wie Korbuts „Literatura polska“ —, wofür Vrtel-Wierczynski an der Universität Lemberg Materialien zusammengetragen hat, die durch andere Universitätsinstitute in Arbeitsteilung zu vervollständigen wären wie Gaweleks „Bibljografja ludoznawstwa polskiego“, deren Fortsetzung J. Bystroń vorbereitet usw. weiter die laufende Woerialbio raphie in Zeitschriften und die Bibliographie der Zeit- schriftenartikel sowie schließlich die Aufgaben des Bibliographischen Instituts an der Nationalbibliothek. Die historische Entwicklung der Gesetzgebung über das öffentliche Bibliothekswesen aller zivilisierten Länder verfolgt Wanda Dąbrowska. Schließlih gibt Jadwiga Bornsteinowa eine inter- cssante Übersiht über die 451 wissenschaftlichen Bibliotheken Polens in statistischer Beleuchtung, was die Zahl und Zusammensetzung der Bestände, die geographische Verteilung in Polen, die Gründungsjahre u. a. anlangt, mit über- sichtlichen Tabellen. Einige kürzere Artikel in den Miszellen, zahlreiche Rezen- sionen, eine Zeitschriftenschau und eine Chronik aus dem Bibliotheksleben wie im 1. Jahrgang geben ein beredtes Bild von der Rührigkeit der Bibliothekare in Polen. Es tritt dem 1. Jahrgang gegenüber im 2. Jahrgang die sorgfältige „Bibljografja bibljografji, bibljotekarstwa i bibljofilstwa“ Wislocki’s für 1928 (bis September, im ersten Heft 1929 bis Dezember 1928, insgesamt 1530 Nummern) mit eigener Paginierung und eigenem Titelblatt hinzu.

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DREI POLNISCHE FESTSCHRIFTEN

Von Dr. Otto Forst-Battaglia.

I.

Ksiega pamiatkowa ku uczczeniu trzydziestoletniej pracy naukowej i nauczycielskiej Stanisława Dobrzyckiego. Wydali uczniowie, koledzy, przyjaciele. Poznań 1928. Czcionkami drukarni Uni- wersytetu Poznańskiego. 8°. XV und 408 Seiten.

Dem ehemaligen Professor der polnischen Literatur an der Universität zu Freiburg in der Schweiz, dem nunmehrigen Vertreter dieses Faches an der Univer- sität in Posen Stanisław Dobrzycki haben Freunde und Schüler zur Er- innerung an das vollendete dritte Jahrzehnt wissenschaftlicher Arbeit eine statt- liche Anzahl von Abhandlungen idmet. Es sind zumeist Beiträge zur pol- nischen Literaturgeschichte, zur Philologie oder zur Methodik der Schrifttums- forshung. Zwei Arbeiten betreffen die polnische Geschichte: eine ungemein interessante, für die Haltung Napoleons gegenüber den Polen charakteristische Mitteilung Prof. Adam Skatkowskis über die Audienz der Warschauer Abordnung beim Franzosenkaiser vom 11. Dezember 1806 wir lesen hier die Aufzeichnungen des Führers dieser Delegation Feliks Lubiehski, die zwischen der offiziellen Wortkargheit der amtlichen Kommunikate und der Lubiehskis Tage- buch anvertrauten beredten Enttäuschung eine diplomatische Mitte bewahren —; dann eine wertvolle Erörterung der Grundlagen ständischer Differenzierung im mittelalterlichen Polen, bei der Prof. Kazimierz Tymieniecki die älteren Ansichten von Piekosifski, BobrzyAski, Smolka, Balzer sowie die, teils zustimmend, teils polemisch an den Autor der „Genealogja Piastów“ anknüpfenden jüngeren Theorien von Semkowicz, Arnold und Bujak bespricht. Balzer hat bekanntlich die Meinung Piekosinskis, der Adel sei durch den Einfall einer fremden Herren- schichte entstanden, ebenso wie dessen Hypothese vom dynastischen Ursprung der urpolnischen Adelsgeschlechter, verworfen und die Ständegliederung in der älteren Zeit, bis etwa ins 18. Jahrh. auf die wirtschaftliche Ungleichheit zuriick- geführt. Tymieniecki hat selbst in seinen Forschungen stets die entscheidende Bedeutung des Besitzes, zumal des von Grund und Boden, für die soziale und rechtliche Stellung betont, dabei jedoch den Widerspruch von Arnold gefunden. Arnolds Hinweis auf die Rolle der Nützlichkeit für den Staat, durch den die Rangordnung der Staatsangehörigen bestimmit worden sei (daher die Bevorzugung der Kämpfer bzw. der fürstlichen Beamten), wird von Tymieniecki akzeptiert, doch mit der Einschränkung, daß diese Verschiedenheit des Wertes für den Staat durch die vorhergehende Verschiedenheit der Wirtschaftslage ermöglicht und ver- ursacht worden sei. Der Gegensatz zwischen Tymienieki und Arnold kehrt in der Ständegeschichtsforschung der. westlichen Länder wieder. Es handel: sich darum, ob die wirtschaftliche Differenzierung‘ oder die politische das Primäre waren, mit anderen Worten, ob man emporstieg, weil man reich war oder reich wurde, weil man emporgestiegen ist. Der Streit ist fast so unlösbar wie der über die Priorität von Ei oder Henne. Faktisch wird: man überall eine Ver- mengung der beiden Elemente annehmen müssen. Allerdings spricht bei den Indoeuropäischen Völkern, je weiter sie von der Mittelmeerkultur entfernt sind, also bei Germanen, Slaven und Balten, und zumal bevor diese ihre Gesellschaft den kirchlichen und antiken Einflüssen ausgesetzt sahen, ein dritter Faktor, den weder Arnold noch Tymieniecki genug beachten, und der mit dem ursprüng-

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Re

lichen religiösen-weltanschaulichen Prinzipien der Arier zusammenhängt, erheb- lich mit: da Blut. Damit aber hat Tymieniecki wieder recht, daß er eigentliche ständische Differenzierung erst dann eintreten läßt, wo die Sippenverfassung überwunden und durch die Zusammenfassung in Stämme und Staaten verdrängt wird: denn Unterschiede kraft verschiedenen Bluts als Hauptmoment der Stände- bildung können erst wirksam sein, wenn Nachkommen verschiedenen Bluts zu einem Gemeinwesen gehören.

Zwei Beiträge beschäftigen sih mit allgemeinen Problemen der Literar- geschichte. Eugenjusz Kucharski stellt zur Diskussion, inwieweit die Komposition eines Dichtwerks zum Technischen und inwieweit sie zur Kunst gehört. Die Grundauffassung des Autors, eine Dichtung sei nicht ein fertiges und absolute Gültigkeit besitzendes Produkt, sondern sie sei nur ein Mittel ihres Schöpfers, bei denen, die mit der Dichtung vertraut werden, von ihm beab- zichtigte Eindrücke hervorzurufen; das Kunstwerk vollende sich also erst, und bei jedem verschieden, im Empfänger, der es genießt: diese sehr geistreiche, aber m. E. unhaltbare Konzeption bewirkt es, daß Kucharski die Form des Kunstwerks als eine Art des Vorgehens hinstellt, durch die jene Eindrücke beim Empfänger hervorgerufen werden sollen, nicht als etwas unverändert Gegebenes, der dichte- rishen Schöpfung Inhärentes. Diese Form müsse ästhetisch danach bewertet, und wissenschaftlich dahin untersucht werden, ob sie als Funktion ihren Zweck erfülle (also geeignet sei, die beabsichtigten Eindrücke auszulösen) und mit welhem Auf- wand an Energie sie erreicht worden sei. Die Komposition als Inbegriff der Mittel die zur Schaffung der Form cines Kunstwerks verwendet wurden, ist somit nicht Technik, sondern Kunst: ein integrierender Bestandteil des Komplexes, der im Empfänger Eindrücke bewirken soll. Die Einwendung gegen diesen Stand- punkt Kucharskis ist prinzipieller Art. Ich glaube nicht an die Irrealität des Kunstwerks, das sich erst nachklingend in der Seele des Lesers, Zuhörers usw. vollendet, bei jedem nach seiner Art; sondern ich unterscheide das Kunstwerk, das einmal da ist, wie jeder historische, soziologishe usw. Fakt vom Eindruck, den es nach der Absicht des Dichters erzielen sollte, und von den xEindrücken, die es in der Folge bei anderen hervorbringt. Die Komposition ist, was der Sprachgebrauch wie so oft nicht unterscheidet, eine doppelte: im subjektiven Sinn das Bemühen des Autors den von ihm beabsichtigten Zweck, also Fertigstellung des Werks, zu erreichen; im objektiven Sinn der Inbegriff der erkennbaren Mittel, durch die das Werk aus den seelishen Regungen seines Schöpfers zum objektiv vorhandenen Faktum geworden ist. Beide Mal unterliegt die Komposition der ästhetischen, ethischen, soziologischen und noch mancher anderen Beurteilung; und beide Mal sowohl als künstlerishe Leistung, die einen unverlierbaren Bc- standteil des künstlerishen Ganzen einer Dichtung ausmacht, als auch für ihre technische Vollkommenheit.

Stanisław Kolbuszewski drückt in einer kurzen französischen Studie „Le poète et son oeuvre“ in subtiler Form seine feinsinnige Auffassung des Wesens der dichterischen Schöpfung aus. Wie Gott in der Welt. wohnt der Dichter: Schöpfer seines Werks, in seinem Werk. Als Mensch erhebt er sich nicht zugleich über seine Kreaturen. Er gerät in Abhängigkeit von ihnen, kämpft mit ihnen und wenn er nach vollbrachter Kreation zu sehen glaubt, daß sein Werk nicht gut ist, dann beseitigt er die mißratene Kreatur, um neu, um Neues zu schaffen. Befreit er sich ja, indem er seine eigenen Leiden und Freuden in seine Gestalten bannt, vom lastenden Alpdruck der nach Manifestation drängenden Ideen. Und, unvollkommener Schöp er, sterbliche Kreatur er selbst, !äßt er die Ideen sterben, sobald sie sich von ihm getrennt, im Dichtwerk konkrete Gestalt nme haben. Zu Kolbuszewskis sehr schönem Aufsatz wäre zu bemerken,

hier die Psychoanalyse wirklich wichtige Ergänzungen zu bieten vermédhtc. Die Dichtung ist ja Abreaktion eines überwertigen Komplexes; fruchtbar solange dieser Komplex überwertig ist und erlahmend, wenn sich die Abreaktion voll- zogen hat. Und noch eine bescheidene Notiz: linconscience heißt im Fran- zösischen „die Gewissenlosigkeit“, dagegen „l'inconscient“ das Unbewufte. Ein pore andere Versehen, die nicht so kraß sind, mögen bei dem durchaus annchm-

ren Französisch des Autors, hier übergangen werden.

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Der Nichtpolnischen Literaturgeschichte gehören außer dem Artikel von Alphonse Bronarski „Quelques réflexions sur la littérature frangaise (in dem als Repräsentanten des französischen Schrifttums die „Chanson de Roland“, Moliére und Victor Hugo bezeichnet werden, während der Autor weder Bossuet noch Chateaubriand, weder Lafontaine noch .Voltaire erwähnt, die doch ebenso gut als die größten oder als die am meisten typischen Vertreter der französischen Literatur erscheinen) drei Studien über die Siidslaven, eine zur éechischen und eine zur litauischen Literatur an. Zofja Kawecka vergleicht die historische Gestalt des Marko Mrnjavéevic mit dem Kraljević Marko der jugoslavischen Volkspoesie. Zdenka Marković, eine Kroatin, die in Posen bei Dobrzycki studiert und eine bedeutende Arbeit über Wyspiahski geschrieben hat, schildert den Geist der südslavischen Literatur unter stetem Vergleich mit der polnischen, wobei die zutreffende und naheliegende Parallele zwischen dem Kosovo-Motiv und dem Messianismus gezogen und damit der romantische Charakter auch des Jugosla vicien Schrifttums erhärtet wird. Edward Klich bietet eine polnische Übertragung des kroatischen Heldensangs „Prokleti Duka Setkovié“, die reich an poetischen Qualitäten ist. W. M. Kozłowski widmet dem éechischen Dichter und Publizisten František Kvapil (1855—1925) Worte freundschaftlichen Gedenkens und eine ansprechende Biographie dieses um die polnische Literatur bei den Gechen sehr verdienten Obersetzers.

Nicht ohne Befremden habe ich den Aufsatz des ausgezeichneten Philologen Mikołaj Rudnicki über Litauen, Land und Geschichte gelesen. Wem soll diese flüchtige in billige Aktualität mündende Überschau der litauischen Geschichte etwas bieten? Wen die ebenso flüchtige Skizze der litauischen Literatur belehren? Unter den zitierten Namen fehlen Männer wie Guzutis, Kudirka Maironis, Vidunas, Sophie Ciurlionis. Was aber berichtet wird, findet sich beinahe in jeder populären Enzyklopädie. Dieses Thema ist, so will mir scheinen, von Nowaczyński in seinem geistvollen Feuilleton in den „Wiadomości Literackie“ besser behandelt worden, als hier in der einem Gelehrten von einem anderen Gelehrten zugeeig- neten Abhandlung.

Die noch verbleibenden 24 Aufsätze, zwei Drittel der Gesamtzahl, schlagen in Dobrzyckis engeres Fah. Bronisław Gladysz zeigt, daß die polnishen Hymnologen des Mittelalters ihr Latein nicht besser und nicht schlechter hand- habten als ihre Zeitgenossen im Westen. Der interessanteren Frage nach den Polonismen in diesem Zweig der polono-lateinischen Literatur ist der Autor nicht nachgegangen. Szczęsny Dettloffs kunsthistorische Miszelle über das Mausoleum des Hl. Adalbert im Dom zu Gnesen, ein Werk des Hans Brandt, berührt sich insofern mit der Literaturgeschichte als wir da ein wichtiges Zeugnis für das Vordringen allgemeiner Renaissancekultur nach Polen in jener Epoche (1476/1480) erhalten. Jacques Langlade endet „Quelques observations sur la mythologie dans les Pieśni‘: de Kochanowski“ mit diesem Urteil: Kochanowski, quand il composait les PieSni a pris à l'égard des mythes une attitude définie et originale. Il a renoncé presque complètement A l’erudition et à cette mytho- logie qu'on peut appeler „de style“... Il a recherché avant tout la clarté er la simplicité, faisant preuve ainsi d'un rare bon goût... Il se montre vraiment humaniste, vraiment classique, disciple, non point servile mais intelligent et fin, des maitres antiques.“ Die echte Menschlichkeit, den poetischen Realismus und immerhin die Beschränkung dieses Meisters, der in manchem doch nur Schüler war, tritt auh in Marian Doermanns zartfühlender Studie über die Liebes- lyrik Kochanowskis hervor.

Bolestaw Erzepki leugnet mit großer Suada die Autorschaft Kocha- nowskis bei dem „Carmen Macaronicum de Eligendo Vitae Genere“, das im Jahre 1580 zuerst mit anderen Schriften des Dichters im Nachlaß durch Jan Januszowski, den Freund des Fürsten der polnischen Poeten, herausgegeben worden war. Wir sind Erzepki für die neue Ausgabe des lustigen Spottgedichts dankbar und erfahren gerne die auffallenden Obereinstimmungen mit cinem 1587 veröffentlichten Poem des Klonowicz. Allein von des Zweitgenannten Autor- schaft beim „Carmen Macaronicum“ vermag ich mich nicht zu überzeugen. Die Entlehnung der in der Tat durch bloßen Zufall nicht erklärbaren Wendungen,

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die Erzepki S. 888 abdruckt, läßt sich durch die Möglichkeit deuten, Klonowicz habe in eine Kopie des Kochanowskischen Gedichts vor deren Publikation Ein- sicht genommen. Roman Pollak beschreibt ein Manuskript des ,,Gofred“ Piotr Kochanowskis in der Bibliothek der Grafen Baworowski (N. 788), das offenbar in usum delphini eines polnischen Magnatenhauses angefertigt worden ist und die heiklen Stellen des umbearbeiteten Tasso noch einmal umbearbeitet hat.

Dem polnischen La Rochefoucauld und La Bruyére, Andrzej Maksymiljan Fredro, gilt die vortreftliche Charakteristik durch Ludwig Kos is ki. ist durchaus zutreffend, wenn die Sprache des Autors der „Przyslowia“ als die beste, wenn auch wenig farbige und plastische, so zum mindesten reine und würdige Prosa des 17. Jahrh. gerühmt wird, wenn Kosiński danach mit einer Fedro geziemenden weisen Bescheidenheit, diesen als Schriftsteller mittleren Ranges bezeichnet, aber als Menschen, als weiterfahrenen Denker sehr hoch stellt. Die Arbeit Waclaw Kosihskis über den Barokk-Prediger Tomasz Mlodzianowski als Feind des weiblichen Kleiderluxus ist kulturhistorisch von Belang, nicht wegen der kaum vorhandenen Bedeutung des Eifernden, sondern als Beweis, wie manches, das als zeitgebunden sich ansieht, zeitlos ist wie die menschlihe Dummheit. Mutatis non mutandis könnten die Philippiken des wenig demosthenischen Redners noch heute von der Kanzel klingen.

Durch den Aufsatz von Jan Sajdak lernen wir Franciszek Zablocki, den Komödiendichter, in seinem verheißungsvollen Anfängen als Übersetzer Horazens näher kennen und schätzen.

Mehrere Artikel handeln von Mickiewicz. Während Wilhelm Bruch- nalski als Resultat einer nicht sehr fruchtbaren Untersuchung behauptet, daß im „Wallenrod“ das Morgenlied auf Anklänge an „Romeo und Julia‘ zurückgehe und wir, abgesehen von der Frage, was damit gewonnen sei, nach wie vor uns damit begnügen werden, ein seit dem Mittelalter allbekanntes Motiv, das eben auch bei Shakespeare wiederkehrt, im „Wallenrod“ anzutreffen; während Wiktor Steffen die klassischen Einflüsse auf die Erzählung des Wajdelota in Inhalt und Form aufzeigt, und damit die „Wplywologen“ auf ihre Rechnung kommen, sind drei Versuche über die „Dziady“ von größerem Format. Juljusz Kleiner preist die harmonische Architektur der Dresdener „Dziady“, die er regelmäßig aufgebaut, um drei Personen konstruiert, in dreimal drei Szenen nach dem Prolog gegliedert als die Frucht einer zweckbewußten Komposition betrachtet. Sehr schön ist der Vergleich mit einer gothischen Kathedrale, deren drei Pfeiler Konrad, Peter und der Senator sind. Henryk Zyczhski findet auch in den Wilnaer „Dziady“ klassizistisdie Kompositionselemente wieder. Er weiß uns glaubhaft darzutun, daß sich die Handlung des Dramas in 24 Stunden und mit relativer Einheit des Orts abspielen sollte. Die Vermutung, der fehlende, verloren ge- gangene oder nie geschriebene Teil (der ursprüngliche dritte) habe im Hause der Putkamer eweg ist als Gewißheit zu nehmen. Dagegen scheint mir aus sychologischen Gründen, trotz aller Tintenströme, mit denen man das zu wider- Wii getrachtet hat, die Existenz dieses dritten Teils und seine spätere Ver- nichtung wahrscheinlich. (Wie ja auch Gleiches für die Fortsetzung des „Pan Tadeusz nunmehr einwandfrei bekundet ist). Mickiewicz war ebenso rasch bereit, nennen wir das Kind beim rechten Namen, poetische Indiskretionen, „Indeli- catesses zu begehen, als auch sie durch Zerstörung von Manuskripten radikal zu beseitigen. Was dann Zyczynski über die Verknüpfung der Wilnaer mit den Dresdener ,,Dziady“ sagt, trifft wieder ohne Zweifel das Richtige. Gustav, das Gespenst, hat nach seinem Gastspiel bei versammelter Volksgemeinde und im Schloß der ungetreuen Geliebten, sich zehn Jahre später in den lebenden Konrad verwandelt, und war also kein richtiges Gespenst, nur eine in des Wortes un- mittelbarem Verstand „irrende“ Seele gewesen, die vom Körper getrennt, durchs Land und zwei vollständige Teile der „Dziady“ schweifte. Beide, Gustav und Konrad, beide, die Wilnaer und die Dresdener Tragödie, verknüpft die gemein- same Grundidee, daß zwischen Himmel und Erde es nicht nur mehr Dinge sondern auch engere Bande gibt, als der Menschengeist wähnt. Diese Grundidee hat Mickiewicz selbst klar formuliert (in einer Vorrede zur französischen Übertragung der ,,Dziady"), Piotr Grebiennikow aber hält es mit den Examinatoren

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in Egon Friedells „Goethe“, die den Weimarer Dichterfiirsten bei der Matura durchfallen lassen, weil er über sich selbst falsche Ansichten äußert. Ach, mit dem die Welt der Geister mit der des Körperlichen verkniipfenden als des roten Faden des „Dziady“ ist es nichts, sondern das L: 'tmotiv haben wir in der Ver- herrlichung des seelischen Leidens, also in einem auf das für Millionen leidende Ich des Poeten lokalisierten Messianismus zu erblicken: eines messianischen Leidens, das den Messias reinigt und adelt, weil es ihn der Ichsucht entkleidet und razem, razem, młodzi przyjaciele ganz dem Dienst der Gemeinschaft weiht. In diesem Sinn hat Grebiennikow das „missing link“ der ,,Dziady“ entdeckt: in einem zwar ungeschriebenen, doch darum nicht verlorenen fünften Teil, der da heißt: Adam Mickie wiczs Leben in der und für die Emigration... Sehr poetisch und erhebend, allein wir ziehen es vor, uns an die Vorte des Dichters zu halten, natürlich auch nur mit der Einschränkung, daß Mickiewicz, da er den Dresdener „Dritten Teil“ schrieb, seiner Absicht nach die durch das beherrschende Motiv des Glaubens an die Verschwisterung von Diesseitigem und Jenseitigem des Wilnaer Jugendwerks schaffen wollte und nicht etwa in der rzeugung, es hätten bereits dem jungen Poeten die späteren Gestaltungen seines ursprünglich nur als Schmerzenschrei des verratenen Liebenden gedachten Ich-Dramas vor- geschwebt.

Witold Klinger hat eine Aumerkung Mickiewiczs über den arabischen Poeten Almotenabby entdeckt und vermutet, daß Słowacki den Ausdruck „skwierne miaso“ im „Beniowski“ (VII 817) aus dem von Insurgenten gesungenen Lied Tymko Padurras „Hej kozacze, w mis Boze“ entlehnt habe. Jöset Dziech vergleicht den „Beduin“ des russischen Lyrikers Nadson mit Stowackis „Ojciec zadzumionyh“. Józef Kallenbach druckt eine heißglühende Widmung Zygmunt Krasihskis an Frau Bobrowa aus dem Jahre 1885 ab. Es ist ein wahres

einod polnischer romantischer Prosa, das Kallenbach da mit feinem Takt „statt einer flüchtigen und fragmentarischen Abhandlung“ als Gabe darbot; ein Kleinod der Prosa und ein kostbarer Baustein zu Krasihskis endlich die widerspruchs- vollen Züge des genialen Mannes getreu darstellendem Denkmal. Ignacy Chrzanowskis „Psychologische Genesis des Glaubens an Polens ristus- tum“ hält nicht ganz, was der Titel verspricht. Es ist eine das Problem nur streifende Skizze zur Kernfrage der Psychologie und Psychiatrie des polnischen Nationalgeistes. Gewiß, aus den Thesen, Polen müsse, weil es sich für die hehre Idee der Unabhängigkeit erhoben habe, allen Nationen zum Ideal werden, und es sei, da es unterlag, ein Martyrer dieser Idee, hat sich die dritte ergeben: Polen wird dereinst dennoch triumphieren und zwar, da der äußere Sieg ausblieb, nicht trotz, sondern vermöge seines Untergangs. Und es kam dazu, wie Chrzanowski richtig darlegt, daß die Polen wie jedermann, an ihre Demütigung nicht glauben, also diese nicht als endgültig hinnehmen; daß sie ferner das Vertrauen auf die Göttliche Gerechtigkeit nur durch die Hoffnung auf den künftigen Erfolg der en Sache und inzwischen durch die Überzeugung vom erlösenden Opfer r Leiden retten konnten. Indessen damit ist nur eine Deutung von Tat- sachen gegeben, die der Autor nicht weiter untersucht: auf welchem Weg sind diese Argumente zum Dogma der Emigration geworden. Fs ist die viel wichtigere Seite des Problems, das nach der allgemeinen Seite hin mit dem des Messianismus als einer der Begleiterscheinungen des Patriotismus zusammenfällt; es ist der Zu- sammenhang mit der positiven, mit Namen zu bezeichnenden Tätigkeit cinzelner Lehrer und die wiederum mit Namen zu nennenden Lehren, welche den latenten Messianismus zu seiner historisch konkreten polnischen Form gebildet haben. Ohne Martinismus und Towianismus kein Christustum Polens, aber auch ohne die besondere Struktur der Seele polnischer Romantiker kein empfänglicher Boden für diese Mystik. Da nun ist ein unbetretenes (oder erst von Boy durdi ogan Land der Seele zu entdecken, an dessen Grenzen die Literarhistoriker die Taf errichtet haben: „Hier Beschäftigten ist der Eintritt verboten.“ Das Problem lautet in wissenschaftlich unbarmherziger Fassung: die Sexualpsyche der polnischen un oder Abreaktion von Masochismus und Sadismus aufs politisch-religiöse ebiet.

Jan Piechocki berührt, leider nur recht oberflächlich, das Problem der

durch Vergeistigung zu adelnden Arbeit in Norwids „Promethidion“ und das Ver-

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hältnis der Ansichten dieses Poeten und sozialen Schwärmers zu den Lehren von Fourier und Louis Blanc. Aus dem hübschen Beitrag Tadeusz Gra- bowskis lernen wir Libelt als das Zentrum der Posener ligerarischen Bewegung in den vierziger Jahren kennen: den Demokraten und Schüler der deutschen Philosophen, den glühenden Patrioten und geschmackvollen Asthetiker.

Von Józef Morawskis Abhandlung „Polono-Romanica“, die eine Menge von onomato-poetischem Material aus fast allen europäischen Sprachen zusammen- stellt, und von Ignacy Steins ausführlich begründetem System der polnischen Lautgruppicrung, endlich von Henryk Ulaszyns Notiz über das Sprichwort „Jaka mać, taka nać“ muß ich mich beschränken, das Vorhandensein zu melden, das Urteil aber kompetenten Philologen überlassen. Auf ein Urteil über Lud- wik . Plaidoyer für eine streng nationale Erziehung aber verzichte ich, weil mir Stoff, Form und Bewertung dieses Aufsatzes ganz aufs politische Gebiet zu gehören scheinen.

II. Księga pamiątkowa ku uczczeniu dwudziestopięcioletniej działalności naukowej prof. Marcel Handelsmana. Wydana staraniem uczniów. Warszawa. Nakład uczniów 1929. Gr. 8°. 511 Seiten.

Profesor Handelsman hat als Theoretiker und Organisator der Ge- schichtswissenschaft seinen führenden Platz unter den Inischen Historikern unserer Zeit. Er gehört außerdem zu den wenigen Fachgenossen, deren Blick über den polnishen Gesichtskreis weit hinausragt und er hat als Lehrer die Gabe besessen, hoffnungsvolle Schüler heranzubilden. In dieser Gabe zum 25. Jahr seiner wissenschaftlichen Tätigkeit überwiegt allerdings der Anteil des Lehrers, der

abte jüngere Kräfte für die von ihm besonders gepflegten Sondergebiete der pe ischen chichte zu interessieren vermochte, gegenüber dem Anteil des bahn- rechenden Theoretikers und des aufs Universale abzielenden Forschers, dem offenbar die Werbung frischen Nachwuchses schwerer fällt. Von 27 Beiträgen gelten drei, recht unbedeutende, methodischen Fragen, zwei der Zeit des Unter- gangs der Antike, alle anderen der polnischen Geschichte; hier aber vorzüglich dem Abschnitt seit Stanislaw August bis zum Jänneraufstand von 1868. Unter den Beiträgen rühren einige von bereits anerkannten Forschern her, auf die Handelsman allen Grund hat, stolz zu sein (Arnold, O. Battel, Wieckowska, andere von jungen Gelchrten, die seit einigen: Jahren die Aufmerksamkeit auf sich lenken wie R. Przelaskowski, manche Arbeiten überschreiten nicht das Niveau anständiger Seminaraufsätze.

In ihrem Referat über die „Offentliche Meinung als Geschichtsquelle“ streift Anna Minkowska das Thema zu flüchtig, um den richtigen Grundgedanken, es sei die öffentliche Meinung von der Stimmung zu unterscheiden, fruchtbar aus- zuwerten. Übrigens ist dieser Stoff inzwischen von Wilhelm Bauer in seinem Buch über die öffentliche Meinung vorbildlich gestaltet und erörtert worden. Auch die Bemerkungen von Hanna Pohoska zur Forschungsmethode der Geschichte der staatsbürgerlichen Idee in der Erziehung bringen nichts Neues. Tadeusz Man- teuffel beschränkt sich darauf, Bekanntes über den Begriff und die Art der Grenzen unter dem irreführenden Titel „Die Methode der Grenzbezeichnung in der historischen Geographie“ zu wiederholen.

Wenn Marjan Henryk Serejski, wieder unter einem etwas an- E Titel, „Das Problem des Endes der antiken Welt“ sich fiir das . und 6. Jahrhundert als Einschnitt zwischen Altertum und neuerer Zeit aus- spricht und damit für eine Scheidung durch das, was wir in der historischen Geo- graphie Grenzstreifen heißen, nicht etwa durch eine strikte Grenzlinie, hier durch ein Jg wie das überlieferte 476, so vermag er uns nicht zu überzeugen. Zu deutlich sind die Spuren des antiken Staates, der antiken Kultur, der antiken Kunst und Denkensweise noch bis weit in die Karolingerzeit, als daß wir den Einschnitt des 5./6. Jahrhunderts gar für die südlichen drei Mittelmeer-Halbinseln annehmen könnten. Wir haben vielmehr im Rahmen einer Rezension sind

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natürlich diese Dinge nicht zu begründen nach dem durch seine Zerreißung in Einzelstaaten, einander prinzipiell als Feind gegenüberstehenden Nationen charak- terisierten Altertum, das mit dem Römischen Weltreich endet, eine Periode der europäischen Einheit, die seit dem 4. Jahrhundert immer stärker erschüttert erst im 10. Jahrhundert endgültig dahinschwindet und der durch den erneuten Zerfall in nationale Sondergebiete gekennzeichnete Neueren Zeit Platz macht.

Wanda Moszczenska handelt von den merovingischen Antrustionen. Auf Grund sehr ungenügender Kenntnis der neuesten Literatur zur fränkischen Verfassungsgeschichte. (Brunner ist in der ersten Auflage benutzt, Heusler, Schröder, Dopsch, die 1 neueste deutsche und französische Literatur fehlen.) Stanisław Arnold erörtert mit ganz anderem Rüstzeug ein ähnliches ständegeschichtliches Problem der frühmittelalterlichen polnischen Geschichte: die „ascripticii“. Das waren nach der älteren Meinung Unfreie und erst Grodecki, Tymieniecki unterschieden sie als in ihrer Bewegungsfreiheit Beschränkte von den eigentlichen Sklaven der früheren Epoche. Arnold definiert das näher als ehe- malige Freie, die durch Tradition an die Kirche oder einen weltlichen Großgrund- herren gelangt sind. Ohne Zweifel mit Recht. Die Analogie zu deutschen Ver- hältnissen springt in die Augen. Überall in Europa, wo sich der freie Bauer vor dem um sich greifenden Großbesitz nicht halten konnte, suchte er die Abhängig- keit und damit die Möglichkeit zur wirtschaftlichen Existenz: auf dem damals üblichen Weg der Übereignung an die Mächtigen und um den Preis einer formalen, nun wertlos gewordenen Freiheit.

Ober die Gründung des regulierten Chorherrenstiftes in Czerwinsk (Masovien) handelt Aleksy Bachuls k i. Die Fundationsurkunde ist nicht er- halten, das je 1055, e von einer späten Quelle für die Gründung an- gegeben wird, ist falsch. Bachulski erschließt durch vergleichende Nebeneinander- stellung von an sich verbürgten Daten die Zeit von etwa 1140 und als Stifter den Bischof Alexander von Plock, die Herzöge Boleslaw Krzywousty, Boleslaw Kedzierzawy und Heinrich von Sandomierz. Eine Übersicht der ursprünglichen Besitzungen des Stiftes schließt die kleine Studie, die ein Kapitel aus einem um- fassenderen Werk über Czerwinsk darstellt.

Franciszek SkibiAskis Abhandlung über den polnischen Salzhandel im frühen Mittelalter zeigt die beherrschende Wichtigkeit der reussischen Salinen für den polnischen Markt, die relativ geringe Produktion der später so geschätzten kleinpolnischen Salzbergwerke. Von weitergehenderen Betrachtungen, etwa über die Bedeutung dieser Tatsachen als Motive für die polnische Expansion nach dem Osten, hat der Autor abgesehen. Als Material dienten ihm die bekannten Ur- kundensammlungen. Józef Kwapiszewski berührt auf ähnliche Weise ein anderes Thema altpolnischer Wirtschaftsgeschichte: das Imkerwesen und die diesen obliegenden Abgaben.

Die bisher erwähnten Beiträge überragt eine anregende Studie Oskar Bartels über die dogmatischen Kämpfe um die Deutung der Lehre von der Dreifaltigkeit. In den Jahren 1559—1562 haben Nestorianer, Socinianer, ortho- doxe Kalvinisten, Schwarmgeister, die den Weg zum Antitrinitariertum oder zum Tritheismus wandelten, einander in Polen erbitterte Schlachten geliefert. Auf Synoden und von den Kanzeln herab. Es waren zumeist Italiener, wie Stankar, die sich auf fremdem Boden herumzankten.

Die Protokolle der Kommission von 1674, die ursprünglich den gesamten Komplex der nach dem befristeten Frieden (Waffenstillstand) von 1667 unent- schiedenen Fragen zwischen Rußland und Polen erörtern sollte, aber durch die türkische Offensive ihre Verhandlungen auf die Waffenhilfe der beiden christlichen Staaten gegen den Halbmond einschränkte, sind das Substrat einer Arbeit von Janusz Woliński, der die weiteren Perspektiven fehlen, um hinter der er: schlagenen Hinterlist der Moskowiter einen sehr vernünftigen Kerngedanken zu entdecken: daß Rußlands Interesse gebot, Polen nicht zu stärken.

Arnold Kirszbraun gedenkt der Wirksamkeit Stanislaw Leszczynskis in Lothringen, speziell der Errichtung der noch heute bestehenden ,,Académie de Stanislas“ und der Stadtbibliothek (Bibliothèque Publique) zu Nancy. Die recht unbescheidene Anmerkung des Autors, er habe sich fast ganz auf die handschrift-

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lichen Quellen stützen müssen, denn die Literatur habe ihm nur unwesentliche Dienste geleistet, beweist mir vor allem, daß Kirszbraun die grundlegenden Publi- kationen der „Mémoires de la Société Royale de Nancy“ und der „Mémoires de Académie de Stanislas“, sowie die Veröffentlichungen der „Société de l’Arch£- ologie Lorraine“ nicht benutzte. Dort hätta er gefunden, was er vermißte, z. B. die Gründungsgeschichte der Académie des Sciences et Belles Lettres im Jahr- gang 1754 der „Mémoires“ dieser Akademie, ferner eine Studie von Druon „Stanislas et la Société royale des Sciences et Belles-Lettres“ (Mémoires de l’Académie de Stanislas 1892). Von Pierre Boyé gibt es eine Menge kleinerer Arbeiten über LeszczyAski, in denen manche einschlägige Notiz vorhanden ist. Auch die Memoirenliteratur und der Briefwechsel der Zeit ergäben Ausbeute. Jedenfalls sollten junge Historiker mit dem Aburteilen vorsichtiger verfahren, als es Kirszbraun tat.

Was Jan Giergielewicz über das Ingenieurkorps und die kriegstech- nische Literatur unter Stanislaw August mitteilt, hat den Vorzug, sich durchaus auf Akten aufzubauen. Er erschöpft freilich nicht den Stoff. Neben den Daten über Entstehung und Organisation der staatlichen Ingenieurschulen wäre die ceded era Literatur weit ausführlicher zu untersuchen und anzuführen als es geschah. Vom Einfluß der zahlreichen fremden Fachleute, die in Polen damals „gastierten“ bis zu Warneri, dem Korrespondenten und Freund der Czartoryski, hätten wir gerne einiges vernommen.

Für seinen „Streit um die Vereidigung des Heeres im Jahre 1775/1776" be- nutzt Jan Bilek als Unterlagen das bekannte Manuskript „Entretiens du Roi avec Stackelberg“ aus dem Krakauer Archiv der Akademie der Wissenschaften (Nr. 1649), dann die Protokolle der Rada Nieustajgca im Warschauer Archiwum Glówne und die dort befindlichen Protokolle der Kriegskommission. Es handelte sich um den Konflikt zwischen Stanislaw August und Branicki (dem Mann der „Targowica“), wer durch die Eidesformel als tatsächlicher Befehlshaber der polni- schen Wehrmacht anzusehen sei. Dieser Konflikt war nur eine Episode des damals heftigen Ringens der Magnaten mit dem Herrscher, den Stackelberg gegenüber dem russischen Gönner der Branicki, Czartoryskı und Potocki, gegenüber Potemkin stützte. In meinem Buch über Stanislaw August habe ich diese Dinge kurz berührt. Bilek übersicht die Rolle, welche auch österreichische und preußische Einflüsse in dieser sehr wichtigen Frage spielten. Das Thema ist ohne die Bezugnahme auf die preußischen Gesandtschaftsberichte (wenigstens soweit sie in der „Politischen Correspondenz Friedrichs des Großen“ vorliegen), ohne die Wiener Akten nicht befriedigend zu erörtern. Ich habe mir seinerzeit audı aus dem Pariser Archives du Ministére des Affaires Etrangéres sehr merkwürdige Auf- schlüsse geholt. Bilek bereichert unsere Kenntnisse nur durch ein paar Notizen aus den schon erwähnten polnischen Archivalien.

Die Zusammenstellung Jan Nieczuja-Urbahkıs über Freimaurer- logen auf polnischem Gebiet im 18. Jahrhundert wird man jetzt mit der aus- gezeichneten Publikation von Stanislaw Malachowski-Lempicki, des besten Kenners der Materie vergleichen müssen („Wykaz polskich lóż wolnomularskich“, Kraków 1929), um die Angaben des verstorbenen Autors zu kontrollieren und zu er- ganzen. Allerdings bietet auch Nieczuja-Urbahski ein per Nachträge zu der gleichzeitig mit seinem Artikel erschienenen Schrift Malachowskis.

Wanda Nagérska-Rudzka haben wir bereits im Przeglad Histo- ryczny mit zwei Kapiteln ihres Buches über die polnischen Unabhängigkeits- bestrebungen in der Zeit zwischen dem russischen Feldzug Napoleons und dem Ende des Wiener Kongresses kennengelernt. Der in der Festschrift für Handels- man veröffentlichte Abshaitt berichtet von den diplomatischen Schritten polni- scher Aristokraten wie Adam Czartoryski d. J. und Antoni Radziwill, durch ihre höfischen Verbindungen für Polen zu retten, was zu retten war. Das archi- vale Material, in erster Linie aus dem Czartoryski-Archiv, gestattete der Ver- fasserin ein vollständiges Bild der Tätigkeit beider Fürsten zu entwerfen. Dieses Bild bleibt freilich einseitig, da es nicht durch eine Schilderung der Gegen- strömungen ergänzt wird, denen die Polen zu begegnen hatten. Eine derartige Er- weiterung ihrer Aufgabe hätte wohl von Frau Nagörska-Rudzka zuviel, nämli

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die Vertiefung in die Literatur und in die über ein Dutzend Archive verstreuten Akten zur Polenfrage während der Jahre 1818—1815 gefordert.

Als die Perle des Sammelbandes erscheint mir Ryszard Prze- laskowskis Bericht über den Stand der Forschung zur Geschichte von Kongreß - Polen unter konstitutionellem Regime (1815—1830). Klug und maßvoll bewertet der Autor die bisherigen Darstellungen der Gesamtgeschichte dieses Zeit- raumes und ihre Ergebnisse. Er läßt seine Bibliographie raisonnée in eine sehr raisonnable Übersicht der nächsten Forschungsziele ausklingen, die auf noch klaffende Lücken, zumal auf dem Gebiete der Kirchengeschichte jener Epoche hindeutet. Zwei Stellen der Umschau befriedigen nicht ganz: die über literar- geschichtliches (wo noch manche wesentliche Arbeit zu erwähnen wäre) und die über nichtpolnische Werke, von denen Przelaskowski nur ein paar russische Mono- graphien nennt. Bücher wie Theodor Schiemanns „Nikolaus I.“ wären doch zu verzeichnen gewesen.

Wenn Stefanja Koelichendédwna ihre Abhandlung betitelt: „Reak- tionäre Erscheinungen in der Tätigkeit der Gesellschaft für Elementarschulbücher“, so ahnen wir schon, daß es den Obskuranten zuleibe gehen wird. Natürlich steht auch schon in der zweiten Zeile, daß nach dem Scheiden des „verdienten“ Stanislaw Potocki (des Großmeisters der Freimaurer und Autors der Reise nach „Finsterburg“), mit dem Amtsantritt Grabowskis eine „Ara der schärfsten Reak- tion“ begann, eine „Politik der Verfinsterung“. Als deren Symptome rechnet die Verfasserin u. a. (S. 160), daß „auf Befehl der Gesellschaft in den Schulbibliocheken sich die Werke des von unserer Reaktion bewunderten Bossuet, Chateaubriand und Massillon befinden“, Bücher, die m. E. auch so aufgeklärte und freie Geister wie unsere junge Freiheitskämpferin nicht ohne einigen Nutzen und ohne einiges Vergnügen lesen könnten. Daß die Kommission eine diskutable, meinetwegen undiskutable, aber immerhin bestehende Weltanschauung und eine mit ihr ver- knüpfte politische Konzeption einmal als Grundlage annehmend, folgerichtig und richtig handelte, dafür fehlt der Autorin offenbar das Verständnis. So bleibt ihr Artikel nur eine nützliche Aneinanderreihung von als vernichtend gemeinten und dem objektiven Historiker nur als Tatsachen wertvollen Einzelfakten aus der Tätigkeit der verschrienen Kommission.

Czesław Leśniewski hat es insofern besser, als er vom Tod des Stanislaw Staszic berichten darf, eines der Helden der älteren und der neueren polnischen Demokratie; eines Helden, den die Rechte als eifrigen Nationalen und sowohl Deutschen- als Judenfeind, die Linke als Demokraten und Aufklärer schätzt. Eines achtunggebietenden, wenn auch nicht zur in Polen üblichen Ver- bronzung geeigneten Charakters, eines klugen Staatsmannes und großen Schrift- stellers. Über dieses aus dem 18. Jahrhundert in die Zeit Kongreß-Polens hinein- ragenden weltlichen Abbés letzte Jahre, Krankheit, Tod, Testament und Nachlaß empfangen wir eine Menge archivalischer Nachrichten. Die Erzählung Lesniewskis ist abgesehen von ihrem Wert für die Biographie Staszics auch reich an kultur- historischen Einzelheiten, wie z. B. den Angaben über die Kosten der ärztlichen Behandlung. Was mit dem stattlichen Nachlaß des Mannes, der mit in Polen seltener, eiserner Konsequenz sich ein Vermögen von eineinhalb Millionen Gulden 5 erspart und erhalten hat, später geschah, nachdem es zunächst einer Stiftung zugewiesen worden war, das gehört in ein anderes Kapitel, über das wir in der Staszic-Festschrift (vgl. dieses Jb. N. F. 4 ff.) genug lesen können.

Galt das Vermächtnis des „Vaters der polnischen Demokratie“ vor allem der Landwirtschaft, so trachtete auch das Projekt einer landwirtschaftlichen Kredit- genossenschaft, das im Frühjahr 1830 von litauischen Großgrundbesitzern aus- gearbeitet wurde und das in einer Skizze von Halina Mrozowska analysıert wird, der Hebung des Wohlstandes bei der Szlachta und mittelbar bei den Bauern. Die angebahnte Entschuldung der Güter hätte sich auch als politisches Instrument erwiesen. Einer Verwirklichung dieses Planes und einer sich mit ihm begegnenden

Initiative des Großfürsten-Statthalters Konstantin stand die alsbald ausgebrochene Erhebung Polens entgegen. Die hier geschilderte Episode zeigt den Bruder Niko- laus’ I. wieder in seiner bekannten und verkannten Sympathie für die Polen, die ihn bekämpfen und die er bekämpfen mußte.

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Mit den kriegerischen Ereignissen des Jahres 1880 beschäftigen sich die Bei- E von Helena Więckowska, und Oppman, Stanisław Płoski. Die nun nach Polen heimgebrachten Archivalien des ehemaligen Polenmuseums in Rapperswil enthalten, wie uns Helene Więckowska mitteilt, sehr viel zumeist aus Privat- besitz von Emigrierten stammendes Material zur Geschichte der Novemberrevo- lution und des ihr folgenden Feldzugs. Denkwürdigkeiten wie die des General Samuel Rózycki, des Obersten Łagowski, des Präsidenten der Wojewodschafts- Kommission Sandomierz Teofil Januszewicz, von zwei Frauen: Benigna Mala- chowska, Kunegunda Biallopiotrowiczowa und vieler anderer Teilnehmer; Brief- sammlungen und Personalakten hervorragender Offiziere und Politiker; Akten von Gese ten der polnischen Emigration und des Polnisch-Französischen, von Lafayette präsidierten Komitee; der gesamte Nachlaß des in Paris einflußreichen Publizisten und Schriftstellers Ch o; Akten der Polnischen Gesandtschaft in Frankreich (1881/1888). Der von Adam Lewak, dem aus der Schweiz nach Polen mitgekommenen Hüter und vorzüglichen Kenner der Rapperswiler Schätze in An- grift genommene und zum Teil schon veröffentlichte Katalog wird erst den ganzen Reichtum der im einstigen Polenmuseum zusammengetragenen Archivalien der Forschung erschließen.

Ohne deren Verwertung, doch auf Grund der sehr reichen gedruckten Denk- würdigkeiten, von Zeitungsnachrichten, Broschüren und der beim Warschauer Towarzystwo Naukowe verwahrten Papiere des Generals Krukowieki weiß Edmund Oppman ein fesselndes und erschütterndes Gemälde des Partei- haders während der letzten Zeiten des erliegenden Aufstandes zu geben. Man glaubt die Prosaerzählung eines Wyspiahskischen Dramas zu lesen, blickt man auf die Darstellung der revolutionären Zuckungen Warschaus im Angesicht der Kata- strophe. Wie sich die blutigen Akte des Terrors von 1794 wiederholten und Krukowiecki in der Hauptstadt die Rolle Kollztajs spielte: die Geister des roten Schreckens heraufbeschwörend und jederzeit bereit, diese, sei es, sobald er an der Macht war, sei es, sobald andere des Schreckens Herr wurden, zu verleugnen. Oppmans lebendige Schilderung umspannt die zwei Monate von Mitte Juni bis Mitte August 1881. Über diesen Zeitpunkt hinaus greifen die lesenswerten Seiten, auf denen Stanisław Płoski von der militärischen und politischen Laufbahn des später zu noch a zu tragischer Berühmtheit gelangten Józef Zaliwski erzählt. Reichliche Fundierung auf den Warschauer Akten ermöglichte Ploski die Wirksamkeit seines Helden genau zu verfolgen. Zaliwski, seit Jahren einer der

litischen Matadore des Offizierkorps, ein Virrkopf mit unverdauten demo- ratischen Ideen, wird in den ersten Tagen der Revolution wegen aufdringlicher Selbstreklame verhaftet, freigelassen, mit einer geglückten Mission zu besonderen Zwecken, also mit ee betraut. Er versucht vergeblih, das Kommando einer Freischar zu erhalten, wird aber schließlich doch zum Befehlshaber einer Partisantenabteilung ernannt, mit der er die Russen im Gebiet längst der ost- preußischen Grenze bekriegt. Für seine Tüchtigkeit zum Oberstleutnant befördert, wurde er indessen des Krieges im offenen Felde überdrüssig und er trachtete aufs Schlachtfeld der Parteien zurückzukehren. Beschuldigte Skrzynecki des Hoch- verrats, knüpfte mit Mochnacki und den Linksradikalen an, trotzte den Generalen ins Antlitz, wiegelte das Volk auf und schickte sich an, in der Hauptstadt die Diktatur zu übernehmen. Diese politischen Heldentaten wurden durch recht problematische militärische Unternehmungen abgelöst, bei denen Zaliwski regel- mäßig im kritischen Moment fehlte. Nach dem Fall Warschaus geriet er in russische Gefangenschaft, aus der ihn ein Zufall rettete. Ploski verläßt den un- sympathischen Freiheitsmann im Augenblik, wo Zaliwski mit erbetteltem Geld aus Galizien über Deutschland sich nach Frankreich begibt, das er später wieder ver- ließ, um den unseligen Streifzug zu leiten, der seinem Namen zu trauriger Notorietät verholfen hat.

Ein ganz anderer Mensch und ein ganzer Mann war der Priester Piotr Senay kein Szlachcic mit ochlokratischen Gelüsten, sondern ein Bauernsohn mit glühender Liebe zu seinem unterdrückten Volk, ein polnischer Lamennais ohne die dichterische Genialität seines französischen Vorbilds. Scigienny, den die polnischen Sozialisten für sich als cinen ihrer Ahnen reklamieren, predigte den

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Bauern die Solidarität aller Arbeitenden gegenüber den besitzenden Klassen der Unterdrücker. Er verquickte nationale, religiöse und soziale Beschwerden. Den Ausbruch einer bewaffneten, allerdings auch so zum raschen Scheitern verdammten Erhebung Scigiennys und seiner Anhänger, verhinderte der Verrat eines Bauern. Scigiennys wurde verhaftet, zum Verlust der Priesterwürde verurteilt (wofür die nach dem Muster des „Goldenen Ukaz“ von Melchizedek Javorskij abgefaßte angebliche Papstbulle gegen Russen und Herren den Anlaß bot). Fünfundvierzig- jährig mußte er den Weg nach Sibirien antreten. Ungebrochen an Geist und Körper kehrte er im Alter von 71 Jahren wieder nach Polen zurück. Der Vier- undachtzigjährige durfte wieder seinen priesterlichen Funktionen nachgehen und er übte noch sechs Jahre das Amt eines Spitalgeistlichen aus. Neunzigjährig ist Scigienny 1890 gestorben. In völliger apostolischer Armut und noch bei Lebzeiten von der Gloriole des Heiligen umstrahlt. Z of ja Balicka hat dieses Merk- würdigen Lebensschicksal zum Gegenstand ihrer Doktorarbeit gewählt und aus dieser einen Extrakt in der Festschrift für Handelsman abgedruckt. Wir hegen den aufrichtigen Wunsch, die Biographie Scigiennys ungekürzt nochmals zu emp- fangen. Vielleicht läßt sie sich durch Materialien über dessen Aufenthalt in Sibirien ergänzen.

Wieder einen anderen Typus des polnischen „Aufrührers“ verkörpert der unglückliche Diktator von 1868, Romuald Traugutt. Wir besitzen seine Bio- graphie aus der Feder des unlängst verstorbenen Verteranen (und seines Gefährten) Marjan Dubieki. Stefan Pomarahski hat die fragmentarischen Nach- richten dieses Buches um die sehr lehrreiche Feststellung der dienstlichen Lauf- bahn des Insurgentenführers während seiner Zugehörigkeit zum russischen Heere vermehrt. Traugutt ist im Jahre 1845, damals neunzehnjährig, zur russischen Armee gekommen, hat in dieser an fünf Feldzügen teilgenommen, darunter an dem gegen das Ungarn Kossuths und somit indirekt gegen dessen polnische Ver- biindete; er hat zwei Orden empfangen und ist im Jahre 1862, erst sechsund- dreißigjährig, als Oberstleutnant aus der Aktivität geschieden. Soviel melden die in Warschau verwahrten Militärakten. Was in der Seele des verschlossenen Mannes während dieser Zeit vorging: wir wissen es nicht, vermögen nur die Wallenrod- Tragödie zu ahnen. Traugott ist wohl vom ersten Augenblick an nur darum ins russische Herr eingetreten, um beim Feind die Kunst zu erlernen, ihn zu be- kämpfen. Oder täuschen wir uns; war Traugutt wirklich nur der Offizier, als der er seinen Kameraden erschien und wandelten ihn später erst binnen weniger Monate die Eindrücke des Zivillebens zum polnischen Patrioten? Traugutts Bio- graphie ist sowohl nach Dubiecki als auch nach den dankenswerten Nachrichten Pomaranskis noch zu schreiben.

Eugeniusz Przybyszewski breiter vor uns die seelische Landschaft aus, in der sich Traugutts gescheiterte Erhebung vollziehen sollte. Wir vernehmen von den eifrigen Bemühungen des geheimen Central-National-Ausschusses, der sich als Regierung des illegalen Polnischen Staates fühlte; von den mit unzu- reichenden Mitteln getanen Versuchen der Szlachta mit demokratischen Schlag- worten und oft sehr demagogischen Versprechungen (keine Steuern, Gleichheit von Herr und Bauer, Verkürzung der Militärdienstpflicht!) die polnischen und sogar die litauischen, weißrussischen, ukrainischen Bauern für den kommenden Aufstand zu gewinnen. Przybyszewski stellt mit Recht fest, daß angesichts der elementaren Feindschaft der sozial und national ihren polnischen Gutsherren gegnerischen Volksmassen die am grünen Tisch entworfenen Agitationspläne nicht nur ohne die beabsichtigte Wirkung bleiben, sondern auch, indem sie die dumpfe Menge in Bewegung brachten, von anderer, verhängnisvoller Wirkung werden mußten. Der Bauer war bereit sich zu erheben, indes gegen und nicht für die polnischen Herren, mochten sie sich auch noch so unverständlich und unverständig demokratisch gebärden.

In Jerzy Niemojewskis juridischer Untersuchung über die Rechts- rundlagen der russischen Kriegsgerichtsurteile zur Zeit des Aufstandes von 1868 finden wir sehr begrüßenswerte konkrete Angaben über die Organisation der russischen Kriegsgerichte, über dieser Tribunale damalige Kompetenz und Prozeß- verfahren. Eine kaiserliche Verordnung vom 25. Januar 1868 überwies die mit

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den Waffen in der Hand gefangenen Aufrührer an Standgerichte, die sofort zu urteilen und nur auf Freispruch oder Tod zu erkennen hatten, wobei iiber die Ausführung der Urteile die Militärgouverneure in Warschau, Lublin, Radom, Kalisch, Plock und Augustowo entschieden. Dieser Erlaß wurde später dabin gen daß Urteile auf andere als die Todesstrafe an den Großfürsten-Statt- halter Konstantin geschickt werden sollten. Man trennte alsbald die Empörer in vier Kategorien und nur die erste: Anführer, Emissäre und desertierte russische Offiziere, verfiel dem Tod. Die Strafen wurden, je länger der Rebellion an- dauerte, umso härter. Seit dem Mai 1868 hängten die Russen, Ausnahmen ab- gerechnet, alle Gefangenen aus Adel und Bürgerschaft, die als Anführer galten, und die übrigen Teilnehmer am Kampf wurden nach Sibirien oder in entlegene europäische Gouvernements verschickt oder unter die Soldaten gesteckt. Seit Dezember 1868 überwachte ein General-Polizeimeister die Urteile der etwa 60 Gerichtskommissionen. Güterkonfiskationen traten zu den persönlichen Strafen hinzu. Erst im Jahre 1867 hat die russische Themis ihre letzten Opfer gefunden. Niemojewski benutzte für seine Arbeit außer der Literatur noch zahlreiche Akten des Archiwum akt dawnych und des Centralne Archiwum wojskowe. Leider ist die vom Einzelfall zum Einzelfall fortschreitende, doch wieder zur Synthese noch zu einer statistischen Veranschaulichung gelangte Abhandlung nicht bis zur ab- gerundeten Darstellung gediehen. Es müßte doch möglich sein, irgendwie das Vorgehen der russischen Behörden durch den Vergleich der Zahlen gefangener Aufständischer, der gefällten Urteile, ihrer Ausführung und ihres Inhalts ob- jektiver als durch eine stets national-politisch gefärbte Entrüstung gegen den Be- drücker Polens zu charakterisieren.

Ein Wort zum Schluß über die von Halina Bachulska angelegte Biblio- graphie der Arbeiten Prof. Handelsmans. Unter den 231 Nummern überwiegen die Buchbesprechungen und kleineren Artikel. Als die wesentlichen Leistungen des Gelehrten dürfen wir in Erinnerung rufen: „Die Strafe im polnischen Recht“ (1905), „Trzy Konstytucje“ (1905, 4. Aufl. als „Konstytucje Polski“ 1926), „Kara w najdawniejszem prawie polskiem“ (1908), „Napoleon et la Pologne“ (1909, poln. 1914), die gesammelten Aufsätze der „Studja historyczne“ (1911) und von „Pod znakiem Napoleona“ (1918), die diplomatische Korrespondenz der Napoleo- nischen Diplomaten in Warschau und dieser französischen Bevollmächtigten Por- traits „Instrukcje i depesze Rezydentöw Francuskih W Warszawie 1807/1813" (1914), „Rezydenci Napoleonscy w Warszawie 1807/1818“ (1915), „Anglja-Polska 1814—1864" (1917), „Z metodyki badań feodalizmu“ (1917), „Die mittelalter- liche polnische Sozialgeschichte“ (1919), „Zagadnienie teoretyczne historji“ (1919), „Historyka“ (1921, 2. erweiterte Auflage 1928), „Ksiega Ziemska Plonska 1400 —1417“ (1920), „Pomiędzy Prusami i Rosją“ (1922) „Rozwój narodowości nowo- czesnej“ ee „Francja-Polska 1795—1845“ (1926, französisch 1927), „Le soi- disant précepte de 614“ (auch polnisch 1926).

In der Bibliographie der Schriften des Jubilars hätten wir auch gerne Ver- weise auf über ihn erschienene Artikel und Rezensionen gefunden.

III.

Pamietnik trzydziestolecia pracy naukowej prof. dr. Przemyslawa Dabkowskiego. Wydany staraniem Kölka Historyczno. prawnego Stuchacz6w Uniwersytetu Jana Kazimierza. 1897—1927. Lwów, Gubrynowicz i Syn 1927 (handschriftlicher Vermerk auf dem mir gesandten Exemplar: druk skończony w październiku 1928). 8. 589 Seiten.

Wieder ein Gedenkbuch zum Jubiläum eines bedeutenden Historikers. Von Dabkowski, nach Balzer dem ersten polnischen Forscher auf dem Gebiete der Rechtsgeschichte unter denen, die heute leben, ist wohl in jedem Jahrgang dieser Jahrbücher rühmend die Rede gewesen. Seme segensreiche Wirksamkeit als Lehrer tritt in den Heften des Pamietnik Historyczno-Prawnyczy zutage, die er heraus-

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gibt und mit zum Teil vorzüglichen Arbeiten seiner Schüler anfüllt. Als Autor ist der Verfasser des „Prawo prywatne polskie“ keiner weiteren Vorstellung be- dürftig. Die von Karol Korányi auf S. 519—581 des vorliegenden Bandes ge- gebene Bibliographie von Dabkowskis Schriften gewährt uns ein vollständiges und imponierendes Bild der Tätigkeit des Gelehrten. Reicht die Zahl von 281 Nummern auch nicht an Brückner oder Balzer heran, sie darf sih immerhin sehen lassen. Obrigens ist diese Bibliographie, was die Rezensionen betrifft, nicht vollständig und in ihrem Teil, der die Notizen und Anzeigen über Dąbkowski enthält, unzureichend. Ich weiß z. B. aus dem Gedächtnis, daß Dutzende von Erwähnungen des Jubilars in deutschen Fachorganen (darunter mehrere Rezensionen aus meiner Feder) hier fehlen.

Die Abhandlungen von Schülern und Freunden sind von sehr ungleichem Wert. Sieben „Freunde und Bewunderer“ haben sich eingestellt. Die meisten mit einem Beitrag, der gutes Niveau hält. Maier Bataban veröffentlicht da wieder einige seiner Bausteine zur Rechtsgeschichte der Juden in Polen. Er stellt fest, daß den Wojewoden als Judenrichter in Reußen (Lemberg, Przemyśl! usw.) und Posen der Podwojewodzi vertrat, während in Krakau neben dem Podwo- jewodzi ein besonderer Judenrichter erscheint. Er schildert die Kompetenz der ollegialen 5 erster Instanz, die über Klagen von Christen gegen Juden urteilten. Das Material reicht nicht zu genauer Definition aus.) Sehr unterhaltsam ist die Erzählung einer „Doppelwahl“ zum Krakauer Rabbiner- posten, die sich mit einer doppelten Besetzung des adligen Judenrichteramts possierlich verquickte; in welchen Streit sogar der König August III. eingreifen

mußte.

Prof. Ehrenkreutz befaßt sich mit der Appellinstanz für die Städte der Wojwodschaft Sandomierz. Auf diese etwas magere Gabe folgt die sehr an- regende Studie Bolesław Gruzewskis über eine Episode aus Krasickis Wirksamkeit als Präsident des Tribunals von Kleinpolen (1765). Man kennt die Erinnerungen an seine richterlichen Funktionen, die der Fürstbischof von Ermland in seinem Roman „Pan Do$wiadczyhski“ zu einem amüsanten Sittenbild um- gestaltet hat. Man erinnert sich der Schilderungen bei Kitowicz, an die „Pamigtki p. Soplicy“ und steht sofort mitten in den Ereignissen, die Gruzewski erzählt. Kurz und bündig: ein betrunkener Szlachcic trat Krasicki mit Schimpfworten in den Weg und schlug ihn ohne Grund. Der Übeltäter wurde mit einem Ja Arrest und Geldstrafe belegt, aber schon nach zwei Monaten freigelassen. Seine beiden Diener aber empfingen, der eine hundert Rutenstreiche, der andere harte Züchtigung durch Abhacken der rechten Hand. So urteilte die Gerechtigkeit noch im Zeitalter der Aufklärung. Konsul Namystowski, dessen Arbeiten auf dem Gebiet des serbischen Rechts sich begründeten Rufs erfreuen, hat sich die völkerrechtlichen Beziehungen der Balkanstaaten im Mittelalter, speziell aber (der Titel ist zu weit gefaßt) das Konsularwesen der Republik Ragusa zum Gegen- stand seiner Ausführungen erkoren. Mit großem Interesse habe ich den Abschnitt aus einer mir bis jetzt noch nicht vorliegenden Arbeit von Adam Vetulani „L'Evêque et le Grand Chapitre de Strasbourg“ gelesen: „Zur Geschichte des Straßburger Domkapitels.“ Leider kann ich mich mit den hier vorgetragenen An- sichten nicht befreunden. Vetulani, den zunächst die Frage nach den Gründen der im 12. Jahrhundert schnell wachsenden Macht der Domkapitel und ihres in Straßburg zu Beginn des 18. Jahrhunderts offenbar gewordenen Obergewichts über den Bischof beschäftigt, erblickt die Ursache dieses Fakts darin, daß sich der höhere Adel, die Freiherren der Kanonikate bemächtigt hätten. Er sucht deshalb den Zeitpunkt festzustellen, zu dem der hohe Adel die alleinige Herrschaft im Straß- burger Kapitel erlangte. Der bekannte Protest des Kapitels gegen einen ıhm vom Papst aufgedrungenen niedriger geborenen Kandidaten (über den Schulte in seinem Buch „Adel und deutsche Kirche im MA.“ eingehend handelt) bildet für Vetulani den terminus ad quem (1231). Den terminus a quo genau zu errechnen, untersucht Verulani die Zeugenliste der gedruckten Straßburger Urkunden, um aus der Rang- stellung der Zeugnis ablegenden Domherren deren ständische Zugehörigkeit zu erschließen. Er motiviert die Wahl dieser Methode damit, daß eine zweite Art des Vorgehens, nämlich die Frage nach den Familien der Kanoniker nicht zu

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beantworten sei, weil bis zum 12. Jahrh. nur die Vornamen der Domherren an- gegeben werden. Nun seien bis zum 10. Jahrh. die Domherren nach Laien und sogar nach den Ministerialen genannt, seit dem 11. Jahrh. aber vor den Leen, Deshalb müsse inzwischen die alleinige Besitzergreifung der Kapitel durch die Hoch- adeligen erfolgt sein. Schultes Ansicht vom ursprünglichen hochadeligen Charakter der Kapitel sei verfehlt.. Nun denn, Vetulani argumentiert mit ganz unzu- länglichen Behelfen. Zunächst besitzen wir eine reiche Literatur für fast sämt- lidte deutsche Domkapitel, in denen wir den Personalbestand der deutschen Kanoniker des Mittelalters zum großen Teil, und mit Anführung der Familien- namen aufgezeichnet haben. peal für Straßburg ist zwar kein Gesamtkatolog vorhanden, indes der Vergleich mit den Katalogen benachbarter Kapitel (z. B. den von Kisky gegebenen Listen), mit den Urkundenbüchern des oberrheinischen Gebiets, das aufmerksame Studium von 5 Sammelwerken wie Kindler v. Knoblochs Oberbadischem Geschlechterbuch, es Schweizer genealogischen Hand- buchs, das Studium der zahlreichen ausgezeichneten Monographien von großen Geschlechtern der umliegenden Gegenden: dies alles hätte zu einem recht statt- lichen Verzeichnis der aus den Zeugenlisten bekannten und zu identifizierenden Domherrn die Möglichkeit geboten. Ich kann Vetulani aus zureichender Kenntnis der Seraßburger Kapitelsgeschichte versichern, daß bis weit zurück der hochadelige Charakter des Kapitels keinem Zweifel unterliegt. Indes die ganze Argumentation wird unnötig, wenn man von der allgemeinen Entwicklung eine bessere Kenntnis hat als sie Vetulani zu eignen scheint. Nicht nur von meinem verehrten Lehrer Schulte, sondern auch von Dungern, Stutz, Kisky, in meinem Buch „Vom Herren- stand“ und in zahlreichen anderen ständegeschichtlichen, kirchengeschichtlichen, rechtshistorischen Werken ist der einheitliche Weg der deutschen Domstifter im Einklang mit allgemein bekannten soziologischen Gesetzen von einer Allein- herrschaft der Edelfreien zum Eindringen der Ministerialen, des Adels überhaupt und zuletzt erst zur ständischen Promiskuität auf Grund sorgfältiger ur des Personalbestands der Stifter, und der sozialen Tendenzen der Epochen sicher- gestellt. Die Beherrschung des Straßburger Domkapitels durch die Freiherren ist nicht „via facti“, sondern im Einklang mit dem auf die Urzeit, auf die Eigen- kirche zurückgehenden Grundcharakter der deutschen Hochstifter geschehen.

Zygmunt Wojciechowskis Abhandlung über die ältesten Märkte in Polen ist eine erweiterte Rezension der Studie von Karol Maleczyhski „Najstarsze targi w Polsce“ (Lwów 1926). Die kritischen Einwendungen des Rezensenten richten sich vor allem gegen Maleczyhskis Deutung der „hospites“ als Handwerker, gegen die Datierung des herzoglichen Marktregals das Wojciechowski von den Marktabgaben herleitet und im 11. Jahrh. entstehen läßt und methodologisch gegen die unzulässige Verallgemeinerung von aus einzelnen Quellen erschlossenen Zuständen.

Die sehr sorgfältige Abhandlung Marjan Zygmunt Jedlickis, dessen Arbeiten auf dem Gebiet des deutschen Rechts längst die Aufmerksamkeit auch der deutschen Fachgenossen auf sich gelenkt haben, stellt das dem Autor zugängliche Material über die „Schilderhebung bei den alten Germanen“ zu- sammen. Als grundsätzlicher Mangel dieser zu sehr aufs Formal- Juristische be- schränkten Studie ist die Vernschlässigung der völkerkundlichen Seite dieser symbolischen Zeremonie und der Verzicht auf deren psychologische Durchdringung zu bezeichnen. Jedlicki begnügt sich die Schilderhebung zu deuten und sie irgendwie als eine dem kriegerischen Charakter der alten Germanen gemäße Sitte hinzunehmen. Er hebt weiters seine Darstellung mit der bekannten Notiz in den Historiae des Tacitus (IV cap. 15) an, die sich auf die Schilderhebung des Brinno bei den batavischen Canninefates bezieht (ad annum 60 p. Ch.). ade, daß Jedlicki nicht seinen Blick weiter in der Welt umherschweifen ließ. Rechts- institutionen sind heute nur bei Anwendung der vergleichenden Methode be- friedigend zu erklären. Und da hätten Notizen vie die über den Emir von Buchara die Aufmerksamkeit des Autors hinüber nach der asiatischen Völker- heimat lenken sollen, von woher den Indoeuropäern, und im speziellen den Ger- manen so viele Bestandteile ihrer urtümlichen Rechtsbrãuche gekommen sind. Des weiteren hätte er seinen Gegenstand auch als Schild erhebung betrachten

38 Jehrbüch, f. Kult. u. Gesch. d. Slav, Bd. VI H I u. I 1930 337

sollen. Kurz: die Schilderhebung ist nur ein Sonderfall der Erhebung, also der durch die Hände der ,,Niedrigeren“ geschehenden Aktion, durch die ein alsdann „Höherer“ über die Häupter derer, die „vordem seinesgleichen waren“ erhoben wird. Das Symbol ist allgemein-menshlih. Wir erinnern an die aus der Kunstgeschichte allbekannte Tatsache, daß die Herrscher von primitiven Künstlern als größer abgebildet werden, denn ihre Untertanen. Das größere Abbild soll die metaphorisch größere Wesenheit des Herrschers darstellen. Im Leben wird nun auch der Herrscher „größer“ sein und da dies nicht anders geht, durch „Er- heben“ größer gemacht werden. Im Kulturkreis der Kmervölker, im chinesischen und in den mittelmeerischen Zivilisationen des Altertums haben wir nicht nur das „Erheben“ sondern auch das „Erhobensein“, das „Erhabensein“ als Attribut der in Sänften, auf dem Thron, auf dem Schild getragenen Herrscher. Inwieweit bei den Germanen diese Sitte indoeuropäisches Erbe ıst, vermögen wir nicht zu entscheiden. Daß sie dem ganzen Norden, wie ihn die neuere Forschung als rähistorische Einheit zusammenfaßt; daß sie Mongolen, Ugrotartaren gemeinsam ist, steht fest. Ob dieses Erheben nun mit Hilfe des Schildes also eines kriege- rischen Symbols geschieht, das gehört erst in zweite Linie.

als symbolische, dem unmittelbar rechtsetzenden Akt nachfolgende Zeremonie, ungestraft durch eine andere Zeremonie verdrängt werden, zumal durch eine, die vie die Inthronisation dem unbe wußten Grundgedanken der Erhöhung entspricht. Unter den Abhandlungen der Schüler Prof. Dabkowskis möchte ich zunächst die Beiträge verzeichnen, die m. E. keinen größeren Wert besitzen: Dicker; „Testament im polnischen Dorfrecht“ (eine mäßige Seminararbeit auf Grund der Ulanowskischen „Księgi wiejskie“), Marceli Hescheles’ „Besitz- einweisung nach dem dritten Litauischen Statut“ (fußt völlig auf Dabkowskis „Prawo prywatne“, Makarewiczs „Prawo karne“, Adamus „Zastaw“), Se I. Huberts „Rechtsstellung der Minderjährigen im Armenischen Statut von 1519", Adam Lomnickis „Symbol der grünen Rute im polnischen Dorfrecht“, Ignacy Nedzowskis „Musterungen der Hufmannen im Lichte der Reichs-

üsse", Jakób Stachels „Mitgift als Institution des Erbrechts“. Der Druck dieser gutgemeinten Versuche erscheint mir keine zwingende Nort- wendigkeit.

Eine Stufe höher stehen die Untersuchungen von Jan Adamus, der als Forscher seinen Namen hat, hier die rechtliche Natur der Ladung im mittelalter- lichen polnishen Recht erörtert, speziell der Wiederladung {a „prz ). Das Ergebnis: es bestehe zweifelsohne ein näherer Zusammenhang der Ladung und der durch sie bewirkten Haftung des Geladenen, ist sehr allgemein und bleibt hypothetisch in den Einzelheiten. Jan Gerlach schildert nach Akten im Archiwum Główne zu Warschau die Schicksale der auf Grund des Reichstagsbeschlusses vom 8. März 1578 ausgehobenen Rekruten, die am Zug n Pskov teilnahmen. Wir erfahren Genaues über die Organisation, den Kamptwert und die Verluste dieser Truppe. Die genauen Ziffern sind sehr lehrreich: 1867 marschierten ins Feld. 119 fielen, 295 starben an Krankheiten oder Unfällen, 18 wurden gefangen, 45 blieben verschollen, 897 desertierten und 968 kamen heim. So sah (und so sieht) die Kehrseite auch siegreicher Kriege im späten Licht der nüchternen Zahlen aus. Recht interessant und auf ec age Forschung

ruhend ist, wie der Artikel Gerlachs die Skizze Jan Kamifskis über die Schreinerzunft in Lublin. Sowohl die wirtschaftliche als die juristische Seite des Problems werden vortrefflich dargestellt. In der rasch anwachsenden polnischen Literatur zur Geschichte der Handwerke nimmt dieser gutgeschriebene Vortrag einen achtenswerten Platz ein. Der Beitrag des Rechtshörer: Marjan Kar- pins ki über „Gerichte auf den reußischen Landtagen des 15. Jahrh.“ bezeigt

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viel historischen und kritisch-juridischen Sinn des jugendlichen Autors, dem ich nach dieser erstaunlich reifen Probe eine schöne wissenschaftlihe Zukunft zu rophezeien wage. Er hat den richtigen Blick fürs Wesentliche, keine falsche. Scheu vor den Autorités établies und die Fähigkeit, selbständige Meinung über- zeugend aus den Quellen zu belegen.

Mit viel Beifall habe ich die fesselnde Skizze Karof Koränyis über die beiden im Jahre 1689 erschienenen Schriften, Daniel Wisners „Tractatus brevis de extramagis lamiis, veneficis“ und die „Czarownica powolana“, gelesen; zwei Büchlein, die sich als schüchterne Stimmen gegen die Ausschreitungen des Hexenwahns erhoben, ohne dessen Grundlagen zu 5 oder anzugreifen. Ich halte beide für Bearbeitungen fremder Originale, die ausfindig zu machen eine lohnende Aufgabe für einen Spezialforscher wire. Die Ausführungen Koränyis über die durch diese Broschüren bekundete freie Gesinnung des da- maligen Polen haben danach nur bedingten Wert. Wactaw Osuchowski geht den Spuren Homers in den Digesten nach: ein zweiter Rechtshörer, dessen Leistung den Meister lobt, der sie offenbar angeregt hatte. Prof. Rudolf Rauscher stellt die Bedeutung der Urteile des Ee im dechischen Privatrecht dar. Zbigniew Socha gibt einige Bemerkungen zur Synodal- 5 in polnischen Diözesen zu Ende des Mittelalters. Sie erläutern

uptsächlich die Sittengeschichte (Eheschließung). Eine methodisch gute Abhand- lung des Rechtshörers Zenon Wachlowski über den Souveränitätsbegriff in der polnischen politischen Literatur erfüllt ihren Zweck: zu zeigen, welche west- lichen Theorien über diesen Rech riff im damaligen Polen bekannt waren, soweit es sich um die wichtigsten politischen Autoren jener Zeit handelt. Zur Erschöpfung des Themas wäre freilich eine mühsame Durchforschung der Reichs- tagsverhandlungen und vor allem der Großakten nötig.

Zusammenfassend dürfen wir die drei Festgaben an Dobrzycki, Handelsman und Dabkowski, wenn auch in einigem Abstand von den überreichen Bänden, die Balzer und Brückner gewidmet worden waren (vgl. diese Jb. NF. 8. ff.; 4 ff.) mit aufrichtiger Freude begrüßen. In einer Zeit, die der wissenschaft- lichen Einzeluntersuchung nur wenig Raum vergönnt und den Abdruck besonders den Arbeiten von beginnenden Forschern erschwert, sind Sammelbände wie die vorliegenden, oft die einzige Zufluchtsstätte der jungen Historiker.

Das müssen wir uns vor Augen halten und darum nicht zu streng darüber urteilen, daß die Festschriften für Handelsman und Dabkowski nicht ganz der Männer würdig sind, die es zu ehren galt; daß auch bei Dobrzyckis Ehrengabe sich manche besser gemeinte als ausgeführte Abhandlung eingestellt hat. Ander- seits durfte den Rezensenten die Rücksicht auf die drei hochverdienten Jubilare und auf die Absicht der sie ehrenden Beitrag-Spender nicht dazu verleiten, über offenbare Unzulänglichkeiten hinwegzugehen. Die Worte der Kritik mögen nicht den herzlichen Klang der Worte aufrichtigen Glückwunsches übertönen, die ich, etwas verspätet, doch nicht minder für viele Bereicherung dankbar, an Dobrzycki, 1 Dabkowski, die in der Vollkraft ihres Wirkens stehenden Jubilare, richte.

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IV BUCHERBESPRECHUNGEN

Georg Ostrogorsky: Studien zur Geschichte des byzantinischen Bilder- streites. Breslau 1929. Verlag M. H. Markus. 113 S. (Histo- rische Untersuchungen, herausg. von E. Kornemann und S. Kaehler, H. 6.)

Die Erforschung des Bilderstreites bietet große Schwierigkeiten, weil sämt- liche bilderfeindliche Schriften verbrannt worden sind; wir haben allerdings in den bilderfeindlichen Denkmälern der orthodoxen Schriftsteller eine beträchtliche Zahl größerer und kleinerer Fragmente aus den bilderfeindlichen Schriften erhalten. Wenn eine Rekonstruktion der verlorenen Originale möglich wäre, so hätten wır damit die Grundlage für die objektive Darstellung des Bilderstreites gewonnen. In den Antirrhetici I und II des Patriarchen Nikephoros und seiner bisher unedierten Apologie liegt viel Material aus den bilderstürmenden Schriften.

O. sucht zunächst die Schrift Kaiser Konstantins V. gegen die Verehrung der Bilder Christi aus den Schriften des Nikephoros zu rekonstruieren. Er zeigt, daß das erste ikonoklastische Konzil seinem Ideengehalt nach sich mit der Schrift des Kaisers deckt, im Wortlaute aber sehr stark abweicht. Die Leistung Konstantins bestand vor allem darin, daß er das Bilderproblem in den Rahmen der christo- logisch-dogmatischen Fragen stellte. Er weist ferner nach, daß der Kaiser auch den Marien- und Heiligenkult, nicht bloß die Verehrung ihrer Bilder ablehnte. Endlich gibt die konstantinische Schrift eine genaue Definition des Wortes eikon.

O. gibt ferner aus dem unedierten Werke des Nikephoros die Bestimmungen des zweiten ikonoklastischen Konzils und behandelt die angeblichen Schriften des hl. Epiphanius gegen die Bilderverehrung. Karl Holl hat unter Zustimmung von Lietzmann und Koch die Echtheit dieser Schriften behauptet, O. erklärt ste für unecht. Schon Bardenhewer, Geschichte der altkirchlichen Literatur 3, 801 hatte übrigens die Schrift für unecht erklärt; dies scheint O. entgangen zu sein. Auch hätte er auf die Stellungnahme von Wilpert Hist. Jahrb. 1917, 582/5 und Neuß Theol. Rev. 1918, 157/62, welche die Frage vom kunsthistorischen Standpunkte erörtern, eingehen sollen. Bei der Frage nach der Echtheit spielen ja subjektive Beweisgründe oft eine große Rolle. Ich gebe zu, daß die Beweisführung gorskys sehr scharfsinnig ist; endgültig entschieden wird die Frage erst dann sein, wenn tatsächlich der Nachweis ne wird, daß in der älteren Bestreitung der Bilderverehrung die Christologie nicht behandelt worden ist. Das ist m. E. der Kernpunkt des Problems. Denn wenn schon Eusebius von Caesarea sich scharf gegen die Bilderverehrung ausgesprochen hat, so wäre an sich eine bilderfeindliche Stellungnahme des Epiphanius nicht unmöglich. Überhaupt wird es nötig sein, die Vorgeschichte der Bilderstreitigkeiten noch eingehender zu bearbeiten, che wir eine neue Darstellung des Bilderstreites durchführen können.

Die Schrift O.s ist auch deshalb besonders verdienstlich, weil er die russische Literatur verwenden konnte; die stets sachliche Beurteilung und vornehme Behand- lung der Gegner verstärken den guten Eindruck. Das Problem der Bilderstreitig- keiten ist durch O. erheblich gefördert und seine Lösung um cin gutes Stück

vorgeschoben worden. Breslau. Felix Haase.

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Georg Sacke: W. L. Solowjews Geschichtsphilosophie. Ein Beitrag zur Charakteristik der russischen Weltanschauung. Berlin und Königsberg, Osteuropa-Verlag. 1929. 138 S. (Quellen und 9 9 zur russischen Geschichte. Herausg. von K. Stählin. 9. Bd.)

Solov’ev und Dostoevskij haben in den Jahren nach der russischen Revolution die besondere Liebe und Bevorzugung des Abendlandes erhalten. Instinktiv er- kannte man wohl, daß diese das Wesen der russischen Weltanschauung in ganz besonderer Weise repräsentierten. Leider fehlt uns immer noch eine Monographie Solov’evs, welche diesen auch in Rußland nicht genügend gewürdigten Philosophen und seine nicht leicht verständliche Lehre dem Abendlande bekannt macht. Auch die geplante deutsche Ausgabe der Biographie d’Herbignys kann diesen Mangel nicht ersetzen. Es war deshalb eine dankbare Aufgabe, zunächst einmal die fast völlig vernachlässigte Geschichtsphilosophie S. zu untersuchen. Ich konnte in meinem Aufsatz: „Grundprobleme der russischen Geschichtsphilosophie“ (Ver- gangenheit und Gegenwart, 6. Ergänzungsheft) nur ganz kurz die Bedeutung S.s in dieser Hinsicht charakterisieren.

S. gibt zunächst eine Einleitung: Geschichte als das Hauptproblem der russi- schen Philosophie, um den Begriff der Geschichte bei $. und seine Stellung zu den slavophilen und westlichen Vorgängern zu erläutern. Solov’ev gibt nirgends eine einheitliche Darstellung seiner Geschichtsphilosophie und es scheint, daß er sich auch niemals über die Begriffsbestimmung ganz klar geworden ist. Er spricht von einem kosmischen, theogonischen und historischen Prozeß, von denen jeder ein selbständiges Ganzes bildet; gleichzeitig gebraucht er den Ausdruck „historischer Weltprozeß“. Natur und Geschichte sind für ihn keine absoluten Gegensätze, sondern erklären sich gegenseitig. Die Geschichtsphilosophie ist auch mit der Natur- philosophie und Theologie aufs engste Serbunden. S. ist in erster Linie Moral- philosoph und sein Werk „Die Rechtfertigung des Guten“ ist auch sein Haupt- werk. Aber das geschichtsphilosophische Problem des Guten und seine historische Verwirklichung bildet in allen seinen Werken den ständigen Hintergrund. S. machte eine Entwicklung durch. In der ersten Periode, die man die abstrakt-philo- sophische nennen kann, ist er vorwiegend reiner Philosoph. Die zweite Periode läßt sich als die kirchlich-theologische, die dritte als apokalyptische bezeichnen. Diese drei Entwicklungsstufen kommen auch in seiner Geschichtsphilosophie zum Ausdruck. Bei dem jüngeren $. werden die Probleme Gott und Welt, Mensch und Menschheit im historischen Prozeß behandelt. Die Perioden der historischen Ent- wicklung hat eben die Geschichtsphilosophie aufzudecken. Er nimmt drei Ent- wicklungsstufen an, die durch die einzelnen Kulturkreise vertreten werden. Die dritte Stufe, welche den Ausweg aus der trostlosen Lage der Vergangenheit und Gegenwart bringen soll, muß ein neues Volk hervorbringen, das als Vermittler zwischen der göttlichen Offenbarung und der Menschheit auftritt. Dieses Volk wird das russische sein. In der zweiten Periode spielt der Begriff der Weltsecle eine große Rolle. Diese löst sich freiwillig von Gott und so entsteht die nicht- göttliche Welt, die Welt der Geschichte. Der Weltprozeß beginnt deshalb mit dem Sündenfall. Der neue Prozeß hat die Aufgabe, die verlorene Einheit wieder- zuge winnen. Der Mensch ist der Gipfel der organischen Entwicklung. Der histo- rische Prozeß ist ein Werdegang vom Tiermenschen zum Gottmenschen. Die ein- zelnen Völker werden durch das unmittelbare Eingreifen Gottes geleitet, und so wird der historische Prozeß eine Offenbarungsgeschichte. Als Wendepunkt in dem gottmenschlichen Prozeß erscheint die Persönlichkeit Christi, das ewige Zentrum der Veltgeschichte. Er findet seine Fortsetzung in der Kirche, die deshalb den Hauptinhalt der Geschichte der Menschheit nach Christus bildet. Der Osten und der Westen, die griechisch- und die römisch-katholische Kirche haben eine ver- schiedene Entwicklung durchgemacht. Die Verwirklichung der Theokratie kann nur durch die Wiedervereinigung der Kirchen kommen.

In der dritten Entwicklungsperiode ist S. sehr pessimistisch geworden. Die alten europaischen Monarchien werden durch die Mongolenherrschaft gestürzt, im 21. Jahrhundert stellt Europa einen Bund mehr oder weniger demokratischer

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Vereinigter Staaten dar. In diesem letzten Jahrhundert der Geschichte erscheint der Antichrist. Er wird zum lebenslänglichen Präsidenten der europäischen Ver- einigten Staaten und zum römischen Kaiser gewählt. Er erobert die ze Erde und geht dann zu sozialen Reformen über. Weltende steht nahe bevor. Die Menschheit hat sich der Verkörperung des Bösen, dem Antichrist unterworfen und wird erst am Ende der ichte durch Christus erlöst werden. . Dies ist im Wesentlichen das Ergebnis der Untersuchung Sackes, die mit völliger Beherrschung der gesamten Literatur ae ist. Auch methodisch erscheint mir die Einteilung in die drei Entwicklungsperioden einwandsfrei. Die philosophische Abhängigkeit von den westeuropäischen Denkern ist richtig gesehen, allerdings scheint es mir, daß S. nicht genügend den Einfluß Platons hervorgehoben hat. Auch hat wohl S. nicht die nötige theologische Vorbildung, um die tief dog- matischen und spekulativen Grundlagen be: S. richtig erkennen und würdigen zu können. So hat er die Sophialehre, die immer noch nicht hinreichend geklärt ist, in ihrer Bedeutung für dıe ganze E nur gestreift. In Einzel- heiten finden sich geradezu schwere Fehler. behauptet er $ 7, daß bei Chom- paor auch nicht die leiseste Spur von Mystik zu finden ist, während in Wirklich- eit das Verhältnis von Glauben und Wissen, der Kirchenbegriff Chomjakovs nur durch mystisches Verstehen zu erklären ist. Caadaev ist durchaus nicht einseitig römisch-katholish (S. 122); er hat in seinen letzten Lebensjahren sich vielmehr ganz von Rom abgewendet. Schon seine „Apologie“ gibt cin ganz anderes Bild von seiner VVV Die Behauptung (S. 28), daß S. im Jahre 1896 auch formell der katholischen Kirche beigetreten sei, ist nicht erwiesen. An offi- zieller Stelle ist nichts davon bekannt geworden und der beste katholische Kenner der neueren russischen Kirchengeschichte, A. Palmieri, wie auch ein Jesuit, der über S. sehr gut informiert war, haben dies in Abrede gestellt. Das Zeugnis des unierten Priesters, auf den sich d’Herbigny beruft, SE deshalb kaum ein- wandsfrei. Ganz unverständlich ist der Satz (S. 80): Dadurch, daß. er die Weihe von einem unierten Priester empfing.... Es gibt in der katholischen Kirche nur eine Weihe, die in Betracht kommen könnte, die Priesterweihe. Ich kann auch nicht zustimmen, daß es durchaus verfehlt sei (S. 81), die katholische Tendenz Solov’evs auf seine mütterliche polnische Abstammung zurückzuführen. Ich bin im Gegenteil davon überzeugt, daß seine Stellung zum Katholizismus und zu den Polen durch seine Mutter beeinflußt worden ist. Wenn S. die Geschichte von Konvertiten lesen und praktische Erfahrungen auf diesem Gebiete 5 würde, wäre sein Urteil wohl anders geworden. Für unrichtig halte ich auch Ausdruck „von dem Zusammenbruch der Ideenwelt am Ende seines Lebens“, nicht einmal von Pessimismus wird man reden dürfen. Sacke hat selbst richtig die letzte Periode als die apokalyptische, prophetische bezeichnet; S. kann tatsächlich mit den alt jüdischen und altchristlichen Apokalyptikern verglichen werden. Die Pro- pes vom nahen Weltende und vom Kommen des Messias sind aber noch ein Pessimusmus. Abgesehen von diesen Einzelheiten kann die Arbeit Sackes als ein wesentlicher Fortschritt in der Solov’evforschung bezeichnet werden. Breslau. Felix Haase.

Hildegard Schaeder: Moskau das dritte Rom. Studien zur Geschichte er politischen Theorien in der slavischen Welt. Hamburg,

Friederichsen, de Gruyters & Co. 1929. 140 S.

Es ist eine merkwürdige Tatsache, daß byzantinische Ideen nicht unmittel- bar von Konstantinopel aus nach Rußland gekommen sind, sondern auf dem Um- wege über Bulgarien und Serbien. Die alte russische Literatur Ka zahlreiche Beweise hierfür. Jetzt erhalten wir den interessanten Nachweis, auch poli- tische Ideen diesen Umweg gemacht haben. Johann I. von Bulgarien nannte sich rechtgläubiger Car und Selbstherrscher über alle Bulgaren und Romiäer, der Serbe Stephan Dulan nannte sich „Kaiser aller serbischen und griechischen Länder und der Küstenländer, Albaniens und des großen Abendlandes“. Beiden wird der Plan zugeschrieben, eine Balkanmonarchie mit der Residenz in Konstantinopel zu er- Sa Wir sehen also, daß schon vor dem Falle von Byzanz unter den slavischen Königen Ansprüche auf die politische Erbschaft auftreten. Parallel damit geht

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die Entwicklung der Lehre von der ewigen Stadt. Schon auf der Synode von Konstantinopel wird diese Stadt das Neue Rom genannt. Dieser Titel geht von den byzantinischen Chronisten in die bulgarische Literatur über: Asén Alexander, der Bulgarenfiirst ist der Car „unseres neuen Carigrad“. In Rußland erwachte das nationale Bewußtsein mit dem Ende des byzantinischen Staates und dem Unionskonzil von Florenz. Die russischen Erzählungen über diese Ereignisse gipfeln in der Tendenz: Das zweite Rom ist gefallen, weil es den rechten ortho- doxen Glauben verlassen hat. In Rußland lebt dieser wahre Glaube wieder auf, es gibt nur eine wahre orthodoxe Kirche auf Erden, die russische. Der Metro- polit Zosima (1491/94), erklärte Moskau als die neue Konstantinstadt.

Um dieselbe Zeit beginnen die Moskauer Fürsten sich Caren zu nennen. Eine neue geistliche Literatur, besonders die Schule des Pafnutij von Borovsk, spricht klar den Gedanken aus, daß den russischen Caren das Reich von Gott ge- geben ist. Der Chronograph von 1513 spricht besonders scharf den Gedanken aus, daß nach dem Ende der christlichen Kaiserstadt Konstantinopel die Mission auf das neue Rußland übergegangen ist: „Unser russisches Land . . . wächst und ist jung und wird erhöht.“ Dieser Chronist hat als Vorlage die bulgarische Ober- setzung der Chronik des Konstantin Manasses benutzt. Philoteus von Pskov schreibt an Munechin: „Zwei Rome sind gefallen, aber das dritte steht, und ein en SE es nicht geben. Und dieses dritte Rom, das ist das Neue große Ruf land.“

Das älteste russische Krönungsstatut v. J. 1498 und eine Anzahl russischer Geschichtslegenden verfolgen nur den Zweck, zu erweisen, daß im dritten Rom, in Rußland, die Gnade des heiligen Geistes aufleuchtet.“ Die „Geschichte der weißen Mitra“ behauptet sogar, daß die Kaiserkrone in alten Zeiten dem russischen Kaiser aus der Kaiserstadt geschickt worden sei, auf Geheiß des Kaisers Kon- stantin. Alle göttliche Gnade wird, wie von Rom, auch von Konstantinopel ge- nommen und dem großen Rußland gegeben werden. Gott wird den russischen Caren erheben über viele Völker. Das Land wird das lichte Rußland heißen. Von da aus ist nur ein Schritt zu dem heiligen Rußland. Fürst Kurbskij spricht von dem heiligen russischen Land, dem heiligen russischen Imperium. Mit der Gründung des russischen Patriarchates werden auch die ehemaligen kirchlichen An- sprüche Konstantinopels auf Moskau übertragen.

Als Verehrer, aber zugleich auch als Kritiker des dritten Roms tritt im 17. Jahrhundert der Kroat Juraj Križanić auf. Trotz aller Schwärmerei für die Slaven und ihre Einheit verwirft er den Anspruch Rußlands, sich als das dritte Rom zu bezeichnen. Nach den Nikonschen Reformen lebten die Ideen von dem dem heiligen Rußland anvertrauten Pfunde nur noch im Kreise der Altgläubigen weiter, die Neuordnung der russischen Kirchenverwaltung und die Absetzung des Patriarchen durch Peter I. machten der geistlichen Macht ein Ende. Die Herrschaft des dritten Roms war dem kirchenfeindlichen Militärstaat gewichen. Nur noch ein- mal erscheint die Lehre von Moskau aus dem dritten Rom bei K. Leont’ev (1881/91). (Das ist nicht richtig, vgl. VI. Solov’ev.)

Auch wenn man berücksichtigt, daß die Lehre von Moskau als dem dritten Rom schon von mehreren russischen Gelehrten bearbeitet worden ist, wird man anerkennen müssen, daß es sich hier um eine wertvolle, reife Gelehrtenarbeit handelt. Sch. ist allen auftauchenden Fragen mit größter Gewissenhaftigkeit nach- gegangen; die ausführliche Wiedergabe der russischen Erzählungen über das Konzil von Florenz und die Darstellung des Lebens und des Wirkens KriZaniés ehören str enommen nicht zum Thema. Die Beurteilung erscheint mir fast dev ich wohl begründet und einwandfrei. Nur in einigen Punkten bin ich anderer Meinung. Den Bericht des Syropulos über die Bestechung des Markos Eugenikos hält S. für . „obwohl sie selbst zugibt, daß S. stark parteiisch war. S. 40 hält sie die Nachricht, daß Rußland schon früher vom Papste die Königskrone erbeten habe, für eine Fiktion. Vielleicht bezieht sich aber der Be- richt auf die Vorte des Legaten des Papstes Innocenz III. an den Großfürsten Roman: „Der Papst, der die Fürsten von Bulgarien, Armenien und Böhmen zu Königen erhoben hat, kann und vird auch dich mit der Königskrone schmücken.“ Zu Herberstein wäre zu bemerken, daß er in geschichtlichen Dingen nicht zuver-

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eg ist. Auch Herders Beurteilung der Slaven hätte cine kritische Stellungnahme estordert.

Sch. besitzt eine ganz außerordentliche Belesenheit. Wenn ich auch nicht be- zweifle, daß sie die in dem umfangreichen Quellen- und Literaturverzeichnis an- ührten Bücher und Aufsätze sämtlich gelesen hat, so möchte ich doch meine Be- egen eine solche umfangreiche Angabe der Literatur nicht unterdrücken. Es werden hier Bücher genannt, die mit dem Thema in gar keiner oder nur sehr loser Beziehung stehen. Ich möchte nur nennen Burckhardt, Die Kultur der Re- naissance in Italien, Burdach, Vom Mittelalter zur Reformation, Döllinger, Der Weissagungsglaube... Duhr, Geschichte der deutschen Jesuiten... Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, und viele andere. Um so auffallender ist das Fehlen der Werke von Strahl, Hergenröther, Palmieri, Michel u. a. Die von diesen ver- faßten Werke über Byzanz und Rußland bringen zwar nichts Neues zu dem von $. behandelten Thema, stehen aber doch in engerem Zusammenhang zu diesem als viele der von S. angeführten Bücher. Auch die Angabe von Literaturgeschichten wäre eher angebracht gewesen. Selbstverständlich können diese „Schönheitsfehler“ die verdienstliche Arbeit Schaeders in keiner Weise beeinträchtigen. Ob übrigens das Lexikonformat der „Osteuropäischen Studien“ bei den Lesern Beifall finden wird, möchte ich bezweifeln. Breslau. Felix Haase.

Prof. Dr. J. Miréuk: Tolstoj und Skovoroda, zwei nationale Typen. (Eine geistesgeschichtliche Parallele.) Sonderabdruck aus „Abhandlungen des Ukrainischen Wissenschaftlichen Insti-

tutes. Berlin, II. Bd., 1929, S. 24—51.

„Ohne die Größe und den Vert der beiden Individualitäten in künstlerischer und philosophischer Hinsicht abzuschätzen und zu vergleichen, ohne die Positionen der beiden Denker einer Kritik zu unterziehen“, will sich der Verfasser ledig- lich darauf beschränken, „die vermeintliche äußerliche Ahnlichkeit und die innere Verschiedenheit der psychischen Struktur der beiden Typen darzustellen“ (S. 51). Mit Benutzung einer ziemlich großen Literatur, unter welcher wir aber die sehr lehrreichen kritischen Bemerkungen A. Potebnias über Tolstoj (Voprosy teoriji i psichologiji tvordestva V. S. 268 ff.) nicht finden, kommt der vert. zu folgenden Ergebnissen: Tolstoj und Skovoroda sind beide Wahrheitssucher. Der russische Philosoph ist radikaler Idealist, Revolutionär, beinahe Nihilist, dabei subjektiv, einseitig orthodox und intolerant, Skovoroda konservativ, real denkend, mit offenem Blick für Geschichte und Tradition, dabei allumfassend, nicht engherzig, Gegner jedweden Aberglaubens. Bei der Umsetzung der Theorie in die Praxis ist der ukrainische Denker unübertroffen, während Tolstoj sich auf Kompromisse einlassen muß. Die Philosophie des Fatalismus, der Determinismus des Willens und infolgedessen der Pessimismus, das sind die Hauptzüge in dem geistigen Antlitz des großen Russen, die Erlangung des persönlichen Glückes durch den aus- gesprochenen Voluntarismus und daher die Lebensfreudigkeit charakterisieren das Denken des Ukrainers Skovoroda. Der eine, eine Grüblernatur par excellence, ein ewiger Zweifler, der andere das Bild der göttlichen Ruhe und Ausgeglichen- heit“ (S. 50). Auf dem Gebiete der Moralphilosophie wird auch der große Gegen- satz zwischen dem russischen und dem ukrainischen Denker festgestellt. „Die Ethik Tolstojs basiert auf Religion‘ und führt zu einem utopistischen Altruismus, welcher die Rechte und das Glück des Individuums vernachlässigt und nur das einzige Ziel, das „Reich Gottes auf Erden“ vor Augen hat. „Skovorodas persönliches Glück, seine enge Beziehung zu antiken Mustern, besonders zu Epikur, die erkenntnis- theoretische Begründung seiner Ethik unabhängig von der Religion, stehen in krassem Gegensatz zur ultraradikalen Lehre Tolstojs. . . Die Pädagogik des russischen Reformators zeichnet sich durch denselben Radikalismus ind dieselbe Weltfremdheit aus, obzwar sie im Grunde genommen einen gesunden Kern hat. Die Erziehungslehre des ukrainischen Philosophen ist entsprechend seiner ganzen Geistesrichtung auf dem Boden der Wirklichkeit aufgebaut. Das Verhältnis zur Wissenschaft im allgemeinen und zum westeuropäischen Denken im besonderen ist bei beiden Philosophen grundverschieden“ (S. 51).

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Bei aller Klarheit der Darlegung ist cs noch nicht ganz erwiesen, daß alle diese Verschiedenheiten und Gegensätze in den Ansichten der beiden Denker als typisch für beide hier in Betracht kommenden Nationen angeschen werden müssen. Einige Zitate aus den Werken der russischen Verfasser, Jie als Zeugnisse für den „national-russischen Charakter der ganzen Persönlichkeit Tolstojs“ (S. 25) ange- führt werden, verlieren ihre Beweiskraft, wenn man sich nur daran erinnert, daß das Wort „russisch“ bei den russischen Autoren in ganz anderem Sinne ge- braucht wird, und daß von ihnen auch die Ukrainer als „Russen“ bezeichnet werden. Dasselbe gilt auch von A. Brückner.

Das Ganze gibt uns eine klare Obersicht der Grundgedanken beider Philo- sophen und zwar in einer Zusammenstellung, welche ihre Kritik und die noch nicht durchgeführte Wertschätzung fördern kann. Die Literatur über Tolstoj und Skovoroda hat durch diese synthetische Arbeit eine sehr wünschenswerte Er- ganzung erhalten. K. Ce di o vy.

Joseph Strzygowski: Die Altslavische Kunst. Ein Versuch ihres Nachweises. Augsburg 1929. Verlag Dr. Benno Filser. 296 Seiten.

Das vorliegende Buch besteht aus einer Reihe von Aufsätzen des Autors, die teilweise bereits erschienen sind und hier eine erweiterte Bearbeitung erfahren

Den Kern der Untersuchung bildet der Versuch, ein selbständiges Kunst- schaffen bei den Kroaten nachzuweisen, woran sich Betrachtungen über ein selb- ständiges Kunstschaffen bei den Ost- und Westslaven und über die Vermittler- rolle von Nord- und Osteuropa in diesem Prozeß anschließen. l

Gegen die humanistische Auffassung der historischen Schulen tritt S. gleich in der Einleitung mit aller Entschiedenheit auf. S. lehnt vor allem die Be- deutung der Mittelmeerkunst für die Entstehung der von ihm neu entdeckten slavishen Kunst ab. Weder Rom noch Byzanz ist für die Formung der Kunst bei den Süd-, West- und Ostslaven von irgendeiner Bedeutung gewesen sondern der slavishe Boden hat unabhängig von diesen universalen Mächten seine eigene urwüchsige Kunst besessen.

Dem Nachweis einer selbständigen, also in erster Linie vorbyzantinischen und vorromanischen slavischen Kunst ist dieses Werk gewidmet, das als eine Art von programmatischer Kampfschrift gegen alle bisherigen Forschungsresultate der historish wertenden Kunstgeschichte aufzufassen ist.

Der Nachweis wird vor allem auf zwei Gebieten geführt: auf dem der Architektur und der Ornamentik. Zu den Hauptproblemen gehören: 1. der Holzbau und die Entstehung der Kuppel auf einem quadratischen Grundriß, 2. der Rundbau, 3. die Dekoration, vor allem das Bandgeflecht.

Wir können hier nur einige Hauptbeispiele heranziehen und sie auf ihre Haltbarkeit hin prüfen, da sih um diese Hauptprobleme alles dreht und von ihrer Beweisbarkeit das Schicksal der hier neu entdeckten slavischen Kunst ab- hängig ist.

1. Das Problem der Holzkirchenbaukunst bei den Slaven.

Der Holzbau im Blockverband ist für die Ostslaven charakteristisch, wobei ein quadratischer Grundriß mit oder ohne Mittelstützen, auf dem eine Kuppel rubt, hier am a e auftritt. In ihm erblickt S. nicht den Einfluß der byzantinischen Kuppelkirche, sondern den Ausgangspunkt bildet hier der alt- slavische heidnische Holztempel resp. auch der nordische Holzbau, der in Nor- wegen in den Stabwerkkirchen vertreten ist. Nach der Auffassung von S. geht dieser Holzbau, dessen Oberreste wir in den ukrainischen Kirchen des 17. bis 18. Jahrhunderts vorfinden, auf den altslavischen Holztempel, den Schuchhard neulich in Arcona ausgegraben hat, zurück. Auch das Quadrat mit Mittelstützen, das in Armenien und den Mittelmeergebieten (Bagaran, Rusapha, Mysmyeh) auf- tritt, geht auf den Holzbau zurück, der sich sowohl in Nordeuropa als auch im Iran (Feuertempel) nachweisen läßt.

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Nun betrachten wir den Ausgangspunkt dieser altslawischen Baukunst, den Tempel in Arcona. Weder die Nen noch die Beschreibung bei Sexo Grammaticus geben uns eine Vorstellung vom Aufbau des Tempels. ir wissen nur, wie der Grundriß beschaffen war: ein Quadrat mit vier Innenstützen. Ke e stellt jedoch Schuchhard selbst fest. Der Tempel ist erst nach der ischen Eroberung vom Jahre 1186 errichtet worden (vgl. K. Schuchhard: Arcona, Rethra, Vineta, Berlin 1926, S. 20: „Die Dänen hatten ja schon 1136 unter Erik Arcona zerstört und die Eroberung im Jahre 1168 traf also auf einen ziemlich neuen Tempel.“). Wir haben es folglich mit einem Bau zu tun, der im 12. Jahrhundert entstanden ist, und aus dem wir also unmöglich Bauten mit Innenstützen und einer Kuppel, die im 6. Jahrhundert im Mittelmeerkreis auf- treten und dann in die byzantinische Kunst übergegangen sind (Bauten mit Innen- stützen begegnen wir in der römischen Kunst z. B. in Trier, dann in Zeich- nungen bei Bramantino), erklären können. $. merkt selbst nicht, wie er sich in Widersprüche verwickelt und seine Hypothesen selbst zu Fall brin Auf diese Weise muß dieses Beispiel, das in der Beweisführung von S. die Rolle eines Kron- zeugen übernimmt, gänzlich ausscheiden und der altslavische Tempel darf nicht als Ahne der osteuropäischen Holzkirchen des 17. bis 18. Jahrhunderts aufgefaßt werden. Eine jede weitere Beweisführung erübrigt sich hier. Zugleich fällt auch die Hypothese von irgendeiner Beeinflussung der kroatischen Steinarchitektur durch die norwegischen Stabkirchen. Auch hier sind die Beispiele unglücklich gewählt. Eine norwegische Zwölfmastenkirche in Borgund wird mit der Anlage in Gradina bei Salona Wei ers Abgesehen von allen historischen Widersprüchen, wie kann ein Bau, der früher entstanden ist (Gradina) durch Bauten, die später entstanden sind (Borgund) beeinflußt worden sein? Und übrigens ist Gradina ein Adhteck ın der Säulendisposition mit antikem Charakter, während Borgund überhaupt keine zentrale, sondern eine ausgesprochene Langhauskirche darstellt. Für den Einfluß des Nordens auf die dalmatinischen (kroatischen) Kreuzkirchen, z. B. die Kirchen in Nona (hl. Kreuz- und Nikolauskirche), sollen finnische Kreuzkuppel- kirchen sprechen (vgl. S. 188). Der Wunsch, die Priorität einer nordischen Holz- baukunst gegenüber der mittelmeerländischen Stein- und Ziegelbaukunst fest- zustellen, ist bei S. so groß, daß er alle Beweise außer acht läßt, um auch die zeitliche Priorität dieser Holzbauten im Norden festzustellen. Er zeigt nur Bei- spiele aus dem 17. und 18. Jahrhundert aus Finnland z. B., und sucht aus einer bloßen, ganz unbewiesenen Voraussetzung, daß eine Holzbaukunst in Nord- curopa bereits in heidnischer Zeit bestanden hat, aus dieser die dalmatinischen Bauten des 8. und 9. Jahrhunderts genetisch zu erklären. Daß sich diese Form der kreuzförmigen Anlagen in Dalmatien an die mittelmeerländishe Kunst (römische Grabdenkmäler [vgl. Bramantino: Le rovine di Roma, Taf. XXXII], altchristliche und byzantinische Bauten [Galla Placidia]), organisch anschließt und die letzte ihre historische und chronologische Voraussetzung bildet übersieht S. ganz, wahrscheinlich, weil es das nächstliegendste ist. Dieselbe zwangsmäßige Vor- stellung beherrscht seine Ableitung der dalmatinischen Rundbauten mit (Spalato Dreifaltigkeitskirche, Baptisterium und S. Orsola in Zara) von Holz- kirchen oder von Bauten, die viel später im Norden entstanden sind. Als Be- weise gelten wiederum Bauten, die um 500 oder 800 Jahre später im Norden ent- standen sind, z. B. die Achteckkirche in Treppeln (Brandenburg) 1670 oder die gotische Kirche in Ludorf in Mecklenburg 1846. Auch diese Kirchen sollen auf altslavische Uberlieferungen zurückgehen, obwohl jede Beweisführung ebenso wie bei der Marienkirche auf dem Harlungerberge in Brandenburg (die einen aus- gesprochen romanischen Übergangsbau bildet) fehlt. Daß die dalmatinischen Bauten durch chronologisch erst nach ihnen entstandene Bauten nicht erklärt werden können, ist klar, ebenso wie es klar sein muß, daß die zeitlich älteren und formal ihnen ähnlichen römischen und altchristlichen Bauten ihre Vorbilder sind, wie z. B. die an die Minerva Medica sich anschließenden Rundbauten, die wir aus späteren Zeichnungen kennen, wie z. B. das römische Hypogeum bei Serlio Opere di architettura nach Rivoira Le Origini del architettura Lombarda Bd. I Fig. 114 oder das Sepolcro dei Calventii im Cod. Vat. 8480 bei Rivoira Archit. Romana S. 229.

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Dasselbe gilt auch von den lechischen frühromanischen Bauten, die S. von der ,,altslavischen“ Quadratform ableitet. Wir haben bereits die Unhaltbarkeit der Hypothese von dem quadratischen Ursprung einer altslavischen zeitlich vor- romanischen Tempelform erwiesen (Arcona 12. Jahrh.). Es kommt aber noch dazu, daß die ischen Bauten weder vier Stützen noch eine Kuppel besitzen. Und vor allem sind sie längsgerichtete axiale, durch eine Apsis und ein Dach betonte Langhauskirchen (Typus II—V nach Lehner) und besitzen ausgesprochene romanische Formen. Man kann auch nicht die Form des Grundrisses, wie sie im romanischen Bau aus Vinoves auftritt, mit der Holzbaukirche von Velké Karlovice aus dem 17. Jahrhundert in Zusammenhang bringen, weil das wiederum ein circulus vitiosus wäre wie bei den oben erwähnten Beispielen. Es steht nicht fest, daß sich diese Form in der Holzarchitektur der vorromanischen Zeit erhalten und daß die Kirche in Velké Karlovice diese alte Form bewahrt hat. Vielmehr muß bei der letzten mit einem starken Einfluß der Steinarchitektur gerechnet werden. Nichts kann uns darüber besser belehren als die Scheidung in Holzkirchen mit basilikalen Tendenzen (Vesteuropa) und Holzkirchen mit zentralen Kuppelanlagen (Osteuropa). Hier hat sich die Langhauskirche, dort die Kuppelarchitektur stärker durchgesetzt, obwohl wir in der Barockzeit auch im Vesten zentralen Stein- und Holzkirchenanlagen begegnen, weil auch die monumentale barocke Stein- architektur sich zentralen Bauaufgaben zugewendet hat. (Ausführlich behandelt diese Fragen V. Birnbaum, „Novy nazor na potatky kfest’anske česke architek- tury“, Niederlüv Sbornik 1925, und V. Zaloziecky, „Gotische und barocke Holz- kirchen in den Karpathenländern, Vien 1926.)

Auch in der Donatuskirche in Zara erblickt S. eine altslavische Bauart; er sieht darin eine Form, die im nordischen Vehrturm vorgebildet war und sich auf altslavische Traditionen zurückführen läßt. Aber auch hier fehlen die Voraus- setzungen für eine solche Annahme sowohl in zeitlicher als auch in baukünst- lerischer Beziehung. S. übersieht wiederum die zeitliche Priorität der Mittel- meergebiete, welche die Form eines Rundbaus mit Umgang in folgerichtig ver- laufender Entwicklung hervorgebracht haben. Die Anlage in Zara kann am ehesten von San Vitale in Ravenna und ihr verwandten Anlagen abgeleitet werden. Dafür sprechen ähnliche Baumotive wie z. B. der Umgang, die Emporen, die vorspringenden Apsiden, der quergestellte Nartex und die Mauer- gliederung durch Blendarkaden. Der Unterschied zu San Vitale besteht in der viel massiveren, gedrungeneren Formensprache, die bereits auf neuere romanische Tendenzen schließen läßt. Da wir Bauten wie San Vitale in Ravenna vor ihrer Entstehung in Nordeuropa nicht vorfinden, kann eine andere Ableitung von S. Donato nicht in Erwägung gezogen werden.

Auch die Trichternischen, die S. an der hl. Kreuzkirche in Nona konstatiert, gehören seiner Auffassung nach zur nationalen Eigenart der kroatischen Archi- tektur. Daß dies nicht der Fall sein kann, beweisen die Beispiele der römischen und altchristlichen Kirchen (San Giovanni in Fonte in Neapel, San Vitale in Ravenna, Sta Fosca in Torcello usw.); sie finden auch im Osten Verbreitung, von der altchristlichen Architektur gehen sie in die romanische über (vgl. San Ambroggio, San Lorenzo in Mailand und viele andere).

Und zum Schluß noch über das Völben. S. behauptet, die Kroaten hätten 200 Jahre früher als die Langobarden gewölbt. Beweise für diese Behauptung werden nicht gebracht, weil sie auch nicht erbracht werden können. Vor allem müßte aber statt des ziemlich fluktuierenden völkischen Begriffes Kroaten und Langobarden der Begriff: Lombardei und Dalmatien belassen werden, weil die be- harrenden (stationär- historischen) Kräfte, um mit den von S. geprägten Begriffen, die sich aber in diesem Fall gegen ihn selbst wenden, zu operieren, hier primär einge wirkt haben müssen. Beide Provinzen gehören auf das engste zum römi- schen (west- und 6:trömisch- byzantinischen) Kreis. Es kann nur die Frage ge- stellt werden, welcher Kreis sich im frühen Mittelalter enger an das spätantıke Erbe angeschlossen hat. Daß es die Lombardei war, wird wohl kaum jemand be- zweifeln. Von diesem Standpunkt betrachtet müssen die Probleme der lombar- dischen Wölbungskunst entwicklungsgeschichtlich wichtiger sein als die peri- pherischer gelegenen dalmatinischen. Und noch ein allgemeinen Trugschluß. Zur

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Bekräftigung der slavishen Herkunft der dalmatinischen Architektur werden nordische (skandinavische) Beipiele 5 Die Kroaten kamen nach 8. aus diesem Norden und brachten diese Formen nach dem Süden. Aber warum werden Bauten nordgermanischer Völker zur Stützung einer davischen Hypothese der kroatischen Baukunst he en? Es ist eine Sackgasse voller Wider- sprüche, in die sich $. scheinbar Ët begibt.

Ein Beispiel: ornamentierte Platten mit slavischen Fürstennamen (latei- nische Inschriften) werden als slavisches Kunstgut bezeichnet. So z. B. der so- E Pozzo des Viteslav. Ahnlich ornamentierte Pozzos besitzen wir in Oberitalien aus dem 8, bis 9. Jahrhundert (vgl. Ongania Raccolta delle Vere da Pozzo in Venezia). Der Stil, der uns hier entgegentritt, ist der enannte langobardische, der die Erbschaft der Spätantike und des altchristlichen Stils an- getreten hat: als Hauptmotiv finden wir das Flechtband und eine Reihe von christlichen symbolischen Motiven (Tiere, Kreuze, Lebensbäume, Palmetten usw.). Die Kunstabsicht ist auf die Fläche eingestellt, die bis zum Sieg der romanischen Kunst hier vorherrschend ist als Kontinuierung der letzten Phase der spätantiken Kunst (vor allem Ravenna ist hier von Bedeutung als eine der letzten Etappen dieser Stilentwicklung). Dieser ornamentale Stil, der in Dalmatien später als in Oberitalien auftritt, wird von S. ebenfalls als altslavisches Kunstgut bezeichnet, wobei als Voraussetzung die Ornamentik des Osebergschiffes in erster Linie in Frage käme. S. setzt sich mit dieser Behauptung wiederum über alle zeitlichen Voraussetzungen hinweg. Die Ornamentik Grebe rgschiffes fällt ins 9. Jahr- hundert. Venn wir eine Beeinfl der altkroatischen Ornamentik durch die des Osebergschiffes annehmen, so muß sich diese Beeinflussung ipso facto auch auf die ganze enannte langobardische Ornamentik erstrecken, dieselbe cine stilistisch ganz homogene Gruppe mit der altkroatischen bildet. Diese Be- einflussung setzt also voraus, daß die altkroatische und die langobardische Orna- mentik später entstanden ist als die des Osebergschiffes. Ein viel früheres, be- reits im 7. Jahrhundert nachweisbares Auftreten der sogenannten langobardischen Ornamentik beweist eindeutig die Unmöglichkeit ihrer Ableitung von der nordischen Ornamentik des Osebergschiffes. Dazu kommen noch zwei Faktoren, welche gegen einen Einfluß der skandinavischen Ornamentik auf die altkroatische sprechen: 1. der Nachweis, daß die sogenannte langobardische Ornamentik aus dem spätantiken Ornamentschatz stammt, 2. eine verschiedene Art der Verwendung von ornamentalen Motiven im Süden (Mittelmeerkreis) und im Norden.

Bandgeflecht, das zu den charakteristischen Merkmalen der sogenannten langobardischen Ornamentik gehört, finden vir in allen hier auftretenden Kombi- nationen bereits in der römischen und spätrömischen Kunst. Das Motiv der Schlinge begegnet 2. B. in den römischen Mosaiken des, Theodorichpalastes in Ravenna. Geflechtsornamente (Zweiriemengeflecht) ebenfalls in römischen Mosaiken (Aquileia, Silchester, Gladiatorenmosaik in Rom, in afrikanischen Mosaiken usw.). Gesäumte Vierecknetze, ein sehr beliebtes langobardisches Motiv (vgl. Spalato Cancelli) sind in den Chorschranken von San Vitale in Ravenna vorgebildet. Netzornamente kommen an ravenatischen Kapitellen vor, vgl. San Vitale in Ravenna, auch im Osten (Kasr Ibn Wardan, Ägypten usw.). Diese Beispiele genügen, um eine motivische eg An: der sogenannten langobardi- schen SI der aus ihr hervorgegangenen dalmatinischen Ornamentik von der spätantiken zu beweisen. Aber vor allem müssen wir feststellen, daß in der Ornamentik des Osebergschiffes Motive vorkommen (es sind allerdings konstitutive Hauptmotive), die wir ganz umsonst sowohl in der altkroatischen als auch in der langobardischen Ornamentik suchen würden. Es sind dies Tiere, welche in die Kreisgeflechte zoomorph einbezogen werden und somit die ganze Ornamentik mit organischem Leben erfüllen. Die Tiere besitzen meist einen phantastischen Charakter (vgl. Wagenkasten und Schmuck des Schiffes). Diese phantastisch- verschlungene, asymmetrische irrational-organisch geführte Ornamentik des Ose- bergschiffes bilder einen Gegensatz zu der formal durchdachten, trocken natura-

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listischen, Motiv und Tier isolierenden Ornamentik des altkroatischen und laago- bardischen Dekors. Eine Beeinflussung von Norden her muß aus diesem Grunde auch entschieden abgelehnt werden. S. meint, die Kroaten wären aus dem Norden ausgewandert, bevor das nordische Ornament sih zum Tierornament entwickelt hätte. Welche Beweise werden angeführt? Eben keine es ist bloß eine Flucht ins Unbekannte, mit der für die Wissenschaft nichts gewonnen wird.

Ebenso kann der Versuch von S. als unbewiesen gelten, die skandinavische Tierornamentik aus Sibirien und China abzuleiten. Das Rolltier der Petersburger Eremitage und zahlreiche andere sibirische Funde beweisen, daß derartige nature- listische Tierdarstellungen, wie sie hier auftreten, die phantastisch zoomorphen Motive der nordgermanischen Ornamentik nicht zu beeinflussen imstande waren.

Der Versuch des Nachweises einer altslavischen Kunst mit Methoden, die S. in dem vorliegenden Buch anwendet, muß als gescheitert betrachtet werden. Kein einziger Beweis ist haltbar, alles zerrinnt in Nichts, wenn man die Fragen, die er anregt, näher prüft.

Man hat das Empfinden, daß S. sich von gewissen modernen völkisch- nationalen Vorstellungen nicht befreien kann und dieselben in die Vergangen- heit projeziert. Es ist ein Stück längst überwundener Romantik, die uns da ent- gegentritt, einer Romantik, die zu schön ist, um wahr zu sein.

Berlin. V. Zaloziecky.

Dr. Panov, Petur: Die altslavische Volks- und Kirchenmusik. Wildpark - Potsdam: Akademische Verlagsgesellschaft Athe- naion (1930). 31 S. II Taf. 4°. (= Handbuch der Musikwissen- schaft, herausgegeben von Dr. Ernst Bücken. Lieferung 38.)

Nachdem das Guido Adlersche Handbuch der Musikgeschichte, das erst kürz- lih in 2. Aufl. erschien, einen in der 2. Aufl. vermehrten Abschnitt über die russ. Kirchenmusik aus der bewährten Feder O. v. Riesemanns gebracht hat, widmet das Bückensche Werk der altslavischen Volks- und Kirchenmusik eine ganze Lieferung. Dieses Bestreben, in deutschen enzyklopädischen Werken das slawische Leben zu berücksichtigen, ist mit der größten Freude zu SEN zu- mal da die Kenner dieses Gebietes in Deutschland noch recht spärlich vertreten sind, und wir müssen Herausgeber und Verleger dankbar sein, daß sie für die Bearbeitung dieses Themas in ihrem Werk Sorge getragen haben. Besonders auch die kostspieligen Beilagen und reichen Notenbeispiele sind des Dankes wert. Die beigefügte Tafel I mic der großen „Zastavka“ und der Überschrift in „V ja?: Knigaglagolemaja Irmosy in den schönen bunten Originalfarben der Hs. ist wohl überhaupt die erste derartige Reproduktion in einem deutschen Werke. Die deutsche wissenschaftliche Literatur ist recht arm an Werken über das hier behandelte Gebiet, und die slavischen Werke sind in Deutschland so schwer zugänglich, daß man jeden Beitrag hierüber freudig begrüßen muß. Um so schmerzlicher ist es mir, daß ich die Darstellung Panovs in vielen Punkten nicht als gelungen bezeichnen kann, und man wird seiner fleißigen Arbeit da gerade diese schwierigen Arbeitsverhältnisse in Deutschland zu gute halten müssen.

Jeder Vortragende muß sich allemal zuerst darüber klar werden, wo und vor wem er spricht, denn das entscheidet im wesentlichen über das Wie und das Was seiner Darbietung; und man wird Herrn Dr. Panov den Vorwurf nicht er- sparen können, daß er diese Überlegung nicht angestellt hat. Es war seine Auf- gabe, in allgemeinverständlicher Form auf gediegener wissenschaftlicher Basis eine Darstellung der „altslavischen Volks- und Kirchenmusik“ zu geben, die ihre wesentlichsten Merkmale womöglich mit Beispielen charakterisierte, ihre Ge- schichte kurz entwickelte, über den Stand der Forschung zusammenfassend be- richtete, in allen Dingen den Weg zu eingehenderer Orientierung wiese und die große wis senschaftliche Literatur sowie bibliographische Hilfsmittel aufführte. Was aber bietet Panov? Zwei Untersuchungen, die in einer musikwissen- schaftlichen Zeitschrift am Platze gewesen wären und von denen die erste hätte betitelt werden müssen: „Die Volksmusik der Bulgaren, Serben und Russen, an phonographischen Aufnahmen des Staatlichen Phonogramm-Archivs in Berlin er-

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läutert“, die zweite: „Theorie und Praxis der russischen Krjuki-Notation.“ Was darüber hinaus in Einleitungen geboten wird, sind meist ganz unzulängliche und dazu noch oft genug unklare und unrichtig formulierte Allgemeinheiten.

Der Verf. beschränkt sich in seiner ersten Abhandlung auf die Volksmusik der Bulgaren, Russen und Serben. Er begründet dieses Verfahren gleih zu An- fang mit folgenden Worten: „Die Hauptvertreter der altslavischen Volks- und Kirchenmusik im Sinne einer stilistischen Einheit sind die Bulgaren, Russen und die Serben. Während die anderen südslavischen (!) Stämme, Kroaten, Slovenen, Böhmen (!) usw. mehr oder minder eine westliche Orientierung erfahren haben, standen diese jahrhundertelang abseits des Flusses westlicher Zivilisation, genug, um die Möglichkeit einer eigenartigen Kulturentwicklung zu schaffen. Andererseits wirkte die einheitliche Religion, Schrift und Sprache (!) als ein mächtiges Binde- glied, als Hüter und Träger der altslavischen Geisteskultur. . . .“ Um es kurz zu sagen: der orthodoxe Osten hat nach Panov allein den Anspruch, seine Volks- weisen „altslavisch“ zu nennen, während der Westen unter den Einfluß der curo- päischen Zivilisation geriet und daher nach Ansicht des Verfassers hier nicht be- rücksichtigt zu werden braucht. Einer solchen Auffassung des Begriffes „alt- slavish“ vermag ich nicht beizustimmen. Will man nämlich darunter das Gut an Volksweisen verstehen, das den Slaven eigentümlich war, als sie noch eine völkisch wenig differenzierte Einheit bildeten, so wird der orthodoxe Osten bei den starken, fremden Einflüssen von Byzanz und dem Orient kaum slavischer sein als der Westen mit seinen europäischen Einflüssen. Panov selbst zählt ja (Zeitschrift für Musik wissenschaft X, S. 166) eine Fülle fremder Einflüsse auf die Volksmusik der „Ostslaven“ (d. i. Bulgaren und Russen) auf, so daß es ihm „überhaupt fast unmöglich erscheint, nachzuweisen, wie die altslavische Musik beschaffen war“ (ebenda). Er betont ferner selbst den engen Zusammenhang dieser Volksmusik mit der Kirchenmusik, und gerade die Kirchenmusik hat nach den letzten Forschungen Preobratenskijs (in „De Musica“ II 1926) wesenclich mehr von Byzanz übernommen, als man früher geglaubt hat. Venn der Verf. meint, die kultischen Gesänge der Sonnenwendfeiern usw. hätten sich trotz des Widerstandes der Kirche aus heidnischer Zeit erhalten, so gibt es doch zunächst mal derartige Gesänge auch bei den Westslaven, und so müßte man ferner erwarten, daß Panov hier gerade viel Wert auf die Behandlung dieser Gesänge legen würde. Aber gerade einen Gesang zur Sonnenwendfeier hat er nicht behandelt, und ob die hier untersuchten Hochzeits- und Liebeslieder usw. eben zu jenen aus heidnischer Zeit erhaltenen Weisen gehören, ist doch wohl zweifelhaft. Kurz, die Umgrenzung des Gebietes ist recht unglücklich ausgefallen.

In dieser ersten Abhandlung werden nun weiter die Skalen der bulgarischen, serbischen und russischen Volksmusik behandelt und an Hand von 38 Beispielen nach Berliner Phonogrammen erläutert. Die dabei gemachten musikwissenschaft- lichen Bemerkungen verdienen auch an sich meist vollste Beachtung und nur weniges erscheint willkürlich oder schief. So bietet Panov in Beispiel 7 ein „Familienlied“:

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und bemerkt:

Dazu wird als Leiter aufgestellt:

350

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„Wenn man bedenkt, daß die Töne f und h hier eigentlich Durchgangscharakter haben und deshalb nicht ins Gewicht fallen, so ist das Ergebnis eine hal bt on os-fiinfstufige Leiter, deren Tonmaterial aus den typischen Quint-

Quartschritten e—a, d—a; d—g, c—g besteht: —..”

Offenbar meint Panov, f und h hätten Durchgangscharakter in der Skala. Aber hier kommt es doch darauf an, ob sie Durchgangscharakter im Liede haben, das aber ist nicht der Fall; in cl jedenfalls liegt h sowohl auf dem guten Taktteil im Anfang des Motivs als auch auf dem Schluf, ja, der Verf. selbst bezeichnet (S. 5 oben) die Großterz h—g als gewichtiger. So ist m. E. hier die halbtonlose Penta- tonik eine recht willkürliche Konstruktion.

Von den gebotenen Beispielen ist leider ein Teil nicht mit Text versehen, wie überhaupt den Texten wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird. Schwer enttäuscht jedoch wird man, was die Hinweise auf Hilfsmittel zur weiteren Vertief des Studiums anlangt. Innerhalb der Darstellung wird Literatur gar nicht angeführt, und in der Literaturübersicht zur Volksmusik finden wir nur mirabile dictu 4 Zeitschriftenaufsitze des Verfassers! die übrigens auch nur sehr wenige Litersturangaben enthalten. Das ist recht befremdlich. Ist denn wirklich die ge- samte Arbeitsleistung der Romantik aus der Mitte des ve enen Jahrhurderts, als etwa die Sammlungen und Arbeiten eines Kirtevskij, eines Sejn, eines Vuk usw. usw. und das auf ihnen aufgebaute neuere Standardwerk eines Sobolevskij über die Texte des großrussischen Volksliedes, die Arbeit der Evgenija Lineva über die Melodien und so vieles andere diesen 4 Aufsätzen Panovs gegenüber so ganz bedeucungslos?

Erwas besser ist es der Literatur über den russischen angen. Jedoch fehlen hier leider auch wichtigste Werke. Metallovs Azbuka d E ije, Smolenskijs meisterhafte Ausgabe der Azbuka des Mezenec, die Grundlage

r jede wissenschaftliche Arbeit über das Krjuki-System, Preobra‘enskijs Kul’tovaja muzyka v Rossii von 1924, Metallovs Oterk ist. pravosl. cerk. płnija hätten z. B. doch wohl genannt werden müssen. In diesem zweiten Abschnitt seiner Dar- t sih Panov auf den Znamennyj Rospév. Wenn man

diese Einschränkung vielleicht auch nicht von jedem Gesichtspunkt aus gutheißen kann, so wird man sie doch hinnehmen müssen. Nach einigen kurzen einleitenden Worten über das Krjuki-System in seiner Entwicklung bis zum Auftreten der 5 - Liniennotation, gibt P. eine kurze Darstellung der tonalen Beschaffenheit des osmoglasie“, die im allgem. mit der Tradition in Einklang steht. Darauf folgt auf 6 Seiten eine Wi der Krjuki-Notationskunde auf Grund von Smolenskijs „O drevnerusskich pévéeskich notacijach“ und von Razumovskijs Einleitung in den „Krug cerkovnago drevnjago znamennago pénija“ und seines „Cerkovnoe Be v Rossii“ mit Abdruck einiger Übertragungstabellen von ebendaher. Es folgt auf weiteren 6 Seiten ein Vergleich von einzelnen Gesängen nach den Krjuki des „Krug“ mit entsprechenden Berliner Phonogrammen, % Seite „Melodie und Form der Kirchengesinge“ und 5 Seiten Musterbeispiele einer Übertragung von Gesängen Krug unter Berücksichtigung der Phonogramme. Hierzu ist zunächst zu bemerken, daß, wie schon gesagt, dieser Teil ganz einfach als Untersuchung in Gestalt eines Zeitschriftenaufsatzes dem größten Interesse begegnen müßte. Als Darstellung des Znamennyj Rospév enttäuscht er aufs ärgste. Die ganze Notationskunde konnte auf die charakteristischen Merkmale des Systems be- schränkt und mit einem Hinweis auf das hier ja leicht erhältlihe und vortreff- liche Buh O. v. Riesemanns erledigt werden, und die Auseinandersetzung über Theorie und Praxis der Krjuki-Übertragung war ganz wesentlich kürzer zu be- handeln, zumal da sie, wie wir noch sehen werden, absolut anfechtbar ist. Da- gegen vermißt man aufs empfindlichste ein Eingehen auf die Übernahme des Kirchengesanges durch die Russen von Byzanz, wozu ganz wesentliches Material erst vor 4 Jahren der voriges Jahr verstorbene Antonin Viktoroviè Preobraženskij geliefert hat (De musica II). Man vermißt weiter einige Worte über die

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»

Kondakariennotation über die äußere Geschichte des Znamennyj Rospěv, über die Quellen für seine Kenntnis, über die Hirurgische Seite dieses Gesanges, über de

ype Entwicklung gespielt hat, über Chomonie, i oe pknie, und partesnoe p@nie, in musiktheoretischer Hinsicht über das säuberlich von Voznesenskij ge- sammelte und analysierte Motivmaterial und seine Bedeutung für die Modalsedc, die schon seit sehr langer Zeit weit über den tonalen Aufbau der Skalen dominiert u. a. m.

Mit ein paar Worten aber muß ich auf Panovs Untersuchung über Theorie und Praxis der Tonschrift eingehen. Diese Auseinandersetzung fußt auf folgender Methode: Verf. überträgt nach Razumovskij und nach Smolenskij den Oster- tropar: „Voskresenie christovo“ in 5-Liniennotation und setzt in gleicher Notation darüber das Phonogramm (Berliner Staatl. Phon. Archiv Nr. 22) und zieht aus dem Vergleich dieser beiden Notierungen Schlüsse. So folgert er aus Ab- weichungen, daß der Sänger oft unter gewissen Umständen die Krjuki-Notation anders sänge als die Theorie der Übertragung verlangt. Dagegen ist von vorn- herein einzuwenden, daß doch die Aufnahme des Phonogramms nur dann in diesem Sinne mit einer niedergeschriebenen Notierung verglichen werden kann, wenn diese Nonereng eben auch den Sängern bei der phonographischen Aufnahme vorgelegen hat. aber diese Sänger gerade nach der Notierung des Kru gesungen haben, ist durchaus unwahrscheinlich, da die Altgläubigen meist nach Handschriften singen. Nun weisen diese Handschriften untereinander viele Abweichungen auf, je nachdem welcher Tradition der sehr vielfältig ge- spaltenen Altgläubigen sie folgen. So fußt der Se: der vicina noch immer auf der Gestalt der Gesänge mit Chomononie aus dem XVII. Jahrh., während die übrigen die Reformen des Mezenec angenommen haben, die auch im Krug mit berücksichtigt worden sind. Und so ist denn dieser ganze Vergleich metho- disch unzulässig, wenn man aus ihm Schlüsse über die tatsächliche Auflösung der Notation ziehen will. Hier war nur möglich entweder ein verpa des gramms mit der Fassung der Vorlage, nach der die Sänger bei der phonogr. Aufnahme sangen, oder aber ein Vergleich der Notierung „Krug mit einer Aufnahme einer Aufführung des Gesanges nach dem „Krug“. Die bei der Methode Panóv’s gs ee Unterschiede können ja doch zum Teil auf Notierungs- differenzen des „Krug“ und der Vorlage des Phonogramms beruhen. Und so Bt auch Verf. hier manchen Irrtümern nicht entgangen. Zunächst konstatiert er Abweichungen hinsichtlich der Tondauer und des freien Rhythmus bei den Zeichen „skamejca“ und „čaška“. Daß hier die moderne Tonschrift schwer eine ganz

enaue Wiedergabe der russischen Kirchengesänge ermöglicht, wissen wir ja

nge, und alle Notationskunden betonen ja prinzipiell, daß die in ihnen - gebenen Übertragungen nur eine ungefähre Gültigkeit beanspruchen können. Gedanke Panöv’s aber, daß die Verlegung des Schwerpunktes auf eines der beiden Viertel sowohl bei der skamejca als auch bei der ča ška von der Tonalicät und von der Stärke der Betonung der Silbe abhängig sei, ist sehr interessant, nur müßte er an einem etwas umfangreicheren Material mit einwandfreier Methode nachgewiesen werden. Wenn Verf. aber fortfährt: „Noch schwieriger ist die positive Tonlage dieser Zeichen zu erraten, wenn die Buchstaben Schajdärows oder die Merkstriche Mesenez fehlen“ und in diesem Zusammenhang auf die Zeichenfolge ,,krjuk, Catka, skamicjca, stat’ja zakrytaja malaja, stat“ ja prostaje”

lr D #TZın? in Zeile II und HI und VI seines Beispiels eingeht,

so ist dazu zu bemerken, daß er hier die in dieser Zeichenfolge vorliegende „Popèvka“ nicht erkannt hat. Diese heißt ,mereZa polnaja“ und hat hier

folgende Auflösung: (vgl. Metaltov: Azbuka krjukovago pénija. Moskva 1999. S. 81—64). Die Übertragung, =

Panov „laut Theorie“ dafür gibt, ist nicht richtig (vgl. Mezenec: Azbuka S. und 102, sowie die Beispiele in den strok i), also kann auch sein Vergleich dieser

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„Theorie“ mit der Praxis nicht das Richtige treffen. Interessant wäre es dagegen ewesen zu untersuchen, warum beim zweiten Sema dieser poptvka aa’ alles

Ben im Phonogramm d—e gesungen wird anstatt wie sonst c—e. Sollte in den Krjuki der Singer de MereZa polnaja so zmijceju gestanden

A haben: ( Tanne ? In der Strophe V weist auch der Krug diese

Variante der „mereža“ auf (über dem Text vsemu mir u) und daß die Hand- schriften in solchen Fällen oft variieren, ist je hinlänglich bekannt. Eine mir vor- liegende Chomoniehandschrift des 17. Jahrh. notiert an dieser Stelle z. B. mit Čaška und skamejca, anstatt mit z mi jca. Noch irreführender sind die Bemerkungen auf S. 28.zur Zmijca. Die erste der Tonfolgen der „Praxis“

E ist auch der „Theorie“ sehr wohl bekannt (vgl. Mezenec: Azbuka

S. 88 und Metallov: Azbuka S. 20), und die ganze Note in Strophe IV

ist wohl sicher in der Vorlage der Sänger keine zmijca, sondern eine prostaja str&la gewesen. Ohne die Kenntnis der Vorlage, läßt sich ben über die „Praxis“ der Sänger in der deere der ihnen vorliegenden Zeichen kein Urteil fällen. Ja selbst, wenn uns die Notation der Vorlage bekannt wire, könnten wir nur die Praxis eben gerade dieser Singer charakterisieren, nicht aber die Praxis schlechthin, denn hier gibt es viele Unterschiede, ganz besonders bei den Popovcy und den Bezpopovcy. Ganz ähnlich ist es mit den folgenden Be- merkungen zu dem Stück „voskresenie tvoe“. Die hier vorliegenden Unterschiede dürften bestimmt auf die Verschiedenheit der Vorlagen zurückgehen; auch die vorhin genannte Hs. des 17. Jahrhunderts notiert hier abweichend:

be Le „url rb : Stopica s očkom, golublik borzyj, krjuk,

stopica (viermal hintereinander) vielleicht noch „einförmiger“. Warum die Zeichen m krjuk und palka „von Natur aus tonlich und

rhythmisch veränderlich“ sein sollen, bleibtein Geheimnis des Verfassers. Es ist leicht verständlich, daß die Berücksichti gung solcher „Ergebnisse der Unter- suchung über die Funktion der Zeichen und über die Beziehungen zwischen Phonogramm und“ wie hinzugefügt werden muß: einer gar nicht dazu- gebörigen „Notation“ in den am Schluß folgenden „Musterbeispielen“ manche Willkürlichkeiten zeitigen.

Ganz abgesehen von diesen methodischen Fehlern wimmelt es in dem ganzen Abschnitt von allerhand Schönheitsfehlern: Eine „Synodalkirche“ hat die alten Gesänge nicht herausgegeben, sondern der Svjat&j3ij Synod, die oberste Kirchenbehörde Rußlands, Es geht kaum an, die Staroobrjadcy als „Landbevölkerung“ zu bezeichnen. Die Originalität der ischen Kird gesänge wird S. 14 stark überschätzt, woran natürlich die romantisch-patriotische Einstellung Razumovskij’s und Smolenskij’s hauptsächlich die Schuld trägt. Preobraženskij hat hier engste Beziehungen zu Byzanz aufgewiesen, die noch nicht ausgebeutet sind. Die Stilisierung der „Krj ki“ ist ganz verunglückt. Panov hätte den Duktus des „Krug“ oder aber Metallovs (bzw. Riesemanns) wählen, oder sich den Hss. anschließen sollen; das gilt besonders von den strély und der zmijca. Befremdlich ist die Art und Weise, wie die Ge- sänge des „Krug“ zitiert werden. Beim Ostertropar: „Voskresenie christovo“ heißt es: „Krjukı Notation Band II, S. 110 Modus 7.“ Diese Seitenzählung hat Panov sich selbst zurechtgelegt; im „Krug“ ist, wie in Hss., eine Blattzählung mit durchlaufenden kirchenslavischen Zahlen-Buchstaben durchgeführt, die hätte

T’ benutzt werden sollen. Der fragliche Gesang steht auf Blatt 167r ( f 23) 353

Wenn dem Verf. eine ganze Reibe stilistischer Entgleisungen unterlaufen ist, so ist das natürlich bei einem Ausländer nicht verwunderlich. Doch manchmal ist infolge eines gewissen Strebens nach blumiger Ausdrucksweise und eines Mangels an Logik der Zusammenhang nicht ohne weiteres zu erraten. Hier ver- mißt man mitu iter die Einwirkung des Hrsg.

Im ganzen also muß leider gesagt werden, daß diese Lieferung des Bücken- schen Handbuches der Musikwissenschaft den Leser kaum befriedigen dürfte.

Breslau. E. Koschmieder.

Jachimecki, Zdzislaw: Muzyka polska. Cz. 1: Epoka Piastöw i Jagiellonów. (Warszawa: Trzaska, Ewert i Michalski) [um 1929]. 27 S. [Kopft.]. (Polska, jej dzieje i kultura. Zesz 23. 24.)

Im Doppelheft 28/24 bringt das verdienstvolle enzyklopädische Werk „Polska, jej dzieje i kultura“ den ersten Teil einer vorzüglich geschriebenen Darstellung der Musikgeschichte Polens aus der berufenen Feder des bekannten Vertreters der Musikwissenschaft a. d. Univ. Krakau, Zdzislaw Jachimecki. Diese vortreff- liche Zusammenfassung der ältesten polnischen Musikgeschichte in der Piasten- und Jagiellonen-Epoche, mit ihrer feinsinnigen Analyse einer ganzen Reihe musi- kalischer Denkmäler aus der Frühzeit polnischer Kultur, die auf der breiten Basis einer umfassenden Kenntnis der gesamten europäischen Musik und ihrer Probleme die polnische Musik in den Zusammenhang der gesamten Entwicklung einordnet, sollte in musikalisch interessierten Kreisen größte Beachtung finden. Bei aller durch den Charakter des ganzen Werkes bedingten Kürze gewährt sie mit ihren zahl- reichen Notenbeispielen und vortrefflichen Reproduktionen aus Tabulaturen usw. auch dem Unkundigen durch gewissenhaft gearbeitete Literaturnachweise in zweck- mäßiger Auswahl die Möglichkeit leichten Eindringens in dieses Gebiet und weiterer Vertiefung der Studien.

Nach einer Beleuchtung der ältesten Denkmäler liturgisch-religöser Tonkunst wird da auf die Tätigkeit und das Schaffen des Mikolaj z Radomia mit seinem noch ungefügen Kontrapunkt eingegangen, in dem noch Sekundenparallelen und ähn- liche Dinge auftreten, wie wir sie aus der zeitgenössischen Musik von Josquin des Près bis Palestrina gewöhnt sind. An Beispielen gibt Jachimecki u. a. einige Takte aus einer monodischen Komposition zu dem panegyrischen Text auf die Geburt Kazimierz’s, des 2. Sohnes Jagiellos (16. 5. 1426) „Hymnographi aciem mentis lustratae faciem...“ mit einer zweistimmigen Instrumentalbegleitung, ein inter- essantes längeres Stück aus einer dreistimmigen Instrumentalkomposition, ein Stück aus einem Credo, einem Gloria u. a. Weiter geht Jachimecki auf die leider nur trümmerhaft erhaltenen Reste polnischer Musik aus der 2. Hälfte des 15. Jahr- hunderts und auf Heinrich Fincks Krakauer Tätigkeit ein, um nach kurzer Wiirdi- gung der theoretischen und praktischen Betätigung des Sebastjan 2 Felsztyna in der 1. Hälfte des 16. Jahrh. mehr Raum den noch vor 30 Jahren unbekannten Kompositionen des begabten Mikolaj z Krakowa zu widmen, die uns in 2 Tabu- Jaturen aus der 1. Hälfte des 16. Jahrh. erhalten sind. Neben Motetten werden hier auch Tänze in den Beispielen geboten, die ältesten der polnischen Musik, die uns bekannt sind. Auch des Mikolaj 2 Chrzanowa und des Georg Liban aus Liegnitz aus dieser Zeit wird gedacht. Nach einem kurzen Seitenblick auf die Kapela Rorantystöw und die Königl. Hofkapelle in Krakau folgt eine Würdigung des imposanten Schaffens des Wacław z Szamotuł (1529—1572), und ein treffliches Literaturverzeichnis bildet den Beschluß dieses ersten Teiles.

Ohne auf die vielen Einzelheiten dieser interessanten Darstellung weiter einzugehen, möchte ich hier nur mit einigen Zeilen der musikwissenschaftlichen Analyse der „Bogurodzica“ gedenken, die Jachimecki hier vornimmt. Schon lange hat ja dieses Lied, als eines der ältesten Denkmäler der polnischen Sprache, die Aufmerksamkeit der Philologen und Musikwissenschaftler auf sich gezogen. Jagić Nehring, Pilat, Brückner u. viele andere haben es vom philologischen, Chybinski, Polinski und zuletzt Swierczek (1928) vom musikalischen Standpunkt bearbeitet, und Los’ hat in seinem Werk „Poczatki pismiennictwa polskiego“ 1922, den Stand

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der Forschung zusammenfassend mit höchst beachtenswerten eigenen Bemerkungen di lit A 848 ff.). Als älteste Teile dieses aus vielen Strophen bestehenden ee schon längst die beiden Strophen „Bogurodzica dziewica ...“ und „Twego dziela krzciciela . . .“ angesehen. Während viele Philologen der Ansicht sind, daß diese beiden ältesten Strophen einem Autor angehören, vertritt Jachimecki den Standpunkt, daß die uns erhaltene Melodie beider Strophen unmöglich von einem Komponisten stammen könne. Und in der Tat wirken die ästhetischen, Gründe, die er anführt, so überzeugend, daß man sich seinem Urteil wird anschließen müssen. Die älteste uns überkommene Abschrift des Liedes in der Hs. Nr. 1619 (v. J. 1407) der Krakauer Jag. Bibliothek dürfte in ihrer melismatisch reicheren Form der Melodie wohl kaum auch die älteste musikalische Gestalt darstellen. Die Melodie war vielmehr, wie Jachimecki annimmt, ursprünglich syllabisch so wie sie die späteren Hss. aus dem 15., 17. u. 18. Jahrh. geben. In dieser Form, so meint J, weist die erste Strophe eine meisterhafte Beherrschung der Prinzipien des Gregori- anischen Chorals durch den Komponisten auf, die sich in der symmetrischen An- ordnung der Motive, in dem geschmackvollen Wechsel der Kadenzen (Finalis, Dominante, Mediante) hinsichtlich der Eigenarten des Textes ausspricht. Der Gesamteindruck dieser ersten Strophe ist auch tatsächlich ein vollkommener. In der zweiten Strophe dagegen sei ein mechanisches Decken des an sich schon im Versmaß viel unebeneren Textes durch Motive aus der ersten Strophe, und z. T. durch neue musikalische Gedanken zu konstatieren, deren Komposition gar sehr von der Symmetrie der ersten Strophe absteche. Der Abstand sei so groß, daß die Musik beider Strophen unmöglich von ein und demselben Komponisten stammen könne. Los’, der a. a. O. den Versbau des Liedes eingehend untersucht, kommt nun, (S. 369) zu dem Schluß, daß die beiden Strophen bei der über- r nden Gemeinsamkeit so vieler Züge in der Verstechnik sicher von einem Autor und aus einer Zeit stammen. Man müßte ja sonst, so meint Los’, an- nehmen, daß in jener Zeit zwei Meister gelebt hätten, die iM Stande gewesen wären, für die damalige Zeit so kunstvolle Lieder zu bauen, und weiter, daß man es hier eben mit zwei voneinander unabhängigen Liedern zu tun habe. Gewiß wohnt diesen Folgerungen eine er innere Unwahrscheinlichkeit inne, aber einen Beweis geben sie m. E. d nicht ab. Man wird abwägen müssen. ob die musikalisch-asthetische Analyse oder die philologische Keane Gründe bei- zubringen hat. Dabei wird man freilich auch immerhin die Möglichkeit in Betracht ziehen müssen, daß mit der Frage der Autorschaft ja nicht notwendig die der Komposition identisch ist. Auf jeden Fall wird der Philologe bei der Beurteilung dieser Frage künftig nicht übersehen dürfen, daß die Musikwissenschaft schwer- wiegende Gründe geltend macht, den zweiten Teil einem anderen Komponisten zuzuschreiben als den ersten und so haben ja auch viele Philologen, u. a. Jagić, die Ansicht vertreten, der Text der 2. Strophe sei später entstanden, als der der ersten. Man wird aber über ein non liquet wohl nicht recht hinauskommen. Vielleicht spricht die Sievers’sche Schallanalyse hier mal das letzte Wort. Auf Grund der Gleichheit im Strophenbau und in der Melodie sieht Jachimecki als nächsten Teil der Bogurodzica im Verfolg ihres weiteren Anwachsens durch spätere Zutaten die 4 Strophen an: 1. Dla nas wstal zmartwych; 2. Przydat nam zdrowia; 8. Jene trudy cierpiał; 4. Adamie, ty boży kmieciu. Während der älteste und dieser zweite Teil noch ganz und gar als von der liturgischen Musik der katho- lischen Kirche abhängig erscheinen, ist im dritten Teil bereits deutlich der Einfluß der Volksmusik zu spüren, und im 4. Teil (Tam radość, tam miłość...) haben wir eine reine Volksmelodie vor uns; ja beschleunigt man das Tempo entsprechend, so erkennt man nach Jachimecki leicht ihren ee Tanzcharakter. Wenn das auch auf den ersten Blick befremdlich erscheint, so weiß Jachimecki jedoch solche Bedenken mit einem Hinweis auf das Auftreten von Tanzmelodien und Tanzrhythmen in religiösen Gesängen primitiver Völker zu zerstreuen, nachdem er eben dieselben charakteristischen Züge eines Volkstanzes auch in der Melodie des „Zoltarz Jezusow des Ladystaw 2 Gielniowa aufgewiesen hat (S. 6/7). Ich möchte mir jedoch hier den zweifelnden Einwand gestatten, daß die Fassung „Tam radość, tam miłość...“ doch der Überlieferung nach eine jüngere ist als die uns geläufige: „Była radość, była miłość...“. Diese Rhythmisierung könnte ganz gut jüngeren Datums sein. Auf jeden Fall zeigt aber die ganze Analyse J.s, wieder

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deutlich, daß die Bearbeitung aller solcher alten Denkmäler lediglich vom philo- logischen Standpunkt aus einseitig ist und daß die sachliche, hier in diesem Falle die musikalische, Seite stets weitgehender Berücksichtigung bedarf.

Breslau. Dr. E. Koschmieder.

Sembritzki, Emil: Slawen-Spuren auf deutschen Huren. Er- klärung slawisch - deutscher und litauisch - deutscher Orts- und Flurnamen, mit besonderer Berücksichtigung Berlins und seiner Umgebung. Deutung slawisch- und litauisch- deutscher Familiennamen. Berlin- Charlottenburg (ohne Jahr), Walter Göritz. 48 S.

Verf. gibt nach einer kurzen Vorbemerkung seine Deutung von zirka 1500 ala vischen und litauischen Orts- und Flurnamen, wobei gelegentlich historische Daten hinzugefügt werden. S. 44 erfolgt eine sehr spärliche Zusammenstellun deutscher Lehnwörter aus dem Slavischen, wobei nicht streng zwischen Lehn- and Fremdwörtern geschieden wird; ebenda, ganz unbegründet, ein litauisches Volks- lied und ein von ihm verfaßtes recht geschmackloses Gedicht, das gleichfalls nichts mit dem Thema zu tun hat, und schließlich als Anhang die Erklärung von zirka 800 slavischen und litauischen Familiennamen.

Wer glaubt, daß die Ortsnamenforschung, früher das Tummelfeld vieler Dilettanten, von dieser Art von „Forschern“ befreit sei, wird hier eines anderen belehrt. Obwohl Verf. anscheinend Kenntnis des Polnischen und Litauischen be- sitzt, mangelt ihm doch das für die Behandlung dieser Aufgabe nötige wissen- schaftliche Rüstzeug. Bei Überprüfung der esischen Ortsnamen ergibt sich, daß er, wie es die Wissenschaft doch verlangen muß, weder urkundliche Belege herangezogen noch die darüber vorhandene Literatur benutzt hat. Die von ihm beigefügten slavischen Namen sind meist willkürlich angenommen und urkund- lich falsch. Daher muß er, einige wenige ausgenommen, von vornherein zu falschen Deutungen kommen. Verwunderlich ist auch, um nur einiges uszu- greifen, die Erklärung von „Iser als „Eisfluß“ (kelt. Isara die Schnelle), oder wenn er „Königshütte“ als „Krola Huta“, als slavischen Ortsnamen, annimmt.

Bei allen, auch den nichtschlesischen, Ortsnamen begeht Verf. den Fehler, daß er die Suffixe überhaupt nicht beachtet. Stutzig macht ferner, daß er fast alle Ortsnamen aus Appellativen erklärt. Eine Nachprüfung der urkundlichen Belege hätte ihm sicher gezeigt, daß, wie überall, so auch hier, zirka 60% aller Ortsnamen auf Personennamen zurückgehen (trotz G. Boerner, Deutsche Geschichtsblätter, XVI, 219 ff. XVII, 251 ff.). Daher kommt er, um nur eini ispi herauszugreifen, zu so unsinnigen Erklärungen wie „Lietzegöricke“ = „zähle dic Berge“, „Ostrometzko“ = „scharfes Schwertlein“, „Zielasken“ von „zelasko“ = „Plätteisen“ () usw. Dem Verf. ist es zum Verhängnis geworden, daß er sich die Grenzen seiner Arbeit zu weit gesteckt hat. Der besonnene Ortsnamen- forscher wird immer nur ein kleines Gebiet genau beherrschen können, das er persönlich, nach urkundlichem Material und lokaler Beschaffenheit, kennt.

Breslau. Dr. K. Eistert.

A. V. Florovskij. Sostav zakonodatel’noj kommissii 1767—74 gg. Zapiski Imperatorskago Novorossijskago Universiteta istoriko - filologiceskago fakul’teta. Vypusk X. Odessa 1915. 609 Seiten.

In den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts tritt in der historischen Beurteilung der Gesetzgebenden Kommission Katharinas II. issermaßen eine Wendung ein. Die in dieser Zeit begonnenen und bis zum Jahre 1915 fortgesetzten Veröffentlichungen der Russischen Historischen Gese haben der Wissenschaft einen außerordentlich reichen Schatz an historischen Quellen zugänglich gemacht. Vor diesen Veröffentlihungen benutzte man für die Beurteilung der Kommission vor allen Dingen die „Zapiski“ von Bibikov, die Be- richte der englischen und französischen Gesandten, soweit sie durch die Veröffent-

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155 en von F. v. Raumer bekannt waren und schließlich die Werke von Masson un

Die wertvollen aber bei weitem nicht genügenden älteren Quellen werden nun durch eine Fülle neuer Angaben fast vollständig verdrängt und in der historischen Literatur so gut wie gar nicht mehr benutzt. Im Zusammenhang mit diesen Veröffentlichungen ist eine ausgedehnte Literatur über die Kommission entstanden. (Ausführliches Verzeichnis bei Florofskij. Iz istorii Ekaterininskoj zakonodatel’noj kommissii 1767 g. Zapiski Imp. Novoros. Univ. Vyp. III. Odessa 1910.) Von den neueren Arbeiten sind noch folgende zu erwähnen:

1. Bolkarev. Kul’turnye zaprosy russkago obščestva nalala carstvovnija Ekateriny II po materialam zakonodatel’noj kommissii 1767 g. Russkaja Starina. 1915. 2. P&elin. N. Ekaterininskaja kommissija o solinenii prockta novago uloZenija i sovremennoe russkoe zakonodatel’stvo. Utenyja zapiski Moskovskago Universiteta. Otdel Juriditeskij. Bd. 45. Moskau 1916 8. Plehanov. G. Kommissija ob Ulofenii. Sotinenija. Bd. XXII, Kap. VIII. Moskau-Leningrad 1922—27. 4. Titlinov. B. Prof. Gavriil Petrov, Mitropolit novgorodskij i sankepeterburgskij. Petrograd 1916 (S. 127—250). 5. Tobien. A. v. Die Livländer im ersten russischen Parlament (1767—60). Mitteilungen aus der livlindischen Geschichte. Bd. XXIII. Riga 1924—26. Knorring. Ekateriosinskaja zakonodatel’naja Kommissija 1767 goda v osveščenii inostrannych rezidentov pri russkom dvore. Sbornik statej, posrjaitennych P. N. en paca Prag 1929, und andere. Es handelt sich um eine Reihe von Spezialforschungen, die unsere Kenntnis der cigen- tümlichen Institution Katharinas wesentlich erweitert haben. Die vielen Bände des „Sbornik“ werden hier so gut wie erschöpfend durchgearbeitet. Aber auch sie erwiesen sich sehr bald als ungenügend. Man ist nämlich im Laufe der Forschung auf neue Probleme gekommen, die mit Hilfe des veröffentlichten Quellenmaterials nicht gelöst werden konnten. Die neuere Forschung stand nun vor der Aufgabe, neues Quellenmaterial beizubringen. Der Lösung dieser Auf- gabe widmete sich in neuerer Zeit der Odessaer Historiker (jetzt in Prag) A. Flo- rovskij. Schon in seiner bereits erwähnten erweiterten Studentenarbeit begnügt er sich nicht damit, das veröffentlichte Quellenmaterial zu verarbeiten, sondern ergänzt es noch durch eigene Nachforschungen in verschiedensten Archiven. Das- selbe gilt auch von seinen späteren Arbeiten wie: Deputaty Vojska Zaporo2skago v Zakonodatel’noj Kommissii 1767 g. Zapiski Odesskago ObStestva Istorii i Drevnostej. Bd. XXX. Odessa 1912 und K. 150-letiju Manifesta 14 dekabrja 1766 g. Zurnal Ministerstva justicii. Jg. 1916, Bd. 10. Dva proizvedenija Imperatricy Ekateriny II dn ak onodatel noj Kommissii 1767—74 gg. Russkij Archiv. Jg. 1917. H. 2—8. Akademija Nauk i zakonodatel’naja Kommissija 1767—74 gg. Ulenyja zapiski, osnovannja russkoj udebnoj kollegiej v Prage. Bd. I. H. II. Prag 1924. K charakteristike imperatricy Ekateriny II zako- nodatel’nicy. Sbornik russkago instituta v Prage. 1929. Dve polititeskija doktriny („Nakaz“ i Didro) Trudy IV s’ezda Russkich Akedemileskich Organixacij za icej. Bd. I. Belgrad 1929. Un légiste francais au service de la tzarine Catherine II. Revue historique de droit francais et étranger. Jg. 1924. K istorii ekonomileskich idej v Rossii v XVIII veke. Nauènye Trudy Russkago Narodnago Universiteta v Prage. Bd. I. Prag 1928. Insbesondere ist die Be- nutzung ganz neuer Quellen an seinem großen Werk Sostav Ekaterininskoj zakonodatel’noj Kommussii hervorzuheben. Eine Fülle von bisher unbekanntem archivalischem Quellenmaterial ist hier von Florovskij verarbeitet und es ist kaum eine Übertreibung, wenn man mit diesem Werk eine neue Epoche der Historio- graphie unserer Spezialfrage ansetzt. Erst nach diesem Werk wird vielleicht eine neue Gesamtdarstellung der Kommission möglich sein, wie sie seit den Arbeiten von Sergeevit (1878), Brückner (1888) und Latkin (1887) nicht gewagt wurde. Auch Florovskij t die Absicht, ein Gesamtbild der Kommission zu geben, ganz fern. Er ist vielmehr bestrebt, seinen Aufgabenkreis nach Möglichkeit ein- zuschränken. Trotzdem sein Werk unter den bisher erschienenen Arbeiten über die Kommission das umfangreichste ist, wendet er sich hier nur einzelnen Pro- blemen zu. Er verzichtet bewußt auf eine allgemeine Deutung der Ergebnisse seiner Arbeit. In dieser Eigenschaft liegt der Vorteil und zugleich der Nachteil seines Werkes beschlossen. Sein Werk ist somit nicht Selbstzweck. Es ist viel-

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MM

mehr eine sehr griindliche Vorarbeit, die eine tiefere Erfasssung des Wesens der Kommission ermöglicht.

Das Buch Florovskijs zerfällt in zwei ungleiche Teile. Der erste Teil (S. 8—218) ist der Entstehungsgeschichte des Manifests vom 14. Dezember 1766 und des mit ihm verbundenen Wahlgesetzes, der zweite dagegen (S. 219—589) dem Verlauf der Wahlen und den Veränderungen in der Zusammensetzung der Kommission gewidmet. Die Bedeutung einer solchen Untersuchung braucht nicht besonders hervor- gehoben zu werden. Von besonderer Bedeutung scheint mir dabei die Ent- stehungsgeschichte des Wahlgesetzes zu sein. Man kann wohl dieses Gesetz trotz seiner vielen Mängel zu den best ausgearbeiteten Produkten der russischen Gesetz- gebung des 18. Jahrhunderts zählen, auf das die spätere Gesetzgebung immer wieder zurückkommt. i)

Die Untersuchung Florovskijs ergibt nun, daß es mindestens 7 verschiedene Fassungen des Wahlgesetzes gibt, deren Reihenfolge er auf Grund von genausten Nachforschungen festsetzt. Zum größten Teil wurden sie entweder von Katharina selbst entworfen oder von ihr genau nachgeprüft. Es handelt sich also um ein Gesetz, das von Katharina aufs sorgfältigste vorbereitet wurde. Das Gegenteil wurde ihr aber von der bisherigen Forschung immer wieder vorgeworfen. So oft wurde es bemängelt, daß sie das große Werk der Gesetzgebung gedankenlos einer vielköpfigen Kommission anvertraut hätte, worauf auch ihr Mißerfolg zum großen Teil zurückgeführt wurde. Aus der Untersuchung Florovskijs geht nun hervor, daß diese Einwände Katharina gegenüber kaum berechtigt sind. Der legislativ- technische Grundsatz, daß ein Gesetzbuch zunächst durch einen Spezialausschuß ausgearbeitet und erst dann einer Volksvertretung vorgelegt werden muß, war Katharina zweifellos bekannt. In ihrem ersten Wahlgesetzentwurf sieht sie näm- lich die Bildung eines 5 köpfigen Ausschusses vor, der das neue Gesetzbuch auch ausarbeiten soll . Erst dieses sollte später der Kommission vorgelegt werden. Auf die Frage, warum Katharina diesen ursprünglichen Plan aufgegeben hat, geht Florovkij nicht ein. Mir scheint die Sachlage ziemlich klar zu sein. Katharina hat nämlich gegen besseres Wissen die Kommission so organisiert, wie sie zum Zweck einer produktiven gesetzgeberischen Arbeit nicht hätte schlechter organi- siert werden können. Die Gründe, die sie dazu bewogen haben, liegen natiirlich außerhalb des Werkes der Gesetzgebung, worauf hier nicht näher 1 werden kann. Ausführlicher gehe ich darauf in meinem demnächst erscheinenden Aufsatze: Zur Charakteristik der gesetzgebenden Kommission Katharinas II. von Rußland, Archiv für Kultur- und Universalgeschichte, Bd. XXI, ein. Leider hat Florovskij nicht einmal versucht, diese Gesetzesentwürfe, wenn auch nur un- gefahr, zu datieren. Die Datierung 2. B. des ersten Entwurfs hätte einen Anhalts- punkt gegeben festzustellen, wann Katharina den Gedanken gefaßt hat, eine Kom- mission zu berufen. Auf diese Weise könnte vielleicht das in meinem Aufsatze kurz gestreifte Problem gelöst werden, in welchem Zusammenhang die Kommission zu der angeblich für sie verfaßten Instruktion steht. Nach den Arbeiten von Taranovskij?) scheint es nämlich außer jedem Zweifel zu sein, daß die Kommission Katharinas ın keinem Zusammenhang zu ihrer Instruktion steht, in der eine repräsentative Körperschaft keinen Platz finder.

Auch für die Lösung eines anderen Problems findet man in dem Buche Florovskijs sehr interessante Angaben. Schon oft wurde nämlich in der Literatur darauf hingewiesen, daß die in der Kommission anwesenden Vertreter der Zentral- behörden sowie überhaupt die in die Kommission gewählten beamteten Personen sich durch äußerste Zurückhaltung auszeichneten. Dies geht so weit, daß ver- schiedene Fachvertreter, wie z. B. der Vertreter des Bergkollegiums, in die mit ihrem Ressort in Berührung stehenden Spezialausschüsse weder gewählt noch er- nannt wurden. Und nun findet man in den von Florovskijs veröffentlichten

1) Polnoe sobranie zakohov Rossijskoj Imperii. Petersburg 1880. XVIII, 13119. XIX. 13600. XXII. 15220, 15590. XXIII, 16187, usw.

2) Taranovskij. Politiéeskaja doktrina Nakaza. Sbornik statej, posvjaßlennyj Vladimirskomu-Budanovu. Kiev 1904 und andere.

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Run U ee, i ee i ee eee

Materialien eine äußerst interessante Erklärung für diese Tatsache. In dem Direktionsausschuß der Kommission wurde nämlich die Frage der Besetzung des sogenannten geistlich-bürgerlichen Ausschusses behandelt. Hier gab es eine Ge- legenheit, die Abgeordneten der Zentralbehörden, in diesem Falle den Abgeord- neten des Synods Metropolit Demetrius, zur Mitarbeit heranzuziehen. Doch hielt dies der eigentliche Leiter der Kommission Fürst Vjazemskij für überflüssig. Die Entwürfe der Ausschüsse, meinte er, kämen doch so wie so in den Direktions- ausschuß, „und der Metropolit Demetrius könne sie dann zusammen mit anderen Mitgliedern desselben nachprüfen“ (S. 74). Man brauchte offenbar die Vertreter der Behörden weder für die Arbeit in den Ausschüssen noch in der Kommission selbst. Allein der Direktionsausschuß scheint also für die legislative Tätigkeit geschaffen zu sein. Unwillkürlich wird man sich die Frage stellen müssen: Wozu sind denn die Vertreter der Zentralbehörden, wozu die Ausschüsse, wozu ist über- haupt die Kommission da, wenn die berufensten Fachvertreter zur Arbeit nicht herangezogen werden, und wenn alles vom Direktionsausschuß gemacht werden soll.

Aus Raummangel kann ich nicht auf die Frage nach der Rolle der Vertreter der Zentralbehörden eingehen, die Florovskij meines Erachtens nicht ganz richtig beantwortet. Einige dieser Abgeordneten vertraten nämlich nach F. gleichzeitig auch diejenigen Schichten der Bevölkerung, die der jeweiligen Behörde unterstellt waren (S. 73). Z. B. vertraten nach seiner Meinung der Synod, das Okonomic- kollegium usw. die Geistlichkeit, bzw. die sogenannten Okonomiebauern. Diese Auffassung, die übrigens auch Kljucevskij*) in den 80 er Jahren vertreten hat, läßt sich aus dem Wortlaut der oftiziellen Akten nicht ableiten. Und wenn einige Entwürfe diese Auffassung zu unterstützen scheinen, so ist darauf hinzuweisen, daß Katharina diese Vorschläge ihrer Mitarbeiter in der endgültigen von ihr selbst ausgearbeiteten Fassung nicht berücksichtigt hat. Die 28 Vertreter der Behörden außerdem noch eine größere Anzahl der Vertreter der höheren Bureaukratie, die von verschiedenen Adelskorporationen gewählt wurden, bildeten vielmehr eine Gruppe von Abgeordneten, auf die Katharina sich durchaus verlassen und durch die sie die Kommission beherrschen konnte. Um dieser rein politischen Funktion willen scheint eigentlich diese Gruppe von Abgeordneten berufen zu sein.

Auch in bezug auf das Ende der Kommission findet man in dem Buch von Florovskij sehr interessantes Material. Wenn Katharına den Ausbruch des russisch- türkischen Krieges als Grund ihrer Auflösung angibt, so sieht Florovskijt) darin nur einen Vorwand. Die Zahl der Abegeordneten, die in den Krieg gehen mußten, erweist sich nach den Untersuchungen von Florovskij und Lipinskij als sehr gering, so daß man jetzt noch mehr, als es bisher schon geschah, nach anderen Gründen der Auflösung suchen muß. In diesem Zusammenhang möchte ich auf einen Bericht von Chrapovickij hinweisen, wonach ein auswärtiger Krieg für Katharina als ein bewährtes Mittel gegen die lästige Volksvertretung pik Bhd „Ein Gespräch über Angelegenheiten in Frankreich“, notiert er im Januar 1788 in seinem Tagebuch.“) „Frankreich, soll Katharina gesagt haben, müsse sich an dem Krieg beteiligen, um das von dem König gemachte Versprechen, die Reichs- stände (Etats) zu berufen, zu vermeiden.“

Auf diese aus dem Buche Florofskijs herausgegriffenen Einzelheiten möchte ich mich hier beschränken. Es ist unmöglich, die Fülle neuer Erkenntnisse, die aus seinem Buche geschöpft werden können, in dieser kurzen Besprechung auch nur annähernd zu berücksichtigen. Ich habe nur Einiges hervorgehoben, was mir besonders wichtig erschien. Im Übrigen muß ich auf dieses für jeden Historiker unentbehrliche Werk verweisen. Georg Sadke.

) Kljulevskij. Litografirovannye lekcii. 1882/88. Moskau II, 42.

) Auch Lipinskij. Novyja dannyja dlja istorii ekaterininskoj kommissti o socinenii proekta novago uloZenija. Žurnal ministerstva Narod. Prosv. Jg. 1887. VI.

es > Dnevnik A. V. Chrapovickago. Herausg. v. H. Barsukov. Moskau 1901, ite 85.

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Akad. D. I. Bahalij: N istoriji Ukrajiny na socijalno-ckono- mitnomu grunti. (Abriß der Geschichte der Ukraine auf der sozialökonomischen a a I. Ukrainische Akad. d. W. Sammelband Nr. 72. in. Staatsverlag, 1928, 390 Seiten und (4). 8°.

Nach der Festigung des Räteregimes wurde in der Ukraine im Bereiche der Geschichtswissenschaft als einzige vom Staate anerkannte und im öffentlichen Bildungswesen obligate Einstellung die Theorie des historischen Materialismus ım Sinne von Marx und in der Interpretation Lenins eingeführt. Der gesamte histo- rische Prozeß sollte ausschließlich unter dem Gesichtspunkte der wirtschaftlichen Entwicklung und des Klassenkampfes behandelt werden, die Erforschung der sozialökonomischen Erscheinungen den einzigen Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses bilden. Die ukrainische Geschidheswissenschat t mußte sich diesen Forde- rungen anpassen. Anfangs verursachte dies in der ukr. Historiographie cine ge- wisse Krisis: die Gelehrten vermochten es nicht, sich auf einmal den neuen Postu- laten, welche bei vielen von ihnen den inneren Widerstand erweckt haben, an- zupassen. Die Mehrheit setzte freilich nur in den Momenten, in welchen die Verhältnisse die Arbeit überhaupt möglich machten ihre wissenschaftliche Forschungsarbeit in den schon früher auserwählten Gebieten der Geschichte fort. Aber fast bei allen bemerken wir eine ganz deutliche Neigung zum Studium ge- rade der sozialökonomischen Erscheinungen und der revolutionären Epochen. Die durch die bewegten Kriegs- und Revolutionsjahre unterbrochene Erforschung und Bearbeitung der Quellen wurde erneuert und fortgesetzt. Die ukrainischen Forscher skabtes mit Recht, daß die synthetischen Versuche im Sinne der neuen Theorie nur durch die Vorbereitungsarbeit und Umwertung der Anschauungen auf dem ganzen Gebiete der wissenschaftlichen Forschung ermöglicht werden. Wäh- rend aber die älteren Historiker, welche wissenschaftliche Verdienste hinter sich hatten und in der Fachwelt bekannt waren, keine Arbeiten allgemeinen Charakters veröffentlichten, erschien auf einmal eine Reihe neuer, bis jetzt gänz- lich unbekannter Geschichtsschreiber, die mit der Entschlossenheit der durch keine Tradition gefesselten und mit der die Fachgelehrten charakterisierenden Vorsich- tigkeit nicht belasteten Menschen voreilig die Bearbeitung der allgemeinen Leit- faden der ukrainischen Geschichte „auf dem Hintergrunde des historischen Mate- rialismus unternahmen. Sie schufen zwar an sich interessante Versuche, man vermißte aber darin die, die auf selbständiger Quellenforschung und überhaupt auf längerer Vorbereitungsarbeit beruhende Arbeiten kennzeichnende autoritative Beweiskraft. Diese Versuche blieben also, trotz der Kanonisierung durch offi- zielle Faktoren und trotz ihrer Rolle als Lehrbücher im Sinne der herrschenden, obligaten Doktrin (weshalb auch nur wenige es wagten, sie zu kriuisieren), e ec = außerhalb des Rahmens der Geschichtswissenschaft im strengen Sinne dieses

ortes.

Gerade deshalb aber erweckt unser Interesse der vom Professor an d. ehem. Charkover Univ. und Mitglied d. Ukr. Ak. d. W. D. Bahalij verfaßte „Abriß der Geschichte der Ukraine auf sozialökonomischer Grundlage“. Bahalij der 1927 das 50 jährige Jubiläum seiner wissenschaftlichen Tätigkeit gefeiert hatte, wurde

erster der älteren ukrainischen Historiker zum dezidierten Anhänger der herrschenden Doktrin und bekannte sich zum Marxismus. Im J. 1925, im II. Bande seines wertvollen „Abrisses der ukrainischen Histori ie“ kündigt Behalij eine dreibändige „Kurze Geschichte der Ukraine auf sozialökonomischer, marxistischer Grundlage“ an. Das vorliegende, im Auftrage der Ukr. Ak. d. W. erschienene Buch ist also der I. Band dieser Arbeit. Wir müssen diesem Werke eines hervorragenden Kenners und verdienstvollen Erforschers der ukrainischen Geschichte besondere Aufmerksamkeit schenken.

Der Arbeit von Prof. Bahalij geht eine umfangreiche „Historiographische Einleitung“ voraus (S. 1—124), welche in zwei Teile zerfällt, und zwar in einen kleineren unter dem Titel „Die Schule des historischen Materialismus (S. 1—19) und einen größeren über die „Ukrainische e ie (S. 20—120). Im ersten Teile gibt Verf. eine kurze Übersicht der alten historischen Schulen, ver-

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weilt etwas länger bei der Betrachtung des historischen Materialismus von K. Marx und Fr. Engels und ihrer Schule, und bestimmt „die Auf, der ukrainischen Geschichte auf dem Hin des historischen Materialismus“. Als Grund- lage soll, seiner er ag Zo keinesfalls die bis jetzt beachtete politische, sondern die sozialökonomische Seite der Geschichte, m. a. W. „die Anderung der sozial- ökonomischen Basis, und nicht des politischen Überbaus“ dienen. In den alten Standesunterschieden der ukrainischen Gesellschaft will der Verfasser „den Klassen- charakter bemerken“, er will „den Klassenkampf und die Gegensätzlichkeit der Klasseninteressen in diesen historischen i in denen sie bis jetzt un-

schen Beleuchtung lassen müssen; sonst wären sie gan, oberflichliche, un- begründete, einseitige Erklärungen zu geben, durch welche das marxistische System kompromittiert würde“ (S. 19). Er anerkennt auch die Notwendigkeit der „vorsichtigen Einstellung“ und der gerechten Wertschätzung der früheren ukr. Historiographie, welche, wie er selbst zugibt, „auch jetzt dem Historiker sowie dem Leser viel Nutzen bringen kann, freilich nach der notwendigen Korrigierung der Schlüsse, zu welchen die alten Autoren gelangen“ 5 Ganz im Einklang mit dieser weisen Erkenntnis ijs ist die folgende vorzügliche Übersicht der ukr. Historiographie vom Anfang d. 19. Jahrh. bis zur neuesten Zeit; diese Übersicht ist nders wertvoll: ihre Klarheit und Obersichtlichkeit, weiter die präzise Ausdrucksweise, der Reichtum an faktischen Daten und genauen Literaturangaben dies alles erhebt die „Einleitung“ zum Range einer wissenschaftlichen Arbeit von selbstindiger Bedeutung. inige Details sind zwar anfechtbar (z. B. die Unklarheit in der Benennung „Die Sch der polnisch- ukrainischen Historiker“ und in deren Definition, S. 44—47, dort auch die Polemik mit dem Verf. dieser Besprechung; die besonders milde und nachsichtige Beurteilung der- diese schonende Behandlung miß verstehenden und ablehnenden Verf. „marxistischer Arbeiten aus der Geschichte der Ukraine“, S. 99—106 usw.), die = diesbgl. Untersuch kann aber hier wegen Raummangels nicht gege werden. Übrigens spielen diese Einzelheiten, im Vergleih mit dem emeinen großen Werte der Übersicht selbst, keine Rolle. Der im I. Bande veröffentlichte Teil der Geschichtsdarstellung führt den all- gemeinen Titel „Die Geschichte der Ukraine-Rus in der Epoche der Natural- wirtschaft“. Wir schen hier zunächst die Geschichte des Territoriums, wobei Verf. mit der Paläolitperiode anfängt. Er hat auch persönlich vieles auf dem Gebiete der praktischen Archäologie geleistet. Als ein wahrer Schüler des bekannten ukr. Gelehrten V. Antonovy£ legt Verf. ßen Wert auf die archäologischen Studien; seine Darstellung verschiedener vorhist. Perioden in der Ukraine zeichnet sich daher durch besondere Lebendigkeit und Anschaulichkeit aus; diesen Ein- druck verstärken zahlreiche, sehr sorgfältig ausgewählte Illustationen. Sehr leben- dig ist auch die Schilderung der griechischen Kolonisation der nördlichen Schwarz- meerküste und von deren Einfluß auf die einheimische Bevölkerung. Die weiteren Kapitel sind den skyto-sarmatischen Völkern, dem Einzuge der Slaven in Ost- europa und der Ansiedlung ukrainischer Stämme Meier Weiter arbeitet Prof. Bahalij nach folgendem ma: die materielle Kuleur, die Evolution der Natural- wi t und der sozialen Verhältnisse, der „Glaube“ (das Christentum soll aus unbekannten Gründen erst im nächsten Bande berücksichtigt werden)!) der Ober- pane von der Stammes- zur Territorislorganisation und die Anfänge des Feuda- ismus. Verf. schließt aus seiner Darstellung die politische Geschichte in ihrer chronologischen Reihenfolge fast gänzlich aus, und deshalb kommt die historische Perspektive ziemlich undeutlich zum Vorschein; ein Leser, welcher die Geschichte der Ukraine zum ersten Male gerade aus dem Buche Bahalijs studieren würde, könnte schwerlich daraus einen klaren Begriff schöpfen, für welche Zeit, für welches Jahrh. dieses oder jenes Stadium der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen icklung gilt. Einige Hauptfragen der altukrainischen Geschichte werden be-

1) Dieses Kapitel wurde unter Mitarbeit des jungen Forschers A. Kovalivsky) geschrieben.

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wußt gemieden. Verf. erwähnt z. B., nur mit wenigen Worten die Frage der Berufung normannischer Fürsten („der Varjagen“) und des Ursprungs des Wortes „Ruf (S. 800), indem er auf die eingehende Bearbeitung dieser Probleme in dem entsprechenden Kapitel seines 1912 erschienenen Steed russischer Geschichte hinweist. Solche Vereinfachung ist auch vom Standpunkte der marxistischen Ge- schichtsauffassung kaum zu eg ZE es wäre notwendig, wenigstens eine An- merkung über diese in der großen speziellen Literatur auch noch jetzt viel- umstrittenen Fragen zu geben.

Den Abschluß des I. Bandes bildet die Übersicht sozialökonomischer Verhalt- nisse in der Kiever Ukraine-Rus, der Zeit bis zum 18. Jahrh., d. i. bis zur Tatareninvasion und im Galizisch-Wolhynischen Königreiche des 18.—14. Jahrh., wobei B. bei der Charakteristik der sozialen Verhältnisse im letzteren Falle die Grenzen der Existenz des Staates selbst überschreitet und auch über die Zeiten der Polenherrschaft im 15. Jahrh. berichtet. M. E. wäre aber dies letztere erst bei der Darstellung der sog. polnisch- litauischen Periode am Platze.

Bei der Obersicht des Geschichtsprozesses in der Ukraine der feudal-fürst- lichen Zeiten hatte B. mit den am besten in der russischen, ukrainischen und polnischen Historiographie erforschten Perioden zu tun. Das geschichtliche Leben dieser Zeit ist von verschiedensten Seiten sehr vollständig bearbeitet, Prof. Bahalij verfügte also über großes Material, aus welchem man wirklich gewisse synthetische Schlüsse ziehen kann. Verschiedene Streitfragen und vissenschaftliche Kontro- versen werden vom Verf., wie wir es gesehen haben, soweit sie mit dem sozial- ökonomischen Prozesse nicht eng zusammenhängen, bewußt gemieden. Im ganzen gelang es Prof. Bahalij, einen interessanten Versuch der Darstellung det Anfangsperioden ukrainischer Geschichte „auf der sozialökonomischen Grundlage“, im Sinne des ökonomischen Materialismus zu geben. Das große Material wurde meisterhaft zusammengefaßt und es wurden daraus Bilder der wirtschaftlichen und sozialen Evolution der Ukraine konstruiert, welche auch von den die marxistische Theorie ablehnenden Lesern mit Interesse verfolgt werden können. Die reich- haltigen, jedem Kapitel beigefügten Literaturangaben sowie die sehr gut aus- gewählten Abbildungen erhöhen das Interesse am Buche.

Merkwürdig ist der Umstand, daß die Arbeit Bahalijs gerade von Kreisen, für welche das Erscheinen eines Leitfadens ukrainischer Geschichte in marxistischer Auffassung besonders wünschenswert sein zollte, abgelehnt wurde. In der Zeitschrift des Charkover „Ukrainischen Institutes für Marxismus und Leninismus“, welche den Titel „Prapor marksyzmu“ (1929, I., S. 167—176) trägt wurde die Arbeit Bahalijs einer vernichtenden Kritik durch einen gewissen F. Jastrebov unterzogen; der Kritiker gelangt zu dem für Prof. Bahalij fatalen Schlusse, daß derselbe „keinesfalls für einen Marxisten, für einen proletarischen Theoretiker gehalten werden könne, welcher schonungslos alle Abweichungen vom Marxismus und Feindseligkeit gegen denselben bekämpft und, die scharfen Waffen der dialektischen Methode zielbewußt benutzend, das Wesen der Vergangenheit erschließt, wobei er die Tatsache begreift, daß der Klassenkampf die mensch- liche Gesellschaft notwendig zur Diktatur des Proletariates führt“. Was ließ aber eigentlich den strengen Kritiker unbefriedigt? Um den Charakter der Vorwürfe des jungen Adepten des Marxismus auf die Adresse des ehrbaren Professors und Mitgliedes der Akademie zu begreifen, müssen wir die Anforderungen, ve jener an den marxistischen Historiker stellt und die Kriterien, mittels deren er seine Arbeit bewertet, kennen lernen. Nach der Ansicht des Herrn Jastrebov „kann der marxistische Historiker unmöglich ein Gelehrter sein, welcher aus- schließlich die objektive Darstellung des Geschichtsprozesses dieses oder jenes Landes anstrebt, weil die Geschichte der Menschheit Geschichte des Klassenkampfes ist ... es genügt nicht, wenn ein Marxist die Existenz des Klassenkampfes in der Gesellschaft Free der marxistische Historiker ist ein Ideolog der Prole- tarierklasse, er ist nicht nur ein Theoretiker, sondern auch ein Kimpfer fiir die Interessen dieser Klasse . . einem jeden auf der marxistisch- leninistischen Grund- lage stehenden Historiker wird es zur Pflicht, nicht nur die Diktatur des Prole- tariates anzuerkennen, sondern auch in seinen Werken alle Feinde derselben schonungslos zu bekämpfen ... Solche Aufgaben stellt dem marxistischen Histo- riker unsere Zeit“ (S. 167—168). Prof. Bahalij entspricht, nach der Ansicht des

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Kritikers, diesen Anforderungen nicht. Er bewertet, erstens, in seiner Übersicht der inischen Historiographie, viel zu objektiv all das, was bis jetzt ganze Generationen von Gelehrten geleistet haben; bei der Beurteilung ihrer Arbeit „tritt er keinesfalls als Vertreter des bourgeoisiefeindlichen Proletarierlagers, sondern als Repräsentant einer neuen, objektiv der alten überlegenen Theorie auf“ & 169). Zweitens behandelt er die ganze Periode der Naturalwirtschaft in der Ukraine, ohne bei jedem Schritt den Klassenkampf zu unterstreichen, z. B. bei der Schilderung der griechischen Kolonien auf der Nordküste des Schwarzen Meeres „gibt Prof. Bahalij keine klare Analyse des Klassenkampfes in denselben“ (S. 174). Am Schluß seiner weitläufigen Belehrungen an Prof. Bahalij, wie man die Geschichte im Sinne des wirklichen Marxismus schreiben soll, gibt Herr Jastrebov unserem Gelchrten folgenden Rat: er solle „die Umarbeitung seines Abrisses auf Grund der wirklichen, ungefälschten proletarischen Theorie unter- nehmen“ (S. 176).

Wir wissen es zwar nicht, auf welche Weise Bahalij auf diesen, bei heutigen Lebensverhältnissen in der Ukraine maßgebenden Rat reagieren, ob er wirklich eine Umarbeitung unternehmen, oder aber seine bisherige Arbeit weiterführen wird; dies allein glauben wir zu wissen, daß die Kritik seiner „Geschichte“ im „Praper marksyzmu“ ziemlich deutlich die Verhältnisse charakterisiert, unter welchen heutzutage die Historiker in der Ukraine arbeiten sollen. Bei der Be- urteilung ihrer jetzt erscheinenden Werke muß man gerade diesen Umstand be- sonders stark berücksichtigen.

Berlin. D. Doroschenko.

Pylyp Klymenko: Cechy na Ukrajini.

Philipp Klymenko: Das Zunftwesen in der Ukraine. Bd. I., 1. Folge. Allukrainische Akademie der Wissenschaften. Sammelschrift der historisch-philologischen Abteilung Nr. 81. Kiev 1929. S. XC + 199 + VIII. 8°.

Prof. Klymenko ist schon seit !ängerer Zeit in der ukrainischen Historio- graphie bekannt als Verfasser einer Arbeit über die Zünfte in Litauen, Weiß-

and und in der nordwestlichen Ukraine im XVI.— XVIII. Jahrh. (Kiev 1914). Die Geschichte der Zünfte und des Zunftwesens in der Ukraine gehörte im Allge- meinen zu den vernachläßigten Gebieten der Geschichtsforschung, so daß Prof. Klymenko hier die Vorkämpferarbeit leistete. Schon nach dem Erscheinen seines Buches wurden viele sehr wichtige Aktenmaterialien über die Zünfte in der Ukraine entdeckt und zum Teil herausgegeben. Die Erforschung dieses Materials, die Systematisierung desselben und die Schaffung einer synthetischen Skizze auf dieser Grundlage dies alles wurde zu einer der nächsten Aufgaben der ukraini- schen Geschichtswissenschaft. Es ist eine erfreuliche Tatsache, daß die Lösung dieser Aufgabe gerade von Prof. Klymenko, welcher schon früher auf dem Gebiete der 3 der ukrainischen Zünfte viel gearbeitet hat, übernommen wurde.

Nach dem Plan des Verfassers soll seine Arbeit aus vier ig tise bestehen, und zwar: 1. Die Organisation der Handwerkerziinfte in der Ukraine; 2. Die Zusammensetzung und die Entwicklung der Zunfthandwerkerschaft; 8. Die sozialökonomische Entwicklung der Zunfthandwerkerschaft; 4. Die kulturelle und technische Entwicklung der Zunfthandwerkerschaft. Besondere Kapitel des 8. und 4. Teiles sollen die zünftlich-bruderschaftlihen Handwerkerorganisationen, ver- schiedene nationale (jüdische, armenische, tatarische) Handwerkerorganisationen in der Ukraine, die Verbindungen der ukrainischen Handwerkerorganisationen mit den ländischen Organisationen, und endlich das Hauptproblem des Ursprungs des Zunftwesens behandeln. Einige von diesen Fragen wurden vom Verfasser schon früher bearbeitet und er hält es für möglich, sie sofort drucken zu lassen, andere wiederum müssen mit Rücksicht auf das neuentdeckte Material revidiert und ver- vollständigt werden. Es war daher dem Verfasser unmöglich, die genetische Reihen- folge völlig einzuhalten; er mußte seiner Arbeit den Charakter einzelner abge- en pr monographischer Studien verleihen. Er begründet dies einigermaßen

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auch methodologisch; da er seiner ersten Band mit der Übersicht der letzten Periode der Existenz der Zünfte in der Ukraine (von zweiter Hälfte des XVIII. Jahrh. bis zur zweiten Hälfte des XIX. Jahrh.) eröffnet, sagt er z. B., daß dies das Bestreben nach Erfassung des Wesens und des Charakters des Ziinfte- wesens nur fördern kann, da „die letzte Periode der Existenz der ukrainischen Zünfte, welche reichhaltiges und sicheres Material aufweist, die Grundeigenschaften der Zunftorganisation besser, als die Mittelperiode, zu erklären vermag“ (S. 1). Um also die allgemeinen Schlüsse des Autors und die Vollständigkeit des Bildes der geschichtlichen Entwicklung der Zünfte beurteilen zu können, müssen wir den Abschluß des ganzen Werkes von Prof. Klymenko abwarten.

Nichtdestoweniger erweckt auch der soeben erschienene erste Band betracht - liches wissenschaftliches Interesse, hauptsächlich wegen der umfangreichen Einleitung (S. I—XC), in welcher der Verfasser die genaue Historiographie der Zünfte und der mit denselben eng verbundenen Handwerker- und Kirchenbruderschaften gibt. Über die letzteren existiert eine besonders reichhaltige Literatur aus dem Grunde, daß diese Bruderschaften im XVI.—XVII. Jahrh. im kirchlichen Kampfe zwischen der Orthodoxie und der Union eine schr große Rolle gespielt haben. Im Vergleich mit den Bruderschaften weisen die Zünfte selbst eine viel knappere Literatur auf; diesbezügliche Spezialstudien begannen ziemlich spät. Bei der Übersicht der Studien über Bruderschaften und Zünfte verbindet Prof. Klymenko jede Phase dieser Studien mit der sozialen Evolution der ukrainischen sellschaft: er konstatiert einen engen Zusammenhang zwischen dem bestimmten Charakter dieser Studien sowie den Anschauungen über das Zunftwesen und der Klassenangehörigkeit, Profession und dem Aufenthaltsorte des Autors. Wir leugnen die große Be- deutung des Klassenmomentes keinesfalls dabei müssen wir aber doch feststellen, daß der verehrte Autor manchmal die Sache zu weit treibt; er stellt zwecks Er- klärung des Erscheinens einzelner Arbeiten verschiedene Hypothesen auf, welche unhaltbar sind, da sehr oft die ganze Angelegenheit viel einfacher vor sich ging: z. B. das Erscheinen der Arbeiten Prof. Ohijenkos über die kirchlich-handwerk- schaftlichen Bruderschaften des Städtchens Brusyliv, welche in „Jahrbüchern der Katerynoslaver Archivalkommission“ 1918 veröffentlicht wurden, braucht gar nicht mittels der Dienststellung des Autors erklärt zu werden; die Sache verhielt sich nämlich so, daß ich als damaliger Redakteur der „Jahrbücher“ Prof. Ohijenko um diese Arbeit für meine Zeitschrift gebeten habe, da diese Studie dem Charakter der „Jahrbücher“ entsprach. Nichtdestoweniger gibt aber die „Einleitung“ Prof. Klymenkos die erste wissenschaftliche, erschöpfende Obersicht dieser Frage bis zu den neuesten Zeiten. Darin besteht der Vert dieser Einleitung.

Nach der Ansicht Prof. Klymenkos erschienen die Zunftorganisationen in der Ukraine erst gegen Ende des XIII. Jahrh. unter dem Einfluß deutscher Zunft - organisationen. Die Forschungen Prof. Klymenkos über die Geschichte ukrainischer Zünfte beruhen nicht nur auf dem Studium des ukrainischen Materials, sondern arch auf gründlicher Kenntnis der deutschen (sowie auch französischen, polnischen und russischen) Literatur über die Zünfte Westeuropas. Dieser Umstand wirkt sich sehr vorteilhaft in der ganzen Arbeit, und zwar in methodologischer sowie auch faktischer Hinsicht, aus. Die gewissenhafte Ausnützung des Aktenmaterials (die Geschäftsbücher der Zünfte XVI. - XIX. Jahrh., Gerichtsakte usw.), sowie die Bearbeitung des umfangreichen statistischen Materials verschaffen den Forschungen Prof. Klymenkos eine solide wissenschaftliche Grundlage. Im ersten Bande finden wir die Übersicht des Organisatiosstandes der Zünfte in der Ukraine von der Hälfte des XVIII. Jahrh. bis zum Ende des XIX. Jahrh. Die Zustände waren in verschiedenen Teilen der Ukraine verschieden. In der linksufrigen Ukraine, und zwar in dem sogenannten Hetmanslande, deklarierte die russische Regierung im Jahre 1785 die einheitliche, obligate Zunftordnung für das ganze Reich. In der rechtsufrigen Ukraine dagegen wurden die hier gültigen Formen des polnischen und litauischen Rechtes erst im Jove 1840 abgeschafft und durch die allgemein im ganzen Reiche bestehenden Rechtsnormen ersetzt. Nach der all- gemeinen Übersicht des Organisationsstandes der Zünfte (S. 8—12) illustriert der Verfasser denselben mit den Kapiteln, welche die Arbeitsorganisation in der Kiever Weberzunft, die Organisation der Lehrlingsarbeit in einigen Zünften Kievs und

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Kamjanec Podilskyjs und die Organisation der Gesellenarbeit behandeln. Als Material dazu dienen dem Autor die erhaltenen und vor kurzer Zeit entdeckten Geschäftsbücher betreffender Zünfte aus den Jahren 1764—1888. Spezielle Kapitel behandeln die Organisation des Zunftamtswesens (dieses Kapitel vom allge meinen Charakter ist besonders interessant) und das „Zunftfinanz- und Budget- wesen“. Auf Grund dieser einzelnen Erforschungen verschiedener Seiten der Zunft- ordnung gelangt der Autor zu bestimmten „Schlüssen“ (S. 160—166). Dabei ver- fährt er aber sehr vorsichtig und stellt nur eine hypothetische Behauptung auf, daß „der Genesis des Zunftwesens die Veränderung in der Handwerksproduktion der Ukraine, und zwar die Abtrennung der Familie vom Produktionskollektiv zugrunde lag. Die Hauptaufgabe der Zunftorganisation am Ende sowie auch am Anfang der Existenz derselben lag in der Verstärkung des räumlich und zum Teil auch wirtschaftlich der Familie des Meisters untergeordneten Produktionskollcktivs. In der Mittelperiode ihrer Entwicklung bestanden die Funktionen der Zunft- organisation ebenfalls in dem Schutze der Werkstätte vor den destruktiven wirt- schaftlich-differentiativen Familientendenzen“ (S. 161). Die Vorsichtigkeit des Autors ist ganz berechtigt, da die wissenschaftliche Erforschung des organisatorisch- ökonomischen Lebens der ukrainischen Zünfte und deren Produktion erst im An- fangsstadium sich befindet, und da außerdem, wie es Prof. Klymenko hervorhebt, in der sehr reichhaltigen deutschen Literatur über die Zünfte das innere Organi- sationswesen der deutschen Zünfte nur mangelhaft erforscht ist; die Aufstellung anz sicherer wissenschaftlicher Schlüsse wird aber erst durch die allseitige Er- orschung des ukrainischen Materials und durch den Vergleich desselben mit dem deutschen (da die ukrainischen Zünfte unter dem deutschen Einfluß entstanden sind) ermöglicht.

Im „Anhang“ finden wir ferner 50 Dokumente aus den Jahren 1601—1849 (merkwürdigerweise nicht in 555 Reihenfolge geordnet), und zum Ab- schluß des Buches ein sehr genau bearbeitetes „Programm der Materialiensammlung zur Geschichte des Zunftwesens in der Ukraine“ (S. I- VI).

Berlin. D. Doroschenko.

Prof. Dr. A. Petrov: Karpatoruské pomístní názvy z pol. XIX a 2 pot. XX. st. (Die karpathen-ruthenischen Flurnamen der Hälfte des XIX. und des Anfangs des XX. Jahrh.) Prag. Verlag der Cechischen Akademie der Wissenschaften und Kiinste. 1929. S. 34 + IV + 219. 8.

Dr. Petrov, ehem. Prof. a d. Petersburger Univ., ist heut der beste Kenner

der sog. Podkarpatská Rus, d. i. des westlichsten Ausläufers des ukrainischen ethno- hischen Territoriums, welches vor dem Weltkriege Ungarn angehörte und eute einen Bestandteil der Cechoslovakischen Republik bildet. In der langen Reihe sehr wertvoller Arbeiten des Verf. aus dem Bereiche der Geschichte, Geographic und Ethnographie der Podkarpatskä Rus erschien als letztes Werk das vorliegende, den Flurnamen der Karpathenukraine in der Hälfte des XIX. und am Anfang des XX. Jahrh. gewidmete Buch. Obzwar in der ukrainischen wissenschaftlichen Literatur schon seit langer Zeit die große Bedeutung der geographischen Namen für die Geschichte und Philologie anerkannt wird (als erster berührte dieses Thema Prof. M. Maksymovyé i. J. 1887), verfügten wir bis jetzt eigentlich über keine speziellen Veröffentlichungen des toponomastischen Materials; die Arbeit Petrovs ist also als erstes Werk seiner Art zu betrachten. Sie behandelt zwar, wie ersichtlich, nur einen sehr kleinen Teil des ukrainischen Territoriums, dabei kann sie aber, was die wissenschaftliche Methode und die Verwertung des Materials an- betrifft, als vorbildlich bezeichnet werden. Das vom Verf. benutzte Material ist seiner Herkunft nach nicht einheitlich. Es besteht aus den Antworten auf die von Fr. Pesty 1868 veranstaltete Enquete, weiter aus den Materialien Dr. H. Strypskyjs und seiner Enquete v. J. 1928 und endlich aus verschiedenen anderen Autzeich- nungen. Das wertvollste Material liefert Dr. Strypskyj, ein Autochthone und ver- dienstvoller Erforscher der Karpathenukraine. Bei den Aufzeichnungen wurden verschiedenartigste Orthographien benutzt; Petrov läßt dieselben in origineller

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Form, was fiir die philologischen Studien von besonderer Wichtigkeit ist. Die Veröffentlichung Petrovs umfaßt im n ungefähr 15 000 Namen, welche aus 471 Siedlungen stammen; bei der Gesam der karpathenukrainischen Sied- lungen 780 bedeutet dies 60%. Die Arbeit Petrovs wurde bereits in den Fach- kreisen sehr günstig beurteilt; einen hohen Wert schreibt ihr auch Prof. M. Kor- duba zu, welcher cbenfalls auf dem Gebiete der Erforschung der ukrainischen Toponomastik viel gearbeitet hat. Berlin. D. Doroschenko.

M. A. Aldanov: Zeitgenossen. Aus dem Russischen übertragen von R. Frhr. v. Campenhausen. Berlin, Schlieffen-Verlag 1929.

Gr. 8°. 364 Seiten.

Aldanov ist einer der bedeutendsten Schriftsteller der russischen Emigration

und ihr glänzendster Essayist. In seiner Trilogie aus der Zeit des Direktoriuins und des Konsulats hat er sich als Meister des historischen Romans und besonders des historischen Portraits erwiesen. Waren dort die Gestalten Suvorovs, Kaiser Pauls I. von übertrefflicher Lebendigkeit, so bewährt Aldanov nun seine Kunst an Modellen aus der enwart: Clemenceau, Lloyd-George, Briand, Chur- chill, Ludendorff, Stalin, Lunalarskij und (sollen wir sagen Ulrickij oder Kanne- gießer, dessen Mörder) an den einander haßverzehrt zugekehrten Antlitzen des sozialrevolutionären und des bolSevikischen Rußland.

Aldanovs Manier erinnert an einen anderen Russen, der ganz dem fran- zösischen Schrifttum zugehört, an André Levinson, in dem, o Ironie des Schick- sals und o Schicksal der Ironie, Anatole France allein fortdauert, dessen Tradition sonst beinahe und dessen kenntnisreicher, feiner Witz nirgends einen anderen Nachfolger fand. Russen? Sind Aldanov und Levinson mit ihrem funkelnden Esprit je Russen gewesen? Auch ohne sich in Bartelsschen Extremitismus zu ver- lieren, mag man es bezweifeln. Für beide war die russische Kultur auf dem Weg des Juden zur westlichen Zivilisation nur Nährboden und Durchgangsstation. (Daß Aldanov nur ein Pseudonym für Landau ist, weiß wohl jeder mit russischer Literatur nur oberflächlich Vertraute, dem deutschnationalen Verlag dürfte es sicher unbekannt geblieben sein.) Die deutsche Veröffentlichung der an originellen Einfällen reichen und von tiefster historischer, psychologischer Einsicht zeugenden „Zeitgenossen“ ist sehr zu begrüßen. Trotz der in russischen Dingen nie ver- leugneten Parteilichkeit des Autors haben wir es durchweg mit Portraitsaufnahmen zu tun, die von einer höheren Varte aus und stets mit künstlerischem Geschmack geschahen.

Die deutsche Veröffentlichung des Buches ist zu begrüßen, obwohl die vom Waschzettel in den schrillsten Tönen gepriesene Übersetzung den stilistischen Vor- zügen des Originals nicht gerecht wird und durch zahllose sachliche Irrtümer sündigt, die, weil sie sonst dem Verfasser angekreidet würden und da sie bei der Lektüre des Werks empfindlich stören, hier wenigstens in kleiner Auswahl den hoffentlich vielen Lesern zu nutz angemerkt seien. Falsche Namensschreibungen, Andrieux statt Andrieu, Deroulède statt Dérouléde, Dreyfuss statt Dreyfus, de La Barrat statt de La Barre, Duclo statt Duclos, Lakori statt Labori, Barres statt Barrés, Dechanel statt Deschanel, Aisex statt Isaacs, Biberbrook statt Beaverbrook, Northcliff statt Northcliffe, Morois statt Maurois, Tardieux statt Tardieu, Mirabeau statt Mirbeau, Jeffroy statt Geffroy, Guède statt Guesde, Liautey statt Lyautey, Leibnitz statt Leibniz, Childiz-Kiosk statt Jildiz-Kiosk, Lord Crue statt Crewe, Ernest Renand statt Renan, Admiral Bitty statt geek

Campenhausen hält den Attorney General für einen Offizier, spricht von einem Vermögen der „big five“, das „einige Milliarden“ beträgt. (Pfunde? Oder was sonst?), beklagt die Unkenntnis in „transsylvanıschen“ en) An- gelegenheiten, rühmt „vereidigte Politiker“ (des politiciens assermentés), schreibt den Titel von Huysmans Roman „Arebourg“.

Stilblüten: „Die offiziellen Berichte taten nichts wie abschwächen.“ „Nur Clemenceau, nachdem er die Berichte zur Kenntnis genommen, fand nichts.“ „Bucharins Vorstellungen gingen hinsichtlich ihrer Tiefgründlichkeit mit den- jenigen der zionistischen Philosophie nicht auseinander“, „drei Kandidaten in der

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(statt „für die“) Rolle Alexanders“, „Der Chef der deutschen Abteilung sollte sich gedanklich voll und ganz in den Oberkommandierenden der feindlichen Armee umstellen“. „Der Schuß Conradis kann nicht anders als eine sinnlose Tat be- zeichnet werden.“

Ich glaube, nach den getanen Proben kann man des Frh. v. Campenhausen Übertragung auch nur als eine sinnlose Tat bezeichnen. Deren Wiederholung, das heift Verdeutschen fremder po aoet Literatur durch einen Mann, dem französische Politiker wie Deschanel, Tardieu, englishe Größen wie Beatty, Isaacs, Crewe und französishe Schriftsteller wie Renan, Mirbeau, Maurois spanische Dörfer sind, müßte fortzeugend Böses nur gebären. Und Aldanovs Buch ist doch wahrlich, wir wiederholen es, ein gutes Werk, dem viele nachfolgen mögen.

Vien. Dr. Otto Forst- Battaglia.

Wsewolod Iwanov: „Der Buchstabe G“. Berlin, Malik- Verlag 1930. 8°. 435 Seiten.

Weralnber: Der Platz an der Sonne. Ebenda. 8°. 268 Seiten.

P. N. Krasnow: Der weiße Kittel. Stuttgart, Union Deutsche Verlagsgesellschaft. 1930. 8°. 349 Seiten.

Anatolıj Mariengof: Zyniker. Berlin, S. Fischer. 1930. 8. 173 Seiten.

Die Hochflut von Übersetzungen aus dem Russischen wird langsam, aber sicher zur Katastrophe. Neun Zehntel der dem deutschen Leser dargebotenen russischen Werke hätten ohne Schaden für die Weltliteratur im bescheideneren Bereich ihrer ursprünglichen Sprache verbleiben können. Trotzdem regnet es noch immer, aus politischen, keineswegs aus künstlerischen, nicht einmal aus rein ge- schäftlichen Motiven, russische Romane. Die Bolschewiken gehen mit dem bösen Beispiel voran und die Weißen bemühen sich, so gut oder schlecht es eben geht, die Todfeinde nachzuahmen. Und die deutschen Verleger werden zu Mitschuldigen an dieser neuen Russen-Invasion.

Vor kurzem erst habe ich ein übles Erzeugnis der „Weißen“ angeprangert, das auf ritselhaftem Wege in einen der ersten katholischen Verlage geraten ist. Der Roman des Generals Krasnow verdient noch schärfere Ablehnung als Sacharows „Nina Grigorewna“. War jenes Buch bloß ein unbeholfen-naives, aber in seinen Absichten reines Konglomerat aus von literarischen Herrschaften abge-

Stoffen, so haben wir im „Weißen Kittel“ einen grobgezimmerten, jeder ethischen oder künstlerischen Rechtfertigung entbehrenden Sensationsschmöker, fürwahr den Komparativ eines Sensationsschmoks, vor uns. Peinlich berührt uns die verlogene Lüsternheit des so fromm und penoa tuenden Autors, der die Laster der Bolschewiken mit behaglichster Austührlichkeit schildert: natürlich nur, damit wir uns dariiber entriisten, beileibe nicht, um das Publikum anzulocken. Die Fabel des Buchs, das in der Manier des seligen, unseligen „Seestern“ die glorreiche Zukunft der russischen Gegenrevolution, den Sieg des zarentreuen „Weißen Kittel“ schildert, ist abscheuliche Kolportage. Über das Deutsch dcs

bersetzers werden wir auch dadurch nicht getröstet, daß offenbar schon der Verfasser des Originals, wie aus den paar der Eleganz und des Lokalkolorits halber eingestreuten Brocken hervorgeht, miserabel französisch (,,Suretée Generale“) und polnisch („Prosce, pane“) kann.

Auf dem Weg vom Zarenadler zur noch flatternden roten Fahne begegnen wir dem Zyniker, dem resignierten Skeptiker Mariengof. Seine Geschichte ciner bürgerlichen Ehe im proletarischen Rußland steht literarisch unvergleichlich höher als das Machwerk Krasnows. Dennoch ist auch hier das Klischee stärker als die von ihm verdeckten Bilder aus trauriger Wirklichkeit. Olga: cine neue Nora, die den Tod der Hedda Gabler stirbt: die Heldin der Tragikomödie. Ihr Gatte, ihre Liebhaber, erscheinen als Episodenfiguren, um die Stufen alt- und ncu- bourgeoiser Erotik zu verkörpern, der Erotik, die sich sonderbar als Uberbleibsel aus dem Ancien-Régime inmitten der revolutionären Stimmung ausnimmt. Während die Waffen des Klassenkampfes sprechen, schweigen nicht nur die Musen,

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sondern auch Eros und Psyche und nur das wollüstige Grunzen des Sexus mag in den Pausen zwischen Gewehrsalven und Agitationsreden sich hören lassen. Um diesen Gegensatz von Liebe und Leben darzustellen, mangelt es dem Buche von Mariengof sowohl an der entschiedenen Parteinahme für die Revolution als an der für das Eros. Sein hämischer Zynismus vermag uns auch nicht den echten objektiven Realismus zu ersetzen. Es bleibt nach der Lektüre dieses anardhischen Exzentrikfilms ein schaler Geschmack, der sich alsbald verflüchtigt und dem be- freienden Nichterinnern weicht. Auch hier war die Übertragung unnötig.

Wera Inbers zum großen Teil autobiographischer Roman „Der Platz an der Sonne“ entschädigt uns für manche Schwächen in der Komposition. Da Ende, ein vom Leben ersonnenes für bolschewikische Begritte happy end, ist kein rechter Abschluß. Wozu wir mit einer Figur aus manns Metternich" be- merken wollen: „Lieber gar kein Ende, als ein Ende, das gar kein Ende ist“.) Durch die Frische und Urspriinglichkeit, durch die Anmut und kluge Resignation, mit der die Wechselfälle eines vom Umsturz aus den vorgezeichneten Bahnen ge- schleuderten Damendaseins geschildert werden. Im übrigen sind es wieder die bekannten Dinge: der Zusammenbruch, das Abblättern der Bürgerlichkeit, der Kampf mit Hunger und Klassenfeindschaft, von denen uns schon so viele Uber. läufer aus Not oder freiwilliger Gesinnung, von denen uns hunderte von Russen auf mehr oder weniger fesselnde Weise erzählt haben. Wie sehr doch diese Bücher des Erinnerns einander ähneln. Bei so verschiedenen Autoren, wie bei Mariengof und Inber, kehren z. B. zwei Motive wieder, die Feuerung mit den Resten der Bibliothek und die Gewohnheit der Bolschewiken, inmitten der ärgsten Kalamitäten sich um Denkmäler für die Heroen des Umsturzes zu sorgen. Ein anderes Motiv ist ein ewig-Russisches. Es kribbelt und krabbelt und erfüllt den Realismus mit fast symbolischer, „beißender‘ Satire: die Laus. Ein viertes: das Verlangen der neuen Männer nach den alten Damen, natürlich sofern diese jung sind... Doch bei Wera Inber ist zum Glück jenseits des Typischen noch genug Persönliches sichtbar. Ihr Roman, und mit ihm alle ihre Werke, atmet dazu eine von keiner revolutio- nären Sturmflut hinweggespülte literarische Kultur. Wir können ihn als einen willkommenen Gast im deutschen Schrifttum begrüßen, ohne ihn als einen not- wendigen zu betrachten.

Am günstigsten wird unser Urteil über Wsewolod Iwanow lauten. Der gehört wirklich in die Weltliteratur und an einen der ersten Plätze. Vielleicht haben wir in ihm neben Babel und Pilniak das größte narrative Talent des neuen Rußland zu erblicken. Ich weiß nicht, wie es um die bolschewikische Recht- gläubigkeit des Dichters bestellt ist, wage an ihr zu zweifeln; jedenfalls hat sie bei der künstlerischen Würdigung seines nur zufällig mit der Revolution verknüpften Werkes nichts zu bedeuten. Iwanow ist zweierlei: ein großer Lyriker der exoti- schen Landschaft und ein hinreißender Epiker des Kampfes. Tierische Wildheit des Asiaten und träumende Schwermut des Slaven vereinigen sich zu einer macht- vollen Individualität, die jede kollektivistische Kette sprengt. Wir haben die Mischung konträrer Eigenschaften in Iwanow wohl aus seiner Herkunft zu er- klären. Sein väterlicher Großvater war der zaristische Generalgouverneur von Turkestan Kaufmann (deutscher Abstammung), seine beiden Großmütter hatten russisches und kirgisisches Blut, der mütterliche Großvater war ein polnischer Ver- bannter adeliger Familie. Romantisch und grauenhaft verlief die Jugend des Knaben. Im russischen Asien, nahe der chinesischen Grenze. Sein Vater von des Bruders Hand. Iwanow eg vie Jahre als Artist die Welt, stürzte sich in den Strudel der Revolution und begann hernach, wie Panait Istrati, mit ungleich größerer Vehemenz, die Eindrücke seiner Wanderschaft zu erzählen. Im „Buchstaben G“ finden wir die schauerlihe Kindheit und die Ermordung des alten Iwanow geschildert. Dann Novellen aus Mittglasien unter dem Gluthauch der Revolution. Zwei davon sind hohe Meisterwerke. Die „Ehrenschuld“, in denen das Pathos der Kämpfer um ein neues Ideal den Gipfel erreicht, und die „Rückehr des Buddha“, in den Dimensionen fast schon allein einen Band füllend, mit deutlicher Abkehr von der Unrast und Bewegtheit, der die von Stiirmen un- erschütterte Ewigkeit, symbolisiert in der Statue des aus Moskau heimgebrackten Buddha, gegeniibertritt. Am schwächsten aber ist die Titelgeschichte vom „Buch-

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staben G“, die aus schwer reiflichen und nur aus politischer Absicht if- baren Gründen in die Auswahl aufgenommen wurde, eine moralische-unmoralische Propagandaangelegenheit aus und fürs rote Kriegs-Pressequartier. Wenigstens das hätte man dem reichen Sammelband ersparen Können, daß er nach dieser Un-

beträchtlichkeit den Namen führe. ien. Otto Forst- Battaglia.

Ettore Lo Gatto: Storia della letteratura russa. Vol. 1 „Dalle origini a tutto il secolo XVI“. Vol. 2 „Le origini della lette- ratura moderna“. Vol. 3 „La letteratura moderna“. 1. Roma,

Istituto per I Europa Orientale. 1928—29. (Publicazioni. Serie 1,

14, 1—8.) &.

Zehn Jahre nach der Gründung des römischen Instituto per l'Europa Orientale, dessen überraschend schnelle Aufwärtsbewegung Schritt gehalten hat mit dem Aufblühen der Slavistik in Italien, erscheint als Veröffentlichung dieses Instituts eine vielbändige Geschichte der russischen Literatur, welche alle Ver- EE gleiher Art in den westeuropäischen Ländern, in denen die Slavistik bald Hundertjahrfeiern begehen kann, in Schatten stellt. Ihr Verf., der Slavist der Universitäten Rom und Neapel, hat, von 1921 an, neben umfänglichen und wertvollen Aufsätzen in den periodischen Veröffentlichungen des Institutes, mit erstaunlicher Vielseitigkeit auch in Buchform aus Literatur- und Geistcs- geschichte Rußlands Studien veröffentlicht. Das vorliegende Werk würde vielleicht, wenn ihm auch die außerordentliche Reichhaltigkeit seines Inhalts stets eine Vorzugsstellung sichern müßte, nicht in dem Maße fesselnd und anziehend wirken, wie es tatsächlich wirkt, wenn nicht das warme persönliche Verhältnis seines Verf. zu dem Gegenstand sich im Laufe der Darstellung auf Schritt und Tritt fühlbar machte. Die feine Einfühlung in die Sache selbst, vereint mit dem echt italienischen brio des Vortrags, gestalten die Lektüre dieses Werkes zu einem asthetischen Genuß, ohne daß dabei sein Zweck, Wissen in weite Kreise zu tragen, den Verf. zu Konzessionen an den Geschmack des fachlich nicht Eingeweihten ver- leitet und den vissenschaftlichen Vert herabgedrückt hätte.

Lo G. teilt den Stoff derart ein, daß die gesamte russische Literatur sich in 2 Hauptperioden gliedert, eine alte und eine neue, die moskovitische Periode also ihrerseits in 2 Perioden auseinanderfällt: die Zeit von der Gründung des moskoviti- schen Staates bis zum Briefwechsel Ivans IV. mit Fürst Kurbskij und das 17. Jahrh., das Lo Gatto, als bereits von europäisierenden Strömungen ergriffen und erfüllt, mit zur neueren Literatur rechnet. Diese Einteilung wird vielleicht vielfach auf Ablehnung stoßen, in der Art aber, wie Verf. den ganzen geistigen Verlauf schildert, erscheint sie ganz natürlich, um so mehr, als er in der ältesten Zeit auf die geographische Ausbreitung vom Süden zum Norden als trennendes Element kein großes Gewicht legt, und auch hier schon den Hauptwert auf das Gemeinsame legt. Er geht auf diese Weise einer Behandlung der ja noch ganz im Fluß be- griffenen ultraukrainischen Frage aus dem Wege und nügt sich mit ihrer Er- wähnung. Wie aus der obigen 1 ersichtlich, ist das Werk noch nicht abge- schlossen, die moderne Literatur (Bd. 3, 1) ist erst bis zu Puškin einschließlich ge- führt, und ein weiterer Band soll den Abschluß bringen. Da diesem Band, der die gesamte Literatur bis zum Anbruch der Sovetherrschaft enthalten müßte, auch noch ein Gesamtverzeichnis der einschlägigen Literatur und ein Namensverzeichnis bei- gegeben werden soll, werden wohl noch mehrere Bande die Fortsetzung bilden. In einem kurzen Vorwort legt Lo Gatto die Gründe dafür dar, warum er der älteren und mittleren Literaturperiode einen so breiten Raum zugewiesen hat, die älteste Epoche bis zum Igorlied umfaßt 210 S., die folgende bis zum Briefwechsel Ivan IV. mit Fürst Kurbskij weitere 77 S. In Italien fehlt es zurzeit noch an irgend- einer Darstellung des geistigen Lebens im alten Rußland, bei der Vichtigkeit dieser periode für die gesamte spätere Entwicklung, namentlich in Hinsicht auf die miind- liche Überlieferung des alten Sagenschatzes, durfte deshalb die vorliegende Lite- raturgeschichte die älteste Zeit nicht so flüchtig behandeln, wie das z. B. bei

Brückner der Fall ist. G. bemängelt das, er hebt aber besonders hervor, daß

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Deutschland hinsichtlich guter und gediegener Literatur über das geistige Rußland in alter und neuer Zeit eine Vorzugsstellung den anderen westeuropäi Ländern gegenüber einnimmt.

Bei Darstellung der ältesten Periode holt Lo G. sehr weit aus, streift die F nach dem Urslavischen, gibt eine kurze Charakteristik des urgeschichtlichen R land an der Hand von Niederle und Speranskij und wendet im weiteren der münd- lichen Überlieferung große Aufmerksamkeit zu, dem eigentlichen i Schaffen im Volke, das zum Erhalter vieler heidnischer Traditionen in Zeit wurde.

Das Hauptinteresse fällt hierbei dem Volksepos zu. Lo G. behandelt die einzelnen Phasen der Bylinenforschung und gibt von den Bylinen selbst und ihren Helden ein sehr gutes Bild. Wenig ist gesagt über ihre Entdeckung durch Rybnikov, über Art ihres Vortrags und die Bylinensänger; auch die Frage nach den näheren Umständen ihrer Wanderung nach dem hohen Norden tritt zurück. Ein be- sonderes Kapitel ist der Gestalt des Ilja Muromec gewidmet. Es ist zu bedauern, daß gelegentlich der un der späteren Volksdichtungen historischen Inhalts nicht auch der in der klei Tradition erhalten gebliebenen koljadki (aus der Sammlung von Antonovič und Dragomanov) Erwähnung geschehen ist, in denen die Erinnerungen an die ältesten geschichtlichen Zustände aus der Kiever Zeit fortleben. Ganz unberücksichtigt geblieben ist auch ein Eingehen auf die musikalische Seite des Volksgesanges, sowohl im Epos wie in der Lyrik; aber bei der Fülle des Gebotenen wäre es ungerecht, dem Verf. aus solchen Lücken einen Vorwurf machen zu wollen.

Bei Behandlung der mündlich überlieferten Literatur beruft sih Lo G. zumeist auf Speranskij, in der ältesten schriftlich erhalten gebliebenen auf Istrin und dessen tiefgründige Forschungen auf diesem Gebiet. Die einzelnen Denkmäler sind eingehend besprochen und aus den prägnantesten unter ihnen größere Stellen in Übersetzung ge Kar Wie eingehend sich Verf. mit dem Originaltext des Igorliedes, dem hier alleın 18 S. gewidmet sind, beschäftigt haben muß, geht aus der Gegenüberstellung von Lesungen Millers und Abichts hervor, zu denen er die eigene von ihnen abweichende stellt. Bei der Einschätzung der Tatarenzeit in ihrer Auswirkung auf den russ. Volkscharakter schließt sich Lo G. der von Nötzel aus- gesprochenen Anschauung an. Immer wieder wird ersichtlich, wie gut orientiert Lo G. in der deutschen slavistischen Literatur ist, auch aus neuester Zeit, nur selten vermißt man die eine oder andere Veröffentlichung in den Literaturangaben, so z. B. bei Besprechung der russ. Märchen und ihrer rsetzungen, die von Loewis of Menar r Stähling, Übersetzung des Briefwechsels Ivans IV. mit Kurbskij.

Lo G. hatte den ersten Band mit dem zutreffenden Bilde geschlossen, daß das ganze 17. Jh., zu dem er nun übergeht, nichts anderes gewesen sei als eine Aufeinanderfolge von Konzessionen an die Windstöße aus dem Westen, die immer stärker werden sollten, um schließlich unter der Regierung Peters d. Gr. zum

turme zu werden. In diesem Sinne rollt das Bild des 17. Jahrhs. mit seinen west- réit me Einflüssen auf die Unterhaltungsliteratur, auf das geistliche Schauspiel, die kirchlichen Spaltungen, das weltliche Theater, auf das Erwachen des Sinnes für den Realismus und das Zurücktreten des Moralisch-Didaktischen an dem Leser vorüber, voll Leben und Anschaulichkeit. Die Zeit Peters d. Gr. und seiner Reformen gibt Lo G. Anlaß zu Bemerkungen über das Andauern des Für und Wider in der Einschätzung dieser Zeit in der Nachwelt und in den eurasistischen Strömungen der Gegenwart, welche im Brennpunkt der Interessen des Verf. stehen. Die der Moderne sich nähernde Zeit mit ihren individuellen literarischen Schöpfungen bringt eingehendste Studien der einzelnen Persönlichkeiten, wobei Lo G., der Übersichtlichkeit wegen, das rein Biographische in Anmerkungen ver- weist, um im Text immer wieder, ungestört durch eine zu breite Ausgestaltung dieses Persönlichen, den geistigen Bewegungen im großen und ganzen gerecht werden zu können. Nur bei Puškin wird das Lebensbild zum selbständigen Kapitel, dem die einzelnen Lebensphasen im Zusammenhang mit dem dichterischen Schaffen dargestellt, folgen. Der bibliographische Anhang für Puškin umfaßt allein 8 S., denn auch hier, wie bei voraufgegangenen bibliographischen Notizen zu den früheren Dichtern oder Denkern, sind Übersetzungen ihrer Werke in fremde

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Sprachen mit beriicksichtigt. Politisch vorurteilslos beurteilt Lo G. die Dekabristen- zeit, mit ungetrübtem Urteil sucht er aber auch den späteren Puäkin zu verstehen. Dieser rein menschliche Zug spricht auch aus der Darstellung gleich welcher Kultureinflüsse aus dem Westen auf das geistige Rußland und verleiht dem ganzen Werk, im Gegensatz zu der Einseitigkeit so vieler in Sovetru8land oder in den anderen Ententeländern geschriebener Bücher über Literatur, Kunst oder Musik Rußlands eine sehr sympathische Note. Möchte diese groß angelegte Geschichte der russischen Literatur bald einen glücklichen Abschluß finden. Breslau. Emmy Haertel.

Giovanni Maver: „Meditazione“ di Lermontov. Roma, Istituto per l’Europa Orientale. 1929. 25 S. 8. (Piccola Biblioteca slava. 6.) 7 M. versucht es, die .komplizierten Gedankengänge der 1888 geschriebenen

„Duma“ zu entwirren und kommt dabei zu einem wesentlich anderen Schluß als

Kotljarevskij. Ihn interessiert, mehr als die Frage, wieweit Lermontov zu dem

vernichtenden Urteil über seine Zeitgenossen durch den ersten der philosophischen

Briefe Caadevs angeregt worden sein kann, das Auftreten ähnlicher ankengänge

in anderen Schriften Lermontovs, und zwar geht M. hierbei ganz methodisch vor,

unter 5 der einzelnen Gedanken und poetischen Bilder der „Duma“.

So untersucht er die Vechselbeziehungen zwischen Individuellem und Kollektivem,

das was Lermontov selbst eigen war und was er in der Gesellschaft seiner Zeit

und Umgebung beobachten konnte; ferner die Metapher von der frühreifen Frucht, die M. in einem Briefe und einer anderen Dichtung Lermontovs wiederfindet.

Nebenbei und in einer Anmerkung untergebracht ist die Beobachtung, daß es sich

bei den vielen Autoplagiaten Lermontovs überhaupt immer nur um das Auf-

treten ein und desselben Bildes in vom Verf. veröffentlichten oder unveröffent- licht gelassenen Dichtungen handelt, nie aber um bloße Nachahmung. Ein inter- essantes Streiflicht auf die Art, wie L. die einzelnen poetischen Eingebungen auf- zeichnete und später verwertete, wird durch eine von M. zitierte Stelle aus einem wenig bekannten Memoirenwerk (J. G. Oksman, aterina Suskova“ 1928) er- tichtlich. Auch zu der Frage was die Anspielung Lermontovs auf die Vorfahren in „Duma“ zu bedeuten habe, steuert M. neues kritisches Material bei. Ein Ober- blick über die bisherigen kritischen Stimmen, in chronologischer Reihenfolge, zeigt, wie ungleich, je nach der Zeit der Niederschrift, die Urteile der russischen Kritiker über Lermontovs Auffassung vom Unwert der russischen Gesellschaft seiner

Zeit waren.

Breslau. Emmy Haertel.

Anton Navina (Anton Luckevit): „Adbitae zyz’ze“. Vorträge und Abhandlungen über die weißrussische Renaissanceliteratur. Bd. 1.

Verlag: Belaruskaje vydavetzkaje tavarystvo. Vilna. 1929.

145 8.

Der erste Band der literaturkritischen Studien des Verf. enthält 14 Abhand- lungen. Verf. erklärt, daß bei der Herausgabe des ersten Bandes semer Abhand- lungen er sich von keinem Plan leiten ließ: vielmehr fanden in dem ersten Band jene Abhandlungen Aufnahme, die gerade unter der Hand waren.

Der 1. Band der literaturkritischen Abhandlungen des Verf. enthält zwei allgemein-theoretische Beiträge: „Das Wesen der Literatur und deren gesellschaft- liche Bedeutung“ und „Die Evolution der weißrussischen Renaissanceideologie und deren Wiederspiegelung in der Literatur“. Die übrigen Beiträge sind dem Schaffen der einzelnen weißrussischen Dichter (Ljavicki, Jakob Kolas, Janko Kupala, Maxim Bogdanovič, Natalija Arsen’eva) gewidmet und den Lesern der Jahrbücher z. T. bereits aus der Zeitschriftenschau (Band IV Heft III, Band V Heft D bekannt.

Vier weitere Abhandlungen haben einen allgemeineren Charakter: „Die Rebellion gegen Gott“ (Motive des Gotteskampfes in der weißrussichen Lite- ratur), „Der Widerhall des Veltkrieges in der weißrussischen Literatur“, „Vilna in der weißrussischen Literatur“ und „Die Judenfrage in unserer Literatur“. Ein Artikel „Auf neuen Wegen“ behandelt die jüngste weißrussische Lyrik (Dubouk, M. Carota und Ulads. Zylka).

371

Freilich muß man hinzufügen, daß sich dies mehr auf die 5 denn auf die Gegenwart der weißrussischen Literatur bezieht. In den letzten zehn Jahren ist Verf. durch den Gang der politischen Entwicklung, die zwischen Wilna, wo er seinen ständigen Wohnsitz hat, und Minsk, dem neuen Zentrum weißrussischen geistigen Lebens, eine sehr fühlbare Grenze aufgerichtet hat, der persönlichen Fühlungnahme mit den maßgebenden weißrussischen Dichtern beraubt worden. Das ist natürlich nicht seine Schuld, sondern sein Unglück, doch macht sich dieser Tatbestand insofern unangenehm bemerkbar, als Verf. in seinem Sammelwerk viel Publikationen, die jenseits der Grenze erschienen sind, über- sieht und bei manchen Irrtümern verharrt, die durch die spätere Forschung jenseits der Grenze längst berichtigt sind.

Ich verweise an dieser Stelle auf die falschen biographischen Angaben über den weißrussischen Novellisten Ljavicki, die durch Prof. Pjatuchovič in „Zapiski adds. guman. navuk“, Bd. 2, 1928 korrigiert worden sind, was vom Verf. un- beachtet geblieben ist.

Einen weiteren Mangel der literaturkritischen Abhandlungen des Verf. bildet ein gewisser „nationaler Provinzialismus“: alle seine Vergleiche entnimmt er der weißrussischen Literatur und geht auf die Zusammenhänge mit den Literaturen anderer Völker fast nie ein. Die weißrussische Literatur betritt gegenwärtig das weite Feld des internationalen literarischen Austausches, sie tritt in den Gesichts- kreis anderer Völker. Daher müßte auch die weißrussische Literaturkritik bei der Erörterung der Werke der weißrussischen schönen Literatur sich mehr von allgemein-menschlichen Gesichtspunkten leiten lassen und die Zusammenhänge mit der Entwicklung der Weltliteratur beachten.

Die Tatsache, daß das vorliegende Buch als Leitfaden für die studierende weißrussische Jugend dienen soli, dürfte wohl kaum als Entschuldigung dienen, denn, obwohl es den Grundsätzen der Pädagogik entspricht, vom Bekannten zum Unbekannten weiter fortzuschreiten, muß man dennoch die Jugend lehren, sich im Weltgeschehen und nicht nur in vaterländischen Dingen zu orientieren, da man sie sonst der schlimmsten Krankheit unserer Zeit dem „nationalen Provin- zialismus“ in die Arme führt, der auch der weißrussischen Jugend nicht un- bekannt ist

Alle diese Mängel entwerten indessen keineswegs das vorliegende Sammel- werk, das nicht nur den Weißrussen, sondern auch dem Auslande manches zu bieten hat. Verf. zieht in seinen Abhandlungen die historisch-soziologische Methode der Würdigung nach den Gesichtspunkten poetischer Schönheit vor. Es sind vor allem die Wechselwirkungen zwischen Literatur und Leben, die ihn interessieren und auf die er eingeht. Die künstlerischen Formen interessieren ihn wenig. Der Hauptheld seiner Darstellung und seiner Würdigung ist und bleibt das zum nationalen Bewußtsein erwachende weißrussische Volk.

In den weißrussischen Dichtern sucht und sieht er vor allem die Träger der Idee der nationalen Renaissance, die Künder der kollektiven Volksseele, die den Weg „Vom Dunkel zum Licht, von der Knechtschaft zur Freiheit und zum Glük“ sucht.

Dieser publizistische Charakter der literaturkritischen Abhandlungen des Verf. gehört zu den Eigentümlichkeiten seines literarischen Schaffens.

Die gute Kenntnis des Gegenstandes der Darstellung vereinigt mit der Liebe zum Gegenstand, die Exaktheit und Abgeklärtheit des Urteils, die Einfachheit und Klarheit der präzisen Sprache dies alles macht das Buch des Verf. zu einem wertvollen Beitrag zur weißrussischen Literaturkritik.

Wilna. Vladimir Samojlo.

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Anton Luckevit: „Za dvadzat’ P etc (1908—1928). Wilna. Verlag: Belaruskaje Vydavetzkaje Tavarystvo. 1928. Verf. ist bekanntlich eine der führenden Persönlichkeiten der weißrussischen

nationalen Renaissancebewegung. Dieses Memoirenwerk des bekannten weiß- russischen politishen Führers ist unter recht eigenartigen Bedingungen ent- standen: er schrieb es als Untersuchungsgefangener und Angeklagter im Prozeß der weißrussischen Arbeiter- und 8 im Gefängnis. Im Vorwort zu diesem eigenartigen Memoiren werk erklärt Verf., daß er damit das 25 jährige Jubiläum der weißrussischen revolutionären Gramada, zu deren Mitbegründern er gehörte, verzeichnen wollte. Er schrieb seine Memoiren ohne jegliche schrift- liche oder gedruckte Unterlagen, lediglich auf Grund seiner persönlichen Erinne- rungen. Verf. gibt selbst zu, daß sein Gedächtnis die Ereignisse dieser 25 Jahre (1908/28) keineswegs ideel behalten hat. Das Buch enthält freilich Hinweise auf Dokumente, Zeitungsartikel, Parteitagsbeschliisse, Photographien führender poli- tischer Persönlichkeiten u. a. m. Dies alles deutet darauf hin, daß Verf. nach dem Verlassen des Gefängnisses an dem ursprünglichen Manuskript auf Grund objektiver Materialien manche Korrektur resp. Ergänzung vorgenommen hat. Allerdings wird nur eine genaue Sichtung des vorliegenden Materials und ein Ver- gleich mit anderen Quellen die Feststellung ermöglichen, wo es sich bei den Aus-

ngen des Verf. um wirkliche Tatsachen oder nur um persönliche Annahmen handelt. Es ist ja auch ohne weiteres verständlih, daß ein aktiver Teil- nehmer der Ereignisse der letzten 25 Jahre bei deren Schilderung zu einem ge- wissen Egozentrismus nei

Auf Grund persönlicher Erinnerungen kann ich jedenfalls bezeugen, daß Verf. zu einer Übertreibung des Umfanges und des Einflusses der weißrussischen revolutionären Bewegung in der Vergangenheit neigt und die Rolle einzelner führender Persönlichkeiten dieser Bewegung nach höchst subjektiven Gesichts- punkten herabsetzt resp. übertreibt.

An zolchen unkritischen Auslassungen eines temperamentvollen Publizisten sind die Memoiren von Luckeviè reich genug. Auch die chronologischen Angaben des Verf. sind nicht immer zuverlässig. Von allen diesen Mängeln abgesehen bieten indessen die Memoiren des bekannten Politikers auch reichlich inter- essantes Material. Verf. erblickt die Wurzeln der revolutionären Bestrebungen in Weißrußland einerseits in den polnisch- weißrussischen Auf; tandsbewegungen, N in den revolutionär- föderalistischen Organisationen russischer Intellek- tueller.

Mithin gelten als Vorläufer der weißrussischen revolutionären Organi- sationen: auf der einen Seite Kastus’ Kalinouski der Führer des Aufstandes von 1868 (?), der, wie Verf. behauptet, als erster das Problem der nationalen Wieder- geburt und Unabhängigkeit Litauens und Weißrußlands (des Großfürstentums Litauens) aufrollte (getrennt von der Aufgabe der Wiederherstellung Polens?); auf der anderen Seite eine Gruppe Weißrussen-Narodovol’zy, die bereits 1884 zwei Nummern der illegalen Zeitschrift „Gomon“ in russischer Sprache veröffentlichte, in der die theoretische Rechtfertigung der weißrussischen Eigenstaatlichkeit inner-

der russischen Föderation gegeben wurde. Als Bindeglied zwischen diesen Bestrebungen kleiner Intellektuellengruppen und der späteren Volksbewegung des 20 ten Jahrh. erscheinen die weißrussischen Studentenzirkel, in denen die revolu- tionären Traditionen der Vergangenheit gewahrt wurden.

Ein Zirkel dieser Art bestand z. B. 1890 an der Moskauer Universität, wo- bei ihm der große weißrussihe Novellist Ljavicki angehörte. Erst 1908 ent- steht die erste selbständige weißrussische politische Organisation „Belaruskaja revaljucyjnaja gramada“.

Mit ihr beginnt die ununterbrochene politische Massenbewegung, die durch den Staatsakt vom 25. März 1918 zu der Grundsteinlegung der weißrussischen Eigenstaatlichkeit innerhalb der Föderation der Sovetrepubliken führte der Verwirklichung des Programms der Weißrussen-Narodovol’zy von 1884.

Die „Belaruskaja revaljucyjnaja gramada“ wurde 1908 in Petersburg ge- gründet. Den Kern der Vereinigung bildeten laut Verf. die beiden Brüder Luckevité (Anton und Ivan), damals Studenten der Universität Petersburg, Vaclav

873

Ivanouski (Student der Technischen Hochschule) und eine Reihe weiterer Persön- rschiedenen Gründen nicht erwähnt. In Minsk

Das ursprüngliche P der Partei ist nicht erhalten. Das P enthielt die Forderung . Rußlands auf den Grundlagen der Auto nomie und Föderation, nationale Freiheit für alle Rußland bevölkernden Nationen,

ndere nationale Schulen für die Weißrussen. Das Programm wandte sich gegen den Absolutismus und forderte eine demokratische Verfassung, Land für die Bauern, Fabriken für die Arbeiter (?) u. a. m.

1006 ‘nach der Rechen der” Program In vBelaruskaja von n r Revision in ja ja

umbenannt wurde, zugleich erfo eine deutliche Umorientierung der artei von den Sozial-Revolutioniren zu den Sozial-Demokraten hin.

Interessant sind die Angaben des Verf. über das Verhältnis der Partei zu anderen revolutionären Parteien Rußlands, sowie die Schilderung ihrer Stellung zum Terror. Man erfährt daraus, daß z. B. die Idee der Ermordung des be- kannten Gouverneurs Kurlov, der am 17. Oktober 1905 in Minsk neben dem Wilnaer Bahnhof das Militär auf die unbewaffnete Menge Salven abgeben ließ, so populär war, daß selbst polnische Großgrundbesitzer (so Ljuban’ski aus Loschizy) sich mit Geldspenden an der Organisation des Attentats betsiligten: Das Buch enthält 28 Photographien der führenden Persönlichkeiten der Partei.

Verf. bittet selbst, seine Memoiren lediglich als Material für den rc a Historiker der Geschichte der weißrussischen nationalen Wi urt zu trachten, jedoch als Material, das von einem „zuverlässigen Zeugen“ t worden ist.

Vi Vladimir Sa mojlo.

K. Nos ovsk a V. Pražák: Soupis československé literatury za léta 1901—1925. Sei 1—4. Prag, Svaz knihkupciv a nakladatelü CSR 1929—30. | Die Bibliographie der tschechoslowakischen Literatur ließ bisher noch viele

Wünsche unerfüllt, wenn auch zugegeben werden muß, daß sie manches hervor- ragende Werk, wie etwa Zibrts „Bibliografie české historie“ aufzuweisen hat. Für die Literatur des innenden 20. Jahrhunderts war man bisher im wesentlichen auf Schmitts „Příruční seznam české literatury“, Prag 1016, angewiesen. Seit das tschechische Volk seine Selbstständigkeit erlangt hat, ist auch auf diesem Ge- biet eine gesteigerte Tätigkeit zu beobachten. So gibt es jetzt ein Verzeichnis von Zeitschriften, die auf dem Gebiet der tschechoslowakischen Republik er- scheinen, ergänzt noch durch den 1929 veröffentlichten „Soupis

periodik“, eine Bibliographie von ausländischen Zeitschriften, die sih in den

tschechoslowakischen Bibliotheken vorfinden. Auch ein Verzeichnis der tchechi-

schen Belletristik, soweit sie in der Prager Stadtbibliothek vorhanden ist, steht uns seit 1929 zur Verfügung. Für die laufende EE des tschechischen

Schrifttums ist durch den seit 1922 erscheinenden „Bibliografický katalog“ gleich-

falls gesorgt. Zudem soll eine zusammenfassende Bibliographie der Literatur des

19. Jahrhunderts im Verlag des Ministeriums für Schulwesen und Volkskultur

veröffentlicht werden, wodurch eine mens für den vorliegenden „Soupis

československé literatury“, der sich auf erste Viertel des 20. Jahrhunderts

beschränkt, geschaffen würde. Die letztgenannte Bibliographie soll das im

gleichen Verlage erschienene Schmittsche Verzeichnis ersetzen, das abgesehen von

der zeitlichen Beschränkung nur tschechische, nicht slowakische Werke nennt und auch tschechische Bücher nur dann anführt, wenn sie von Mitgliedern des Buch- händlerverbandes herausgegeben wurden. Diesen Mängeln will das vorliegende

Verzeichnis abhelfen. Auf die slowakische Literatur, für die es eine wertvolle

Ergänzung von Rizners „Bibliografie slovenské literatury” bedeutet, soll, wie im

Vorwort hervorgehoben wird, diesmal ein besonderes Gewicht gelegt werden. Das

Werk gliedert sich in drei Teile (gegenwärtig ist der erste im Erscheinen be-

griffen), in welchen jeweils das gleiche Material 1. alphabetisch nach Verfessern

374

und Stichworten, 2. nach Schlagworten und 8. systematisch in 87 Abteilungen, denen die Dezimalklassifizierung zugrunde gelegt ist, zu finden sein wird. Sehr angenehm berührt es, daß neben selbständig erschienenen Werken auch die Samm- lungen mit sämtlichen Einzeltiteln angeführt sind. Die Titel sind nach Möglich- keit gekürzt, lassen aber trotzdem nichts, was irgendwie von Wichtigkeit ist, ver- missen. Die Frage der Type ist meines Erachtens sehr glücklich gelöst. Es ist vollkommen gelungen, bei äußerster Gedrängtheit Klarheit und Übersichtlichkeit zu erreichen. Das Werk ist zweifellos eine wichtige Neuerscheinung auf dem Ge- biete der tschechischen Bibliographie. Leipzig. Heinrich Jilek.

Volf, Josef: Geschichte des Buchdrucks in Böhmen und Mähren bis 1848. Mit 41 Abbildungen. Weimar, Straubing & Müller, 1928. 262 S. 8°.

Das vorliegende Buch ist die deutsche Obersetzung des Werkes: Déjiny českého knihtisku do roku 1848, das 1926 als Bd. 8 der Serie: Knihy o knihách in Prag bei A. Novák erschien und eine erweiterte Neu- auflage einer Arbeit darstellte, die 1925 anläßlich der Internationalen Ausstellung der dekorativen Künste in Paris erschienen war. Die Übersetzung ist verschiedent- lich eine Erweiterung und Neubearbeitung des Originals und rgt von Fach- leuten gut lesbar. Seiner großen Bedeutung entsprechend hat das vorzügliche Buch schon in zahlreichen Besprechungen Würdigung gefunden, und wir müssen Verlag und Verfasser dankbar sein, daß sie dieses zusammenfassende Werk über die Geschichte des Buchdrucks in Böhmen und Mähren dem deutschen Publikum in einer Übersetzung zugänglich gemacht haben, die dem Neuling dieses bisher shwer zuginglidie Gebiet erschließt und jedem Interessenten rasche Orientierung ermöglicht.

Wie es sich bei dem durch seine zahlreichen Arbeiten über die böhmische Druckgeschichte im Časopis Národního Musea, Cesky Časopis Historicky, Bibliofil, in der Cesk 4 Revue und anderen Zeitschriften längst als Kenner bekannten Verfasser von selbst versteht, ist das Buch aus den EE gearbeitet. Eine Erweiterung des Nachworts der &echischen go ae gibt als Vorwort der Übersetzung Auskunft über Entstehung, Ziel und Stellung des Buches in der Fachliteratur. Es folgt darauf die Geschichte des Buchdrucks in Böhmen und Mähren, gefaßt als Geschichte der Druckereien in geographischer Gliederung und erläutert durch reichhaltiges und gutes Bildmaterial, wobei der Verf. nach einem Kapitel über die Wiegendruke in Böhmen, gesondert die Druckereien Prags, der böhmischen Provinzstädte und Mährens behandelt. Darauf folgt ein Kapitel über die Schriftgießkunst in Böhmen seit dem 17. Jahrh. und, wieder geographisch nach Böhmen, Mähren und Schlesien gegliedert, eine erläuternde Übersicht er Fachliteratur, in der leider bei selbständigen Büchern Seitenzahl und Verlagsangabe fehlen, und schließlich ein Namens- und Ortsverzeichnis.

Was die Fachkritik an sachlichen Versehen auszustellen hatte es war übrigens schr wenig: verschiedene Unstimmigkeiten in der Bestimmung alter Drucke und Obergehung eines Druckers darauf hat Tobolko im Casopis &sl. Knihovnikü 1927 und Crous im Zentralblatt für Bibliothekswesen Bd. 45 hingewiesen. Es wird das Buch darüber hinaus kaum noch wesentlich zu ergänzen oder zu berichtigen sein. Leider aber hat der Verf. sich aus Raummangel in der Darstellung schr ein- schränken müssen, so daß sie oft in einer manchmal erwas schablonenhaften Be- handlung der einzelnen Drucker verrinnt, ohne näher auf die wechselseitigen Ein- flüsse etwa der Geistesgeschichte, der Politik und der Druckgeschichte aufeinander einzugehen. Wer es etwa unternimmt, als Neuling auf dem Gebiet der Drucker- eschichte das Buch zu seiner Orientierung hintereinander durchzulesen, der wird

im fünften oder sechsten Drucker das Gefühl haben, er hätte das alles schon in den vorigen Seiten gelesen. Auch macht es sich ohne Zweifel sehr fühlbar, daß die Behandlung der Geschichte des Druckverfahrens, der T orm usw. sehr stark gegenüber der Auswertung archivalischen Materials über die Drucker zurück- tritt, wie Tobolka schon gelegentlich der &echischen Ausgabe betont hat. Dafür aber weist das Buch dem Leser bei richtiger Benutzung der bibliographischen Über-

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sicht den Weg zur langsamen Erarbeitung des ganzen Stoffgebietes, so wie es durch das umfangreiche Regıster und das darın verarbeitete vielseitige Material jedem die Möglichkeit guter und rascher Orientierung bietet. So ist das Werk Volfs trotz seiner sein wollenden Form eher ein fachwissenschaftliches Handbuch, das fortan Grundlage für alle Studien auf dem Gebiete der Sechischen Druck- geschichte bilden wird und in keiner größeren Bibliothek fehlen darf.

Breslau. E. Koschmieder.

Kukiel Marjan: an: historji wojskowości w Polsce. Kra- ków 1929. Krakowska Spółka Wydawnicza. (Grundriß der Gester e Kriegsgeschichte.) III., vermehrte Ausgabe, S. VIII un 00.

Die neue Ausgabe des kriegsgeschichtlichen Handbuches von Marjan Kukiel wurde stark vermehrt und den breiteren Kreisen des lesenden Publikums zugänglich gemacht, denn vorher war es nur für das Militär berechnet. Der Verfasser, der ein geschulter Historiker, nämlich ein Schüler des Lemberger Professors Simon Aszkenazy ist, und später als Offizier der polnischen Legionen und General in der polnischen Armee tätig war, vereinigt in einer Person die für den Kriegshistoriker nötigen Eigenschaften und konnte uns deshalb ein gutes Buch geben, das uns in beiden Hinsichten betreffend Kriegswesen und historische Methode befriedigt.

Das Kriegswesen steht im Vordergrunde des Grundrisses. Die Kriegs- geschichte ist nur beispielsweise angeführt, mehrere Skizzen und Karten ergänzen und erläutern das eigentliche Material. Chronologisch wurde das Thema in vier Epochen geteilt. Die erste Epoche der herzoglichen Garde („drużyna“) und des Landsturms (, pospolite ruszenie“) reicht bis in das XVI. Jhdt. Die drei nächsten Jahrhunderte sind durch die Formation der Soldtruppen charakterisiert; erst am Anfang des XVIII. Den wurde eine ständige Armee gebildet. Der Aufstand Kolciuszkos ist eine rgangsepoche zum letzten Evolutionsstadium, d. h. zur Epoche des Nationalheeres, welche bis auf den heutigen Tag dauert. Diese Ein- teilung hat freilich keinen festen Rahmen, so wie dies in einem lebendigen Or- ganismus kaum möglich ist.

Das Buch ist stilistisch vortrefflich geschrieben und wird deshalb von allen Historikern gerne gelesen und für sie von großem Interesse sein, denn der Autor versteht es ausgezeichnet, die Aufmerksamkeit des Lesers an das besprochene Thema zu fesseln.

Lemberg. K. Tyszkowski.

Dr. Charcwiczowa Luc ja: Dzieje miasta Zloczowa. (Ge- schichte der Stadt Złoczów.) Złoczów, Wydawnictwo Pow.

Towarzystwa Tur. Krajoznawczego 1929, 220 S. 8°.

Die Geschichte des Städte wesens in Polen, begründet durch Professor Ptaſnik, erhält durch obiges Buch einen weiteren Ausbau, der um so wertvoller ist, als es zich um die Geschichte einer privaten Stadt handelt, deren Erforschung, insbe- sondere was den Osten betrifft, erst in letzter Zeit vor sich schreitet und bis nun in der historischen Literatur kaum gestreift wurde.

oczów, schon am Anfang des XV. Jhdts. als Dorf bekannt, entwickelt sich bald zur Stadt empor, im Jahre 1528 wiederholt mit deutschem Recht ausgestattet, wird es Muster für die Anlage perce in ihrer Umgebung entstehenden Schwester- gemeinden. Gegründet auf staatlichem Boden, gelangt Złoczów noch in der ersten Hälfte des XV. Jhdts. im Versatzwege in Privathände, bis es im XIX. Jhdt., während der Auflösung der Großgrundherrschaft, aufgeht. Unter den zahlreichen Besitzern, die alle zu den mächtigen Magnatenfamilien gehörten, haben sich die Sobieskis die größten Verdienste um die Stadt erworben.

Wenn die natürliche Lage, am Handelswege nach dem Osten, einesteils sehr günstig auf das wirtschaftliche Emporblühen, be ründet durch den Handel und die Jahrmärkte, cinwirkte, so war diese Lage andernteils auch wieder die Ursache seines Verfalls, den die Einfälle der östlichen Nachbarn im Laufe der Jahrhunderte heraufbeschworen haben. Die Sicherung seiner Befestigungen ise ständige Sorge

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der Stadtverwaltung und der Besitzer. Während dieser zahlreichen Überfälle der Tataren, Kosaken und Türken, erwarb sich Zloczéw mit Recht den Namen eines Bollwerkes und wichtigen Vorpostens im Osten. Und darin.liegt neben der wirt- schaftlichen seine Bedeutung.

Mit meisterhaften Zügen zeichnet uns die Verf. das bunte Bild des iancren Stadtlebens, in welchem der Einschlag des Ostens, die Tataren- und Armenier- gemeinde, nicht ohne Einfluß verblieben ist.

Die Geschichte einer Stadt niederzuschreiben auf Grund so fragmentarisch er- haltenen Quellenmaterials, über das die Verf. nur verfügen konnte, ist ein Meiscer- werk: so muß die Geschichte der Stadt Złoczów, von diesem Punkte aus be- trachtet, angesehen werden.

Die Illustrationen und vor allem der außerordentlich reihe Anhang mit seinen 88 in extenso wiedergegebenen Urkunden und Dokumenten vergrößert den Vert des Buches und bietet jedem Städteforscher manch kostbares Quellen- material.

Lemberg. A. Vagner.

Dr. Charewiczowa Lucja: Lwowskie organizacje zawodowe za czasów Polski Przedrozbiorowej, z 17 rycinami. (Lemberger Berufsinnungen bis zur Teilung Polens mit 17 Abbildungen.) Lwów, Wydawnictwo Zakładu Narodowego im. Ossolińskich, 1929, 194 S. 8°.

Die Verf., Frau Dr. Charewiczowa, eine der wenigen Fachgelehrten auf dem Gebiete der Erforschung des Stidcewesens in Polen, liefert uns durch obiges Buch eine sehr wertvolle Arbeit aus der Vergangenheit Lembergs, dessen Lebensbild vom 3 der alltäglichen Handwerkerarbeitsgemeinschaft aus betrachtet wird. Seine Zunftinnungen hat Lem nach dem Krakauer Muster eingerichtet, kleineren Einfluß hatten Posen und Thorn, selbst wird es in kurzer Zeit Vorbild für alle Städte im Osten, erhält die Bezeichnung seminarium mechani- corum. Die äußere Form der Lemberger Zünfte, deren Ordnungen, Arbeits- methode, Gerichtsbarkeit und dergl. werden von anderen Städten übernommen; Lemberger Werkstätten liefern die tüchtigsten Meister und Gesellen, more civitatis Leopoliens is organisieren sich die Arbeiterschaften der öst- lichen Gebiete. Den Höhepunkt erreichen in ihrer Entwicklung, Macht und Be- deutung die Innungen zu Lemberg im XVI. und XVII. Jahrh., 30 verschiedene Zünfte umfassen über 50 Berufsarten, zählen wir noch die starke Einwanderung vom Westen hinzu, die zumeist Handwerker ausmachten, so darf es uns nicht wundern, wenn im Jahre 1679 nur ein Teil der mit dem Stadtrat im Kampf stehenden Innungen auf Tausende geschätzt wird, also eine Macht, mit der die Stadtbehörden rechnen mußten. Der Kampf mit den Adeligen, die stufenweise Ein- sickerung des Bürgertums in das Adelsgeschlecht, endlich die politischen und kriegerischen Auswirkungen der Epoche von den Kosaken angefangen bis zu den Schwedenkriegen am Anfang des XVIII. Jahrh. mußten Handel und Gewerbe zu- grunde richten, das Leben in den Zünften stirbt ab, sie sehen ihrem Untergang entgegen, zumal die Auswanderungen infolge von immer größer werdender Arbeitslosigkeit mit jedem Jahr zunahm. Mit Recht kann Frau Dr. Charewiczs Buch als ein weiterer Eckstein im Aufbau der ponian Wirtschaftsgeschichte be- trachtet werden und verdient als Untersuchung über die Erforschung der so reichen Vergangenheit Lembergs vollste Anerkennung.

Lemberg. A. Wagner. Einige Bemerkungen über das sog. Gebetbuch des Ladislaus Warneficzyk.

[Modlitewnik Wiadyslawa Warneńczyka w zbiorach biblioteki Bodle janskiej z uwzględnieniem zapisek Jösefa Korzeniowskiego opracowali Ludwik Bernacki, Ryszard Ganszyniec, Wladyslaw Podlacha. Kolo Zwigzku Bibliotekarzy Polskich we Lwowie

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Druk L. Anczyca i Spółki w Krakowie MCXXVIII. 8°, p. 141 + 3 + 76 + 2 tab. + XIV + 2]

Die Teilnehmer des I. penaa Bibliothekaren-Kongresses in Lemberg und zugleich des III. Bibliophilen - Kongresses haben vom Lemberger polnischen Bibliothekarenkreise im Geschenk die Edition eines Gebetbuches, der dem Könige von Polen und Ungarn, Wladyslaw Warnehczyk (ft eg Zeie eschrieben wird, und eben der Bodleyana in Oxford gehört. Die Edition ebe aus einem palio- graphisch treuen, mit 5 Erhaltung der Graphik, Abdruck des Textes auf Grund des Originals (durchgeführt musterzültig von Prof. R. Ganszyniec), aus mehreren Tafeln, die (in schwarzer Manier) Miniaturen und Initialen wiedergeben und einer 141 Seiten starken Einleitung, wo die paläographische, literarische und kunsthistorische, sowohl auch kulturelle Seite eingehend besprochen wird. Das Wichtigste ist, was darüber Prof. R. Ganszyniec und Prof. W. Podlacha sprechen. Vom ersteren ist die genau Textanalyse, vom anderen die kunsthistorische verfaßt. Die Ergebnisse aber der beiden Forscher, was die Chronologie des Werkes anbe- langt, sind nicht einheitlich. Bisher herrschte die Meinung, daß der Besitzer des Gebetbuches, beziehungsweise auch Verfasser (in bezug an persönliche Initiative) der oben genannte König Wladyslaw Warnehczyk war. Diese Meinung war vom J. Korzeniowski vertreten. Die eingehende Analyse hat aber den neuen Forschern andere Möglichkeiten geboten. Die höchst interessanten Angaben des Prof. R. Ganszyniec stellen fest, daß dieses Gebetbuch paläographisch auf die Zeit zirka 1400 hinweist, ferner, daß der Schreiber (Ropar?) die deutsche Graphik angewandt hatte, schließlih, daß literarische Quellen einzelner Gebete ihren französisch- benediktinischen Ursprung nicht verschleiern -können. Da die Persönlichkeit den Namen Ladislaus trägt und die Miniaturen auf ein Mitglied der Piasten-Dynastie hinweisen, meint Prof. Ganszyniec, daß dieser rätselhafte Ladislaus Ladislaus von Oppeln sei. Das interessanteste aber ist, was über die Krystalomantie des Geberbuches geschrieben wird, worüber Prof. Ganszyniec breite, vergleichende Basis genommen hat. Die kunsthistorische Anal des Werkes (von Prof. W. Podlacha) steht zu diesen Ergebnissen im Widerspruch. Die genaue Über- prüfung der Miniaturen, Initialen und graphischer Ornamentik führt den Forscher ın die Zeit zirka J. 1500, also es gibt einen Unterschied von zirka einem Jahr- hundert. Darum neigt er sich zur Annahme, daß der rätselhafte Ladislaus Ladislaus König von Ungarn und Böhmen, der bekannte „Rex bene“ ( 1516) sei. Anders gesagt stehen wir wieder vor einer Rätselserie, desto wichtiger, da das an- ne Ladislaus Warnehczyksche Gebetbuch eine wichtige kulturgeschichtliche rage bietet: es handelt sich um weiße Magie im mittelalterlichen Polen. Nun- mehr ist eine wissenschaftliche Diskussion geöffnet, die dieses Rätsel, welches die bodleyanische Handschrift umsponnen hat, entziffern soll.

Den oben kürzlich skizzierten Behauptungen habe ich ın eınem Aufsatz u. d. T.: Bemerkungen über das so genannte Gebetbuch des Ladislaus Warnehczyk meine Meinung in Form einer Hypothese dargestellt. Ich habe diesen Aufsatz auf der philolo chen Klasse der Lemberger wissenschaftlichen Gesellschaft am 25. Juni 1928 vorgelegt und die von mir dargelegten Behauptungen haben in der Diskussion Beifall gefunden. i)

Mein Standpunkt hat ihre Stütze in der Provenienz. Ich meine auf Grund der äußeren Kriterien, daß die Handschrift bis zum Jahre 1680 den ursprünglichen Besitzer (Bibliothek) nicht gewechselt hat und seit dem jahre 1690 streng mit Besancon verbunden ist. Es ist leicht daraus zu schließen, daß auch vor dem Jahre 1680 dies Gebetbuch auf irgendwelche territoriale Bündnisse mit Burgund hinweist. Die analytische Seite der jetzigen Forschungen (von Prof. R. Ganszyniec) stellt fest, daß trotz Benützung der deutschen Graphik durch den Schreiber, literarisch das Gebetbuch französisch-benediktinischen Ursprungs ist, was mit burgundischer Provenienz in keinem Widerspruche steht, da Burgundien ein Kreuzweg fiir deutsche und französische Einflüsse tatsächlich bietet. Ich nehme 2 dad der rätselhafte Ladislaus, dessen Namen wir im Gebetbuche finden, ein literarischer

1) Cfr. Sochaniewicz K., Uwagi o t. zw. Modlitewniku Wladyslawa War- nehczyka. Sprawozd. Tow. nauk. VIII p. 67.

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Redakteur des Werkes sei, welches also rein individuell zu betrachten ist. Die Charakteristik der Persönlichkeit des Redakteurs finde ich in der „Beichte“, welche von einem Fürsten aber keineswegs von cinem König spricht, der zugleich ein hoher Geistlicher ist. Da die Charakterzüge keineswegs den bisher herangezogenen Persönlichkeiten entsprechen, muß man unter den Piasten (der in Miniaturen vor- handene polnische Adler darauf weist) eine Persönlichkeit herausfinden, der diesen sämtlichen Bedingungen entspricht: diese kann nur der Fürst von Gniew Ladislaus der Weiße sein. (Ende des 14. Jahrh.) Er war nicht nur ein Fürst, sondern auch Abt und sein abenteuerliches Leben war mit den burgundischen Benediktinern innigst verbunden. Diese Ergebnisse stimmen auch mit den Ergebnissen der paläographischen Analyse des Prof. R. Ganszyniec, stehen aber trotzdem im Wider- See mit den der kunsthistorischen des Prof. W. Podlacha. K, Sochaniewicz.

Prof. Dr. Benedykt Dybowsky: Pamietnik. (Tagebuch vom J. 1862 bis 1878.) Verlag des Ossolinski'schen Nationalinstitutes, Lwöw, 1930, S. XVI + 627.

Dieses Werk bildet in der memoaristischen Literatur Polens eine Ausnahme, denn es ist von einem großen Patrioten geschrieben, der zugleich einer der hervor- ragendsten Zoologen ist. Der Autor beschreibt einerseits viele Begebenheiten an- ap? der Vorbereitungen zum Aufstande des Jahres 1868, charakterisiert die teil- nehmenden wichtigeren Gestalten, stellt ihre ganze Martyrologie im Gefängnis, und in der Verbannung in Sibirien dar, andererseits schildert er mit der exakten Genauigkeit eines Forschers seine Beobachtungen über die Menschen und die Fauna der mannigfaltigen Gegenden Sibiriens, welche er während seines vieljährigen Wanderlebens geschen und erforscht hatte.

Durch die Gewalt der politischen Ereignisse aus dem Arbeitszimmer des Professors der Warschauer Hochschule herausgerissen, führt der Autor den Leser durch das Gefängnis des Pawiak und des X. Pavillons und während einer oft unter den schrecklichsten Bedingungen geführten, fast ein Jahr langer Reise zuerst nach Siwakowa bei Cyta an der Ingoda, dann nach Darasunia an der Tura, weiter nach Kultuk am Baikalsee, zu verschiedenen Gegenden an den Flüssen Sielenga und Burguzin, Amur, Argunia und Ussuri, bis nach Vladivostok und zu den Inseln Sachalin und Askolda.

Die nationale Tragödie wie auch schwere persönliche Erlebnisse im Ge- fängnis und in der Verbannung veranlaßten den Autor zur Hilfeleistung an Mitverbannte wie auch zum wissenschaftlichen Studium während seines vieljährigen Verweilens im Exil. Er tritt überall nicht nur seinen Mitgefangenen sondern au der einheimischen Bevölkerung mit ärztlichem Beistand zur Seite und macht zu- 5 3 Forschungen, in welchen ihm seine Leidensgenossen behilf- ich sind.

Seine humanitäre ärztliche Tätigkeit ermöglicht ihm die Ausführung der vorgenommenen wissenschaftlichen Aufgaben, und es gelingt ıhm trotz ausnahms- weiser Schwierigkeiten, trotz des Mangels an Geldmitteln, sowie an entsprechenden Einrichtungen, oft auch trotz des Widerwillens der Landesbehörden, in den bis- herigen Meinungen der wissenschaftlihen Welt über die Fauna Ostsibiriens eine formelle Umwälzung durchzuführen.

Beeinflußt durch seine Beobachtungen und wissenschaftlichen Sammlungen, die er teils persönlich bearbeitet, teils zur Bearbeitung an polnische und aus- landische Spezialisten versendet, faßt die vorher in der Wissenschaft verneinte Anschauung über die Verschiedenheit der Zoologie Sibiriens, festen Fuß. Die besonderen Verdienste des Autors in dieser Richtung betreffen seine Forschungen über die Fauna des Baikalsees, eines der interessantesten der Welt, dessen Namen in der Wissenschaft mit dem des Prof. Dybowski als Entdecker auf ewige Zeiten verflochten ist.

Trotzdem die im Tagebuche geschilderten Zeiten und Begebenheiten von den jetzigen durch fast sieben Jahrzehnte getrennt sind, bestimmen nichtsdesto- weniger die Vielseitigkeit und Exaktheit der Beobachtungen, sowohl aus dem wissenschaftlichen, als auch aus dem sozialen Gebiete, durch eine besonders leb- hafte und zugängliche Form dem Leser dargeboten, den unvergänglichen Wert dieses Werkes. K. Tyszkowski.

Lemberg.

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Dr. Konarski Kazimierz: Nowożytna Archiwistyka Polska i jej zadania. (Die moderne polnische Archivistik und ihre Aufgaben.) Warschau 1929. Im Verlage der Staatsarchive. VII und 160 S.

Die moderne polnische Archivistik hat mit vielen und großen Schwierigkeiten zu kämpfen. Obwohl in Polen die einheitliche Leitung der Staatsarchive schon seit 1919 besteht, ist die innere Ein- richtung der einzelnen Archive, deren wichtigste mit ihren Anfängen noch in die Zeit der Fremdenherrschaft hineinreichen, nicht überall gleichförmig. Infolgedessen war es schwer, die einheitlichen, für alle Archive gültigen Grundsätze der archivalischen Praxis festzustellen und eine den polnischen Verhältnissen entsprechende, archivalische Terminologie auszuarbeiten. Trotzdem aber war in Polen das Interesse für das Archivwesen immer mehr und mehr rege. Besten Beweis dafür liefert der vierte Historikertag in Posen im Jahre 1925, wo eine spezielle archivalische Sektion mit bedeutender Zahl der Referate gebildet wurde. Um allen diesen Mißständen auf dem Ge- biete der polnischen Archivistik abzuhelfen, wurde noch 1919 eine archivalische Sektion im Rahmen des Warschauer historischen Vereines ins Leben gerufen, welche seit 1926 unter der Leitung des General- direktors der polnischen Staatsarchive, Prof. St. Ptaszycki, eine rege Tätigkeit zu entwickeln begann. Im nächstfolgenden Jahre wurde endlih von dem Letztgenannten die archivalische Fachzeitschrift „Archeion“ gegründet, in welcher verschiedene Aufsätze und Ab- handlungen über archivalische Theorie und Methodik veröffentlicht werden. All das entsprach zwar den aktuellen Bedürfnissen aber nur teilweise, denn das Verlangen, eine systematische Darstellung der polnischen Archivistik zu haben, bestand noch immer. Darum soll man mit größter Freude das Erscheinen des oben genannten Werkes begrüßen, um so mehr, daß dessen Verfasser, Direktor des Archivs der alten Akten in Warschau, sowohl auf dem Gebiete der archivali- schen Theorie sich schon bekannt gemacht hatte, wie auch in dein ihm unterstellten Archiv, in welchem die Akten der polnischen und russischen Behörden in Kongreßpolen aufbewahrt werden, eine um- fängliche Praxis zu erwerben imstande war.

Die Arbeit ist als Nr. X. der Publikationen der Verwaltung der Staatsarchive erschienen und eröffnet eine neue Serie derselben, nämlich „Die Bibliothek der Zeitschrift „Archeion“. Sie bietet ein System der polnischen Archivistik, aber nicht im ganzen Umfange und Inhalte derselben; sie ist nämlich, wie der Titel selbst und dann die Vorrede S. II ankündigt, zeitlich und räumlich sehr begrenzt. Verf. erörtert fast ausschließlich Probleme, welche die aus dem XIX. Jahrh. stammenden und in den Staatsarchiven auf dem Gebiete des ehemaligen Kongreßpolens, hauptsächlich aber im Archiv der alten Akten in Warschau aufbewahrten Archivalien betreffen. Diesen

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Moment muß man beim Lesen des genannten Werkes im Auge be- halten. Aus dieser Begrenzung des Themas ergibt es sich, daß die vom Verfasser aufgestellten Grundsätze und terminologische Be- nennungen nicht immer auf die Bestände und Praxis anderer Staats- archive Anwendung finden können.

Der Stoff der Arbeit ist in sieben Kapitel eingeteilt. Zuerst gibt Verfasser die Definition des Begriffes „Archiv“ und im Anschluß daran spricht er über die Aufgaben und Zweck der Archive, sowie über die Einteilung derselben. Mit Rücksicht auf das Eigentumsrecht unterscheidet er Staats- und nichtstaatliche Archive, mit Rücksicht dagegen auf den inneren Zusammenhang der Bestandteile der ein- zelnen Archive teilt er sie in Fonds (zespół) und archivalische Samm- lungen (Kollektion, zasób) ein. In den zwei nächstfolgenden Kapiteln wird dann der archivalische Fonds als Produkt der Virksamkeit einer Behörde (II.) und als Objekt der Archivalpraxis (III.) eingehend be- sprochen. Knapp daran schließt sich ein Kapitel über Klassifikation und Ordnen der Akten (IV.). Darauf folgen Ausführungen über Inventare und Repertorien (Indices), wobei Verfasser das Problem der Herstellung und verschiedene Kategorien derselben erörtert (V. VI.). Das letzte Kapitel ist endlich der Konservierung der Archi- valien gewidmet (VII.). Im Anhang finden wir drei aus der Praxis des Archivs der alten Akten in Warschau geschöpften Beispiele, der Rekonstruktion eines zerstreuten Fonds, dann der Konstruktion einer künstlichen archivalischen Kollektion und schließlich der Ergänzung eines Fonds. Ein kleines Wörterbuch der archivalischen Fachaus- drücke, worauf ein Namens- und Sachverzeichnis folgt, bildet den Schluß der ganzen Arbeit.

Die Ausführungen des Verfassers sind im dogmatischen Tone gehalten; er führt ganz neue Fachausdrücke ein, stellt neue Grund- sätze und Regeln auf. Dabei ist aber Verfasser völlig bewußt, daß er auf einem ganz neuen Gebiete arbeitet, das vielleicht nicht alle Ergebnisse seiner Arbeit überall Beifall finden werden. Darum nennt er sein Werk nur einen Versuch, dessen Wert sich erst im Feuer der Kritik bewähren wird (S. I). Diese Stellungnahme des Autors ist ganz richtig. Sein Buch enthält, wie schon oben angezeigt worden ist, nicht ein allgemeines, sondern ein partielles System der polnischen Archi- vistik, welches nur eine begrenzte Zahl polnischer Archiyalbestände und Archive berücksichtigt. Darum müssen die Ergebnisse der vor- liegenden Arbeit zuerst vom Standpunkte der Bedürfnisse anderer Archive ergänzt werden und erst dann wird es möglich sein, an den Bau des allgemeinen Systems der polnischen Archivistik heranzu- treten.

St. Zajaczkowski.

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Gebarowicz Mieczystaw: Katalog rekopiséw Bibljoteki im. Gwalberta Pawlikowskiego. (Handschriftenkatalog der Pawlı- kowskischen Bibliothek in Lemberg.) Lwów, Ossolineum,

> 159. S.A. aus „Rocznik Zakładu Nar. im. Ossolińskich“, III.

Die Pawlikowski’sche Bibliothek entstand im Zeitalter der Generation der großen Sammler in der ersten Hälfte des XIX. Jahrh. Gwalbert Pawlikowski, der Freund und Testamentsvollstrecker des J. M. Ossoliński hat während seines ganzen Lebens mit großer Mühe, unzähligen Kosten, aber auch mit Fachkennmis gesammelt und eine schöne Bibliothek, sowie ein Münz- und Kupferstichkabinett geschaffen. Die Sammlungstitigkeit des Pawlikowski begann in Wien, wo er seine jugendlichen Jahre als Österreichisch er Beamter verbrachte. Im Jahre 1830 wurden die Sammlungen auf sein Landgut in Medyka (unweit Przemyśl), welches er nach dem Tode seines Vaters geerbt hatte, gebracht. Im Sturmjahre 1848 wurden die Sammlungen nach Lemberg überführt und veröffentlicht. Nach dem Weltkri wurde die Bibliothek dem Ossoliäskischen Nationalinstitute als selbständige teilung einverleibt. Der heutige Zustand der Kollektion weist 22 382 Druckwerke, 290 Handschriften, 4270 Autographen, 24 827 Kupferstiche und Zeichnungen (be- en EEN Sammlung), 678 Karten, 8688 Münz- und Medaillensamm- ung auf.

Die Geschichte der Bibliothek ist innig mit der der Familie Pawlikowski, welche in allen Generationen literarische und wissenschaftliche Neigungen und Fähigkeiten aufweist, gebunden. Der jetzt lebende Eigentümer ist der hochge- schätzte Slowacki-Forscher, Jan Gwalbert Pawlikowski. Freunde und Mitarbeiter, unter ihnen die Historiker Przylecki, Zegota Pauli, H. Schmitt und Kubala müssen hier auch erwähnt werden, somit ist es nicht wunderlich, daß eine, berühmte in Polonicis, Sammlung entstanden ist.

Den wichtigsten Teil der Kollektion bilden alte Drucke und Kupferstiche, doch können auch in der Handschriftenabteilung, von welcher Dr. Gebarowicz einen wissenschaftlichen Katalog bearbeitet hat, mehrere wertvolle, sogar erst- klassige Objekte aufgezählt werden. Der Inhalt derselben sieht wie in jeder privaten Sammlung sehr bunt aus. Von dem XIV. Jndt. bis in das XIX. Jhdt. sind Theo- logie, Geschichte, Literatur, Recht, Philosophie (Rhetorik) hier nebeneinander zu treffen. Wir können hier natürlich nicht alles erwähnen, doch wire es nicht ohne Nutzen, einige Handschriften aufzuzählen, welche für den Leser der „Jahrbücher“ von Wert sein können.

In erster Linie stehen „Polonica“, welchen der Gründer dem Patriotismus der romantischen Epoche gemäß, größeres Interesse zuwandte. Hier gehören vor allem die Rechnungsbücher des königlichen Hofes ın Krakau vom XIV. Jhdt. (publ. v. Piekosinski in Mon. medii aevi Hist. Bd. XV). Dem Kreise der Krakauer Universität gehören wahrscheinlich die latein. Rechtsbücher des XV. Ihdts. (Nr. 193) an. Wichtiges Material für die Kultur der polnischen Renaissance bilden die Hofrechnungen des letzten Jagellonen (Nr. 192, 194). Es folgt für die Zeiten Sigismund III. „Liber cancellariae“ des Groß kanzlers Jakob Zadzik (Nr. 201, 208). Die Regierung Sobieskis und August II. repräsentiert eine Korrespondenzsammlung des Kardinals Radziejowski und Stanislaus Rzewuski (Nr. 210). Im allgemeinen bieten die Handschriften für die II. Hälfte des XVIII. Jhdts. mehrere wichtige Quellen, in erster Linie für die Konföderation von Bar (Nr. 94, 224, 6, 9, 287), darunter die französischen Memoiren Murrays.

Besondere Wichtigkeit besitzen Teatralia, speziell jesuitische Aufführungen, die von Dr. Bernacki bearbeitet wurden. Zum luß nennen wir noch den im Album Tödwens eingetragenen Autograph der „Reduta Ordona“ von Mickiewicz.

Mit der polnischen Gruppe inhaltlich verbunden, aber der Provenienz nach unbekannt, sind mehrere Dantiscana mit dem Tagebuche Chodowieckis an der Spitze (Nr. 31 „Journal einer von Berlin nach Dresden stattgefundenen Lustreise, Leipzig, Halle, Dessau usw. A. 1789“ Autograph). Prof. Zeißberg und nach ihm Perlbah und Kętrzyński haben aus der Pawlikowskischen Handschrift Nr. 128 „Cronica de Prussia“ und „Fontes Olivenses“ publiziert. Dann wären auch die

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kirchenslavischen Handschriften zu notieren, darunter ein rhetorisches, lateinisches Handbuch für die schismatische Akademie zu Kiew, mit vielen Beispielen in pol- nischer und lateinischer Sprache. So können wir im allgemeinen die lung der 290 Handschriften charakterisieren, ohne natürlich genau über das Bunte berichten zu vermögen.

Die Beschreibungsmethode ist sehr genau und mit reichvollem Apparat von bibliographischen und meritorischen Angaben und Informationen versehen. Dabei folgt ein gutes Sach- und Personenregister von M. Chmielowska.

Lemberg. K. Tyszkowski.

„Rzeczpospolita Polska, Atlas Statystyczny“, herausgegeben vom Statistischen Hauptamt der Republik Polen. Warszawa 1930 (polnisch und französisch; Folioform., 42 Tafeln, 8 Seiten Text).

Der Atlas stellt eine offizielle Publikation des statistischen Hauptamts in Warschau dar. Unter Zugrundelegung der durch die bisher einzige polnische Volkszählung vom 80. 9. 1921 gewonnenen Ergebnisse, werden die verschiedensten Fragen der Bevölkerungsbewegung, der nationalen Zusammensetzung und der wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse Polens auf insgesamt 42 Tafeln be- handelt. Die technische Ausführung der zahlreichen Karten, Kartogramme, Dia- gramme und Kurven ist gut. Zwei Karten (Administrative Einteilung und Nationalitätendarstellung) sind im Maßstab 1: 2 000 000, die anderen Karten und Kärtchen, die nur Übersichten geben sollen, sind in den Maßstäben 1 : 4 000 000, 1: 500 000, 1: 10 000 000 und 1 :15 000 000 gezeichnet.

Der Vergleich der einzelnen kartographischen und statistischen Darstellungen zeigt deutlich, wie stark sich die einzelnen Teilgebiete Polens voneinander unter- scheiden. Besonders markant heben sich die ehemals preußischen Gebiete aus dem Rahmen der neupolnischen Länder in wirtschaftlicher wie kultureller Hinsicht heraus; zum Beleg sei 2. B. verwiesen auf die kartographischen Darstellungen über den Gebäudebauzustand, die Zimmerzahl der Häuser und die Zimmerwohndichte (Tafel 4 und 5), die Bodennutzung und Größe der Virtschaften (Tafel 18), den Anbau von Feldfriichten (besonders den Zuckerrübenbau) (Tafel 18), die Ernte- erträge pro ha (Tafel 19), die Schweinezucht (Tafel 21), das Eisenbahnwesen (T afel 200 „die finanziellen Einnahmen und Ausgaben (Tafel 87 und 38), die Intensität des Schulbesuches und die Zahl der Schulkinder pro 1000 Einwohner (Tafel 40), das Analphabetentum (Tafel 41) und das Gesundheitswesen (Tafel 42).

Den deutschen Betrachter interessiert aus der Reihe der kartographischen Darstellungen die Bevölkerungsdichtekarte und die Nationalitätenkarte von Neu- Polen in besonderem Maße. Auf sie sei daher im folgenden näher eingegangen.

Die Karte der Bevölkerungsdichte von Polen.

Diese, im Maßstab 1: 5 000 000 gezeichnete Karte stellt die Bevölkerungs- dichte kreisweise dar. Die Dichtewerte der einzelnen Kreise wurden nach sieben Gruppen (bis 25, 25—50, 50—75, 75—100, 100—125, 125—150, über 150) ge- geordnet. Die Karte zeigt deutlich, wie sich im Südwesten des Landes die Be- völkerungsdichte gegen die hochindustriealisierten Gebietsteile von Poln. Ober- schlesien, Dąbrowa und Krakau hin verstärkt, wie dicht besiedelt (z. T. über 100 Einwohner pro qkm) aber auch die fruchtbaren, lößbedeckten Landstriche der subkarpatishen Senke und der Pododischen Platte im Süden Polens sind und wie sich die industriereichen Wojewodschaften Lodz, Kielce und Teile der Wojewod- schaften Warschau und Posen mit ihren teilweise fruchtbaren Diluvialplatten durch eine recht hohe Bevölkerungsdichte auszeichnen. In allen diesen Gebieten ist die Dichte durchweg größer als die durchschnittliche Dichte Gesamtpolens von 70 Ein- wohnern pro qkm.

Jenseits der Weichsel-Wieprz-Linie sinken die Bevölkerungsdichteziffern teil- weise weit unter diesen Landesdurchschnittswert, in dem wald- und sumpfreichen Polesie sogar unter 25 Einwohner pro qkm.

Daß sich in der Karte die Kreise Warszawa, Lwów, Bialystock, Wilno, Lublin, Thorn, Bromberg, Posen und Hohensalza als sehr dicht besiedelte Gebiete heraus- heben, obwohl sie in Wirklichkeit nur mittelstark oder schwach bevölkert sind

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ider nicht ausgeschieden, sondern mit auf die entsprechenden Landkreise ver- rechnet hat. Dadurch kamen auf der Karte in den genannten Gegenden Polens Bevölke ichteverhältnisse zustande, die ein mißverständliches Bild der Be- völkerungsdichte des flachen Landes ergeben. Die Karte hätte eine bevölkerungs- geographisch brauchbare Darstellung ergeben, wenn wie sonst üblich die Bevölkerung aller größeren Städte bei der Darstellung der Bevölkerungsdichte in den einzelnen Kreisen in Abzug gebracht und die Städte besonders signiert worden wären. In jedem Falle aber dürften Stadtkreise und Landkreise auf einer modernen Bevölkerungsdichtekarte nicht zusammengezogen werden.

Wünschenswert wäre es gewesen, die Karte in größerem Maßstab zu zeichnen und der besseren Orientierung wegen das Flußnetz einzutragen. Auch sei erwähnt, daß der Kreis Włoszczowa hinsichtlich seiner Bevölkerungsdichte in die Gruppe „75-100 eingeordnet worden ist, obwohl sich nach „Roczn. Stat.“ Bd. 1928, S. 7 nur 648 Einwohner pro qkm errechnen lassen. Allerdings gibt der genannte Band des „Roczn. Stat.“ die Bevölkerungsdichte dieses Kreises (wohl auf Grund eines Rechenfehlers) irrtümlich mit 79,2 an.

Die Karte der Nationalitäten in Polen. (Narodowości w Polsce.)

Die im Maßstab 1 : 2000000 gezeichnete Karte soll ein Bild von der natio- nalen Struktur der Bevölkerung Polens geben und zwar auf Grund der Ergebnisse der polnischen Nationalitätenzählung vom 80. 9. 21., 1) (veröffentlicht im „Roczn. Stat.“, Bd. 1924, S. 12 ff.). Für den damals von dieser Zählung nicht erfaßten Teil der Wojewodschaft Wilna wurden die Ergebnisse der Zählung von 1919 verwandt; in dem polnisch gewordenen Teil Oberschlesiens kamen nicht die offi- ziellen Zahlen der Fählun von 1910, auch nicht die Abstimmungsergebnisse von 1921 zur Darstellung, sondern die in mancherlei Hinsicht anfechtbaren Schätzungen von Z. Stolihski („Liczba Niemców w Polsce“, in „Sprawy Narodowosciowe“, Warszawa 1927 Die Deutschen in Polen —), welche seinerzeit schon durch Heidelck (in „Deutsche Blätter in Polen“, Februar 1929, Heft 2) einer eingehenden Kritik unterzogen worden sind.

Die Karte ist in der Methode der Punktmanier ausgeführt worden; je 5000 Personen einer Nationalität wurden durch einen Punkt von 1 mm Durch- messer, in Städten mit über 50000 Einwohnern je 10000 Personen durch ein Quadrat von 1 mm Seitenlänge symbolisiert.

Im allgemeinen hat eine nach der Punktmanier gezeichnete Karte, gegen- über einer relativ darstellenden, den großen Vorzug, daß sie die in einem Ge- biet lebenden Menschen nach ihrer Zahl und Verbreitung wirklichkeitsgetreu zu lokalisieren vermag, vorausgesetzt freilich, daß die durch je ein Symbol dar- gestellte Einheit nicht zu Zusammenfassungen zwingt, die die wirkliche Verteilung der Bevölkerung nicht mehr erkennen lassen. Im Idealfall also kann eine solche Karte zur Siedlungskarte werden. Aber kartographische Arbeiten auf diesem Ge- biete in Deutschland und Schweden haben gezeigt, daß eine solche Karte nur dann Sen richtig sein kann, wenn ihr ein möglichst großer Maßstab zugrunde

elegt wird, der es erlaubt, auch die kleinsten Siedlungen im Kartenbilde wirklich Protein zu lassen.

Da der Bearbeiter der hier besprochenen Karte einerseits einen für die Dar- stellung in Punktmanier viel zu kleinen Maßstab (1: 2 000 000) und andererseits eine für die Erfassung der wirklichen Verhältnisse zu große Einheit (5000 Ein- wohner) gewählt hat, so kann es nicht wunder nehmen, wenn diese Karte kein allseitig befriedigendes Bild der Nationalitätenverteilung und Siedlungsdichte Polens zu geben vermag. So sind 2. B. in obiger Karte die 91 größtenteils rein deutschen Kolonien des Cholmer Landes (K. Lück, „Die Deutschen im Cholmerlande“, in „Nation und Staat“, März 1980, Heft 6, S. 878) nur mit einem einzigen Punkt

1) Vgl. Anmerkung zu Tafel 6, S. XIII des Atlaswerkes. 384

vermerkt worden, wobei noch darauf hingewiesen werden muß, daß dieser Punkt auch der einzige in der ganzen Wojewodschaft Lublin ist, in der nach Ausweis der polnischen Nationalitätenzählung rund 12 000, nach Schätzungen von Z. Sto- linski („Die Deutschen in Polen“) 18 056 und nach Berechnungen von K. Lück (siehe die genannte Arbeit) allein im Cholmgebiet 16000 Deutsche vorhanden sind.

Trotzdem muß bei einer objektiven Beurteilung obiger Karte hervorgehoben werden, daß es dem Bearbeiter im wesentlichen gelungen ist, die Eigenart der Lage und Verteilung der Siedlungen, vor allem in dem schwach bevölkerten Osten Polens richtig zum Ausdruck zu bringen. Seine Karte zeigt was einer solchen in Flächenmanier kleinen Maßstabes, wie es die in Tafel 2 des Atlaswerkes ist, nicht vermag —, wie sehr die Lage der Siedlungen von der Natur der Landschaft abhängig ist. Es tritt z. B. deutlich hervor, wie sich in den Wald- und Sumpf- gebieten der Wojewodschaften Polesie und Bialystok die Siedlungen an den höher gelegenen und trockenen Stellen (z. B. an der Jasiotda, am Styr und am Horyá) und auf den Randgebieten konzentrieren und diese Landstriche dann auch als teilweise sehr dicht bevölkerte Gebiete erscheinen lassen. Dagegen liegen auch in der Karte die geschlossenen, siedlungs- und verkehrsfeindlichen Wald- und Sumpf-

ebiete fast unbewohnt da. In den Urstromtallandschaften Kongreßpolens meiden ie Siedlungen die Nähe der versandeten und versumpften Flußniederungen und

häufen sih an den Rändern und auf den Diluvialplatten.

Da es sich aber bei der vorliegenden Karte in der Hauptsache nicht um eine Siedlungskarte, sondern um eine Nationalitätenkarte handelt, müssen vor allem der 35 der Nationalitäten auf dieser Karte noch einige Vorte gewidmet werden.

Es hat einen besonderen Reiz, die Bevölkerung eines Landes, wenn sie, wie in Polen, aus mehreren Nationalitäten zusammengesetzt ist, auf einer Karte in Punktmanier darzustellen; denn eine solche Karte vermag, sofern sie methodisch und sachlich einwandfrei ist, nicht nur die absolute Mitgliederzahl der in einem Gebiet vorhandenen nationalen Bevölkerungsgruppen bildlich genau wiederzugeben, sondern sie kann KEE auch das Nebeneinander und Ineinander der national verschiedenen Wohngebiete gut charakterisieren.

Sie ist also besser als jede andere Kartendarstellung zum Studium nationaler Grenzverhältnisse in einem Lande mit völkisch gemischter Bevölkerung geeignet. Es ist daher an und für sich zu begrüßen, daß mit obiger Karte ein Versu in dieser Hinsicht gemacht worden ist.

Leider entspricht diese Karte nur in beschrinktem Maße den Ansprüchen, die man an eine in Punktmanier ausgeführte Karte stellt. Die als Einheit für die Darstellung gewählte Zahl von 5000 Personen ist, wie schon eingangs erwähnt, zu hoch!! Der Bearbeiter war mithin gezwungen, eine in einem Kreise vorhandene nationale Gruppe nur dann vermittels eines bzw. mehrerer Punkte darzustellen, wenn diese eine durch 5000 teilbare Zahl von Mitgliedern wirklich oder annähernd erreichte. Zahlen die unter 2500 liegen, hat er, soweit wenigstens die Verhältnisse bei den Minderheiten nachgeprüft werden konnten, meist nicht berücksichtigt, was deswegen bedauerlich ist, weil es in vielen Kreisen, besonders in dem schwach besiedelten Ostpolen, nur selten nationale Minderheiten von mehr als 2500 Personen gibt. Unter diesen Umständen werden solche zahlenmäßig kleine Bevölkerungsteile, die aber in Gebieten schwacher Bevölkerungsdichte pro- he doch eine wichtige Rolle spielen konnen?), auf der Karte außer acht elassen. : Die vorliegende Karte kann unter diesen Umständen nicht als ein treues Abbild der durch die polnische Nationalitätenzählung festgestellten Nationalitäten- verhältnisse Polens bezeichnet werden. Dem Bearbeiter ist es nicht gelungen, die feineren Unterschiede in der nationalen Zusammensetzung der Bevölkerung ein- wandfrei herauszuarbeiten. Diese Unterschiede, auf die es beim Studium nationaler Grenzverhältnisse völkisch inhomogener Siedlungsgebiete, wie z. B. in Wolhynien,

2) Hier sei nur auf Wolhynien verwiesen, das bei einer Bevölkerungsdichte

von 47,5 Einw. pro qkm national überaus 1 ist; neben einer Mehrzahl von Ukrainern wohnen dort Polen, Deutsche, Tschechen, Juden und Russen.

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so sehr ankommt, wurden verwischt. Bei der Benutzung der Karte ist daher Vorsicht geboten.

Die Gesamtzahl der so in den einzelnen Wojewodschaften auf der Karte nicht dargestellten Deutschen ist z. T. recht erheblich. Das läßt die folgende nach Wojewodschaften geordnete Tabelle deutlich erkennen:

Zahl der Deutschen

Wojewodschaft: nach der Karte: nach „Roczn. Stat.“: (Bd. 1924, S. 12 ff.) Warschau . . . . . 40000 48 208 Lodz .... 95 000 108 456 Kielce 3 655 Lublin 5 000 10 933 rea dig 4117 Krakau . 5 000 9 295 Lemberg 5 000 12 486 Tarnopol . . . 2 484 Teschen-Schlesien 25 000 29 010

Aber auch hinsichtlich der Verhältnisse bei den anderen Minoritäten sind dem Bearbeiter der Nationalititenkarte ganz offenbare Fehler unterlaufen, die besonders im Osten Polens das durch die Nationalitätenzählung von 1921 fest- gestellte Bild in vielen Kreisen sehr verändern, und zwar zu ungunsten der Nichtpolen.

So ergab die Nachprüfung der Karte hinsichtlich ihrer Eintragungen von Weißrussen und Ukrainern gegenüber den Angaben des „Roczn. Stat.“ ein Zu- wenig (—) z. B. in folgenden Kreisen:?)

Kreis: Weiß russen Kreis: Ukrainer Dunilowice (Wojew. Wilna) 20000 Zbaraż (Wojew. Tarnopol) . 5500 Dzisna j 5 9200 Skalat S = . 2500 Swi¢ciany K 12 8700 Brzezany „, = . 1270 Nowogródek . . . . . . 5000 KamiehKoszyr.(Wojew.Polesiec) 6500 Pinsk (Wojew. Polesie) . 7000 Zdolbundw Sp 6000 Kossów „. e d 6000 +

Bielsk (Wojew. Bilaystok) 4900

Dafür einige Beispiele aus deutschen Minderheitsgebieten: Es wurden, um nur einige Kreise herauszugreifen, auf der Karte nicht beriicksichtigt:

in Wolhynien. Lödz 8808 Deutsche im Kreise: Turek 1 067 = Keren 2599 Deutsche’) Bialystok 2 048 Se Kowel . . 1139 nm in Galizien: Wlodzimierz . 1 723 e im Kreise: in Kongreßpolen: Bala . . 1937 i im Kreise: Lwów (Lemberg) . 3548 15 Wegréw 1091 0 Rawa Ruska. . . 1298 S Wlodawa 1 313 » Zydaczöw . . . 1791 Ge Lipno 1311 ge Skole 1 765 5 Nieszawa 1101 e Stanıslawöw 1118 K Ciechanów . 1 388 = Kalusz ... . 1023 A Warszawa. 1981 d in Teshen-Schlesien: Rawa 1144 » im Kreise: Kolo 1226 Cieszyn (Teschen). 1000 Piotrköw 1335 „, Bielsko (Bielitz). 2300 Sieradz . 2 383 ve

3) In der Tabelle sind nur einige Kreise aufgeführt, in denen die Unstimmig- keiten zwischen Karte und „Rocznik“ besonders groß erscheinen. %) Die Gesamtzahl der in den einzelnen Wojewodschaften auf der Karte

zuwenig dargestellten Nichtpolen ist z. T. recht erheblih; so ergab die Aus- zählung der hellbraunen Punkte auf der Karte, daß z. B. in der Wojewodschaft

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Ganz auffallende Eintragungen sind von dem Bearbeiter der Karte im Kreise Kamień Koszyrski (Wojew. Polesie) vorgnommen worden: einerseits hat er dort 6600 Ukrainer zuwenig berücksichtigt, andererseits aber 10000 Weißrussen ein- gezeichnet, obwohl ihrer daselbst nach „Roczn. Stat.“ im ganzen nur „6“ vorhanden sind.

Welche Gründe können den Bearbeiter veranlaßt haben, die Ergebnisse der Volkszählung so zu verändern?

Wenn die Verschiebung der Verwaltungsgrenzen der Kreise eine so wesent- liche Anderung der Bevölkerungszahl in den betreffenden Kreisen nach sich ge- zogen hätte (was durchaus denkbar wäre, da eine Verschiebung der administra- tiven Grenzen in den Ostwojewodschaften tatsächlich erfolgt ist e)), dann müßte doch eine entsprechende Berichtigung im „Roczn. Stat.“ ertolgt sein, was bislang nicht geschehen ist. Auch hinsichtlich der Repatriation, die in vielen Teilen Ostpolens sowohl die Zahl als auch die nationale Zusammensetzung der Be- völkerung z. T. sehr stark verändert hat7), ist die im „Roczn. Stat.“ (Bd. 1924, S. 12 ff.) wiedergegebene Nationalitätenstatistik Polens vom Stat. Haupamt in Warschau noch ich berichtigt worden. Man muß also annehmen, daß sich der Stand der Nationalitätenverteilung in den einzelnen Kreisen Polens seit dem Er- scheinen des Bd. 1924 des „Roczn. Stat.“ (auf dessen Angaben ja nach den An- merkungen des Atlaswerkes S. XIII die obige Karte beruht) nicht wesentlich ge- ändert hat. Es muß also vermutet werden, daß der Bearbeiter der Karte mit den Angaben der Nationalitätenstatistik ziemlich willkürlich verfahren ist.

Neben diesen Einwänden gegen die Darstellungsweise muß aber auch das der Karte zugrunde gelegte Material und seine Auswertung zur Kritik herausfordern. Denn die Karte dürfte kaum die wirkliche Nationalitätenverteilung Polens dar- stellen, sondern bestenfalls die Ergebnisse der polnischen Zählung vom 80. 9. 1921. Dieser Zählung gegenüber muß aber darauf hingewiesen werden, daß sachlich gehaltene Arbeiten über polnische Nationalitätenverhältnisse, selbst solche aus der Feder polnischer Gelehrter®), die Angaben des „Roczn. Stat.“ anzweifeln und lieber aus anderen Quellen schöpfen, z. B. aus der polnischen Konfessionszählung.

Bezüglich der Zahl und Verbreitung der Deutschen in Polen haben beispiels- weise V. Winkler?) und A. Mückler!2) die Unzuverlässigkeit der polnischen Zählung von 1921 erwiesen.

Es wäre daher wünschenswert gewesen, wenn der Bearbeiter neben der nationalen auch die konfessionelle Zusammensetzung der Be- völkerung Polens auf Karten dargestellt hätte. Derartige Karten fehlen im obigen Atlas ganz! Tafel 7 des Atlaswerkes bringt nur einige Diagramm- darstellungen der Konfessionen Polens, die das zahlenmäßige Verhältnis der ein- zelnen konfessionellen Gruppen zueinander und den Anteil der Nationalitäten an ihnen demonstrieren sollen.

Noc auf eins sei bei der Besprechung obiger Karte hingewiesen: Die Ka- schuben im Weichselkorridor werden als echte Polen dargestellt. Angesichts der

Tarnopol entgegen den Angaben des „Roczn. Stat.“ insgesamt 29000 Ukrainer zuwenig, andererseits aber 12500 Polen zuviel eingetragen worden sind.

5) Vergleiche die Zahlenangaben im „Roczn. Stat.“ (Bd. 1924, S. 12 ff.) mit den Ergebnissen einer Punktauszählung, wie sie Verfasser auf der Karte vor- genommen hat.

e) Vgl. „Czasopismo Geograficzne“, Bd. 7, S. 233, Lwów und Warszawa 1929: „Ostatnie zmiany administracyjne w Polsce. Die letzten administra- tiven Veränderungen in Polen.

7) Nach „Roczn. Stat.“ (Bd. 1928, S. 69) betrug die Zahl der Repatrianten für die Zeit von 1921—1924: 809 392.

8) Vgl. die in „Czasopismo Geogr.“ (Bd. 7, Heft 4, S. 284) unter „Narodo- wości w Polsce“ genannten Arbeiten.

e Gr „Statistisches Handbuch für das gesamte Deutschtum“, Berlin 1927, 1 ;

10) „Das Deutshtum Kongreßpolens. Eine statistisch-kritishe Studie.“

Leipzig-Wien 1927, S. 27 ff.

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jetzt als erwiesen zu betrachtenden Tatsache, daß die Kaschuben kein polnischer V sind, sondern wie etwa die Ukrainer und Weißrussen eine ändi westslavische Volksgruppe, gehörig zu dem polabisch-pomoranischen Zweig der Westslaven, darstellen, wäre von einer objektiven Bearbeitung zu erwarten ge- wesen, daß die Kaschuben auch in der Karte als besondere Gruppe i worden wären.

Breslau. J. Czech.

Elisabeth Kloß: Das Gründungsbuch der Stadt Dirschau (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte Westpreußen. Herausg.

vom Westpreußischen Geschichtsverein, Nr. 14). Danzig 1929.

Da durch den großen Brand von 1577 der größte Teil dei städtischen Archivalien zugrunde gegangen ist, wird mit dieser Publikation zum ersten die Möglichkeit geboten, diese für die Ortsgeschichte ergiebige lle in vollem Umfange auszuschöpfen. Darüber hinaus ist sie aber auch von erheblicher national- geschichtlicher Bedeutung. Sie zeigt uns den vollkommenen deutschen Charakter der Stadt in der Zeit, wo Dirschau, das durch Machtspruch von Versailles zum „polnischen Korridor“ geschlagen worden ist, schon einmal unter polnischer Herrschaft gestanden hat. Durchweg deutsch sind die Namen der Besitzer; die Grundstücke blieben oft jahrzehntelang im Besitz der alteingesessenen Familien. Im 18. Jahrhundert zwang die wirtschaftliche Lage häufig zum Besitzwechsel. Aber auch diese neuen Besitzer stammten wieder aus dem Werder und den um- liegenden deutschen Gebieten. E. Kloss hat mit dieser mühsamen Arbeit einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des Deutschtums in Westpreußen geliefert.

Breslau. , Pürscel

Ernst Petersen: Die frühgermanische Kultur in Ostdeutschland und Polen. Mit 36 Tafeln. Berlin 1929. Verlag Walter de Gruyter

& Co.

Petersen hat sich die Aufgabe gestellt, die zeitliche Stellung der frühgerma- nischen Kultur in Ostdeutschland und Polen festzulegen und ihre Entwicklungs- stufen abzugrenzen. Bei der starken Zersplitterung der Funde (s. Anhang) hat P. shon durch mühevolles Zusammentragen wertvolle Arbeit geleistet. wic- riger noch war die Untersuchung des auf den ersten Blick oft stark uniformen Materials. Text und Bild (s. die 36 vorzüglich ausgestatteten Tafeln) geben eine Vorstellung von der Sorgfalt und Kritik, mit der der Verf. den Stoff bearbeitet hat. Die ergebnisreiche Arbeit ist um so mehr am Platze, als polnische Vor- 1 versuchen, ihr Arbeitsgebiet nationalpolitischen Forderungen dienstbar zu machen. Wiederholt tritt P. diesen auf falschen Schlüssen auf- gebauten Ansprüchen entgegen. Die zahlreichen Beilagen sind besonders zu be- KE Sie ermöglichen dem Benutzer eine leichte Nachprüfung der gewonnenen Resultate.

Auf Grund der Grabungen des Danziger Museums im Kreise Putzig ist die obere zeitliche Grenze dieser Kultur zu bestimmen. Sie reicht in die Periode V der Bronzezeit. Nach dem Hauptfundort wird sie vom Verf. als „Großen- dorfer Gruppe“ bezeichnet. Für die folgenden drei Stufen ist von einer neuen Stufenbezeichnung abgesehen, da sie den Ansetzungen Reineckes für die jüngeren Perioden der Hallstatt- und den älteren der Laténezeit entsprechen. Die Großen- dorfer Gruppe umfaßt das untere Weichselgebiet, das östliche Hinterpommern, das westliche Westpreußen und das nordwestliche Posen. Ihr Zusammenhang mit der gesamtgermanischen Kultur ergibt sich durch einen Vergleich der Metall- Beigaben und der Keramik mit dem nordischen und nordwestdeutschen Formen- kreis der gleichen Zeit. Interessant ist in dieser Beziehung die Gegenüberstellung der Urnen aus Bringvaermoen in Norwegen (Tafel 71), die primitive Ansätze zu einer Gesichtsverzierung aufweisen, mit den Gefäßen von Tillitz, in denen der Verf. die ältesten Gesichtsurnen sieht. Ihre Entwicklung sowie die Ausbildung einer Anzahl auffallender Schmuckformen beweist jedenfalls, daß sih nach der Trennung vom westgermanischen Kulturkreis die ostgermanische Kulturprovinz zu einer ausgesprochenen Sonderkultur ausbildete. Die enge Verwandtschaft der

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frühostgermanishen Keramik mit der norddeutsch-skandinavischen Bronzezeit wird von P. mit Recht besonders hervorgehoben, weil Kosstrzewski versucht hat, die Großendorfer Keramik mit der lausitzischen Kultur in Verbindung zu bringen. Dagegen spricht das zahlreiche Auftreten des Stöpsel- und Kappendeckels, das in der gleichzeitigen lausitzischen Keramik fehlt, in Dänemark aber, Schweden, Schleswig- Holstein häufig nachzuweisen ist. Auch sonst tritt der Unterschied gegenüber dem Lausitzer Formenkreis in Erscheinung in den Gefäßformen und noch viel stärker in den Metallgeräten. Typisch ist auch schon für die Großendorfer Gruppe ein Hinneigen zur Familienbestatcung, die sich im Laufe der III. Hall- stattstufe weiter ausprägt, in der IV. ihren Höhepunkt erreicht, um sich im Laufe der Friihlaténezeit wieder zu kleineren Gräbern zurückzuentwiceln.. Die gleiche Entwicklung ist in der lausitzischen Kultur nicht die Regel. Wo wie ın Schlesien beide Kulturen zusammenstoßen, entsteht eine Mischkultur, die von der uniformen, einheitlichen ostgermanischen Kulturprovinz scharf absticht. K.s These hängt natürlih mit seiner Slawentheorie zusammen, wonach die lausitzische Kultur slawisch oder balto-slawisch sei, aus dem sich dann ein baltisches Volkstum der Gesichtsurnenkultur entwickelt habe. Nach dieser Annahme müßte die Großendorfer Gruppe sich vor allem nach Osten entwickelt haben. Sie hat sich jedoch pead: nach Süden ausgebreitet. In der III. Hallstattstufe erreicht sie hart nördlich der Stadt Posen ihre siidlichsten Vo ten; besonders stark ist ihre Ausbreitung in der IV. Hallstattstufe, wo sie auf das obere Odertal übergreift. In der Frühlatènezeit verschiebt sich der Schwerpunkt dieser Kultur nach Süden. In Schlesien wird die Oder überschritten. Es entsteht eine Mischkultur, die letzte Reste der lausitzischen Kultur in Schlesien und Kongreßpolen aufsaugt. In dieser Zeit dringt sie durch Südpolen bis nach Ostgalizien vor. Um 800 v. Chr. ver- schwindet die frühgermanische Kultur in ganz Ostdeuschland und Polen, was nur durch eine . Abwanderung zu erklären ist. Eine einwandfreie ethno- logische Einordnung bezüglich der germanischen Stämme, die die Träger dieser frühgermanischen Kultur gewesen sind, ist bis jetzt nicht gelungen. Breslau. E. Pürs dk el.

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V ZEITSCHRIFTENSCHAU

Allgemeines P. Bogat H rev: K voprosu ob etnologiceskoj geografii. Slavia

7, 3 (1928), S. 600—611.

_ Die Bezeichnung „ethnologische Geographie“ wird hier analog der Termino- logie der linguistischen Geographie angewandt, wie sie z. B. die Marburger Schule in Deutschland vertritt. Die Methoden beider Wissensgebiete dürfen nicht sklavisch vom einen auf das andere übertragen werden, jede von beiden muß im gegebenen Falle ihren eigenen Weg gehen. Zudem fallen die Grenzlinien von

rache und Volkstum nicht immer zusammen; so z. B. entspricht die Verwandt-

aft von Märchentypen keineswegs der Sprachverwandtschaft. B. weist auf Beob- achtungen hin, die von Sachmatov, Trubeckoj u. a. gemacht worden sind. Es ist Ang erkannt worden, welche wichtige Rolle im Leben einer Sprache politische und soziale Einflüsse spielen, so müssen auch bei ethnographischen Fragen alte und neue politische Grenzen berücksichtigt werden. Bei der Kartographierung ethno- graphischer Ergebnisse unserer Zeit ist das Beibehalten der ländlichen Kostüme, resp. ihr Verschwinden, sehr beachtenswert. Einzelne Inseln mit konservativen Neigungen in bezug auf die Kostümfrage oder dem Beibehalten von Gebräuchen können auch in anderer Hinsicht aufschlußreich werden. B. erinnert hier an die von Fürst Trubeckoj gemachten Beobachtungen auf dem Gebiet der ostslavischen Völker, die viele allgemein slavische Gebräuche nicht bewahrt haben unter dem Einfluß fremder Nachbarstämme. Hinsichtlich der Kartographierung einzelner ethnographischer Eigentümlichkeiten schlägt B. zwei Methoden vor: einesteils seien die Namensausbreitungen gewisser Gebräuche und die Gebräuche selbst zu be- achten, andererseits die geographische Unterteilung der Einzelheiten eines solchen Gebrauches oder einer Zeremonie. Häufig ergibt die summarische Karto- graphierung irgendeines Gebrauches die Möglichkeit, eine bestimmte Periode seines Bestehens zu erschließen, und die Kartographierung abgesonderter Einzelheiten desselben Gebrauchs kann das Resultat eebe daß eine andere Periode er- schlossen wird. Hier sind gerade im Gebiet der geistigen Kultur die Methoden zu spezialisieren.

Neben der Kartographierung ethnographischer Ergebnisse unter Berück- sichtigung historischer Data kann sie auch synchronistisch betrieben werden, ähn- lich wie sie z. B. de Saussure in der Linguistik angewandt hat. Hierbei spielt die Frage nach der Gleichzeitigkeit gewisser Phänomene die Hauptrolle, es kommt auf statistische Methoden heraus, die auf die verschiedensten Arten angewandt werden müssen. Zunächst muß beobachtet werden, wie sich im Individuum gleich- zeitig verschiedene Erscheinungen verschiedener Kulturen widerspiegeln. Neben den Untersuchungen individueller Art sind aber auch die sozialer Faktoren ins Auge zu fassen. Daneben ist von Wichtigkeit, welche ethnographischen Er- scheinungen sich schneller, welche sich langsamer ausbreiten, und welche Ver- änderungen sie bei der Übernahme durch ein neues Gebiet erleiden. Diese Art Untersuchungen sind natürlid am besten in Grenzgebieten anzustellen und zwar vor allem auf Grenzgebieten mit denkbar größter Besiedelung. Was das Über- greifen von einem Gebiet auf das andere solcher Erscheinungen anbelangt, so wird es, nach der Meinung Bogatyrevs, am besten durch gleichzeitige Einzelstudien in zwei benachbarten, ethnographisch verschiedenen Orten zu untersuchen sein, darauf möge dann eine weniger eingehende Untersuchung auf einem weiten Gebiet der betreffenden Grenzlandschaften folgen. Dabei sind zwei Kardinalpunkte im Auge zu behalten: die Feststellung der Ursachen, die zur Einführung auf fremdem Gebiet geführt haben, und die Feststellung der Ursachen, die es verhindern, daß ein neuer

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Gebrauch in alte ethnographische Traditionen eindringen kann. Gerade die Ur- sachen für derartige Beharrlichkeit einer Tradition ist in der Ethnographie bisher wenig erforscht worden. Besondere Wichtigkeit schreibt B. der Untersuchung solcher Fälle zu, bei denen gemischte Ehen Ursache zur Aufnahme neuer Gebräuche werden können, gleich ob es sich um Frauen handelt, die nach dem Hineinheiraten in fremdes Gebiet ihre alten Gebräuche aufgeben, oder um solche, die sie ihren Kindern diab, Ke auf den Lebensweg.

Die methodologische Behandlung der Entlehnungen soll auf zweierlei Weise geschehen: man soll sich zunächst auf eng begrenztes Material beschränken, z. B. verfolgen, wie sich die Entlehnung von Stickmustern, oder der Wechsel von Ofen- typen vollzieht beim Obergreifen zu oder von einer benachbarten, fremden Kultur. Daneben soll aber der Kultureinfluß des einen Volksgebietes auf das andere in seiner Gesamtheit untersucht werden. Auch miisse beachtet werden, inwieweit es sich um die Übertragung streng nationaler Eigentiimlichkeiten handelt und eine solche gesondert behandelt werden von solchen, die dem allgemeinen europäischen Kultureinfluß zuzuschreiben sind. Sehr interessant sind Beobachtungen auf dem Gebiet der Trachten, wo oft das nationale Kostüm künstlich, aus politischen Rück- sichten, festgehalten wird. Der geistige Kultureinfluß führt oft zu einem eigen- tümlihen Wechsel in der Funktion neu übernommener Gebräuche. Die Unter- suchungen werden, je nach ihrer räumlich spezialisierten oder allgemein, auf große Gebiete erstrekten Anwendung zu den entsprechenden Schlußfolgerungen be- rechtigen. Emmy Haertel.

Bulgarien M. G. Popruzenko: Iz istorii religioznago dviZenija v Bolgarii.

Slavia 7, 3 (1928), S. 536—547.

P. hatte in seiner Einführung zur Ausgabe des ,,Sinodik Carja Borila“ darauf hingewiesen, daß möglicherweise die Bestimmung über die Verfluchung von Akındina und Varlaam unter dem Einfluß des Konzils von Konstantinopel vom Jahre 1851 zustande gekommen sei, da auf diesem Konzil zum erstenmal die Not- wendigkeit anerkannt wurde, diese Beiden aus der Kirche auszustoßen, Es wäre sehr leicht möglich, daß auf dem bulgarischen Konzil vom Jahre 1854 die Frage über die Lehren von Akindina und Varlaam zur Verhandlung gekommen ist, nach- dem sicherlich die dort diskutierenden bulgarischen Hierarchen über die Beschlüsse von Konstantinopel unterrichtet gewesen sind. Damals mußte auch die ursprüng- liche Redaktion der Bestimmung über die Verfluchung Akindinas und Varlaams im Sinodik bekannt gewesen sein; die bulgarischen Hierarchen werden durch das Auftreten der Anhänger Beider in Trnovo, z. B. des Mönches Feodorit, aufmerk- sam geworden sein. Vor allem mußten sie sich mit dieser Frage beschäftigen, als man daran ging, die Lehren des Akindinajüngers Prochor Kidoni zu untersuchen, dessen Name im Sinodik erwähnt ist. Vielleicht geschah das erst nach 1368, da

erade in diesem Jahre die byzantinische Kirche den Prochor Kidoni verurteilt

tte. P. schließt aus diesen Daten, daß die Bestimmung über Akindina, Varlaam und Kidoni unter dem Patriarchen Evfimij entstanden sein wird, der tätigen An- teil an der Redaktion und Ergänzung des Sinodik genommen hatte.

Da die Frage nach der Einführung des Anathems über Abtrünnige der Orthodoxie abhängig ist vom Grade der Vertrautheit der bulgarischen Geistlichkeit mit den Lehren dieser Häretiker, so muß, nach Poprutenkos Meinung, auch das Erscheinen der bulgarischen Übersetzung der Schriften des Gregorij Palama wider Akindina und Varlaam damit in Verbindung gesetzt werden. P. führt die Daten der Tätigkeit Palamas auf diesem Gebiet an, er zieht aus ihnen den Schluß, daß unter dem Patriarchen Evfimij die bulgarische Geistlichkeit sich unbedingt mit den Werken des Palama beschäftigen mußte. So ist die Übersetzung dieser Schriften, die Palama der slavischen Geistlichkeit bekannt machen sollte, sehr interessant im Hinblick auf die Einführung abstrakter und feiner logischer Begriffe ins Slavische. P. nimmt hier aus der Menge der Handschriften nur die in der Bibliothek der auch auf die Wichtigkeit verschiedener vom Übersetzer gemachten Anmerkungen bulgarischen Akademie der Wissenschaften befindliche, unter Nr. 10 verwahrte, heraus und zeigt, wie derartige Übertragungen versucht worden sind. Er weist

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hin, bringt einen seitenlangen Abdruck der Übersetzung von Palamas Ono thc oc xiotems, tutedsion ak... Ip. Iahapā“ und beschäftigt sich mit der Frage, welche anderen Handschriften zur Vervollständigung der slavischen Übersetzung dieses Textes heranzuziehen sind. Die Geschicklichkeit bei der Ober- tragung ins Slavische läßt auf das Vorhandensein einer durch Traditionen stürzen literarischen Schule schließen. P. vermutet, daß die Übersetzung de Schriften des Palamas in Bulgarien zur Zeit des Patriarchen Evfimij entstanden sein muß, da damals eine derartige Schule bestand und gerade Evfimij die Irrlehren seiner Zeit aufmerksam verfolgte. Emmy Haertel,

Jugoslavien

Tih. R. D'or d' evi é: Svatovska groblja. Slavia 7, 4 (1929),

S. 927—933.

An verschiedenen Orten Serbiens gibt es Stellen, die Gräber der Hochzeits- gäste genannt werden, ohne daß man wüßte, warum. D'. führt fünf verschiedene Versionen an, nach denen in der Volkstradition Hochzeitsgäste umgekommen sind. Um die Tradition über die Gräber der Hochzeitsgäste besser zu verstehen, muß die Frage beantwortet werden, warum man sie an der Stelle, wo sie umgekommen sind, beerdigt hat. Hier sind Sprichwörter, die in verschiedenen Sammlungen auf- gezeichnet sind, aufschlußgebend. „Wo einer stirbt, da begräbt man ihn“, sagen sie, wobei ein plötzlicher, nicht im eigenen Heim erfolgter Tod gemeint ist. So wird auch verfahren, mit Ausnahme des Todes auf dem Schlachtfelde. Der im Felde Gefallene wird nach der Heimat gebracht und an der Kirche begraben. So haben es auch die Serben im Weltkrieg gehalten, sie haben ihre Toten von weit her geholt, um sie zuhause zu beerdigen. Für das Gegenteil, d. h. das Bestatten au der Stelle, wo der Tod zufällig eingetreten, zeugen Volkslieder und Märchen, die von verschiedenen derartigen Fällen berichten. Es besteht auch der Volks- glaube, daß das Wegschaffen eines Toten von einem Dorfe zum andern Dürre oder Hagelschlag verursacht. D.“ führt dafür Belege an. Aus dem Gesagten wird er- klärlich, daß tatsächlich an vielen Stellen Hochzeitsgäste verunglückt und begraben worden sein können. Unklar bleibt es, warum, wie in der 5. Version vom Um- kommen der Hochzeitsgäste gesagt, diese selbst beim Begegnen einander umge- bracht haben. Emmy Haertel

Vaclav Burian: Dvé balady o Hasanaginici. Slavia 7, 3 (1928),

S. 612—616. |

B. vergleicht zwei Varianten der Hasanaginica, die von Gesemann veröffent- lichte aus der Erlangener Handschrift (Srb. Kral. Akad. v. Srem. Karl Zbornik 1925) und die von Fortis-Vuk 1900 veröffentlichte (Glas. Mat. Hrvat. 4, S. 125). Er hält die erstere für ein Meisterwerk der serbo-kroatischen Volksepik wegen der feinen 3 Darstellung der heldischen Fravengestalt. Dahingegen kann in der zweitgenannten Variante für keine der handelnden Personen ein wärmeres Gefühl aufkommen. Alles in allem greift die erste Ballade ins Meta- physische hinüber, die zweite haftet am Irdischen, Endlichen. Die erste ergreift zu tiefst, wirkt auf unser Vollen und Handeln, die andere entwickelt vor unserem geistigen Auge eine Reihe unbeweglicher Bilder. Die erste ist eminent dramati die zweite von typischer Epik. Beide scheinen verschiedenen, von einander nicht sehr entfernten Zeiten anzugehören. Über die Entstehungsfolge ist es schwer, etwas bestimmtes zu sagen, doch verführt das Dramatische, um nicht zu sagen Literarische, der ersteren dazu, in ihr das letzte Wort sehen zu wollen.

Emmy Haertel.

Lu ir u ba: Jihoslovanské „alby“. Slavia 7, 3 (1928), S. 617 is 620.

K. bringt drei Liebeslieder mit Noten zum Abdruck, die er in Bosnien, in Dalmatien und im serbischen Mazedonien zu verschiedenen Zeiten aufgezeichnet hat. Alle drei sind Morgenlieder, in denen der Liebhaber das Mädchen dazu ver- führen will, ihn in ihre Kammer zu lassen. Er möchte in dieser Art Lieder eine Art Abglanz dessen sehen, was in der provenzalischen Liebeslyrik, im Unterschied

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zur abendlichen „serenada“, als Morgenlied gedacht war. Vielleicht gehen die deutschen Wächterlieder, in Frankreich die „aubades“, darauf zurück. Indessen will K. damit nicht sagen, daß die im Südslavischen vorkommenden, selten anzu- treffenden Lieder dieser Art etwa wirklich Nachklinge der provenzalischen Dichtung seien. Vielleicht war in früheren Zeiten diese Art Lieder allgemein, denn man kann nicht mit Bestimmtheit sagen, was ın der provenzalischen Dichtung ursprünglich, was älteren Mustern nachgebildet ist. K. skizziert seine Ideen über die Art, wie in Zeiten, die keine Niederschrift ihres Liederschatzes kannten, die Übertragung von Volk zu Volk vor sich gegangen sein mag,

Emmy Haertel. Rußland

Die Franzosen in Moskau 1812. . P. P. Grons ki j: Upravlenie Moskvy pri Napoleone (,,Poslédnija Novosti“, Paris, Nr. 3054 v. 2. August 1929)

schildert anspruchslos die zwangsweise Bildung einer Moskauer „Munizipalität“ aus 20 Moskauer Bürgern und die Bestellung des Kaufmanns Nachodkin als Maire durch den französischen Generalgouverneur Marschall Mortier. Nach dem Rück- zug der Franzosen wurden in Moskau und Smolensk Untersuchungskommissionen eingesetzt, um das Verhalten derjenigen Personen zu prüfen, die den Franzosen Dienste geleistet hatten. Durch ein Allerhöchstes Manifest wurde im August 1814 den Mitgliedern der Moskauer Munizipalität in der Franzosenzeit Amnestie gewährt. F. Epstein.

Die Dekabristen.

Zygmunt Z boruck i: Dekabrysci w świetle najnowszej historjo- grafji. Die Dekabristen im Lichte der neuesten Historiographie.) —Kwartalnik Historyczny Bd. 42 (1928), S. 656—670.)

Der Titel trifft nicht ganz zu. Zb. geht auch auf die älteren Ansichten über die Dekabristen ein, wird freilich erst bei der Besprechung der 1905—1910 edierten Quellenpublikationen ausführlicher. Damals priesen die konstitutionellen, westelnden Revolutionäre ihre vermeintlichen Vorgänger. Die Boläeviken da- gegen, mit Petrovskij voran, lehnen die Dekabristen als aristokratische Oligarchen ab, während die russische Emigration sich dem Standpunkt von 1905 nähert und die Ukrainer die separatistischen Elemente des Dekabrismus unterstreichen. Waliszewski aber sieht in den Dekabristen verleugnete Vorfahren des Boläevismus.

Otto Forst-Battaglia.

B. Kos min: N. G. Cernylewskij und die III. Abteilung (N. G.

en) i III otdelenie). Krasnyj Archiv Bd, 29. S. 175

is 190.

Nach der Revolution von 1905 wurden in den Archiven zahlreiche Doku- mente über Cernylevskij gefunden, die seinerzeit von den Historikern der Offentlichkeit mitgeteilt wurden. Aber auch heute finden sich noch Materialien, die die Vorgeschich te des Prozesses von Cernylevskij beleuchten. Zu solchen ge- hören die hier veröffentlichten Berichte der Agenten der III. Abteilung über C. und seine Anhänger. 7 kleine Berichte, die aus Kleinigkeiten, Dienstbotenklatsch und seine Anhänger: 7 kleine Berichte, die aus Kleinigkeiten, Dienstbotenklatsch und Agentenvermutungen bestehen, und 2 Memoranda der III. Abteilung, von denen sich eins ausschließlich mit der Person Cernylevskijs beschäftigt. Hervor- zuheben ist ein Bericht vom 6. Juni 1862, in welchem versucht wird, die „Cernylevskij- Leute“ für die Brandstiftungen, die damals ganz Petersburg auf- regten, verantwortlich zu machen. Ein Memorandum der III. Abteilung vom 27. April 1862 macht uns mit einem allerdings nicht verwirklichtem Projekt der III. Abteilung bekannt: man beabsichtigte Haussuchungen und Massen- verhaftungen an einem bestimmten Tage vorzunehmen, um die Entwicklung der revolutionären Propaganda in Peterskure zu unterbinden. An der Spitze der »Verbrecherliste steht der Name von Černyševskijš. Die Polizei schien jedoch

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die Wirkung dieser außerordentlihen Maßnahmen im Publikum zu befürchten. Der Gendarmenchef Fürst Dolgorukij vermerkte auf dem Bericht: „Es empfiehlt sich, den Zeitpunkt für diese Haussuchungen mit besonderer Sorgfalt zu wählen.“ Von der Durchführung dieses Planes wurde abgesehen, dafür aber andere Maßnahmen ergriffen: die Sonntagsschulen und Lesestuben wurden geschlossen, die von C. redigierten Zeitschriften „Sovremennik“ und „Russkoe Slovo“ verboten. Die Reaktion, die sich der öffentlichen Meinung bemächtigt hatte und nicht zuletzt auf die rätselhaften Brandstiftungen zurückzuführen war, gab der Regierung die Möglichkeit, gegen die „Meuterer“ energisch vorzugehen. Eugenie Salkind

Russisch - türkischer Krieg 1877—78. V. Mjakotin: Evropejskaja diplomatija pered russko-tureckoj vojnoj. „Posl&dnija novosti“ (Paris) Nr. 3025 v. 4. Juli 1929. Mj. referiert über eine neue bulgarische Darstellung der diplomatischen Verhandlungen vor Ausbruch des russisch-türkischen Krieges von 1877—78 von der Berufung der Konstantinopeler Konferenz 1876 bis zur russischen Kriegs- erklärung: K. KoZularov, Ot Carigradskata konferencija do russko- turskata vojna 1877 g.: „Makedonski Pregled“ IV, 8 (Sofija 1928). Nach Mj. legt Kožučarov die Verantwortung für die schließliche kriegerische Zuspitzung des russisch-türkischen Konflikts den englischen Staatsmännern Disraeli, Derby und Salisbury zur Last. F. Epstein.

Zur kirchlichen Verwaltung Rußlands 1907—1911. Aus der Korre- spondenz des Erzbischofs Antonij.

Nach den ,,Poslédnija Novosti“ (Paris) Nr. 3094 v. 11. September 1929 ver- öffentlicht die in Belgrad erscheinende russische Zeitschrift ,,Carskij Véstnik‘* in ihrer Nr. 56 Briefe, die der Erzbischof von Volynien und Zitomir Antonij von einer 1907 im Auftrage des Synod vorgenommenen Inspektion der geistlichen Akademien an den Metropoliten von Kiev und Halič Flavian richtete und die SE glaubliche sittliche Zustände in der Kazaner Geistlichen Akademie ent-

üllen.

Einen Beitrag zur geistlichen Diktatur Rasputins bildet ein an der gleichen Stelle mitgeteilter Brief des Metropoliten Antonij vom 11. August 1911 über die Vorgänge, die zu der der Religion hohnsprechenden Weihe des Mönchs Varnava, des Kandidaten Rasputins, zum Bischof führten; das Schreiben besitzt besonderen Wert, da Antonij damals Vorsitzender des Synod war. F. Epstein.

Ein Anschlag des russischen Flottenkommandos in der Ostsee gegen die schwedische Flotte während des Weltkriegs.

Unter der Uberschrift: „Keine Phantasie, sondern Geschichte“ liefert in den »Poslédnija Novosti“ (Paris) Nr. 3114 v. 1. Oktober 1929 der Kapitän II. Ranges A. Lukin einen Beitrag zur Geschichte der russisch- schwedischen Beziehungen während des Weltkriegs. Um militärischen Oberraschungen im Falle eines An- schlusses Schwedens an die Mittelmächte vorzubeugen und die russische Herrschaft im nördlichen Teil der Ostsee zu sichern, reifte (Juli 1915? In der Mitteilung Lukins steht Juli 1914) beim Kommando der baltischen Flotte, Admiral Essen, und dem Flagg-Kapitän der Operations-Abteilung, Kapitän I. Ranges, Koléak, der Plan einer Flottendemonstration gegenüber den an der Nordspitze von Gotland zusammengezogenen schwedischen Seestreitkräften. An den schwedischen Admiral sollte in ultimativer Form das Ansinnen gestellt werden, die schwedische Flotte für die Dauer des deutsch-russischen Krieges im Hafen von Karlskrona vor Anker zu legen. Der Entwurf eines entsprechenden Schreibens, den Lukin im Wortlaut mitteilt, wurde indessen von der dem Flottenkommando vorgesetzten Stelle, dem Oberkommando der 6. Armee in’ Petrograd, nicht gebilli Anstatt der er- betenen telegraphischen Zustimmung empfing der Flottenchet, der sich bereits zu der Operation eingeschifft hatte, den Befehl, die Flotte unverzüglich zu ihrer Basıs zurückzuführen. F. Epstein.

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Der russisch - tiirkische Krieg zur See 1916.

Eine Veröffentlichung des Kontreadmirals M. I. Smirnov, des ehemaligen Stabschefs der russischen Flotte im Schwarzen Meer: „Minnyja operacii u Bosfora v. 1916 g.“ in den „Posl. Novosti“ (Paris) Nr. 8088 v. 81. August 1929 und die Entgegnung des Kapitäns A. Lukin (ebda. Nr. 8085 v. 2. September 1929) be- leuchten grell die Differenzen im russischen Flottenkommando über den Einsatz der Minenleger zur Verseuchung des Bosporus. Dem Admiral Eberhard warf 1916 das Große Hauptquartier vor, er entfalte nicht genügend Aktivität in der Bl des Bosporus. Er wurde durch Admiral Kollak ersetzt, der Smirnov von der Ostsee als Flaggkapitin der Operationsabteilung des Stabes der Flotte im Schwarzen Meer nach Sevastopol mitnahm. Lukin hält die kühne, von Smirnov vorbereitete und in ihrer Wirkung sicher übertriebene Minenstreuung im EE am 21., 22. und 28. Juli 1916, die ihr Ziel, den deutschen Einheiten die ahrt ins Schwarze Meer unmöglich zu machen, nicht erreichte, für einen politischen Fehler. Anstatt die deutschen Schiffe im Bosporus einzuschließen, wo die „Goeben“ den Türken und Bulgaren gegenüber die Aufgabe der deutschen Diplomatie wirksam unterstützt habe, hätte man zie immer wieder in die russi- schen Minenfelder im Schwarzen Meer herauslocken müssen, denen z. B. vor Odessa der türkische Kreuzer „Medshidie“ zum Opfer fiel.

F. Epstein. Die Zeit der provisorischen Regierung 1917.

Mit Kerenskijs Darstellung der Vorgänge im Juli/August 1917 setzt zich P. P. Jurenev, der von der Kadettenpartei aus der Regierung Kerenskijs angehörte, in den „Poslkdnija Novosti“ (Paris) Nr. 8085 v. 8. August 1929 unter dem Titel: „Po povodu vospominanij A. F. Kerenskago“ auseinander.

F. Epstein. Die Ostchinesische Bahn.

Als Beitrag zur Geschichte der Ostchinesischen Bahn (Pro$loe i nastojal&ee Vostotno-Kitajskoj 2. d.“) veröffentlichten die ,,Poslédnija Novosti“ Nr. 8048 v. 22. Juli 1929 eine mit dem Signum Ja. K —ij gezeichnete Unterredung mit A. I. Putilo v, dem Direktor der Kanzlei Wittes und späteren Leiter der Russisch- Asiatischen Bank. Die Erzählung Putilovs bietet bemerkenswerte Einzelheiten zur Vorgeschichte des Baus der Ostchinesischen Bahn und der Besetzung von Port Arthur und über Putilovs ergebnislose Verhandlungen mit dem Londoner Bot- schafter der Sovetunion, Rakovskij, und dem Direktor der Staatsbank, Scheinmann, in der ersten Zeit der Sovetherrschaft; danach hätten die Sovets, während Putilov und die hinter ihm stehenden Kreise noch die Internationalisierung der Bahn im Einvernehmen mit der bolschevistischen Regierung anstrebten, um ihre Obernahme durch die Chinesen zu verhindern und eine für die Aktionäre der Russisch- Asiatischen Bank zufriedenstellende Vereinbarung herbeizuführen, gleichzeitig mit Tschang-Tso-Li über das Abkommen verhandelt, das die Russisch. Asiatische Bank ihres Einflusses auf die Verwaltung der Bahn völlig beraubte. F. Epstein.

Aus dem Merkbuch eines Archivars. Zur Biographie von D. I. Pisarev (K biografii D. I. Pisareva). Krasnyj Archiv Bd. 29. S. 210—223.

Im Juni 1866 wurden vom Zensurkomitee die von Pavlenkov, einem Freund und Verleger D. I. Pisarevs, herausgegebenen Werke des Kritikers beschlagnahmt, weil man in einigen Artikeln regierungsfeindliche Sätze zu finden glaubte. In diese Zeit fallen die hier veröffentlichten Briefe von Pisarev an Pavlenkov; zur großen Entrüstung seines Freundes lehnte es Pisarev entschieden ab, ihm mit Unterstützung und Rat während des Gerichts verfahrens zur Seite zu stehen. Die zweite Gruppe der Dokumente bezieht sich auf einen anderen Prozeß, der bald nach dem Tode Pisarevs entstand: der treue Freund und Anhänger Pavlenkov beabsichtigte ein Stipendium im Namen Pisarevs zu gründen und ließ zu diesem Zwecke ohne ES Erlaubnis der Regierung vorher einzuholen eine große Anzahl von Aufrufen drucken, die an die intellektuelle Jugend Rußlands ver-

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sandt werden sollten. Doch wurden diese Formulare bei einer zufälligen Haus- suchung entdeckt, auch fand man das Manuskript der Rede, die vom iftsteller Giers am Grabe des Kritikers gehalten wurde, und da in dieser Rede die Un- sterblichkeit der Seele angezweifelt wurde, übergab man die beiden Freunde Pisarevs dem Gericht.

Diese Dokumente die „atheistische Grabrede“ und eine Verteidigungs- schrift Pavlenkovs sind hier ebenfalls veröffentlicht dienen zur Charakteristik des Einflusses, den Pisarev, ein sehr begabter, frühvollendeter Publizist und Popularisator der sozialen und naturwis senschaftlichen Theorien, auf die russische Jugend auszuüben verstand. Eugenie Salkind.

Aus dem Merkbuch eines Archivars. (Iz zapisnoj knizki archivista). Krasnyj Archiv Bd. 31.

In den kirchlichen Kreisen vor der Revolution (V cerkovnych krugach pered revoljuciej) (P. Sadikov, S. 204—218). Im Geheim- archiv des Synods in Leningrad wurden 119 Briefe des Erzbischofs von Wolynien, Antonij, an Flavian, den Metropoliten von Kiev gefunden, die einen Einblick in die Stimmungen der Geistlichkeit vor der Revolution gewähren. Antonij sein weltlicher Name war Alexej Chrapovickij, er war ein Nachkomme des bekannten Serketärs Katharina II. hatte eine schnelle und glänzende Karriere gemacht: 1890 (87 jährig) wurde er zum Rektor der Moskauer Geistlichen Akademie er- nannt, 1902 war er bereits Erzbischof von Wolynien. Durch die ihm unterstellte Geistlichkeit verstand er auf das einfache Volk im monarchistischen Sinne zu wirken und rief eine Organisation ins Leben, die sich „Wahrhaft russische Männer“ nannte, monarchistische Demonstrationen und Pogrome veranstaltete. Nach der Revolution von 1905 kamen auf Veranlassung des Erzbischof: Tausende von Bittschriften, welche die Abschaffung des Freiheitsmanifestes vom 19. Oktober erflehten, aus Wolynien in Petersburg an. Nach der Kriegserklärung ging Antonij nach Charkov über und entfaltete dort eine rege Tätigkeit, hielt Reden vor den abziehenden Truppen, verteilte Kreuze und Geschenke und versuchte, die Kri stimmung im Sinne der Regierung aufrechtzuerhalten. Die Revolution fand i an der Spitze der Geistlichkeit, die die Wiederherstellung des Patriarchats propa- gierte; als gebildeter, kluger, von einflußreichen Freunden unterstützter Würden- träger, rechnete Antonij auf den Erfolg seiner Kandidatur, doch fiel die Wahl auf einen anderen. Bald nach der Oktoberrevolution ist er nach dem Athos geflohen. In den Briefen an den Metropoliten Flavian, die in die Zeit vom 81. Mai 1905 bis 6. Juni 1915 fallen, werden Probleme des kirchlichen und öffentlichen Lebens behandelt, die den Erzbischof bewegten: die atheistischen Stimmungen der Jug die Politik des heil. Synods, dessen Mitglied er war, der steigende Einfl Rasputins, die Diskussion über die Entziehung des Kirchenlandes usw. Die Ant- worten des anderen Korrespondenten sind uns leider nicht erhalten. „Zur Geschichte der Befreiung von Cernylevskij“ K istorii osvoboidenija N. G. Cernylevskogo, S. 214—219) bringt Sadikov einen Brief des Grafen P. P. Suvalov, des Flügeladjutanten des Caren, an N. I. Nikoladze, dessen Antwort (Februar 1888) sowie ein anoymes Befreiungsprojekt, das wahrscheinlich von den beiden verfaßt war. Nikoladze spielte in da Jahren die eigenartige Rolle eines Vermittlers zwischen der Revolutionspartei „Narodnaja Volja“ (Volks- wille) und der Organisation „Svjallennaja Družina“ (Heilige Schar i deren Spitze Graf Šuvalov, ein links eingestellter Höfling, stand. Der „Volkswille” war bercit, unter einigen Bedingungen Konzessionen zu machen: die wichtigste darunter war die Befreiung von CernySevskij, der seit vielen Jahren als Verbannter in Viljujsk (Sibirien) lebte. Neue Materialien zur „Flucht von Sergej Degaev“ (Pobeg Sergeja Degaeva) veröffentlicht S. Valk (S. 219—222). Sergej Degaev ging in die Dienste der Polizei über, nahdem man ihn als Inhaber einer Ge * verhaftet hatte. Da man ihn aber unmöglich befreien konnte, ohne den Verdacht der Revolutionäre zu erwecken, inszenierte man eine „Flucht“, die nicht nur den Revolutionären vollkommen glaubwürdig erschien, sondern au bei den meisten Polizeibeamten, die in das Doppelspiel nicht eingeweiht waren, keinen Zweifel erweckte. Die geschickt in Szene gesetzte „Flucht“ von

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gab ihm die Möglichkeit, seme Tätigkeit in den revolutionären Kreisen fortzu- setzen: durch den Verrat der Vera Figner an die Polizei wurde der Untergang des „Volkswillen“ besiegelt. „Aus der Geschichte des Kampfes mit der sozialistischen Bewegung im carıstishen Rußland“ (Iz istorii bor’by s sozialistiteskim dviZentem v zarskoj Rossii) S. 228—24 bringt N. Beljavskij interessante Details: die Einführung der Sozialistengesetze in Deutsch land (1878) hatte eine Massenemigrierung der entlassenen deutschen Arbeiter nach dem benachbarten Polen und Rußland zur Folge; diese Bewegung hatte die Auf- merksamkeit des russischen Generalkonsuls in Danzig Baron Freitag von Loring- hofen erregt, der in einem Brief (Juni 1878) an das Ministerium des Inneren auf die Gefahr der sozialistischen Propaganda hinwies und den Vorschlag brachte, die Einreiseerlaubnis nur Nicht-Sozialisten zu gewähren. Da die Befürchtungen des Danziger Konsuls sich sehr bald als berechtigt erwiesen, wurde sein Projekt vom Ministerium des Inneren an den russischen Botschafter in Berlin weitergegeben. „Der un veröffentlichte Brief von A. I. Herzen“ (Neopubliko- vannoe pis mo A. I. Gercena, S. 224—26) ist von B. Kosmin im Archiv der III. Abteilung in Abschrift gefunden worden: er ist an Cerkesov, einen bekannten Revolutionär der Oer Jahre gerichtet, der im Auslande für die Geheimgesellschaft „Land und Freiheit“ wirkte. In diesem Brief, der zeitlich in den Beginn des polnischen Aufstandes von 1868 fällt, nimmt Herzen zur Politik der russischen Regierung Stellung, die durch Verbreitung falscher und übertriebener Gerüchte den nationalen Haß der russischen Soldaten zu entfachen suchte.

Eugenie Salkind.

A. Nikol's ka ja: „Slovo“ Mitr. Kievskogo Ilariona v pozdnejgej

literaturnoj tradicii. Slavia 7, 3 (1928), S. 549—556.

N. macht es sich zur Aufgabe, die rhetorischen Formeln in den Schriften des Ilarion in ihrer Wirkung auf die spätere Literatur des alten Rußland zu verfolgen. Eingangs weist sic auf das Typische solcher poetischen Formeln überhaupt und auf die Literatur darüber hin. Camblak und Turovskij z. B. haben viel von ihren byzantinischen Vorgängern übernommen. Ilarion verdankt, ihrer Meinung nach, zum guten Teil gerade diesen künstlerischen Zutaten die Wirkung seiner Schriften auf Jahrhunderte. N. schickt einen Überblick über die vorhandenen Texte des „Slovo o zakone i blagodati“ voraus und stüzt sich dabei auf die in Nikol’skijs „Materialy dlja povremennago spiska russkich pisatelej* (S.P.B. 1906) enthaltenen Angaben. Sie hält die älteste Redaktion (Nr. 591 der Moskauer Synodalbibliothek) für die am meisten wertvolle für ihre Untersuchungen. Zur Erleichterung ihrer Aufgabe erläutert sie zunächst die ganze Komposition des „Slovo“, um davon aus- gehend die Anklänge daran bei der nachfolgenden Generation ersichtlich zu machen. Teil 1 des „Slovo“ hat sichtlich auf Turovskij, Kliment Smoljatié usw. eingewirkt, doch bleiben die Anregungen, die davon ausgegangen sind, zurück hinter denen von Teil 2 und 8 der ersten Redaktion. Auf den aus diesen Teilen gewonnenen Resultaten fußt auch zum größten Teil die vorliegende Arbeit. Die Anfangsworte von Teil 8 und ihre rhetorischen Formeln lassen sich immer wieder als Muster für spätere Schriften nachweisen, das älteste Denkmal, in welchem sie Nachahmung gefunden, ist die „Zitie Knjaza Vladimira“. Emmy Haertel.

A. Nikol’skaja: „Slovo“ Mitr. Kievskago Ilariona v pozdnejsej literaturnoj tradicii. Slavia 7 ‚4 (1929), S. 853—879.

N. setzt die in Heft 7,8 begonnenen Untersuchungen iiber die Wieder- holungen fort, die Ilarions Formel „Chvalit bo Rim veliki . . . Petra i Pavla. in der großrussischen älteren Literatur gefunden hat. Anders war es in der ukrainischen Literatur. Hier hatte der starke Einfluß Westeuropas auf die Hagio- graphie dazu geführt, daß die ukrainischen Heiligenleben in Übersetzungen nach Skarga bestanden oder daß überhaupt der Barockstil mit seinem Wortreichtum und klassischen Reminiszenzen tonangebend wurde. Dahingegen griff die welt- liche Poesie die Formeln Ilarions auf. N. zitiert zum Beispiel die Verse auf den Tod des Hetmans Sahajdatnyj, die der Mohilevskische Kollegienprofessor Sakovie verfertigt hatte.

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Im weiteren untersucht N. die Anregungen, die auf die apii Literatur aus Ilarions „Slovo“ ausstrahlten, wo es zur Nachfolge Christi auffordert. Besonders lehrreich in dieser Hinsicht ist „Slovo al’noe o blagovernom velikom knjazě Boris Aleksandrovičě“ des Eremiten Foma, aus dem: große Textstellen, synop- tisch mit den entsprechenden bei Ilarion, hier zum Abdruk kommen. Auch der Schluß des 3. Teils von Ilarions „Slovo“ ist vielfach von der späteren Literatur übernommen worden. Auch dafür folgen Beispiele. Die Beeinflussung durch Ilarions Formeln in der polemischen und geschichtlichen Literatur ist zu ersehen. Selbst solche späten Niederschriften wie die „istorija o Kazanskom Carstvě“ und die „Sibirskaja letopis“ zeigen davon Spuren. Nachdem Verf. auch aus dieser Art Literatur mehrfache Proben zitiert, bemerkt sie zusammenfassend, daß Ilarion hauptsächlich kopiert worden ist in den russischen Heiligenleben, die schon im 15. Jahrhundert die Neigung hatten, lobrednerisch zu sein, doch war sein Erfolg bei den Nachahmern aus dem 16. und 17. Jahrhundert noch größer. In der histori- schen Literatur wurde er als Modell benützt, so oft die Eroberung neuer Gebiete durch russische Herrscher geschildert wurde, namentlih wenn sie von „Un- gläubigen“ bewohnt waren. Bei Erwähnung der Beobachtungen über größere oder eringere Abänderungen, welche die Formeln Ilarions bei seinen Nachahm ern er- Been haben, weist N. darauf hin, daß es an einer Geschichte des Stils der alt- russischen Denkmäler noch fehlt, daß deshalb vielleicht die von ihr gemachten Zusammenstellungen eines Tages nutzlos werden könnten. Für Studien auf dem Gebiet der Veränderungen der dichterischen Formeln der russischen Sprache über- uaupı dürften sie wohl-immer von Wert bleiben. Emmy Haertel

M. Cjavlovskij: Neuentdeckte PuSkinsche Manuskripte und Materialien (Novye PuSkinskie rukopisi i materialy). Krasny) Archiv Bd. 31, S. 155—159.

Im Archiv der Fürsten Gortakov, Enkelkindern des Kanzlers A. M. Gor- Cakov wurden bald nach der Revolution Autographe von Puškin und wertvolle Materialien entdeckt, die sich jetzt im Leningrader Zentral-Historischen Archiv befinden. Die Materialien lassen sich in 5 Gruppen gliedern: 1. Autographe von Puškin; 2. Literarische Arbeiten; 3. Briefe; 4. Materialien, die sich auf Puškins Tod beziehen und ö. Familienalben.

Von den Pu3kinschen Autographen ist in erster Linie das große Gedicht „Der Mönch“ zu erwähnen und kleine Gedichte aus den Jahren 1814—17, deren erste Fassung man bisher nicht gekannt hat. In Heften und Alben, auch auf einzelnen Blättern fand man handschriftliche Kopien zahlreicher Gedichte von A. S. PuSkin, K. N. Batjulkov, A. F. Voejkov, der Fürstin Z. A. Volkonskaja, P. A. Vjazemskij, D. Davydov, Bar. A. A. Delvig, V. A. Zukovskij, A. D. Illi- Cevskiy (Lyzeumsfreund von Puškin und Gortakov), V. L. Puškin, F. I. Tjutlev und von anderen z. T. unbekannten Autoren. Der Briefwechsel enthält außer den Briefen des Kanzlers Gortakov auch zahlreiche an ihn gerichtete Schreiben. Darunter interessieren besonders die Briefe des Lyzeumsdirektors E. A. Engel- hardt und der jungen Lyzeisten Lomonosov, Jakovlev, Malinovskij, Korsakov u. a, die ein Licht auf die geistigen Interessen der Lyzeisten werfen. Die Dokumente, die Puškins Tod betreffen, sind zum größten Teil bereits früher bekannt gewesen. Von den vier Familienalben, die im Archiv aufbewahrt wurden, gehörten 3 dem Kanzler Gortakov und das vierte vermutlich seiner Frau, der Fürstin Maria Alexandrovna. Ein Lyzeumsalbum mit Gedichten und Sprüchen der Lyzeisten bringt auch eins der frühesten von den bisher bekannten PuSkinschen Autographen,

Alle hier erwähnten Manuskripte und Dokumente werden bald zur Ver- öffentlichung gelangen. Eugenie Salkind.

P. Ščegolev: Das Gedicht von A. S. Puškin „Der Mönch“ (Poema A. S. Puškina „Monach“). Krasnyj Archiv Bd. 31, S. 160—201.

Von der Existenz des PuSkinschen Gedichts „Der Mönch“, das in der Lyzeumszeit entstand, erfuhr man zum erstenmal aus einem Artikel von Gaevskij

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„Pulkin im Lyzeum und seine Lyzeumsgedichte“. Danach sollte Puškin etwa in den Jahren 1811—18 (also 12—14 jabrig) eine erotische Dichtung verfaßt haben, die er aber später auf den Rat seines Freundes Goréakov hin selbst vernichtet hätte. Dieses angeblich vernichtete Werk ist nun im Familienarchiv der Fürsten Gortakov unversehrt gefunden worden; über ein Jahrhundert lang wurde es dort sorgfältig aufgehoben und gehiitet. Es ist begreiflich, daß selbst ein unreifes jugendliches Werk des größten russischen Dichters bei seinem Erscheinen nicht nur das Interesse der PuSkinisten, sondern auch das der weitesten Kreise hervor- rufen mußte; man grollte dem unbegreiflichen Starrsinn der Fürsten Gor¢akov, die außer diesem Dokument auch noch andere PuSkinsche Autographe der Offent- lichkeit so lange vorenthalten hatten.

Die Dichtung zerfällt in 8 Lieder und zeugt von einem erstaunlichen Kom- positionsvermögen, das freilich die Archaismen, manche stilistische Unebenheiten und die kindliche Naivität des Ganzen nicht aufzuwiegen vermag. Stegolev unterwirft das Werk einer literarhistorischen Kritik und weist in erster Linie auf den Einfluß von Voltaire hin, den P. in diesen Jahren besonders verehrte und dessen dreiste Dichtung „La pucelle d' Orléans“ er ein „goldenes, unvergeßliches Buch, einen Katechismus des Wies" nannte. An zweiter Stelle ist auch der Einfluß Barkovs zu erwähnen, des Verfassers zahlreicher erotischer Gedichte, die bis heute noch zu der Manuskriptenliteratur gehören.

Das neuentdeckte Gedicht trägt aber auch autobiographische Züge: das Kloster ist hier Sinnbild des Lyzeums, der Mönh ein Lyzeist, dem die er- wachende Sinnlichkeit seltsame Bilder vorgaukelt.

Im 81. Bande des Krasnyj Archiv ist das erste Lied mit den PuSkinschen Autographen veröffentlicht; der nächste Band bringt den Schluß der Dichtung.

pulkins Tod. F »Vystrél Dantesa. Neizdannoe pismo o smerti Puškina“: „Rul“

(Berlin) Nr. 2509 v. 26. Februar 1929.

L. Modzalevskij veröffentlicht einen am 80. Januar 1887, dem Tage nach Puškins Tod, geschriebenen Brief des Grafen Dimitrij Nik. Tolstoj- Znamenskij (1806—1884) an einen nicht ermittelten Adressaten; der Brief ist durch Wiedergabe einer für den Dichter in höchstem Grade beleidigenden Äußerung des Gesandten Baron Heckeeren für die Vorgeschichte des Duells von Belang. Vgl. „Osteuropa“ 4 (1928—1929), 615 f. F. Epstein.

Eine neuaufgefundene Handschrift von Griboedovs „Gore ot uma“. A.V.Milovidov: ,,Begitevskaja (Ekaterininskaja) rukopis „Gore ot uma“ A. Y Griboedova: Tul’skij kraj Nr. 13 = 1929 (April) Nr. 1, S. 54—57 macht nähere Mitteilungen über cine unlängst aufgefundene Abschrift von Griboedovs „Gore ot uma“, die von der Schwester von Griboedovs Freund Stepan Nikitič Begičev angefertigt worden war. Das Manuskript, auf das Milovidov zuerst in einem Beitrag zum Sammelwerk „Po Tul’skomu kraju“ (Tula 1925), S. 586—588: „A. S. Griboedov v s. Ekaterininskom“ aufmerksam machte, weist zahlreiche Korrekturen von Begitevs Hand auf, die auf einen Vergleich der Abschrift seiner Schwester mit der noch nicht ins Reine geschriebenen Handschrift Griboedovs zurückgehen. Mitgeteilte Beispiele lassen den Wert der neuen Variante zu den bisher bekannten Fassungen der berühmten politischen Satire erkennen: der Fund dürfte eine Revision der letzten maßgebenden Drucke, der 1918 von N. K. Piksanov besorgten Akademie-Ausgabe und der von der Theater- Abteilung des Volkskommissariats für Bildungswesen veranlaßten Ausgabe unter P. L Gnedié (1919), zur Folge haben. F. Epstein.

A. Derman: Eine der Cechovschen Richtlinien. (Odna iz Rn Magistralej.) Novyj Mir, Nr. 9, September 1929,

_ „In allen Biographien von Čechov wird, wenn von seiner inneren Entwicklung die Rede ist, sein Brief an Suvorin aus dem Jahre 1899 zitiert: „Der Schriftsteller

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braucht vor allen Dingen Reife; dann aber auch das Gefühl der persönlichen Freiheit; früher ich diese Gefühle. nicht gekannt, sie wurden durch meinen Leichtsinn, Nachlassigkeit und Mangel an Achtung für die Arbeit mit Erfolg er- setzt. Was die adligen Schriftsteller von der Natur umsonst bekamen, das mußten die Raznolincen mit dem Preis ihrer Jugend erkaufen.“ Unter ,,Raznoti versteht hier Cechov nicht das intellektuelle Proletariat, sondern vielmehr Kleinbürgertum, dem er ja selbst, Sohn eines früheren Leibeigenen, in seiner Jugend von der Gedanken- und materiellen Armut der elterlichen Verhältnisse geplagt, angehörte. Es bedurfte für Cechov eines langwierigen Prozesses, um sich von den Spuren der „Sklavenpsychologie“, wie er sie selbst bezeichnete, freizu- machen. Darum galt sein Haß ın reiferen Jahren ın erster Linie der Autorität, in der er die Quelle aller Obel erblickte, sei es die Autorität der Obrigkeit, der Kirche, der Familienväter oder der Wissenschaft. Dieser Kampf gegen die 5 im Namen der Menschenwürde läßt sich in allen Werken vs ver- olgen.

Eine parallele Erscheinung dazu bilder das Streben von Cechov, die literarische Tradition, die in Routine auszuarten drohte, zu bekämpfen. Er bricht mit dem literarischen Stil der vorhergehenden Turgenevschen Epoche ab, die aus- führliche Biographien der Helden, lange Perioden und eine gewählte Sprache vor- schrieb, und ist ständig bemüht, durch eine unerwartete Wendung, einen frische: und zugleich kühnen Vergleich dem Leser, wie er sagt, „eins zu versetzen“. Handlung muß immer neu sein, schreibt er an seinen Bruder Alexander, . . hüte dich vor schönem Stil. Vergiß nicht, daß Liebeserklärungen, Untreue von Frauen und Männern, Witwen-, Waisen- und andere Tränen nur allzu oft ge- schildert wurden.“ In der Literatur der 90 er Jahre tritt Cechov als Novator auf: seine kurzen Erzählungen und besonders seine Dramen, die zuerst keine freundliche Aufnahme bei dem Publikum fanden, zeugen von der Unabhängigkeit seines Schaffens. Eugenie Salkınd.

Meyerhold. l Jfr.: Teatr. Meyerholda. (Das Theater Meyerholds.) Wiadomości

Literackie 1929, Nr. 29.

Übersicht über die Tätigkeit des 1920 zu Moskau begründeten, von Meyer- hold nach seinen bekannten Grundsätzen geleiteten staatlichen Theaters, für das die Stücke von Majakovskij, Tertijakov, Erenburg, Erdmann, sowie die Neu- bearbeitungen älterer klassischer Stücke wie der von Gogol („Revisor“) und Ostrovskij, also ein Programm des Realismus etwa im Sinne des Novyj Lef charakteristisch sind. Otto Forst-Battaglia.

F. Roginskaja: Moskauer Kunstleben. (Chudożestvennaja žizn’

Moskvy). Novvj Mir. Nr. 8—9, 1929, S. 302—314.

Die zahlreichen Moskauer Künstlervereinigungen haben, wie alljährli diesem Herbst Ausstellungen veranstaltet. Die älteren Künstler fan sich in der Vereinigung ,,Zar-Zwet zusammen, einer Verzweigung der vor der Revo- lution bekannten ästhetisierenden Gruppe „Mir Iskusstva“ („Die Welt der Kunst“), an deren Spitze einst Djagilev stand. Die Arbeiten der führenden Maler di Gruppe Bogaevski, Sacharov u. a. lassen ihre geistige Verwandtschaft mit der „Welt der Kunst“ erkennen; die graphische Abteilung Ausstellung ist auf- schlußreicher als die malerische und weist keine organische Verbindung mit der letzteren auf.

Die Ausstellung der Vereinigung „OMH“ (Gesellschaft der Moskauer Künstler) macht auf den Besucher den Eindruck einer akademischen Ruhe und Ge- schlossenheit; die lyrische Landschaft, „Stimmungsbilder“ herrschen hier vor. Diese einst revolutionäre Gruppe „Bubnovyj Valet“ (Coeur-Bube) hat im Laufe der letzten Jahre eine Evolution durchgemacht, und nichts erinnert jetzt an die Sturm- und Drangperiode der 20 er Jahre. Charakteristisch für diese Wandlung sind die Bilder von Kuprin, der zu jener Künstlergeneration gehört, die von den Ereignissen der Revolution innerlich am schwersten 5 wurde: in den „Krim-Landschaften“ hat Kuprin einen Stil gefunden, der seinem sanften

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Lyrismus entspricht. Bis vor kurzer Zeit hat die „OMH“ einen nicht zu unter- ätzenden Einfluß auf die junge Künstlergeneration ausgeübt; jetzt kann von einem Einfluß kaum noch die Rede sein. Diese Erscheinung bringt man mit der letzten Ausstellung der französischen Künstler in Moskau in Zusammenhang, die nur zu klar gezeigt hat, daß die „OMH“, die in erster Linie als Träger der fran- zösischen Kunst galt, in Wirklichkeit jegliche Fühlung mit ihr verloren hat.

Die Vereinigungen „ROST“ und „OHO“ (Gesellschaft der sozialen Kunst) haben bei dem Arbeiterpublikum, das ihre Exponate besichtigte, wenig freund- liche Aufnahme gefunden. Der Eindruck der absoluten Prinzipienlosigkeit in der Nachahmung verschiedenster Muster ist in der Tat wenig erfreulich.

Als auf eine positive Errungenschaft des vergangenen Jahres darf auf die sichtliche Reife der jüngeren Künstlergeneration hingewiesen werden. Ihre Ver- einigung „ACHR“ (Assoziation der Künstler-Arbeiter) muß bei der Betrachtung des Kunstlebens als eine wichtige Erscneinung mitgenannt werden. Die erste kollektive Leistung dieser Vereinigung die Bemalung der Kasernen von DserZinski bedeutet, als erster Versuch einer monumentalen Freskenmalerei, einen Schritt vorwärts. Die Arbeiten der Künstlerjugend werden auch durch ihre

chologische und soziale Tendenz gekennzeichnet: zweifellos sind die Bilder von Schinnsche und Rjangina, die einzelne Szenen und Typen des heutigen Rußlands darstellen, den Massen zugänglicher als manche an sich frische und originelle Arbeiten, denen abstrakte Ideen zugrunde liegen.

Die Plastik ist weniger reich vertreten und macht keinen einheitlichen Ein- druck. Die Gruppe von Merkurov „Begräbnis des Führers“ wäre als ein ernster Versuch einer monumentalen Plastik zu nennen. Eugenie Salkind.

V. Peretc: „Kljatva c zemlej“ s častuške. Slavia 7, 4 (1929),

S. 919—921.

Unter den groß russischen Castuiki, die im allgemeinen neue, dem Alltags- leben entnommene Stoffe besingen, gibt es auch vereinzelt Nachklänge sehr alter Motive. In seiner umfänglichen CastuSkisammlung, die in den Jahren 1888—1894 entstanden ist, hat P. eine Castulka aus einem Dorfe des Kreises Tichvin aufge- zeichnet, die von dem alten Gebrauch in diesem Kreis, beim Schwören Erde in den Mund zu nehmen, Reminiszenzen enthält. Von demselben Gebrauch singt eine Castulka aus dem „Sbornik velikor. &astukek“, herausgegeben von E. Eleonskaja. P. führt über das Bestehen dieses Gebrauchs von alters her noch anderweitige Literatur an. Bylinen und Märchen berichten von ihm. Afanas’ev bezeugt auch für die Ukraine sein Vorhandensein mit dem Unterschied, daß dort beim Schwur die Erde geküßt wurde. Schließlich führt P. noch Literatur an für das Vor- kommen ähnlicher Gebräuche auch im Veiß russischen. Hier hat also eine Castulka uralte Oberlieferungen stofflich verwertet. Emmy Haertel.

Elena Eleonskaja: Vredonosnye zagovory. Slavia 7, 4 (1929), S. 934—939.

Unter der großen Menge nutzbringender Beschwörungsformeln im Russi- schen gibt es nur ganz wenige, die einem anderen Schaden bringen sollen. Die hier genannten drei derartigen Formeln sind in der Sammlung von Sreznevskij zu finden (?) unter Nr. 5,12 und 104. Alle drei stehen in Beziehungen zu Ver- storbenen, denen übernatürliche Kräfte zugeschrieben werden. Sie werden unter allerhand Zaubergebräuchen vorgenommen, unter denen als wichtigster das Er- raffen von Erde vom Grabe eines ohne Beichte Verschiedenen ist, dessen Name dabei genannt werden muß. Weiß man ıhn nicht, so soll man den Toten mit „Ivan“ anrufen. Nach Erwähnung der Unterschiedlichkeit in Zweck und Anwen- dung dieser drei Zauberformeln hebt Verf. die Wichtigkeit hervor, die in der Volksmeinung dem Bestattetwerden nach der vorgeschriebenen kirchlichen Norm beigemessen wurde. Der Tote, der eine solche Bestattung nicht gehabt, bleibt ein efährliches Werkzeug für den, der anderen Unheil anzaubern will. Daher das

treben, solchen Toten durch ein „&esnoj obed“ usw. Ehren zu erweisen, an seinem Grabe die nötigen poklony vorzunehmen. Dadurch wird auch seiner Seele geholfen. Emmy Haertel

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Weißrußland

J. Vitkouski: Die revolutionären Zirkel der 70er Jahre in Weißrußland. Polymja 1929. Band 4.

Verf. beschäftigt sich mit den revolutionären Zirkeln der 70 er Jahre in Weißrußland und deren Verhältnis zur Bewegung der Volkstümler (Narodniki). Verf. vertritt die Ansicht, daß die revolutionären Zirkel der 70 er Jahre, die in Weißrußland bestanden haben, nicht ohne weiteres der zeitgenössischen Volks- 5 zuzurechnen sind. Vielmehr weisen sie eine durch die spezi- fischen Verhältnisse Veißrußlands bedingte Eigenart auf, die der Verf. heraus- zuschälen versucht. An Hand von Archivmaterialien gibt der Verf. eine ein- gehende Charakteristik der einzelnen revolutionären Zirkel in Mohilev, Wilna und Minsk und gelangt zu folgenden Ergebnissen: 1. Ein Teil der Zirkel kann ohne weiteres der Volkstümlerbe wegung zugerechnet werden sowohl dem Programm, wie der Taktik nach unterscheidet er sich in nichts von der zeit- enössischen gesamtrussischen Volkstümlerbewegung. 2. Andere Zirkel weisen okale nationale Einflüsse auf, und zwar teils polnische (Vilna), teils jüdische. In diesen Zirkeln werden Momente nationaler Emanzipation in den Vorder- rund gerückt, sowie Probleme des Kulturkampfes (antiklerikale Bewegung). . Obwohl die Zirkel in den 70 er Jahren bestanden haben und Weißrußland kein Industriestaat ist, lassen sich Verbindungen einzelner Zirkel (Minsk) mit der zeitgenössischen Varschauer sozialistischen Bewegung feststellen, die von der Partei „Proletariat“ inauguriert war, deren Programm eine Mischung der Lehren der Volkstümler und marxistischer Grundsätze darstellte.

Gregor Wirschubski.

L. Akingevié: Das weißrussische Kosakentum in der ukrainischen

Historiographie. Polymja 1929. Heft 6.

Verf. hat bereits 1927 in der Zeitschrift „Polymja“ eine Arbeit über die weißrussische Bauerbewegung im 17. Jahrhundert und deren Zusammenhänge mit der von Bagdan Chmelnicki inaugurierten zeitgenössischen ukrainischen Be- wegung veröffentlicht. Verf. ist der Ansicht, daß dieser Epoche große Be- deutung zukommt und, daß sie bisher von der weißrussischen Historiographie vernachlässigt worden ist. In der weißrussischen Geschichte sind die Epochen des Großfürstentums Litauen und der Lubliner Union eingehend bearbeitet worden. Dagegen fehlte es in bezug auf andere wichtige Epochen an Vorarbeiten, so daß die Zeit für eine zusammenfassende soziologische Synthese noch nicht gekommen sei. In dieser Hinsicht komme der großangelegten Geschichte Weißrußlands von U. Pičeta bahnbrechende Bedeutung zu. Auch über die Geschichte Weißrußlands nach der Lubliner Union sind die Arbeicen sehr spärlih. Erwähnt seien die Monographien von Lapo und die Untersuchungen von Družčyc. Gänzlich ver- nachlässigt in der weißrussischen Historiographie dagegen: ist die Bauernbewegung in den 50er Jahren des 17. Jahrhunderts.

Verf. stellt die Arbeiten ukrainischer Historiker zu dieser Frage zusammen. Es sei begreiflich, daß gerade dieser Abschnitt der weißrussischen Geschichte für die ukrainischen Historiker von besonderem Interesse war. Erstens stammte die Idee des weißrussischen Kosakentums aus der Ukraine und ferner wurden von den Weißrussen große Hoffnungen auf das ukrainische Kosakentum und dessen Führer gesetzt.

Die erste Arbeit über das weißrussische Kosakentum wurde 1896 in Lemberg in den „Zapiski naukovoho tovarystva im. Ševčenka“ (Band 14, S. 1—30) veröffentlicht. Die Arbeit „Die Kosaken in Weißrußland in den Jahren 1654 1656“ stammte aus der Feder von Ameljan Terlecki, einem Schüler von M. HruSeuski, der damals Professor an der Universität in Lemberg war. Indessen begnügt sich Terlecki mit einer Schilderung des Feldzugs der ukrainischen Kosaken in Weißrußland 1654—1656, ohne auf den aktiven Anteil der Weiß- russen an dieser Bewegung näher einzugehen. Verf. ist der Ansicht, daß er von dem Organisator der weißrussischen Kosaken Paklonski ein schiefes Bild ent-

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wirft. Terlecki sieht nur zwei Faktoren in dem weißrussischen Gebiet: auf der einen Seite die ukrainischen Kosaken, denen die weißrussischen Bauern sym- pathisieren, auf der anderen Seite die Moskauer Zarenregierung, der sie nicht sympathisieren. Dagegen fehlt gänzlich das weißrussische Kosakentum als aktiver Faktor der Ereignisse. Vielmehr erscheint in der parser one von Terlecki der Organisator des weißrussischen Kosakentums Paklonski lediglich als gehorsamer Diener des Moskauer Caren.

Verf. ist der Ansicht, daß Paklonski in Wirklichkeit bestrebt war, cin weiß- russisches Kosakentum zu schaffen, um das von Weißrussen besiedelte Gebiet zu beherrschen. Die Arbeit von Terlecki werde in Anbetracht dessen, daß die ein- schlägige Frage noch sehr wenig behandelt worden ist, auch in Zukunft als Aus- gangspunkt für weitere Forschungen dienen, jedenfalls aber bietet sie Anlaß zu vielen Kontroversen und wird wohl in mancher Hinsicht berichtigt werden müssen.

ie meisten Irrtümer von Terlecki sind auf seine Zugehörigkeit zu der Schule der ukrainischen Wissenschaft zurückzuführen, die geneigt war, das ukrainische Kosakentum aus völkischen Gründen zu idealisieren. Diese natio- nalistische Einstellung zwang die ukrainischen Historiker, nur das ukrainische Kosakentum gelten zu lassen und im weißrussischen Kosakentum nicht eine selb- ständige nationale und soziale Bewegung, sondern lediglich Agenten Moskaus zu erblicken.

Weitere Beiträge zu der einschlägigen Frage bieten: A. Vastokov in der Kiever Zeitschrift „Kievskaja starina“ (1890, Heft 1) in der Abhandlung „Das Schicksal von Vyhovski und Ivan Nedai“, V. Lipinski in dem 1912 erschienenen Buch „Z dziejów Ukrainy“ und I. Krypjakeviö in seinem Vortrag „Der Frei- hafen in Alt-Bychov im Jahre 1657". r Artikel von Vostokov enthält rein tatsächliche Angaben über das Schicksal einzelner Führer der Kosakenbewegung und wirft keinerlei grundlegende Probleme auf.

V. Lipinski gehört gegenwärtig jenen Kreisen der ukrainischen Emigration an, die zu den Anhängern des Hetmans Skorapadski gehören und vertritt auch als Historiker die Interessen der ukrainischen szlachta. Lipinski führt in seinem zitierten Werk (das 1920 in Wien in zweiter Auflage in ukrainischer Sprache er- schienen ist) aus, daß der weißrussische Adel in der Mitte des 17. Jahrhunderts oppositionell und separatistisch gesinnt war, und schildert das Ringen der Ukraine und Moskaus um Weißrußland.

Paklonski, der die Hoffnung verloren hatte, Weißrußland mit der Hilfe Moskaus zu erlösen und bereits früher mit den Ukrainern gebrochen hatte, ging schließlich zu den Polen über. Im Gegensatz zu Terlecki, der eine idealistische Erklärung des Feldzuges der Ukrainer nach Weißrußland gibt, führt Lipinski für diesen Feldzug praktische Motive an. Seiner Auffassung nach wollte die griechisch-katholische Geistlichkeit alle griechisch-katholischen Territorien Polens vereinigen.

Die junge ukrainische marxistische historische Wissenschaft hat sich mit dem ukrainischen Feldzug nach Weißrußland noch nicht kritisch beschäftigt.

Als Vorarbeit wäre der zitierte Vortrag von Krypjakevi¢ zu werten, den dieser in einer Sitzung der historischen Sektion der Allukrainischen Akademie der Wissenschaften gehalten hat. In diesem Vortrag führte Krypjakevié den ukrai- nischen Feldzug nach Weißrußland auf wirtschaftliche Gründe zurück: durch den Bruch mit Polen war die Ukraine von dem alten Weg zur Ostsee abgeschnitten. Da auf der anderen Seite auch das Schwarze Meer der Ukraine versperrt war, so versuchte sie sich einen Weg zur Ostsee durch Weißrußland zu bahnen. Das war der wirkliche Grund des ukrainischen Feldzugs nach Weißrußland. Auf diesem Weg zur Ostsce stieß die Ukraine mit Moskau zusammen, das gleichfalls durch Weißrußland sich einen Weg zur Ostsee bahnen wollte. Das Ringen der beiden Mächte miteinander und mit Polen endete zunächst damit, daß weder Moskau, noch die Ukraine sich einen Ausweg zur Ostsee zu bahnen vermochten. Verf. hält diese Theorie von Krypjakevié für richtig und meint, daß weitere Forschungen noch die strittigen Punkte zu klären haben: sei es in der Form von wissenschaftlichen Monographien oder der Publikation von Archivmaterialien.

Gregor Wirschubski

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Vit. Vols ki: Über die nationale Literatur der weißrussischen Tataren. Uzvyla, 1927, kn. 1, S. 134—146. l

Verf, behandelt die höchst merkwürdige Erscheinung des Vorhandenseins der Reste der Literatur der in Weißrußland angesiedelten Tataren. Diese in Hand- schriften erhaltene Literatur zeichnet sich dadurch aus, daß der weißrussische Text in arabischer Schrift aufgezeichnet worden ist. Die ersten Nachrichten über die Ansiedlung von Tataren in Weißrußland stammen aus der Zeit der litauischen Großfürsten Olgierd und Gedimin.

Die Tataren übernahmen die Sprache der weißrussischen Ortsbe völkerung. vergaß en ihre alte türkische Sprache, blieben indessen ihrem mohammedanischen Glauben treu. Mit dem mohammedanischen Glauben erhielt sich auch dessen rituelle arabische Schrift, Türken dem Blute nach, Mohammedaner laut ihrer Konfession, „Litauer“ laut ihrer Staatsangehörigkeit und Weißrussen ihrer Sprache zufolge, verwandten die weißrussischen Tataren ihre rituelle arabische Schrift für die Aufzeichnung ihrer weißrussischen EC Es liegt hier ein ähnlicher Vorgang vor wie bei den Juden, die ihre rituelle hebräische Schrift für ihre deutsch- jüdische Umgangsspchare verwenden.

Dem Inhalt nach sind für die Wissenschaft am wertvollsten jene Werke der arabisch-weißrussischen Literatur, die sich auf die Religion beziehen: Korane, Chamalilas und Kitabe.

Die Korane der weißrussischen Tataren enthalten den üblichen arabischen Text mit Interlinearübersetzung in weißrussischer oder polnischer Sprache. Auch die Übersetzung ist in arabischer Schrift aufgezeichnet, Die Chamalilas sind ge- wöhnliche mohammedanische Gebetbücher. Dabei sind die Gebete in arabischer Sprache, die Texterklärungen dagegen in weißruss. Sprache. Man finder gelegent- lich in den Chamalilas Texterklärungen und Übersetzungen der Gebete auch in der vergessenen türkischen Ursprache der Tataren. Von ganz besonderem Wert für die weißruss. Sprachforschung sind indessen die Kitabe. Al’-Kitabe oder Ai-Kitabe sind Sammlungen, die neben Koranauszügen, Gebeten, religiösen Belehrungen auch die Beschreibungen religiöser Zeremonien enthalten, religiöse Dichtungen, Beschwörungsformeln für Krankheitsfälle, Rezepte, historische llen, Aphoris- men der Lebensweisheit, Legenden, Märchen und dergleichen.

Alle diese Werke haben sich in Handschriften erhalten. Der greise Kopist pflegte bei der Abschrift von sich aus einiges hinzuzufügen, was seiner Meinung nach für die Nachwelt von Nutzen sein könnte, Der vom Verf. entdeckte Kitab enthält neben dem üblichen Inhalt ein kurz gefaßtes Lehrbuch der alt-tiirkischen Sprache und ein weißruss.-gürk. Wörterbuch. Die Bedeutung dieser Werke für das Studium der Sprache, der Ethnographie und Geschichte Weißrußlands im frühen Mittelalter ist ungeheuer. Als Beispiel, sei erwähnt, daß der bekannte Historiker Narbut in einem Kitab die Erklärung des bis dahin unklaren Ausdrucks „Basma“ efunden hat. Die Gelehrten waren sich bis dahin über die Bedeutung dieses Ausdrucks nicht einig. Dem Kitab entnahm Narbut, daß „Basma“ den Wachs- abdruck des Fußes des Khans der Goldenen Herde bedeutete des Symbols der obersten Herrschaft des Khans über Moskau. In Weißrußland sind diese Kitabe über das ganze Land verbreitet und werden als Familienschätze gehütet. Die letzten Abschriften sind Ende des 19. Jahrh. angefertigt. Ein Kitab aus dem 16. Jahrh. wurde von Ivan Lutzkevié 19%, der zweitälteste Kitab vom Verf, ent- deckt, der die Auffassung vertritt, daß er aus der Mitte des 17. Jahrh. stammt.

Das 17. Jahrh. ist die Epoche des kulturellen Niedergangs Weißrußlands. Daher ist die Sprache des vom Verf. entdeckten Kitabs an Polonismen reich, die damals als Kennzeichen des „guten Tons‘ und vorzüglicher Bildung galten. Verf. bringt als Muster der nationalen Literatur der weißrussischen Tataren ein diesem Kitab entnommenes Märchen, das typisch für die Märchenwelt des Orients ist: e stellt ein Weisheitsturnier zwischen einer Prinzessin und dem Bewerber um ihre Hand dar, das ın der Form des Rätselratens verläuft. Verf. hebt die Merkmale des mahammedanischen Fatalismus hervor, die klerikale Tendenz und das weiß- russische Kolorit. Das ursprüngliche orientalische Sujet wurde der lokalen weiß- russischen Bearbeitung unterworfen.

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Es muß hervorgehoben werden, daß die weißruss. Tataren ihrem Blute nach keine reinrassigen Türken waren. Vielmehr wurde das ursprüngliche türkische Blut durch Mischehen mit der weißrussischen Ortsbevölkerung verdünnt. Türken waren sie nur dem männlichen Stamme nach, während ihre Frauen Weißrussinnen waren. Diese Vermischung des Blutes förderte die Assimilierung der weiß- russischen Tataren im Laufe der Jahrhunderte. Verf. bezeichnet diese Tataren als „weißrussische Tataren“, da sie in ihrer gewaltigen Mehrheit auf ethnographisch weiß russischem Gebiet lebten. In der Wissenschaft hat sich indessen bis heute der Ausdruck „litauische Tataren“ erhalten, da es sich staatsrechtlich um litauisches Gebiet handelte. Auch die Nachkommen jener Tataren bezeichnen sich selbst als „litauische Tataren“. Erwähnt sei noch, daß eine genaue linguistische Analyse des von Ivan Lutzkeviè entdeckten Kitabs der Lektor der weißrussischen Sprache an der Universität Wilna, J. Stankievil, in seiner Doktorarbeit gegeben hat.

Vladimir Samojlo.

Ciška Gartny: Vor zwanzig Jahren. Polymja 1929. Kn. 5.

Der veiß russische Dichter Zylunovik, der unter dem Pseudonym Cilka Gartny schreibt, schildert hier einen interessanten Abschnitt aus seinem Werde- gang. Bereits in der Volksschule fiel Zylunovik durch seine Aufsätze auf. So and er denn früh den Weg zur schriftstellerischen Betätigung. Als Gerber- lehrling liest er seinen Arbeitskollegen seine Gedichte vor, die allgemein An- klang finden. Indessen übt der junge Dichter selbst an ihnen die schärfste Kritik, denn gemessen an den Werken seiner Vorbilder Nekrasov, Lermontov, Kolcov scheinen sie ihm recht unbeholfen und mangelhaft.

Schwierigkeiten bietet ihm auch die Sprache: seine ganze Umgebung spricht weißrussisch, die Schriftsprache ist aber großrussish. Erst 1905 gelangen weiß- russische Schriften in seınen Heimatsort Kopyl: es sind revolutionäre Aufrufe. Indessen sind die Schriften in weißrussischer Sprache recht spärlich. Erst 1908 lernt Verf. die Wilnaer weißrussische Zeitung „Nala Niva“ kennen, die in ihm eine Revolution bewirkt: sein weißrussisches Nationalbewußtsein erwacht. Nicht nur der Inhalt, sondern das Vorhandensein einer Zeitung in weißrussischeı Sprache macht auf ihn den allerstärksten Eindruck. Früher schien es ihm selbst- verständlich, daß gebildete Leute großrussisch sprechen, während die weißrussische Sprache die Sprache des einfachen Mannes war. Nunmehr wird er zum Propa- andisten der weißrussischen Tageszeitung. Er findet Anklang. Die Sprache des Blattes ist seinen Landsleuten verständlicher, als die der Moskauer und Peters- burger Blätter, die sich in die weißrussische Provinz verirrten. Ferner berichtet es über lokale Verhältnisse, für die die Moskauer und Petersburger Zeitungen wenig Interesse hatten. Er abonniert selbst die Zeitung „Nala Niva“ und liest sie seinen Arbeitskollegen vor.

Den stärksten Eindruck machen auf ihn Gedichte in weiß russischer Sprache. Er beschließt selbst Gedichte in weißrussischer Sprache zu schreiben, schickt sie der Zeitung mit wechselndem Erfolge ein. Besonders fesseln ihn die Gedichte von Janko Kupala und Jakub Kolas. Namentlich Jakub Kolas, der wegen Be- teiligung an revolutionären Umtrieben gerade eine dreijährige Festungshaft ver- büßt, wird zu seinem erkorenen Lieblingshelden.

So beschließt denn der junge Gerbergehilfe, Wilna aufzusuchen, um die Mitarbeiter der Zeitung „Nala Niva“, die auf ihn einen so großen Einfluß aus- geübt hat, persönlich kennen zu lernen, mit ihnen Fühlung zu nehmen. Im Stillen hegt er die Hoffnung, eine Anstellung bei der Redaktion zu finden. In Wilna erwartet ihn eine Enttäuschung. Die Redaktion der Zeitung „Naša Niva“, die ihm aus der Ferne als ein national- revolutionäres Machtzentrum vorkam, enthüllt sich als ein Unternehmen, das vom Pump sein Dasein fristet, dessen Redakteure in den ärmlichsten Verhältnissen hausen. Auf eine Anstellung be- steht keinerlei Aussicht. Die Diskussionen mit den Redakteuren des Blattes ver- laufen nicht zur Zufriedenheit des Verf., der sich zur Sozialdemokratie bekennt und bei ihnen keine einheitliche sozialdemokratische Weltanschauung vorfindet. So verläßt er denn nach einem kurzen Aufenthalt Vilna und tritt seine Vande- rungen an, die ihn als Gerbergehilfen nach Smorgon, Minsk, Bobruisk, Poltava

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und Mohilev führen. Verf. schildert sehr lebhaft die Kreise, mit denen er dabei zusammenkommt, deren ng my u. dgl. Die Erinnerungen des promi- nenten weißrussischen Dichters, dessen 20 jähriges Jubiläum 1929 in- und außer- halb Weißrußlands gefeiert wurde, bieten einen interessanten Beitrag zu seinem persönlichen Werdegang und enthalten zugleich einen charakteristischen Aus- schnitt des Lebens Weißrußlands nach der Revolution von 1908.

Gregor Wirschubski.

Prof. M. Piotuchovit: Zum 20 jährigen Jubiläum der literari-

schen Tätigkeit von Ciika Gartny.— Polymja 1929. Heft 1.

‚, Verf. schildert den Lebensweg und die literarische Tätigkeit dieser als Dichter und Politiker gleich interessanten und für den weißrussishen Kommu- nismus nationaler Prigung repräsentativen Persönlichkeit. Zylunovi stammt aus einer armen Landarbeiterfamilie. Bereits als 11 jähriger Junge mußte er sich selbst als Dorfhirt sein Brot verdienen. Bereits in diesem Alter zeigte er sich für die Dichtung empfänglih. Die Umwelt war seinen dichterischen Bestrebungen un- günstig und stand ihnen teils feindlich, teils gleichgültig gegenüber. Heimlich schrieb er die Gedichte von Nekrasov ab und lernte sie auswendig. So wurde der russische Dichter der große ,,petalnik gorja narodnago“ zum Paten des literarischen Schaffens des jugendlichen weißrussischen Dorfhirten.

Der Lebensweg führt Zylunovié von den Weiden seines Heimatdorfes in die enge und Pamung Werkstatt des städtishen Gerbers. Es folgen Wanderjahre, in denen Žylunovič das. Leben der Landstraße, die Wartehallen der Bahnhöfe, die Asyle für Obdachlose kennen lernt. Später wird er Fabrikarbeiter in Peters- burg. Dann verfällt er der Arbeitslosigkeit. Es braust der Sturm der Revolution heran, der 1 in die vordersten Reihen der Kämpfer rückt. Aktiver Teil- nehmer des Bürgerkrieges, erster Präsident des Rates der Volkskommissare Weiß- rußlands das sind die weiteren Lebensetappen dieses Dichters. Ein Mann, der den Weg vom Dorfhirten zum führenden Staatsmann seines Landes zurückgelegt hat, dessen Lebensschicksale so wechselvoll waren, verfügt naturgemäß über eine umfassende und vielseitige Kenntnis des Lebens, das er von verschiedenen Ge- sichtspunkten aus zu studieren Gelegenheit hatte. Seine Erstlingswerke entstanden „in Eisenbahnwaggons, auf Bahnhöfen, in engen und schmutzigen Stuben, im Asyl für Obdachlose. Seine späteren Werke entstanden schon als die Schöpfungen eines arrivierten Staatsmannes, der seine Lebenserfolge dem Erfolg seiner Partei zu verdanken hatte.

Zwei Themata kennzeichnen das literarische Schaffen von Zylunovié: die Arbeit und die Revolution.

Er hatte Gelegenheit, die Welt der Arbeit als Dorfhirte, als Gerberlehrling, als Fabrikarbeiter, Arbeitsloser, Wanderbursche und schließlich als verantwort- licher Staatsmann auf führendem Posten kennenzulernen.

In seinem Erstlingswerk klingt der Rhythmus der Landarbeit, die Poesie des Landlebens. Viel kennzeichnender für ihn sind die Schilderungen des Lebens der Handwerker. Seine „Lieder des Gerbers“ sind von packendem Realismus: mit kräftigen Strichen ist die Gestalt des Gerbers entworfen, weil sie dem unmittel- baren Erleben des Dichters entsprang. Die Gestalten der anderen Handwerker in den „Liedern der Arbeit“ sind schematischer hingeworfen. Diesem Milieu folgt die Schilderung der kollektiven Arbeit in der Fabrik entsprechend dem Werde- gang des Dichters. Es folgen die stürmischen Tage des Bürgerkrieges, dann die sozialistische Aufbauarbeit. In seinem Roman „Soky caliny“ wird die revolutio- näre Bewegung in Stadt und Land geschildert, die sozialen Gegensätze und deren Auswirkung im Familienleben. Zylunovi& ist der begeisterte Sänger des heroischen Pathos der Revolution, das Leitmotiv seines Schaffens nach dem Sieg der Re- volution ist der Heroismus der Arbeit bei der Formung des neuen ns. Die Helden seines Romans und seiner Novellen sind Männer, die eine „eiserne Seele“ aufweisen: „angespannte Willenskraft und starke Aktivität.“

Verf. bezeichnet Zylunovil als den Dichter des „revolutionären Voluntaris- mus“. Dennoch sind seine Helden lebenswahre Gestalten, Willensnaturen, bei denen Pflicht und Gefühl kollidieren.

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Verf. setzt Zylunovi als „Dichter einer aufstrebenden Klasse“ den Dichtern der „untergehenden Klasse“ th als deren reprasentativste Vertreter er Anatole France und Romain Rolland ansieht. Bei den Dichtern der untergehenden Klasse verzeichnet er eine hedonistische Lebensphilosophie im Gegensatz zur Philosophie des Voluntarismus bei Zylunovi& als dem Dichter einer aufstrebenden Klasse. Die Arbeit, die er unter dem Regime der Ausbeutung als Fluch angesehen habe, wird nunmehr im Zeitalter des sozialistischen Aufbaues zum freudigen Schöpfungsakt, zum Grundinhalt des Seins.

Gegenstük zu dem Leitsatz eines Descartes „Cogito, ergo sum“ laute der Glaubenssatz von Zylunovié: „Ich arbeite, also existiere ich“ ein Satz, der bei einem Manne, der durch Arbeit vom Dorfhirten zum führenden Staatsmann seines Landes arrivierte, wohl kaum überraschen kann.

Gregor Wirschubski.

J. Dreisin: Die Oktoberrevolution und die weißrussische Musik. Uzvysa 1927. Kn. 5.

Verf. teilt die gesamte Geschichte der weißrussischen Musik in zwei streng voneinander geschiedene Abschnitte ein: vor und nach der Oktoberrevolution. Verf. teilt die Musik in „Grundlage“ und „Überbau“ ein. Unter „Grundlage“ versteht er Volkslieder, Volkstänze u. dgl. Unter dem „Überbau“ versteht er die auf dieser „Grundlage“ von individuellen Tondichtern, die im Besitz aller Hilfsmittel der modernen Musikwissenschaft und Technik waren, geschaffenen Kompositionen.

Verf. ist der Ansicht, daß diese Einteilung mit der geschichtlichen Einteilung übereinstimmt: vor der Oktoberrevolution habe es nur eine „Grundlage“ der weißrussischen Musik gegeben, erst die Oktoberrevolution schuf die Möglichkeit der individuellen künstlerisch schöpferischen Arbeit auf dieser „Grundlage“.

Verf. untersucht die Werte des weißrussischen Volksliedes und verzeichnet dessen Wohlklang, Herzlichkeit und Poesie. Ein Volk, das eine so reiche „Grund- lage“ der Nationalmusik geschaffen habe, das von Hause aus mit einer so ungemein starken natürlichen musikalischen Begabung 5 ist, muß auch in Zukunft eine reiche Entwicklung seiner Nationalmusik vor sich haben.

Das weißrussische Volk hat bisher auf seiner reichen musikalischen „Grund- lage“ keine künstlerische Musik geschaffen, weil es in der Zeit der Hochblüte der westeuropäischen Musik, im 18. und 19. Jahrhundert, noch im Zustande der Halb- sklaverei schlummerte und die besten Kräfte seiner Intellektuellenschicht fremden nationalen Kulturen abgab. Weißrussen dem Blute nach wurden Glinka und Moniuszko nach herkömmlicher Regel ihrem Volk untreu, sie erhielten ihre musi- kalische Bildung im Rahmen fremder nationaler Kulturen der großrussischen und polnischen. Glinka kannte das weißrussische Volkslied nicht (? V. S.), da- gegen schöpfte Moniuszko bewußt aus dem Schatz der weißrussischen Volksmusik. Im Laufe des 19. Jahrhunderts ging die Sammlung und Sichtung der weiß- russischen Volkslieder vor sich. Die ersten Sammler waren Dilettanten, doch kommt ihnen größere Bedeutung zu. Unter den Sammlern haben sich ins- besondere Abramovič, Radèenko, Sidlov, Carnovskaja, Bargtevski, Romanov, Rosinski, Sein, Grineviè, Cornyj Kasura, Terravski, Serbov u. a. m. hervorgetan.

Aber bereits im Anfang des 19. Jahrh. tauchen die ersten, technisch freilich unvolikommenen Versuche auf dem Gebiete kiinstlerischer Musik auf: so die Oper „Zalety“, Musik von Kimont, Text von Marcinkevié, Orchestersuite von Rogovski.

Der radikale Umschwung erfolgte mit der Oktoberrevolution, sein Einfluß erstreckte sich indessen nur auf Sovjet- Weißrußland, in Polnisch-Weißrußland hin- gegen blieb alles wie bisher (??? W. S.). Verf. gibt eine Übersicht der musikalischen Ausbildung in Weißrußland vor der Revolution, stellt deren Mängel fest, vor allem aber deren Unzugänglichkeit für die breiten Volksmassen. Nur in den Lehrerseminaren entsprach der Gesangunterricht modernen Anforderungen, d das Repertoire bestand zu % aus Kirchenliedern. Für das Volkslied verblieb nur % des Repertoires und dabei wurde vorzugsweise das großrussische Volkslied gepflegt. Das eigene nationsle weißrussische Volkslied wurde dem weißrussischen

olk von der großrussischen Schule vorenthalten. Die Revolution räumte mit

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diesem Zustande auf: das weißrussische Volkslied nahm im Musikunterricht Weiß- rußlands den ihm gebührenden Platz ein. Und nur auf dieser Grundlage konnte der Willen des Volkes zu einer eigenen nationalen künstlerischen Musik sich ent- wickeln und entfalten. Erst jetzt erklang das weißrussische Volkslied frei in Stadt und Land. Es entstanden weißrussische Chöre, von denen insbesondere der Chor von V. Terravski, der aus 50 Personen besteht, sich rasch Berühmtheit er- worben hat. Dieser Chor gehört dem Weißrussischen Staatstheater an. Der Leiter des Chors V. Terravski war bereits vor der Revolution als Sammler weiß- russischer Volkslieder bekannt. 1920 erschien seine erste Sammlung weißrussischer Volkslieder, die 25 Stücke enthält. 1922 erschien in Berlin sein „Lirnik“, das 100 Volkslieder enthält in der Bearbeitung von Terravski, Kalin, Simkus und Rogovski. 1926 gab Terravski eine Sammlung von Kriegsliedern heraus, di 30 Stücke enthält. Terravski hat ferner auf der Grundlage der Volkslieder die Musik für mehrere Bühnenstücke geschrieben. Er hat noch ca. 800 unveröffent- lichte von ihm gesammelte Volkslieder, musikalische Illustrationen für Bühnen- werke und eigene Tondichtungen.

Neben Terravski seien ferner die Sammler und Tondichter Egorov, Matisson, Curkin, Levéenko u. a. m. verzeichnet. 1928 berief das Bildungskommissariat der Weißrussischen Sovjetrepublik eine „Weißrussishe Liederkommission“ nach Moskau, der bekannte Tondichter, wie Ippolitov-Ivanov, Olenin, Nikol’ski, Grelaninov, Prochorov und Aladov angehörten. Im Laufe eines Jahres harmoni- sierte diese Kommission 250 Volkslieder. Namentlich hat Prochorov viel ge- leistet, der allein 82 Lieder harmonisierte.

1927 wurde bei dem Institut für weißrussische Kultur in Minsk eine Unter- scktion für Musik gegründet, deren Hauptaufgabe es ist, weißrussische Volks- lieder zu sammeln, zu harmonisieren und zu veröffentlichen. Unter den Mit- arbetern dieser Untersektion hat sich insbesondere A. A. Grinevil ausgezeichnet, der über 500 Volksmelodien und ca. 1000 Texte von Volksliedern aufgeschrieben hat. A. A. Grinevié hat auch mehrere Liedersammlungen für den Schulunterricht veröffentlicht.

1924 wurde in Minsk ein Staatliches Musiktechnikum gegründet, die Keim- zelle der weißrussishen Musikhochschule. Aus dieser Musikanstalt sind bereits hervorragende Kräfte hervorgegangen. Unter den modernen weißrussischen Ton- dichtern steht M. I. Aladov an erster Stelle. Neben 25 Harmonisierungen im Sammelwerk der Moskauer Kommission ist Aladov ein ausgezeichnetes Pianoforte- Quintett C-Dur zu verdanken, eine Reihe von Romanzen auf Worte weiß- russischer Dichter, die Konzertbearbeitung der weißrussischen Marseillaise, die Vokalmusik für das Drama „Wir“ von Romanovič und die Hymne aus Anl des zehnjährigen Jubiläums der Oktoberrevolution. Ganz besonderes Interesse verdient das Quintett C-Dur, das auf Volksmotive geschrieben ist und einen originellen Beitrag des weißrussischen Musikgenies zur Schatzkammer der Welt- musik bedeutet.

Neben Aladov haben sich andere Mcister hervorgetan, so namentlich Prochorov, Fidlon, Snitmann, Čurkin u. a. m. Fidlon schuf ein bemerkenswertes Streich-Quartett A-Dur (op. 9) auf Volksmotive, er schrieb die Instrumentalmusik zum Drama „Wir“ und eine weißrussische Orchestersuite. Von großer Bedeutung für die Entwicklung der weißrussischen Musik sind neben dem Musiktechnikum die beiden Staatscheater. Beide Theater haben eigene Orchester und Chöre. Für die Uraufführungen wird nicht selten neue Musik geschrieben und zur Mitarbeit werden neben örtlichen Komponisten die führenden Tondichter der Sovjetunion zugezogen. Nach Minsk ist Mohilev das zweite Zentrum der Musikkultur Sovjet- weißrußlands. In Mohilev besteht seit 1919 eine Musikschule. Musikschulen be- stehen ferner noch in Homel und Vitebsk. Im Rahmen des Fünfjahresplanes der Sovjetunion ist ein weiterer Ausbau des Musikunterrichts in Sovjet- Weiß- rußland geplant. Verf. schließt seine Ausführungen mit einem Hymnus auf die Sovjetregierung und die Oktoberrevolution. „Sie haben uns der Verwirklichun des Ideals näher gebracht, von dem Richard Wagner in seinem berühmten Artike „Kunst und Revolution“ geschrieben hat.“ Bekanntlich schrieb Richard Wagner, daß das Ziel der Kunst und der Revolution es sei, den starken und schönen

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Menschen ri schaffen: die Revolution werde ihm die Kraft, die Kunst dic Schön- eit geben.

Freilich scheint der offiziöse Optimismus des Verf. etwas abwegig: zunächst wenigstens ist es dem halbverhungerten terrorisierten weißrussischen Sovjetbürger bis zum Wagnerschen Ideal des schönen und starken Menschen noch recht weit... Gänzlich verfehlt sind ferner die Ausführungen des Verf. über das Musikleben Polnisch-Weißrußlands. Es ist ndfalsch zu behaupten, daß dort „eine Musik- wüste“ herrsche, wie vor der Oktoberrevolution. Naturgemäß hat das erwachende Musikleben in Sovjer-Weißrußland einen ähnlichen Prozeß in Polnisch-Weiß- rußland bewirkt. Im Zentrum des Musiklebens von Polnisch-Weißrußland steht der bekannte Komponist, der Schüler von Rimskij-Korsakov, Prof. K. M. Gal- kovski, der eine Reihe von Romanzen auf Worte weißrussischer Dichter und Harmonisierungen von Volksliedern geschrieben hat und jetzt an einer weiß- russischen Oper arbeitet, für die er selbst das Libretto nach dem Poem von Kolas „Symon-Muzyka“ geschrieben hat.

Freilich blieben die Versuche, die Sovjet-Weißrussen, darunter Kolas per- sönlih für dieses Werk zu interessieren, vergeblich. Es scheint demnach, daß es den Sovjet-Weißrussen an der Hebung des Musiklebens in Polnisch- Weißrußland nicht sonderlich gelegen ist. Unter den Tondichtern Polnisc-Weißrußlands muß noch Vladimirski verzeichnet werden, der eine Reihe von Harmonisierungen weiß- russischer Volkslieder gegeben hat. Ferner ist der unermüdliche Sammler weiß- russischer Volkslieder Sirma zu erwähnen, dessen ununterbrochenen SE auf der Suche nach neuem Material ihn auch in den Kreis Bialystock geführt haben, wo das weißrussische Siedlungsgebiet an das der Masuren grenzt. Hier konnte er den ungemein starken Eintluß der weißrussischen musikalischen Volks dichtung auf die benachberten Masuren feststellen. Wie Sirma in einer mündlichen Unter- haltung erklärte, gibt noch jeder Streifzug überraschend neues Material: die seit Jahrhunderten aufgespeicherten Schätze der Volksdichtung sind noch nicht zu ½ erschöpft. Vladimir Samojlo.

Cechoslovakei

Arne Novak: Gogol u Jaroslava Vrhlického. Slavia 7, 4 (1929), S. 890—894.

Veröffentlichungen von Jar. Borecký und F. X. Šalda haben gezeigt, welche bedeutende Rolle der russischen Literatur im allgemeinen literarischen Wissen des jungen Vrhlikf zufällt, was im Hinblick auf seine späteren Übersetzungen aus dem Russischen von Wichtigkeit ist. Er hat sich mit Lermontov, Puškin und Gončarov beschäftigt. Gogols Name wird von ihm nicht häufig erwähnt, aber voll Enthusiasmus; was er sagt, gehört zu dem Bemerkenswertesten, was überhaupt im Cech, über Gogol gesagt worden ist. In einem Brief an seinen Bruder vom 10. 1. 1870 spricht Vrchlick von den „Mertvyja duši“ und „Oblomov“, daß sie ihm ans Herz gewachsen seien. Die Zusammenstellung dieser beiden Werke deutet N. darauf hin, daß Vrdilicky sie für Schöpfungen verwandter Art, d. h. der rea- listischen Literatur mit ethischen Tendenzen ansah. Vrchlický hatte dagegen nie Verständnis für Gogols romantische Ader. Dem dechischen Leser der „Toten Seelen” lagen die Jugendgeschichte Gogols fern, und dieser ganzen Generation fehlte der Geschmack an der romantisch aufgemachten Volkstiimlichkeit, für die Erben und Celachovsky so viel übrig gehabt. Vrchlickf besaß aber für den Humoristen Gogol ebenso viel Verständnis wie für den Realisten, hier berührte er sich mit Havlitek, Nicht zutreffend ist Vrchlickkys Ausspruch, daß Gogol ebenso wie Dostoevskij zu den tendenziösen Stürmern gegen die Gesellschaft & la Ibsen zu

en seien. Auch das Sonett auf Gogol in den „Masken und Profile“ zeigt neben manchem Zutreffenden ausgesprochene Irrtümer, ebenso wie der Vers in der Herbstelegie, in dem Vrchlicky Rabelais, Voltaire, Gogol und seinen Übersetzer Havlitek in eine und dieselbe literarhistorische Reihe stellt, ein Beweis ist für seine oberflächliche und irrige Einschätzung des Gogolschen Humors und seiner Karikaturen. Emmy Haertel.

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Wolfango Giusti: Vilém Mritik. Rivista die letterature slave. Anno 4, 1 (1929), S. 1—38.

Andere Schriftsteller werden tiefere Spuren zurückgelassen haben in der čech. Literaturgeschichte, Mrit{k ist aber für den Fremden deshalb besonders inter- essant, weil seine Tendenzen den Tendenzen entsprechen, die von jeher im kulturellen Leben der Cechen die Geister in Bewegung gehalten G. charakterisiert diese Strömungen: die ausschließlich Hasena; die europäi und beiden gemeinsam das Antideutsche, ferner das Für und Wider reffs der Stellung zu Rußland. Er verfolgt diese Tendenzen in Mritſks Werken, weist auf seine Neigung zum Verallgemeinern, Vereinfachen seiner Typen hin, auf die nope nach dem psychologischen Roman Rußlands, hinter dem M. aber zurück- bleibt, ebenso wie auf die von Zola beeinflußte Milieuschilderung, die aber nicht wie bei Zola aufs engste mit der persönlichen zusammenfließt, sondern bei M. etwas Photographieähnliches, von dem eigentlichen psychischen Prozeß e- sondertes hat. G. weist ferner auf Anklänge an Turgenev, Gogol und Dostoevskij hin, er stimmt Jakubec und Novák zu, die in der „Geschichte der Tschechischen Literatur“ das Patriarchalische, Idyllische Mritſks hervorgehoben haben. Daher die Frische seiner Naturschilderungen, die man denen Demls an die Seite stellen kann. Doch Mritſk li alles Problematische und Philosophische fern. G. stellt, einmal zugegeben, gerade die tech. Literatur zum Kreuzungspunkt der heterogensten Strömungen von Nord und Süd, Ost und Vest werden mußte, die Frage: gibt es überhaupt eine ausgesprochen Cechische Kulturtradition? Hus, Chellikf liegen zeitlich viel zu weit ab, um als Ausgangspunkt zu gelten. Aus der Literatur des 19. Jhs. sind, nach der Momin Giustis, nur Neruda und Macha als einzige zu nennen, die über das rein Cechische hinaus zum allgemein Mensch- lichen vorgedrungen sind, eine Tradition haben aber auch sie nicht begründen können, man fürchte also jetzt zu Unrecht, daß die literarischen Neuerscheinungen der Nachkriegszeit traditionsvernichtend werden können. G. stimmt hinsichtlich des Begriffes „Tradition“ F. X. Salda bei, der sich in „Zapisnik“ 1,1 (1928) über die Ideen Louis Reynauds zur Tradition in Frankreich geäußert, Gerade ın der Frische und Unbefangenheit der Nachkriegsliteratur der Cechei sieht G. den Anfang zu etwas Neuem. Hašeks „Švejk“ verliert nicht an Wert, weil er keinem Typ aus der älteren Cechischen Literatur ähnlich ist.

1644. Geschichte der Papiermühle zu Rokitnitz. Mitteilungen der Vereinigung für Geschichte der Deutschen in Böhmen. 67. Jahr- gang, 1929, Heft 3—4, S. 87—114.

Johann Schreiber gibt zunächst einen Überblick über die Geschichte von Rokitnitz (Adlergebirge), welches seine Entstehung den Herren von Reiche- nau, Wilhelm und Hermann von Dürnholz, deren Nachkommen sich aber erst Herren von Reichenau nannten, verdankt. 1260 gründeten diese am flachen Ab- hang des waldreichen Adlergebirges drei Dörfer: Rokitnitz, Pitschin und Slatina. Im weiteren Verlaufe kam dann die Herrschaft Rokitnitz durch Kauf am 9. März 1648 an den kais. kel Ratsherrn und Landeshauptmann des Fürstentums Breslau Otto von Nostitz. Unter dieser Familie hat die Herrschaft Rokitnitz einen großen Aufschwung genommen. Otto von Nostitz und Rhienek hat das Gut selbst in einen musterhaften Zustand gebracht, erbaute auch das Kornschreiber- haus und das Bräuhaus. Vor allem erlangte er aber am 4. Oktober 1644 von Kaiser Ferdinand III. das Privilegium zur Erbauung einer Papiermühle in Rokitnitz. Diese gehört also zu den ersten, die in Böhmen erbaut wurden. Schaller zählt in seiner Topographie Böhmens v. J. 1740 als die besten Papiermühlen die von Rokitnitz, atzlar, Senftenberg und Trautenau auf. Der erste Papiermeister von Rokitnitz hieß Melchior Zeiske. Das Privileg Kaiser Ferdinands ist S. 89f. abgedruckt. E. Hanisch.

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VI NOTIZEN

JAN PTASNIK (1876—1930.)

.. Mit Jan Prasnik ist am 22. Februar 1980 ein Säkularmensch der wissenschaft- liche. Welt, einer der bedeutendsten polnischen Kulturhistoriker im Alter von 54 Jahren dahingegangen. Als Bauernsohn in Westgalizien geboren, beendete er in Bochnia das Gymnasium und begann an der Universität Krakau zuerst Jura,

äter Geschichte zu studieren. Schon als Student im ersten Semester lenkte er ie Aufmerksamkeit seiner Lehrer, der Professoren Zakrzewski, Smolka, Krzyzanowski und Ulanowski auf sich, die dem für das Studium be- geisterten Jüngling durch Verleihung von Stipendien, dann der Applikantenstelle am Stadtarchiv die Möglichkeit gaben, den mühevoll steinernen Weg der wissen- schaftlichen Laufbahn zu betreten. Eingeführt in das Studium der Paleographie durch Professor Ulanowski, sich fortbildend im Deutschen Archeologischen Institut unter Prof. Hüls e ns Leitung in Rom, konnte Studiosus Prasnik mit großem Fleiß und Eifer die vergilbten Akten des Krakauer Stadtarchivs studieren und kennen lernen, die ihm bis zum Lebensende unerschöpflicher Quellborn für un- zählige größere und kleinere Abhandlungen geblieben sind.

Noch in die Studentenjahre fällt der Anfang PraSniks wissenschaftlicher Arbeit. Im Jahre 1900 erschienen fast gleichzeitig „Z życia uczniów krakowskih w XV i XVI wieku“ (Aus dem Leben der Krakauer Schüler im XV. und XVI. Jahrh.)*) und eine zweite, dieselbe Frage behandelnde Arbeit unter dem Titel „Obrazki historyczne z życia zakéw krakowskihwXViXVIwiek u“ (Historische Bilder aus dem Leben der Krakauer Scholaren im XV. und XVI. Jahrh.)?). Prasnik zeichnet uns darin in lebendigen Bildern das Leben der Studenten, ihren Kampf ums Dasein, die sich aus der Verschiedenheit der Nationen ergebende Streitigkeiten zwischen den Polen, Deutschen, Ungarn, Tschechen, Ruthenen, Litauern und dergleichen mehr. Während diese beiden Abhandlungen streng wissenschaftlich gehalten sind, waren die „Historischen Bilder“ frei von wissenschaftlichem Ballast, bestimmt für die weiteren Volkskreise.

Die Vorbereitungen zur Fachprüfung als Mittelschullehrer, die er 1801 be- stand und zur Erlangung des Doktorgrades im Jahre 1908, hinderten den jungen Forscher an den weiteren Studien nicht. 1902/08 erschienen die ,Obrazki z zycia przeszłości miasta Krakowa serja I i II“ (Bilder aus der Vergangenheit Krakaus, I. und II. Serie),®) in welchen wir das Leben der alten Stadt Krakau und seiner zumeist deutschen Bürger dargestellt finden.

Nach diesen ersten gut gelungenen und von ernsten Kritikern sehr günstig beurteilten Versuchen, trat Ptaśnik an die Bearbeitung des Krakauer Patriziats heran. Die ergänzte Doktorarbeit „Bonerowie“ (Die Familie der Boner)*)

See 1) Księga pamiatkowa uczniów Uniwersytetu Jagiellońskiego, Kraków 1900, 99) Bibljoteka Krakowska, Nr. 15, Kraków 1900, S. 68.

3) Ebendort, Nr. 21 und 28, Kraków 1902 und 1908, S. 88 und 71.

*) Rocznik Krakowski VII, 1905, S. 188, Vgl. Przewodnik naukowo- literacki, 1905, S. 87.

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ist keine Bi mehr, aber ein Stück emeiner polnischer Kultur- und Wirtschaftsgeschi te. Der junge Gelehrte sp der städtischen Kultur eine es Bedeutung zu, die in seiner Auffassung noch größer wurde, als er von den tudienreisen aus Deutschland, Frankreich, England, Ungarn, Belgien nach Krakau zurückkehrte. Von ganz besonderer Wichtigkeit für die weitere ragen Prafniks waren die Italienreisen. Zum erstenmal weilte er in Rom 1908/04 . der Expedition der Akademie der Wissenschaften, in deren Auftrage er die Vorbereitung der Quellenausgabe „Monumenta Poloniae Vaticana“ übertragen bekam. Hier wurde Ptainik auf die 55 Beziehungen zwischen Italien und Polen aufmerksam, namentlich auf den Einfluß der italienischen Kultur, die durch den königlichen Hof, die Universität, Geistlichkeit, Handwerker- und Kaufmann- schaft verpflanzt, einen starken Stempel der heimischen Kultur aufdriickte. Diesem Gedanken gab Ptainik Ausdruck in der Arbeit „Z dziejów kultur y włoskiego Krakowa“ (Aus der roid e des italienischen Krakau),®) welche die polnische Kulturgeschichte auf neue Bahnen gelenkt hat. Ptainik wies als erster nach, daß die Italiener Nachfolger der Deutschen als Kultur- träger waren, durch ziemlich starke Einwanderung, die Begründung von Werk- und Arbeitsstätten und die Organisierung des Postwesens kulturelle Beziehungen zwischen den beiden Ländern geschaffen haben, die noch stärker wurden, als nun der polnische Handel nach dem Süden gerichtet wurde.

_ Eng im Zusammenhang mit diesem Problem stehen die bald darnach er- schienenen Abhandlungen „Gliitaliania Cracovia dal XVI secolo al X VIII“ (Roma 1900, S. 108); „Italia mercatoria apud Polonos secolo XV ineunte“ (Roma 1910, S. 108) und „Wioski Krak6w za KazimierzaWielkiego i VIZ dy- laws Jagiełły“ (Das italie- nische Krakau zur Zeit Kasimirs des Großen und Wladislaw Jagie o:). In „Gli italiani“ finden wir 287 Nachrichten über italienische Handwerker und Kaufleute in Krakau, in „Italia mercatoria“ sind 89 Dokumente aus den römischen, veneziani- schen und krakauer Archiven aus den Jahren 1887—1480 wiedergegeben; in der letztgenannten, außer der später erschienenen „Kultura wioska w Polsce wiekéw irednich einzig allein dastehenden Arbeit über die italienisch- polnischen Be- ziehungen im Mittelalter, bespricht der Verfasser die Bedeutung des zwischen

u und den italienischen Städten Florenz, Genua und Mailand sich ent- wickelnden Handels, endlich die politische Rolle der im Dienste Jagiellos stehenden

Fremdlinge.

Die bisherige Anschauung von dem ausschließlichen deutschen Kultur- einfluß war widerlegt, Ptainiks Thesen, die anfangs Mißtrauen erweckt hatten und als übertrieben Weer wurden,?) fanden immer mehr Anhänger, ja bald sah man Ptafnik als Begründer einer neuen Richtung in der Kulturgeschichte an.

Aber auch auf dem Gebiete der Kirchengeschichte und des Kirchenrechts

führten die Italienreisen den Verstorbenen auf neue Bahnen. Das Studium im Vatikanischen Archiv lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Anteilnahme der Apostolischen Kurie an der Innen- und Außenpolitik Polens und auf den Ein- fluß der Geistlichkeit auf dem Gebiete des een und staatlichen Lebens. Diese Behauptungen finden wir ausgedrückt in der Abhandlung „Kollektorz Kamery Apostolskiej w Polsce Piastowskiej“ (Die Kol- lektoren der Apostolischen Kammer in Polen zur Zeit der Piasten).*) Als Ent- gegnung auf seine 8 90 daß der Peterspfennig, den Polen in der Boleslaw- Epoche an die Apostolische Kammer gezahlt hat, insofern große Bedeu hatte, weil er zur Wiedervereinigung der Teilgebiete und zur Aus ee des Zu- sammengehörigkeitsgefühls aller a Boden bewohnenden Volksgenossen beigetragen hat, was in der Abhandlung „Denar fe, Piotra obroAcz jedności politycznej i kościelnej w Polsce“ (Der Peters-

5) Rocznik Krakowski IX, 1907, S. 8—147.

*) Ebendort XIII, 1911, S. 51—109.

7) Vgl. Klodzifski, Kwartalnik Historyczny XXII, S. 411—415.

e) Rozprawy Akademn Umiejętności wydz. hist. fil. Bd. L, 1907, S. 80.

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fennig als Faktor der politischen und religiösen Einheit Polens)e) zum Ausdruck No erschien drei jahre später „Dagome index. Przyczynek krytyczny do genezy świętopietrza w Polsce“ (Dagome iudex.

in kritischer Beitrag zur Entstehun ichte Peterspfennigs in Polen), Kraków 1911, S. 56, in welchem Prainik auf die Gegenbehauptung, daß der Peterspfennig nur ein Element zur Wiedererneuerung des Staates gewesen sei, neuc Beweise lieferte, daß der Peterspfennig doch das allerwichtigste Bindeglied für die volkstümlich noch nicht verloren gegangenen Teilgebiete gewesen ist. Der Haupt- erfolg der Jtalien- bzw. Romreise war jedoch die dreibändige monumentale Quellens „Monumenta Poloniae Vaticana“, in welcher Ur- kunden, Akten und Dokumente erschienen, die bisher fast alle unbekannt waren und jetzt an das Tageslicht gebracht, das Verhältnis der Apostolischen Kammer zu Polen in anderem Lichte erscheinen ließen. Die ersten zwei Bände umfassen die Acta Camerae Apostolicae 1207—1874 (Cracoviae 1913, S. LVII + 502 + XXVIII + 582), den dritten Band bilden Analecta Vaticana 1208—1866 (Cracoviae 1914, S. LVI + 572).

Die pa ogische Berufsarbeit als Mittelschullehrer in den Jahren 1901 bis 1919 an den Gymnasien Przemyśl und Krakau konnten den Verstorbenen von der Fortsetzung seiner weiteren Studien nicht zurückhalten. Wir sehen ihn wieder im Ausland, längere Zeit in Rom und Nürnberg, wo die Akten des Stadtarchivs durchstöbert werden, um bald darauf lebhaften Anteil an dem Streit um die Nationalität des Veit Stoß teilzunehmen. Seine Ansichten bezüglich des großen Meisters finden wir aufgezeichnet in den Abhandlungen „Ze studjów ned Witem Stwoszem i jego rodzing“ (Aus den Studien über Veit Stoß und seine Familie),**) „Noch EE über die Nationalität des Veit Sto 8,1) „W sprawie Wit Stwosza“ (In der Sache des Veit Stoß). 12) Noch im Jahre 1928 kehrte der Professor zu diesem Thema zurück und ergänzte seine vorigen Untersuchungen mit neuen Einzelheiten in dem Artikel „ze studifo Vicu Stoszoviajeho rodin& (Aus den Studien über Veit Stoß und seine Familie). )

Im Jahre 1918 schen wir Ptainik als stellvertretenden Leiter einer neuen, von der Akademie der Wissenschaften veranstalteten Expedition, zusammen mit den Professoren Los, Zachorowski, Baran und Dabrowski in Ungarn, doch konnten die Untersuchungen „Sprawozdanie z poszu- kiwahna W LU r zech“ (Bericht über die Forschungen in Ungarn) infolge des Ausbruches des Welckrieges erst im Jahre 1919 im Druck erscheinen.

Ein besonderes Gebiet Ptainiks Forschungsinteresses bildete das Städtewesen und seine Kultur, welcher a Bedeutung zusprach und dessen Erforschung er sich zum Ziel steckte. Noch im Jahre 1910 erschien die Arbeit „Dzieje handlu i kupiectwa krakowskiego“ (Geschichte des Krakauer Handels und der Kaufmannschaft), “) in welcher wir sehr wertvolle Nachrichten über die ältesten Kaufleute finden, unter welchen außer den heimischen die aus Deutschland, Frankreich, Belgien, Flandern, der Schweiz, Ungarn, Tschechen und Baycrn hervorgehoben seien.

Der Aufenthalt in Nürnberg, wo Prasnik über Veit Stoß Untersuchungen anstellte, ermöglichte ihm die Herausgabe der „Akta norymberskie do dziejów handluz Polska w wieku XV“ (Nürnberger Akten zur Ge- schichte des Handels mit Polen im XV. Idt.), 1) wo 70 Urkunden aus Nürn-

°) Ebendort, Bd. LI, 1908, S. 86. 19) Rocznik Krakowski, XIII, 1910, S. 74. 11) Monatsschrift für Kunst wissenschaft, Leipzig 1912, Nr. 12. 13) Czas 1912, Nr. 415 und 417. 18) Sborník věnovaný Jaroslavu Bidlovi k ledesitym narozeninám, Praha 1028. S. 2600—2765. 14) Rocznik Krakowski XIV, 1910, S. 65—180. 18) Archiwum Komisji Historycznej Akademji Umiejętności XI, 1912,

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berger Archiven aus der Zeit 1865—1592 wiedergegeben sind, die einen sehr regen Handelsverkehr zwischen Nürnberg, Krakau und Posen bezeugen. Krakauer Patriziat im Mittelalter, das zumeist aus deutschen Einwanderern bestand und die im Laufe der Zeit zu großer Bedeutung gelangten, widmete Prafnik zwei größere, sehr gründliche Abhandlungen. Es sind dies die ,Studya nad patrycyatem krakowskim wieków $rednic I i II“ (Studien über dem mittelalterlichen Patriziat in Krakau I und II), 1e) in welchen wir das Lebensbild ehemaliger deutscher Bürgerfamilien wiedergegeben finden, die, indem sie in die Reihen der Adeligen getreten sind, ihrem Volkstum verloren gingen.

Der Weltkrieg, an dem Pra$nik als Frontsoldat in den Legionen teilnahm, hinderte ihn nicht, die Herausgabe der mühselig zusammengestellten Quellen- sammlung „Cracovia artificum 1800—1500“ im Jahre 1917 in Krakau zu vollziehen.

Außer zahlreichen größeren und kleineren Berichten, die zumeist in den von der Krakauer Akademie der Wissenschaften herausgegebenen Sprawozdania komisji dla badania historji sztuki w Polsce gedruckt er- schienen, gehören noch in den Bereich der Kunstgeschichte, die schon nach seinem Tode erschienenen Abhandlungen „Codex picturatus Baltazara Behema (Balthasar Behems Codex picturatus), 7) „Dwie kwestje 2 dziejów kultury artystycznej Krakowa“ (Zwei Probleme aus der Kunstgeschichte Krakaus), is) „Dwie rodziny malarskie w Kra- kowie“ (Zwei Malerfamilien in Krakau im XV. Jdt.)1%) und eine ganze Reihe druckfertiger Artikel, die im Nachlaß zurückblieben.

Im Jare 1920 verließ Prafnik Krakau, wo er zwei Jahrzehnte, als Student, Gymnasiallehrer, seit 1907 als Privatdozent, ab 1910 als Titularprofessor und endlich 1919 als außerordentlicher Professor für Kulturgeschichte an der Universi- tät Krakau gewirkt und geschaffen hatte, um dem Ruf nach Lemberg zu folgen, wo er als Leiter des Seminars für Geschichte des Mittelalters und des Instituts Hilfswissenschaften und ab 1928 als Hauptschriftleiter des „Kwartalnik Historyczny“ treu bis zum Tode segensreich wirkte.

Die noch in Krakau begonnenen und in Lemberg beendeten kurzen Ab- handlungen „Przemysł papierniczy w Małopolsce XVI wieku“ (Das Papiergewerbe in Kleinpolen im XVI. Idt.), ) ,Papiernie w Polsce XVI wieku“ (Die Papierwerkstätten Polens im XVI. Idt.), 21) bildeten Vor- studien zu der großen im Jahre 1922 in Lemberg herausgegebenen Quellenausgabe „Monumenta Poloniae Typographica I. Cracovia im- pressorum“, dessen Einleitung die Geschichte der polnishen Buchdrucker- kunst enthält. Noch in demselben Jahre erschien bendi, nebst der überhaupt ersten synthetishen Geschichte des Städtewesens in Polen „Miasta w Polsce“ (Die Städte in Polen), „Kultura włoska w Polsce wieków śred- n ich“ (Italienishe Kultur in Polen im Mittelalter)ů, die wie die „Städte“ an- erkennenswerte Begeisterung hervorriefen. Anschließend an die „Italienische Kultur“ plante Professor Ptasnik eine allgemeine dreibändige Kulturgeschichte herauszugeben. Der erste Band erschien auch im Jahre 1925 in Warschau unter dem Titel „Kultura wieków Srednich t. I. Życie religijne i społeczne“ (Kulturgeschichte des Mittelalters, Bd. I. Das religiöse und soziale Leben), den zweiten Band sollte, wie wir aus dem Briefe an seine Schülerin und Assistentin, Fr. Dr. Charewicz vom 4. August 1924 entnehmen können, „Das ritterliche Leben“ bilden und das Bürgertum sollte seine Geschichte im dritten Bande der allgemeinen Kulturgeschichte erhalten. Mit dem ersten Bande der Kulturgeschichte erreichte Pra$nık den Höhepunkt seines wissenschaftlichen

16) Rocznik Krakowski XV, 1913, S. 25—95 und Bd. XVI, 1914, S. 1—90. 17) Kwartalnik Historyczny XLIV, 1930, S. 1—25.

18) Księga pamiątkowa ku czci profesora Abrahama, Lwów 1930, S. 471—481. 19) Sbornik ku česti profesora Sišica. Zagreb. 1930.

20) Sprawozdanie Akademji Umiejętnoście 1919, Nr. 7, S. 6—8.

21) Rozprawy Akademji Umiejętnoście wydz. hist. fil. LXII, 1920, S. 1—40

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Schaffens. „Das religiöse und soziale Leben“ ist und bleibt ein Meisterwerk. Der Versuch seitens geistlicher Kreise, seinen Wert durch vernichtende Kritik zu schmälern, blieb ohne Erfolg. Zum geplanten zweiten Bande der „Ritterlichen Kultur“ verblieben nur vorbereitende Materialien, das „Städtewesen“ ist in einer über 500 Seiten starken Handschrift fast druckfertig. Es sollte vielleicht sein Lebenswerk werden, kein anderer Forscher war und ist mit der Eigenart des polnischen Städtewesens so vertraut, als es Professor Ptasnik gewesen ist, er war der einzige Spezialist.

Endlich möchten wir noch einige größere Abhandlungen aufzählen, die außer den schon erwähnten das Städtewesen in Polen betreffen und die als Vor- studien zu dessen Geschichte betrachtet werden können. Es sind dies: „Ob y- watelstwo miejskie wdawnej Polsce“ (Die städtische Bürgerschaft in Alt-Polen), 2) „Zydzi w Polsce wieków średnich“ (Die Juden in Polen im Mittelalter), ) „Zalew miast polski di przes żydów w wieku XVI—XVIII“ (Die Ūberflutung der polnischen Städte durch die Juden im XVI.—XVIII. Idt.), “) „Narodowości w miastach dawnej Polski“ (Die Nationalitäten in den alt-polnischen Städten),“ „U dzia miast polskih w dawnych sejmach“ (Der Anteil der polnischen Städte an den Reichstagen), e) „Walkio demokratyzacje Krakowa iLwowaod XVI—XVIII wieku“ (Kämpfe um die Demokratisierung Krakaus und Lembergs im XVI.— XVIII. Idt.), 27 „Walkio demokraty- zacje Krakowa w XVII—XVIII wieku“ (Kämpfe um die Demo- kratisierung Krakaus im XVIL—XVII. Idt.), s) und ,Szlachta wobec miastimieszczahstwa w dawnej Polsce“ (Die Schlachta im Ver- hältnis zu den Städten und Bürgern in Polen).?®)

Im Nachlaß verblieben noch ferner als Manuskript fast druckfertig die mit Ameisenfleiß zusammengestellten . „Cracovia artificum 1501—1500 und T. II von 1550—1000 und der geplante zweite Band der „Monumenta Poloniae Typographica“, endlich „Kultura artystyczna Krakowa w wiekach śred- nich“ (Die künstlerishe Kultur Krakaus) und eine ganze Menge Quellennotizen, Mee denen gesagt werden kann, daß sie das ganze Krakauer Stadtarchiv ver-

ten.

Groß waren Prasniks Leistungen, segensreich sein Schaffen. Die Geschichts- schreibung betrauert einen ihrer besten und gewissenhaftesten Kulturhistoriker, die Universität und die große Schülerzahl ihren lieben Pedagogen und Meister, die zurückgebliebene Witwe und das Söhnchen ihren unvergessenen Gatten und Vater, die Menschheit einen edlen und kristallenen Charakter. Er, unser lieber, unver- geßlicher Meister, ist dahin, seine Werke, und sein Geist aber leben in uns fort. Ehre seinem Andenken!

Lemberg. A. Wagner.

22) Przegląd Warszawski 1921, S. 145—165.

23) Ebendort, 1922, S. 215—237.

34) Ebendort, 1924, S. 26—40.

25) Samorząd Miejski, 1925, S. 889—504, 988—996. 26) Samorząd Miejski, 1925, S. 705—730.

27) Kwartalnik Historyczny XXXIX, 1925, S. 82. 28) Ebendort, XLIII, 1929, S. 33.

20) Przegląd Warszawski J™5, S. 89—100, 158—211.

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OSTEUROPA-INSTITUT IN BRESLAU

JAHRBUCHER FOR |

KULTUR UND GESCHICHTE DER SLAVEN

IM AUFTRAGE DES OSTEUROPA-INSTITUTS HERAUSGEGEBEN VON FELIX HAASE-BRESLAU, ERDMANN HANISCH- BRESLAU, ROBERT HOLTZMANN-BERLIN, JOSEF MATL-GRAZ, HEINRICH FELIX SCHMID-GRAZ, KARL STAHLIN-BERLIN, KARL VOLKER-WIEN, WILHELM WOSTRY-PRAG

SCHRIFTLEITUNG: ERDMANN HANISCH

PRIEBATSCH’S BUCHHANDLUNG BRESLAU, RING 58

I ABHANDLUNGEN

DIE QUELLEN ZUM IDYLL „IVAN IVANOVITSCH“ VON ROB. BROWNING

Von M. Alekseev (Universitat Irkutsk).

Das ein russisches Sujet behandelnde Poem Rob. Brownings „Ivan Ivanovitsch“ ist den englischen Literarhistorikern schon längst als eines der wichtigsten und seiner Anlage nach ernstesten Werke bekannt, welches zur ersten Serie seiner „Dramatic Idyls“ gehört (1879). Man pflegt auf seine poetischen Schönheiten, die Tiefe seiner Hauptidee, ar auf die beachtenswerte ethnographische Treue der in ihm geschilderten Bilder hinzuweisen. So fand schon Arthur Symons, daß “the setting of the story ... is admirable. The vast motionless Russian landscape, the village life, the men and women are all vivedly painted, and the revelation of the woman’s charakter the exposure of her culpable weakness, seen in the very excuses by which she endeavours to justify herself is brought about with singulary masterly art.“) Dieser Außerung schloß sich auch die spätere Kritik gern an; W. Sharp spricht von “Ivan Ivanovitsch” als von “the remarkably picturesque and technically very interesting poem.””) E. Köppel merkt: „Nicht immer ist es dem Dichter allerdings gelungen, die Handlungsweise seiner Menschen so glaub- haft zu motivieren; “) eine ganze Reihe ähnlicher für das Poem sehr anerkennender Äußerungen und Bewertungen könnte man noch um ein Bedeutendes vergrößern sie sind eintach traditionell geworden.

Indessen muß zugegeben werden, daß dieses Poem Brownings bedeutend weniger erläutert worden ist, als es in Wirklichkeit ver- dient. Seine Entstehungsgeschichte ist bloß in ihren Hauptzügen be- kannt und ihre nächsten Quellen offenbar noch bis heute nicht völlig festgestellt. Die Kommentarien gehen gewöhnlich nicht über die Er- klärung der einzelnen im Werke vorkommenden russischen Wörter,

1) A. Symons. An introduction to the study of Browning, London, 1886, p. 186—187.

2) W. Sharp. Life of Rob. Browning, London 1890, p. 57.

3) E. Koeppel: Rob. Browning, Berlin 1912, S. 206.

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oder dem europäischen Leser unverständlicher Einzelheiten des russi- schen Volkswesens hinaus, wobei diese Erklärung durchaus nicht immer der Wahrheit entsprechend schließlih sih auf einen un- klaren Hinweis irgend einer russischen Volksüberlieferung, welche so- zusagen das Grundgewebe des Poems bildete, beschränken. So hält E. Berdoe es für eine russische Variante einer der Volkssagen von Wölfen, die wir alle so oft in unserer Kindheit gehört haben: “chis is a variant of Russian wolf-story which, in one form or another, we all heard in our childhood,”*) Mrs. Orr sagt, daß “Ivan Ivanovitsch an idealized Russian legend” ist. Außerdem bringt man gewöhnlich dieses Idyll mit der Reise Brownings nach Rußland in Verbindung. So sagt E. Berdoe direkt, daß Browning, als er Rußland 1834 be- suchte, daselbst wahrscheinlih Volkssagen von der unglücklichen Mutter, die ihre Kinder den Wölfen preisgegeben, gehört habe. Zur selben Folgerung, in mehr oder weniger bestimmten Formulierung, kommen E. Koeppel,’) V. H. Griffin,“) William Sharp’) und schließlich Frances S i m.“

Leider ist uns sehr wenig von der Reise Brownings nach Ruß- land bekannt. Selbst der Zweck, der ihn zu dieser Reise veranlaßte, bleibt unbekannt. Wir wissen bloß, daß im Frühling 1834, in den ersten Tagen des Monats März, Browning, noch im Jünglingsalter, der eben erst seine Kräfte auf literarischem Gebiete versucht hatte (er hatte schon seine „Pauline“ geschrieben), als Sekretär des russi- schen Generalkonsuls Benkhausen in England, durch Kurland und Estland nach Petersburg gereist war. Wie lange Zeit er dort verweilt, bleibt ebenfalls unaufgeklärt; nach den Berechnungen Koeppels zu urteilen, müssen es ungefähr 3 Monate, von März bis Juni, gewesen sein.) In Petersburg beendigte Browning unter anderem auch einige seiner Gedichte (,,Porphyr:a“ und „Johannes Agricola“, 1835 gedruckt und späterhin in einem Sammelwerk „Bells and Pomegranates“ zu- sammengefaßt), studierte mit Begeisterung die Bildergalerie der

) So z. B. erklärt Edward Berdoe (The Browning Cyclopaedia, London 1897, p. 228) im allgemeinen die vorkommenden Wörter, wie „A werst, Droug, pope, pomeschik“ etc. ganz richtig, gibt aber Ivan Ivanovitsch unerwartet, vom russi- schen Standpunkte aus, eine ganz unwahre Deutung; dieser erscheint als „an ima- ginary personage, who is the embodiment of the pecularities of the Russian people, ın the same way as John Bull represents the English and Johnny Crapaud the French charakter“. Es kann hier offenbar bloß die Rede von der in Ruß- land weiten Verbreitung des Namens Ivan sein, bei dessen Wahl Browning viel- leicht andeuten wollte, daß sein Held die sehr typische Figur eines russischen Bauern darstellt, aber auch sonst nichts weiter. Es wäre ein unverzeihlicher Fehler, seinen Namen mit dem populären Heldentypus der russischen Volksmärchen (Ivan, Ivanulka) in Verbindung zu bringen, dessen interessante Analyse unter anderem M. Baring in seine „Landmarks of Russian Literature“ gegeben hat.

5) E. Koeppel. Robert Browning, Berlin 1912, S. 12.

) W. Hall, Griffin. The Life of Rob. Browning... Completed and edited by H. Ch. Minchin, London, 1910, p. 64, 266.

7) W. Charp. Op. cit., p. 57.

oon Sim. Robert Browning. The poet and the man. London, 1928,

p. .

°) Koeppel, Ibid. S. 12, 242.

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„Ermitage“, wobei, wie Griffin mitteilt, eines der Gemälde Albanos, das den Raub der Europa darstellt und dessen Kopie Browning später- bin im Florentiner Uffizi zu sehen Gelegenhenit gehabt hatte, in seinem Gedächtnis so fest haften geblieben war, daß er sich seiner im “The Ring and the Book” erinnert.“) 1843 schrieb Browning ein Schauspiel „Only a playergirl“, das jedoch nicht herausgegeben wurde, wo die Handlung in Petersburg vor sich geht. Hier diente, nach den Angaben Mrs. Baretts, als Hintergrund die Petersburger Winterlandschaft, die Perspektive der Paläste, der Eisgang auf der Newa, und unter den handelnden Personen waren einige sehr treffend eschilderte Nationalfiguren. Während seines Aufenthaltes in Ruß- and studierte Browning seine Umwelt offenbar mit großem Erfolg und Interesse. Ich kenne nicht die Quellen, auf Grund deren Griffin von einer Festlichkeit spricht, zu der auch Browning zugegen gewescu sein soll, von seiner Bekanntschaft mit einem gewissen Waring, Mit- glied der englischen Gesandtschaft in Petersburg, dessen er sich 8 Jahre später in einem Gedichte, an Alfred Domett gerichtet, entsinnt. Interessant ist ferner die Angabe Mrs. Bronson s*) von einer Be- gegnung Brownings mit dem russischen Fürsten Gagarin in Venedig, wobei die Rede von russischer Musik und russischem Volksliede war und der Poet alle Anwesenden über seine gründlichen Kenntnisse und außergewöhnliches Gedächtnis in völlige Verwunderung setzte. Andere Biographen Brownings übersehen entweder diese Einzelheiten, oder beschränken sich bloß auf eine einfache Erwähnung seines kurzen Aufenthalts in Rußland. Die Hauptquelle, welcher man die be- sonders interessanten Ereignisse dieser Reise entnehmen könnte, näm- lich Brownings Reisebriefe an seine Schwester, sind leider abhanden- gekommen; die sie jedoch gelesen haben, entsinnen sich, daß Browning darin den großartigen Eindruck schilderte, welchen der sich auf viele Meilen hinziehende ganz verschneite Fichtenwald, durch welchen er 5 und Nacht fahren mußte und auch die Geschwindigkeit der ittenfahrt in Rußland auf ihn machte.“) Der Anblick des finsteren Föhrenwaldes im dichten Schnee machte einen so tiefen Eindruck auf seine Einbildungskraft, daß er 4 Jahre später (1888) ein Gedicht „A Forest Thought“ schreibt, in dem er die Be estnischen Wälder und die Erhabenheit der unabsehbaren Waldflächen erwähnt. Das ist ungefähr alles, was wir von der Rußlandreise Brownings wissen. Etwas über 40 Jahre später, im August 1878, kam Browning nach Spliigen, einem im Alpenhochgebirge verlorenen Nest, von wo aus er in seine italienischen Lieblingsstädte Verona, Asolo und Venedig niederzusteigen pflegte. Hier gerade wurde das Poem „Ivan Ivano- vitsch“ angefangen.“)

10) Griffin, p. p. 62—68, 266. 11) Mrs. Bronson. „Browning in Venice.“ „Century Magazine“, vol. LXII, p. 578—579 12) Mr. Sutherland Orr. Life and Letters of Rob. Browning, London, 1891, p. 64—65. 18) Koeppel. Op. cit. S. 202—208, 851.

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Der Anblick der mit Schnee bedeckten Gipfel, die Nähe des ewigen Eisgebietes, die dichtbereiften Föhren, diese ganze Schweizer Landschaft riefen den russischen Winter und die russischen Wälder in seinem Gedächtnis wach, und so schuf er sein Poem von der russi- schen Bäuerin und dem Dorfzimmermann.

Es unterliegt keinem Zweifel, daß das ganze russische Kolorit des Browningschen Idylls, die Mond- und Waldlandschaften, die Schellen, deren Geläut sich in der Ferne verliert, die Schilderung des russischen Dorfes und vieles andere, den unmittelbaren Eindrücken vom russischen Leben und Natur zu verdanken ist, die Browning von seiner Reise 1834 davontrug. Es ist ja möglich, daß diese Beob- achtungen durch Leben und Auskünfte aller Art später bereichert wurden, sie haben aber, während der langen Zwischenzeit, die sie von der Entstehung oder endgültigen Bearbeitung des eigentlichen Werkes trennt, kaum ihre Frische eingebüßt; sonst hätte Browning wohl nicht die Bearbeitung desselben unternommen. Diesen Reiseein- drücken, vielleicht auch den Notizen eines Reisebuches sind die vielen russischen Wörter in englischer Transcription entnommen, mit denen das Idyll übersät ist. Geht aber aus all dem hervor, daß Browning das Sujet zu seinem Idyll auch aus Rußland genommen hat? Es ist gewiß möglich, daß Browning in Rußland Gelegenheit gehabt hat, Er- zählungen über Wölfe, welche ganze Dorfherden verwüsteten und die Bevölkerung) beunruhigten, zu hören und daß die Beschreibung des Rudels Wölfe, die seine englischen Kritiker in solches Entzücken versetzten, auf Grund von Beobachtungen an Ort und Stelle gemacht worden ist. Es könnten ja auch bloß Anklänge an ein, in der euro- päischen Literatur und Malerei so oft wiederholtes, Motiv über Wölfe gewesen sein, daß für ein Sujet mit russischem Thema geradezu tradi- tionell geworden war entsinnen wir uns z. B. eines allgemein be- kannten Gemäldes von Horace Vernet „Maseppa aux loups“. Wir wollen aber die Frage enger fassen: liegt wirklich eine russische Volksiiberlieferung dem Idyll zugrunde? Wir können mit vollster Bestimmtheit sagen, daß der erste Teil des Idylls die Erzählung der Mutter nichts gemeinsames mit russischen Volkssagen von Kindesmördern hat, und unabhängig davon geschaffen ist. Unter den unzähligen Volkserzählungen dieses Typus finden wir auch keine einzige Analogie zu Brownings Poem.

Um weitere Erörterungen bequemer vornehmen zu können, wollen wir den Inhalt kurz wiedergeben. Ort der Handlung ein entlegenes Dörfchen, in den dichten Wäldern zwischen Moskau und Petersburg verloren. Ein Wintermorgen. Ivan Ivanovitsch, der ge- schickteste Zimmermann des Dorfes, ein nordischer Riese, blauäugig, mit „honigfarbenem“ Bart, behaut eine mit mit kräftigem Schwung seiner Axt gefällte Fichte zu einem Mastbaum. Plötzlich ertönen Hufschlag und Schellengeläut. Es zeigt sich ein Schlitten ohne Lenker.

14) P. Stolpjanskij, Wölfe vor einem halben Jahrhundert. „Russ. Archiv“ 1907, Nr. 8.

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Am Boden des Schlittens liegt ein ohnmächtiges Weib, in welchem die Holzhauer Luscha, die Frau des Nachbarn Demetrius, erkennen. Das Pferd wankt und stürzt erschöpft zu Boden. Die Bauern um- ringen den Schlitten. Das Weib kommt zu sich und unter lautem Schluchzen und Wehklagen erzählt sie den Versammelten von dem tragischen Ende ihrer drei Kinder. Ihr Mann Demetrius hatte sie in das Nachbardorf mitgenommen, wohin er zum Bau einer Kirche ge- rufen worden war. Sie hatten schon die Absicht, heimzukehren, da bricht in dem Dörfchen plötzlich eine Feuersbrunst aus. Alle Hände hatten natürlich im Kampf mit dem Element vollauf zu tun und Demetrius mußte seine Frau und Kinder allein heimlassen. Das wackere Pferd „Freund“ kennt ja den Veg ausgezeichnet, es wird sie schon in das Heimatsdorf zurückbringen. Sie fahren ab. Da durchschneidet plötzlich die frostige Luft ein dumpfer Ton, ein Stöhnen. Was that wind? Anyhow, Droug starts, stops, back go his ears, he snuffs, Snorts, never such a snort! then plunges, knows the sough’s Only the wind: yet, no our breath goes up to straight! Still the low sound, less low, loud, louder, at a rate There’s no mistaking more! Shall I lean out—look—learn The truth whatever it be? Pad, pad! At last, I turn T’is the regular pad of wolves in pursuit of the life in the sledge!

Und da endlich wurden sie sichtbar: Oh, Freund, rette uns! Das arme Roß strengt alle seine Kräfte an, aber die Wölfe kommen immer näher. Einer hat schon den Schlitten erreicht. Oh, dieser erste Wolf, mit dem Teufelsgesicht, er streckt seine Zunge hervor, er grinst, fletscht seine weißen Zähne. Er springt in den

itten, wühlt mit seinen Pfoten in Decken und Kleidern! Oh, meine Lieblinge, meine teuren Zwillinge, rühret euch nicht! Stelle euch tot! Oh! nein, Stepan, du wirst doch nicht Beate der Wölfe werden. Deine Mutter stirbt an deiner statt. Aber Stepan will nicht ruhig liegen. Er hört nicht auf die Ermahnungen. War es, daß ihre Hand ihn nicht mehr halten konnte, oder daß er sich selber los- rif! Kurz, Ste verschwand. Sie war mit zweien gerettet. Wiederum Verfolgung! Nicht das volle Rudel, ihre Reihen sind ge- lichtet, das Getrappel schwächer. Ach, es sind ja einige zurück- eblieben, sie halten einen Festtagsschmaus! Doch immerhin sind ihrer noch viele, die nach frischer Beute lechzen!“ Das zweite Kind Demetrius suchte auf ihren Knien Schutz, sie drückt ihn ans Herz, aber auch ihn reißt der hungrige Rachen des Wolfes aus den Armen der Mutter. „Ich sah es, aber was konnte ich anders tun, als zusehen? Meinen lieben Jungen, so fest ich ihn auch hielt, entriß er mir. Aber der Jüngste blieb unversehrt. Ich werde ihn zum Manne erziehen! Er wird seine Brüder rächen!“ Der Tag bricht schon am fernen Horizont an. Bis zum Hause ist es nicht mehr weit. Aber einer jagt

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dennoch hinterher. Sie sieht ihn aus der Ferne. Ein Punkt ein Fleck . . eine Kugel. Wieder derselbe! Sie ergreift seine Zunge, will sie ziehen, um sie herauszureißen, das machte ihn aber bloß noch lüsterner nach frischem Fleische. Sie warf sich über das Kindchen, deckte es mit ihrem eigenem Leibe. Seine Zähne nn sich in ihre Schulter ein. Sie selbst biß ihn bis aufs Blut. Was konnte sie sonst noch tun? Er riß ihr das Kind vom Herzen. Da verlor sie die Besinnung.

Der Bericht der Mutter ist zu Ende. Aber das Sujet des Brow- ningschen Idylis nähert sich erst seiner Katastrophe. Ihre Beichte richtet die unglückliche Mutter hauptsächlich an Ivan Ivanovitsch. Ihr Haupt ruht auf seinen Knien, seine breite Hand streichelt väter- lich ihr Haar. Voll Dankbarkeit kniet sie vor ihm nieder und segnet ihn.

en EE solemnly

Ivan rose, raised his axe, for filty, or she knelt,

Her head lay: well apart, each side, her arms hung, dealt

Lightining swift thunder strong one blow—no need of more!

Headless she knelt on still: that pine war sound at core

(Neighbours were used to say east, iron kerneled—which

Taked for a second stroke Ivan Ivanovitch. . . Wir werden den Inhalt des zweiten Teiles des Idylls nicht genau wiedergeben. Für das darauf Folgende war es fiir uns bloß wichtig, auf die Erzählung der Mutter näher einzugehen. Es genügt, wenn wir wissen, daß der zweite Teil des Idylis eine vielleicht etwas in die Länge gezogene Szene des Dorfgerichts über Ivan Ivanovitsch dar- stellt, wo verschiedene Vertreter der russischen Dorfintelligenz lange Anklage- und Verteidigungsreden halten. Den Sieg trägt schließlich die Meinung des Priesters davon, der in einem langen Monolog mit biblischen Sentenzen und Beispielen gewürzt, eine Apologie der Mutterschaft ausspricht, und die Handlungsweise des vermeintlichen Mörders rechtfertigt. Das Gericht ist zu Ende und die ganze Bauern- schaft tritt in das Haus Ivan Ivanovitschs, um ihm das Urteil zu ver- künden: „How otherwise? asked he“ .... So endigt das Werk Brownings. Die ruhige Sicherheit Ivan Ivanovitsch., mit der er erklärt, die Mordtat mit vollem Recht und Gesetzlichkeit begangen zu haben, stellt einen krassen Gegensatz zu den aufgeregten Streitig- keiten beim Gerichte dar. Die Schlußworte des Browningschen Helden schaffen den dramatischen Effekt analog demjenigen, den der erste Teil des Idylls im Auge hat, wo der, für den Leser völlig uner- wartete, verhängnisvolle Axthieb, als eine ebenso kühne, wie rasche Antwort auf die wortreiche Beichte der Mutter, folgt. Das Uner- wartete dieser Katastrophe macht den Eindruck eines unwillkürlichen Mordes, eines Aktes der Vergeltung, der sozusagen nicht bis zur Er- kenntnis des Mörders gedrungen, wie in der amtlichen Tragödie, nicht seinem Willen nach geschehen ist. Der zweite Teil, namentlich der Effekt der Schlußscene soll gerade diesen Eindruck abändern. Dem Gedanken des Autors nach, bricht in der Handlungsweise Ivan

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Ivanovitschs, das den primitiven und unmittelbaren Vollblutnaturen eigene und zugleich von großer dynamischer Stärke erfüllte Bewußt- sein von gewisser althergebrachter, angeborener Moral hervor, vor der die Schwankenden und zeitlichen Formen der offiziellen Gesetzlich- keit manchmal zurücktreten müssen. Wenn das der Hauptgedanke dieses Werkes ist, erscheint dann in diesem Falle das Idyll Brownings nicht vor allem als Antwort auf eine komplizierte philosophische Frage und muß dann nicht sein russisches Kolorit als zufällige Hilfe betrachtet werden, welche eine völlig selbständige und von ihr unab- hängige philosophische Idee umschließt? Womit ist in den Augen des Autors die Verlegung des Handlungsortes nach Rußland gerecht- fertigt und ist die Grundidee mit jenen Einzelheiten der Lebensweise der russischen Dorfbewohner verknü ft, welche Browning so frei- gebig überall eingestreut hat. In der letzten Szene z. B. konnte Browning sih einer Reihe Angaben, rein ethnographischen Charakters nicht enthalten: hier sind typische russische Namen, die sehr genaue Schilderung der Vorgänge beim Brotbacken im russischen Ofen und der „Kreml“, dessen Mauern Ivan Ivanovitsch so kunstvoll geschnitzt hat, selbst die Ivan Welikykirche, gelb gestrichen, mit zwei Kuppeln versehen, an denen Kinder anstatt der Glocken Eicheln auf- hängen; aber Einzelheiten solcher Art und in derselben Menge treffen wir auch im ersten Teil des Idylls an, wo oo unvermerkt cine allgemeine und ziemlich richtige Vorstellung von den Sitten und Gebräuchen des russischen Dorfes geschaffen wird. Die Fülle dieser Einzelheiten spricht von zielbewußter Auswahl und Anordnung.“)

15) Die russischen Leser haben dieses russische Kolorit des Werkes sehr ver- schiedenartig bewertet, obgleich man zugeben muß, daß „Ivan Ivanovitsch“ sehr wenig in Rußland bekannt ist. Bei seinem Erscheinen im Druck ist „Ivan Ivano- vitsch“ flüchtig in zwei russischen Zeitschriften erwähnt worden. Der anonyme Referent der ,,JeZelnedelnoje Novoje Vremja“ [Wöchentlihen Neuen Zeit] (1879, B II Nr. 15, S. 108—115) teilte den Inhalt des Idylls mit, unterließ aber eine gesamte Abschätzung des Werkes. „Vestnik Evropa“ gab im Gegenteil eine kurze, aber sehr scharfe Kritik des ganzen Werkes, indem er auch einige Worte dem uns interessierenden Idyll widmete „als eine der blödsinnigsten und längsten im ganzen Bande“ (siehe A. Regnard: „Nauka i literatura v Sov- remennoj Anglii“ („Wissenschaft und Literatur im modernen England“) „Vestnik Evropy“ 1879, Nr. 7, S. 350—852); diese Rezension ist unter anderem nicht von Frederik J. Furnivall („A bibliography of Rob. Browning from 1838—1881“, London, 1882, P 146), vermerkt und ebenfalls von W. Sharp, Life, Bibliography, p XV. In Rußland hat man auf diese Weise die philosophishe Grundlage des

rowningschen Werkes gar nicht verstanden, auch war sein genaues Schaffen bei uns recht wenig bekannt, bis zum Ende der 90 er Jahre, da unerwartet ein großes Interesse für ihn erwachte. Zinaida Vengerova, deren Feder eine selb- ständige und interessante Skizze über Browning entstammt („Vestnik Evropy“ 1896, dasselbe zu ihren Büchern: Literaturnije charakteristiki („Literarische u kei): St. Petersburg, 1897, Anglijskije pisateli XIX veka“ („Eng- lische Schriftsteller des XIX. Jahrh.), St. Petersburg, 1918, S. 108—147), finder es ganz richtig, indem sie sich über Ivan Ivanovitsch äußert, „daß der Mangel an Zweifeln der Seele eines primitiven Menschen: der Erdscholle und die keine Schwankungen im entscheidenden Moment kennende, wenn auch zu gewöhnlicher Zeit apatisch-faule Natur des Slaven in dem Browningschen Helden schr fein wiedergegeben ist. Beachten wir noch ferner eine für einen Ausländer erstaun- liche Treue der Wiedergabe einiger Zinzelheiteri der russischen Gebräuche und sogar der Aussprache der Eigennamen.“ 423

Was ist nun das primäre in der Anlage dieses Werkes: die philosophi- sche Idee von der Berechtigung, eine Mordtat mit Mord zu sühnen oder die Darstellung einer Begebenheit, die in Rußland tatsächlich stattgefunden hat? Hat sich in der Auffassung des Autors auf irgend eine Weise die zeitliche Weltanschauung seines Helden mit der Vor- stellung von derjenigen des russischen Bauern 5

Auf alle diese Fragen kann bloß die Analyse der Quellen des Browningschen Idylls eine genügende Antwort geben. Sie eben muß es erweisen, aus welchem Kern das Verk entstanden, was den Autor auf den Gedanken brachte, sich mit der Bearbeitung desselben zu be- fassen. Daß dem Idyll irgend eine literarische Quelle zugrunde liegt, nicht aber eine russische Volksiiberlieferung, unterliegt keinem Zweifel. Browning konnte unmöglich in Rußland die Geschichte von einer derartigen Mutter hören, weil sie von Grund aus nicht der Wahrheit entspricht.

Interessant ist zu bemerken, daß im Folklor verschiedener Völker, insbesondere bei den Slaven, die Geschichten von Kindermorden sehr verbreitet sind, die aber zu religiösen und altruistischn Zwecken verübt, gerechtigt werden. Ostslavische Varianten, russische und ukrainische, sprechen von Opferung des eigenen Kindes um Gottes und des Glaubens willen, aus Liebe zum Armen, als Erkenntlichkeit für einen Liebesdienst, endlich zur Er- rettung eines Freundes von einer Krankheit; eine wunderbare Wieder- erweckung eines solchen Kindes ist das gewöhnliche Ende der Ge- schichten von diesem Typus.) Auf slavischem Boden, insbesonders auf russischem, ist auch noch die Sage von der sündhaften Mutter, welche ihr Kind aus Scham vor dem Gerede der Leute oder aus per- sönlichen egoistischen Trieben tötet; aber in solchen Fällen trägt die Mutter immer eine schwere Strafe davon. Solche Legenden stehen am häufigsten mit apokriphischen und geistlichen Versen im Zu- sammenhang. J. A. Jaworsky, der diese Legenden auf russischen Boden untersucht hat, bemerkt, daß, obgleich das Motiv der Kinder- morde in der russischen Volksliteratur sehr tiefe Wurzeln geschlagen hat und originell und farbenprächtig bearbeitet ist, so ist diese Bear- beitung doch einseitig; „ein Kindermord im direkten Sinne, d. h. ein bewußter Mord lebendiger Kinder, wie in der westeuropäischen Volkspoesie, ist hier eigentlich überhaupt nicht vorhanden; der be- wußte Mord eines lebendigen, schon geborenen Kindes durch die eigene Mutter ist als ein zu abstoßendes und grauenhaftes Motiv von derselben überhaupt nicht aufgenommen worden. Auf diese

18) Einem vergleichenden Studium dieser Legenden widmete M. P. Drago- manov eine spezielle Untersuchung „Slavische Sagen über die Opferung des eigenen Kindes“ im „Sbornik za narodni umotvorenia“ I, 65—96 (bulgarisch); dasselbe (ukrainische Übersetzung) in seinen „Rozvidky“ („Untersuchungen“), Bd. III, S. 150 ff.

17) J. A. Javorskij. Geistlicher Vers von dem sündigen Weibe (Duchovnij stih o greinoj devce), „Izbornik Kievskij“, Kiev, 1904, 884—887 (russisch): großes Folklormaterial auch bei V. Gnatjuk. Pisnia pro pokritku. Materialy do ukrainskoj Etnologii, XIX—XX, 249—889 (Lemberg, 1919).

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Weise ist die Psychologie der Heldin im Browningschen Idyll dem russischen Volksbewußtsein vollständig fremd und weckt eher die Er- innerung an die antike Mythologie wach (gedenken wir der Medea, die ihren Bruder in Stücke schnitt, um der Verfolgung zu entgehen).

Aber auf der Suche nach einer Analogie des Sujets des Browning- schen Idylis ist es wohl kaum nötig, so weit zurückzugreifen. Die Quelle der Erzählung der Mutter kann, meiner Meinung nach, ganz genau angegeben werden. Das ist eine Erzählung aus dem Buche von F. Lacroix „Les mystéres de la Russie. Tableau politique et morale de l’empire russe“ (1844). Dieses Buch hate großen Erfolg. Die ver- breitetsten Zeitungen zitierten es und überhaupt übte es unstreitig einen influß auf die öffentliche Meinung aus. Das Interesse

ü n die große Zahl der Ausgaben und Übersetzungen in fast ganz Europa. 1844 kommt es in Bruxelles heraus, 1845 in Paris, dann folgen deutsche, spanische und italienische Obersetzungen.”) Die Grundlage dieses Buches bildet sozusagen die Handschrift eines Diplomaten, der lange Zeit in Rußland gelebt haben soll und Muße hatte, sich Leben und Staatsordnung anzusehen, wie auch Reisenotizen und verschiedene Aufsätze über Rußland. ets Zoch das Buch in ruhigem Tone geschrieben und völlige Unparteilichkeit zu zeigen be- strebt ist, so unterstreicht es doch mit entschiedener Bestimmtheit die feindselige Gesinnung der französischen öffentlichen Meinun dem Rußland des Caren Nikolaus I. gegenüber.“) Eben dieses Bu enthält eine kleine Geschichte, die in nächster Beziehung zum Brow- ningschen Idyll steht. Ich führe sie hier buchstäblich an: „On ra- conte qu’une femme russe revenant avec ses trois enfants, d’un village voisin de sa demeure, au milieu de l’hiver et par un froid rigoureux, fut assaillie par des loups affamés. Pour échapper à la

suite de ces redoutables animaux, elle excita le cheval attelé son traineau et chercha, mais vainement, 4 épouvanter les loups par ses cris. Le traineau avangait rapidement sur la neige, mais le troupe acharnée allait aussi vite, et la paysanne vit qu’il ne lui restait aucune chance de salut. En ce moment supréme, va sans doute, croyez- vous, placer ses enfants sur le traineau, fouetter vigoureusement le coursier, dans l’espoir qu’il les raménera tout ceul au village, puis se livrer elle m&me, mére courageuse et devouée à la voracité des loups? Point. Ce sont ses enfants qu'elle abandonne. Elle en jette d’abord un, puis, cette proie n’ayant fait qu’aiguiser l’appetit des bétes, elle laisse tomber le second. Enfin, le troisitme suit bientöt ses deux fréres; et la mére triomphante rentre, saine et sauvé, sous le toit con-

. Voila, ce que l’esclavage fait d'une femme, d'une mère.

18) Regensburg 1844, 2. Aufl. 1848, Sevilla 1845; ,,Prima versione italiana” des Dr. G. G., Fiume, 1868 etc. vgl. „Catalogue de la Section des Russica“ (St. Petersburg 1878) t. I, p. Nr. 259—268.

19) E. Tarle. „Zapad i Rossija“ (Westeuropa und Rußland). Petersburg,

1918, S. 69, 72—73.

28 ur 6 425

De pareils faits sont possibles partout ou une cause puissante de per- version agit incessament sur l'esprit et le moral d'un peuple "29 Die frappante Ähnlichkeit dieser Geschichte mit der Erzä

der Mutter bei Browning läßt uns annehmen, daß eben das Buch Lacroix’ Browning den Anstoß zur Schöpfung seines dramatischen Idylls gegeben hat. Die Erzählungen stimmen in allen Einzelheiten überein. Wie bei Lacroix, so auch bei Browning suchen die Heldinnen anfangs dem sie verfolgenden Rudel zu entgehen; die eine wie die andere hat drei Kinder, welche eins nach dem anderen im Wolfs- rachen verschwinden usw. F. Lacroix sagt nicht, woher seine Er- zählung stammt. In den Büchern, die zweifellos von dem französi- schen Publizisten für sein Werk benutzt worden waren, findet sich, soviel ich weiß, diese Erzählung nicht, wie auch in einer Reihe anderer Werke über Rußland fehlt. Ich fand auch in der russischen Literatur keine Varianten derselben. Es ist sehr leicht möglich, daß Lacroix es selbst als Illustration einer der Thesen seines Buches ersonnen hat. Daß Browning das Buch von Lacroix kannte, ist sehr wahrscheinlich, obgleich keine Beweisgründe zu unserer Verfügung vorhanden sind, die es uns erlauben könnten, das kategorisch zu behaupten. Dafür sprechen einerseits die Popularität des Buches, das viele Auflagen und

bersetzungen erlebt hat, andererseits die Belesenheit Brownings gerade in der französischen Literatur, die er mit Aufmerksamkeit und Eifer verfolgte und welche auch in seinem Schaffen zweifellose Spuren hinterließ.) Browning konnte während eines seiner Besuche in Paris an dem Buch Lacroix Interesse gewinnen, es konnte ihm von irgend einem seiner französischen Freunde genannt worden sein,

ließlich konnte er es auch in italienischer Sprache gelesen haben.

Wie verfuhr nun Browning mit der Erzählung, auf die er offenbar im Buche von Lacroix stieß? Er hat sie zu allererst entwickelt, indem er sie mit malerischen Einzelheiten bereicherte. Außerdem hat er sie stark psychologisiert, indem er die zeitliche Exposition durch den für sein Werk so typischen Monolog der Muter ersetzte, in dem das Vor- gefallene als Erinnerung wiedergegeben wird. Er veranlaßt die Heldin selbst, die Tragödie eines willenlosen und schwachen Weibes vor den Augen des Lesers zu enfalten, in der sogar die Mutterliebe vor den Qualen und dem Tode schwach wird und welche unwillkürlich sich selbst betrügt in dem Bestreben, sich vor den Dorfbewohnern zu rechtfertigen. Diese wesentliche Veränderung mildert die Grausam- keit des von Lacroix geschilderten Bildes erheblich; seine Mutter, die eine Mordtat begangen, kehrt ja einfach mit Triumph unter das eheliche Dach zurück. Ihr fehlt sogar das einfachste Bewußtsein ihrer Schuld. Browning mußte selbstverständlich die psychologische Wahrheitstreue einer solchen Szene bezweifeln. Er beschränkte sich

SCH F. Lacroix, Les mystéres de la Russie. Paris 1845 (Pagnerre), p. p. 528

21) Karl Schmidt. Robert Brownings Verhältnis zu Frankreich, Berlin, 1909, S. 7—44.

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aber nicht darauf, die siindhafte Mutter ihre Zuflucht zu einem ge- wissermaßen öffentlichen Bekenntnis nehmen zu lassen. Der Schwer- punkt im Idyll ist auf die Tat Ivan Ivanovitschs verlegt, weshalb auch die Uebrschrift seinen Namen trägt: „Ivan Ivanovitsch“ ist der eigent- liche Held des Werkes. Obgleich er selbst fast gar nicht spricht, so bleibt er dennoch eine beredte Figur, da Browning selbst für ihn spricht. Infolgedessen ist Browning unendlich weit von der Er- zählung Lacroix’ entfernt. Für den letzteren ist diese ganze Ge- schichte nur dazu da, um ein überflüssiges Mal den 3 Einfluß zu unterstreichen, den die Leibeigenschaft auf die russische Bauernschaft ausübt. Im Gegensatz zu ihm schließt Browning, wenigstens im ersten Stadium seiner schöpferischen Bearbeitung dieses Themas, die Augen, was Milieu und Epoche anbetrifft. Ihn inter- essieren allgemeine philosophische und ethische Fragen. Ihn gehen die Ursachen, welche die russische Bäuerin zu dem Verbrechen führten, nichts an, das ist auch keine russische Bäuerin, sondern über- haupt eine Mutter. Er beschuldigt nicht nur sie, sondern auch die Willenlosigkeit und Athrophie des Muttergefühles überhaupt. Sein Zimmermann und sein Priester sind aus demselben Grunde nicht wahrheitsgetreu. Von den historischen und ethnographischen Bildern geht Browning fortwährend zu allgemeinen Lebensproblemen über. Und erst dann, wenn sie gelöst sind, kehrt er wieder zur Handlung und den Einzelheiten der Sitten und Gebräuche zurück. Das Drama ist geschaffen. Er stellt die Kulissen auf und kleidet die handelnden Personen in russische Trachten; die Schminke mag ja tadellos sein, aber der Eindruck von echtem Leben wird trotzdem nicht hervor- gerufen, da die Rolle unabhängig von demselben geschaffen ist. So auch im russischen Idyll Brownings: der Fond ist sehr malerisch, die Dekorationen und Kostüme ganz echt, aber die Schauspieler haben sich nicht mit der Rolle, die sie zum erstenmal zu spielen haben, ver- traut gemacht.

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POLNISCHE UND LITAUISCHE STUDENTEN IN KONIGSBERG

Von Theodor Wotsdke.

Es war eine Groftat im Reiche der Kultur- und der Geistes- geschichte, als der erste Hohenzoller auf Preußens Herzogsthron 1544 an der Grenze der Kultur und der Barbarei eine neue Hochschule gründete. Eine Bildungsstätte war damit geschaffen, die nicht nur dem deutschen Grenzlande diente, hier neues geistiges Leben weckte und, förderte, sondern weit über seine Grenzen hinaus nach dem Norden und Osten wirkte, wissensdurstige Jünglinge aus Polen und Litauen und den skandinavischen Reichen anzog, durch sie Wissen pflanzte, Erkenntnis weckte auch bei den Nord- und Ostleuten, mit den Humanisten zu reden, bei den Hyperboräern. Keine deutsche Universität hat etliche Jahrzehnte auf den slavischen Osten so stark eingewirkt wie die Albertina. In dem großen Geisteskampf des 16. Jahrhunderts, als die Frage nach einer Erneuerung der Kirche die Herzen bewegte, ist von ihr ein Strom neuer Gedanken nach dem Osten gegangen, hat sie Männer ausgebildet, die als Herolde der Reformation hinausgezogen sind, Flugschriften, Bücher ausgehen lassen, die weithin Kunde gaben von dem, was der Wittenberger Monch in seinem Ringen vor Gott erkannt hatte, Katechismen, Kanzionale, Postillen, Neue Testamente gedruckt,. das neue religiöse Leben, das bis nach Moskaus Grenze hin sich regte, zu pflegen. In der Hand ihres edlen Gründers war sie das vorzüglichste Instrument, das, was sein Herz erfüllte, auch dem Osten zu bringen, ihn zu evangelisieren. Ein fesselndes Bild, ihre Auswirkungen im Lande des Njemen und der Weichsel zu verfolgen.

Schon die Vorschule der Universität, das sogenannte Partikular, hatte Bedeutung und Einfluß über Preußens Grenze hinaus. Ihr Rektor war ja der um seines Glaubens willen aus Wilna geflüchtete Abraham Culvensis. Als erster Litauer hatte er, ein Sproß des Bojarengeschlechts der Hadath auf Kulwa nordöstlich von Kauen, der schon in Löwen zu des Erasmus Füßen gesessen, 1536 die Leucorea bezogen, auch Leipzig aufgesucht. Nach einer Reise nach Italien war er zur Lutherstadt, die ihm das Herz abgewonnen, zurück- gekehrt, dann mit einem Empfehlungsschreiben Melanchthons an den Wojewoden von Troki, Stanislaus Gastold, in die Heimat geeilt, hatte

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hier gelehrt und gepredigt, was er von den Reformatoren gelernt. Aber im Sommer 1542 hatte ihn eine anhebende Verfolgung nach Königsberg getrieben, wo alsbald ein Ruf Herzog Albrechts an ihn erging. Auch im Partikular hatte er Litauer unter seinen Schülern. Unter preußischem Schutze konnte er verschiedentlih auch die Heimat aufsuchen, hier weiter den Samen neuer Erkenntnis aus- streuen, seine Landsleute auch Psalmen lehren, die er selbst ins Litauische übersetzt hatte, wie auch das Lutherlied „Gott sei gelobet und gebenedeiet“. In der Heimat hat er, in dem seine Freunde schon den Apostel, den Reformator, Litauens zu erblicken gemeint, auch frühzeitig (6. Juni 1545) seine Augen geschlossen. Ein schwerer Ver- lust für die junge Hochschule, an der er die Professur der griechischen Sprache übernommen hatte, noch schwerer für die Mission, die ihm im Osten zugedacht war, um so schwerer, da vier Wochen vor ihm auch der andere Litauer an der jungen Hochschule, der Professor der Theologie Stanislaus Rapagelan, der Sohn des Bojaren Georg Swiatzko Rapailowitz, am 13. Mai 1545 vom Lehrkatheder ins Grab gesunken war. Auch ihn, einen ehemaligen Franziskanermönch, hatte Witten- berg gebildet, auch ihn hatte Herzog Albrecht gerade mit Rücksicht auf Polen und Litauen berufen und die wichtigste Professur ihm über- tragen, dazu angewiesen, die Bibel ins Polnische zu übersetzen. Er hatte damit bereits begonnen, als der Tod ihm die Feder aus der Hand nahm. Gleichwohl ist sein Name wie der des Culvensis un- lösbar mit der Reformation im Osten verbunden, denn sein Vater- land verdankt ıhm gleichfalls ein litauisches Glaubenslied, Kitta giesme, d. i. ein anderes Lied von dem Leiden unseres Herrn Christus. Auch eine Abhandlung über die Ohrenbeichte hatte er zu schreiben begonnen. In der Fürstengruft im Dom ließ ihn der Herzog bei- setzen. Mit diesem, der Universität und ihren Studenten trauerten alle Reformfreunde Polens und Litauens. „Wie schnell ist unsere Hoffnung zunichte geworden“, klagte der bekannte Drucker und Ge- lehrte Bernhard Wojewodka in Krakau, der selbst in den Fluten der Weichsel auch vorzeitig sein Ende fand. Rapagelans Professur er- hielt Friedrich Staphylus, ein Niederdeutscher, der aber seine Jugend in Kauen und Vilna verlebt, in Krakau studiert hatte, im Gsten manchen Freund und Gönner besaß, die polnische und litauische Sprache beherrschte. Er sollte gleichfalls dem Nachbarlande dienen und den Studierenden, die aus Im zur Albertina kommen würden, besonders aber Rapagelans Bibelübertragung fortsetzen. Indessen hat er diese Arbeit sich nicht angelegen sein lassen, überhaupt nach jeder Seite enttäuscht.

Doch nicht von Lehrern der Albertina, von Studenten soll diese Studie handeln.

Aber wir können hier nicht scharf unterscheiden. Zumal in den ersten Jahren der Hochschule haben sich auch viele einschreiben lassen, die ihre Studien längst abgeschlossen hatten, in einem Amte standen, ihrerseits lehrten. So Johann Seklucyan, der Inische Prediger der Stadt, der Leipziger Baccalar und Posener Flüchtling,

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der unermüdliche Verfasser, Übersetzer, Herausgeber, Verbreiter polnischer Schriften, der von Preußens Hauptstadt aus seinem Volke eine ganze evangelische Literatur geschenkt hat (t 1578), immer wieder fromme, erbauliche Schriften drucken ließ und sie zu ver- kaufen, geschützt durch herzogliche Briefe, in seinem Vaterlande herumreiste, der die Blütezeit der polnischen Literatur im Reformationsjahrhundert eingeleitet hat. So auch Martin Glossa, der einstige Krakauer Professor, dann preußische Pfarrer, der es auch als Ehrensache betrachtete, Bürger der neuen Akademie zu werden. Die Litauer Johann Zaphischa und Johann Adam, deren Namen uns bereits auf dem ersten Blatte der Matrikel begegnen, die sich schon hatten einschreiben lassen, bevor noch die Leuchte der jungen Hoch- schule, der Humanist Georg Sabinus, Melanchthons Schwiegersohn, der erste Rektor in Königsberg, eingetroffen war, vermag ich nicht näher nachzuweisen, Hieronymus Sandicensis aber, der ıhnen bald folgte, ist der Sohn des Glaubensflüchtlings aus Sandec, Johann Maletius, der von Herzog Albrecht das Pfarramt in Lyck erhalten hatte, eines Konkurrenten des eben genannten Seklucyan, der sich patak die Verbreitung polnischer reformatorischer Bücher ange- egen sein ließ, auf einer eigenen Druckerpresse einen Katechismus druckte, ja selbst an ein polnisches Neues Testament sich wagte, das aber über den ersten Bogen nicht herausgekommen ist. Unser Hieronymus, nach seinen Studienjahren erst Lehrer in Lyck, dann Nachfolger seines Vaters im Pfarramte daselbst, folgte ihm auch in der Pflege des polnischen Schrifttums. Die preußische Kirchen- ordnung vom Jahre 1558 hat er 1560 übersetzt, mit Radomski auch die preußische Bekenntnisschrift Repetitio corporis doctrinae Prutenici übertragen. Wie der Kirche wollte er auch der Wissen- schaft dienen, er plante die Herausgabe eines groß angelegten lateinisch-deutsch-polnischen Lexikons, bemühte sidr schon um das erforderliche Privilegium, das sein Werk vor unbefugtem Nachdruck schiitzen sollte, da Ee ihm Johann Maczinski mit seinem Wörter- buche 1564 zuvor und durchkreuzte sein Unternehmen. Erschien Johann Schuka aus Wilna, so Joachim Cimerikus aus Kauen. Krakau vertrat Petrus Vogelweider, der Patriziersohn, später Ratsherr in seiner Vaterstadt, Senior der evangelischen Gemeinde daselbst, Freund und Gönner des bekannten Christoph Thretius, des Sturm- schülers, der ihm seines Meisters Buch über den Rhetor Hermogenes gewidmet hat. Die nähere Heimat von Kaspar Chodzieski, joka Czekanowski, Albertus Schwath, von dem Litauer Matthaeus Paulus kenne ich nicht. Sollte Johann Papowski, der gleich nach diesem vor den Rektor trat, identisch sein mit dem großpolnischen Edelsohn Johann Pampowski, der 1537 schon in Wittenberg studiert hat, aus dessen Familie wir verschiedene Glieder in den dreißiger Jahren auch in Frankfurt und Leipzig sehen? Augustin Jamantowicz, den ich für das erste Jahr der Albertina als letzten der Studenten aus dem Osten nenne, war wohl ein Großlitauer, seit 1555 Pastor in Kraupischken, dann in Ragnit, wo er 1576 gestorben ist. An einer litauischen

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Übersetzung des Neuen Testamentes hat er gearbeitet, sie aber nicht mehr abschließen können, und das Manuskript seiner Übertragung ist verloren gegangen. Als frommer Dichter hat er seinem Volke ver- schiedene geistliche Lieder geschenkt, darunter eine Bearbeitung des 124. Psalmes.

In ihrem zweiten Jahre sah die junge Hochschule unter ihren Bürgern die Polen Johann Witunski und Johann Dambro. Dies ist doch Johann Firlej von Dambrowica, der später zu den ersten Ämtern emporstieg, Wojewode von Belz, Lublin und 1571 schließlich von Krakau wurde, der treue Schutzherr der evangelischen Kirche und Wächter über ihre Rechte, für die er zu früh am 27. August 1574 heimging. In der Geschichte lebt besonders sein kraftvolles Auftreten bei der Krönung am 21. Februar 1574, da er König Heinrich zum Eid auf den Religionsfrieden zwang. Seinen Bruder Andreas, den späteren Hauptmann von Sendomir und Kastellan von Lublin (t 1585) zog er im Oktober 1551 nach sich zur Albertina. Kasimir Horwidowitz, Hieronymus Opachowski und Lorenz aus Krakau wollen wir über-

ehen, einen Augenblick aber bei Benedikt Witoslawski, dem im 8 1550 sein Bruder Johann folgte, verweilen. Er war aus groß polnischem Geschlecht und hat seine Söhne Johann und Benedikt 1572 nach Vittenberg geschickt. Dort sehen wir 1581 auch einen anderen Johann aus dieser Familie, in Altdorf 1583 einen Albert, ın Heidelberg das Jahr darauf einen Matthias. Zwei Brüder, Christoph und Swentoslaus Vitoslawski, begegnen uns noch 1611 als Gymnasiasten in Thorn. Auch ein Stanislaus Sobek, ein Verwandter des Kalischer Wojewoden Martin Zborowski, war im Frühjahr 1546 zu Preußens Universität gezogen, während sein Bruder oder Vetter Nikolaus wenige Monate zuvor zur Reformationsstadt an der Elbe

ewandert war. Unsere volle Aufmerksamkeit beanspruchen die

iden Brüder Jakob und Johann Niemojewski aus Kujawien. Ver- anschaulichen sie doch so deutlich die Entwicklung der reformatori- schen Gedanken in Polen. In Königsberg haben sie lutherische Ge- danken in sich aufgenommen, der ältere Bruder Jakob ist 1550 noch nach Wittenberg gezogen, wo 1592 auch noch sein jüngster Sohn Alexander studierte, doch hat er sich später den böhmischen Brüdern und Reformierten angeschlossen, für die er auch mutig gegen die Jesuiten in die Schranken trat. Der jüngere Bruder Johann, der Landrichter von Hohensalza, aber hielt sich seit 1562 zu den Uni- tariern und Anabaptisten, predigte durch Wort und Vorbild die Nachfolge Christi in Armut und Niedrigkeit, wurde ein Apostel des Kommunismus und Pazifismus. Auf dem Reichstage 1566 er- schien dieser ehemalige Student der Albertina inmitten der glänzen- den Versammlung in einem schlichten grauen Gewande ohne Degen. Er hat bald auch sein Amt niedergelegt, seine Güter verkauft und sein Vermögen seinen Glaubensbrüdern in Lublin, zu denen er ge- zogen war, gewidmet (f 1598). Im letzten Glaubensgrunde mit Socino, dem großen Theologen des Unitarismus, einig, hat er doch auch vielfältig, besonders in Verteidigung seiner wiedertäuferischen

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Gedanken, wider ihn gestritten. Ist der Laurentius aus Krakau, der noch vor den Brüdern Niemojewski um Aufnahme nachsuchte, Laurentius Diskordia, der spätere evangelische Hofprädikant? In Krakau hatte er freilich seit 1539 studiert, doch seine Heimatstadt war Przasnysz. jedenfalls war Diskordia mit einem Empfehlungs- schreiben des litauischen Magnaten Stanislaus Kieyzgalo nach Königs- berg 1546 gekommen. Übrigens müssen wir konstatieren, daß die Matrikel nicht alle Studenten bietet, die damals in Königsberg um die Wissenschaften und Sprachen sich bemüht haben. Der Litauer Johann Melanops, der als verschiedene Schriften in Preußens Hauptstadt ins Polnische übertrug, von dem Herzoge 1548 an den obengenannten litauischen Magnaten empfohlen wurde, ist in ihr nicht verzeichnet, ebensowenig Gregorius Pauli, der spätere Krakauer Pastor, dann Führer der Unitarier und Anabaptisten. Und doch wissen wir aus anderen Quellen, daß er 1547/48 in Königsberg ge- weilt hat, von hier nach Posen als Lehrer an die Pfarrschule ge- gangen ist.

1546/47, als der schmalkaldische Krieg Wittenberg verödete, auch Melanchthon flüchtete, konnte in Königsberg sein Schwieger- sohn Sabinus als Studenten aufnehmen die Edelsöhne Kaspar Gnoinski, Job Policki aus Großpolen, Christoph VIodzislawski, ein Sohn jener Familie, die auf ihrem Erbgute Wiodzislaw seit 1557 so mancher evangelischen Synode freundliche Aufnahme gewährt hat, ferner Stanislaus und Albert Lachowski, dieser nicht zu verwechseln mit dem jüngeren Freunde Lismaninos, Albert Latkowski, der 1564 aus Nürnberg an den ehemaligen Franziskanerprovinzial einen italienischen Brief gerichtet hat. Auch angehende Gelehrte konnte der Rektor immatrikulieren, so Georg Heuschitz oder Haustinz aus Litauen, 1541 herzoglicher Stipendiat in Wittenberg, dort auch un- längst (August 1546) schon in den Kreis der Magister eingetreten, nachdem er Juli 1543 noch einmal infolge des Todes seiner Eltern mit herzoglichen Empfehlungsbriefen an den Wilnaer Wojewoden Johann Chlebowicz zum Schutze seiner bedrängten unmündigen Brüder in die Heimat geeilt war, so Georg Zablocki. Dieser hatte bereits seit 1528 in Krakau, seit 1540 in Wittenberg studiert, dann neben Culvensis in Wilna unterrichtet, mit ihm nach Königsberg flüchten müssen, dank der Fürsprache des preußischen Herzogs aber ein neues Amt in Polen erhalten, das er indessen aufgab, um dem in Litauen wieder missionierenden Culvensis von neuem sich anzu- schließen. Nun führte ihn dessen Tod noch einmal nach Königsberg. Er war später Präzeptor in verschiedenen vornehmen Häusern, be- gleitete auch 1560 die Söhne und Neffen des litauischen Marschalls Wollowicz nach Tübingen zum Studium. Von dort unternahm er eine Reise nach der Schweiz. Mit Bullinger stritt er über die Abend- mahlslehre und vertrat dabei so nachdrücklich und glücklich die lutherische Auffassung, daß der Züricher Reformator seine Freunde in Genf vor ihm warnen zu müssen meinte: „Prudentes este“! Auch als litauischer Liederdichter verdient Zablocki Beachtung, noch mehr

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sein Kommilitone und Landsmann Martin Mosvid, den Herzog Albrecht selbst zum Studium nach Königsberg gezogen hat, der schop nach drei Semestern das Bakkalaureat erwarb, 1549 Pastor in Ragnıt wurde. Nur 14 Jahre hat er hier gewirkt, schon 1562 raffte ihn der Tod dahin, aber tief hat er seinen Namen in die Geschichte seines Volkes und seiner Kirche eingeschrieben. Ahnlich wie Seklucyan Polen hat er Litauen als Schriftsteller und Evangelist gedient. Die ältesten Litauer Drucke tragen seinen Namen. Georg Gerullis hat sie unlängst im Gleichdruck herausgegeben. Noch Student in Königsberg hat er 1547 einen Katechismus erscheinen lassen. Am wertvollsten ist sein Gesangbuch, das vier Jahre nach seinem Tode erschien. Die meisten Lieder hat er selbst gedichtet, einige haben ihm die Litauer geliefert, die damals mit ihm in Königsberg studiert haben und die als Schüler der Albertina wir ohnehin hier nennen müssen: Alexander Radonius, später bis 1583 Pastor in Kuckerneese in der Niederung, Bartholomäus Villentatius, ein Vetter Mosvids, seit 1550 litauischer Prediger in Königsberg, bekannt auch als Heraus- geber eines litauischen Enchiridions.

Wenn wir die Studenten des Wintersemesters 1547 durch- mustern, bleibt unser Blick gleich bei dem ersten haften, den der neue Rektor Staphylus einschreiben konnte, Valentin Bohemus Brzozowski. Er hat 1554 in prächtigem Druck ein polnisches Gesangbuch erscheinen lassen, eine Übertragung des böhmischen Briiderkanzionals. Hat das Bedürfnis der Gemeinden und die Sorge für die reformatorische Kirche so gebieterisch zu den Studenten der Albertina gesprochen, war in ihnen der dichterische Trieb selbst so lebendig, oder hat ein Mahnwort des frommen Herzogs sie angehalten, sind sie auch an- geregt worden von dem herzoglichen Hofmusikus Adrian Petit Coelico, der damals neben ihnen studierte? Fast unmittelbar nach dem Sänger Valentin hat sich ein Stanislaus Musa aus Wilna und ein Litauer Johann Schaduk immatrikulieren lassen. Auch dieser letztere hat in die Harfe gegriffen, auch von ihm bringt das Mosvidsche Ge- sangbuch ein Lied. Der Franziskus Jerayski, der nach ihm zur Hoch- schule kam, ist doch wohl ein Gorajski, ein Sohn jenes Geschlechts, das seine Söhne in der Folgezeit auch nach Heidelberg, Basel, Alt- dorf gesandt und in Zbigniew Gorayski, dem Chelmer, dann Kijewer Kastellan, im folgenden Jahrhundert der evangelischen Kirche einen hervorragenden Führer geschenkt hat. Nach Leipzig schickte der Erbherr von Grabow und Kastellan von Nakel, Wenzel Zaremba, seinen Sohn Nikolaus, wohl weil er selbst 1522 dort studiert hatte, doch seinen Sohn Johann ließ er nach Königsberg gehen. 1549 rief er ihn durch Seklucyan zurück, weil er nun in Paris seine Studien fortsetzen sollte. Mit dem großpolnischen Magnatensohn sehen wir zusammen zu den Füßen der Königsberger Lehrer verschiedene litauische, die Söhne des Wojewoden von Nowogrodek, Paul Sapieha, Nikolaus, paier Wojewode von Minsk und Witebsk, und Johann, später Kastellan von Brest und Smolensk, von dem Lubliner Kastellan Johann Tenczynski dem Herzog Albrecht noch besonders empfohlen.

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Vorübergehend brachen sie in ihrer Familie dem reformatorischen Gedanken Bahn. Ein Gregor Sapieha ist 1567 nach Leipzig und im folgenden Jahre zur Lutherstadt gezogen, bis dann Leo Sapieha, auch in Leipzig gebildet, 1586 zur alten Kirche zurücktrat und als Wilnaer Wojewode der Wiederhersteller des Katholizismus in Litauen wurde. Student der Albertina war 1547 ferner der Sohn des Kastellans von Troki, Johann Chodkiewicz, der spätere Hauptmann von Samo- itien, der 1550 noch nach Leipzig ging, vorübergehend auch Witten- Berg aufsuchte, doch nach 1% Jahrzehnten gleichfalls der Reformation wieder untreu wurde und von sich warf, was er auf den evangelischen Hochschulen in sich aufgenommen hatte. Sonst finden wir in jenem Semester in den Bursen der Albertina noch Michael Retzkowski, Bartholomäus Grzezimbowski, dazu verschiedene Ruthenen, den Podolier Johann Zernicki, die Litauer Stanislaus Holbitz, Jakob Villamovius, Valentin Vilkomirius, wohl Begleiter der Sapicha, schließlich die Polen Nikolaus Ozorowski und Albert Czachowski.

In den nächsten Semestern ging der Besuch der Albertina etwas zurück. Die politische Lage war unsicher geworden, vielleicht ein Zug des siegreichen Kaisers nach Preußen zur Vollstreckung der Acht zu befürchten. Immerhin konnte der Rektor Christoph er im Sommer 1548 aufnehmen den großpolnischen Magnatensohn Sigis- mund Czarnkowski, dessen Familie aber trotz des Studiums ver- schiedener ihrer Söhne auf evangelischen Hochschulen und selbst in Wittenberg fest zur alten Kirche hielt, seinen Pädagogen Rochus aus Peisern, weiter den jungen Grafen Andreas Ostrorog, aus Rogasen den Bürgersohn Johann Klicius, der im November 1549 sich zur Leucorea am Elbestrande wandte, schließlich einen Jakob Sapieha, aus Reußen einen Melchior Dainelowicz, aus Kauen einen Lorenz Gradowski. Im Winter 1549, da aus Wittenberg Luthers Sohn Johann heranzog, traten zu ihnen Johann Lorenz und Martin Abdon, zwei hochbegabte Jünglinge der böhmischen Brüderkirche, denen der König Ferdinand ie Exulantenstab in die Hand ge- zwungen hatte. Der letztere, ein Bruder des berühmten Seniors Blahoslaus, seit März 1558 seine Studien in Wittenberg fortsetzend, von Melanchthon geschätzt, starb schon 1561, der erstere ging 1587 heim, zuletzt Pfarrer in Scharfenort und Senior des großpolnischen Zweiges der Unität. 1550 finden wir in Königsberg aus Samter Thomas Wientzkovius, aus Neustadt den Bürgermeistersohn Andreas Volan, der 1544 schon die Viadrina besucht hat, den späteren Wort- führer der litauischen Reformierten und mermudlichen Streiter gegen die Jesuiten, auch Vater eines Theologengeschlechts, von dem ein Johann 1582 nach Wittenberg, ein Thomas 1604 nach Heidel- berg, ein Hieronymus 1607 nach Danzig aufs Gymnasium, ein Georg mit dem Fürsten Janusz Radziwill 1628 nach Leipzig, 1631 nach Alt- dorf und Leiden gezogen ist. ja noch im 18. Jahrhundert sandte es Söhne auf deutsche Hochschulen, Johann 1726 und Stephan 1739 zu unserer Albertina, diesen auch 1741 zur Viadrina. Aus Kleinpolen konnte der Rektor inskribieren Jakob Lisakowski und die Brüder

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Adrian und Nikolaus Chelmicki. Diese waren Neffen des Krusch- witzer Kastellans, der den älteren 1554 noch nach Wittenberg schickte. Wie in Königsberg dem Sabinus ist er hier Melanchthon näher getreten und hat in der Folgezeit mit ihm korrespondiert. Gliczner hat ihm neben anderem seine „Apelacya“ gewidmet, die Wilnaer Synode 1591 ihn zum Generalprovisor gewählt. Der Litauer Thomas Georgius Giedkonti war später Pastor in Schirwindt. Wohl schon als Student in Königsberg hat er das Magnificat in seine Muttersprache übertragen, das Moswid seinem Gesangbuch einver- leibt hat. An Johann Schosser, dem Humanisten, der aus Thüringen heraneilte, wollen wir nicht vorübergehen. Als Professor in Frank- furt hat er später immer mit polnischen Studenten enge Fühlung ge- habt, mit ihnen und ihren Eltern korrespondiert, jetzt dem vom Krakauer Bischofe gefangenen Stancaro eine epistola consolatoria gewidmet. 1587 hat er seinen Sohn, der seinen Vornamen führte, von Frankfurt zur preußischen Hochschule gesandt. Von den Studenten des Wintersemesters 1550 weiß ich von Matthias Ischrividuski nur, daß er aus Reußen stammte und Stipendiat des Herzogs war. Die beiden Brüder Melchior und Kaspar Gedrotius aus Litauen waren Freunde des oben genannten Zablocki. Dem Epicedion des ersteren für die Katharina Wollowicz hat dieser ein Epitaph beigegeben. Melchior ıst 1560 nach Wittenberg und Tübingen gezogen.

s 1551 der unglückselige, böse Osiandersche Streit Königsberg zerriß, traten in die Studentenschaft ein Martin und Florian Heyn, Söhne des Vogts in Kauen, von denen der ältere noch 1560 sich von Vergerio nach Tübingen ziehen ließ, und Lorenz Krzyszkowski aus Thomischewo bei Samter, der spätere Pfarrer in Nieswiez und Freund des unitarischen Theologen und Bibelübersetzers Simon Budny, der 1588 seinen Sohn Benjamin zu unserer Hochschule geschickt hat. Krzyszkowski hat in den Kämpfen um die altkirchliche Trinitätslehre eine führende Rolle gespielt, zur Verteidigung seiner Stellung auch des Justin Dialog mit dem Juden Tryphon ins Polnische übertragen, ein schönes Zeugnis, wie weit ihn die Albertina im Griechischen ge- bracht hat. Wieder in den Kreis der böhmischen Brüder versetzt uns Petrus Herbert aus Mähren. 1560 ging er mit dem Goluchowoer Pfarrer Rokyta als Bote der großpolnischen Unität nach Württem- berg und Zürich. Lutheraner war und blieb Petrus Dresdensis oder Dresdovius, seit dem 26. September 1551 in der Pregelstadt, später Pfarrer in Pogorzela im Posener Lande, 1595 Synodale in Thorn, noch 1607 in Miloslaw, auch Konsenior in Großpolen.

Für 1552 sei der Preuße Christoph Alzumius genannt, 1559 Bibliothekar des Königs in Wilna, 1563 Begleiter des Johann Kiszka nach Basel und Zürich, 1566 ın herzoglichen Diensten, ferner der Samogiter Stanislaus David und verschiedene Polen, wie Lorenz Worlowski, Petrus Lipicus, die die Nacht der Vergessenheit deckt. Für 1553: Andreas Glinski und Martin Quiatkowski. „Pauper“ be- merkt die Matrikel neben dem Namen des ersteren, er wird also

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schwerlich ein Glied des kleinpolnischen Geschlechts gewesen sein, von dem Christoph Glinski drei Jahre zuvor im Bunde mit anderen eingekerkerten Stancaro die Freiheit wiedergegeben, vier Brüder auch die Einladung an Calvin, nach Polen zu kommen, unterschrieben haben. Quiatkowski (f 1585) war ein Neffe des zweiten klein- polnischen Superintendenten Stanislaus Lutomirski und ist 1560 noch nach Leipzig gezogen. Den Druck des polnischen Glaubens- bekenntnisses seines Onkels in Königsberg 1556 hat er überwacht, er selbst hat die Augsburger Konfession und ihre Apologie ins Polnische übertragen. Auch sonst war er ein fleißiger Übersetzer, freilich noch ein fleißigerer Bettler, der immer wieder und wieder den Herzog um Unterstützung und Privilegien anging. Sein Onkel Lutomirski, mit Herzog Albrecht manchen Brief austauschend, gelegentlich auch in Königsberg, hat sich hier nicht einschreiben lassen. Aber von dem Theologengeschlecht, das aus seiner Ehe mit der ältesten Tochter des Reformators Laski entsprossen ist, ist ein Georg Lutomirski noch 1676 zur Albertina gekommen, dann 1678 nach Frankfurt weiter ge- zogen. Übrigens ist ein Alexander Lutomirski 1653 auch nach Leiden gegangen. Noch erwähnt die Matrikel für 1553 einen Masuren Paul Kaczyas. Sollte Goniadz zu desen sein, hätten wir an einen Bruder des bekannten Antitrinitariers Peter Gonesius zu denken? Jeden- falls hat ein Salomon Gonesius, vielleicht ein Sohn des Unitariers, von dem es 1557 hieß, er wolle ein Buch durch die Lycker Presse des Johann Maletius veröffentlichen, 1587 seinen Wissensdurst in Königsberg gestillt. Nur sechs Polen traten 1554 vor den Rektor, unter ihnen Johann Grabowiecki, dessen Familie einen Gabriel, den späteren Gesandten nach Dänemark, schon 1536 nach Wittenberg gesandt hat, einen Sebastian, den späteren Blesener Abt, noch 1558 zur Viadrina schickte, Adam Petriwicz und Erasmus Gliczner. Znin war dessen Vaterstadt, doch kam er nach Preußen mit einem Emp- fehlungsbriefe des Fürsten von Stuck, 1558 ging er zu weiterem Studium nach Krakau. Auch er war ein fleißiger Schriftsteller, auch er ein Übersetzer der Augsburger Konfession ins Polnische. Als groß- polnischer lutherischer Superintendent hat er mitgewirkt an der Sendomirer Unionssynode, hat er alle Not der anhebenden Gegen- reformation erfahren, durch sie seine Gemeinde Grätz verloren. Durch sie ist er heimatlos geworden, bis ihm das westpreußische Straßburg ein neues Amt gewährte. Hier ist er vielgeprüft 1603, alt und lebens- satt gestorben, übrigens Polens erster pädagogischer Schriftsteller. Der große Zug der polnischen Studenten ging in den fünfziger Jahren nach Frankfurt, Wittenberg und Leipzig. Das nördlich und abseits gelegene Königsberg wurde weniger aufgesucht, wenn auch seine Druckerpressen Polen fortgesetzt mit Schriften versorgten, die Albertina ihre Studenten aus dem Osten zu Schriftstellern ausbildete wie keine andere deutsche Hochschule. Nachdem schon 1554 ein Andreas Kochanowski, 1555 ein Jakob Kochanowski vor den Rektor getreten war, bat ihn am 11. April um Immatrikulation auch Johann Kochanowski, Polens großer Lyriker. Fast schon ein Jahr hatte er

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mit Unterstützung des edien und freigebigen Herzogs in Königsberg gelebt und studiert, als er akademischer Bürger wurde. Er blieb es auch nicht lange. Eine Augenkrankheit zwang ihn, Luftveränderung zu suchen. Wieder vom Herzog mit Reisegeld ausgerüstet, zog er nach Italien. Sonst seien aus jenem Jahre noch genannt Jakob und pan Golinski und der Krakauer Stanislaus Verat, Johann Woro-

iowski, den der Herzog 1560 dem Könige empfahl, und Sebastian Konarski, vielleicht ein jüngerer Bruder des Kaspar und Hieronymus Konarski, die wir Ende der fünfziger Jahre auf verschiedenen klein- polnischen Synoden sehen.

Den 23. März 1557 empfahl der Posener Graf Lukas Gorka dem Herzoge Albrecht den Studenten Martin Nowowiecki, den folgenden 3. Mai nahm ihn auch der Rektor auf, am 5. April 1559 dankt der Vater Martin Nowowiecki dem Herzoge für die seinem Sohne ge- währte Unterstützung und ruft ihn zurück. Am 31. Mai 1557 läßt ein Gregor Bochnensis sich einschreiben, im folgenden Juli ein Franz Zablocki, Ende des Jahres ein Albert Slowidki, 1558 ein Georg Prusinski, im Dezember neben zwei Rutenen Petrus Wiesielowski und Johann Wollowicz. Diese beiden gingen, von dem Italiener Vergerio bestimmt, mit anderen litauischen Edelsöhnen im Sommer 1560 nach Tübingen. Weshalb ist auf der Rückreise Johann Wollowicz 1565 nicht zu weiterem Studium in Wittenberg ein- gekehrt, wo doch Joseph Wollowicz, sein Bruder und Begleiter nach Süddeutschland, geblieben ist? 1558 ersuchte um Immatrikulation Johann Girk, der seit dem März des vergangenen Jahres schon in Wittenberg studiert hatte und den der Herzog 1561 nach Stuttgart empfahl mit der Bitte, ihm ein Stipendium in Tübingen zu gewähren. Es war der Sohn des Pastors der böhmischen Brüder in Neidenburg, des Katechismusvaters, er hat später in Thorn und Lissa gewirkt, diese Stadt auch auf der Thorner Generalsynode vertreten. Neben ihm waren Bürger der Albertina ein Stanislaus Bidlowski und Daniel Krajewski, dazu der Magister Simon Wanrab. Er war ein Rhein- länder, der seit 1530 an der Leucorea studiert und hier den Magister- grad erworben hatte. Wir gedenken seiner, weil er im November 1560 nach dem Osten ging, d Pfarramt an der deutschen lutheri- schen Gemeinde in Wilna übernahm. Laurentius Granowski kam aus Großpolen, wo seine Familie das Erbgut Granow bei Grätz besaß, dagegen wohl aus Wilna vom Radziwillschen Hofe Petrus Mako- wiecki, ein jüngerer Bruder des Klecker Hauptmannes Hieronymus Makowiecki, der Frühjahr 1563 mit dem jüngeren Nikolaus Christoph Radziwill nach Straßburg gezogen, damals von dem Theologen Budny gebeten worden ist, Bullingers Ansicht über das Recht des „Filioque“ im Glaubensbekenntnis einzuholen. Aus Litauen erschien auch 1560 der Magnat Hieronymus Chodkiewicz, in der Folgezeit Marschall von Wilna, mit verschiedenen Begleitern, im November Thomas Rodonius, wohl ein Bruder oder Vetter des oben erwähnten litaui- schen Dichters und Kuckerneeser Pfarrers Alexander Rodonius, im Dezember mit ihrem Lehrer Paul Pakostinus drei Brüder Mniski,

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Johann, Georg und Nikolaus, Söhne des Erbherrn von Mona, Haupt- manns von Luck und Burggrafen von Krakau. Aus Zürich ließ sich einschreiben Antonius neeberger. Ich erwähne ihn, weil dieser schweizer Arzt sich in Krakau niedergelassen und dort bis zu seinem Tode, 1581, gewirkt hat. Von den beiden Brüdern Stanislaus und Franz Kanimir weiß ich nichts näheres, doch hat sich ein dritter Bruder Michael noch 1570 in Wittenberg einschreiben lassen.

Ich sehe davon ab, für das Jahr 1561 die Studenten aus dem Osten namhaft zu machen. Die Geschichte kennt sonst ihre Namen nicht, über ihr späteres Leben, wo sie gewirkt, was sie geschaffen, war nichts zu ermitteln. Nur von Stanislaus Widra weiß ich zu melden, daß er der Sohn des Bannerträgers von Kauen war und ım April 1564 noch die Lutherstadt an der Elbe aufgesucht hat. Von Johann Komajunski sagt das Studentenverzeichnis, daß er ein Sohn des litauischen Marschalls gewesen sei. Aber des Preußen Matthäus Motzarus aus der Umgegend von Rhein wollen wir etwas näher ge- denken, er hat später einige Jahre die Schule in Kleck, dem Radziwill- schen Städtchen, geleitet, und des Nürnberger Georg Weigel, der im Sommer des Jahres zur Hochschule kam. Er ist später in die Dienste des Johann Chodkiewicz getreten, hat in dessen Auftrage gegen die Antitrinitarier geschrieben, aber, selbst schwankend in seiner reli- giösen Überzeugung, seinen Herren vom Rücktritt in die römische Kirche nicht abhalten können. Einige Wochen nach ihm zog durch Königsbergs Tore Johann Kwilecki, aus dessen Familie ein Matthias 1571 nach Wittenberg ging, im August Simon Chreptowicz aus Podolien, ferner die Briider 3 Vettern Stanislaus Christoph und Andreas Rayski, wohl Söhne und Neffen des Johann Rayski, den wir in den fünfziger Jahren verschiedentlich auf kleinpolnischen Synoden sehen. Im Jahre 1593 ging ein Alexander Rayski nach Alt- dorf, 1618 zogen drei Rayski nach Heidelberg, dann auch nach Straf- burg, 1696 lenkte einer dieses Geschlechts seine Schritte aber auch noch zur Albertina. Die Chreptowicz hielten auch in der Zeit, da viele Familien zum reformierten Bekenntnis übergingen, fest an dem Luthertum, in Gojcieniszki, südlich von Wilna, schufen sie ihm eine Stätte. Wieder aus altem litauischen Fiirstengeschlechte war der Nikolaus „dux Rapoloviensis“, der acht Tage nach den Rayski durch Königsbergs Tore zog, ein Sohn des Fürsten und Marschalls nn während aus Lemberg ein armer Bürgersohn, Stanislaus Bielecki, um Inskription nachsuchte, vielleicht ein Bruder des Daniel Bielecki, der in verschiedenen kleinpolnischen Gemeinden als Pfarrer gewirkt, dann den Unitariern sich angeschlossen, schließlich aber SE zur recht- gläubigen reformierten Kirche zurückgekehrt, dann Pastor in Krakau geworden ist. Zwei weitere Brüder Bielecki, Johann und Vincenz, die wir später in Wilna sehen, folgten Anfang 1563. In diesem Jahre bezogen die Akademie auch zwei Brüder Wietzvienius, Georg und Matthias, und vor allen der Sohn des Wojewoden von Nowogrodeck, Johann Hornostaj, Stanislaus, dem gegen Ende des Jahres der Litauer Albert Zalnick und der Pole Albert Oblienski folgten, und im März

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1565 Paul Jezierski, aus einer Familie, die der reformierten Kirche manchen Pastor, auch einen Senior gestellt hat und deren Sohne wir in spateren Jahrzehnten in Heidelberg, Basel und Genf treffen.

Schon diese letzten Jahre zeigen, wie der Zuzug polnischer und litauischer Studenten nachgelassen hat. In den nächsten Jahren ist er nicht gewachsen, freilich auch nicht versiegt. Aus den sechziger Jahren seien noch genannt Kaspar Brzezinski, der spätere Erbherr von Schmiegel, auch Schutzherr der unitarischen Gemeinde daselbst, bekannt durch das tragische Geschick, das ihm der Sohn des EEN Besitzers der Stadt, Christoph Arciszewski, der Amerikafahrer, reitet hat, ferner Thomas Laski, ein Sohn des polnischen Reformators, tiir den die verwitwete Mutter schon 1564 das Herz des Herzogs er- warmt hatte, zwei Briider Radziminski, Johann und Albert, der samogitische Kimmerer, Johann Tholibowski und Elias Agrippa aus Wilna. Noch 1612 hat einen Johann Agrippa der Drang seines Herzens von Litauens Hauptstadt nach Preußens Universitat geführt. In Wittenberg hat Wenzel Agrippa, 1586 Kastellan von Minsk, 1590 von Smolensk, der bis zu seinem Tode dem Luthertum die Treue hielt, von Trzecieski ın seiner bekannten Elegie schon 1556 gefeiert, bereits 1552 studiert, dorthin ist 1575 wiederum auch ein Martin Tholibowski gezogen. Im September 1569 ließ sich an der Albertina ein Lukas Manticki Gladisz einschreiben, ein Famulus des Johann Demetrius Solikowski, des Diplomaten und späteren Lemberger Erz- bischofes, der selbst 1559 in der Elbstadt zu den Füssen Melanchthons gesessen hat.

Unter den Studenten des folgenden Jahrzehnts fesseln unsere Blicke zuerst wieder zwei Brüder Radziminski. Alexander, später Truchseß von Sagomitien, und Stanislaus, seit 1588 Wojewode von Podlasien. Beiden galt später nichts mehr, was sie in Königsberg ge- lernt und in sich aufgenommen, sie wurden eifrige Glieder der alten Kirche. Ihnen reihen wir an die Söhne des litauischen Schatzmeisters Nikolaus Naruszewicz, Christoph und Johann (t 1616), später Marschall am litauischen Tribunal. Mit Adam Talwosz, dem Sohne des Kastellans von Minsk, Nikolaus Talwosz, und späteren Hauptmanns von Dünaburg und Kastellans von Samogitien, waren sie an der preußischen Universität erschienen, mit diesem zog auch ihr Bruder Paul nach Straßburg, um den großen Sturm zu hören. Samuel und Albert Naruszewicz gingen bezeichnenderweise an der preußischen Hochschule vorüber 1592 nach Heidelberg, 1596 nach Basel, dorthin ging auch Andreas Naruszewicz aus Kupiski, dem der Baseler Theologe Amandus Polanus 1600 sein Buch über die Prädesti- nation widmete. Dagegen sehen wir die Söhne des Königsberger Studenten vom Jahre 1577, Johann Naruszewicz, des Jägers von Litauen, Alexander und Georg, 1601 wieder unter den Studenten der Albertina, freilich 1608 auch in Heidelberg und im folgenden Jahre in Marburg, wo Alexander, der spätere Kastellan von Sagomitien (t 1653), Direktor der Wilnaer Synode vom Jahre 1652, eine Rede über den Festungsbau veröffentlichte. Sonst seien genannt der Litauer Benedikt

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Woitowski, der Samogite Petrus Adamkowicz und der Pole Leonhard Dembowski aus Turobin. Auch Nikolaus Blothno sei erwähnt, der Pastorensohn aus Pillupönen. Sein Vater gehört ja zu den ersten litauischen frommen Dichtern, die ihrem Volke das Lied der Reformation zu bringen gesucht haben.

Im neunten Jahrzehnt finden wir in den Bursen Königsbergs Christoph Ostorodt. Er war ein Deutscher, Goslar seine Heimat. Indessen hat er sich in der Folgezeit den polnischen Brüdern ange- schlossen, ihnen lange als Pastor in Schmiegel gedient, freilich mit seiner sittlichen Strenge oft auch angestoßen, durch seinen Eigensinn und seine Rechthaberei fast eine Spaltung heraufbeschworen. Die große Schmiegeler Synode des Jahres 1594, zu der auch der bekannte Fausto Sozino erwartet wurde, hatte sich hauptsächlich mit Fragen, die Ostorodt aufgeworfen hatte, zu beschäftigen. Lorenz Romanowicz, der bald nach ihm in Königsberg erschien, wurde Pfarrer in seiner Heimat, Vater jenes Johann Romanowicz, der 1618 nach Heidel- berg pilgerte, dem reformierten Zion, von hier durch den Religions- krieg vertrieben, nach Frankfurt sich zurückwandte, des Übersetzers der Meditationen des Jenaer Johann Gerhard ins Polnische. Wieder Söhne des Hochadels konnte ım April 1581 der Rektor inskribieren in den beiden Zbaraski, Andreas und Petrus, den Söhnen des Woje- woden von Troki, die mit dem Litauer Christoph Stachowski heran- gezogen waren, und in Paul Dorohostajski, einem Sohne des Polocker Wojewoden Nikolaus Dorohostajski. Seinem Bruder Christoph, dem litauischen Vorschneider, hat der Heidelberger Professor Franz Junius eine Verteidigung der altkirchlichen Trinitätslehre gegen die Unitarier im Osten gewidmet, dessen Sohn Wladislaus sehen wir 1632 unter den Studenten in Leiden. Peter Marcianus, seit 1533 Hörer an der Albertina, war ein Stipendiat des Kastellans von Msicislaw Stanislaus Naruszewicz, Wilkomir seine Heimat. Er hat auch in Greifswald, Rostock und Wittenberg studiert, dort an der cathedra Lutheri sich auch für das geistliche Amt in Litauen ordinieren lassen. Sein Begleiter zur Elbstadt war sein Landsmann Jesajas Kaspari, der erst im März 1585 aus Litauen nach Preußen gekommen war. Die drei Brüder Kochanowski, die gleichfalls 1583 die Universität bezogen, waren Söhne des verstorbenen Hauptmanns von Radomien, Nikolaus Kochanowski, Johann Albert Billewicz, der ihnen folgte, der Sohn eines treu evangelischen Geschlechtes, das be- sonders eng an den Herzog Albrecht einst sich angelehnt, sich von ihm manches Buch, aber auch Raritäten, Affen und Papageien hatte schenken lassen, das einen Samuel 1599, einen Johann das Jahr darauf wiederum zur Albertina entsandte. Die beiden Brüder Georg und Lukas Massalki, Söhne des Hauptmanns von Perstin und Opila Gregor Massalki, zogen 1589 weiter zur Ruperta am Neckar, 1591 nach Basel, das Jahr darauf noch nach Padua. Zu ihnen traten ihre Lands- leute Andreas Saleski und Gabriel Grzibowski, 1586 Andreas Lupian, der spätere polnische Pastor der lutherischen Gemeinde Posens, der es nicht lassen konnte, in seinen Predigten die böhmischen Brüder an-

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zugreifen, deshalb seines Dienstes entlassen wurde, aber, nachdem Wittenberg, die cathedra Lutheri, seine Haltung gebilligt hatte, von dem Adelnauer Hauptmann und Gnesener Kastellan Johann Zborowski in seiner Erbstadt Pleschen ein neues Amt erhielt. Benedikt nannte er das Söhnlein, das ihm hier nach den Tagen der Not und Triibsal geboren wurde; er sandte den Herangewachsenen dann 1614 zur Hochschule, die ihm selbst eine Lehrerin gewesen. Hatte Bromberg bisher schon 55 Jünglinge nach Witten- berg und Frankfurt gesandt, so schickte es jetzt einen Lorenz Dombrowa auch nach Königsberg, hierher rettete sich auch ein bis- heriger Mönch Adam Podbrzeski. Sonst seien noch genannt Johann Gantkowski, Johann Skotnicki und Johann Borzewski, dazu der Edle Abraham Woyna aus litauischem streng katholischen Geschlechte.

Im letzten Jahrzehnt des Reformationsjahrhunderts erbat die Inskription Lukas Christophori Krasnodomski, der vier Litauer, einen Johann Mostvilius und drei Brüder Sumoroch im Sommer 1590 nach Königsberg geleitete. Ahnlich brachte gerade ein Jahr darauf Petrus Mielevius, wohl ein Bruder jenes Jakob Miele vius, der 1579 als Präfekt die jungen Grätzer Grafen nach Straßburg, Genf, Alt- dorf geführt hatte, drei Litauer, einen Adam Odachovius und zwei Brüder Solohub, zur Hochschule. Aus Krakau, wo die Lage der Evangelischen immer gefährlicher wurde, stellte sich ein Johann Sandrowicz, ein Reformierter, aus Masowien Albert Ilowski, ferner drei Brüder Jasinski. Zu ihnen traten von anderen abgesehen im Dezember 1592 die Brüder Samuel und Ludwig Talwosz. Ihre Familie war evangelisch, seitdem der Minsker Kastellan Nikolaus Talwosz sich der Reformation zugewandt hatte. Konnte der litauische Jesuit Andreas Jurgiewicz nicht energisch genug den Kampf gegen die Evangelischen führen, einer seines Geschlechts, der Mönch Lorenz Jurgiewicz, suchte nach seiner Flucht aus dem Kloster an der Hochburg des Evangeliums im Osten, in Königsberg, Schutz und weitere Belehrung. Andere Mönche, die sich und ihren Glauben nach Preußens Hauptstadt retteten und hier mit einem neuen Studium begannen, waren 1598 der Lubliner Andreas Groth, 1600 der Mogilnoer Nikolaus Fornica. Aus Wilna, wohin sein Vater Stanislaus eben von der Thorner Generalsynode zurückgekehrt war, stellte sich noch 1595 ein der Pastorensohn Johann Minwid, später der dritte Nachfolger seines Vaters ım Pfarramte und Seniorate (t 1638), einige Monate später aus Kauen Bernhard Wessel, weiter der Litauer Adam Timinski, drei Brüder und ein Vetter Pietkiewicz, Söhne und ein Neffe des Wilnaer Notar Melchior Pietkiewicz, der in Glinkiszki unfern Kiejdany die Reformation eingeführt hat. Seinen Enkel Samuel sehen wir noch 1638 zu den Füßen Königsberger Professoren. Stand Daniel Kalisius, der im August 1597 vor La Rektor trat, in Beziehungen zu jenem Sturmschüler Albert Kalisius, der in Straßburg und seit dem 16. September 1583 auch in Tübingen studiert hat, dann in der Heimat als Rektor die Schule in Lewartowa geleitet, nachher an der Zamoyskischen Akademie gelehrt, die Ver-

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bindung mit dem letzten deutschen Humanisten, dem Melanch- thoniaer Johann Caselius, gepflegt hat? Reinhold Eggardt aus Kauen, seit dem August 1598 Student, war ein deutsches Bürgerkind, trat aber nach Vollendung seiner Lernjahre in den Dienst des litaui- schen Oberjägers Naruszewicz und begleitete dessen Söhne Alexander und Georg 1608 nach Heidelberg und Marburg, 1610 nach Altdorf, immer zusammen mit Johann Paproski, der 1601 Königsberg auf- gesucht. Als Andreas Naruszewicz 1605 in Wilna Katharina Franczkiewicz von Radzimin heimführte, widmete er dem jungen Paare ein Epithalamium, das Sartorius in Liegnitz gedruckt hat. Wieder ein deutsches Posener Bürgerkind war Jakob Schrot, ein litauer Edelsohn Nikolaus Rudzinski, ein ischer Christoph Kliszewski. Aus vornehmem Bojarengeschlehte war Gabriel Bialozor, ein Neffe des litauischen Marschalls, aus angesehener masovi- schen Familie Balthasar Kulecki. Matthias Chronstowski war doch wohl ein Sohn des Wilnaer Seniors Andreas Chronstowski, Johann Siedlecki jedenfalls ein Sohn des Landrichters von Hohensalza. Seine älteren Brüder Nikolaus und Thomas sehen wir schon 1581 an der Leucorea, einen Alexander Siedlecki noch 1662 wieder an der Albertina. Er stammte aus Wolhynien, und die Dominikaner in Lublin hatten ihn als fünfzehnjährigen Jüngling für den römischen Glauben gewonnen, seine Familie und besonders sein Onkel Alexander Firlej von Dombrowiza ihn aber schließlich wieder zum evangelischen Bekenntnis zurückgeführt.

Dem Siegeslaufe der Reformation in Polen, den Trzecieski in einem Triumphlied besungen, war ein jäher Rückschlag gefolgt. Be- sonders das Luthertum hatte in dem Kreise des polnischen und litauischen Adels bald allen Boden verloren, nur die deutsche Be- völkerung Polens hielt an ihm fest. Seit 1590 sah Wittenberg kaum noch polnische Studenten in seinen Mauern, auch in dem lutherischen Königsberg wurden sie eine seltene Erscheinung. Doch schwinden sie hier nie ganz, vereinzelt finden wir sie durch alle Jahre des 17. und 18. Jahrhunderts. Etliche seien hier mit Namen genannt: die Brüder Demetrius und Alexander Oginski, die im Juli 1600 die Albertina aufsuchten, 1606 nach Altdorf, noch in demselben Jahre auch nach Ingolstadt gingen. Dagegen wanderten Theodor Oginski mit seinem Lehrer Samuel Rogalla 1636 und Martin Oginski mit seinem Präzeptor Tobias Drzewinski an unserer Hochschule vorüber nach Leiden. Ferner aus Kujawien Johann Ruszczinowski und Matthias Wolski, 1604 aus Litauen Johann Korsak, vielleicht ein Sohn des Roman Wasilewicz Korsak, der 1599 zum Provisor der Kirche ge- wählt wurde und aus dessen Familie ein Daniel und David unlängst (1597) nach Altdorf und Heidelberg seine Schritte gelenkt hatte, und die Brüder Christoph und Nikolaus Kaweczinski mit ihrem Lehrer Georg Petroski, denen 1611 ıhr Vetter Alexander Kaweczinski, der Sohn des Wojewoden von Minsk, folgte und verschiedene andere ihrer näheren Heimat. Wir nennen von ihnen nur die drei Brüder Przystanowski, deren Geschlecht der reformierten Kirche auch

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Pastoren gestellt hat. 1619 saß zu den Füßen Königsberger Lehrer der Sohn des Bannerträgers von Kauen, Paul Dziewaltowski, Johann, seit 1614 schon Gymnasiast in Thorn, samt seinem Erzieher Simonides Chmielewski, 1635 das Brüderpaar Christoph und Andreas Reczinski, 1650 Martian Czaplic Spanowski, aus unitarischer Familie, mit seinem Präzeptor Tobias Berningk aus Krasnobrod. Beide schen wir zwei Jahre später in Leiden.

Von der litauischen Familie Ottenhausen, die so reges kirchliches Interesse bekundete, finden wir den ersten Sohn Johann Hieronymus 1656 an der Albertina, andere folgten ihm, 1723 auch Kasimir, der 14 Jahre später nach Holland zog, um dort für seine ausgeplünderte Kirche zu kollektieren. 1752 hat der letzte seines Geschlechts an unserer Akademie studiert. Von einer anderen Familie, die stand- haft und treu zum Evangelium hielt, den Olendski, hat eın Johann schon 1560 an der preußischen Universität sich einschreiben lassen, 1684 tat es ein Christoph, noch 1775 ein Boguslaus. Der Boguslaus Sieninski, der 1679 nach Königsberg kam, war ein flüchtiger Uni- tarier, ebenso die Brüder Alexander, Boguslaus und Samuel Christoph Suchodolski. Ihre Familie hatte einst ın Dazwa in Wolhynien und in Piaski im Lubliner Lande antitrinitarische Gemeinden beschützt. Nach ihrer Vertreibung aus Polen war Samuel Suchodolski nach Preußen geflüchtet, deshalb finden aus seiner Familie wir auch einen Friedrich Samuel, der 1716 nach Frankfurt zog, 1712 an der Albertina, einen Theodor 1737, einen Karl Friedrich 1775, einen Johann Gottlieb 1766. 1715 begegnet uns unter den Studenten Alexander Hulewicz, der 1718 mit Boguslaus Mikolajeswski nach Frankfurt ging, 1729 der großpolnische Reformierte Johann Karl Kurnatowski, dem 1732 der in Litauen heimische Andreas Kurnatowski folgte, ferner 1750 Michael, das Jahr darauf in Leiden, Christoph 1765, Sommer 1784 aus dem Gymnasium Kiejdany Boguslaus, um Theologie zu studieren. „Unsere Familie, einst eine von den größten in Polen, ist von Gütern und Vermögen herunter- gekommen“, schreibt den 18. Mai 1729 ein Hofgerichtsrat Grabowski an August Hermann Francke nach Halle. „An mir aber hat es dem großen Gott gefallen, seine Allmacht zu zeigen und mich aus meinen schwachen Umständen unter vielem Kreuz und Verfolgungen zu einer der ansehnlichsten Stellen in Preußen zu ziehen“. Er bittet dann für einen Bruder, der dem Beispiele des Vaters folgend, Theologie studiert habe, aber etwas versäumt sei, schon 16 Jahre Kandidat der Theologie sei, vielfach an Schulen unterrichtet habe. Da er weder seinen eigenen Vornamen noch den seines Bruders nennt, kann ich das Königsberger Studium dieser beiden nicht nachweisen, aber nicht wenige Söhne dieser Familie haben im 18. Jahrhundert in Preußen deutsche Wissenschaft in sich aufgenommen, 1733 auch Johann, der spätere Marschall der Stucker Konföderation, 1765 auch Paul, der spätere litauische General.

Im 18. Jahrhundert haben besonders zwei Familien der schwer leidenden reformierten Kirche Litauens zu dienen gesucht, die Wotk

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und die Estko. Im April 1710 sehen wir Vertreter dieser Kirche zu Beratungen in Warschau, unter ihnen Michael Laniewski Wolk, den Fahnrich von Starodub und Schwerttriger der Wojewodschaft Minsk. Sein Sohn Daniel, 1711 in Frankfurt, begegnet uns mit Joseph Stan- kiewicz und Theophil Domaslawski aus Lissa 1708 unter den Stu- denten der Pregelstadt. Schon 1702 sehen wir hier auch einen Petrus Wolck, der 1708 auch nach Frankfurt eilte, mit Kasimir Borzymowski, dem späteren Senior von Podlachien und Pastor zu Zabłudów, und Daniel Reczinski, weiter 1761 einen Gideon mit dem Edelsohn Michael von Schilling, einen Johann Wolk aus Shuck noch 1772.

Von den Estko hat ein Alexander 1668, ein Michael 1687, ein Boguslaus aus Stuck 1712, wieder ein Michael 1745 und schließlich ein Jakob aus Kiejdany 1749 die Albertina aufgesucht. Von ihnen ist Michael 1745, Jakob 1750 noch nach Frankfurt gegangen. Der Michael Estko, der in den dreißiger Jahren des 18. Jahrhunderts das Pfarramt in Nowe Miasto hinter Wilna versah, hat 1717 nur in Frankfurt studiert. Von anderen litauischen Edelsöhnen wählten die nächste deutsche Hochschule noch im 18. Jahrhundert zu ihrem Studium Tobias Grotkowski 1722, ein Stanislaus Grotkowski noch 1773, ferner 1725 Michael Stephan Oskierka, der Sohn des katholischen Kastellans von Nowogrodek, Anton Oskierka, und der reformierten Anna Grabowska. Um nicht zum katholischen Bekenntnis gezwungen zu werden, mußte er aus seinem Vaterlande flüchten. In preußischen Diensten starb er 1761. Weiter studierten an der Albertina 1740 die drei Brüder Ser gies Stanislaus und Johann Krasinski und 25 Jahre später Grat Johann Krasinski; 1752 ein Jakob Gruzewski, 16 Jahre später in den Tagen der Thorner und Stucker Konföderation zwei Brüder Jakob Ernst und Georg Viktor Gruzewski, 1761 Alexander Lukianski, 1770 zwei Oppeln-Bronikowski, weiter ver- schiedene Cedrowski, Mikulicz, Petroselin u. a.

Trotz der starken Spannung zwischen den beiden evangelischen Bekenntnissen verschmähten auch reformierte Theologen die Wissen- schaft der lutherischen Albertina nicht, so Bartholomäus Büttner 1610, später Pastor in Gieraltowice an der schlesischen Grenze, dann Senior des Sendomirer Distrikts und Pastor zu Malice. Daß er später der Union so entschieden das Wort redete, eine fraterna et modesta ad omnes reformatas ecclesias admonitio ausgehen ließ, war eine Folge dessen, was ihm unsere Hochschule geboten. Seine Söhne zogen nach Thorn und Danzig auf die Gymnasien, nach Frankfurt auf die Universität, doch kehrten seine Enkel, die Söhne des 1651 in Frank- furt gebildeten Samuel, des unermüdlich tätigen Seniors von Samo- gitien, Johann Martin 1693 (1700 ın Leiden, später Konsenior von Samogitien) und Georg 1707 wieder zur Albertina zurück. Die Przystanowski, gleichfalls 1610 Schüler unserer Akademie, haben ver- schiedenen Gemeinden gedient, z. B. der in Bortkuniszki in Samo- gitien. Die Söhne des Chmielniker, dann Oksaer, auch Goryer Pastors Franz Plachta,im Sterbejahr ihres Vaters 1634 Schüler der Albertina.

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haben 1637 ihre Studien in Leiden abgeschlossen. Daniel wurde 1641 Pfarrer in Wiatowice unfern Krakau, Samuel 1645 Adjunkt des Sendomirer Seniors Thomas Wengierski. Aus der Brüderunität finden wir Johann Nason, den Exdekan, 1640, Johann Libanus, den Pastorensohn aus Eibenschütz, der seit 1642 das Thorner Gymnasium besucht hatte, 1644, Adam Samuel Hartmann, den späteren groß- polnischen Senior der Briider, auch ihr erfolgreicher Kollektant in England, den Oxforder Ehrendoktor, 1647 an der Albertina. Doch ging er auch nach Frankfurt, ja selbst nach Wittenberg und Leipzig. Kind der Unität war auch der in Thorn geborene Johann Hyperikus. Von dem Gymnasium seiner Vaterstadt kam er 1648 im Alter von 21 Jahren zur Albertina, in der Folgezeit führte ihn sein Wissens- drang noch nach Franeker und Gröningen. Der Litauer Gideon Reczynski, 1652 Student an unserer Universität, war ein Sohn des Hofpredigers des Magnaten Chlebowicz, des Pastors in Orla und Bielica, Gideon Reczynski, der auch das Konseniorat von Nowogrodek bekleidete. Seine Familie, die Litauen so manchen tüchtigen Pastor und Senior gestellt hat, hat einen Gabriel noch 1723, einen Boguslaus David aus Kiejdany noch 1774 zur Albertina entsandt. Christian Taubmann Trzebicki, Pastorensohn aus Lebiedziow im Minsker Kreise, wurde Pfarrer in Wilna, wo er 1682 bei der Zerstörung des Gotteshauses durch den Pöbel der Stadt in Lebensgefahr geriet, dann 1585 Senior von Nowogrodek.

Die drei Alumnatsstellen, die die letzte evangelische Radziwill, Luise Charlotte, Markgräfin von Brandenburg, zugunsten junger litauischer Theologen 1687 in Königsberg stiftete, führten auch in der Folgezeit immer Söhne des Ostens hierher, zumal sich 1701 auch eine reformierte polnische Gemeinde in Königsberg bildete, deren erster Pastor der in Frankfurt gebildete Georg Rekuc aus Samogitien wurde. Schüler der Albertina waren Daniel Rymwid aus Koydanow, später Superintendent in seiner Vaterstadt, der Sohn des Seniors ın Zabludow und Seniors von Podlachien Philipp Kopiewicz Wladislaus, Kasimir Borzymowski, dann Senior in Zabludow (sein Bruder Johann 1693 in Leiden), Johann Budrewicz aus Kiejdany, Pastor in Sereje unfern Grodno, Michael Hasler aus Stuck, Pastor in Ostaszyn hinter Nowo- grodek, dessen Söhne dann auch zur Albertina wanderten, freilich auch nach Holland gingen, Wladislaus Bochwicz, aus altem Pastoren- geschlecht, 1723 auch in Leiden, Pfarrer in Nurzec hinter Wengrow, Gabriel Binazewski, Konrektor in Kiejdany, dann 1754 Senior des Wilnaer Bezirks, Gabriel Reczynski, dann 1728 in Leiden, Pastor in Stuck, Johann Musonius, Samuel Zuck, Prediger in Ploniany in Samogitien, Samuel Benedikt Makowski aus altem Pfarrergeschlecht, Jakob Gordon, Pastorsohn aus Kiejdany, 1746 auch in Leiden, Stanislaus Stancar, ein Nachkomme jenes Italieners Franzesco Stancaro, des Mönchs aus Mantua, der in die Reformation in Polen so verhängnisvoll eingegriffen, Ernst Musonius aus Warschau, der Sohn des Pfarrers an der reformierten Gemeinde, die sich hier end- lich nach erlangter Religionsfreiheit hat bilden können.

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Auch viele lutherische Pastoren Polens und Litauens haben ihre Ausbildung der Albertina zu verdanken, besonders natiirlich die in Litauen, also in Wilna, Kauen, Kiejdany, Stuck. Aber auch aus Groß- polen ist mancher angehende Theologe nach Preußen gepilgert, unter ihnen ein Enkel des bekannten Fraustadter Predigers Valerius Herberger, der als Student vorzeitig in Königsberg seine Augen geschlossen hat. Aber ich sehe davon ab, hier diese deutschen Pastoren namhaft zu machen, da diese Studie den Einfluß der Albertina auf den sarmatischen Osten zeigen will. Daß der Pfarrer von Slawatycze am Bug, Jonas Columbus, seine Söhne Christoph und Jonas 1659 nach Königsberg geschickt hat, war selbstverständlich. Als Lubliner haben sie sich inskribieren lassen. Ihr Vater predigte ja gelegentlich auch den Lutheranern dieser Stadt, die sich einen eigenen Pastor nicht halten durften.

Besondere Beachtung verdienen die vielen Mönche und Priester, die, an ihrem katholischen Glauben irre geworden, in Königsberg Zu- flucht und weitere Belehrung suchten. So erschien an unserer Hoch- schule 1609 ein Alexander Jurgowski aus Tremessen, 1627 ein Karmelitermönch Samuel Maniecki aus einem litauischen Kloster, zwei Jahre darauf ein Masowier, Martin Krajowski, 1635 cin Prämonstratensermöndh, Georg Hermanni, dessen Wiege aber in Mähren gestanden hat, 1639 ein polnischer Mönch, Johann Poteka, 1648 Johann Plinius alias Hyacınthus Malinowski aus einem masovi- schen Kloster, 1662 der Franziskaner Jakob Beklewski, der das Jahr zuvor seinen Übertritt in Wittenberg vollzogen hatte, in demselben Jahre auch noch der Veltgeistliche Albert Koloski, Pfarrer in Bychawa. Der Belzer Konsenior Adam Jazyna, der unglücliche Pfarrer in Beresteczko, den 1653 die Tataren enthauptet und dessen Frau sie ın die Sklaverei geschleppt haben, hatte zuerst den Zweifel am römischen Dogma in seine Seele geworfen. 1667 meldete sich der Karmeliter Sebastian Sasinowicz aus der Brester Wojewodschaft, den März darauf ein Sebastian Andreas Loranowicz aus dem Kalischer Lande, der Rektor der Schule in Kauen, 1676 die Bernhardiner Albert Zmudzinski und Georg Jakob Przyatkowski, 1694 der Franziskaner Wladislaus Szembek und zwei andere Konvertiten. Ein ehemaliger Jesuit trat 1719 vor den Rektor, Joh. Jos. Ostaszewski aus Wolhynien, das Jahr darauf ein Karmeliter, Leo Golankiewicz, 1733 ein Franziskaner, Anton Potocki. Um nicht zu ermüden, sehe ich davon ab, weitere mit Namen zu nennen.

Doch ehe wir diese Studie schließen, wollen wir unter den Königsberger Studenten noch einiger polnischer Liederdichter ge- denken, mögen es nun Deutsche oder polnische Masuren gewesen sein, die mit ıhrer Muse dem religiösen Leben der polnisch sprechen- den evangelischen Gemeinden gedient, für die häusliche Erbauung und für den Gemeindegottesdienst fromme Lieder selbständig ge- dichtet oder aus dem Deutschen übertragen und herausgegeben haben. Joh. Jakob Hoynovius, Pastorensohn aus Milken bei Lötzen, später Rektor in Soldau, dann Pastor in Graudenz und Danzig, von dem

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in dem Danziger Kantional des Jahres 1723 verschiedene Lieder stehen, hat 1667 die Albertina bezogen, sieben Jahre später Johann Herbin, der Bojanowoer Rektor, Wilnaer und Graudenzer Pastor, der das Jesuslied: „Meinen Jesum laß ich nicht“, das Osterlied: „Christ ist erstanden“, das Sterbelied: „Ach wie flüchtig, auch wie nichtig“ und andere übertragen hat. Philipp Fork aus Thorn, der als Student verschiedene Passionslieder übersetzt, hat sich 1697 in der Pregelstadt der Theologie beflissen, Jakob Glodkowski, später Pfarrer in Rhein, der das Abendlied „Hinunter ist der Sonne Schein“ polnisch wieder- gegeben, 1701, Michael Rüttich aus Wilna, der spätere Lehrer in Moskau, Professor und Pastor in Thorn, 1708, nachdem er schon etliche Jahre in Halle studiert. Wir haben von ihm ein Kranken- lied. Als Königsberger Studiosus veröffentlichte der Pastorensohn aus Soldau, Samuel Ernst Tschepius, „Eines christlichen Studenten der Theologie Erstlinge poetischer Früchte in polnischer Sprache d. i. Zehenden geistlicher Lieder“. Martin Oloff, der spätere Wengrower Pastor, der 1652 seine Ausbildung an der e Gert H ule empfangen hat, hat das polnische Kantional vom Jahre 1672 heraus- gegeben, Michael Speccovius, Pastor in Losendorf und Elbing, 1711 Student der Albertina, hat 1727 ein Kantional erscheinen lassen, das Abendmahlslied: „Schmücke dich, o liebe Seele“, das Gebetslied: „Hilf uns, Herr, in allen Dingen“ u. a. übertragen. Andreas Waschetta, Rektor in Stargard und Pastor in Danzig, der einst 1697 die preußische Hochschule aufgesucht hat, hat die Herausgabe des Danziger Kantionals 1723 besorgt. Ich will die Reihe der frommen polnischen Liederdichter und Sammler nicht fortsetzen, um nicht zu ermüden. Schon die bereits Genannten zeigen den Anteil der Königs- berger Studenten an der geistlichen polnischen Poesie.

Viele hundert Polen und Litauer hat die Gründung Herzog Albrechts ausgebildet, aus den Städten Wilna fast 100, aus Kauen 86, Stuck 60, Kiejdany 38, allerdings einschließlich der deutschen Bürger- söhne. Deutsche Bildung und evangelischen Glauben hat sie dem Osten übermittelt, besonders Litauens erste geistliche Liederdichter gebildet. Noch gesteigert wurde ihre Kulturbedeutung im Reformationsjahrhundert durch ihre Druckerpressen, die den ganzen Osten versorgten. Seine Kulturgeschichte muß fast auf jedem Blatte den Namen Königsberg bringen.

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II MISCELLEN

EIN BESUCH IN DER SLAVISCHEN BIBLIOTHEK DES CECHOSLOVAKISCHEN AUSSENMINISTERIUMS (SLOVANSKA KNIHOVNA MINISTERSTVA ZAHRANICNICH VECI)

Von Leopold Silberstein.

Die Teilnehmer am Prager Slavistenkongreß, welche sämtlich das Jahrbuch des Slavishen Institutes für 1928 („Ročenka Slovanského Ustavu“, sv. I; in Generalkommission bei Orbis) erhalten haben, wissen, daß die Seiten 55—140 dieser Publikation der Beschreibung der Slovanská knihovna MZV gewidmet sind. Diese Darstellung, die einzige, von der man dank ihrer Verteilung als Kongre8- drucksache erwarten kann, daß sie fast alle interessierten Kreise erreicht hat, ist aber durch die geradezu rapide Entwicklung der Bibliothek (am 1. Januar 1928 waren 119228 Bände vorhanden, am 1. Januar 1980 187584, und schon im März 1980 waren 140000 weit überschritten) schnell überholt worden. Deshalb därften die folgenden Mitteilungen, welche auf einer im März 1980 erfolgten persönlichen Besichtigung a, nicht überflüssig sein, obwohl sie aus Raum- gründen die Angaben der „Ročenka 1928“ nicht einmal auszugsweise reprodu- zieren, sondern nur ergänzen können.

Die Bibliochek, deren Entstehung auf eine Gelegenheitsinitistive des Ge- sandıen Girsa zurückgeht und die heute der ah beer) Oberleitung des Direktors Dr. Otto KfiZek untersteht (welchem für liberalste Auskunftserteilung und Ein- blicksgewährung an dieser Stelle nochmals verbindlichster Dank ausgesprochen sei), ist, wie ihr Name besagt, eine Einrichtung des Außenministeriums und wird von diesem unterhalten, was für die enge Bit ee Durchdringung des Poli- tischen und Kulturellen in der Cechoslovakei charakteristisch ist und für Bestand und Wachstum der Bibliothek nur förderlich sein kann. Trotz dieser Sonder- stellung berücksichtigt die Slov. knih. in ihrer Anschaffungspolitik die Bestände anderer Prager Bibliotheken und bemüht sich, dieselben lieber zu ergänzen als ihnen bloße Dubletten an die Seite zu stellen; allerdings soll eine allgemeine Übersicht über die gesamte slavische Welt auch im alleinigen Rahmen der Slov. knih. möglich sein. Da die Slov. knih. nunmehr, im gleichen Hause wie die Uni- versitätsbibliochek (nämlih in dem für diesen Zweck aufs großzügigste reno- vierten Teil des Klementinums) untergebracht ist und z. B. die Bibliotheken der slavischen Seminare der beiden Universitäten in 5—10 Minuten von dort aus er- reichbar sind, so wird der wissenschaftliche Arbeiter ohne allzu großen Zeitverlust ein reiches Material zusammenbringen können, auch wenn er verschiedene Biblio- theken dafür in Anspruch nehmen muß. Mit einer, allerdings wesentlichen, Aus- nahme: die an sich außerordentlich reiche russische Abteilung der Slov. knih. (Leiter: V. N. Tukalevskij) ist bezüglich der mit den russischen Revolutionen zu- sammenhängenden Fragen auf die Ergänzung durch die Bestände einer zweiten Ein- richtung des Außenministeriums angewiesen. Dies ist das leider weit vom Zentrum

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der wissenschaftlichen Arbeit abgelegene „Ruský zahraniční historický archiv“ (Wenzi- ova 17), welches unter der Leitung von Prof. Jan Slavik eine Sammlung von riginaldokumenten, Zeitungen und anderen Periodicis sowie Büchern zur ge- samten russischen Revolutionsgeschichte im weitesten Sinne zusammengetragen hat, deren Reichtum in ganz Westeuropa einzig dastehen dürfte, über die aus- führlih zu berichten wir aber einer späteren Gelegenheit vorbehalten müssen. Während aber die russische Abteilung der Slov. knih. einzig im Hinblick auf die Revolutionsgeschichte sich gewisse Besränkungen auferlegt, wird in der decho- slovakishen Abteilung wegen der anderwärts reichlich vorhandenen Bestände grundsätzlich nur das Allernotwendigste angeschafft. Zu diesen absichtlichen Be- schränkungen der Slov. knih. treten solche, die durch den Zufall des Angebots oder Nichtangebots bedingt werden, welcher ja in manchen slavischen Ländern mit geringer entwickelter Tradition im Lesen und Sammeln von Büchern und Periodicis weit launischer ist als etwa in Westeuropa. Man hat einmal Glück und bekommt eine slovenische Sammlung in die Hand, welche durchaus universell GE ist und eine Fülle kompletter Serien der verschiedensten Periodica ent- hält. Dagegen muß etwa die ische Abteilung ihre Bestände großenteils durch den Ankauf von Spezialbibliotheken vermehren, deren Reichtum vielfach nur in einer einzigen Richtung entwickelt ist. Dem Wachstum der russischen Abteilung kommt natürlich das Verkaufsbedürfnis der Emigranten zugute. Im einzelnen wären zu den Angaben der „Ročenka“, auf die sonst verwiesen werden muß, heute folgende ergänzende Bemerkungen zu machen:

Russische Abteilung.

Zum Titel „Periodica“ („Rolenka“, S. 58 f.; dort sind auch manche Spezialzeitschriften genannt, die besser bei den einzelnen Fächern aufzuführen wären; dagegen sind die ältesten Periodica der Rubrik „Seltene Drucke“ zu- gewiesen, alle gegenwärtig weiter erscheinenden Zeitschriften aber einem be- sonderen Verzeichnis, S. 112 ff.). Die Slov. knih. bemüht sich um den Erwerb der oft schwer erhältlichen, inzwischen eingegangenen Periodica aus den ersten Zeiten der Soverrepublik. So besitzt sie: „Sovremennik“ (hrsg. vom Moskovskij Institut Zurnalistiki, 1922—28); „Nakala“ (1921); „Vostok“ (1922—25); „Rossija (1922—25); „Russkij Sovremennik“ 8 sowie folgende Almanache: „Zapiski Meòtatelja (1919—22; besonders selten); „Naši Dni“ (1922—25); „Svitok“ (1922—26; mit Ausnahme von Nr. 2); „Literaturnaja Mysl“ (1928—25); „Krug“ ee: „Rol“ (1928—24). Von älteren eingegangenen Periodicis sei ins-

ndere der „Vestnik Azii“ (1910—18) genannt, ferner „Zemskoe Delo“ 4918 und als Kuriosität der vom Innenministerium hrsg. „Vestnik Polieif“ 1918). Von spezifisch wissenschaftlichen Periodicis können an dieser Stelle nach- KE n werden: der „Sbornik Russkogo Istorič. Oblxestva“ (komplett einschließ- ich des seltenen letzten Bandes 148), die „Russkaja Istori¢. Biblioteka“ (komplett), die „Russkaja Starina“ (inzwischen komplettiert). Auch die „Otčety darstvennoj Dumy“, wel bis 1917 komplett vorliegen, mögen hier ge- nannt sein.

Zum Titel „Pu$kiniana“. Erstausg.: „Ruslan i Ljudmila“, „Bachdisaraj- Veranlassung Peters 1706 in Amsterdam gedruckten „Symbola et Emblemata“. Die Liste der alten Periodica ist um die „Trudy Vol’nogo Ekonom. O-va“ zu vermehren. Das „Kamer-Fur’erskij Žurnal (1811—16) ist in der Reproduktion von 1910—15 vorhanden. Unter den vorhandenen Jahrgängen der ,,Moskovskie Vedomosti“ sind als besonders interessant 1811, 1812, 1815 zu nennen. Weiter seien hier die „Otelestvennye Zapiski“ des Pavel Svinin (1820—1880; kompi erwähnt. Alte Almanache: „Zimcerla“; ,,Kalendaf Muz“ (1827); ,,Podsneznik* (1829; mit Werken von Puškin und Krylov und einem Porträt des ersteren); „Raduga (Moskau 1880; mit Werken von Puškin, Zukovskij, Polevoj, Lažečnikov, Glinka); „Moskovskij Al’manach“ (Hrsg. Glinka); „Moe Novosel“e“ (18860.

Zum Titel „Handschriften“. „Ugličeskoe sledstovennee delo o smerti careviča Dimitrija“ in der vom Kais. Archäolog. Instieut besorgten phototypischen Reproduktion. f

Zum Titel „Religion“. Die „Cerkovnye Izvestija“ sind größtenteils vorhanden.

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Zu den Titeln ,Sozialwissenschaften, Statistik, Volks- wirtschaft“. Wichtig zur Geschichte des Genossenschaftswesens: „Vestnik Kooperacii“ (1900—17, komplett) und „Vestnik 1 ae kredita“ (1912—18, komplett). Aus den ersten Sovetjahren u. a. der Bericht über den ersten Kongreß der „Profsojuzy“ und die Publikation „Narodnoe chozjajstvo Rossii 1921—1922 gg. Manche Seltenheit dürfte sich noch in einer erworbenen und noch nicht ganz ausgewerteten nationalökonomischen Spezialbibliothek finden.

Zum Titel „Kunst“ Folgende Periodica sind nachzutragen: „Vesy” (1904—09); „Apollon“ (1900—14); „Vestnik izjalknych iskusstv“ (1888—90); „Artist“ (1889—95); ferner die seltene Liebhaberausgabe Rovinskij, „Materialy dlja russkoj ikonografii“ in sechs Bänden großen Formats.

Zum Titel „Puškiniana“. Erstausg.: „Ruslan i Ljudmila“, „Bachčisaraj- skij Fontan“, „Poltava“, „Graf Nulin“, der „Nevskij Al’manach“ von 1829 mit Versen aus dem „Onegin“ und sechs bildlichen Darstellungen dieses Helden, die zwei letzten Hefte des Pulkinschen „Sovremennik“.

Zum Titel „Tolstojana“. 26 unveröffentlichte Originalbriefe. Ge- plant ist eine analoge Abteilung „Dostojana“.

Betreffs der Titel „Polygraphie, Philosophie, Recht, Poli- tik, Gesellshaften und soziale Institutionen, Pädagogik, Ethnographie, Philologie, exakte Wissenschaften, ange- wandte Wissenschaften, schöne Literatur, Literatur- wissenschaften, Geschichte, Rossica, revolutionäre Be- wegung in Rußland, Archäologie, Geographic, Biogra- p hie“ muß an dieser Stelle die Verweisung auf die Ročenka“ genügen. Aller- dings wird derjenige, der nur auf ihre sachlichen Angaben angewiesen ist, sich schwerlich den überwältigenden Eindruck vorstellen können, den z. B. die der Geschichte Peters d. Gr. gewidmete, allein 20 Bücherbretter einnehmende Sonder- abteilung in dem Betrachter erweckt. Die so stark durchgeführte Gliederung be- weist das Bestreben, ein universelles Studium aller Erscheinungen des russischen Lebens zu ermöglichen. So hat man denn auch nicht verabsäumt, eine reiche Kollektion von Übersetzungen fremder Werke ins Russische anzulegen, so daß

auch die Beeinflussungen, denen die russische Kultur ausgesetzt war, möglichst klar erkennbar werden.

Jugoslavische Abteilung.

Von serbokroatischen Periodicis sind in Ergänzung der Angaben der »Rotenka“ noch zu nennen: die seltene „Danica Ilirska“ (Jahrg. 1886—40, 1845, 1849, 1858); der von Rački, Jagić und Torbar hrsg. „Književnik“ (komplett); komplett ferner „Glasnik Srpskog Ulenog Društva“ und „Glasnik Društva Srpske Slovesnosti (nah gegenwärtiger Orthographie; dieser Titel schreibt „glasnik“ noch mit „Jer“ am Schluß und „srbske“). Veiter: „Neven“ (Zagreb) Bd. I—VII und „Nada“ 1895—1908. Von Einzelraritäten sei wenigstens das „Gazophylacium“ des Belostenec 5 Zagreb 1740, genannt. Zum kostbarsten Besitz der gesamten Slov. knih. aber gehört, wie schon erwähnt, die Sammlung slovenischer Periodica (in der „Ročenka“ noch nicht genannt). Es sind komplett vorhanden: „Novice“, „Drobtinice“, „Slovan“, ,,Jezitnik, „Voditelj“, „Rimski Katolik“, „Mitteilungen des historischen Vereins für Krain“, „Kres“, „Zvon“ (Hrsg. Stritar), „Zora“, „Slovenka“, die bis heute noch erscheinenden Zschr. „Ljubljanski Zvon“, „Cas“, „Časopis za zgodovino in narodopisje“ und „Dom in Svet“; weiter komplett „Pedagoški Letopis“, „Sbornik matice Slovenske“, „Slovenski Glasnik“ (Hrsg. Janežič), „Katoliški Obzornik“, „Omladina“, „Carnı- ola“ (i. e. izvestja muzejskega društva za Kranjsko), „Slovenski Branik“, „Veda“, „Mitteilungen des Musealvereins für Krain“, „Mentor“, „Popotnik“ (komplett in 49 Jahrgangen!), „Planinski Vestnik“, „Knezova in Splošna Knjižnica“. Von ` slovenischen Einzelraritäten sei an erster Stelle die äußerst seltene Hrensche Aus- gabe der „Evangelia inu listovi von 1612 genannt, ferner Gutsmanns „Deutsch- windisches Wörterbuch“ von 1789 und seltene Bibelübersetzungen von Japel und Kumerdej vom Ende des XVIII. und Anfang des XIX. Jahrhunderts.

Wenn wir die polnische Abteilung 555 kurz behandeln, so tun wir das deshalb, weil der deutsche Leser unserer Ausführungen die nicht un-

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beträchtlichen Schätze der Slov. knih. an alten Polonicis größtenteils auch in der Preußischen Staatsbibliothek vorfindet, wogegen dem Mangel an Periodicis nament- lich aus dem XIX. hdt. auch durch die Bestände der Slov. knih. einstweilen nicht abgeholfen wird. So waren Periodica von größter geistesgeschichtlicher Be- deutung wie „Ziewonja“, „Irzeci Maj“, „Mioda Polska“ (klerikales Emigrations- organ), der Lemberger „Dziennik Literacki“, das Krakauer „Zycie“, die „Krytyka“ und die „Chimera“ zur Zeit meines Besuches entweder gar nicht oder nur Kier mentarisch vorhanden; auch die „Biblioteka Warszawska“ war im Gegensatz zur Pr. Staats-Bibl. nicht vollständig. Mit Genugtuung begrüßt man dagegen den „Czas“ (komplett 1848—1911) und eine fast ale „Wisła“. An alt- Inischen Drucken zählte ich 152 aus dem XVI. und 290 aus dem XVII. Ihdt. tarowolski, Orzechowski, Cromer, Bielski sind gut vertreten, auffallend schwach dagegen Długosz. Als Rarissimum gilt „Epistolarum Turcicarum variorum et diversorum authorum libri V“, Frankfurt a. M., 1598, ein allerdings auch in der Pr. Staats-Bibl. vorhandenes Stück. Nicht vorhanden ist in Berlin die als Unikum bezeichnete „Apologia“ des Ostrorodus. Infolge des Erwerbs von historischen Spezialbibliotheken ist die polnische Abteilung sehr reich auch mit Werken zur gemeinen Geschichte, insbesondere zur schwedischen Wasazeit, versehen.

Betreffs der restlichen Abteilungen der Slov. knih. sei wieder die Verweisung auf die „Ročenka“ gestattet. Die absichtliche Kleinhaltung der {ehoslova- kischen Abteilung ist nach dem, was eingangs über die Anschaffungspolitik der Slov. knih. gesagt wurde, so selbstverständlich, daß der darauf vorbereitete Be- sucher bei der NN von den doch vorhandenen Beständen eher angenehm 5 ist; allerdings fehlen in dieser Abteilung die besonderen Glanzstücke

er anderen.

Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die Slov. knih. in allererster Reihe mit dazu beitragen wird, daß Prag sich immer mehr zu einem slavistischen Forschungszentrum von höchster Bedeutung, namentlich für die nicht auf eine Nation beschränkte Slavistik, entwickelt. Sie wird auch den deutschen Slavisten zu häufigen Besuchen in Prag veranlassen, zumal jetzt, nach der Begründun der „Deutschen Gesellschaft für slavistische Forschung“, die in ihm das Bewußtsein stärken mag, sich auch in den Räumen der Slov. knih. nicht als verirrter ein- zelner Gast, sondern als Mitglied einer immer stärker werdenden Berufsgemein-

schaft zu fühlen.

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III LITERATURBERICHTE

DIE „BIBLJOTEKA NARODOWA“

Von Dr. Otto Forst- Battaglia.

Wer auch nur flüchtig mit polnischer Literatur oder Geschichte sich beschäftigt hat, der kennt die handlichen Bände der ,,Bibljoteka Narodowa“. Mit dieser groß angelegten Sammlung von vorzüglich edierten Texten repräsentativer Werke, zu denen sıch seit einiger Zeit auch Anthologien von Quellen zur polnischen Geistesgeschichte ge- sellen, hat Polen nicht nur ein unschätzbares Hilfsmittel für den Unterricht, sondern auch einen segensreich wirkenden Kulturfaktor empfangen. Nach einem methodischen Plan, dessen Grundzüge vom Leiter der „Bibljoteka Narodowa“, dem verdienten Historiker der Pädagogik und der Reformation Prof. Stanisław Kot, stammen, wird das gesamte Schrifttum Polens, soweit es sich um Werke bleiben- den oder wenigstens typischen Wertes handelt, in billigen Ausgaben der Öffentlichkeit erschlossen.

Der Vergleich mit ähnlichen Bücherreihen in anderen Ländern und mit früheren wesensverwandten Serien in Polen drängt sich auf. Gegenüber den Reclamschen Heften zeichnet sich die „Bibljoteka Narodowa“ durch größere Sorgfalt in der Textkritik, durch die prin- zipielle Beigabe von Einleitung und Kommentar und durch strengere Auswahl vorteilhaft aus. Sie steht gegenüber der deutschen Samm- lung an Umfang weit zurück, blickt sie doch erst auf knapp zwölf Jahre unter schwierigen Verhältnissen entfalteter Tätigkeit zurück. Sie schaltet ferner Werke, die nicht eigentlich zur Schönen Literatur gehören, grundsätzlich aus und sie stellt die nationale Literatur in den Vordergrund. Neben 121 Bänden der Polnischen Serie sind erst 56 der ausländischen erschienen. Das ist jedoch unter den in Polen herrschenden Umständen nicht zu rügen. Dort lesen an und für sich die gebildeten Kreise fließend deutsch und französish. Seit dem Weltkrieg macht die Verbreitung des Englischen große Fortschritte. Die „Bibljoteka Narodowa“ beschränkt sich also darauf, einmal klassische Werke in polnischer Übertragung zu geben, dann aber

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französische, deutsche, englische, italienische Schöpfungen zu bringen, die entweder in der Schule auch von der Fremdsprache noch nicht genügend Kundigen gelesen werden oder aber Texte von Essais philosophischen Schriften mit gutem Kommentar den nach rascher Orientierung verlangenden Laien zu bieten. Wir haben uns hier mit der zweiten ausländischen Serie der „Bibljoteka Narodowa“ nicht weiter zu beschäftigen, obzwar auch in ihr sich Bände finden, die durch Einleitung z. B. die Sophoklesbearbeitungen von Kazimierz Morawski, die Shakespeare-Dramen in der Ausgabe durch Andrzej Tretiak, die Frankreich. Bande von Boy-Zelenski, die Homer-Edition von Tadeusz Sinko, die Plautus-Ausgaben von Gustav Przychocki, die „Bekenntnisse“ des hl. Augustinus mit der Studie von Jerzy Kowalski grofe wissenschaftliche Verdienste haben.

Den eigentlihen Wert der Sammlung erblicken wir in der noch nie zuvor mit der gleichen Energie begonnenen und durch- geführten systematischen Schaffung einer Bibliothek polnischer Dich- tung und Geistesgeschichte. Hier übertrifft sie schon jetzt das Reclamsche Unternehmen, das relativ weniger wesentliche Werke der neueren deutschen Literatur enthält. Sie übertrifft alle mir bekannten französischen Sammlungen deren Einleitungen meist mit denen der „Bibljoteka Narodowa“.keinen Vergleich vertragen und aufs kläg- lichste ausgestattet sind —. Sie besteht in Ehren neben den präch- tigen englischen Reihen, denen sie offenbar nachgebildet wurde, und sie wird auch neben der vom Österreichischen Bundesverlag in An- griff genommenen, den Kürschnerschen Bücherschatz zeitgemäß er- neuernden Bibliothek deutscher Autoren bestehen können. Vor deutschen und englischen Rivalen zeichnet sich die polnische Samm- lung durch den sehr niedrigen Preis aus, der dem ne Massenwirkung ausgehenden Unternehmen erst sein segensreiches kulturelles Walten ermöglicht.

Der Forscher wird diese Vorzüge der ,,Bibljoteka Narodowa“ zunächst mit einer gelinden Skepsis vernehmen. Sind sie nicht auf Kosten des wissenschaftlichen Ertrages errungen worden? Hier nun liegt das Geheimnis eines auf dem ehrenvollsten Weg erzielten Er- folges: Die Qualität hat der Quantität als Vorspann gedient. Den an und für sich beklagenswürdigen polnischen Honorarverhältnissen danken wir es, daß trotz des geringen Preises philologisch muster- gültige Texte, Einführungen aus den berufensten Federn vom Verlag den Lesern geboten werden konnten. Die Zahl der ausgezeichneten Leistungen ist beträchtlich. Fast stets ist ein sehr anständiges Durch- schnittsniveau überschritten und nur selten interdum dormit Homerus sind Fehlgriffe zu beklagen. Dadurch unterscheidet sich die „Bibljoteka Narodowa“ rühmlich von ihren Vorgängerinnen, wie der ,,Bibljoteka Polska“ J. K. Turawskis, der Zuckerkandlschen „Bibljoteka Powszechna“. Die mit schwer gelehrtem Rüstzeug an- rückenden Buchreihen der Akademie der Wissenschaften Bibljoteka pisarzów polskich, die Bibljoteka zapomni anych poetów i prozaiköw polskich des verstorbenen Warschauer Achivdirektors Wierzbowski

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enthalten zumeist verschollene Werke. Nur in der neuerdings vom Verlag „Bibljoteka Polska“ herausgegebenen „Wielka Bibljoteka“ ist ein nicht gefährlicher Rivale auf den Plan getreten. Hier kann auf die ersten hundert Bände der Krakauer Sammlung nur kurz hin- gewiesen werden. Sie enthalten an Meisterwerken der polnischen Literatur Jan Kochanowskis „Ireny“ und die „Abfertigung der griechischen Gesandten“, die Reichstagspredigten von Piotr Skarga, Mickiewiczs „Pan Tadeusz“ in einer grundlegenden Ausgabe von Stanisław Pigoh —, die „Totenfeier“, „Wallenrod“, „Grażyna“, die „Bücher des polnischen Volks und der Pilgerschaft“, Krasinskis „Un- göttliche Komödie“, „Irydjon“, „Przedświt“, von Juljusz Słowacki mehrere der schönsten Dramen wie „Balladyna“, „Kordjan“, ,

Weneda“, „Der silberne Traum Salomeens“, dann „Anhellı“, „Beniowski“, „Drei Poeme“, Malczewskis „Marja“, Fredros „Rache“ und „Mädchenschwüre“, endlich eine Auswahl Norwidscher Dich- tungen. Sehr nützlich sind ferner Anthologien wie die des polni- schen Volksliedes von Bystroń, des polnischen Sonnetts von Fol- kierski und vor allem die der mittelalterlichen polnischen Literatur von Aleksander Brückner und Vrtel-Wiercczynski. Mit Vergnügen empfingen wir die aus der Vergessenheit hervorgeholten und noch heute aus den verschiedensten Griinden lesenswerten Vertreter des älteren polnischen Romans, von der „Anmutigen Pasqualina“ Twar- dowskis über Krasickis „Do$wiadczynski“ bis zu Czajkowski, Korzeniowski und Kraszewski, Henryk Rzewuski und Walery Lozinski. Ausgezeichnet sind die Bande, in denen uns Quellen zur polnischen Geschichte und Kulturgeschichte vorgelegt werden: eine Schulausgabe des sogenannten Gallus, ein Extrakt aus Diugosz, eine Auswahl der Schriften des Copernicus, die Denkwürdigkeiten des Pasek, politische Traktate von Stanistaw Konarski und Staszic, eine Auswahl aus Towiahski, kritische Abhandlungen von Brodzifski und Mochnacki, Artikeln Mickiewiczs aus der revolutionären Epoche. Einige Bände hätten wir nicht ungerne vermißt. Und wir vermissen dafür schmerzlich andere, wesentliche Werke der polnischen Lite- ratur. Doch kommt Zeit, kommt Rat. Um nicht ungerecht zu sein, müssen wir auch das Programm beachten, dessen Ausführung uns der Verlag für die nächsten Jahre ankiindigt. Wir haben, von den noch zu besprechenden Bänden 100—121 abgesehen, u. a. folgen- des zu erwarten: Anthologien zur mittelalterlichen Kulturgeschichte von R. Grodecki, Jan Dabrowski, St. Arnold, K. Dobrowolski, den Kadtubek und die Chronik des Jan von Czarnköw, Modrzewskis „de emendanda republica“, Orzechowskis „Politische Dialoge“, die sogenannte Eulenspiegelliteratur in der Bearbeitung durch Aleksander Brückner, Sarbiewskis „Gedichte“, Lukasz Opalinskis „Polnische Schriften“, Krasickis „Fabeln“, die „Myszeis“ und die „Satiren“, Aus- wahl aus Wegierski und Knia:nin, die Maiverfassung, herausgegeben von St. Estreicher, Schriften Kosciuszkos, Sniadeckis, Ausgewählte Erzählungen Niemcewiczs, Dichtungen von Woronicz, Politische Abhandlungen, den Cours de littératures slaves und Briefe Mickie-

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wiczs, von Słowacki die Lyrik, „König Geist“, „Zborowski“, die „genetischen“ Schriften und „Briefe“, Norwidsche Prosa in Auswahl, mehrere Romane von Kraszewski, Czajkowski, Kaczkowski, Antho- logien über Galizien unter altösterreichischem Regime, den „Völker- hung; die Bauernfrage im 19. Jahrhundert, die polnische Histo- riographie von Naruszewicz bis zu den Stanczyken, den Warschauer Positivismus und die polnische Novelle.

Für ziemlich überflüssig halte ich, solange nicht die gleich zu er- örternden wichtigeren Lücken beseitigt sind, die Fredroschen Komödien zweiten Ranges die der großen Öffentlichkeit nicht nötig sind und dem Fachmann in der Fredro-Ausgabe des Osso- lineums zugänglich wurden —, die Flut von Kraszewskischen Erzäh- lungen, die von der „Bibljoteka Narodawa“ getrost einem Warschauer Konkurrenzunternehmen zu überlassen wären. Was noch fehlt und als dringendster Wunsch angemeldet sei, umfaßt etwa dieses Ergänzungsprogramm: einen vollständigen polnischen Długosz, Ostroróg, Vervollstindigung des Rej gewidmeten 40. Bandes, einen Sammelband über die religiöse Pamphletliteratur des 16. Jahrhunderts, Morsztyn diese Forderung sei energisch er- hoben —, Kollataj (etwa im Rahmen einer Anthologie des polni- schen revolutionären Gedankens und der Aufklärungsliteratur, in der auch Turski, die „Schmiede“ Kollatajs, Stanislaw Potocki ver- treten sein sollten), Zorjan Dolega Chodakowski, Niemcewiczs „Spiewy historyczne“, Auswahl aus Hoene-Wrohski, Kremer, EEN Gołuchowski, Cieszkowskis „Ojcze nasz“, Auswahl aus Klazko, Kalinkas ,,Galicja i Kraków“, Szczepanowskis „Nedza Galicji“, die beiden Stücke Maleckis, Kaczkowskis Spätromane, eine treffsichere Auswahl aus dem Werk Deotymas, einige Stücke Szujskis, die „Brüder Lerche“ von Asnyk, einiges von Balucki, Lubowski, Narzymski, Blizinski (als Fortsetzung der mit den „Gruby ryby“ und „Pan Damazy“ begonnenen verheißungsvollen Anfänge). Da die „Bibljoteka Narodowa“ mit einigen Bänden, wie den weiter unten zu besprechenden Dichtungen von Kasprowicz und den an-

ekündigten Nowickis bis auf die jüngste Vergangenheit reicht, so Essen wir auch die Bitte wagen, zwar nicht die von großen Ver- legern in billigen Ausgaben immer wieder auf den Markt geworfenen Romane von Prus, Sienkiewicz, der Orzeszkowa, von Reymont und Zeromski, die Dichtungen der Konopnicka, die Dramen von Wyspianski, doch andere, sonst zur Vergessenheit bestimmte oder im Buchhandel schwer aufzutreibende und schon zur historischen Be- trachtung reife Werke aufzunehmen. Ich denke da an die Romane von Jez-Milkowski, Dygasyhski, Zacharjasiewicz, Plug, an einige der Meisterdramen der Zapolska, an Rydels „Zauberkreis“, eine Auswahl aus Niemojewski, eine der besseren Erzählungen von Danilowski, 3 von Tetmajer, Miriam, Lange, mehreres von Przy- byszewski. Als Quellensammlungen wären je ein Band über die polnischen Magnaterja, über die Juden in Polen, über die Katholische Kirche, über die Mloda Polska zu empfehlen. Das ist ein vor-

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läufiger Wunschzettel, der dem Eifer Professor Kots und der Krakowska Spółka Wydawnicza noch weiten Spielraum läßt.

Wenden wir uns indes, nachdem wir die Vergangenheit in Ge- stalt der ersten hundert Bände und die Zukunft der ,,Bibljoteka Narodowa“ erörtert haben, der Gegenwart, das heißt der Produk- tion von drei eben dahingeschwundenen Jahren zu.

Prof. Taszycki') hat die ältesten poln. Sprachdenkmale ge- sammelt. Die 1 Mikolaj Rejs bildet die Grenze, von der ab das moderne Polnisch beginnt, dem Taszycki eine zweite, ebenfalls vor- treffliche Anthologie „Wybór tekstów staropolskich XVI—XVIII wieku“. Lwów, K. Jakubowski, 1928 gewidmet hat. In dem E Buch sind 28 typische Beispiele vereinigt, die als Belege für die in einer konzisen Einleitung vorgetragenen Ansichten Taszyckis über die charakteristischen Eigentümlichkeiten des älteren Polnisch dienen können, den gebildeten Laien und den Anfänger auf dem Gebiet der Polonistik auf das monumentale Werk von Jan Los, die „Początki piśmiennictwa polskiego“ vorbereiten und in Deutschland die zu ähnlichen Zwecken gebrauchten „Altpolnischen Sprachdenkmiler“ Nehrings ersetzen sollten. Jede einzelne Nummer ist mit historisch-sprachwissenschaftlichem Kommentar versehen, der lateinische von polnischen Ausdrücken unterbrochene, beziehungs- weise der altpolnische Text ist in der ursprünglichen und in einer modern polnischen Fassung abgedruckt, oder aber zahlreiche Fuß- noten ermöglichen das Verständnis des Originals. Wir haben da, angefangen von der berühmten Papstbulle von 1136 und der Bogu- rodzica, von den Heiligenkreuzer Predigten und dem St. Florianer Psalter bis zu den Glossaren, den Hofrechnungen, den Wörter- verzeichnissen des 15. Jahrhunderts, bis zu dem hübschen Liebesbrief und der Bibel der Königin Sophie, zum Statut von Wislica und dem Traktat des Parkoszowic über die Rechtschreibung eine mannig- faltige Auswahl des Wichtigsten oder Typischen. Vielleicht hätte Taszycki in den Einleitungen auch auf kontroverse Datierungen hin- weisen können. Wenn er die „Bogurodzica“ einfach aus der Zeit um 1300 datiert, so wäre es eher ratenswert gewesen, den Leser mit einigen Worten von der lebhaften Kontroverse über diese National- hymne zu unterrichten. Auch in der allgemeinen Einführung wird man muß sich vor Augen halten, daß Laien und Studenten das Hauptkontingent des Autors sind mitunter die wahrscheinliche Hypothese zu ausschließlich vorgetragen, 2. B. wenn sich Taszycki aufs engste an Niederle anschließt und von den zahlreichen Theo- rien über die slavischen Anfänge nur eine erwähnt. Ohne mich irgendwie für eine bestimmte Meinung auszusprechen, darf ich wohl auch bemerken, daß dem polnischen Leser wenigstens über die ab- weichende Ansicht der deutschen Forschung in der Kaschubenfrage ein Wort gesagt werden könnte. Vortrefflih sind die aus dem

1) Nr. 104. Witold Taszycki: Najdawniejsze zabytki języka polskiego. 1927. XLIV u. 150 S. Vgl. J. Łoś, Jezyk Polski 18, 25 ff.

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Vollen schöpfenden Zusammenstellungen über die Eigentümlichkeiten der polnischen Sprache bis zum 16. Jahrhundert, sind weiter die knappen Seiten über die Orthographie, die Phonetik und die Mor- phologie —, im wesentlichen auf Lo$ und seiner klassischen großen Grammatik beruhend, haben sie dennoch viel aus der eigenen Forschung Taszyckis sich bereichert. Als bedauerliche Lücke emp- finde ich den Mangel einer rudimentären Einführung in die Syntax. Zur Auswahl der Sprachdenkmäler hätte ich nur die Anregung zur Aufnahme einer Aufschwörung zu geben, welche Quellenart sehr instruktiv für die zeitgenössische Sprachentwicklung ist. Daß sich die Erläuterungen zu den einzelnen Stücken oft an der Grenze des unfreiwillig Komischen befinden, liegt in der Natur der Sache be- gründet. Armer Liebesbriefschreiber, der an seine Panna namilejsza aus Szamotuły heiße Sehnsuchtsworte „weysszzrode“ schrieb: wie hattest du es ahnen können, daß ein halbes Jahrtausend später deine Altersgenossen als einzige Bemerkung dazu sehen werden: „weysszrode, man kann entweder we $rzode oder we jérzode lesen. Im zweiten Fall hatten wir es mit „uprzedniem pojawieniem sie palatalności“ zu tun ... Als Ploetz auf dem Sterbebette lag, wandte er sich zur weinenden Familie: „Je meurs“ oder man könnte auch sagen „Je me meurs“ ... Und wir könnten sagen „Grandeur et misere de la vie philologique“. Doch Taszyckis Buch ist ein nütz- liches, ehrenwertes Buch. Das sind sie ja alle, die philologischen Textsammlungen, nützlich und ehrenwert!

Und sie sind manchmal vom Zauber des erläuterten Dicht- werkes so sehr getränkt, daß schon die Einführung vom Schimmer des poetischen Mysteriums beglänzt wird, in das sie uns geleitet. Ein schönes Beispiel hierfür bietet uns Tadeusz Sinko mit seiner Auswahl Kochanowskischer Lyrik.“) Sie knüpft an desselben Gelehrten Be- arbeitung der „Ireny“ an, erzählt in glänzendem Stil des Poeten Jugend und schriftstellerische Tätigkeit, schildert die Atmosphäre der polnischen Renaissance, das Hofleben und die dem doppelten Antlitz der Epoche, ihrem heidnisch-heiteren und christlich-ernsten, zugekehrte Dichtung der „Fraszki“ und des „Psalter“. Wir be- kommen dann ein edel abgerundetes Bild der herrlichen Lyrik Kochanowskis in ihrem erotischen, geselligen, die Natur betrachten- den, patriotischen, religiösen und philosophischen Gehalt. Sinko ist, wenn wir die Distanz in den Größen wahren, ein Kochanowski kongenialer Mensch: vom Geist der Antike gesättigt und doch der lebendigen Gegenwart verbunden. Er ist nicht nur Gelehrter, sondern auch Künstler und beweist beides in seiner biographischen Studie, ın seinen Exegesen. Daß er es mitunter auch durch bereit- willige Gefolgschaft an die rege Kombinationsgabe bekundet, wer

2) Nr. 10. Jan Kochanowski: Pieśni i wybór drobnych wierszy. se von Tadeusz Sinko. 1927. LXXIV u. 208 S. Vgl. I. ns ach, Ruch Literacki 8, 80 f., J. Krzyżanowski, Przegląd Współczesny

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möchte es ihm veriibeln? Will man von der augenblicklichen Meinung über Kochanowskis Leben und Leistung zureichende Vor- stellung gewinnen, dann muß eben Sinkos Deutung mit den Lebens- abrissen Aleksander Brückners in der Einleitung zur Kochanowski- Ausgabe der Bibljoteka Polska (Warszawa 1924), mit der neuen, prächtigen Monographie Stanislaw Windakiewiczs (Jan Kochanowski. Krakéw 1930) und mit mehreren Aufsätzen, Schriften M. Hartlebs verglichen werden. Dann bleibt es dem Leser freigestellt, sich über so kontroverse und trotz allem noch unentschiedene Fragen, wie über die Verknüpfung Kochanowskis mit der italienischen Petrarca und mit der französischen Ronsard seine eigene Ansicht zu formen. Die Auswahl Sinkos ist sehr glücklich getroffen. Sie um- faßt die „Zgoda“, den „Satyr“, den „Proporzec“ ausgelassen Zeile 163—214 —, die „Musen“ kleine Abkürzung —, aus den „Fraszki“ 46, große Bruchstücke des „Psalters“, die „Pieśni“ (darunter die „Johannisfeier“, das in Polen allgekannte „Czego chcesz od nas, Panie, za Twoje hojne dary?), 21 „Fragmente und eine von Juljan Ejsmond verfaßte vorzügliche polnische Übertragung des lateinischen Streitgedichts „Gallo crocitantı“. In den Anmer- kungen hätte ich gerne auch kurzen Hinweis auf die Nachwirkung des betreffenden Stückes, nicht bloß seinen, meist lateinischen, Ur- sprung gelesen. Wie viel sagte uns etwa die Parallele zwischen nCzego chcesz ...“ und dem Krasinskischen „Wszystko nam es 7!

Die Sinkosche Edition des erst neuerdings zu Ehren gelangten Lyrikers Sęp-Szarzyński’) zeigt die gleichen Qualitäten wie die Kochanowskis. Nur daß hier der Kombination und der Polemik noch mehr Raum bleiben. Über den Dichter, Kochanowskis Schüler und Antipoden zugleich, wissen wir wenig Authentisches. Ein be- trachtlicher Teil der ihm zugeschriebenen Verse wird von Sinko gegenüber Brückner, ihrem Entdecker, und Chrzanowski, ihrem Herausgeber, in ihrer Urheberschaft bestritten. Wir finden sie als „Liebesgedichte eines Anonymus in dieser Ausgabe wieder.

Mit weniger Temperament, mit nicht geringerer Kompetenz und infolge des besseren Quellenmaterials mit mehr zuverlässigen Resul- taten ist Professor Pollak, der polnische ,,Kulturattaché“ in Rom, an seine musterhafte Edition des „Dworzanin“ Görnickis ge- schritten.“) Wir haben zunächst den sorgfältigen Text zu rühmen, der sich an die Erstausgabe anlehnt, aber deren offenbare Druck- fehler und Versehen korrigiert. Die umfängliche Einleitung hat ihren eigenen, hervorragenden Wert. Pollak zeichnet ein lebens-

2) Nr. 118. Mikołaj Sep Szarzyński: Rytmy oraz anonimowe pieśni i listy mitosne z XVI e Herausgegeben von Tadeusz Sinko. 1928. XXXVI u. 128 S. Vgl. M. Hartleb, Pamiętnik Literacki 26, 291 ff., L. Kamy- kowski, Ruch Literacki 4, 21 f.

) Nr. 109. Lukasz Górnicki: Dworzanin polski. Herausgegeben von Roman Pollak. 1928. LXXVI u 428 S. Vgl. M. Brahmer. Pamietnik Literacki 26, 283 ff.

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volles Gemälde der gesellschaftlichen Zivilisation in Italien und Polen. Er stellt die beiden voneinander so verschiedenen Welten einander gegenüber, die unter den letzten Jagellonen in den engsten Kontakt traten. Der ,,Cortegiano“ des Castiglione und sein, übrigens nicht nur dem einen Beispiel nacheiferndes, polnisches Gegenstück, der „Dworzanin“ Génickis, lassen uns die Kluft zwischen den beiden Nationen klar erkennen. Hier die raffinierte Übersättigung, das durchgeistigte Eros, die Herrschaft der Frauen und des Salons, dort erst frisch übertünchte Rauheit und Ehrbarkeit einer Gesellschaft von Männern. In der Sprache, im nach jeder Hinsicht durchbildeten Italienisch des Cinquecento und im mühsam zur Eleganz ge- zwungenen Polnisch des Sigismundischen Zeitalters, spiegelt sich der Gegensatz nochmals wider. Pollak hat das alles sehr fein und klug ezeigt. Doch es müßte erst ein Schriftsteller von der Art Boy-

lehskis her, um das Problem in seiner ganzen Tiefe und Viel- fältigkeit zu entschleiern, das im Grunde ein sexualgeschichtliches ist. Und ein religionsgeschichtliches dazu.

Wie wenig der Import fremder Sitten und Sittenlehren, fremder Sittenlehrbiicher und Sittenlehrer am polnischen Charakter geändert hat: die sächsischen Zeiten tun es dar, deren Aspekt uns von Feld- man in einer wunderhiibschen Quellenpublikation vor Augen ge- führt wird.“) Sie gewährt uns die Möglichkeit besser als durch die Lektüre dickleibiger Werke festzustellen, wie sehr sich die an ihre Scholle geheftete Masse der mittleren und unteren Szlachta der Bürger und Bauern zu geschweigen gegen die Einflüsse des faulen Westens strãubte. Feldman, der sich um die Erhellung der polni- schen Barock-Epoche unschätzbare Verdienste erworben hat, breitet eine Fülle von Zeugnissen vor uns aus und schickt ihnen eine treff- lich zusammenfassende Einleitung voraus. Es scheint mir freilich, daß er da zu rosig sieht und sein eigener Text gegen den Interpreten recht behält. Die „Rettung“ der Sachsenzeit ist Feldman hier, wie in anderen Abhandlungen, insoweit gelungen, als er die schon damals starken Strömungen nachweist, der polnischen Anarchie und Unkultur zu steuern. Allein, daß es nur Magnaten, bei der sarma- tischen Menge als Verräter verschriene, als Deutsche oder Französ- linge verhaßte große Herren waren, die der einfältigen Seligkeit im Stil des Kitowicz, des Matuszewicz und des P. Majchrowicz ein Ende machen wollten, geht auch auch aus diesen von Feldman sorg- sam und objektiv gesammelten Extrakten hervor. Bei der kom- pakten Mehrheit sieht es nicht anders aus wie bei ihren Ahnen, Cie Görniki durch den ,,Dworzanin“ europäisieren und verfeinern wollte. Unbeholfenheit der Sprache, Einfalt der Gesinnung, Aber- glauben, Freude am groben Scherz, Streitsucht, Einsperrung der

6) Nr. 110. Józef Feldmann: Czasy saskie. Wybór zrödel. 1928. XXXVI u. 256 S. Vgl. VI. Konopczynski, Kwartalnik Historyczny 48, 1, 259 f., St. Bednarski, Przegląd Powszechny 179, 153 f., M. Piszczewski, Pamiętnik Literacki 25, 880 f.

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Frauen ins Gynäzäum, tyrannısche Gewalt über Kinder und Haus- gesinde vereinigen sich mit einem mehr in Ablehnung des Anderen als in opferbereiter Treue zum Eigenen bestehenden Traditionalis- mus zu dem, was die „echten Polen“ den Neuerern als kostbares Vätererbe entgegengehalten. Diese anderen aber sind die Wenigen, bei denen stets der Verstand gewesen ist; sind die sittlich oft ihren dümmeren Gegnern unterlegenen Oligarchen Szczuka, Dunin Kar- wicki, Leszczyński (der König!), Antoni Potocki, Poniatowski (der Vater des Königs!), Sierakowski, endlich der Kolligat und Klient der „Familie“ Konarski ... Feldman hat die mannigfachsten Quellen zu seiner Anthologie herangezogen: Memoiren von Stanisław August, Moszczehski, Matuszewicz, Wybicki, Streitschriften, Er- bauungsbücher, die berühmte Enzyklopädie des Benedykt Chmie- lowski „Nowe Ateny“, Briefsteller, Reden, Gesandtschaftsberichte und Aufzeichnungen fremder Reisender. Einige Lücken blieben. So mangelt es an Darstellungen des Hoflebens unter August III. und Brühl. Es sollte m. E. je eine Charakteristik des Königs, der Königin, Brühls, Mniszechs, der Häupter der Familie und der Potocki eingerückt werden. Dazu eine Schilderung der typischen Hofjagden, ein Besuch des Königs in der Kapelle. Ich möchte ferner aufgenommen sehen: die Beschreibung einer Schulfeier bei den Piaristen, eines Unterrichts bei den Jesuiten, einen Ketzer- oder E die Beschreibung eines Interieurs in polnischen Bürger- reisen. Unter den Literaturbeispielen darf doch der unsterbliche Baka nicht fehlen. Eine Poesie des Phönix Radziwill gehört zum Gesamtbild und aus der Vorrede zu den Tabulae Jablonovianae abe es einen hübschen Passus zu zitieren. Ein völlig vernach- assigtes Gebiet, die eigentliche Sittengeschichte, also die Beziehungen der Geschlechter, ist in Polen noch heute Tabu. Deshalb darf man Feldmann keinen Vorwurf machen, wenn er uns garnicht mitteilt, wie man in jenen fernen Tagen liebte. Quellenmaterial gäbe es immerhin genug, um alle die hier gestreiften Themen zu illustrieren. Dafür könnten ruhig die meisten Zitate aus den Reformschriften wegbleiben, die alle einander ähneln und so wenig für das Virkliche von einst bezeigen. |

Konopczynskis Quellenbuch zur Barer Konförderation“) hat den unleugbaren Vorzug, daß es die Tatsachen allein sprechen läßt und polemische Schriften nur insofern beachtet, als sie Ansichten von maß- gebenden Faktoren der geschichtlichen Entwicklung uns enthüllen. Das ist nicht der einzige Wert dieses Bandes, der wohl das wichtigste und beste bedeutet, was bisher über die chaotischen Jahre der polni- schen Anarchie veröffentlicht wurde. Vorläufer einer seit geraumer Frist angekündigten Geschichte der Barer Konföderation, zu der Konopczynski seit 20 Jahren in ganz Europa die ungedruckten

©) Nr. 102. Wiladystaw Kénopczyhski: Konfederacja barska. Wybór tekstów. 1928. XLVI u. 216 S. Vgl. J. Feldman, Przeglad Powszechny 177, 226 f., M. Piszczkowski, Pamietnik Literacki 25, 881, Selbstanzeige Vl. Konop- czynskis, Kwartalnik Historyczny 48, 2, 142 f.

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3 H— =- .

n sammelt ich bin seinen Spuren in fast allen Archiven Mitteleuropas und Frankreichs begegnet, die Material iiber Polen bergen —, besteht dieses Buch zum überwiegenden Teil aus Archi- valien. In der Einleitung zählt der Autor selbst die Fundstätten seines Materials. auf. Er skizziert aus souveräner Kenntnis auch der kleinsten Einzelheiten heraus den Gang der polnischen Erhebung von 1768 bis 1774. Er tut endgültig eine Anzahl eingewurzelter Irr- tümer zum alten Eisen: die etwa, es sei die Konföderation ein Werk des blinden katholischen Fanatismus gewesen oder sie hätte sich der Verfassungsreform der Czartoryski prinzipiell entgegengestellt. Konopczyhski schildert in klaren Worten die historische Bedeutung der bewaffneten Tat, die vielleicht kein subjektives, jedenfalls ein objektives Verdienst derer war, die sie entfesselt hatten. Er unter- sucht ferner aufs feinfühligste, wie sich die Ideologie und die Praxis der Konföderation als Ergebnis der widersprechendsten und einander feindlichsten Einflüsse erweist. Wir sehen eifrige Neuerer und ver- zopfte Sarmaten, westelnde Große Herren und Adelsproletarier, An- hanger der Czartoryski und deren Feinde, tiefgläubige Katholiken und Freimaurer, ja Protestanten Heyking! nebeneinander. Die Bewegung war eine Massenerscheinung, in der sich heroischer Opfer- mut und gemeinste Raubsucht begegneten, die für Händler, Heilige und Helden Raum hatte, der Einheit in der Leitung und in den Zielen, darum des letztlichen Erfolgs darbte. Nicht mit wünschens- werter Entschiedenheit wird die fanatische Gegnerschaft gegen Stanis- ław August als das einzige die Barer verbindende Dogma und als die Hauptursache ihres Scheiterns angegeben. Gegen die Auswahl und Edition der Quellen ist nichts einzuwenden. Nachzutragen bei einer zweiten Auflage: etwas über die Vorgeschichte des ent- scheidenden Ereignisses von 1770, des Entthronungsmanifests, und über die des von 1771, des Attentats auf Stanislaw August; als Proben ein oder zwei Kronenboten der Konföderierten, z. B. an den Land- grafen von Hessen-Kassel, je ein Brief Krasifiskis an Choiseul, einer Maria Antonias, Rußerungen Katharinas, Maria Theresias, Friedrichs über die Konföderation, noch einiges über den Streit der Ober- häupter in der Türkei, des Rezeß Radziwilts bei der Rückkehr. Bei einer kommenden Auflage darf ich wohl auch erwarten, daß Konop- czyhski den einschlägigen Abschnitt meines „Poniatowski“ beachten und die von mir in meiner Arbeit ın den „Annales Jean Jacques Rousseau“ vorgebrachten Argumente über die Entstehungszeit der den Barern geltenden „Considérations“ benutzen werde.

Weckt die imponierende Leistung Konopezyhskis Bewunderung, so wird uns die Freude an Kolbuszewskis fleißiger Zusammenstellung der in den Archiven und Bibliotheken verstreuten, sogenannten Kon- föderationspoesie,”) durch mehrere dem Herausgeber zugestoßene

7) Nr. 108. Kazimierz Kolbuszewski: Poezja barska. 1928. LH u. 848 S. Vgl. St. Dobrzycki, Ruch Literacki 8,68 f., J. Kleiner, Pamiętnik Literacki 25, 884 ff., I. Chrzanowski, Ruch Liseracki 8, 240 f., K. Zawodziński, Slowo 1928, Nr. 55, 56, Se. Kołaczkowski, Wiadomości Literackie 1928, 29.

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»Betriebsunfalle“ getrübt. Mindestens drei der abgedruckten Gedichte sind späteren Ursprungs. Eines davon ist als von Ujejski her- rührend genugsam bekannt, und es hätte durch seinen Stil Kolbus- zewski von der Einverleibung einer offenbar dem 19. Jahrhundert zuzuweisenden Kunstdichtung in eine Sammlung politischer Gelegen- heitspoesie des 18. Jahrhunderts abhalten müssen. Ein zweites zeigt deutliche Anklänge an Słowacki, ein drittes Merkmale, daß es nicht vor 1795 verfaßt sein kann. Man wird, angesichts dieser Irrungen, die nützliche Anthologie Kolbuszewskis mit Vorsicht in die Hand nehmen. Auch die Einleitung befriedigt nicht, wenn sie auch in ihrer Grundthese, daß die Barer Poesie mehr kulturgeschichtlichen und nationalpädagogischen als literarischen Wert hat, zutrifft. Krzyzanowskis Ausgabe des „Pan Podstoli‘*) erfüllt ihre Auf- gabe, ohne sich um tieferes Eingehen in die zahlreichen mit diesem repräsentativen Werk des polnischen Siècle éclairé verknüpften Pro- bleme zu bemühen. Es wäre wohl erwünscht gewesen, den fremden nationalökonomischen Theorien, die sich in diesem didaktischen Roman an das polnische Publikum wenden, nachzuspüren. Fran- zosen, Engländer, ja Deutsche haben ihren Anteil an der Muster- wirtschaft des Herrn Untertruchsess. Und in gleicher Weise böte die Forschung nach hier praktisch angewandten literarischen Theorien reiche Ausbeute. In den sehr spärlichen Anmerkungen zum Text vermissen wir ebenfalls auch die naheliegendsten Hinweise auf Re- miniszenzen die Reminiszenz ist Krasickis Kennzeichen, er ist der „polnische Voltaire“, der polnische NN, niemals nur er selbst —. Wie hübsch z. B., die erste Seite des Podstoli als Nachklang. . . des „Gestiefelten Katers“ zu erweisen! (Den Krasicki, „Minaud“ bei- genannt, so sehr liebte.) Ein anderes dankbares Feld der noch nicht begonnenen Forschung wäre das Verhältnis des Krasickischen Romans zu Krasickis damaligem Idol . . . dem alten Fritz. Nun, es ist nicht nötig, daß in der Bibljoteka Narodowa auf alles das eingegangen er wir begrüßten es aber, wenn Krzyzanowski bei einer künf- tigen Auflage auch an diese Dinge rührte. Zwei andere Literatur- denkmäler, die zugleich wichtige Quellen zur Kulturgeschichte der Poniatowski-Zeit sind, )“) haben schlechthin unübertreffliche Be- arbeiter gefunden. Niemand weiß um das polnische Theater jener Zeit bessern Bescheid als Bernacki. Der Autor so vieler Schriften und Abhandlungen über das Drama der polnischen Aufklärung schickt seiner Ausgabe des „Sarmatismus“ eine in ihrer Gedrängtheit voll-

8) Nr. 101. Ignacy Krasicki: Pan Podstoli. Herausgegeben von Juljan Krzyżanowski. 197. LXII u. 874 S. Vgl. M. Piszczkowski, Pamietnik Literacki 25, 888.

o) Nr. 106. Józef Wybicki: Życie moje oraz Wspomnienie o Andrzeju i Konstancji Zamoyskich. Herausgegeben yon Adam M. Skal- kowski. 1928. XXXIV u. 856 S. Vgl. WI. Konopczyfski, Kwartalnik Historyczny 42, 6583 ff.

10) Nr. 115. Franciszek Zabłocki: Sarmatyzm. Herausgegeben von Ludwik Bernacki. 1928. XLVIII u. 152 S. Vgl. J. Birkenmajer, Ruch Literacki 8, 276 f., M. Piszczkowski, Pamiętnik Literacki 25, 884.

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kommene Studie über ee Ve und Schauspielwesen unter Stanis- law August voran. Skalkowski, Wybickis Biograph und zusammen mit Askenazy, Konopczynki der beste Kenner der Teilungsperiode, schenkt uns die lange erwartete kritische Edition von des Autors der polnischen Nationalhymne wechselvollen Erinnerungen. Die früheren Drucke des arg verstümmelten Textes sind unbrauchbar. Erst diese vervollständigte und der Hilfe von Wybickis Ururenkel Dr. Roz- nowski vielen Dank schuldige Fassung, aus dem Vergleich von zwei Handschriften in Posner Privatbesitz und aus dem Archiv der Nach- kommen des Autors hergestellt, darf der Historiker mit ruhigem Gewissen als authentisch anerkennen. Die Einleitung Skalkowskis sieht vom eigentlich Biographischen ab, das ja in einer anderen Schrift des Herausgebers erzählt wurde. Sie schildert nur die historische Rolle des Memoirenschreibers, charakterisiert die Erinnerungen und berichtet über die Editionsgrundsätze. Literaturhistoriker werden hier das Fehlen einer sprachwissenschaftlichen Analyse beklagen. Dafür muß sich, wer politische Geschichte oder Kulturelle Entwick- lung aus Wybickis „Leben“ ablesen will, mit Skalkowskis Vorwort begnügen und für die reichen, fast stets aus dem Vollen schöpfenden Anmerkungen herzlichen Dank empfinden. Ein paar Versehen hat Konopczyhski im Kwartalnik Historyczny angemerkt, nicht ohne selbst in seinen Korrekturen sich zu irren: Traumensdorff ist nicht Trautmannsdorf, sondern Trauttmansdorff. Weiteres: unter Brakien- hof (S. 136) ist sicher der berüchtigte Held des Brenckenhoffschen Defekts“ zu verstehen. Der preußische Diplomat heißt Sandoz- Rollin, der Marschall des Kardinal Rohan aber Haraucourt (S. 130, 132).

Den von ihm publizierten Jugenderinnerungen Brodzifskis schickt A. Łucki eine durch überschwenglichen Enthusiasmus sündi- gende Einführung voraus.) Mit mehr nüchterner Kritik betrachtet Kolaczkowski die Gestalt eines Größeren. In seiner feinsinnigen Studie über den Slowackichen „Fantazy“ ') zeigt er, wie sich in dieser Tragikomödie der poetischen Irrungen und Verwirrungen, der Dichter zwischen den beiden Gegenpolen bewegt: der Romantik und dem derben Realismus; wie bald der gekränkte Rivale mit beleidigtem Mannes- und Poetenstolz den glücklicheren Krasinski verhöhnt, bald der vom Stoff und der Stimmung mitgerissene, im Grunde gleich empfindende Stowacki sich dem lyrischen Zauber der ursprünglich als Satire gedachten Handlung hingibt. Im Text lehnt sich Kolacz- kowski an die große Stowacki-Ausgabe des Ossolineums an, während Ujejski für die „Maria Stuart“ unmittelbar auf denselben Erstdruck

11) Nr. 118. Kazimierz Brodzifski: Wspomnienia mojej młodości i inne pisma autobiograficzne. Herausgegeben von Aleksander Łucki. 1928. XXXII u. 110 S. Vgl. Br. Gubrynowicz, Pamiętnik Literacki 25, 170 ff., J. Korpala, Ruch Literacki 8, 28.

13) Nr. 105. Juljusz Słowacki: Fantazy czyli Nowa Dejanira. Herausgegeben von Stefan Kołaczkowski. 1927. XLVIII u. 122 S. Vgl. M. Kridl, Przegląd Współczesny 28, 840.

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zurückgeht, auf den er auch in der schon genannten Editio ne varietur sich berufen durfte.“) Die Einleitung in der „Bibljoteka Narodowa“ kann manches erörtern, das in den „Dzieła“ nicht gestreift worden ist. In der interessantesten Frage, ob und inwieweit Słowacki die Schillersche Tragödie benutzt hat, gelang Ujejski nur zu einem eher ablehnenden, doch nicht endgültig überzeugenden „non liquet“. Sonst aber bietet er ein vortrefflich abgerundetes Bild des erstaun- lich reifen Frühwerks eines dramatischen Genies und er bereichert unsere Anschauung über Slowackis in sich geschlossene Asthetik um manche wichtige Einzelheiten.

Manfred Kridl, dem wir schon so viele schöne Studien über die großen Romantiker danken, entledigt sich mit seltenem Takt der Mission, Krasinskis „Psalmen der Zukunft“ ohne Abschweifen ins aktuell Politische zu analysieren.“) Er trennt sorgfältig den Künstler vom Politiker. Nichts Unbilligeres, als die Schätzung des einen von der Sympathie für den anderen abhängig zu machen. Über den Kon- flikt des Magnaten Krasinski mit dem Demokraten Slowacki haben wir bei Kridl das Klügste gelesen, was zu diesem Thema zu sagen war (S. XXXVIII ff.).

Gegen die beiden Bände, in denen Szweykowski, der vorzüg- lichste Fachmann auf dem Gebiet des polnischen Romans, die „Denk- würdigkeiten Soplicas“ ) und den „Owruczanin,, “) Czajkowskis uns Sorelle ist vom Standpunkt der Editionstechnik aus nichts einzu- wenden. Den Einführungen fehlt ein gewisses Etwas, das sich schwer definieren läßt; fehlt der unmittelbare Kontakt mit dem Dichter. Gewiß sind die Tatsachen über Rzewuski und seinen anekdotischen Roman jede einzelne richtig geschildert. Trotzdem erfahren wir durch Szweykowski nicht, wie diese Flucht aus der Zeit mehr als ein Spiel, wie sie der Umgang eines letzten Ritters des Liberum Veto mit den Gebilden seines Geistes war. Und in dem Umriß der ver- sunkenen Welt, in denen sich die Geschichtchen um Karol Radziwill „Panie Kochanku“ begaben, fehlt das Leben, fehlt die plastische Figur des ungekrönten Herrschers von Litauen, die wir N treu nach der Wirklichkeit und den Quellen portraitiert, mit der Idealgestalt Rzewuskischer Phantasie verglichen haben wollten. Auch in den Anmerkungen wurde übermäßige Zurückhaltung geübt. Das Register bietet für das Mangelnde keinen genügenden Ersatz und es

13) Nr. 111. Juljusz Słowacki: Marja Stuart. Herausgegeben von Józef Ujejski. 1928. XXXII u. 104 S. Vgl. St. Furmanik, Wiadomości Literackie 1928, Nr. 27, H. Zyczyhski, Pamiętnik Literacki 25, 886 ff.

14) Nr. 107. Zygmunt Krasinski: Psalmy przyszłości. Heraus- gegeben von Manfred Kridl. 1927. LXIV u. 82 S. Vgl. J. Birkenmajer, Ruch Literacki 8, 184 ff.

15) Nr. 112. Henryk Rzewuski: Pamiątki Soplicy. Herausgegeben von Zygmunt Szweykowski. 1928. LVI u. 400 S. Vgl. J. Birken- majer, Ruch Literacki 8, 119.

16) Nr. 103. Michal Czajkowski: Owruczanin. Herausgegeben von mn: Szweykowski. 1927. XLIV u. 867 S. Vgl. J. Krzyzanowski, Ruch Literacki 2, 278 f.

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ist eher geeignet, den mit dem Thema nicht Vertrauten mit allzu raschen Gesamturteilen irrezuführen. Dem „Owruczanin“ hat die Methode Szweykowskis weniger geschadet. Hier drängte sich ja nicht, wie bei den „Pamiatki Soplicy“ auf jeder Seite die Notwendigkeit auf, Geschichte und Geschichtchen einander gegenüberzustellen.

Frau Kotowa löste die Aufgabe, einen historischen Roman dem Laienpublikum und den Geschichtsforschern näherzubringen, in durch- aus befriedigender Weise. In der Einleitung zum „Tagebuch der Franciska Krasinska“, “) jenem Werk der Tanska, das ohne Ver- schulden der Autorin seinen Platz außer in der Literatur im all- gemeinen auch unter den erfolgreichen Mystifikationen behauptet. Selbst ein Spezialist wie Pierre Boyé ist erst jüngst der guten Tante Klementyna hineingefallen. Die Herausgeberin nun scheidet sorgsam Dichtung und Wahrheit, verfolgt die Genesis des Briefromans aus der Lektüre des „Monitor“ und der mündlichen Überlieferung. Nur in kleinen Einzelheiten begegnen uns Versehen, so wenn die Frage, ob die Krasinska den Bischof von Kamieniec zur Aufstellung der Kan- didatur eines deutschen Reichsfürsten als Bewerber um die polnische Krone bewogen habe, als strittig bezeichnet wird, während darüber meine Schrift „Eine unbekannte Kandidatur auf den polnischen Thron“ längst Klarheit geschaffen hat, oder wenn die Stelle im Tage- buch, Poniatowski sei in Petersburg als Gesandtschaftssekretär vier Jahre gewesen (S. 23), der Besuch bei Konstanze Poniatowska am 29. Dezember 1759 ohne Zusätze bleiben, die das eine als falsch, das andere als möglich erwiesen.

Feldmans Ausgabe des Kraszewskischen „Brühl“ !“) enttäuscht etwas. Wır hätten von diesem souveränen Kenner der Materie den eingehenden Vergleich des Ministers, wie ihn die objektive Ge- schichte uns enthüllt, mit der Kraszewskischen Gestalt erwartet und nicht bloß die Untersuchung, inwieweit der Erzähler aus Justi oder Vehse, höchst unzuverlässigen Quellen alle beide, schöpfte. Einige Grundmotive des Romans: die Anekdoten über Brühls Aufstieg, sein Verhältnis zur Schwiegermutter, der Sturz Sulkowskis, die Be- ziehungen zur Gattin erfordern unbedingt Erörterung durch den so sehr dazu berufenen Historiker der Sachsenzeit. Wir rechnen damit, diese Ausführungen schon im Hinblick auf den jüngst erschienenen Panegyricus von Boroviczény, in einer kommenden Auflage zu lesen.

Der Auferstehung eines anderen, zwar nicht historischen, aber doch seiner kulturgeschichtlichen Bedeutung keineswegs baren Romans, der „Heidin“ Narcyza Zmichowskas hat Boy-Żeleński den Weg bereitet.“) Den Bemühungen dieses unermüdlichen Zerstörers

17) Nr. 119. Klementyna Tanska: Dziennik Franciszki Krasinskiej. Herausgegeben von Ida Kotowa. 1929. LXX u. 168 S. Vgl. K. Czachowski, Przegląd Współczesny 31, 160 ff.

16) Nr. 114. Jözef Ignacy Kraszewski: Brühl. Herausgegeben von Jözef Feldman. 1928. XXIV u. 316 8.

19) Nr. 121. Narcyza Zmichowska: Poganka. Herausgegeben von Tadeusz Boy-Żeleński. 1980. XXXVIII u. 184 S.

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falscher Idole und entgegen dem Anschein ebenso unermüdlichen Idealisten, der in den Schmollwinkel des Pantheons verbannten Heroen von gestern zu ihrem Platz verhelfen will, ist es gelungen, für die „Enthusiastin“ Zmichowska Verleger und Publikum zu er- warmen. Ich fürchte, es wird baldige Abkühlung der angefachten Begeisterung eintreten. Die Zmichowska ist nicht mehr lebendige Literatur und nur eine galvanisierte literarische Mumie. Mag die „Heidin“ um ihres psychologischen und psychopathischen Reizes willen als historisches und soziologisches Dokument gelesen werden: sie ist kein Kunstwerk, das seine Epoche überdauert. Verfehlt in der Komposition, bei aller subjektiven Ehrlichkeit objektiv unwahr, von grotesker Pathetik, dankt dieses transvestierte Geheimnis einer alten Mamsell den gewiß vorübergehenden Erfolg nur geweckter Sensationsgier. Boy verschwendete seine glänzenden Gaben an eine verlorene Sache. Dieses authentisch falsche Chef d’ceuvre darf er viel- leicht als sittliche Tat, als Kampfansage an den polnischen Cant und Huldigung an den moralisch imperativen deutschen Kant preisen, im Grunde bleibt diese sapphische Ode auf die Kunst trotz der Ver- quickung mit patriotischer Allegorie die herzlich schlechte Kopie von „René“ und „Chatterton“, des „Korsar“ und der „Mlle de Maupin“ warum wohl: Boy, der brillante Mittler französischen Schri

nicht auf die Herkunft der „Heidin“ von Gautier hindeutete?

Den Abschluß der bisher publizierten Bände die Nummern 116 und 117 liegen noch nicht vor bilder eine prächtige Auswahl aus Kasprowiczs Lyrik.“) Kolaczkowski be- währt sıch da nochmals in seiner Meisterschaft als Herausgeber und Dolmetsch poetischer Sprache. Die Verbindung von ästhetischem Kritiker und fachkundigem Literaturhistoriker, jenes heikle Problem der Geschichtsschreibung modernen Geisteslebens, hat sich in diesem ausgezeichneten Schriftsteller harmonisch vollzogen. Der Masse seiner Landsleute wird Kasprowicz, den jeder erhebt, aber an- gesichts des Mangels an zugänglichen Ausgaben bis vor kurzem nur wenige lesen konnten, durch die Bibljoteka Narodowa zum erstenmal greifbare Wirklichkeit. Es ist Kolaczkowskis Tat, daß er diesen Kon- takt des großen Dichters mit seiner Nation so verständig, so ver- ständlich und so verstehend begleitet.

So gipfelt die „Bibljoteka Narodowa“ im Bemühen, die Kette zwischen Vergangenheit und Gegenwart nicht abreißen zu lassen, im Streben, einem ganzen Volk das geistige Erbe seiner Ahnen zu bewahren und diesen Schatz der Allgemeinheit zu öffnen. Die Wissenschaft leistet ihr dabei redliche und entscheidende Hilfe. Und sie wird, für diese Dienste, durch den Nutzen reichlich belohnt, den, in erster Linie edlem Genuß und der Belehrung Heranwachsen- der bestimmt, das treffliche Unternehmen auch der Forschung gewährt.

70) Nr. 120. Jan Kasprowicz: Wybór poezyj. Herausgegeben von Stefan Kotaczkowski. 1929. XXXVIII u. 264 S. Vgl. K. Czachowski, Przegląd Współczesny 30, 154 ff.

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IV BUCHERBESPRECHUNGEN

Bittner, Konrad: Herders Geschichtsphilosophie und die Slaven. Reichenberg 1929. Verlag Gebrüder Stiepel. 150 S. (Veröffent- lichungen der Slavistischen Arbeitsgemeinschaft an der Deutschen

Universität in Prag. 1. Reihe. Heft 6.)

In den geschichtsphilosophischen Ausführungen Herders spielen die Slaven eine beträchtliche Rolle. Allerdings hat schon Leibniz, wie der Verfasser bemerkt, auf diesem Gebiete richtunggebend gearbeitet. Es ist schade, daß B. seine Studien über Leibniz und die Slaven welt nicht vor der obigen Arbeit vorlegen konnte. Wir würden dann sehen, ob und inwieweit Herder von Leibniz abhängig war. Auch B. erkennt dies und bedauert es, daß seine Studien auf diesem Gebiete auf unerwartete Schwierigkeiten gestoßen sind. B. gibt im ersten Abschnitt einen guten Oberblick über die Wandhungen der Herderschen Geschichts philosophie, die durch seinen jeweiligen Wohnsitz in Königsberg, Riga, Bückeburg, Weimar ge- kennzeichnet werden. Auf diesen Abschnitt kann hier nicht näher eingegangen werden. Nur das Wesen der Herderschen Geschichtsphilosophie soll kurz wieder- gegeben werden, weil wir daraus ersehen, daß er dem slavischen Fühlen und Denken innerlich nahestand. Die Geschichte ist ihm die Offenbarung Gottes und der göttlichen Erziehung in der Menschheit. Das letzte Ziel der Entwicklung sieht er in vollständiger Staatenlosigkeit. Denn das höchste Ziel der Entwicklung ist dann erreicht, wenn unter den sich selbst beherrschenden und leitenden Menschen jegliche Staatsform überhaupt überflüssig geworden ist. Der natürliche Staat ist ein Volk mit einem Nationalcharakter. Hier berührt sich Herder ganz auf- fallend mit Gedanken, die ein 5 später Tolstoj, wenn auch in viel schirferer Form, ausgesprochen hat. B. hat nicht dargelegt, ob diese Herdersche Auffassung aus seiner Betrachtung der russischen Geschichte entstanden sind. Denn daß das russische Volk seiner Natur entsprechend sich gegen jeden äußeren Zwang, der nun einmal in jedem Staatsbegriff enthalten ist, auflehnt, ist sicher.

Im IV. Abschnitt des 16. Buches der „Ideen“ gibt Herder eine Charakte- ristik der Slaven: Die Slaven seien immer ein stilles, friedliebendes Volk des Ackerbaues und des Handels gewesen, das niemals, auch nicht zur Selbstvertei- digung zum Schwerte gegriffen habe, sondern in die verlassenen Gebiete unruhiger und stürmischer Eroberer nachgerückt sei, um in ruhigem und ungestörtem Leben sich seiner friedlichen Tätigkeit und den Frieden atmenden Künsten, der Musik und Dichtung zu widmen. Infolgedessen sind die Slaven berufen, die Mensch- heit durch ihre Wirksamkeit in der Geschichte der Zukunft dem Ziel der Huma- nität näherzubringen, die höchste Vollendung der Menschheit aus ihrem innersten Wesen heraus zu erreichen. B. verzichtet darauf, eine Kritik der Herderschen Anschauung zu geben. Es wäre aber angebracht gewesen, wenigstens auf die Arbeiten Joseph Leo Seiferts über die angebliche Friedfertigkeit der alten Slaven zu verweisen, um den Interessenten die Möglichkeit zu geben, sich selbst ein Urteil zu bilden. Denn daß Herder in einer geradezu groben Unwissenheit über die Ge- schichte der Slaven befangen war, werden wir noch sehen.

B. untersucht weiter, wann, wo und in welcher Art Herder zu einem oder dem anderen der slavischen Hauptstämme in Beziehung trat, wann, wo und wie

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ihm das Eindringen in das Wesen und Verden eines der slavischen Hauptvölker zum weit hinaus bestimmenden Erlebnis wurde, er untersucht ferner, inwiefern andere Gewährsmänner, Gelehrte, Künstler, Dichter, überhaupt führende Männer slavischer und nichtslavischer Zunge für ihn von bestimmendem Einfluß ge- worden sind. H. selbst war keiner slavischen Mundart mächtig und mußte sıch daher durchaus auf das Urteil seiner Gewährsmänner und Quellen verlassen.

erste Gedicht, mit dem H. an die Offentlichkeit trat und das dem noch nicht siebzehnjährigen Jüngling Anerkennung und Bewunderung eintrug, war dem russischen Caren Peter III. gewidmet, den er als den großen Friedensfürsten feiert. Hier hat B. wenigstens kurz gezeigt, daß Herder in einer vollständigen Unkennt- nis über die Persönlichkeit des Caren befangen war. Es wird sich kaum historisch erweisen lassen, ob alle Legenden, die über ihn berichtet werden, wahr sind. Denn die russische Geschichtsschreibung har über den „Ausländer“ nie ein objektiv richtiges Urteil gefällt. Aber sicher verdiente er nicht, von Herder als der große König Cyrus gefeiert zu werden. Während Herder Peter III. als den gottgesandten Friedensfürsten feiert, der den Königen das Blutschwert abgürtet und Ruh und Glück auf seine Herden regnet, rühmt er Peter d. Gr. als das unerreichte Vorbild aller männlichen Tugenden und als den großen kriegerischen Helden. B. gibt zu, daß Herder einem vorgefaßten Ideal zu Liebe von der geschichtlichen 5 abgewichen ist. Dies mag dem Dichter schließlich noch verziehen sein; aber

er so rasch seine Stellungnahme zu Krieg- und Friedensfürsten ändert, verdient be- sonders hervorgehoben zu werden. Und die Geschichte kann es nur begrü daß H. seinen Plan, eine Biographie Peters zu schreiben, mit der er Voltaire aus- stechen wollte, nicht durchgeführt hat. Auch in der Lobpreisung Katharinas kann man das Gefühl nicht loswerden, daß nur der maßlose Ehrgeiz Herders, auf den B. mit Recht hinweist, die Urache für seine unwahren Lobhudeleien war.

Geschichte und Gegenwart geben wohl die beste Antwort auf Herders Prophezeiung: Die Ukraine wird ein neues Griechenland werden, eine neue Kultur wird im Osten entstehen. Und dieser Geist wird über Europa gehen, das im Schlafe liegt, und dasselbe dem Geiste nach dienstbar machen. Von Livland aus wird sich dieser neue Geist über Mittel- und Südrußland ausbreiten und dann erst seinen Siegeszug nach dem Westen antreten. Es muß aber zugegeben werden, daß H. mitunter auch die Fehler der russischen Seele kennzeichnet. Er gibt zu, daß Rußland keine Subordination kennt (das ist in dieser Formulierung übrigens nicht richtig), daß Rußland die Triebfeder der Ehre nicht kennt. leder Russe ist ein niedriger Schmeichler, nur Sklave, um Despot zu werden. Trotzdem ist Ruß- land für ıhn der einzig mögliche Träger seiner Zukunftspläne. Seine Kenntnisse über Rußland hat H. hauptsächlich aus den Werken Schlözers, Müllers, Büschings, Lanossovs (so schreibt H.), Frischs und anderer. Er gibt Anweisungen und Rat- schläge, wie Rußländ seine große Zukunft erreichen kann. Er selbst hält sich für den Lehrer und Erzieher, Lenker und Berater der Völker des Ostens. Alles, was er bisher an Schriftstellerei getrieben hat, ist nichtig und verächtlich angesichts der großen Aufgabe der Erweckung des Ostens, der Bildung und Veredlung der Völker, die dazu bestimmt sind, eine neue Zeit heraufzuführen. Obwohl H. ganz unzureichende Kenntnisse als Historiker hatte die Wenden und Böhmen hält er für Deutshe —, maßte er sich an, über Schlözers Universalhistorie ein ver- nichtendes Urteil zu geben. Er mußte es sich dann gefallen lassen, daß letzterer Herders Beurteilung „als durch Unwissenheit in hohem und erweislichen Grade, durch vorzügliche Ungezogenheit und durch die Person ihres Verfassers besonders ausgezeichnet“ zurück weist.

B. weist ferner nach, daß die Volkslieder als Quellen für Herders Anschau- ungen über die Slaven nicht in Betracht kommen, da er nur wenige slavische Lieder kannte.

In dem „Slavenkapitel der Ideen“ gibt H. eine vollständig andere Charakee- risierung der Slaven, die unmittelbar nach der oben genannten Lobpreisung des friedfertigen slavischen Volkscharakters steht. Die friedliebenden Slaven wurden von anderen Nationen, besonders von deutschen Stämmen, hart bedrückt. Durch diese Unterjochung ist der weiche Charakter der Slaven zur arglistigen, grausamen Knechtsherrschaft herabgesunken. Allerdings sei in den Ländern, wo sie noch einige Freiheit genießen, ihr altes Gepräge noch erkennbar. Er hofft,

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daß die Slaven ihre Sklavenketten abwerfen und vom Adriatischen Meere bis zum Karpathischen Gebirge, vom Don bis zur Mulde herrschen werden.

B. betont, daß Herder seine Lehre von dem Wesen der Slaven nicht aus dem Einfühlen in das slavische Volkstum geschöpft hat, sondern daß sein Rigaer Er- leben der slavischen Welt in der Weimarer Zeit unter vollständig veränderten geschichtsphilosophischen Voraussetzungen gebildet wurde. Die Weimarer Ge- schichtsphilosophie weist den Slaven eine neue Aufgabe, und damit ein neues Leben zu: Sie sollten Vegbereiter und Träger der Humanität werden, und damit sie die neue, ihrer harrende Aufgabe erfüllen können, muß ihr Volkscharakter ins shia ed liche und Friedliebende umgedeutet werden. Um Förderin der Humanität u werden, müssen sie selbst wahre Humanität in sich tragen. Das heißt also: Herder hat seine Anschauungen über den Charakter der Slaven nicht durch wissenschaft- liches Studium oder Selbstbeobachtungen gewonnen, sondern nach vorgefaßten ge- schichtsphilosophischen Ideen gebildet. Es versteht sich von selbst, daß solche Kon- struktionen wertlos sind. Von vornherein befremdet es auch, daß Herder immer nur von dem Volkscharakter der Slaven im allgemeinen spricht, ohne die ein- zelnen slavischen Völkerstämme zu trennen. Er scheint eben gar nicht zu wissen, daß z. B. Russen und Polen ganz verschiedene Stammeseigentümlichkeiten haben. Den Höhepunkt seiner Unwissenheit erreicht er wohl damit, daß er Huß, diesen Vorkämpfer der čechischen Nationalität, für einen Deutschen hält.

B. macht es auch wahrscheinlich, daß H. den Comenius und dessen Werke bis in die Weimarer Zeit nicht näher gekannt hat. Er har ıhn wahrscheinlich nur durch Vermittlung von Leibniz gekannt. Erst nach dem Erscheinen des zweiten Bandes von I. G. Müllers: Bekenntnisse merkwürdiger Männer ist er tiefer in das Leben und die Werke des Comenius eingedrungen. Aber eine Beeinflussung des Comenius auf die letzte Formulierung der Herderschen Geschichtsphilosophie ist aus rein äußeren Gründen unmöglich. Das Humanitätsideal Herders ist ein ganz anderes als das des Comenius.

Im Anhang gibt B. einen vollständigen Abdruck des Lobgesanges auf Peter den Großen in beiden Fassungen und ein Faksimile der Lichtbilder der Herderschen Handschrift.

Da H. die deutsche Auffassung über die Slaven nachhaltig beeinflußt hat, hat Bittners Arbeit auch großen Gegenwartswert. Meines Erachtens hätte aber B. die ganz unwissenschaftliche Arbeitsweise Herders schärfer herausheben sollen. Hoffentlich wird B. seine Arbeiten auf dem im Vorwort bezeichneten Wege weiter fortsetzen.

Breslau. Felix Haase.

Ein neues Sammelwerk zur bulgarischen Literatur- und Kultur- geschichte: „Bulgarische Schriftsteller: Leben Schaffen Ideen“ (Bigarski pisateli. Zivot-Avorlestvo-idei. Iljustrovana literarno- istorièeska biblioteka. Pod redakcijatu na prof.

M. Arnaudov. Knigoizdatelstvo Fakel, Sofija).

Eine vollständige, methodische Geschichte der neubulgarischen Literatur ist noch nicht geschrieben. Die bisher gemachten Versuche haben mehr oder minder den Charakter von praktischen Hilfsbüchern für Schul- und Unterrichtszwecke. Unter diesen Versuchen kam dem Ziele einer systematischen Literaturgeschichte noch am nächsten B. Angelov mit seiner zweibändigen Blgarska lite- ratura, Sofija 1922, 1924, der den gerade für das Verständnis der bulgari- schen literarisch-geistigen Entwicklung mehr als anderswo EA kultur- und nationalgeschichtlichen Hintergrund der Literatur wie auch den geistigen Gehalt der literarischen Werke in den wesentlichen Zügen wenigstens herausarbeitete. Immerhin fehlt noch eine geschichtliche Darstellung, die unter kritischer Ver- wertung aller Vorarbeiten systematisch von einem einheitlichen Gesichtspunkt aus den Fortschritt, die Entwicklung der Ideen, der Formen, des Stils, die literarischen Talente und Temperamente ihrer Besonderheit nach, den Einfluß des Milieus und der historischen Bedingungen, zu einem Gesamtbilde gestalten würde. Die Schuld an diesem Mangel liegt an äußeren Umständen. Bedenkt man, daß die Bulgaren erst seit einem halben Jahrhundert die Möglichkeiten und Grundlagen

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für selbständige, wissenschaftliche Betätigung haben, und übersieht man das bisher Geleistete, so muß man sagen, daß es alle Anerkennung und Hochachtung ver- dient, daß das Notwendigste und Möglichste getan wurde. Da unter den gegebenen Umständen eine Gesamtdarstellung auch heute noch für einen einzelnen eine sehr schwer lösbare Aufgabe darstellt, entschloß man sich durch Zusammen- arbeit der führenden und sachverständigsten Literarhistoriker, Kritiker und Pädagogen in der Form einer literarhistorischen Bibliothek ein Sammelwerk 5 das für die Kenntnis der literarisch- geistigen Entwicklung wie auch fiir eine künftige systematische Gesamtdarstellung eine feste Grundlage bilden soll. Die Bibliothek Bl garski 55 ist auf 6 Bande berechnet, die insgesamt 40 Monographien über die führenden bulgarischen Schriftsteller, angefangen von Paisij bis zu den modernen Dichtern Javorov, Elin Pelin, K. Christov, enthalten. Der Inhalt des I. Bandes, der mir bisher vorliegt nach gelegentlichen münd- lichen Mitteilungen St. Mladenovs und Jocovs sollen inzwischen auch schon weitere 8 Bande erschienen sein zeigt, daß die Versprechungen der Redaktion zufrieden- stellend eingehalten worden sind, daß wir mit dieser Bibliothek tatsächlich eine modernen Anforderungen entsprechende Grundlage zur Kenntnis der neu- bulgarischen Literatur- und Geistesgeschichte bekommen haben. Tom I (Sofija 1929, 214 Seiten) enthält folgende Monographien: Paisij, dargestellt von N. Fili-

ov, Sofronij Vradanskı von T. Atanasov, Petr Beron von I. N. Iv.

ankov, Neofit Rilski von St. Cilingirov, Neofit Hilendarski Bozveli von V. Pundev, Vasil Aprilov von M. Arnaudov, Konstantin Fotinov von G. Konstantinov, Ivan Bogorov von St. Mladenov. jede Monographie gibt zunächst eine Lebensbeschreibung und eine Darstellung des literarischen und kulturellen Schaffens, ferner eine Charakteristik des Ideen tes und allerdings leider nicht durchgängig des Stiles, schließlich eine Würdigung der allgemeinen Bedeutung. Bibliographische Daten, Bilder der Persönlichkeiten wie auch historisch wichtiger Orte, sowie Schriftproben (Autographe) sind bei- gegeben.

Graz. J. Matl.

Akad. D. I. Javornyékyj: Dniprovi porohy. (Die Dnipro- schwellen.) Ein Photographien-Album nebst einer geographisch- historischen Abhandlung. Ukrainischer Staatsverlag 1928. S. 75. 86 Abbildungen.

Ein derartiges Buch ist zeitgemäß; es ist schr gut dazu geeignct, die all- gemeine Aufmerksamkeit auf dieses Gebiet zu lenken, welches infolge Ver- wirklichung des Dniprelstan-Kraftwerkes unter Wasser versinken soll. Es ver- liefen bereits 2% Jahre seit dem Beginn des Baues des Dniprelstan und bleiben noch 3A Jahre Zeit zur Erfüllung der kulturell-historischen Pflicht, die in der Erforschung dieses eigenartigen osteuropäischen Teilgebietes liegt. Auf dem Terri- torium der Dnipro-Schwellen wurden bereits mehrere paläontologische, geologische, archäologishe und historisch-archäologishe Forschungen durchgeführt, und es wurden bereits mehrere diesbetreffende wissenschaftliche Arbeiten veröffentlicht. Allein, man kann es mit ruhigem Gewissen behaupten, daß von allen bisherigen diesbezüglichen Arbeiten über Dnipro-Inseln, Ufern und -Schwellen das vor- liegende Album und die geographisch-historische Abhandlung „Dnipro-Schwellen“ von deren hervorragendstem Erforscher und Kenner, Mitglied der Akademie D. I. Javorni¢ékyj allergrößte Bedeutung haben.

Wiewohl die Abhandlung nicht umfangreich ist, gibt sie fast über alle be- deutenden, historisch bekannten Gegenden, mit 5 der Quellen, kund. Sie behandelt alle archäologischen Fundstätten, registriert alle bekannten Becken, Schwellen, Inseln, und gibt über sie erschöpfende historische Daten; ja wir finden hier die diesbezüglichen Volkssagen und sogar auch Sprüche der Lotsmänner, welche die Schwellen und ihre Gefahren gut kennen. Die wissenschaftliche Be- deutung der Arbeit von Javornyckyj liegt auch in der Revision aller irrtümlichen Benennungen, die in vielen Karten der Schwellen sowie der benachbarten Ge- biete zu finden sind. Einen einzigen Nachteil weist die Arbeit Javornyékyjs auf,

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und zwar: es ist viel zu wenig über die Besiedlung der Dnipro-Schwellen und -Ufer, über diejenigen Dörfer gesagt, welche bald von den geographischen Karten verschwinden müssen.

Die 88 photographischen Abbildungen im Buche bilden die wertvollste dies- bezügliche Sammlung überhaupt. Die Photographien sind sorgfältig ausgewählt und sehr gut ausgeführt.

Die vorliegende Abhandlung wurde vom Ukrainischen Staatsverlag schr sorgfältig ausgestaltet und mit einem schönen Umschlag von O. Marynkiv versehen.

Berlin. M. Dolny é kyj.

M. Fil’anskyj ta J. RyZenko: Poltavityna. (Poltavaer Ge- biet.) Allgem. Redaktion von M. Kryvorottenko. Poltavaer

Staatsmuseum 1927. S. VII + 41, Karten, Abbildungen, Tafeln.

Dies ist neben „Natur und Bevölkerung der Slobodischen Ukraine“ und „Kiev und seine Umgebung“ eine dritte Arbeit, in welcher mehr weniger das ge- zamte zur allseitigen Erforschung eines Territoriums notwendige Material zu- sammengefaßt wurde. Der Natur des Poltavaer Gebietes sind in diesem Sammel- werke folgende Arbeiten gewidmet: Havrylenko: Geographische Skizze. M. Fil“ anskyj: Geologie. S. Illitevskyj: Bodenbeschaffenheit und Flora. V. Danilevskyj: Wasserenergie. M. Sambikin: Das Klima. P. Postavnyj: Heil- und Giftpflanzen. Havrylenko: Wirbeltiere. Alle diese Abhandlungen sind sehr interessant und wertvoll, weil sie von Fachleuten zusammengestellt sind. Es muß aber bemerkt werden, daß das Material in dieser Sammelschrift ungleichmäßig bearbeitet wurde, weil manchen Fragen, wie z. B. der Floradarstellung schr wenig Raum gewidmet wurde. Allein, dieses Buch ist ungemein interessant und sein Erscheinen zeigt uns deutlih, daß die ukrainische Landeskunde Grundlagen zur gründlichen Er- forschung der Ukraine aufzubauen beginnt.

Berlin. M. Dol’nyéky)j.

Dr. H. Drohomyreékyj: Vitry Zakarpatt a. (Die Winde in der Karpathenukraine.) Lemberg 1927/8. S. 45. Sonder- abdruck aus der Sammelschrift der Physiogr. Kommission der Mathematisch - naturwissenschaftlich - medizinischen Sektion der reg Gesllschaft der Wissenschaft in Lemberg. 1927. II. Folge.

Die vorliegende Studie ist besonders wertvoll als ein Beitrag zur Er- forschung der klimatischen Verhältnisse des von den Ukrainern bewohnten Ge- bietes an den südlichen Abhängen der Karpathen.

Der Inhalt dieser Arbeit: Die Einleitung eine flüchtige orographische und klimatische Beschreibung der Karpathenukraine. Das eigentlihe Thema: die Bearbeitung der Hauptfaktoren, welche die Richtung, die Kraft und den Charakter der Winde in der Karpathenukraine beeinflussen, und zwar die der absoluten Höhe, der bergigen Landschaft, der Richtung der Berge und der Täler, und hauptsächlich der Höhe der Gebirgspässe, durch welche im Winter die kalte Luft aus Osteuropa hineinströmt, und endlich die der Bewaldung des Landes.

Alle diese Windelemente werden auf Grund der in den Jahren 1881—1910 an 12 Stationen des Netzes des Ungarischen Meteorologischen Institutes gemachten Beobachtungen bearbeitet.

Die ebnisse dieser Studie sind sehr wertvoll und dies verleiht der er Arbeıt eine besondere Bedeutung nicht nur für die karpathenukrainische

andeskunde, sondern auch für die allgemeine, theoretische Erklärung der die Winde modifizierenden Einflüsse der Orographie.

Der Arbeit wurden Tafeln mittlerer beobachteter Daten und einige Zeich- nungen beigefügt.

Berlin. M. Dol’nyéky}

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J. Kral: Svidovec v Podkarpatské Rus, Sídla obyvatelstva. Hospodářské využití. (Svidovec in der Karpathorus. Die Be- SE Die wirtschaftliche Exploitation). Im „Věstník Kral. Ceské Společnosti nauk. Třída II.“ (Mitteilungen der Königl. Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften. II. Klasse.)

1927. S. 124. 33 Abbildungen. i

Der durch seine Arbeiten über die Karpathenukraine bereits bekannte Ver- fasser gibt hier eine Monographie über die Verchovynagruppe des Svydoveć in der Karpathenukraine. Diese Monographie ist ein Ergebnis zahlreicher Forschungs- exkursionen des Verfassers. Den Hauptinhalt bildet die Erörterung der Frage der Besiedlung des Svydoveé und dessen wirtschaftlicher Ausbeutung. Außerdem befaßt sich der Autor ausführlich mit der Frage der Hirtenwirtschaft. Kräls Studie zeigt, daß im Svydoveé sich bis in unsere Zeit am besten die karpathen- ukrainischen archaischen Formen des Hirtenlebens erhalten haben. Am wichtigsten ist aber der Umstand, daß die vorliegende Arbeit viel zur Lösung der Frage der Ostkarpathenbesiedlung und der allgemeinen Stufe der materiellen Kultur in der Karpathenukraine beiträgt.

Berlin. M. Dol’nyék yj.

Dr. J. Kral: Geografická bibliografie Podkarpatské Rusi. (Die

grograpnischie Pip iograpmie der Karpathenrus.) Prag 1928. In der Sammlung der Cechischen geographischen Arbeiten, die unter dem Titel „Travaux geographiques tcheques vom Geographischen Institute in Prag herausgegeben wird, erschien als Nr. 13 die geographische Bibliographie der Karpathenukraine aus den Jahren 1923—1926.

Der Verf. bearbeitete noch i. J. 1923 die geographische Bibliographie dieses Landes in einem besonderen Werke, wo 1316 Titeln (Nummern) gesammelt wurden; die vorliegende Sammlung ist eine Vervollständigung dieser Bibliographie und ihre Fortsetzung, welche hauptsächlich die Jahre nach 1923 berücksichtigt. Sie umfaßt weitere 839 Nummern (bis Nr. 2165 einschließlich). Diese sind in 5 verschiedene Abteilungen zergliedert, und zwar: 1. Bibliographie. 2. Allgemeine und spezielle Chorographie. 8. Physische Geographie. 4. Anthropogeographie und FHilfs wissenschaften (allgemeine anthropogeographishe Arbeiten, Ethno- graphie, Volkspoesie, Bräuche, Kunst, Hausgewerbe, Sprache, Volkswirtschaft, Schulwesen und Volksbildung, Volksgesundheit, Statistik, Geschichte und geschicht- liche Geographie, Kirchengeschichte und Varia). 5. Karten und Atlanten (die in Osterreich-Ungarn bis zum Jahre 1870 herausgegebenen und dann die in der Tschechoslowakei veröffentlichten). Am Schluß finden wir ein Autorenregister und die Erklärung der im Texte benützten Abkürzungen.

Kräls Bibliographie erlangt eine besondere Bedeutung durch ihre Voll- ständigkeit. Diese Bedeutung wird sich noch steigern, wenn das Interesse für 55 Erforschung dieses seitens der geographischen Vissenschaft vernach- assigten Winkels des ethnographischen ukrainischen Gebietes größer wird.

Berlin. M. Dol’nyékyj.

Materijaly ochorony pryrody na Ukrajini. (Materialien zum Natur- schutz in der Ukraine.) 1928. I. Band. Herausgegeben von der Versuchsanstalt (Naturschutz- Kommission) des NK ZS. Charkov 1928. Redaktionskollegium: V. Averin, J. Homon, Prof. O. Janata. S. VIII + 185.

In der vorliegenden Sammelschrift finden wir Arbeiten, welche entweder interessante Naturdenkmäler der Ukraine oder deren Naturschutzgebiete be- treffen. Diesmal sind es vorwiegend botanische Abhandlungen.

In der Sammelschrift sind folgende Arbeiten veröffentlicht:

N. Des’atov-Sostenko und F. Levin: Die botanische Erforschung der Schwarz- meer-Nehrungen und -Inseln Tender, Dizarylhaé, Orlovyj und Dovhyj.

S. 1—66. 8 Karten und Phototafeln.

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Der Wert dieser Abhandlung liegt darin, daß in ihr ein bis jetzt in botanischer Hinsicht fast unerforschtes Gebiet behandelt wird. Die Vert. haben ein ziemlich großes, die Flora und die Pflanzenwelt der erwähnten Nehrungen und Inseln betreffendes Material zusammengetragen. Im Anhang finder man cine Tafel der Pflanzenverteilung (nach Hauptgruppen) und ein systematisches Ver- zeichnis aller im erwähnten Gebiete registierten höheren Pflanzen. Außerdem sind der Arbeit 8 ziemlich wertvolle Karten und 7 photographische Landschafts- aufnahmen beigefügt.

M. Klokiv: Ein neues Spezies der Art Polygonum auf den Schwarzmeer-Inseln:

Polygonum arenarium spoc. con. (sect. Avicularia Meisn.). S. 78—74.

Eine Beschreibung des Polygonum Janatae, P. arenarium s. l., und zwar P. pseudoarenarium.

O. Prjaniinikov: Eine botanische Erkursion auf die Nehrung (Insel) Tender. $. 75—80. Mit einem schematischen botanischen Profil der Insel Tender.

Der Verfasser gibt eine kurze, zusammenfassende Beschreibung der Pflanzen- welt nach den Zonen.

V. H. Averin: Eine Exkursion auf die Insel Curjuk. S. 88—88.

Eine Beschreibung ornithologischer Beobachtungen und Erwägungen über Naturschutz, zu denen dem Verf. eine Reise aus Ascania Nova nach der Insel Curjuk (Mai 1927) Material lieferte.

P. Lytvynenko: Einige Daten über die Verbreitung der Marmota bobac Schreb.

in den Steppen des Starobilsker Kreises. S. 88—98.

Die Abhandlung ist der Verbreitung dieses in der Ukraine äußerst seltenen Tieres auf dem Gebiete des Starobilsker Kreises gewidmet. Beigefügt sind Pläne mit schematischer Darstellung der Verbreitung des Marmota ac.

M. M. Hodlin: Die Bodenbeschaffenheit des staatlichen Sevéenko-Naturschutz-

gebietes. S. 101—114.

Ein Versuch der morphologischen Charakteristik des Bodens der Waldmassive in der Umgegend des Sevéenko-Grabhiigels. Es wird die Mannigfaltigkeit der Bodenarten in diesem Naturschutzgebiete erklärt.

M. J. Kotov: Die Heiligen Berge im Artemschen Kreise. S. 115—126.

Der Verf. gibt eine Geschichte der botanischen Erforschung der Heiligen Berge und einen Überblick über den heutigen Zustand dieses Gebietes. An- schließend sehr wertvolle Beschreibung des einzigen ukrainischen Kreide-Urwaldes. E. Lavrenko und A. Poreckyj: Die Pflanzenwelt des Celbaver und Ivanover

Massivs und der Kinburger Nehrung am Unterlaufe des Dnipro.

S. 127—177.

Genaue Beschreibung eines Teiles des Gebietes, welches im Bereiche des sog. „Sandigen Naturschutzgebietes am Unterlauf des Dnipro“ liegt. Die Beschreibung ist systematisch, nach den Landschaften verfertigt; es wird dabei immer auch die Genesis der einzelnen Landschaften berücksichtigt. Beigefügt sind 2 Landschaften- karten und 6 Photographien. l

Berlin. M. Dol’nyékyj.

Pfitzner, ee Großfürst Witold von Litauen als Staatsmann. Schritten der philos. Fakultät der deutschen Universität ın Prag. Heft 6. Brünn-Prag-Leipzig-Wien. Rud. Rohrer. 1930.

249 S.

Unter überaus fleißiger Benutzung der deutschen, polnischen, russischen ‚und Zechischen Literatur, wobei nur die Nichterwähnung von Stählins Geschichte Rußlands auffällig ist, unternimmt es Pf., die Persönlichkeit Witolds zu um-

i und seine staatsmännische Leistung nach modernen Forschungsmethoden gewissermaßen systematisch zu ordnen und geopolish zu erläutern.

Allerdings kann man sich schwer des Eindrucks erwehren, daß Verf. mit- unter aus einer rückschauenden Betrachtung der Gefahr allzu spitzfindiger Kon- struktion erlegen ist und seinem Helden Motive und Erwägungen unterschiebt, die dem primitiveren Denken des 15. Jahrh. fern lagen. Man kann auch des Guten zu viel tun, und es ist für einen europäischen Herrscher außerordentlich schwer, seinen Machtbereich zu weiten, ohne daß sich hinterher dafür eine raum-

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litische Interpretation finden ließe. Aber ein solcher Zusammenklang ist doch äufig nur Zufall und keineswegs das Bestimmende. Wie fern müssen aber selbst noch einem Realpolitiker wie dem Gr. Kurfürsten heutige Gedankengänge ge- legen haben, wenn er seinem dünn bevölkerten Staat im Schwedenkrieg die Last der großpolnischen Woiwodschaften aufbürdete.

Doch dadurch wird des Verfs. dankenswerte Leistung nicht geschmälert, denn sie bringt zum erstenmal Witolds oft unklare und umstrittene Haltung auf einen einheitlichen Nenner und gruppiert ihn folgerichtig in die großen Ent- wickelungsreihen seiner Zeit ein.

Aus dem einführenden Kapitel über Grundlagen und Werden des litauischen Staates ist das Bekenntnis Pf.s bemerkenswert, er alle Versuche, den Slaven, besonders denen des Westens, vor dem Ende des 12. Jahrh. eine besonders hohe Kultur, bedeutendes Handelsleben usw. zuzuschreiben, für abwegig hält. Damit wird der unter dem Eindruck des Jegorovschen Buches wieder belebten gegen- teiligen Ansicht gebremst.

Für den jungen, durch Mendog geeinten und auf dem Stromgebier der Memel basierenden litauischen Staat war die Trennung in Kerngebiet und Neben- länder Schicksalbestimmend. Diesem zugleich ethnischen und später sich zum kirchlichen erweiternden Dualismus wurde unter Witolds Vater und Oheim durch eine Doppelherrschaft Rechnung getragen. Aber während Olgierds Osthälfte ın- folge eines westlich-östlichen Kraftgefälles gegen Rußland gedrängt wurde und den trennenden Waldgürtel durch die Form föderativer Staatsbildung überwand, so daß vor Witolds dann auch das Problem der Steppe auftauchte, mußte sich dessen Vater Kiejstut als Beherrscher der Westhälfte vor allem mit der Ordensfrage befassen, in die sein Sohn somit von Jugend auf hineinwuchs. Dadurch kam er zugleich in eine religiös zwiespältige, wenn nicht gar indifferente Atmosphäre, lernte Toleranz als politische Notwendigkeit kennen und betrachtete, wie sein mehrfacher Glaubens wechsel dartut, die Christianisierung nur als Handhabe staat- lichen Machtstrebens. Das führte ihn in Gegensatz zu dem streng heidnischen Vater und ließ ihn nach Olgierds Tod im Kampf Kiejstuts mit dessen Sohn Jagiello eine zweifelhafte Rolle spielen, ohne er dadurch sein Erbteil zo retten vermochte. Nach Kiejstuts Tod mußte er vielmehr zum Hochmeister fliehen, konnte hier des Ordens skrupellose Politik durchschauen und eignete sie sich an. Von beiden Parteien umworben und beide gegeneinander ausspielend, fiel er der mehr bietenden, nämlich Jagiello, zu und erlangte die teilweise Wieder- einsetzung in sein Fürstentum. Die polnisch - litauische Union entriickte zwar Jagiello der östlichen Politik, brachte Witold, der durch Heirat seiner Tochter Sophia mit dem Moskauer Großfürsten zu einer offensichtlichen Gefahr für die Olgierdovite geworden war, in Konflikt mit seinem Vetter Skirgiello und nötigte ihn nach einem mißglückten Handstreich auf Wilna zu abermaliger Flucht zum Orden, wo er infolge von Jagiellos Heirat mit Hedwig von Polen bereitwillig Unterstützung fand. Dank seiner Beziehungen zu Moskau und der Unbeliebtheit des orthodoxen Skirgiello im litauischen Kernland erreichte er dann raschen militärischen Erfolgen als 42 jähriger 1892 im Vertrag zu Ostrow die Herausgabe des ungeschmälerten Vatererbes.

Von dem verhältnismäßig dicht bevölkerten und dem Westen am nächsten stehenden Kernland aus ging er kraftvoll an dessen organische Ausbildung, den noch fehlenden Verwaltungsapparat vorläufig durch unaufhörliches Herumreisen und persönliches Eingreifen ersetzend. Sein Bestreben war vor allem auf Be- seitigung der Teilfürstentümer und ihre Ablösung durch Statthaltereien ge- richtet, wobei er sich auf den in seinen Dienstgütern seßhaft gemachten Klein- adel stützte.

Im Mittelpunkt seiner Außenpolitik stand das Verhältnis zu Polen, dem ohne sein Zutun Litauen-Rußland unter Erhaltung seiner Einheit als sonderstaatliches Gebilde, als Nebenland der Corona regni Polonise, 1886 ein- gegliedert war. Hier war Witolds Ziel die Zerreißung dieser Krewsker Union. Jagiełło scheint bei seiner damaligen Kinderlosigkeit ins- geheim diese Bestrebungen gefördert zu haben, um sich für alle Fälle Litauen zu sichern. Unter dem Ee Litauen den Litauern, rif Witold seine Bojaren mit und wurde von ihnen zum König ausgerufen. In dieser schwersten

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Krisis der Unionspolitik brachten die Polen aber durch Gewährung der Groß- fiirstenwiirde auf Lebenszeit Witolds Krönungsplan zum Scheitern, zumal nach ns Tod Jagiellos Rückkehr drohte, Witolds mit der Niederlage an der Worskla unglücklich endender Kreuzzung gegen die Tataren bevorstand und die Gegenwirkung seines mit Podolien als polnischem Kronlehn, nicht als Teil Litauens, ausgestatteten Vetters Swidrigiello zur Vorsicht mahnte. Witolds Bemühung war indessen auch in der Folgezeit auf Abänderung des Wilna-Radomsker Vertrages 5 und erreichte durch die Union von Horodlo die Verewigung der eigenen itauischen Großfürsten würde über die Lebensdauer ihres Inhabers hinaus. Die Vereinigung mit dem Nachbarstaat var mithin für Withold nur ein politisches Instrument ohne gefühlsmäßige Bindung.

. Stellung gegenüber dem Deutschen Orden wurde Wesentlich beherrscht durch den Kampf um das strittige Sa maiten, die Landbrücke von Preußen nach Kurland, den Pf. als einen solchen zwischen dem historischen und dem Naturrecht charakterisiert. In dieser Form wurde er auf dem Konstanzer Konzil zwischen Polens Anwalt, dem Krakauer Universitätsrektor Wiodkiewicz, und dem Dominikaner Joh. Falkenberg als Ordensverteidiger aus- gefochten. Dabei wurde das geschichtliche Recht mit der Christianisierung Litauens gelähmt, also die Position der Hochmeister in steigendem Maße ge- schwächt. Während sich Vithold anfänglich nachgiebig zeigte, um im Osten freie Hand zu erlangen (Vertrag von Salinwerder 1898), warf der Thorner Friede ihm und Jagiełło den lebenslänglichen . Besitz Samaitens in den Schoß. Sofort begann Witold der Meeresküste zuzustreben und Ansprüche auf den Unterlauf der Memel geltend zu machen. Der Friede am Melnosee 1422 schob diesen Be- strebungen zwar einen Pie vor, brachte aber Samaiten mit Polangen für immer in litauischen Besitz, so daß füglich bezweifelt werden muß, ob diese Lösung wirk- lich alle Beteiligten befriedigt hat (S. 166).

In dem Abschnitt über Witolds Fernpolitik werden die russische, tatarische und böhmische Frage behandelt. Im Südosten steht die Gewinnung des Zugangs zum Schwarzen Meer im Vordergrund. Trotz der Niederlage an der Worskla waren auch hier dem Beherrscher Litauens bedeutsame Erfolge vergönnt, allerdings erst gegen sein Lebensende, so daß sie nicht auszureifen vermochten. Das Bild eines Allrußland stand ihm klar vor Augen. Durch Kolonisation und Belebung des Handels bezwang er die Steppe, während eine Reihe von Festungs- anlagen die eroberten Gebiete sichern sole Nur gegen Pskow erlitt er eine Niederlage, während sich Moskau nach Vasilijs Tod seiner Vormundsdmfc unter- warf und sein Siegeszug 1427 ihn bis weit östlich Smolensk führte. Stets suchte er aber auch enge Anlehnung an das Abendland. Aus Rache für Siegmunds dem Orden günstigen Breslauer Spruch von 1420 ist der Einmischungsversuch in die Hussitenwirren zu erklären, doch die für einen christlichen Fürsten un- annehmbaren Bedingungen der Ketzer, die is hla ol des Papstes und andere Verwickelungen bewogen Witold zum Einlenken (Friede mit dem römischen König zu Kesmark 1428), so daß die mit der böhmischen Thronkandidatur en Neffen Siegmund Korybut gipfelnde Angelegenheit nur episodenhaften An- strich trug.

Bei derartig weitschauenden Plänen war es nur folgerichtig, wenn der Großfürst auch nach der kirchlichen Selbständigkeit seiner ver- schiedenen Reichsteile, auch Polen gegenüber, hinzielte (Versuch zur Gründung einer erzbischöflichen Metropolitankirche unter Gregor Camblak), jedoch ohne seinen Willen in den Hauptpunkten. durchsetzen zu können.

Gegenüber den universalen Mächten der Zeit mußte Witold bei der Doppelnatur seines Landes unaufhörlich zwischen West und Ost vermitteln mit der litauischen Staatsidee als Leitstern, was sich unter anderem durch die Duldsamkeit seiner amtlichen Sprachenpraxis dokumentiert. Andererseits war Siegmund die Erneuerung des Weltkaisertums Herzenssahe und wies ihn auf Polen-Litauen an. Das führte ihn als ersten römischen König 1429 auf russi- schen Boden, zu dem Kongreß von Luck. Hier stand noch einmal durch die Frage der Erhebung Litauens zum Königreih und Witolds Krönung die Union mit Polen auf dem Spiel. Allen Widerständen zum Trotz beharrte Witold auf seinem Willen. 1430 schien er am Ziel. Da raffte der Tod den 80 jährigen

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Greis dahin. Das war die tiefste Tragik seines Lebens, das Pf. uns als Menschen- werk aus einem Guß und von einheitlichem Willen geleitet in seinen drama- tischen Wechselfällen vor Augen führt.

Breslau. M. Lauber.

Wagner, Artur: Handel dawnego Jaroslawia. (Der Handel des alten Jaroslau.) Sonderabdruck aus „Prace historyczne“,

hrsg. v. akadem. Verband d. Historiker. Lemberg 1929.

Der Verf., Schüler und Assistent des 1980 verstorb. Prof. J. Pragnik, gibt einen Ausschnitt aus einer größeren Geschichte von Jaroslau. Die Stadt hatte bei ihrer Lage an der Kreuzung wichtiger Handelswege zeitweise hervorragende wirtschaftliche Bedeutung. Die Verleihungszeit des deutschen Stadtrechts an den schon lange bestehenden, erst kgl., seit 1387 in Privatbesitz befindlichen Ort steht nicht fest. Die später berühmten, dreimaligen Jahrmärkte sind seit 1416 bezeugt, Kaufleute der verschiedensten Länder handelten dort besonders mit Tuch, Seide, Leinen, Metall- und Goldschmiedearbeiten, morgenlindischen Waren, Getreide und vor allem mit den zumeist nach Deutschland gehenden Ochsen. Den Haupt- anteil hatten ee Polen und Deutsche, weiter Ruthenen und Armenier. Das judicium nundinale aus Richter und bedellus arbeitete nach Magdeburger Recht. Meist handelte es sich um Schuldsachen. Die Stadt mußte infolge feindlicher Ein- fälle (um 1500 mehrfach Tataren, später Türken, Walachen, Ungarn, Kosaken, Schweden) und großer Feuersbrünste (1600, 1624, 1625) schwere Krisen durd- machen, die schließlich ihre Blüte knickten, so daß künstliche Hilfsmittel nicht mehr fruchteten. Man sieht also die typische Entwickelung der Städte ın Polen- Litauen auch hier.

Hoffentlich erscheint bald die vollständige, auf Aktenresten, polnischen und . Veröffentlichungen aufgebaute, anfangs erwähnte große Arbeit es Verf.

Posen. A. Latter mann.

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V ZEITSCHRIFTENSCHAU

Bulgarien und Jugoslavien

Umberto Urbani: Ivan Cankar. Rivista di letterature slave.

Anno 1, 1 (1929), S. 40—47.

U. charakterisiert Cankar als den von seiner eigenen Nation unverstandenen und verfolgten Satyriker, der, indem er ihr Leben der Gegenwart in schonungs- loser Weise geißelte, ein noch in der Ferne liegendes Ideal aufstellen wollte. Er ` hat sich selbst, entgegen den Beschuldigungen ie Kritiker, daß er Pessimist sei, als Optimist von Kopf bis Fuß bezeichnet. Daß seine Helden vorzugsweise im Vagabundentum oder im Gefängnis enden, hat seinen Grund in ihrer Abkehr von einer korrupten Gesellschaft, es ist deshalb zu begreifen, daß der Dichter ein Gefühl der Brüderlichkeit für sie übrig hat. Sehr zum Verständnis des Dichters trägt sein letztes Buch (nur mit dem übersetzten Titel „Le immagini dei sogni“ genannt) bei, es ist kein gewöhnliches Kriegsbuch, sondern ein Buch, in dem Cankar zum Dichter einer neuen Menschheit wird, die durch das Blutbad neu getauft und an den Quellen einer transcendentalen Wahrheit gereinigt, nichts mehr von den menschlichen Karrikaturen der früheren Werke Cankars aufweist.

Emmy Haertel.

Stjepko Ilijié: Ivo Vojnović. Rivista di letterature slave. Anno 4, 6 (1929). S. 476—477.

In dem Nachruf für den im August d J. verstorbenen Dichter ist eine kurze Übersicht über sein literarisches Schaffen gegeben. Emmy Haertel.

Arsen Wenzelides: Il romanziere croato August Šenoa.

Rivista di letterature slave. Anno 4, 1 (1929), S. 29—39.

W. schildert die Epoche, in welche die Jugend Senoas fällt und die Art, wie sie auf ihn gewirkt. Seine antideutsche Einstellung hat schon in der Schülerzeit begonnen. Einer kurzen Biographie Senoas folgen Bemerkungen über die Ver- breitung seiner Werke in anderen Ländern und über die Dramatisierungen seiner Dichtungen. V. erwähnt die Literatur über Š. und streift kurz die Frage nach der Affinität Senoas zu Scott und Manzoni. Emmy Haertel.

K. Paul: P. J. Safatik a Vuk Stefanović Karadžić. Slavia 8, 3

(1929). S. 551—584.

In Stojanović’ „Život i rad Vuka Stef. Karadžića“ (Belgr. 1924), welches die Beziehungen zu Kopitar sehr ausführlich behandelt, ist auf das Verhältnis Safatiks zu Vuk nicht in dem Maße Beziehung genommen worden, wie es ihr Freundschafts verhältnis verdient. Saf. hatte schon während seiner Studien in Kesmark durch einen Aufsatz von Hanka von V. erfahren, persönlich lernte er ihn erst 1820 kenen. Auch Kopitar befreundete sich mit beiden, die diver- gierenden Anschauungen über den Ursprung der kirchenslavischen Sprache blieben aber nicht „ohne Rückwirkung. Auch die Beziehungen zu Kollar werden er- wähnt. Saf. hatte die „Danica“ sehr begrüßt und aus ihr Material für seine topographischen Arbeiten entnommen, er wandte sich auch in der Angelegenheit

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seiner Evangelieniibersetzung an Vuk. Über Vuks Interesse für Safariks slav. Sprach- und Literaturforschung hat schon Bandtke gehandelt. V. freute sich, daß Saf. die Slavonen, Bosnier und Dalmatiner Serben nennt, und daß er sich für Vuks Streben nach einer neuen Literatursprache interessierte. Er unter- stützce deshalb Saf. durch Verbreitung seiner Abhandlung über Surowieckis Schrift über die Abkunft der Slaven, war hilfreich bei seinen geographi Balkanstudien und bei der geplanten Veröffentlichung altserb. Denkmäler, be- schaffte ihm die erforderlichen Handschriften zur „Sammlung Serbischer Sprache und Literatur“ und hat auch zur Neuausgabe der Slavischen Altertümer hilfreich beigetragen. Aber auch Saf. half Vuk bei seinen Arbeiten zur Drucklegung kyrillischer Schriften für Armenien, er nannte ihm die montenegrinischen Drucke des 15. Jhs. als die besten, sogar um die Matritze bei dem Stecher Lerche war er besorgt. Saf. wies auch in seiner „Promluvenf k Slovákům“ auf Vuks Lieder- sammlungen hin und auf ihre homerische Schönheit. Auch beim Erscheinen des 4. Bandes von Vuks Liedern äußerte er sich wieder über den Wert solcher Sammlungen zur Erforschung des Volkstums. Auch auf Vuks Arbeiten selbst machte er durch Veröffentlichung eines Briefes von ihm in CCM 1888 aufmerk- sam, den P. hier zitiert. In demselben Band der CCM hat Saf. in dem biblio- raphischen Überblick über slav. Volksliedersammlungen Vuks Verdienste ervorgehoben. Er sah es aber nicht gern, daß Vuk unter der Beschäftigung mit den Volksliedern die Neuausgabe seines Wörterbuches und der serb Gram- matik vernachlässigte. Safariks Interesse an Vuks Bemühungen um die neue serb. Orthographie und den darum entbrannten Streit wird durch 5 verdeutlicht. p hat eine radikale orthographishe Reform anscheinend

für unbedingt nötig gehalten, Briefe von ihm in diesem Sinne sind mehrfach mißverstanden worden. Verf. zitiert den Briefwechsel mit Vuk über einzelne

Fragen, hier die schriftliche Fixierung des h. Auch über Vuks Reorganisation

der Schriftsprache hatte Saf. sich zustimmend geäußert in seinem Lob der Schön- heiten des Serbischen (Gesch. der slav. Spr. u. Lit.), ohne auf den innerserb. Streit einzugehen. Er war ein Gegner der im serb. Gottesdienst traditionell erhaltenen bulgar. Texte und hat sih im Vorwort zur Novějšá literatura illyrských Slovanů über den Mischdialekt tadelnd ausgesprochen und diese Gelegenheit be- nützt, um ganz für Vuks Sprachreformen einzutreten und deren Gegner anzugreifen. Verf. zitiert den ganzen Text und die Polemik, die er hervor- eruten. Die Bedeutung der serb. Volkssprache ist in den „Serbischen Lese- örnern“ eingehend behandelt; shon Vuk selbst hatte davon in seinem Wörter- buch v. J, 1818 gesprochen. Šaf., in der Erkenntnis, daß eigentliche Quellen der altslav. Volksprachen kaum vor dem 10. Jh. vorhanden sind, forderte zu Be- achtung slav. Worte in griech. und lat. Schriften, Chroniken usw. auf. Verf. eht auf die grammatikalische Untersuchung solcher alten Wortformen durch Back ein. Er hatte richtig erkannt, daß das Serbische bereits zu Kyrills und Methods Zeiten alle Kennzeichen einer selbständigen Sprache besaß, in Einzel- heiten sind seine Schlüsse anfechtbar. Safariks Verdienste sind von Pavlović und Subotić gewürdigt worden. Auch in Rußland erregten die „Serb. Lesekörner” großes Interesse, sie wurden vom Fürsten Gagarin ins Russ. übersetzt. Daß Saf. in der kirchenslav. Frage richtiger geurteilt hat als Kopitar, ist heute von Jagić zugegeben. Er hat, als Nachfolger Grimms und nach dem vergleichenden System Dobrovskys und Bopps arbeitend, auf der Höhe seiner Zeit gestanden. D: ist er selbst sich seiner Unvollkommenheiten bewußt gewesen. Verf. erwähnt noch die näheren Umstände von Safariks Anerkennung der Arbeit des Suborié bei der von der Srbska Matice ausgeschriebenen Preisaufgabe für eine serbische Grammatik v. J. 1844. Schließlich wird noch erwähnt, daß Saf. hinsichtlich des

bulgar. Schriftwesens und der Zugehörigkeit mancher serb. Distrikte zum : Volkstum sich im Gegensatz zu Vuk befand. Emmy Haerte

A. V. Solov’ev: Neizdannye spiski zakanodatel’stva „Carja Dušana“. Slavia 8, 3 (1929). S. 597—604.

Der Zakonnik des Caren Dušan gehört zu den interessantesten Rechtsdenk- mälern der Südslaven, er entstand 1349 in einer Blütezeit des serb. Staates.

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D U äwͤ2w +

Seine Untersuchung ist aber schwierig, weil das Original nicht erhalten geblieben ist und die erhaltenen Abschriften voneinander sehr abweichend sind. Durch T. D. Florinskij und Stojan Novakovié sind 20 Abschriften untersucht worden, von denen eine vom Ende des 14. . stammt, andere aus dem 15., 16. und 17. Das ist das Material, aus dem das Original des Zakonnik erschlossen werden soll. Texte aus dem 18. Jh. (auch solche gibt es unter den 20 Kopien) stellen eine neue Redaktion dar. So können neuaufgefundene Texte wertvolle Aufschlüsse geben. Es ist S. gelungen, drei weitere Niederschriften des Zakonnik aufzufinden, die er hier bespricht: den „Chilandarskij Spisok“, „Baran’skij Spisok“ und „Grbal’skij Sbornik“. Der Vollständigkeit wegen nennt und be- spriht er hier noch einen vierten Text „Studenickij Sbornik“, der sich auf jugoslavischem Gebiet befindet und wissenschaftlichen Untersuchungen wenig zu- gänglich ist. Emmy Haertel.

V. Burian: Po stopách češství a české knihy v starším slovinském pisemnictvi. Slavia 8, 1—3 (1929). S. 54—75, 248—270, 449—482.

Aus den vorübergehenden Berührungen, die bis zur Wende des 1. und

2. Jahrtausends die Slovenen mit Cechen und Slovaken gehabt haben, läßt sich

auf eine Beeinflussung in sprachlicher und kultureller Hinsicht kaum schließen,

auch aus den Freisinger Denkmälern ist eine Spur čech. Einflusses nicht zu er- sehen. Im dritten Viertel des 18. Jhs. befand sich das slovenische Gebiet in- mitten der österreichischen Länder unter Otokar II., der die Leitung ihrer An-

egenheiten seinem čech. Standesherren überließ, aber seine Regierung war urz, zu einem kulturellen oder nationalen Einfluß kam es damals nicht zwischen

Cechen und Slovenen, ebenso wird man unter Karl IV. nicht nationale An-

sätze einer dechisch-slovenischen Kulturgemeinschaft vermuten dürfen. Erst im

15. Jh. kam es zu bezeugten literarischen Berührungen zwischen Cechen und

Slovenen, wie die H: vom Zisterzienser-Kloster in Stiški in Krain beweist,

einem Kodex von 3 Bänden, von denen der 1. und 8. sichtlich čech. Herkunft ist.

Aus dem Inhalt ist zu ersehen, daß čech. Zisterzienser, die vor den Hussiten

hatten fliehen müssen, bei ihren Ordensbrüdern in Stilki Aufnahme fanden.

Verf. untersucht die Zusammenhänge der verschiedenen Autorschaften, der von

ihm mit B. bezeichnete Zisterzienser muß, nach den von ihm stammenden Auf-

zeichnungen, ein guter Kenner der antihussitischen Bewegung gewesen sein. Viel- leicht hat er seinen antihussitischen Traktat schon in der Heimat angefangen und das Ms. mit fortgenommen. Gewisse Anzeichen sprechen dafür, daß als Vor- lage der ,,Kladivo kacifu“ des Stepan z Dolan nutzt wurde. Auch eine andere, aus Stiški stammende und in Laibach verwahrte Hs. (lateinische Predigten für das ganze Jahr) beweist, daß die tech. Flüchtlinge die erforderliche Literatur mit sich brachten. Auch ein čech. Weihnachtslied „Buoh všemohúcí“, der Ortho- graphie nach aus vorhussitischer Zeit, wird genannt. Aus einer schr fragmen- tarısch erhaltenen sloven. Dichtung, deren Inhalt kaum zu erraten ist, wird man auf die literarische Tätigkeit der čech. Ordensbrüder schließen können. Grafenauer hat ein Volkslied darin vermutet, richtiger wird Radics auf ein Lied zu Ehren der Jungfrau Maria hingewiesen haben. Die Sprache des Denkmals ist slovenisch, aber hinsichtlich der Orthographie kann man Spuren erkennen. Man wird zwischen den čech. und sloven. Ordensbrüdern eine gemeinsame geistige Atmo- sphäre vermuten dürfen, die sich in der literarischen Tätigkeit der čech. Flücht- linge auswirkte. Sie waren ja auch ‚gezwungen, für ihre Amtsaufgaben zu sorgen durch Aneignung der sloven. liturgischen Formeln, für die anscheinend keine schriftlichen Vorlagen bestanden, und bei ihrer Niederschrift bedienten sie sich der čech. Graphik. Vielleicht haben sie dadurch ihren sloven. Brüdern die An- regung zur eigenen Initiative gegeben. Jedenfalls haben sie das Verdienst, hundert Jahre vor Trubar in der Niederschrift der sloven. Gebete dem sloven.

Schriftwesen geeignete Denkmäler hinterlassen zu haben. Sie werden auch als

erste unter den Slovenen die antihussitische Bewegung verursacht haben, denn

die hussitischen Ideen waren im Vordringen begriffen. Andererseits wurde durch den geistigen Kontakt zwischen Cechen, und Slovenen auch das čech. Hussiten-

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tum neu belebt. Daß čech. Agitatoren unter den Slovenen jenseits der Mur tätig waren, geht aus einer Klage des Wiener Professors Jan Siwart (Sybart) an den Bischof von Agram v. J. 1418 hervor. Auf den Salzburger Synoden v. J. 1418 und 1420 wurde auch über die Ausbreitung der Hussiten unter den Slovenen geklagt. In der sloven. Literatur finden sich zwar keine direkten Spuren der hussitischen Lehre, aber es sind solche für antihussitische Meinungen vorhanden. So bei dem slovenischen, in lateinischer Sprache dichtenden Nicolaus Petschacher, dessen Fabeln gegen den Utraquisten Ruckenzan polemisieren. Auch in der mündlichen Literatur der Slovenen haben sich antihussitische Spuren erhalten, in dem Volkslied von Pegam und Lamberg. Pegam ist die Verkörpe- rung des fremden, ungläubigen Elementes, Lamberg das des heimischen Bauern- standes. Dieses Lied, das aus der 2. Hälfte des 15. Jhs. stammt, aber erst um die Wende des 15. zum 16. Jh. seine endgültige Fassung erhielt, hat sich im sloven. Volk bis in die neueste Zeit lebendig erhalten. Verf. nennt die ver- schiedenen Veröffentlichungen des Textes.

II. Reformation, Gegenreformation und die Periode des katholischen Schriftcums.

Erst das 16. Jh. brachte den Slovenen einen großen geistigen Umschwung. Bei ihrer Nachbarschaft mit den Deutschen erlagen sie natürlicherweise den auf- rüttelnden Zeitereignissen, die in der Reformationszeit von ersteren ausgingen. Ihre reformatorische Literatur entstand auch nach deutschen Mustern. Dan ging ein starker čech. Einfluß auf sie aus, teils direkt durch die čech. Refor- mation und humanistische Bewegung, und indirckt auf dem Wege über den deutschen Buchdruck. Literarische Belege für die Berührungen zwischen Cechen und Slovenen sind aber nur in geringem Umfang erhalten.

Primož Trubar druckte in Deutschland sein Abecedarium a Catechismus (Tübingen 1550) nach dem Vorbilde Luthers, der seinerzeit dem der Böhmischen Brüder gefolgt war, d. h. indem er sich zuerst an die Kinder und das einfache Volk wandte. Hier ist also auch Cech. Einfluß zu sehen. Auch in Trubars Evangelienübersetzung sind die Spuren der čech. Übersetzung unverkennbar. Bei seinen Beziehungen in Nürnberg und Wittenberg konnte Tr. leicht zu čech. evangelischen Büchern gelangen, um so mehr als ihm durch P. P. Vergerius Anregung und Hilfe zuteil wurde. Dieser war ein Freund des čeh. Humanisten Gelenius, der auch in der čech. Sprache einen Brunnen der übrigen slavischen Sprachen sah. Die Ubersetzungstechnik Trubars im Vergleich zu Luther und der Vulgata, bei der Anwendung von Fremdworten und Erfindung neuer Worte wird durch umfängliche Textproben verdeutlicht. Als Präger neuer Worte für neue riffe hat sich Tr. auch in der Cerkovna ordninga gezeigt, vielfach hat er sich hier nach čech. Vorbildern gerichtet. In der Cerk. ordninge müssen neben Vittenbergischen, Nürnbergischen und Mecklenburgischen Organisationen auch noch andere zum Muster herangezogen worden sein, welche Verf. noch nicht genau festgestellt hat, weil ihm zurzeit die Quellen unzugänglich sind. Die Frage nach den Vorbildern Tr.s für das Kirchenlied ist noch offen. In seinem Katechismus v. J. 1550 hat er 6 gereimte Glaubensartikel mit Melodien nach denen der böhmischen Brüder aufgenommen, und auch die Texte weichen ab von den deutschen protestantischen Vorlagen. Es muß noch untersucht werden, ob hier und anderswo Texte nach Vorlagen der böhmischen Brüder entstanden sind, vielleicht nach dem damals auch unter deutschen Protestanten sehr verbreiteten Kanzional. Bei Tr. ist auch in orthographischer Hinsicht čech. Einfluß zu erkennen. Wie weit er selbst die čech. Sprache gekannt, ist nicht sicher zu sagen, er wird, als er in Deutschland die Bibelübersetzung gann, lateinische, deutsche und Zechische Bibelübersetzungen verglichen haben.

Seb. Krelj, ein Schüler der kroat. protestantischen Theologen Flacia Illy- rika, druckte i. J. 1566 seinen kleinen sloven. Katechismus, die sogenannte Otrozhia Biblia, dessen erster Teil eine Art sloven. Fibel ist. Der 2. Teil be- steht aus Fragen, stimmt aber in der Einteilung des Stoffes mit keinem der früheren protestantischen Katechismen überein. Er ähnelt sehr dem „Cate- chismus der Rechtgleubigen Behemischen Brüder“ v. J. 1554, dessen Verf. der Superintendent der Böhm. Brüder in Preußen, Jan Gyrk, war. Wahrscheinlich

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hat er auch die Laienbibel als Vorlage benützt. Die Übereinstimmung mit Gyrk wird durch Textproben gezeigt. Krelj wird auch die Nürnberger čech. Bibel benützt haben bei Übersetzung der Wochenevangelien. Er übersetzte zuerst die Evangelien aus dem Griechischen, verglich dabei mit Luther, benützte daneben noch einen kirchenslavischen Text, verglich auch mit Trubar und hatte die tech. Übersetzungen vor Augen. An das Cechische klingen gewisse formale und syntaktische Eigenheiten an. Auch Jurij Dalmatin nahm die čech. Bibel zu Hilfe bei Übersetzung des Alten Testaments, für das es bisher noch keine sloven. Vorlage gab. Die Wahl mancher Worte erinnert direkt an Trubar, der sie auch dem Cechischen entnahm. Bei Adam Bohoric, der eine sloven. Grammatik „Arcticae horulae succisivae“ schrieb, tauchen Ideen über Alter, Schönheit und Vorzüge der slavischen „Dialekte“ auf, wie sie bei gleichzeitigen tech. und poln. Geschichtsschreibern und sogar auch bei den deutschen Humanisten verbreitet waren. Der čech. Humanist Zikmund Hruby z Jeleni war Hauptvertreter dieser Ideen, zugleich guter Kenner anderer slavischer Sprachen. Er galt als Autorität in slavischen Fragen. Seine Ideen sind übernommen worden in Konrad Gesners „Mithridates“, wo die tech. Sprache für die schönste unter den Slavinen genannt wird. Neben Hruby hat Bohoric auch noch andere zeitgenössiche Lite- ratur über Slaven, darunter Herberstein, benützt. Die Zusammenhänge zwischen den Slavinen wies er in seiner Grammatik durch Gegenüberstellung des Vater- unser in verschiedenen slav. Sprachen nach.

Die aufblühende sloven. Literatur der Reformation wurde durch die Gegen- reformation schwer betroffen, der deutsche Einfluß wich dem romanischen sowohl in Literatur wie Wissenschaft. Auch die Berührungen mit den Cechen hörten auf und sollten erst nach dem 80 jährigen Krieg wieder anfangen. Die An- regung dazu ging von Bettelmöchen des Augustinerordens, den sogenannten Diskalceaten oder Eremiten, aus, die im Josephkloster in Laibach ihren Sitz hatten. Aus den Totenlisten ist zu ersehen, wie viele Cechen unter ihnen waren. Es war die Zeit der jesuitischen Rekatholisierung Krains. In ihr ent- standen verschiedene Wörterbücher der „krainischen“ Sprache, unter ihnen der „Anonym“ mit einer Menge dem Cechischen entnommener Wörter. Zu erwähnen sind zwei geschichtliche Werke über das Krainer Land von Schönleben und Vajkart Valvasor, die sich čech. Quellen bedienten, sich zu ihnen aber kritisch verhielten. Sie waren die ersten nach Bohoric, die auf geschichtliche čech. Quellen zuriickgriffen. Unter den čech. Exulanten ist P. Hipolit als Übersetzer von Comenius Orbis pictus zu nennen.

III. Die čech. Quellen der Krainischen Grammatik von Pohlin und die Frage der Cechismen in seinen Wörterbüchern.

Nach langer Stagnation war P. Marcus vom Orden des Hl. Antoinus von Padua, genannt Pohlin, der erste, der wieder für nationale Interessen eintrat, angeregt durch den Cech. vaterländischen Gedanken. Der Untertitel seiner „Crainerischen“ Grammatik besagt, daß die Sprache aus Liebe zum Vaterland regelrichtig gelernt werden müsse. Er hat als Vorlage die čeh. Grammatik des Rosa benützt. An dieser Feststellung waren Dobrovsky ebenso interessiert wie neuerdings Jagić. Verf. vergleicht Rosa und Pohlin in ihren Grammatiken auf das Eingehendste: nach Übereinstimmung der beiderseitigen Vorworte, der Ab- sicht beider zur Schöpfung neuer Wörter, ihren Anschauungen über den Zweck der Wörterbücher, Lob der Muttersprache, slavischer Orientierung, ihren apolo- getischen Tendenzen usw. Anschließend wird die Grammatik von Pohlov mit der Pohlinschen genau verglichen und die Frage nach den Quellen und Cechismen erörtert. Im Nachwort wird anerkannt, daß Pohlin ungeachtet des Bemängelns- werten in seiner Grammatik, große Verdienste hat um die vaterländische Sache, der nationale Gedanke aber ist bei ihm unter čech. Einfluß entstanden.

Emmy Haertel.

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Rußland

Vladimir Parchomenko: Rus’ i Petenegi. Slavia 8, 1

(1929). S. 138—144.

P. will das Interesse der Historiker für eine gründlichere und vorurteils- freiere Einschätzung des sozialen und kulturellen Horizontes der Pečenegen und ihrer Beziehungen zur Kiever Rus’ wachrufen. Man ist traditionsgemäß gewöhnt in ihnen ein halbwildes Steppenvolk zu sehen, das der Rus’ nur Schaden und Verderben gebracht. Die Archäologen wiederholen das Urteil der Historiker anstatt die Pečenegishen Altertümer, so weit es überhaupt welche gibt, auf den Stand ihres Kulturgrades erst zu untersuchen. Allein die Tatsache, daß sie an den Geschicken des Kiever Staates einen hervorragenden Anteil gehabt als Nach- barn und Bundesgenossen bei Feldzügen und schließlih durch ihre Niederlage v. J. 1086 selbst, sollte dazu auffordern, ihre wirkliche geschichtliche Rolle näher zu prüfen. Es folgt eine kurze Übersicht über alle irgendwo überlieferten Be- rührungspunkte zwischen Poljanen und Pelenegen, wobei die der Urchronik ent- nommene fürstliche Ge Ae vielfach angegriffen und großes Gewicht darauf gelegt wird, das Stammesverhältnis der Drevljanen als ackerbauende Bevölkerung des nördlicheren Landstriches gegenüber den mehr der Steppe nach Lage und Sitte angenäherten Poljanen ins rechte Licht zu setzen. Die Schlußfolgerung zu dieser Betrachtungsweise liegt darin, daß zwischen Poljanen und Pelenegen vielmehr ein freund-nachbarliches als ein durchaus feindliches Verhältnis bestanden haben muß. Zudem müssen sie, wie ehemals die Skythen, deren reichste fürstlihe Kurgane in der Nähe der Dnjeprstromschwellen konzentriert waren, an diesen ein be- sonderes Interesse gehabt haben und somit auch aufs engste in ökonomischer Hin- sicht am Kiever Handel interessiert gewesen sein. (Hat niche übrigens schon vor schr langer Zeit Rostovcev in seinem „Iranians and Greeks in South Russia“ auf die staatsorganisatorische und kuturelle Bedeutung der den Skythen folgenden Steppenvölker in der Vorgeschichte der Rus’ aufmerksam gemacht? Zitiert hat ihn P. nicht.) Emmy Haertel.

S. Volkobrun: Sull’ attività del gabinetto dei ministri sotto

Pimperatrice Anna Ioannovna. L’Europa Orientale. Anno

9, 9—10 (1929). s. 348—360.

Verf. bringt die Schritte der sogenannten „Verchovniki“ bei der Wahl Anna Joannovnas in Erinnerung, die darauf abzielten die carische Macht ein- zuschränken und die der Mitglieder des Obersten Geheimen Rates zu ver- größern. Die nach der Auflösung des Geheimen Rates geschaffene Lage bewies die Unvollständigkeit der gesamten Organisation des Regierungszentrums, vie es von Peter d. Gr. geschaffen worden war. V. stellt die Versuche dar, die zur Neubildung eines entsprechenden Organismus unternommen wurden und be- schäftigt sich in der Hauptsache mit den Amtspflichten des neuen Kabinetts und besonders mit seinen Obliegenheiten in den Verwaltungsgeschäften des Kaiserl. Hauses, zunächst bei der Ubersiedlung des Hofes von Moskau nach Petersburg, später bei den verschiedensten, die wirtschaftliche Versorgung betreffenden Einzel- heiten. V. stützt sich dabei auf die Kabinettsurkunden selbst.

Emmy Haertel

Ettore Lo Gatto: Dall epica alla cronaca nella Russia Soviet- tista. L’Europa Orientale. Anno 9, 11—12 (1929). S. 419 bis 439. | Dieser, dem gleichnamigen Buch Lo Gattos, das als Veröffentlichung des

Istituto per d’Europa Orientale 1929 erschien, entnommene Aufsatz beschäftigt

sich mit dem Kampf um die Kollektivierung der ländlichen Betriebe, mit den

Problemen der Industrialisierung, mit Bürokratie und Bürokratismus und mit dem

Eigentum unter dem kommunistischen Regime. Lo G. berichtet hier auf Grund

eigener Beobachtungen auf einer Studienreise in Sovetrußland. Die statistischen

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Zahlen über die kärglichen Erfolge in der Steigerung der ländlichen Produktion sind den Berichten Kalinins auf dem 16. Parteikongreß entnommen. In dem Ab- schnitt über die Industrialisierung werden die oftiziösen „Izvestija“ zitiert und auch anderweitige Klagen über die Verschlechterung von Materialien und Ver- arbeitung aus der russ. Presse gebracht. Verf. beschäftigt sich besonders mit der Frage nach der Qualität der, zum größten Teil vom Lande nach der Stadt ab- gewanderten Arbeitskräfte und dem Anlaß zur Klage, die sie den Regierungs- organen geben, daneben spielt der Alkoholismus eine große Rolle. Im Ab- schnitt über den Bürokratismus weist Lo G. auf die satyrischen Schriftsteller Andrej Novikov, Neverov und Kataev hin, die z. T. ihren Vorbildern Gogol’ und Saltykov-Stedrin nahekommen in der Verspottung der herrschenden Zu- stände. Außerdem nennt er die Zs. „Gudok“ v. Juli 1928 und v. Februar 1929 und die „Izvestija“ v. Mai 1929 mit ihren einschlägigen Aufsätzen. Lo G. schließt diesen Abschnitt mit der Bemerkung, daß die Passivität des Russen, die dieser selbst überwunden zu haben glaubt, doch immer wieder an die Oberfläche kommt und das Leben beherrscht. Bei den Erörterungen der Frage nach der Zu- lässigkeit oder Nichtzulässigkeit von Privateigentum in Sovetrußland betont Lo G. die Diskrepanz En dem in das russ. BG aufgenommenen § 54, der zich kaum von ähnlichen Gesetzen europäischer Länder unterscheidet und dem Fehlen eines Paragraphen, der die Unverletzlichkeit des Eigentums garantiert. Augenscheinlich ist die Anerkennung einer Möglichkeit von Privateigentum nur als cine Konzession an, gewissermaßen, ausnahmsweise und nur zeitwillig gegebene Verhältnisse anzusehen, die wieder verschwinden soll, sobald die angestrebte Sozialisierung sich verwirklicht haben wird. Da sowohl der Staat wie auch ein Privatmann Besitzer einer bestimmten Sache sein können, liegt auf der Hand, daß im gegebenen Fall die Besitzfrage zugunsten des Staates entschieden werden müßte, umsomehr, als hierbei auch die Rechte der Besitzer sih nach dem rößeren oder geringeren wirtschaftlihen Wert des Besitzes richten. Die Un- arheit über die Frage des Eigenbesitzes an Land im Dorfe hat, wie Verf. des näheren zeigt, dazu geführt, daß unrechtmäßig Verkäufe und Hypotheken zu- stande kommen können, was zu einem Teil die Erbitterung erklärt, mit der der Kampf gegen die Kulaken geführt. wird. Auch die Möglichkeit, an Stelle des Erwerbs eines zweiten Hauses, der verboten ist, zum Erwerb einer Werkstatt oder eines Ladens zu schreiten, widerspricht der angestrebten Aufhebung der Klassenunterschiede, es liegt dabei die Vermutung nahe, daß derartiges ziemlich häufig geschieht. Es scheint eben doch, daß die Wirklichkeit, und zwar nicht nur die russische, sondern eine allgemein menschliche, den abstrakten Theorien un- besieglichen und uniiberwindlichen Widerstand leistet. Emmy Haertel.

Russische Verfassung.

Konstanty Grzybowski: Ustrój związku socjalistycznych sowieckich republik. (Die Verfassung von S.S.S.R.) Przegląd Współczesny Bd. 27 (1928), S. 295—317.

Eine Skizze wesentlich informativer Tendenz und aus Werken zweiter Hand

geschöpft, bloß auf deutsh und französisch geschriebenen Büchern aufgebaut. Orto Forst-Battaglia.

Russische Emigration.

Walery Viliski: Życie religijne emigracji rosyjskiej. (Das religiöse Leben der russishen Emigration.) Przegląd Powszechny Bd. 183 (1929), S. 118—137.

Wiliński entwirft ein düsteres Bild über den Hader in der pravoslaven Kirche, der das religiöse Leben der russischen Emigration fortwährend vergiftet. Zwischen den Metropoliten Eulogius und Platon einerseits und Antonius anderseits herrscht bittere Fehde. Sie hat ihre politischen Hintergründe. Denn Eulogius und Platon entsprechen in ihrer Gesinnung etwa der bürgerlichen, westlich orientierten Demo- kratie. Sie vertragen sich leidlich mit dem Katholizismus und sehr gut mit Angli- kanern und Protestanten. Die geistigen Koryphäen der Emigration, wie Berdjaev

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und Stepun gehören zu ihren Anhängern. Antonius dagegen steht mit den un- beichrbaren Monarchisten im Zusammenhang und er setzt die Tradition des „istynno russkij celovek“ noch in der Verbannung fort. Wilidski schildert auch die katholisierenden (Soltykow) und die spärlichen katholischen Strömungen in der Emigration. Otto Forst-Battaglia.

Ettore Lo Gatto: L'intelligenzia russa, la rivoluzione e la

letteratura. Rivista di letterature slave. Anno 4, 6 (1929).

S. 442—448.

Unter Hinweis auf die der russischen Literatur des 19. Jhs. und der Jahr- zehnte vor dem Weltkrieg eigen gewesenen sozialen und politischen Tendenzen erörtert Verf. die Frage, wie sich die Situation nach der Revolution gestaltet hat, und greift dabei im wesentlichen auf die Untersuchungen des kommunistischen Kritikers Polonskij zurück. Er eröffnet seine „O&erki literaturnago dvizenija

! „Intelligenz“ EE ist, doch sei sie das nur bis zum Anbruch der proletarischen Epoche der russ. Geschichte gewesen. Sicht-

gelungen sei. Die erfolgreichste literarische Gruppe nach der Revolution, die Schriftsteller, wenn auch einige

Flügel, wodurch die Situation nicht nur nicht geklärt, sondern verwirrt wird, denn die allgemeine Tendenz der poput£iki, sich mit der Wirklichkeit abzufinden, dabei aber den formellen Kanon der traditionellen Literatur beizubehalten, wird dabei aus dem Auge verloren. Besser hat Gorbatev in „Sovremennaja russk. literatura“ (Lgrd „Priboj“ 1928) die poputtiki als kleinbürgerliche Gruppe bezeichnet, neben einer neubürgerlichen, die Alks. Tolstoj, Ehrenburg u. a. dar stellen. goma steht fest, daß die „bürgerliche“ Literatur der poputčiki die bedeutendste und tiefste Strömung der sovetistischen Literatur ist. Die politische und soziale Tendenz der alten russ. Intelligenz ist als Kanon der neuen bei- behalten. Sollte dieser Richtung Bedrückung durch die Sovetzensur drohen, so wird sie ein Blatt zur Geschichte des hundertjährigen Märtyrertums der russ. Intelligenz hinzufügen, wenn auch das Folterwerkzeug jetzt in anderen Händen liegt. Emmy Haertel.

A. D. Sedel’nikov: Neskol’ko problem po izučeniju eier russkoij literatury. Metodologičeskie nabljudenija. Slavia 8, (1929). S. 503—525.

1. Bestand und Verwahrung der Literatur. Die Rolle der Geistlichkeit... in Abschrift und Auswahl der Bücher. Reform des Buchwesens im XIV—XV. Jh.: Veränderung des Materials und der Schreibtechnik; ihre Bedeutung für grö Freiheit des Schriftwesens. Die Zensur bis zum XV. und nach dem XV. Jh.

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Die Ursachen werden aufgezählt, welche dazu führten, daß das älteste Schrift- wesen hauptsächlich auf Anregung und in Verwahrung der Geistlichkeit ent- stehen und sich befinden mußte, und das Buchbedürfnis und Geschmack der weltlichen Kreise in gewisser Abhängigkeit von ersterer blieben. Grundsätzlich konnte freilih der Sbornik sich freier gestalten als das Buch für gottesdienst- liche Zwecke. Für das weltliche Publikum lag auch durch die reiche Möglich- keit, sich durch die mündliche Literaturgattung: Lieder, Novellen usw. Unter- haltung zu verschaffen, wenig Bedarf an Schriftlihem vor. Die Chronik konnte derartige Stoffe nur verarbeiten, wenn sie in sich den Keim trugen in Erzählungen zu zerfallen, die keinerlei, sozusagen, belletristischen Charakter hatten, sondern geschichtliche Ereignisse behandelten. Verf. bespricht von diesen 5 ausgehend das Igorlied. Ober die Achtung vor dem Buchwesen unterrichten der Izbornik des Svjatoslav, die verschiedenen Slovo und der „Izmaragd“. Hier kommt auch die Verabscheuung der alten Volksbräuche, Aberglauben usw. zum Ausdruck, die letzten Endes zu einem Index führte. Obersetzungsliteratur weltlichen Charakters hat in der vormongolischen Zeit eine verschwindende Rolle gespielt. Die pergamentene Literatur Westeuropa; auch der geistlichen, hatte einen von der russ. sehr verschiedenen Charakter, da hier das Kirchliche vom Weltlichen nicht vollständig abgetrennt erschien. Ober diese russ. Literatur unterrichtet der Panegyrik auf Jaroslav und seine Beschäftigung mit Büchern in der Chronik. S. stellt seine Anschauungen über mutmaßlichen Bestand des alten russ. Buchwesens den von N. K. Nikol’skij und A. I. Sobol’evskij vertretenen gegenüber. Über den Bestand an weltlicher Lite- ratur innerhalb der russ. Klosterbibliotheken hat N. V. Volkov auch jetzt noch wertvolle Daten und Zahlen zusammengestellt, obgleich manches darin nach 80 Jahren (Pam. dr. Pis’m. 128, 1987) natürlich überholt ist.

Vom 15. Jhdt. an besserten sich die Bedingungen für das Buchwesen durch Verwendung des Papiers anstatt des Pergaments und Einführung des Halbustav, was beides wirtschaftliche Vorteile bot. Die starke Zunahme an erhaltenen Hsn im 15. Ihdt., gegenüber denen aus dem 14., ist nicht bloß dadurch zu er- klären, daß ım Laufe der Zeit viele ältere Schriftstücke verloren gegangen sein können. Wie weit hier die aus Südslavien eindringende neuere Literatur schuld daran gewesen ist, daß die älteren russ. Werke nicht mehr so häufig abge- schrieben wurden, wird von S. eingehend berücksichtigt. Eines der bedeutendsten Zentren des reformierten Buchwesens war das Kirillo-Belozerskij Monastyr’, der vom Mönche Evfrosin Ende des 15. Jhs. verfaßte Nachtrag zum Verzeichnis der Klosterbibliochek zeigt die bibliographische Leistungsfähigkeit auf erstaunlicher Höhe. Evfrosin war auch über die Bücherbestände anderer Klöster unterrichtet, wie aus diesbezüglihen Notizen hervorgeht. Von Zensur der kirchlichen Schriften sind deutliche Spuren erst zu sehen im 15./16. Jh., auf ihr Vorhanden- sein schon bedeutend früher kann aus mehreren Fällen, die Verf. hier anführt, mit Sicherheit geschlossen werden.

2. Anonymität und Pseudonymität in der Literatur und die sich daraus ergebenden wierigkeiten für die Untersuchung. Autoreninstinkt der altruss. riftsteller. Die Anonymität der alten Literatur bringt es mit sich, daß, verglichen mit den Aufgaben des Literarhistorikers unserer Tage, der Er- forscher der alten Literatur in erster Linie Philologe sein muß, selbst bei Namensnennung des Autors wird zunächst die kritische Würdigung ihrer Echt- heir einsetzen müssen. Die zeitliche Bestimmung kann oft einen einhundert- jährigen Spielraum zulassen, die sprachlichen Kriterien versagen häufig, da du mehrfaches Kopieren Änderungen der Urschrift angenommen werden müssen. Eine Reihe von Beispielen zählen vorgefallene kritische Irrtümer auf, und ihnen folgt Nennung der für zeitliche und lokale Einordnung der älteren Literatur- denkmäler üblichen Methoden. Emmy Haertel.

B. Varncke: Stili russkoj dramy XVII v. Slavia 8, 1 (1929). S. 132— 137. Zwei Aufsätze von V. V. Sipovskij und P.P. Rulin in den „Izvestija Otd, Russk. Jaz. i Slov. Ross. Akad. Nauk“ aus den Jahren 1917 und 1923 geben

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Verf. Anlaß darauf aufmerksam zu machen, daß die vielfach übliche Methode, in den Komödien des 18. Jhs. einen streng „klassischen“ Inhalt von realistischen und dem Leben entnommenen Motiven in dem Sinne zu scheiden, daß man einen „klassischen Dramenstil getrennt von einem gemischten nachweisen will, nicht zutreffend ist. Er geht dabei vielfach auf deutsche Literarhistoriker: Schneegans, Erich Schmidt, Klemperer u. a. zurük. Nach seiner Meinung hat das Aufkommen der im 18. Jh. so beliebten „sentimentalen“ Bühnenstoffe aus dem Leben des einfachen Volkes, die mehr und mehr aufhörten sentimental zu sein, viel dazu beigetragen die Fundamente des Klassischen zu untergraben.

Emmy Hertel.

V. Cerny le v: Stichotvorenija A. S. Puškina, napisannye v stile russkich narodnych pesen. Slavia 8, 3 (1929). S. 585—596. Ober die im volkstümlichen Stil geschriebenen Lieder in Pulkins Werken

herrscht noch manche Unklarheit, es läßt sich sogar kaum entscheiden, ob hier

eigene Schöpfungen P.s vorliegen oder von i aufgezeichnete Volkslieder.

Vengerov hat in Bd. IV seiner Pulkinausgabe „Volkslieder nach Niederschriften,

Umänderungen . . . P.s“ gegeben, und in der 7. Abt. davon „Lieder, die künst-

lerisch umgearbeitet worden sind“. Dabei steht keineswegs fest, ob irgendein

bestimmtes Volkslied von P. umgearbeitet worden ist. Selbst bei den drei

Stenka-Razinliedern, die an Volkslieder erinnern, ist das eine „Tol“ ko čto na

rotalinych vesennych“ mit keinem der bekannten Volkslieder zu identifizieren.

E. untersucht die einzelnen Lieder, „Vyšla Dunja na dorogu, nemoliviis’ bogu“

ursprüngl. für „Evg. Oneg. bestimmt (in Izd. „Prosvekenija“ IV, 829), hält e

für eigene Schöpfung P.s. „Cernyj voron vybral beluju lebedulku“ Pro-

sveščenie. V,5) war, nach Morozov, für „Arap Petra Yelik.“ bestimmt, paßt aber nicht in den Inhalt, es ist ein Heiratslied. Ibragim aber hatte keine

Heiratsabsichten. Die Razinlieder bei P. enthalten Themen, die in keinem

volkstümlichen Razinlied anzutreffen sind. Verf. nennt die Literatur über sie.

Den Stoff zum Lied von der Opferung der pers. Fürstin an die Wolga kann

P. nur aus „Les voyages Jean Struys en Moscovie“ entnommen russ.

Übersetzungen gab es von dieser Reise nicht zu P.s Zeiten. Für das Lied „Voz’-

mu fuba...“ hat P. höchst wahrscheinlich eine gehörte oder aufgezeichnete Ober-

lieferung benützt. Das Lied „Kak za cerkov’ju za nemeckoju“ mit dem

„Chorolu Zeng často v cestnoj pir zovut“ (Vengerov, IV, 78) wird, einer Brief-

stelle bei P. zufolge („znaed’ russkuju pesnju“) als russ. Volkslied angesehen.

Verf. hält aber für wahrscheinlich, daß P. in dem Brief an seine Frau nur hat

sagen wollen: ein russisches, kein französisches Lied. Unter den herangezogenen

Volksliedern findet sich keine Parallele dazu. Das Lied „Drug moj milyj”

(Vengerow IV, 79) scheint nach einer Romanze, die sich in Liederbüchern aus

der ersten Hälfte des 19. Jhs. findet, von P. gedichtet zu sein. Verf. zitiert

zum Beweis einen Text v. J. 1810. Zu dem Lied ,,Odin-to byl u otca, u materi edinyj syn“ (Vengerow IV, 79) hält C. für ein von P. auf seiner Reise nach

Orenburg selbst aufgezeichnetes Lied. Parallelen zu dem Text stammen alle aus

dem Ural. Emmy Ha ertel.

A. Be m: ol' i Puškin v tvortestve Dostoevskogo. II. Slavia

8, 1 (1929). S. 82—100.

Orrazenija „Pikovoj Damy“ v tvor&estve Dostoevskogo.

1. Im „Podrostok“ hat D. dem Helden die 5 Worte über das „Kolossale“ im Charakter Hermanns in den Mund gelegt, man wird aber vermuten können, daß diese Auffassung des Hermann schon viel früher bei D. sich herausgebildet hatte. Bem erinnert hier an eine Stelle in einem Briefe Die aus Ems und an die „Peterburgskija snovidenija v stichach i proze“, in denen ganz ähnliche Worte über die traumhafte Stadt, deren typischer Vertreter Her- mann zu sein scheint, gesagt werden, wie sie auch im „Podrostok“ im Anschluß an die Worte über Pukkins Hermann stehen. Auffallende Ahnlichkeit mit diesen Ideen zeigt auch eine Stelle in „Slaboe serdce“. Diese bisher noch nicht genügend ausgewertete Erzählung möchte B. „als Geburt des Helden“ bezeichnen bei D,

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und, noch weiter ausgreifend, auch als eigentlichen Kern von „Prestuplenie i nakazanic“. Nicht umsonst heißen die Heldinnen von Puškins Erzählung und in „Siaboe serdce“: Liza. Auffallend ist auch die unverkennbare Ähnlichkeit im Epilog bei Puškin und bei D Von beiden Mädchen wird gesagt, daß sie sich shli lih verheiratet haben, Puškin schweigt über die Herzenstragödie seiner Liza, D. spinnt dieses psychi Problem weiter aus, seine Heldin zeigt un- verhohlen ihren Kummer.

2. Unverkennbar hat Gogol’s Popryškin in „Gospodin Procharčin“ und den krankhaften Phantasien des Garibaldiseins großen Einfluß gewonnen. Aus Puškins „Skupoj Rycar“ ist andererseits die Idee des Suchens nach Macht vermittelst Geld- gewinnung entnommen, hier erinnert B. auch wieder an die Parallele: Hermann und Raskoľnikov. Auch im „Podrostok“ klingt sie an. Solov’ev in „Gosp. Procharčin“ erscheint D. auch „kolossal“.

8. So zugänglich D. Beeinflussungen durch die Werke anderer war, lag für ihn das Anziehende nicht in der stofflichen Ahnlichkeit, sondern in der Ver- tiefung der psychischen Probleme, die andere geboren. D. überwand Gogols „bez - idejnost“, wenn er sich auch ungeniert seiner Details und Sujets bediente. Daher ein Unterschied in den geistigen Beziehungen D.’s zu Puškin und zu Gogol’. Des ersteren Einfluß entsprang organischer Verwandtschaft und ging in Fleisch und Blut über bei D., nur war ihm nicht gegeben, die Harmonie Puškins zu finden. Dessen Gestalten leben bei D. ein durchaus tragisch-ruheloses Leben, was be- sonders im Einfluß der ,,Pikov. Dama“ auf „Prestuplenie i nakazanie“ deutlich wird. Es wird hier das Vort: Einfluß nicht im üblichen literar- historischen Sinne

meint. Nicht um gewisse Ahnlichkeiten handelt es sich hier, sondern um seelische Been flussung, eventuell auf Jahre hinaus. Um zu beweisen, wie weit das Ideen- schema der ,,Pikov. Dama“ in „Prestuplenie i nakaz.“ das gleiche ist, hebt B. hervor, einmal den Grundgedankeen „durch Verbrechen zur Erreichung des Ziels“, dann das Ergriffenwerden unschuldiger Opfer: Lizaveta Ivanovna und der Stiefschwester der Wucherin, wobei charakteristisch für D., daß er das Milieu

gemeine Stimmung wird gewahrt; auch bei äußerer Verschiedenheit der Um- stinde. Zum Vergleich stellt B. die Texte von Pušk. und D. gegenüber, wo sich beider Helden ins Haus ihres Opfers begeben. Bei beiden tragen auch die zwei Mitbewohnerinnen die Züge von Abhängigkeit und Schüchternheit. Nach weiteren Vergleichen beider Werke schließt B. mit der Frage: „von welcher Gräfin die Rede ist in „Prest. i nakaz.“, als Razumichin, nach geschehenem Verbrechen, dem Raskol’nikov zur Beruhigung ne »Beunruhige Dich nicht, von der Gräfin ist kein Wort worden.“ Soli das eine Andeutung sein an das ähnliche Ver- brechen bei in, oder ist hier etwas im Sinne der Freudschen Theorie vom Versprechen und Verschreiben bei D. unbewußt, d. h. aus dem Unterbewußtsein, in den Text eingedrungen? Emmy Haertel.

A. Bem: Gogol’ i Puškin v tvorćestve Dostoevskogo. Okoncanie. Slavia 8, 2 (1929). S. 297—311.

4. „Homne sans moeurs et sans religion“ hatte Puškin als Motto des 4. Kapitels der „Pikovaja Dama“ gewählt, das fand in D. Widerhall, aber im Prozesse des Umdenken: der Puškinschen Gestalt war diesem „das Kolossale“ des Hermann, der wahre Petersburger Typ aufgegangen. Das spricht auch aus Auf- zeichnungen zum „Prestuplenie i nakazanie“. Puškin ließ seinen Hermann von einer fixen Idee (nepodviinaja ideja) beherrscht werden, bei D. entwickelt sie zich zur Theorie des Anrechts auf Verbrechen. Hier berührt er sich eng mit Balzac; L. Großmann hat in seinem „Bal’zak i Dostoevskij“ auf das Erwachsen des „Übermenschen“ bei beiden hingewiesen. Dem „homme supérieur“ lag hier wie dort der Gedanke an Napoleon zugrunde. Auch Hermann war kein ge- wöhnlicher ` Verbrecher, bei Puškin klingt nicht nur hier, sondern auch im „Evgenij Onegin“ der Gedanke an Napoleon an. Nicht bloß Bal’zac ist, wie Groban dachte, der Ausgangspunkt für Raskol’nikov. B. vergleicht eingehend die Ahnlichkeit der inneren Überzeugung bei Hermann und Raskol’nikov nach begangenen Verbrechen.

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5. Verf. zieht noch einmal „Igrok“ in seine Argumentation ein, auch hier ist Aleksej Ivanovic vergiftet von einer fixen Idee, ebenso wie Hermann und Raskol’nikov. Die Leidenschaft zum Spiel und das Verhalten des PuSkinschen Helden zu dem Mädchen, das ihm vertraut hat, treten in unverkennbar ähn- licher Weise auf im „Igrok“. Der Gefühlskälte beider entspricht die stille Ver- achtung Lizas und die beleidigende Geste Polinas. Das Endschicksal beider He wird durch das Verhalten der beiden Frauengestalten bestimmt. D. ergänzte dabei den PuSkinschen Gedanken, ähnlich wie Puškin selbst zum „Faust“ eine Ergänzung gegeben. B. weist zum Schlusse noch einmal hin auf das „Jenseits von Gut und Böse“, das Puškins Hermann und die Dostoevskijschen Gestalten miteinander verbindet. Emmy Haertel

A. Skaftymov: „Zapiski iz podpol’ja“ sredi publicistiki Dosto-

evskogo. Slavia 8, 1 (1929). S. 101—117.

Die „Zapiski iz podpol’ja“ sind immer als eine Absage D.’s an frühere Ideale angesehen worden in Übereinstimmung mit L. Sestov, der das zum e ausgesprochen. Ähnlich werden sie beurteilt von L. Großman, A. $. Dolinin und V. L. Komarovik, deren Urteile Verf. kurz charakterisiert. Er hält alle der- artigen Deutungen für irrig. In den Zapiski wird nicht nur nicht m ichen Idealen abgesagt, sondern im Gegenteil besteht der Zweck ihrer Dialetik darin deren Unausrottbarkeit zu erweisen. Die Zapiski sind organisch mit den slavo- hilen Ideen der publizistischen Zeit D.s verbunden und stützen seine stets ge- forderte Notwendigkeit des Verzichts auf individualistishe Selbstverherrlichung. Allerdings verteidigt ihr Held Individualismus und das Unversöhnliche individu- ellen Wollens, aber diese Verteidigung hat keineswegs den Sinn, den Sestov u. a. vermuten. Die Zapiski sind ein polemisches Werk, der Held ist nicht so sehr „oblikitel“ als „obličaemyj“. Die mißverständliche Auslegung ist das Resultat der Betrachtung ihres Inhalts nach den einzelnen Abschnitten, die Tiraden des Helden über die individuelle Willkür wurden jede für sich und nicht im Zusammenhang des ganzen Ideenkomplexes betrachtet. Deshalb muß hier der ganze Ablauf des Werkes überblickt werden, auch auf die Gefahr hin, längst Bekanntes in Er- innerung zu bringen.

2. Zugrunde liegen, wie immer bei D. die psychischen Tatsachen. Wie auch sonst immer ist das Dargestellte für den Leser zunächst unverständlich, er soll über die einzelnen Themen nachdenken, aus denen zuletzt die Schlüsse gezogen werden. Zuerst kommt das Rätsel von der absichtlichen Bosheit. Sie wird erklärt als Ausfluß der Eigenliebe, dem Unvermögen sich der eigenen Schwäche bewußt zu werden. An drei Beispielen wird die Freude an der „Obida“ dargelegt, sie er- folgt nach normalen, vom Individiuum unabhängigen Gesetzen. Der Held der Zapiski sieht darin nichts Aussöhnendes, immer wieder war der psychologi Kern der Bosheit als ein innerer Protest eines von außen bezwungenen „Ich“ auf- gedeckt worden. Es ist wichtig zu sehen, daß die Freude am Unrechttun klar dar- gelegt wird als ein Ausbruch von rebellischem Stolz.

In Kap. 5—6 tritt eine neue Rätselfrage hinzu: die Prinzipienlosigkeit des

Helden, Er ist voller Widersprüche, untätig, ohne träge zu sein. Auch diesem Ideal kann er nicht treu bleiben, wie auch keinem anderen. Kap. 7—9, die das Hauptinteresse der Kritiker auf sich gezogen haben, beschäftigen sich vor allem mit der Ausgestaltung der zwei vorgenannten Themen. Zunächst wird die Wichtigkeit des unabhängigen Wollens betont. In Kap. 8 lehnt sich der Held egen die ,,Tabellierung des menschlichen Glückes auf. In Kap. 9 wird be- e daß der Mensch neben aufbauenden auch zerstörende Instinkte besitzt, und daß es kein vernunftgemäßes Prinzip gibt, den einen dem andern vorzu- zichen. Der Held verzichtet in Kap. 10 auf das „wohlweise Gebäude aus Kristall“, es kann seine Wünsche nicht befriedigen und folglich auch nicht die Bekrönung seiner Ideale bilden. In der Absage auch an dieses Ideal bestätigt der Held nochmals das Aussichtslose seines Verharrens, seiner „inercija“.

Im 2. Kap. war das Verhältnis des Helden zum „Schönen und Hohen“ Gegenstand gewesen, das in der Kritik in verstellter Form aufgenommen wurde. Bei dem Helden sind 8 Grundzüge in diesem Punkt zu bemerken: zuerst die

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„Tränen, Rührung“ usw., zu zweit steht immer er selbst im Mittelpunkt, er ist der „Schönste, Höchste“, schließlich wird das eigene Verhältnis zum „Schönen und Hohen“ ironisch beleuchtet. Es gab ein „Schönes...“ für ihn nur, solange dabei Selbstbeweihräucherung möglich war, nach dem Wegfall dieses Trostes gibt es für ıhn auch kein wirklich „Schönes und Hohes“ mehr. Verf. geht zu den Handlungen des Helden über: dem Zusammentreffen mit dem Offizier, der as Zusammenkunft für Zverkov und der Episode mit Liza, bei welch etzterer er am längsten verweilt. Hier zeigt sich: zuerst überflüssige Senti- mentalität, dann am darüber, daraus resultierender Ärger über Liza als Schuldige daran und zur Schau getragene Veraditung. Es folgt die so berühmt gewordene Phrase „mag die Welt zugrunde gehen, wenn ich nur Thee habe“, die als vollständiger Anormalismus bezeichnet worden ist, aber auch zu Unrecht, denn hier ist alles vom Helden dE Häßliche und Niedrige auch in seinen Augen häßlich und niedrig. Er will nur durch seine pathetische Tirade der gemutmaften Verachtung Lizas mit einem Fußtritt begegnen. Hier findet keine „Umwertung der Verte statt. Liza begreift das auch, sie fühlt, daß er selbst unglücklich ist. Ihm aber ist es nicht gegeben irgendwie und -wo ein Opfer zu bringen, ihre Teil- nahme anzunehmen usw. Unter dem Deckmantel des Unrechttuns verbirgt sich oft ein Streben nach dem „Guten, der Liebe“ usw., doch der Stolz des Menschen aus dem Podpol’e bäumt sich dagegen auf. Emmy Haertel.

A. Skaftymov: „Zapiski iz podpol’ja“ sredi publicistiki Dosto- evskogo. Okonlanıe. Slavia 8, 2 (1929). S. 312—339.

Sk. prüft die Bedeutung der Simonov, Zverkov u. a. in den Zapiski für den Ablauf der Ideen des Menschen aus dem Podpol’e. Ihre Unbedeutendheit erhöht nur sein Selbstgefühl.e Von besonderer Wichtigkeit ist die Szene, wie Liza ihm den Brief vorzeigt, in dem ein Student der Medizin ihr in Ausdrücken größter Hochachtung schreibt. Verf. er hier bis ins Kleinste die beider- seitigen seelischen Vorgänge um zu dem Schluß zu kommen, daß der Held sich darin endgültig vom „lebenden Leben“, von den moralischen Grundlagen des Lebens lossagt. Sk. wiederholt, daß man irrtümlich hier ein Losreißen D.s von humanistischen Idealen hat schen wollen. Es ist aber hier nur eine Absage an das Ideal rationalistischer Theorien zu sehen. Die ganze Dialektik des Werkes dient nur dazu das nteil des vom Helden Gesagten zu beweisen. Seine Ideen führen zum „Krach“, zur Verzweiflung usw. Verf. weist auf gedankliche Übereinstimmung hin zwischen dem Inhalt der Zapiski und dem unter dem Titel „Prigovor“ im „Dnevnik pisatelja“ enthaltenen Brief eines logischen Selbst- mörders. Allem was D. in dem Chaos der Ideen im Podpol’e verurteilenswert erschien, stellt er als Inhalt der „Zivaja Zizn“, von der der Held sich losgerissen, das elementare Verlangen nach Liebe und Selbstopferung für andere entgegen, wie es in Liza verkörpert ist.

III. Eine genaue Verfolgung der von D. in „Vremja“ und „Epocha“ aus- gesprochenen Ideen über die geistigen Defekte der zeitlichen Strömungen ver- deutliche es, daß diese Ideen künstlerisch in den Zapiski zur Darstellung gelangten. Immer wieder hat D. als Publizist von der Verdunkelung der moralischen Grund- sétze, der individualiscischen Absonderung usw. gesprochen, aber diese u. a. an- fechtbaren Eigenheiten der Zeitgenossen werden vom Helden des Podpol’e in ihrem höchsten Ausmaß vertreten, die große Masse ist „naiver“ als er und leichter mit den Verhältnissen auszusöhnen. Der Held des Podpol’je ist „bespokvennik“, folgerichtig bis zum äußersten durchgeführt. Er ist Phraseur, aber ausgereifter Phraseur. Die letzten Ideen der Zapiski gipfeln in der slavophilen Verherr- lichung des Wahren im Volke, wie es auch in Liza verkörpert ist. Die Zapiski dürfen daher nicht aus dem ganzen System der D.schen Weltanschauung aus- gesondert werden, er geht darin nur zu einer neuen Etappe seines Schaffens über, zu einer Bereicherung seiner künstlerischen Dialektik und zur Verfeinerung der

ischen Kontroversen.

IV. Unzweifelhaft hat D.s empirische Persönlichkeit viel von dem Gift in sich getragen, welches dem Helden aus dem Podpol’e eignete. Er war von un- endlicher Güte, aber argwöhnisch, krankhaft reizbar usw. Er selbst empfand

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das Schlechte als etwas, das nicht sein sollte, das Gute als Erwünschtes und Heiliges. Es ist fraglich, wie weit in seinem persönlichen Leben D. dieses Ideal erreicht hat, er hat danach aber immer gestrebt und forderte die Menschheit auf ihm zu folgen. Auch hierin stellen die Zapiski keine Ausnahme dar. Er tadelte nur das Losgerissensein vom eigenen Boden bei den Zeitgenossen besonders, weil sie es selbst nicht merkten. Im Helden des Podpol’e sind die daraus erwachsenen Fehler zum Aufersten ausgebildet. Emmy Haertel

Ettore Lo Gatto: Su «guerra e pace». Rivista di letterature slave. Anno 4, 5 (1929). S. 363—368.

Verf. erinnert an den Ausspruch von Strachov: „Wenn es kein russisches Kaiserreich mehr geben wird, dann werden die fremden Nationen aus Krieg und Frieden erfahren, was für ein Volk das russische war“, um selbst hinzu- zufügen: „Nach der Revolution können nicht nur die fremden Völker, sondern auch das russische Volk und schneller als Strachov das geahnt aus „Krieg und Frieden“ erfahren, was die russische Aristokratie gewesen ist. Über den Adel, als im Roman vorwiegende Gesellschaftsschicht und über den Zusammen- hang mit ihm seitens Tolstojs haben sich letzthin zwei bekannte russische Kritiker geäußert: L’vov-Rogalevskij untersucht das gesamte Schaffen T.s darauf- hin, wie sich darin der Übergang von den sozialen Anschauungen der Aristokratie zu denen des Volkes vollzogen hat (O usadby k izbe. M. Federacija 1928), und Sklovskij verweilt bei der Geschichtsepoche von „Krieg und Frieden“ (Materijal i stil’ v romane Lea Tolstogo „Vojna i mir“. M. Federacija 1928). L.-R. hebt hervor, daß T.s Antipathie gegen die gesellschaftliche Mittelschicht, die es wohl zu Tolstojs Zeiten gegeben hat, aber nicht in der Zeit, wo der Roman spielt, dazu beigetragen haben wird, daß die darin geschilderten Klassen in so präg- nanter Weise zur Darstellung gebracht worden sind. Beiläufig erwähnt hier Lo G. die auch von L.-R. behandelte Frage der ausgedehnten französischen Text- stellen im Roman, die infolge scharfer Angriffe in der russ. Kritik in späteren Ausgaben durch den entsprechenden russ. Text ersetzt worden sind, und er- innert daran, daß in der ausgezeichneten italienischen Übersetzung des Werkes durch die Herzogin d’Andria (Turin, „Slavia“ 1928) auf Wunsch der Hrsgr. der französische Text beibehalten worden ist. Sklovskij, als Formalist, hat in seinen Untersuchungen ganz neue Wege beschritten, indem er das Zeitgemäß- Moderne in den Anschauungen des Romans dem archaischen Prinzip der Helden- verehrung gegenübergestellt hat.

Die vielumstrittene Frage, inwieweit T. in den Gestalten des Romans Persönlichkeiten seines Kreises geschildert hat von T. selbst war das im „Russkij Archiv“ v. J. 1868 bestritten worden! wird durch die Memoiren seiner Schwägerin Bers „Moja Zen" doma i v Jasnoj Poljane“ (M. 1928) in gliicklichster Weise beleuchtet. L.-R. hatte an diesen Fragen ein ganz besonderes Interesse, weil er das Aristokratische in den Anschauungen T.s dadurch analysieren zu können hoffte. Die große Familienchronik der Rostovs und Volkonskijs im Rahmen der russ. Geschichte mußte ja Gegenstand der Untersuchungen, Exaltionen und Ablehnungen werden. Gerade in der Fachkritik haben die Be- urteilung der Tolstojschen Geschichtsphilosophie in „Krieg und Frieden“ vielfach hemmend für die Schätzung des Werkes gewirkt, während die Leserwelt sofort davon begeistert war. N. N. Apostolov in seinem von der Kommission zur Jahrhundertfeier für T. herausgegebenen „Lev Tolstoj nad stranicami istorii (M. 1928) behandelt das aufs Eingehendste; er selbst hält dafür, daß das ge- schichtliche Material treu wiedergegeben ist, während Sklovskij dieses Material als umgestaltet und stark überarbeitet ansieht. Hier spielt die Beurteilung der zwei Gestalten Napoleon und Kutuzov die Hauptrolle. Man hat in der ersteren verschiedentlich eine Karikatur oder doch etwas gewollt von der Wirklichkeit Abweichendes sehen wollen. Apostolov hält diesen Vorwurf für unberechtigt, er beruft sich hierbei auf Beschreibungen von Personen aus der Umgebung des Kaisers, de Segur, de las Cases u. a., die ganz solche Züge festgehalten haben, wie T. sie beschreibt. A. selbst hat aus diesen Schriften direkt den Eindruck des Karikaturenhaften gewonnen. Die Ergebnisse der Untersuchungen Sklovskijs

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werden von größtem Wert sein fiir ein abschließendes Werk über diese Fragen, welches zurzeit noch nicht existiert. Auch Gusev bringt im zweiten Bande seiner Tolstojbiographie nichts Erschöpfendes darüber. Aleks. Amfiteatrov hatte in seinen Skizzen über den russischen Patriotismus bestätigt, daß bei einer Nach- prüfung des massenhaften Materials über die E e von „Vojna i mir“ zu er- sehen ıst, daß T. nicht „erfunden“ hat. Gusev aber hebt gerade diejenigen Stellen hervor, in denen zu erschen ist, daß T. „erfunden“ hat. Lo G. hält es für wahr- scheinlich, daß gerade in diesem „Erfinden“ und „Nichterfinden“ die Ursache für den epischen Charakter dieses Werkes liegt, der es möglih machen wird, daß es zum Mythos wird, durch den in künftigen Jahrhunderten die Welt erfahren kann wie Strachov sagte —, was für ein Volk das russische gewesen ist Emmy Haertel.

A. Pogodin: „Provincial'nye očerki“ Annenkova. Slavia 8, 1 (1929). S. 118—131.

Zweck dieses Aufsatzes ist es, den russ. Literarhistorikern die nicht ge- nügend geschätzte Bedeutung Annenkovs als treuen Schilderer der russ. Zustände in der Provinz und auf dem flachen Lande in Erinnerung zu bringen. Seine Be- ziehungen zu Turgenev sind bekannt, wer seine „Pisma iz provincii“ gelesen, kann sich überzeugen, daß gewisse Mädchentypen, die A. in den Häusern der Gutsbesitzer kennen gelernt und in seinen Pis’ma beschrieben hat, den Turgenev- schen weiblichen Typen sehr ähneln, die, oft gebildeter als ihre Umgebung, wie z. B. Elena in „Nakanune“ einer gewissen Vereinsamung verfallen mußten. P. zählt andere von A. gezeichnete Typen auf, wie Wahrheits- und Gottsucher, die in der Literatur der 40er und 50 er Jahre so häufig werden sollten. Ferner sind Momente aus dem Volksleben, besonders dem Volksgesang, den A. in seiner anzen Eigenart erlebt und beobachtet hat, und ethnographisch wichtige Einzel-

eiten in seinen Briefen aus der russ. Provinz, die mehr beachtet werden sollten,

als das gemeinhin geschieht. Verf. würde es begrüßen, wenn ähnliche Erinne- rungen, z. B. aus den Schriften Sologubs oder Panaevs, wo sich auch Turgenevsche Frauentypen finden, jetzt einmal daraufhin durchgesehen würden, wo in der Literatur der 40er und 50er Jahre das „dokumentale“ Schaffen aufhört, und wo die „Schule“ beginnt, zu der nicht allein Turgenev gehörte, sondern auch so viele seiner Zeitgenossen. Emmy Haertel.

Andrej Bilyj. Sergjusz Kułakowski: Andrzej Bielyj. Wiadomości Lite- rackie 1929, Nr. 21.

Kulakovskij schildert den Lebenslauf und die Bedeutung des verstorbenen russischen Dichters. 1880 geboren, Sohn eines bekannten Mathematikers, stand der junge Borais Bugaev, als er sich in den Poeten Andrej Bélyj verwandelte, unter dem beherrschenden Einfluß von Solovevs Philosophie. Die „Symphonien“, in denen er den Kampf der verderbten Welt mit dem Guten, des Antichrist gegen Christus orchestrierte, sind Marksteine der russischen rhythmischen Prosa. Der Gedankenwelt MereZkovskijs verwandt, ist hier die Lehre vom Widerstreit Ahrimans und Ormuzds (übrigens läßt sich auch die Parallele zu Zeromski leicht aufzeigen). Bald gerät Bélyj unter die suggestive Wirkung von Steiner und der Anthroposophie. Im letzten Jahrzehnt seines Lebens aber wird der Poet aus einem Schüler zum Meister und zwar nur in Rußland konnte aus den Voraussetzungen eines strengen Individualismus derartiges sich ereignen —, der neuen proletarischen Literatur, die von Bélyj ihre Prosodik und noch mehr entlehnte. 1929 ist er ge- storben. Otto Forst-Battaglia.

Józef Mirski: Nemirovit-Dantenko. Wiadomości Lite- rackie 1929, Nr. 33. mit dem berühmten russischen Theatermann, der sich, anläß- lich eines Kuraufenthalts in Karlsbad mit diplomatischer Vorsicht über die zeit- genössische Bühne und ihre Aufgaben äußert. Otto Forst-Battaglia.

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Ukraine V. Mjakotin, „Rus“ i Ukraina“: ,,Poslédnija Novosti“ (Paris)

Nr. 3079 v. 27. August 1929.

S Die für das historische Verständnis der ukrainischen F notwendige Klärung der Begriffe „Rui“ und „Ukraina“ für die in der 3 Literatur O. Hoetzscs in ihrem positiven Gehalt für die methodische Bearbeitung von Fragen der älteren russischen Geschichte seinerzeit nicht genügend gewürdi „Russischen Probleme“ (Berlin 1917) im ersten Abschnitt über „Kiev und Moskau“ die beste Einführung geben wird nach dem Urteil V. Mjakotins durch die Unter- suchung von Fürst A.M. Volkonskij: „Der Name Rus in der vormongolischen Zeit“ (Imja Rusi v do-mongol’skuju poru. Izd. obščestva „Edinstvo“. Prag 1929) gefördert. 1 der Propaganda der ukrainischen ratisten ist daran fest- zuhalten, ie russischen Chroniken vor dem Tatareneinfall das Vort „Ukraina“ als Eigennamen, als Bezeichnung eines bestimmten Territoriums, nicht kennen; es bedeutete damals vie später in den nördlichen Chroniken des 18. bis 16. Jahrhunderts lediglich „Grenzbezirk“ einzelner Fürstentümer. Daher gab es auch in der Moskauer Periode Ukraine als offizielle Bezeichnung, die Ukrainy Meščerskija, Mordovskija, Rjazanskija, Tul’skija, Smolenskija, Litovskija, Pskov- skija, Tatarskija, Nemeckija, worunter die Grenzstriche der Melkerjaken, Mord- vinen, von Rjazan, Tula, Smolensk, Litauen, Pskov, gegen die Tataren und Deutschen (Livland) verstanden wurden.

Nach Kostomarovs Bemerkungen zur Terminologie der Worte Rossija (Rosija, rossijskij, rossijanin, Ruf, Russkij) in der von der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften i. J. 1929 veröffentlichten Sammlung seiner publizisti- schen und polemischen Schriften läßt sich die Wandlung jener Begriffe durch die ukrainische Publizistik des 19./20. Jahrhunderts ermessen. F. Epstein.

Knjaz’ A. Volkonskij: Come la storia della Russia premon- golica può divenire una questione di attualità. L’Europa Orientale 9, 3—4 (1929), S. 93—117.

Durch den Aufsatz von Onatskij in L’Europa Orientale 1928, Nr. 7—8 „Il problema ucraino a traverso la storia“ veranlaßt, hat Fürst V. alle gegen die ukrainischen Hypothesen Onatskijs sprechenden historischen Data zusammen- gestellt, so zunächst chronologisch geordnet, die vom 9,—18. Jh. nachweisberen Quellen, aus denen die übereinstimmende Bezeichnung Rus’ etc. für das prä- mongolische Rußland zu ersehen ist. Er weist in einer Anm. auf die willkürliche Umänderung des Wortes „russisch“ in „ruthenisch“ aus Daniels Reise zum HI. Grabe durch Gr. M. Tyszkiewicz in „Histoire de la littérature ukrainienne“ hin. Um die Unzulänglichkeit der von O. vertretenen Meinung, es habe ursprünglich ein bewußter Gegensatz zwischen süd- und nordrussischem Gebiet gegeben, zu entkräften, stellt Fürst V. eine Tabelle für die bald im südlichen, bald im nörd- lichen Gebiet gelegenen Fürstensitze von 16 regierenden Fürsten auf, angefangen von Vladimir d. Hl. bis zu Mstislav II. Izjaslavié. Für die von alters übliche An- wendung des Wortes „ukraina“ im Sinne von „marca“ der karolingischen Herr- schaft führt er zum Beweis die 18 Zitate der russischen Chroniken an, in denen es gebraucht ist, unter denen nur 8 im Sinne von Grenzgebiet stehen, und zwar während der vormongolischen Zeit; für die nachmongolische Zeit sind dann Zitate angeführt, die mit „ukraina“ Grenzgebiete bezeichnen. Fürst V. behandelt dann noch die Beziehungen Galiziens zum übrigen Rußland der vor- und nachmongoli- schen Zeit. Emmy Haerte

Ju. A. Javorskij: Galicko-russkaja virda o zloj žene. Slavia 7, 4 1929), S. 922—926.

Javorskij zitiert ein Gedicht vom Ende des 18. Jahrhunderts über das beliebte Thema von der „bösen“ Frau, welches sich, nebst anderem altem handschriftlichen Material, in dem galizisch- russischen Museum von A. S. Petruleviè in Lemberg be- fand und leider nach der russischen Evakuation vom Jahre 1915 verschollen ist.

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Daß die Klage über die böse Frau, mit der zu leben schlimmer ist al? in der Wüste mit einem Löwen, letzten Endes auf eine Stelle im Buch Sirach und die Sprüche Salomonis zurückzuführen ist, wird niemand bezweifeln. Jav. geht hier der Frage nach, wie weit späterhin asketische Strömungen dazu beigetragen haben können, diesen ablehnenden Standpunkt gegen das Weib frisch zu beleben. Für das Russische kämen dann vor allem byzantinische Schriftsteller in Betracht. Solche antifemininen Aussprüche waren das Hauptmotiv in dem Johannes Chrysostomus zugeschriebenen „Slovo o zlych Zenach“, die in die entsprechenden altrussischen Sborniks übergingen, so in die „Plela“, „Slovo Daniila Zato£nika“ usw. Die dich- terische Umgestaltung des alten Themas, wie in dem zuerst zitierten Vers, ist nichts seltenes, Jav. führt eine Reihe derartiger Gedichte älterer Sammlungen an. Das Motiv finder sich auch in umgekehrter Anwendung, d. h. gesungen von Frauen gegen verhaßte Ehemänner. Es bleibt die Frage offen, welchem literari- schen Typ das Gedicht aus der Lemberger Sammlung nachgebilder ist. Auffallend ist es, daß es, ebenso wie das „Slovo o zlych Zenach“, über das biblische Original herausgehend, nicht nur von Löwe und Schlange spricht, sondern eine Menge anderer Tiere einbezieht. Ob hier unmittelbar eine Übernahme aus dem „Slovo“ erfolgt ist, oder ob ein Zwischenglied das Muster abgab, läßt sich zurzeit nicht entscheiden. Emmy Haertel.

K. PuSkarevié: F. L. Celjakovskij v ukrainskich perevodach. Slavia 8, 2 (1929). S. 289—296.

C. gebührt, als einem der „Erwecker“ des nationalen Bewußtseins in der Literatur, eine ganz besondere Stellung innerhalb des russ.-Cechischen und ukrain.- &echischen Literaturaustausches. Verf. erinnert an die verhängnisvolle Wirkun eines Zeitungsaufsatzes von C., der an Nikolaj I. und seiner Polenpolitik Kritik übte und uld daran war, daß er nicht als Universitätslehrer nach Rußland be- rufen wurde. €. hat in den „Literni zpravy“ Berichte über neue, auf russ. und ukrain. Literatur bezugnehmende Bücher gebracht, dort äußerte sich auch Hanka über das Buch „Dumkı i pesni, ta ite de Sto“ von Amvrosij Mogila, aus dem 8 Jahre später C. einiges übersetzte. Die Folgen der slawischen Wiedergeburt machten sich besonders in Galizien bemerkbar, wo sich Salkeviè, Golovackij u. a. bemühten eine Sprach- und Literatureinheit herzustellen. Damals nahm auch das Interesse der polnischen Intelligenz für alles das Volkstümliche Betreffende zu, daher kamen C.s „Slavjanskie narodnye pesni“ sehr in Aufnahme, ebenso wie Kollars panslavische Ideen die Geister bewegten. Doch bestand zwischen den slavophilen Ideen in Großrußland und der Ukraine ein Unterschied, auf den auch Dragomanov hingewiesen, die ukrainische Slavophilie ist dagegen eng mit der &echischen Wiedergeburt verknüpft.

Den Übersetzungen aus dem Cechischen ins Ukrainische gebührt in der 1. Hälfte des 19. Jhs. entschieden ein Vorrang vor dem polnisch-ukrainischen Literaturaustausch. Kollar wurde von Metlinskij übersetzt, der dessen germano-

hobe Gesinnung teilte. Er übersetzte auch Celachovskf; ein künstlerischer Wert

ist seinen Übersetzungen jedoch nicht zuzuerkennen. P. gibt durch Textgegen- überstellungen den Beweis. Als nächstfolgender Übersetzer Celachovskys ist Nikolaj Ustjanovié genannt und zuletzt A. A. Korsun. Des letzteren Über- setzungen sind wörtlich treu aber nach der künstlerischen Seite hin auch an- fechtbar. Emmy Haertel.

Cechoslovakai Wolfango Giusti: Un «Contrasto tra l’anima e il corpo»

nella letteratura céca del XIV secolo. Rivista di letterature slave. Anno 4, 5 (1929). S. 293—299.

Die čech. Literatur des Mittelalters besitzt mancherlei künstlerisch Wert- volles, ist aber unter der čech. Intelligenz, bei deren ausschließlich nationalen Bestrebungen zugänglich gewesener Sinnesrichtung, absichtlich unbeachtet ge-

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blieben. Man ist dem katholischen Mittelalter gegenüber noch jetzt in der Cechoslovakei größtenteils uninteressiert. Zu den interessantesten Erschei- nungen dieser Literatur gehört der „Spor duše s tělem“, der, wie G. nach wert, sich stark unterscheidet von der allgemein bekannten Art dieser im Mittelalter so beliebt gewesenen Dichtungen und auch von dem im 8. Jahrzehnt des 13. Jhs. enstandenen italienischen „Contrasto“. So gut wie ausnahmslos trägt in diesem Streit, zwischen Seele und Leib überall die Seele den Sieg davon, und die dem Leib zugeschriebenen Argumente muten abstoßend an in ihrer Vulgarität. Ganz anders verläuft aber der „Spor“. Nicht nur ist von einem Sieg der Seele nichts zu sehen, sondern beide Gegner legen einfach ihren verschiedenen Standpunkt dar, und der Leser behält den Eindruck, daß der Streit unentschieden ge- blieben ist.

Sehr richtig hat Roman Jacobson im Vorwort zu dem von ihm heraus- gegebenen „Spor duše s tělem (Praha. Kuncif 1927) bemerkt, daß der Verf. des „Spor“ absichtlich diesen Verlauf gewählt hat, um dadurch die Möglichkeit zu gewinnen zur freien Ausgestaltung der eigenen dichterischen Inspiration. Nach Giustis Meinung muß der Dichter eine Mentalität gehabt haben, die fünfund- einhalbes Jahrhundert später „positivistisch“ genannt werden würde. Ihm er- scheint nicht so wichtig, daß hier mancher Gedanke geäußert wird, der den kirch- lichen Dogmen zuwiderläuft, als daß der Streit mit einer solchen Objektivität dargestellt wird. G. greift aus der reichen mittelalterlichen Literatur dieser Gattung zum Vergleich die ,,Contenzione infra l' anima e corpo“ von Jacopone da Todi heraus und stellt die Texte auszugsweise einander gegenüber. Bei Jacopone endet der Streit in traditioneller Veise zugunsten der Seele. Im čech. Text sind die der Personifikation des Leibes zugeschriebenen Gedanken- ginge keineswegs abstoßend, sondern tragen ein Gepräge von heidnischer Lebensfreude und klassischer Ruhe. Zudem sind ihr auch religiöse Motive in den Mund gelegt, sie beruft sich darauf, daß durch den Kreuzestod Christi alle von ihrer Sünde erlöst worden sind. So zeigt der Zech Text eine innerliche Bereicherung beider Streitenden, wenn ihm auch die starke Überzeugungskraft fehlt, die für Jacopone da Todi so charakteristisch ist. Emmy Haertel

Wolfango Giusti: Dalla poesia ideologica alla pocsia pura in Cecoslovacchia. Rivista di letterature slave. Anno 4, 6 (1929). S. 373—390.

Die neuere Cech. Literatur in ihrer Gesamtheit ist oft ungerecht beurteilt worden, sowohl von Fremden wie von Cechen selbst. Man sollte sich bei der- artigen Urteilen immer die geographische Lage, die Geschichte und nationalen Probleme der Cecholv.vor Augen halten. Beiläufig weist G. darauf hin, wie un- erläßlih das beim Studium jedes einzelnen der slawischen Länder ist, und wie bald die Phantastik von einer slavischen literarischen Einheit verschwinden würde, wenn man so im einzelnen Fall verführe. G. macht auf gewisse Parallel- erscheinungen in der Geistesgeschichte Italiens und der Cechosl. hin, auf gewisse Stagnationen, die eintreten konnten, während in anderen europäischen Ländern, die die Grenzen des Autochthonismus längst überschritten hatten, bereits Fragen von universeller Bedeutung in der Literatur angeschnitten wurden. In der čech. Literatur der letzten Zeit hat sich die soziale Frage im Anschluß an die patriotische bewegt, zunächst als ein Anhängsel von sekundärer Bedeutung, später als Gleichgewicht haltend, und zu guter Letzt in vollem und markantem Gegensatz zu der nationalen Sache. Die nationale Bewegung hatte sich, ebenso wie die soziale, eine Zeit hindurch einmütig gegen das deutsche Übergewicht in Politik und Wirtschaft gewandt. Mehr oder weniger waren die Probleme mit- einander eng verschmolzen von den frühesten Zeiten des Cech. „risorgimento“ an bis in die Jahre des Weltkriegs hinein. Der nationalistische Dichter war sic bewußt auch für eine soziale Umgestaltung mitzukämpfen, der soziale, oder vielleicht auch sozialistische, kämpfte mit um die nationale Freiheit. Der Militarismus schien im beiderseitigen Feinde (Osterreich) verkörpert, die Selbst-

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bestimmung der Völker wurde von allen Klassen ersehnt, und der soziale Kampf war weniger cin Klassenkampf als ein Kampf des tech. Volkes gegen die deutschen und jüdischen Kapitalisten. Nach Erlangung der nationalen Einheit wandelt sich die soziale Dichtung um zur proletarischen, und an Stelle der sozial-nationalen Ideen treten ausgesprochene Tendenzen des KlassenbewuStseins. Zu aller Letzt aber taucht die Frage auf: da die proletarische Dichtung dasselbe sagt, was ein Zeitungsartikel ebensogut sagen könnte, wozu noch Verse schreiben? Dem-

gegenüber tritt die Bedeutung des Poetismus als rein künstlerische Angelegen- heit ins rechte Licht. Er will die Dichtung von Ideologie, Logik und Ratio- nalismus befreien und betrachter die Lyrik als spontanen Gefühlsausbruch, der das gesamte Leben erfassen und einem Europäismus entgegenstreben soll. Diese radikale Umgestaltung der Lyrik bringt eine Bereicherung, keine Verarmung der Kunst mit sich, und sollte nicht als Kinderei oder Primitivität abgeurteilt werden.

G. betrachtet, ausgehend von diesen allgemeinen Gesichtspunkten, als ehe- mals hochaktuell gewesen, im Augenblick inaktuell geworden die Dichter: Machar, Bezruč, S. K. Neumann und Volker. In letzter Zeit hat Vaclav Cerny mit seinem „Kořeny současného umění“ (Praha. Girgal 1929) lebhafte Diskussionen hervorgerufen, da er für die gesamte zeitgenössiche Dichtung die Philosophie und Ästhetik Bergsons als Ausgangspunkt annimmt. Bergson selbst wird von Cerny wieder mit Schelling und Schopenhauer in Kontakt gebracht, wodurch der Eindruck entsteht, als sei letzten Endes der jetzige Vortrab der Dichtung romantisch orientiert. C. beugt zwar einer solchen Auslegung vor und will nur nachweisen, daß die Grundlagen der Bergsonschen Philosophie tief eingedrungen sind in die Sphäre des modernen Denkens, gleich ob bewußt oder unbewußt. G. möchte jedoch, daß Cerny in einer Neuausgabe seines Buches seine Aus- lassungen über den Bergsonschen Einfluß revidierte und das Kapitel über den Parallelismus zwischen Bergson und Marinetti ganz ausließe. Cernf hat sich auch die Ideen Freuds zu eigen gemacht, und hiermit ist er an den Wurzeln des Poetismus angelangt, der das Gefühlsmäßige will und das Rationelle ver- abscheut. Unter diesen Gesichtspunkten bespriht G., als Übergang von ideologischer Dichtung zum Poetismus, Seifert und als unmittelbar im Poetismus stehend Nezval. Der Poetismus wird unbedingt zu einer Reaktion führen. In der früheren Generation stellt Březina eine Art Synthese dar, in der Gegenwart scheint Vančura, als über den Poetismus hinausreichend, zu einer synthetischen Persönlichkeit werden zu sollen. Emmy Haertel

Ettore Lo Gatto: Otokar Březina. Rivista di letterature slave. Anno 4, 6 (1929). S. 473—475. Verf. widmet dem im März d. J. verstorbenen Dichter einen Nachruf, dem eine Aufzählung der bedeutendsten Aufsätze über Bfezina und der Über- setzungen seiner Werke beigegeben ist. Emmy Haertel

V. Tille: Zlatohlävek. Slavia 7, 4 (1929), S. 895—918.

Durch J. Boltes Bearbeitungen des alten Märchenmotivs vom Goldkopf (bzw. Grindkopf, Goldhaar usw.) angeregt, fiir das dieser Varianten aus germanischen, romanischen, slavischen und außereuropäischen Sprachen beigebracht, will T. die in &echischen Texten anzutreffenden Varianten untersuchen. Die Grundidee des Märchens nähert sich dem Typ des unbekannten Helden, auch des verstellten Narren. T. stellt dazu noch Varianten aus dem östlichen Riesengebirge mit der Fabel vom „Honza“, vom „Květ“, „Sirotek Ondřej“, „Hanzl“, „Jan Pecival“ anderer Sammlungen und dergleichen mehr. T. kommt zu dem Schluß, daß das Gerüst der &echischen Varianten verschiedentlich abweicht von dem von Bolte be- sprochenen Märchentyp. Emmy Haertel

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Polen

Gumowski Marian: Sprawa braniborska w XII wieku. (Die Brandenburger Frage im XII. Jahrh.) Slavia Occidentalis VII. 91—134, VIII. 160— 221.

Der Staat der Stodoranen, welche einen Teil des Liutizen- Stammes bildeten. umfaßte das Gebiet an der mittleren Havel um Brandenburg (slav. Branibor). Ob- wohl schon 928 von Heinrich I. erobert, bewahrte das Fürstentum Brandenburg seine Selbständigkeit noch im Anfang des XII. Jahrh. und erlag dem deutschen Vordringen erst nach dem Ableben des Fürsten Meinfried, in Se 1127 getötet wurde. Sein Nachfolger war der schon früher mit seiner Gemahlin Petrissa ge- taufte Przybysław Heinrich. Zahlreiche Tatsachen, welche die freundschaft- lichen Beziehungen zwischen Przybystaw und Albrecht dem Bären bezeugen, führen den Verf. zur Annahme, daß in Brandenburg 1127 ein Staatsstreich von Przybystaw mit Hilfe Albrechts vollzogen wurde; dabei wurde Meinfried ums Leben gebracht und sein Verwandter Jaksa war gezwungen, nach Polen zu fliehen. Die Folge davon war, daß Przybystaw seither beständig unter dem deutschen Ein- fluß stand. Albrecht war sogar einige Zeit Mitregent von Brandenburg; nach seinem Sturze 1139 übte die srs Geistlichkeit (Bischof Wigger) und die Fürstin Petrissa, welche ein Werkzeug Albrechts war, starken Einfluß auf Przybystaw aus. Petrissa ermöglichte nach dem Tode Przybystaws 1150 Albrecht dem Bären die Besitzergreifung Brandenburgs.

Unterdessen verweilte der aus Brandenburg gebannte Jaksa in Polen. Der polnische Herzog Boleslaus Krzywousty war nicht imstande, irgend etwas zu-

nsten Jaksa’s zu erreichen, beschenkte ihn aber reichlich mit großen Giiter- omplexen. In Polen vermählte sich Jaksa auch mit der Tochter des dortigen Magnaten Peter Wlast. Dieser versuchte in den Jahren 1144/5 in Brandenburg zugunsten seines Schwiegersohnes zu intervenieren, zog sich aber dadurch nur die Feindschaft Albrechts zu, welche wahrscheinlich viel zu der Verstiimmelung Peters auf Befehl des polnischen Großherzogs Ladislaus II. beitrug. In der nächsten Zeit erfolgte zwar der Sturz des den Deutschen geneigten Ladislaus, welcher, von seinen Brüdern aus Polen verjagt, nach Deutschland flüchtete und dort Hilfe suchte. Seine siegreichen Brüder wollten einer eventuellen Intervention von seiten Deutsch- lands zugunsten Ladislaus zuvorkommen und aus diesem Grunde ließen sie sich zu einem Vertrage mit Albrecht dem Bären in Kruschwitz 1148 bewegen. Albrecht cl sing sich wahrscheinlich, jede Intervention deutscherseits zugunsten Ladislaus II. zu verhindern, die polnischen Herzoge versprachen dagegen, dem Jaksa keine Hilfe zu leisten. Dieser Vertrag erleichterte bedeutend Albrecht die Besitzergreifung Brandenburgs (1150). Von den Herzogen im Stich gelassen, führte Jaksa mit Hilfe der polnischen Rittergeschlechter den von ihm längst geplanten Angriff auf Brandenburg 1154 aus und herrschte daselbst bis 1157. Erst in diesem Jahre brachte Albrecht der Bär den Feldzug Kaiser Friedrich Barbarossas gegen Polen zustande und eroberte bei dieser Gelegenheit Brandenburg, während der Magdeburger Erzbischof Wichman sich Jüterbogs bemächtigte. In den Händen Jaksas verblieb aber der östliche Teil des Brandenburger Fürstentums, d. h. die späteren Territorien Barnim und Teltow mit der Hauptburg Kopytnik (Köpenick, östl. v. Berlin), deren Besitz ihm in dem 3 Vertrage zu Krzyszkowo bestätigt wurde. Dort regierte Jaksa bis zu seinem Tode (1176). Seine polnischen Besitzungen verschenkte er an die Geschlechter, die ihm bei der Eroberung Brandenburgs behilflich waren, oder er verwendete sie zu frommen Stiftungen, welche nach seiner Pilgerschaft in das heilige Land von ihm gegründet wurden. Er nahm auch beständig Teil an dem öffentlichen Leben Polens, trotz- dem aber war die Stellung der polnischen Herzöge ihm und der Brandenburger Frage gegenüber gleichgültig. Die Folge davon war wahrscheinlich eine An- näherung des kinderlosen Jaksa in seinen letzten Jahren an die pommerschen Herzöge.

Im vorliegenden Aufsatze folgt Verf. im Allgemeinen den Ansichten des Pro-

fessors St. Zakrzewski über die Brandenburger Frage im XII. Jahrh. und ihren

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Zusammenhang mit den deutsch-polnischen Verhältnissen in dieser Zeit, begründet aber seine Darstellung mit zahlreichen Quellen, wobei er auch das numismatische Material in Betracht zieht. S. Zajaczkowski.

Wlodarski Bronislaus: Rzekomy dokument Swietopelka pomorskiego z 1180 r. (Die angebliche Urkunde Swantopolks von Pommerellen vom Jahre 1180.) Roczniki historyczne.

B. V, H. I, 1—16. 1928.

Den 5 der Abhandlung bildet die Urkunde Herzog Swantopolks von Pommerellen v. J. 1180, in welcher der genannte Herrscher die kirchliche Zu- gehörigkeit des Gebietes Stolp (Stupsk) zu Gnesen bezeugt. Übereinstimmend mit der bisherigen Literatur (Klempin, Duda) hält Verf. diese Urkunde für ein Falsifikat, welches im Zusammenhange mit den seit der ersten Hälfte des XIII. Jahrhundertes dauernden Fehden zwischen dem Erzbischof von Gnesen und dem Bischof von Kammin um die kirchliche Zugehörigkeit des Gebietes Stolp ent- standen ist. Der Narratio dieser Urkunde entnimmt aber Verf. manche Angaben, welche, mit anderen Quellenzeugnissen zusammengestellt, ihm die Möglichkeit bieten, das Problem der Oberherrschaft des großpolnischen Teilfürsten Ladislaus Laskonogi über Stolp zu beleuchten und in Verbindung mit dem Fürstentage zu Gasawa v. J. 1227, wo der Krakauer Teiltürst Leszek Biaty ermordet wurde, zu setzen. Verf. beweist also, daß Laskonogi als vermutlicher Vormund des minder- jährigen Herzogs von Stolp die Oberherrschaft daselbst ausgeübt und damals dem König Waldemar II. von Dänemark Huldigung geleistet hat (1205). Nach dem Zusammenbruche der dänischen Macht an den Gestaden der Ostsee 1228 wurde Laskonogi von seinem Neffen Ladislaus Odonic und von Swantopolk angegriffen; dabei bemächtigte sich Odonic der Burg Ujście in Großpolen, während Swantopolk das Gebiet Stolp besetzte. Um das Verlorene wiederzuerobern, vereinigte sich Laskonogi 1227 mit Leszek Bialy zum gemeinsamen Mai sees gegen Odonic und Swantopolk. Verf. nimmt an, Leszek sich in diese Fehden hineinziehen ließ, nicht nur um Swantopolk zur Fügsamkeit zu zwingen, sondern auch um i Stolp zu entreißen. Die Stolper Frage war also eine der Ursachen der Gasawer Katastrophe. S. Zajaczkowski.

Pohorecki, Felix: Rytmika kroniki Galla - Anonima. Uber die Rhythmik der Chronik des Gallus-Anonym. Roczniki Historyczne. B. V, 105—169 und VI, 12—75. Poznań 1929

und 1930.

Die älteste polnishe Chronik des sog. Gallus-Anonym war schon mehrere Male Gegenstand der Studien einzelner Gelehrten. Sie nahmen fast ausschließ- lich den historischen Inhalt der Chronik und deren Bedeutung als einer histori- schen 8 in Betracht, vernachlässigten aber fast gänzlich ihre literarische Form. Folge davon war, daß in den letzten Ausgaben der Chronik ihre literarischen 5 die aber auch ihren historischen Vert aufklären können, vollständi verwischt wurden. In vorliegendem Aufsatz untersucht Verf., mit Zuhilfenahme der Arbeiten W. Meyers und K. Polheims über die mittelalter- lihe Rhythmik und Reimprosa, die Chronik ausschließlich als literarisches Denk- mal und bringt ihre Eigenrümlichkeiten und Eigenschaften ans Licht. In der Chronik des Gallus sind viele Verse und zwar 10 Leonine, 2 im Texte verwischte Hexameter und 250 rhythmische Versc enthalten, die Chronik selbst ist meisten- teils in Reimprosa verfaßt. Als Haupteigenschaft dieser Reimprosa sind der zwei- silbige Reim und der Kursus velox, welcher unlängst vor der Entstehung der Chronik (ca. 1118) zum erstenmal in der päpstlichen Kanzlei eingeführt wurde, hervorzuheben. Wenn man diesen Umstand in Betracht zicht und dabei berück- sichtigt, daß die Reimprosa im 11. und 12. Jahrh. in Blüte steht, der Gebrauch der rhythmischen Verse dagegen bis im 12. und 18. Jahrh. in Europa verbreitet ist, so muß man gestehen, daß die Chronik des Gallus-Anonym schon in der Zeit ihrer Entstehung allen Forderungen der damaligen Schreibmanier vollständig entsprach. Im Anschluß daran kann man vermuten, daß die weiteren Forschungen

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in dieser Richtung manche Aufschliisse iiber die Entstehungsfrage der Chronik und die Person des Verfassers bringen können. St. Zajączkowski

Polaczek, Helene: Geneza orła Piastowskiego. Über den Ursprung des Piastenadlers. Roczniki Historyczne. Bd. VI, 1—11. Poznah 1930.

‚Zweck des vorliegenden Aufsatzes ist den Ursprung des weißen Adlers als polnischen Reichswappens zu erklären. Dieser Adler tritt zuerst auf den Siegela der polnischen Teiltürsten seit Ende des ersten Viertels des 18. Jahrh., also circa fünfzig Jahre später als in Westeuropa auf. Er wurde von diesen Fürsten an- perendi, welche entweder in Krakau a oder Ansprüche auf Krakau erhoben

atten. Daraus kann man schließen, daß dieser Adler ursprünglich das Familien- zeichen des mit Krakau verbundenen Hauptes der Piastendynastie war. Später aber, um 1800, ist der weiße Adler S bot: des polnischen Staates geworden und seither sehen wir ihn auf den Siegeln der königlichen Städte und der Staats- behörden auftreten. Da das bis jetzt erhaltene numismatische Material das Er- scheinen des Adlers auf den polnischen Münzen im 18. und auch früher im 10. bis 12. Jahrh. aufweist, kann man somit vermuten, daß zwischen der Piasten- dynastie und dem weißen Adler eine noch in der vorheraldischen Zeit angeknüpfte Verbindung bestand. Infolge dessen ist später der Adler zum Wappen dieser Familie geworden. Dieses Ergebnis widerspricht den Ansichten der deutschen Heraldiker (Hauptmann, Siegenfeld), welche den polnischen Adler von

Reichsadler der Kaiser abzuleiten suchten und dessen Anwendung in Verbindung mit dem Vasallenverhältnis Polens zum deutsch-römischen Kaisertum setzten.

St. Zajączkowski

Zajączkowski, Stanislaw: Polska a Zakon Krzyżacki w ostatnich latach Wiadyslawa Łokietka (Polen und der Deutsche Orden in den letzten Regierungsjahren Ladislaus Locticus). Lwów, Towarzystwo Naukowe 1929. S. 292. Archiwum Towarzystwa

Naukowego we Lwowie, Dział II, Tom VI, Zeszyt 2. Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist die Darstellung des Kampfes, den der Inische König Ladislaus Łokietek mit dem Deutschen Orden wegen Pommerellen

führte. Dieser Kampf begann nach der Krönung König Ladislaus im Jahre 1320. Anfangs machte der König den Versuch, das strittige Land mit Hilfe von diplo- matisch-gerichtlichen Mitteln wiederzugewinnen und brachte seinen Streit mit dem Orden vor den päpstlichen Stuhl. Der vom Papst angeordnete Prozeß hatte einen günstigen Ausgang für Polen, indem das zu Inowroclaw (Hohensalza) gefällte Ur- teil dem König Pommerellen zuerkannte. Der Deutsche Orden entwickelte aber dagegen eine rege Tätigkeit und erreichte, daß der Papst mit zwei Bullen vom 9. Juni 1321 das Urteil aufhob und die abermalige Durchtührung des Prozesses dem Bischof von Samland anvertraute. Die genannten Bullen sind aber nicht aus der päpstlichen Kanzlei expediert worden und der Papst bewahrte seitdem eine ab- wartende Stellung in dieser Angelegenheit. Die Umwandlung der Stellung der Kurie dem pommerellischen Problem gegenüber war also nicht so groß, wie die bisherige Literatur angenommen hatte. Zu gleicher Zeit bemühte sich der Orden für den eventuellen Krieg mit Polen Verbündete zu gewinnen. Lokietek aber, ob- wohl er schon die Hoffnung auf eine friedliche Auseinandersetzung mit dem Orden aufgegeben hatte, brach nicht gegen die Kreuzritter los, da er sich ihrer Macht nicht le fühlte.

Im Jahre 1325 wurde das polnisch-litauische Bündnis geschlossen und seit dieser Zeit trat eine Wendung in der Stellung Lokietek’s ein. Da die Litauer bis zum Jahre 1827 durch einen früher mit dem Deutschen Orden geschlossenen Friedensvertrag gebunden waren, brachte Lokietek vorläufig mit ihrer Hilfe einen Feldzug gegen die Mark Brandenburg zustande und begann erst im Jahre 1327 den Krieg gegen den Orden, indem er die mit demselben verbündeten masovischen Teilfürsten angriff. Nun entflammte der Kampf. Anfangs zeigten die kämpfenden Parteien eine gewisse Zurückhaltung und Angst vor einander, im Laufe der Zeit

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wurde aber der Krieg immer mehr und mehr hartnäckig und rücksichtslos geführt. Während des Feldzuges, den die Kreuzritter gemeinsam mit König Johann von Luxemburg gegen Litauen im Jahre 1829 unternahmen, griff Lokietek das Culmer Land an, um seinem litauischen Verbündeten zu Hilfe zu kommen. Aus Rache dafür überfielen die Kreuzritter mit Johann Polen und eroberten das Dobriner Land, wonach Johann den Fürst Wenzeslaus von Plock zur Anerkennung seiner Oberherrschaft zwang. In den nächsten Jahren 1829/80 machten die Kreuzritter viele Streifzüge nach Kujavien, was Lokietek wiederum mit einem großen Feld- zuge in das Culmer Land im Jahre 1880 beantwortete. Im folgenden Jahre unter- nahmen die Kreuzritter zwei große Raubzüge nach Großpolen, während des zweiten Zugen kam es zur Schlacht bei Plowce, deren Ausgang im allgemeinen für die Polen günstig war. Trotzdem aber verlor bald Lokierek Kujavien zugunsten des Deutschen Ordens und sein zweiter Feldzug in das Ordensland endete mit einem Waffenstillstande.

In der wissenschaftlichen Literatur gab es bisher keine erschöpfende Dar- stellung des Krieges, welcher zwischen Polen und dem Deutschen Orden wegen Pommerellen geführt wurde. Abgesehen von den allgemeinen Darstellungen der Geschichte Polens und Preußens, welche diesen Krieg in großen Zügen beschreiben, gibt es, hauptsächlich in der polnischen Literatur, nur kleine Aufsätze und Bei- träge, welche die Einzelheiten des Krieges behandeln. Diese Lücke füllt erst die vorliegende Arbeit aus, indem sie das volle Bild dieses blutigen Ringens darbietet. Sie stützt sich auf das ganze schon publizierte Quellenmaterial, überdies nützt sie zwei Bullen Johann's XXII. vom Jahre 1821 aus, welche bis jetzt nur aus dürftigen Auszügen in Voigt's Geschichte Preußens bekannt waren. Vas die gedruckten Quellen anbelangt, legt Verf. viel Gewicht auf den von Prochaska veröffentlichten Bericht des Deutschen Ordens über dessen Krieg mit Polen, zieht dabei in Betracht die bisher nicht berücksichtigten Nachrichten Vilhelm's de Machaut, welcher, als Sekretär König Johanns von Luxemburg, seinen Herrn auf dessen Kriegsfahrten nach Polen und Litauen begleitete. Dies alles ermöglicht dem Verf. die ein- zelnen Tatsachen anders, als es die bisherige Literatur getan hat, zu konstruieren und in Zusammenhang miteinander zu bringen. Somit haben wir eine neue Fest- stellung der Tatsache des sog. Umschwunges in der Stellung der Kurie dem pommerellischen Problem gegenüber, dann eine neue Auffassung des Leczyca’er Waffenstillstandes v. J. 1326, des Verhältnisses der Kreuzritter zum polnischen Feldzuge gegen Brandenburg, der Gründe, die Lokietek bewogen haben, im J. 1829 das Culmer Land anzugreifen usw. Viel davon ist ganz richtig und überzeugend, manches aber scheint nur gewagt zu sein. Dabei muß auch hervor- gehoben werden, daß der Verfasser abweichend von der ganzen polnischen Lite- ratur, die Eröffnung der Kriegsoperationen dem König Lokietek und nicht dem Deutschen Orden zuschreibt. K. Tyszkows ki.

Stanislaw Kętrzyński: Do genezy kanclerstwa koronnego. (Zur Entstehung des Kronkanzleramts.) Kwartalnik Historyczny, Bd. 42 (1928), S. 713—760.

Derselbe: Uwagi o pieczęciach Władysława Łokietka i Kazimierza Wielkiego. (Bemerkungen zu den Siegeln Władysław Łokieteks

und Kazimierzs des Großen.) Przegląd Historyzny, Bd. 28 (1929), S. 1—67.

Kętrzyński findet inmitten seiner angestrengten, auf ganz anderen Gebieten als dem der historischen Hilfswissenschaften liegenden Tätigkeit noch Muße, die polnische Diplomatik um neue gründliche Studien zu bereichern, die im Verein mit Arbeiten von Semkowicz, Maleczyfski und wenigen Spezialforschern den

ualitativ beträchtlichen, quantitativ sehr armen Ertrag dieser Disziplin in Polen

rstellen. Diesmal untersucht Ketrzynski den Ursprung des Kronkanzleramts, über das die Monographien von Kutrzeba und Balzer allgemeine juristische und historische Nachrichten enthalten. (Kutrzeba: „Urzedy koronne i nadworne w Polsce. Przewodnik naukowy i literacki 1908, 4 ff.; Balzer: Skarbiec i Archiwum koronne 1917, passim und Królestwo polskie 1919 passim). Das Kronkanzleramt

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ist aus dem Krakauer Kanzlertum 5 Unter Ludwig von Anjou beginnt sich der Kanzler von Krakau Jan Radlica „cancellarius regni Poloniae zu nennen. Der Titel wird erst im 15. Jahrhundert zum ständigen. Schon vorher, seit 1888, hieß sich der Unterkanzler von Krakau „Subcancellarius aule“ (oder curie), und seit 1867 „vicecancellarius regni“ (Polonie). Die Kanzler der Teil- fürstenrümer verschwinden seit dem letztgenannten Jahr aus den Dokumenten, in denen sie nur sporadisch erscheinen: ihre Amter wurden offenbar des realen Ge- halts beraubt.

Kętrzyński erörtert die tieferen Ursachen dieser an sich bereits einwand- frei verbürgten Tatsachen. Er geht mit Recht davon aus, daß die Einigung Polens unter Lokietek noch keine endgültige war und deshalb in der Verwaltung die Spuren des Separatismus noch weiterbestehen mußten. Wir würden heute mit juridischer Terminologie sagen: aus dem Staatenbund gleichberechtigter Staaten, unter denen faktisch oder rechtlich ein Fürst als primus inter pares den Vorrang hatte, wurde unter Lokietek ein Bundesstaat, dessen Zentralgewalt bei dem König in ähnlicher Weise lag, wie im neuen Deutschen Reich die kaiserliche Autorität beim König von Preußen. Der dominierende Staat des Bundesstaates aber und dieser Staat drückte auf die kleineren Genossen, wie die masovischen Herzogrümer, noch stärker als Preußen etwa auf Bayern —, das wieder zum Königreich ge- wordene „Polen“ war vorläufig eine Realunion seiner noch nicht zum Einheits- staat verschmolzenen Teilgebiete. Deshalb behielten zunächst die acht Kanzler der „dzielnice“, von Krakau, Großpolen, Sieradz, Łęczyca, Kujawien, Pommerellen, Dobrzyn und Reußen, sowie der Krakauer Unterkanzler gleichzeitig ihre Ämter. Trotzdem gab es nur eine gemeinsame Kanzlei. Es urkundete mit ihrer Hilfe jeweils der Kanzler, auf dessen Gebiet die Aufzeichnung einer Urkunde geschah, wobei die Person des Empfängers, dessen territorialer Gerichtsstand, der Ort des Urkundengegenstandes keine Rolle spielten. Kurz, nicht das Actum, sondern das Datum entschied. Eine gewichtige Ausnahme: der Krakauer Unterkanzler trat überall als Substitut des betreffenden Kanzlers eines Teilgebietes auf. Warum? Die Antwort vermag Kętrzyński nicht mit absoluter Sicherheit zu erteilen, indessen scheint mir seine Hypothese, daß der Krakauer Unterkanzler als Vorstand der ge- meinsamen Kanzlei zu dieser allumfassenden Kompetenz gelangt sei, zuzutreffen.

Der Aufstieg des Krakauer Kanzlers ist zunächst in der Bedeutung Krakaus als des einstigen Sitzes der Großherzöge und nunmehr der Könige, dann in dem Ansehen der Träger einer an sich schon hochgeachteten Würde ünder. Man muß nur an Zbigniew, den langjährigen Krakauer Kanzler und mächtigen Vor- kämpfer der Anjous, denken. Dazu kam noch die aus den mangelhaften Itineraren Lokieteks und Kazimierz zwar nicht in allen Einzelheiten, doch genugsam be- zeugte Tatsache, daß die Könige den weitaus größten Teil ihrer Regierung auf Krakauer Territorium verbrachten, mithin kraft des Territorial-Datar- Prinzips der SC Kanzler auch die meisten Urkunden ausstellte.

Kanzlei unter zwei Vorständen, dem Kronkanzler und dem Unterkanzler bestand.

Dem Krakauer, später Kronunterkanzler, drohte jedoch die Gefahr einer erneuten Rangsverminderung. Unter Kazimierz dem Großen verliert er lan seine Position an die Teilkanzler, zumal Großpolens. Dabei scheinen persönli Momente den Ausschlag gegeben zu haben. Ein neuer Umschwung vollzog sich, als 1367 Jan von Czarnköw, der berühmte Chronist, zum Unterkanzler ernannt wurde. Nunmehr ist die Zeit der Teilgebiets-Kanzler endgültig vorbei. Ja, noch mehr: der Vorgesetzte Jans, der Krakauer Kanzler, muß den Rivalen als Mit- Datar dulden. Entgegen dem althergebrachten Usus, nur einen Urkundenaus- fertiger zu nennen. Und Wire nicht der Unterkanzler gestürzt worden: die Ver- schmelzung des Unterkanzleramts mit dem Krakauer Kanzlertum zum Kron- kanzleramt hätte nicht auf sich warten lassen. So fand die Entwicklung ihren Abschluß darin, daß nach dem Verschwinden der Teilkanzler eine einheitliche

KetrzyAskis die vorhandenen Dokumente erschöpfend verwertende Arbeit ist in doppelter Hinsicht zu rühmen: wegen ihrer umsichtig erzielten Ergebnisse und um der Zurückhaltung willen, mit der Hypothesen von Tatsachen getrennt werden. Nur zu oft verleitet in der Diplomat die Vermutung dazu, sie als Ge- wißheit zu bezeichnen. Einen Vorbehalt können vir indessen nicht unterdrücken:

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Kętrzyński hat cs unterlassen, die Entwicklung in Deutschland zu verfolgen. Ich kann hier nicht auf Einzelheiten hindeuten. Allein es sei gesagt, daß die Umwand- lung einer einheitlichen Kanzlei mit nach territorialer Kompetenz getrennten Ober-

äuptern in der Praxis des Kaiserlichen bezw. Königlichen Hofes nicht nur eine Parallele, sondern vielleicht sogar eine Erklärung findet. Auch in deutschen Landesfürstentümern, die durch Teilung in Sondergebiete zerfielen und später neu vereinigt wurden, finden wir interessante Analogien.

Die sphragistische Abhandlung Ketrzyüskis befolgt dagegen mit Erfolg eine vergleichende Methode, um über den Ursprung der Majestätssiegeln Lokieteks und Kazimierz des Großen Klarheit zu gewinnen. Nach einleitender Besprechung der sehr primitiven Herzogssiegeln Lokieteks vor der Krönung, wendet sich der Autor dem Siegel des so kurz herrschenden Przemysiaw zu. Dessen Siegel ist, so meint Ketrzyfiski, von einem polnischen oder in Polen lebenden fremden Künstler nach einem gerade rasch zur Hand befindlichen Muster, nämlich ungarischen Diplomen des 18. Jahrhunderts, verfertigt worden. Es fiel recht schön aus. An dieses Vor- bild knüpfte Wladyslaw, in allem die Tradition Przemystaws aufgreifend, an. Kazimierz des Großen Siegel aber ist eine verschönte Erneuerung des von Lokietek benutzten Typs, der über die Arp4den auf französische Muster zurückgeht. Vom politisch-historischen Standpunkt aus ist als wichtiges Ergebnis der Studie Ketrzyhskis die neuerliche Bekräftigung für Lokieteks „Königsgedanken“ zu nennen. Vielleicht führen uns künftige Forschungen noch weiter und birgt sich hinter der Verwendung eines ungarischen Siegeltyps mehr als bloßer Zufall. Kunstgeschichtlich müssen wir die hohe 3 r Arbeit betonen, die den

Inischen Siegelstechern alle Ehre macht. Es handelt sich um ausgesprochene orträtsiegel, die den Emblemen, selbst dem Thron, nur sekundäre Rolle zu- weisen. Otto Forst- Battaglia.

Polnische Reformationsgeschichte.

Stanisław Bodniak: -Hieronim Baliński, nieznany polemista katolicki ze schyłku XVI wieku. (Hieronymus Baliński, ein un- bekannter katholischer Polemist aus dem Ende des 16. Jahr- hunderts.) Reformacja w Polsce, Bd. 5 (1928), S. 104—114.

Wiodzimierz Budka: Faust Socyn w Krakowie. (Faustus Socinius in Krakau.) Ibid., S. 120—123.

Edmund Bursche: O unitaryzmie wogóle i o polskim w szczególności. (Über den Unitarianismus im allgemeinen und den polnischen im besonderen.) Ibid., S. 129—157.

Kazimierz Kolbuszewski: Przegląd prac z zakresu dziejów reformacji w Polsce. (Überschau der Arbeiten auf dem Gebiet der 5 Reformationsgeschichte.) Ibid., S. 490—506.

Stanislaw Kot: A. Frycza Modrzewskiego list do kröla Zyg- munta un rzy wręczeniu dzieła o Poprawie Rzltej. (A. Frycz Modrzewskis Brief an Zygmunt August, geschrieben bei der Überreichung des Werks „Von Verbesserung der Republik“.) Ibid., XX, S. 115— 119.

Stanislaw Ptaszycki: Konfederacja Warszawska r. 1573. (Die Warschauer Konföderation von 1573.) Ibid., S. 90—97. Józef Siemie ski: Dysydenci w ustawodawstwie. (Die Dissi-

denten in der Gesetzgebung.) Ibid., S. 81—89.

Derselbe: W obronie „dóbr“ Konfederacji 1573 r. (Zur Ver-

teidigung der „Güter“ der Konföderation von 1573.) Ibid.,

S. 98—103. Aus der Übersicht Kolbuszewskis läßt sich ein Bild über die qualitativ sehr hoch stehende polnische Forschung zur Reformationsgeschichte gewinnen, die

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quantitativ freilich mit den üblichen finanziellen Schwierigkeiten zu kämpfen har. Diese Jb. haben mit Wotschkes Arbeiten sehr wertvolle und von der polnischen Kritik anerkannte Beiträge geliefert. An erster Stelle ist allerdings die hier besprochene Fachzeitschrift „Reformacja w Polsce“ zu nennen. (Sonst nur noch verstreute Artikel in Zeitschriften wie dem Pamietnik und dem Ruch Literacki, in den Thorner Zapiski, im Przeglad Powszechny, in den häufigen Festschriften, wie der zu Ehren Brückners [die auch in den Jb. angezeigt wurde].)

Der neueste Jahrgang der Reformacja w Polsce schließt mit einem sehr ın- haltsreichen Heft, aus dem hier die einzelnen Beiträge kurz verzeichnet seien. Bodniaks Studie gilt dem durch geistige und Herzenseigenschaften hervorragenden Konvertiten Hieronim Balifski. Einer protestantischen Familie entsprossen, deren Glieder in der Verwaltung der Bergwerke von Wieliczka tätig waren, erwarb sich der Jüngling an deutschen Hochschulen und auf der Reise ın Italien gründliche Bildung. Er bezeigte sie in den polemischen Schriften, mit denen er sih nach seiner Rückkehr ins polnische Vaterland und zur katholischen Kirche, gegen die Dissidenten wandte. Baliński bewahrt eine für jene rauhen Zeiten seltene Mägi- gung im Ton. Suaviter in modo, fortiter in re. Besonders den Socinianern und den sonstigen Gegnern des Dogmas von der E trat er entgegen. In- haltlich überragen die Schriften Balinskis nirgends den Durchschnitt. Er starb nach 1600, etwa 60 Jahre alt. In der sozialen Hierarchie hat er es nie über die Würde des „Wojski“ gebracht.

Budka berichtet über den Aufenthalt von Socinius in Krakau (1579—1588 und 1587—1598). Während bis vor kurzem die Daten des Krakauer Itinerars bezweifelt waren, kann Budka sogar die beiden Wohnungen des italienischen Reformators feststellen. Bursches ungemein lehrreiche Ausführungen nehmen von dem Werk Morse Wilburs „Our Unitarian Heritage“ (Boston 1925) den Ausgang und gibt nicht mehr und nicht weniger als eine kurze Geistesgeschichte des Uni- tarianismus, zumal in seinen polnischen Abschattungen. Die Tendenz der Be- trachtung weise bleibt den Antitrinitariern als Vertretern des Toleranzgedankens, stets freundlich. Die Krakauer Jagellonische Bibliothek bewahrt ein Dedikations- exemplar des berühmten Werkes „De emendanda Republica“ von Frycz- Modrzewski auf, in dem sich eine eigenhändige Widmung des Autors an König Zygmunt I. von Polen findet. Dem darin enthaltenen Wunsch nach einem aus- kömmlichen Beneficium, das dem Verfasser sorgenfreie Studien und Forschungen gestattet hätte, ist der Herrscher nur E und in geringem Maße nachgekommen. Die Bitte stammt aus dem Jahre 1551; einen Monat nach der Publikation des Buches ward sie vorgebracht. 1552 werden 100 Zloty jährlicher Pension Frycz aus dem Erträgnis von Wieliczka angewiesen, die 1555 ein königlicher Gnadenakt verdoppelt. Damit war ein angenehmes Gelchrtenleben in Krakau, dem Sitz der geistigen Bewegung, unmöglich. Frycz zog sich, enttäuscht und verbittert, nach Wolborz zurück, wo ihn der Bischof von Kujawien, Drohojowski, mit der Vogtei beschenkte. Dort, von der Bibliothek und dem Verkehr mit der Welt abge- schieden, wandte sich Frycz notwendigerweise vom Staatsrecht und der Politik ab, und der Theologie zu, die keines so ausgedehnten gelehrten Apparates bedurfte.

Siemienski knüpft an den Aufsatz von Edmund Bursche über die juristische und historische Entwicklung des Begriffs „Dissidenten“ („Z dziejów nazwy dysydenci“, Przeglad Historyczny 26 (1926), 22 ff.) an. Bursche hatte folgende Phasen festgestellt: in der Warschauer Konföderation von 1578 bedeutet „dissi- dentes de religione“ die Gesamtheit der Staatsbürger, die eben über religiöse Dinge nicht mehr einer Meinung sind. Unter Bathory sind Dissidenten die vom Staat tolerierten nichtkatholischen Christen. Seit 1588 und zumal seit 1682 versteht man darunter nur mehr die Protestanten. Während der Regierungszeit Wladyslaws IV. werden die der „Zgoda Sandomierska“ von 1570 nicht beige- tretenen Protestanten, also zunächst die Arianer und ihre Absplitterungen von den Dissidenten, ebenfalls unterschieden.

Gegen diese Ausführungen hat Siemienski zwar keine grundsätzlichen, doch mehrere ins Detail gehende Einwendungen. Zunächst sind, so meint Siemiehski, im Akt von 1573 bereits die Pravoslaven nicht unter dem Namen der Dissidenten einbegriffen worden. Die „Dissidenz“ bezieht sich nur auf die westliche Kirche.

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Ferner seien 1648 die der Zgoda Sandomierska nicht beigetretenen Arianer zu den Dissidenten noch weiter gerechnet worden. Die zweite Arbeit Siemienskis polemisiert gegen Sobieskis Aufsatz ,,A nie o wiarę“ (Reformacja Polska 5 (1928), 60 ff.). Der Autor hält daran fest, daß in der umstrittenen Klausel der Konföderation von 1578 hinter „in spiritualibus“ uam in saecularibus“ „bonis“ zu ergänzen sei und nicht „rebus“, wie Siemiehskis egner meinte. Ptaszycki aber wendet sich wieder der Ansicht Sobieskis zu und er führt eine Reihe, meiner Ansicht nach überzeugende, sprachliche Argumente an. Im Aufsatz Ptaszyckis ist noch der Hinweis auf die außer dem jüngst wiederauf- gefundenen Original als sogenannte „Oblaten“ in den Grodbüchern vorhandenen Kopien der Warschauer Konféderationsakte von 1578 bemerkenswert. Otto Forst- Battaglia.

Bud ka, Włodzimierz: Bibljoteka Decjuszöw. Silva rerum 1928. S. 110—126.

Der als Historiker bekannte Justus Ludwig Decius (Dietz), geb. 1485 zu Weißenburg im Elsaß zählte einige zwanzig fire als er bei Jan Boner in Krakau in Dienste trat. Er ist dann in Krakau zu einflußreichen Stellungen und beträchtlichem Vermögen gelangt, wodurch er in den Stand gesetzt wurde, sih eine seinen wissenschaftlichen Neigungen entsprechende Bibliothek an- zulegen, die späterhin noch von seinen Nachkommen vermehrt wurde. Alek- sander Hirszberg, der Decius 1874 in einer Monographie behandelt hat („O zyciu i pismach J. L. Decyusza“) wußte um seine Bibliothek aus einem Epigramm Andrzej Trzecieskis. Prafnik hat dann im Rocznik Krakowski VII in seiner Arbeit über die Boners das Inventar dieser Bibliothek aufgewiesen und kurz besprochen. Budka gibt es hier auf Grund der drei erhaltenen Niederschriften von a) 1580 und b) und c) 1590 mit einer eingehenden Besprechung sowohl der Schicksale der Besitzer als auch der Bestände heraus. Das interessante Verzeichnis weist 400 Positionen auf und ist fach- männisch nach Formaten gegliedert. Der jüngste der drei erhaltenen Texte gibt auch die Preise der einzelnen Bücher an, die Budka mit zum Abdruck bringt. Die Bibliothek, die, wie aus anderen Notizen hervorgeht, noch einige Werke mehr als das Register enthalten haben muß, setzte sich aus etwa 350 lateinischen, 85 polnischen, ebensoviel deutshen und 11 italienischen, griechischen und &echischen Werken zusammen, die nicht immer identifizierbar sind. 195 von ihnen waren theologischen Inhalts. Von den übrigen bezogen sich auf klassische Literatur und Geschichte 28, auf Literatur überhaupt 37, auf Naturwissenschaft und Mathematik 82, auf Rechtswissenschaft 18 und einige wenige auf Sprachen, Kriegswissenschaft, Architektur und Bergbau. Unter den theologischen über- wogen die protestantischen Genfer Richtung. Im Anfang des 17. Jahrhunderts ist die Bibliothek zerstreut worden, und heut sind nur Teile eines Sammelbandes und ein Werk in Krakau nachweisbar. E. Koschmieder.

Stanislaw Görski, Geschichtsschreiber des 16. Jahrhunderts. Senex: Zapomniany dziejopis. (Ein vergessener Geschichts- schreiber.) Tecza 1928, Nr. 37.

Erinnerung an den Krakauer Domherrn Stanislaw Górski ( 1572), den Sammler der als „Tomiciana“ bekannten und zum großen Teil publizierten Materialien, die ihren Namen vom Bischof Tomicki, dem Gönner Görskis, emp- fingen. Als Sekretär der Königin Bona hatte Görski Einblick in das politische Ge- triebe seiner Epoche, und Gelegenheit Urkunden, Quellen der verschiedensten Art z ir polnischen Geschichte zusammenzubringen.

Otto Forst- Battaglia.

Bibljoteka Piotra Wolskiego biskupa płockiego. 1. Kazimierz Piekarski: Odkrycie ,,Volsciany“ w zbiorach Bibljoteki Jagiellońskiej. 2. Włodzimierz Budka: Dar biskupa Piotra

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Wolskiego dla katedry płockiej. Silva rerum 1928. S. 127—141.

Der Plocker Beichtvater Wawrzyniec 2 Wszerecza (1538—1614), der Diugosz’s Vitae episcoporum Plocensium fortgesetzt hat, gibt in der Charakteristik des Bischofs von Plock Piotr Dunin Wolski an, dieser habe eine große ee Biichersammlung der Domkirche von Plock, und eine überaus große Bibliothek der Krakauer Akademie hinterlassen. Während sich nun im Verzeichnis der der Domkirche in Plock vermachten Werke gefunden hat (von Budka im 2. Teil dieser Arbeit veröffentlicht), ist ein solches über das Krakauer Vermächtnis Wolskis unbekannt, ja die Historiker der Jagiellonischen Bibliothek erwähnen diese Schenkung überhaupt nicht. Piekarski rekonstruiert hier mit erstaunlichem Scharfsinn den allergrößten Teil dieser „Bibliotheca Volsciana“ in den Beständen der Jag. Bibliothek in Gestalt der konkreten Bücher und nicht nur bloßer Nachrichten über sie. Von einer Notiz in einem Krakauer Ausleihebuch vom Jahre 1681 ausgehend, die aus der „Bibliotheca Volsciana“ verliehenen Werke aufführt, hat er weitere Nachforschungen für aus- sichtsreich gehalten und an Hand der Kataloge Vislockis in den Handschriften und Inkunabeln und älteren Büchern zunächst einige Bände dieser Bibliothek aufgetrieben, die sich mit Superexlibris oder Besitzvermerk als zur Volsciana ge- hörig aus wiesen. Ein großer Teil dieser Bände wies Eintragungen eines Datums an derselben Stelle auf, die offenbar einen Akzessionsvermerk darstellten. Diese Eintragungen waren von der Hand Wolskis gemacht, und bald fanden sih noch mehr Bände mit diesen Eintragungen: im ganzen 505. Der zroßen Meh dieser Bände sind auffällige Besonderheiten im Einband und in der Beschriftung eigentiimlich, nämlich italienische Art des Pergamentbandes und spanische Art der Längsbeschriftung des Rückens, die bei Wolski erklärlih sind, da er lange in Italien und Spanien gelebt hat. Aus der Geschichte der Krakauer Bestände legt Piekarski weiter dar, daß derartige Bände mit vielleicht nur ganz wenigen Aus- nahmen von Wolski stammen müssen und eine Nachsuche ergibt, es sich um nicht weniger als 912 Exemplare handelt, die man mit Sicherheit als zur „Volsciana“ gehörig ansehen muß. Rechnet man dann noch die Bände dazu, die aus irgendwelchen Gründen anders behandelt worden waren, so dürfte diese Bibliothek über 1000 Bände gezählt haben. Gute Bildbeigaben des Superexlibris und der Bindung und Beschriftung erläutern die interessanten Ausführungen.

Im zweiten Teil dieser interessanten Arbeit verfolgt dann Wt. Budka uellenmäßig die Geschichte der Kapitel-Bibliothek in Plock bis zur Überweisung es Vermächtnisses Wolskis, wobei er zum Schluß das Verzeichnis dieser

Schenkung nach den Aufzeichnungen des Kapitels „Acta capituli Plocensis“ ab- druckt. Es enthält 79 Werke in 180 Bänden. E. Koschmieder.

Jan Sobieski.

Wiadysiaw Bogatyhski: Siedziby króla Jana Sobieskiego (Die Residenzen König Jan Sobieskis). Tecza 1929, Nr. 33.

Pierre Jacques Charliat: Dary Ludwika XIV dla Polski (Ge- schenke Ludwigs XIV. an Polen). Przeglad Wspölczesny Bd. 27 (1928), S. 318—324.

Ezesiaw Chowaniec: Z dziejów powiedenskiej ityki Jana III. Do genezy sprawy wschodniej (Aus der Geschichte von Jan III. Sobieskis Politik nach der Befreiung Wiens. Zur Vor- geschichte der orientalischen Frage). Ibid. Bd, 30 (1929), S. 321 —341

Kazimierz Piwarski: Sprawa pruska za Jana III. Sobieski 1688—1689) (Die preußische Frage unter Jan III. Sobieski 1 bis 1689). Kwartalnik Historyczny Bd. 43 (1929), S. 152—186.

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Kazimierz Tymieniecki: W trzechsetna rocznicę urodzin Jana Sobieskiego (Zum 300. Geburtstag Jan Sobieskis). Tecza 1929, Nr. 33.

Zum 800. Geburtstag des Befreier: Wiens von den Türken (17. August 1629 —1929) sind in Polen eine große Anzahl von Jubiläumsartikeln erschienen. Unter den allgemein und populär gehaltenen verdient der Professor Tymienieckis vorzüglich Beachtung. In diesem von tiefer psychologischer Einsicht in den Charakter und die daraus hervorgehende tragische WE Sobieskis zeugenden Pcrtrait ist die Summe dessen gezogen, was wir auf Grund der bisherigen For- schung vom König und vom Menschen sagen können und wohl auch später sagen müssen. Damit soll nicht geleugnet werden, daß zur Aufhellung der diplomati- schen Peripetien einer an Intrigen und Kabalen überreichen Regierung noch sehr viel Neues den Archiven zu entnehmen ist. Trotz der Biographien Korzons und Waliszewskis wissen wir z. B. noch sehr wenig über die weitausgreifenden orientalischen Projekte des Polenkönigs und nicht alle Einzelheiten über seine dynastische, mit inneren Problemen des Reiches eng verknüpfte Politik. Chowaniec hat sich angelegen sein lassen, die orientalische Seite von Sobieskis Geschichte zu beleuchten. Bei Korzon finden wir begreiflicherweise, schon infolge der zeitlichen Begrenzung fast nichts, bei Konarski nur wenig, bei Waliszewski nicht viel. Chowaniec hat schon im Kwartalnik Historyczny . 40, 151 ff.) gezeigt, wie der König bis nach Persien seine Fühler ausstreckte; wie er als 3 einer christlichen Liga nicht nur Polen von der türkischen Gefahr befreien, sondern überhaubt die Osmanen aus Europa vertreiben wollte. In dem neuen Aufsatz unterstreicht der Autor noch stärker, daß nur Sobieski es war, der nicht zuließ, daß der glorreiche Sieg bei Vien eine Episode im Habsburgisch-Türkischen Kampf um Ungarn blieb. Sollen wir indessen darum den gekrönten Feldherrn für eine Art überdimensionalen Don Quijote ansehen, der im 17. Jahrhundert die Ideen der Kreuzzüge zu den seinen machte? Chowaniec beweist, daß dic heroi- sche Gebärde und die sie auslösende innere Überzeugung des tapferen Christen schr im Einklang mit der gesunden Politik eines Polenherrschers standen, dem die Hegemonie in einem von Polen geführten slavischen Osteuropa als Ziel vor- schwebte. Politischer Rechenfehler Sobieskis war aber, daß er im Kaiser diesen Plänen ein gefügiges Werkzeug vermutete. Als ob sich der Schirmherr der Christenheit mit dem Sieg des Kreuzes über den gedemütigten Halbmond über die Einbuße an Macht des rings von polnisch-slavischem Gebiet umklammerten Habs- burgers getröstet hätte! Der verunglückte Feldzug von 1686 war offenbar eine Folge des Irrtums, Wien könne aufrichtig den polnischen Triumph über die Os- manen herbeisehnen. . . . Die letzten Sätze von Chowaniecs bedeutendem Essay rühren an die Wurzel des hinter der Episode Sobieski sich bergenden größeren historischen Problems: Polens und Habsburgs gemeinsamer Kampf gegen den Islam war nur eine Vorstufe der späteren russisch-österreichischen Kooperation, die ebenfalls mit dem Konflikt beider Verbündeter und im weiteren Verlauf mit ihrer beider Untergang enden mußte. Es handelte sih um die Rivalität der deutschen und der slavischen Welt, sich die Herrschaft über den Landweg in den Nahen und darüber hinaus in den Fernen Osten zu sichern. Für die For- schungen von Chowaniec wäre es, wie ich schon einmal betonte, unbedingt nötig, daß sie auf orientalische Originalquellen zurückgreifen und sich nicht mit polni- schen, Wiener und allenfalls Pariser Archivalien begnügen. Im übrigen sind sie eine wirkliche Bereicherung der polnischen und europäischen Geschichte.

Piwarski lenkt die Aufmerksamkeit auf eine andere Frage der Sobieskischen

Politik. Während der König im Osten beschäftigt war, konnte er naturgemäß den

reußischen Dingen keine gebührende Sorgfalt widmen. Der brandenburgische urfürst hatte bis etwa 1684 mit dem polnischen Hofe gute Beziehungen be- wahrt, was die Hohenzollern nicht hinderte, zugleich ihre früher und später be- folgte Politik der direkten Verständigung mit oppositionellen Magnaten fortzu- setzen. Nach der mißglückten Expedition in die Moldau von 1686 überwarf sich

Sobieski mit dem Hause Habsburg und er kehrte zu den französischen Freunden

seiner früheren Jahre zurück. Dagegen wandte sich der große Kurfürst, bisher

französischer Klient, dem kaiserlihen Lager zu. Ein Familienstreit verschärfte

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die Spannung zwischen Polen und Brandenburg. Jan III. wollte die reiche Erbin des Hauses Radziwill mit seinem Sohne Jakdb vermählen, dem dadurch den Weg zum Thron bahnen. Friedrich Wilhelm dagegen suchte die Prinzessin für seinen Sohn und auf diese Weise den Hohenzollern die Anwartschaft auf die polnische Krone zu gewinnen. Die Heiratsangelegenheit fand einen unerwarteten Ausgang. Louise Charlotte Radziwiłł vermählte sich erst mit dem brandenburgischen Prinzen und nach dessen frühem Tode mit dem Pfalzgrafen von Neuburg, dem öster- reichischen Kandidaten auf den polnischen Thron. Sobieski, auf das tiefste in seinen Familiengefühlen beleidigt und gegen den Kaiser erbittert, neigte dazu, den französischen Einfliisterungen zu gehorchen und sich aktiv an dem Krieg zu be- teiligen, der im Jahre 1688 von einer habsburgischen Koalition, zu der auch Brandenburg zählte, gegen Frankreich geführt wurde.

Man dachte an eine Diversion in Ostpreußen, Gerade damals war der Große Kurfürst gestorben. Sein Nachfolger sollte die Huldigung empfangen, stand aber vorläufig am Rhein, wo er wider die französischen Heere kämpfte. Die Lage war bedenklich genug und die Hohenzollern vermochten der Gefahr eincs polnischen Angriffs bloß dadurch zu begegnen, daß sie ihre Beziehungen zu den Sobieski feindlichen Magnaten spielen ließen. Die Sapieha waren dabei dic wert- vollsten Bundesgenossen. Nach der Art der polnischen Obligarchen sahen sie nichts außer dem ihrem Hause drohenden Gespenst einer Erhöhung der Sobieskis. Jaköb, der königliche Prinz, als Gatte der Radziwill: das war nun abgewendet. Indessen noch konnte er Herzog eines revindizierten Preußen werden und dieses als Erb- fürstentum nach dem Tode des Vaters mit der polnischen Königswürde ver- einigen. Konsequenz: die leidenschaftliche Opposition der Sapicha und ihrer Fraktion auf dem im Dezember 1686 zusammengetretenen Reichstag. Sobieski wurde so in der Freiheit seiner Entschliisse gelähmt. Die offeabaren Kriegs- pläne erfuhren erst eine Verzögerung, dann ließ man sie fallen. Entscheidend war hierfür, daß nicht nur mit einer Revolte der litauischen Magnaten zu rechnen war, sondern auch mit der noch fortdauernden Türkennot. Daß hier die Fran- zosen nicht völlige Abhilfe schaffen konnten, gab den Ausschlag. Mitgewirkt dürfte auch die rein dynastische Motive berücksichtigende Königin E en die von den französischen Agenten keine positiven Versprechungen einer standesgemäßen Verheiratung ihres Sohnes zu Geen vermochte, während von Wien aus dem Prinzen Jakeb die Hand einer Pfalzgräfin von Neuburg, der Schwester der Kaiscrin und des glücklicheren Rivalen um die Hand Louise Radziwills verheißen wurde. Sobieski und seine Gattin scheuten davor zurück, sich von einem vereinsamten Frankreich als Sturmbock brauchen zu lassen. Im Herbst 1689 war die preußische Diversion von der Tagesordnung verschwunden. Bald hernach wandte sich der polnische Hof wieder dem Hause Habsburg zu, damit besserten sich automatisch die brandenburgisch-polnischen Beziehungen. Die Huldigung in Ostpreußen geschah am 24. Mai 1690 in Anwesenheit polnischer Kommissäre, wie das der Wehlauer Vertrag von 1657 vorgesehen hatte.

Piwarski hat die Tatsachen gut geschildert. Seiner Interpretation aber dürfen wir nicht durchweg beipflichten. Zunächst bleibt bestehen, daß die Idee einer Diversion nach Ostpreußen ein Bestandteil der diplomatischen Rüstung Frank- reichs war. Nur während die polnisch-französischen Beziehungen herzlich waren und solange sich diese Intimität gegen die Habsburgische Koalition richtete, wurde der Gedanke ernstlih erwogen, Er verschwand sofort, als die Voraussetzungen weggefallen waren. Von einem elementaren Verlangen der Szlachta nach Krieg gegen Berlin kann keine Rede sein. Moderne Vorstellungen mischen sich beinahe stets in die Abhandlungen deutscher oder polnischer Historiker, wenn sie auf die Geschichte der preußisch-brandenburgisch-polnishen Relationen zu sprechen kommen. Andererseits hat auch die unbezweifelbare Sympathie der ostpreußischen Herren für eine eventuelle polnische Intervention keinen anderen als ständischen Charakter. Die Sehnsucht nach polnischer Herrschaft war Haß gegen den sich breitmachenden, die adelige Omnipotenz bedrohenden Absolutismus der Hohen- zollern; die Neigung, mit den bösen Brandenburgern abzurechnen und nach Ost- preußen zu marschieren, stellte sich als ein Gemisch von Kliententreue zu den Sobieski, Wirkung französischer Umtriebe dar, während ebensoviel und ebensogute («der schlechte) Polen mit den Radziwiłł und Sapieha zu Brandenburg hielten.

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Von den kleineren Beiträgen zur Geschichte der Sobieski-Zeit behandelt der Charliats die Gaben an Sobieskis Familie, die sich im ,,Recueil des présents faits par le Roy“ von 1721 finden, den die Archives du Ministère des Affaires Etrangères zu Paris aufbewahren. Die Namen mehrerer Geschenkempfänger aus dem polnischen Hochadel sind bis zur Unkenntlichkeit entstellt, vielleicht vom Herausgeber des Textes schlecht gelesen, atynskis Skizze über die Schlösser Oleski, Podhorce, Zioczöw, Pomorzany, Wilanów, ist mit wunderschönen Repro- duktionen versehen. Otto Forst- Battaglia.

Kościuszko.

Jan Pietrzycki: W kościuszkowskiej Solurze. (Im Solothurn Kościuszkos.) Tęcza 1929, Nr. 37.

Adam M. Skatkowski: Listy Kościuszki ze spuścizny po gen. Paszkowskim. (Briefe Kościuszko aus dem Nachlaß General Paszkowskis.) Kwartalnik Historyczny Bd. 43 (1929), S. 34—43.

Pietrzycki publiziert in polnischer Obersetzung zeitgenössische Texte über das Begräbnis Kościuskos in Solothurn. Skalkowski veröffentlicht aus dem Nachlaß General Paszkowskis, der Koßciuszkos Freund und erster Biograph war, Briefe, die den Jahren 1802—1817 entstammen. Auch in diesem Artikel finder sich am Schluß eine Relation über KoSciuszkos Ende, und zwar cin Bericht über die Todeskrank- heit und das Hinscheiden des Naczelnik, aus der Feder des schweizer Obersten Franz Grimm. Otto Forst- Battaglia.

Koiciuszko- Manuskripte in der Bibliothek zu Kórnik. Adam M. Skalkows ki: Pamiatki Kosciuszkowskie w Kórniku. (Erinnerungen an Kościuszko in Kórnik.) Tęcza 1929, Nr. 45. Eines der Manuskripte, die „Beschreibung der Campagne von 1792“, ist längst Bu 1917) bekannt, Von einem zweiten, einem Schulheft aus Kosciuszkos Lehrzeit bei den Piaristen in Lubieszöw (1755/60), sowie von den beiden herzlich unbedeutenden Aufzeichnungen aus der Warschauer Kadetten- schule, die Kościuszko als Gast des Königsschlosses erweisen, geschieht hier erste Nachricht. Im Text ein sinnstörender Druckfehler: Shuillier statt Lhuillier. Otto Forst-Battaglia.

Bronisław Pawłowski: Poczatki służby ks. Józefa Poniatows- kiego w wojsku polskiem. (Die Anfinge von Fürst Józef Poniatowskis polnishem Heeresdienst.) Kwartalnik His- toryczny Bd. 42 (1928), S. 532—579.

Skalkowski hat vor 16 Jahren eine Reihe von Briefen und Akten in seiner Biographie Poniatowskis publiziert, die bereits damals zeigten, wie sehr sich der Fürst bemühte, seiner undankbaren Aufgabe als Befehlshaber und später als Ober- befehlshaber der gegen Rußland bestimmten polnischen Armee gerecht zu werden. Pawlowskis Studie, die im wesentlichen auf den Berichten des Fürsten an die Kriegs- kommission und deren Befehlen beruht, welche Materialien sich im Warschauer Archiwum Główne Akt Dawnych befinden, unterrichtet uns noch eingehender über die umsichtige und nur durch die widrigen Umstände zum Scheitern verdammte Tätigkeit des angeblich nur seinem Vergnügen lebenden schönen „Pepi“. Der traurige Ausgang der Kampagne von 1792 wäre auch von keinem Napoleon zu verhindern gewesen. Otto Forst-Battaglia.

Polnische Burschenschaften.

Z. F.: Korporacje polskie (Polnische Burschenschaften). Tecza 1929, Nr. 36. Kurze Geschichte der polnischen Burschenschaften, deren älteste 1828 in Dorpat begriindet wurde (die „Polonia“, heute in Wilna). Jetzt gibt es ihrer 90 mit 8500 Mitgliedern und ebensoviel Alten Herren. Otto Forst-Battaglia.

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Roman Pollak: Kazimierz Machnicki. Kwartalnik Historyczny

Bd. 42 (1928), S. 580—587.

Aus dem Posener Archiv teilt Prof. Pollak Dokumente mit, die tiber das Los des von Mickiewicz und Żeromski verherrlichten polnischen Revolutionirs Machnicki nach dessen Emigration aus Kongreßpolen berichten, und Angaben Prof. Hahns in einer früheren Arbeit im Przeglad Powszechny (Bd. 17, 841 ff.) berichtigen. Es zeigt sich, daß Machnicki seit Dezember 1880 in Posen weilte, wo er, in trauriger finanzieller Lage, den preußischen König um eine Pension bat, auf die er als che- maliger „südpreußischer“ Justiziarius, allerdings nur moralischen, Anspruch hatte. Das Ansuchen wurde abgeschlagen und Machnici starb später in Frankreich, wohin er sich Ende Juli begeben hatte. Otto Forst-Battaglia.

Anna Różycka. Wiktor Hahn: Anna Różycka. Przegląd Powszechny Bd. 181

(1929), S. 349—363.

Kurze biographische Skizze des Lebens einer politischen Martyrerin. Tochter des polnischen Generals Rözycki, war Anna in irgendwelche, nicht näher aufge- klärte übrigens wohl aus Wiener Akten festzustellende Verschwörerpläne verwickelt, die zur Verhaftung der damals Vierunddreißigjährigen führten. Aus Krakau nach Wien gebracht, wurde sie endlich Ende 1884 zu vierjähriger Haft verurteilt, die sie in Theresienstadt verbüßte. Die schwache Gesundheit der zarten Frau vermochte nicht den Stra n zu widerstehen, denen sie am 5. Mai 1856 erlag. Wenige Tage später traf die kaiserliche Begnadigung ein. Hahn vermutet ohne Beweis, daß diese Begnadigung mit Absicht bis zum Tod der Unglücklichen verschoben worden sei. Wer den damaligen österreichischen Amtsgang kennt, wird diese Vermutung ablehnen. Otto Forst-Battaglia. Polen in Sibirien. BE Pawel Hulka-Laskowski: Les Polonais en Sibérie. Pologne

Littéraire 1928, Nr. 25.

Von Janiks „Dzieje Polaków na Syberji“ ausgehend, zeichnet der Autor dieses Artikels ein erschütterndes Bild des Leidenswegs der Martyrer, die das

Regime der Caren zu Tod und Qual im asiatischen Rußland verdammte. Otto Forst-Bartagliıa.

Ludwik Finkel: Karola Szajnochy Próba krytyki literackiej w r. 1839. (Karol Szajnochas Versuch auf dem Gebiet der lite- rarischen Kritik aus dem Jahre 1839.) Pamiętnik Literackı Bd. 25 (1928), S. 586—595. , :

Ein fiktiver Dialog zwischen einem jungen Mädchen und einem nicht minder jungen Dichter. Der künftige große Historiker zählte zur Zeit der Nieder- schrift dieses Gesprächs 21 Jahre. Indes der kühle, dem Realismus und den pseudoklassischen Gesetzen geneigte Verstand, der hier gegen romantischen

Überschwang sich wendet, scheint eher der Protest eines müden Greises. Otto Forst-Battaglia.

Der Tag des Entstehens des neuen polnischen Staates. = Józef Siemienski: Dzień odbudowy Rzeczyposp litej. (Der

Tag der Wiedererrichtung der (Polnischen) Republik.) Prze-

glad Historyczny Bd. 27 (1928), S. 169—184.

iemieński, wie es hier zu erinnern nottut, nicht nur ein hervorragender Historiker und Jurist, sondern auch eine der leitenden Persönlichkeiten unter den Männern des polnishen Wiederaufbaus, untersucht die Frage nach dem Geburts- datum des neuen Polenstaates, die aus rein historischen, aus praktisch-staatsrecht- lichen und aus politischen Gründen sehr wichtig ist. Er entscheidet sich für den 14. November 1918, als den Tag, an dem Polen ein „Gouvernement régulier“

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ET ee d, mr os

erhielt, womit das konzediert er den Vertretern einer anderen Theorie das mit Pilsudskis Einmarsch ins ehemalige Königreich am 6. August begonnene Werk vollendet worden war. Otto Forst-Battaglia.

Jan Malaszewski: Polskie godła państwowe. (Polnische

EE Tecza 1928, Nr. 45.

Kritische Auseinandersetzung mit der in der Tat heraldisch unmöglichen Form, die das polnische Wa seit 1928 erhalten hat. Der polnische Minister- rat hat damals einen Adler Wappentier oder E der eine fünfzackige Krone an Stelle der ursprünglich bei der Erneuerung des Staates gewählten Königs- krone trägt, während richtigerweise gar keine Krone oder ein Symbol der repu- blikanischen Staatsform zu wählen war. Otto Forst-Bactaglia.

Polnische Wirtschaftsgeschichte unter Stanislaw August.

Marja Śliwińska: Duchowieństwo a a wloscianska za Stanislawa Augusta. (Die Geistlichkeit und die Bauernfrage unter Stanislaw August.) Przegląd Powszechny Bd. 183 (1929), S. 138—154.

Verf. will rühmend den hervorragenden Anteil betonen, den katholische Priester an der Verbesserung des Loses dee Bauern nahmen, um die sich unter Stanislaw August die aufgeklärten Schichten der Nation bemühten. Krasicki, Naruszewicz, Bohomolec, Pawel Brzostowski, Wincenty Skrzetuski, Michal Karpowicz, Popławski, bezeugen durch ihre Schriften und ihre Tätigkeit diese Für- sorge um die Stiefkinder des polnischen Schicksals. Inwieweit freilich Bischof Massalski und gar Kołłątaj), Staszic, die vom Priester nur das Kleid trugen (und auch das nicht immer) hier als Zeugen für die Verdienste des Klerus, als Kämpfer „für die Lehren Christi“ anzuschen sind, das bleibt mehr als zweifelhaft.

Otto Forst-Battaglia.

Piotr Wawrzyniak.

Roman Fengler: Ostatni kréi polski. (Der letzte polnische König.) Tecza 1929, Nr. 5.

Unter dem hyperbolishen Titel verbirgt sich eine recht oberflächliche Silhouette des bedeutenden Organisators der polnischen Wirtschaft, die im Posen- schen an Stelle der berüchtigten „Polnischen Wirtschaft“ trat, Prälat Wawrzyniak.

Otto Forsc-Battaglia.

Polnisches Wirtschaftsleben des letzten Jahrzehnts.

Roman Rybars ki: Rozwój g czy Polski w latach 1918 bis 1928. (Polens wirtschaftliche Entwicklung in den Jahren 1918—1928.) Tęcza 1928, Nr. 45.

Allgemeine Betrachtungen, die in der Warnung vor Pessimismus und in der nicht minder nötigen Warnung vor Optimismus (Oberfremdung der Wirt- schaft und passive Handelsbilanz werden als ungünstige Momente vorangestellt) gipfeln. Otto Forst-Battaglia.

Leopold Caro: Idea gospodarcza Polski. (Polens wirtschaftliche Idee.) Przeglad Powszechny Bd. 180 (1928), S. 13—30, 161—170; Bd. 181 (1929), S. 25—37.

Ahnlich Krzyzanowski spricht sich auch Caro, der bekannte Vorkämpfer des christlichen Gedankens in der Nationalökonomie, gegen den überspitzten Etatismus und gegen die forzierte Industrialisierung Polens aus. Otto Forst-Battaglia.

Badecki, Karol: Na inesie „Literatury mieszczańskiej w Polsce XVII w.“ I. Nagrobki. Silva rerum 1928. S. 86—90. Im Archiwum Akt tee hs m. Krakowa befindet sich eine Handschrift aus der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts, die eine Sammlung verschiedenster Verse wie

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„Fraszki“, Anekdoten, ärztliche Ratschläge, Gelegenheitsreden usw. darstellt, auf- gezeichnet von Jakob Boczylowicz, dem Verfasser der „Cztery części świata natury bialoglowskiejf“ (Warsz. 1691). Nach kurzer Charakteristik ihres Inhalts druckt Badecki eine Reihe von Epitaphien daraus ab, indem er den Be- weis erbringt, daß sie aus der heut verlorenen, aber aus Notizen Jablonowskis, Maciejowskis u. a. bekannten Broschüre: „Nagrobki“, Lwów 1626, stammen. Aus dem Charakter dieser zur Gattung der „literatura mieszczańska“ gehörigen Epitaphien ist ersichtlich, daß von der Broschüre „Nagrobki“ historishe Ent- hüllungen über Lemberg kaum zu erwarten sind. E. Koshmieder.

Englische Autoren des Barock in Polen.

Stanisław Helsztyński: Polskie przekłady Miltona i Pope’a. (Polnische Übersetzungen Miltons und Popes.) Pamiętnik Literacki Bd. 25 (1928), S. 300—309, 474—489.

Helsztynski kann in einer bibliographishen Übersicht 15 Übertragungen Miltons und 60 Popes finden. Hier bespricht er die polnische Nachdichtung des „Verlorenen Paradieses“ von Przybylski (1791) mit Einschränkungen aner- kennend —, Leon Borowskis, eines Lehrers von Mickiewicz, Benedykt Lenartowiczs und Juljan Niemcewiczs Versuche (von 1819—1827, 1830 und 1820), Konstancy Piotrowskis von 1850 und die neue Übertragung des ,,Verlorener. Paradiese von Wladyslaw Bartkiewiecz (1902) gegen die Helsztyhski Bedenken und den Vor- wurf willkürlicher Kürzungen und Änderungen erhebt. Popes polnische Ober- setzer beginnen mit den Poeten der Poniatowski-Zeit. Unter ihnen hat Woronicz den ersten Rang. Die Namen von Podoski und Przybylski werden rühmend er- wähnt. Bykowski („ein talentierter Graphomane“), Chotoniewski, Chometowski, Kruyszanski folgen. Die Übertragungen von J. Marcinkowski, Kajetan Gorczynski, Ludwik Kamiński aus dem ersten Viertel des 19. Jahrhunderts werden wenig be- achtet. Seither hat sich niemand mehr mit Pope eindringlicher dichterisch beschäftigt.

Otto Forst-Battaglia.

Ludwik Bernacki: Drobiazgi literacki z czasów Stanisława Augusta (Literarishe Kleinigkeiten aus der Zeit Stanisław Augusts). Pamiętnik Literacki Bd. 25 (1928), S. 596—610.

Derselbe: Rękopisy w bibljotece Ignacego Krasickiego (Die Hand- schriften in der Bibliothek Ignacy Krasickis). Ibid. Bd. 26 (1929), S. 228—232.

Mieczysław Brahmer: „Monachomachja“ a „Orland szalony“ (Die „Monachomachie“ und der „Orlando furioso“). Ibid. Bd. 25 (1928), S. 568—570.

Derselbe: „Elegji na śmierć szambelana“ raz jeszcze (Nochmals die „Elegie auf den Tod des Kammerherren“). Ruch Literacki Bd. 3 (1928), S. 285.

Wiktor Brumer: Nieznany wiersz Wojciecha Bogusławskiego (Ein unbekanntes Gedicht Wojciech Bogustawskis). Ibid. Bd. 4 (1929), S.. 126—127.

Aureli Drogoszewski: Czy „Sybilla“ jest echem „Ruin“ Volneya? (Ist die „Sybille ein Echo der „Ruines“ von Volney ?). Pamiętnik Literacki Bd. 26 (1929), S. 1—22.

Marja Dunajówna: Nieznana pieśń konfederatów barskich (Ein unbekanntes Lied der Barer Konföderierten). Ruch Literacki Bd. 3 (1928), S. 206—209.

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Kazimierz Kolbuszewski: Do poezji barskiej (Zur Barer Dichtung). Pamietnik Literacki Bd. 25 (1928), S. 610—616.

Stanistaw Matachowski-Lempicki: Wojciech Bogu- slawski wolnomularzem (Wojciech Bogustawski Freimaurer?). Ruch Literacki Bd. 4 (1929), S. 69—71.

Ludwik Simon: Dwa etaty teatralne Bogustawskiego z lat 1788 i 1784 (Zwei Theaterbudgets von Bogustawski aus den Jahren 1783 und 1784). Ibid. S. 175—178.

Derselbe: Repertuar teatrów w Polsce za czasów Stanisława Augusta (Das Theaterrepertoire in Polen unter Stanislaw August). Pamietnik Literacki Bd. 26 (1929), S. 242—282.

Jan Urbaäski-Nieczuja: Echa wielkiej rewolucji francuskiej w bezimiennej poezji polskiej XVIII wieku (Echos der großen Französischen Revolution in der polnischen Dichtung des 18. Jahrhunderts). Ibid. Bd. 25 (1928), S. 571—579.

Unter den zahlreichen Beiträgen zur Literatur der „französischen“ Epoche in der polnischen Literatur kommt dem Aufsatz Simons über das Repertoire der polnischen Theater unter Stanistaw Augusts wohl die größte Bedeutung zu. Er ergänzt die so wertvolle Zusammenstellung Bernackis in dessen grundlegendem Werk „Teatr, dramat i muzyka za Stanisława Augusta (Bd. 2, 191 ff.). Wir finden da zunächst für das Warschauer Theater Aufzeichnungen über die Balette von 1781 (2) bis 1794, hernach einiges über Provinztheater (in Wilna, Krakau, Lublin und Dubno) und Privatbühnen der Magnaten. Simon erörtert weiter die Frage nach der Autorschaft der anonymen Stücke „Amant doktor“ (verkürzte Be- arbeitung des Moliéreschen „Amour medicin“), „Podejrzliwi“ (nach Molières „Sganarelle“), „Sądy u wójta“ (Lokalisierung von Brueys und Palaprats „Avocat Patelin“) wobei wir Simon beipflichten, während die Frage nach der Autorschaft des von Bernacki dem Bischof von Ermland zugeschriebenen „Zygmunt August” durchaus nicht endgültig zugunsten von Vybicki entschieden wurde.

Mehrere Notizen über den „Vater des polnischen Theaters“, Bogustawski, unterrichten uns über die finanzielle Basis von dessen Warschauer Dircktions- führung in den Jahren 1788 und 1784. Die Gagen der Tänzer bewegten sich zwischen 7 und 25 Dukaten monatlich, die der Schauspieler zwischen 7 und 15 Dukaten. Um diese Zahlen zu würdigen, sei bemerkt, daß in Polen damals das Existenzminimum in Warschau etwa 10 Dukaten jährlich betrug, ein Lakai im Jahr 24 Dukaten empfing und eine Equipage 80 Dukaten jährlich kostete.

Malachowski-Lempicki, der beste Kenner des polnischen Freimaurerwesens, teilt uns Etappen von Bogusiawskis maurerischer Laufbahn mit. Dieser ist zuerst in Dubno in die Loge zum Ausgezeichneten Schweigen aufgenommen worden, dann in die Warschauer „Zum Heiligtum der Isis“, wo er zugleich mit Józef Poniatowski seine Probezeit durchmachte. Offenbar haben dem Theaterdirektor die dort mit den Spitzen der polnischen Aristokratie angeknüpften brüderlichen Beziehungen schr viel genützt. Unter der preußischen Herrschaft war er Mitglied der Loge „Tempel der Weisheit“. Indessen hat er es nie über den dritten Grad eines Meisters gebracht. Brumer zeigt uns Bogusławski in der Rolle eines mutigen Patrioten, der unter den Augen der preußischen Provinzialregierung in kaum ver- hüllter Allegorie den Glauben an die Wiederauferstehung Polens predigte. An- läßlich der Aufführung einer deutschen Tragödie „Otto von Wittelsbach“ wurden

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ins Publikum von Bogustawski verfaßte und der Zensur entschlüpfte Verse eines Gelegenheitsdrucks geschleudert, deren eine Strophe den Helden (und niemand mochte zweifeln, wen eigentlich) sagen ließ: „Jeszczem nie zgingl na wieki... Bernacki, unerschöpflich in seinen Materialien, veröffentlicht einen Brief Alber- trandis an Stanislaw August über verschiedene wissenschaftliche Angelegenheiten, Verse auf Bohomolec, des letzteren Bitte an den König, auch nach der Auf- powstane”, offenbar auch eine Anspielung an den Mazurek Dąbrowskiego. hebung der Jesuiten Leiter der bekannten Gazeta oder der Druckerei zu bleiben, weiter eine Druckercirechnung aus desselben Bohomolec Druckerei der Druck eines Bogens kostete 18—20 Zloty, im Vergleich zur Gegenwart ergibt sich, daß damals das Existenzminimum in der Hauptstadt dem Preis von 10 Druckbogen gleichkam, während es z. B. heute in Wien dem Wert von ca, 40 Druckbogen entspricht. Hierauf finden wir einen Brief Naruszewiczs an Albertrandi uber Forschungen im Päpstlihen Archiv zu Rom, drei Karten Trembeckis an den Kammerherrn Comelli und an einen ungenannten Fürsten, der an eine Spiel- schuld gemahnt wird, ein Brief desselben Trembecki an Engestrém, den schwedi- schen Gesandten in Warschau, und Gesuche Wegierskis an Stanislaw August um den Stanislaus-Orden, die nicht beantwortet wurden.

Bernacki publiziert einen Katalog der Handschriften des Bischofs von Erm- land und Brahmer stellt neuerlich fest, daß für Krasickis „Monachomachie“ der „Orlando furioso“ in gewissem Maße Quelle und Anreger gewesen ist. Veit weniger zweifelsfrei scheint mir das Ergebnis von Drogoszewskis Untersuchung über die „Sybille“ Woroniczs. Gegenüber Cwik, der in diesem Lehrgedicht des Polen eine Transponierung der Volneyschen „Ruines“ erblickte, behauptet Dro- goszewski, es sei überhaupt kein Einfluß des einen auf den anderen zu erweisen, ja. die verschiedene Geistesart des französischen Aufklärers und des frommen Polen schlössen eine literarische Interaktion aus. Mag auch Cwick in seiner Arbeit zu weit gegangen sein: dem, der nicht an Einzelheiten haftet, bleibt die Gemein- samkeit der beiden Poeme fühlbar. Ihre Musique intérieure ist dieselbe. Und die Differenz der Weltanschauungen bereitet dem Kenner der polnischen Auf- klärung keine Überraschung. Stets sordiniert sich deistische oder pantheistische Schwärmerei zu mildern, wenn nicht katholischen, so doch den Katholiken nicht störenden Tönen, sobald einmal ein französisches Thema, eine französische Idee polnischen Boden betritt. Schließlich sei der allgemeinen Regel nicht vergessen, daß jedes Produkt der stanislawitischen Literatur irgendein französisches Vorbild hat. Für das Theater ist das genugsam gezeigt worden. Eben erst nennt Brahmer einige Vorlagen der geistreihen „Elegie auf den Tod des Kammerherrn“ in Niemcewiczs „Powrót posta’ (deren unmittelbares Muster freilich noch zu finden wäre).

Original, wenn auch nicht originell, ist in jener Epoche nur die „Barer“ Poesie. Kolbuszewski, der Herausgeber einer, in der Bibljoteka Narodowa er- schienenen Anthologie dieser frommen Kampfdichtungen, und Marja Dunajöwna, publizieren einige ungedruckte Proben der zwar glaubenseifrigen und patriotischen, doch niche gerade künstlerisch begeisternden Muse. Wesentlich politischer Natur ist ferner das Interesse, das wir den Bruchstücken entgegenbringen, an denen Urbanski-Nieczuja die Ausstrahlungen der französischen Revolutionsidee bis nach Polen verfolgt. Octo Forst- Battaglia.

Jézef Korzeniowski.

Józef Kor pala: Józef Korzeniowski jako professor literatury w Krzemiehcu. (Jozef Korzeniowski als Literaturprofessor in Krzemieniec.) Pamiętnik Literacki Bd. 25 (1928), S. 616—630. Korzeniowski kam an das in der polnischen Literaturgeschichte berühmte

Lyzeum als Nachfolger Felihskis (1828). Adam Czartoryski hatte bei der Berufung

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den Ausschlag gegeben. Er hat sich nach übereinstimmenden Zeugnissen als Lehrer sehr gut bewährt, besser als seine Vorgänger, deren jeder einzelne auf anderem Gebiete einen ausgezeichneten Namen besaßen (Osihski, Felihski, Euzebjusz Słowacki, der Vater des Dichters). Korpala veröffentlicht weiter den Text eines Fragments von Korzeniowskis Vorlesungen „über das Wesen der Poesie“. Es zeigt, wie sehr die romantischen Anschauungen damals schon bei den Universitaires den Boden vorfanden. Otto Forst-Battaglia.

V. en obaev: Krasinskij i Mickevié. Slavia 7, 3 (1928), S. 585

Es würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, wenn alle Wechsel- wirkungen zwischen den beiden Dichtern erwähnt werden sollten, es sollen daher nur diejenigen genannt werden, die zweifellos feststehen. C. zieht einen Ver- gleich zwischen dem geistigen Zuschnitt der Universitäten Wilna und Warschau. Die erstere war traditionsloser in bezug auf den ausgehenden Klassizismus, Warschau hing daran fest und war daher kein Boden für das Aufkommen der Romantik. C. führt zum Beweis dafür einiges über den ausgesprochen moralisch- religiösen Grundton im Geschichts- und Philosophieunterricht der Warschauer Universität an. Krasihski, der dort seine Studienzeit absolviert, konnte für den Geist von Wilna keine allzugroße Sympathie haben. Die Jugend beider Städte kam aber in persönliche Berührung, und im Elternhause Krasihskis fanden ge- sellige Zusammenkünfte statt, wo in ziemlich vorurteilsloser Weise auch neue Ideen beurteilt wurden. Der Hauptvermittler zwischen Krasiński und Mickiewicz is: der begeisterte Vertreter der Romantik und Freund Mickiewicz’ E. Odyniec gewesen; er wird in Krasihski das Interesse für Mickiewicz’ Werke erweckt haben. Den stärksten Eindruk wird ihm „Konrad Wallenrod“ gemacht haben; als Krasiński zu schreiben anfing, genoß das Wallenrodproblem die größte Popularität. Es blieb aber immer der Einfluß des Vaters und der älteren Richtung bestehen, und man darf den Einfluß von Mickiewicz auf Krasiński nicht über- @rieben hoch einschätzen, Krasihski war aber einer der wenigen, die die Be- deutung des Pan Tadeusz sogleich erkannten. Die aus der Towianskischen Periode stammenden Dichtungen von Miciewicz lehnte er dagegen ab, durch die väter- liche Erziehung an klare und nüchterne Denkart gewöhnt. C. verfolgt die An- klänge an den Wallenrod, welche sich in den Jugendwerken Krasinskis finden. Daneben machen sich Byronsche Einflüsse bemerkbar, doch auch als diese an Intensität zunehmen, vergißt Krasinski nicht den „litauischen“ Dichter. C. erinnert an seine Rezension der französischen Wallenrod-Obersetzung in der Oktober- nummer der „Bibliothèque Universelle“ vom Jahre 1880, in der Krasiński als Mickiewicz’ größtes Talent seine Gabe ansieht, die alltäglichsten Dinge von einem neuen Gesichtspunkt aus zu betrachten. Er wird aber vor dem persönlichen Be- kanntwerden mit M. kaum alle seine Stimmungen verstanden haben. Auf der mit Mickiewicz unternommenen Reise durch die Schweiz werden Krasiński die ersten Anregungen zum „Iridion“ gekommen sein. C. vervollständigt die von T. Pini in „Studyum nad genezą Iridiona“ .. . (Lwów 1899) niedergelegten Beobachtungen über die Obereinstimmungen zwischen Wallenrod und Iridion.

Emmy Haertel.

Stanislaw HelsztyAski: Anglofil Koźmian. (Koźmian, der Anglophile.) Wiadomości Literackie 1929, Nr. 27. Einer aus dem Literaturgeschlecht der Koźmian, Stanislaw Egbert (1811—1885) ist 1838 als Emigrant nach England gekommen, wie er im Kontakt mit der Gesell-

schaft durch Lord Dudley Stuart, dessen Sckretär er wurde und mit roman- tischen Dichtern wie Moore, Campbell zwölf Jahre verbrachte. Seit 1851 haust

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der ehemalige Revolutionär als friedlicher Landedelmann auf einem kleinen Gut bei Posen. Er setzt dort seine Arbeit an der Übersetzung Shakespeares fort, die noch in London begonnen hatte. Zwei Bände davon sind 1866 und 1800 erschienen.

Otto Forst-Battaglia.

Pollak, Roman: Trzeci autograf Hymnu o zachodzie słońca“ Stowackiego. Silva rerum 1928. S. 90—93.

Zu den beiden bisher bekannten Autographen dieses Hymnus tritt jetzt ein drittes aus einer Autographenmappe der Bibljoteka Körnicka (Rps. 733), die von Tytus Działyński als „Manuskrypta niedrukowane własnoręczne“ betitelt ist. Das hier abgedruckte Autograph, das die Jahreszahl 1886 trägt und offenbar vor 1839 in den Besitz DziatyAski’s gelangt ist, steht der Fassung des ersten Abdrucks im Posener „Tygodnik literacki (6. V. 1880) sehr nahe. E. Koschmieder.

Antonio Stefanini: Pessimismo e ottimismo Fredriano. Rivista di letterature slave. Anno 4, 6 (1929). S. 415—441.

St. will es versuchen, die Grenzen zwischen Optimismus und Pessimismus bei Fredro nicht durch eine streng philosophische Definition des letzteren zu verbarrikadieren, wie das mehrfach in der polnischen Kritik geschehen. Fredros Pessimismus ging nicht aus philosophischen Abstraktionen sondern aus den Er- fahrungen des Lebens hervor; er schildert ja auch nur die einfachen Realitäten des Lebens. Wer müßte nicht anerkennen, daß die klagende Lyrik des Leopar- dischen „Canto notturno di un pastore errante nell’ Asia“ viel verzweifelter ist als seine philosophische Prosa? St. betrachtet die Schicksale Fredros darauf hin, wie weit sie seine natürlichen Anlagen zur Melancholie steigern mußten, die von seinen Familienmitgliedern bezeugt ist, und geht ihren Spuren in Fredros Gedichten, wie „Zapiski starucha“, „Pajaki“, „Zal mi“ u. a. nach. Immer wieder klagt der Dichter über die Nichtigkeit menschlichen Tuns, über die ent- schwundene Jugend, über das Schwinden der Jugendhoffnungen; selbst der Ge- danke an den eigenen Ruhm olieb ihm gleichgültig. Auf Menschen und Gesell- schaft blickte Fr. gleichfalls nicht optimistisch, die Moral des Lebens ist enthalten in dem Vers „Każdy dusi bo żyć musi“ aus dem Gedicht „Jaskółka“. In „Cmentarz“ sieht der Dichter nur Gräber und Kreuze, Liebe auf den Lippen und Haß im Herzen. Ähnlich äußert er sich in seiner Prosa. Im „Dziennik wygnanca“, in „Choroby Chroniczne“ u. a. wiederholen sich dem obigen ähn- liche Gedanken. Wie konnte dieser pessimistische Mensch Komödien von solchem Lachreiz schreiben? St. findet Antwort darauf in Aussprüchen Fredros „Kto sie nigdy śmieje od tego zimno wieje“ und in „Sobie spiewam, a Muzom“. Seine Komödien haben nicht ihren Ursprung in großen Ideen und tiefen Wahrheiten, sondern aus Fredros Verlangen nach Lachen und dem Komischen, daher auch das Fehlen eines strengen Urteils, der Strafe für die Übeltäter, z. B. in „Mąż i zona“, dessentwegen Fr. in der Literaturkritik der Unmoralität geziehen worden ist.

Chrzanowski und Kucharski haben verschiedene Meinungen geäußert über den vermeintlich heiteren Ausgang vieler Komödien. St. betrachtet einige von ihnen daraufhin, ob sie wirklich optimistisch ausgehen, z. B. „Zrzednos£ i przekora“, „Odluki i poeta“ und „Mąż i zona“, und weist‘ nach, daß das nicht der Fall ist. In „Przyjaciele“ klingt eine innere Saite Fredros mit, Erinnerungen an eine große unglücklich ausgegangene Jugendliebe, hier also mußte natürlicher- weise der Grundton schmerzlich sein. Traurig bleibt auch der Eindruck von „Ciotunia“, und selbst der „Pan Jowialski“, diese Apothese des vergnügten Land-

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edelhauses, sollte den Polet zu denken geben, denn hier wird die Schuld dieses leichtlebigen Landadels an den vaterländischen Geschicken gezeigt, ebenso hält St. „Dozywocie“, entgegen den Anschauungen Günthers (Fredro jako poeta naro- dowy. Bibioteka Warszawska, 1—2), für durchaus nicht optimistisch. In den Komödien der späteren Zeit wird das Leben meistens noch schwärzer gezeichent, z. B. in „Ostatnia wola“ und in „Wychowanka“, sogar die spaßigsten Komödien dieser Periode, „Pan Benet“ und „Wielki człowiek do małych interesów“ zeigen nur seichte, kleinliche Gestalten.

Um auch dem Optimismus bei Fr. gerecht zu werden, weist St. zunächst auf die Lichtblicke hin, die das Leben dem großen Melancholiker bot: Liebe zur Dichtkunst, Vaterlandsliebe und vor allem die treuen Erinnerungen, die Fr. an seine Jugendzeit bewahrte, an den „Dwór“, wo er sie verbracht. Dem ent- sprang auch seine Liebe für die Jugend überhaupt und der Vorzug, den er jugendlichen Personen seiner dramatischen Verke gab. Aus dieser Liebe für die Vergangenheit erklärt St. auch seine, von aller satyrischen Verurteilung absehende Darstellung so vieler nachteiligen Seiten der polnischen Schlachta auf dem Lande, er wollte ihr gegenüber nicht als Richter auftreten. Einen Lichtblick bildet auch in Leben und Schaffen Fredros die Idealisierung der Liebe, freilich lassen gewisse Aussprüche der späteren Komödien auch in bezug auf sie eine skeptische Ein- stellung erkennen. Zuletzt untersucht St. Fredros Verhältnis zur Religion. Es muß überraschen, daß Fr. bei seiner pessimistischen und melancholischen Ein- stellung ein guter Katholik gewesen ist, solche verzweifelte Angriffe auf die Weltordnung wie in „Brytan Bryś“, wo die Tiere selbst danach fragen, wozu sie da wären, läßt das schwer erklärlich finden. St. sucht diesen Widerspruch zu lösen unter Hinweis auf christliche und indische Veltanschauung, auf die, im Grunde christliche, Philosophie Schopenhauers und auf Augustin, Schelling u. a., die durch den Pessimismus dem Leben gegenüber zu innerer Religiosität gelangten. Auch Vagner und Tolstoj sind, auf verschiedene Veise, einem solchen christlichen Pessimismus erlegen. Schließlich solle man sich auch nicht auf die termini „Optimismus“ und „Pessimismus“ als Kriterien versteifen. Ein Blick in einen Bibliothekskatalog kann darüber unterrichten, daß z. B. bei Schopenhauer und Leopardi die Zettel bald den Optimismus, bald den Pessimismus dieser beiden Großen bestätigen. Emmy Haertel.

FernandBaldensperger: Alfred de Vigny a Polska. (Alfred

de Vigny und Polen.) Przeglad Wspölczesny Bd. 29 (1929),

S. 14—27.

Der Inhalt ist weiter als der Titel vermuten ließe: wir finden Notizen über Vignys Beziehungen zu Russen. Hernach einiges über des Dichters Bekanntschaft mit dem Engländer Reeve, Krasinskis Freund, vor allem aber Nachrichten über die Polonophilie Vignys, die sich in hier abgedruckten Briefen an Mickiewicz und die Fürstin Czartoryska bekundet. Otto Forst-Battaglia.

Maximilian Fredro.

Stanislaw Wasylewski: Czwarty Fredro. (Der vierte Fredro.) Tecza 1929, Nr. 29.

Der vierte Fredro, das ist Graf Maximilian Fredro, der älteste Bruder des polnischen Moliére, steht im Schatten seines großen Namens: wie der jüngere Corneille in dem des unsterblichen Pierre. Durch sich selbst hat er nur einmal in der Literaturgeschichte von sich reden gemacht. Als er, vordem ein Mitglied der Warschauer pseudoklassizistischen Kreise um Osinski, eine heftig romantische Tragödie „Harold“ aufführen ließ (1827). Mickiewicz, Mochnacki klatschten Bei- fall. Heute sind Autor und Werk vergessen.

Otto Forst-Battatag!ia.

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Korpala, Józef: Uwagi o polskiej prasie literackiej przed powstaniem listopadowem. Silva rerum 1928. S. 93—100. Indem Korpała auf das Erstehen einer literarishen Presse in Polen im

19. Jahrhundert eingeht, die in ganz anderem Umfange im geistigen Leben der

Nation wurzeln sollte als die im wesentlichen für die Information des Auslandes

bestimmten literarischen Zeitschriften des 18. Jahrhunderts, zeigt er, daß vor dem

Novemberaufstand trotz mehrfacher Versuche ein dauerndes literarisches Organ

mit festem, zeitgemäßen Programm nicht zustande gekommen ist. Tiichtige

Persönlichkeiten von starker Initiative waren da, es fehlte an guten Organı-

satoren. Zu diesen Versuchen, eine der damaligen Zeit entsprechende literarische

Zeitschrift zu gründen, gehört auch ein Projekt eines „Pamiętnik literacki“ für

den Fürsten A. Czartoryski aus der Feder Aloizy Feliüskis um 1810/11, das

Korpala hier aus dem Archiv der Fürsten Czartoryski in Krakau (Nr. 150) ab-

druckt. E. Koschmieder.

Walery Łoziński.

Adam Bar: „Pan Tadeusz“ w powiesciach Walerego Łozińskiego. („Pan Tadeusz“ in den Romanen Walery Łozińskis.) Pamiętnik Literacki Bd. 25 (1928), S. 292—299.

Łoziński hat zur Charakteristik des Kleinadels in seinen Erzählungen viel aus dem Epos Mickiewiczs geschöpft; sogar einzelne Redewendungen übernommen.

Trotzdem hat diese Anleihetitigkeit des jungen Autors der Lesbarkeit seiner Bücher nicht geschadet. Otto Forst- Battaglia.

Stanislaw Przybyszewski. Tadeusz Boy-Żeleński: Kłamstwo Przybyszewskiego. (Die Lüge Przybyszewskis.) Wiadomości Literackie, 1928, Nr. 39.

Derselbe: O „Kłamstwo“ i prawdę Przybyszewskiego. (Ober Lüge und Wahrheit bei Przybyszewski.) Ibid., Nr. 46.

Derselbe: Smutny Szatan. (Ein trauriger Satan.) Ibid., Nr. 52/53.

Wiadysław Buchner: Stanislaw Przybyszewski a utwory Dagny. (Stanisław Przybyszewski und die Dichtungen Dagnes.) Ibid., Nr. 44.

Kazimierz Czachowski: Bibljografja pism Przybyszewskiego. (Biblio- graphie der Schriften Przybyszewskis.) Ruch Literackie, Bd. 3 (1928), S. 215—219.

Stefan Demba: Autobiografja Kasprowicza i Przybyszewskiego.

(Selbstbiographien Kasprowiczs und Przybyszewskis.) Ibid., Bd. 4 (1929), S. 73— 77.

Karol Klein: Przybyszewski i Dehmel. (Przybyszewski und Dehmel.) Ibid., S. 200—204.

Adam Münnich: Korrespondencja Przybyszewskiego z P. Scheer- barthem. (Briefwechsel Przybyszewskis mit P. Scheerbarth.) Ibid., S. 319—320.

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Derselbe: Lata szkolne Przybyszewskiego. (Przybyszewskis Schuljahre.) Ibid., Bd. 4 (1929), S. 172—175.

Leon Ploszewski: Do bibljografji pism Stanislawa Przyby- szewskiego. (Zur Bibliographie von Przybyszewskis Schriften.) Ibid., S. 68.

Michal Siedlecki: Echa zagadki Przybyszewskiego. (Echo des Rätsels Przybyszewski.) Wiadomości Literackie, 1928, Nr. 43.

Marja Johanna Wielopolska: Zagadka Przybyszewskiego. (Das Rätsel Przybyszewskis.) Wiadomości Literackie, 1928, Nr. 52/53.)

Antoni Wysocki: Prawda Przybyszewskiego. (Die Wahrheit Przybyszewskis.) Ibid., Nr. 42.

Wären auch die von Boy enthüllten, bisher nur einem kleinen Kreis von

Eingeweihten bekannten Tatsachen aus dem Leben Przybyszewskis schlechter be-

ubigt, als es der Fall ist; die Reihe der Artikel in den ,,Wiadomoéci Literackie“

äße wenigstens das Verdienst, den ziemlich vergessenen „traurigen Satan“ wieder

in den Mittelpunkt einer literarischen Diskussion gerückt zu haben. Das Inter-

esse an Przybyszewski ist wieder rege geworden und vom Dichter überträgt es

sich auf dessen Werk oder zum mindesten auf des Werks psychologische Deutung;

denn nichts kann in diesem Augenblick Freude am unbefangenen Genuß einer

uns völlig fremd gewordenen Literatur hervorrufen, deren Voraussetzungen durch den Krieg hinweggeweht worden sind.

Boys überzeugend bewiesene These ist, daß Przybyszewski, eine willens- schwache, von sexuellen und anderen Exzessen entnervte Kiinstlernatur, durch Rücksicht auf die rasende Eifersucht der zweiten Gattin Kasprowiczs ge- schiedener und von Przybyszewski dem Freund abspenstig gemachter Frau sich bewogen fühlte, den beherrschenden Einfluß und die erloschene Liebe zur ersten Gattin, der norwegischen Dagne, zeitlebens zu verleugnen, ja die einst heiß Verehrte in den Schmutz zu ziehen. Diese menschliche Tragödie habe ihren ver- heerenden Einfluß auf Przybyszewskis Dichtung geübt. Alles Große und Starke stammte aus der Zeit der befruchtenden ersten Ehe. Nach Dagnes Tod sei auch Przybyszewskis poetischer Stern erblichen. Jedenfalls stand Dagne dem Gatten während dessen deutscher Periode und hernach in der polnischen Glanzepoche, der Tätigkeit am „Życie“ (1898—1901), als wahre Egeria zur Seite. In seinen Memoiren hat der Wandelbare, dem erst der Haß gegen die Gefährtin seiner Jugendtriumphe aufgezwungen und dann zur zweiten Natur geworden war, die Sache so hingestellt, als sei Jadwiga seine Muse und ihre Vorgängerin ein tief be- reuter Jugendirrtum gewesen.

Wysocis Publikation bringt nun für Boys Behauptungen und zur end- ültigen Vernichtung der von Przybyszewski noch durch die „Erinnerungen“ ver- reiteten Ansicht entscheidendes Material. Im Jahre 1911 wollte die Lemberger

„Theater - Gesellschaft“ während eines Gastspiels in Zakopane Dagne Przybyszewskas Stück „Krucze gniazdo“ aufführen. Przybyszewski protestierte in erregten Briefen dagegen, daß „durch Veranstaltung irgendeines Abends mein Namen in Verbindung mit der Dame gebracht werde, die diesen Namen mit Schande bedeckte“. Auf empörte Rückfrage der Lemberger Theaterfreunde rückte dann Przybyszewski mit dem Geständnis heraus: „Ich vertraue Ihnen das blutige Geheimnis meines Verbots an. Meine gegenwärtige Frau ist geradezu wahn-

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sinnig, wenn es sich um die Verstorbene handelt. Nicht ich bin es, der Briefe und Verbote absendet, sondern ein Mensch, der seit einigen Jahren voll Verzweif- lung über eine schwer kranke Frau wacht. Durch schwere Opfer erkaufe ich mir Ruhe zur Arbeit.“ Wäre hier noch ein Kommentar nötig, so steht es in dem Brief Professor Siedleckis, der vor einem Menschenalter zum engsten Freundes- kreise der Przybyszewski gehörte und Boys Ausführungen vollinhaltlich be- stitigt. Venn nun Stanislaw Maykowski (im „Slowo Polskie 1928, 278) und Jakéb Geszwind in einer separat erschienenen Broschüre „Klamstwo Przybyszewskiego i kłamstwo o Przybyszewskim‘ sich gegen Boys Artikel wenden, so mag ihnen darin beizupflichten sein, daß Persönliches nur mit Widerstreben vom Literarhistoriker zu erörtern ist; im übrigen vermögen sie nichts gegen die Richtigkeit der Tatsachen einzuwenden und sie unterscheiden sich von Boy nur in der ethischen (dem Forscher an sich gleichgültigen) Wertung einer Handlungs- weise, die der eine als entschuldbare, der andere als verächtliche Schwäche, der dritte als heroisches sacrificio del cuore e dell’intelletto bezeichnen wird. Das Antlitz des Dichters aber bleibt, so schildert es uns Boy im letzten seiner Aufsätze, das des traurigen Satans, der an Dagnes Seite, glücklich in seinem Unglück, un- glücklich in seinem Glück, zerstörend und erst in der Zerstörung zum Schaffen befähigt, eine Poesie der Nacht stammelte, dergleichen Polen nicht vorher und nicht nachher kannte. Im übrigen mag, wenn es zur psychologischen Erklärung von Przybyszewskis Metastasen kommt, nicht gerade die Berufung auf Goethe und sonst komplizierte Deutung vonnöten erscheinen. Schon das Sprichwort hat ja lapidar den Weg beschrieben, den der Sänger der „chud“ genommen hat: Mas kennt den Anfang; am Ziel steht „Alte Berschwester“.

Von den im „Ruch Literacki“ abgedruckten Materialien ist die Bibliographie Czahowskis, zusammen mit den Ergänzungen Ploszewskis, am wertvollsten. In ihr fehlen indes die zahlreichen von Przybyszewski während seines Aufenthalts in Deutschland publizierten und einige seiner später deutsch veröffentlichten Zeit- schrifts- und Zeitungsartikel, die den Gegenstand einer kleinen Arbeit eines deutschen Bibliographen bilden sollten. Die Autobiographie aus den Sammlungen Dembas stammt aus dem Jahre 1899 und ist nur durch ein enthusiastisches Be- kenntnis zum Polentum und zur jungvermählten Gattin bemerkenswert. Eine Abschrift des Taufscheins von Przybyszewski belehrt uns authentisch, daß der Dichter am 7. Mai 1868 zu Lojewo als Sohn des Schullehrers Joseph Przybyszewski und der Dorothea Grabczewska geboren und am 11. desselben Monats getauft wurde, wobei Leo Siewicz, Gutsherr auf Szarley, und Theresia KoScielska, Herrin auf Karczyn, als Paten des kleinen Stanislaw Felix fungierten. Münnich teilt sehr interessante Zeugnisse des Gymnasialschülers Przybyszewski mit. An dem Thorner Kgl. Gymnasium hat er im Jahre 1884 beim Abgang aus Obertertia ein recht mittelmäßiges Zeugnis erhalten. Die Noten schwanken in den vichtigeren Gegen- ständen zwischen 2 und 8. Von 1884 bis 1889 besuchte er das Gymnasium in Wagrowiec. Hier waren die Leistungen noch schwächer, indes gab ihm der Polnisch-Professor folgendes Endurteil auf den Weg: „In seiner polnischen Mutter- sprache drückt er sich mündlich wie schriftlich gewandt und völlig fehlerfrei aus, seine bezüglichen Klassenleistungen konnten meist als sehr gut bezeichnet werden. Nicht minder hervortretend sind seine Kenntnisse in der polnischen Literatur- geschichte. Gesamtprädikat Sehr gut.“ Beim Abdruck der deutschen Dokumente hat der nachlässige Herausgeber eine Reihe unentschuldbarer Druckfehler stehen lassen. Die von Münnich publizierten Briefe an Scheerbarth sind gänzlich be- deutungslos.

Auc Kleins Aufsatz über Przybyszewski und Dehmel bringt nichts Neues, es seien denn einige weitere Druckfehler, wie „blaser“, „verliss“.

Otto Forst-Battaglia. 518

Bronisława Chrzaszczewska: Żółkiewski. Tęcza 1928,

Nr. 42.

Auszug aus einem vorbereiteten größeren Werk, das Zeromskis Schaffen analysiert, versucht diese im Stil Żeromski nachahmende Charakteristik zugleich die tragische Größe und das Problem des Mannes zu erfassen, dem in der „Duma o Hetmanie“ die Führerschaft der polnishen Nation beansprucht wird.

Otto Forst-Battaglia.

Marja Pawlikowska.

Irena Krzywicka: O poezyi Marji Pawlikowskiej. (Ober die Dichtung von Marja Pawlikowska.) Wiadomości Literackie 1929, Nr. 1.

Eine subtile und nur etwas zu weitschweifige Studie über die Lyrik der Paw- likowska, gedeutet als Manifestation einer aus Furcht vor der Empfindsamkeit auch das Empfinden bändigenden Frauendichtung. Als Typus erinnert die Paw- likowska so versichert uns ihre Exegetin an Boy: dieselbe metaphysische Grundlage des Physiologishen im Poetishen. Schade nur, daß cine andere Parallele fehlt, die auffallende mit Mme. de Noailles.

Otto Forst-Battaglia.

Juljusz Kaden - Bandrowski. Emil Breiter: O świçte prawo człowieka. (Um das heilige Menschenrecht.) Wiadomości Literackie 1929, Nr. 16.

Als Summe der letzten Entwicklung Kaden-Bandrowskis die Abkehr vom zer- flacternden Lyrismus Zeromskis und die Hinwendung zu jenem Realismus, der als Neue Sachlichkeit die gesamte europäische Nachkriegserzählung beherrscht. Im Zyklus der „Czarne skrzydła“ hat sich das alles vollendet. Gleich weit vom pessimistischen Naturalismus und vom nur aufs Ich gekehrten Romantismus bekennt Kaden-Bandrowski den mutigen Realismus, der das Opfer fordert, einer furchtbaren Wirklichkeit gerade ins Auge zu sehen, sie zu ertragen, um sie zukunftsgläubig emportragen zu können. Otto Forst-Battaglia.

Cecylja Walewska.

M. J. Wielopolska: Cecylja Walewska. Wiadomości Lita rackie 1929, Nr. 26.

Das fünfzigjährige Schriftstellerjubilium der Walewska hat für einen Augenblick diese letzte Veteranin des Warschauer Positivismus der Gegenwart in Erinnerung gebracht, die in ihr mehr die bürgerlichen als die literarischen Ver- dienste ehrte. Otto Forst-Battaglia.

Tadeusz Lopalewski.

Witold Hulewicz: Tadeusz Lopalewski. Tecza 1929, Nr. 10.

Der nun Dreißigjährige (geb. 1900) begann mit Gedichten romantischer Färbung, erregte einiges Aufschen durch eine mit der vierten Dimension kokettierende Erzählung aus der letzten russischen Revolution (Podwójny cień) und er sucht noch, zwischen Skamander und Czartak, den Weg zum Parnaß. Hulewicz geht in seiner Sympathie für den Autor etwas weit. Trotz unleug- barer sprachlicher Qualitäten entbehrt Lopalewski der eigenen Physiognomie.

Otto Forst-Battaglia.

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Mieczysław Braun. Jerzy Liebert: O poezjach Mieczysława Brauna. (Über

Mieczysław Brauns Dichtungen.) Wiadomości Literackie 1929,

Nr. 35.

Liebert skizziert den poetishen Weg Brauns von revolutionärer Neuerung über den „Skamander“ und die Neuromantik zum Pseudoklassizismus. Als ver- bindende Eigenschaft haftet allen Stadien dieser Entwicklung die didaktische Absicht an, die Lust, statt darauf los zu fabulieren, zu beschreiben: erst Hand- werke und Gewerbe, dann Seelenzustinde und endlich die Natur. Liebert betrachtet die Hinkehr Brauns zu Trembecki und Koźmian mit großem Mig- vergnügen. Unseres Erachtens ist an dem Dichter nur verwunderlich, daß er schon in jungen Jahren die Straße zur Tradition sucht, auf der alle polnischen Autoren nach revolutionärem Beginn landen. Otto Forst-Battaglia.

Włodzimierz Szymański: Poeta Madon. (Der Sänger der

Madonnen.) Tęcza 1929, Nr. 4.

Die kurze Aufzählung der Werke und ein recht allgemein gehaltenes Lob auf den nebst Morstin und Miłaszewski repräsentativen Dichter des polnischen Neo- klassizismus, wird dem über manchen Modepoeten vernachlässigten Pietrzyda nicht gerecht. Sie weckt nur den Wunsch, daß diesem polnishen Le Cardonnel die Parallele drängt sich geradezu auf das bessere Los seines französischen Doppelgängers beschieden werde. Otto Forst-Battaglia

Neue polnische Erzählerinnen. Stanisława Jarocińúska-Malinowska: Quelques jeunes prosateurs féminins. Pologne Littéraire 1929, Nr. 30.

Silhouetten von Marja Kuncewiczowa, Herminja Naglerowa, Ewa Szelburg, Hanna Mortkowiczówna, vier Schriftstellerinnen, von denen die erste in der Tat ein außerordentliches Talent besitzt, die zweite eine shöne Begabung ankündigt, die beiden übrigen indes ungebiihrlich überschätzt werden.

Otto Forst-Battaglia.

Polnische Lyrik des Nachkriegs.

K. W. Zawodziński: Poezja Polski odrodzonej. (Die Dichtung des wiedergeborenen Polen.) Swiat książki 1928, Heft 1/3, S. 19—25.

Viel feine Bemerkungen. Und noch mehr gehässige Feindseligkeit gegen- über dem Verf. unsympathishen Richtungen. Dem „Skamander“ ertönt ge- bührendes Lob. Die Leute vom „Czartak“ werden schändlich karikiert und mig- handelt. Der Gruppe Galuszka ergeht es nicht besser. Dem Kundigen gibt Zawodzinskis Übersicht manches, Der mit dem Thema nicht Vertraute sei vor ihr gewarnt. Otto Forst-Battaglia

Stefan Papée: Teatry dramatyczne e latach 1918—1928. (Die dramatischen Bühnen in den Jahren 1918—1928.) Tecza 1928, Nr. 45.

Aufs Unentbehrliche kondensierte und trotz des klar betonten Standpunkts objektive Übersicht der Entwicklung, die das polnische Theater und die drama- tische Literatur in den letzten zehn Jahren genommen haben.

Otto Forst-Bartaglia.

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Zygmunt Falkowski: O sposób pojmowania realizmu w badaniach literackich. (Über die Art der Konzeption des Realis- mus in literarishen Forschungen.) Przegląd Powszechny Bd. 183 (1929), S. 23—41, 277—294.

Die gehaltvolle, feinsinnige Studie Falkowskis ist hier anzuführen, da sie ihre allgemeinen Erörterungen zum großen Teil mit Beispielen aus der polnischen Literatur belegte. So werden etwa die Definitionen des Realismus durch Sniadecki, Mochnacki, Brodzinski, Odyniec, Mickiewicz erörtert, die entweder expressiv verbis gegeben wurden oder sich aus den Werken dieser Dichter ableiten lassen. Falkowski unterscheidet ganz richtig verschiedene Arten des Realismus; die wahrheits- getreue Erfassung der Außenwelt, der Innenwelt und beider wahrheitsgemäßen Ausdruk. Dabei bleibt aber Realismus nie Kopie, sondern stets künstlerische Umdeutung, Wahrheit sui generis. Otro Forst-Battaglia.

Polen in Brasilien.

Józef Staäczewski: Polacy w piśmiennictwie brazylijskiem. (Die Polen im brasilianischen Schrifttum.) Przegląd Współ- czesny, Bd. 27 (1928), S. 337—342.

Kurze Notiz über polnishe Motive in der brasilianischen Literatur.

Otto Forst- Battaglia.

Die Jiidin als literarische Egeria im polnischen Schrifttum.

Adolf Nowaczyfiski: Esterki w literaturze. (Estherchens in der Literatur.) Tecza 1929, Nr. 12.

Eines der Probleme, an denen die Literaturgeschichte gerne verschämt vorbei- schleicht: der Einfluß, den Jüdinnen auf ihnen rassenfremde und von ihnen an- gezogene arische Autoren geübt haben. Nowaczyhski beschäftigt sich in der sehr oberflächlichen Studie, die nur das Verdienst hat, eine Anregung zu bieten, auch mit der Gestalt der dämonischen, perversen Jüdin in der neuesten polnischen Literatur (Witkiewicz, Strug, Ulanowski .. . warum nicht bei Weyssenhoff und zum Teil bei Wyspiafski, den Schöpfern des Typus?).

Otto Forst- Battaglia.

Kor pala, Józef: Dzieje drugiej edycji Historji literatury polskiej Bentkowskiego. Silva rerum 1928. S. 100—110.

Ein weiterer sehr interessanter Beitrag Korpalas zur Geschichte der Biblio- graphie in Polen, der sih auf größtenteils bisher ungenutztes Quellenmaterial stützt. Bentkowskis „Historja literatury polskiej“, Teil 1, 2, Warszawa i Wilno 1814, eine Bibliographie mit biographishen Angaben über die Autoren hat für die Entwicklung der Bibliographie in Polen eine sehr große Bedeutung gehabt. Sie hat eine ganze Schar von Männern zur Bearbeitung der Bibliographie und Literaturgeschichte in Polen angeregt. Überall, besonders eifrig aber in Wilna und Krzemieniec, arbeitete man an der Vervollständigung dieser wertvollen Sammlung, und Bentkowski trug sich von vornherein mit dem Gedanken einer Neuausgabe, für die ihm Lelewel, Bandtkie, der Krakauer Buchhändler Ambroży Grabowski u. a. ihre Unterstützung zusagten. Das Manuskript erwarb Zawadzki in Wilna, während die Redaktion der Neuausgabe Mikołaj Malinowski, ein Schüler Lelewels und Freund Mickiewicz’s, übernahm. Aus der Korre- spondenz Malinowskis, die in der Bibljoteka Jagiellońska in Krakau aufbewahrt ist, berichtet Korpala weiter über den Verlauf der Arbeiten Malinowskis von 1824—1829. 1880 löste dann Zawadzki seine Beziehungen zu Malinowski und übergab die Redaktion Ludwik Sobolewski, der jedoch noch im selben Jahre

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34° RF 6

verstarb. Darauf übernahm Adam Jocher die Bearbeitung der Neuausgabe, für welche Zawadzki die Materialien Sobolewskis, Bandtkies, Karol Sienkiewicz’s und JuszyAkis aufgekauft hatte. Nach jahrelanger Arbeit und Umfrage bei den ver- schiedensten Bibliotheken brachte dann Jocher die Neuausgabe des Werkes Bentkowskis, den „Obraz bibljograficzno-historyczny literatury i nauk w Polsce“ in 3 Bänden 1840—1857 heraus. E. Koschmieder.

Tagung der Dichter in Posen.

Marja Kuncewiczowa: Zjazd literatów w Poznaniu. (Die Zusammenkunft der Literaten in Posen.) Wiadomości Lite- rackie 1929, Nr. 25.

Bericht über den Verlauf und die Beschlüsse des Kongresses, der zwischen

6. und 9. Juni 1929 in Posen stattfand. Sein wesentliches Ergebnis war die Er-

zielung einer überraschenden Einmütigkeit zugunsten der neuen Polnischen

Akademie, deren Gegner, wie Irzykowski, sich der Mehrheit fügten.

Otto Forst-Battaglia.

Grycz, Józef: Trzeci Zjazd Bibljofilöw Polskich we Lwowie.

Silva rerum 1928. S. 81—84.

Kurzer Bericht über den 3. Bibliophilen-Kongreß in Lemberg Pfingsten 1928, an dem nach Ansicht des Berichterstatters die Ausstellungen an Druck, Einbänden usw. sowie die zur Verteilung gelangten bibliophilen Festgaben alle Erwartungen übertrafen, während die Beratungen und Vorträge die Organisation des Bibliophilen- tums nicht wesentlich gefördert haben. Als Aufgaben des nächsten Kongresses stellt Grycz die Festlegung des Charakters der Kongresse und des Bibliophilen- Rates hinsichtlich der Organisation des Bibliophilentums sowie überhaupt die Aufstellung der Aufgaben der polnischen Bibliophilie auf.

E. Kos chmie der.

Das „Atheneum“-Theater in Warschau.

Kz.: „Atheneum“ pod nową dyrekcja. (Das „Atheneum“ unter seiner neuen Direktion.) Wiadomości Literackie (1929), Nr. 33. Marja Strońska, die Leiterin der sehr rührigen, von den Warschauer

Arbeitern erhaltenen und ihnen gewidmeten Bühne, stellt in ciner von stolzer Be-

scheidenheit erfüllten Unterredung fest, daß ein wichtiger Beitrag zur Diskussion

über die proletarische Literatur um ein Wort Froebels zu variieren, für die

Kinder des Volkes gerade das Beste gut genug ist. Otto Forst-Battaglia.

EEN Pawel: Jedno z wazniejszych zadań polskiej bibljofilji. Silva rerum 1928. S. 84—86.

Bei aller Anerkennung dessen, was die polnische Bibliophilie bisher an Aus- gaben herausgebracht hat, wird hervorgehoben, daß das illustrierte Buch zu wenig Beachtung gefunden hat. So wird die geschichtliche Bearbeitung der Budh- illustration in Polen besonders vom 18. Jahrhundert ab den polnischen Biblio- philen warm ans Herz gelegt. E. Koschmieder.

Jözef Kotarbinski. . l Kazimierz Czachowski: Józef Kotarbinski. Wiadomości

Literackie 1929, Nr. 2. , Kotarbinski, der, fast achtzig Jahre alt, am 19. Oktober 1928 starb, war ein vortrefflicher Schauspieler, ein verdienter Theaterdirektor von dessen Tätigkeit am Krakauer Theater die Erinnerung an die Erstaufführung der „Wesele“

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Wyspianskis unzertrennlich ist und ein verstindiger Kritiker, Kollege von Sienkiewicz, Swietochowski und Chmielowski an der Warschauer Szkoła główna, hat Kotarbinski zeitlebens die Atmosphire des Warschauer Positivismus auf sich einwirken lassen. Umso schitzbarer war die Vorurteilslosigkeit, mit der er dem ihm wesensfremden polnischen Symbolismus zum Bühnenerfolg verhalf.

Otto Forst-Battaglia.

Zofja Stryjehska. ne Wallis: „Tańce polskie“ Stryjehskiej. (Die

„Po en Tänze“ der Stryjehska.) Wiadomości Literackie 1929, Nr. 29.

Derselbe: Les Danses polonaises vues par Zofja Stryjehska. Pologne

Littéraire 1929, Nr. 33.

Wallis spricht mit vollkommen gerechtfertigter Begeisterung von der genialen Künstlerin, die, wie vor ihr niemand, verstanden hat, aus den Tiefen der nationalen Tradition und einer nie um den Ausdruck verlegenen Gestaltungskraft Werke zu schaffen, aus denen die polnische Seele und zugleich die glänzendste Fähigkeit des Malers, im Bild zu cherakterisieren und die Illusion der Bewegung zu erwecken, spricht. Die „Tänze“ sind ein Zyklus, der sich den höchsten Leistungen der zeit- genössischen Malerei zur Seite stellen darf. Leider geben die schlechten Reproduk- tionen, die noch der Farbenwirkung beraubt sind, nur ganz unzulänglich den Zauber der Originale wieder, zu denen man greifen muß, um das Urteil von Wallis selbst zu bestätigen. Otto Forst-Battaglia.

Stanislaw Wiechowicz: Renesans starej muzyki polskiej. (Renaissance der alten polnischen Musik.) Tecza 1929, Nr. 21. Nach französischem Vorbild (auf das in diesem Artikel nicht hingewiesen

wurde) bildete sich eine polnische Gesellschaft der Freunde alter Musik, die

praktisch durch Konzerte und theoretisch durch Publikationen älterer

Werke viel geleistet hat. Sehr fesselnd ist die Parallele zwischen der an die

Commedia dell’arte erinnernden und mit ihr übereinstimmenden Technik der

Partituren, in denen der Begleitmusik freier Spielraum gelassen wird, und der

modernen Jazzmusik. Otto Forst- Battaglia.

Henryk Opiens ki: Polska twórczość symfoniczna. (Polni- sches Schaffen auf dem Gebiet der Symphonik.) Tecza 1929, Nr. 24.

Andeutungen aus sachkundiger Feder über die Marksteine, die ein künftiger Historiker der polnischen Symphonie zu beachten hätte. Seit dem 19. Jahr- hundert treten hervor: Ignacy Dobrzydski, V. Zelenski, Z. Noskowski, M. Karlowicz, endlich die modernen Meister Szymanowski, Rözycki, Fitelberg, Paderewski. Otto Forst-Battaglia.

Peter Vischer in Posen.

GwidoChmarzyäAski: Piotr Vischer i Poznan. (Peter Vischer

und Posen.) Tecza 1929, Nr. 26.

Ober vier herrliche Arbeiten des großen Bildhauers, Sarkophage für Lukasz Gérka, Bernard Lubrafski, Uriel Görka und Feliks Paniewski, sämtlich aus dem Ende des 15. Jahrhunderts. Posen hat außerdem viele Werke von Peter Vischers Söhnen Peter, Hans und Paul aufzuweisen. Octo Forst-Battaglia.

sure 523

Polnische Volkskunst.

W. Lam: Książka o dawnych kilimach w Polsce i na Ukrainie. (Ein oe alte Kilime in Polen und in der Ukraina.) Tecza 1929, r. 25.

e i = tor: Malowidia na szkle. (Glasmalereien.) Tecza 1929, r. e

Es liegt im Sinne des Programms der „Tecza“, daß sie häufig auf die boden- ständige und dem Kulturgeschichtsforscher so bedeutsame polnische Volkskunst die Aufmerksamkeit lenkt. Szumans Buch über „Kilime“, die eigenartige Teppiche orientalischer Provenienz, in deren Anfertigung die Bevölkerung der Ostprovinzen Polens exzellierte, bot Anlaß zu W. Lams Aufsatz. Viktor behandelt die originellen Glasmalereien des Podhale und der Zips.

Otto Forst-Battaglia.

Polen in Freiburg in der Schweiz.

Tadeusz Stryjeński: Witraże Mehoffera w kolegjacie sw. Mikołaja we Fryburgu. (Die Vitragen Mehoffers in der Kollegiat- kirche zum Hl. Nikolaus in Fribourg.) Przeglad Powszechny Bd. 180 (1928), S. 289—306.

Derselbe: Polaczy we Fryburgu. (Polen in Fribourg.) ibid. Bd. 181

1929, S. 50—57.

Verf. dieses Aufsatzes hat 1894 den jungen Maler Mehoffer aufgefordert, sich an dem Wettbewerb um die Ausführung der Glasfenster bei St. Nikolaus in Frei- burg zu beteiligen. Unter zahlreichen Konkurrenten aus allen Lindern errang Mehoffer auch tatsächlich den Preis und seine Entwürfe wurden ausgeführt. Sie fanden die größte Bewunderung und trugen den Namen Mehoffers durch ganz Europa. Stryjenski berichtet dann von den polnischen Professoren an der Frei- burger katholischen Universitit, wie Kallenbach, Kowalski, Dobrzycki, Cybichowski, von hervorragenden ehemaligen Hörern dieser Hochschule, die stets auf die Polen eine große Anziehungskraft ausübte. Otto Forst-Battaglia.

Kirchenschätze auf der Jasna Göra.

W. St. Tur czy sk Ii: Skarbiec Jasnogörski. (Die Schatzkammer

auf der Jasna Göra.) Tecza 1929, Nr. 24.

An der Hand des Katalogs durch die in den Jahren 1918—1925 neugeord- neten Schätze des Paulinerklosters auf der Jasna Góra bei Czestochowa schildert der Verfasser die kostbarsten Denkmale der Goldschmiedekunst urd die schönsten Paramente dieser Sammlung, die frommer Freigebigkeit früherer Jahrhunderte ihr Entstehen und ihre Blüte, der Scheu fremder Zwingherrn vor dem Raub an ehr- würdigem Gut ihr Bestehen bis auf unsere Tage dankt. Gute Illustrationen ergänzen den Text. Otto Forst-Battaglia.

Marjan Gumowski: Architektura i styl przedromanski w Polsce. (Die Architektur und der vorromanische Stil in Polen.) Przeglad Powszechny Bd. 180 (1928), S. 211—232; Bd. 181 (1929), S. 58—76. Fortsetzung der diese Jb. N.F. 5, 272 angezeigten Arbeit. Vorzüglich über Bauten aus Krakau und Umgebung. Otto Forst-Battaglia.

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Wissenschaftliches Leben in Posen.

Zygmunt Wojciehowski:. Ruch naukowy w Poznaniu w dziedzinie historji w latach 1923—1928. (Die wissenschaftliche Tätigkeit auf dem Gebiet der Geschichte in Posen während der Jahre 1923—1928.) Kwartalnik Historyczny Bd. 43 (1929), 2, S. 155—175.

Bericht über die Veröffentlichungen und die Wirksamkeit der Universität, der

Vereine, dann über die Zeitschriften und Zeitungen. Aus der Tagespresse fehlt der

Przeglad Poranny. Sonst keine wesentlichen Lücken. Otto Forst-Battaglia.

Kazimierz Czachowski: Querelle autour de Académie. Pologne Littéraire 1929, Nr. 30. Informativer Bericht über die vorläufig durch den Beschluß des Posener Literatenkongresses beendete Fehde um die Nützlichkeit einer zu errichtenden Polnischen Akademie. Orto Forst-Battaglia.

Polonica in den ,,Izvéstija“ der Leningrader Akademie.

Jan Łoś: Rzeczy, mające związek z Polska, w „Izviestijach“ Akademji Petersburskiej. (Polonica in den ,,Izvéstija“ der Peters- burger Akademie.) Pamiętnik Literacki Bd. 25 (1928), S. 320—32.

In den 32 Bänden dieser russischen Publikation sind viel wertvolle Materialien zur polnischen Literaturgeschichte enthalten. Los berichtet darüber, und hebt die Artikel von Čižikov über Mickiewicz in Rußland (Bd. 20, 1915, 125—151) es werden mehr als 800 russishe Arbeiten über den polnischen Dichter verzeichnet —, von Ptaszycki, dem polnischen Forscher, über die mittelalterlihen Romane in Polen (Bd. 7, 819—858), Francev, dem ehemaligen russischen Professor an der Warschauer Universität, über die kaschubische Wiedergeburt (Bd. 17, 1912, 31—76), endlich die Studie über das polnische und Gerd volkstümliche Drama von V. Perec (Bd. 10, 12, 14, 15, 16) hervor. Otto Forst- Battaglia.

Polnische Landschaft.

Znasz-li ten kraj? (Kennst du das Land?) Tecza 1929 (in zahlreichen Nummern, von verschiedenen Autoren).

Von Emil Zegadlowicz angeregt und konsequent gepflegt, ist die Reihe der in der „Tęcza“ veröffentlichten Artikel über polnische Städte, Schlösser und Berge, dank des literarischen und mitunter wissenschaftlichen Wertes der Texte und der stets vorzüglichen photographischen Beigaben für uns von großem kiinst- lerischen und dazu sowohl geographischen als historischen Interesse.

Otto Forst- Battaglia.

Adam Czekalski: Ołyka Tęcza. 1929. Nr. 40.

Kurzer Abriß der Geschichte und Schilderung von Olyka, der bekannten Radziwillschen Residenz. Otto Forst- Battaglia.

Schloß Lancut.

Wladysiaw Bogatynski: Zamek Łańcut. Tęcza 1929, Nr. 17 |

Schloß Lancut, die stolze Residenz eines Zweiges der Potocki, ist vielleicht das schönste Denkmal der polnischen Frühbarokke. Es wurde von den Lubo-

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mirski an Stelle eines älteren Palastes der Stadnicki im 4. Jahrzehnt des 17. Jahr- hunderts erbaut. Heirat brachte es in den Besitz der Potocki. Bogatyhski ver- mittelt uns eine annähernde Vorstellung von dem Luxus und dem 5 an Kunstschätzen aller Art, der dem Besucher des königlichen Sitzes die Pracht und

die Macht polnischen Magnatentums eindrucksvoll vor Augen führt.

Otto Forst-Battsglia.

Alteste Städteansichten in Polen.

Mieczysław Skrudlik: Najstarsze widoki miast (Die ältesten Städteansichten in Polen.) Tęcza 1929, Nr. 3. Nach alten Stichen illustriert, skizziert dieser übersichtliche Artikel die Ent- wicklung des polnischen Städtebilds von Sched! und Sebastian Münster bis ins 17. Jahrhundert, von willkürlicher Phantasie und Unbeholfenheit bis zur geome- trishen Exaktheit der Festungspläne aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Otto Forst-Battaglia.

Stanislaw Arnold: Geografja historyczna, jej zadania i metody. (Die historische Geographie, ihre Aebi und Me- thoden.) Przegląd Historyczny Bd. 28 (1929), S. 91—120. Trotz des allgemeinen Titels enthält diese Abhandlung Arnolds auch eine

Fülle von speziellen und sehr nützlichen Bemerkungen zur historischen Geographie

Polens. Sie beschäftigt sich mit der Rekonstruktion des natürlichen Landschafts-

bildes (Oberflächengestaltung, Klima, Hydrographie, Flora (warum nicht auch

mit der Fauna?),. dann mit der Rekonstruktion des kulturgeographischen und

5355 ar Milieus, er gar der Siedlungskunde, der Grundkarten-

orschung, der Administrativgeschichte) Otto Forst-Battaglia.

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NEKROLOG

LUDWIG FINKEL t

Ludwig Finkel, geboren 1857 in Tarnopol, studierte Geschichte an der Universität Lemberg beim berühmten Historiker Liske, dann als Stipendist in Wien, Berlin und Paris. Er wurde als Dozent für Geschichtskunde an der Universität Lemberg habilitiert, wo er es auch zum Ordinarius der österreichischen Geschichtskunde brachte und später die höchsten Universitätswürden erreichte.

Mit Ludwig Finkel verliert die polnische Geschichtswissenschaft einen ihrer bedeutendsten Männer, einen stillen Arbeiter, der mit nie müder Kraft und Zähigkeit stets vermittelnd zwischen Ausland und Inland stand, indem er dem Auslande polnische Forschungen fortlaufend übermittelte (Mitteilungen d. Institutes für öst. Geschichts- forschung und Jahresberichte der Geschichtswissenschaft 1899—1908) und gleichzeitig das fremde Wissen seinem Lande zugänglich machte (Kwartalnik Historyczny“). Er versammelte um sich eine große Anzahl Lernbegieriger, von denen er Fleiß und historische Genauig- keit verlangte, ihnen zugleich Lehrer und Förderer war. Auch menschlich suchte er seinen Schülern näherzukommen, hatte immer für jeden ein gutes Wort, eine Ermunterung in Bereitschaft. Wenn man ihm in seinem Zimmer, in der kleinen Wohnung vis-a-vis der Universität, an dem kleinen Tisch gegenüber saß, auf dem scheinbar vollendete Unordnung. herrschte, konnte der Professor stundenlang erzählen und über verschiedene Fragen lebhaft debattieren. Seine Be- hauptungen pflegte er mit einer Notiz zu bekräftigen, die bald in dem scheinbaren Chaos herausgefunden war und deren der Besucher am meisten bedurfte. So lenkte er unmerklich seine Schüler zum Wesentlichen.

Das unsterbliche Verdienst Prof. Finkels liegt in der Bearbeitung der „historischen Bibliographie der polnischen Geschichte“. In zwanzig- jähriger emsiger Arbeit mit umermüdlichem Fleiß schuf er die grund- legende Methode. Andere eilten zur Mitarbeit herbei, die Seele aber des epochemachenden Werkes war und blieb der Professor. Mit diesem Werke, das er aus völlig unbearbeitetem Material gestaltete, ermöglichte er den weiteren Ausbau der polnischen Geschichtsforschung und schuf neben Karl Estreichers allgemeiner polnischen Bibliographie das umfangreichste Werk dieser Art. Auch eine Geschichte der Universität der Stadt

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Lemberg hat er verfaßt. Die dankbare Stadt bot ihm hierfür das Höchste das sie besaß, die Ehrenbürgerschaft der Stadt Lemberg.

Auch vieles andere hat Professor Finkel in seinem langjahrigen Schaffen geschrieben. Ihn interessierte alles, was mit Geschichte im Zusammenhang stand. Besonders widmete er sich aber der Epoche der polnischen Renaissance, der Zeit der Jagiellonen. Dieses Studium begleitete ihn von seiner ersten Jugend an. Schon seine Dissertation war über den polnischen Historiker „Martin Kromer“ und den Höhe- punkt seines Schaffens erreichte er in der „Elektion Sigismund L“. Bis zum letzten Augenblicke blieb er unermüdlich und arbeitete an einer Monographie des Historikers Szajnocha, deren Teil „Szajnocha als Bibliothekar“ bereits erschien, wie auch an der Vorrede zu einer großen Weltgeschichte.

Die „Historische Gesellschaft“ wie auch der „Kwartalnik Histo- ryczny“ verdanken ihm ihren Aufschwung, der „Historische Jugend- verband“ seine Entstehung. In Anerkennung seiner Bedeutung er nicht nur von der österreichischen und später von der polnischen Regierung, sondern auch von allen wissenschaftlichen Kreisen mit Würden und Ehren überhäuft. So wurde er Mitglied der Akademie der Wissenschaften in Krakau, der Gesellschaft der Wissenschaften in Lemberg, Ehrenmitglied des Historiker-Vereins etc. etc. Er wurde auch zum Rektor im Jahre des dreihundertjährigen Jubiläums der Universität Lemberg gewählt.

Sein Gesundheitszustand veranlaßte ihn, sich frühzeitig vom öffentlichen Leben zurückzuziehen. Er arbeitete aber trotzdem fleißig weiter, und so wurde sein 70 jähriges Jubiläum 1927 durch eine Akademie an der Universität und eine Medaille mit der Inschrift „Dem Schöpfer der polnischen Geschichtsbibliographie“ geehrt. Zwei Jahre nachher wurde er Laureat der Stadt Lemberg.

Seine letzte Schrift war die Vorrede zu einer populären Dar- stellung des November-Aufstandes, welche einige Wochen vor seinem Tode im Verlage der Macierz Polska erschien. Es ist bezeichnend für den immer jungen Geist des Verstorbenen, daß er in diesen letzten Zeilen die neue Stellungnahme der geschichtlichen Forschung betonte, welche mit der Wiedererlangung der politischen Unab- hängigkeit zusammenhängt.

Im Oktober 1930 kündete die schwarze Fahne an der Uni- versität vom Scheiden desjenigen, der immer lebendig in seinem Werke fortleben wird. Von gleicher Dauer wie sein Lebenswerk bleibt das lebendige Andenken, daß er sich als Mensch im Herzen seiner Schüler und aller derjenigen, die mit ihm je in Berührung

kamen, aufbaute. Lemberg. K. Tyszkowski.

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INHALTS-VERZEICHNIS

DES BANDES VI N.F. (1980).

I

ABHANDLUNGEN

S. Gar : Polen und die Weltwirtschaft .

Th. A amezyk: Die Reise Katharinas II. nach Südrußland im Jahre 1787

W. Kühne: Neue Einblicke in Leben und “Werke Cièr-

kowski I. Th. Frankl: 5 als Orientalist und: sein v zur Slavistik í

I. Mirtschuk: Der Messianlemus bei jes Slaven

M. Alekseev: Die Quellen zum ee ve Ivanovi von Rob. Browning

Th. Wotschke: Polnische und itauische Studenten. in Königsberg a A

MISCELLEN J. Matl: Ksaver Sandor Gjalski f J. Matl: Bulgarische historische Bibliothek H. Simon - Eckardt: Sophie Kovalevskij .

O. Forst- Battaglia: Conférence des Historiens des Etats de PEurope et du monde Slave

L. Silberstein: Ein Besuch in der slavischen Bibliothek des oslovakischen Außenministeriums . 9

II LITERATURBERICHTE

F. Epstein: Die Marxistische Geschichtswissenschaft in der Sovetunion seit 1927

J. Matl: Neue Ausgaben südslavischer poctindice Liceratur und Quellen zur Kultur- und Geistesgeschichte .

V. Hruby: Die Quellen zur Cechoslovakischen Geschichte in sei ersten zehn Jairen be Cechoslovakischen Reps:

K. Völker: Neuere Literatur zur Kirdengeshice Polens ; St. Zajączkowski: Archeion . . 9 E. Kos ch mie der: Przegląd Bibljoteczny ; r ;

O. Forst-Battaglia: Drei polnische Festschriften ;

O. Forst-Battaglia: Die „Bibljoteka Narodowa“

BOCHERBESPRECHUNGEN

JosefSchränil: Die Vorgeschichte Böhmens und Mährens, bespr. v. M. Jahn e

Dr. Blažena RyneSovd: Listä a listinář Oldřicha z Rožmberka z let 1418—1462, sv. I, eee

bespr. v. L B. Novák . .

Dr. Vavro Šrobár: O EEDE Slovensko, 5 v. L. Silberstein

Georg Ostrogorski: Studien zur Geschichte des ZE dinischen Bilderstreites, bespr. v. F. Haase ;

Georg Sacke: W. L. Solowjews SES bespr. v. F. Haase

Hildegard Schaeder: Moskau das dritte Rom, bep v. F. Haase

J. Mirò uk: Tolstoj und Skovoroda, zwei le Typen, bespr. v. F. Haase

Joseph Strzygowski: Die Altslavische Kunst, bespr. v. W. Zalozieckyj. .

Petur Panov: Die altslavische Volks- dnd Kirchenmusik, bespr. v. E. Koshmieder DN

Zdzistaw Jachimecki: Muzyka ponsa L, = v. E. Kos di mie der

Emil Sembritzki: Slawen-Spuren auf deutschen Fluren, bespr. v. K. Eistert .

A. V. Florovskij: Sostav zakonodatel'noj kommis 1767—74 gg., bespr. v. Georg Sadke. f

D. I. Bahali j: Narys istoriji Ukrajiny na RE CH EC mitnomu grunti, I, bespr. v. D. Doroschenko

Pylyp Klymenko: Cechy na Ukrajini Das Zunftwesen in der Ukraine I, bespr. v. D. Doroschenko. .

A. Petrov: Karpatoruské pomistni názvy z pol. XIX a z pot. XX. st., Baa D. 55

M. A. Aldanov: Zeitgenossen, bespr. v. O. Forst- Battaglia ey a Me at Oe Ge ee

530

Wsewolod Iwanow: „Der Buchstabe G.“ Wera Inber: Der Platz an der Sonne. P. N. Kras- now: Der weiße Kittel. Anatolij Marien- gof: Zyniker. Bespr. v. O. Forst-Battaglia

Ettore Lo Gatto: Storia della letteratura russa I, EH v. E. Haertel ge g

Giovanni Maver: „Meditazione“ di Ee, bespr v. E. Haertel . 8 i

Anton Navina (Anton Luckevið: „Adbita nye, bespr. v. Vl. Samojlo .

Anton Luckevié: Za dvadzat pjac CR (1903—1928), bespr. v. VI. Samojlo. . .

K. Nosovský u. V. Pražák: Soupis československé literatury za léto 1901—1925, H. 1—4, EE v. H. Ji le k ;

Josef Volf: Geschichte des Buchdrucks in Böhmen aaa Mähren bis 1848, bespr. v. E. Kos chmie der

Marjan Kukiel: "em, historji wojskowości w Polsce, bespr. v. K szkowski . .

Lucja Chars irora Dzieje miasta Zloczowa, bespr.

v. A. Wagner

Luc ja Charewiczowa: Lwowski organizacje zawodowe za czasów Polski EEN ad v. A. Wagner.

L. Bernacki, R. . WI. Podlacha: Modlitewnik Władysława ai ail a v. K. Sochaniewicz.

Bene dy kt . Pamigtnik, bespr v. K. Tysz- kowski .

Kazimierz EE EN Nord Archiwistyka Polska i jej zadania, bespr. v. St. Zajaczkowski. g

Mieczysław Gebarowiz: Katalog rękopisów Bibljoteki im. Gwalberta ee DE v. K. T ys sz- kowski :

„Rzeczpospolita Polska. Ada Statystyczny“, bers v. J. Czed . .

Elisabeth Kloß: Das Gründungrbuch de Stadt Dirschau, bespr. v. E. Piirschel. .

Ernst Petersen: Die frahgernaniche Kultur in Ost- deutschland und Polen, bespr. v. E. Pürscel. .

Konrad Bittner: Herders er und ER Slaven, bespr. v. F. Haase.

367

383

467

Ein neues Sammelwerk zur bulgarischen Literatur- und Kultur- Fear ee ër leg pisateli 15 redakcijatu na Gier . Arnaudov), bespr. v. J. Wat! D. I. 8 1 porohy, bese: v. M. Dol ny ky . . : M. Fil’anskyj u. J. Ry fenko: Poltaviéyna, bespr. v. M. Dol“ ny é ky j : H. Drohomyreékyj: Vitry Zakarpata, bespr. v. M. Dol’nyé GE : J. Kral: Svidovec v Podkarpatské Rusi, ep v. M. Dol ny ky . E Materijaly ochorony pryrody na Ukrajini, E v. M. Dol ny ky j Josef Ri Großfürst Witold von en als Staats- mann, bespr. v. M. Laubert

Artur Wagner: Handel malen Jaroslawia, bespr. v. . Lattermann. . a

ZEITSCHRIFTENSCHAU Allgemeines Bulgarien.

Jugoslavien . 2. 2 2 2 2 2 M08 Rußland s s ër G ] 9

Weißrußland Ukraine

Cechos lova kee 409; 479;

Polen

NOTIZEN

Die Gründung einer slavist. Sektion auf en panam Neuphilologentag in Breslau

Jan Pta$nik ¢ (Nekrolog v. A. W agn er) ke. 8 Ludwig Finkel (Nekrolog v. K. TySsz ko ws ki)

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