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Jahres-bericht

der

Schlesischen Gesellschaft

für vaterländische Cultur.

1910. I. Banc.

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LIBRARY NEW YORK BOTANICAL

GARDEN,

Breslau. G. P. Aderholz’ Buchhandlung. 1311:

FEB 24 1912

LIBRARY

Inhalts-Verzeichnis NEW YORK des I. Bandes des 38. Jahresberichtes. re 5

Allgemeiner Bericht

über die Verhältnisse und die Wirksamkeit der Gesellschaft im Jahre 1910, abgestaltet vom General-Sekretär, Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Ponfick 1

BEwERBetherkdies Bibliothekar reset er are rer reset efkeke 10 Bericht über das Herbarium der Gesellschaft .............-.urssseeseeeen- 11 RASSEHAVerwaltuneShetich bare elektro eleetens 11

Berichte über die Sektionen.

II. Abteilung: Naturwissenschaften.

a. Sitzungen der naturwissenschaftlichen Sektion. Beutell, A.: Vorführung der neuesten Modelle seiner automatischen Queck-

silberluftpumpe mit Luftpolster, D.R. P..........22-22ceeeeeeeeeeon. 1 v. dem Borne, G.: Die höheren Schichten der Atmosphäre und die Mittel ZHEIDTELELIOTSCHUNG Eee tea een ee enges 48 Der aörodynamische Widerstand durclbrochener Flächen ............ 48 Über Strömung von Gasen um Hindernisse (mit Demonstrationen) .... 60 Fischer, H. W.: Zur Molekulargewichtsbestimmung der Kolloide im Osmo- MELODIE AST AN TODE DERAADATODADTAONATTIT. 9 Gadamer, J.: Über Corydalisalkaloide, welche zum Apomorphin in Be- ZTOHUN GRSEO HEHE ee ee ee 48 eüinerYHezemisation. ee ee, 60 KaeHel[O:JÜherICoryCavin ee ee ee ee eh 48 Gruschke, G.: Die Brechung und Dispersion des Lichtes in einigen Gasen 67 Herz, W.: Zur Kenntnis der Löslichkeitsbeeinflussung .........en2s2222 00. 12 Löslichkeitsbeeinflussung und chemische Lösungstheorie ............- 48 Hürthle, C.: Über die Entwickelung der Instrumente zur Messung des Blut- SUCHE or IR ae RRLOHORHAGR ANNO RRTHRAAE 12 Lummer, O.: Über die Abhängigkeit der Strahlung einer Bunsen-Platte vom Strahlungswinkel .......... SEEN SEE Sabo ONE RER ETC EER ARERRTE TE TORRENT 48 Über die Abbe’sche Theorie der mikroskopischen Abbildung (mit De- THONSLLRLIONENN)" SrczyNe Nase Tre ERTERE et ke lee ee ee lesen ähtesieee 60 u. 67 Rechenberg, G.: Allgemeine Übersicht der meteorologischen Beobachtungen auf der Kgl. Universitäts-Sternwarte zu Breslau im Jahre 1910 ........ 105 Reiche, Fr.: Über die Abbe’'sche Theorie der mikroskopischen Abbildung (mit Demonstrationen) Se ee ae een . 60 u. 67

IV Inhalts - Verzeichnis.

Seite Sackur, O.: Dissoziationszustand in geschmolzeuen Salzen ..... eoeoue 43 Zur kinetischen Begründung des Nernst’schen Wärmetheorems ....... 93 Schäfer, Cl.: Demonstration eines Versuches über Totalreflexion.......... 12 Demonstration der Haidinger’schen Büschel......................... 12 Einige Bemerkungen zu optischen Problemen: a) Totalreflexion, b) Hertz’scher Gitterversuch im sichtbaren Gebiet, c) Dispersionstheorie der Serienspektren........ OHR OHORO0RL000. 93 2 7 ursbheorie.der>Kombinationstüner... re) dest ee ee pe eeeee 104 Thürmel, Erich: Das Lummer-Pringsheim’sche Spektral-Flickerphotometer alswoptische sa yEOmeLeLKy EL TEE re ee 12 Waetzmann, E.: Über ein neues akustisches Interferenzrohr (mit Demon- SERIEN), 6000 80-000606505000900800880000 000809000008 0000 0000000800 7 Methode zur exakten Bestimmung der Hörschärfe ................... Be) b. Sitzungen der zoologisch-botanischen Sektion. Bialenitz,.C\-NViscumtalbumsquercinumerreerer tree tele el l Dittrich, R.: Die zyklische Entwickelung einiger Gallläuse................ 65 I. Fortsetzung des Nachtrages zu dem Verzeichnisse der schlesischen Gallen. c222.. ee er lertet eheetetlere che re ektee 65 Eitner, E.: Dritter Nachtrag zur Schlesischen Flechtenflora ............... 20 Grosser, W.: Beschädigungen und Krankheiten der Kulturgewächse Schlesiens aan) 905000006450 000 0.0.0.08060000000000000000000060000000600 14 Grüning, G.: Die Nordseeinsel Langeoog und ihre Vegetation ............ 19 Kern, F.: Bryologische Exkursionen in der weiteren Umgebung der Ortler- und Adamellogruppers tert RE SEELE 1 Bautevbiach, C::YElorar Bapuasiense-Mys ee Te Teer Reg 15 Pax, F.: „Seeigel‘“ des Gallenbecker Sees bei Friedland (Mecklenburg) ..... 1 Einige neue Funde aus der Hohen Tatra.................2cceu.2020. 60 Schmidt, H.: 1. Fortsetzung des Nachtrages zu dem Verzeichnisse der SCHIESISCHENE GA EINE ee ee 65

Schube, Th.: Über die Phytologia magna von Isr. und Georg A. Volckmann 61 Ergebnisse der Durchforschung der schlesischen Gefäßpflanzenwelt im

Jahren LI OFF rer 069000000806 600000004000600000000000900060520 83 Ergebnisse der phaenologischen Beobachtungen in Schlesien im

TANTE HL IL OFTEN Re RR ET EL ok leere ee Te 104 Ergänzungen zum Waldbuch von Schlesien..........zeeeceeneeeeene 108

e. Sitzungen der Sektion für Obst- und Gartenbau.

Dittrich, G@.: Pilze des Scheitniger Parkes (mit Demonstration)..........- 19

Hölscher, Jelto: Bericht über die Tätigkeit der Sektion für Obst- und Gartenbautim@Jahres 191 ON er ee ee 1

Rein: Unsere Obstbäume und Sträucher im Garten der Stadt............. 3

Rosen, Felix: Bericht über die Tätigkeit der Sektion für Obst- und Garten-

baußimsdahre 1910 Fe er RETTET 1 Schube: Gartenpflanzen in Schlesien zur Zeit Ludwigs XIV .............. 24 Zacher, Friedrich: Schmetterlinge und Käfer als Schädlinge des Obstbaues 8

Besichtigung des Sektionsgartens in Rlettendorf............ueceeeeeeeeeeon 18

Inhalts- Verzeichnis.

III. Abteilune: Geschichte und Staatswissenschaften.

a. Sitzungen der historischen Sektion.

Foerster: Domherr Wigand von Salza und Libanios ..................... Hüsing, G.: Das alte Reich von Susa und das Volk von Elam............ Schmidkunz, H. (Berlin-Halensee): Über Hochschulpädagogik............. Schoenaich: Die Libelli und ihre Bedeutung für die Christenverfolgung

ÜERBEISETS DIE CHIS ERSTE RE el ole erstere te leerer

b. Sitzungen der staats- und rechtswissenschaftlichen Sektion.

Dyhrenfurth: Die wirtschaftliche Umgestaltung eines Landgutes während

DersletztengoURJahrerse tere este le sersrslsiäielerere brebener Zur BRefonmdesStrafrechts- 2 2 en ee en nee ne re v. Wenckstern: Geld, Kredit, Bank und Börse in Theorie, Recht und Praxis

IV. Abteilung.

a. Sitzungen der philologisch-archäologischen Sektion.

Foerster: Domherr Wigand von Salza und Libanios..............222...- Scheer: Zur Überlieferung des Aischylos...........22eeseeseeeneenennenn Schmidkunz, H. (Berlin-Halensee): Über Hochschulpädagogik ............ BrralktenmzıDer Diskosmvon- Bhaistos 2 rn ren. Ziegler: Die griechischen Studien des Luceilius ..........-e.222222222200-

c. Sitzungen der Sektion für neuere Philologie.

Hilka: Weitere Beiträge zur Secundusgeschichte in der altfranzösischen

ERENTO BDSDAHPHKIRTOR HANDELS von Le Juge: Über das geistliche epische Volkslied des Russen .......... Neckel, Gustav: Ibsens nordische Heerfahrt ............e.222222000 neene Schmidkunz, H. (Berlin-Halensee): Über Hochschulpädagogik ..........--

V. Abteilune.

a. Sitzungen der mathematischen Sektion.

Kneser: Kleine Beiträge zur Funktionentheorie . .......222r22eeeeneeeenn- Kober, H.: Anwendungen der Variationsrechnung auf Fragen der dynamischen SEINE posa00 DEREN ANOTOULHTCKDUPO VUN OT

b. Sitzungen der philosophisch-psychologischen Sektion.

Kieseritzky, E.: Logik undKolgestrenges..enenuorueenureeueenenennenann Kühnemann: Leo Tolstojs Gedankenwelt und Mission „...22e@ssenneenen: Margis, P.: Methoden zur Individualitätsforschung ............. ee Schmidkunz, H. (Berlin-Halensee): Über Hochschulpädagogik ........ +... v. Wenckstern: Die Basierung der nationalökonomischen Wertlehre durch

ULSEMOGEIMELERYCHOLORTOR SEE ee arten ein eletalne see ne An etnleie a olne

Seite

VI Inhalts-Verzeichnis.

Seite e. Sitzungen der katholisch-theologischen Sektion. Eim’%k%(Strehlen): Der Vatikan... u... as srateneee eleie ofegeker een eteeforefelegeheke 20 Herrmann (Gr. Mochbern): Die via crucis in Jerusalem, ihre Topographie und@Geschichte tn. TREE LEN REN 20 Hoffmann, Hermann: Die blutenden Hostien von Wilsnack............... 1 Missionswesen und Missionswissenschäft .............-s-2uceerennecn 21 Nikel, J.: Die neueste Bestreitung der Geschichtlichkeit Jesu und ihre baby- lonischenGrunglagenv.. nee ee ee ee een 21 Renz: Der Begriff des religiösen Opfers, eine Frage der Moral und des Rechts 34 Schönfelder (Mühlbock): Das älteste Pontifikale von Breslau............. 13 Strehler (Neiße): Eduard von Hartmanns System der Ethik .............. 20 d. Sitzungen der evangelisch-theologischen Sektion. Guhr: Die deutsch-evangelische Gemeinde in Bukarest.................... 1 Hoffmann, G.: Johann Timotheus Hermes...........-....22222eeeenenen

Zickermann: Die Mosaik-Landkarte von Madeba ..............2crececcen 1

VI. Abteilung.

a. Sitzungen der technischen Sektion. Hilpert: Die Einrichtungen des Elektrotechnischen Instituts der Königlichen

Mechnischen Hochschulen TREE 1 Masskow: Das elektrotechnische Laboratorium und die elektrischen Ein-

richtungen der Königlichen Höheren Maschinenbauschule ............ 1 Ramisch: Die neueren Gesichtspunkte zur Beurteilung der Standsicherheit

VORSTEHEND 40 0.0.00 0 6.4.06 6.00.00.0.0.0000.080.090.00.08.608100000000000000 1

b. Sitzungen der Sektion für Kunst der Gegenwart.

Burgemeister: Führung durch die Neubauten der Technischen Hochschule l Koch: Die Dichtung von Richard Wagners Ring des Nibelungen .......... 1 Landsberger: Was ist Impressionismus? .........222ceeeeseeesennnennnn 1

Lindner, Arthur: Führung durch das Kupferstichkabinett des Schlesischen Museumsi.dersbildenden Künsten... er ee 1

Neitzel (Cöln a. Rh.): Richard Strauß mit Erläuterungen am Klavier ..... 2

van Treeck, Carl: Alte und neue Glasmalerei............-...ccescene20n 3

Nekrologe auf die im Jahre 1910 verstorbenen Mitglieder ........ 1—41

Schlesische Gesellschaft für Yaterländische Gultur.

88. Jahresbericht. Allgemeiner Bericht.

1910. @&x ars Rn Bey)

Allgemeiner Bericht über die Verhältnisse und die Wirksamkeit der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur im Jahre 1910, erstattet

von dem General-Sekretär Herrn Geh. Medizinalrat Professor Dr. Ponfick.

Am 17. Dezember 1910 wurde unter dem Vorsitze des Präses, Herrn Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Foerster, die Ordentliche Hauptversamm- lung abgehalten, nachdem sie auf Grund des $ 17 der Satzungen durch einmalige Anzeige in der Schlesischen und der Breslauer Zeitung bekannt gemacht worden war.

Zunächst erteilte die Versammlung dem Schatzmeister Herrn Kom- merzienrat Berve Entlastung für die vom Präsidium geprüfte Rechnung des Jahres 1909. Im Anschluß hieran sprach der Präses dem Genannten für die wieder bewiesene Umsicht und Sorgfalt in der Führung der Kassengeschäfte den Dank der Gesellschaft aus.

Darauf verlas der Generalsekretär, Herr Geh.Med.-Rat Prof.Dr. Ponfick, den Allgemeinen Bericht über das Jahr 1910. Dieser beginnt mit einer Übersicht der Verluste, welche die Gesellschaft während des bezeich- neten Zeitraumes, sei es durch Tod, sei es durch Ausscheiden von Mit- gliedern erlitten hat:

a. Von den Sekretären verstarb: Der Sekretär der Sektion für katholische Theologie, Herr Pro- fessor Dr. Nürnberger; b. von Ehrenmitgliedern: 1. Herr Geh. Regierungsrat Professor Dr. Johann Gottfried Galle in Potsdam,

9. Wirkl. Geheimer Rat Professor Dr, Robert Koch, Ex- zellenz in Berlin,

3. ,„ Wirkl. Geheimer Rat Professor Dr. Julius Kühn, Exzellenz in Halle a. S.,

4. ,„, Geh. Regierungsrat Professor Dr. Hans Landolt in Berlin,

5. ,, Geh. Regierungsrat Professor Dr. August Meitzen in Berlin,

1910. 1

4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

50. Herr Professor Dr. Franz Praetorius, 51. ,, Oberstleutnant a. D. Hermann v. Richthofen, 52. , Dr. med. Carl Prausnitz, 53. Frau Professor Bertha Born, 54. Herr Professor Oskar Simmersbach, 55. ,, Professor Kurt Friedrich, 56. ,, Dr. med. Kurt Hauptmann, 57. ,, Provinzialschulrat Professor Paul Prohasel, 58. , Stabsarzt Dr. med. Spornberger, 99. ,„ Professor Dr. Constantin Caratheodory, 60. ,, Professor Dr. Gerhard Hessenberg, 61. ,, Stadtrat Dr. jur. Salomon Tobler, 62. ,, Apotheker Siegfried Hirschstein, 63. ,, Kaufmann Alexander Hildebrand; und 3 wirkliche auswärtige Mitglieder, nämlich:

1. Herr Rittergutsbesitzer Dr. Fritz Brößling in Tschanschwitz, Kreis Strehlen,

2. ,, Kurarzt Dr. med. Otto Brucauff in Arnsdorf i. Rsgb.,

% ,, Gemeindevorsteher Dr. jur. Schindler in Dt.-Piekar O.S.

In die Reihe der auswärtigen Mitglieder sind getreten 2 bisherige einheimische, nämlich: 1. Herr Dr. phil. Georg Gruschke in Charlottenburg, 2. ,, Rittergutsbesitzer Dr..Wassil von Le Juge in Erfurt.

Zu korrespondierenden Mitgliedern wurden ernannt: 1. Herr Professor Dr. med. Adalbert Czerny in Straßburg, 2. ,, Professor Dr. phil. Georg Gürich in Hamburg, 3. ,, Kgl. Gartenbaudirektor Ferdinand Stämmler in-Liegnitz.

Mithin zählt die Gesellschaft: 882 wirkliche einheimische Mitglieder und 149 wirkliche auswärtige Mitglieder, 4] Ehrenmitglieder und 129 korrespondierende Mitglieder.

Außerdem zählt die Sektion für Obst- und Gartenbau neben 80 Gesell- sehafts-Mitgliedern noch 111 zahlende.

In den Verwaltungs-Ausschuß wurden gewählt:

Herr Geh. Regierungsrat Prof. Dr. Foerster als Präses, Oberbürgermeister Dr. Bender als Vize-Präses, Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Ponfick als General-Sekretär, Prof. Dr. Rosenfeld als stellvertretender General-Sekretär, Geh. Reg.-Rat Mannowsky als Schatzmeister, Kommerzienrat Berve als stellvertretender Schatzmeister.

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Allgemeiner Bericht. 5

In das Präsidium wurden gewählt: Herr Professor Dr. Kükenthal, Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Küstner, „» Stadtrat Julius Müller, Oberpräsidialrat Schimmelpfennig, » Bürgermeister Trentin. Als Delegierte der einzelnen Sektionen wurden in das Präsidium ge-

wählt von der Medizinischen Sektion:

Herr Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Neisser, » Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Partsch, Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Uhthoff, » Med.-Rat Prof. Dr. Küttner, Prof. Dr. Tietze, von der Hygienischen: Herr Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Pfeiffer, von der Naturwissenschaftlichen: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Hintze und Brok Dr Branz, von der Zoologisch-Botanischen: Herr Prof. Dr. Dittrich, von der Sektion für Obst- und Gartenbau: Herr Prof. Dr. Rosen, von der Historischen: Herr Archivdirektor Geh. Archivrat Dr. Meinardus, von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Wolf, „» Ob. Landesger.-Präs. Wirkl. Geh. Oberjustizrat Dr. Vierhaus, Geh. Justizrat Prof. Dr. Leonhard, von der Philologisch-Archäologischen: Herr Prof. Dr. Skutsch, von der Orientalisch-sprachwissenschaftlichen: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Hillebrandt, Magnifizenz, von der Sektion für Neuere Philologie: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Appel, von der Mathematischen: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Sturm, von der Philosophisch - Psychologischen: Herr Prof. Dr. Baumgartner, von der Katholisch-Theologischen: Herr Prof. Dr. Joh. Nikel, Erzpriester Dr. Anton Bergel, von der Evangelisch-Theologischen: Herr Prof. D. Dr. Arnold,

6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

von der Technologischen Sektion: Herr Prof. Kosch, von der Sektion für Kunst der Gegenwart: Herr Architekt Felix Henry, » Prof. Dr. Koch. Über die Tätigkeit der einzelnen Sektionen berichten die Herren Sekretäre das Folgende: Die medizinische Sektion hielt 28 Sitzungen ab, einschließlich 7 klinischer Abende. Für die Periode 1910/11 sind gewählt: als 1. Sekretär, zugleich als Vorsitzender der Sektion: Herr Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Ponfick, und als dessen Stell- vertreter Herr Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Uhthoff, die 5 anderen Sekretäre sind: 2 Herr Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Minkowski, Geh. Med.-Rat Prof. Dr, Neisser, » Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Partsch, Prof. Dr. Rosenfeld, » Prof. Dr. Tietze.

Die hygienische Sektion hielt 2 Sitzungen.

Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Pfeiffer, » Geh. Med.- u. Reg.-Rat Dr. Telke.

Die naturwissenschaftliche Sektion hielt 10 Sitzungen.

Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Hintze, Prof. Dr. Gadamer, » Prof. Dr. Lummer, „.: Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Buchner.

Die zoologisch-botanische Sektion hielt 7 Sitzungen.

Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Prof. Dr. Pax, „» Prof. Dr. Kükenthal.

Die Sektion für Obst- und Gartenbau hielt 5 Sitzungen. Zum Sekretär wurde gewählt: Herr Prof. Dr. Rosen, zum Stellvertreter: Herr Kgl. Garteninspektor Hölscher,

Allgemeiner Bericht.

zum Verwaltungsvorstand: Herr Verlagsbuchhändler Max Müller.

Die historische Sektion hielt 4 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Kaufmann, Archivdirektor Geh. Archivrat Dr. Meinardus, „» Prof. Dr. Krebs.

Die Sektion für Rechts- und Staats-Wissenschaften hielt 3 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Geh. Justizrat Prof. Dr. Leonhard, Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Julius Wolf, „, Oberlandesgerichts-Präsident Dr. Vierhaus. Die philologisch-archäologische Sektion hielt 4 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Foerster, » Prof. Dr. Skutsch.

Orientalisch-sprachwissenschaftliche Sektion. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Hillebrandt, Magnifizenz, Prof. Dr. Meissner, Prof. Dr. Schrader.

Die Sektion für neuere Philologie hielt 4 Sitzungen.

Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Appel,

» Prof. Dr. Max Koch,

„» Prof. Dr. Sarrazin,

» Prof. Dr. Berneker.

Die mathematische Sektion hielt 1 Sitzung.

Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Kneser, Realschuldirektor Prof. Dr. Peche. Die philosophisch-psychologische Sektion hielt 4 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Prof. Dr. Kühnemann, zugleich Vorsitzender, „» Prof. Dr. Baumgartner, „» Prof. Dr. Stern.

8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Die katholisch-theologische Sektion hielt 9 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Prof. Dr. Joh. Nikel, Religions- und Oberlehrer Herm. Hoffmann.

Die evangelisch-theologische Sektion hielt 3 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Prof. D. Dr. Arnold, » Kircheninspektor Propst Decke.

Die technologische Sektion hielt 4 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Direktor Prof. Dipl.-Sug. Kosch, » Dipl.-Sing. Oberlehrer Wohl. Die Sektion für Kunst der Gegenwart hielt 6 Sitzungen.

Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Architekt Felix Henry, Baurat Karl Grosser, Professor Irrmann, Professor Dr. Max Koch, „» Professor Dr. Georg Dohrn,

In 5 Allgemeinen Versammlungen wurden folgende Vorträge gehalten:

1. Am 23. Januar: von Herrn Professor Dr. Külhnemann über ‚Charles W.Eliot, den Schöpfer der modernen amerikanischen Universität und einige Er- ziehungsfragen im gegenwärtigen Amerika‘. 2. Am 16. Februar: von Herrn Professor Dr. von Rümker über „eine Reise durch den Yellowstone-Park‘“. 3. Am 12. April: von Herrn Professor Dr. Rosenfeld: „Zur Biologie des Genies‘“, 4. Am 7. Juni: von Herrn Geh. Medizinalrat Professor Dr. Pfeiffer: „Robert Kochs Leben und Wirken‘. 5. Am 3. Dezember: von Herrn Professor Dr. von Wenckstern über „Hamlet“.

Allgemeiner Bericht. 9

Präsidial-Sitzungen haben 4 stattgefunden.

In seiner Sitzung vom 26. Juli hat das Präsidium beschlossen, beim Herrn Kultusminister dahin vorstellig zu werden, daß die Befreiung von der Zahlung der Gebühren für die Benützung der Universitätsbibliothek auch den künftigen Mitgliedern der Gesellschaft zuteil werden solle. Eine Antwort des Herrn Ministers steht noch aus.

Zu besonderem Danke ist die Gesellschaft wiederum der Stadt Breslau verpflichtet. Einmal hat diese ihren Jahresbeitrag von 1000 Mark auf 2000 Mark erhöht. Sodann ist die Frist zur Tilgung des Darlehns von 90000 Mark, welches die Städtische Sparkasse der Gesellschaft gewährt hat, vom 1. April 1910 auf den 1. April 1915 verschoben worden. Da- gegen ist auf Verlangen der Stadt das erwähnte Darlehn von 90000 Mark in eine erste Hypothek von gleicher Höhe verwandelt worden.

Die Königliche Steuerbehörde hat unter Anerkennung der Gemein- nützigkeit der Gesellschaft die Stempelsteuer zurückerstattet, die dafür erhoben worden war, daß die Stadt Breslau das Grundstück Matthiaskunst Nr. 4/5 der Gesellschaft mit Erbbaurecht geschenkt hatte.

Der vom 13. bis 16. September in Breslau gehaltene Internationale Astronomen-Kongreß wurde auf besondere Einladung des Ortsausschusses bei der Eröffnungsfeier im Musiksaale der Universität vom Präses begrüßt.

An dem vom 15. bis 20. August in Graz abgehaltenen VIII. Inter- nationalen Zoologen-Kongreß nahm als Delegierter der Gesellschaft Herr Professor Dr. Kükenthal teil,

Bei dem vom 15. bis 22. Oktober 1911 in Rom stattfindenden X. Internationalen Geographen-Kongreß soll die Gesellschaft durch Herrn Professor Dr. Supan vertreten werden.

Die Einladungen des Vereins zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien, der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde in Salz- burg und des Historischen Vereins für Heimatkunde in Frankfurt a. O. zur Feier ihres fünfzigjährigen Bestehens wurden durch Glückwunsch- schreiben beantwortet.

Am 21. Dezember überbrachte der Präses, begleitet von zahlreichen Mitgliedern des Präsidiums dem Ehrenmitgliede Herrn Geh. Archivrat Professor Dr. Grünhagen die Glückwünsche der Gesellschaft zu seinem 60 jährigen Doktorjubiläum.

Dem Mitgliede des Präsidiums, Herrn Stadtrat Julius Müller, wurden aus Anlaß seines 70. Geburtstages die Glückwünsche der Gesellschaft infolge seiner Abwesenheit von Breslau durch den Präses schriftlich über- mittelt.

Bei der am 29. November von Sr. Majestät dem Kaiser vollzogenen Einweihung der Technischen Hochschule war die Gesellschaft durch den Präses vertreten.

10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Das Stiftungsfest wurde am 17. Dezember im Anschluß an die Haupt- versammlung durch ein Festmahl begangen. Mit demselben wurde ver- bunden die Enthüllung der Bronzebüsten Sr. Majestät des regierenden Kaisers und des Königs Friedrich Wilhelms III., welche bei der Einweihung des Hauses am 27. Oktober 1907 als Geschenk Sr. Majestät des Kaisers angekündigt worden waren. Sie haben ihren Platz an der Südwand des Festsaales erhalten; erstere ist ein Werk von Reinert-Berlin, letztere von Baumbach-Berlin.

Auf Ersuchen des Magistrats der Stadt Breslau beteiligt sich das Prä- sidium an den vorbereitenden Schritten zur Herausgabe der Bohn’schen Partiturensammlung.

Als Mitglied der Provinzialkommission zur Erhaltung der Kunstdenk- mäler wurde Herr Architekt Henry dem Provinzialausschuß in Vorschlag gebracht und von diesem gewählt.

Der Jahresbericht soll von jetzt an in zwei Bänden erscheinen. Der erste soll den Allgemeinen Bericht, die Berichte über die Sektionen der Abteilungen II—VI und die Nekrologe, der zweite die Berichte über die Sektionen der Abteilung I enthalten.

Bericht über die Bibliothek.

Die im Austausch eingehenden Gesellschaftsschriften, Zeitschriften und Zeitungen lagen im Lesezimmer zirka 5 bis 6 Wochen zur Benutzung aus und wurden dann von der Königlichen und Universitäts-Bibliothek von Woche zu Woche übernommen.

Der Besuch des Lesezimmers sei den Mitgliedern warm empfohlen.

Als Geschenkgeber seien mit Dank genannt: Das Kuratorium der Fraenkel’schen Stiftungen, der Verein der Dentisten von Schlesien und Posen, die Firma S. E. Goldschmidt & Sohn und die Herren Kaufmann Felix Perle und Landesrat Schober hierselbst, ferner der Bio-Bibliographische Verlag von Albert Steinhage in Hannover und Herr Professor Dr. E. Koehne in Friedenau-Berlin.

Dem Schriftenaustausch sind im Jahre 1910 beigetreten:

1. Naturwissenschaftlicher Verein für Neu-Vorpommern und Rügen in Greifswald. 2. Verein für Geschichte der Stadt Hannover in Hannover. 3. Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens Ab- teilung Paderborn. 4. Zeitschrift für wissenschaftliche Insektenbiologie, Schöneberg- Berlin. Accademia dei Fisiocritiei in Siena. Königliche Forstliche Versuchsanstalt in Stockholm. Museal-Verein für Waidhofen a. d. Ybbs und Umgebung.

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Allgemeiner Bericht. 11

Bericht über das Herbar der Gesellschaft.

Auch in diesem Jahre wurde das Herbar wieder um mehr als 1000 Spannblätter vermehrt; außer dem Unterzeichneten trugen hierzu besonders die Herren Buchs (Zülz), Rothe (Bettlern), Schalow (Eisenberg), Schmattorsch (Königshütte), Schmidt (Grünberg), Schöpke (Schweid- nitz), Schubert (Bielschowitz), Spribille (Breslau), Tischler (Rodeland), Werner (Alt-Gleiwitz) und Winterstein (Minken) bei. Herr Professor Spribille widmete wieder den Brombeeren in reichem Maße seine Auf- merksamkeit. Allen genannten Herren sei auch hier bestens gedankt!

Prof. Dr. Theodor Schube.

Kassen-Verwaltungsbericht für das Jahr 1910.

Zu dem Bestand des Gesellschaftsvermögens am 31. Dezember 1909 von in bar in Wertpapieren 1 944,44 Mk. 300,— Mk.

traten an Einnahmen im Jahre 1910 hinzu 20 674,88 —— ,„ 22 619,32 Mk. 300,— Mk. Verausgabt wurden im Jahre 1910 . . IRISSITTE —_—— ,„

mithin verbleiben: in bar 4 635,55 Mk., in Wertpapieren 300,— Mk.

Breslau, den 31. Dezember 1910. gez. Berve, z. Zt. stellv. Schatzmeister.

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Kassen-Abschluss für das Jahr 1910.

er ———— = i Wert- Allgemeine Kasse. ua Allgemeine Kasse. papiere| Bar Einnahme, | Ausgabe. . nn 1. | Bestand am 31. Dezember 1909 1. | Gehälter und dauernde Unterstützungen: 2. | Zinsen von Wertpapieren und Guthaben: a. Gehalt an den Kastelan . . . 2 2.2... 1200, Div. pro 1909 von MH 300 Schles. Bankver.-Anteil 44 22,50 Bm mn m Kinklene oo oo ee ar 5 Daran Bi en: R Dr ce. Unterstützung an die Witwe des früheren Kastellans , 2280 3. | Mitglieder-Beiträge: Se De 2. | Heizung, Beleuchtung und Wasserverbrauch. 2828| 92 a. von einheimischen Mitgliedern: 3. | Schreibbedarf und Materialien 118] 60 für das Jahr 1910 von 860 Mitgliedern . . . A 8 600,— 4. | Zeitungsinserate . 405| 25 für das u Semester 1310 von 3 Mitgliedern . 15, 5 Inmuekkosten . 5336| 75 b. von auswärtigen Mitgliedern: Nr 6. | Versicherungen (Feuer) 75| 03 Asp au 121 Oro 139, Mitgliedern 2 m = 7. | Stempel, Steuergebühren und erento 194| 40 4. Jahresbeitrag der Provinz Schlesien al f 5, | Jahresbeitrag der Stadt Breslau . O 733| 20 6. | Außerordentliche Einnahmen: 9. | Kleine Ausgaben . 638) 63 für Verkauf von Schriften, Bildern ete.. 10. | Porto-Ausgaben 1029| 28 7. | Einnahmen aus dem Gesellschaftshause:; | 3lilo Fernsprecher . R 311l 25 ji Sr Vermietungen . . . 0. M 3015,— 12. | Instandhaltung des Gebäudes . 388| 15 ückvergütung für Heizung und Beloieltine = .1604,— sh || ar onen 1932| 55 14. | Postscheck-Konto. 6| 76 15. | Hypothekenzinsen 0 i 3375| 16. | Unbezahlte Quittungen über Mitglieder. RT, 140 Barbestand am 31. Dezember 1910. a on 4635| 55 Bestand an Wertpapieren (Schlesischer Bankvereins- Aardi)). 300 300 | 22 619] 32 300 |22 619) 32 ! | | |

Geprüft, mit den Belegen verglichen und richtig befunden. Breslau, den 25. März 1911. gez. Alfred Moeser, Rechnungsrerisor.

Breslau, den 31. Dezember 1910. gez. Berve, z. Zt. stellv. Schatzmeister.

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schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur.

ss. II. Abteilung. Jahresbericht. Naturwissenschaften. 1910. a. Naturwissenschaftliche Sektion. [CHE re 3,9

Sitzungen der naturwissenschaftlichen Sektion im Jahre ıgıo.

Sitzung am 12. Januar 1910.

Vorführung der neuesten Modelle seiner automatischen Quecksilberluftpumpe mit Luftpolster D. R. P.

Von

Prof. Dr. A. Beutell.

Vergleichende Messungen mit anderen Systemen ergaben, daß die zu- letzt vorgeführte Pumpe mit 2 Fallröhren!) in bezug auf die Geschwindig- keit des Pumpens noch zu wünschen übrig ließ. Nun steigt die Schnellig- keit des Arbeitens bei einer Quecksilberpumpe Sprengelschen Systems natur- gemäß mit der Weite des Fallrohrs und der Fallgeschwindigkeit der Tropfen, Es handelt sich also darum, rasch fallende Quecksilbertropfen in einem möglichst weiten Fallrohre zu erzielen. Relativ leicht sind diese beiden Bedingungen zu erfüllen, wenn man sich in bezug auf die Länge des Fall- rohrs keine Beschränkungen auferlegt. In der Tat sind die Resultate der Kahlbaumschen Pumpe, was Schnelligkeit betrifft, völlig befriedigend, doch leidet unter ihrer großen Länge die Handlichkeit. Immerhin muß hervor- gehoben werden, daß auch die Leistungsfähigkeit der Kahlbaumschen Pumpe von ganz genau einzuhaltenden Versuchsbedingungen abhängig ist; nur so ist es zu erklären, daß die zahlreichen im Handel befindlichen Nach- ahmungen weit hinter dem Original zurückbleiben. Kahlbaum beschränkt sich in seiner Arbeit auf die Bemerkung?), daß er ein ganz bestimmtes Optimum für die Länge des Fallrohrs nachweisen konnte, Die saugende Wirkung des Quecksilberstrahles beginnt meiner Ansicht nach erst, nachdem er sich in so große "Tropfen aufgelöst hat, daß das Fallrohr abgeschlossen wird. Der Umstand, daß Kahlbaum ein so langes Fallrohr anwenden muß, beweist, daß dies erst kurz über der Quecksilbersäule stattlindet, welche das Fallrohr nach unten sperrt.

Mein Bestreben ging von vornherein dahin, große Quecksilbertropfen schon im obersten l'eil des Fallvohrs zu erzielen. Dies gelang mir auch

1) Jahresber. Schles. Ges. 1908. S. 86. 2) Annalen der Plıysik 1894. Bd. 53, p. 199. 1910, 1

D) Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

bereits in meiner ersten Konstruktion®), allerdings nur bei Anwendung eines sehr schwachen Quecksilberstrahles. Hierdurch wurde ich leider gezwungen, meine Versuchsbedingungen einer sehr langsamen Tropfenfolge anzupassen, und hierin allein liegt der Grund der unbefriedigenden Ar- beitsleistung. Schon damals hatte ich den Quecksilberstrahl nicht zentral in das Fallrohr eintreten lassen, vielmehr fiel derselbe zunächst in ein etwa 1 cm weites, unten zugeschinolzenes Rohr. An dieses war das Fall- rohr seitlich angesetzt und kurz nach unten gebogen. Abgesehen von den Dimensionen war also die Anordnung ganz dieselbe wie bei den neuen Modellen Fig. 1 und 2. Etwa in halber Höhe des Fallrohrs befand sich ein seitliches, mit einem Kork verschlossenes Röhrehen, welches den Zweck hatte, stets etwas Luft einzulassen und so ein Luftpolster zu schaffen. Hierdurch werden sowohl die starken Schläge des Quecksilbers, sowie auch die kräftigen Funkenentladungen verhindert, weil solche nur im höchsten Vakuum auftreten können. Da jedoch die Tropfenfolge, wie oben bemerkt, eine sehr langsame war, so trat bei geradem Fallrohr Luft aus dem Lüftungsröhrchen ins Vakuum. Diesen Mißstand konnte ich nur da- durch heben, daß ich die Fallgeschwindigkeit der Tropfen verringerte, weil dann der erste Tropfen das Lüftungsröhrehen nicht passieren konnte, ehe der zweite das Fallrohr nach oben abgeschlossen hatte. Aus diesem Grunde war in meiner ersten Konstruktion das Fallrohr über dem Lüftungs- röhrchen ziekzackförmig hin und hergebogen. Ich hatte mich also dazu entschließen müssen, die Fallgeschwindigkeit der Tropfen und somit auch die Arbeitsleistung der Pumpe zu verringern. . Nur durch dieses Opfer konnte ich ein hohes Vakuum erreichen. Erst nach sehr zeitraubenden Untersuchungen ist es mir gelungen, diese Zwickmühle zu vermeiden.

Die oft ganz widersprechenden Resultate, die ich bezüglich der Schnelligkeit des Pumpens und zwar unter scheinbar ganz gleichen Versuchsbedingungen erhielt, brachten mich auf die Idee, ob nicht die elektrische Ladung der Quecksilbertropfen dabei eine Rolle spielte. Da bei meinen Versuchen der Quecksilberstrahl gegen die Glaswand gerichtet war und dann ziekzackförmig hin und her reflektiert wurde, so konnte in der Tat die Reibung durch unkontrollierbare Zufälligkeiten sehr stark variieren. Konstante Resultate erhielt ich sofort, als ich den Quecksilber- strahl in ein enges, knieförmiges Rohr leitete, welches er ganz ausfüllte- Die Reibung zwischen Glas und Quecksilber und somit auch die elektrische Ladung der Quecksilbertropfen, konnte nunmehr nach Belieben geändert werden, da sie (bei gleichbleibendem Quecksilberstrahl) nur von der Länge und Weite des knieförmigen Rohres abhing.

Es stellte sich heraus, daß bei stärker geladenen Quecksilbertropfen weitere Fallröhren verwendet werden konnten, wodurch naturgemäß die

®) Verhandlungen des deutsch. wissenschaftl. Vereins in Santiago-Chile 1905. Bd. 5

U. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 3

Arbeitsleistung der Pumpe vermehrt wurde. Jedoch ist die stärkere Ladung andrerseits schädlich, weil sie als Bremsvorrichtung wirkt und daher die Geschwindigkeit der Tropfen verringert.

Die Leistung der Pumpe hängt hiernach von der zweckmäßigen Ab- messung des Quecksilberstrahles sowie von der Länge und Weite des knie- förmigen Rohres und des Fallrohres ab.

Unter den neuen Versuchsbedingungen konnte ein viel kräftigerer Quecksilberstrahl in Anwendung kommen, so daß sich die Tropfen in sehr kurzen Intervallen folgten. Die Gefahr, daß Luft von dem Luftpolster. aus in das Vakuum gelangte, war hierdurch behoben; es konnte nunmehr ein gerades Fallrohr an Stelle des hin und hergebogenen verwendet werden. Trotzdem in den neuen Modellen sowohl die Masse der Quecksilbertropfen als auch die Geschwindigkeit derselben eine beträchtliche Steigerung er- fahren hat, ist das Fallrohr nie zerschlagen worden. Das Luftpolster hat sich also von neuem voll bewährt,

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ers Fig. 2, Eine andere, weniger in die Augen fallende Änderung der Pumpe

besteht darin, daß das seitliche Rohr, mit welchem die zu evakuierenden 1*

Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Apparate verbunden werden, unter das knieförmige Rohr verlegt worden ist. Es war dies notwendig, da das knieförmige Rohr mit Quecksilber gefüllt bleibt, wodurch die Verbindung zwischen Fallrohr und Rezipient aufgehoben wird.

Die Arbeitsweise der Pumpe ist die gleiche geblieben. Nachdem der Schliff entfernt worden ist, wird die nötige Quecksilbermenge in das unten rechts befindliche, kleine Gefäß (Fig. 1 und 2) gegossen und dann der Schliff aufgesetzt. Der untere Hahn wird geschlossen, während der obere, doppelt durchbohrte, mit der Wasserstrahlpumpe in Verbindung gesetzt wird. Beim ersten Anpumpen bleibt ein Teil des Quecksilbers im untersten Gefäß, und es ist daher nötig, durch Lüften des Schliffes den Rest des Quecksilbers in die Pumpe treten zu lassen; man läßt nur soviel zurück, daß der Schliff abgedichtet bleibt. Wenn das Manometer nicht mehr sinkt, wird der untere Hahn um 180° gedreht, und von nun an arbeitet die Pumpe automatisch weiter. Die zum Heben des Quecksilbers nötige Luft tritt durch den voll geöffneten, unteren Hahn ein und ist durch einen, im Schliff angebrachten Asbestpfropf reguliert. Die Spitze, aus welcher der Quecksilberstrahl austritt, ist eingeschliffen und kann jederzeit aus der Pumpe entfernt werden. Selbst bei wochenlangem, un- unterbrochenem Betrieb bedarf die Pumpe keiner Nachregulierung.

Um sie außer Betrieb zu setzen, wird zunächst der untere und dann der obere Hahn um 180° gedreht. Pumpe und Rezipient füllen sich dann langsam und gefahrlos mit Luft, da ihr Eintritt durch einen im Hahnrohr angebrachten Asbestpfropfen ein für allemal geregelt bleibt.

Auf Wunsch wird die Pumpe mit einem Hahn geliefert, welcher ge- stattet, den Rezipienten einschließlich des Trockenapparats, des Mano- meters und des Kathodenrohres gegen die Pumpe abzusperren. Ein Kathodenrohr wird jeder Pumpe zur beständigen Kontrolle des Vakuums beigegeben.

Das Eigenvolumen der Pumpe ist so gering bemessen, daß sie sich bei abgesperrtem Rezipienten in außerordentlich kurzer Zeit auf Kathoden- vakuum leer pumpt. Die Doppelpumpe (Fig. 1) braucht hierzu nur 15 Se- kunden, und die kleinste einfache (Fig. 2) nur 1 Minute, Aus diesem Grunde ist auf eine automatische Absperrung des Rezipienten mittelst Quecksilbers verzichtet worden, zumal da dieselbe nur mit einer beträcht- lichen Vermehrung des Quecksilbers zu erreichen ist. Die an die Pumpe angeschmolzenen Schliffe haben sämtlich Quecksilberdichtung und sind daher ohne Fettung zu verwenden. Das zirkulierende Quecksilber kommt weder mit Fett noch mit Schlauch in Berührung und bleibt stets voll- kommen rein. Erst nach tagelangem Arbeiten bemerkt man im Steigrohr einen gelblich grauen Beschlag von gelbem Quecksilberoxyd, vermischt mit metallischem Quecksilber, doch bleibt das zirkulierende Wuecksilber trotz- dem vollkommen rein und blank. Zum Reinigen kann die Pumpe mit

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 5

einem Griff vom Stativ getrennt werden. (Die Befestigung ist in der Ab- bildung nicht richtig wiedergegeben.) Die Reinigung geschieht am zweck- mäßigsien mit heißem Königswasser und darauf folgendem Nachspülen mit reinem Wasser. Salpetersäure allein ist nicht zu empfehlen, da das Queck- silbernitrat mit Wasser einen weißen Beschlag gibt. Die eingeschliffene Spitze, aus welcher das Quecksilber ausfließt, wird vorher herausgenommen und aın besten durch vorsichtiges Erhitzen über dem Gasbrenner gereinigt. Die Menge des Quecksilbers, welches aus der Spitze ausfließt, ist bei meinen Pumpen viel geringer als bei der Kalhılbaumschen.

Während Kahlbaum pro Minute 1000 cem Quecksilber durch das Fall- rohr treibt, verbraucht meine Doppelpumpe (Fig. 1) nur 60 cem und die einfache (Fig. 2) nur 40 ccm, Eine Steigerung der zirkulierenden Queck- silbermenge ist bei meinen Pumpen von keinem Nutzen.

Die pro Minute passierende Menge hängt übrigens nicht nur von der Weite der Spitze ab, sondern auch von dem für die Wasserstrahlpumpe zur Verfügung stehenden Druck. Ist der Wasserdruck nur gering, so ist der auf dem Quecksilber lastende Luftdruck größer als bei starkem Wasser- druck. Die Folge davon ist, daß mehr Quecksilber aus der Spitze aus- fließt. Bei sehr schlechtem Wasserdruck kann es daher vorkommen, daß die Wasserstrahlpumpe für die geforderte Arbeitsleistung zu schwach ist, was man daran sieht, daß das Quecksilberniveau im Fallrohr bis über das seitliche Röhrchen steigt. Die Pumpe würde zwar auch unter diesen Um- ständen weiter arbeiten, doch wäre das Luftpolster ausgeschaltet, und das Fallrohr könnte zerschlagen werden. Es empfiehlt sich daher, wenn für die Wasserstrahlpumpe nur ungenügender Wasserdruck vorhanden ist, die Spitze, aus der das Quecksilber ausfließt, durch vorsichtiges Erwärmen in einer kleinen Gasflamme etwas enger zu machen. Auch unter sehr ungünstigen Wasserverhältnissen arbeiten die Pumpen dann ohne jede Schwierigkeit.

Die Schnelligkeit des Pumpens hat durch die angeführten Verbesse- rungen ganz außerordentlich zugenommen. Die Doppelpumpe (Fig. 1) gibt in der gleichen Zeit ein 11000 mal so hohes Vakuum als mein erstes Modell aus Santiago-Chile.

Von den Quecksilberpumpen ohne Motorbetrieb ist die Original-Kahl- baumpumpe die einzigste, welche der meinen an Arbeitsleistung gleich- kommt. Die übrigen Systeme bleiben hinter meiner verkürzten Pumpe beträchtlich zurück. Intensive Kathodenstrahlen gibt das beigegebene Rohr bei Typ 1 (Fig. 1) bereits nach 1 Minute, bei Typ 2 nach 1'/, und bei Typ 3 (Fig. 2) nach 2 Minuten.

Die Motorpumpen, wie die Gädesche, arbeiten naturgemäß noch schneller. Bedenkt man, welche Unsummen von Vorbereitungen bei wissenschaftlichen Untersuchungen meistenteils erforderlich sind, bevor man zu dem eigentlichen Auspumpen gelangt, so ist nicht recht ver- ständlich, weshalb man so großen Wert darauf legt, einige Minuten beim

6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Auspumpen zu ersparen. Viel wichtiger für ständige Arbeiten ist es, daß die Pumpe bequem und handlich ist, und daß sie auf jedem Arbeitstisch untergebracht werden kann. Auf diesen Punkt habe ich daher in erster Linie meine Aufmerksamkeit gerichtet. Die Gesamthöhe der beiden großen Modelle (Fig. 1) beträgt 98 cm, die des kleinen (Fig. 2) nur 75cm. Man kann somit den oben angebrachten Hahn, welcher mit der Wasserleitung verbunden ist, ganz bequem handhaben, wenn die Pumpe auf dem Arbeits- tisch steht. Die Nebenapparate sowie auch der Schliff, an welchen der zu vakuierende Rezipient angeschlossen wird, sind zur größeren Bequemlich- keit jetzt weiter unten montiert, wie es die Figur 1 zeigt. Die an die Pumpe an- geschlossenen Apparate befinden sich auf diese Weise nur 30 cm über der Tischplatte und können ganz bequem mit einem Bunsenbrenner erhitzt werden.

Besonders betont muß noch werden, daß nur reines Quecksilber zum Pumpen zu verwenden ist, da sich unreines sehr schnell oxydiert und im hohen Vakuum versagt. Bei der sehr empfohlenen Reinigung des Queck- silbers durch Destillation im Vakuum läßt man allgemein außer acht, daß im luftleeren Raum nicht nur Fett und seine Zersetzungsprodukte, sondern auch gelöste Metalle, wie Zink, Blei und andere, quantitativ mit übergehen. Ich reinige das Quecksilber schon seit vielen Jahren nach folgender, sehr einfacher Methode: Alles schmutzige Quecksilber wird in einer Flasche mit etwas konzentrierter Schwefelsäure aufbewahrt. Hat sich eine genügende Menge Quecksilber angesammelt, so wird es mit Wasser unter der Wasser- leitung gewaschen und dann mit starker Natronlauge gekocht, Nach aber- maligem Waschen mit Wasser wird das Quecksilber mit Fließpapier getrocknet und dann noch heiß durch ein Filter mit abgeschnittener Spitze gegossen. Es bleibt vollständig blank und dient für Pumpen, Manometer und alle sonstigen Anwendungen, Zahlenmäßige Daten über Höhe des Vakuums, Schnelligkeit und die zum Betrieb erforderlichen Quecksilbermengen meiner Pumpen im Vergleich mit einigen der gebräuchlichsten Konstruktionen geben die folgenden Tabellen. Die Messungen beziehen sich sämtlich auf einen Rezipienten von 500 ccm.

| 7 Ol Kahlbaum | | | g | | Stuhlsel W.A. Kahl- nach Angaben | Töpler?) BR uhlsche N h „n | Im phys. Inst, | Spiralpumpe’°) aum‘) : Breslau?) | mm | mm | mm mm 1oRMin —- 0,0260 0,0440 | 2,50 Sn esta 0,00015 0,0020 0,0020 | 1,75 DO 0,0006 0,0019 0,75 Es: ee = | 7 == 0,44 Quecksilber ..| 10 kg 11,38 kg | 0,55 kg

12) Ann. Phys. 1901. Bd. 6, S. 591. 2) Gemessen im physik. Inst. der Uni- versität Breslau. 9% Gemessen im mineralog. Inst. der Universität Breslau.

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II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion.

—1

Beutellsche Pumpe mit Luftpolster!).

| | s | : | | Typ 3 Mil ip | RIIE ‚ohne Trocknung

| mm mm mm | mm 10 Min. ..... | 0,0007 0,0120 | 0,0900 | 0,1300

en... 0,00015 | _ DB .:, 0,00011 | 0,00025 | 0,0025 | 0,0100 u ee _ | = 0,00055 | 0,0065 Quecksilber ..| 0,29 kg 0,18 kg 0,12 kg | 0,12 kg

Die Pumpe zeichnet sich durch folgende Verbesserungen aus:

1.

>

10 0'

Durch sehr schnelles Pumpen bis zum höchsten Vakuum. Das bei- gegebene Kathodenrohr oder auch ein kleines Röntgenrohr wird in 1—2 Minuten auf reines Kathodenlicht oder intensive Röntgen- strahlen ausgepumpt.

Durch die äußerst geringe Quecksilbermenge, welche in den drei Typen nur je S—20 cem beträgt.

. Durch ein Luftpolster, welches das Zerschlagen des Fallrohres

unmöglich macht.

. Durch handliche und übersichtliche Konstruktion.

Sie braucht keinerlei Wartung oder Nachregulierung.

. Sie läßt sich durch einen Griff vom Stativ trennen.

Das Quecksilber bleibt stets rein, da es mit Fett oder Schlauch nicht in Berührung kommt.

Die Anfertigung der Pumpen hat Franz Hugershoff, Leipzig, Carolinen- straße 13, übernommen.

Über ein neues akustisches Interferenzrohr (mit Demonstration). Von

E. Waetzmann.

M. H.! Der Versuch, den ich Ihnen heute vorführen möchte, dient zum objektiven Nachweis der Interferenz des Schalles. Ich bin auf den Versuch gelegentlich der Ausarbeitung einer Methode zur Bestimmung der Hörschärfe geführt worden,

Eine bekannte Anordnung zum Nachweis der Interferenz des Schalles

ist die,

daß ein Ton in einem Hauptrohr entlang geleitet wird, das mit

einer oder mehreren seitlichen Ansatzröhren versehen ist, die durch ver-

1) Gemessen im mineralogischen Institut der Universität Breslau.

8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

schiebbare Stempel verschlossen sind. Sind die Stempel bis dicht an das Hauptrohr herangeschoben, so kommt das auf dasselbe hinaus, als wenn die Ansatzröhren überhaupt fehlen. Der Ton geht im wesentlichen un- geschwächt von einem Ende des Hauptrohres bis zum anderen. Wird jetzt der Stempel in einer Ansatzröhre ein Stück herausgeschoben, so teilt sich die durch das Hauptrohr gehende Tonwelle an der Ansatzstelle der Neben- röhre in zwei Teile. Ein Teil geht in dem Hauptrohr weiter, der andere Teil geht in das Nebenrohr, wird an dessen Ende an dem Stempel re- flektiert und kehrt in das Hauptrohr zurück. Die beiden Teile der Ton- welle haben jetzt einen Gangunterschied gleich der doppelten Entfernung des Stempels von dem Hauptrohr. Ist der Stempel um ein Stück gleich einer Viertelwellenlänge des Tones herausgezogen, beträgt der Gangunter- schied der beiden Teile der ursprünglichen Tonwelle also eine halbe Wellenlänge, so werden beide Teile des Tones sich völlig vernichten, wenn 50 Prozent von der Intensität des Tones in das Nebenrohr gehen und bei der Reflexion an dem Stempel keine Intensität verloren geht, was wenigstens angenähert zutrifft. Anstatt einer halben Wellenlänge darf der Gangunter- schied, wie bekannt, auch ein ungerades Vielfaches davon betragen, damit der Ton ausgelöscht wird.

Diese Anordnung zum Nachweis der Interferenz habe ich nun kom- biniert mit einer von H. Rubens für das Studium von Klängen angegebenen Methode. Ein mehrere Meter langes Rohr ist auf der einen Seite mit einer festen Platte, auf der anderen mit einer dünnen Gummimembran ver- schlossen. In das Rohr sind in Abständen von etwa 1!/, cm Löcher ge- bohrt, die alle auf einer geraden Linie liegen. Durch eine dünne Ansatz- röhre wird Gas in das Rohr geleitet und das aus den Löchern aus- strömende Gas entzündet. Die Gaszufuhr wird so geregelt, daß die ein- zelnen Flämmehen etwa 1 cm hoch sind. Wird jetzt vor der Gummi- membran eine Tonquelle erregt, z. B. eine Lippenpfeife, so bilden sich in dem Gasrohr stehende Wellen aus. An den Schwingungsknoten, den Stellen der kleinsten Bewegung, sind die Flämmchen sehr niedrig, an den Schwingungsbäuchen am höchsten; so geben die Flammen ein getreues Bild der Klangwellen.

Für die Interferenzversuche benutzte ich nun ein gußeisernes T-för- miges Rohr, wie es für Gasleitungen verwendet wird. Das Hauptrohr ist etwa 31, m, das Nebenrohr, welches in etwa 1!/, m Entfernung von dem einen Ende des Hauptrohrs angesetzt ist, etwa 11); m lang. Auf derselben Seite der beiden Rohre, in zwei geraden, zu einander senkrechten Linien liegend, sind in Abständen von 1,5 cm Löcher von 1,5 mm Durchmesser eingebohrt. Die eine Seite des Hauptrohres ist durch eine dünne Gummi- membran verschlossen, die andere durch einen verschiebbaren Stempel. Die Stempelstange von etwa I m Länge geht durch eine Verschlußplatte am Ende des Rohres, in welche eine Stopfbuchse eingesetzt ist, wodurch

U. Abteilung. Naturwis>enschaftliche Sektion. 1)

ein genügend dichter Abschluß erreicht wird. In derselben Weise ist das Nebenrohr dureh einen verschiebbaren Stempel verschlossen; hier ist die Stempelstange aber so lang, daß der Stempel bis unmittelbar an das Haupt- rohr herangeschoben werden kann. Haupt- und Nebenrohr sind mit dünnen Zuleitungsröhren für Gaszuführungsschläuche versehen.

Nachdem das aus den Löchern ausströmende Gas entzündet ist, wird der Stempel in dem Nebenrohr bis dicht an das Hauptrohr herangeschoben. Nun wird die Tonquelle erregt und der Stempel in dem Hauptrohr so lange verschoben, bis die Flammenbilder längs des ganzen Hauptrohres scharf ausgebildet sind. Jetzt wird der Stempel in dem Nebenrohr um ein Stück, gleich einer Viertelwellenlänge, herausgezogen. Der Gangunter- schied zwischen den beiden Teilen der Tonwelle, in die sie sich an der Ansatzstelle der Nebenröhre teilt, beträgt also eine halbe Wellenlänge. Der Erfolg ist der, daß sich beide Teile vernichten, und somit in die zweite Hälfte des Hauptrohres, d. h. in die von der Tonquelle abgewandte Hälfte, keine Intensität mehr gelangt. Das wird dadurch sichtbar, daß die Flammen- bilder in dieser Hälfte verschwinden und alle Flammen in gleicher Höhe brennen, während die Flammenbilder in der ersten Hälfte des Hauptrohres erhalten bleiben. Wird der Stempel des Nebenrohres um eine weitere Viertelwellenlänge herausgezogen, beträgt der Gangunterschied der beiden Teile des Tones also eine ganze Wellenlänge, so sind die Flammenbilder wieder in dem ganzen Hauptrohre da. Bei einem Gangunterschied von drei halben Wellenlängen verschwinden sie wieder in der zweiten Hälfte des Hauptrohres, und so fort. In den Zwischenstellungen des Stempels des Nebenrohres, bei denen der Gangunterschied weder eine halbe noch eine ganze Wellenlänge oder ein Vielfaches davon beträgt, verschwinden die Flammenbilder in der zweiten Hälfte des Hauptrohres nicht völlig, sind aber, wie es die Theorie verlangt, nicht so scharf ausgeprägt, als wenn der Gangunterschied eine ganze Wellenlänge oder ein Vielfaches davon beträgt.

Im Anschluß an diesen Vortrag berichtet Herr Dr. Waetzmann noch über eine

Methode zur exakten Bestimmung der Hörschärfe.

Zur Molekulargewichtsbestimmung der Kolloide im Osmometer. Von H. W. Fischer.

In einer vor kurzem erschienenen Arbeit (Z. Phys. Chem. 68 [1909] 357) beschäftigte sich W. Biltz gemeinsam mit A. von Vegesack mit der Frage der Messung des osmotischen Druckes der Kolloide. Die Molekulargröße der Kolloidteilchen zu bestimmen, ist eine schwierige und zurzeit noch

10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

nicht gelöste Aufgabe. Die einzige Methode, deren Resultate sich bisher als brauchbar gezeigt haben, ist die Molekulargewichtsbestimmung mit dem Ultramikroskop nach Zsigmondy, doch ist diese ja nur bei sehr grob- körnigen Kolloiden anwendbar, und versagt wegen der Feinheit der Teilchen gerade bei jenen Kolloiden, die chemisch und biologisch so inter- essant sind, den Farbstoffen, Eiweißstoffen und elektrolytreichen anorgani- schen Hydroxyden.

So blieben denn für diese Stoffe bloß die osmotischen Molekülzähl- methoden übrig. Das scheint ja im ersten Augenblicke ein Widerspruch zu sein, denn ein einziges Molekül eines solchen kolloiden Eisenteilchens mag vielleicht aus vielen hunderten oder tausenden von Eisenoxydmolekeln bestehen. Dennoch läßt sich zeigen, daß diese Koniplexe immerhin so klein sind, daß sie sich im Sinne der kinetischen Gastheorie als Molekel auf- fassen lassen, so daß sich ihr Verhalten, so wie es Einstein zuerst für Moleküle dieser Masse berechnet hat, vollständig mit dem von Perrin be- sonders beobachteten deckt. Man kann also hei allen Kolloiden, sogar bei den allergrobkörnigsten, von einer Molekulargröße sprechen, und dabei ganz von der Frage abschen, ob gewisse Kolloide nicht besser als Lösungen sehr hoch molekularer Stoffe anzusehen seien.

Wir sehen so, daß man von einem „Osmotischen Druck“ eines Kolloides sprechen kann. Diesen zu messen, ist die Aufgabe, die sich Biltz gestellt hat. Die Methoden der Dampfdruckerniedrigung sind hier- für wenig geeignet. Denn erstens sind sie sehr unempfindlich so gibt z. B. eine 1 grammolekulare Lösung, deren osmotischer Druck bei Zimmer- temperatur ca. 25 Atmosphären beträgt, nur eine Siedepunktserhöhung von 0,5 und eine Gefrierpunktserniedrigung von 1,5 Grad bei dem hohen Molekulargewicht der Kolloide müßten die zu messenden Erhöhungen also geradezu winzig sein. Zweitens kann man die Frage nicht beantworten, bis zu welchem Betrage sich das Kolloid und bis zu welchem seine Ver- unreinigungen und schützenden Elektrolyten sich an dem kleinen osmo- tischen Druck beteiligen. Biltz wählt also die direkte Messung des os- motischen Druckes durch Bestimmung der Steighöhe im Osmometer.

Die üblichen Schwierigkeiten, die sich der direkten Messung des os- motischen Druckes entgegenstellen, fallen hier fort, die Membran braucht keinen hohen Druck auszuhalten und bleibt so leicht dicht, außerdem ist es leicht, ein für bestimmte Kolloide undurchlässiges Membranmaterial zu finden. So benützt Biltz ein aus Platindraht gefertigtes Gefäß, das sozu- sagen mit Kollodium imprägniert wird. Diese Kollodiummembran ist für Elektrolyte gut durchlässig.

Das müßte nun nach Biltz ein ganz besonderer Vorteil sein, denn die Konzentration des Elektrolyten müßte dann außen und innen im Ös- mometer gleich werden, und das Kolloid so mit seinem osmotischen Drucke herausfallen.

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 11

Das ist mir nun eben nicht ganz klar, weil das System aus 3 Stoflen besteht. Es existiert hier außer dem Lösungsmittel noch ein Stoff, der die Membran durchdringen kann und dessen Konzentration variieren kann. Das System ist nicht mehr eindeutig bestimmt.

In einem Osmometer befinden sich zwei Stoffe, a, für den die Membran durchlässig sein soll, und b. Bekanntlich ist nun beim Osmometer Gleich- gewicht dann erreicht, wenn zwischen dem Dampfdrucke Do, der Außen- flüssigkeit L’, (von der Konzentration C’,) und dem Dampfdrucke (Dea-ı cv) der Flüssigkeit im Osmometer, wo C, und C, die Konzentration von a und b sind, die Beziehung besteht, daß D(c.--c») vermehrt um den Druck der auf L’, lastenden Dampfsäule gleich De, sein muß.

Nun ist aber dieser Dampfdruck Dec. + cn in seinem Betrage nicht bloß von C,, sondern auch von C, abhängig. Ich kann also dadurch, daß ich C, variiere, zu jeder Steighöhe eine die oben angegebene Bedingung be- friedigende Gesamtkonzentration C, —+ C, finden. Eine der Erfüllungen dieser allgemeinen Gleichgewichtsbedingung wäre die von Biltz angegebene C, = (u, P=Pcep. Eine andere wäre z. B. C’, gleich C, -+ C,, wobei P gleich O würde,

Es muß also noch irgend eine weitere feste Bedingung hinzutreten, damit das System wieder eindeutig bestimmt wird. Eine allgemein gültige feste Bedingung anzugeben, bin ich aber zurzeit nicht in der Lage.

Dagegen kann ich jedenfalls nachweisen, daß die Gleichgewichts- bedingung: C’, = (,, P = Pc in gewissen Fällen einem Gleichgewichte nicht entspricht. Dazu verwende ich a in gesältigter Lösung, was übrigens keineswegs ausschließt, daß diese verdünnt ist.

Jetzt bringe ich außen und innen Bodenkörper a hin. Da nun durch den sich einstellenden Druck oder auch durch die Anwesenheit von b die Löslichkeit in irgend einem Sinne beeinflußt werden wird, so werden end- liche Mengen des festen Stoffes mit seiner Lösungswärme wandern, einen Vorgang, mit dessen Hilfe ich ein perpetuum mobile zweiter Art kon- struieren kann. Dagegen nach meinen Ausführungen erhalte ich jetzt eine feste Bedingung mehr, das System ist wieder eindeutig bestimmt und es stellten sich eben außen und innen die den Bedingungen entsprechenden Sättigungskonzentralionen und die dazugehörige Steighöhe ein. An diesem Beispiele glaube ich auch zu erkennen, warum die Vieldeutigkeit der Lösung logisch erforderlich ist, ich muß eben einen variabelen Parameter zur Verfügung behalten, um mich, falls sich a und b unter einander be- einflussen, gegen den 2. Hauptsatz decken zu können,

Die von Biltz mit Benzopurpurin und Nachtblau angestellten Ver- suche ergeben nun zu Anfang einen erheblichen osmotischen Druck, der aber auf die Gegenwart rasch durch das Kollodium wandernder Elektro- lyten zurückzuführen ist. Nach ca. !/, Monate ist die Steighöhe aber höchstens noch 1 mm Wasser. Dabei ändert sich aber die Kolloidlösung

12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

erheblich, sie altert und verliert ihre Farbe. Nun scheint es mir nicht undenkbar, daß durch dieses Altern, einen irreversibelen Prozeß, eine neue feste Bedingung auftritt, nach der die Elektrolytkonzentration im Inneren das osmotisch zulässige Minimum, d.h. C, =(’, C, sein muß.

Demonstration eines Versuches über Totalreflexion. Von Cl. Schäfer.

Zur Kenntnis der Löslichkeitsbeeinflussung. Von W. Herz,

Sitzung am 26. Januar 1910.

Uber die Entwickelung der Instrumente zur Messung des Blutdruckes. Von C. Hürthle.

Die Instrumente zur Messung und Registrierung des Blutdrucks im Innern der Blutgefäße und des Herzens werden in ihrer historischen Ent- wicklung geschildert: die Flüssigkeitsmanometer von Stefan Hales und Poiseuille, sowie das Kymographion von Ludwig; ferner die von Adolf Fick zuerst konstruierten elastischen Manometer und ihre Weiterentwicklung durch den Vortragenden. Darauf wird die von Mach aufgestellte Theorie der Wellenzeichner und ihre Übertragung auf die elastischen Manometer von Otto Frank besprochen und das Ergebnis einer Experimental-Kritik dieser Theorie durch den Vortragenden mitgeteilt. Da dieses inzwischen in Pflügers Archiv, Bd. 137, erschienen ist, kann auf die dort veröffent- lichten Abhandlungen von Hürthle und Schaefer verwiesen werden.

Demonstration der Haidingerschen Büschel. Von

Cl. Schäfer.

Sitzung am 9. Februar 1910.

Das Lummer-Pringsheimsche Spektral-Flickerphotometer als optisches Pyrometer.

Von

Erich Thürmel.

Könnte man ein Normalspektrum herstellen, in dem die physikalische Energie über alle Wellenlängen gleichmäßig verteilt wäre, so würden doch

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 13

im Auge gleichbreite Spektralbezirke in den verschiedenen Teilen des Spektrums sehr verschiedene Helligkeitseindrücke hervorrufen: Die Netz- haut besitzt für verschiedene Farben eine verschiedene „Helligkeits- empfindlichkeit“. Trägt man die Wellenlängen als Abszissen, die zuge- hörigen Werte der Intensität als Ordinaten ab, so wird die absolute Intenstätsverteilung in einem „‚isenergetischen Spektrum“ !) durch eine Parallele zur X-Achse dargestellt. Die Helligkeitsverteilung hingegen zeigt krummlinigen Verlauf und weist für eine bestimmte Wellenlänge ein Maximum auf.

Verringert man in einem solchen Spektrum die Intensität für alle Wellenlängen in demselben Verhältnis, so bleibt bis zu einer gewissen Grenze die Helligkeitsverteilung dieselbe. Unterhalb dieser Grenze tritt das Purkinjephänomen?) auf, d. h. die Helligkeitskurve verändert ihre Gestalt und zwar verschiebt sich das Helligkeitsmaximum nach dem kurzwelligen Ende zu. Die Erscheinung kehrt sich entsprechend um, wenn man von schwächeren zu stärkeren Intensitäten übergeht. Das Verhältnis der Helligkeiten zweier Farben ist also unter gewissen Bedin- gungen eine Funktion der Intensität, oder in anderen Worten: Die relative Empfindlichkeit des Auges für verschiedene Farben ändert sich mit der Intensität 3).

Ältere Untersuchungen und Folgerungen aus der J. v. Kriesschen Theorie ').

Die relative Empfindlichkeit fürSpektralfarben bei möglichstschwachen Intensitäten ist mittelst der Schwellenmethode?°) von H, Ebert°), A.Pflüger?) und A. König°) im wesentlichen auf dieselbe Weise bestimmt worden. DerKollimatorspalt eines Spektrometers wurde von einer konstant brennenden Lichtquelle erleuchtet. In der Brennebene des Fernrohrobjektivs entstand ein reelles Spektrum, aus dem durch einen während sämtlicher Messungen gleich breit gehaltenen Okularspalt ein möglichst schmaler Bezirk aus- geblendet wurde. Bei einer bestimmten Fernrohrstellung, der eine Wellen-

1) K. Schaum, Photochemie und Photographie I. p. 70. 1908.

2) Müller-Pouillet II, „Die Lehre von der strahlenden Energie“, bearbeitet von OÖ. Lummer, p. 395, 401, 402. 1907.

3) J. v. Kries. Nagels Handbuch II, p. 176. 1905.

4) Die Angaben darüber sind z. T. dem zitierten Buche von Schaum ent- nommen,

5) Über Schwellenwerte siehe J. v. Kries l. c. p. 19 und Schaum l.c. p. 67.

6) Wiedem. Ann. 33. p. 136. 1888,

?) Drudes Ann. 9. p. 155—208. 1902.

8) Beitr. z. Psych. und Phys. der Sinnesorg. p. 309—388. Hamburg 1801.

Königs ges. Abh. zur phys. Optik. p. 144—213. 1903

14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

länge X entsprach, wurde dann durch Verengern des Kollimatorspaltes die Helligkeit geschwächt, bis kein Lichtreiz mehr bemerkbar war. Die Empfindlichkeit für Licht von dieser Wellenlänge ist dann der Spalt- breite und der Intensität umgekehrt porprotional; also k

ba Sr

Die Methoden zur Bestimmung der Intensitätsverteilung, die diese Autoren anwenden, sind z. T. nicht einwandsfrei. So hat z. B. Ebert dem damaligen Standpunkte der Wissenschaft auf diesem Gebiete ent- sprechend, sehr unzuverlässige Werte erhalten. Außerdem hat er nur fünf Punkte der Empfindlichkeitskurve bestimmt. Auch die Königschen Messungen sind nicht einwandfrei. Bei weitem zuverlässiger sind die In- tensitätsbestimmungen von Pflüger, der die Intensitätsverteilung mit der Rubensschen Thermosäule gemessen hat.

Pflüger hat die Empfindlichkeitskurve für eine größere Anzahl von Personen bestimmt. Es ist hier nur eine Versuchsreihe wiedergegeben.

In den Tabellen 1 bis 3 (Fig 1) sind, die Resultate dieser Beobach- tungen eingetragen; k ist so gewählt, daß die maximale Empfindlichkeit gleich Eins ist.

he

Tabelle 1. Tabelle 2. Tabelle 3. H. Ebert. A. Pflüger. A. König. A| ha \ hr ha 470 0,25 413 | 0,015 430 | 0,047 500 0,50 428 | 0,069 450 | 0,23 ° 530 | 1,00 443 | 0,25 470 | 0,50 590 | 0,06 4610,32 490 | 0,86 675 | 0,03 472 | 0,40 505 | 1,00 483 0,44 520 , 0,98 495 | 1,00 535 | 0,75 510 | 0,88 555 | 0,36 525 0,59 575 | 0,12 542 | 0,28 590 | 0,045 583 | 0,097 605 | 0,015 639 | 0,0011 625 | 0,0038 717 | 0,00004 650 | 0,0005

670 | 0,0002

Bei sehr schwachen Intensitäten hat darnach die Empfindlichkeits- kurve bei verschiedenen Personen ihr Maximum zwischen 495 pw bis 530 pw. Bei Tab. 1 ist zu bemerken, daß wegen der geringen Anzahl der Messungen die Lage des Maximums nicht genau bestimmt ist.

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 15

A. König erweiterte das Gebiet seiner Messungen, indem er die Empfindlichkeit auch bei größeren Intensitäten bestimmte. Er verglich die Helligkeit zahlreicher Spektralgebiete eines Dispersionsspektrums mit einem Vergleichsfelde, dessen Farbe der Wellenlänge X = 535 wu ent- sprach. Indem er die Intensität des Vergleichsfeldes alle möglichen Werte durchlaufen ließ, konnte er den Vergleich bei verschiedenen Hellig- keitsstufen ausführen, von denen einige hier angegeben sind:

Helligkeits- | Helligkeit des Vergleichs-

stufe feldes in Meterkerzen A 0,00072 B 0,012 D 0,74 H 191

Für die Stufen A, D und H sind die gefundenen Werte der Empfind- lickkeit in den Tabellen 4 bis 6 eingetragen.

Tabellen 4, 5, 6. Empfindlichkeit bei den Helligkeitsstufen.

INTTSE | 5. 6. | x | a D u) 670 ee 0,016 0,057 | 650 0,0010 0,056 0,24 625 0,0064 0,17 0,54 605 0,023 0,28 0,80 590 0,060 0,41 0,89 575 0,14 0,49 0,90 555 0,38 0,74 1,00 535 0,69 0,96 0,87 530 _ 1,00 520 0,90 IT 0,67 509 1,00 = - 505 0,98 0,86 0,40 490 0,71 0,53 0,24 470 0,47 0,35 450 0,22 0,14 -=— 430 0,061 0,061 u

1) Siehe Fig. 1.

16 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Wie man sieht, verschiebt sich das Maximum mit zunehmender Hellig- keit nach größeren Wellenlängen zu. Bei großer Helligkeit liegt es un- gefähr bei 555 pw (Fig. 1).

S. P. Langley!) hat die Empfindlichkeit bei einer Helligkeitsstufe, die etwa der Königschen Stufe B entspricht ?), mittels der Sehschärfen- methode gemessen. Nach den Messungen von A. König (Tab. 4 und 5) sollte man das Maximum zwischen 509 und 530 tu erwarten. Langley hat nur sechs Punkte bestimmt und die Lage des Maximums ist daher nicht genau zu ermitteln. Jedoch zeigt Tab. 7, bezw. die Kurve in Fig. 1, daß es in der Nähe von 550 fu und zwar eher nach dem roten Ende zu liegt, wie man aus dem Anstieg der Werte sieht.

Tab. 7 (siehe Fig, 1).

J hr 450 0,06 500 | 0,26 550 1,00 600 0,67 650 0,10

700 0,0056

Dieses abweichende Resultat läßt sich an Hand der J. v. Kriesschen Duplizitätstheorie erklären. Danach sind die lichtempfindlichen Organe des Auges die Stäbchen und Zapfen). Während die Stelle der Retina, mit der wir die Gegenstände beim deutlichen Sehen fixieren also die fovea centralis und die ihr nächstliegenden Teile der macula lutea nur Zapfen enthält, befinden sich auf den der macula benachbarten Teilen auch Stäbchen, die in den peripheren Teilen der Netzhaut die Zapfen an Anzahl weit übertreffen. Nach J. v. Kries bilden die Zapfen den farben- tüchtigen ‚Hellapparat‘‘, die Stäbchen‘) hingegen den totalfarbenblinden „Dunkelapparat‘““ des Auges’). Bei großen Helligkeiten vermitteln die Zapfen das Sehen, bei schwachen hingegen die Stäbchen. Die Empfind- lichkeit der letzteren nımmt im Dunkeln außerordentlich zu (Dunkel- adaptation). Die Zapfen zeigen die Eigenschaft der Aaptadtion in weit geringerem Maße. Eine experimentelle Stütze hat die Theorie durch Versuche von O0. Lummer°) erhalten.

1) Amer. J. 36. p. 359. 1888.

Phil. Mag. p. 1-93. 5. 7. 89.

2) Nach Schaum, I. c. p. 72.

5) Müller-Pouillet-Lummer II, p. 339. 1907.

4) und eventuell der Sehpurpur. J. v. Kries, ]. c. p. 267.

5) J. v. Kries, ]. c. p. 185—1S8.

6) O. Lummer, „Experimentelles über das Sehen im Hellen und Dunkeln“. Verh. d. Deutsch. Physik. Ges. 6, No. 2, 1904.

O0. Lummer: „Über Grauglut und Rotglut‘“, Verh. d. Phys. Ges. Berlin 16. 1897.

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 17 ut, ee en

Trägt man in einem orthogonalen System die Wellenlänge als Ab- szissen, die zugehörigen Werte der Empfindlichkeit nach den Tabellen 1 bis 7 als Ordinaten ab, so erhält man die Empfindlichkeitskurve für ver- schiedene Intensitäten (Fig. 1)'!). Vom Kriesschen Standpunkte aus müssen die Empfindlichkeitskurven für schwache Intensitäten die Stäbchenempfind- lichkeit wiedergeben, während, die Empfindlichkeit der Zapfen durch die Königsche H-Kurve (Tab. 6) dargestellt wird. Die Zapfen sind also am empfindlichsten für Licht von der Wellenlänge 555 wi ungefähr, die Stäbehen für Wellenlängen zwischen 495 und 530 gu.

Da Langley auf das Deutlichwerden kleiner Buchstaben einstellte, mußte er foveal, d. h. mit den Zapfen beobaehten. Er erhielt also trotz der geringen Intensität die Kurve, wie sie großen Helligkeiten entspricht, weil die Empfindlichkeitskurve für große Helligkeiten zugleich die Empfind- lichkeitskurve der Zapfen ist.

Wir sehen hieraus, daß wir uns vom Purkinjephänomen frei machen können, wenn wir nur mit der Fovea beobachten. Wir erzielen damit zugleich Unabhängigkeit vom Adaptationszustande ?).

Sowohl bei der Ermittelung der Schwellenwerte °) als auch bei der Königschen Methode®) der heterochromen Photometrie stellen sich der genauen Bestimmung der Helligkeitsempfindlichkeitskurve erhebliche Schwierigkeiten entgegen. Ein höherer Grad der Genauigkeit wurde erst durch Einführung des Flickerprinzips®) ermöglicht. Während aber die bisher konstruierten Flickerphotometer sich nur zum Photometrieren von Mischfarben eignen, setzt uns das Spektral - Flickerphotometer von O0. Lummer und E. Pringsheim°) in den Stand, die Helligkeitsver- teilung im Spektrnm zu messen,

Plan der eigenen Untersuchung.

O. Lummer und E. Pringsheim haben in der unten zitierten Ver- öffentlichung gezeigt, daß das Spektral-Flickerphotometer unter gewissen Bedingungen als optisches Pyrometer benutzt werden könne. Hat man nämlich mittels des Flickerphotomelers die Empfindlichkeit des Auges fest- gestellt, und hat man gezeigt, daß diese Empfindlichkeit konstant ist, so kann man mit dem neuen Apparate die Temperatur leuchtender ‚schwarzer‘

1) Zum Vergleiche ist die späterhin erwähnte Stillersche Empfindlichkeits- kurve eingetragen.

2) J. v. Kries ]. c. p. 182, 183.

8) J. v. Kriesl. c. p. 21.

4) J. v. Kries ]. c. p. 258.

5) O0. N. Rood. Am. Journ. of Sec. 46. p. 173. 1893.

Polimanti: Zeitschr. f. Psych, und Phys. d. Sinnesorg. 19 p. 263.

6) O0. Lummer u. E. Pringsheim: Jahresbericht der Schles. Ges. für vaterl. Cultur. 1906. Beibl. 1907 S. 466,

2

18 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Temperaturstrahler bestimmen. Die Untersuchungen über das Spektral- Flickerphotometer und Pyrometer zerfallen also in zwei Teile: In die Ermittelung der Empfindlichkeit des Auges und in die Temperatur- bestimmung. Über den ersten Teil sind auf Veranlassung der Herren Lummer und Pringsheim schon Untersuchungen !) von Herrn O. Stiller am physikalischen Institute der Universität Breslau angestellt worden. Da im allgemeinen die Empfindlichkeit für verschiedene Beobachter ver- schieden sein wird, so hat der Verfasser die Messungen von Herrn Stiller wiederholt und zum Teil erweitert.

Im Prinzip wird die Empfindlichkeit folgendermaßen bestimmt. Nach- dem das Flickerphotometer justiert und geeicht ist, photometriert man damit das Spektrum des elektrisch geglühten „schwarzen Körpers‘ ?) und erhält so die relative Helligkeitsverteilung dieses Spektrums, wie es von dem Prisma des Flickerphotometers entworfen wird. Da die Temperatur des ‚schwarzen Körpers“ mit dem zugehörigen Thermoelement gemessen werden kann, so ergibt sich aus der Wienschen Gleichung die Intensitäts- verteilung für ein normales Spektrum. Ein Hauptfortschritt der Methode gegenüber den älteren besteht in dieser Benützung der genau bekannten Energieverteilung des schwarzen Körpers. Reduziert man die Helligkeits- verteilung auf das Normalspektrum, so wird die Empfindlichkeit für jede Spektralfarbe in willkürlichem Maße gemessen, indem man das Verhältnis des Helliskeitswertes zum Intensitätswert an dieser Stelle bildet.

Statt die Helligkeitsverteilung für das Normalspektrum zu berechnen, könnte man auch die Intensitätsverteilung auf das Prismenspektrum reduzieren.

Hat man die Empfindlichkeit bestimmt, so kann man den umgekehrten Weg einschlagen und die schwarze Temperatur eines leuchtenden Tem- peraturstrahlers bestimmen. Aus der Wienschen Gleichung, die im sicht- baren Gebiete auch bei relativ hohen Temperaturen die Intensitätsver- teilung im Normalspektrum des schwarzen Körpers richtig wiedergibt, ersieht man, daß mit steigender Temperatur die Intensität der violetten Weilen stärker ansteigt als die der roten, d. h. mit steigender Temperatur ändert sich das Intensitätsverhältnis für zwei feste Wellenlängen. Mittelt des Flickerphotometers kann man nun zunächst das Helligkeitsverhältnis für die beiden Farben feststellen; da die Empfindlichkeit bekannt ist, so kennt man auch das Intensitätsverhältnis. Aus diesem Intensitätsverhältnis kann man dann die Temperatur berechnen. a

Wird außerdem die Temperatur noch auf andere Weise, z. B. mit

dem Thermoelement ermittelt, so kann das erhaltene Resultat geprüft werden.

ı) Noch nicht veröffentlicht. 2) OÖ. Lummer und F. Kurlbaum. Verh. d. phys. Ges. XVII, 9.

I. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 19

Auf Veranlassung meiner hochverehrten Lehrer, der Herren Professoren Lummer und Pringsheim habe ich diese Untersuchungen in Angriff genommen.

Beschreibung des Apparates!).

Das Flickerphotometer besteht aus einem gewöhnlichen Spektral- apparat, dessen Kollimatorrohr zwei nebeneinander stehende vertikale Spalte trägt, die zur optischen Achse symmetrisch liegen und von der- selben Lichtquelle gleichstark beleuchtet werden. Im Beobachtungsfern- rohr entstehen dann zwei Spektren, die sich teilweise überdecken und gleich hell sind. Vor den Kollimatorspalten ist ein um seine horizontale Achse drehbarer Blechzylinder angebracht. Die Achse vorläuft parallel zur Spaltebene, so daß der Zylindermantel an den beiden Spalten in ihrer Längsrichtung vorbeirotiert. Der Blechmantel ist so mit Ausschnitten ver- sehen, daß die Spalte abwechselnd mit Licht beschickt werden. Die beiden Spektren werden also jetzt nicht gleichzeitig sondern abwechselnd erzeugt. Die Okularblende ist dementsprechend in beliebig schnellem Wechsel mit Licht von zwei verschiedenen Wellenlängen ausgefüllt.

Die Anordnung des rotierenden Zylinders bringt es mit sich, daß man das Licht nicht direkt von der Lichtquelle zu den Spalten führen kann. Man läßt es parallel zur Zylinderachse auf zwei im Innern des Hohlzylinders befindliche totalreflektierende Prismen und von da auf die Spalte fallen.

Blickt man bei einer beliebigen Fernrohrstellung ins Okular, so sieht man bei sehr langsamer Umdrehung des Zylinders den Okurlarspalt ab- wechselnd hintereinander mit zwei verschiedenen Farben ausgefüllt. Bei schneller werdender Rotation kann man die einzelnen Farben nicht mehr unterscheiden, sondern man sieht ein Flickern. Durch Veränderung der Breite des einen der beiden Kollimatorspalte jedoch läßt sich erreichen, daß das Flickern schwächer wird und schließlich ganz verschwindet. Nach dem Flimmerprinzip tritt dies ein, wenn die beiden zu vergleichenden Farben die gleiche Helligkeit besityen. Nach dem Vierordtschen Prinzip verhalten sich dann die Helligkeiten dieser Farben bei gleichen Spaltbreiten um- gekehrt wie die Kollimatorspaltbreiten, bei denen das Flickern ver- schwindet.

Durch Drehen des Beobachtungsfernrohres kann man bei einem be- stimmten Spaltabstande jede Farbe des einen Spektrums mit einer ganz bestimmten des anderen zum Vergleich bringen. Um den Bereich der zu

1) S. Seite 17, Anm. 6.

30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

vergleichenden Spektralbezirke zu erweitern, ist dafür gesorgt, daß der Abstand der Spalte, dessen kleinster Wert 2 mm beträgt, auf 4, 6 usw. bis 12 mm vergrößert werden kann. Außerdem sind dem Apparat mehrere Prismen von verschiedener Dispersion beigegeben. Der Raum zwischen den Spalten ist durch Blenden verschlossen. Die Breite der Spalte wird durch Schrauben mit Trommelablesung reguliert. Einer Um- drehung gleich 100 Skalenteilen entspricht eine Spaltbreite von 0,25 mm. Der vom Beobachter aus links liegende Spalt soll in Folgendem mit I, der rechte mit II bezeichnet werden.

Prisma und Beobachtungsfernrohr können so umgelegt werden, daß die von den Spalten I und II ausgehenden Strahlen ihre Rollen genau vertauschen. (Rechts- und Linksstellung.) Diese Vorrichtung gestattet es, das Photometer so einzustellen, daß beide Spalte gleich stark be- leuchtet werden. Macht man nämlich beide Spalte gleich breit, so kann man jetzt durch Drehen des Fernrohrs einmal bei Rechts-, das andere Mal bei Linksstellung die beiden Wellenlängen aufsuchen, für die das Flickern verschwindet. Ergeben sich beide Male dieselben Wellenlängen- paare als gleich hell, so ist das Photometer richtig eingestellt. Das zu einer bestimmien Fernrohrstellung gehörige Wellenlängenpaar kann aus Dispersionskurven !) entnommen werden.

Die Einstellung des Fernrohrs auf einen bestimmten Wellenlängen- bezirk wird durch eine Schraube mit Trommel bewirkt und kann auf einer Skala abgelesen werden. Die Trommel gestattet, hunderstel Skalenteile zu messen. Die Eichung des Instrumentes geschieht folgendermaßen. Beide Kollimatorspalte werden möglichst schmal gemacht und mit homo- genem Licht von bekannter Wellenlänge beleuchtet. Der eine Spalt wird zunächst durch einen Sektor des Zylindermantels verdeckt und die vom anderen Spalt entworfene Spektrallinie wird durch Drehen des Fernrohrs in die Mitte des Okularspaltes gebracht. Die zugehörige Fernrohrstellung wird als Abzsisse in einem orthogonalen Koordinatensystem abgetragen, die betreffende Wellenlänge als Ordinate. Dasselbe geschieht alsdann für den anderen Spalt. Wird dieses Verfahren noch für genügend viel andere Wellenlängen ausgeführt, so erhält man zwei Dispersionskurven, die um so mehr gegeneinander verschoben sind, je weiter die Kollimatorspalte auseinander liegen. Es genügt, das Photometer für die engste Schalt- . stellung (2 mm) zu eichen. Für die übrigen Spaltabstände können die Einstellungen berechnet werden, wenn man die Fernrohrstellung z. B. für eine Natriumlinie kennt. Da das Okular kein Fadenkreuz enthält, so ge- schieht die Einstellung der Spektrallinien auf die Mitte des Spaltes nach Schätzung. Die hierdurch hervorgerufene Ungenauigkeit beträgt ungefähr 2 Trommelteile. Dem entspricht ein möglicher Fehler in der Einstellung

1) Diese sind von Her:n O. Stiller bestimmt worden.

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 21

2

der Wellenlänge von ungefähr 0,5 pp im roten Ende und von 0,1 bis 0,2 a im kurzweiligen Ende, entsprechend der größeren Dispersion im Violett.

Bestimmung der Helligkeitsverteilung im Spektrum der Nernst- lampe.

Am vorteilhaftesten wäre es gewesen, die Strahlung des elektrisch geglühten „schwarzen Körpers‘‘ nach Lummer-Kurlbaum !) direkt mit dem Flickerphotometer zu unlersuchen. Die Kollimatorlinse des Photometers wurde jedoch nicht von der Strahlung des dem Verfasser zur Verfügung stehenden „schwarzen Körpers‘ ausgefüllt. Diesem Mangel hätte man durch Einschalten einer Blende abhelfen können. Hauptsächlich Sparsam-

keitsgründe der „schwarze Körper‘ erfordert Stromstärken von 70 bis 80 Ampere und mehr führten dazu, einen indirekten Weg einzu- schlagen.

Als Lichtquelle wurde eine 220 Volt-Nernstlampe gewählt, deren Strahlung durch eine vorgeschaltete Mattscheibe diffus gemacht wurde. Es wnrde also die Helligkeit der Mattscheibe untersucht. Absorptions- messungen ergaben, daß die Wellenlängen von 460 yy bis 630 wu von der Scheibe in demselben Verhältnis geschwächt wurden.

Der Strahlgang von der Nernstlampe bis zur Mattscheibe verlief in einem geschwärzten Hohlraum. Vor der Mattscheibe war eine kreisrunde Blende von 2,5 em Durchmesser angebracht. Von hier aus fielen die Lichtstrahlen auf die beiden totalreflektierenden Prismen. Die Entfernung der Mattscheibe von diesen Prismen wurde so gewählt, daß die Kollima- torlinse von beiden Spalten völlig und gleichmäßig beleuchtet wurde, Da es nicht gelang, die Scheibe so einzustellen, daß beide Spalte genau gleich viel Licht erhielten, so wurde die Helligkeitsverteilung sowohl bei Rechts- als auch bei Linksstellung gemessen und aus beiden Werten das Mittel genommen.

Um die Strahlung der Nernstlampe möglichst konstant zu halten, wurde diese nicht bei voller Belastung sondern bei 200 Volt gebrannt. Da die Lampe an das städtische Leitungsnetz angeschlossen war und dieses Spannungsschwankungen von 5 Volt und mehr aufwies, so wurde die Spannung an einem guten Voltmeter abgelesen und mittels eines Gleit- widerstandes reguliert. Die jetzt noch auftretenden Änderungen der Strom- stärke waren so gering, daß ein Einfluß auf die Strahlung der Lampe nicht mehr nachgewiesen werden konnte.

1) O. Lummer und F. Kurlbaum. Verh, d, phıys. Ges. XVII, 9.

33 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Der rotierende Zylinder wurde durch einen kleinen Elektromotor be- tätist. Da die Empfindlichkeit der Methode auch von der Tourenzahl ab- hängt, so wurde dieselbe an einem Tachometer von Dr. Th. Horn- Leipzig, abgelesen. In den Tabellen ist unter einer besonderen Rubrik die Tourenzahl pro Minute angegeben, bei der für je ein Wellenlängen- paar das Flickern gerade verschwand. Man sieht, daß für verschiedene Wellenlängenpaare die Umdrehungszahl verschieden ist. Eine bestimmte Abhängigkeit der kritischen Tourenzahl von der Wellenlängendifferenz der verglichenen Farbenpaare konnte nicht nachgewiesen werden. Es zeigte sich, daß sie am höchsten war für Farbenpaare, die dem hellsten Teile des Spektrums und dem roten Ende angehören. Hingegen mußte im violetten Ende immer eine bedeutend niedrigere Tourenzahl gewählt werden. Außerdem zeigte sich, daß sie für ein bestimmtes Wellenlängen- paar unter verschiedenen Bedingungen, z. B. zu verschiedenen Zeiten, ver- schieden war; allerdings waren diese Unterschiede bei weitem nicht von der Größenordnung wie die oben erwähnten.

Die Ausführung der Messungen gestaltete sich nun folgendermaßen. Zunächst wurden die beiden Kollimatorspalte gleich breit gemacht und das Fernrohr wurde nun auf das Wellenlängenpaar eingestellt, für das das Flickern verschwand. Die Helliskeit der so ermittelten gleich hellen Wellenlängen wurde als Einheit gewählt. Die Resultate sind in den Tabellen 8 (für 2 mm Spaltabstand) und 8a (für 6 mm Spaltabstand) wiedergegeben. Um eine etwa vorhandene Ungenauigkeit in der Null- stellung der Spalte möglichst zu eliminieren, wurde jede Messung bei zwei Spaltbreiten ausgeführt. Es sind immer die Mittel aus je fünf Einzel- einstellungen angegeben. Der mittlere Einstellungsfehler ist in pp ein- getragen.

Tabelle 8. Rechtsstellung. Spaltbreite Einstellung des| Gleichhelle i Tourenzahl Inmeskalen: Bechaehtan Wellen- Mittlerer Fehler ae teilen a längen in | in If. ausgedrückt Minute Tale BEE 10 , 10 | 36,88 la: —= 608 |Aı1 = 1,0 Al = 0,7 264

$)

6 25 | 25 | 36,65 = 568 | = 1,7 Aım= 1,5 275

| | |

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 23

Linksstellung. ı Gleichhelle . Spaltbreite en Wellen- Mittlerer Fehler ERLAnT ern längen m. 10 | 10 | 21,81 | 91.88 A 5 ANTE 0 BEAT 100 296 25 25 | 21,9| ° | = 612 [Ar = 0,6 Ar = 0,5 340 | I | Tabelle Sa (bei 6 mm Spaltabstand). Rechtsstellung. Spaltbreite Fernrohr Wellenlänge Tourenzahl IT 10 | 10 | 36,53 | = 290 | 36,47 B 50 | 50 36,42 | Aıı 542 364 | Linksstellung. Egalibreite Fernrohr | Wellenlänge Tourenzahl TER \e]T 10 10 22,46 | e fr = 539 282 | 22,50 R 50 50 22,94 | Aıı = 631 329 |

Der Einstellungsfehler betrug hier höchstens 1 uw.

Schon während der Vorarbeiten wurden zum Vergleiche Einstellungen auf gleiche Helligkeit auch ohne Flickern gemacht. Der rotierende Zylinder wurde dabei so in Ruhestellung gebracht, daß der Okularspalt zur Hälfte mit der einen, zur Hälfte mit der anderen Farbe ausgefüllt war. In der ersten Zeit wurden noch ziemlich große Unterschiede konstatiert. Die Übung brachte es aber bald mit sich, daß die Einstellungen mit und ohne Flickern annähernd gleiche Resultate ergaben. In einigen Tabellen sind die Einstellungen auf gleiche Helligkeit ohne Flickern angegeben. So gehören z. B. zu Tabelle S folgende Einstellungen:

34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Fernrohr Ar | AL Rechtsstellung . . . 36,94 612 571 Linksstellung . . . 21,85 570 614

Die Werte für diese Angaben wurden durchweg nur mit einer einzigen Einstellung gewonnen, können also keinen Anspruch auf Genauigkeit erheben.

Von diesen beiden so als gleich hell ermittelten Wellenlängen wurde nun im Spektrum nach beiden Seiten etappenweise vorgegangen. Aus der Dispersionskurve wurde abgelesen, wie das Fernrohr eingestellt werden mußte, damit z. B. die Farbe, die vorher in Spalt II war, nach Spalt I kam. Die Dispersionskurve ergab dann zugleich die neue Wellenlänge in Spalt II. Nachdem diese Farben photometriert waren, wurde dasselbe Verfahren wiederholt usw., bis das ganze Spektrum durchlaufen war. Da bei diesen Einstellungen die Fernrohrstellung für jedes Wellenpaar bei- behalten werden mußte, so wurde das Flickern jetzt durch Verändern der Kollimatorspaltbreite zum Verschwinden gebracht. Es erwies sich als vorteilhaft, die Intensität der helleren Farbe zu variieren. Zur helleren Wellenlänge gehört der schmälere Spalt, und bei diesem macht eine Ver- kleinerung der Breite, z. B. um einen Trommelteil, mehr aus als beim breiteren Spalt. Der Übergang vom Fliekern zum gleichmäßigen Licht- eindruck ist also beim Verändern des schmäleren Spaltes schärfer.

Die Messungen sind in den Tabellen 9 (2 mm) und 9a (6 mm) wieder- gegeben. In der ersten Spalte findet man die Mikrometereinstellung des Fernrohres, in der zweiten und dritten die aus den Dispersionskurven er- mittelten zugehörigen Wellenlängen. Die Werte für den veränderlichen Spalt sind die Mittel aus je fünf Einstellungen. Für jedes Wellenlängen- paar sind die zugehörigen Spaltbreiten I und II in Skalenteilen angegeben, ferner das Verhältnis I/II oder Il/I, das nach dem Vierordtschen Prinzip das Helligkeitsverhältnis darstellt. Der mittlere Fehler ist in Prozenten dieses Verhältnisses angegeben. Der festgehaltene Spalt ist daran kennt lich, daß keine Dezimalen angegeben sind.

Die Sterne in der Rubrik „Bemerkungen“ deuten auf besondere Ein- stellungsschwierigkeiten.

10n.

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II. Abteilung.

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Tabelle 9. Linksstellung.

Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

26

ide I/IL oder II/I Touren-| Veränderl. Fernrohr 76) A Spaltbreite zahl Spalt ohne Bemerkungen. Fehler el Flick S a T in 0% ittel |pro min. ickern | 1 2 i 95 | al Dal | | || 75 [leicht 3 19) || a | ee | | al 85 | ungenaut) 95 20| 15 0,480 985 E 24,20 59 | 52 | 2 | en 0,476 2 105 | leicht s 30 os 0,263 a 291 96,60 534 | 506 | & en | oe 0,262 2 80 | leicht 5 3 94 2100| ee a oma 82 |zi. schwer Ul50 136 | 53 0,972 B 201 31,45 a2 | 462 | °2 le ade 0,262 sn 16,0 ' > ) 3 5 all el wel | a | om | 1 | mo men - | 100 22,1 5,8 0,21 ; 96 J 36,35 a7 | 435 | 100 | 079 0,220 a 20,0 18,35 zı0 | 640 45 200 5,0 0,023 0,023 290 50 | eicht, Breiter Spalt | SC 7) 1,8 0,440 987 20,65 640 590 131 30 17 0.437 0,438 306 9,5 zl. leicht 9 Ergänzungs- 23,00 590 | 2 10 0, 0,654 zen 130 | leicht en b ae messungen 0) 0) 954 A 95,40 551 530 vu 2 sig rn 0,365 2 85 | leicht oA 97,77 520 | 49% N 2 35 Dar 0,202 a 58 | zI. schwert*)

27

Naturwissenschaftliche Sektion.

II. Abteilung.

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238 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Bei *) wird man finden, daß der Mittelwert von I/II oder II/I nicht gleich 1 ist, während dieser Wert sich aus den Tabellen 8 und 3a ergibt. Es wurde trotzdem 1 als Mittelwert angenommen, weil dieser Wert zu- verlässiger ist. Es zeigte sich nämlich, daß gerade die beiden gleichhellen Farben sich schlecht nach der Methode der Spaltverbreiterung photo- metrieren ließen. Der Übergang vom Flickern zu gleichmäßiger Helligkeit konnte nicht scharf gemacht werden. Eine mir zusagende Erklärung habe ich nicht finden können.

In der Nähe von 500 jy verschwand das Flickern für die Mitte und für die Enden des Okularspaltes nicht gleichzeitig. Fixierte man ein Ende, so verschwand das Flickern an dieser Stelle fast völlig, dafür trat es in der Mitte wieder deutlich auf. Hieraus muß man schließen, daß an dieser Erscheinung nicht eine ungleiche Intensitätsverteilung im Okularspalt schuld war, sondern daß die verglichenen Farben für das Zentrum der Fovea einen anderen relativen Helligkeitswert haben als für den Rand, d. h. in dieser Spektralgegend tritt bei der gewählten Spalthöhe das Purkinjephänomen noch störend auf!). Das Übel hätte durch Verkleinerung der Okularspalt- höhe beseitigt werden können; aber da sich die Erscheinung nur an dieser einzigen Stelle zeigte, so wurde die Spalthöhe beibehalten. Bei niedrigerem Spalte wäre insbesondere für die Beobachtungen im violetten Ende das Gesichtsfeld zu klein geworden. Übrigens ist die Erscheinung bei einem Spaltabstand von 2 mm (Tab. 9) noch recht wenig auffallend. Bei einem Spaltabstande von 6 mm (Tab. 9a), wo die Abweichung sehr deutlich war, wurde möglichst auf Verschwinden des Flickerns in der Mitte des Spaltes eingestellt.

Im kurzwelligen Teile des Spektrums wurden die Messungen durch das Auftreten von Fluoreszenzerscheinungen im Auge erschwert; sie sind durch drei Sterne ***) bezeichnet.

Ferner sei noch erwähnt, daß bei 6 mm Spaltabstand das Auge vor dem Okular recht ruhig gehalten werden mußte. Infolge der großen Ver- schiedenheit der zu vergleichenden Farben und infolge der chromatischen Abweichung des Auges war eine ziemlich starke Parallaxe vorhanden.

Um noch mehr Punkte der Helligkeitskurve zu finden und vor allem, um die Lage des Helligkeitsmaximums festzustellen, wurde aus den schon gefundenen Werten der Helligkeit dieselbe für eine neue Wellenlänge rechnerisch interpoliert. Diese Wellenlänge wurde dann wieder mit den benachbarten, aus den Dispersionskurven ablesbaren Wellenlängen photo- metriert. Diese Ergänzungsmessungen sind in Tabelle 9 kenntlich gemacht. Die daraus sich ergebende Helligkeitsverteilung ist in Tabelle 10 wieder- gegeben und in Figur 2 graphisch dargestellt. Als Abszissen sind die

») In den Tabellen sind diese Punkte durch **) bezeichnet.

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 39

Tabelle 10.

Helligkeitsverteilung im Spektrum der Nernstlampe (200 Volt).

Rechtsstellung Linksstellung N Logarithmen der Hellig- N Logarithmen der Hellig- keit. | keit. 662 3,277 672 3,121 608 4,000 612 4,000 568 4,000!) 569 4,000 535 3,708 534 3,678 908 3,239 506 3,096 485 2,595 482 2,384 467 2,095 462 1,502 451 1,609 447 1,227 437 1,098 435 0,569 588 4,039?) 590 4,055?) 700 2,199 710 2,058 635 3,722 640 3,696 Sl 3,892 551 3,370 521 3,530 520 3,432 496 2,880 494 2,738

Wellenlängen, als Ordinaten die Logarithmen der zugehörigen Helligkeits- werte abgetragen. Aus den Rechts- und Linkskurven mußte nun die Mittelwertkurve bestimmt werden. Zu dem Zweck wurde Figur 2 in ver- größertem Maßstabe unter genauer Eintragung der Werte hergestellt, für die Wellenlängen 440, 460, 480... .. 700 yu daraus die Helligkeitswerte abgelesen und für jede dieser Wellenlängen das Mittel gebildet. Die so erhaltene Mittelwertkurve wurde alsdann auf das Normalspektrum reduziert. Dazu wurden die von O. Stiller empirisch ermittelten Dispersionskurven benützt. Bezeichnet man die auf der Fernrohrskala abgelesene Einstellung des Beobachtungsfernrohrs mit n (in den Dispersionskurven als Abszissen abgetragen, so ist die reduzierte Helligkeit Hr dem gefundenen Helligkeits-

werte H direkt und dem Anstieg der Dispersionskurve e umgekehrt

1) Die Helligkeit der beiden Farben ist nicht gleich 1, sondern gleich 10000 gesetzt, um negative Ordinaten zu vermeiden.

2) Interpoliert.

30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

proportional. Da es sich um relative Helligkeiten handelt, kann der Pro- portionalitätsfaktor gleich 1 gesetzt werden. dn

Hr=H: N H-R. Der Reduktionsfaktor R Hi wurde folgendermaßen bestimmt. Es

‚seien A, und A, (A, >A,) zwei Wellenlängen mit den zugehörigen Fern- rohreinstellungen n, und n,; dann ist angenähert

SE Beben

MO A,—A, „\ , : 9 ! En, wenn A, A, nicht zu groß gewählt wird. Auf diese Weise wurde der Reduktionsfaktor graphisch aus den Disper- sionskurven ermittelt, indem A, A, gleich 10 np gewählt wurde.

für die Wellenlänge

Aus der obigen Formel ergibt sich log Hr logH -- log R. Nach dieser Formel wurde die reduzierte Helligkeitsverteilung bestimmt, wie sie in Tabelle 11 und in Fig. 2 wiedergegeben ist.

Tabelle 11.

Helligkeitsverteilung im Normalspektrum.

A | log Hr x log Hr 440 | 1,689 600 4,034 60 2,250 20 3,367 80 2,747 40 3,566 500 3,243 60 3,182 20 3,689 80 2,668 40 3,925 700 2,042 60 4,049

so 4,083

Bei großem Spaltabstande (6 mm) konnten nur je 4 Punkte der Rechts- und Linkskurve bestimmt werden. Eine Mittelwertkurve konnte also nicht gebildet werden, da die einzelnen Kurven nicht festgelegt werden konnten. Es sind deshalb die Werte einzeln reduziert worden und zum Vergleich in Fig. 2 eingetragen. Es zeigt sich eine gute Übereinstimmung. In Tabelle 12 finden sich die zugehörigen Werte von log Hr, die, bevor sie in die Figur eingetragen wurden, sämtlich um 0,250 verkleinert wurden. Diese Operation bedeutet nichts weiter, als die Wahl einer neuen Einheit für die Helligkeit.

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 31

Tabelle 12.

Rechtsstellung. Linksstellung. A | log H | log Hr A | log H | log Hr 634 4,000 3,910 631 4,000 3,910 542 4,000 4,150 539 4,000 4,160 485 2,699 3,039 482 2,690 3,040 446 1,613 2,163 4435 1,542 2,112

Bestimmung der Empfindlichkeit.

Zunächst mußte die Verteilung der Intensität im Spektrum der Nernst- lampe festgestellt werden. Zu diesem Zweck wurde die Strahlung der Mattscheibe mit der Strahlung des „schwarzen Körpers‘ mittels des Spektral- photometers von König-Martens?) verglichen und zwar bei zwei Temperaturen des „schwarzen Körpers“.

Für das sichtbare Gebiet kann man die Intensitätsverteilung im Normal- spektrum des schwarzen Körpers bei der Temperatur T aus der Wienschen Gleichung

—@ 1. = c, A-de rt berechnen. Die Konstante c, hängt von der Versuchsanordnung ab. Da diese während der Messungen nicht verändert wurde und da es sich nur um Intensitätsverhältnisse handelte, so konnte a=l gesetzt werden. c, hat nach den Versuchen von Lummer-Pringsheim?) den Wert 14600. Hierbei muß A in u, T absolut gemessen werden.

Die Einrichtung des Spektralphotometers von König-Martens wird als bekannt vorausgesetzt. Das eine Feld erhielt Licht vom schwarzen Körper (Intensität Sı), das andere von der Mattscheibe (Jı). Der Winkel, um den der Nicol gedreht werden mußte, um beide Felder gleich hell zu machen, sei mit & bezeichnet, dann besteht die Beziehung

Die so ermittelte Intensitätsverteilung ist in den Tabellen 13a und 13b verzeichnet. Mit Hilfe der sogenannten Gauß’schen Logarithmen wurde aus den a- und b-Werten von Jr für jede Wellenlänge der Logarithmus des Mittels aufgesucht. Die Mittelwertlogarithmen wurden noch um 9,969 vergrößert, damit für die Wellenlänge 600 die Intensität gleich der

1) F.F. Martens u. F.Grünbaum. Ann. 12, 1903.

2) O. Lummer u. E. Pringsheim. Verh.d. Phys. Ges. 1901 p. 42. 9) F. F, Martens und F. Grünbaum, |. ce.

32

Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Tabelle 13a.

Temperatur des schwarzen Körpers T = 1478° abs, Spannung an den Klemmen 10,37 Volt.

Stromstärke 73,95 Ampere.

600

log | 2 logtg & log JA

0,033 —8 | 0,883 —2 0,150—7 0,360— 8 0,021—1 0,339 —7 0,656—8 0,186—1 0,470—7 0,925—8 0,337 —1 0,588 —7 0,169 —7 0,451 —1 OT 0,394—7 0,561—1 0,833 —7 0,598—7 0,689 —1 0,909 —7 0,786—7 0,789—1 0,998 —7 0,959—7 0,860—1 0,099—6 0,119—6 0,964—1 0,154—6 0,266—6 0,043 0,223—6 0,402—6 0,103 0,299 —6 0,523—6 0,128 0,400—6

Tabelle 13b.

Temperatur des schwarzen Körpers 1679° abs.

Spannung 13,26 Volt.

Stromstärke 84,40 Ampere.

A

600

log Sa

0,199 —7 0,477 —7 0,726—7 0,952 —7 0,158—6 0,345—6 0,515—6 0,672—6 0,815—6 0,947—6 0,068—5 0,180—5 0,283— 5

2 log tg &

0,348 0,371 0,429 0,513 0,567 0,624 0,677 0,753 0,787 0,840 0,896 0,968 0,966

log Jx

0,852—8 0,105—7 0,297 —7 0,440—7 0,590—7 0,721—7 0,839—7 0,9197 0,023—6 0,106 —6 0,172—6 0,217 —6 0,318—6

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 33

Helligkeit wurde. Diese Mittelwerte findet man in Tabelle 14, Kolonne 1 und 2.

Tabelle 14. Ja = Intensität, Hx = Helligkeit, EA —= Empfindlichkeit.

1. 2. | 3. 4. 5 6.

x log Ix soo] log Hx | log Er Er Er 440 0,026—7 | 2,995 1,689 | 0,694—2 4,9 3,1 60 0,233—7 | 3,207 2,250 | 0,043—1 10,1 6,9 80 0,392—7 | 3,361 2,747 | 0,386—1 24,3 15,1 500 0,520—7 | 3,489 | 3,243 | 0,754—1 56,8 35,3 20 0,660—7 | 3,629 | 3,689 | 0,060 114,8 71,5 40 0,780—7 | 3,749 3,925 I 0,176 150,0 93,3 60 0,874—7 | 3,843 4,049 | 0,206 160,7 100,0 80 0,960—7 | 3,929 4,083 | 0,154 142,6 88,7 600 "0,065—6 | 4,034 4,034 | 0,000 100,0 62,2 20 0,131—6 | 4,100 3,867 | 0,763—1 57,9 36,3 40 0,198—6 | 4,167 3,566 | 0,399—1 95,1 15,6 60 0,254—6 | 4,223 3,182 | 0,959—2 9,1 5,7 80 0,361—6 | 4,330 | 2,668 | 0,338—2 2,2 1,4

Ein Maß für die relative Helligkeitsempfindlichkeit des Auges erhält man nun, wenn man für die verschiedenen Farben das Verhältnis der Helligkeit und der zugehörigen Intensität bilde. In Tabelle 14 sind die gefundenen Werte der Empfindlichkeit in Kolonne 4 und 5 wiedergegeben. In Kolonne 6 ist die Stelle größter Empfindlichkeit gleich 100 gesetzt.

In Figur 3 sind die Werte aus Kolonne 2, 3 und 4 eingetragen. In Figur 4 ist die Empfindlichkeit selbst (Kolonne 6) als Funktion der Wellenlänge eingezeichnet. Mit Erlaubnis des Herrn 0. Stiller bringe ich in Figur 4 zum Vergleich die für ihn gültige Empfindlichkeitskurve?),

Benützt man die bei einem Spaltabstande von 6 mm gefundenen Resultate (Tab. 12), so erhält man Tabelle 15. Die Bezeichnungen haben dieselbe Bedeutung wie in Tabelle 14.

Die Werte der Kolonne 2 sind aus der Intensitätskurve graphisch interpoliert, die Werte der Kolonne 3 zwecks Anpassung an die erste Empfindlichkeitskurve um 2,773 erhöht. Eine Mittelwertkurve konnte wegen der geringen Anzahl der Punkte nicht aufgestellt werden. Man sieht aber aus Figur 3, daß der Mittelwert recht gut mit der ersten Empfindlichkeits- kurve zusammenfällt,

!) Meine Messungen sind nach den Stillerschen ausgeführt worden, 3

34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Tabelle 15. 1. 9. 3. 4.

A | 108g Ha log Ja | log Er |logEr + 2,773 634 | 3,910 4,140 | 0,70 | 2,545 Rechtsstellung 542 4,150 3,743 0,407 3,180 485 | 3,039 3,400 | 0,639—1 2,412 446 2,163 3,060 0,103—1 | 1,876

p\ log Ha | log JA | log Ei |logEr-+ 2,773 631 | 3,910 | 4,130 | 0,780—1 | 2,553 Linke 539 | 4,160 3,727 | 0,433 3,206 482 3,040 3,380 0,660 —1 2,433 443 2,112 3,030 0,882 —2 1,655

Die Figuren 1 und 4 zeigen nach dem in der Einleitung Gesagten, daß die Kurven der Figur 4 die Helligkeitsempfindlichkeit der Zapfen dar- stellen, d. h. daß bei der hier angewandten Beobachtungsmethode haupt- sächlich die Zapfen in Funktion treten, wie wegen der Anwendung kleiner Felder zu erwarten war. Wie schon in der Einleitung erwähnt ist, können wir infolgedessen bei unserer Versuchsanordnung sicher sein, daß das Purkinjephänomen unsere Resultate nicht fälschend beeinflussen wird, wenn wir uns jetzt an die optische Bestimmung hoher Temperaturen machen.

Das Spektralflickerphotometer als optisches Pyrometar!).

Bildet man aus der Wienschen Gleichung 5 2 NE SITE EEE;

das Verhältnis der Intensitäten für zwei Wellenlängen bei derselben Temperatur, so ergibt sich

eo 1 1 a &) le) Sp A und durch Logarithmieren

Sr A, er NN et | Ss

Gleichung 3) gestattet uns, T zu berechnen, wenn wir —* kennen. Nun

S2

2) OQ. Lummer und F. Pringsheim |. c. p. 5.

35

Naturwissenschaftliche Sektion.

UI. Abteilung.

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36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

setzt uns das Flickerphotometer in den Stand, das Verhältnis der Hellig- keiten zweier Spektralbezirke zu bestimmen. Ist die Empfindlichkeitskurve des Beobachters bekannt, so ist damit auch das Verhältnis der Intensitäten gegeben.

Nach dieser in kurzem Umriß angegebenen Methode wurde die Tem- peratur des „schwarzen Körpers“ bestimmt. Da gleichzeitig die Temperatur mit dem Thermoelement gemessen wurde, konnte das Resultat auf seine Richtigkeit geprüft werden.

Da der „schwarze Körper‘ nicht direkt photometriert werden konnte, so wurde wieder das alte Verfahren eingeschlagen. Bei diesen Messungen wurde eine neue Nernstlampe bei 200 Volt und die alte bei 180 Volt be- nutzt, so daß bei verschiedenen Helligkeiten gemessen wurde.

Zunächst wurde die Helligkeitsverteilung im Spektrum der Nernst- lampe (200 Volt) mit dem Flickerphotometer gemessen (Tab. 16). Mittels der bekannten Empfindlichkeitskurve ergab sich die Intensitätskurve (Tab. 17). Durch Photometrieren der Nernstlampe und des „schwarzen Körpers“ mittels des Martens-Königschen Photometers wurde die Intensi- tätsverteilung in der Strahlung des schwarzen Körpers bestimmt und zwar

Tabelle 17.

log H, | log H, Logarith. Links | Rechts: | °EH la.Redukt.| 18 Hr | 1og E, | Tog3, stellung | stellung | Mittel Fakt. | reduziert

660 | 3,265 | 3,380 | 3,326 |—-0,154| 3,172 [0,959 —2| 4,213 40 | 3,603 | 3,721 | 3,666 |—0,114| 3,552 |0,399—1| 4,153 20 | 3,8373 | 3,950 | 3,913 |. 0,058] 3,855 |0,763—ı1] 4,092 600 | 4,020 | 4,043 | 4,032 0,000| 4,032 [0,000 4,032 580 | 4,047 | 4,028 | 4,038 0,046] 4,084 [0,154 3,930 60 | 3,985 | 3,921 | 3,954 0,101] 4,055 | 0,206 3,849 40. | 3,847 | 3,700 | 3,780 0,156] 3,936 [0,176 3,760 20 | 3,555 | 3,385 | 3,478 0,222| 3,700 | 0,060 3,640 500 | 3,080 | 2,855 | 2,982 0,282| 3,264 |0,754—1]| 3,510 480 | 2,555 | 2,285 | 2,428 0,352| 2,780 |0,386—1] 3,394 60 | 1,992 | 1,730 | 1,880 0,438| 2,318 [0,043—ıl 3,275

bei zwei Temperaturen (Tab. 18 und 19). Die berechneten Temperaturen ergaben sich (Tab. 20 und 21) zu 1496 ° und 1723 °, während mit dem Thermoelement 1477 und 1698 ° abs. gemessen wurden, d. h. die auf photometrischem Wege ermittelte Temperatur war um 1,3 bezw. 1,5 %, zu hoch.

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 37

Der Wert 1,992 in der letzten Reihe, Kolonne 1, ist unsicher, siehe Tab. 16. 460 u wurde deshalb nicht zur Temperaturbestimmung benützt. ist die Intensität der Strahlung der Mattscheibe, bezw. der Nernst- lampe. Daraus ergibt sich für die zur Temperaturberechnung benützten Wellenlängen die Strahlung des schwarzen Körpers:

Tabelle 18.

Nernstlampe und schwarzer Körper mittels des Photometers von Martens- König verglichen. Temperatur des schwarzen Körpers 1477 °, mit dem Thermoelement gemessen.

log I 2 log ttg «& log Sr Tab. 17 SR : 660 4,213 0,131 4,344 500 3,510 0,371—1 2,881 480 3,394 0,244—1 2,638

Tabelle 19. Dasselbe bei 1698 °,

A | log Ja | 2 log tg « log Si 660 4,213 0,651 4,564 500 3,510 0,151 3,661 450 3,394 | 0,094 3,458

Tabelle 20.

Berechnung der absoluten Temperatur des schwarzen Körpers aus dem Intensitätsverhältnis zweier Farben (Tab. 18).

Vergleichs- Temperatur

e k Abweichung wellenlen optisch mit d. Ther- sr gemessen | moelement Min, | 660/480 1502 ® 1477 0 + 25°| 1,7% 660/500 1489 ® 27.1249 01819,

| Mittel 1496 ® | 1477 0 |+ 19 0

38 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Tabelle 21. Dasselbe nach Tabelle 19.

Vergleichs- Temperatur Abweichung ven: optisch | thermoel. in) 660/480 | 17420 | 30. eos | N. 140] 2,6% 660/500 | 17030 + 5°| 03% 1723 ° | 1698207) 77.225302 721,529,

Dieselben Messungen ae auch noch bei einem Abstand der Kollimatorspalte von 6 mm ausgeführt (Tabellen 22—28). Die berechnete Temperatur des schwarzen Körpers ergab sich zu 1466 ® und 1691 °, also um 0,8%, und 0,5 %, zu niedrig.

Tabelle 23. Berechnung der Intensität im Normalspektrum der Nernstlampe.

log Hx | log Hi |log Hil log R |log Hr

log E log JA Rechtsst. | Linksst. | Mittel | Red: Fakt. | reduz. Se 3

660 | 4,000 | 4,000 | 4,0001 0,154 | 0,959 —2 | 4,887 800 3,650 3,444 | 3,559| + 0,282 | 3,841] 0,754—1 | 4,087!) 480 3,120 2,950 | 3,043] —+ 0,352 | 3,595 | 0,356—1 | 4,009 460 2,360 2,540 | 2,459] —+ 0,438 | 2,897 | 0,043—1 | 3,854

Tabelle 24. Messung der Intensität im Normalspektrum des schwarzen Körpers bei 1477 ° und 1698 ° absolut.

N ee 2 log tg « log 5%

bei 1477 ° 1698 ARD 1695 660 4,887 0,131 | 0,651 5,018 5,538 500 4,087 0,371—1 | 0,151 3,458 4,2319) 480 4,009 0,244—1 0,094 3,253 4,103 460 3,854 2) | 0,994—1 E 3,848

1) Unsicherer Wert, siehe Tab. 22, Anm. 1. 2) Wurde nicht gemessen. 3) Unsicher, siehe Tab. 22, Anm. 1.

39

Naturwissenschaftliche Sektion.

II. Abteilung.

"yplojänz oyım pun puey any jyoru JopurmmosıoA uaayorg sea (j

021 8400 °1 JOMUDS 090 fi) aut £90'0 Ge (‚aoorsun DB £90'0 190°0 5207 393 195 ä 990°0 feXe FupJelt 208 189% 816% v0 ; 008 voW $1 "3unfjojssyung

861 gc0‘0 TG

| JOMUDS E90 0 | &ll 8900 gg 855 ; LE0 0'9

(„iogsısun geo‘0

206 630°0 21 908 ? 9898 1%

oral erde { ge 06E'E ve

0/o ur i | IM EEK, BB 2oyod uodgunyıouoag -U9IMOL Ihn zeBostrtr

"3unf[2]ssJy2ay] "cz aII2q®L

041 98 0% 867 eg'Tg

001 &9

16} In Rs 667 Gec cC'9Z 001 99

\ 5% x x sr h jeleie; 099 GeTZ 07 06 ss 06

\ °C v6r c0'1% 89 001 G8 0<1

Y6r ggg 086 64 09T GC & 23 geg 099 or IE Ss 07

II I

ajaaqıpedsg AULAUACH |

40 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Tabelle 25. la Temperatur Nereleiele Abweichung wellenlgn. optisch thermoel. 660/500 121°) | 560 | 3,8%, 660/480 | 1466 ° | 1a | 20 | 0,89%, 660/460 | = = 1444 9 | 3300 | 2,2% Tabelle 26. -gleichs- Temperatur Vergleichs pP Nbegiahunst: wellenlgn. optisch thermoel. 660/500 1616 ° | 82° 4,9007 660/480 1693 ® 1698 59 0,3% 660/460 16890 | 0,6% | 1666 9 | 320 | 20%

In diesen beiden Tabellen ist der unsichere Wert für 500 u (siehe

Tab. 23) benützt.

Es sind deshalb noch die Temperaturen berechnet, wie

sie sich unter Auslassung dieses schlechten Wertes ergeben.

Tabelle 27. 'gleichs- Temperatur Vergleichs pP Hakan wellenlgn. optisch | thermoel. 660/460 | = 660 480 1466 © | age | le | 0,8%, | 1468 © | eo | 0,8%, Tabelle 28. gleichs- Temperatur Vergleichs pP Bohlen wellenlgn. optisch | thermoel. | ne {) 0 60 660/460 1689 1698 0 9 0, 'o 660/480 16950 | —.901708%9 | ED © 1698 ® | a 0,5% [}

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 41

Nebenbei konnte aus den Werten der Tabellen 17 und 23 die schwarze Temperatur der Nernstlampe (bezw. der Mattscheibenstrahlung)

berechnet werden, Tabelle 29. Schwarze Temperatur der Nernstlampe aus Tabelle 17.

Vergleichs-

® Temperatur abs. wellenlängen 5

660/480 | 23840 660/500 | 23550 | 23690 als Mittel

Tabelle 30. Dasselbe aus Tabelle 23.

N SEISAIE Temperatur wellenlängen 660/460 229% 660/480 22958

| 2297 abs, als Mittel

Der zweite Wert weicht vom ersten um 72°, bezw. 3 °/, des ersten Wertes ab. Aus beiden ergibt sich ein Mittelwert von 2333 ° abs. oder 2060 ® Celsius. Die wirkliche Temperatur muß höher liegen, da die Strahlung der Nernstlampe nicht „schwarz‘‘ ist. Es möge nochmals er- wähnt werden, daß dieser Wert für 200 Volt gilt.

Tabelle 31.

at Intensitätsverh. =) Fern- Spaltbr. r 5 De rohr 1 | As I II en ae as Beben in 0% z - E 40 | 11,7} 6,0 Sl Eee 22 210,93 ? rer , 1 [$7- = > 37,40 ] 660 | 556 so lısol 29 | 3,750| 3,585 319 leicht ya N Rechts 3 6,6100] 4,0 | 0,066 | 2 1263 32,20 | 556 | 494 99/150| 11 | 0,066 0,066 360 schwer I lan [11,61 40 | 2,3 | 3,448] - 1307 3 k 50 2 ER) a 3,01: Aa 15921960 eis neun en] 3:6e. |. 3249 sus Eee Peaslass las, | 10004] 22 | 0,052] 055] 226 RE, 06 = 122° [1150 7,7), Ra,eslı (0,0521 7291247

43 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Zuletzt wurde noch eine Messung bei geringerer Helligkeit ausgeführt. Die erste Nernstlampe brannte bei 180 Volt. Es konnten nur drei Punkte der Helligkeitskurve bestimmt werden, da im kurzwelligen Ende die Intensität zu schwach war. Um festzustellen, ob mit einer geringeren Anzahl von Einstellungen auch brauchbare Resultate erzielt werden können, wurden statt je fünf Einstellungen nur zwei gemacht. Die Messungen sind bei 6 mm Spaltabstand ausgeführt.

Tabelle 32.

| © log H a log Hx | log Hx | log Hi log R og Hi oh | es Rechtsst.| Linksst. | Mittelw. | Red. Fakt. ! reduz. 660 4,000 4,000 4,000 Sat 0,154 | 3,846 | 0,959—2| 4,887 493 3,360 3,270 BE 0,307 | 3,622 | 0,632—1| 3,990

Der Vergleich zwischen Nernstlampe und schwarzem Körper (bei 1709° abs.) mittels des Spektralphotometers von König-Martens lieferte folgende Vergleichswerte

A 2 log tg «

660 0,997 500 0,605 480 0,562 460 0,510

Hieraus wurde der zu A = 493 (un gehörige Wert von 2 log tg &

interpoliert. Tabelle 33.

A | log Ja 2 log tg «| log 5 660 | 4,887 | 0,997 | 5,584

495 3,990 | 0,590 4,580

Die Temperatur ergibt sich daraus zu 1678 ° abs., während die mit dem Thermoelement gemessene Temperatur 1709 ° betrug. Die berechnete Temperatur war also um 31 °, bezw. 1.9 %, der gemessenen zu niedrig.

Für die schwarze Temperatur der Nernstlampe bei 180 Volt erhält

man aus Tabelle 31 9123 ° absolut gemessen.

I. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 43

Die Abweichungen der optisch bestimmten Temperaturen von den thermoelektrisch gemessenen Werten betragen 0,5 bis 1,9 °/,. Sie dürften sich auf 1 °/, reduzieren lassen, wenn größere Helligkeiten zur Verfügung stehen; denn im violetten Ende wurde die Genauigkeit der Einstellungen nicht nur durch die Fluoreszenzerscheinungen im Auge, sondern auch durch die geringe Helligkeit beeinträchtigt. Gerade während der Messungen, bei denen der Fehler die Größe von 1,9 °/, erreicht, brannte die Nernstlampe bei 150 Volt, gab also wenig Licht. Die Einstellungen im kurzwelligen Teile des Spektrums waren infolgedessen sehr ermüdend. Außerdem steht zu vermuten, daß bei größerer Helligkeit die störenden Fluoreszenz- erscheinungen nicht mehr so in den Vordergrund treten werden.

Hätte der „schwarze Körper‘ direkt photometriert werden können, so hätte man bei viel größeren Helligkeiten messen können, weil dann die stark absorbierende Mattscheibe in Wegfall gekommen wäre. In der Praxis, bei der Messung von Hochofentemperaturen, kann die strahlende Öffnung groß genug gemacht werden, so daß genügende Helligkeit vorhanden ist. Eine Bedingung für die Brauchbarkeit dieses Pyrometers ist, daß die Emp- findlichkeit des Beobachters konstant ist. Um über diesen Punkt Aufschluß zu erhalten, stellte der Verfasser Kontrollmessungen an, die sich über die Zeitdauer der übrigen Messungen verteilten. Es wurden an verschiedenen Tagen, und am selben Tage zu verschiedenen Zeiten, ein und dieselben Messungen ausgeführt; es zeigte sich, daß die Empfindlichkeit sich mit der Zeit nicht änderte. So ergab z. B. die Einstellung bei gleich breiten Spalten auf gleiche Helligkeit folgende Resultate:

NO 568,0 pi ..... 608,4 py | Rechts- 2 10H092. 2 7 567.00 I 607,0 ir J stellung NOIR: 569,7 pi ..... 613,6 gun \ Links- 4.10.09. 2..,.: 570,00 0 2. 614,0 ir S stellung

Dabei dürfen natürlich nicht die Resultate für Rechtsstellung mit denen für Linksstellung verglichen werden,

Zusammenfassung der Resultate.

1. Es wurde die Helligkeitsempfindlichkeit des Auges für Spektralfarben unter Benützung der genau bekannten Intensitätsverteilung des elektrisch geglühten „schwarzen Körpers‘ ermittelt. Die Anwendung des Flicker- prinzips auf Spektralfarben, die bisher nicht möglich war, gestattete gegen- über den bei früheren Untersuchungen angewandten Methoden eine große Genauigkeit bei den Einstellungen. Dieser Teil der Arbeit ist im wesent- lichen eine Wiederholung der noch nicht veröffentlichten Untersuchungen von O. Stiller. Ferner wurde gezeigt, daß die erhaltene Kurve die Emp- findlichkeitskurve der Zapfen darstellt, daß man bei der vorliegenden Ver- suchsanordnung also von der Helligkeit unabhängig ist, d. h., daß das Purkinjepbänomen die Messungen nicht störend beeinflußt. Ebenso wurde

44 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

nachgewiesen, daß die Helligkeitsempfindlichkeit des Auges (für die fovealen Teile) sich von einem Tage zum andern nicht merklich ändert. Daraus folgte bei Anwendung kleiner Felder die Brauchbarkeit des Lummer- Pringsheimschen Flickerphotometers als Pyrometer.

2. Es wurde bei zwei verschiedenen Helligkeitsstufen die Temperatur des „schwarzen Körpers‘‘ auf optischem Wege und gleichzeitig mit dem Thermoelement bestimmt. Die aus den photometrischen Einstellungen be- rechneten Temperaturen wichen von den thermoelektrisch gemessenen um 0,5 bis 1,9 %, ab. In der Praxis bei der Bestimmung von Hochofen- temperaturen dürfte sich der Fehler auf 1 %, reduzieren lassen,

AI eshiller B = -o-- A. König.(h)

E20: Langleyr

\ da 2 HaEbenn bee nr Aakünige

Ge onspElügen:

II. Abteilung.

400 500

Fee

Naturwissenschaftliche Sektion.

45

_oLinkskurve x Rechrskurve

reduzierte optische Helligkeit.

}Tabele io.

\ Tabelle 19

600

Figur 2.

zo

46

400

Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Phys. Intensität. -— Empfindlichkeit.

a

Linksstellung.

=

10

500 600 TooAm

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion.

—x— 0.Stiller

—o-—£Thürmel.

500 600 700 +4

47

48 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Über Corycavin.

Von 0. Gaebel.

Dissoziationszustand in geschmolzenen Salzen.

Von

0. Sackur. Sitzung am 20. April 1910.

Die höheren Schichten der Atmosphäre und die Mittel zu ihrer Erforschung.

Von G. von dem Borne.

Löslichkeitsbeeinflussung und chemische Lösungstheorie.

Von

W. Herz.

Sitzung am 22. Juni 1910.

Der aörodynamische Widerstand durchbrochner Flächen. Von

G. von dem Borne.

Über die Abhängigkeit der Strahlung einer Bunsen-Platte vom Strahlungswinkel (nach gemeinschaftlich mit Fr. Reiche ausgeführten Versuchen).

Von 0. Lummer.

Sitzung am 13. Juli 1910,

Über Corydalisalkaloide, welche zum Apomorphin in Beziehung stehen.

Von J. Gadamer.

Im Jahre 1901 habe ich in einer umfangreicheren Arbeit über Cory- dalisalkaloide die bis dahin bekannten und von mir neu aufgefundenen

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 49

Basen in drei natürliche Familien geteilt, die des Corydalins, des Cory- cavins und des Bulbocapnins. Die pharmakologische Untersuchung durch Peters hat die Richtigkeit dieser Einteilung bestätigt. Die Corydalin- gruppe (Corydalin, Corybulbin und Isocorybulbin) ist gut durchforscht. Auf verschiedenen Wegen ist von Dobbie und Lauder einerseits, von mir andrerseits die Zugehörigkeit zum Berberin erwiesen worden und die Konstitution der Basen bis auf Geringfügigkeiten klargestellt. Aus der Coryeavingruppe hat Herr Dr. Gaebel das Corycavin bearbeitet und über seine Ergebnisse im letzte: Winter in dieser Gesellschaft berichtet, Die Bulbocapningruppe umfaßt drei Alkaloide: Bulbocapnin, Cory- tuberin und Corydin. Ersteres hat vor etwa 3 Jahren Herr Fritz Kuntze zu bearbeiten begonnen, während die letzten beiden Alkaloide von mir studiert worden sind.

Die bei den drei Alkaloiden vermuteten Beziehungen sind aus ihren Formeln nicht ohne weiteres abzuleiten, wie folgende Gegenüberstellung lehrt:

; OCH Bulbocapnin C,,H,, NO, =C,,H,N | (OB), (OCH, ) Corytuberin C,, H,, NO, = C,H, N (ON), : OCH Corydin C,,H,, NO, —=C,H,N = >

Das allgemeine chemische Verhalten war aber derart, daß an ihrer Zusammengehörigkeit nieht wohl gezweifelt werden konnte; beim Bulbo- capnin und Corydin ist die Ähnlichkeit scheinbar so groß, daß man sich versucht fühlt, das Corydin als einen Bulbocapnindimethyläther anzu- sprechen,

Die von Herrn Fritz Kuntze in Angriff genommene Untersuchung des Bulbocapnins zerstörte aber sehr bald diese Illusion. Die von Freund und Josephi aufgestellte und von Ziegenbein gebilligte Formel stellte sich als falsch heraus. Die im Bulbocapnin auf Grund von Analysen des Acetylierungsproduktes angenommenen drei Hydroxylgruppen existieren nicht. Bulbocapnin enthält nur eine Hydroxylgruppe. Nach der von Gaebel ausgearbeiteten Methode ließ sich hingegen neben einer Methoxyl- gruppe eine Dioxymethylengruppe nachweisen. Dadurch erfährt die Formel

OCH, des Bulbocapnins eine Umwandlung in C,, H,, N Le: OH

Wie läßt sich damit das von Ziegenbein beschriebene 'Triacetyl- bulbocapnin vereinbaren? Die Nachprüfung ergab, daß beim Kochen von Bulbocapnin mit Essigsäureanhydrid nur ein Diacetyl-Bulbocapnin entsteht, und zwar ist dieser Körper im Gegensatz zum Ausgangsmaterial optisch

1910. 4

50 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur,

inaktiv und kaum noch basisch. Letztere Tatsache, die an sich befremdend ist, Konnte nur durch eine Konstitutionsänderung erklärt werden, und ein Diacetyl-Derivat war nur durch Antritt einer Acetylgruppe an den Stick- stof denkbar. Da Bulbocapnin aber eine tertiäre Base ist, konnte die Veränderung nur in einer Aufspaltung des stickstoffhaltigen Ringes bestehen. Die dabei zu beobachtende Inaktivierung ließ darauf schließen, daß die Lostrennung des Stiekstoffs am asymmetrischen Kohlenstoffatome stattfinden mußte.

Ganz ähnliche Verhältnisse hat Psehorr beim Apomorphin beohachtet. Es wird notwendig sein, auf diese wichtigen Arbeiten Pschorrs mit einigen Worten einzugehen. Nach Pschorr ist das Apomorphin ein Phenanthrenderivat (I, 1) von der Konstitution der Formel 2 Tafel I. Obwohl nur zwei Hydroxylgruppen vorhanden sind, liefert Apomorphin beim Kochen mit Benzoylchlorid ein Tribenzoylapomorphin (I, 3), das im Gegensatz zum Apomorphin selbst optisch inaktiv ist. Beim Verseifen werden nur 2 Benzoylgruppen leicht abgespalten. Bei der Oxydation entsteht ein Chinon, das sich durch o-Diamidobenzol in ein Azin über- führen läßt. Damit war das Chinon als o-Chinon charakterisiert, und die Vermutung lag nahe, daß ein Phenanthrenderivat vorliege. Den Beweis für diese Annahme hat Pschorr erbracht, indem er das Apomorphin vollständig methylierte (mit Dimethylsulfat in wässrig-alkalischer Lösung). Durch Kochen mit Natronlauge entsteht daraus eine Methinbase (I, 4), die, von neuem methyliert, mit Natronlauge Trimethylamin und einen stickstoff- freien Rest liefert, welcher sich als ein 3-4-Dimethoxy-S-vinyl-Phenanthren (1,5) erwies, da es, mit Zinkstaub destilliert, ein &- Aethylphenanthren (I, 6) und, mit Kaliumpermanganat oxydiert, eine 3-4 Dimethoxy -8-phenanthren- carbonsäure lieferte (1,7). Auf die Wiedergabe der näheren Beweis- führung für die Stellung der Gruppen muß verzichtet werden. Es möge der Hinweis genügen, daß die bekannte Konstitution des Papaverins (V, 1) mit Berücksichtigung der Tatsache, daß Alkaloide einer Pflanze in gene- tischer Beziehung zu stehen pflegen, bei den Erwägungen eine wichtige Rolle gespielt hat.

Die jetzt ermittelte rationelle Formel des Bulbocapnins (Tafel II) OCH,

CE SeN > CH, läßt nun die Annahme zu, daß sich Bulbocapnin und OH Apomorphin von derselben Muttersubstanz C,. H,, N ableiten. Die von Herrn Fritz Kuntze ausgeführten Untersuchungen haben nun in der Tat ergeben, daß diese Annalıme berechtigt ist. Zwar gelang es nicht, das durch Oxydation mit Chromsäure aus Dibenzoyl-Bulbocapnin (III, 1) er- haltene Chinon in reinem Zustande zu isolieren; auch konnte nicht das davon sich ableitende Azin erhalten werden; wohl aber gelang es, durch

U. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 51

erschöpfende Methylierung (III, 2) zu völlig analogen Verbindungen wie beim Apomorphin zu gelangen (Ill, 3 und 4). Durch Methylierung mit Diazomethan hat Herr Kuntze den Bulbocapninmonomethyläther erhalten, der übrigens große Ähnlichkeit mit dem Corydin zeigt. Durch Oxydation mit alkoholischer Jodlösung gelang es, diesem Körper 4 Wasserstoffatome zu entziehen. Es entstand ein intensiv gelb gefärbter Dehydrobulbocapnin- monometlyläther (III, 5), der ganz an das Berberin erinnerte. Er war optisch inaktiv. Durch Reduktion entstand r-Bulbocapninmonomethyläther (III, 6), der sich mit Hilfe der Bitartrate in d- und l-Bulbocapninmono- methyläther spalten ließ. Das Monobenzoylbulbocapnin verbielt sich ähnlich. Es steht zu hoffen, auf diese Weise zu dem Antipoden des natürlichen Bulbocapnins zu gelangen.

Im Bulbocapnin ist somit die erste naturelle, zum Apomorphin, einem Kunstprodukt, in nächster Beziehung stehende Base aufgefunden worden. Die Stellung der Seitenketten ist noch nicht sichergestellt. Durch Ana- logieschlüsse läßt sich folgern, daß sich die Dioxymethylengruppe in der 5.6. Stellung befindet, da Berberin und vor allem Hydrastin und Nareotin an dieser Stelle dieselbe Gruppe tragen. Hydroxyl und Methoxyl stehen dann wohl sicher in 3-4. resp. in 4-3. Stellung (Tafel II, 2).

Corytuberin und Corydin.

Die trefflichen Erfolge beim Bulbocapnin verdunkelten zunächst scheinbar die Aussichten für die Erforschung des Corytuberins und Corydins. (OCH, ),

(OH), zum Bulbo-

Zwar trat das Corytuberin mit der Formel C,, H,, N

OCH,

A0) ; E capnin mit der Formel C,, H,, N Kor CH, in nähere Beziehung; dafür aber

ÖH e : (ÖOCH rückte das Corydin mit der Formel C,, H,, N Sn ») abseits. Es wurde daher zunächst das Corytuberin, für das eine neue, sehr bequeme Gewinnungsweise gefunden wurde, näher studiert, ein sehr glücklicher Umstand, wie sich bald herausstellen sollte. Durch recht zeit- raubende Untersuchungen wurde gefunden, daß auch die Corytuberinformel (OCH,), (OH), (Tafel II) umgewandelt werden. Damit tritt Corytuberin zu Bulbocapnin und Apomorphin in nächste Beziehung; es leitet sich von derselben Mutter- substanz C,, H,, N (Tafel II) durch Eintritt zweier Methoxyl- und zweier Hydroxylgruppen ab. Durch Erhitzen mit Benzoylehlorid entstand ein in- aktives Tribenzoylcorytuberin (IV, 1), das, mit Chromsäure oxydiert, ein noch nicht rein erhaltenes Chinon lieferte (efr. Apomorphin).

vom Bulbocapnin

einer Revision bedurfte Sie muß in C,,H,, NO, = C,,H,,N

4*

52 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Einige Schwierigkeiten machte die Methylierung. Mit Dimethylsulfat in alkohol-alkalischer Lösung gelang es nicht, beide Hydroxylgruppen zu methylieren. Das Reaktionsprodukt war zwar am Stickstoff methyliert, von den beiden Hydroxylgsruppen konnte aber im besten Falle eine methyliert werden. Es wurde daher die Methylierung mit Diazomethan versucht. Der Erfolg war auch hier nicht der gewünschte. Wurde das im Äther suspendierte Corytuberin mit Diazomethan behandelt, so trat reichliche Stickstoffentwickelung ein. Die Base löste sich aber nicht völlig auf. Als die Einwirkung aufhörte, waren etwa 40%, ungelöst. Die Untersuchung ergab, daß dieser Teil am Stickstoff und an einem Sauer- stoff methyliert war. Die ätherische Lösung enthielt zwei Monomethyl- äther, von denen einer sich mit dem natürlichen Corydin (IV, 7) identisch erwies, während der andre in seinen Eigenschaften lebhaft an das Bulbocapnin erinnerte. Letzterer soll als Isocorydin (IV, 6) bezeichnet werden. Damit war auch für das Corydin, das übrigens kristallographisch interessant ist es ist auch im festen Zustande optisch aktiv —, eine Revision der (OCH, ); OH umgewandelt werden. Die früher ausgeführten Analysen stimmen nicht schlecht mit dieser Formel überein. Nur die vermuteten Beziehungen zum Bulbocapnin und die falsche Formel der letzteren hatten zur Aufstellung (OCH, ); OH

Eine Methylierung beider OH-Gruppen des Corytuberins war also auch mit Diazomethan nicht erreicht worden. Wurde das Lösungsmittel Äther durch Amyl- oder Isobutylalkohol ersetzt und die Base als Chior- hydrat angewendet, so gelang die Methylierung auch des zweiten Hydroxyls, aber mit sehr schlechter Ausbeute. Die Ursache ist wohl darin zu er- blicken, daß eine OH-Gruppe mit dem Stickstoff ein inneres Salz bildet, also gar nicht als solche vorhanden ist.

Eine vollkommene Methylierung von Sauerstoff und Stickstoff wurde erst unter Berücksichtigung dieser Hypothese erreicht, als die Methylierung mit Dimethylsulfat möglichst in neutraler Lösung vorgenommen wurde. Zu dem Zwecke wurde die wässrige Lösung mit Dimethylsulfat und so viel Natronlauge versetzt, daß eben alkalische Reaktion bestand und nach Verschwinden der letzteren immer wieder Alkalilauge bis zur alkalischen Lösung zugesetzt. Die Ausbeute war so quantitativ. Der weitere Abbau nach Hofmann verlief glatt. Durch Kochen mit Natronlauge wurde eine Methinbase (1V, 2) erhalten, welche von neuem metlıyliert und mit Natron- lauge erwärmt Trimethylamin und Tetramethoxyvinylphenanthren (IV,5) lieferte. Letzteres gab, oxydiert, eine Carbonsäure (IV,5) und mit Zinkstaub reduziert dasselbe «-Ätlıylphenanthren (1V, 4), das Pschorr in analoger Weise aus Apomorphin erhalten hatte.

Formel notwendig. Sie mußte in C,, H,,;, NO, = C,H, N

der Formel C,,H,,;, N geführt.

on =

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion.

Beim Corydin hatte ich früher beobachtet, daß es mit alkoholischer Jodlösung erhitzt einen kristallisierten Körper gab, den ich damals nicht isolieren konnte. Nach Abänderung des Verfahrens macht das jetzt keine Schwierigkeiten mehr. Es handelt sich wieder um einen gelben, berberin- artigen Körper, ein Dehydrocorydin (IV, 8), der reduziert ein r-Corydin (IV, 9) liefert, das sich mit Weinsäure in d- und l-Corydin spalten läßt. Das Isocorydin verhält sich alkoholischer Jodlösung gegenüber wie Bulbocapnin. Eine Dehydroverbindung entstelit nicht, sondern nur dunkelgrüne Massen, die vermutlich ehinlıydronartiger Natur sind. Es läßt sich daraus schließen, daß im Isocorydin die Hydroxylgruppe an derselben Stelle steht wie beim Bulbocapnin, ob in 3 oder 4 läßt sich nicht mit Sicherheit entscheiden. Jedenfalls, wenn bei Isocorydin OH in 4-Stellung steht, so steht es bei Corydin in 3-Stellung und umgekehrt. Die Oxydierbarkeit des Corydins zu einem Dehydrocorydin unter Bedingungen, die beim Bulbocapnin und Isocorydin zu chinhydronartigen Verbindungen, die Freisein der p-Stellung voraussetzen, führen, läßt im Corydin für die Methoxylgruppe die 4-Stellung walırscheinlich erscheinen.

Im Corytuberin stehen vermutlich die beiden Hydroxyle in 3-4-Stellung, wie bei Apomorphin. Die älınliche physiologische Wirkung läßt das vermuten. 5-6-Stellung ist zwar auch möglich, doch weniger wahrschein- lich, weil im Bulbocapnin die Dioxymethylengruppe an dieser Stelle steht und dieses mit dem Isocorydin auffallende Ähnlichkeit aufweist. Daß aber die Hydroxylgruppen benachbart sind, ist nach dem ganzen Verhalten des Corytuberins leichte Oxydierbarkeit durch den Luftsauerstoff unter Schwarzfärbung mit Sicherheit anzunehmen. Zweifelhaft bleibt nur, ob überhaupt als Substitutionsstellen 3, 4, 5 u. 6 in Frage kommen. Ein Beweis für die an sich nach den genetischen Beziehungen höchst wahr- scheinliche Annahme könnte vielleieht mit Hilfe des Papaverins erbracht werden. Pschorr hat Papaverin (V,1) in ein Phenanthrenderivat über- geführt, das, sofern meine Annahme richtig ist, r-Corytuberindimethyläther sein müßte. Ich habe daher diese Synthese nachgearbeitet und im wesent- lichen die Angaben von Pschorr bestätigen können. Den Gang der Synthese lehrt die Tafel V,3—7. Eine Abweichung von der Vorschrift Pschorrs habe ich nur bei der Isolierung des Endproduktes eintreten lassen, die mir geboten schien, da mir der Corytuberindimethyläther in seinen Eigenschaften bekannt war. Die Ausschüttelung der Base wurde mit Äther statt mit Chloroform, das reichlicher Nebenprodukte aufnimmt, vorgenommen. Beim Verdunsten des Äthers verblieb ein gelbroter Sirup, der nicht kristallisierte.e Auch der Corytuberindimethyläther kristallisiert nicht (oder jedenfalls sehr schwer). Letzterer gibt aber mit l-Weinsäure ein gut kristallisierendes Bitartrat. Ich habe daher die erhaltene, synthe- tische Base auch in das Bitartrat verwandelt, ohne jedoch eine Kristalli- sation erzielen zu können. Die Hofinung, die schon vielfach bewährt

54 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

gefundene Methode der fraktionierten Sättigung mit darauf folgender Aus- schüttelung durch Äther auch hier mit Erfolg anwenden zu können, hat sich nur in bescheidenem Umfang erfüllt. Eine Kristallisation ist zu ver- zeichnen; jedoch war die Ausbeute zur erfolgreichen Identifizierung bisher nicht groß genug. Eine interessante Beobachtung aber wurde dabei gemacht: Die am stärksten basischen Fraktionen enthalten einen gelben, berberinartigen Körper, der möglicherweise ein Dehydrocorytuberindimethyl- äther ist. Es ist daher des weiteren versucht worden, diesen zu reduzieren. Ich hoffte auf diese Weise den r-Corytuberindimethyläther zu erhalten und diesen in seine Komponenten spalten zu können.

Diese Hoffnung hat sich bisher nicht erfüllt. Hingegen ist es gelungen, aus den mittelstarken Basen mit d- und 1l-Weinsäure äußerst schwer lösliche Bitartrate einer Phenolbase, vermutlich Oxylaudanosin, zu erhalten.

Es muß daher versucht werden, durch Abänderung der Versuchs- bedingungen zum Ziele zu gelangen. Eines steht aber heute schon fest: Die Alkaloide der Bulbocapningruppe (Il, 2—4) sind in der Natur vor- kommende nächste Verwandte des nur künstlich aus Morphin durch Wasserabspaltung dargestellten Apomorphins. Im Opium ist nach solchen Basen bisher vergeblich gesucht worden, und es ist wohl möglich, daß keine Apomorphin-Verwandten im Opium enthalten sind. Die dem Papaver somniferum nahe verwandte Corydalis cava springt in die Bresche ein und lehrt so, daß das Apomorphin, obwohl ein Kunstprodukt, doch im Grunde genommen ein echtes Pflanzenalkaloid ist; nur ist der pflanzliche Chemiker, der uns sonst weit überlegen ist, bei seiner Synthese nicht bis zum Apomorphin gekommen, sondern beim Morphin stehen geblieben. Zum Schluß möchte ich noch darauf hinweisen, wie grade die Synthese von Pschorr die Beziehungen der Familienalkaloide erkennen läßt. Diese treten auch bei den Alkaloiden der Corydalingruppe der Bulbocapningruppe gegenüber auf. Schreibt man die Corydalinformel V, 8 etwas abweichend, wie in V,9 geschehen ist, so tritt die Analogie zum Corytuberindimethyl- äther deutlich hervor. Alle diese Tatsachen weisen für diese Alkaloide auf dieselbe Muttersubstanz hin.

Von der Ansicht ausgehend, daß nur ein erschöpfendes Studium zu- nächst einer alkaloidbildenden Pflanze auf den Weg zur Erkenntnis in der Frage: „Welche Rolle spielen die Alkaloide in biologischer Beziehung in der Pflanzenwelt‘ führen könne, widme ich dem Studium der Corydalis cava, die wegen ihres reichen und mannigfaltigen Alkaloidgehaltes besonders für diesen Zweck geeignet erscheint, schon mehr denn 10 Jahre und beabsichtige ich, die in größerer Menge auftretenden, noch nicht einmal der Zahl nach erschöpfend erkannten Alkaloide meinen weiteren Forschungen zu unterwerfen.

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion, 55

Tafel I. 1 % 3 N: Non Nowen.co wi, e PEN OH n 0 (C,H, CO) We a | N) A. nn? Een, N Phenanthren. Moor 6,HLCO F Tribenzoyl-Apomorphin. 4 5. 6 meet (\ Paus; = n OCH, % | En: eV mo:H0/ V 1-7 \ H

CH,

3. 4. Dimethoxyvinyl- &% Aethyl (8 Apomorphimethindimethyläther. En nd)

phenanthren, phenanthren. T. © OCH, N w A Hooc/ V

3. 4. Dimethoxy (8) phenanthrencarbonsäure.

56 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Bulbocapnin .

Corytuberin Corydin

Apomorphin

Muttersubstanz

C,H, ;N

C,H, N (OH), GrHızN.

2 8. 4 | I N on BE: N . Jou x 08 x JocH, ee N lo H > vn H vi.

Bulbocapnin. Cerytuberin. Corydin.

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 57

Tafel II. i 2 No (CH, CO) ) OCH, | x FWOCH OCH vn ne U L ) % ) ) CH, | > CH, O2 > CH, SEEN (0) NS HH 0) NeoeoN ee „7 Ss lelel Zah 1El CH,CO CH, Diacetylbulbocapnin. Bulbocapnimethin- methyläther. 3 4. AN OCH, f OCH, N ey Och, | | NS VAL | | > | mom/ Y nooc/ Y Dimethoxydioxymethylen- Dimethoxydioxymethylen- Vinylphenanthren. Phenanthrencarbonsäure. 5 6. N oc, AN oc, OCH OCH BEN x H,, u I I Ei nn /N/N o NN’ N0 ER ezce le | NN NN er Dehydrobulbocapnin- methylätherjodid. r. re:

ss

58 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Tafel IV. 2.

1 % Yon 2 ) OCH, IS 27) LS OCH, ) >) NN oc NeoNeE wor ıv RR ZEHeH Zu HE 0,H,C0 CH, Tribenzoylcorytuberin. Corytuberimethin dimethyläther. 62 L | OCH, 4. ® “= va OCH, . | oe Ss u 0-0 / V Tetramethoxyvinylphenanthren & Aethylphenanthren. 2 £ ) OCH, x / oc N nn nr Is %) a 3 | OCH, a OCH, may "Na Tetramethoxyphenanthren- H, carbonsäure. Isocorydin. ! 4 Ye > @ an a OH 1 =, en = Fe n a % J / nz m OCH, CH,—N ARE: NN OCH, H, nn OCH, Am H, NV OCH, H H, d. Corydin Dehydrocorydinjodid. r-Corydin

N.

I. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 59

Tafel V. Nom

BON Nass |

a och CH, N Ya NVAyAL: u) 00%, H, Papaverin Laudanosin 4, Noca, F Yo oCH "oCH EN ; ze! ; H,C HC (ni, BEN / ; NN Nocn, CH,N iR HM Nitropapaverinchlor- r-Amidolaudanosin. methylat. 7 7 AR Noecs, H,C0 ( ) \ Jocm, m.col | 3 ze Anz | Bin BE.N, Yoon NK a Noch LA ICH, \ ) OCH, H, H,

r- Corytuberindimethyl- aether.

3, om 'OCH H,C N : nINTN och, /OCH DNaNZ

Nitropapaverin.

s N OCH, |

ON H "x Noch, OCH,

9. Y oc, & N OCH,

H-C-CHs

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Corydalin.

60 Jahresberieht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Über Strömung von Gasen um Hindernisse (mit Demonstration).

Von G. von dem Borne.

Über die Abbe’sche Theorie der mikroskopischen Abbildung (mit Demonstrationen), I. Vortrag.

Von 0. Lummer und Fr. Reiche.

Sitzung am 20. Juli 1910.

Über die Abbe’sche Theorie der mikroskopischen Abbildung (mit Demonstrationen). II. Vortrag. Von

0. Lummer und Fr. Reiche. Sitzung am 26. Juli 1910.

Über Razemisation. Von J. Gadamer.

In einer 1901 veröffentlichten Studie über die Beziehungen des Hyos- cyamins zu Atropin und des Scopolamins zu i-Scopolamin habe ich gezeigt, daß die Razemisation des Hyoscyamins und Scopolamins, Estern der l-Tropa- säure, auf einer Razemisation dieser Säure unter dem Einfluß von Hydro- xylionen beruht. Im Gegensatze zu diesen Estern der Tropasäure erwies sich die l-Tropasäure unter denselben Bedingungen Einwirkung alko- holischer Kalilauge bei niedriger Temperatur völlig beständig. Ich habe damals in Aussicht gestellt, nachzuforschen, ob andre Ester der Tropasäure, wie der Äthylester, dem Beispiel der Tropasäure oder dem der genannten Alkaloide folgen würden. Meine Absicht blieb unausgeführt, bis mich vor 3 Jahren eine Arbeit von Emde anregte, mich von neuem mit der Frage der Razemisation zu beschäftigen. Emde erklärte den Übergang des Ephedrins in Pseudoephedrin unter dem Einfluß von Salz- säure auf Grund der von J. v. Braun erkannten Regel der leichten Ab- spaltbarkeit eines Stickstoffatoms von einem Kohlenstoffatom, das mit einem andern Kohlenstoffatom durch Äthylenbindung verknüpft ist, nach

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 61

folgendem Schema für möglich und begründete darauf die Strukturformel des Ephedrins: CH, CH,

a En | H Er | Bl nd N CH, CH, C, H, C, H,.

In einem kurzen Aufsatze (1908) habe ich mich gegen diese An- schauung mit der Begründung gewandt, daß 1. für Inversion von asymme- trischen Kohlenstoffatomen mit Alkoholhydroxyl viele Analoga bekannt seien, und daß 2. nach der Braunschen Regel wohl eine Abspaltung des Stickstoffkomplexes denkbar sei, nicht aber eine Wiederanlagerung und damit eine Razemisation; denn für das Zustandekommen der Raze- misation sei notwendig:

„Durch Abspaltung eines Atoms oder eines Atomkomplexes wird das asymmetrische Kohlenstoffatom symmetrisch, bei der darauf folgenden Wiederanlagerung entstehen aber gleiche Mengen rechts- und linksdrehender Systeme. Der Vorgang, um den es sich dabei handelt, muß also eine Dissoziationserscheinung sein; die Reaktion muß reversibel sein.‘

Die von Braun beobachtete Metastabilität genannter Systeme ist aber kein Dissoziations-, sondern ein Zersetzungsvorgang.

Mit diesen Sätzen habe ich eine These aufgestellt, die nicht ganz mit den bisherigen Annahmen in Übereinstimmung steht. Nur die Fälle, in denen die Razemisation durch Tautomerie erklärt worden ist, würden auf Dissoziation zurückgeführt werden können, z. B.:

GH HM C,H, C,H, COOH N N OH N OH ESS HO COOH HO HO H

Mandelsäuren

Es gehören in dieselbe Kategorie wohl auch die Fälle von Razemi- sation, bei denen sie infolge Konstitutionsänderung am asymmetrischen Kohlenstoflatome eintritt, wenn also z. B. obige Mandelsäure durch Ein- wirkung von Halogenwasserstofl inHalogenphenylessigsäure übergeführt wird.

G,H, H Es liegt auf der Hand, daß infolge Abspaltung von fa =

BG OH das asymmetrische © (in Zukunft C* bezeichnet)

Cx symmetrisch wird und bei der Anlagerung von Halogen für

die Bildung der d- und 1-Verbindung gleichartige Be-

hlg COOH dingungen vorliegen.

62 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Sehen wir zunächst von anderen Fällen ab, die nicht in die obigen Kategorien fallen und betrachten wir die Verhältnisse bei der Tropasäure, (die auf meine Veranlassung Herr Max Kuntze untersucht hat.

Herr Kuntze hat zunächst festgestellt, daß die Tropasäure selbst auf keine Weise razemisiert werden kann, weder durch Einwirkung von alko- holischem Kali bei gewöhnlicher Temperatur, noch durch Erhitzen mit Chinolin unter Bedingungen, die E. Fischer zur Umlagerung von Pentaoxy- capronsäuren benützte. Hingegen wurden Äthyl- und Benzylester mit derselben Leichtigkeit razemisiert wie Hyoseyamin und Scopolamin.

Die Frage war nun: Worauf ist dieser Unterschied zurückzuführen?

Die Annahme von Tautomerie wie oben bei der Mandelsäure war nahe-

liegend; aber weswegen tritt sie bei Estern der Tropasäure auf, nicht

aber bei ihr selbst? Eine Antwort habe ich darin gefunden, daß die

Tropasäure selbst ein Elektrolyt ist und entweder für sich oder unter dem H B

Einfluß von OH-Ion das Anion | %H; 0.000 bildet. Die Tropa-

CH,0OH säureester sind Nichtelektrolyte. Die Häufung der elektronegativen Kom- plexe aber befähigt sie, unter dem Einfluß von Hydroxylionen Elektrolyt- charakter anzunehmen. Mit anderen Worten, sie sind Pseudosäuren, Bei Gegenwart von Hydroxylionen liefern sie Anionen von der Struktur C,H, -C-COOR\ ( | )) Dabei wird das C* vorübergehend symmetrisch. OH Folge ist Razemisierung, die allmählich bei sämtlichen Molekeln stattfindet.

Bei Billigung dieser Deutung hätten wir es also bei den Tropasäure- estern mit elektrolytischer Dissoziation zu tun. In andern Fällen kann es sich um thermische Dissoziation handeln, obwohl diese Fälle mir nicht klar zu liegen scheinen. Die Tatsache, daß viele aktive Körper durch Erhitzen razemisiert werden, kann bisweilen vielleicht auch durch elektro- lytische Dissoziation gedeutet werden. Werner hat allerdings für die thermische Razemisation eine andere Theorie aufgestellt. Er nimmt an, daß durch Energiezufuhr die Eigenbewegung der mit dem asymmetrischen Kohlenstoffatom verbundenen Komplexe derartig gesteigert wird, daß ein Überschwingen in die entgegengesetzte Lage stattfände und dadurch Razemi- sation einträte. Am Modell läßt sich dieser Vorgang ausgezeichnet wieder. geben. Aber trotzdem glaube ich nieht an die Richtigkeit dieser Hypothese. Denn es widerspricht ihr die Tatsache, daß in praxi nicht alle optisch aktiven Körper durch Erhitzen oder unter dem Einfluß von Reagenzien -razemisiert werden können. Razemisierbar sind, soweit ich es verfolgen konnte, Körper, die am C* Wasserstoff oder Hydroxyl oder Halogen haben; also grade die ionenbildenden Atome oder Komplexe. Man könnte

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 63

sich also versucht fühlen, in allen diesen Fällen elektrolytische Disso- ziation für die Razemisation verantwortlich zu machen.

Da prinzipiell wegen des geringeren Energieinhalts der Razemkörper im Vergleich zu den aktiven Verbindungen jede der letzteren das Bestreben haben muß, in den Razemkörper überzugehen, muß man annehmen, daß bei praktisch nicht razemisierbaren Verbindungen die Dissoziationserschei- nungen so unendlich gering sind, daß in endlicher Zeit keine Razemisierung möglich ist. Dies wird z. B. für Verbindungen des Typus CR,R,R,R, (R = organisches Radikal) zutreffen. Theoretisch wird auch hier die Razemisation stattfinden, da, wenn auch die Neigung zur Dissoziation bei einem C C-System sicher gering ist, sie doch stattfinden kann, wie das System C,H, =3 C,H, beweist.

In diesen Tatsachen scheint mir ein Vorzug meiner Anschauung vor der Wernerschen Schwingungstheorie zu liegen; denn diese bringt den Unterschied zwischen schnell razemisierbaren Stoffen mit leicht dissoziablen Atomen oder Gruppen und unendlich langsam razemisierbaren mit minimal dissoziablen nicht zum Ausdruck.

Es gibt aber einige Fälle, die in meine Anschauung nicht hinein- passen; es handelt sich um die in dem Werke von Stewart-Löffller unter Razemisation als Folge von Konstitutionsänderung gebuchten oder doch darunter zu buchenden,

Das d-ac-Tetrahydro-3 Naphtylamin liefert bei der Kondensation mit Benzaldehyd oder bei der Azylierung mit Benzoyl resp. Acetyl zum aller- größten Teil Razemkörper, obwohl bei der Bildung der neuen Körper keines der am C* direkt stehenden Elemente eliminiert wird, z. B.

In einer späteren Mitteilung geben die Verfasser, Pope und Harvey, zwar zu, daß ihre damals angewandte Base ca. 60 °,, Razemkörper ent- halten habe; aber da die Ausbeute an kondensiertem Razemkörper ca. 95 °/, betrug, mußte doch noch Razemisation eingetreten sein. Pope und Harvey bemerken ferner, daß das aktive Benzyliden-Tetrahydronaphtalin beim Erlitzen beständig sei. Sie schließen daraus, daß die Razemisation

schon vor der Kondensation stattfände, und glauben die intermediäre Bildung

eines Körpers mit der Gruppe No, annehmen zu dürfen. So

E

wenig wahrscheinlich eine solche Konfiguration an sich ist, wäre ihr Zu- standekommen vielleicht doch auf ionentheoretischem Wege denkbar. Man

64 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

könnte annehmen, daß das Amin durch Wasseranlagerung die Ammonium- base gäbe und daß in dieser unter dem Einfluß des Hydroxylions der am C* befindliche Wasserstoff in den Ionenzustand übergegangen wäre, so daß eine innere Salzbildung angenommen werden müßte:

Wäre diese Annahme richtig, so müßte das d-ac-Tetrahydro-B-Naphty- lamin unter dem Einfluß von Hydroxylionen, z. B. alkoholischer Kalilauge razemisiert werden. Das ist aber, wie ich in Gemeinschaft mit Herrn Kuntze gefunden habe, nicht der Fall. Auch Wasserstoffionen sind ohne Einfluß. Es bleibt daher nur die Möglichkeit, daß entweder die für so einfach gehaltenen Reaktionen viel komplizierter sind, oder daß Pope und Harvey nicht richtig beobachtet haben. Wir sind dabei, das nach- zuprüfen und haben bereits festgestellt, daß die von Pope für rein gehaltene d-Base immer noch r-Base enthielt.

In meine Anschauung paßt ferner nicht die Tatsache, daß nicht in allen Fällen, in denen bei einer Reaktion ein Atomkomplex sich vom asymmetrischen Kohlenstoffatom ablöst und ein andrer dafür eintritt, Razemisierung zu verzeichnen ist. Den eklatantesten Fall bieten die Er- fahrungen Waldens an den Äpfelsäuren. Walden hat aus l-Äpfelsäure d-Halogenbernsteinsäure und daraus je nach dem Hydroxylierungsmittel bald I-, bald d-Äpfelsäure erhalten. Er hat also, mit andern Worten, nicht nur die Razemisation vermeiden können, sondern auch einen Anti- poden in den andern überführen können. Das ist mit der skizzierten Anschauung zunächst unvereinbar. Aber vielleicht ist doch ein Zusammen- hang zu konstruieren. Wenn ich vorhin sagte, daß bei der Abspaltung eines Komplexes von C* sofort Symmetrie einträte, so meinte ich damit folgendes. Die Richtung der Valenzen ist im Gegensatz zur gewöhnlichen Anschauung nieht von vornherein festgelegt. Man muß vielmehr mit Alfred Werner annehmen, daß sich die Valenzkräfte auf der Oberfläche des Atoms gleichmäßig verteilen (wie Elektrizität auf dem Konduktor) und daß erst bei dem Herantreten eines oder mehrerer Atome eine Orientierung stattfindet (wie bei der Entladung des Konduktors). Beim C werden sich entsprechend seiner Vierwertigkeit bei Antritt von 4 einwertigen Komplexen diese 4 Affinitäten nach den Ecken des Tetraeders, C im Schwerpunkt, anordnen, da sich die antretenden Komplexe so symmetrisch wie möglich werden stellen wollen.

Wird nun ein Komplex abgespalten, so verteilt sich die freiwerdende Affinität auf die Gesamtoberfläche, die drei am C haften bleibenden Komplexe werden sich symmetrisch nunmehr in einer Ebene anordnen, und wenn nun ein neuer Komplex X (X —= Elektron, Element oder Radikal)

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 69

die disponible Affinität bindet, hat er die Walıl oberhalb oder unterhalb der Ebene des Papiers anzutreten. Beides ist gleich leicht, daher erhalten wir einen Razemkörper.

R, KR, MR, R, R, R, N a N 02 N OR \ N EN

RER R X

oder

Die Razemisation findet damit eine einfache Erklärung. Aber wie soll man sich erklären, daß nicht immer in diesen Fällen Razemisation eintritt? Wie vor allem sind die Waldenschen Erfahrungen zu deuten?

Es ist nieht mit Sicherheit entschieden, ob die d-Brombernsteinsäure der l- oder der d-Äpfelsäure analog gebaut ist. Walden nimmt wohl mit Recht an, daß sie der l-Äpfelsäure entspricht. Unter dem Einfluß von Ag,0 (100 %,,), H,O, TIOH, Hg0, PdO entsteht überwiegend l-Äpfelsäure (normale Reaktion), unter dem von RbOH (100 °/,), KOH, NH,OH, Ca0, Ca (OH),, Ba(OH),, Pb(OH),, NaOH, Sn (OH),, LiOH überwiegend d-Äpfel- säure (unnormale Reaktion).

Nehmen wir mit Walden an, daß die d-Brombernsteinsäure der l-Äpfelsäure entspricht, so könnte man die Bildung von l-Äpfelsäure unter dem Einfluß der Basen der ersten Gruppe dahin deuten, daß der Eintritt des Elektrons und damit des Hydroxyls für das abgespaltene Halogen so rasch stattfindet, daß die restierenden drei Atomkomplexe in die sym- metrische Lage nicht oder doch nur teilweise schwingen können, und wenn, wie beim Thalliumoxyd (Tl,0,) oder festem Lithiumoxyd in Methyl- alkohol, eine razemische Säure entsteht, daß dann die symmetrische Lage vor Eintritt des Hydroxyls erreicht war.

Wollte man die Bildung des Antipoden durch Einwirkung der Hydroxyde der 2. Gruppe nach demselben Prinzip deuten, so müßte man die zunächst ganz plausible Annahme machen, daß die drei restierenden Atomkomplexe nicht nur bis in die Symmetrieebene schwingen, sondern infolge des Beharrungsvermögens darüber hinaus und daß infolgedessen nun für das antretende Elektron und darauf Hydroxyl grade die entgegen- gesetzte Stelle frei wird wie im vorigen Falle. Man könnte sich mit diesem Bilde begnügen, wenn, wie es bei den meisten Basen der Fall ist, der eine Antipode nur überwöge. Unbefriedigend wird diese Deutung sofort, wenn wie beim RbOH, KOH und NII,OH nahezu quantitativ die eine Verbindung entsteht.

Man könnte dann vielleicht noch zu folgendem Bilde seine Zuflucht nehmen: Die Loslösung des Halogens vom C* findet nicht momentan statt, sondern zunächst nur eine Entfernung unter dem Einfluß des sich ihm nähernden Kations, bis dann die Entfernung so groß wird, daß das Halogen der Wirkungssphäre der Valenzkraft entzogen wird. Während

1910. 5

66 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vater!. Cultur.

dieses Abrückens würden die drei Restkomplexe, um das Gleichgewicht zu wahren, nachrücken und dadurch auf der entgegengesetzten Seite des C* Platz für eine herantretende positive Ladung, wenn eine solche existiert, und damit für ein Hydroxyl schaffen. Es müßte sich also um langsame Reaktionen handeln. In der Tat verlaufen die in Frage kommenden Reaktionen sehr langsam. Natriumhydroxyd läßt bei gewöhn- licher Temperatur innerhalb 3 Tagen, Rubidiumhydroxyd während mehrerer Stunden keine Einwirkung erkennen. Erst beim Abdampfen tritt Reaktion in merkbarer Weise ein. (Vgl. Walden Br. 32, 1547.)

Man könnte auch an sterische Hinderung denken in dem Sinne, daß das Hydroxyl an der Stelle, wo das Halogen unter dem Einfluß des sich nähernden Kations austritt, keinen Platz fände und deswegen auf der entgegengesetzten Seite anträte.

Doch sprechen gewichtige Bedenken dagegen. Nur auf die bedeut- samsten sei hingewiesen. Ich betrachte die halogensubstituierten orga- nischen Körper als Pseudochloride in ähnlichem Sinne, wie man von Pseudosäuren und -basen spricht. Erst unter dem Einfluß des reagierenden Kations wird das Pseudochlorid ein Chlorid, d. h. es dissoziiert in Chlor- ion und in ein komplexes Kation, z. B.

CHC1 COOH Fe _ ra > cr

| a or CH,C0OH und das komplexe Kation reagiert dann mit OH’ unter Bildung einer Pseudobase, in unserem Beispiel der Äpfelsäure. Es wäre also intermediär stets die Bildung des Kations anzunehmen. Schon dabei muß demnach das positive Elektron an verschiedenen Stellen eintreten, wenn verschiedene drehende Körper entstehen sollen.

Es fällt nun schwer, anzunehmen, daß für das’ Elektron sterische Hinderungen existieren können, ganz abgesehen davon, daß die Existenz positiver Elektronen nicht bewiesen ist. Nehmen wir als richtig an, daß sie nicht existieren, so muß intermediär ein ungesättigter Komplex ent- stehen, der eigentlich symmetrisch sein müßte. Es muß also die Natur des die Ionisierung veranlassenden Kations von Bedeutung sein. Andrer- seits kann ihm nicht allein bestimmender Einfluß zukommen, da von andrer Seite (Emil Fischer, Me Kenzie) beobachtet worden ist, daß Basen aus der normal wirkenden Reihe bei andern Chlorverbindungen nicht normal wirken.

Es muß sich also wohl um eine gemeinschaftliche Funktion von an- regendem und entstehendem Kation handeln, die durch letzteres wesentlich beeinflußt wird und außerdem von Temperatur, Konzentration und Lösungs- mittel abhängig sein wird; denn das darf nicht außer acht gelassen werden, daß nur unter bestimmten Bedingungen die Waldenschen Um- kehrungen stattfinden, während unter anderen Razemkörper entstehen können.

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 67

lch möchte daher bei meinem obigen Bilde zunächst bleiben, also annehmen, daß entweder infolge des Sehwingens über die Symmetrieebene die Waldensche Umkehrung stattfindet oder daß infolge der allmählichen Losreißung des Halogens und des Nachwanderns der restierenden Gruppen auf der entgegengesetzten Seite der Antritt (für das Elektron und damit) für das Hydroxyl erleichtert wird.

Vorstehende Ideen sollen keine abgeschlossene Theorie geben, sondern nur eine Arbeitshypothese. Das Experiment wird zu entscheiden haben, inwieweit meiner Anschauung Richtiges zugrunde liegt.

Über die Abbe’sche Theorie der mikroskopischen Abbildung (mit Demonstrationen). II. Vortrag. Von 0. Lummer und Fr. Reiche.

Sitzung am 10, August 1910. Die Brechung und Dispersion des Lichtes in einigen Gasen.

Von

G. Gruschke.

Einleitung.

Die Bestimmung der Refraktion und Dispersion der Gase ist in neuerer Zeit von großer Wichtigkeit geworden. Denn die zahlreichen Dispersionstheorien, die, über ihr ursprünglicheg Ziel weit hinausgehend, auch eine Aufklärung über den Vorgang der Lichtemission, über die Struktur der Atome, über den Zusammenhang zwischen optischen und chemischen Eigenschaften der Körper geben wollen, können bei den Gasen mit der größten Aussicht auf Erfolg geprüft werden, da dort die von der Theo- rie vorausgesetzten Bedingungen vielfach mit großer Annäherung erfüllt sind.

Von Interesse ist auch die Frage, die ursprünglich den Ausgangs- punkt meiner Arbeit bildete, inwieweit das Biot-Aragosche Gesetz von der additiven Zusammensetzung der Brechungsvermögen bei Gasgemisclen gültig ist, d. h. ob man es hierbei nur mit Gemengen zu tun hat, in denen sich die optischen Eigenschaften der Komponenten ungestört superponieren, oder mit Lösungen, in denen sie durch Veränderungen im Molekülbau wesentlich kompliziert werden. Diese letzte Frage kann jedoch, wie ich mich im Laufe der Untersuchung mehr und mehr überzeugen mußte, mit den heute auf optischem Gebiet zu Gebote stehenden Hilfsmitteln wohl kaum gelöst werden, da die Fehler bei den Refraktionsbestimmungen selbst sicherlich größer sind, als die Abweichungen von dem zu prüfenden Gesetz. Außerdem stößt die Herstellung absolut reiner Gase auf große Schwierigkeiten.

5*

68 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Deshalb ist auch in der vorliegenden Arbeit auf eine Prüfung des erwähnten Gesetzes Verzicht geleistet und durch Messung der Refraktion und Dispersion in einigen Gasen nur eine Vermehrung des Materials an- gestrebt.

Es ist besonders wichtig, die Individuen einer chemischen Ver- bindungsreihe zu untersuchen, da die zu beobachtenden Verschiedenheiten im optischen Verhalten bei einem solchen System nur herrühren können von der Verschiedenheit der Bindung und so einen Rückschluß auf diese gestatten. Aus diesem Grunde sind von $. Loria!) im hiesigen Institut mehrere Kohlenwasserstoffe im Zusammenhang untersucht worden.

In ähnlicher Weise sollte in der vorliegenden Arbeit die Dispersion der Kohlenstoff-Sauerstoffverbindungen gemessen werden. Als solche kommen zur Zeit in Betracht das Kohlendioxyd CO,, Kohlenoxyd CO und das Kohlensuboxyd (,0,. Letzteres ist von O. Diels und B. Wolf!) zum ersten Male dargestellt und auf seine optischen Eigenschaften erst im flüssigen Zustande untersucht worden ?), noch nicht aber im gasförmigen. Brechung und Dispersion an gasförmigem CO, und CO sind bereits ge- messen worden und zwar, abgesehen von den älteren Messungen für weißes Licht, CO, von Ketteler, Mascart, Perreau, Walker, Chappuis und Riviere, Rentschler, J. Koch und Stuckert, CO von Mascart, Perreau, Rentschler und J. Koch). Die Resultate dieser Arbeiten weichen aber zum Teil voneinander ab, es fehlt auch fast überall eine Analyse der untersuchten Gase, und schließlicelı lassen sich gut nur die mit demselben Apparat gemessenen Werte miteinander vergleichen.

Es ist daher CO, und CO hier nochmals gemessen, das Gas ana- lysiert, und was wohl bisher noch nirgends geschehen, das Resultat der Analyse zu einer Korrektion des Brechungsquotienten benutzt worden. Teils zur Berechnung dieser Korrektion, teils um das Funktionieren des Apparates zu erproben, wurde zuerst die bereits gut bekannte Dispersion der Luft nochmals gemessen.

Apparat und Methode.

Zur Bestimmung der Brechungsquotienten wurde eine Interferenz methode benutzt: Zwischen die Spiegel eines Jaminschen Interferential- refraktors wurden zwei Röhren gebracht, von denen die eine evakuiert, die andere mit dem Versuchsgas gefüllt war. Das entstehende Inter- ferenzstreifensystem wurde spektral zerlegt und an einer bestimmten Stelle des Spektrums die Anzahl N der vorübergewanderten Streifen beobachtet, die einer stetigen Druckänderung p im Versuchsrohr entsprach. ann! der Phys. 29, pag. 605; 1909.

1) Ber. d. deutsch. chem. Gesellsch. 1906, 39,1 pag. 689.

2) O. Diels und P. Blumberg, Ber. d. deutsch. chem. Gesellsch. 1908, 41,1 pag. 82.

3) Literatur siehe bei Stuckert, Über die Lichtbrechung der Gase etc. Zeit- schrift für Elektrochemie 1910, und bei J. Koch, Dispersionsmessungen in Gasen, Nova Acta Upsal. 1909 Ser. IV. Vol. 2. N. 5.

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 69

Ist d die Dichte des Gases, so gilt nämlich n— | (1) = eonst. und für die beiden Drucke 760 und p: (2) n— 1=(m 1) d,;o/dp , wobei n den Brechungsquotient für Normaldruck und Normaltemperatur

bezeichnet. Für d,s0/dp kann man, wenn & der Ausdehnungskoeffizient des Gases

ist, auch schreiben

760 (3) m Aa); also (4) 1-1) (tot)

Nun ist aber der Gangunterschied der beiden Lichtstrahlen einmal gleich A-N, wo X die Wellenlänge des Lichtes ist, da jeder Streifen einem Gangunterschied von einer Wellenlänge entspricht. Andererseits ist er gleich der Differenz der optischen Längen, L-n„ L, wo L die Länge der Röhren ist. Es ist also

AN (5) np 1= FT und, oben in (4) eingesetzt: -760-.A-(1 ) RUN! I-(l + et)

L-p

In dem Falle, daß das untersuchte Gas nicht rein ist, erhält man so natürlich nur den Brechungsquotienten des Gemisches. Da die Verun- reinigungen aber bei den vorliegenden Versuchen gemäß den bei der Entwickelung vor sich gehenden Reaktionen nur durch ein einzelnes Gas hervorgerufen sein können, wurde nach dem Biot-Aragoschen Gesetz der wahre Brechungsquotient des Gases gefunden nach der Formel (6) 7 (ny ze 1) E= (100 er y) Mas I) = 100 (Gemisch —)} wo y der Prozentgehalt des Gemisches an dem verunreinigenden Gas, ny dessen Brechungsquotient ist.

Die Dispersion wurde auf folgende Weise bestimmt: Es ist nach Gleichung I für eine Wellenlänge A,

(7) n, 1= const.N, A, 5 ebenso für eine andere Stelle des Spektrums (7a) nz, —1= const. N, -A,.

Lagen nun zu Anfang zwischen A, und A, ö, Streifen, nach Vorüber- wandern von N, Streifen an der Stelle A, dagegen ö,, so werden inzwischen ö=Ö, —Ö, Streifen mehr oder weniger an der Stelle X, vorübergewandert sein, je nachdem A, von A, aus nach dem violetten oder dem roten Teile des Spektrums zu liegt (normale Dispersion vorausgesetzt). Das heißt, es ist N, =N, -&d, und wenn man die Gleichungen dividiert und den Wert für N, einsetzt:

70 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

nn—1 N%

nn —1 N, A nenn Bee (u) 1-0 +3N) 1) 1

Die Dispersion der Gase wird, wie leicht nachzuweisen ist, durch so kleine Verunreinigungen, wie sie hier vorkommen, nicht meßbar beein- flusst, weswegen die bei der absolut gemessenen Linie experimentell be- stimmte Korrektur in derselben Größe auch an den daraus berechneten Werten für andere A angebracht werden konnte.

Zur näheren Charakterisierung des Apparates und des Aufbaues ist folgendes zu bemerken.

Als Lichtquelle diente eine selbstregulierende Bogenlampe B (siehe Figur Seite 27) mit horizontaler Dochtkohle.e Das Lichtbündel wurde durch die Linse L, parallel gemacht und fiel dann nach Passieren eines Troges T mit Wasser und eines horizontalen Diaphragmas D auf den Spiegel $, des Interferentialrefraktors. Dort wurde es durch Reflexion an der vorderen und hinteren Fläche in zwei Strahlen zerlegt, die in etwa 2 cm Abstand die Versuchsröhren R, und R, passierten. Diese Röhren waren des besseren Temperaturausgleichs wegen aus Messing gefertigt und fest miteinander verbunden; als Verschluß diente an jedem Ende eine gut planparallele Glasplatte, die mit Siegellack aufgekittet war. Die Länge der Röhren betrug 973,2 mm. Sie wurden mit den aufgekitteten Glasplatten zusammen durch Auflegen auf ein Normalmeter gemessen und dann die vorher gemessene Dicke der Platten in Abzug gebracht.

Nach der Wiedervereinigung am Spiegel S,, der anfänglich parallel zu S, justiert war, wurde das Licht durch die Linse L, auf den Spalt eines Zeissschen Monochromators konzentriert und darin zu einem Spektrum ausgezogen. Wurde der Spiegel S, ein wenig gegen $, geneigt, dann traten in dem Spektrum Interferenzstreifen auf, ‘die durch ent- sprechende Regulierung an S, in vertikale Lage gebracht wurden.

Um die Stelle im Spektrum, an welcher die Streifenverschiebung ge- messen werden sollte, genau festzulegen, wurde mit Hilfe eines kleinen totalreflektierenden Prismas P, welches vor den Spalt des Monochromators aufgekittet war, unmittelbar unter den Interferenzstreifen das Spektrum einer Heliumröhre entworfen und zu jeder Messung das Fadenkreuz auf eine der sechs hellen Linien eingestellt. Ihre Wellenlängen betrugen nach Runge und Paschen!!):

I en An, N = 5875,870 nn ge

1) Kayser, Spektroskopie 2.

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 71

Agrtin ım = 4922,096 ‚, Ahellblau Zi 4713,252 Adunkelblaun 4471,646 „,

Die beiden Rohre R, und R, waren mit der Luftpumpe und einem Geißlerrohr G (siehe Figur) verbunden, welches als Vakuummeter diente. Als Luftpumpe wurde eine Quecksilberpumpe nach dem Sprengelschen Prinzip in Verbindung mit Wasserstrahlluftpumpe benutzt, in einer Aus- führung, wie sie sich im hiesigen Institute gut bewährt hat. Sie pumpte das große Volumen von mehreren Litern in verhältnismäßig kurzer Zeit auf ein solches Vakuum aus, daß in dem erwähnten Geißlerrohr keine Entladungen mehr zu sehen waren.

Das Versuchsrohr war außerdem mit einem Manometer M und einem Phosphorpentoxydgefäß verbunden. Das Verbindungsrohr teilte sich dann in zwei Zweige, die zu den übrigen Teilen des Apparates führten und je einen Halın enthielten. Von diesen diente C, zum Einströmen, C, zum Ausströmen des Gases. Vor bezw. hinter ihnen waren sehr enge Kapillaren angebracht, um das Ein- und Ausströmen auf mäßige Geschwindigkeit zu regulieren. In den mit dem Rohr R, zusammenhängenden Teilen waren enge köhren sorgfältig vermieden, um eine Verzögerung des Druck- ausgleichs zu verhindern. Parallel zum Hahn C, lag noch ein Hahn C,, der zum Evakuieren des hinter C, liegenden Raumes diente, da durch die Kapillaren ein Evakuieren mit großem Zeitverlust verbunden gewesen wäre. Die Teile des Apparates waren alle fest verblasen mit Ausnahme der Verbindungen der beiden Messingröhren mit der Gaszufuhr und der Pumpe. An diesen Stellen waren die Glasröhren in angesetzte Messing- röhren mit Siegellack eingekittet. Gummiverbindungen kamen überhaupt nieht vor. Der Apparat hielt so dicht, daß selbst nach mehrtägigem Stehen keine Verschlechterung des Vakuums zu erkennen war. Gleichwohl ging während fast aller Versuche sicherheitshalber dauernd die Luftpumpe, um das Vergleichsrohr auf Vakuum zu erhalten.

Das Manometer bestand aus einem 22 mm weiten mit Quecksilber gelüllten U-Rohr. Das Rohr war so weit gewählt worden, um den Ein- fluss des Festhängens des Hg am Glase zu vermeiden und immer einen gut erkennbaren Meniskus zu haben. Die Ablesung erfolgte mittels eines Kathetometers auf '/;, mm. Die Änderung des äußeren Barometerstandes während einer Messung kam nicht in Betracht, da sie, wie nachgewiesen wurde, innerhalb der Fehlergrenzen lag. Zur Kontrollierung der Tempera- tur befand sich ein Thermometer am Manometer (Teilung in Grade, '/,,° ge- schätzt) und je eines an jedem Rohrende (Teilung Y/;,°, "400° geschätzt).

Von den beiden letzterwähnten ‘Ihermometern war das eine, 'Thermo- meter I, von der Physikalisch-Teehnischen Reichsanstalt geprüft worden und hatte in dem in Frage kommenden Bereich eine Korrektion von 0,08°, Mit ihm wurde das andre, Thermometer II, an Ort und Stelle verglichen. Es hatte gegen I eine Korrektion von -+ 0,08% so daß es

72 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

zur Berechnung keiner Korrektion bedurfte. Die Thermometer wurden mittels eines Fernrohrs abgelesen.

Um die Röhren, in deren eine das Gas geleitet wurde, vor Temperatur- schwankungen zu sichern, waren sie dicht in Watte gepackt und dann in Stanniol eingehüllt, so daß die Einflüsse konvektiver wie strahlender Wärme während einer Messung so gut wie ausgeschaltet waren. Die beiden Thermometer waren mit ihren unteren Enden direkt mit den Röhren in Berührung und mit diesen zusammen verpackt.

Das Rohr R, wurde zunächst mit dem ganzen Apparat evakuiert, dann aber vor Beginn der Messungen bis zu einem Druck von etwa 40 cm Quecksilber mit dem zu untersuchenden Gase gefüllt. Zur Messung wurde durch den Hahn C, Gas hinzugelassen, und zwar in Etappen, während deren etwa 25 bezw. 50 Interferenzstreifen am Fadenkreuz vorüberwanderten. Nach Schließen des Hahnes kamen die Streifen in der Regel schnell zur Ruhe. Manchmal trat noch eine kleine langsame Ver- schiebung ein, die zunächst auf Temperaturausgleich geschoben wurde. Deshalb wurde die genaue Streifenzahl immer erst nach Ablesung des Manometers und der Thermometer abgelesen. Nach Fertigstellung der Messungen an Luft und Kohlensäure wurde dagegen festgestellt, daß die nachträgliche Verschiebung wahrscheinlich von der Erwärmung des ersten Spiegels herrührte. Es ließ sich in der Tat nachweisen, daß alle Messungen, die bald nach dem Anzünden der Bogenlampe begonnen worden waren, unter diesem Mangel zu leiden hatten. Es wurde auf diese Weise eine zu hohe oder zu niedrige Streifenzahl abgelesen, je nachdem die Streifen, wie es beim Ausströmen des Gases der Fall war, nach links, oder, beim Einströmen, nach rechts wanderten. Die zugehörigen Messungsresultate fielen in der Tat über alle Fehlergrenzen aus den anderen Messungen heraus, ihr Mittelwert stimmte aber gut mit ihnen überein. Es ist ja auch plausibel, daß der Fehler nach den beiden Seiten zu bis auf Größen höherer Ordnung gleich sein muß. Daher wurde kein Bedenken getragen, diese „Doppelmessungen‘ mit ihrem Mittelwert zum Endresultat heran- zuziehen, da zumal bei CO, eine neue Darstellung des Gases zu neuen Messungen mit großem Zeitverlust verbunden gewesen wäre. Bei CO jedoch wurde dieser Fehler vermieden, indem einmal dafür gesorgt wurde, daß die Lampe vor Beginn der Messung schon längere Zeit brannte, andererseits die genaue Streifenzahl sofort nach dem Schließen des Hahnes abgelesen und öfters bei einer Messung zwischen Ein- und Ausströmen gewechselt wurde. In der Tat verliefen diese Messungen viel regel- mäßiger und glatter.

Die Zahl der Streifen konnte auf '/, und nach längerer Übung auf ,, genau abgelesen werden. Diese Genauigkeit wurde besonders dadurch erreicht. daß die Streifen möclichst an der Grenze zwischen dem hellen und dem dunklen Teil zur Ruhe gebracht wurden.

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 73

Die Brechungsquotienten wurden für drei Stellen, die rote, die gelbe und die grüne Heliumlinie nach Gleichung I Seite 5 absolut be- stimmt. Zu Anfang und zum Schluß jeder Messung wurde außerdem in der Regel die Zahl der zwischen je zwei Linien liegenden Streifen gezählt und so das ö/N, erhalten, aus dem nach Formel II (S. 3) die Brechungs- quotienten für die anderen fünf Linien aus dem absolut bestimmten be-

rechnet werden konnten.

Messungen und Resultate.

Im folgenden sind die Einzelheiten bei den Messungen und die Tabellen zusammengestellt.

a. Trockene atmosphärische Luft.

Die Luft wurde im Garten des Instituts in einem Wassergasometer aufgefangen und mit Phosphorpentoxyd getrocknet, und zwar wurde sie nicht bloß über P, O, geleitet, sondern blieb, wie auch die folgenden Gase, vor jeder Messung mindestens 10 Minuten, meistens aber stunden- lang in dem Raume, der die Phosphorsäure enthielt.

In der folgenden Tabelle steht in der ersten Kolumne die Anzahl der jedesmal vorübergewanderten Streifen, in der zweiten der zugehörige Druck auf reduziert, in der dritten das Mittel der korrigierten Tem- peraturen an den beiden Rohrenden. Die vierte enthält die Zahl der Streifen, die zur Berechnung zusammengefaßt wurden. In der fünften stehen dann die Werte für pfN. n—.1 ist der um 1 verminderte Brechungsquotient. In den mit „Relative Messung‘ bezeichneten Tabellen haben ö, N, und n, die bei Entwickelung von Formel II angegebene Bedeutung. Die Farbenangaben bezeichnen die entsprechenden oben an- gegebenen Heliumlinien. Tabelle VI enthält die beiden herausfallenden Messungen, von denen auf Seite 6 die Rede war. Als Ausdehnungs- koeffizient wurde & ');,; genommen.

I. Absolute Messung.

x = 6673,4. Einströmen. Rohrtemp. 18,62, IM Da RT | r N in mm in 0C. || Sr | Pım, | | | 0 Se re | | 80.45 | 1,8990 40.60 287,13 | 18,55 | Se 39.85 | 211,63 | 18.65 | 79,90 1,9010 40.05 135,24 | 18.70 | | | | 80.30 1,9061 40.25 Se | Zn A |

[j l Mittel 1,9020 n—1 = 0,00029290,

74 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Relative Messung. N, = 160,75. Zwischen n+ = nd gelb grün II grün II hellblau | dunkelblau ) 22.6 59.9 59.8 70.1 83.1 1+öN, 1,14059 1,34525 1,57200 1,43607 1,91694 (n,— 1).10°| 29393 29593 29617 29685 29749 II. Absolute Messung. X = 66784. Ausströmen. Rohrtemp.: 18,82 °, M T u in mm in 0C. N, Pı/m, 0 31,94 18.67 _ 80.25 1,8938 40.20 103,23 13.75 Be 39.95 183,92 18.80 79.95 1,5970 40.00 259,90 18.85 | 80.05 1,9077 40.05 336,63 18.89 h —_ s 1,9085 40.00 412,68 18.91 208 2 Mittel 1,9017 n—1 = 0,00029314. Il. Absolute Messung. = 5875,9. Einströmen. Rohrtemp. 20,27%, MO EEE N in mm in 0C. sh m, 0 349,13 20.02 00. 50.10 264,38 20.15 1) 1 50.00 181,03 20.27 100.05 1,6770 50.05 97,09 20.39 : _ 00. 6 49.95 13,45 20.48 I Held

Mittel 1,6774

n—1 = 0,00029386.

U. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 75 Relative Messung. N, = 200,10. Zwischen rot rün II | grün III | hellblau | dunkelblau gelb und 5 | ö 24.75 35.95 40.65 51.75 1-E2ö/N, 0,87631 1,17966 1,20315 1,25862 (n,—1).10% 29269 29591 29617 | 29668 NB. Bei dieser Messung konnte der Brechungsquotient für die

dunkelblaue Linie nicht ermittelt werden, nicht mehr lichtstark genug waren, um genau gezählt werden zu können. Der Grund war ein schlechtes Brennen der Bogenlampe infolge weniger

guter Kohlen.

da die Interferenzstreifen dort

IV. Absolute Messung. A = 5375,9. Einströmen, Rohrtemp. 19,10, M es | a in mm | in 0C. | N, PıN, 0 334,70 19.02 | ; 100.2 7 50.1 251,38 19.08 Y 1.8700 50.1 167,37 19.09 100.1 1,6755 50.0 84,15 19.13 i i 00.2 5 50.2 0,49 19.15 N RE | Mittel 1,6703 n— 1 = 0,00029393. V. Absolute Messung. A=50157. Binströmen. Rohrtemp. 18,14. - NT M At | a | in mm in 0C. | Sn er) N; | Se 0 393,62 18.03 | : 98 49.9 323,14 18.05 | ns Lens 49.9 253,02 18.09 | 99.9 1,4068 50.0 182,60 18.12 100.1 1,4135 50.1 111,53 | lSz too ltbe 50.1 40,76 18.30 = N

Mittel 1,4112

n— 1 = 0,00029600.

76 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Relative Messung. N, = 250,0. Zwoehen rot elb rün III hellblau | dunkelblau grün II und 5 5 ö 64,1 38,1 5,1 | 17,0 32,5 1#öjN, 0,74366 0,34760 1,02040 1,06800 1,13000 (n, —1).10° 29306 29391 29638 29706 29816 VIa. Absolute Messung. A —= 5 015,7. Einströmen. Rohrtemp. 18,58, M al, N in mm in 0C. | ah Pyn, ) 405,75 18.45 _ 100.25 1,4123 50.30 335,18 18.51 2 . 49.95 264,11 18.59 99.80 1,4127 49.85 194,19 13.66 _ IE 1,4089 49.90 123,57 | 18.69 a i Mittel: 1,4115 n 1 = 0,00029639. VIb. Absolute Messung. x = 5015,7. Ausströmen. Rohrtemp. 18,80 °. | M | ap N in mm in 0C. Di Pıyn, 0 59,79 18.72 00. 1,41 49.9 131,00 | 18.76 100 a) 51.0 202,66 18.32 101.0 1,4126 50.0 273,67 18.83 | 100. 1 50.6 345,46 | 18.34 098 a Mittel: 1,4160

n 1 = 0,00029567.

Mittel aus a und b: n 1 = 0,00029603.

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 77

In der folgenden Tabelle sind die Resultate für Luft zusammengestellt. Die unterstrichenen Breehungsquotienten sind absolut bestimmt.

A —= | 6678,4 | 5875,9 | 5015,7 | 4922,1 | 4713,35 | 4471,6 n—1l1= |

0,000 29269 | 29386 29591 29617 29668 _ 29306 29391 29600 29638 29706 29816 29290 29393 29593 29617 29685 29749

29393 —_ _- —_

29603 -- _

29314 . —_ Mittel: 29295 29391 29597 29624 29686 29783 Abgerundet: 2930 2939 2960 2962 2969 2978

b. Kohlendioxyd.

Zur Herstellung von CO, wurde ein Gemisch von drei Teilen Kalium- bichromat und einem Teil Natriumkarbonat in einer Hartglasröhre im Ver- brennungsofen erhitzt. (Die Chemikalien waren von F. Kahlbaum in Berlin bezogen und wurden vor den Versuchen auf ihre Reinheit geprüft.) Die Reaktion erfolgt nach der Gleichung

E,Cr,0, + N3,00, =K,Cr0, + N23,Cr0, +4 CO..

Die Röhre mit dem feinpulverisierten Gemisch, die durch einen mit Quecksilber gedichteten Schliff mit dem Apparat verbunden war, wurde zuerst evakuiert, dann langsam auf etwa 100° C. erhitzt. Dabei wurde noch Wasserdampf und Luft frei, die erst sorgfältig abgepumpt wurden, bis die Geißlerröhre wieder Vakuum zeigte. Dann wurde die Temperatur vorsichtig gesteigert, bis sich das Gas entwickelte. Die Reaktion tritt etwa zwischen 300° und 400° ein; bei stärkerer Erhitzung geht noch eine andere Reaktion vor sich; es bildet sich im Rohr grünes Chromoxyd und gibt gleichzeitig Sauerstoff ab:

2 K,C,0, = 2K,Cr0, + 0,0, +30

Bei der Entwickelung des schließlich zur Messung verwendeten Kohlendioxyds war das Gemisch in dem ganzen Rohre gleichmäßig gelb- braun geblieben, so daß man sicher sein konnte, daß keine andere Ver- unreinigung als Luft, die sich nie ganz beseitigen ließ, im Gase ent- halten war.

Zwischen dem Entwickelungsgefäß nnd dem Apparat befand sich hier und bei den folgenden Gasen ein Manometer, welches aus einem etwa 80 cm langen in einen Quecksilbertrog tauchenden Glasrohr bestand. Es

783 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

diente zur rohen Orientierung über die zur Verfügung stehende Gasmenge, sowie als Sicherheitsventil, indem durch das Herausperlen des Gases durch das untere Quecksilbergefäß ein Ansteigen des Druckes auf eine für die Glasröhren gefährliche Höhe verhindert wurde.

Bei der Analyse brauchte man sich nach dem oben Gesagten nur ‚darauf zu beschränken, den Prozentgehalt an Luft festzustellen. Dies geschah auf folgende Weise: Zwischen dem Hahn C,, durch den man das Gas aus dem Untersuchungsrohr ausströmen lassen konnte, und der Hg-Pumpe waren mehrere Glaskugeln A mit Rohransätzen von aus der Figur ersichtlicher ‘Gestalt an die Röhren angeschmolzen. Ihr Durchmesser betrug etwa 5 cm. Nach der Messung waren sie bis zum Enddrucke mit dem Gasgemisch gefüllt. Sie wurden dann bei ce abgezogen und die Spitze unter Kalilauge abgebrochen, die zunächst unter dem Einflusse des Atmosphärendrucks, dann infolge der Absorption der Kohlensäure in die Höhe stieg und nur einen Teil des Ansatzes mit Luft gefüllt freiließ. Das Volumen dieses Teiles wurde als das eines Zylinders vom Querschnitt der Röhre und der mit Berücksichtigung der Abrundungen auf 1 mm gemessenen Höhe be- rechnet. Es genügte für die Genauigkeit, wenn der Inhalt der Erweiterung als der einer Kugel oder, in vereinzelten Fällen, als der eines Rotations- ellipsoides berechnet wurde. Ist das ganze Volumen V, der Barometer-

druck vermindert um die Flüssigkeitshöhe in der Kugel = B und x der Partialdruck der Luft im Gemische, so ist

Bo Ro M also B.V,

re v’

und wenn E der Druck ist, bei dem die Kugel abgeschmolzen wurde, ist 7100829177100 BE.V, OR Ra kr EN.

der Gehalt an Luft in Prozenten,

Es war die Frage, ob zur Absorption der Kohlensäure ausgekochte oder mit Luft gesättigte Kalilauge genommen werden sollte. Im ersten Falle konnte die luftfreie Kalilauge die mit dem CO, gemischte Luft bei der Schnelligkeit der Reaktion leicht zum Teil mit absorbieren. Im anderen Falle konnte die mit Luft gesättigte Kalilauge beim Einströmen in den Raum geringeren Druckes etwas Luft abgeben und so das Resultat fälschen. Die Schwierigkeit wurde dadurch überwunden, daß man nur wenig KOH in die Kugel eintreten ließ, soviel wie bequem genügte, um das 00, zu absorbieren, und dann Quecksilber nachsteigen ließ.

Die Ergebnisse der Analysen sind im folgenden immer bei der Korrektion des Brechungsquotienten mit angegeben.

Als Ausdehnungskoeifieient wurde genommen % = 0,003716 (P. Chappuis).

II. Abteilung,

I. Absolute Messung.

Naturwissenschaftliche Sektion.

79

x 6678,4. Ausströmen. Rohrtemp.: 19,47°, ; M T z in mm in 0C. N, Pın, | 0 161,42 | 19.42 25.00 191,60 19.44 99.95 1,2458 25.05 223,31 | 19.45 f 25.00 254,78 19.46 100.097 [77172585 24.90 285,94 19.47 100.00 | 1,2526 25.10 317,51 19.48 25.00 348,63 19.50 99.95 1,2441 24.95 379,13 19.52 Mittel 1,2502 n 1 == 0,00044731 -- 4 entsprechend 0,027 °, Luft 0,00044735 N, = 175.00. Relative Messung. . | Ben gelb | grim/lL | ’griin III | hellblau | dunkelblau ö 25.0 | 61.0 65.8 10.2 92.0 1+5/N, | 1,14286 | 1,34857 | 1,37600 | 1,44114 | 1,52571 (n,—1).108 44983 45310 45368 45499 45699 Ila. Absolute Messung. ı = 6678,4. Einströmen. Rohrtemp.: 19,44°, | M | m z | in mm | in 0C. Pın, 0 | 375,81 19.29 25.60 343,55 19.34 100.55 1,2496 25.00 312,39 19.37 | 25.05 231,29 19.41 100.15 | 1,2453 24.90 | 250,16 19.45 100.00 1,2447 25.20 | 218,86 19.50 24.85 | 187,92 19.54 98.75 | 1,2427 23.30 | 158,57 19.60 |

n 1 = 0,00044894

4-

Mittel 1,2456

37 entspr. 0,247, Luft

0,00044931

30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

IIb. Absolute Messung.

i = 6678,4. Ausströmen. Rohrtemp.: 19,10°. M T Sl in mm in 0C. Al Pım, 0 159,34 18.93 19.65 183,21 18.95 98.90 1,2546 19.05 207,95 19.01 20.10 232,95 19.06 99.25 1,2594 20.10 258,19 19.08 ; .20 p 20.00 283,42 19.15 2 1222 20.00 3508,21 19.18 100.10 1,2537 20.00 333,39 19.20 20.00 358,45 19.22 100.00 1,2486 20.00 383,05 19.26 Mittel 1,2537 n 1= 0,00044552 1 37 entspr. 0,247, Luft 0,00044589 Mittel aus a und b: 0,00044760. II. Absolute Messung. ı = 5875,9. Einströmen. Rohrtemp.: 18,52 ° M II, N in mm in 0C. N Pın, ) 423,31 18.38 25.15 396,00 18.42 100.25 1,0882 25.00 368,39 18.45 100.10 \ 1,0876 25.05 341,63 18.48 25.05 314,22 18.51 101.10 1,0913 25.00 287,13 18.55 26.00 258,56 18.58 100.95 1,0923 24.90 231,36 18.62 101.00 | 1,0903 25.10 204,10 18.65

Mittel 1,0899

n 1 = 0,00044996 Unkorrigiert, da nur Spuren von Luft vorhanden.

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. s1

n 1 = 0,00045323 4 entspr. 0,027 %, Luft

E=

1910.

0,00045327

N, = 201,23. Relative Messung. Zanchen | rot grün Il grün II | hellblau ame. gelb und | | | | & ao ae >| 9525 67,1 1ö/N, 0,87627 | 1,17988 1,20422 | 1,26086 1,33341 (;—1).108 44763 45319 | 45390 | 45508 45659 | | IV. Absolute Messung. N—-5819,9: Ausströmen. Rohrtemp.: 20,30. ; ia | n | in mm in 0C. a | Pın, 0 179,45 20,15 \ 7 24.95 206,63 20.22 Los 25.10 234,28 20.25 100.00 1,0998 24.95 .| 261,78 20.28 | 25.00 | 289,22 20.32 99.90 1,0996 I 24.95 | 316,61 20.35 = 8 25.00 344,13 20.39 SED HL0r] 24.902 2 3101,72 20.41 Mittel 1,0996 n 1 = 0,00044879 En 130 entspr. 0,880, Luft 0,00045009 V. Absolute Messung. ae 25015,7 Ausströmen. Rohrtemp. 19,92 °, M | T [ N in mm in 0C. NN | Pıym, j 0 241,97 19.90 24.90 265,19 19.90 99.85 0,9321 24.95 288,65 19.91 ö ! 3 0,9297 25.00 311,86 19.92 ‚ul 25.00 | 335,04 19.93 100.05 | 0,9228 25.05 ı 358,16 19.94 25.00 380,98 19.96

Mittel 0,9282

82 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. N, = 149,9. Relative Messung. ZaEchen rot | elb | grün III | hellblau dunkaltien grün II und RS | | | | | ö 38.80 0) 12239 | 88.0. | 010.00 0 EBıor 1&ö/N, 0,74116 | 0,84723 1,02001 | 1,06805 | 1,15009 (m —1) 10° 44731 | 44988 45370 | 45489 | 45666 x VIa. Absolute Messung. % = 5015,7 Einströmen. Rohrtemp. 19,16, were | N in mm | in 0C. Au Pın, | a 0 338,50 | 19.08 24.75 aldnas |. 19.10 99.90 | 0,9167 25.05 2923,83 | 19.12 | 0. 5 25.20 269,34 | 19.16 10951 Ga 24.90 246,92 | 19.18 100.40 0,9168 25.35 223,80 | 19.21 24.95 200,78 19.25 Mittel 0,9162 n— 1 = 0,00045793 -- 4 entspr. 0,027 %, Luft 0,00045797 VIb. Absolute Messung. x —= 5015,7. Ausströmen. Rohrtemp. 19,76°. . M an N in mm in 0C. N, | Pıny, | ) 199,62 | 19.68 24,80 222,21 | 19169 99.60 | 0,9347 24.70 24555 | 19.79 | 25.00 268,81 | 19.72 2 | > 25.10 29 ga 100.10 | 0,9365 25.00 315,96 | 19.80 | Bi 25.00 339,30 | 19.82 100.25 | 0,9381 25.15 362,36 19.86 |

n 1 = 0,00044863 4 entspr. 0,027 %, Luft

0,00044867 Mittel aus a und b 0,00045332

+

Mittel 0,9372

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 33

Zusammenstellung der Resultate für CO,.

A—= | 6678,4 | 5875,9 | 5015,7 | 4922,1 | a713,3 | 4471,6

| | I n— 1= | | 0,000 | 44763 | 44996 | 45319 | 45390 | 45508 | 45659 44731 | 44988 | 45327 | 45370 | 45489 | 45666 44735 | 44983 | 45310 45368 | 45499 | 45699 Bon en fie ante me en u) 45009 | le =" n. a ee a = Mittel: | 44747 | 44994 | 45322 | 45376 | 45499 | 45675

Abgerundet: 4475 4499 4552 45383 4550 4568

Die folgende Tabelle enthält die Resultate früherer Dispersions- messungen an CO, mit denen dieser Arbeit zusammengestellt.

x Ketteler | Mascart | Perreau | Rentsch-, J. Koch | Stuckert | De 6709.7 | 4476.8 —. | 4470.7 | 4466 6678.4 —. ||. 4475 6440.53 174539. | 44867 5894.6 | 4492.2 | 4544.0 | 4502.0| 5875.9 = —ı | 4499 5771.2 = == 4487 —_ 5462.3 le = 4470 | 4505.6 | 45ll en 5379,6 4556.3 | 4517.83 _ | en 5352.0 | 4507.2 | 5087.2 4562.6 | 4529.9 = = 5015.7 == 4532 4922.1 _ == A 4801.3 4587.2 | 4544.3 == 2 _ 4713.3 lu = = 11 ,4550 4679.5 454971 ii a 4471.6 _— _ | 4568 4359.6 | 4513 4562.7 | 4589 | 4047 == == 4539 = a I 3651 -— | 52 | —- | 3342 = NE ee a

| |

34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

e. Kohlenoxyd.

Das Kohlenoxyd wurde hergestellt durch gelindes Erhitzen eines Gemisches von 50 gr Natriumformiat, 300 gr konzentrierter Schwefelsäure und 150 gr Wasser:

NaC00H +H,S0,=CO +NaHS0, +H,0. Es wurde mit Schwefelsäure getrocknet, durch festes Kaliumhydroxyd von Kohlensäure befreit und nochmals durch Phosphorpentoxyd getrocknet.

Die Analyse erfolgte wie bei CO,, als Absorptionsflüssigkeit wurde eine ammoniakalische Lösung von Kupferchlorür in Salmiak verwendet.

Als Ausdehnungskoeffizient wurde genommen: & 0,003667 (Regnault.)

I. Absolute Messung.

x = 6678,4. Ein- und Ausströmen. Rohrtemp.: 19,57 °. IM a Z | in mm in 0C. N Pın, ) 322,33 | 19.40 25.10 280,05 19.46 100.65 1,6832 25.0.5 | 238,07 | 19.48 | 25.30 | 195,56 19.53 US ERDE 25.20 152,91 19.58 100.20 | 1,6788 24.90 | 194,63 | 19.65 | | _ | 24.80 | 235,96 | 19.69 99.80 | 1,6783 249085 zo 19.74 |

Mittel 1,6803 n 1 = 0,00033264 + 54 entspr. 1,346 %, Luft

0,00033318

Relative Messung.

N, = 100,05. Amaschen ee keine rot und 5 | 5 5 | Sr or 3510 37.7 44.4 52.8

1+2ö/N, | 1,14193 | 1,34982 | 1,37681 | 1,44377 | 1,52772 (1, —1).10% 33474 | 33776 33808 33948 34080

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 85

ll. Absolute Messung.

= 6678,4, Ein- und Ausströmen. Rohrtemp.: 18,87 °. BE Pe Z | in mm | in 0C. | N | Pım, I | 00 1 226,68 18.71 | | 20.00 | 293,20 13.78 | 85.95 1,6743 25.50 | 335,85 18.82 | “R er 20.05 369,55 18.84 86.55 | 1,6705 20.00 | 40296 | 18.88 | g105 | 1,6708 21.00 368,14 18.92 | 20.00 | 334,65 18.96 81.10 | 1,6750 20.10 | 368,68 18.99 | |

| I | Mittel 1,6727

n 1 = 0,00033335

korrigiert wie oben: 0,00033389

Ill. Absolute Messung.

x = 5875,9. Ein- und Ausströmen. Rohrtemp.: 19,22°. M | n = in mm | in 0C. | A Pyn, 1 | | 0 | 257,44 19.09 | 25.40 | 294,50 19.12 100.60 | 1,4663 a Re A | | 25.10 | 367,98 19.18 ua || al 25.00 404,95 19.23 | 100.10 1.4697 25.00 368,33 19.27 | 25.00 | 331,66 19.32 | 101.00 1,4675 26.00 | 293,70 19.36 | | Mittel 1,4678 n 1 = 0,00033464 korrigiert wie oben: 0,00033518 NS=—174790. Relative Messung. Zyischen | zot. | gun it | ern lit | helislau | annkeinı gelb und | 0 grün | grun | e au | unkelblau ö 21.6 | 320 N er a 9 2 1+ö/N, | 0,87650 | 1,18296 | 1,20640 1,26358 = n—1).108| 333483 | 33798 33825 33924 =

36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

VI. Absolute Messung.

\— 5875,9. Ausströmen. Rohrtemp.: 19,44 °. | I m m] N | in mm | in 0C. | Pım, | 0 | 0,23 19.25 | 25.00 36,44 | 19.29 | 100.35 1,4693 25.15 73,74 19.37 | | 100.65 1,4709 25.20 | 109,86 oo 0: ? 25.00 | 147,67 19.47 | 100.50 1,4676 25.30 184,49 19.51 | 25.00 221,20 19.56 | 100.55 1,4764 25.25 | 258,32 19.61 |

n 1 = 0,00033416 korrigiert wie oben: 0,00033470

V. Absolute Messung.

Mittel 1,4710

A= 5015,7 Ein- und Ausströmen. Rohrtemp.: 19,38 °. = l 2 M T N | in mm | in 0C. N m, ) | 275,73 19.22 25.70 243,98 19.26 104.80 1,2443 25.00 | 213,91 19.30 | 24.90 181,95 | 19.35 10220 1,2216 3.60 29 19.38 104.05 1,2425 25.60 | 209,25 19.42 25.10. | 240,29 | 19.42 104.20 1,2437 24.35 | 27095 | 19.48 25.05 302,22 | 19.51 Mittel 1,2438 n 1 = 0,00033729 korrigiert wie oben: 0,00033783. N, = 74,65. Relative Messung. Zuasenen rot | gelb rün III hellblau | dunkelblau grün II und | 5 | l ö I 1914 5 | Sf 5,2 9,8 I+öN, | 0,74012 | 0,84595 | 1,02143 | 1,06966 | 1,13129 (1,—1).108| 33292 33479 | 33862 33956 34072

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 87

VI. Absolute Messung.

x = 5015,17. Ein- und Ausströmen. Rohrtemp.: 19,75 °. Mole | N in mm | in 0C. || | Pyn, I I || | 0 292,41 | 19.60 | | 25.00 261,25 | 19.64 99.90 | 1,2489 25.00 230,06 | 19.69 | Dom 089038 |, Aarau 02.00.21. 12258 25.20 230,42 | 19.77 99.80 1,2454 24.90 261,10 19.80 25.00 292,29 19.86 100.10 | 1,2402 35.00 323,17 19.90 |

Mittel 1,2449 n ! = 0,00033740 korrigiert wie oben: 0,00033794.

Zusammenstellung der Resultate für CO.

= | 66784 | 5875,9 | 5015,7 | 4922,1 | 4713,3 | 4471,6

n— l1= | | 0,000 | 33343 | 33470 | 33798 | 33825 33924 ı 0

| 33292 | 33479 | 33783 | 33862 | 33956 | 34072 | 33318 | 33474 | 33776 | 33808 | 33948 | 34080

=—ı | | weg || eu —. | ERNd DR en 33794

GEERE I ge

Mittel | 33336 | 33485 | 33788

| Abgerundet | 3334 | 3349 3379 | 3383 3394 | 3408

Die folgende Tabelle enthält wieder die Resultate früherer Beob- achtungen neben denen dieser Arbeit.

38 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

A Mascart | Perreau |, J. Koch , Rentschler Dies

Arbeit

Ra | ee |

d. Kohlensuboxyd.

Das Gas wurde nach einer der von O©. Diels und G. Meyerheim ı angegebenen Methoden dargestellt. In einem gut getrockneten Fraktionier- kolben wurden 200 gr Phosphorpentoxyd und 20 gr Malonsäure mitein- ander vermischt und dann im Ölbad auf 140—150° erwärmt. Das sich entwickelnde Gas strömte aus dem Kolben, der zu Beginn der Darstellung ebenso wie der ganze Apparat auf ca. 1 mm evakuiert war, in ein weites Reagenzglas, das von einer Kältemischung von Eis und Kochsalz umgeben war, und von da in eine Vorlage, die mit flüssiger Luft gekühlt wurde. In dieser Vorlage kondensierte sich dann das Gas, das bei + 7°C. siedet, und das sich gleichzeitig entwickelnde Kohlendioxyd. Nach einstündiger Entwiekelung wurde das Vacuum unterbrochen und die Vorlage in ein leeres Dewarsches Gefäß gestellt, so daß sich bei der allmählichen Er- wärmung auf etwa 10°C. die Kohlensäure verflüchtigte, während das Kohlensuboxyd im flüssigen Zustande zurückblieb. Ganz ließ sich das CO, freilich nie beseitigen, wie man an dem weißen festen Niederschlage im Kondensationsgefäß erkannte.

1) Berichte der deutsch. chem. Gesellsch. 1907, 40,1, pag. 355.

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 8

fe}

Diese Herstellung ist ziemlich schwierig und es gelang erst nach mehreren vergeblichen Versuchen, eine meßbare Menge der Substanz zuerhalten. Sie wurde in flüssigem Zustande vom chemischen Institut, wo die Ent- wiekelung vorgenommen worden war, nach dem physikalischen Institute transportiert und dort in ein mit dem optischen Apparat verbundenes Gefäß destilliert, welches zu diesem Zwecke in flüssige Luft getaucht wurde. Nach Entfernung des Dewarschen Gefässes verdampfte die Flüssig- keit und man konnte das Gas in den Meßapparat einströmen lassen. Aus diesem mußten vorher alle Gefäße mit Phosphorpentoxyd entfernt werden, weil an dem P,O,, wie sich an der Braunfärbung zeigte, eine Zersetzung des C,0, eintrat.

Wegen der auch zeitlich begrenzten Beständigkeit des Kohlensuboxyds wurden immer gleich 100 Streifen oder noch mehr gezählt. Da nur eine kleine Menge Substanz vorhanden war, wurde das Untersuchungsrolr nicht erst auf mittleren Druck gefüllt, sondern die Messungen vom Vacuum aus vorgenommen. Außerdem ließ man das Gas immer wieder in den Vor- raum zurückströmen, indem dort mit flüssiger Luft gekühlt wurde. Die Messungen verliefen glatt, das Manometer gab konstante Werte und die Streifen blieben nach Schließen des Hahnes unbeweglich stehen, was be- weist, daß im Untersuchungsrohr keine Zersetzung des Gases stattfand. Trotzdem wiesen die für die Brechungsquotienten erhaltenen Resultate starke Schwankungen auf, die bis über vier Einheiten der vierten Dezimale stiegen, wie die folgende Tabelle zeigt.

r | N | p | m | p/N |(n—1).10? Bem. 5875.9 | 110 88,92 18,43 | 0,8084 | 6059 | Einströmen 58759 | 100 | 48,89 | 18,48 | 0,4889 | 10021 a 5875.9 | 100.5 ı 57,38 18,55 0,5709 | 8583 _ Ausströmen 5875.9 | 80 | 63,03 | 18,63 | 0,8889 | 5514 r 6678.4 143.1 | 121,42 18,72 0,8485 6568 Einströmen 6678.4 | 145 123,02 | 18,81 | 0,8484 | 6571 | Ausströmen 5015.7 | 176.7 | 114,14 | 18,87 | 0,6460 | 6483 | Einströmen

5015.7 , 110.1 67,69 18,92 | 0,6148 6813 Ausströmen 5375.) 771.7 62,89 18,97 | 0,5094 | 6063 Einströmen 5875.9 129.0 | 108,92 19,02 0.3445 5815 Ausströmen

Da eine chemische Annalyse des Gases nicht angängig war, wurde unmittelbar nach der optischen Messung seine Dampfdichte nach der Hofmannschen Methode bestimmt. Sie ergab sich zu 2,36 anstatt 2,56. Man muß also eine Verunreinigung durch ein spezifisch schwereres Gas annehmen, über welches man sich aber in keiner Weise Rechenschaft geben kann. Dies würde die Größe des Brechungquotienten erklären,

90 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

nicht aber die bedeutenden Schwankungen der gefundenen Werte, Dafür kann man auch keine zufälligen Störungen verantwortlich machen, sondern es muß ein systematischer Fehler vorliegen. Ein solcher könnte nun veranlaßt werden durch die verschiedenen Siedetemperaturen der Bestand- teile des Gases, nämlich €, O,, CO, und etwaiger anderer. Da das Gas während des Verdampfens bezw. Kundensierens in die Versuchsröhre ein- und ausströmte, ist es naheliegend anzunehmen, daß zuerst im wesent- lichen nur derjenige seiner Bestandteile hineingelangte oder eutfernt wurde, der den niedrigsten Siedepunkt hat. Demgemäß müßten die ersten vor- überwandernden Streifen dem 60, entsprechen und erst spätere das optische Verhalten des Kohlensuboxyds wiedergeben. In der Tat ergaben sich übereinstimmendere Werte, wenn man eine gewisse Anzahl der ersten Streifen von der Berechnung ausschloß. Da aber die Verunreinigungen sowohl qualitativ wie quantitativ unbekannt waren, ließ sich auf diesem Wege keine Korrektion erzielen.

Bei einer Wiederholung der Messung wirde der Versuch gemacht, diese Fehlerquelle möglichst auszuschalten. Zu dem Zwecke wurde zwischen dem Kondensationsgefäß und dem Einströmhahn eine größere Glaskugel angeschmolzen, die von einem kommunizierenden Gefäß aus mit Quecksilber gefüllt werden konnte. Durch wiederholtes Heben und Senken dieses Gefäßes wurde das völlig verdampfte Gas vor dem Einströmen ins Versuchsrohr gemischt. Leider war bei diesem Versuch die Ausbeute an C,0, sehr klein, der Prozentgehalt an CO, dagegen sehr hoch. Gleich- wohl ist aus folgender Tabelle zu ersehen, daß die Schwankungen wesent- lich kleiner sind.

N Na pi p/N (@—1).107 Bem. 9875.9 91.1 96,41 21,15 | 1,0583 | 4672 Einströmen 5875.9 40.0 | 40,95 | 21,15 | 1,0237 | 4830 | N 6678.4 | 81.0 | 98,43 | 21,27 | 1,2152 | 4626 | 3: 6678.4 | 28.0 | 33,48 | 21,27 | 1,1957 | 4702 i

j j |

Unter diesen Umständen wurde auf eine weitere Untersuchung des Gases verzichtet, welche zudem erst nach längerer Unterbrechung hätte aufgenommen werden können, und die genaue Bestimmung seiner Dispersion einer späteren Arbeit vorbehalten.

Zum Schluß sei noch eine theoretische Bemerkung gemacht. Nach Natanson !) soll zwischen der Dispersion eines Gases und der Anzahl der

!) Zeitschrift für physik. Chemie 61, pag. 321. (1908.)

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 91

in ihm enthaltenen Valenzen eine einfache Beziehung bestehen. Es soll nämlich, wenn

Be (N —H)) a

2 (m, —1) (mn —1) A,?— A, 2)

und u die Zahl der Valenzen ist, das Produkt Au eine Konstante sein, und zwar für eine Reihe von Gasen, zu denen Kohlensäure und Kohlen- oxyd gehören, gleich 16, für andre gleich 23. Die Berechnung von Av aus den vorangehenden Messungen ergibt folgende Werte:

C0,. v=®8 A rot gelb 9,81 Au 22,48 gelb grün II 2,24 17,92 grün II hellbl. = 2,45 19,60 hellbl. dunkelbl. 2,54 20,32 rot dunkelbl. 3 24,88 Mittel 21,04 co. DE—r A rot gelb —292 Av 11,68 gelb grün II —E 3 14,92 grün II hellbl. = 3,85 15,40 hellbl. dunkelbl. = 3,45 13,80 rot dunkelbl. A! 14,08

Mittel 13,98

Beide Werte weichen also von dem theoretischen, 16, bedeutend ab, was allerdings nicht sehr zu verwundern ist, da die zugrunde liegende Beziehung unsicher und die Formel selbst zu empfindlich ist, um bei dem jetzigen Grade der Genauigkeit bei Dispersionsmessungen auf Überein- stimmung rechnen zu können. Da aber trotzdem bei vielen einschlägigen Arbeiten die Werte fir Av angegeben werden, ist es hier des Vergleichs wegen auch geschehen.

Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Jahresbericht der Schles.

Jynynzseg

IkTe)

a a cn

P)

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 93

Einige Bemerkungen zu optischen Problemen: a) Totalreflexion, b) Hertz’scher Gitterversuch im sichtbaren Gebiet, c) Dis- persionstheorie der Serienspektren.

Von Cl. Schäfer.

Sitzung am 23. November 1910.

Zur kinetischen Begründung des Nernstschen Wärmetheorems,

Von 0. Sackur.

Die Gültigkeit des Nernstschen Wärmetheorems ist durch die Forschung der letzten Jahre außer Zweifel gestellt worden!). Das Theorem selbst verlangt bekanntlich, daß bei Reaktionen zwischen festen und flüssigen Stoffen die Gleichheit von freier Energie A und Wärmetönung Q nicht erst am absoluten Nullpunkt, sondern bereits in dessen unmittelbarer Nähe erfüllt ist, so dass lim lm —.. 1)

ne ne

Aus diesem Ansatz folgert Nernst unter der Annahme, daß sich die Wärmetönung Q bis zum Nullpunkt hinab als eine stetige und reguläre Funktion der Temperatur T verhält und sich demnach in eine Potenz- reihe von T entwickeln läßt, mittels der bekannten Helmholtzschen Gleichung an A=Q0-+T dr daß die spezifischen Wärmen aller Stoffe am Nullpunkt dem Koppschen Gesetze folgen und daß die bei der Integration von Gleichung 2 auftretende thermodynamisch unbestimmte Konstante für alle Reaktionen zwischen festen und flüssigen Stoffen gleich Null ist. Dann läßt sich die freie Energie derartiger Reaktionen bei allen Temperaturen aus thermischen Daten berechnen.

Eine direkte Prüfung des Nernstschen Theorems (Gleichung 1) ist bisher nicht ausgeführt worden und dürfte auch wohl in absehbarer Zeit kaum zu erwarten sein, da der Messung von A und Q in der Nähe des Nullpunktes außergewöhnliche Schwierigkeiten entgegenstehen. Man ist daher auf die Prüfung der Folgerungen angewiesen, die Nernst aus seinem Theorem für die bei höherer Temperatur verlaufenden Reaktionen gezogen hat. Da diese in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle außer- ordentlich günstig ausgefallen sind, so ist das Theorem selbst als empirisch

2)

1) Vgl. bes. Nernst, Lehrbuch d. tlıeoret. Chemie, 6. Aufl. S. 699 ff, ferner Journ. d. Chim, Phys. $, 228, 1910.

94 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

sichergestellt zu betrachten. Daher ist es eine lohnende Aufgabe, einen Zusammenhang des Nernstschen Theorems mit anderen allgemein gültigen Gesetzen oder Theorien aufzudecken.

Die beiden Hauptsätze der Thermodynamik, deren Zusammenfassung Gleichung 2 enthält, sind für diesen Zweck nicht ausreichend. Das Nernstsche Theorem führt weiter, es sagt eine Eigenschaft der A- und Q-Kurve aus, die natürlich im Rahmen der klassischen Formulierung des 2. Hauptsatzes möglich, aber durchaus nicht notwendig erscheint.

Nernst selbst hat dagegen kürzlich darauf hingewiesen!), daß sein Theorem mit der neuen Theorie der spezifischen Wärme von Einstein?) im Einklang steht. Nach Einstein nähert sich nämlich die spezifische Wärme aller festen Stoffe bei sehr tiefen Temperaturen dem Werte Null, woraus

mit Notwendigkeit die Gültigkeit des Koppschen Gesetzes folgt (lim = —=().

Auch das Verschwinden von lim . am Nullpunkte wird von Nernst

durch molekularmechanische Betrachtungen plausibel gemacht.

Durch die folgenden Betrachtungen hoffe ich im Anschluß an Nernst zeigen zu können, daß das Wärmetheorem als eine notwendige Kon- sequenz der Einsteinschen Theorie und der Boltzmannschen An- schauungen über den Zusammenhang von Entropie und Wahrscheinlich- keit aufgefaßt werden muß.

Nach einer allgemein gültigen thermodynamischen Bezeichnung ist

dA m Bezeichnet A, wie in der physikalischen Chemie üblich, die Änderung der freien Energie, die während der isothermen, ohne Volumenänderung ver- laufenden Umsetzung je eines Moles der reagierenden Stoffe eintritt, so bedeutet S die Änderung der Entropie der Reaktionsteilnehmer. Für eine Reaktion nach der Gleichung A B=AB gilt also S —= Sa + Sb Sab. Das Nernstsche Theorem ist daher bewiesen, wenn die beiden Teil- gleichungen

al) 3 lim ar 0v (3 a) und aA E A 0 b lim A lim Ss —= 0 (3b)

kinetisch abgeleitet werden können. Gleichung 3a ist bereits von Ein- stein erhalten worden, Gleichung 3b ergibt sich durch die folgende Über- legung, bei welcher wir uns zunächst der Einfachheit halber auf die Um- setzung A+ B= AB beschränken wollen.

1) Lehrb. 6. Aufl. S. 699. 2) Ann. d. Phys. 22, 189 (1907). Phys. Zeitschr. 10, 185 (1909).

U. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 95

Nach Boltzmann ist die Entropie eines gr-Atoms des Stoffes A, Sa,

gegeben durch Sa=k log Wa (die willkürlich zu bestimmende additive Konstante ist fortgelassen!).

Hier bedeutet Wa die „Wahrscheinlichkeit‘ des Systems A, d.h. in der Boltzmannschen Bezeichnungsweise die Anzahl der „Komplexionen“, die die N-Atome des gr-Atoms des Stoffes A bei ihrer Zuordnung zu den ver- schiedenen insgesamt vorhandenen Geschwindigkeiten bei konstanter Ge- samtenergie und konstantem Volumen bilden können, und die nach Ein- stein?) alle gleiche Wahrscheinlichkeit besitzen müssen. Je größer diese Zahl ist, um so größer ist bekanntlich die molekulare Unordnung des Systems.

W ist eine Funktion von N, der Energie U und des Volumens V, also auch der Temperatur T, sowie der zwischen den einzelnen Teilchen herrschenden Kräfte. Der analytische Ausdruck von W ist daher ohne die Annahme bestimmter Gesetze über die Bewegung und Kräfte der Teilchen im festen und flüssigen Zustand nicht bestimmbar. Dagegen läßt sich W für beliebige Teilchensysteme am absoluten Nullpunkt berechnen, wenn man mit der kinetischen Theorie der Wärme die Annahme macht, daß am absoluten Nullpunkt die kinetische Energie der Molekeln und Atome gleich Null ist. Dann ist die gesammte Energie potentieller Natur, und es gibt für ein System von N-Teilchen nur eine einzige Komplexion, die den Bedingungen konstanter Energie und konstanten Volumens genügt. Denn selbst wenn es mehrere räumliche Anordnungen der N-Atome gäbe, die alle gleiche Gesamtenergie und gleiches Volumen gewährleisten, so besäßen wir kein Mittel, um diese Anordnungen von einander zu unter- scheiden und dürfen sie daher nicht bei der Berechnung der Wahrschein- lichkeit in Ansatz bringen. Mithin ist für jeden Stoff am Nullpunkt die Wahrscheinlichkeit gleich 1 und seine Entropie gleich Null, es ist also auch SO = Sa! -- Sb? Sab’ 0.

Diese Überlegung beweist jedoch noch nicht, daß die Änderung der Entropie, S, bei tiefen Temperaturen gegen Null konvergiert, daß also lim S—=0 ist, da man aus den Bigenschaften eines herausgehobenen Punktes nicht auf den Verlauf der Kurve schließen darf. Dieser Beweis ist erst dann geführt, wenn gezeigt worden ist, daß die Entropieänderung vom Nullpunkt an mit wachsender Temperatur stetig und zwar be- schleunigt wächst.

Bei der kleinen Temperatur dT besitzt das aus N-Teilchen bestehende System die kinetische Energie dE. Nach der älteren Wärmetheorie kann sich diese Energie dE beliebig auf die einzelnen Atome verteilen.

I!) Planck, ‘Theorie der Wärmestrahlung, 1906, S. 137. 2) Vgl. B. Einstein, Phys. Zeitschr. 10, S. 187.

96 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Diese können die verschiedensten, auch endlichen Geschwindigkeiten be- sitzen, ihr Mittelwert muß jedoch den unendlich kleinen Wert de be- halten. Nach welchem Gesetz sich diese verschiedenen Geschwindigkeiten auf die einzelnen Atome verteilen und wie groß die Anzahl der möglichen Komplexionen ist, läßt sich ohne bestimmte Annahmen über die Art der Bewegung etc. nicht angeben. Besitzen die Atome die Eigenschaften, die wir den Atomen der einatomigen Gase zuschreiben. so gilt bekanntlich für den stationären Zustand das Maxwellsche Verteilungsgesetz. Nur für ein derartiges System hat Boltzmann die Anzahl der Komplexionen und damit die Entropie berechnet. Es erscheint daher aussichtslos, die Entropie und Wahrscheinlichkeit eines beliebigen Stoffes A selbst bei der unendlich niedrigen Temperatur dT zu bestimmen.

Während die ältere Wärmetheorie für diesen Zweck versagt, führt die Einsteinsche Theorie zum Ziele. Nach Einstein beruht die Wärmeenergie fester Stoffe bei tiefen Temperaturen auf Schwingungen der Atome oder Atomionen, deren Frequenz (v) von der Schwingungsenergie unabhängig ist, und deren Energie nicht beliebige Werte, sondern nur ganzzahlige Viel- fache des Elementarquantums e - -ßB-y annehmen kann. - B=hist die Konstante der Planckschen Strahlungsgleichung. Stellen wir uns also die kinetische Energie eines festen Stoffes in der Nähe des Null- punktes als Funktion der Temperatur graphisch dar, so erhalten wir streng genommen keine stetige Kurve, sodern eine treppenförmig gebrochene Linie, deren einzelne Stufen je gleich e sind. Praktisch erscheint uns selbstverständlich diese Linie, weil ja die Werte e außerordentlich klein sind, als kontinuierliche Kurve.

Die niedrigste Temperatur AT, bei der überhaupt noch eine Wärme- energie vorhanden ist, ist dann diejenige, bei welcher ein einziges schwin- gungsfähiges Teilchen Schwingungen von der Energie e ausführt, während sich alle übrigen in absoluter Ruhe befinden. Die mittlere kinetische Energie E jedes einzelnen der N-Teilchen eines Grammatoms beträgt

dann 5 Nach Planck-Einstein!) ist

Rn TINTE e RT —ı also bei der Temperatur AT EINE Ne N Ne ZTORTAT Samt, e =N-+1

1) Ann. d. Physik 22, 183.

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 97

N 1 EN u m men EN da N groß gegen 1 ist. Ebenso ergibt sich die nächst höhere Temperatur AT’, bei welcher die Gesamtenergie = 2e ist, aus 2e © Bv ee ee er ea) EREITAUTEE,

und so fort. Hieraus folgt, daß die Temperaturintervalle, welche gleichen Stufen der Gesamtenergie entsprechen, mit wachsender Energie rasch abnehmen, daß also die scheinbare Energiekurve vom Nullpunkt an erst langsam, dann stark beschleunigt ansteigt, wie es die untenstehende Figur zeigt, oder mit anderen Worten, daß die Energiekurve mit abnehmender Temperatur gegen Null konvergiert.

Dieser Schluß ergibt sich übrigens durch Betrachtung der Figur S. 186 bei Einstein |. c,, in welcher die Wärmeenergie durch das von der Kurve oben begrenzte Flächenstück dargestellt wird.

Nunmehr gehen wir dazu über, die Entropie eines elementaren festen Stoffes bei sehr tiefen Temperaturen zu berechnen. Bei der soeben defi- nierten Temperatur AT ist nur ein einziges von den N-Atomen des Stoffes A in Bewegung und führt Schwingungen von der Energie e aus, während die übrigen N-1 Atome in Ruhe verharren. Da aber jedes der N-Atome die Schwingungen mit gleicher Wahrscheinlichkeit ausführen kann, so er- halten wir bei der Temperatur AT N-Komplexionen, die durch die folgenden Schema veranschaulicht werden können, in welchen die einzelnen N-Atome

durch die Buchstaben A,, Ay, Ay ...... An bezeichnet werden mögen: k Atome: da..n.. A, A, As, Age An

a omplezion Energie....... B 0 0 DEERSERE: 0

> Atome. sch. cs A, A, \; A, arüketeke An

{ i ( Energie....... 0 0 Oee 0

N ATOIeR Tee erener: A, A, A, Mia An

: Energie....... 0 0 0 0 ea.

1910, 7

98 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Die Wahrscheinlichkeit Wa des festen Stoffes bei der Temperatur AT ist also —= N und demnach seine Entropie Sa —= k log Wa = k log N.

Um die Entropie bei der nächst höheren Temperatur AT’ zu berechnen, folgen wir den Überlegungen, mit deren Hilfe Planck die Entropie eines Systems von linearen Resonatoren gleicher Schwingungszahl berechnet hat!); denn der elementare feste Körper stellt nach der Theorie von Einstein nichts anderes wie ein System von N Resonatoren gleicher Schwingungszahl dar. Ist seine Gesamtenergie E=P-e, so kann diese z.B. durch die folgenden Komplexionen dargestellt werden:

1 Atom besitzt die Energie Pe, N-1 Atome in Ruhe,

1 Atom besitzt die Energie (P-1)e, 1 Atom die Energie e, N-2 Atome

in Ruhe,

2 Atome besitzen die Energie (P-2)e, 1 Atom die Energie 28, N-2

Atome in Ruhe u. s. f.

Außerdem kann jedes der N-Atome die verschiedenen möglichen Energieen besitzen. Ist z.B. N—=3, P=4, so können wir uns nach Planck die möglichen Verteilungen durch das folgende Schema darstellen, in welchem jede einzelne Komplexion durch eine Horizontalreihe dargestellt wird, indem jedes Atom so oft in einer Reihe geschrieben wird, wie die Zahl der Energie- elemente e beträgt, die auf das Atom entfallen. Diejenigen Atome, die in der betreffenden Komplexion gar keine Energie besitzen, sich also im Zustande der Ruhe befinden, sind fortgelassen:

A N NEN A A A BA A, MA Ne N ee SA An 2, AA A Aha A, IA, WAR Age | N, a A, A, A, A, | A, A, A; Ag | A, A; A; A; A, A, A, A; | A A; Az A; Az Az A; As

Die Gesamtzahl der Komplexionen ist also gleich der Anzahl der Kombinationen der N Elemente mit Wiederholung zur P. Klasse. Auf Permutationen wird hierbei keine Rücksicht genommen, da die Umstellung der Ziffern die Energie eines bestimmten Resonators nicht verändert. Die Gesamtzahl dieser Kombinationen ist nach einer bekannten Formel der Kombinationsrechnung

oo &+P-D))! EINS! Für das oben gewählte Beispiel ß 6! N N und BR 2 st We

wie auch das obige Schema zeigt. Bei der Temperatur AT’, bei welcher die Gesamtenergie = 2e, also P= 2 ist, ist demnach

1) Theorie der Wärmestrahlen, S. 152.

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 99

um St Ren) Te nor 2

und entsprechend v 1 SAT x log 2.2 = 2k log N k log 2,

wenn man 1 gegen N vernachlässigt, und entsprechend für die höhere Temperatur AT’

wit —_ NET TEN NT DIONTED) u een 6 und ö Se —=3klgN klog6u.=f.

Da, wie S. 5 gezeigt, AT’ nur wenig größer als AT und AT” nur sehr wenig größer AT’ ist, so folgt, daß die Entropie S ebenso wie die Energie mit wachsender Temperatur sehr stark beschleunigt ansteigt, daß sie also mit abnehmender Temperatur zum Nullwerte konvergiert.

Dieser Satz gilt nicht nur für elementare Stoffe, die nur schwingungs- fähige Teilchen einer einzigen Frequenz enthalten, sondern auch für Stoffe mit mehreren Eigenschwingungen (Verbindungen). Denn bei sehr tiefen Temperaturen müssen diese einzelnen schwingungsfähigen Teilchen nach- einander erregt werden, derart, daß bei sehr tiefer Temperatur nur die Eigenschwingungen kleinster Frequenz und erst bei höherer Temperatur die rascher schwingenden Teilchen in Bewegung gesetzt werden. Bei sehr tiefer Temperatur können daher alle festen Stoffe, Elemente wie Ver- bindungen, nur eine einzige Eigenschwingung besitzen.

Wenn nun die Entropieen aller festen Stoffe bei abnehmender Tem- peratur gegen Null konvergieren, so muß auch die während der isothermen Reaktion eintretende Entropieänderung gegen Null konvergieren, womit Gleichung 3b bewiesen ist.

Man kann den kinetischen Beweis des Nernstschen Theorems noch auf einem formal etwas anderen Wege erbringen. Durch Differentiation von Gleichung 2 folgt bekanntlich

ae Zn ai) GE und durch Integration dA Ber lEO ne = am >= Far! -- const.

Das Theorem verlangt, daß die Integrationskonstante, die rein thermo- dynamisch von der chemischen Natur und dem Volumen der Reaktions- teilnehmer abhängig sein kann, für alle Reaktionen zwischen festen Stoffen Null ist. Nach Einstein!) gilt für

ualisc:

100 Jahresbericht der ‚Schles. Gesellschaft ‚für vater]. Cultur.

Bv (Bm: dQ pt m) re Be

aT Sn (7 Bv =) wobei die Summierung über alle Reaktionsteilnehmer zu erstrecken ist, und

die bei der Reaktion entstehenden und verschwindenden Stoffe mit dem entgegengesetzten Vorzeichen in zu setzen sind. Demnach ist

De

16

4)

S=BR2 const.

B

Die Integration ist relativ leicht auszuführen, wenn man "—-

.T-x und demnach T = Bi dr mm Bo a dx setzt. Dann wird In x’ Aha sgje) > 2% s x-(lInx)?-Bv-x SI —WSERW 2 BE en Pe F econst. le 5 dx + eonst, ER a 1 \ N Wir setzen er Ip dl e Eu) dann ist In x dx = Y £ | S S 3R2 (—, En) H const. BR (- a In x In (x ») H const. v le —=3R2 Yaner me IneNee + const. 5) N,

Nun vergleichen wir diesen auf thermodynamischem Wege aus der spezifischen Wärme erhaltenen Ausdruck mit demjenigen, den Planck durch Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen für ein System von N Resonatoren gleicher Frequenz erhalten hat. Nach Planck ist!)

nl )ulı, 2) a]

wenn E die mittlere Energie eines Resonators und & das Elementarquantum der Energie ist. Setzen wir außerdem nach Einstein (vergl. S. 4)

e -— Bv Dune RT Bv e ARTEN

!) Wärmestrahlung S. 153.

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 101

so erhalten wir

Diese Gleichung stellt die Entropie eines Systems von N Resonatoren dar, die alle in ein und derselben Richtung schwingen. Wenn man aber den Atomen 3 Bewegungsfreiheiten zuschreibt, wie es Einstein bei der Berechnung der spez. Wärme getan hat, so wird das System von N Atomen dargestellt durch die Schwingungen von 3 N Resonatoren, von denen je N in den auf einander senkrechten Richtungen des Raumes schwingen. Die Entropie des gr-Atomes eines elementaren Stoffes A ist daher

Bv By \ iner nee. BLV (7 ) 2 Sa =3kN No le 6) BR au

und wir erhalten durch Summierung über alle Reaktionsteilnehmer für die während der isothermen Reaktion A + B = AB eintretende Entropie- änderung

2 R B v en N ‚T_) 6a)

Bv I

Auer

Der Vergleich von Gleichungen 6a und 5 ergibt R Be x) und const. 0,°)

!) Planck, Wärmestrahlung, S. 147.

2) Die große const. von Gleichung 5 ist nicht identisch mit der bei Ableitung von Gleichung 6 fortgelassenen additiven Konstante (vergl. $.3). Erstere kann eine Funktion des spezifischen Volumens und der chemischen Natur der reagierenden Stoffe sein und darf daher nicht willkürlich weggelassen werden, während die letztere keine physikalische Bedeutung besitzt.

102 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

womit das Nernstsche Theorem für Reaktionen zwischen festen Stoffen erwiesen ist. Der Beweis gilt, wie man ohne weiteres erkennt, nicht nur für die einfache Additionsreaktion A + B = AB, sondern auch für Reaktionen mit beliebigen Molekülzahlen. = = bei endlichen Temperaturen im allgemeinen einen endlichen Wert besitzt, so muß auch der unter dem Summenzeichen stehende Ausdruck in Gleichung 6a einen endlichen Wert besitzen. Daraus würde, falls man an der Gültigkeit der Einsteinschen Voraussetzungen auch bei höheren Temperaturen festhält, folgen, ‚daß die einzelnen Atome innerhalb der Molekel der Verbindung nicht mehr die gleiche Schwingungszahl besitzen wie im elementaren Zustande.

Da erfahrungsgemäß S =

Die Zustandsgleichung eines idealen festen Körpers.

Die Gleichung 6 stellt die Entropie eines elementaren festen Stoffes dar, dessen Atome oder Atomionen Schwingungen um Gleichgewichtslagen ausführen. Bei der Ableitung der Gleichung 6 ist die Voraussetzung gemacht worden, daß die Schwingungszahl von der Temperatur unab- hängig ist und daß die Schwingungsenergie jedes einzelnen Teilchens nur ein ganzzahliges Vielfache eines Elementarquantums e - - Bv sein kann. Führt man die weitere Annahme ein, daß die Schwingungszahl auch vom Volumen, welches die N schwingenden Teilchen einnehmen, unabhängig ist, so kann man aus Gleichung 6 einige wichtige Schlüsse über das Ver- halten eines solchen Körpers ableiten. Da sich zeigen läßt, daß ein Körper, dessen Entropie durch Gleichung 6 dargestellt wird, ähnlich wie ein ideales Gas besonders einfache Eigenschaften besitzt, so will ich ihn im folgenden als einen „idealen festen Körper‘‘ bezeichnen.

Zunächst folgt aus (6)

os

nz d. h. die Entropie eines idealen festen Körpers ist vom Volumen unabhängig, ebenso wie die Energie eines idealen Gases vom Volumen unabhängig ist. Daraus folgt weiter, daß ideale Körper keine festen Lösungen bilden können, beziehungsweise, daß in ihnen keine Diffusion stattfindet.

0,

Für alle Stoffe gilt die thermodynamische Beziehung GN) 1 (OU pP )-

|

on u DNoy.\ Mithin ist für den idealen festen Körper gu

One

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 103

und daher das Differential der Gesamtenergie U

ou ou dU—=smdT+, dv—cdT - pdv.

Da dU ein totales Differential ist, so ist

oc, op Dr En da ja Cy == apel

(vergl. [4] S. 7) eine Funktion von T allein ist. Dann ist aber auch = (0 und rn const., d.h. unabhängig von der Temperatur, und ferner auch CH = Cr

Der Sinn dieser Gleichungen ist folgender: Der Ausdehnungskoeffizient eines idealen festen Körpers ist Null und sein Kompressibilitätskoeffizient von der Temperatur unabhängig. Bei der Kompression eines idealen festen Körpers tritt keine Temperaturänderung ein, es wird vielmehr die gesamte bei der Kompression geleistete Arbeit zur Vermehrung der potentiellen Energie der Atome verwendet.

Diese Schlüsse sind zum Teil bereits von Nernst für die un- mittelbare Nähe des absoluten Nullpunktes aus seinem Wärmetheorem abgeleitet worden!). Sie erhalten hier ihre kinetische Begründung und gelten für den idealen festen Körper streng bei allen Temperaturen, und zwar nicht nur für elementare Stoffe, sondern auch für Verbindungen, da bei diesen Entropie und spezifische Wärme durch Summen dargestellt werden, deren einzelne Summanden die Formen 6 und 4 besitzen.

Vergleicht man das Verhalten der realen festen Körper mit diesen Folgerungen, so ergibt sich folgendes: Der Ausdehnungskoeffizient ist bei allen festen Stoffen sehr klein und scheint nach den Arbeiten von Thiesen ?) und Grüneisen®) mit abnehmender Temperatur gegen Null zu konver- gieren. Die Abhängigkeit der Kompressibilität von der Temperatur ist bei allen Temperaturen sehr klein und nimmt ebenfalls mit sinkender Temperatur abt). Die realen festen Körper weichen also bei höherer Temperatur von dem Verhalten des idealen Körpers merklich ab, scheinen sich aber mit

1) Journ. de Chim. Phys. 8, 236, 1910,

2) Verh. Deutsche Phys. Gesellsch, 10, 410, 1908. 3) Ann. d. Physik 33, 33, 1910.

4) Grüneisen, ibid. 75.

104 Jahresbericht der Schles: Gesellschaft für vaterl. Cultur.

abnehmender Temperatur demselben unbegrenzt zu nähern. Demnach ist der ideale feste Körper ähnlich wie das ideale Gas ein Grenzbegriff. Eine vollständige kinetische Theorie des festen Aggregatzustandes dürfte man daher vielleicht ebenso auf den Einsteinschen Voraussetzungen aufbauen können, wie die van der Waalssche Theorie auf den Vorstellungen der klassischen Gastheorie.

Die exakte Gültigkeit des Nernstschen Theorems wird durch die Abweichungen der realen festen Körper vom Verhalten der idealen nicht berührt, sofern sich reale und ideale Körper mit abnehmender Temperatur einander unbegrenzt nähern. Denn, wie Nernst gezeigt hat, genügt die Gleichung

5 A 2 di®

lim an er lim ar zur Berechnung der Affinität fester Stoffe aus thermischen Größen für all- Temperaturen. Die experimentell bestätigte Richtigkeit des Wärmetheorems ist daher als ein Beweis für die Konvergenz der realen festen Körper nach dem idealen hin zu betrachten.

Zur Theorie der Kombinationstöne.

Von Cl. Schäfer.

II. Abteilung.

Allgemeine Übersicht der meteorologischen Beobachtungen auf der Königl. Universitäts- Sternwarte zu Breslau im Jahre 1910.

Mitgeteilt von Dr. @. Rechenberg. Höhe des Barometers über Normal-Null —= 147,03 m.

Naturwissenschaftliche Sektion.

IE Barometerstand,

lI.-Temperatur der Luft

1910. reduziert auf Celsius 5 . 2 er sius in Millimetern in Graden nach Celsiu [ER 3 2 2 Monat ED Bela a et a ea Een = ee Bee ee WE = ä = ä e : = = Ss = = mm mm | mm 0 0 0 Januar ..... 7. 764,6 | 25. | 724,1 |746,59 | 11. s9| 29. |— 761 1,4 Februar ....| 11. | 572 | 8. | 336 | 46,65 | 23. | 135 | 1&. |— 4,0] 3,61 März....... 31. | 59,9 | 18. | 38.2 | 52,90. | 13. | 15,9 | 31. |— 3,5] 3,89 Anm... 2. 1594| 15. | 3551| 4618| 15. | 9325| 1.1— 235 849 Ma. 2. 5239| 9.| 386 | 46,09 | ı7. | a65| 2. 35[ 1428 DRIN nr er 20. 55,31 26. | 35,2 | 46,70 B} BO. 2% | 6,8] 18,79 Jules 928. 52,8 |S., 9.. 39,0 | 45,70 all 98,8 1% 9,3| 17,59 August ..... 6 Das 4. 40,5 | 48,15 3. 9831| 15. 7,4] 17,15 September..| 26. ' 60,5| 4 | 442 | 51,17 | 30. | 22,3 | 26. 4,0] 12,86 Oktober ....| 14. | 65,8 | 31. | 41,2 | 53,39 3. | 19,8 | 28. 04] 8,83 November ..| 27..| 5233| 1. 26,3 | 41,68 1. | 1235 | 26. |— 6,1} 2,99 Dezember...| 21. | 60,3 | 27.| 3232| 658 | 12. | 105| 4|— 61] 311 Jahr Okt. | 765,8 | 20- | 794,1 |747 ‚5 | a 30,9 | I- |- 2] 9,42 III. Feuchtigkeit der Luft, IV. W olken- 1910 a. absolute | b. relative bildung und = . in Millimetern Ernten Niederschläge | = 8. | 1.3 u = Ss ©) z os Monat g S = ‚& 2 a |2 = | 2 = eu = aBlala ala | 2 lals Elaisı|ı 8 ]j#Flos5 ses I Belle iezeee IB 2 | 18» 17 |352 Aa B= a EIl&E a lala El E Tage. | 2 1 Januar 3.163| 1. 25) #26löfter 100 1. 5381,9| 1 | 11 | 19] 31,56 Februar 21.24. 6,6) 12. 2,9) 4,72| öfter 100, 12. 5379,3 12 | 15 9,36 Mavzı.... 2.)67| 31. |2,4 4,46 öfter/100 21. 36748] 2 | 20 9 22,65 "ll oe 18. | 9,2| 12. |1,9) 5,51 22.27.1100 12. |2167,0| & | 15 | 11) 30,36 May... 18. 112,4| 23. | 4,6) 8,21 öfter 100] 23. |28/68,6| 4 | 14 | 13) 82,90 U ande 12. 113,4| 20. |4,3110,39| 17. | 99] 22. 98645] 4 | 19 | 7 42,60 a 22. 15,7| 6. |6,510,368.,10.1100 29. |3269,9| | 21 | 10) 97,80 August ....| 1. 16,3) 15. |6,810,5014.31.11001 3. |35722| ı | 16 | 14 76,13 September.| 13. 113,0. 26. 4,4 9,02 öfter 100, 15. 37816] 4 9 | 17 132.60 Oktober ...| 3. 12,0 | 26. 44 7.20 öfter 100 1. 50 836| 1118 | 12) 18,75 November . 1. | 7,3| 26. |2,7| 4,73 öfter 1100| 11. /52/82,6] | 11 | 19| 50,55 Dezember .| 14. | 7,6 5. 2,6. 5,08 öfter 100 29. 66 86,3] 1 | 10 | 20) 17,50 Jahr En 16,3] u 19] 7,04 öfter [100] AP} "21l76,0| 23 | 166! 612,76 S

106 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

V. Herrschende Winde.

Januar. Die Winde, die um die Mitte des Monats herum etwas stärker als gewöhnlich auftraten, wehten überwiegend aus westlichen Richtungen; Ostwind wurde gar nicht, Nordost nur einmal notiert.

Februar. Die Winde, die durchweg nur in mittlerer Stärke auftraten, wehten überwiegend aus südlichen Richtungen.

März, Die Winde, die in der letzten Woche des Monats etwas stärker als gewöhnlich auftraten, wehten überwiegend aus östlichen Richtungen, doch trat keine Richtung ganz zurück.

April. Die Winde, die wiederholt stärker als gewöhnlich wehten, verteilten sich, mit Ausnahme der seltenen Nordostwinde, ziemlich gleich- mäßig auf die Windrose.

Mai. Die Winde, die durchweg nur in mittlerer Stärke auftraten, wehten überwiegend aus östlichen und westlichen Richtungen.

Juni. Die Winde wehten meist nur in normaler Stärke und verteilten sich sehr gleichmäßig auf die Windrose.

Juli. Die Winde, die durchweg nur in mittlerer Stärke auftraten, wehten überwiegend aus West und Nordwest, doch trat keine andere Richtung ganz zurück.

August. Die Winde wehten zumeist aus West und Nordwest, verteilten sich aber sonst mit Ausnahme der seltenen Südwinde gleichmäßig auf die Windrose.

September. Die Winde, die durchweg nur schwach auftraten, wehten über- wiegend aus Nordwest, demnächst auch häufig aus West und Südost.

Oktober. Von den Windrichtungen traten die Südost- und Ost- und auch die Nordwest- und Westwinde am häufigsten auf.

November. Die Winde, die wiederholt etwas stärker als gewöhnlich auf- traten, wehten überwiegend aus den Richtungen von Südost über Süd nach West,

Dezember. Die Winde wehten in der letzten Monatswoche etwas stärker und verteilten sich mit Ausnahme der seltnen Nord- und Nordost- winde ziemlich gleichmäßig aul die Windrose.

VI. Witterungs-Charakter.

Januar. Der Luftdruck bewegte sich in wiederholt sehr beträchtlichen Schwankungen in der ersten Hälfte des Monats meist über dem normalen Werte, in der zweiten darunter. Die Temperatur war nur an 3 Tagen, am 24., 27. und 28., unter dem Durchschnitts- wert, sonst aber und oft auch ziemlich hoch darüber, sodaß das Monatsmittel den Mittelwert um mehr als überstieg. Die

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 107

Feuchtigkeit der Luft, die Sonnenscheindauer und die Summe der Niederschläge, die infolge der hohen Temperaturen vorwiegend aus Regen bestanden, waren nahezu normal.

Februar. Der Luftdruck bewegte sich in beständigen und oft auch be- trächtlichen Schwankungen zumeist unter dem Mittelwerte. Die Temperatur war an allen Tagen ohne Ausnahme über normal und ihr Mittel überstieg infolgedessen den Durchschnittswert um 4°, °. Die Sonnenscheindauer war etwa normal, dagegen war die Feuch- tigkeit der Luft zu groß, obwohl Regenfälle nur selten waren und daher ihre Summe nur den vierten Teil des Mittelwertes er- reichte.

März. Der Luftdruck bewegte sich in nur mäßigen Schwankungen zumeist über dem Mittelwerte. Die Temperatur war nur in der letzten Monatswoche unter normal, sonst darüber. Die Feuchtigkeit der Luft, die Himmelsbedeckung und auch die Sonnenscheindauer waren nahezu normal. Niederschläge, die zum Teil aus Schnee bestanden, waren selten und traten auch immer in geringen Mengen auf, sodaß ihre Summe nur °/, des Durchschnittswertes erreichte.

April. Der Luftdruck bewegte sich in beständigen und zum Teil auch recht beträchtlichen Schwankungen zumeist unter dem Mittelwerte. Die Temperatur war in der ersten Hälfte des Monats überwiegend über normal, in der letzten Hälfte darunter, Die Feuchtigkeit der Luft entsprach annähernd dem Durchschnittswerte, dagegen war die Himmelsbedeckung zu klein und infolgedessen die Sonnen- scheindauer etwas zu groß. Niederschläge fielen nur in der zweiten Hälfte des Monats und auch meist in nur geringen Mengen, sodaß ihre Summe wiederum unter dem Mittelwerte blieb.

Mai. Der Luftdruck bewegte sich in mäßigen Schwankungen auch in diesem Monat meist unter normal. Die Temperatur war in der ersten Woche kühl, stieg dann aber beträchtlich an, sodaß ihr Mittelwert um mehr als über dem Durchschnitt sich ergab. Die Feuchtigkeit der Luft und die Himmelsbedeckung waren zu groß. Niederschläge fielen zumeist in der ersten Hälfte des Monats und auch oft in reichlichen Mengen, sodaß ihre Summe den Durch- schnittswert um das 1"/,fache überstieg. Von elektrischen Er- scheinungen wurden beobachtet 4 Gewitter und 4 mal Wetter- leuchten.

Juni. Der Luftdruck bewegte sich in meist nur geringen Schwankungen fast beständig unter dem Mittelwerte. Die Temperatur war in der ersten Hälfte des Monats stark über normal, in der zweiten Hälfte etwas darunter, sodaß das Monatsmittel um mehr als zu hoch wurde. Die Feuchtigkeit der Luft war elwas zu groß, dagegen die

108

Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Himmelsbedeckung um ein weniges kleiner als gewöhnlich. Regen- fälle wurden vorwiegend in der zweiten Hälfte des Monats notiert und traten meist nur in geringen Mengen auf, sodaß ihre Summe nur 2, des Durchschnittswertes erreichte. Elektrische Erschei- nungen waren recht häufig; es wurden beobachtet 8 Gewitter und 4 mal Wetterleuchten.

Juli. Auch in diesem Monat bewegte sich der Luftdruck in meist nur

August.

mäßigen Schwankungen fast beständig unter dem Mittelwerte. Die Temperatur blieb in der ersten Hälfte des Monats durchweg unter normal, stieg dann allerdings etwas an, blieb aber in ihrem Mittel um mehr als Y,° unter dem Durchschnitt. Die Feuchtig- keit der Luft und auch die Himmelsbedeckung waren zu groß. Regenfälle waren häufig und fielen auch oft in beträchtlichen Mengen, sodaß ihre Summe den normalen Wert um 20 mm über- stieg. Von elektrischen Erscheinungen wurden notiert 7 Gewitter und 5 mal Wetterleuchten.

Der Luftdruck bewegte sich während des ganzen Monats in meist nur mäßigen Schwankungen um den Mittelwert herum. Die Tem- peratur setzte hoch ein, sank dann aber stark und erreichte nur noch an wenigen Tagen die normale Höhe, sodaß ihr Mittelwert wiederum um mehr als Y,° unter dem Durchschnitt blieb. Die Feuchtigkeit der Luft und die Himmelsbedeckung waren viel zu groß und infolgedessen erreichte die Sonnenscheindauer nur 2, des normalen Wertes und blieb somit um 60 Stunden unter dem Durchschnitt. Regenfälle traten in normalen Mengen auf. Von elektrischen Erscheinungen wurden beobachtet 6 Gewitter und 1 mal Wetterleuchten.

September. Der Luftdruck war nur in der ersten Woche des Monats unter

Oktober.

normal, sonst fast beständig darüber. Die Temperatur war nur an wenigen Tagen über dem Durchschnitt und infolgedessen stellte sich ihr Mittelwert um unter normal. Die Feuchtigkeit der Luft und die Himmelsbedeckung waren viel zu groß, die Sonnen- scheindauer wiederum um ein Bedeutendes zu klein. Niederschläge waren in der ersten Hälfte des Monats häufig und fielen auch oft in beträchtlichen Mengen, sodaß ihre Summe den Durchschnittswert um fast das Dreifache überstieg. Von elektrischen Erscheinungen wurden beobachtet 1 Gewitter und 2 mal Wetterleuchten.

Der Luftdruck bewegte sich in meist nur mäßigen Schwankungen überwiegend über dem Durchschnitt, sodaß sein Mittelwert sich um 4 mm über normal stell. Auch die Schwankungen der Tempe- ratur waren nicht bedeutend. Die Feuchtigkeit der Luft und auch die Himmelsbedeckung waren wiederum zu groß. Dagegen traten Regenfälle nur in der ersten Monatswoche auf und nur am 4. in

II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 109

erheblicher Menge, sodaß ihre Summe nur die Hälfte des Durch- schnittswertes erreichte. Elektrische Erscheinungen wurden nicht mehr notiert.

November. Der Luftdruck bewegte sich in beständigen und oft auch recht beträchtlichen Schwankungen zumeist so tief unter dem Mittel- werte, daß das Monatsmittel um mehr als 7 mm unter normal sich ergab. Die Schwankungen der Temperatur waren nur gering und ihr Mittelwert entsprach genau dem langjährigen Mittel. Die Feuchtigkeit der Luft war normal, dagegen die Himmelsbedeckung zu groß; infolgedessen erreichte, die Sonnenscheindauer nur ?], des Durchschnittswertes. Niederschläge, die etwa zu gleichen Teilen aus Regen und Schnee bestanden, waren recht häufige, sodaß ihre Summe den normalen Wert um die Hälfte überstieg.

Dezember. Auch in diesem Monat bewegte sich der Luftdruck in be- trächtlichen Schwankungen fast beständig unter dem Mittelwerte. Die Temperatur war nur an wenigen Tagen am Anfange des Monats unter normal, sonst aber immer und oft auch beträchtlich darüber, sodaß das Monatsmittel um mehr als zu hoch wurde. Die Feuchtigkeit der Luft und die Himmelsbedeckung waren zu groß und daher erreichte die Sounenscheindauer nur etwas mehr als die Hälfte des Durchschnittswertes. Die Niederschläge bestanden wiederum etwa zu gleichen Teilen aus Regen und Schnee; sie fielen fast ausschließlich in der zweiten Monatshälfte und waren auch meist gering, sodaß ihre Summe nur die Hälfte des normalen Wertes ergab.

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Schlesische Gesellschaft für Yaterländische Gultur.

88. | II. Abteilung. Jahresbericht. | Naturwissenschaften. | b. Zoologisch-botanische Sektion. _ IK =

1910, 2 = 2,9

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Sitzungen der zoologisch-botanischen Sektion im Jahre ıgıo.

l. Sitzung am 6. Januar 1910.

Herr C. Baenitz legte ein Viscum album quercinum vor, das er im Göpperthain in der Nähe des botanischen Schulgartens auf einem zweiten Baume Quercus palustris gefunden hatte; auf der Eiche fanden sich 4 oder melırere Büsche des Parasiten.

Sodann sprach Herr F. Pax über die „Seeigel‘‘ des Gallenbecker Sees bei Friedland (Mecklenburg),

die alljährlich an bestimmten Stellen des Ufers erscheinen.

Endlich hielt Herr F, Kern einen Vortrag über seine

Bryologischen Exkursionen in der weiteren Umgebung der Ortler- und Adamellogruppe.

Gewisse Gebiete der Alpen sind bryologisch schon sehr bekannt, während andere ganz vernachlässigt werden. So sind z.B. die Hauptteile der Hohen Tauern bryologisch sehr gut erforscht; auch von den Ötztaler Alpen, der Örtlergruppe läßt sich dasselbe sagen. Doch dazwischen liegen nun kleinere Gebiete, an denen die Moosfreunde bisher stets vorbeigeeilt sind. Und auf solche Gebiete hatte ich es im vergangenen Sommer abgesehen. So sind von der Ötztaler Gruppe das eigentliche Ötztal, sowie das benachbarte Pitz- tal seit langer Zeit genau bekannt, hingegen die Täler der Südseite sind fast unbekannt geblieben, allenfalls mit Ausnahme des Schnalser Tals, durch welches meist der Übergang von Norden in den Vintschgau und nach Meran gemacht wird. Ich beschloß deswegen, mir hier das benachbarte Matscher Tal nach Moosen anzusehen, besonders da am obersten Ende an der Schnee- grenze eine selır günstig gelegene Hütte (die Höllerhütte) vorhanden ist. Von den benachbarten Gruppen des Piz Sesvenna und Piz Lischanna, die zwischen der Ötztaler und der Ortlergruppe liegen, war auch nichts be- kannt. Die neue Flora von Dalla Torre und Graf Sarnthein, welche jeden einzelnen Moosstandort von Tirol angibt, führt auch nicht einen ein- zigen Standort aus diesen Gegenden an. Ebenso sind die zur selben Gruppe ge- hörigen Scarltäler, die allerdings zum Engadin gerechnet werden, von Bryo- logen völlig unbesucht geblieben. Auch auf der Südseite der Ortler-

1910. 1

>) Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

gruppe ist das lange Val Tellina ziemlich gut bekannt, während das parallele Val Camonica, das sich von der Adamellogruppe nach Süden zieht, fast unbekannt geblieben ist.

Das Matscher Tal erreicht man am besten durch das Etschtal und zwar bei der Station Schluderns. Gleich beim Aufstieg sind kalkfreie Fels- köpfe mit einer Fülle von fruchtender Grimmia leucophaea überzogen, der sich sterile Rasen von beiden Mielichhoferien beimischen; bei der geringen Seehöhe von 1000 m ein merkwürdiges Vorkommen. Ein in der Nähe befindlicher Wiesengraben mit felsigen Ufern bot Anomobryum ‚flliforme c. fr. und concinnatum, Barbula reflexa u. a. Auf der nächsten Talstufe fingen die Felder des Dorfes Matsch an; überall leuchteten aus dem Getreide die scharlachroten Blüten von Adonis aestivalis. Hinter Matsch ist der ganze Talgrund von prächtigen Wiesen eingenommen; eine Fülle von Paradisea liliastrum, Gentiana acaulis und verna, Aster alpinus, Anemone sulphurea, Trollius u. a. erfreut hier das Auge; in dem anstoßenden Lärchenwald hingen überall in den Sträuchern die herrlichen, blauen Blüten der Atragene alpina. Gerade solche Lokalitäten bieten jedoch von Moosen so gut wie nichts. Auch der Wald beim Glieshofe war darin nicht besonders ergiebig. An Felswänden wuchs nur Orthotrichum rupestre und Sturmi, doch gelang es mir auf dem feuchten Waldboden noch Cynodonlium fallax und Lophozia obtusa aufzunehmen; letztere Art, die ich zum ersten Male fand, kam wie gewöhnlich in einzelnen Stengeln kriechend zwischen Mnium affine vor. Um nun vom Glieshofe zur obersten Talstufe zu gelangen, ist die Überwindung einer Steigung von 900 m notwendig. Oben, unmittelbar an der Grenze der Schneeregion, steht die Höllerhütte in einer Höhe von 2650 m. Große, feuchte Vertiefungen waren hier mit schwarzgrünen Decken der Grimmia mollis ganz bedeckt, die Rasen wie gewöhnlich nur steril. An den Felsen neben der Hütte fruchtete die seltene Grimmia sub- sulcata. Pfiffe von Murmeltieren und die Rufe des Accentor alpinus be- grüßten mich in dieser Alpenhöhe. Leider mußte ich hier wegen eines starken Schneesturmes (7. Juli) sehr bald das Sammeln aufgeben, und nur einige wenige Rasen konnten geborgen werden. Da unter diesen Moosen Arten wie Desmatodon glacialis, Hypnum Goulardi, Webera albicans glacialis, Brachythecium latifoium waren, so bedauerte ich doppelt, gezwungen zu sein, von hier fortgehen zu müssen. Noch in anderer Hinsicht war ich enttäuscht. Brachythecium gelidum Bryhn, entdeckt und weit verbreitet in den Schneebergen Jotunheims, war bereits von Prof. Vaccari auf der Grivola in den Grajischen Alpen gefunden worden. Ich habe dieselbe Art (teste auct.) am höchsten Teile des Velbertauerns, bei 2540 m bereits am 30. Juli 1899 zwischen Schneefeldern aufgenommen und hatte geglaubt, sie sicher hier an der Höllerhütte, einem ganz ähnlichen Standorte, auf- treiben zu können, aber vergeblich war mein Suchen. Ich wandte mich nun der Gruppe des Piz Sesvenna zu. Hier bildet die Pforzheimer Hütte

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 3

in einer Seehöhe von 2250 m einen vortrefflichen Stützpunkt für Erfor- schung dieser Gegend. Schon ehe man sie erreicht, kann man an der Schwarzen Wand, einem Felshange, über welchen sich der Schlinigbach in einem Wasserfall herabstürzt, gute bryologische Ausbeute machen. Die Felsblöcke am Fuße dieser Wand sind mit Grimmia anodon und Schistidium confertum überzogen. Die Wand selbst bietet ein Bryum, welches dem B. Geheebii sehr nahe steht, die niedliche Pottia latifolia und Sauteria alpina. Der ergiebigste Standort liegt aber direkt westlich von der Hütte selbst. Hier finden sich niedrige Kalkfelsen, auf denen man überall die weißen Blüten des Ranuneulus pyrenaeus zerstreut sieht; dazwischen aber bryolo- gische Seltenheiten in großer Auswahl, zunächst Olevea hyalina in schönster Ausbildung, Fimbriaria pilosa (sonst in Tirol noch nicht gefunden), Reboulia, Riccia sorocarpa nana, Encalypta commulata, das kleine Brachythecium colli- num und trachypodium, Weisia Wimmeri, Didymodon validus u. a. Weiter oben nach dem Piz Sesvenna sind aber die Kalkfelsen bar aller Moos- vegetation. Nördlich der Hütte sind die Abhänge der Rassas- und Vernung- spitze völlig mit Vegetation überzogen, denn der Boden besteht hier aus Glimmerschiefer. Anstehende Felsen sind nur an wenigen Stellen zu sehen; sie sind dazu leider ziemlich trocken, bieten aber doch manches Annehm- bare, So gab es hier Desmatodon systylius, Grimmia alpesiris, Bryum subro- tundum, Eurhynchium diversifolium außer den häufigeren Mitgliedern der alpinen Moosflora. Auch der Schlinigbach selbst war nicht ohne Interesse, Außergewöhnlich groß waren die schwarzgrünen Rasen des Hypnum arclicum, die roten des H. purpurascens; an Stellen, wo das Vieh öfters hinkam, gab es auch die stickstoffliebenden Dissodon splachnoides und Bryum Schleicheri lalifolium.

Um naclı den abgelegenen Scarltälern zu gelangen, wollte ich die hohe Fuorcla Sesvenna benützen; sie lag aber dieses Jahr noch so tief im Schnee, daß es nicht möglich war, hinüber zu kommen, und ich mußte einen großen Bogen durch das Engadin machen, um Scarl vom Inntale her zu erreichen. Das Val d’Uina, was ich zunächst zu durchwandern hatte, ist äußerst felsig und soll wegen seiner ursprünglichen Vegetation und Tier- welt mit den benachbarten Scarltälern zum Schweizer Naturschutzpark erklärt werden. Ein auffliegender Steinadler, Scharen von Schneehühnern und Alpendohlen, sowie eine ganz frische Bärenfährte gaben Zeugnis von seiner reichen Tierwelt. An der höchsten Stelle des Überganges, bei 2600 m an einem Orte, wo der sonst öde Boden mit einer großen Menge der gelben Blüten von Gagea Liottardi geziert war, wuchsen außer Timmia bavarıca viele Rasen von Amblystegium Sprucei. Merkwürdig genug ist es, daß eine so zarte Pflanze, fast ohne jedes Schutzmittel gegen die rauhe Hochgebirgswitterung, sich bis zur Schneegrenze emporwagt. Gehört doch gerade diese Art auch zu den Moosen, welche im arktischen Amerika bei der Gjöaexpedition unter Amundsen in Gjöahayn und Grant Land ge-

1*

4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

funden wurden. Schon als ich von Schuls nach Scarl aufstieg, fing es wieder an zu schneien und in Scarl lag der Schnee (am 11. Juli) meter- hoch. Aus diesem Grunde wollte ich möglichst rasch nach den italieni- schen Tälern auf der Südseite des Ortler und des Adamello kommen; hier konnte man auch bei Regen bryologisch arbeiten. Als ich den Rückweg antrat, lagen noch gegen Mittag unmittelbar am Inn die Wiesen bei Tarasp voll Schnee. Große Scharen von Alpendohlen (Pyrrhocorax alpinus), vom Schnee aus dem Hochgebirge vertrieben, flogen im Tale umher. In Zernez gelang es mir, wieder einiges bryologisch Interessante aufzufinden. Schon die Felsen am Ofenpasse waren mit großen, weichen Rasen von Grimmia elatior und dem seltenen Orthotrichum Sardagnanum bewachsen, auch Anoectangium Sendinerianum zeigte sich hin und wieder. Eine merkwürdige Moosgesellschaft fand ich aber auf Gletschersand am Ufer des Spöl. Hier, bei einer Seehöhe von nur 1550 m wuchsen auf einem Raum von wenigen Quadratmetern Brachythecium Funckü, Orthothecium chryseum und strietum, Hypnum palustre subsphaericarpum, Oncophorus virens, serralus und Timmia austriaca. Sie waren offenbar von dem unmittelbar darüber liegenden Val Cluoza herabgeschwemmt worden. Das Val Cluoza selbst ist bereits dieses Jahr als Naturschutzpark eingerichtet worden, in dem nicht botanisiert werden darf.

Der erste Ort, den ich auf italienischem Boden erreichte, war das Tal Livigno (1880 m), mit Hunderten von braunen Holzhäusern in einem üppigen Wiesengrunde, der meist durch das viele Polygonum Bistorta rosen- rot gefärbt war. Am Abhange der Montagna della Neve erstreckte sieclı ein stundenlanger Wald von uralten Arven, der größte Arvenbestand, den ich je gesehen. Moose bot er ebenso wenig wie der Talgrund. Deswegen besuchte ich den benachbarten Monte Crapene, der aber recht dürr war; von hier ist nur Oynodonlium torquescens, Desmatodon _latifolius brevicaulis, Encalypta microstoma, Pottia latifolia und Radula commutata zu erwähnen. Nicht viel interessanter war der Foscagnopaß, ebenso wie der Monte Crapene 2300—2400 hoch. Pfeffer sagt in seinen bryologischen Reise- bildern aus dem Adula: „Unverkennbar ist wirklich der Parallelismus, welcher zwischen Zahl der Schafsgesichter und Massenvegetation der Moose herrscht.‘“ Ich habe überall diesen Ausspruch Pfeffers in den Alpen bestätigt gefunden; wo viele Schafe weiden, gibt es wenige Moose. So auch auf dem Foscagnopaß. Anstehende Felsen (Glimmerschiefer) waren genug vorhanden, auch schäumende Bäche. Doch trotz ange- strengten Suchens kam nicht viel dabei heraus. Auffallend war die große Masse des Amphoridium lapponicum, natürlich überall mit den eigentümlich krugförmigen Früchten versehen; sonst gab es, abgesehen von ganz ver- breiteten Typen noch Hylocomium pyrenaicum, Marsupella commulala, Brachythecium Funckü, Encalypta longicolla, Grimmia funalis und alpesiris, und in den Bächen Hypnum subsulcatum und irrigatum. Im Hinblick auf

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 5

die großen Schwierigkeiten, die dem Reisenden hier von seiten der ila- lienischen Grenzgendarmen gemacht zu werden pflegen, zog ich deswegen gleich ein Stück im Valtellin hinab. Bei Grosio traf ich den ersten bryo- logischen Gruß aus dem Süden; die kleine, zierliche Fabronia pusilla wuchs an den Ruinen des Antico Castello. Da aber das Valtellin ziemlich gut bryologisch bekannt ist, so stieg ich bald über den Mortirolopaß in das weniger bekannte Val Camonica, das von der Adamellogruppe gegen Süden vom Oglio durchrauscht wird. Schon bei Edolo waren beide Tal- wände völlig mit Wäldern von Edelkastanien bewachsen, deren Blüten das ganze Tal mit ihrem süßlichen Dufte erfüllten. Doch Mediterranmoose gab es noch nicht. An triefenden Kalkfelsen wuchsen Hypnum commutalum und Gymnoslomum rupestre, an den Mauern gewöhnliche Trichostoma; doch dazwischen der südliche Farn Natochlaena Marantae. Noch auffallender war es weiter unten bei Cedegolo und Breno; Ficus war in gewaltigen Stämmen da, die Hecken bestanden aus Evonymus japonicus, Mimosa Juli- brissin zeigte sich überall in den Gärten mit ihrem rosa Blütenflaum, Paulownien so groß wie unsere Eichen, überall tönte das Lied der Cicade und des südlichen Meistersängers, doch südliche Moose gab es nicht; an für Moose geeigneten Stellen wuchsen Madotheca platyphylla, Neckera com- planata, Barbula unguiculata, Torltula monlana u. a., ganz wie bei uns. Erst als ich den Lago d’Iseo erreichte, fand ich das überall im Mediterran- gebiet gemeine Burhynchium circinnatum, in Gesellschalt von E. tenellum, Nun zeigten sich auch andere südliche Moose,

Aus alledem geht mir hervor, daß die nördliche Grenze der Mediterran- flora der Moose, wenigstens an vielen Orten, nicht mit der der Phane- rogamen übereinstimmt. Die Ufer des Lago d’Iseo sind an der Westseite ganz unzugänglich; doch an der Ostseite dieses großarligen und fast ganz unbesuchten Sees war eine Falırstraße durch die senkrechten, gewaltigen Uferfelsen gesprengt worden. Hier herrschte italienische Sommerhitze; die Moose an den Wänden waren total verdorrt und ganz mit Kalkstaub überhäuft, fast gar nicht zu erkennen. Eine hochinteressante Ausnahme bildete ein Felskessel mit anschließender Klamm bei Marone, Die feuchten und schattigen Felswände waren mit einer prächtigen Decke von Adiantum Capillus Veneris und von Kolossalwedeln des Scolopendrium überzogen. Darunter wuchsen in großen Fladen die Marchantia palaeacea mit ihren schwarzroten Fruchtträgern, außerdem Eurhynchium striatulum, Barbula Brebissoni, Didymodon spadiceus, Eurhynchium circinnatum, Haplozia alro- virens, und im Wasser Philonotis Arnellii und Fissidens Warnstorffü. Der Blattsaum, welcher durch seine Abwesenheit sonst diese Art charakterisiert, war aber bei vielen Blättern mehr oder weniger vorhanden. Glücklicher- weise trug dieses Moos auch einige Früchte, welche bisher unbekannt waren und deren Beschreibung im folgenden Verzeichnis zu finden ist. Einen zweiten so ergiebigen Standort konnte ich weiter unten am Lago

6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

d’Iseo nicht mehr auffinden, und da ich hier auch das Ende des Val Camonica erreicht hatte, begab ich mich über Brescia wieder in die Heimat zurück.

Ich habe noch Herrn Professor Bottini in Pisa zu danken, der mich bei Bestimmung einiger kritischer Arten aus den italienischen Tälern gütigst unterstützt hat.

Verzeichnis der von mir im Jahre 1909 in der weiteren Umgebung des Ortler- und Adamellogebietes gesammelten Laub- und Lebermoose.

Bem. Die Fundorte aus dem Matscher Tale, sowie die aus der Um- gebung der Pforzheimer Hütte und des Piz Sesvenna gehören zu Tirol, die aus dem Val d’Uina und aus der Umgegend von Zernez zum Unterengadin und alle übrigen zur Lombardei.

Bryales.

Sphagnum acutifolium. N\altellin, Mortirolopaß, 1900 m. Felsen auf Monte Crapene bei Livigno, 2350 m.

Sphagna waren im Gebiete wenig zu finden, da meist Kalkboden vor- handen ist.

Andreaea petrophila. Höllerhütte an der Weißkugel bei 2650 m Glimmerschiefer am Piz Sesvenna, 2350 m Schieferfels am Foscagno- paß, 2300 m.

Hymenostomum microstomum. Ufer der Spöl bei Zernez, 1550 m.

Gymnostomum rupesire. Triefende Felsen oberhalb Edolo im Val Camonica, 750 m.

Hymenophyllum curvirostre. Felsen bei Zernez, 1600 m.

var. scabrum. Val da Scarl am Piz Sesvenna, die Felsen eines Wasserfalles ganz überziehend, 1800 m Steinmauern bei Sale Marasino am Lago d’Iseo.

Weisia viridula. Schluderns am Eingang ins Matscher Tal, 850 m.

W. Wimmeriana. Kalkfelsen an der Pforzheimer Hütte, 2300 m.

Eucladium verticillatum. Val Camonica, Steinmauer bei Capo di Ponte, 360 m. Kalkfelsen bei Tolino am Lago d’Iseo, 190 m.

Cynodontium fallax. -— Schattige Felsen am Glieshofe im Matscher Tale, 1800 m.

C. torquescens. Felsen am Monte Crapene bei Livigno, 2350 m.

©. polycarpum. Foscagnopaß. Schluderns.

Oreoweisia Bruntoni. Felsen an der Pforzheimer Hütte, 2300 m.

Oncophorus virens. Mit Mnium punctatum und Cynod. fallax in einem Schneewasserbache bei der Höllerhütte im Matscher Tale, 2650 m. Schieferfelsen bei der Pforzheimer Hütte, 2350 m. Schieferfelsen am Foscagnopaß, 2300 m. Monte Crapene bei Livigno, 2350 m.

var. serratus. Gletschersand am Spöl bei Zernez, 1550 m.

I. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 7

Dicranella squarrosa. In einem Sumpfe auf dem Monte Crapene bei Livigno, 2350 m.

Dicranum falcatum. Felsen bei der Pforzheimer Hütte, 2350 m.

D. undulatum. Auf Felsen bei der Pforzheimer Hütte in einer Form mit breiten, ganz ungewellten Blättern. Monte Crapene, 2350 m.

D. albicans. Glimmerschiefer bei Pforzh. Hütte, 2350 m.

Fissidens tamarindifolius. Ufer der Spöl bei Zernez, 1550 m.

F, Warnstorffüi Fleischer (teste Bottini). Auf Kalkfelsen in reißen- dem Wasser in einer Klamm bei Marone, Lago d’Iseo.

C. fr. Da die Früchte für die Wissenschaft neu sind, so folgt hier ihre Beschreibung. Seta 4,3 mm lang, oben 0,14 mm, unten 0,17 mm dick. Kapsel

1 mm lang, mit deutlichem Halse, unter der Mündung nicht verengt. Exotheeium braungelb, Zellen sechseckig, nicht kollenchymatisch. Deckel stumpf geschnäbelt, 0,4 mm hoch. Peristom 0,37 mm lang. Sporen 0,016 mm, grüngelb, fast glatt. In allem übrigen wie F. crassipes.

F. osmundoides var. microcarpus. Felsen bei Pforzheimer Hütte, 2350 m.

F, adiantoides. Mit Rhynchostegium tenellum auf Kalkfelsen bei Tolina, Lago d’Iseo, 190 m.

F. decipiens. Kalkfelsen bei der Pforzh. Hütte, 2300 m.

Blindia acuta. Glimmerschiefer bei der Pforzh. Hütte.

Diürichum flexicaule. Ülemgiaschlucht bei Schuls im Engadin, 1300 m.

var. densum Auf Erdboden am ÖOfenpaß im Engadin, 1700 m.

Distichium capillaceum. Piz Sesvenna. Foscagnopaß.

D. inclinatum. C. fr. auf Steinen am Spöl im Valle di Livigno, 1800 m.

Pterygoneurum cavifolium. AufErde in einer Steinmauer bei Schlinig am Piz Sesvenna, 1650 m.

Poltia latifolia. Auf Kalkerde an der Schwarzen Wand im Schlinig- tale, 2200 m. Monte Crapene, 2350 m.

Didymodon rubellus. Olenpaß im Engadin. Mit Barb. fragilis bei der Pforzh. Hütte, 2300 m.

D. cordatus. Felsen bei Lovere am Lago d’Iseo.

D. tophaceum. Kalkfelsen bei Tolina, Lago d’Iseo, in einer im Süden häufigen Form mit als Stachelspitze austretender Blattrippe.

D. rigidulus. Felsen bei Cedegolo im Val Camonica, 400 m. Die

Pflanzen haben durch die lang austretende Rippe Ähnlichkeit mit D. validus das Blatt ist aber stets zweischichtig.

D. spadiceus. Felsenklamm bei Marone, 190 m.

D. validus. Kalkfelsen am Piz Sesvenna, 2300 m.

Trichostomum cerispulum. Kalkfelsen in der Maroneklamm.

8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

T. mutabile. Mit Lejeunia calcarea an Kalkfelsen bei Tolina. Tortella fragilis. Überall an Kalkfelsen. Piz Sesvenna, 2300 m. Foscagnopaß, 2300 m. Monte Crapene, 2350 m.

T. torituosa. Manniolo im Val Camonica, 500 m.

Barbula unguiculata. Val Camonica, Felsen bei Cedegolo, Mauern bei Capo di Ponte, Edolo und Sale Marasino.

B. reflevxa.. An Felsen im Matscher Tale oberhalb Schluderns,

1500 m. Kalkfelsen am Piz Sesvenna, 2300 m.

B. graeilis. Felsen im Matscher Tal, 1300 m.

Aloina rigida. Erdabhänge oberhalb Zernez, 1600 m.

A. ambigua. Felsen bei Lovere am Lago d’Iseo.

Desmatodon latifolius var. brevicaulis. Monte Crapene, 2350 m.

D. glacialis Funck. Schneewasserbach bei der Höllerhütte, 2650 m.

D. systylius. Felsen bei der Pforzh. Hütte.

Tortula muralis. Überall an Kalkfelsen und Steinmauern, im süd- lichen Gebiete besonders in Formen mit sehr langer Seta.

T. montana.. Valtellin, am Antico Castello bei Grosio, 700 m. Val Camonica, an Steinmauern bei Capo di Ponte, 360 m.

T. aciphylla. Schwarze Wand im Schlinigtale am Piz Sesvenna.

Dialytrichia Brebissonü. In der Maroneklamm am Lago d’Iseo.

Cinclidotus aquaticus. Ebenfalls in der Maroneklamm. Die Exem- plare dieses Standorts haben an der Stachelspitze der Blattrippe zurück- gekrümmte Zähne.

Schistidium gracile. Valtellin, am Antico Castello bei Grosio. S. alpicola Schwarze Wand im Schlinigtal. var. latifolium. Schneewasserbach bei der Höllerhütte, 2650 m. var. rivulare. An demselben Standort wie voriges. S. confertum. Blöcke am Fuße der Schwarzen Wand im Schlinig- tale, 2200 m. Schieferfelsen am Foscagnopaß, 2300 m. Grimmia anodon. Kalk der Schwarzen Wand bei Schlinig. Monte Crapene, in einer Zwergform. G. leucophaea. Ganze Blöcke überziehend, c. fr. im Matscher Tale oberhalb Schluderns, 1350 m. Schwarze Wand bei Schlinig. Sonnige

Blöcke am Antico Castello bei Grosio.

G. ovata. Felsen oberhalb Zernez, 1650 m.

@. subsulcata. Schieferfelsen oberhalb der Höllerhütte an der Weiß- kugel, 2700 m.

G. elatior. Mit Früchten auf Felsblöcken oberhalb Zernez.

G. funalis. Schieferfelsen des Foscagnopasses.

G. torguata. Felsen an der Höllerhütte, 2650 m.

G. alpestris. Foscagnopaß. ——- Monte Cıapene. Piz Sesvenna. G. mollis. Wie gewöhnlich in von Schneewasser durchfeuchteten

Vertiefungen große Flächen überziehend, bei der Höllerhütte, 2650 m.

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 9

Dryptodon patens. Mit schönen Früchten am Schneewasserbach bei der Höllerhütte, 2650 m.

Amphoridium lapponicum. In großen Mengen auf allen Felsen west- lich der Cantoniera auf dem Foseagnopasse. Monte Crapene, 2350 m.

Orthotrichum anomalum. Valtellin, am Antico Castello.

O. sazxatile. Mit weißgelben Hauben, vergesellschaftet mit voriger.

O. Sardagnanum. Gneiß oberhalb Zernez, 1650 m, mit papillösen Peristomzähnen.

0. alpestre. Schielerfelsen am Glieshofe, Matscher Ta), 1650 m.

O. affinee Val Camonica, auf Edelkastanien am Oglio oberhalb Edolo, 1750 m.

O. rupesire. Felsen am Spöl bei Zernez. Antico Castello bei GrYosio.

O. Sturmi. Schieferfelsen am Glieshofe, Matscher Tal, 1850 m.

Encalypta commutata. Piz Sesvenna.

E. vulgaris. Schwarze Wand bei Schlinig, 2200 m. Piz Sesvenna, 2300 m.

E. microstoma. Monte Crapene, 2350 m.

E. rhabdocarpa var. pilifera. Felsen oberhalb Zernez, 1600 m. E. apophysata. Schieferfelsen am Foscagnopaß.

Dissodon splachnoides. Sumpfstellen am Bach bei der Pforzheimer Hütte, 2250 m.

Mielichhoferia nitida. Eisenhallige Felsen im Matscher Tale oberhalb Schluderns, 1350 m.

M. elongata. Mit voriger im Matscher Tal. Piz Sesvenna, 2350 m. Schieferfelsen am Foscagnopaß, 2300 m.

Anomobryum ‚filiforme. C. {r. auf einem niedrigen Felsen an einem Wiesengraben oberhalb Schluderns, 1300 m.

A. concinnatum. Mit voriger am selben Felsen in einer Torm mit lang austretender Blattrippe.

Webera longicolla. An einem Schneewasserbache bei der Höllerhütte. Felsen unterhalb Edolo im Val Camonica.

W. eruda. Auf Gneis oberhalb Zernez, 1650 m.

Mniobryum albicans var. glacialis. Schneewasserbach bei der Höller- hütte, 2650 m.

Bryum pallescens. Triefende Felsen bei Edolo.

B. subrotundum. Piz Sesvenna,

B. Schleicheri var. latifolium. Im Bach bei der Pforzheimer Hütte.

B. pseudotriquelrum. Triefende Felsen bei Edolo, 750 m,

Mnium spinosum. Feuchte Felsen am Piz Sesvenna.

M. affine var. elatum. Waldboden beim Glieshofe im Matscher Tale,

1800 m.

10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Aulacomnium palusire var. imbricatum. Schieferfelsen am Fos- cagnopaß.

Bartramia ithyphylla. Höllerhütte, 2650 m. Pforzheimer Hütte, 2300 m.

Plagiopus Oederi. Auf Kalk am Piz Sesvenna.

Philonotis Arnelli. In großer Menge in der Maroneklamm am Lago d’Iseo.

P. seriala. Weißkugel, 2700 m.

Timmia bavarica. Kalkfelsen am Piz Sesvenna. Rasenboden bei Sur Sass im Engadin, 2400 m.

T. austriaca. In einer merkwürdigen Form, die Stengel dicht wie

ein Ährenfeld stehend, auf Gletschersand am Spöl im Unterengadin, 1550 ın.

Polytrichum alpinum. Waldboden am Glieshofe im Matscher Tale, 1800 m.

P. sexangulare. Schieferfelsen am Piz Sesvenna.

Neckera crispa. Kalkfelsen bei Tolina am Lago d’Iseo.

N. complanata. Üedegolo im Val Camonica, 450 m.

Fabronia pusilla. Sonnige Felsen am Antico Castello bei Grosio im Valtellin.

Myurella julacea. Kalkfelsen bei der Pforzheimer Hütte.

Lescuraea saxicola. Schattige Felsen am Glieshofe, 1800 m.

Piz Sesvenna, 2300 m. —- Foscagnopaß auf Schiefer, 2300 m.

Ptychodium plicatum. Foscagnopaß.

Pseudoleskea atrovirens var. brachyclados. Schiefer, Foscagnopaß.

var. tenella. Abhänge der Vernungspitze an der Pforzheimer Hütte.

Heterocladium heteropterum. Schattige Felsen am Glieshofe, 1800 m.

H. squarrosulum. Glimmerschieferfelsen der Vernungspitze. Monte Crapene bei Livigno, 2350 m.

Thuidium abietinum. In einer sehr kleinen Form mit dem Habitus von Microthuidium an den Ruinen des alten Schlosses bei Grosio, 700 m.

Orthothecium chryseum. Auf Gletschersand am Spöl bei Zernez, 1550 m.

O. strietum. Mit voriger am selben Standorte. Beide hochalpine Arten sind offenbar aus den höheren Teilen des Val Cluoza herabgespült worden.

Brachythecium collinum. In ziemlicher Menge auf den Kalkfelsen westlich der Pforzheimer Hütte. Auf Schieferfelsen am Foscagnopaß in einer Form mit langer, wurmförmig geschlängelter Spitze.

B. plumosum. Mit Radula commutata auf dem Monte Crapene, 2350 m.

B. trachypodium. Kalkfelsen am Piz Sesvenna.

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 11

B. latifolium. Mit Web. longicolla und Desmatodon glacialis in einem Schneewasserbache an der Weißkugel, 2700 m.

Eurhynchium sirigosum var. praecox. Felsblöcke oberhalb Zernez, 1600 m.

E. diversifolium. Trockne Glimmerschieferplatten am Abhange der Vernungspitze.

E. cireinatum. Maroneklamm und Tolina am Lago d’Iseo.

E. striatulum. Maroneklamm und Vello am Lago d’Iseo.

E. cirrosum var. Funckii. Auf dem Gletschersande des Spöl bei 1550 m von ganz abweichendem Habitus mit aufrechten Stengeln.

E. speciosum. Maroneklamm.

Rhynchostegiella tenella. Tolina am Lago d’Iseo.

Rhynchoslegium murale var. julaceum. Lovere, Val Camonica.

R. rusciforme var. lutescens. Maroneklamm am Lago d’Iseo.

Plagiolhecium Roeseanum. Trockne Glimmerschieferfelsen an der Vernungspitze; sterile, merkwürdige Form mit abfallenden, zur vegetativen Vermehrung dienenden Gipfelknospen. Diese Form fand ich schon früher am Morteratschgletscher.

Amblystegium Sprucei. Kalkfelsen im Val d’Uina im Engadin, 2100 m.

A. filicinum. Val Camonica, an triefenden Felsen bei Edolo und am ‚alten Kastell bei Breno.

A. curvicaule. An einem steinegnen Wassertroge oberhalb Edolo bei 800 m; ein sehr niedriger Standort.

Hypnum stellatum. Foscagnopaß, in einer zwergigen Form.

H. intermedium. Im Bache bei der Pforzheimer Hütte, 2300 m.

H. uncinatum. Noch in der Umgebung der Höllerhütte bei 2650 m,

H. purpurascens. Im Bache bei der Pforzheimer Hütte, 2200 m.

H. subsulcatum. Im fließenden Wasser am Foscagnopasse.

H. irrigatum,. Mit voriger am selben Standorte. In der Marone- klamm in einer Form mit scharf gespitzten Blättern.

H. commutatum. Hüllt die auf dem Marktplatze in Iseo stehende und von einem Spriugbrunnen besprühte Garibaldistatue fast völlig ein.

H, molluscum. Kalkfelsen bei Tolina.

H. Vaucheri. Felsen oberhalb Zernez, 1600 m. Monte Crapene, 2350 m,

var. coelophyllum Mol. Kalkfelsen unterhalb Schlinig, 1650 m,

H, revolutum. Piz Sesvenna. l'oscagnopaß.

H, hamulosum. loscagnopaß, in einer Form mit stark verengter Blattbasis.

H. Lindbergii. Wiesengraben im Matscher Tal, 1300 m.

H. palustre. Maroneklamm,

var. subsphaertcarpon. Wiesengraben im Matscher Tal. Auf

Gletschersand am Spöl, 1550 m.

12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

H. arcticum. In großen Rasen, stellenweise das Bachbett ganz aus- tapezierend bei der Pforzheimer Hütte.

H. Gouardi. In einem Schneewasserbache bei der Hölierhütte, 2600 m.

H. dilatatum var. duriusculum. Kleiner Wasserfall bei Cedegolo im Val Camonica, 450 m.

H. stramineum. Sumpfige Stellen am Foscagnopasse.

Hylocomium pyrenaicum. Schieferfelsen am Foscagnopaß.

Hepalicae.

Riceia sorocarpa, var. nana (Thallus höchstens 2,5 mm lang, 0,5 mm breit). Auf Kalkerde am Piz Sesvenna, 2300 m. Es ist dieselbe Form, welche ich schon am Glocknerhause gefunden habe (vergl. Rabenhorsts Krypt. Flora VI 195).

Clevea hyalina (in der robusten Form mit blaugrünem, rotbraun ge- randetem Thallus). Auf den niedrigen Kalkfelsen direkt westlich der Pforzheimer Hütte, 2250 m.

Die seltene Pflanze wächst hier in großer Üppigkeit, männliche, weib- liche und fruchtende Exemplare durcheinander. Dabei fielen mir wieder die hohen, weißen Wimperbüschel der Archegonienstände auf, welche stets am Grunde der ausgebildeten Fruchtträger restlos verschwunden sind. Da sehr viele Pflanzen mit jungen Früchten in allen Entwicklungsstadien vor- handen waren, so beschloß ich genau zu untersuchen, wohin denn eigent- lich die Wimperbüschel kommen. Durch die Untersuchung vieler junger Fruchtträger stellte es sich bald heraus, daß bei der Streckung des Thallus zum Fruchtträger die Wimperbüschel mit in die Höhe getragen werden und schließlich vom obern Ende unter dem Blütenboden herabhängen.

Sauleria alpina. Schwarze Wand bei Schlinig, 2200 m. Reboulia hemisphaerica. Kalkfelsen am Piz Sesvenna. Fimbriaria pilosa. Mit Clevea hyalina an den Kalkfelsen westlich

der Pforzheimer Hütte, 2250 m. —- Neu für Tirol. Fegatella conica. Triefende Felsen bei Manniolo im Val Camonica, 500 m.

Lunularia ceruciata. leuchte Steine bei Sale Marasino am Lago d’Iseo, 190 m. Preissia commutata. Foscagnopaß. Edolo. Capo di Ponte.

Vello und an vielen andern Orten.

Da ich vermutete, daß in diesen Gegenden vielleicht Bucegia vor-. kommen könnte, so nahm ich alle Exemplare von Preissia mit, welche einen Anklang an das genannte Genus hatten; bei der späteren mikro- skopischen Untersuchung stellten sie sich aber sämtlich als echte Preissia heraus. Bucegia ist also in diesem Teile der Alpen schwerlich vorhanden.

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 13

Marchantia polymorpha. Felsen an der Chaussee bei Lovere am Lago d’Iseo.

M. palaeacea. In großer Menge und breiten Rasen an den feuchten Kalkfelsen der Maroneklamm am Lago d’Iseo.

Aneura pinguis. Sumpfstellen auf dem Monte Crapene noch bei 2350 m.

Pellia epiphylla. Triefende Felsen bei Manniolo.

Gymnomitrium coralloides. Glimmerschieferfelsen der Vernungspitze. Monte Crapene, 2350 m.

G. concinnalum var. reflexum. Foscagnopaß.

Marsupella commutata. Mit voriger am selben Standort. Eucalyx obovatus. Felsen am Piz Sesvenna, 2300 m. Haplozia crenulata. Mit voriger am selben Standort.

H. atrovirens. Feuchte Kalkfelsen der Maroneklamm,

Sphenolobus minulus. Matscher Tal am Glieshof bei 1830 m in einer Zwergform (Stengel mit Blättern nur '/, mm breit).

Lophozia Iycopodioides. In einem Schneewasserbache an der Höller- hütte, 2650 m. Waldboden am Glieshof, 1800 m. Mit Perianthien auf Schiefer am Foscagnopaß.

L. obtusa. Zwischen Mnium affıne auf Waldboden beim Glieshofe im Matscher Tal, 1800 m.

L. ventricosa. Trockne Schieferfelsen an der Vernungspitze.

L. guttulata.. Auf faulendem Holze am Glieshofe, Matscher Tal.

L. Wenzelii. Am Ufer des Spöl bei Zernez. Schneewasserbäche an der Weißkugel, 2700 m.

L. alpestris. Sumpfige Stellen am Foscagnopaß.

L. incisa. Piz Sesvenna. Felsen oberhalb der Höllerhütte, 2700 m. Einer der höchsten Standorte,

L. Hornschuchiana.. An Felsen bei Cedegolo im Val Camonica, c. 400 m.

L. badensis. Spölufer bei Zernez.

Flagiochila asplenoides. Mit meist ganzrandigen Blättern bei Tolina

am Lago d’Iseo. Pedinophyllum interruplum. Feuchte Kalkfelsen bei Cedogolo.

Scapania uliginosaa Bach bei der Pforzheimer Hütte. Im Chausseegraben am Ofenpaß, 1700 m,

S. helvelica. Schneewasserbach an der Höllerhütte, 2650 m.

Chiloscyphus polyunthus. Auf Gletschersand am Spölufer bei Zernez.

Lepidozia selacea. Felsen bei der Pforzheimer Hütte, 2300 m.

Harpanthus Flotowianus. Sur Sass im Engadin, 2400 m.

Radula commutata. In einer Zwergform auf dem Foscagnopaß,

2300 m. Monte Crapene, männl. Rasen mit Gemmen,

14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Madotheca plalyphylla. Grosio im Valtellin. Cedegolo und Breno im Val Camonica. Frullania dilatata. Auf Bäumen am Spölufer bei Zernez.

2. Sitzung am 20. Januar 1910. Herr W. Grosser sprach über

Beschädigungen und Krankheiten der Kulturgewächse Schlesiens im Jahre 1909.

a. Getreide. Längeres Stehen unter Eiswasser oder Einfrieren in demselben, überhaupt die ungünstigen Überwinterungsverhältnisse hatten überaus oft das spätere Auftreten von Fußkrankheiten zur Folge.

Am wenigsten litt Roggen darunter, erheblichere Beschädigungen er- folgten nur in den Kreisen Breslau 25 %,, Görlitz 30 %,, Gr. Wartenberg 15 °,, Grünberg 10 %,, Leobschütz 15 %,, ebenso kam bei Gerste (Gold- thorpe) nur ein Fall zur Kenntnis, in welchem 50 %, Schaden hierdurch verursacht wurde (Kreis Münsterberg). Bedeutend häufiger waren Fuß- krankheiten bei Weizen und dementsprechend auch die Schadenwirkungen. Es wurden aus nachstehenden Kreisen folgende, durch diese Krankheit verursachte Schäden gemeldet: Neumarkt 5 %,, Trebnitz 6—8 °%,, Liegnitz, Schweidnitz, Zabrze 10 %,, Oels 15 %,, Frankenstein, Münsterberg, Ott- machau 20 °/,; geringere Schäden sind in den Kreisen Breslau, Cosel, Freystadt, Görlitz, Grottkau, Hirschberg, Löwenberg und Sprottau vor- gekommen.

Außer den genannten Witterungseinflüssen war die Höhe des Schadens in der Regel auch von der Vorfrucht abhängig, die erheblichsten Ausfälle traten nach Rüben und besonders nach Leguminosen auf.

Mehltau (Erysiphe graminis) war im Juli auf Weizen stark verbreitet und entwickelte sich vielfach so üppig, daß selbst die Ähren davon bedeckt waren. Schädlich wurde er in den Kreisen Breslau, Goldberg, Görlitz, Liegnitz, Münsterberg, Neumarkt, Schweidnitz und Trebnitz.

Staubbrand befiel Gerste, Hafer und Weizen relativ selten, auch Stein- brand bei Weizen trat im allgemeinen viel geringer als in den Vorjahren auf. Dasselbe gilt für die sich früh entwickelnden Rostarten, dagegen erfuhr der spät erscheinende Schwarzrost (Puccinia graminis) eine aus- gedehnte Verbreitung und richtete bei der durch heftige Regengüsse sich verzögernden Ernte auf Roggen viel Schaden an; besonders wurden davon betroffen die Kreise Breslau, Grünberg, Namslau, Ohlau, Oels, Oppeln, Gr. Wartenberg, in denen stellenweise ohnedies schon ausgedehntes Lager entstanden war.

Die Streifenkrankheit (Helminthosporium gramineum) war wiederum auf Gerste weit verbreitet (Kreis Bunzlau, Frankenstein, Görlitz, Grotikau,

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 15

Schönau, Schweidnitz), doch beliefen sich die durch sie hervorgerufenen Ausfälle nicht über 5 %,.

Fühlbarer wurden die Schäden, die an jungen Haferpflanzen durch Helminthosporium Avenae entstanden. Die Krankheit trat vorzugsweise in den Kreisen Beuthen, Breslau, Görlitz, Grottkau, Landeshut, Liegnitz, Lüben, Militsch-Trachenberg, Reichenbach, Steinau, Striegau und Tost- Gleiwitz, allerdings in sehr wechselnder Schwere auf, die allem Anscheine nach mit den lokalen Witterungsverhältnissen in enger Verbindung stand.

Recht häufig war das Auftreten tierischer Schädiger an Getreide; es war dies zweifellos eine Folge der durch ungünstige Witterungsverhältnisse vielfach verzögerten oder durch zu lange anstehen gelassene Ausackerungen verspäteten Bestellung, wozu noch kam, daß infolge Wärmemangels die Pflanzen erheblich im Wachstum aufgehalten wurden. Insbesondere war die Fritfliege häufig auf spätgesätem Hafer (Kreis Glatz, Goldberg, Hoyers- werda, Lauban, Militsch-Trachenberg, Oels, Neumarkt, Sprottau, Trebnitz, Waldenburg). An Roggen veranlaßte die Hessenfliege bedeutendere Aus- fälle nur in den Kreisen Görlitz, Neumarkt und Sprottau. Wie alljährlich war auch die Halmwespe (Cephus) eine recht häufige Erscheinung, nicht nur auf Roggen (Kreis Gr. Wartenberg, Leobschütz, Neumarkt, Sprottau), sondern auch vorwiegend auf Weizen (Kreis Breslau, Cosel, Frankenstein, Goldberg, Görlitz, Grottkau, Liegnitz, Löwenberg, Münsterberg, Neiße, Pleß, Ratibor, Schweidnitz, Zabrze), wo sie meist auf ohnehin schon durch Fußkrankheit heimgesuchten Schlägen zu finden war, Abgesehen von ihrem ständigen Verbreitungsbezirk in Oberschlesien, dessen klimatische Verhältnisse die Hinausschiebung der Aussaattermine nicht zulassen, war die Halmfliege (Chlorops) besonders in ihrer Sommergeneration recht häufig in den Kreisen Frankenstein, Goldberg, Liegnitz, Münsterberg und Schweidnitz an Weizen, ein stärkerer Befall ereignete sich auch im Kreise Grünberg und zwar an Gerste. Die bisher in Schlesien recht spärlich auftretende Blumenfliege (Anthomyia coarctata) scheint sich mehr in der Provinz einzubürgern. Merkwürdigerweise bevorzugt sie aber nunmehr den Weizen, so besonders im Kreise Frankenstein, wo unter anderen auch ein Befall von ca. 60%, der Pflanzen eines Schlages gemeldet wurde. Desgleichen zeigt die früher nur vereinzelt beobachtete Weizengallmücke (Contarinia tritici) eine unverkennbare Zunahme in ihrer Häufigkeit, im Berichtsjahre wurde sie nicht selten in den Kreisen Cosel, Grottkau, Liegnitz, Löwenberg Neumarkt, und Reichenbach angetroffen.

Äußerst häufig war in der ganzen Provinz der Blasenfuß an Hafer; besonders anspruchsvolle Sorten wie Strube-Hafer, welche durch ungünstige Witterungsverhältnisse leicht im Schossen zurückgehalten werden, waren diesen Beschädigungen ausgesetzt. Die Höhe derselben schwankte von wenigen Prozent tauber Ährchen bis zu recht erheblichen Ausfällen von 40 und mehr Prozenten. Recht schwere Schäden dieser Art ereigneten

16 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

sich im Kreise Goldberg, Görlitz, Liegnitz, Reichenbach. Vielfach trat auch die Erscheinung der Taubblütigkeit an Hafer ohne nachweisbare Beschädi- gungen durch den Blasenfuß in den Kreisen Cosel, Landeshut, Namslau, Pleß, Ratibor, Striegau, Schweidnitz und Tarnowitz auf. Lokal entwickelten sich ferner kleine Zwergzikadenepidemien in den Kreisen Bunzlau, Militsch, Namslau und Oppeln, vorzugsweise war der Befall auf Hafer gerichtet. Ebenso betrafen die nachfolgenden erwähnten Schädiger nur Fälle von lokaler Bedeutung: Tharsonemus spirifexv an Hafer (Kreis Namslau und Tarnowitz), Heterodera Schachti an Hafer (Kreis Landeshut, Rybnik, Schweidnitz), an Weizen (Kreis Breslau), die Raupen der Queckeneule (Hadena polyodon) an Weizen (Kreis Görlitz), an Roggen (Kreis Ratibor), Beschädigungen durch die Larven des Erdflohs (Haltica viltula) an Roggen in wenigen Prozenten (Kreis Breslau, Görlitz, Grottkau, Landeshut, Reichen- bach) und Tipula, deren Larven im Kreise Glogau ca. 6 Morgen Roggen vernichtet hatten.

b. Rüben. Abgesehen von dem im Frühjahr recht häufigen Wurzel- brande waren Krankheiten der Rüben in verhältnismäßig nur geringem Umfange aufgetreten. Von pflanzlichen Schädigern waren häufiger die Blattfleckenkrankheit (Cercospora) (Kreis Münsterberg und Leobschütz) und Rhizoctoniafäule (Kreis Freystadt und Neumarkt); Bakteriose war selten (Kreis Glogau, Grottkau und Schweidnitz), ebenso Herzfäule. Größere Bedeutung gewann in einzelnen Kreisen (Guhrau, Rothenburg, Schweidnitz) das massenhafte Erscheinen der Larven des schwarzen Aaskäfers, und die stellenweise in ungeheuren Mengen sich einstellenden Blattläuse (Apkis papaveris).

c. Kartoffeln. Weit verbreitet, wenn auch nicht überall mit größeren Schadenwirkungen verbunden, war die Schwarzbeinigkeit, zum Teil auch eine Fusarium-Stengelfäule, welche besonders an den Sorten rote Rosen, Kaiserkrone, Magnum bonum und Wohltmann beobachtet wurde. Die Entwicklung der Krautfäule (Phytophthora) wurde durch das feuchtwarme Wetter des Juli ungemein begünstigt und hatte eine nicht zu unterschätzende Reduzierung des Ernteertrages und der Haltbarkeit der Knollen allerorts in der Provinz zur Folge. Bakterienringkrankheit zeigte sich nur in den Kreisen Görlitz und Militsch-Trachenberg. Auch Kräusel- krankheit war nicht häufig (Kreis Neumarkt, Görlitz, Lauban) und vorzugs- weise an den Sorten Ceres, Cecilie, gelbe Rosen, Topas und Vesta zur Entwicklung gekommen. Fälle von Blattrollkrankheit kamen nur aus den Kreisen Görlitz und Lauban zur Einsendung.

d. Hülsenfrüchte, Futter- und Wiesenpflanzen. Lupinen wurden im Kreise Freystadt und Steinau mehrmals erheblich durch die Lupinenfliege geschädigt. Im Kreise Tarnowitz trat an Peluschken die St. Johanneskrankheit mit einer Schadenwirkung von etwa 5%, auf. Ziemlich häufig war die Fleckenkrankheit (Colletotrichum lagenarium) an

Il. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 17

Wachs- und Buschbohnen; die Schädigungen betrafen meist kleinere Gartenparzellen, vorzugsweise in den Kreisen Goldberg, Hirschberg und Grottkau. Klee war über Winter öfters durch Mäuse beschädigt worden, so in den Kreisen Frankenstein, Habelschwerdt, Namslau, Neumarkt, Oels, Lauban, Grottkau, Kreuzburg, Schweidnitz, Bolkenhain, Gr. Wartenberg, Oppeln und Ratibor. Auch Stockkrankheit trat hier und da auf (Kreis Glatz, Goldberg, Liegnitz, Neurode und Nimptsch). Ziemlich häufig und ausgedehnt waren Schädigungen durch die Larven der Rüsselkäfer (Apior sericulum und virens), öfters fanden sich beide Schädiger auf einem Schlage. Stärkere Ausfälle verursachten diese in den Kreisen Gr. Wartenberg, Grottkau, Liegnitz, Glatz, Neiße, Steinau, Bunzlau und Goldberg. Selten waren Schädigungen durch die Larven der Rüsselkäfer, Otiorrhynchus ligustici (Kreis Nimptsch von 1Y, ha 80 °/, befallen). Auch Kleekrebs war namentlich auf Schlägen, die über Winter gelitten hatten, recht häufig.

e. Handels-, Öl- und Gemüsepflanzen. Raps, Senf, Meerrettig und Wrucken hatten allenthalben stark von den Larven der Raps- oder Rübenblattwespe (Athalia spinarum) zu leiden. Die Tiere traten in solchen Mengen auf, daß große Schläge binnen weniger Tage kahl gefressen wurden (Kreis Gleiwitz, Falkenberg, Gr. Strehlitz, Rybnik, Liegnitz, Trebnitz); im Kreise Trebnitz wurde stellenweise die Kohlweißlingsraupe auf Raps äußerst schädlich. Kraut litt allerorts besonders auf Rustikalfeldern an der Kohl- hernie (Kreis Falkenberg, Landeshut, Liegnitz, Neustadt, Oppeln, Kreuzburg, Steinau), auch war die Kohlfliege (Antkomyia radicum) häufig (Kreis Frey- stadt, Rothenburg). Auf Möhren war im Kreise Görlitz die Möhrenfliege (Psila rosae) verbreitet. An Gurkenkrankheiten trat im Liegnitzer Anbau- bezirk wiederum die seit einigen Jahren beobachtete Welke auf, außerdem fanden ebendaselbst einige Erkrankungen durch den Bac, phytophthorus statt. Häufig waren Blattlleckenkrankheiten, die sowohl von der Spinn- milbe als auch vom Pilzbefall (Sporidesmium mucosum var. pluriseptatum und von Phyllosticla cueurbitacearum) herrührten. Gleiche Erscheinungen zeigten sich auch an Gurken im Kreise Goldberg, Neustadt und Pleß. Im Kreise Hoyerswerda wurde ein halber Morgen Gurken durch Massen- befall von Siphonophora ulmariae schwer geschädigt. An Tomaten trat die Krautfäule (Phytophthora) im Kreise Sprottau auf.

f. Obstgehölze einschl. Weinstock. Die Bildung von Schorf- flecken (Fusicladium) an Äpfeln und Birnen war ungemein häufig, nament- lich waren Äpfel dieser Krankheit ausgesetzt, ebenso wie dem Befall durch Monilia. Auch der amerikanische Stachelbeermehltau (Sphaerotheca mors uvae) zeigte wiederum eine weitere Ausbreitung in der Provinz als im Vorjahre. Bis jetzt werden vorzugsweise die Stachelbeersträucher von dieser Krankheit heimgesucht, während ihr Vorkommen auf Johannisbeeren immer noch verhältnismäßig selten ist. Pfirsichbäume wurden vielfach von der Kräuselkrankheit (Eroascus deformans) befallen. Der falsche Mehl-

1910, 2

18 Jalıresbericht aer Schles. Gesellschait für vaterl. Cultur.

tau des Weinstocks (Peronospora vilicola) war häufig im Weinbaugebiet von Grünberg und auch stellenweise in den Kreisen Breslau, Falkenberg, Lauban und Rothenburg. Leider wird bisher selbst in dem Weinbaugebiet von Grünberg das sonst übliche Spritzen mit Bordelaiser Brühe gegen diesen Schädiger nicht angewendet, und es scheint wenig Aussicht vor- handen zu sein, daß man sich dort zu diesem Bekämpfungsmittel entschließen wird. Auch der schwarze Brenner (Gloeosporium ampelophagum) ebenso wie der rote Brenner (Pseudopeziza tracheiphila) wurden in dem dortigen Gebiete angetroffen. Von tierischen Schädlingen traten lokal besonders im Kreise Grünberg Wühl- oder Schermäuse an feuchteren, geschützten Stellen auf. Weit verbreitet waren der Apfel- und der Birnblütenstecher (Anthonomus), der kleine Frostspanner, der Ringelspinner und der Goldafter. Als recht unangenehmer Gast ist seit etwa 2 Jahren im Kreise Grünberg die Steinobstblattwespe (Lyda nemoralis L.) aufgetreten und hat sich dort in einem vorläufig allerdings noch beschränkten Gebiete in großen Massen entwickelt, wo sie durch den Fraß ihrer Larven hauptsächlich Kirschen- und Pflaumenbäume entblättert. Ein anderweitiges schädliches Auftreten dieses Insekts in Schlesien ist bisher nicht bekannt geworden.

g. Forstgehölze. Abgesehen von den ständigen, schweren Schäden, welche durch Nonnenfraß alljährlich im Westen der Provinz verübt wurden, trat dieses Insekt im Berichtsjahre auch in oberschlesischen Waldungen reichlicher auf. In den Eichenwäldern des Odertales befiel gegen Ende des Sommers der Eichenmehltau stellenweise äußerst stark namentlich jüngere Bestände. Das Auftreten des Oidium quercinum war bisher in Schlesien noch nicht beobachtet worden, an seine ungewohnte Erscheinung wurden vielfach die eigenartigsten Vermutungen über die Entstehung der mehligen Überzüge auf den Blättern geknüpft.

h. Zierpflanzen. Die hierher gehörigen Fälle betrafen meist Rosen, welchen der Rost (Phragmidium subcorticum) und die Cicade (Typhlocyba rosae) in erheblichen Mengen erschienen waren. In einem Gewächshause befielen Nematoden (Aphelenchus) mehrere Farnkrautarten, vornehmlich aber Pieris cretica, auch wurden von einer Handelsgärtnerei Magnolienkeim- pflanzen eingesendet, die an der Einschnürungskrankheit Pestalozzia Har- tigli erkrankt waren. Die übrigen Einsendungen aus dieser Gruppe besitzen wenig allgemeines Interesse, so daß von ihrer Aufzählung an dieser Stelle abgesehen werden kann.

3. Sitzung am 3. Februar 1910. Herr C. Lauterbach sprach über die Flora Papuasiens

. unter Vorlegung eines reichen Demonstrationsmaterials.

Il. Abteilung.. Zoologisch-botanische Sektion. 19

4. Sitzung am 17. Februar 1910. Herr G. Grüning schilderte Die Nordseeinsel Langeoog und ihre Vegetation.

Nach einer historischen Einleitung wurden die hydrographischen Ver- hältnisse sowie Land und Leute der Insel besprochen, worauf eine Schilde- rung der höheren Pflanzenwelt unter Vorlegung von Herbarmaterial folgte. Nach der Zusammenstellung des Vortragenden, in welcher Unterarten als besondere Spezies außer Betracht geblieben sind, kommen auf Langeoog 290 bunt durcheinander gewürfelte Gefäßpflanzen aus 58 Familien vor. Von diesen gehören 200 dem alten einheimischen Stamm an, 90 sind sicherlich eingewandert oder als Ruderalpflanzen auf die Insel verschleppt.

Die Pflanzen verteilen sich auf 4 pflanzengeographische Gebiete: 1. den Sandstrand, 2. die Dünen und ihre Täler, 3. die (geringfügigen) Sümpfe und 4. das Grünland mit dem Wattstrand.

Als Charakterpflanzen der Moorflora finden sich Erica Tetralix und Liparis Loeselüi in beschränkter Anzahl.

In den Pflanzenaufzählungen Buchenaus und Fockes sind für die Insel noch nicht genannt die vom Vortragenden aufgefundenen Arten: Silene Otites, Sparganium ramosum, Comarum palustre, Rubus caesius, Peplis Portula, Carum Carvi, Myosotis palustris, Achille« Plarmica und Polyslichum spinulosum; letzteres zeigte sich in wenigen Exemplaren in der Möwen- kolonie. Ein daselbst gesammelter Juncus, welcher dem J. balticus äußerst ähnlich sah, ergab sich bei der von Th. Abramski vorgenommenen mikroskopischen Untersuchung als eine schwächliche Form von J. mari- limus.

Bei Betrachtung der Besiedelung des Eilandes mit Pflanzenarten wurde u.a. die Arbeit von E. Roth ‚über die Pflanzen, welche den Atlantischen Ozean auf der Westküste Europas begleiten“, zu Rate gezogen. Es zeigte sich, daß von den daselbst aufgeführten 479 Arten (und Unterarten) 53 an der deutschen Küste überhaupt, 21 auf den ostfriesischen Inseln und 16 speziell auf Langeoog vorkommen, Von diesen 16 gehören 6 zu der Gruppe, welche am ganzen Atlanlischen Ozean entlang zieht, 5 zu der, welche von Nordfrankreich bis Jütland verbreitet ist, und 4 zu der Ab- teilung, welche die Niederlande bis zu den Östseeprovinzen bewohnt, 1 kommt auch sonst in Nordfrankreich vor. Pflanzen, die obwohl für Dünenlandschaften sehr charakteristisch auch sonst im Binnenlande vorkommen, wie Cakıle maritima, Draba verna, Glaux maritima, Viola tricolor f. sabulosa, Thrincia hirta, Atriplex litoralis, Juncus Gerardi, Koeleria glauca gehören jedoch nicht zu Roths atlantischer Assoziation. Eine Pflanzen- verteilung durch die Meereswogen könnte in neuerer Zeit wohl in Betracht kommen für die interessante Oenothera ammophila Wocke, die nach Ascher- sons Feststellungen nicht zu ©. biennis, sondern zu muricala gehört, sowie

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30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

für Convolvulus Soldanella, welche Staude hin und wieder an entfernten Orten in der Nähe des Strandes plötzlich auftaucht und so auch 1909 nach vielen Jahren zum erstenmal wieder auf der Insel (bei der Vogel- kolonie) in 2 Exemplaren aufgefunden wurde.

Eine Verbreitung durch die Tierwelt (Vögel) kann mit hoher Wahr- scheinlichkeit für Hippopha& rhamnoides angenommen werden.

Schließlich wurden eingehend die ökologischen Verhältnisse der Pflanzenwelt besprochen, wobei der Vortragende zu der Ansicht gelangte, daß die Vegetation Langeoogs nicht wie Ad. Hansen in einer Arbeit über die ostfriesischen Inseln betont lediglich der Anpassung an den beständig wehenden Wind ihre mehr oder weniger gedrückte Physiognomie verdankt, sondern daß auch edaphische Faktoren formationsbildend wirken.

Die Untersuchungen hierüber sollen demnächst fortgesetzt werden.

Herr E. Eitner gab sodann den

dritten Nachtrag zur Schlesischen Flechtenflora.

Je weiter die lichenologische Erforschung des Gebietes fortschreitet, um so mehr zeigt sich, wie wenig erschöpfend unsere Kenntnis der Flechten Schlesiens und ihrer Systematik überhaupt noch ist. Nur dadurch ist es erklärlich, daß seit meinem letzten Nachtrag (1900) den damals fest- gestellten 865 Spezies für Schlesien noch 49 bisher unbeschriebene und 46 für Schlesien neue Flechten hinzuzufügen sind. An neu aufgestellten und für Schlesien neuen Formen und Varietäten kommen noch 55 hinzu. Oberschlesien, die Wälder Mittelschlesiens, das Vorgebirge, die Grafschaft Glatz, das Altvatergebirge und namentlich das Riesengebirge haben Bei- träge geliefert, nur die Lausitz blieb mir bisher verschlossen.

Drei Convolute aus dem Berliner v. Flotowschen Herbar, die ich untersuchte, enthalten unter der Kollektiv-Bezeichnung Lecidea atroalba und L. pelraea außer wenigen Exemplaren von Lecidea crustulata und macrocarpa fast sämtliche für Schlesien bekannte Rhizocarpon- und Cato- carpus-Arten. Außerdem aber auch die von mir unterschiedenen Rhizo- carpon pseudorivulare, subgeminatum und subcoeruleum.

Die von v. Flotow in Hirschberg ohne genaue Standortsangabe viel gesammelten Rhizocarpon grande Flke. und Rh. Oederi Web. habe ich nie wiederfinden können, ebenso wie das für Schlesien neue, im Flotow’schen Herbar viel enthaltene Rh. rubescens Th. Fr. von den Sandsteinbergen bei Langenau; dafür habe ich die Aspiciia Bohemica f. fluvialis Kbr., die als einziges Exemplar aus dem Bober bei Straupitz von v. Flotow gesammelt im Berliner Herbar liegt, im Bober der Sattlerschlucht wiedergefunden. Alle neuen oder für Schlesien neuen Spezies und Formen sind mit * be- zeichnet.

Usnea lorgissina Ach. Großer Kessel im Gesenke (Kern).

Stereocaulon paschale L. Rosenberg O/S., Wälder gegen Guttentag. E, Sandheide gegen Schirokau. E.

II. Abteilung. Zoologiseh-botanische Sektion. 21

*St. spissum Nyl. Kaum verschieden von St. evolutum Graeve. Hirschberger Tal: Feldmark bei Paulinum an großen Granitblöcken, Kynast. E,. Durch dicht rasenförmigen Wuchs von St. coralloides, dem es in den Lagerschuppen sehr ähnelt, leicht zu unterscheiden. Podetien sehr verzweigt, kahl.

St. incrustalum Flörke. Habelschwerdt. Neuwaltersdorf gegen Mittel- walde. E.

Cladonia cariosa Ach. *— B pruniformis (Norm.). Wainio. Reichenbach, am Grunde alter Eichen an der Chaussee zwischen N. Peters- waldau und Peiskersdorf. E. Podetien fehlen, Apoth. zusammenfließend.

*— f, pygmaea Eitner n. f. Oppeln; Winover Hügel. E. Lager aus winzigen, zerstreuten Schüppchen bestehend. Podetien kaum 0,2 mm hoch, stets fruchtend. Eine der vorigen im Wachstum gleiche Form, aber mit bis 2 mm langen Podetien und gelblich braunen Früchten bei Namslau, Feldmark Grambschütz junge Kiefernschonung. E.

Cl. ochrolora Flörke. Alivater, hoher Fall, auf Baumstumpf. Hohe Eule: am Grunde alter Buchen über den Papensteinen. E.

*C] sylvalica L. v. lawiuscula Del. f. scabrosa Leihgt. Podetien erst gabelig geteilt, dann strahlig, völlig schlaf! und weich, niederliegend, Silberkamm über der Prinz Heinrich-Baude. E.

*Cl. bacillaris (Ach.) Nyl. Obernigk, Wald vor Jaekel. E, Von der sehr ähnlichen C/, macilenta durch die fehlende K.-Reaktion, von Cl. Floerkeana durch die weißen diekmehligen Lagerstiele verschieden.

Cl. caespilicia Flke. Rsgeb. Agnetendorf: Aufstieg zur Bismarck- höhe, E.

*Cetraria commixta Nyl. Wie es scheint, im Rsgeb. verbreitet, so an der Schneegrubenbaude, Grat zwischen den Schneegruben, Schneekoppe. Von Parm. fahlunensis L. durch hellere Farbe, helle Unterseite, echte Cetrarienfrüchte, elliptische, an den Enden gespitzte, 3—4 lange, 1,5—2 u. dicke Spermalien, die bei P. fahlunensis stäbehenförmig mit verdickt ge- stutzten Enden und 5 p lang 1 dick sind, unterschieden.

Parmelia centrifuga L. Flotows Standort, Grat zwischen den Schnee- gruben 1907 durch Erichsen und mich wieder aufgefunden. Mannsteine, Aug. 1910. E.

P. acetabulum Neck, Breslau, Ottwitz, Eichen a. d. Oder, hinter Drachenbrunn an der Chaussee nach Wüstendorf. E.

P. sorediata Ach. Glatz, Höllengrund bei Altheide auf Sandstein. E.

*P. olivacea L. f. exasperatula Nyl. Obernigk, Sittenwald; Bernstadt, Nauke; Neurode, Albendorf. E.

*P. subfuliginosa Nyl. Sandstein des Höllengrundes bei Altheide. Thallus mit schwarzen Isidien dicht bedeckt.

P. saxatilis L. B sulcala Tayl. Reinerz, Chaussee auf der Hummel an Acer pseudoplatanus. E.

*

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Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

*Physcia caesia Hofim. f. pruinosa Eitner n.f. Nimptsch, Steinbruch b. Korschwitz. E. Apothecien dicht blau bereift.

#=— f. corticola Eitner nov. f. Rosenberg O/S., an Birkenrinde bei Wendzin. E.

*Ph. endococcina Kbr. Rsgeb., Melzergrube in der Lomnitz am Fall an überflutetem Gestein. B. Stein zieht die Pflanze zu odscura Ehrh. B sawicola May. Ein Original der Ph. endococeina Kbr. zeigt rote Mark- substanz ebensowenig wie die von obigem Standort; hingegen ist die K.-Reaktion beider fast ganz gleich. Der Thallus von Ph. endococcina wird durch Kalklösung glänzend rötlich schwarz, der von meiner Pflanze matt rötlich schwarz gefärbt, während alle übrigen Formen der obscura gar nicht gefärbt werden. Bei K.-Zusatz entwickeln sich aus dem schwarzen Vorlager und den Haftfasern beider Flechten Ströme von violettem Farb- stoff, aus der Markschicht von rotem. Bei der Pflanze vom Lomnitzfall ist die Farbstoff-Entwickelung etwas spärlicher und an manchen Teilen versagt sie. Daher dürfte Ph. endococcina Kbr. wohl nur eine im Gebirgs- wasser wachsende Form der Ph. obscura sein, da andere Verschiedenheiten fehlen.

Peltigera spuria Ach. Erster Standort im Rsgeb. zwischen Schnee- gruben und Elbfallbaude. E.

P. venosa L. Basalt der Kl. Schneegrube. E.

Umbilicaria pustulata Holfm. Stark fruchtend b. Hirschberg, Schloß Paulinum und Felsblöcke an der Chaussee nach Erdmannsdorf. E.

Gyrophora eylindrica L. f. derudata Turn et. Borr. Am oberen Ein- gang zum Weißwassergrund ein Exemplar von 11 cm Länge und 7 cm Breite. Unterseite hell, kahl.

Pannaria triptophila Ach. Isergebirge, Bahnhof Grünthal; Gesenke! Oppaschlucht. E.

P. microphylla Sm. Bolkenhain, Graebeler Berge, häufig. E.

*Gasparinia elegans Lk. f. abbrevians Eitner n. f. Glatz, an der Chaussee hinter Eisersdorf. E. Lager am Substrat (Kalk) fest angehellet, kurzlappig. Lappen oft flacher und breiter als bei der Grundform.

G. murorum Hoffm. f. oncocarpa Kbr. Namslau, Zaun am Dom. Proschau; Krappitz O/S. E. Lager fast fehlend, nur hin und wieder zwischen den dicht gedrängten Apothecien einige weißbereifte Lappen.

*G. miniata Hoflim. f. subconligua Eitner n. f. Thallus fast firnis- artig zusammenhängend, nur an einzeln stehenden Exemplaren winzige Lappen zeigend. Färbung bräunlich rot.

@G. cirrhochroa Ach. Mühlberg b. Kaufiung und Seitendorfer Kalkberg (Schönau). Steril am Basalt der Graebeler Berge (Bolkenhain). E.

*G. fimbriata Eitner nov. spec. Macht ganz den Eindruck einer winzigen @. cirrhochroa, mit der sie das Aufbrechen der Areolen in gold- oder rotgelbe Soredien und die verschiedene Färbung der Apothecien von

IT. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 23

matt oder weißgelb bis glänzend braunrot gemein hat. Sie unterscheidet sich durch die Kleinheit aller Teile und die viel weniger ausgebildeten Lagerlappen, besonders aber durch ein gelbrotes, spinnwebiges, feinästig zerteiltes Vorlager, welches von den Rändern jeder Lagerpartie ausstrahlt. Apothecien entweder auf vereinzelten Lagerknötchen glänzend braunrot, oder gedrängt auf mattfarbigen, oft fast weißlichen Lagergruppen, heller und malt, wie bereift, 0,I—0,3 mm Durchmesser. Paraphysen hyalin, straff, mit bis 9 dieken goldroten Köpfchen, Gonidiengehäuse und Epi- theeium wie mit Goldstaub durchsetzt. Schläuche schmal eiförmig keulig, 8sporig. Sporen polardiblastisch, ohne Isthmus, S—10 p lang, 3—4 jr dick, fast zylindrisch, mit stumpfen Enden. K. färbt das Hymenium rosa- violett. Den Thallus schwärzt K.-Zusatz. Großer Kessel des Gesenkes, nur an den obersten Felsgruppen. E.

*Gyalolechia aurella (Hoffm.) Arnold. Gr. Strehlitz O/Schl., Weg von Zyrowa nach Nieder-Ellgut, an porösem Muschelkalk. E. Thallus zusammen- hängend oder unterbrochen, schmutzig weißgrau, rissig gefeldert, auf un- deutlichem, wohl gleichfarbigem Vorlager; staubig oder körnig, die dunklen Areolen von abgestorbenen, oft proliferierenden Apothecien gebildet. Apo- thecien angepreßt bis fast eingesenkt, erst sehr klein (0,2 mm) mit flacher, grünlich gelber Scheibe und goldgelbem krenuliertem Rand. Beim Heran- wachsen wird die Scheibe, bei verschwindendem Rand, bald schwärzlich bei geringer Wölbung, bis 0,3 mm groß und fällt dann als scheinbare Areole in den Thallus zurück. Hymenium hyalin, unter dem Schlauch- boden und im Gehäuse dieke Gonidienpolster. Paraphysen verleimt, oben wenig verdickt mit gelbbrauner Decke. Sporen in keuligen Schläuchen zu 8, zylindrisch oder mitten wenig verdickt, meist ungeteilt 13—15 lang, 4—5 jr dick, oft leicht gekrümmt. K. färbt weder Thallus noch das Hymenium. Jod bläut das Hymenium intensiv und dauernd, die Hyphen nicht.

*Placodium sazicolum (Poll.) Stesch. & vulgaris Kbr. Th. Fr. f. albo- marginala Nyl. Zobten Gipfel; bei Rosenberg O/S. an den Feldscheunen auf Granitblock eine hierher gehörige Form, welche schon mehr an P. crassum Hus. grenzt. E.

ß versicolor (Pers.) Th.l'r. Löwenberg, Wünschendorfer Kalkberg! B.

*Acarospora impressula Th. Fr. Thallus dicht krustig, ausgebreitet. Areolen aneinander gepreßt, rundlich oder eckig, dem Substrat angedrückt, am Rande kaum elffiguriert. Oben trüb, dunkel graubraun, unterseits schwarz. Apothecien, zu mehreren, in den Areolen völlig eingesenkt, punktförmig oder eckig, sehr klein, dem Thallus gleich gefärbt, ohne Rand. Sporen in fast zylindrischen Schläuchen zu vielen, kugelig elliptisch, 3—4 lang, 2—3 jr dick. Paraphysen dicht verleimt, mit braunen Enden. Jod fürbt das Hymenium dauernd dunkelblau. Falkenberg b, Jauer, Hügel gegen Karolinenhöhe. E.

24 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

A. glebosa Kbr. Am Bahnhof N. A. Wilmsdorf b. Glatz, eine Form mit bereiftem Rand, äußerlich dem Ac. glaucocarpa (Whlbg.) Kbr. ähn- lich. E.

A. fuscata Schrad. «& peliocypha Whlbg. Basalt der Kl. Schnee- grube. E. Form mit mattgrauem, flachscholligem Lager, Schollen mit gerundeten Rändern und fein rissiger Oberfläche. Apothecien tiefschwarz, aus den Lagerschollen hervorbrechend, dann aufsitzend mit kleiner Scheibe und dickwulstigem erhabenem, fein krenuliertem Rande,

*A. rugosa Eitner nov. spec. Wartha (Frankenstein), Großer Fels- block unter dem Bergsturz. E. Aus der fuscata-Gruppe. Thallus ge- schwollen warzig, glänzend gelblich braun. Warzen knotig bis knotig lappig, feinfaltig runzelig, mitten rauh bis rissig. Apothecien einzeln in den Warzen bis 1 mm groß, gleichfarbig bis dunkelbraun, eingesenkt bis hervortretend, mit diekwulstigem fein rauhem Lagerrand. Sporen in sackigen Schläuchen zu vielen, tönnchenförmig, 2—3 { lang, 1,5—2 dick. Jod bläut nur das Hymenium. Sowohl durch das Äußere als die Sporenform und Größe gut von A, fuscata Schrad. und disereta Ach. unterschieden.

*Callopisma pyracea Ach. f. rivulorum Eitner n. f. Hirschberg, an überspülten Steinen im Bober bei Boberröhrsdorf. E, Kruste dicker als bei der Grundform, schmutzig weißgrau, tief rissig zerteilt. Apothecien trübrot, wachsartig, mit gleichfarbigem ungeteiltem Rand. Derselbe ist an jungen Früchten kräftig gyalectaartig und verdünnt sich später zur haar- feinen Linie.

*C, pyrithrella Nyl. Gogolin O/S., Nieder Ellguter Kalkberg. Apothecien sitzen ohne Thallus dem weißen Vorlager auf, 0,2 mm groß, heller als bei ferrugineum, aber viel dunkler und fester wie bei pyraceum. Sporen ca. 13--16 u lang, 6—7 y dick.

©. rubellianum Ach. Bolkenhain, Graebeler Berge. E.

©. erythrocarpum Pers. Glatz, Altheide an überspülten Sandsteinfelsen im Höllengrund in der Weistritz. E.

C. variabile (Pers.) Kbr. f. nigricans Arn. Im II. Nachtrag als O. Agard- hiana Ach. Nach neueren Untersuchungen ist f. nigricans Arn. ebenso nur Form von variabile wie Agardhiana, Die Arnoldschen Merkmale: Dickerer Rand der Apothecien, Discus ohne Reif, K.-Reaktion des Epithecium, violette gegliederte und keulig verdickte Paraphysen sind nicht stichhaltig. Die Exemplare von der Weißkoppe haben dünnere oder dickere, fädige oder gegliederte, nicht verdickte oder stark keulig verdickte Paraphysen. Die K.-Reaktion auf das Epithecium wechselt von gelblich grau zu rosa und violett, ebenso die Sporen von 15—18 p Länge und 7—9 w Dicke. Der Rand der Apothecien ist dünner oder dicker, nackt oder bereift, alles oft an demselben Exemplar.

*Lecania quercicola Eitner nov. spec. Sembowitz (Rosenberg) O/S., alte Eiche bei Kolonie Freipipe am Bahnhof. Thallus sehr dünn, weiß-

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 35

grau, schülferig rauh, uneben. Apothecien klein (0,1—0,15 mm), tief- schwarz, mit dünnem, wulstigem Rand und ebener oder vertiefter Scheibe. Hymenium hyalin. Rand außen hornartig, innen großzellig, schwärzlich mit wenig Gonidien. Die Paraphysen sind wenig verleimt, straff und kräftig, oben keulig braunkopfig, bis 7 j verdickt. Schläuche keulig bis sackförmig, Ssporig. Sporen meist 4teilig, mehr oder weniger gekrümmt (Arthrosporum-Sporen), doch finden sich auch Schläuche mit überwiegend zweiteiligen Sporen. Die 4teiligen sind 18 j lang, 4—4,5 dick, die zweileiligen 9 ı lang, 4—5,5 j diek, also halb so groß und doch auch nur 8 im Schlauch. Jod bläut nur die Schlauchmembran, während es alles übrige weinrot färbt.

Von Arthrosporum accline durch kleinere, glänzend schwarze, aber völlig lecanorinische Apotheeien unterschieden.

L. Nylanderiana Mass. Glatz, Chaussee nach Eisersdorf hinter Haus- dorf, Brücke an den alten Schießständen; Habelschwerdt, Dom. Neu Walthersdorf, alte Gartenpfeiler; Hirschberg, Gartenmauer des Dom. Herms- dorf a. K. E.

*Rinodina Sarothamni Eitner noy. spec. Obernigk, an der Sandgrube über dem Sittenwald. Winzige Spezies. Kruste sehr dünn, aus kleinen zerstreuten, flachen Körnchen bestehend, hellgelblichgrau. Apotheeien 0,2—0,3 w groß, aufsitzend, mit gelbbrauner Scheibe und dünnem, vor- tretendem, gelblichem Rand, stets flach bleibend. K. bräunt den Thallus leicht. Hymenium durchaus farblos, stark lichtbrechend. Paraphysen locker, oben gelbbraunkopfig verdickt. Sporen zu 8 in stets schmal eiförmigen Schläuchen, hellbraun, schieflänglich elliptisch, zweiteilig ohne Einschnürung, 10—13 p lang, 5—5,5 j dick. Jod bläut das Hymenium dauernd, Hyphen, Gehäuse und Schlauchboden färbt es weinrot.

R. confragosa Ach. Felsen des großen Kessels im Gesenke; Dreisteine und Katzenscliloß im Riesengebirge. E.

*— f. lignicola Eitner n. f. Kreuzburg O./S., Gottersdorf aın Scheunentore. Oppeln, Bogutschütz. E,

*R. sophodella Eitner. nov. spee. Breslau, an Populus tremula im Pilsnitzer Wald. E. Etwa eine winzige R. sophodes ohne Vorlager. Kruste grünbraun, mitten dieklich, schollig zerrissen, am Rand sich verdünnend, graubraun. Vorlager fehlt. Apothecien den Schollen aufsitzend, 0,2 bis 0,3 mm groß, mit schwarzer, wenig gewölbter Scheibe und grau- braunem, krenuliertem, verschwindendem Lagerrand. Hypothecium farblos, Hymenium farblos bis schmutzig, leicht gelbbräunlich, sehr diek. Gonidien in beidem häufig. Paraphysen völlig verleimt, oben schmal gebräunt, ohne Verdickung. Sporen in schlanken Schläuchen zu 8, länglich, mit stumpfen Enden und ohne Einschnürung, braun mit schwarzer Querwand, 14 bis 16,5 p lang, 5—7 jr diek. Jod bläut nur das Iymenium dauernd, die Hyphen nicht.

I6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

R. exigua Ach. f. polygonia Eitner n. f. Von der oft ähnlichen f. colletica Flke. ist f. polygonia sicher durch die K.-Reaktion zu unter- scheiden. K. färbt den Thallus sofort gelb, dann intensiv rot, während er bei f. colletica Flke. gar nicht oder leicht bräunlich gefärbt wird.

*Lecanora plicata Eitner nov. spec. Gesenke, Roter Berg, Wald gegen die Brünnelheide, auf Granitplatten. E. Kruste gelblichweiß, mehr oder weniger zerstreut, runzlich-warzig gefeldert, auf fraglichem Vorlager (wohl abgestorbene Flechten). Apothecien sich aus den Warzen entwickelnd, mit mehr oder weniger hell gelbbräunlicher Scheibe und weißlichem, kräftig wulstigem Rande. Frucht faltig verbogen, der Rand faltig krenuliert. Hypothecium fast wachsartig, leicht gelblich. Paraphysen fein und straff fädlich, trüb graugelblich, verleimt, oben breit, gelbbraun. Schläuche keulig bis schmal keulig. Die 8 Sporen elliptisch bis fast kugelig, ge- säumt 9—11 jr lang, 5—6 1 diek. Jod bläut das Hymenium intensiv und färbt es dann trüb braunschwarz. Hyphen und Gonidien werden weinrot. K.-Zusatz läßt den Thallus unverfärbt.

L. sordida (Pers.) Th. Fr. & rugosa Ach. Reichenbach (Schl.), Gneis der Eichherge. E. Im Nachtrag II als f. minuscula der Aspicilia gibbosa. Die eingesenkten Apothecien und der Standorl auf Stein veranlaßten in mir den Irrtum. In Ober Peilau b. Reichenbach und in Haunold wäclıst am Granit der Garten-Steinmauern die weniger prägnante Form der rugosa mit größeren, wulstig faltigen Areolen und eingesenkten, schwarzen oder bereiften, größeren Früchten, welche nur selten etwas hervortreten. Diese Exemplare erscheinen als Übergang zu f. glaucoma Hoflin.

= f. sulphurala (Ach.) Nyl. Ähnlich der f. Swartzi. Weicht ab durch gelbliche Farbe des Thallus, gleichfarbige bereifte, angedrückte, wulstig berandete Apothecien und durch die K.-Reaktion, welche intensiv orangegelb ist. Glatz-Landeck auf dem Dreiecker. E.

L. laevigata Eitner nov. spec. Camenz, Glimmerschiefer am alten Weg zum Balınhof. Thallus gelblich hornfarbig, verwachsen geglättet, fein rissig gefeldert. Apothecien sehr klein, 0,2—0,3 mm groß, dem Thallus gleichfarbig, mit flacher Scheibe und niedergedrücktem Rand, glatt eingesenkt oder flach augepreßt, nur mit guter Lupe zu finden. Schlauch- boden mit gelbgrünen Gonidien, farblos wie das Hymenium, Paraplıysen kräftig, straff, mäßig verleimt, onen gabelästig und gelblich graubraun. Sporen zu 8 in keuligen Schläuchen, länglich, fast stäbchenförmig, hin und wieder ein Ende zugespitzt, 12—13 j lang, 3 dick. K. bräunt den Thallus leicht. Jod bläut die Schläuche intensiv, sie werden später dunkelbraun, alles übrige rötlichgelb bis gelbbraun.

*— f. nigroclavata Eitner n. f. Thallus grau, junge Apothecien wie bei vor., doch schwärzlich, heranwachsend, vortretend und gewölbt. Paraphysen locker, oben braunkeulig verdickt. Schläuche keulig, 8sporig, Sporen 7—8 ıı lang, 3—3,5 ı dick. Am selben Standort und mit voriger

ll. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 27

verschmolzen. E. Derselbe Vorgang wie bei L. polytropa Eiırh., deren Form die Pflanze vielleicht ist.

L. aurea Eitner nov. spec. Altes Bergwerk im Riesengrund. E. Der L. epanora Ach. nahestehend, aber durch Apothecien und Sporen sehr abweichend. Thballus aus gelblichen oder hellgrünlich grauen, kleinen Warzen bestehend, welche entweder auf dem schwarzen Vorlager zerstreut sind oder eine geschlossene Kruste bilden. Der Rand ist oft effiguriert, die Warzen oft hoch gewölbt und viel in goldgelbe Soredien aufbrechend. Die Apothecien entspringen aus den Lagerwarzen und haben jung gelbgrüne Scheibe und niedrigen, geschwollenen, hochgelben Rand. Letzterer wird bald von der schwellenden Scheibe verdrängt. Die Frucht schwillt immer mehr, wird allmählich dunkler bis grünbraun und wächst sich zu einem kopfigknotigen biatorinen Gebilde aus (bis 1 mm Wü). Das Gehäuse geht schon in der Jugend durch die Thallusareole hindurch bis ins Vor- lager, im Alter umfaßt es die ganze Areole. Bei jungen Früchten sind im Rand und im Schlauchboden Gonidien vorhanden, weshalb die Flechte zu Lecanora zu ziehen ist, später werden dieselben völlig aus dem Gehäuse verdrängt oder resorbiert. Das Hymenium besteht aus stark verleimten, fädlichen, bräunlichgelben, sielı nach oben verdunkelnden Paraphysen, in denen die breitkeuligen Schläuche erst nach K.-Zusatz zu erkennen sind. Hypotheeium wachsartig, hyalin. Sporen zu 8, kugelig bis kugeligelliptisch, 10—11 y lang, S—10 1 diek. Im Alter bildet sich im Kern des Hypo- thecium ein schwarzer kohliger Fleck, der dasselbe allmählich völlig schwärzt. Jod färbt nur die Schläuche blau, die gefärbten Teile des Hymenium rostbraun, das Hypotheeium, wenn noch hell, gelblich.

L. persimilis Th. Fr. Obernigk, Sitten, an Populus Iremula und an Sarolhamnus; Hundsfeld, hinter Marienhof an Zitterpappel; Tost O./S., an Sarothamnus bei Chiechlau. E. Von Lecanora sambuci durch dunklere, gleichfarbig berandete, meist größere Apothecien und stets Ssporige Schläuche unterschieden.

*L. symmicla Ach. var. trabalis Ach. f. biatornia Eitner n. I. In Schlesien die verbreitetste Form, meist an abgefallenen Kieferästchen, aber auch an Kieferrinden, hat den körnigen, rein grauen 'T'hallus der v. {rabalis, ist aber nie staubig aufgelöst. Apothecien flach, horngelb, hornbraun, bis brandigschwarz, vreillos, mit eigenem, gleichfarbigem oder etwas hellerem Rand; stets ohne Lagerrand, Gonidien nicht im Rand, aber im Schlauch- boden. Paraphysen gut verleimt, Schläuche keulig, 8sporig; Sporen länglich elliptisch, 8—15 lang, 4—5 dick, stets deutlich gesäunt, Kieferwälder der Kreise Kreuzburg, Rosenberg O,S.; Militsch, hinter Kath. Haminer.

Mosigia gibbosa Ach. Reich fruchtend, an den Dreisteinen im Riesen- gebirge. E.

98 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vater]. Cultur.

Aspicilia aquatica Kbr. f. verruculosa Eitner n, f. Kl. Schneegrube an herabgerollten Basaltstücken. Thallus weißgrau, aus hoch und stark gewölbten, lappig auslaufenden knotigen Warzen bestehend, deren Lappen entweder zusammenhängen und einen ausgebreiteten Thallus bilden oder in kleinen Gruppen auf dem dunklen Vorlager verstreut. Apothecien zu eins bis drei in den Warzen eingesenkt, schwarz, randlos bis 0,4 mm groß, öfter zusammenfließend, Hymenium und Schlauchboden hyalın. Paraphysen wenig verleimt, gegliedert, oben breit gebräunt, nicht verdickt. Schläuche 8sporig aufgeblasen. Sporen elliptisch 18—23 yw lang, 10—13 u dick. Thallus K. Jod bläut die Hyphen nicht und färbt das Hymenium nach kurzer Bläuung dunkelrotbraun. Sporen bald gelbrot.

*4. calcarea L. f. lobato-nodulosa Eitner n. f. Granitfels an der Chaussee in Ullersdorf b. Glatz. Thallus sehr dick, grauweiß, weiß bereift, knollig lappig, oft zu dicken, sich ablösenden Knoten zusammengeballt auf grauem Vorlager. Apothecien eingesenkt nebst dem wulstigen Rand dick weißmehlig oder körnig bereift. Sporen zu 6—8 in breit elliptischen Schläuchen 25 u lang, 14 diek. Jod bläut das Hymenium intensiv und dauernd.

#®— ff. reticulata Eitner n. f. Mühlberg bei Kauffung. Thallus eben, sehr dünn, graubraun, fast fehlend. Apothecien wie gestutzt sich erhebend, den Thallus wenig überragend, dünnweiß berandet, die nackte Scheibe gitterartig weiß bedeckt. Schläuche meist 8sporig, zylindrisch.

*A. fusca Nyl. Habelschwerdt, Wölfelsgrund; Riesengeb., Blaugrund häufig. Von 4. lacustris durch graueren Thallus und mehr braune, größere Apothecien unterschieden. Sporen 20—22 u lang, 10—14 w dick. Spermalien 16—21 p lang und 0,1 y dick.

A. morioides Blomb. Auch an den Mannsteinen und den Mädelsteinen im Rsgeb. Die Verbreitung reicht also von den Pferdekopfsteinen bis zum kleinen Teiche E.

®=A. cinerea L. f. sublaevata Eilner n. f. Eulengebirge, Steinkunzen- dorf hinter der Forelle; Bolkenhain, Graebeler Berge, Steinhäuser. E. A. gibbosa eine Form der laevata besitzt, welche an die aqualica Fr. grenzt, so gehört diese, dem Ansehen nach nicht zu unterscheidende Flechte, zur einerea. Die keuligen Schläuche haben 8 Sporen von 18/9 u Größe; K. färbt den Thallus sofort gelb und bald ziegelrot.

*A. cinereorufescens Ach. var. sanguinea Krphbr. Im II. Nachtrag als f. dispersa.

#®— var. sudelica Eitner n. var. Auf dem ganzen Riesengebirgs- kamm sehr verbreitet, meist die senkrechten Flächen von Felsblöcken bekleidend. Im II. Nachtrag als A. bohemica Kbr.; durch grauen oder ölbraunen, geschwollen scholligen Thallus mit schwarz berandendem und oft durchkreuzendem Vorlager und öligrotbraune, glatt eingesenkte, ange- feuchtet feurig rote Apothecien ausgezeichnet.

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 29

A. bohemica Kbr. f. fluvialis Kbr. Hirschberg, am rechten Ufer des Bobers in der Sattlerschlucht an Steinen wieder gefunden. E.

4. flavida Hepp. Glatz, Kalk hinter Lewin; Abstieg von der Hummel nach Lewin; Hollenau bei Glatz und Seitenberg bei Landeck auf Kalk. E.

A. ceracea Arnold. Habelschwerdt, Grund vor Neuwalthersdorf; Frankenstein, Grochberge; Bolkenhain, Berge bei Graebel und Sieben- hufen. E.

A. arenaria Eitner. Durch scholligen oder warzigen, knorpeligen Thallus und die meist hoch berandeten Apothecien, größere Sporen usw. von voriger unterschieden.

«. microlepis Kbr. (als Art.) Thallus grau bis schmutzig braun, winzig klein, schollig gefeldert, Schollen anliegend oder konkav, mit freien Rändern. Apotheeien punktförmig, randlos, eingesenkt, bis 0,2 mm erweitert, dann mit wulstig feinem Rande, braun, wenig von der Lager- farbe verschieden. Sporen 11—18 y lang, 7—8 p dick, elliptisch ohne Saum. Jod färbt das Hymenium nach leichter kurzer Bläuung gelbbraun. Basalt der kleinen Schneegrube. E.

ß. acarosporoides Eitner. Thallus warzig, grau bis gelbbräunlich. Apoth. den Warzen eingesenkt. Von voriger außer dem Thallus und der Berandung der Scheibe besonders durch die intensive Bläuung des Hym. durch Jod unterschieden. Sporen 14—19 ı. lang, 7—9 w dick in breit keuligen Schläuchen. Rosenberg i. Schl., Sandheiden, auf Kalkgeröll.

* 7, incana Eitner n. f. Die ganze Flechte winziger, aus kleinen höckerichten Wärzchen oder Schüppchen bestehend, grau, fast wie bereift. Apothecien kleiner und oft zu mehreren in der Areole 0,1—0,3 mm auch zusammenfließend, eingesenkt. Rand fein wulstig erhaben, grünbraun. Hym. hyalin ohne Decke. Schläuche spindelig. Die 8 Sporen fast kugelig, elliptisch 10—12 p lang, 7—8 y diek. Jod färbt das Hym. nach ganz leichter Bläuung gelblich rotbraun. Habelschwerdt, Grund vor Neu- walthersdorf. Auf Sandstein,

ö. verrucarioides Eitner (s. Nachtrag II p. 7). Frankenstein, Groch- berge an der Chausse nach Wartha. E. Dort auch eine Form mit sehr erweiterter Scheibe. Sporen 14—17 y lang, 7—9 dick.

*A. pelobotryoides Eitner nov. spec. Rsgeb. unter dem Lomnitzfall. E. Thallus weißlich, schwach glänzend, leicht runzlich und flach, warzig, uneben, ungeteilt oder vereinzelt fein rissig, ziemlich diek, vom grauen Vorlager oft undeutlich umsäumt. Apothecien dem Thallus völlig einge- senkt mit schwarzer konkaver Scheibe und dünnem wulstigem weißem Rand bis 0,8 mm groß, oft zu 2 verschmolzen. In älterem Zustand trennt sich die Frucht samt dem Rande durch einen Ringspalt vom Thallus. K. verändert den Thallus nicht! Gehäuse von dünner, schwarz- brauner Linie gebildet, meist fehlend. Schlauchboden braunschwarz. Gonidien im Rand und Schlauchboden. Paraphysen hyalin und schleimig

s0 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

verbunden, oben schwärzlich braun. Sporen in keuligen Schläuchen zu 8, 14 u lang, 7 w dick. Jod bläut die Hyphen nur punktweis und leicht, das Hymenium aber intensiv und dauernd. Von A. pelobotrya (Senft) Th. Fr. durch nicht gefelderten Thallus ohne Cephalodien und kleinere Sporen, stets zu 8 im Schlauche abweichend.

*A. micta Eitner nov. spec. An den rechten Bordsteinen des Bobers in der Sattlerschlucht am Eingang. E. Kruste dunkelgrau, zusammen- hängend, auf undeutlichem hellem Vorlager, z. T. rissig gefeldert, beson- ders um die völlig eingesenkten, bis 0,5 großen, konkaven, gelbbraunen, rötlichen bis weißlichen Apothecien, deren Lagerrand wulstig und mäßig kräftig hervorragt. Angefeuchtet wird die Scheibe stets farblos. Para- physen gegliedert, kräftig, straff, bei Druck sich leicht trennend, das ganze Hymenium völlig farblos. Schläuche fast spindelig. Sporen bis zu 8 kurz elliptisch, 11—14 p lang, 5—7 y dick. Jod färbt das Hymenium gelblich rotbraun, Hyphen desgl. Da auch das Lager die Scheibe oft lange bedeckt, so erscheint die Flechte wie ein Bastard von A. lacustris u. ceracea Ach.

*=A. Prevostü (Fr.) Th. Fr. In Nachtrag II ist die Flechte als Hymenelia affinis, mit welcher sie große Ähnlichkeit hat. Asp. Prevostii unterscheidet sich besonders von Hymenelia affinis durch die in keuligen Schläuchen zu 6 bis 8 sich findenden, fast kugeligen, eckig gedrückten Sporen von 9—12 Länge und 9—10 nu Dicke. Kitzelberg bei Kauffung, Friedrichsbruch. E.

Jonaspis chrysophana Kbr. Kl. Schneegrube, am Basalt. E.

J. odora Ach. In allen Bächen des Kammes und den abfließenden Wässern an Steinen und Felsen häufig. Im Blaugrund eine sehr helle Form mit „trocken‘ wie weißbereiftem Lager.

=J. fuscoclavata Eitner nov. spec. Rsgeb., Hohes Rad, an trockenen Felsblöcken. E. Kruste grünlich graubraun, staubig dicklich, bis rissig oder kleinschuppig gefeldert, wie ein Vorlager anderer Flechten erscheinend. Apothecien den Schuppen eingesenkt, mit schwarzer, konkaver Scheibe und wulstig aufgeworfenem Lagerrand, bis 0,2 mm groß. Die schwarze Decke der Scheibe verschwindet manchmal und erscheint die Scheibe dann goldrot. Die goldroten Gonidien einzeln in diekem Schleimhof. Schlauchboden hellbräunlich, Gehäuse grünbräunlich, beide Gonidien Klumpen enthaltend. Paraphysen dick, ausgezeichnet gegliedert, oben mit 1—5- zelligen, grünbraunen, keuligen Enden. Sporen in sackigen Schläuchen zu 8, 14 g lang, 9 fu dick, eiförmig, oft fast dreieckig, gesäumt. Jod färbt nach leichter Bläuung gelbrot, K.-Zusatz entfärbt wie bei folgender völlig.

#=J. hyalocarpa Eitner nov. spec. An Felsblöcken in der Aupa im Riesengrunde. Thalius grau- bis rot-braun, anstrichartig eben, rissig gefeldert auf verschwindendem dunklem Vorlager. Apothecien schalen- förmig eingesenkt, randlos, fein rosa hyalin, angefeuchtet gelatinös polster-

Il. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. al

arlig hervortretend.. Hymenium völlig farblos; Schlauchboden körnig, Paraphysen fädlich, ästig, spärlich in der Gelatine enthalten. Schläuche keulig, Sporen zu 8, 11—12 y lang, 7 x dick. Apothecien bis 0,5 mm groß. Gonidien groß, 23—32 j Durchm., rot mit Schleimhülle. Jod färbt das Hymenium und Hyphen gelblich rotbraun.

*— var. colorata Eitner n. var. Thallus schmutzig rotbraun. Apo- thecien kleiner, mit konkaver rotgelber Scheibe und hellerem dünn wulstig hervorstehendem Rand. Angefeuchtet nicht polsterartig, sondern konkav und berandet bleibend. Schläuche schlanker. Die kräftigeren Paraphysen sind oben meist gelb gefärbt oder mit solcher Decke versehen! Beide Formen sind vermischt mit Aspicilia lacustris With. und unterscheiden sich besonders durch dunkleren Thallus und hellere Scheibe.

*J, obscura Eitner nov. spec. An Steinen und Blöcken am Ufer des oberen Weißwassers, von der Wiesenbaude bis zum Grunde häufig. Ver- einzelt in der Aupa unter Wasser und unter dem Lomnitzfall. Thallus und Protothallus grauschwarz, fein wulstig, rauh oder rissig gefeldert, dünn. Apothecien flach eingesenkt oder angedrückt, mit vorstehendem, dünn wulstigem, schwarzem Rand und entblößter hellrötlicher oder schwarz bedeckter Scheibe. Gonidien, nur die großen, goldroten, in dicker Schleimhülle, bis 35 Diam. Gehäuse fast bestimmt, mit äußerst feiner, schwarzer Randlinie. Paraphysen schleimig, verbunden, mit dünner, schwarzer, krumig staubiger Decke. Sporen in schlank keuligen Schläuchen zu 8, 12—15 x lang, 6—S x dick mit gestutzten Enden. Jod färbt das Hymenium nach kurzer Bläuung gelbrot. K.-Zusatz entfärbt.

Secoliga fagicola (Hepp.) Kbr. Rosenberg O./S., alte Weiden am Weg von Thule nach Laskowitz; Leschnitz O./S., Weiden im Czarnosiner Thal; Breslau, Auras, an Weiden bei Weitewalke E.

*5, bacidiospora Eitner nov. spee. Großer Kessel im Gesenke, an den obersten Felsen. E. Lager knorpelig, schmulziggrau, uneben. Apo- thecien halbkugelig, denen von Gyalecta cupularis Ehrh. ähnlich, jedoch klarer in der Farbe; hervorbrechend, weißgelblich, oft rötlich durch- scheinend mit punktförmiger, schwarzer Pore. Die dunkle Porendecke schwindet und läßt eingesenkt den goldgelben Kern erkennen. Dieser hat die Form der äußeren Frucht und ist von dickem Lagergehäuse ein- geschlossen, der die großen, goldroten Gonidien in dieker Schleimhülle enthält. Paraphysen leicht gelblich, gegliedert, 1,5 j dick, verleimt. Schläuche spindelförmig, 100 j lang, 9—10 u dick, 6sporig. Sporen spindelig, keulig, 70—90 jr lang 3—4 j. dick mit einem lang haarförmig ausgezogenen Ende, sehr querteilie. Jod färbt nach erstlicher Bläuung gelb, dann rotbraun.

*S. rosea Eitner nov, spec. Bolkenhain, Gräbeler Berge. E. Kruste dünn, feinkörnig rauh bis staubig aufgelöst, schmulzig. gelbbräunlich.

33 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Apothecien kaum 0,2 mm erreichend, sitzend, krugförmig, fleischfarbig rosa. Gehäuse dick, parenchymatisch, große, goldrote Gonidien enthaltend. Paraphysen locker, sehr kräftig, leicht knotig, oben keulig verdickt, hyalin. Schläuche unregelmäßig, spindelförmig, $8sporig., Sporen langelliptisch, 9 w lang, 3 dick, nur mit einer Scheidewand, hyalin. Jod färbt das Gehäuse und Hymenium erst gelb, dann rotbraun. Den Sporen nach gehörte die Flechte zu den Biatorineen, aber die Gonidien und das krug- förmige Gehäuse zeigt die natürliche Verwandtschaft.

*Pertusaria communis D. C. f. umbonata Th. Fr. Glatz, Altheide im Höllengrund und auf der Heuscheuer, auf Sandstein. Thallus kleinwarzig, papillenartig, dunkel. Fruchtwarzen plattgedrückt mit ringförmiger Rand- vertiefung und mittlerem, schwarzem Buckel mit Pore.

*— f. pinara Ach. Schreiberhau i. Rsgb., an Felsen vor dem Dorf; Löwenberg, Sandsteinblöcke im Wiesenland, hinter der Stadt. E. Thallus fast fehlend oder dick, runzligwarzig, weißlichgelb. Apothecien in ausgezeichnet glatt brustförmigen Warzen, welche einzeln oder 2—3 zusammengewachsen sind.

P. coccodes Ach. K. färbt den Thallus gelb und bald blutrot. Eine Erweiterung der Scheibe, wie sie B. Stein angibt, sah ich nie!

#— f. plasmodicarpa Eitner n. f. Apothecien große, flache, scharf abgesetzte (gleichsam schwimmende) Polster bildend, bis 4 mm groß, in denen bis 50 und mehr Fruchtkerne enthalten sind. Die Poren der einzelnen Früchte sind dunkel mit weißlichem, dünnem Rand. Inneres wie Hauptform. Sporen stets zu 2 in den Schläuchen. Faule Buche bei Marienthal im Riesengebirge. E.

P. coronata Ach. Glatz, Rückers hinter Hubertus; Habelschwerdt, Wälder um Kaiserswaldau; Militsch, Buchenwälder am Waldkretscham. E.

P. Wulfeni (D. C.) Fr. a. fallax Ach. Gr. Leubuscher Wald bei Brieg; Militsch, Wälder hinter Katholisch Hammer. E.

B. lutescens Hoffm. An denselben Standorten, aber stets steril. E.

®P. polycarpa Eitner nov. spec. Nimptsch, Windmühlenberg zwischen Gr. Kniegnitz und Sehnitz auf Granit im Steinbruch. E. Thallus grau, knittrig, staubglänzend. Apothecien den Thallus fast verdeckend, in zackigen, schorfähnlichen, vielfrüchtigen Warzen. Epithecien schwarz, kurz, strichförmig oder unregelmäßig eckig, öfter auch mit erweiterter Scheibe und dann vom wulstigen Thallusrand begrenzt. K. bräunt Thallus und Warzen. Sporen zu 8 in langen, zylindrischen Schläuchen, 32 —44 lang, 16—20 g dick, einschließlich des 2 ı dicken Saumes. Plasma gelblich. Paraphysen hyalin, wirr, sehr fein. Das ganze Hymenium hyalin graugelblich, wie das Hypothecium. Gonidien dichte Polster bildend. Jod färbt Schläuche u, Sporen intensiv und dauernd dunkelblau.

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 33

*P. sorbina Eitner nov, spec. An Sorbus ancuparia bei Grottkau. E. Thallus gelblich grau, flach gedrückt, wie abgeschliffen, striemig, warzig. Fruchtwarzen kaum über den Thallus hervorragend, ebenso flach gedrückt, von gleicher Farbe, bis 1 mm Durchmesser. Apothecien zu mehreren in der Warze, als kleine verschwommen begrenzte, schwarze Flecken ohne sichtbare Pore. Erst nach Anfeuchten tritt die Spitze des Kerns hervor und öffnet sich. Gehäuse pflaumenförmig, hornartig, scharf begrenzt, hyalin, Paraphysen zerbrechlich, wirr. Schläuche zylindrisch, 2—6 sporig. Sporen elliptisch bis lang elliptisch, doppelt gesäumt, 30—62 lang, 16—19 diek. Paraphysen im Alter dunkelbraun. Jod färbt das Gehäuse und die Schläuche dauernd dunkelblau, Sporen, Hyphen und Paraphysen weinrot.

*P. collieulosa Kbr. An Buchen im Walde hinter Hubertus bei Rückers-Glatz. E. Thallus hellgraue bis grünlichgraue Flecken bildend, ziemlich glatt, ganz leicht, wellig faltig oder knotig, wenig und undeutlich fein rissig. K. färbt erst gelb, dann braun. Fruchtwarzen wenig hervor- tretend, meist zu flachen, ebenen, in den Thallus verschwimmenden Polstern gebildet. Apothecien bis zu 30 Stück in solchen Polstern, sich durch punktförmige, dunkler graugrüne, weißumrandete, nicht hervor- tretende Epithecien markierend. Schläuche ein- bis zweisporig, Sporen 100— 200 j. lang, 30—50 p dick, zierlich dreifach gesäumt, sehr fein krenuliert resp. gestreift, Inhalt oft gebräunt. Jod bläut nur die Schläuche intensiv, alles andere färbt es weingelb.

*=P, caesioumbrina Eitner nov. spec. An Carpinus im Lindener Oder- wald gegen Scheidelwitz. E. Thallus knorpelig wulstig oder kleinwarzig, trüb und dunkel, bläulichgrau, auf weißlichem Vorlager; völlig soredienlos, mit glatter, spärlich rissiger Rinde. Spermogonien in kleinen, weißköpfigen Wärzchen, Spermatien strichförmig, 9 p lang, kaum 1 p diek. Frucht- warzen unregelmäßig knotig, größer ca. 0,4 mm, bis 6 Apothecien bergend, deren nadelstichfeines Epitheeium ebenfalls weiß umhoft ist. K. + rötlichgelb. Paraphysen sehr fein, wirr, locker, in der Gelatine verschmolzen. Schläuche zylindrischh 1—6 Sporen enthaltend, von sehr verschiedener Größe. Meist aber sind in einer Frucht nur 1 bis 2sporige Schläuche, deren Sporen 80—150 lang, 27—50 j dick sind, in der anderen fast nur 5—6 sporige Schläuche, deren Sporen nur 55—80 i lang, 25—26 jr dick sind. Sporen breit gesäumt, mit oft knitterfaltigem Plasma. Jod bläut nur die Schläuche.

P. amara Ach. An alten Eichen und Buchen der Ebene verbreitet, fruchtend an alten Eichen im Gr. Leubuscher Wald bei Brieg. Von den meisten Autoren bisher zu P. communis DC. ß. variolosa Wallr. gezogen; die Auffindung der Apothecien bewies, daß B. Stein mit Recht die Pflanze als besondere Spezies auflührte, Von variolosa äußerlich nur durch den intensiv chininartig bitteren Geschmack des Thallus zu unterscheiden,

1910. 3

34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

geben die unscheinbaren Apothecien in Form und mikroskopischem Be- fund gute Unterschiede. Die Fruchtwarzen sind kaum Y/, so groß, wie bei communis, glatt, dünnhäutig und unregelmäßig, knotig geformt. Durch- bohrung kaum mit guter Lupe zu erkennen, weißlich. Scheibe tief ein- gesenkt, nicht sichtbar. Sporen zu 2—5 in zylindrischen Schläuchen 58—89 y. lang, 25—50 p diek. K. bräunt den Thallus.

P. multivuncta (Turn.) Nyl. Gr. Leubuscher Wald bei Brieg, an Buchen und jungen Eichen; Glatz, Rückers, Aufstieg nach dem Ochsenberg, an Buchen. E.

Thelocarpon epilithellum Nyl. Obernigk, Nordwestabhang des Wind- mühlenberges, Schonungen gegen Schimmelwitz, an Geröll; Neumarkt, Sandberge bei Heidau. E.

=Th. infermixtulum Nyl. Reichenbach, Feldsteine bei Schlaupitz. E. Thallus dünnhäutig, graugelb oder fehlend. Apothecien einzeln, in sehr kleinen, abgeflacht kugeligen, gelblichen F'ruchtwarzen eingesenkt, mit nadelstichfeinem, eingedrücktem, schwarzem oder gleichfarbigem Epithecium. Paraphysen kurz, meist zerstört. Schläuche bauchig, spindelig, die Para- physen weit überragend. Sporen länglich, 3 p lang, 1 q dick, sehr zahl- reich in den Schläuchen. Fruchtwarzen höchstens 0,15 mm breit. Jod färbt nach leichter Bläuung rotbraun.

*Th, cinereum Eitner nov. spec. Jauer, Felsgeröll an der Chaussee von Poischwitz nach Siebenhufen. E. Kruste schwärzlichgrau, schmutzig. Apothecien in der Jugend reingrau, gute Schläuche und Sporen enthaltend. Sehr schnell aber wird die Farbe dunkler, braun bis fast schwärzlich, so daß man eine Verrucarienfrucht zu sehen glaubt. In diesem Zustand ist das Hymenium fast verschwunden und von Lagersubstanz und fremden Hyphen aufgezehrt. Die Pore der Fruchtwarzen ist kaum mit guter Lupe sichtbar. Warzen niedergedrückt, später mehr halbkugelig. Gehäuse wachsartig, Iıyalin mit Gonidien durchwachsen. Paraphysen kräftig, ver- bogen, fädlich, fast so lang als die bauchig spindeligen Schläuche, welche bis 65 lang große Mengen von Sporen enthalten. Sporen fast eirundlich mit 2 polaren Öltropfen, 3—4,5 1 lang, 2—3 diek. Jod bläut das Hymenium nicht merklich und färbt dann Schläuche und Paraphysen rot- braun, das Gehäuse gelbbraun.

Th. robustum Eitner. Jauer, Basaltblöcke im Chausseegraben zwischen Poischwitz und Siebenhufen. E.

*Belonia terrigena Eitner nov. spec. Riesengebirge, um die Veilchen- steine, auf alten Rasenausstichen neben dem Kammweg. Kruste unrein, schwärzlichgrau, kräftig, humose Erde und verdorbene Moose überziehend, Apothecien Verrucarienfrüchten gleich hervorbrechend, grau, am Scheitel das gelblichweiße Gehäuse entblößend. Pore winzig, angefeuchtet, den gelbrötlichen Kern zeigend. Fruchtwarzen kaum 0,2 mm breit, stets ein- früchtig. Paraphysen sehr fein, locker, wirr. Schläuche sich leicht ab-

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 35

sondernd, spindelförmig, 5—6 Sporen von 100—180 p Länge, 3—5 Dicke enthaltend. Sporen spindelig sehr zart und viel querteilig, hyalin. Gehäuse dick, fleischig, gelbrötlich, von dieker Gonidienschicht umgeben. K. färbt die untere Hälfte des Hymeniums gelb, Jod alles rötlich gelb- braun.

"Psora thalloidemoides Eitner nov. spec. Riesengebirge, Riesengrund, Felsblöcke an der Aupa. Thallus weiß, knotig, lappig mit herabgebogenen, selten freien Enden, hochgewölbt und faltig, wenig und fein rissig geteilt, dem von Thalloedema Mass. ähnlich, aber reiflos und glatt. Apothecien schwarz, hoch gewölbt mit rauher Scheibe und glattem, verschwindendem, grauschwarzem, in der Jugend weiß bereiftem Rand. Gehäuse braun- schwarz, dünn, durch hyalinen Streifen vom dieken, schwarzen Schlauch- boden getrennt. Schlauchschicht trüb hyalin. Paraphysen fädlich, leicht trennbar, oben graubraun. Das ganze Hymenium pflaumig - gelatinös. Schläuche keulig bis eiförmig, dichtstehend, Ssporig. Sporen stets kräftig entwickelt, länglich, schiefelliptisch, eingeteilt, mit gespitzten Enden, 18—21 p lang, S—9,5 je dick. Jod färbt das Hymenium intensiv blau, die Hyphen gelbbraun. K. und Ca. Cl. färbt den Thallus grün.

*Bialorella conspurcans (Norm.) Th. Fr. Glatz, Telegraphenstütze zwischen Hochrosen und Wenighäuser. E. Thallus grauschwarz, staubig, zwischen den Holzfasern der Oberfläche des Substrats sitzend. Apothecien angedrückt, kaum 0,1 mın Durchm., sehr dünn, feinflach berandet oder randlos, linsenförmig, schwarz. Angefeuchtet rötlich werdend. Gehäuse und Paraphysenenden braun. Hypothecium farblos, Paraphysen fädlich, ziemlich locker, oben braunköpfig verdickt. Schläuche keulig bis aufge- blasen. Sporen zu 20—30 im Schlauch, 5-—6 y. lang, 2 x dick. Große grüne Gonidien unter dem Schlauchboden, hin und wieder einzelne im Gehäuse. Jod bläut das Hymenium und färbt dann lederbraun.

*Bacidia bacillifera Nyl. Glatz, Rückers hinter Hubertus an Buchen; Habelschwerdt, Wölfelsgrd., Aufstieg zum Schneeberg, an Acer Pseudo- platanus. Gleicht der B. abbrevians (Nyl.) Th. Fr. und weicht nur ab durch kräftigere schwarze Apothecien und längere Sporen (20—34 lang 2,5—3,5 breit).

*Scoliciasporum umbrinum Ach. f. erustosum Eitner n. f. Glatz, Höllengrund bei Altheide auf im Schatten liegenden Sandsteinblöcken. E. Kruste bis 1,5 mm dick, filzartig, gelbbraun, dem Substrat abhebbar auf- liegend, aus Hyphen, Gonidien und gelöstem Substrat bestehend. Apothecien sehr klein, heller bis dunkler rotschwarz, 0,2 mm <roß, unberandet, wenig gewölbt. Exeipulum leicht gebräunt, sonst wie bei umbrinum. Sporen an einem linde kopfig verdickt. 4teilig 20 lang 1,5—2 dick. Jod bläut das Hymenium, besonders die Schläuche, dann färbt es gelb, die Schläuche allein trüb rot schwärzlich.

36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

f. corticolum v. Zw. Obernigk, bei Heidewilxen an Salz caprea, in den Sitten an Populus tremula. E.

*Sc. perpusillum. Lahm. Trebnitz, am Eisensteinweg hinter Kl. Uje- schütz an Salix aurita E. Von Se, Baggei Metzler durch dunklere braune Kruste, schwarze, angefeuchtet nicht heller werdende Apothecien unter- schieden. Epithecium dunkelbraun, Gehäuse braun, Paraphysen mit kopfiger brauner Verdickung, stärker verschmolzen. E.

Sc. compactum Kbr. Peiskretscham OS., an Feldsteinen. E.

Bilimbia chlorococca Graeve. Oppeln, Grudschützer Wald an Kiefern; Obernigk, Sitten, an Populus Iremula. E.

B. Nitschkeana Lahm. Militsch, Kath. Hammer, faule Kiefernäste; Nimptsch, Diersdorfer Wald b. Gnadenfrei an Kiefern. E.

*B. lividofusca Eitner nov. spec. Nimptsch, Diersdorfer Wald an Populus tremula. E. Thallus sehr -dünn, fein körnig rauh, grau, auf un- kenntlichem Vorlager. Apothecien sehr klein, bei höchstens 0,2 mm groß, angepreßt, flach oder leicht gewölbt, gelb rötlich braun, angefeuchtet fast gelb mit dunklerem, wenig bemerkbarem, im Alter oft welligem Rand. Ex- eipulum und Hypothecium graugelblich wachsartig. Paraphysen fest ver- wachsen, gelblich mit gleichfarbigen Enden. Die eiförmigen Schläuche enthalten 8 Sporen von 15 ı Länge, 5,2 j Dicke, 2- bis 4teilig. Jod färbt das Hymenium dauernd blau, das Gehäuse gelbrot. Hyphen werden nicht gebläut.

*B. coniangioides Eitner nov. spec. Schneekoppe auf Moosen. E. Thallus grauweiß, körnig bis knotig, zur dichten Kruste vereinigt oder auf gleichfarbigem Vorlager zerstreut. K—. Apothecien auf oder zwischen den Lagerknötchen, tiefschwarz, samtartig, bis 0,8 mm groß, selten berandet. Der innere Fruchtbau macht den Eindruck eines Coniangium. Gehäuse braunschwarz, kohlig. Schlauchboden trüb grünlich, braunschwarz, in die schmutzig grünbraune Schlauchschicht übergehend. Paraphysen unkenntlich, eine homogene Füllmasse bildend, in welcher die keuligen $sporigen Schläuche eingebettet sind. Sporen 3- bis Öteilig, meist keilförmig, oft gebogen, 28 lang, 8 u dick. Teilwände dick, der obere Teilkörper meist größer als die anderen. Jod färbt weißgelb, später trüb braun. Die gewöhnlichen grünen Gonidien erfüllen den Thallus, dem die Früchte ohne jede Spur von fremden Pilzhyphen entspringen, was bei einem Parasiten nicht zutrifft.

Biatorina spkaeroides Maß. Glatz, Altheide im Höllengrund auf Moos- polstern der Sandsteinblöcke, E.

*B, subnigratula Eitner nov. spec. Nimptsch, an alten Weiden im Wiesengrund bei Gaumitz. Thallus einen schwärzlichen Anflug bildend oder als sich ablösende körnige, graugrüne, dünne Kruste auftretend. Apothecien rötlich braun bis schwarz, angefeuchtet heller werdend, erst flach, dünn gleichfarbig berandet, bald gewölbt, randlos, angedrückt.

U. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 37

Paraphysen ziemlich verleimt und hyalin, oben hellbraun, kopfig verdickt. Hypothecium und Gehäuse hyalin bis leicht gelblich, ohne Gonidien-Sporen in sackigen bis breitkeuligen Schläuchen zu 8, 2teilig, oft traubenkern- förmig 7—)9 lang, 5—5,5 dick. Jod färbt das Hymenium tiefblau, dann schmutzig violett. Hypothecium und Hyphen weinrot. B. subnigrata Nyl. weicht nur ab durch gehäufte Apothecien und Paraphysen ohne kopfige Verdickung.

B. presina Tr. f. sordidescens Nyl. Obernigk, Wald gegen Jaekel. E. Von der Grundform durch fast schmierige, graugrüne Kruste und sehr kleine, gleichfarbige Apothecien abweichend, welche angefeuchtet heller und durchscheinend werden.

B. diserelula Nyl. Namslau, an Kieferwänden im Hochwald bei Windisch-Marchwitz. E. Thallus feinkrustig, weißlich. Apothecien fast kugelig aufsitzend, winzig klein, rotbraun bis schwärzlich, innen hyalin. Paraphysen fest verwachsen. Schläuche länglich keulig. Sporen zu 8, spindelförmig, 2teilig, mit heller Querwand, zum Teil ungeteilt, 9I—11 u lang, 2,5— 3,5 dick. Jod färbt nur die Schläuche intensiv blau, alles andere weinrot.

*B. punctulata Whlbg. Bolkenhaın, hinler den Steinhäusern im Graebeler Tal. E. Thallus sehr dünn, körnig, graubraun oder krustig und gefeldert, bisweilen fehlend und die Apothecien dem schwärzlich grauen Vorlager entspringend. Apothecien winzig klein, 0,1 bis 0,3 groß, mattschwarz, flach, sehr dünn, erhaben berandet oder wenig gewölbt randlos, angefeuchtet schwarz bleibend. Hypotheeium bräunlich bis fast gelblich, weich. Paraplıysen wenig verleimt, straff, hyalin, groß- kopfig verdickt mit 3—4 dieken blauschwarzen Köpfen. Sporen zu S, 2teilig in keuligen Schläuchen, büchsenförmig d. h. zylindrisch mit gestutzten Enden 5,5—6 lang, 2,5—2,7 dick. Jod bläut das Hymenium intensiv, dann schwarz, die Hyphen nicht. Gehäuse dunkelbraun, körnig, dünn, innen gelblich

Biatora granulosa Ehrlı. f. escharoides Ehrh. Auf Heideboden am hohen Jeschken bei Reichenberg i. Böhmen. E. Thalluswarzen zu dichten glatten Polstern zusammengedrängt. Ebenso fließen die Apotheeien, randlos, zu angepreßten, flachen, heller oder dunkler braunen Polstern zusammen,

B. helvola (Kbr.) Th. Fr. Elbgrund an Buchen (Erichsen), oberhalb der Leierbauden an Buchen E. Habelschwerdt, Grunewald bei Reinerz an Fichtenwurzeln. E. Moosbewohnend mit hyalinen Früchten und in Soredien aufbrechendem Thallus an einer Buche bei den Saalwiesen Ober Bielendorf.

*B. meiocarpoides Nyl. Rosenberg OS., Charlottenberg (H. Zuschke); Reichenbach i. Schl., Südabhang des Költschenberges. E.; Bolkenhain, Berge b. Siebenhufen Graebel. E. Kruste weißlich oder bräunlich grau, dünn, anstrichartig, staubig. Apothecien sehr klein, jung fast farblos, an- sepreßt, fast flach, bald stark gewölbt bis fast halbkugelig, heller bis

38 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vater]. Cultur.

dunkler gelblich oder rötlich braun, stets randlos. Gleicht einer Biatora rupesiris mit sehr kleinen Früchten. Hymenium und Epithecium stets farblos, letzteres hin und wieder mit körniger, schmutzig brauner Decke. Hypothecium hyalin bis gelblich. Paraphysen fest verleimt. Sporen zu 8 in keuligen Schläuchen, 6—9 y Ig. 4 x dick. Jod färbt das Hymenium nach mehr weniger starker oder leichter Bläuung rotbraun.

B.rivulosa Ach. f. corlicola Eitner. Habelschwerdt, an alten Buchen bei Kaiserswaldau, 1 Exemplar E.

B. mollis Whbg. f. albescens Kbr. Rsgeb., Schlingelbaude, an Fels- blöcken im Walde,

B. Iygaea Ach. Eine f. geographica mit fast körniger gefelderter, weiß- grauer, vom schwarzen Vorlager landkartenähnlich durchkreuzter und be- randeter Kruste und kleinen eingesackten, oft dünn berandeten Apothecien, auf dem hohen Jeschken bei Reichenberg i. B. Eine ähnliche Form ohne das Vorlager an Felsen unterm Lomnitzfall im Rsgeb.

*B. alomaria Th. Fr. f. inornata Eitner n. f. Obernigk, Kieferwald gegen Jaekel. E. Thallus und Apothecien sehr kräftig entwickelt. Auffallend durch das Fehlen der schön stahlblauen Färbung des Excipulum und Epithecium, beide grünlich graubraun.

*B, Mosigiicola Eitner nov. spec. Auf Lecidella Mosigii Hepp, Grat zwischen den Schneegruben und an den Mauersteinen. E. Thallus graue Flecke auf dem schwarzen Lager der Lecidella bildend, kleinschollig ge- feldert, den Thallus der Mutterflechte meist durchsehen lassend. Areolen gelblich grauweiß, etwas glänzend, mehr weniger hervortretend oder glatt eingesenkt, flach oder etwas gewölbt, bis 0,8 mm groß. Apothecien ein- gesenkt oder den Areolen angedrückt aufsitzend, bis 0,5 mm groß, erst kreisrund, dünn und glänzend berandet, dann randlos, kaum gewölbt und oft unregelmäßig eckig. K. Excipulum braunschwarz oder, bei den ein- gesenkten Früchten fehlend, Schlauchboden farblos. Paraphysen fest ver- leimt, kräftig, hyalin, oben braun oder violett grüngrau. Sporen in eiförmigen oder breitkeuligen Schläuchen zu 8, elliptischh 7—9 lang, 4 w dick. Jod bläut die Hyphen nicht, das Hymenium intensiv; die Farbe geht dann in braunschwarz über.

B. Laureri Fw. f. fuscella Fw. Weißwassergrund, Pantschefall, . Lomnitzfall und Bach der vom Kamm zum kleinen Teich abfließt. E. Diese Form steht der Bialora griseoatra Fw. sehr nahe, weicht besonders durch den sehr dünnen Thallus ab, der kleinkörnig schuppig auf dem durchscheinenden schwarzen Vorlager aufsitzt. Apothecien rötlich schwarz, heller oder dunkler, erst eingesenkt, wie vom Lager berandet, eigener Rand fast unmerklich; dann bis 0,3 mm groß, hin und wieder gewölbt hervortretend. Sporen 10—12 lang, 5—6 p dick in keuligen Schläuchen. Paraphysen fädlich, verleimt, mit braunen Spitzen. Schlauchboden hyalin

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 39

krumig. Jod bläut das Hymenium, besonders die Schläuche und färbt dann braunschwarz.

B. leucophaeoides Nyl. Nach Th. Fries Varietät von Biatora leucophaea Flke. Auf dickem schwarzem Vorlager sind die bis 1 mm dicken, hellen, blau bis gelblich grauen Lagerwarzen dicht gedrängt oder gehäuft, oder mehr weniger, besonders am Rand, zerstreut. Warzen meist flach, ent- weder glatt oder uneben, oft auch noch bis zur Oberfläche schwarz be- randet. Apothecien schwarz, glänzend, mit dünnem, vorstehendem, glänzendem Rand, fest angedrückt bis fast eingesenkt, bis 0,5 mm groß, oft zu Gruppen gedrängt. Gehäuse dünner oder dicker grünlich schwarz. Schlauchboden hyalin bis bräunlich. Paraphysen hyalin bis schmutzig bräunlich, verleimt, oben braun oder grünschwarz, mitunter kopfig verdickt. Sporen in keuligen Schläuchen 8—14 y lg., 5—7 y dick. Jod bläut das Hymenium intensiv und färbt dann braunschwarz. Rsgeb. Mannsteine, Gr. Sturmhaube, Kl. Sturmhaube. E.

Lopadium pezizoideum. Ach. a. disciforme Fw. Rsgeb., alte Buchen am Aufstieg von Mariental nach der alten Schlesischen Baude. E. Weicht ab durch graugrünen schuppigen stellenweis körnigen Thallus, der Cladonienschuppen gleicht.

*Buellia lecidina Fw. Wartha, Kr. Frankenstein, Felswand an der Chaussee nach Giersdorf. E.E Dem Bornmüllerschen Exemplar aus Bosnien völlig gleich. Von B. Steins Diagnose abweichend durch schwarz kopfig keulig verdickte Paraphysen und hyalin bis gelbbraunen Schlauch- boden. Ein Körbersches Exsikkat vom Kynast ist Rinodina.

*B. parasema Ach. f. albocincta Nyl. Apothecien mit weißem Rand, der erst bei völliger Wölbung verschwindet. An Sorbus an der Chaussee hinter Josephinenhütte bei Schreiberhau. E,

B. discolor Hepp scheint identisch mit Rinodina Bialornia Kbr. So- wohl die Koerbersche als die Th. Friessche Diagnose stimmen mit den Schlesischen Exsikkaten überein. Nur ein Exemplar vom Hartheberg bei Frankenstein ist lecıdeinisch, alle anderen echt lecanorinisch, wenn auch der von Koerber angeführte graue Lagerrand an jungen Früchten nur einmal gefunden wurde; die gelbliche Färbung des Thallus fehlt; bei meinen Exsikkaten ist der Thallus weißgrau bis grau. Neue Standorte: Graebeler Berge, Kr. Bolkenhain, auf der ganzen Kette verbreitet; auch mit grauem Lagerrand; Kl. Schneegrube, auf einem herabgerollten Basalt- stück ein völlig braunschwarzes Exemplar, dessen Thallus der gelbliche Ton aber fehlt. Die Sporengröße, Farbe und Form, das ganze Hymenium weichen bei keinem Exemplare ab.

*B, sororia Th. Fr. Reichenbach, Granitfelsen zwischen Güttmanns- dorf und Schlösselpeilau; Rsgb., Schwarze Koppe. Thallus klein warzig gefeldert, hellgrau oder braungrau. Hyphen färbt Jod nicht blau. Apothecien schr klein, völlig den Areolen eingesenkt, scheinbar lecanorinisch, eben

40 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

und kahl; Sporen 12—20 lang, 7—9 pu dick. K. rötet den Thallus mehr weniger. Excipulum fehlt oder braunschwarz. Hypothecium bräunlich. Paraphysen zusammenhängend. Schläuche breitkeulig. Sporen elliptisch mit gestutzten Enden. Jod bläut das Hymenium intensiv.

*B. aethalea (Ach.) Th. Fr. Von voriger nur durch glätteren Thallus, durch die Jodreaktion, die die Hyphen bläut, und durch meist etwas kleinere Sporen (10—15 u Ig., 6—8 p dick) verschieden. K. färbt den Thallus rostrot. Apothecien 0,2—0,4 mm groß, oft eckig, ohne Rand, glatt eingesenkt. Hypothecium mehr weniger bräunlich. Sporenform der vorigen Art. Beide Spezies machen mehr den Eindruck einer Rinodina; auch kommen zweifelhafte Formen vor, doch ist das Gehäuse meist frei von Gonidien und braunschwarz. Beide Pflanzen gehen auch sehr in- einander über, so daß fast nur die Jodreaktion auf die Hyphen unter-

scheidet. Frankenstein, Warthaberg; Reichenbach; Glatz, Dreiecker bei Landeck. E.

B. nitida Eitner. Rsgeb. Mannsteine, Mittagstein, Grat der Schnee- gruben, stets in Gesellschaft von Aspieilia morioides, Lecidella tenebrosa und Mosigü. B. Stein gibt Buellia stellulata (Tayl.) Br. u. Rostr. von der Schneekoppe an. Da diese Flechte meiner Art sehr ähnlich ist, möchte ich fast glauben, daß beide identisch sind. Thallus dunkelbraun, mit etwas Glanz. Apoth. den winzigen Areolen mitten entspringend. Paraphysen fest verschmolzen, erst durch K-Zusatz erkennbar, dann fein gegliedert oben gegabelt, grünbraun keulig., Sporen mitten stark eingeschnürt, 10/7 x groß. Jod bläut die Hyphen.

Bei Buellia stellulata ist der Thallus weißlich, Früchte untermischt. Sporen 12/4 u groß, mitten stark eingeschnürt. Jod bläut die Hyphen nicht. Buelka stellulata sah ich vom Riesengebirge nicht.

B. leptoecline (Fw.) Kbr. Rsgeb., an den Dreisteinen und über der alten Schles. Baude gegen die Schneegrubenbaude.

*Calocarpus oreites Wainio. Der im Riesengeb. häufigen, als Calocarpus chionophilus Th. Fr. angesprochenen Flechte fehlt die diesem eigene K.-Reaktion: K. + gelb, dann rot. Sie mußte also zu oreites Wainio gehören, Ob aber die K.-Reaktion hier zur Aufstellung einer neuen Spezies aus- reicht, möchte ich in Frage stellen; hin und wieder zeigte sich schwache

_ Rotfärbung durch K., andererseits fehlt die Reaktion auch dem von Wainio als Form zu chionophilus gezogenen decoloratum Wainio. Jedenfalls bedarf die Sache noch der Klärung.

=C. badioater Flörke. f. tracheia Wainio. Der außerordentlich, oft geballt-warzige Thallus von gelblich grauer bis graubrauner Farbe mit den meist großen, kräftig berandeten, im Alter oft gewölbten schwarzen Apothecien, geben der Pflanze ein fremdes Aussehen. Spermogonien Thichotheeium- artig. Spermatien stäbchenförmig 9 p 1g, 0,5 1 dick.

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 41

f. atroalbus Fw. (C. Koerberi Stein?) Nach von Flotows Original nur durch den weißen Reif auf fast weißem bis bräunlichem Lager gekennzeichnet. Der der Urform oft eigene Fettglanz fehlt. Rsgb.. Katzenschloß bei der Schlingelbaude. Sehr beständige Form mit bräunlich grauen, kleinen, fast linsenförmigen, weiß bereilten Areolen, welche auf dem schwarzen Vorlager mehr weniger zerstreut aufsitzen. Apotheeien zwischen denselben dem Vorlager entsprechend. Sporen etwas länger hyalin.

f. Copelandi (Kbr.) Th. Fr. Am Fuß der Koppe gegen den Riesen- grund. E. Kruste aus dicken gewölbten, fest gedrängten Warzen zu- sammengesetzt. Völlig geschlossen, reihig gefeldert, bräunlich-grau. Apo- thecien zwischen den Areolen entspringend, erst flach, schwach berandet, dann randlos, gewölbt, wenig hervortretend. Sporen lange hyalin, dann violett oder braunschwarz, in keuligen Schläuchen, bis 34 lang, 16 dick. Jod- und K.-Reaktion bei allen Formen gleich!

C. applanatus (Fr.) Th. Fr. Hochstein bei Schreiberhau, Korallensteine und auf dem ganzen Kamme bis tief in den Weißwasser- und Melzergrund sehr verbreitet.

#=— &. Hochstelieri (Kbr.) f. caesiocinerascens Wainio. Felsen rechts vor Schreiberhau; ohne Thallus in der Zackelklamm. E. Flotow sammelte die Form am Abstieg des Glatzer Schneeberges als Lecidea atroalba ß. eoncreta. Thallus firnisartig, sehr dünn, hin und wieder etwas fein rissig, blaugrau. Apothecien sitzend, konkav, sehr dünn und hervorstehend berandet, schwarz; jung oft leicht weiß bereilt. Paraphysen bläulich hell- grau, oben braunschwarz kopfig verdickt, locker und kräftig. Sporen zu 8 in sackigen Schläuchen, wenig eingeschnürt, hyalin 18—21 lang, 7—9 dick. Jod bläut die Hyphıen nicht, das Hymenium intensiv, dann violett oder braunschwarz.

*— f. dispersella Wainio. Thallus fehlend oder aus sehr kleinen graubraunen Wärzchen bestehend, auf dunklem Vorlager. Apothecien klein, sitzend, hoch und dünn berandet, älter auch gewölbt randlos, Sporen kleiner als bei der Grundform, 19—28 y lang, 10—11 g dick; Schlauch- boden, meist heller. Am Weißwasser bei der Wiesenbaude.

C. seductus Nyl. Thallus sehr wechselnd, meist dem typischen (. ig- nobile Th. Fr. gleich, jedoch ohne die Thallusreaktion, sehr kleinwarzig, rauh, zusammenhängend, dünn, oder fast effiguriert gefeldert, heller oder dunkler grau. Jod färbt die Hyphen nicht. Apothecien eingesenkt bis angedrückt, dünn und verschwindend berandet, flach bleibend oder wenig gewölbt. Alle Formen haben die kleinen stark lichtbrechenden, nie gefärbten, zwei- teiligen, an C. applanatus erinnernden Sporen von 14—21 Länge und 6—7 gr Dicke.

«. conerelus Kbr. Thallus grünbraun, leicht glänzend, glatt, sehr dünn, fein schuppig gefeldert. Apothecien kaum 0,4 mm groß.

49 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vater]. Cultur,

*— B. turgidus Eitner n. f. Thallus weißgrau, warzig gefeldert, an Rhizocarpon grande erinnernd (Riesengebirgskamm) oder unregelmäßig faltig warzig, dunkler. Apothecien den Feldern eingesenkt oder zwischen denselben entspringend. Die Grundform auf den Jauerschen Bergen bei Graebel und Siebenhufen; im Rsgb. in schön gefelderter heller Form an den Serpentinen über der Melzergrube. Eine sehr dunkele Form am Bach, der vom Kamm nach dem kleinen Teich fließt. var. &. Wartha- berg, Kr. Frankenstein, und Eingang in den Salzgrund bei Fürstensiein. var. B. über der alten Schles. Baude; Obernigk, Wald gegen Jaekel und Hauffen.

C. polycarpus Th. Fr. Reichenberg i. B., Jeschken unter dem Gipfel. E. Zobten, Gipfel des Geiersberges. E. Die verbreitetste aller Catocarpus- arten und wohl die veränderlichste. Thallus von dünnsten, winzigsten Schüppchen, zerstreut auf dem schwarzen Vorlager, bis zur dicken, knotig scholligen Krusie, von fast rein weiß bis fast schwarzbraun oder grau. Apothecien, von 0,3 mm bis über 1,5 mm Dm., wechselnd von dünnem, vorstehendem hohen Rand bis zum wulstigen verschwindenden, zwischen den Areolen dem Vorlager entspringend, oder in den Areolen fast ein- gesenkt oder hoch aufsitzend. Stets durch die Jodreaktion, welches die Hyphen intensiv bläut, und die Sporenform zu unterscheiden. Sporen 12—50 p lang, 5—11 y dick, bald dauernd hyalin, bald zierlich, schnell hellgrau oder bräunlich werdend.

*— f, fallax Wainio. Solitärsteine im Wald unter dem Katzenschloß und an diesem bei der Schlingelbaude. Thallus kleinwarzig, flachgedrückt, weißlich, verstreut auf dem schwarzen Vorlager. Apothecien den Areolen hoch aufsitzend.

f.triseptus Eitner. Mit 4teiligen Sporen, untermischt an Steinen im Weißwassergrunde i. Rsgb.

©. simillimus Anzi. Zobten, Gipfel des Geiersberges. E. Was sonst unter diesem Namen und aus dem Altvater- und Eulengebirge von B. Stein so bestimmt wurde, gehört zu O. polycarpus, da K den Thallus überall bräunt und die Sporen bis mindestens 28 } lang sind.

Rhizocarpon viridialrum Flörke. Nimptsch, Felsen des Windmühlberges zwischen Senitz und Gr. Kniegnitz. E.

Rh. Montagnei (Fw.) Kbr. f. protothallinum Kbr. Thallus kleinschuppig warzig, bläulich weiß, hellbräunlich mit dickem Reif, auf dem tiefschwarzen Vorlager zerstreut. Altvater, Peterstein und großer Kessel. E. Auf dem Gipfel des Kreuzberges bei Striegau eine an Lecidella Iygaea erinnernde Form mit mäusegrauem Thallus, aus geschwollenen Felderchen zusammen- gesetzt. Apothecien mit mattschwarzer Scheibe fast randlos, den Felderchen fast fleckartig angedrückt. Sporen stets einzeln in den Schläuchen 50 bis 55 { lang, 28—32 dick.

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 43

Rh. subgeminalum Eitner nov. spec. Thallus trüb schwärzlichbraun bis sehr dunkelgraubraun, leicht gewölbt schuppig. Die Schuppen mehr weniger zerstreut oder zur geschlossenen, das schwarze Vorlager fast ver- deckenden Kruste vereinigt. Apothecien den Areolen angedrückt aufsitzend, hin und wieder auch zwischen denselben entspringend, bis 0,8 mm groß, dünn, flach, verbogen, mattschwarz mit kräftigem, meist glänzendem Rand. Exeipulum und Hypothecium schwarz, fast kohlig. Paraphysen schleimig verbunden, hyalin, oben trüb grünlich bis violetischwarz. Sporen zu 2 bis 4 in den Schläuchen, 27—31 lang, 13—16 dick, stets hyalin, erst ab- sterbend mit braunen Teilwänden. Schleimhof deutlich. Jodreaktion wie bei Rh. Montagnei. Landeck auf dem Dreiecker (2 bis 3sporig); Krumm- hübel, Rabenfelsen bei Mariensruh (2—4sporig).

*Rh. pseudorivulare Eitner nov. spec. Thallus grünlichrotbraun, dick- lich wie abgeschliffen eben, firnisarlig oder fransig rissig gefeldert. Apo- thecien klein, schüsselförmig, konkav mit nicht abgeseiztem Rand, den Lagerareolen eingedrückt, kaum hervorragend, schwarz, 0,3 bis 0,6 mm groß. Gehäuse und Schlauchboden heller oder dunkler braun, zusammen- fließend. Paraphysen kräftig, schleimig verbunden, mit bräunlichen oft gegliederten Enden. Schläuche blasig keulig, Ssporig. Sporen völlig und dauernd farblos, in Form und Teilung genau denen des Rh. Montagnei gleich, 36—42 lang, bis 17 p dick. Jod bläut die Hyphen nicht, das Hymenium intensiv. Rsgb., Weißwassergrund, auf überspülten Felsplatten. Im Flotowschen Herbar liegt die Flechte, von ihm im Weißwassergrund gesammelt, als Zecid. petraea f. coracina Fw., aus dem Riesengrunde als Lecid. atroalba var. coracina und als irrigua. Als Lecidella atroalba v. coracina ist aber auch Catocarpus badioaler und ein Exemplar meines Rhizoc. subgeminatum bezeichnet, so daß der Name coracina nicht beibehalten werden kann.

Rh. grande Flke. Bisher nur bei Glatz, Straßenabhang beim Chaussee- haus hinter Birgwitz gefunden, an bröcklichem Granit. Im Flotowschen Herbar liegen viele Exsikkate der Flechte von Hirschberg, sonst aber ohne genauere Stanlortsangabe. Ich selbst sah sie dort nicht. Auch von Räudchen bei Wohlau liegen bei Flotow mehrere Exemplare.

*Rh. lomnitzense Eitner nov. spec. Äußerlich von Rh, distinctum nielıt zu unterscheiden. Tlallus heller oder dunkler graubraun, fast glänzend, aus kleinen flachen, nie gewölbten Areolen zusammengesetzt, das Vorlager völlig deckend und kleine, kaum einige Millimeter große Fleckchen zwischen anderen Flechten (auch Biatora Laureri F'w.) bildend. Apothecien 0,2 bis 0,4 mm groß mit konkaver Scheibe und vorstehendem dünnem, verbogenem Rand, schwarz, sich nie wölbend, den Areolen eingesenkt oder zwischen ihnen entspringend. Gehäuse und Schlauchboden kohlig, braunschwarz. Paraphysen ziemlich verleimt, straff, weiß, oben braun oder wenig gefärbt, kaum verdickt. Sporen in schlankkeuligen Schläuchen zu 8, 3—4 quer

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und unregelmäßig, wenig mauerartig, kaum mehr wie Steilig, bald grau und schnell grauschwarz gefärbt, 20—23 y lang, 7—-9 dick. Jod bläut die Hyphen nicht, das Hymenium dauernd und dann violetischwarz! Rsgb., am Lomnitzfall mit Rh. geographiceum, Aspieilia alpina, Biatora Laureri.

*Rh. subcaeruleum Fitner nov. spec. KRsgb., Große Lomnitz über Krummhübel, Bäche im Blaugrund, Bach der vom Kamm nach dem kleinen Teich fließt. Thallus K—, sehr dünn, firnisartig zusammenhängend, fein rissig, oder, wie geluscht, klein schuppig, das schwärzliche Vorlager durelı- blicken lassend, weißlich bis dunkel blaugrau. Apothecien eingesenkt oder angepreßt, das Lager mehr oder weniger überragend, klein, 0,2—0,3 mm groß, schwarz, stets etwas konkav, mit niedergedrücktem Rand. Gehäuse und Schlauchboden heller oder dunkler braun, zusammenfließend. Para- physen sehr kräftig, oft gruppenweis gelatinös verbunden, zellig gegliedert, besonders an den blaugrauen Endzellen kugelig abgerundet; dieser Bau sich am Rand am längsten erhaltend, sich aber öfter auch in amorphes Braun umwandelnd. Schläuche blasig, von lang und schmal bis ganz un- förmig breit, $8sporig. Sporen sehr verschieden, meist länglich, doch auch breitelliptisch bis fast kugelis, 30—42 lang, 17 w dick, meist brombeer- artig geteilt, bei völliger Reife bläulichbraun oder grau. In der Jugend kommen aber auch regelmäßig mauerartig vielteilige Sporen vor. Jod bläut die Hyphen nicht, das Hymenium intensiv und dauernd.

= f. fusca Eitner n. f. Thallus aus sehr kleinen braunen Schüpp- chen zusammengesetzt. Sporen im Alter bräunlich, jung hyalin, oft fast kugelig.

Rh. parasilicum Eitner nov. spec. In der Aupa des Riesengrundes auf Aspieilia lacustris (With.). Wandelt den üppigen Thallus der Mutterpflanze in dünnen, rotbraunen, anstrichartigen um, der trocken fein rissig wird. Gonidienentwickelung sehr kräftig. Apothecien winzig klein, kaum 0,15 mm Dm., mit schwarzer vertiefter Scheibe und dünnem gleichfarbigem, vor- stehendem Rand. Gehäuse am Rand braunschwarz, unten heller bis fast fehlend, mit dem hyalinen oder bräunlichen Schlauchboden verbunden und auf dicker Gonidienschicht aufsitzend. Paraphysen fädlich, glatt, locker hyalin, oben mit abgerundeten Enden. Schläuche Ssporig, fast zylindrisch keulig, dieckwandig. Sporen hyalin, aus quer 4teilig mauerartig, 8$—10 teilig mit Öltropfen und stark lichtbrechend, 16—18 p lang, 7—9 pn dick. Thallus K. Jod färbt Hyphen und Hymenium, besonders Sporen und Schläuche gelbbraun,

Rh. obscuratum Ach. Von der Ebene bis auf das Hochgebirge sehr verbreitet. Thallus dünn, firnisartig, fein rissig oder flach, angedrückt schuppig, oder fein körnig bis unregelmäßig zerrissen warzig, dick. Rot- braun, gelbbraun, durch Ocker feurig rot, fast weißlich, gelbgrün, grau bis beinahe schwarz. Apotlecien 1 mm selten übersteigend. Im Hoch- gebirge größer, mit glatter, schwarzer Scheibe und sehr diekem wulstigem

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 45

Rand (wie f. subcontiguum Nyl und f. /avatum Fr.). Bei den Varietäten des Vorgebirges und der Ebene ist die Scheibe oft rauh und der Rand dünner oder undeutlich. Von bisher noch nicht erwähnten Formen und Varietäten sind aufzuführen

f. ferratum Nyl. Im Riesengrund am Koppenbach und an den alten Bergwerken. Auffallend durch die leuchtend rote Farbe des kräftigen, anliegend schuppigen bis warzigen Thallus auf schwarzem, oft rot bereiftem Vorlager. Apothecien sehr kräftig, eingesenkt bis sitzend, je nach Dicke des Thallus, schwarz mit oft rot bereilten, sehr diekwulstigem Rande. Sporen bis 40 w lang, 15 y dick, bis 14tenlig.

= f, conliguum Eitner n. f. An Uferblöcken des Bober in der Sattler- schlucht bei Hirschberg. Thallus kleinere Flecken auf schwarzem, oft dendritischem Vorlager bildend, anstricharlig mati, schwarzgrau, fein rissig. Apothecien dem Lager glatt eingesenkt mit ebener matter Scheibe und sehnurartig vorstehendem Rand. Sporen 26 w lang, ca. Il dick. Mit grauem Thallus in den Fuchsgruben bei Kolonie Praus (Reichenbach). Im Bober an überfluteten Steinen wächst eine f. morbosa mit mißfarbig gelb- oder graubraunem Thallus und eingesenkten gelb- bis dunkler braunen Früchten, deren völlig niedergedrückter Rand selten zu erkennen ist. Sporen wie bei Rh. distinctum unregelmäßig wenigteilig, doch auch Schläuche mit gut ausgebildeten obscuratum-Sporen zeigend.

*— var. elegans Eitner nov. var. Granitblöcke an der Gabel im Ge- senke. Macht den Eindruck einer Lecidea. Der dünne, graue, aus lachen Areolen auf schwarzem Vorlager bestehende Thallus, trägt aufsitzende, rein schwarze Apothecien von 0,5—0,6 mm Größe, deren reine, ebene Scheibe von gleichfarbigem, senkrecht vorstehendem dünnem Rande begrenzt ist, Die straffen hyalinen Paraphysen sind oben frisch schwarzbraun, ebenso der Schlauchboden. Die Schläuche sind schlankkeulig mit 8, regelmäßig bis l4teiligen, 30— 40 langen, 10—12 w dieken Sporen besetzt.

var. reduclum Th. Fr. Die in der Ebene und dem Vorgebirge fast ausschließlich und häufig vorkommende Pflanze. Thallus unrein, grau bis fast schwarz, oder auch besonders in dünnen Formen ins bräunliche spielend. Entweder dünn, körnig, wie bei Cutoc. reductus Nyl. oder dicker, zerrissen schollig bis warzig, fast an Rhiz. grande erinnernd. Apothecien meist klein, doch auch bis 0,8 mm Größe erreichend, meist eingesenkt mit skrophulös oder aufgelöst rauher schwarzer Scheibe und dünnem oder dickerem, nie vorstehendem Rande. Das beste Kriterium der Varietät. Übergänge mit wulstigem Rand und glatter Scheibe finden sich selten. Hymenium locker, unrein, oben hell- bis gelbbraun. Schlauchboden schmutzig hellbraun. Schläuche 8sporig, wenig bis höchstens Steilig, selten 28 Länge erreichend, bis 13 j dick.

*— /, minuscula Eitner n. f. Winzige Form aus den Gräbeler Hügeln bei Jauer. Thallus äußerst dünn, feinkörnig, schmutziggelbgrau auf dunklem

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Vorlager. Apothecien höchstens 0,2 mm groß, schwärzlichbraun mit sehr dünnem Rand. Paraphysen hyalin, obere Hälfte und Schlauchboden selır hellbraun. Sporen in keuligen Schläuchen zu 8, 20 x lang, 8 u dick und kleiner, regelmäßig aber wenig geteilt. Bei allen Formen und Varietäten bläut Jod nur das Hymenium!

"Rh. pyenocappoides Eitner nov. spec. Thallus dünn, ungeteilt, aus- gebreitet, körnig staubig, rauh, dunkelbraun, auf roter Unterlage, welche erst dem schwarzen Vorlager aufsitzt, wie alter, dicker Eisenrost. Apo- (hecien winzig klein, zu vielen in aufsitzende, fast kugelige Warzen zu- sammengebalit, sich nur durch die glänzenden Ränder von einander ab- srenzend. Excipulum, Hypothecium und Epithecium mehr oder weniger dunkelbraun. Paraphysen schleimig verbunden. Sporen in verschieden geformten, bald sich auflösenden Schläuchen zu 5, doch meist nur wenige ausgebildet, breit eiförmig, 27—29 y lang, 14—15 j dick, quer 2, 3 bis 4teilig und mauerartig vielteilig, stets hyalin. Jod bläut das Hymenium intensiv, dann schwarz, die Hyphen werden nicht gebläut. An den alten Bergwerken im Riesengrunde. E. Vielleicht auch Form von obscuratum.

*Rh. transiens Eitner nov. spec. ÖObernigk, Heide gegen Jaekel. E. Äußerlich dem Rh. distinetum sehr ähnlich. Thallus körnig bis kleinschollig, knorpelartig, tief eingeschnitten, auf schwarzem Vorlager, gelb bis grau- braun. Apothecien den Schollen eingewachsen, vom Lager körnig berandet oder mit eigenen schwarzem wulstigem Rand versehen und etwas hervor- stehend, klein, 0,5—0,5 a groß. Jod bläut die Hyphen nicht! Hypothecium und Exeipulum braunschwarz. Paraphysen locker, kräftig, hyalin oder vom Hypoth. aus gebräunt. Epithecium braunschwarz. Schläuche langkeulig, fast spindelförmig. Sporen länglich mit meist spitzen Enden, 2, 3 bis quer 4teilig, schräg oder selten längs geteilt, höchstens 6teilig, im Alter mit braunen Teilwänden. Zu 8 in den Schläuchen bis 27 pn lang und 9—11 ıı dick. Jod bläut das Hymenium intensiv.

Rh. postumum Nyl. Rsgb., am Weißwasser unweit der Wiesenbaude, an kleinen Geröllsteinchen. E.

Rh. melaenum Kbr. Rsgb., Weißwassergrund und Lomnitzfall. E.

*Lecidella atrocarpa (Ach.) Th. Fr. Von der Schneekoppe bis zu den Schneegruben und in den Hochtälern verbreitet. E. Glatzer Schneeberg, Schwalbensteinen. E. Thallus rissig gefeldert. Felderchen flach oder konkav, an den Rändern knotig rauh, grau bis heller oder dunkler braun, oft weißlich berandet. Frisch meist mit leichtem Metallelanz. Jod hläut die Hyphen nicht. Apothecien stets zwischen den Areolen eingesenkt, schwarz, von deren Rändern hell umgeben und mit schwarzem, dünnem, vorstehendem, eigenem Rand, rundlich eckig, hin und wieder schwach gewölbt, bis 0,3 mn groß. Hymenium meist trüb, Hypothecium mehr weniger rotbräunlich. Paraphysen oben braun. Schläuche aufgeblasen keulig, Ssporig. Sporen kürzer oder länger elliptischh 15—21 lang, 9—11 px dick. Spermatien

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haarförmig, leicht gekrümmt, 10—16 lang. Jod färbt das Hymenium nach leichter Bläuung weinrot. Ob die Flechte von Körber, Stein und Flotow zu Z. fuscoatra L. gezogen wurde, scheint kaum denkbar, da sie sich scharf durch Habitus, Jodreaktion und Sporengröße unterscheidet. Ein Übersehen ist aber kaum möglich. Ich hielt sie früher für nodulosa Kbr., was B. Stein bestätigte.

*L. pantkerina (Ach.) Th. Fr. f. radians Ach. Schneekoppe; Eulengeb., Popensteine; Zobtengipfel. E. Thallus dicklich, ausgebreitet, graubräunlich, vissig gefeldert. Felderchen mitten vertieft, an den Rändern hell, knotig lappig effiguriert. Apotheeien den Areolen mitten eingesenkt, schwarz mit hellerem Rand; hin und wieder angedrückt. Durch hellere Paraphysen und oft dunklen Schlauchboden der alboflava Kbr. sich nähernd. K —, wie Grundform.

*L. pygmaea Eitner nov. spec. Riesengrund, altes Bergwerk. E. Thallus grau, aus verstreulen oder gehäuften flachen, kaum 0,1 mm großen Wärzchen bestehend. Apotheeien den Wärzchen aufsitzend, kaum größer, erst vertieft, gut berandet, dann flach, schwarz oder ins bräunliche über- gehend. Paraphysen dick, strafl, locker verbunden, oben leicht keulig, dunkelgoldbraun, wie das Gehäuse. Schlauchboden mehr rot wie von Goldstaub erfüllt. Sporen zu 8 in eiförmig keuligen Schläuchen, $ ıı lang, 4 j dick, elliptisch mit spitzen Enden. Jod bläut die Hyphen nicht und färbt das Hymenium naclı leichter Bläuung weinrot.

=L. lignicola Eitner nov. spec. Carlsrulie OS., Telegraphenstütze am Park. E. Kruste fast fehlend, nur eine dunkelgraue Färbung der Holz- oberfläche bildend. Hyphen und Gonidien zwischen der oberen lockeren Holzfaser zerstreut. Apothecien sehr dünn und klein, kaum 0,1—0,2 groß, mattschwarz mit sehr dünnen, schwarzem, ziemlich hohem, oft ver- bogenem Rand. Gehäuse zellig, dunkelbraun, Schlauchboden ebenso, Para- physen schmutzig hellbräunlich, kräftig braunköpfig. Schläuche schmal- keulig, oft gekrümmt, Ssporig. Sporen elliptisch länglich, 5—6 w lang, 1.5—2 u dick. Iıyalin. ‚Jod färbt Hyphen und Hymenium goldbraun.

®Tecidea fuscoatra L. f. caeruleoatra Eitner n. [. Thallus undeutlich schollig, sehwärzlich. Apothecien klein, aufsitzend, schwarz, mit dauernd blauweiß dicht bereifter Scheibe und dünnem, vorstehendem, schwarzem Rand. Kuhberg bei Bahnhof Hirschberg und um Schloß Paulinum. E.

*L. macrocarpa (D. C.) Th. Fr. f. flexuosa Eitner n. f. Gr. Kniegnitz Kr. Nimptsch, Windmühlenberg. Thallus dünn, eben, ausgebreitet, klein- warzig, wellig vaul, sandgrau bis schwärzlichgrau. Apothecien sitzend, dünn, konkav, verbogen, bis 3,5 mm groß, mit geschwollenem, flexuosem Rand.

* f, mierospora Eitner n.f. Brünnelheide im Gesenke. Thallus K. —, körnig, warzig, fallig, mit glatter, fester Oberhaut, gelb- bis graubraun. Apothecien schwarz, erst flach, dünner oder dieker wulstig und glänzend

48 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

berandet, dann knotig gewölbt, unberandet. Gehäuse und Hypothecium schwarz, Paraphysen fädlich, verleimt, hyalin, oben graugrünlich. Sporen in schmalkeuligen Schläuchen oft einzeln übereinander gelagert zu 8, 13 1 lang, 6 x dick. Jod bläut die Hyphen nicht, das Hymenium intensiv und färbt es dann schmutzigschwarz.

*L. Baumgartneri A. Zahlbr. f. athallina Eitner. Thallus dünn, fast fehlend, grauweißlich, die Gesteinsunebenheiten ausfüllend. Vorlager schwarz, auf den vorstehenden Gesteinkörnern sichtbar. Apothecien schwarz, auf- sitzend bis fast eingesenkt, erst flach mit dünnem, wenig bemerkbarem Rand, dann faltig gewölbt, randlos, 1 mm und darüber groß. Gehäuse und Schlauchboden braunschwarz. Paraphysen locker verbunden, fädlich, oben grüngrau mit keuligen Enden. Sporen in keuligen, gestielten Schläuchen zu 8, 10—11 u lang, 5—6 dick, mitten leicht eingeschnürt. Jod bläut die Hyphen und das Hymenrium intensiv und färbt letzteres dann trüb- schwarz. Schneekoppe. E. Bei der Grundform ist die Kruste grau, dicklich, gefeldert. Felderchen rauh, Apothecien erst eingesenkt, dann hervortretend und oft dünnen, accessorischen Lagerrand behaltend.

*L. musiva Kbr. Rsgb., Schwarze Koppe, Riesengrund, Blaugrund, Rabenfelsen bei Krummhübel; Jeschken bei Reichenberg i. B. Thallus ge- schwollen, warzig, lappig oder ausnahmsweise schollig gefeldert und eben. Areolen wie bereift graugelblich, weiß werdend. Apothecien stets leicht oder stark gewölbt, tiefschwarz, wie bereift oder glänzend, mit wulstiger, bisweilen grauer Randlinie. Hypotheeium braunschwarz, kohlig; Exeipulum oft fast fehlend oder gleichfarbig mit dem Schlauchboden verschmolzen. Sporen in rübenförmigen Schläuchen zu 8, breit bis fast kugelig elleptisch, 9—12 wu lang, 6—9 y dick. Jod bläut das Hymenium intensiv und färbt dann blauschwarz. Die Hyphen bläut es nicht. Paraphysen ziemlich ver- leimt, hyalın oder etwas gebräunt, oben braun- oder grünschwarz, leicht kopfig verdickt.

L. monticola Schaer. Eine zweifelhafte Art. Bisher sammelte ich noch kein Exemplar von wenigstens 10 Standorten, das sich von Lecidella fuscorubens Nyl. sicher hätte trennen lassen, ebensowenig wie L. monticola oder auch nur die Steinschen Diagnosen stichhaltige Abweichungen der beiden Flechten ergeben hätten.

L. silvicola Fw. f. areolata Eitner. In meinem zweiten Nachtrag ist Lecidea erratica Kbr. mit sehr kräftigem Thallus. Die beiden Flechten unterscheiden sich nur durch den Schlauchboden, der bei silvicola violett- schwarz bei erratica feurig rotbraun ist.

. Pilati (Hepp.) Kbr. Rsgb., Dreisteine. Thallus weißlich, dürftig körnig bis unregelmäßig warzig, fast fehlend. Apothecien schwarz, wie bereift, anfangs flach oder vertieft, mit etwas hellerem Rand, bald verbogen, endlich geschwollen, tuberkulös, randlos, bis 2 mm groß. Mikroskopisch der L. sarcoginoides Kbr. ähnlich, doch weicht sie durch den hellen, gelb-

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bis rotbräunlichen Schlauchboden und dickere Sporen ab. Gehäuse außen braunschwarz, nach innen heller, die „granulis chrysophanieis“, welche Th. Fries beschreibt, fand ich nur sporadisch vor. Koerber erwähnt sie nicht. Schläuche schlankkeulig, Ssporig. Sporen klein, gesäumt, 6—9 w lang, 4 {x dick. Jod bläut das Hymenium intensiv und dauernd, die Hyphen nicht.

L. crassipes (Th. Fr.) Nyl. Am Katzenschloß bei der Schlingelbaude; am Grad zwischen den Schneegruben. Erichsen.

Sarcogyne regularis Kbr. Glatz, Altheide, Höllengrund, am Sand- stein. E.

Arthrosporum acline Fw. Münsterberg, unter dem Stadtwald; Falken- berg OS.; an Zitterpappel an der Chaussee nach Loewen. E.

Sporastatia cinerea Schaer. Rsgb., im Weißwassergrund. E.

Lecanactis Dilleniana Ach. f. nuda Eitner n. f. Rsgb., Teufelsgärtchen (Erichsen). B. Stein nennt die Kruste ergossen, weinsteinartig, mehlig, Leighton „granulose or diffract, subgyroso verrucose“. Es stimmt der Farbenton mit B. Stein, der ihn graurötlich, im Alter in gelbgrünlich ausblassend angibt, die Thallusform aber mit Leightons Diagnose. Apotheeien ohne jede Spur von Reif, Thallus mit zwar matter, aber nie mehliger Oberfläche. K. verändert die Farbe nicht. Die Diagnose des mikroskopischen Befundes stimmt bei Körber, Stein und Leighton mit meinem Exemplar überein, nur ist hinzuzufügen, daß einzelne 6teilige Sporen zwischen den 4teiligen sich finden und die Spermatien stäbchenförmig, 7 p lang, 1 y dick sind.

L. lecideina Eitner nov. spec. Thallus scheinbar fehlend, Gonidien und Hyphen in feinen Ritzen der Rindensegmente und unter den Apothecien, welche angepreßt oder sitzend, konkav, schwarz, anfangs leicht grau bereift bis 0,6 mm groß sind. Rand dünn und bleibend. Im Alter sind die Früchte flach bis gewölbt. Schlauchschicht und Schlauchboden trüb. Paraphysen zersetzt oder fädlich, mit den sehr dicht stehenden, aber erst durch Druck sichtbaren Schläuchen zu einer homogenen, schmutzig grau- grünlichen Masse vereinigt. Oben dunkelbraun, Gonidien sehr groß mit dicker Schleimhülle. Sporen in fast zylindrischen, schmalen Schläuchen zu 8, spindelig mit stumpfen Enden, 5—7 teilig (meist 6teilig), 18 j lang, 3—4 diek, Gehäuse braunschwarz. Lärchen bei Chrast i. B.; Trebnitzer Buchenwald, Fichten am Chausseeaufstieg. E.

L. abietina Ach. Rsgb., gut fruchtend an Nadelhölzern über dem Zackenfall und über Marienthal am Aulstieg nach der Alten schles. Baude. B. Stein gibt die Flechte als steril an.

L. biformis Fike. Militsch, im Forst bei Katlı. Hammer an alten Eichen im Jagen 163. E.

L. illecebrosa Duf. Brieg, Groß Leubuscher Wald. E.

1910. 4

50 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

*Zwackhia involuta Wallr. f. taxicola Leight. Thallus gelblichgrau, oft mehlig, ausgebreitet, von schwarzer Vorlagerlinie begrenzt. Apothecien oblong Iyrellenförmig linear, ziemlich lang, grade oder gekrümmt, meist einfach, aber auch gegabelt. Die Scheibe ist geöffnet, der Rand rundlich umgeschlagen, eingeschnitten, gekerbt. Sporen zu 8, spindelig haarförmig, 13teilig, wie Grundform.

Haszlynskia gibberulosa (Ach.) Kbr. An Eichen und Buchen im Kgl. Forst bei Kath. Hammer. Im Nachtrag II als Opegrapha constrictella an- gegeben.

Opegrapha zonata Kbr. Altvatergeb., im großen Kessel mit blaugrauem, weißstaubigem Thallus und hoch aufsitzenden, wulstig dickrandigen, rilligen oder gyrophoren Apothecien. Sporen 4teilig, 21,5 p lang, 5,5 w dick.

O. horistica Leight. Rsgb., am Kochelfall, untere Zackelklamm. Alt- vatergeb., Hoher Fall, Steinkammgraben, Schutzhütte-Felsen; Bolkenhain, Siebenhufen an den Felsen des Raubschlosses. E.

O. rupestris Pers. &. arenaria Kbr. Glatz, Altheide auf Sandstein im Höllengrunde.

*— y. schisticola Eitner n. f. Viel kräftiger ausgebildete Form mit bis 1,5 mm großen gewölbten, hoch aufsitzenden Apothecien. Glatz, Schnee- berg a. d. Schwalbensteinen; Rsgb., Granit der Korallensteine, Sausteine; Altvater, Rother Berg, gegen die Brünnelheide, Hoher Fall. E.

O. ploeina Ach. Glatz, Altheide, im Höllengrund an Sandstein. E. Chrudim i. B. von Lehrer (Kalensky). Die Sporen 5—teilig, nicht nur 4—6 teilig, wie B. Stein angibt.

*O. Chevallieri Leiglıt. Habelschwerdt, Krebsgrund vor Neuwaltersdorf. Kruste weißlich oder hellgrünbraun oder fehlend. Apothecien Iyrellenförmig, lang mit dünnem Rand, nach den Enden schmäler nacktschwarz oder gelblich bereift. Hypothecium gelbbraun, Paraphysen deutlich, schmutzig; Gehäuse kohlig. Sporen in eiförmigen Schläuchen zu 8, 4teilig, breit, spindelförmig, mit gerundeten Enden, 20 p lang, 4—5 j. diek. Jod färbt Sporen und Hymenium weingelb.

*O. amphotheca Nyl. Breslau, Margarether Oderwald; Brieg, Oderwald; Deutsch Lissa, Muckerauer Wald. Thallus zusammenhängend, gelblich- grauweiß, sehr feinrissig, oder abgerieben und aufgelöst aussehend. Apo- thecien sitzend, schalenartig, der pulicaria ähnlich, aber dünner, rundlich, eckig oder breit, völlig mit aufgebogenem Rand, glänzend oder mattschwarz.. Excipulum und Hypothecium braunschwarz. Paraphysen deutlich oder zersetzt, mit braunem Epithecium. Sporen in eiförmigen Schläuchen zu 8, spindelig, viel(”—10O)teilig, nebeneinander liegend, mit mehr weniger spitzen Enden, 18—26 lang, 4 1 dick. Spermogonien kernfruchtartig, gekrümmte, gurkenförmige Spermatien enthaltend. 5—6 p lang, 1 p dick. Jod bräunt und schwärzt später das ganze Hymenium.

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 51

O. vulgata Ach. f. lithyrga Ach. Bolkenhain, Felsen, Raubschloß bei Siebenhufen.

f. ochracea Kbr. Kynast (Koerbers Standort). E.

f. subsiderella Nyl. Apothecien kurz strichförmig, strahlig ästig. Sporen spindelig, Steilig. Spermatien gerade, 4 j lang, 1 wu dick. Brieg, Lindener Fähre an Carpinus und Ulmus. E.

*O. varia Pers. var. brunnea Ach. Thallus braun, fast wie leicht weiß bereift, anstrichartig, ungeteilt. Apothecien in Form der herpetica gleich, ebenso der Thallus, doch sitzen die Apothecien dem Thallus völlig auf und finden sich einzelne, bei welchen sich die Scheibe erweitert und von den hohen Rändern nicht mehr gedeckt wird. Das Innere wie bei varia. Sporen 2-, 4- bis 6teilig, 21—22 x lang, 5—6 ı dick. Vorlager hin und wieder als feine, dunkle Linie sichtbar. Bresiau, Strachate, an alten Eichen. E.

#0. bullata Pers. f. arthonioidea Leight. Apothecien eingesenkt, stern- förmig, fleckartig, mit völlig ausgebreiteten verschwommenen Lyrellen. Namslau, Park des Dom. Dammer an Carpinus. E.

#0, cinerea (Chev.) Nyl. Brieg, an Fichten, Oderwald bei Linden und Gr. Leubuscher Wald. E. Thallus der herpelica, aber mehr grau. Bei den Lyrellen verdecken die Ränder die Scheibe völlig wie bei vulgata, während die Sporen und das ganze Innere der Opegrapha atra Pers. entspricht.

*O. rufescens Pers. gleichzeitig mit f. subocellata Eitner. Glatz, Rückers, hinter Hubertus, an Acer pseudopl.; vor Möhlten an Prunus Padus; Münster- berg, Frömsdorf an Kiefern; Cosel-Kandrzin, an Eichen; Rosenberg, Lowo- schau an Birke; Gesenke, Wilder Steinkammgraben an Acer pseudopl. E. Ist kaum mehr als Form von ©. herpetica Ach., unterscheidet sich nur durch längere, oft gekrümmte, verästelte Lyrellen, stäbchenförmige, stets gekrümmte Spermatien.

*Trachylia arthonioides Ach. f. corticola Eitner, In Nachtrag II als T. leucopellaea Ach. aufgeführt. Thallus dünn, weiß oder weißgrau, glatt, ausgebreitet, ungleich dick, oft rissig, Apothecien mehr weniger gewölbt, randlos, tiefschwarz, eingesenkt, verschieden rundlich, keil- oder strich- förmig. An Eichen und Linden im Groß Leubuscher Wald bei Brieg. E.

*Tr. leucopellaea Ach. Altvater, Fichten, am Abstieg nach der Gabel. E. Thallus fleckartig, sehr dünn weiß, sich oft flockig lösend. Apothecien wie gemalt, eingesenkt oder angedrückt, an den Rändern lappig geteilt und oft leicht bereift. Hypothecium schmutzigbraun, Hymenium heller braun, eine krumig gallertartige Masse bildend. Sporen in breitkeuligen Schläuchen zu 8, 10—15 p lang, 3,5—5 p dick, aus eiförmig keilförmig, mit oft feiner Spitze, 4-—Szellig, im Alter hin und wieder bräunlich. Jod färbt das Hypothecium leicht schmutzigblau.

Arthonia byssacea (Weig.) Almquist. Brieg, Groß Leubuscher Wuld an Eichen und Linden; Constadt OS., Reinersdorfer Wald an Eichen; Militsch,

4*

52 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Eichen an der Waldschenke. E. Merkwürdig, daß auch Almquist als Synonym zu Arth. byssacea in seiner Monographia Arthoniarum Lecanactis biformis Kbr. angibt. Nur äußerlich gleichen sich beide; auch Koerber hat wohl eine für die andere angesehen und ausgegeben. Mikroskopisch sind sie nicht zu verwechseln, da Artkonia byssaces puppenförmige, Leca- naclis aber langspindelförmige Sporen besitzt.

*Coniangium submersum Eitner nov. spec. Glatz, auf quarzigem Geröll im Bach über dem Dominium Ober Rengersdorf. E. Thallus sehr dünn, firnisartig, graubraun; aus farblosen, kugelig unregelmäßig geformten Zellen bestehend, mit gelbroten klumpigen Gonidien durchsetzt. Apothecien fleck- förmig, nur mit dem sehr dünnen, schwarzen Rande hervorragend. Scheibe hellbraun, 0,1—0,2 mm groß. Schlauchboden farblos, Excipulum nur durch den schwarzen kohligen Rand kenntlich. Paraphysen hyalin, unten zersetzt, oben dauernd und gebräunt. Schläuche eiförmig, 25—28S wu lang, 12—14 dick, gestielt, Ssporig. Sporen hyalin, 2teilig, länglich walzig mit oft an- haftendem Plasma, 12—13 y lang, 4—4,5 {u dick. Jod färbt alles gelb.

#Stenocybe Mildeana (Hepp) Arn. Rosenberg OS., Schönwald an Populus nigra (Zuschke). Kruste fehlend oder weißlich. Podetien kaum 0,2 mm hoch, braunschwarz mit glänzendem Stiel und keulig kugeligem bis linsenförmigem Köpfchen. Paraphysen haarförmig, durchaus hyalinweiß. Schläuche zylindrisch, Ssporig. Sporen einreihig, 10—14 ı lang, 3—4 u dick, mit nur einer Scheidewand, grauschwarz, grade mit gestutzten Enden.

*Calicium pusillum (Flörke) Kbr. f. subtile (Hepp) Sydow. Brieg, an alten Eichen im Gr. Leubuscher Wald. E. Thallus der zersetzten Rinde dick aufgetragen, rein weiß, seidenglänzend. Podetien bis über 1 mm, gestielt, mit meist fast kugeligen, oben abgeflachten Köpfchen, Stiele oft ge- schlängelt, glänzend oder von den braunschwarzen Sporen bestäubt, meist sehr kräftig. Sporen des pusillum, deutlich 2teilig, gemischt mit undeutlich oder gar nicht geteilten. Schlauchschicht hell graubraun. Schläuche hyalin. Die Art ist sehr unbeständig; einzelne Exemplare haben grade, kaum 0,5 mm hohe Podetien mit flachen Köpfchen und gemischten, 1—2zelligen Sporen, andere die oben beschriebenen größeren und längeren Podetien mit nur 2zelligen oder gemischten Sporen. Ob dort noch eine Zwischen- spezies vorhanden ist, muß weiterer Beobachtung überlassen bleiben.

=0, acaule Eitner nov. spec. Eichen des Gr. Leubuscher Waldes. E. Thallus weißlich, matt wie alboatrum Flke. Apothecien ungestielt, schwarz, irregulär kugelig, dem Thallus aufsitzend. Sporen 7—8,5 u lang, 2—3 u dick, braunschwarz, 2teilig. Schlauchschicht hyalin, nach oben bräunlich. Schläuche selten erhalten.

#0, subtile Ach. f. triste Kbr. Militscher Chaussee hinter Kath. Hammer an Telegraphenstangen. Thallus schwärzlich staubig. Apothecien kräftig und kurz gestielt, kreiselförmig. Sporen rauchgrau, ungeteilt, zugespitzt elliptisch, 7—8 y lang, 5—4 y dick.

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 53

*C, albonigrum Nyl. Thallus von alboatrum. Podetien kurz, 0,5 mm, kräftig, braunschwarz wie die kreisel- bis linsenförmigen Köpfchen. Ge- häuse hell, Schlauchschicht gelbbraun. Sporen kurz elliptisch bis fast spindelförmig ungeteilt. Wald hinter Kath. Hammer an alten Eichen. E.

*C, chlorinum Ach. Glatz, Altheide im Höllengrund. Von C. corinellum Ach. nur durch die kleinen, halbkugeligen, meist stiellos dem Lager auf- sitzenden Apothecien und die ungeteilten Sporen zu unterscheiden. Der leuchtend gelbe Thallus bleicht oft schon frisch und im Herbar meist bald so aus, daß er von dem des corinellum nicht zu unterscheiden ist.

*C, subparoicum Nyl. Glatz, Sandstein des Höllengrundes bei Altheide. E. Apothecien dem flockigen weißen Lager der Trachylia arthonioides ent- springend, tielschwarz, nackt, auf sehr dünnen, drehrunden, glänzenden Stielen, welche sich oben öfter gabeln und dann 2 kugelige Köpfchen tragen. Excipulum bald tellerförmig ausgebreitet, so daß die Köpfchen linsenförmig werden. Sporenmasse tiefschwarz. Sporen stäbchenförmig, elliptisch, deutlich 2teilig, mit schwarzer Querwand, 6—7 u lang, 2—2,5 dick, grauschwarz, sehr dunkel. Originalexemplare sah ich nicht. Die Nylandersche Diagnose ist so wenig ausführlich, daß vorstehende Flechte auch eine neue Ärt sein kann.

C. citrinum Leight. Habelschwerdt, Krebsgrund vor Neuwalthersdorf. Die im II. Nachtr. aus dem Höllengrund aufgeführte Flechte ist ©. chlorinum Ach. Die schwarzgeslielten Früchte, mit gelbbraunen linsenförmigen Köpf- chen überragen nur wenig den von der Flechte bewohnten Thallus der Biatora lucida, und sind so klein, daß sie vom Sammler leicht übersehen werden.

*Cyphelium chlorellum Whlbg. Thallus sehr dünn, gelblichgrau, auf weißem Vorlager, sich den Unebenheiten der Rinde dicht anschmiegend. Apotheeien der Koerberschen vorzüglichen Diagnose entsprechend, die dunkelbraunen Sporen sind durchaus kugelig, 5—6 j im Durchmesser, während die des ähnlichen Cyph. saepiculare und aciculare elliptisch, 7 bis 3,5 f groß oder kugelig, 3—3,5 & groß und hellbraun sind. Brieg, Gr. Leubuscher Wald an Eichen. E.

*C. subrascidum Eitner nov. spec. Rsgb., Untere Zackel an Picea. E. Macht den Eindruck eines Calicium adspersum Pers. Thallus kleine braune, auf dem weißen Vorlager verstreute Schüppchen bildend, aus denen die drehrunden braunen Stiele der Apothecien entspringen. Die obere Hälfte der Stiele und die Gehäuse sind dicht grüngelb bereift. Gehäuserand und die flache, wenig gewölbte Sporenmasse braun mit Goldglanz. Köpfchen kreiselförmig, 0,3 mm Durchm. Die Sporen sind durchaus kugelig, gelb- braun 3—7 Durchm. Hypothecium gelbbraun, Paraphysen sehr fein und dicht, hyalin.

Coniocybe pallida Per. 5 farniacea Nyl. Brieg, Gr. Leubuscher Wald an alten Eichen. E.

54 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Microglaena sphinctonioides Nyl. Rsgb., Katzenschloß bei der Schlingel- baude, auf Moosen in Felsritzen. E.

*Staurothele succedens Rehm. Gogolin OS., Nieder Ellguter Kalkberg. Thallus braunschwarz, mehr weniger auf dem Substrat zerstreut oder ge- schlossen, krustig, dünn, rissig. Apothecien aufsitzend, flachhalbkugelig, mattschwarz, 0,4—0,5 mm Durchm. Beim Ausfallen hinterlassen die Früchte Grübehen im Substrat. Gehäuse dick und schwarz, innen dünner und heller. Paraphysen krumig zersetzt. Hymenial-Gonidien spärlich, quadratisch oder rechteckig, rötlichgelb. Sporen in schlankkeuligen Schläuchen, sehr verschieden, 19—26 p lang, 11—13 w dick, erst 2teilig, fast kugelig, kreuz und quer 4—Öteilig, endlich eiförmig-elliptisch bis länglich, mauerartig vielteilig; im Alter gelblich werdend, sonst hyalın. Jod färbt das Hymenium rotweinrot, die Sporen rotgelb. G. Winter und Arnold sammelten die Flechte auf Sandstein. Arnold gibt die Sporen größer an, die des G. Winterschen Exemplars stimmen mit den meinigen überein.

Thelidium dominans Arnold. Die im zweiten Nachtrag aufgeführten Th. dominans Arnold, incavatum Nyl. und amylacenum May bieten keine stichhaltigen Unterschiede dar; ich möchte letztere beiden daher zu Th. dominans Arn. ziehen. So wie in den Kalkalpen Tirols, ist auch auf dem Urkalk Schlesiens diese Flechte in mehreren Formen vorherrschend und überall verbreitet, so daß das Übersehen der Art durch Körber und B. Stein rätselhaft erscheint.

®Th. subabsconditum Eitner nov. spec. Kruste bläulichgrau, sehr dünn, gleichartig feinkörnig, wie eingefressen. Apothecien dem Substrat (Kalk) völlig eingesenkt, nur als 0,2 mm großer, schwarzer Fleck erscheinend. Perithecium geschlossen, schwarz, kugelig, Pore nicht sichtbar, Paraphysen in der Gelatine meist aufgelöst. Schläuche keulig, 8sporig. Sporen 21 bis 25 pw lang, 7--9 dick, elliptisch mit guter Querwand, welche aber erst durch K.-Zusatz sichtbar wird, weil das Plasma vorher durch querliegende unregelmäßige Ablagerungen die wahre Natur der Spore verbirgt. Jod bläut das Hymenium sehr dunkel und dauernd, die Sporen werden bald gelblichrotbraun, die Gelatine später braun bis blauschwarz gefärbt. Bei Th. absconditum Krplh. sind Schläuche und Sporen größer (22—23 y lang, 8—10 dick). Das Plasma der Sporen ist klar, die Jodreaktion ist nach heller Bläuung rotbraun. Gr. Strehlitz OS., Kalkblöcke am Bahnhof Szimiszow. E.

"Th. halizoa Leight. Glatz, Chausseerand von der Hummel nach Levin. E. Thallus kleine schwarze Flecke auf der grauen Unterlage bildend, sehr dünn, wieabgerieben oderfeinrissig, dasSubstrat überalldurchscheinen lassend. Apothecien 0,1 mm kaum erreichend, konisch mit glänzender Spitze, oder niedergedrückt, aufsitzend. Perithecium schwarz, unten offen. Schläuche

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 55

keulig, Ssporig. Sporen elliptisch, diblastisch mit guter Querwand, ge- säumt, 8&—12 lang, 5—6 y. diek. Jod färbt das Hymenium gelbrötlich.

*Microthelia micula Fw. scheint nur in der Form f. megaspora Nyl. bei uns vorzukommen; sie unterscheidet sich nur durch größere Sporen (23—36 j lang, 9—13 w dick). B. Stein gibt die Sporen nur 10—13 1 lang, 4—5 dick an. Ich sammelte die Pflanze sowohl an Rotbuche als Linde an den verschiedensten Orten Schlesiens; fand die Sporen aber wenigstens 22—23 ( lang, 9—10 w dick.

*M. heterospora Eitner nov. spec. Riesengrund, über dem Aupafall. E. Thallus dünn, schorfig, rötlichgelb, rissig gefeldert (vielleicht Thallus der Aspicilia lacustris). Apothecien mit eingesenkter Basis sitzend, schwarz mit deutlicher, oft aufgerissener Pore, 0,1—0,2 mm groß. Gehäuse oben schwarz, kohlig, unten sehr dünn, weitmaschig, in dichter Gonidienschicht eingebettet, welche mit amorpher braunroter Masse überdeckt ist. Schläuche und Paraphysen sind Gyalecta ähnlich angeordnet. Paraphysen deutlich, oben oft gebräunt. Schläuche diekwandig, schmal-länglich-eiförmig. Sporen lang hyalin, aus zwei kegeligen Körpern mit eingebogenen Wänden be- stehend, an der Teilung scharf eingeschnitten, 30 j lang, 9--11 dick. Bei der Reife werden die Sporen braun oder blauschwarz, die Sporoblasten bekommen den vollen Turgor und sind dann 30—34 y lang, 12—14 u dick. Der obere Teilkörper ist stets etwas stärker als der untere. Jod färbt das Hymenium weinrot bis braun.

*Anphoridium longicollum Eitner nov. spec. Kitzelberg bei Kauflung und Seitendorfer Kalkberg, Kr. Schönau. E. Thallus ergossen, firnis- arlig, + grünbraun auf grauem Vorlager; sehr dünn, oder wenig dicker, dann innen weiß. Apotheecien tief im Kalk eingesenkt; Gehäuse fast kugelig, mit langem, dünnem Entleerungshals. Äußerlich nur als kaum 0,05 mm große, eingesenkte, schwarze Punkte, von dem durchschnittenen Lager- inneren als feine weiße Linie umrandet unter der Lupe bemerkbar. Para- physen zersetzt. Sporen in breitkeuligen Schläuchen zu 8., groß, länglich schief elliptisch, 30—35 lang, 15 —17 y dick.

*A. viridifuscum Eitner nov. spec. Gogolin, Kalk des Sakrauer Hügels und des Nieder Elguter Kalkberges. E. Thallus dick, braun oder grün- braun, schollig rissig gefeldert, das weiße Innere durchschimmern lassend. Vorlager nicht bemerkbar. Apothecien mehr weniger vom Lager bekleidete konische Erhebungen bildend, an deren Spitze nur die geschlossene oder mehr weniger breite Pore hervorragt. Gehäuse länglich, kurz zylindrisch mit konischem Epitheeium und in den Kalk herabragend, geschlossen, heller oder dunkler braun bis oben braunschwarz, parenchymatisch. Paraphysen spärlich, aber dann kräftig, knotig gliedrig, von unten ab ästig. Sporen in keuligen Schläuchen zu 8, elliptisch 23 bis 33 lang, 14 bis 16 y dick. Paraphysen lang und kräftig. Jod färbt gelbrot, mitunter nach vor- heriger leichter Bläuung.

56 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

A. dolomiticum Mass. Jauer, an kalkhaltigem Gestein der Gräbeler Berge. E.

Lithoicea aquatilis (Mass) Arn. In allen Bächen des Vorgebirges. Der Steinschen Diagnose ist hinzuzufügen: Thallus der jungen Pflanze ist firnisartig, schmutzig grünbraun. Angefeuchtet grün, durchscheinend, läßt er auf dem Substrat sich bildende schwarze Flecke sehen (Unterseite des Thallus), welche sich mit dem Alter der Flechte immer mehr aus- breiten und endlich die ganze Flechte schwärzen. Der Thallus schwindet dann ganz (vielleicht durch Abweiden) und die anfänglich eingesenkten Früchte sitzen dann fast völlig auf. Exemplare aus dem Bach hinter Hubertus bei Rückers zeigen diesen Vorgang ‚‚frisch“ prächtig.

*L. fusconigrescens Nyl. Frankenstein, Wartha unter dem Bergsturz E. Kruste zusammenhängend, firnisartig, fein rissig gefeldert, braun- schwarz, fast glänzend, auf hellerem Vorlager. Apothecien etwas hervor- stehend, vom Lager überdeckt, nur mit der warzigen Mündung hervor- ragend, fein durchbohrt, innen hell, kaum 0,3 mm groß. Sporen in keuligen Schläuchen 8, elliptisch 18 bis 20 u lang, 6 bis 7 p dick, ein oder das andere Ende zugespitzt. Jod färbt weinrot.

*L. obnigrescens Nyl. Glatz, Rückers hinter Hubertus; Habelschwerdt, Chaussee vor Bielendorf; Rosenberg OS., Sandheide bei Sembowitz. Thallus dünn, zusammenhängend, matt braunschwarz. Apothecien halbkugelig vortretend, vom Lager bedeckt, nur die schwarze glänzende Entleerungs- warze zeigend. Sporen breit elliplisch mit gespitzten Enden 19 bis 26 lang, 11 bis 13 w dick.

=L. hydrela Ach. f. decussata Eitner n.f. Thallus hell, mit dunklen, grünbraunen, geschlängelten Vorlagerlinien durchzogen, gleichsam die einzelnen Exemplare gegen einander begrenzend. Sporen 18 wu lang, 6 u. dick. Frankenstein, Wartha, überrieselter Felsen am Grafensitz. E.

Verrucaria Dufourei (D. C.) Kbr. Rsgeb., Riesengrund, verbreitet. E.

V. hyascens Ach. Saubsdorfer Marmorberg (Österr.-Schles.).

®=V, plumbea Ach. f. fusca Schaer. Kitzelberg bei Kauffung; Nieder- ellguter Kalkberg bei Gogolin OS. E. Thallus sehr dünn, ungeteilt, grau- oder gelbbräunlich. Apothecien eingesenkt, mit gewölbtem oder flach lecideinischem Epithecium vorstehend, 0,25 mm Dm. Perithecium kohlig, braunschwarz, völlig geschlossen. Paraphysen fehlen. Schläuche eiförmig keulig, 8sporig. Sporen lang elliptisch, 18 x lang, 7 w dick. Dem Äußern nach auch zu v. murina Leisht passend, aber die Sporen dieser 22 bis 25,5 u lang, 14—15 y dick.

*V. infumata Nyl. Kitzelberg bei Kauffung; Reichenbach, Eichberge. E. Thallus sehr dünn, schwärzlich, das weiße Vorlager überall durch- schimmern lassend, äußerst klein schuppig oder körnig, wie angeräuchert. Früchte mit eingesenkter Basis sitzend halbkugelig oder etwas kegelig,

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 57

ohne oder mit eingedrückter Pore. Gehäuse unten offen. Sporen in keuligen Schläuchen zu 8, 23 n lang, 9 y dick. Jod rötet das Hymenium.

*V. submuralis Nyl. Erscheint wie kräftige V. muralis, hat aber schwarzes geschlossenes Gehäuse, eiförmig-keulige Schläuche mit 8 Sporen, 23—26 „u lang, 12—13 p dick. Glatz, am roten Berg; Bunzlau, Ober Groß Hartmannsdorf E.

*=V. muralis Ach. f. truncatula Nyl. Thallus dick, bläulich-weiß, fein rissig gefeldert. Apothecien mittelgroß sitzend, bis zur breit gestutzten Spitze vom Lager bekleidet. Sporen und Gehäuse wie muralis. Gogolin O8., Sakrauer Berg. E.

V. dolosa Hepp. Bolkenhain, großer Fels hinter Graebel; Habel- schwerdt, Grund vor Neuwalthersdorf.

*V. annulifera Eitner nov. spec. An überfluteten Steinen der Sattler- schlucht bei Hirschberg. Thallus weißlich, papierartig, dem graubraunen Vorlager wie aufgeklebt, zusammenhängend, wenig reihig oder effiguriert fleckig. Apothecien völlig eingesenkt mit ringförmig vortretendem, schwarzem schüsselartigem Epitheeium, Soredien weißen Inhalt entblößend. Gehäuse wachsartig, hyalin, unten offen, oben schwarz, randbildend. Sporen zu S, in kurzkeuligen Schläuchen 16 lang, 9 diek. Paraphysen aufgelöst.

V. laevata (Ach.) Mosig. Rsgb., Bäche des Blaugrundes, Große Lomnitz über Krummhübel, Bach vom Kamm nach dem kl. Teich. Die Flotowschen Exsiccate des Berl. Herbars, die Diagnose von Acharius und Leighton stimmen ziemlich gut mit meinen Exemplaren überein, während Körber und Stein schwarzes Vorlager und viel kleinere Sporen angeben. Thallus rötlich weiß, im Herbar graubraun werdend, rissig gefeldert, dicklich. Felderchen meist gewölbt bis brustartig geschwollen. Vorlager fehlend oder weißlich. Apothecien eingesenkt, 0,3—0,4 mm breit, nur mit dem schwarzen, oft eingedrückten Scheitel hervorragend. Pore meist deutlich. Perithecium kugelig, heller bis dunkler gelbbraun. Paraphysen zerfließend. Sporen zu 8, in fast eiförmig länglichen Schläuchen, elliptisch bis länglich, oft gesäumt 24—52 lang, 10—16 y dick. K. bräunt das Lager, Jod färbt das Hym. schmutzig braungelb.

*V. tapelica Kbr. var. fluvialis Eitner nov. f. Im Bober der Sattler- schlucht bei Hirschberg (vielleicht die V. laevata Kbr.). Thallus rötlich grauweiß, zusammenhängend oder fleckig, dem schwarzen Vorlager auf- sitzend, dicklich anstrichartig, rissig. Apothecien klein 0,2 mm breit, schwarz, nur mit der Basis eingesenkt, Scheitel meist eingedrückt, Peri- thecium kugelig, kohlig braunschwarz. Sporen in länglich eiförmigen Schläuchen zu 8, 18—25 lang, 8$—10 p dick. Paraphysen zerfließend. Jod- und K-Reaktion wie oben. Ein Pröbchen der Y. tapetica, von Prof. Körber bestimmt, ist von obiger Flechte kaum zu irennen,

*Y, pissina Nyl. Basalt der kl. Schneegrube. E. Thallus pechschwarz, fast glänzend, fein rissig gefeldert bis dünn schuppig. Apothecien den

58 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Felderchen halb eingesenkt, 0,2 mm groß, stark glänzend, mit tief ein- gedrückter Pore. Speren in kleinen eiförmigen Schläuchen zu 8, 13 bis 17 w lang, 5—7 w dick.

*V, elaeomelaena Mass. Thallus fest, glatt, grau grünlich, dunkel, hin und wieder sehr fein rissig. Apothecien sitzend, mit der Basis wenig ein- gesenkt, jung von der Kruste dünn überzogen, bald nackt, fein durchbohrt. Perithecium schwarz, halbkugelig kegelig, unten flach abgeschlossen, dünner. Sporen in diekwandigen, lang keuligen Schläuchen zu 8, breit elliptisch, 20—24 y lang, 10—14 diek. Jod bräunt das Hymenium. Rsgeb., Neiße, Schieferwand an der Bergschmiede; Schönau, Seitendorfer Kalkberg. E.

#Y, pulvinata Eitner nov. spec. Sattlerschlucht b. Hirschberg an Felsblöcken im Bett des Bober. E. Thallus dick, polsterförmig; rissig geteilt, graubraun. Felder gewölbt oder konkav, dem Substrat leicht ab- lösbar aufsitzend, kleinwarzig körnig. Apothecien schwarz, halb ein- gesenkt, kugelig mit schwarzem integrem Gehäuse, 0,2—0,3 mm Durchm. Pore, wenn überhaupt sichtbar, winzig, leicht eingedrückt. Paraphysen zerfließend, Sporen zu 8 in keuligen Schläuchen fast kugelig 10—11 1 lang, 9—11 w dick, zweireihig im Schlauch geordnet. Jod färbt das Hym. rötlich gelb. K. schwärzt den Thallus.

*Sagedia ferruginosa Eitner nov. spec. Isergeb., Basaltfelsen des keuligen Buschberges. Thallus ausgebreitet, pulverig flockig, rostrot oder fein körnig auf grauem Vorlager. Im Herbar wird das Vorlager vor- herrschend und das rote Lager gelbbräunlich. Apothecien dem Vorlager aufsitzend, die Basis vom Lager bedeckt, kugelig kegelförmig, schwarz, glänzend, mit glatter, runder, glänzender Spitze ohne sichtbare Pore, später etwas abgeflacht, sehr fein durchbohrt. Paraphysen sehr fein, schleimig verbunden. Schläuche schmal spindel- bis darmförmig, 8sporig. Sporen breit spindelförmig 2- und 4teilig, 28 bis 30 pn lang, 5 bis 6 1. dick mit abgerundeten Enden. Jod färbt das Hymenium gelb, dann gelbbraun.

*Arthopyrenia fallav Nyl. Frankenstein, Hartheberg; Wartha, Weg nach dem Spitzberg, Giersdorfer Berg; Schönau, Willenberg; an Eiche und Linde. E. Von der ähnlichen A. analepta Ach. durch breitere mehr keilförmige Sporen, von cinerea durch fehlenden Thallus, und von beiden durch auffallend größere Apothecien und gut ausgebildete, lange erhalten bleibende Paraphysen unterschieden. Sporen 2teilig.

*— f, conspurcans Steiner. Apothecien zum Teil unter der sich schülferig ablösenden Epidermis verborgen.

* A. pyrenasirella Nyl. Habelschwerdt, an jungem Acer pseudoplatanus im Klessengrund. E. Lager unterrindig oder sehr dünn schorfig, weißlich, durch dunkle Vorlagerlinien gesäumt. Apothecien 0,1—0,15 mm groß, schwarz umhoft; zu 1—1,5 mm großen Gruppen zusammengedrängt;

U. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 59

niedergedrückt halbkugelig, schwarz, viele ausfallend, eine schwarze Höhlung zurücklassend. Paraphysen fehlen. Schläuche diekwandig, unregelmäßig eiförmig. Sporen zweiteilig, hyalin, mitten eingeschnürt; später bekommt jeder Teilkörper noch eine Querwand und wird bräunlich. Jod färbt nach vorheriger Bläuung rotbraun.

*A. Personii Mass. (Verrucuria pluriseptata Nyl.) B. Stein gibt die Sporen 2-, 4- bis selten 6teilig an, Nylander nur 6teilig. An guten Exemplaren fand ich nur 5- und 6teilige Sporen; schwache schlecht aus- gebildete oder junge Pflanzen hatten oft fast nur 2teilige und wenig 5- bis 6teilige Sporen. 4teilige Sporen sind sellen. Sehr verbreitet.

Leptorhaphis Steinii. Kbr. Gesenke, Obere Felspartie des großen Kessels auf dem Thallus meiner Secoliga bacidiospora.

L. Koerberi. Stein. Auf Koerberiella Wimmeriana am Basalt der kleinen Schneegrube wieder aufgefunden. E.

*Collema biatorinoides Eitner nov. spec. Glatz, Melling-Felsen rechts der Chaussee am Aufstieg von Eisersdorf aus. (. callopismum Mass. Nach- trag ]I zu streichen. Kruste sehr spärlich, aus sehr kleinen, ästig sprossenden Knötchen bestehend, grau-grünlich ohne Vorlager. Apothecien aufsitzend, 0,4 mm nicht überschreitend, rötlich, ins gelbliche oder bräunliche spielend, fast glänzend, schüsselförmig mit wenig markiertem geschwollenem Rand. Gonidien blaugrün, nicht kettenförmig, sondern durch Teilung wachsend. Apothecien ohne Lagerrand, aber mit Gonidien im Schlauch- boden. Paraphysen fädlich, schleimig fest verbunden, oben bräunlich gelb, Sporen in schlankkeuligen Schläuchen zu 8; 2-, 4- bis mauerartig wenig teilig 17—20 lang, 9—10 y dick, an einem Ende meist verjüngt und zugespitzt. Jod bläut das Hymenium intensiv, Gehäuse und Hypothecium färbt es gelbbraun.

Porocyphus cataraclarum Kbr. Glatz, Felsen des roten Berges am Weg nach Rengersdorf; Wartha: Chausse nach Giersdorf. E.

Naetrocymbe fuliginea Kıbr. Strehlen, Lindenästchen im Park des Dosın. Kunern bei Schreibendorf-Münsterberg.

*Peccania coralloides Mass. Glatz, Roter Berg an Felsen vor Rengers- dorf, Thallus dicklleischig, schwarz, breit stielförmig aufrecht, oben lappig sprossend und rasenartig geschlossen. Apothecien an den Lappenenden flach gleichfarbig mit verschwindendem Rand. Schläuche kurz keulig. Sporen fast kugelig elliptisch 9—13 px diek, 11—16 u lang.

Aus dem benachbarten Böhmen wurden mir von den Herren Lehrern W. Kutak und Emil Kalewsky unter vielen anderen Flechten zwei neue Thelidien gesandt.

*Thelidium viride Eitner n. spec. Böhmen, Rabstein b. Chrudim auf überrieseltem Kalksandstein (E. Kalewsky). Thallus firnisartig, dünn, zusammenhängend, grünlich-weißlich; Vorlager fehlt. Apothecien schwarz, wenig gewölbt, klein 0,1—0,2 mm breit, oft von geschwollenem dünnem

60

Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Lagerwulst umgeben, fast lecanorinisch erscheinend.. Pore nur unterm Mikroskop sichtbar. Paraphysen fehlend oder zersetzt. Schläuche keulig, 8sporig. Sporen 16—20 lang, 8—9 dick, länglich elliptisch mit einer deutlichen Querwand. Jod rötet das Hymenium schön rotweinartig, die Hyphen färbt es nicht.

*=Th. sublacteum Eitner n. spec. Böhmen, am Chrast b. Chrudim auf überflutetem Schiefer. (Em. Kalewsky). Thallus mehr weniger große, gelblich oder grau-weiße oft dunkel umrandete Flecken auf dem grau- schwarzen Substrat bildend, zusammenhängend, dünn anstrichartig, selten etwas rissig. Apothecien klein, völlig eingesenkt, nur mit dem grau- schwarzen zerrissenen oder durchbohrten Scheitel wenig hervortretend. Gehäuse nur außerhalb des Thallus schwarz, kohlig, innerhalb dünn und hell, Schlauch und Paraphysenansatz braun. Sporen in keuligen Schläuchen zu 8, 13—14 q lang, 4 w dick, deutlich zweiteilig. Jod färbt das Hym. gelb, besonders Schläuche und Sporen sehr intensiv, dann hochorange bis bräunlich.

5. Sitzung am 10. November 1910.

Herr F. Pax berichtete über

Einige neue Funde aus der hohen Tatra.

Botrychium Matricariae (Schrank) Spreng. Grasmatten an den Ab- hängen des „Poprader Schlößchens‘“, gegen Gändez, 700 m.

Thesium alpinum L. Bergwiesen am „Poprader Schlößchen‘“, 900 m.

Delphinium oxysepalum Pax et Borb. var. pallidum Pax. Flores lacteo- lilacini vel albi. Häufig im unteren Alpenkessel. zwischen Nowy und Hawran, vielfach in reinen Beständen und stellenweise häufiger als die tiefblaue Stammform.

Rosa alpina > pimpinellifolia. Gebüsche am ,„Poprader Schlößchen‘“, bei S30 m. Die aufgefundenen Sträucher entsprechen ohne Zweifel der genannten hybriden Verbindung; die Zweige stehen in der Bestachelung der R. pimpinellifolia näher, während Blattumriß und Frucht eine Mittel- stellung einnehmen. Von den beiden Stammarten wurde an dem Standort und in dessen Nähe nur R. alpina, und zwar recht häufig beobachtet, während R. pimpinellifolia scheinbar fehlte; doch wächst vielleicht auch die zweite Stammart in der Nähe; sie wurde von Scherfel bei Teplic in demselben Höhenzuge gefunden. Sie fehlt auch in der Umgebung von ' Kesmark nicht.

Inula ensifolia L. Jerusalemer Berg bei Kesmark, 700 m. Die Art scheint aus dem engeren Gebiete der Zentralkarpathen bisher noch nicht bekannt zu sein.

Carduus glaucus Baumg. var. albiflorus Pax. Alpenkessel zwischen Nowy und Hawran, bei 1700 m; sparsam unter der rotblühenden Stamm- form.

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 61

Im Anschluß hieran seien die Kryptogamen aufgezählt, die von einigen Fundstellen aus den westlichen Karpathen aufgenommen wurden. Die Bestimmung wurde von Frl. Käthe Hoffmann ausgeführt.

1. Rojkov bei Kralovän im Waagtale. Abfluß des sog. Meerauges, stark kalkhaltiges, Tuff absetzendes Wasser. Synedra lanceolata Kütz., Achnanthes exilis Kütz., Navicula rhynchocephala Kütz., N. viridis (Nitzsche) Kütz., N. divergens (Sm.) Ralfs, Cymbella cymbiformis (Kütz.) Breb., Suri- rella ovata Kütz. Vergl. hierzu auch F. Pax in Englers Bot. Jahrb. XXXVII (1906) 308.

2. Vratnaschlucht oberhalb Tyerhova in der Kl]. Krivan- gruppe. Überrieselte Kalkfelsen. Chroococeus turgidus (Kütz.) Näg., sehr häufig, Merismopoedia glauca (Ehrb.) Näg. sehr häufig. Mesotaenium Brawnii De Bary häufig, Cosmarium tetraophthalmum (Kütz.) Breb. häufig, ©. cerenalum Ralls häufig. Pediastrum integrum Näg. sparsam. Raphi- dium polymorphum Fresen. häufig. Tetracyclus ruwestris (A. Br.) Grun. häufig. Synedra ulna (Nitzsche) Ehrenb., sparsam, Achnanthes exilis Kütz. häufig, A. flexella Kütz. sparsam, Cocconeis Pediculus Ehrenb. nicht selten, Navicula elliptica Kütz. vereinzelt, Gomphonema dichotomum Kütz. häufig, Oymbella eymbiformis (Kütz.) Breb. häufig, Rhopalodia gibba (Kütz.) O0. Müll. sparsam, Surirella flecuosa Ehrenb. selten.

3. Tal von Szulyö (Com. Trencsen). Überrieseltte Kalkfelsen unter- halb des Dorfes. Chroococeus turgidus (Kütz.) Näg. häufig. Pediastrum integrum Näg. häufig. Tetracyclus Brauniüi (A. Br.) Grun. sparsam, Sımedra acus Kütz. ziemlich häufig, Bunotia arcus Ehrenb. häufig, Achnanthes minutissima (Kütz.) häufig, Cocconeis Pediculus Ehrenb. sparsam, C'ymbella lanceolata Ehrenb. häufig, Cystopleura Zebra (Ehrenb.) Kunze selten, Rhopa- lodia gibba (Kütz.) O. Müll. häufig, Nitzschia sinuata (Sm.) Grun. häufig, Tryblionella Hantzschiana Grun. selten.

Sodann hielt Herr Th. Schube einen Vortrag

Über die Phytologia magna von Isr. u. Georg A. Volckmann.

Da ich bereits vor 20 Jahren über die Verfasser der Phytologia magna und über den Inhalt des Werks, soweit er sich auf unsere ursprüngliche Pflanzenwelt bezieht, berichtet habe, kann ich mich hier mit einem kurzen Hinweis auf den früheren Aufsatz!) begnügen. Ich hatte damals einen kurzen Aufenthalt in Dresden dazu benützt, das in der dortigen Hofbibliothek aufbewahrte Werk einer Durchsicht zu unterwerfen. So flüchtig diese leider auch sein mußte, hatte sie doch schon als sicher ergeben, daß das harte Urteil, das Ludw. Reichenbach über seinen Wert Göppert gegen- über abgegeben hatte, völlig ungerechtfertigt und nur dadurch zu erklären sei, daß Reichenbach ohne Berücksichtigung des Restes einzig den 1. Band

1) 68. Jahresber. der Schles. Ges. f. 1890, II, S. 73—86.

62 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

in Augenschein genommen hatte, der in der Tat recht minderwertig ist. Die Bibliotheksverwaltung hatte mir damals auf meinen Wunsch den 2. und den 10. Band hierher überlassen, so daß ich sie in einer Sitzung unserer Sektion vorlegen konnte: die z. T. vortrefflichen Abbildungen des letzten Bandes fanden hier allgemein hohe Anerkennung, der u. a. Cohn und Prantl beredten Ausdruck gaben.

Schon in jenem Berichte wies ich darauf hin, daß mein Verzeichnis der Pflanzen, die von den beiden Männern zuerst in Schlesien wildwachsend nachgewiesen worden sind, Lücken aufweisen müsse, da ich besonders die letzten Bände, die fast nur Gartenpflanzen enthalten, aus Zeitmangel zu rasch durchblättern mußte. Diese Voraussagung hat sich nun bestätigt, als ich neuerdings das Werk einer genaueren Durcharbeitung unterzog. Ich habe die sämtlichen Bände, die mir die Dresdener Hofbibliotheksver- waltung durch gütige Vermittelung des Direktors unserer Univers.-Bibliothek, Herrn Dr. Milkau, hierher zur Revision überließ, durchgesehen und durch Vergleich mit meiner Arbeit ‚Zur Geschichte der schles. Floren- erforschung‘“!) feststellen können, daß die Zahl jener Pflanzen fast die doppelte Höhe der früher angegebenen erreicht. Unter den neu nach- gewiesenen befinden sich recht seltene Arten, wie Orchis ustulata und O. corio- phora, daneben auch mehrere strichweise häufige, wie 0. morio: letztere Art und einige andere hat wohl auch Schwenckfeld schon gekannt, bei der Unzulänglichkeit seiner Zitate war dies aber nicht sicher genug fest- stellbar. (Daß die Pflanzen von den beiden Volckmann hier außerhalb der Kulturen beobachtet worden sind, geht, wie ich schon früher angab, teils daraus hervor, daß der Vater im 2. und 3. Bande dies ausdrücklich bemerkt hat, teils daraus, daß in den übrigen Bänden der Sohn es durch ein zum Namen hinzugesetztes Sternchen angedeutet hat.)

Folgende Arten sind hier zu nennen (ein * deutet an, daß die Art aus der Abbildung nicht ganz unzweifelhaft erkennbar ist oder jedenfalls nur verwildert oder verschleppt beobachtet wurde):

*Aspidium spinulosum (2, 136); Salvinia nalans (6, 368); Potamogeton lucens (7, 360); *P. acutifolius (7, 359); Eriophorum vaginatum (‚im Riesen- geb.‘‘, 8, 228); Carex cyperoides („Fischteiche bei Liegnitz“‘, 8, 231); Acorus Calamus (6, 363); Allium senescens (‚an felsigen Orten“, 7, 20); Galanthus nivalis (1, 2); *Leucoium aestivum (3, 8); Orchis ustulata (8, 218); 0. coriophora (7, 292); O. morio (7, 293 u. a.); O. incarnata (8, 219); Thesium intermedium (8, 190); Rumex alpinus (4, 189); *Polygonum minus (4, 310); *Fagopyrum esculentum (4, 248); Portulaca oleracea (4, 187); Silene Otites (8, 101); Cucubalus baccifer (2, 164); Dianthus deltoides (1, 128); Sagina procumbens (7, 368); *Ceratophyllum demersum (6, 360); Clematis Vitalba (4, 207); Ranunculus circinatus (4, 334); R. bulbosus (7, 23); *R. sardous (2, 90); Cardamine impatiens (8, 225), Nasturtium

3) Ebenda, Erg.-Heft, S. 1-48,

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 63

amphibium (6, 264); Barbaraea strieta (2, 54); Erysimum hieracifolium (4, 320); Teesdalea nudicaulis (7, 353); *Iberis amara (4, 159); *Lepidium sativum (4, 318); Sedum villosum (9, 165); *Sempervivum tectorum (3, 125); =S. arachnoideum (4, 101); Cytisus capitatus (8, 273); Trifolium aureum (3, 16); Vieia sepium (1, 290); *V. Faba (6, 236); V. dumetorum („am Zobten‘“, 8, 120); V. tetrasperma (2, 98; auch 9, 147); *Geranium dissectum (1, 360); Radiola linoides (4, 239); Euphorbia lueida („an den Oderufern“ 7, 334); *Callitriche stagnalis (2, 6); *Malva erispa (1, 402); *Althaea officinalis (2, 176); Epilobium parviflorum (9, 115); *Myriopkyllum vertieillatum (4, 327); Astrantia major (2, 165); Chaerophyllum bulbosum (4, 187; auch 8, 197, woselbst als Synonyme sonderbarerweise diejenigen für Oenanthe aquatica genannt sind); Pastinaca sativa (5, 227; an anderer Stelle ohne * gelassen, vergl. meinen früheren Aufsatz!); Berula angustifolia (2, 40); Monotropa Hypopitys (9, 5); *Androsace maxima (7, 370); *Ligu- strum vulgare (4, 118); Gentiana campestris (6, 252); Pulmonaria angusti- folia (7, 286); Myosotis arenaria (1, 352); M. sparsiflora (3, 3); Brunella vulgaris f. laciniata (6, 277); Galeopsis Ladanum (9, 96); Datura Stra- monium (1, 239); *Linaria Cymbalaria (2, 148); L. Elatine (9, 85); L. minor (4, 292); L. arvensis (7, 344); Veronica longifolia (4, 255); V. spuria (4, 256); V. bellidioides (9, 3); *V. Tourneforti (2, 1); Bartschia alpina (9, 43); Utricularia vulgaris (4, 333); "Plantago Coronopus (3, 189); Asperula Aparine (8, 183); Valerianella dentata (8, 119); Campanula Cervi- caria (8, 148); *Specularia Speculum (4, 184); Dipsacus laciniatus (3, 28); Anthemis tinctoria (7, 111); *Doronicum Pardalianches (3, 118); Arctium tomentosum (8, 204); Carduus Personata (9, 294); *Carthamus tinctorius (2, 129); Hypochoeris uniflora (8, 208); Lactuca Scariola (2, 76); *H. pra- iense (6, 296),; *H. cymigerum (2, 101).

Auffallend ist, daß bei einigen jetzt ziemlich weit verbreiteten Arten der Sohn das * nicht gesetzt lıat, z. B. bei Anthericum ramosum (7, 84), Arabis hirsuta (7, 220) und A. arenosa (9, 125), die auch Schwenckfeld nicht wildwachsend gekannt hat; am sonderbarsten bleibt, daß auch das jetzt so häufige Erysimum cheiranthoides (8, 185) bei S. und Volckmann sich nur unter den kultivierten Gewächsen findet. Berteroa incana (8, 103), hier ohne * gelassen, scheint von S. im Freien beobachtet zu sein, doch sind die Synonyme z. T. unrichtig. Bei einigen sicherlich längst hier an- sässigen und verbreiteten Arten hat der jüngere V. sicherlich nur aus Versehen jenes Zeichen nicht hinzugefügt.

Ich hätte selbstverständlich von dieser erneuten Durchsicht Abstand genommen, wäre es mir diesmal nicht hauptsächlich darauf angekommen, auch die kultivierten Arten möglichst genau festzustellen, um auf diese Weise meine frühere Arbeit „Schlesiens Kulturpflanzen zur Zeit der Renaissance‘“!) zu ergänzen. Freilich: hätte ich seinerzeit in Dresden

!) Beilage zum Osterprogramm 1906 des Realg. am Zwinger zu Breslau,

64 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

mir auch diese Gartenpflanzenabbildungen etwas eingehender betrachtet, so würde ich wohl die Bände unangetastet in ihrem Schreine belassen und auf den Versuch verzichtet haben, auch hier unsern Vorgängern die gebührende Anerkennung zu verschaffen; denn wenn ich nicht „nach be- rühmten Mustern‘ raubbauartig bloß das leicht Erkennbare herausgreifen und andern nur den Abhub des Mahles überlassen wollte, so stellten sich mir trotz allem Entgegenkommen seitens der Bibliotheksverwaltungen noch große Schwierigkeiten in den Weg. Nun, es ist mir schließlich doch noch gelungen, bis auf einen ganz kleinen Rest die etwa 500 Arten, von denen manche, wie Gartentulpe und Hyazinthe, Rittersporn und Ackelei, Kürbis und Spanischer Pfeffer in sehr zahlreichen Formen abgebildet sind, völlig oder ziemlich sicher zu bestimmen. Der Rest besteht größtenteils aus solchen, die so unvollkommen abgebildet sind, daß eine annähernd sichere Bestimmung fast unmöglich erscheint; doch darf ich nicht ver- schweigen, daß sich auch einige wenige gar nicht übel dargestellte darunter befinden, die ich selbst unter Zuhilfenahme des so reichhaltigen Herbar- materials unsers Botanischen Gartens und trotz freundlicher Unterstützung seitens der Herren Prof. Pax, Dr. Lingelsheim und Insp. Hölscher nicht zu identifizieren vermochte. Eine mäßig große Anzahl der Abbildungen kommt nicht in Betracht, weil es sich dabei nur um Bruch- stücke handelt, die den Verff. von außerschlesischen Garteninhabern ge- schenkweise überlassen wurden, wie z, B. ein Blütenzweig der ersten Agave americana, die 1700 in dem berühmten Boseschen Garten zu Leipzig ihren riesigen Schaft entwickelt hatte,

Ausführlicheres über diese Arbeit und deren Ergebnisse werde ich in einer Beilage zum nächsten Osterprogramme des Realgymnasiums am Zwinger bringen; hier sei nur, um wenigstens etwas aus der reichen Fülle zu geben, erwähnt, daß u. a. schon vor 200 Jahren in unserer Stadt die erste schlesische Ananas im Garten eines Dr. Kaltschmied zur Reife gebracht worden ist, der u. a. auch Indigo kultivierte, ferner, daß viele Arten fast in dem gleichen Jahre von unsern Autoren abgebildet worden sind, in dem sie durch die berufenen Pflanzenkenner, wie Ammann und Rivinus der Wissenschaft bekannt gemacht worden sind, daß Vater und Sohn mit diesen und andern hervorragenden Botanikern Jahrzehnte hin- durch in regem Verkehr gestanden haben, endlich, daß nicht bloß aus Liegnitz und Breslau zahlreiche Männer sehr verschiedener Berufsklassen als Züchter seltener Pflanzen genannt werden, sondern auch wertvolle Stücke aus ländlichen (insbesondere Pfarr-) Gärten abgebildet sind. Einiges hiervon wie auch von den Bildern urwüchsiger Pflanzen konnte ich den in der Sitzung anwesenden Mitgliedern der Sektion zeigen, da ich infolge der Fürsprache des Herrn Direktor Dr. Milkau den 6., 8. und 9. Band für einige Stunden aus den Räumen der Bibliothek in diejenigen des Botanischen Gartens hinübernehmen durfte,

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 65

Allen Herren, die mich bei der mühseligen Arbeit unterstützt haben, sei auch hier herzlichst gedankt!

6. Sitzung am 24. November 1910. Herr R. Dittrich sprach über die zyklische Entwickelung einiger Gallläuse und gab dann in Gemeinschaft mit Herrn H. Schmidt die 1. Fortsetzung des Nachtrages zu dem Verzeichnisse der schlesischen Gallen. Ulmaceae.

Ulmus campestris L.

*#365. Dipt. Starke Verdickung der Blattmittelrippe, ähnlich der von Perrisia carpini an Carpinus Bet. Liegnitz: Katzbachdamm zwischen Parch- witz u. Leschwitz (S).

366. Dipt. (C. H. 2042; Hie. 586). Urh.: Oligotrophus Lemeii Kiefl. Maltsch a. O. (auch an Zweigen) (S); Grünberg: Barndtsche Mühle, Rauherei (Hg).

*367. Hem. (C. H. 2043; (Hie. 363)). Urh.: Pemphigus pallidus Haliday. Grünberg: Kühnau (S), Augustberg (Hg).

368. Hem. (C. H. 2048; Hie. 362). Urh.: Tetraneura ulmi De Geer, Trachenberg: Gr. Bargen (Schwarz); Jauer: Klonitz, Poischwitz, auch an

368a. var. suberosa Ehrh. (S).

369. Hem. (C. H. 2050; Hie. 360). Urh.: Schizoneura ulmi L. Breslau: Scheitnig (D); Liegnitz: Parchwitz (S); Jannowitz a. R. (D); Grünberg: überall häufig (Hg. u. S).

370. Hem. (C. H. 2051; Hie. 361). Urh.: Schizoneura lanuginosa Hart. Maltsch a. ©. (S); Jauer: Poischwitz, auch an var. suberosa Ehrh. (S); Carolath (Hg).

*371. Hem. (C. H. 2052; (Hie. 369)). Urh.: Colopha compressa Koch. Gleiwitz (Cz.'); Breslau (Pax); Grünberg: Rohrbusch, Bobernig (S), Polnisch- Nettkow an Hecken sehr häufig, aber ausschließlich grün (S).

372. Phyt. (C. H. 2053; Hie. 271). Urh.: Eriophyes ulmi Nal. Pleß (D); Grünberg: Barndtsche Mühle, Rauherei (Hg).

Ulmus pedunculata Foug.

373. Phyt. (C. H. 2056; Hie. 275). Urh.: Eriophyes brevipunctatus Nal. Carolath (Hg).

374. Hem. (C. H. 2057; Hie. 369). Urh.: Colopha compressa Koch. Maltsch a. ©. (S); Grünberg: Bahnhofsanlagen, Lawaldauer Str. (S), Külpe- nau (Hg).

375. Hem. (C. H. 2058; Hie. 370). Urh.: Tetraneura ulmi De Geer. Jauer: Poischwitz, Klonitz (S); Grünberg: häufig, bes. Barndtsche Mühle (S), Schloßberg bei Bobernig (Hg).

1) Herr Hüttenobermeister Czmok in Gleiwitz. 1910. 5

66 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl Cultur.

376. Hem. (C. H. 2059; Hie. 368). Urh.: Schizoneura ulmi L. Grünberg: Augustberg (Hg).

#377. Hem. (C. H. 2060: Hie. 363). Urh.: Pemphigus pallidus Haliday. Grünberg: Lawaldauer Str., Kühnau (S). Ulmus montana With.

*378. Hem. (C. H. 2062; Hie. 366). Urh.: Pemphigus pallidus Hal. Im Riesengeb. verbreitet: Jannowitz a. R., Schmiedeberg, Hermsdorf u. K., Agnetendorf (D).

379. Hem. (C. H. 2066; Hie. 367). Urh.: Tetraneura ulmi De Geer. Agnetendorf (D); Grünberg: Schloßberg bei Bobernig (Hg).

330. Hem. (C. H. 2067; Hie. 364). Urh.: Schizoneura ulmi L. Agneten- dorf (D).

*381. Phyt. (C. H. 2070; (Hie. 273)). Urh.: Eriophyes brevipunctatus Nal.?2 Grünberg: Schloßberg bei Bobernig (Hg).

Moraceae. Morus alba L.

#382. Phyt.?2 (C. H. 2061?) Blätter geschrumpft, Rand nach oben gerollt. Grünberg: Ruhleben (Hg). Humulus Lupulus L.

‘383. Hem. (C.H. 2091). Urh.: Phorodon humuli Schrank. Blätter lose zurückgerollt, besonders die jüngeren. Auf der Unterseite die grünen Läuse in Menge. Grünberg: Rohrbusch, Oderwald, Halbemeilmühle ua lo):

Urticaceae. Urtica dioica L.

##334. Phyt.? Die oberen Blätter längs nach unten gerollt, mit be- deutend stärkerer Runzelung; im Innern der Rollen gelbliche schnelle Milben. Lüben: Kotzenau (Schützenhaus) (S).

#385. Hem. (C.H. 2094). Blätter an den Endtrieben zurückgerollt. Urh.: Aphis urlicae F. Breslau: Pollogwitz (Sch); Wölfelsgrund (D); Hirschberg: Franzstraße (S); Grünberg: Kronenapotheke, zwischen Heiners- dorf u. Ochelhermsdorfer Chaussee, Deutsch-Kessel (S).

Urtica urens L.

*386. Hem. (C. H. 2098). Urh.: Aphis urticae F. Wie vor. Nr. Grünberg: Lattwiese, Louisental (S).

*387. Dipt. (©. H. 2099; (Hie. 588)). Urh.: Perrisia urlicae Perris. Grünberg: Polnisch Kessel, Nittritz (Hg).

*3338. Hem. (C. H. 2100). Blätter gekraust. Urh.: Trioza urticae L. Grünberg: Fabrikstraße (Hs).

##339. ? Stengelanschwellungen. Grünberg: Nittritz (Hg).

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 67

Polygonaceae. Rumez conglomeratus Murray.

“390. Hem. (C. H. 2119). Blattrand gerollt. Urh.: Aphis rumieis L. Grünberg: Barndtsche Mühle u.a. (S).

Rumez obtusifolius L.

“#391. Col.? Knoten im Stengel und in den! Blütenstielen (mit Flug- löchern). Grünberg: Kontopp (Hg). Rumez Acetosella L.

*#302, Hem. ((Hie. 392)). Urh.: Trioza rumieis F. Loew. Urnitzberg bei Wölfelsgrund (D).

393. Col. (C. H. 2130; Hie. 797). Urh.: Apion sanguineum De Geer. Grünberg: Berliner Chaussee (Hg).

394. Col. (C. H. 2132; Hie. 796). Urh.: Apion frumentarium L. Breslau: zw. Schwoitsch u. Drachenbrunn (D); Grünberg: Augustberg (Hg); Carolath, Freystadt (Hg).

*395. Hem. (C. H. 2135). Blattrand gerollt u. spiralig gedreht. Urh.: Aphis rumicis L. Hirschberg: Giersdorf, Kynast (S); Grünberg: Tolles Feld u. a. sterile Plätze (S), Kontopp (Hg).

Rumex Acelosa L.

=#396. Hem. Einrollung und Verklumpung der oberen Blätter und des Blütenstandes. Urh.: Aphis rumicis L. Grünberg: nicht selten (S).

*397. Col. (C. H. 2136). Schwache, kaum merkbare Verdickungen des Stengels. Urh.: Apion violaceum Kirby. Grünberg: Barndtsche Mühle, Bahndamm nach Schertendorf hin (S).

Rumex obtusifolius All.

398. Hem. (©. H. 2144; Hie. 302). Urh.: Triosa rumicis F, Loew. Altvater: Schwarzengrabenbaude (Hie.).

Polygonum aviculare L.

##309, ? Schopfarlige Häufung der Blätter u. Blüten an den Enden der Triebspitzen. Dyhernfurt (S); Jauer: Mühlgrund bei Poischwitz (S).

400. Lep. (C. H. 2154; Hie. 777). Urh.: Augasma aeratella Zell. Grünberg: Heiderand hinter dem Bergwerk an der Berliner Chaussee (Hg), Schertendorf (Hg, S), goldne Krone (S). Nach Wocke (Verzeichn. d. Falter Schlesiens II, Zeitschr. f. Entom. IV 1874, pag. 85) kommt der Falter auch bei Glogau u. Breslau vor, ist aber selten.

##40]. Dipt. ? (Hie. 477). Urh.: Perrisia persicariae L.? Grünberg: Kontopp (Hg).

##402. ? Blätter in der Längsrichtung schwielenarlig verdickt. Grün- berg: Kugelfang (Hg).

Polygonum amphibium L.

403. Dipt. (C. H. 2159; Hie. 449). Urh.: Perrisia persicariae L. Gleiwitz (Cz.); Strehlen (Hie.); Breslau: Masselwitz (D), Jannowitz a. R. (D); Grünberg: zw. Heinersdorf u. Halbemeilmühle (S), Boothes See’chen (Hg).

5*

68 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

*403a. An var. terrestre Leers. (C. H. 2161): Rothenburg a. O. (S). Polygonum Persicaria L.

#"404,. Lep. Sehr stark angeschwollene Stengelknoten. Im Innern eine etwa 1 cm lg. Raupe, hellbräunlich grau, zerstreut borstig; oft den ganzen Stengel bis zur Wurzel hinab aushöhlend. Grünberg: Boothes See’chen (S).

##405. Hem. Verkräuselte Blätter. Urh.: Aphide. Grünberg: Rohr- busch (Hg).

Polygonum Bistorta L.

406. Dipt. (C. H. 2169; Hie. 478). Urh.: Perrisia persicariae L.? Glatzer Schneeberg (D); Hiesengebirge: Weiße Wiese (Hg), Riesenbaude (Sch); Iserwiese (D); Grünberg: Obere Maugscht (Hg).

Polygonum Convolvulus L.

#407. Hem. (C. H. 2172). Rollung, Verbeulung u. Rotfärbung der Blätter. Reichlich mit bräunlichen Aphiden besetzt. Grünberg: Tolles Feld, Rohrbusch, Oderwald (S), alte Maugscht (Hg); Naumburg a. B. (S). Polygonum dumelorum L.

#*408. Dipt. (wie Hie. 477). Urh.: Perrisia persicariae L.? Grünberg: Halbemeilmühle (Hg).

Fagopyrum esculentum Mönch.

#*409,. Hem. Rollung und Abwärtsbiegung der Blätter. Die oberen Blätter klappen sogar ganz herunter und legen sich dicht an den Stengel an, wobei die basalen seitlichen Abschnitte den Stengel umfassen. Sehr reichlich dunkle Blattläuse vorhanden. Grünberg: An einigen Stellen, be- sonders zw. Floras Ruh u. Neuwaldau, u. bei Schertendorf (S).

Chenopodiaceae. Beta vulgaris L. u. var. Rapa Dum.

*#410. Hem. Blätter gekräuselt zu hökerigen, blasenartigen, bleich- grünen Gebilden. Bei zunehmendem Wachstum der Pflanze tritt eine eigentümliche Streckung des Vegetationspunktes auf, der schließlich eine kegelartig verlängerte Form aufweist. Urh.: Piesma capitata (WIf) Stal. (Heteroptere). In den Kreisen Haynau u. Glogau. Grosser (,Ein neuer Rübenschädling“ in Zeitschr. der Landwirtschaftsk. für die Prov. Schlesien Heft 30, 1910).

*4]1. Hem. (C. H. 2178). Blätter stark gekräuselt. Urh.: Aphis rumicis L. Grünberg: Boothes See’chen (Hg), Fließwiesen (S); Steinau (S); Glogau: Klein-Tschirne (S).

Chenopodium album L.

#412. Col. (C. H. 2180). Rübenförmige Verdickung der Wurzel. Urh.: Mecaspis fasciatus Müll. Grünberg: Lawaldauer Str., Patzgall, Heinersdorf u. a. O.; Rothenburg a. 0. (S).

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 69

*413. Hem. (C.H. 2132). Blattrand nach oben gerollt, verdickt und entfärbt. Urh.: Aphis atriplicis L. Wohlau; Steinau; Jauer; Hirschberg; Schmiedeberg (S); Grünberg (Hg, S). Überall sehr gemein,

Atriplex nitens Schk.

##414. Hem. (wie Hie. 309). Urh.: Aphis atriplicis L. Grünberg: Klopsches Ziegelei (Hg).

Atriplex hastaltum L.

*415. Hem. (C. H. 2204 (Hie. 309)). Urh.: Aphis atriplicis L. Grün- berg: Fließwiesen, Lausitzer Str., Erlbusch (Hg). Atriplex oblongifolium W. K.

#416. Hem. ((Hie. 309). Urh.: Aphis atriplicis L. Grünberg: Cham- pagnerfabrik (Hg).

#*417, Hem. ? Blattrandeinziehungen, z, T. mit Rollung nach unten. Grünberg: Berliner Chaussee (S).

Amarantaceae, Amaranlus relroflexus L.

#*418. ? Blütenstand geknäuelt. Grünberg: Schertendorf (S).

##419, ? Einzelne Rispenästchen mit vergrößerten und verdickten Blütchen. Besonders die Vorblätter walzig verdickt, eingerollt, aufgedunsen runzlig. Die befallenen Blütchen rot gefärbt. Grünberg: Sandgrube hinterm Hohlwege (Weg nach der Schillerhöhe) (S); Steinau häufig (S). Amarantus caudalus L.

*#490, ? Schwache Stengelanschwellung nahe am Wurzelhalse. Im Innern unregelmäßig verlaufende Larvengänge. Grünberg: Schuttplatz hinter Klopsches Ziegelei (S).

Caryophyllaceae. Agrostemma Githago L.

**421. Blätterschöpfe mit gedrehten Blättern und abnorm starker Behaarung in den Blattachseln an den Stengelknoten. Grünberg: Stein- berg (S).

Viscaria vulgaris Roehl. (Lychnis viscaria L.)

**422, ? Vergrünung der Blüten. Diese bilden Schöpfe von trüb-« rötlichgrüner Färbung. Bolkenhain: zw. Wederau u. Rohnstock (S). Silene inflata Sm. (Silene cucubalus Wibel.)

##423. ? Aufgeschwollene, stark weißfilzig behaarte Knospen. Treb- nitz: Heidewilxen (Sch).

424. Hem. (C. H. 2262/63; Hie. 356). Urh.: Aphis cucubali Pass. Jannowitz a. R. (D), Saalberg (D), Brodbaude (Sch), Krummhübel (D); Grünberg: sehr häufig (Hg, S)-

Silene dichotoma Ehrh.

*425. ? Ziemlich stark hervortretende Stengelanschwellung. Jauer:

Poischwitz (S).

70 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Silene Otites Smith.

=#496. ? Dichte Knäuelung der Blüten. Rothenburg a. O.: zwischen Bahnhof und Eugenienhof (S).

*437. Col. (C. H. 2277; Hie. 798). Urh.: Sibinia femoralis Germ. Grünberg: Weite Mühle (Hg).

##498, ? Knieförmige Verdiekungen des Stengels. Grünberg: Weite Mühle (Hg).

##499, 2 Blattrand nach oben gerollt. Grünberg: Weite Mühle (Hg). Silene nutans L.

#450. Lep. (C.H. 2282). Stengelinternodien angeschwollen. Urh.: Gelechia (Lita) cauligenella Schm. Wartha: Chaussee nach Giersdorf. Mitte Mai die Gallen schon teilweise verlassen (D). Nach Wocke (Verz. d. Falter Schlesiens 1875, p. 64) ist der Falter Anfang Juni in der Umgegend von Freiburg und Salzbrunn häufig.

#*431. ? Blattrand kraus nach oben umgelegt. Grünberg: Schloß- berg (Hg).

Melandryum album Garcke.

432. Dipt. (C. H. 2292; Hie. 466). Urh.: Perrisia Lychnidis Heyd. Breslau: Loischwitz bei Sybillenort, Tschechnitzer Mühle, Herrn- protsch (Sch), Dyhernfurt (Grosser, Pax); Grünberg: sehr häufig (Hg, S).

#433. ? Sehr große, bauchige Kapseln mit Knoten. Grünberg (Hs). Cucubalus baccifer L.

*434, Dipt. (€. H 2296). Blüten aufgetrieben, rötlich, reich weiß- lich behaart, geschlossen bleibend. Darin weiße Maden einer Cecidomyide (Perrisia?). Breslau: zw. Gallowitz und Wagnitz, Heidewilxen; Neumarkt: Machendorfer Busch (Sch).

Tunica prolifera L.

##435. Lep. Gedunsene oder verkrüppelte Stengelknoten. Urh: Gelechia gypsophila St.? Grünberg: Augusiberg, Weite Mühle (Hg). Dianthus Carthusianorum L.

##436. ? Verdickung, Verkrümmung und Knitterfaltung der Kapseln. Grünberg: Holzmanns Ziegelei (S).

Saponaria offieinalis L. :

#437. Dipt.? (C. H. 2307?) Blüten gedunsen, Blätter verkrümmt. Grünberg: Pulverhaus, Schertendorfer Chaussee; Naumburg a. B. (Hg). Arenaria serpylifolia L.

##438, ? Büschelförmige Strauchung, verkrümmte Kapseln. Grün- berg: Fließ (Hg).

Alsine viscosa Schrb.

##439, 2 Stengeldrehung und -Verdickung, Kapseln gedunsen, Blätter in-Büscheln. Grünberg: Fließ, Lindebusch, Weite Mühle (Hg). - Stellaria media Vill.

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. yal

#440. Orth. (Thys.) (C. H. 2317). Verknäuelung der Blüten, Ein- rollung der Blätter. Urh.: TArips sp. Grünberg: Dreifaltigkeitskirchhof, jüdischer Friedhof (S).

##441. ? Blätter der Triebrosetten kraus und verdickt. Grünberg: Alte Lessener Str. (Hg).

Stellaria Holostea L. f

##442. Phyt. (Wie. Hie. 247). Urh.: Eriophyes atrichus Nal.? Grünberg: Alte Saaborer Str. (Hg).

*443. Hem. (C. H. 2310). Internodien gestaucht; Blätter nach oben schwach eingerollt, gedreht. Urh.: Aphis cerastii Kalt. Grünberg: Rohrbusch, Barndtsche Mühle u. a. O. (S).

Stellaria uliginosa Murr.

##444, Phyt. (Wie. Hie. 247). Urh.: Eriophyes atrichus Nal.? Grün- berg: Holzmanns Ziegelei, Zahner See (Hg). Stellaria graminea L.

*445. Phyt. (C.H. 2321 (Hie. 247)). Urh.: Eriophyes atrichus Nal. Grünberg: Rohrbusch (Hg); Sagan: Reichenau (Hg).

Stellaria glauca With. (= palustris Ehrh.)

#446. Phyt. (©. H. 2317 (Hie. 247)). Urh.: Eriophyes atrichus Nal.? Grünberg: Steinbachs Vorwerk, Nittritz, Kontopp (Hg); Neusalz: Aufzug, Carolath (Hg).

Cerastium semidecandrum L. f. aborlivum Cors.

*#447, 2? Zwiebelförmige Verdiekungen am Grunde der Zweige. Grünberg: Weite Mühle (Hg).

Cerastium triviale Lk.

*448, Phyt. (C. H. 2337 (Hie. 75)). -Urh.: Eriophyes cerastii Nal. Grünberg: Marschfeld, Berliner Chaussee (Hg).

449. Hem. (C.H. 2333 u. 2335; Hie. 291). Urh.: Trioza cerastii H. Löw. Strehlen: Töppendorfer Berg (Sch); Grünberg: Kontopp, Dick- strauch, Moorgraben (Hg).

*450. Dipt. (C. H. 2334). Deformation der Triebspitzenblätter. Urh.: Perrisia lotharingiae Kiell.

Cerastium pumilum Curt.

##45]. Dipt. Kapseln leicht geschwollen. Urh.: Perrisia fructuum Rübs. Grünberg: Schertendorfer Str. (Hg).

Cerastium arvense L.

452. Hem. (C. H. 2347; Hie. 311). Urh.: Aphis cerastii Kalt. Grünberg: Alte Maugscht, Piastenhöhe (S), Steinberg, Marschfeld (Hg).

#*453, Hem. Einrollung, Zurückkrümmung und Verdrehung der Blätter am obern Teile nicht blühender Stengel. Urh.: Aphis sp. (S).

72 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Ranunculaceae. Clematis vitalba L.

*#454. ? Geschlossen bleibende Blüten, deren Inneres zerstört ist. Ausgangsöffnung der Erzeuger seitlich. Grünberg: Weinschloß, Weg zum Augustberge, Langegasse (S).

Ranunculus auricomus L.

**455, 2 Blätter verkrümmt. Grünberg: Rohrbusch (Hg). Ranunculus Lingua L.

**456. Hem. Stengelbiegungen an den Knoten; Längsrollungen der Blätter. In dem untern, scheidenartigen Blatteile weißwollige Aphiden. Grünberg: Oderwald (S).

Ranunculus acris L.

457. Dipt. (C. H. 2420; Hie. 496). Urh.: Cecidomyide. Breslau: Botanischer Schulgarten (D); Ohlau: Minkauer Wald (Sch); Grünberg: Steinbachs Vorwerk, Pirnig, Oderwald (Hg), Burgstraße (S).

*458. Dipt. (C. H. 2423). Blätter lederartig, hornartig gedreht, verdickt, rot gefärbt. Urh: Perrisia ranunculi Bremi. Grünberg: Stein- bachs Vorwerk (Hg).

Ranunculus polyanthemos L.

*459. Dipt. (C. H. 2428). Endblätter gedreht. Urh.: Cecidomyide. Grünberg: Lawaldauer Str., Tolles Feld, Rohrbusch, Schloßberg bei Bobernig (Hg).

Ranunculus repens L.

*#160. Dipt. ? Verdickung und Faltung der Blätter. Urh.: Perrisia ranunculi Bremi? Grünberg: Steinbachs Vorwerk (Hg). Ranunculus bulbosus L.

#461. Phyt. (C. H. 2436). Blüten vergrünt. _Urh.: Eriophyide. Grünberg: Löbtenz (Hg), Buchelsdorf (8).

Ranunculus sceleratus L.

**462. Phyt. ? Blütenhäufung, Phyllomanie, Verkürzung und Ver- dickung des Stengels. Urh.:? Steinau a. O.: Anger (S).

##463. ? Einzelne Früchtchen vergrößert. Urh.:? Steinau a. O.: Anger (S).

Ranunculus sardous Crtz. (= parvulus L).

*#464. Phyt. Vergrünung der Blüten, oft verbunden mit stark verkümmertem Wuchs. Urh.: Eriophyide. Jauer: Ober Poischwitz, zahl- reich (S).

Thalictrum angustifolium L. 465. Dipt. (C.H, 2447; Hie. 566). Urh.: Clinodiplosis thalictricola

Rübs. Breslau: Häselei (D), Rathener Wald (Sch); Maltsch a. O.: Wiesen jenseits des Hafens (S).

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 73

Berberideae. Berberis vulgaris L.

#466, Hem. ? (C. H. 2466?) Blätter nach oben längs eingerollt und verbeult. Tiere nicht mehr zu sehen. Urh.: Rhopalosiphum berberidis Kalt? Lüben: Kotzenau (Weg nach dem Schützenhause) (S).

Papaveraceae. Papaver Rhoeas L.

*467. Hym. (C.H. 2477; wie Hie. 618). Urh.: Aulax papaveris Perr. Grünberg: Mittelweg (S), Weite Mühle (Hg).

##468. ? Knospen verdickt, Blüten unentwickelt bleibend. Grünberg: zw. Hatzfeldtstraße und Lindeberg (S).

Papaver dubium L.

469. Hym. (C.H. 2481; Hie, 618). Urh.: Aulax papaveris Perris Grünberg: Grüner Weg, Ziegelberg, Bahndamm an der Lausitzer Str. (S), Kontopp (Hg); Jauer: Poischwitz, Klonitz (S).

#470. Hym. (C.H. 2482). Fruchtkapsel sehr schwach verdickt, mit kleinen einkammerigen eiförmigen Innengallen. Urh.: Aulax minor Hart. Grünberg: Pulverhaus (S).

Cruciferae. Thlaspi arvense L.

**471. ? Rand der Schötchen wellig gekräuselt. Urh.:? Grünberg: Kolzig (Hg), zw. Bahnhof und Dorf Lättnitz (S); Jauer: Scherberg bei Klonitz (S).

472. Col. (C.H. 2505; Hie. 801). Urh.: Ceutorrhynchus contractus. Marsh. Breslau: Skarsine, Weidenhof (D), Schön Ellguth (Remer); Jauer: Klonitz (S); Grünberg (S); Neusalz a. O.: Carolath (Hg); Sagan: Naum- burg a. B. (S); Görlitz: Leschwitz (S). [Wreschen: Wilhelmsau (Hg)].

*473. Col. (C. H. 2504). Kugelige Wurzelgallen. Urh.: Ceutor- rhynchus pleurostigma Marsh. Sagan: zw. Naumburg a. B. und Christian- stadt (S). (Nach Gerhardt, p. 354, ist der Käfer durch das ganze Gebiet häufig.)

Cochlearia armoracia L.

*#474, Hem.? Nach oben gerichtete Randrollungen der Grundblätter nicht blühender Pflanzen, verbunden mit starker Querrunzelung und Ver- beulung. Erzeuger nicht mehr zu sehen, jedenfalls Aphiden, Grünberg: Schuttplatz am „Ruh“schachte (S), Pirnig (Hg).

Alliaria officinalis D. C.

*475. Col.? (C. H. 251592), 1—2 cm lange spindelförmige An- schwellungen des Stengels und der Zweige. Grünberg: Pohles Gärt- nerei (Hg).

*476. Hem.? (C. H. 2512?) Vergrünung der Blüten. Urh.: Aphide? Grünberg: Gesundbrunnen (Hg).

74 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Sisymbrium officinale Scop.

477. Dipt. (C. H. 2516; Hie. 556). Urh.: Contarinia ruderalis Kieff. Breslau: Alte Oder, Michaeliskirche (D), Grüneiche (Grosser), Hundsfeld (D); Neurode (Hg); Grünberg: Burgstraße (S), Droschkau (Hg).

#478. Hem. (C. H. 2518). Verbildung des Blütenstandes durch Stauchung der verdickten Blütenstiele. Urh.: Aphis nasturtii Kalt? Grün- berg: nicht selten, z. B. Piastenhöhe, Lattwiese, Fließwiesen etc. (S).

*#479,- Col. Wurzelanschwellung mit mehreren Larvenhöhlen. Urh.: Baris laticolis Marsh. Grünberg: Sandgrube zw. Löbtenz und Schieß- haus (S).

Sisymbrium pannonicum Jaqu.

*480. Dipt. (C.H. 2532; wie Hie. 556). Urh.: Contarinia ruderalis Kieffl. Grünberg: zw. Erlbusch u. Naumburger Str. (S).

##48]. ? Schoten verkürzt, verkrümmt, an einer Stelle knotig ver- dickt. Grünberg: Wüster Weingarten an der Berliner Heerstraße (He). Sisymbrium Sophia L.

482. Dipt. (C. H. 2535, 2537; Hie. 557). Urh.: Contarinia ruderalis Kiefi. Grünberg: Grüner Weg, Klopsches Ziegelei, Bergschloßbrauerei (S), Läsgen (Hg); Neusalz a. O.: Bahnhof (S), Carolath (Hg).

Eruca saliva Mill.

##483,. Col. Kugelige Wurzelanschwellungen von Erbsengröße. Urh.: Ceutorrhynchus sp.? Grünberg: Marschfeld (S).

Diplotaxis muralis D. C.

*#484. Col. Kugelige Wurzelgallen. Urh.: Ceutorrhynchus sp.? Grün- berg: Bahndamm am Matthäiwege (2).

Brassica oleraeea L.

*485. Dipt. (C.H. 2573). Blüten angeschwollen. Urh.: Dasyneura raphanistri Kiefl. Grünberg: Sandgrube am Hohlwege, Bahndamın an der Lausitzer Str. (S), Marschfeld (Hg).

*486. Hem. (C. H. 2578). Verbeulung der Blätter, Verkrümmung und Vergrünung der Blüten, interessante Verbildungen der Schoten. Urh.: Aphis brassicae L. Grünberg: mehrfach, besonders Sandgrube am Hohl- weg und Bahndamm an der Lausitzer Str. (S).

Brassica oleracea f. gongylodes L.

##487, Col. ? Einzelne Glieder der Schoten angeschwollen. Mit kleinen kreisrunden Ausgangsöffnungen. Grünberg: Hohlweg (S). Brassica Rapa L. (campestris L).

*488. Col. (C. H. 2556). Kugelige Anschwellungen am Wurzelhalse. Urh.: Ceutorrhynchus pleurostigma Marsh. Breslau: Schafgotschgarten (D). Brassica Napus L.

*489. Dipt. (C. H. 2594; Hie. 392). Urh.: Dasyneura raphanistri Kieff. Breslau: Botan. Schulgarten (D).

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 75

*490. Col. (C. H. 2597). Kugelige Gallen am Wurzelhalse. Urh.: Ceutorrhynchus pleurostigma Marsh. Jauer: Klonitz (S).

Raphanus sativus L. f. radieula Pers.

#491. Dipt. (C. H. 2619). Urh.: Dasyneura raphanistri Kiefl. Grünberg: Schulgarten der Gemeindeschule V, Hohlweg, Goldne Krone (S), Luisental (Hg).

##499, Col. Längliche Schwellungen an der Wurzel fruchtender Pflanzen, mehrkammerig. Urh.: Baris laticollis Marsh. Grünberg: Schul- garten der Gemeindeschule V (S).

Raphanus Raphanisirum L.

493. Dipt. (C. H. 2626; Hie. 497). Urh.: Dasyneura raphanistri Kieff. Breslau: Schwarzwasser, Carlowitz (D); Grünberg: häufig (Hg u. S).

*494. Col. (C. H. 2629, (Hie. 795)). Urh.: Ceutorrkynchus pleu- rostigma Marsh. Breslau: Cawallen, Grüneiche (D); Grünberg: sehr häufig (Hg u. S); Jannowitz a. R. (D).

Nasturtium amphibium R. Brown.

*495. Dipt. (C. H. 2644). Weiße, schwammige Gallen im Blüten- stande oder an den Triebspitzen. Urh.: Dasyneura sisymbriü Schk. Neu- salz a. O.: Carolath (Hg).

Nasturtium silvestre R. Brown.

496. Dipt. (C. H. 2648; Hie. 469). Urh.: Dasyneura sisymbrii Schk. Zülz O/S. (B)!). Breslau: Oderkanal (D); Jauer: Poischwitz (S); Grünberg: nicht selten, z. B. Schießhaus, Rothenburg a. O. (S), Dammerau (Hg); Freystadt: Siegersdorf (S); Neusalz: Carolath (Hg).

Nasturtium palustre D. C.

497. Dipt. (C. H. 2652; Hie. 468). Urlı,: Dasyneura sisymbrii Schk. Groß Wartenberg (D); Grünberg: Rohrbusch, Kontopp (Hg); Frey- stadt: Tschiefer (Hg); Sagan: Naumburg a. B. (Hg).

Cardamine pratensis L.

*=498. Dipt. (C. H. 2663). Schoten angeschwollen; in ihnen gelb- rote Larven. Urh,: Cecidomyide. Wohlau: Sumpfwiesen; Strehlen: Töppen- dorf (Sch.); Grünberg: Schloßberg (Hg).

*499. Dipt. (C. H. 2665; (Hie. 398)). Urh.: Perrisia cardaminis Winn. Wohlau: Sumpfwiesen (Sch).

*500. Col. (C. H. 2668?) Auffällige längliche Verdickungen des Stengels, sowohl am Grunde als auch oben, und der Zweige und Blatt- stiele. Urh.: Ceutorrhynchus pectoralis Schult.? Grünberg: Heiners- dorf (S).

*501. Col. (C.H. 2669; Hie. 787). Einseitige, längliche, schwache Anschwellungen des Rindenparenchyms am untern Stengelteile. Urh.: Psylliodes napi Koch, Trebnitz: Groß Totschen (Pax).

1) Herr Seminarlehrer Buchs in Zülz O/S.

76 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

*502. ? (C. H. 2670). Blattrollung. Urh.:? Grünberg: Barndtsche Mühle (Hs). Cardamine pratensis L. var. paludosa Peterm.

*#503. Dipt. Schoten angeschwollen, mit gelbroten Larven. Urh.: Oecidomyide. Breslau: zw. Irrschnocke u. Münchwitz (Sch).

Cardamine amara L.

504. Dipt. (C. H. 2672; Hie. 397). Urh.: Perrisia cardaminis Winn. Grünberg: Straße nach Prittag, vorderer Rohrbusch (S), Drosch- kau (Hg).

*505. Col. (C. H. 2673; (Hie. 786)). Urh.: Psyllodes napi Koch. Grünberg: Schloßberg bei Bobernig (Hg).

Capsella Bursa pastoris Mönch.

506. Hem. (C. H, 2678; Hie. 310). Urh.: Aphis capsellue Kalt. Grünberg: Barndtsche Mühle, Marschfeld, Einsiedelbach (Hg), gern in Weingärten, so Goldne Krone etc. (S).

507. Phyt. (C. H. 2679; Hie. 69). Urh.: Eriophyes drabae Nal. Strehlen: Pitschenberg (Sch); Grünberg: Zahn; Freystadt: Tiergarten bei Carolath (Hg).

##508, Col. Etwa erbsengroße Gallen am Wurzelhalse, mit Larven. Urh.: Ceutorrhynchus sp.? Grünberg: In einigen Exemplaren in Gemein- schaft mit der Oeutorrh. pleurostigma - Galle an Raphanus Raph. am grünen Wege vor dem Rohrbusche (S).

Camelina microcarpa Andr.

509. Phyt. (C. H. 2683; Hie. 65). Urh.: Eriophyes drabae Nal. Grünberg: Rohrbusch, Kreuzkirchhof, Pirnig; Freystadt: Tschiefer (Hg).

*510. Dipt. (C.H. 2684; wie Hie. 556). Urh.: Contarinia ruderalis Kieff. Grünberg: Pirnig (Hg).

Stenophragma Thalianum Celak.

*511. Col. (C. H. 2696; (Hie. 799)). Urh.: Ceutorrhynchus atomus Bohem. Grünberg: Augustberg, Theresienhöhe, Schloiner Str., Grüner Weg (Hg).

Turritis glabra L.

512. Hem. (C. H. 2697; Hie. 359). Urh.: Aphide. Hirschberg: Querseiffen (D). Grünberg: Vorderer Rohrbusch (S), Schloßberg bei Bobernig (Hg).

_ Arabis hirsula Scop.

#513. Hem. (C. H. 2698; (Hie. 306)). Urh.: Aphide. Nimptsch: Torfwiesen bei Jeseritz (Sch).

Arabis arenosa Scop.

514. Phyt. (C. H. 2710; (Hie. 36). Urh.: Eriophyes drabae Nal. Großer Kessel im mährischen Gesenke (Sch); Grünberg: Schloßberg bei Bobernig Hg).

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 77

Erysimum cheiranthoides L.

*515. Dipt. (C. H. 2717). Stengelanschwellungen in der Infloreszenz, am Ende der Haupt- und auch der Nebenachsen; innere Markhöhlen mit zahlreichen, fast durchsichtigen weißen Larven. Urh.: Janetiella Forliana Trotter? Breslau: an der Michaeliskirche, Carlowitz (D).

##516. Col. Längliche Stengelanschwellungen in der Infloreszenz. Grünberg: beim Kugelfange, Kontopp (Hg).

#*517. Col. Mehrkammerige, längliche Anschwellungen an der Wurzel. Urh.: Baris laticollis Marsh. Grünberg: Alte Maugscht, Schulgarten der Gemeindeschule V, Sandgrube zw. Löbtenz u. Schießhaus (8).

#518. Col. (C. H. 2716). Fleischige, rundliche Gallen am Wurzel- halse. Urh.: Ceutorrhynchus pleurosligma Marsh.: Breslau: an der Michaelis- kirche, Carlowitz (D); Grünberg: Sandgrube zw. Löbtenz u. Schießhaus, Lattwiese, Blücherberg. Rohrbusch (S).

Erysimum hieraciifolium L.

#519. Col. (C. H. 2719). Längliche Anschwellungen der Inflores- zenzachse. Urh.: Coleoptere. Neusalz: Carolath (Hg).

##520. Col. Bis erbsengroße, kugelige Gallen an der Wurzel, wohl von Ceutorrhynchus pleurostigma Marsh. herrührend. Sagan: Boberufer bei Naumburg (S).

Alyssum calycinum L.

*521. Dipt.? (C. H. 2727?) Stengelanschwellungen. Grünberg: Lattwiese (Hg).

Berteroa incana D. C.

*522. Phyt. (C. H. 2733). Blüten vergrünt; mehr oder minder starke abnorme Behaarung. Urh.: Eriophyes drabae Nal. Grünberg: Maugschttal, Kreuzbach (Hg).

##523. Dipt. ? Mehr oder weniger stark verbildete Schötchen; im Innern derselben grauweiße Larven. Grünberg: Weingartenweg am Erl- busche (S).

#524, Col. ? Anschwellungen der Infloreszenzachse. Urh.: ? Grün- berg: Halbemeilmühle, Lattwiese (Hg).

525. Col. (©. H. 2734; Hie. 762). Urh.: Ceutorrhynchus pleurostigma Marsh. Grünberg: An vielen Stellen (Hg u. S); [Wreschen: Wil- helmsau (Hg)].

#526. Phyt. (C. H. 2736). Ziemlich große, halbkugelige Pocken auf der Blatt-Unter- und Oberseite, erineumartig behaart; auch auf Blüten und Früchte übergehend. Urh.: Eriophyide. Grünberg: Piastenhöhe, Marsch- feld (S), zw. Droschkau u. Zahn, Pirnig (Hg).

Hesperis matronalis L.

*527. Hem. ? (C. H. 2739?) Obere Blätter verzerrt, blasig kraus, besonders nach unten umgeschlagen. Urh.: Aphide ? Grünberg: Klein Heinersdorf (Hg).

718 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

##598. 2 Etwa 2 mm breite, ziemlich feste Blattrandrollung am Grunde des Blattes, oft bis zur Mitte oder darüber hinaus reichend. Urh.: ? Grünberg: Krautstraße (S).

Crassulaceae. Sedum Telephium L.

##529. Col. Starke Stengelverdickung im oberen Teile der Infloreszenz. Mit einer weißlichen Larve besetzt. Grünberg: Feldweg zw. Kruses Ziegelei und der Barndtschen Mühle (S). Sedum reflexum L.

530. Phyt. (C. H. 2760; Hie. 236). Urh.: Eriophyes destructor Nal. Grünberg: häufig (Hg, S); Freystadt: Lippen (Hg, M. Fieck); Parchwitz (S).

Saxifragaceae. Ribes Grossulariae L.

*531. Hem. (C. H. 2787). Endblätter der Triebspitzen gekraust, gekrümmt und gehäuft. Urh.: Aphis grossulariae Kalt. Grünberg: häuflg (Hg, S).

*532. Hem. (C.H. 2789). Auftreibungen der Blattfläche nach oben, rot gefärbt. Urh.: Myzus ribis L. Grünberg: Maugscht (Hg).

Ribes nigrum L.

533. Hem. (C. H. 2794; Hie. 355). Urh.: Myzus ribis L. Grünberg: Rohrbusch, Kontopp, Sauermanns Mühle (Hg).

Ribes alpinum L.

#534. Phyt. (C.H. 2800). Stark angeschwollene, kugelige Knospen von Haselnußgröße, die teils später auswachsen, teils in der Entwickelung stehen bleiben, sich bräunen und vertrocknen. Urh.: Eriophyes ribis Nal. Grünberg: sehr häufig, besonders Freystädter Chaussee (Hg, S).

*535. Hem. (C. H. 2802; wie Hie. 355). Urh.: Myzus ribis L. Grünberg: am Fuße des Augustberges, Lattwiese (S), Walters Berg (Hg). Ribes rubrum L.

*536. Hem. (C.H. 28306). Blätterschöpfe an den Triebspitzen. Urh.: Aphis grossulariae Kalt. Grünberg: Mühlweg u. a. ©. (S); Jauer: Poisch- witz (S).

537. Hem. (C. H. 2808; Hie. 354). Urh.: Myzus ribis L. Groß Wartenberg (D); Salzbrunn (D); Wölfelsgrund (D); Hirschberger Tal (D); Jauer (S); Grünberg (S); überhaupt wohl überall verbreitet und häufig. Ribes aureum Pursh.

*538. Hem. (C.H. 2809). Triebspitzen-Blätterschöpfe. Urh.: Aphis grossulariae Kalt. Breslau: Botan. Garten (Pax); Schmiedeberg (S); Grün- berg: häufig, z. B. Polnisch Kesseler Str. (S), Alte Maugscht (Hg); Neu- salz a. ©. (S).

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 79

Rosaceae, Spiraea salicifolia L.

539. Hem. (C.H. 2822; Hie. 358). Urh.: Macrosiphum ulmariae Schk. Jannowitz a. R., Agnetendorf (D); Grünberg: Deutsch Kessel (Hg), Piasten- höhe (S).

Ulmaria pentapelala Gilib (— Spiraea Ulmaria L.).

540. Dipt. (C. H. 2838; Hie. 534). Urh.: Perrisia pustulans Rübs. Maltsch a. ©. (S); Grünberg: Rohrbusch u. a. ©. (S), Barndtsche Mühle, Neue Maugscht, Deutsch Kessel (Hg).

541. Dipt. (C.H. 2639; Hie, 585). Urh.: Perrisia ulmariae Bremi. Gleiwitz (Cz); Breslau: Schottwitz, Schwoitsch, Cawallen (D); Maltsch a. O. (S); Jannowitz a.R. (D).

Pirus communis L.

*542. Phyt. (C.H. 2863). Enge, knorpelige Blattrandrollungen nach oben, besonders am Blattgrunde. Urh.: Epitrimerus piri Nal. Breslau: Wilhelmsruh, hinter Schafgotsch-Garten (D); Zobten: Geiersberg (D); Maltsch a. ©. (S); Grünberg: Klopsches Ziegelei (Hg), Lausitzer Str., Dammerau (S).

543. Dipt. (C. H. 2864; Hie. 474). Urh.: Perrisia piri Bouche. Breslau: Scheitnig (D); Neurode (Hg); Hermsdorf u.K. (D); Grünberg: Klopsches Ziegelei, Aufzug (Hg); Neusalz: Carolath (Hg).

544. Phyt. (C. H. 2371; Hie. 163). Urh.: Eriophyes piri Pagenst. Breslau: Lissa (D); Maltsch a. ©. (S); Grünberg: Goldne Krone, Schiller- höhe, Heinersdorf (S), Rogsche Heide (Hg); Neusalz: Carolath, Lippen (Hg). Pirus Malus L.

*545. Hem. (C. H. 2833). Unregelmäßige Anschwellungen am Stamme und an den Zweigen, „Krebs“. Urh.: Myzoxylus laniger Hausm. Breslau: Botan. Garten (Pax). Jedenfalls viel weiter verbreitet.

546. Dipt. (C.H. 2884; Hie. 475). Urh.: Perrisia mali Kieff. Breslau: am Schwarzwasser nahe Cawallen (D).

#547. Phyt. (C. H. 2892; Hie. 165). Urh.: Eriophyes malinus Nal. Grünberg: Cucave (Hg).

Pirus acerba D.C.

*#548, Dipt, (wie C.H.2834). Urh.: Perrisia mali Kiell.? Salzbrunn (D).

549. Hem. (C.H. 28398; Hie. 336). Urh.: Aphis piri Fonsc. Breslau: Schwarzwasser, Hundsfelder Chaussee (D).

Pirus (Sorbus) torminalis D. C.

550. Phyt. (C. H. 2902/2903; Hie. 244). Urh.: Eriophyes piri Pagenst, oder var. variolata Nal. Zobten: Mittelberg (D).

Pirus (Sorbus) aucuparia Gaertn.

551. Hem. (C. H. 2908; Hie. 357). Urh.: Aphis sorbi Kalt. Breslau: Sibyllenort (D); Jannowitz a. R. (D), Forstlangwasser (Liebig); Schreiber- hau: Mariental (D); Flinsberg (D); Grünberg: an vielen Orten (Hg, S).

80 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vater]. Cultur.

552. Dipt. (C. H. 2909; Hie. 560). Urh.: Contarinia sorbi Kielf. Agnetendorf (D); Grünberg: Rohrbusch, Kolzig (Hg).

553. Phyt. (C.H. 2911; Hie. 241). Urh.: Eriophyes sp. Wölfelsgrund (selten); Flinsberg (D); Grünberg: häufig (S).

554. Phyt. (C. H. 2912; Hie. 240). Urh.: Eriophyes piri Pagenst. Grünberg: nicht selten, besonders Rohrbusch (S), Blücherberg, Deutsch Kessel (Hg).

Pirus (Sorbus) americana Marsh.

##555. Hem. (wie Hie. 357). Blätter gekraust. Urh.: Aphis sorbs Kalt. Breslau: Botan. Garten (Lingelsheim).

Crataegus Oxyacantha L.

556. Dipt. (C. H. 2942; Hie. 412). Urh.: Perrisia crataegi Winn. Dyhernfurt (S); Jauer: Poischwitz (S); Parchwitz (S); Lüben: Kotzenau (S); Neusalz a. ©. (S), Carolath (Hg); Freystadt (S).

557. Phyt. (C. H. 2948; Hie. 84). Urh.: Eriophyes goniothorax Nal. Berndorf bei Hohenwiese (D); Grünberg: Rohrbusch (S), Dammerau (Hg).

558. Hem. (C. H. 2953; Hie. 314). Urh.: Myzus oxyacanthae Koch. Breslau: Bischwitz (D); Neumarkt: Nippern (D).

Crataegus monogyna Jaqu.

559. Phyt. (C. H. 2948; Hie. 82). Urh.: Eriophyes gomiothorax Nal. Steinseiffen (Hie.); Grünberg: Rohrbusch (Hg).

560. Hem. (C.H. 2954; Hie. 313). Urh.: Aphis piri Fonsc. Breslau: Masselwitz (D); Grünberg: Augustberg (Hg).

Rubus Idaeus L.

#561. Hym. (C. H. 2963; (Hie. 736)). Urh.: Diastrophus rubi Hart. Grünberg: Pirnig (Hg).

**562. Hem. Blätterhäufungen, besonders an den Triebspitzenenden, Blätter zurückgeschlagen und gerollt. Urh.: Aphis sp. Grünberg: Holz- manns Ziegelei (S).

563. Dipt. (C. H. 2964; Hie. 504). Urh.: Zasioptera rubi Heeger. Breslau: Riemberg (Remer); Wartha (D); Hermsdorf u. K. (D), Heinrichs- burg (Hg); Grünberg: Rohrbusch u. a. O. (Hs, S).

*564. Dipt. (C.H. 2966; (Hie. 506)). Urh.: Perrisia plicatriv H. Löw. Grünberg: Weite Mühle, Aufzug bei Kontopp (Hg).

#565. Phyt. (C. H. 2967; (Hie. 202)). Urh.: Eriophyes gracilis Nal. Grünberg: Erlbusch, Augustberg, Rohrbusch (Hg).

*566. Hem. (C.H. 2968). Die beiden kräftig gedrehten Blatthälften sind unvollkommen nach unten geschlagen und um den Mittelnerv gedreht. Urh.: Nectarosiphum rubi Kalt. Agnetendorf (D); Grünberg: Rotes Wasser, Maugschttal (Hs).

567. Phyt. (C. H. 2969: Hie. 201). Urh.: Eriophyes gibbosus Nai. Grünberg: Augustberg (Hg).

ll. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 81

Kubus sulcatus Vest.

**568. Dipt. (wie Hie. 503). Urh.: Lasioptera rubi Heeg. Glogau (Koch).

569. Phyt. (C. H. 2974; Hie. 205). Eriophyes gibbosus Nal. Grün- berg: Rohrbusch (Hg).

Rubus frulicosus L.

570. Dipt. (C. H. 2976; Hie. 505). Urh.: Lasioptera rubi Heeg. Grünberg: Halbemeilmühle (Hg).

571. Dipt. (C. H. 2978; Hie. 506). Urh.: Perrisia plicatrix H. Löw. Grünberg: Lausitzer Str. (Hg), Barndtsche Mühle (Hg, S).

*572. Hem. (C. H. 2979), wie No. 566. Urh.: Nectarosiphum rubi Kalt. Grünberg: Holzmanns Ziegelei (Hg).

573. Phyt. (C. H. 2982; Hie. 203). Urh.: Eriophyes gibbosus Nal. Grünberg: Grüner Weg, Holzmanns Ziegelei (S), Rohrbusch, Kontopp (Hg). Rubus dumeltorum L.

**574. Dipt. (wie Hie. 503). Urh.: Zasioptera rubi Heeg. Grünberg: Bergwerksziegelei (Hg).

Rubus vestitus > Beyeri R. Mikani Köhl. f. Güntheri.

*575. Phyt., wie No. 565. Urh.: Eriophyes gracilis Nal. Mense- gebirge: auf einem Steinhaufen an der Nesselgrund-Sägemühle (Falkenheyn) (Baenitz).

Rubus caesius L.

##576. ? Vergrünung der Blüten. Urh.: ? Grünberg: Lattwiese, Barndtsche Mühle (Hg), Rohrbusch, Lawaldauer Str. (S).

577. Hym. (C. H. 3023; Hie. 736). Urh.: Diastrophus rubi Hart. Breslau: Klein Heidau (Sch); Glogau (Koch).

578. Dipt. (C. H. 3024; Hie, 503). Urh.: Lasioptera rubi Heeg. Breslau: Klein Heidau (Sch.); Wohlau: Glumbowitzer Forst (D), Stadt- forst (S); Grünberg: Lindebusch, Schloßberg (Hg), Rohrbusch, Barndtsche Mühle (S); Görlitz: Königshainer Berge (S).

#579. Dipt. (C. H. 3025; (Hie. 506)). Urh.: Perrisia plicatrix H. Löw. Breslau: zw. Schotiwitz und Bischwitz (D); Grünberg: Steinbachs Vor- werk (Hg).

**580. Hem. Zurückrollungen und Faltungen der z. T. sehr kleinen Blätter. Urh.: Aphis urticae Kalt. Grünberg: Oderwald (Hg), Rotes Wasser, Barndtsche Mühle (S).

*581. Phyt. (C. H. 3028; (Hie 200)). Urh.: Eriophyes gibbosus Nal. Nimptsch (Hie); Grünberg: Rotes Wasser (Hg).

Rubus caesius >< Idaeus.

*#582, Dipt. (wie Hie. 503). Urh.: Lasioptera rubi Heeg. Glogau (Koch).

1910. 6

33 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Fragaria vesca L.

*583. Phyt.? (C.H. 3058?). Blattfaltung. Urh.: Tarsonemus fragariae Zimmerm.? Grünberg: Barndtsche Mühle, Telegraphenberg; Freystadt: Hohenborau (Hg).

Fragaria spec. (Gartenerdbeere).

*584. Phyt. Kräuselung, Fältelung und Einziehung der Blattfläche, abnorme Behaarung der Blattunterseite. Urh.: Tarsonemus fragariae Zimmerm. Grünberg: Garten der Kronen-Apotheke u. a. O. (S).

Potentilla reptans L.

585. Hym. (C. H. 5061; Hie. 621). Urh.: Aestophanes potentillae Retz. Jauer: Poischwitz (S); Grünberg: Rohrbusch, Matthäiweg (8), Barndt- sche Mühle, Oderwald (Hs).

Potentilla erecta Dalla Torre (= P. silvestris Necker).

586. Hym. (C. H. 3064; Hie. 622). Urh.: Xestophanes brevitarsus Thoms. Schweidnitz: Tuchmühle (Schöpke); Grünberg: Lawaldauer Chaussee (Hg), Heinersdorf (S).

Potentilla erecta > procumbens (= P. suberecta Zimm.).

#587. Hym. (wie Hie. 622). Urh.: Xestophanes potenüllae Retz. Juliusburg (Sch); Grünberg: Lawaldauer Str. (Hg).

Potentilla argentea L.

**588. ? Vergrünung der Blüten. Grünberg: Grünbergshöhe (Hg), Waldschloß (S); Freystadt: Hohenborau (Hg).

589. Dipt. (C.H. 3073; Hie. 487). Urh.: Perrisia potentillae Wacht!l. Grünberg: Boothes See’chen, Zahner See (Hg), Barndtsche Mühle, Irrgarten (S).

590. Hym. (©. H. 3074; Hie. 619). Urh.: Diastropkus Mayri Reinh. Fürstenstein (Grosser); Eulengebirge (Bruno Schröder); Grünberg: Alte Lessener Str., Blücherberg, Weite Mühle, Kontopp (Hg).

Potentilla opaca L.

#59]. Hym. (wie Hie. 621). Urh.: Xestophanes potentillae Retz. Grünberg: Dickstrauch, Grünwald (Hg).

Potentilla silesiaca Uechtr. .

*#592. Hym. (wie Hie. 621). Urh.: Xestophanes potentillae Retz. Grünberg: Schwedenschanze (am Blattstiele) (Hg).

Potentilla arenaria Borkh.

=#593. Hym. (wie Hie. 621). Urh.: Xestophanes potentillae Retz. Grünberg: Dickstrauch (Hs).

Potentilla anserina L.

##594, ? Randrollungen der Fiederblättchen nach unten, mit Ent- färbung einzelner, kleiner Blattflächen; Zerrung der Adern. Grünberg: Deutsch Kessel (S), Steinbachs Vorwerk, Sibirien, Rohrbusch (Hg). Potentilla Wiemanniana Günth. et Schumm.

*#595. Hym. (wie Hie. 619). Urh.: Diastrophus Mayri Reinh. Grün- berg, Pirnig (Hg).

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 833

Geum urbanum L.

“#596. Dipt. Blätterschopfbildung an der Stengelspitze. Blätter der Länge nach nach oben zusammengefaltet. Mittelrippe geschlängelt und an einzelnen Stellen verdickt. Urh.: Conlarinia sp. Grünberg: Rohrbusch (S).

##597. Phyt.? Blüten vergrünt. Urh.? Grünberg: Läsgen, Nittritz (Hg).

*598. Dipt. (C. H. 3087; (Hie. 441)). Urh.: Cecidomyide. Grünberg: Augustberg (Hg).

599. Phyt. (C. H. 3088; Hie. 130). Urh.: Eriophyes nudus Nal. Juliusburg: Schlottau (Sch); Grünberg: Dammerau, Boyadel (Hg), Tolles Feld, Rotes Wasser (S).

##600. Hem. Blätter gekraust und gerollt. Urh.: grüne Aphiden. Grünberg: Große Fabrikstraße (S).

Geum rivale L.

**601. Phyt.? Stauchung, Durchwachsung und Vergrünung der Blüten; diese auch gefüllt. Grünberg: Lindebusch, auf gerodeten Stellen (Hg).

##602. Hem.? Blätter kraus, geballt. Urh.: Aphiden? Lindebusch: an gerodeten Stellen (Hg). (Mit gerollten Blättern: Rohrbusch (Hg)). Alchemilla vulgaris L.

**603. ? Blattstielverdickung. Grünberg: Wittgenau (Hg). Agrimonia Eupatoria L.

##604. ? Blätter an den Triebspitzen gerollt. Grünberg: Oderwald, Schloßberg bei Bobernig (Hg).

Sanguisorba o/fficinalis L.

605. Dipt. (C.H. 3100; Hie. 550). Urh.: Perrisia sanguisorbae Rübs. Breslau: Pirscham (D), Ransern (Pax).

606. Hym. (C. H. 3101; Hie. 766). Urh.: Tenthredinide. Neurode (Hg). Rosa alba L.

#607. Dipt. (C. H. 3123; (Hie. 499)). Urh.: Perrisia rosarum Hardy. Grünberg: Pfeifferberg (Hg).

Rosa centifolia L.

#=#*608. Hym. (wie Hie, 699). Urh.: Rhodites spinosissimae Gir. Grün- berg: Steinberg (S).

*609. Hym. (C.H. 3130; (Hie. 701)). Urh.: Rhodites centifoliae Hart. Grünberg: Aumühle (S).

Rosa pomifera Herım.

**610. Hym. (wie Hie. 741). Url.: Blennocampa pusilla Klug. Neu- salz: Carolath (Hg).

**611. Dipt. (wie Hie, 499). Urh: Perrisia rosarum Hardy. Grün- berg: Erlbusch (Hg).

#*612, Hym. (wie Hie. 692). Urh.: Rhodites eglanteriue Hart. Grün- berg: Marschfeld; Freystadt: Dombrowa (Hg).

*613. Hym. (C. H. 3133; (Hie, 698)). Urh.: Rhodites rosae L, Grünberg: Marschfeld, Wittgenau (Hg), zw. Grünbergshöhe und Neuwaldau (S).

6*

84 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

##61]4, Hym. (wie Hie. 699). Urh,: Rhodites spinosissimae Gir. Grün- berg: Augustberg, Lausitzer Str., Wittgenau (Hg). Rosa tomentosa Smith.

##615,. Hym. Krümmung und Bräunung des Terminalendes einzelner Zweige, an der Innenseite mit den Eitaschen einer Blattwespe besetzt. Grünberg: Pulverhaus (S).

616. Dipt. (C. H. 3141; Hie. 502). Urh.: Perrisia rosarum Hardy. Grünberg: Halbemeilmühle, Schertendorfer Str. (Hg), Boothes See’chen usw, (S).

#617. Hym. (C.H. 3142; (Hie. 733)). Urh.: Rhodites rosae L. Grün- berg: Grünbergshöhe, Rohrbusch, Boothes See’chen (S), Pirnig (Hg); Frey- stadt: Neusalzer Oderwald (Hg).

618. Hym. (C. H. 5144; Hie. 731). Urh.: Rhodites eglanteriae Hart. Wölfelsgrund (D); Grünberg: häufig, besonders Holzmanns Ziegelei (hier auch an Kelchblättern) (S); Freystadt: Lippen (Hg).

#619. Hym. (C.H. 3145; (wie Hie. 699)). Urh.: Rhodites spinosissimae Gir. Grünberg: Marschfeld (Hg), Alte Maugscht, Berliner Chaussee, Boothes See’chen ({S).

##620. Hem. Blätter runzelig, kraus. Urh.: Aphis spec. Grünberg: Bergwerks-Ziegelei, Lindebusch (Hg).

Rosa umbelliflora Swartz.

##62]. Hym. (wie Hie. 741). Urh.: Blennocampa pusilla Klug. Grün- berg (Hg).

622. Hym. (C.H, 3146, Hie. 733). Urh.: Rhodites rosae L. Grün- berg: Wittgenau, Steinbachs Vorwerk, Dammerau, Grünwald bei Kolzig (Hg); Neusalz: Carolath (Hg).

623. Hym. (€. H. 3147; Hie. 732). Urh.: Rhodites eglanteriae Hart. Grünberg: Alte Schloiner Str., Kontopp, Dammerau (Hg); Freystadt: Herzogs- waldau (Hg).

624. Hym. (C.H. 3148; Hie. 734). Urh.: Rhodites spinosissimae Gir- Grünberg: Lawaldauer Chaussee (Hg).

Rosa rubiginosa L.

#625. Hym. (C. H. 3155; (wie Hie. 753)). Urh.: Rhodies rosae L. Grünberg: Grüner Kreuzkirchhof, Patzgall ($).

626. Hym. (C.H. 3156; (Hie. 724?)). Urh.: Rhodites Mayri Schlecht. Grünberg: Lawaldauer Str. (Hg), Patzgall, Kruses Ziegelei (S).

#627. Hym. (C. H. 3158, (wie Hie. 732)). Urh.: Rhodites eglanteriae Hart. Grünberg: Lawaldauer Chaussee (Hg), Grüner Kreuzkirchhof (S). Rosa sepium Thuill.

*625. Hym. (C.H. 3164; (Hie. 698)). Urh.: Rhodites rosae L. Grün- berg: Mesche (Hg).

629. Hym. (C. H. 3165; Hie. 729). Urh.: Rhodites Mayri Schl. Grünberg: Beuchelts Fabrik (Hg).

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 35

630. Hym. (C. H. 3166; (Hie. 727)). Urh.: Rhodites rosarum Gir. Grünberg: Kontopp (Hg).

#631. Hym. (C. H. 3167; Hie. 726). Urh.: Rhodites eglanteriae Hart. Grünberg: Beuchelts Fabrik (Hg).

Rosa inodora Fries.

#632. Hym. (C.H. 3173; (Hie. 719)). Urh.: Rhodites rosae L. Grün- berg: Hinterhorst bei Pirnig (Hg). Rosa tomentella Leman.

#633. Dipt. (C. H. 3175, (Hie. 500)). Urh.: Perrisia rosarum Hardy, Grünberg: Barndtsche Mühle (Hg).

*634. Hym. (C.H. 3176). Urh.: Rhodites rosae L. Grünberg: Oder- wald (Hg).

635. Hym. (C.H. 3179; Hie. 700). Urh.: Rhodites spinosissimae Hart. Grünberg: Dammerau (Hg).

Rosa canina L.

##636. Hym. (vergl. Nr. 615). Urh.: Tenthredinide. Grünberg: häufig, besonders 1908, z. B. Augustberg, Ochelhermsdorfer Chaussee, Poln. Kesseler Str. (S).

##637. ? Kräuselung der Fiederblätichen, verbunden mit Einziehung des Randes und Zerrung der Rippen. Grünberg: Am Hirschberge (S).

638. Hym. (C. H. 3183; Hie. 740). Urh.: Blennocampa pusilla Klug. Grünberg: Schwedenschanze, Pirnig; Freystadt: Carolath (Hg).

639. Dipt. (C. H. 5186; Hie. 500). Urh.: Perrisia rosarum Hardy. Jannowitz a. R. (D); Grünberg: verbreitet, z. B. Ziethenstr., Bergschloß- brauerei (S), Steinbachs Vorwerk, Marschfeld (Hg); Neusalz (S).

640. Hym. (C. H. 3157; Hie. 698). Urh.: Rhodites rosae L. Glei- witz (Cz); Jannowitz a. R. (D); Jauer: Poischwitz, Klonitz (S); Glogau: Kottwitz (S); Grünberg: sehr häufig (Hg, S).

640a. An var. biserrata Merat. Grünberg: Wittgenauer Berge (Hg).

*641. Hym. (C. H. 3189; (wie Hie. 709)). Urh.: Rhodites rosarum Gir. Grünberg: Ziethenstr., Luisenhöhe (S), Rohrbuschweg (Hg); Neu- salz (S).

642. Hym, (C. H. 3191; Hie. 697). Urh.: Rhodites eglanteriae Hart. Neurode (Hg); Jauer: Poischwitz, Klonitz (S); Grünberg: sehr häufig (Hg, S); Freystadt (Hg); Neusalz (Hg).

642a. An f. sclerophylla Scheutz. Grünberg: Heinersdorf (Hg).

643. Hym. (C. H. 3192; Hie. 699). Urh.: Rhodites spinosissimae Gir, Breslau: Drachenbrunn (D); Neurode (Hg); Grünberg: Lawaldauer Chaussee (Hg), Piastenhöhe u. a. O. (S); Naumburg a. B. (Hg).

643a. An f. sclerophylla Scheutz. Grünberg: Löbtenz (Hg).

**644, Hem. Längsrollungen der Blätter nach unten. Urh.: Aphis sp. Grünberg: nicht selten, z. B. Löbtenz, Oderwald etc. (S).

36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Rosa dumetorum Tluill.

645. Hym. (C. H. 3199; Hie. 741). Urh.: Blennocampa pusilla Klug. Grünberg: Schloßberg (Hg).

#646. Hym. (C. H. 3203; (Hie. 709)). Urh.: Rhodites rosarum Gir. Jauer: Klonitz (S).

Rosa corüfolia Fries.

##647. Dipt. (wie Hie. 500). Urh.: Perrisia rosarum Hardy. Grün- berg: Lausitzer Str. (Hg).

**648, Hym. (vergl. No. 615). Urh.: Tenthredinide. Grünberg: Pulver- haus (S).

649, Hym. (C. H. 3208; Hie. 704). Urh.: Rhodiles rosae L. Grün- berg: Halbemeilmühle, Barndtsche Mühle, Seiffersholz (Hg).

650. Hym. (C. H. 3209; Hie. 705). Urh.: Rhodites rosarum Gir. Grünberg: Lausitzer Str. (Hg).

651. Hym. (C. H. 3210; Hie. 705). Urh.: Rhodites eglanteriae Hart. Neurode (Hg); Grünberg: Blücherberg, Steinbachs Vorwerk (Hg); Freystadt: Hohenborau (Hg).

=#652. Hym. (wie Hie. 701). Urh.: Rhodites centifoliae Hart. Grün- berg: Barndtsche Mühle (Hg).

653. Hym. (C.H. 3211; Hie. 706). Urh.: Rhodites spinosissimae Gir. Grünberg: Steinbachs Vorwerk, Schertendorfer Str., Augustberg, Seiffers- holz (Hg).

Rosa cinerea Rap.

##654. Hym. (wie Hie. 698). Urh.: Rhodites rosae L. Grünberg: Grünwald bei Kolzig (Hg).

Rosa glauca Vill.

655. Hym. (C. H. 5208; Hie. 714). Urh.: Rhodites rosae L. Neu- rode (Hg); Grünberg: Oderwald (Hg); Neusalz; Carolath (Hs).

656. Hym. (C. H. 5210; Hie. 713). Urh.: Rhodites eglanteriae Hart- Breslau: Schafgotsch-Garten (D); Jannowitz a. R. (D); Grünberg: Blücher- berg, Lawaldauer Str., Säure (Hg).

657. Dipt. (C. H. 3212; Hie. 501). Urh.: Perrisia rosarum Hardy. Neusalz: Carolath (Hg).

An f. complicata Christ. Grünberg: Rohrbusch, Wittgenauer Berge, Läsgen (Hg).

658. Hym. (C.H. 3215; Hie. 715). Urh.: Rhodites spinosissimae Gir. Grünberg: Säure, Wittgenau (Hg).

An f. subcanina Christ. Neurode (Hg).

Rosa cinnamomea L.

##659. Dipt. (wie Hie. 499). Urh.: Perrisia rosarum Hardy. Grün- berg: Säure, Erlbusch (Hg).

*660. Hym. (C.H. 3217; (Hie. 702)). Urh.: Rhodites eglanteriae Hart. Grünberg: Säure, Boothes See’chen (8), Erlbusch (Hg).

II. Abteilung Zoologisch-botanische Sektion. 87

##661. Hym. (vergl. No. 615). Urh.: Tenthredinide. Grünberg: Pulver- haus (S).

##662. Dipt. Stark hervortretende spindelförmige Anschwellung der Stämmchen, besonders im unteren Teile; unter der Rinde mit zahlreichen kleinen Larvenhöhlen. Grünberg: Säure, alte Schloiner Straße (S).

Rosa rubrifolia Vill.

#663. Hym. (C.H. 3216; (Hie. 725)). Urh.: Rhodites rosae L. Hirsch- berg: Brückenberg (D).

Rosa alpina X canina.

##664, Hym. (wie Hie. 698). Urh.: Rhodites rosae L. Neurode (Hg). Prunus domestica L.

*665. Hem. (C. H. 3277). Gerollte und gekräuselte Blätter, meist an Wurzelschößlingen. Urh.: Aphis cerasi Schrk. Grünberg: überall ver- breitet (Hg, S).

666. Phyt. (C.H. 3279; Hie. 182). Urh.: Eriophyes similis Nal. Jauer: Poischwitz (S); Grünberg: Rogsche Heide (Hg).

Prunus spinosa L.

#667. Dipt. (C. H. 3232). Spindelförmige Galle, gebildet aus den genäherten, umeinander gelegten, oft rotgesprenkelten jungen Blättern am Ende der Zweige. Weiße, gesellige Larven. Urh.: Perrisia tortrix F. Löw. Breslau: Wilhelmsruh (D); Grünberg: Augustberg (Hg).

*668. Dipt. (C. H. 3283). Eiförmig kugelige, kaum erbsengroße Knospengallen mit aufgesetztem Spitzchen, grün; am Grunde von kurzen, braunen Schuppen umgeben. Reife Anfang August. Die Mücken schlüpfen durch seitliche Öffnungen. Urh.: Asphondylia prunorum Wachtl. Wohlau: Dyhernfurt (S); Grünberg: Blümelfeld, Erlbusch, Rohrbusch, Schillerhöhe (S); Neusalz: Alte Fähre (S).

669. Hem. (C.H. 3290; Hie. 353). Urh.: Aphis cerasi Schrk. Grün- berg: nicht selten, z. B. Piastenhöhe, Erlbusch (S), Wittgenau (Hg).

670. Phyt. (C.H. 3293, Hie. 187). Urh.: Eriophyes padi Nal. Janno- witz a. R. (D); Grünberg: Rohrbusch, Läsgen (Hg), Einsiedelbach (S).

671. Phyt. (C. H. 3294; Hie. 188). Urh.: Eriophyes similis Nal. Lissa (D); Jauer: Poischwitz (S); Grünberg: Rauherei, Läsgen (Hg) und v.a. 0. (S); Freystadt: Hohenborau (Hg).

672. Dipt. (C.H. 3295; Hie. 488), Urh.: Putoniella marsupialis F. Löw. Breslau: Carlowitz, Wilhelmsruh, Weidenhof und a. ©. (D); Grünberg: Pirnig (Hg).

Prunus persica Sieb et Zuce.

*673. Hym. (C,H. 3303). Zurückrollung, Kräuselung und Querfaltung, besonders der jüngeren Blätter. Urh.: Aphis persicae Fonsc. Jauer: Poisch- witz (S); Grünberg: häufig (S).

Prunus avium L.

88 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vater]. Cultur.

674. Hem. (C. H. 5305; Hie. 552). Urh.: Myzus cerasi F. Grün- berg: sehr häufig (Hg, S).

Prunus Cerasus L.

675. Hem. (C. H. 3508; (wie Hie. 352)). Urh.: Myzus cerasi F. Jannowitz a. R. (D); Grünberg: sehr häufig (Hg, S).

#*676. Phyt. Erineum auf der Unterseite der Blätter. Urh.: Erio- phyes sp. Freystadt: Hohenborau an einem Chausseebaum beim „Pollack“ (Hg). Prunus Mahaleb L.

*#677. Hem. Rollungen und Schopfbildungen der Blätter an den Zweigenden, dicht mit Aphiden besetzt. Urh.: Aphis sp. Grünberg: Piasten- höhe, Schützenplatzweg (S), Heiders Berg (Hs).

Prunus Padus L.

*678. Hem. (C. H. 3313). Gekräuselte, zurückgerollte, beulige Blätter, mit weißbestäubten Läusen dicht besetzt. Urh.: Aphis padi L. Charlottenbrunn (D); Grünberg: besonders Rohrbusch, Piastenhöhe etc. (S).

679. Phyt. (C. H. 3314; Hie. 185). Urh.: Eriophyes padi Nal. Jauer: Ndr. Poischwitz, Semmelwitz (S); Grünberg: Barndtsche Mühle, Rotes Wasser, Läsgen (Hg, S).

680. Phyt. (C. H. 3315; Hie. 154). Urh.: Eriophyes padi Nal. Riesen- gebirge: Berndorf, Agnetendorf (D); Grünberg: Einsiedelbach, Barndtsche Mühle (S), Läsgen, Grünwald (Hg).

7. Sitzung am 8. Dezember 1910. Herr Th. Schube sprach zunächst über

Ergebnisse der Durchforschung der schlesischen Gefässpflanzenwelt im Jahre 1910.

Meine Hoffnung, in diesem Jahre wieder einmal reichere Beiträge aus eigener Beobachtung liefern zu können, ist leider nicht in Erfüllung ge- gangen; die verhältnismäßig geringe Zahl schöner Tage mußte ich vor- wiegend auf „Waldbuch‘-Studien verwenden, um darauf bezügliche An- gaben, insbesondere die so wenig zuverlässigen der Herren Conwentz und Gürich, nachzuprüfen, wobei ich mich größtenteils in floristisch schon stark durchforschtem Gelände zu bewegen hatte. Glücklicherweise wurde mir aber wieder reichlich Unterstützung zuteil, insbesondere seitens der Herren 'Buchs-Zülz (B.), Rothe -Bettlern (R.), Schalow - Eisenberg (Sw.), Schmattorsch-Königshütte (Sm.), Schöpke-Schweidnitz (Sp.), Schu- bert-Bielschowitz (Sch.) und Werner-Altgleiwitz (W.); kleinere Beiträge, z. T. gar manches Interessante enthaltend, lieferten die Herren Alt-Bunzlau, Brösicke-Niefe, Burda-Reichtal, Czmok-Gleiwitz, Keilholz-Katscher, Koch-Glogau, Kruber-Hirschberg, Lischka-Schmograu, Meyer-Dembio, M. Pfeiffer-Steinau a. O., Richters-Breslau, Rother-Breslau, Schmidt- Grünberg, Schröder-Breslau, Spribille-Breslau, Tischler-Rodeland,

Il. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 89

Uttendörfer-Niesky und Winterstein-Minken. Herr Prof. Spribille sorgte auch wieder eifrig für die Erweiterung des Rubusbestandes unsers Herbars. Allen genannten Herren sei auch hier bestens gedankt!

Oystopteris fragilis. Bunzlau: Gemäuer in Schöndorf (R.)!

Aspidium Dryopteris. Militsch: Rev. Pechofen mehrfach!; Karlsmarkt: Althammer! (R.); Frankenstein: Wald bei Haunold (Kruber); Münster- berg: Schönjohnsdorfer Forst (Sw.).

A. Phegopteris. Frankenstein (wie vor.); Münsterberg (desgl.); Kon- stadt: Reinersdorf (R.)!

A. montanum. Lauban: Langenöls (R.)!; Rybnik: Forsthaus Gr. Du- bensko (Sm.)!

A. Filix mas v. remotum. Zabrze: Chudow (Sch.)!; Rybnik: Czer- wionka (Sm.)!; f. heleopteris Nicolai: Althammer (Sch.)!

A. cristatum. Gleiwitz: in der Dombrowa (W.)!

A. dilatatum. Der Standort bei Gleiwitz (Röhrteichel) ist verloren ge- gangen, da die dortigen Gehölze vernichtet worden sind (W.).

Blechnum Spicant. Lauban: Kl. Stöckigt, Mordgrund bei Langenöls (R.)!

Asplenium Trichomanes. Raudten: Urschkau (R.)!; Neustadt: z. B. Kröschendorfer Kirchhofsmauer (W.); Pleß: Mauerwerk am Paprotzanteiche (Sch.)!

Polypodium vulgare. Hoyerswerda: Lohsa (Uttendörfer); Raudten: Urschkauer Grund (R.)!; Neumarkt: zw. Nippern u. Heidau (Spribille)!; Rosenberg: Voßhütte! (R.); Carlsruhe: Plümkenau (R.)!

Osmunda regalis. Carlsruhe: zw. Sacken u. Althammer (R.)!

Ophioglossum vulgatum. Öls: um Gr. Graben mehrfach, wie auch Bo- Irychium Lunaria (Schröder)!; Breslau: Tschauchelwitz, Schönbankwitz (R.)!

Lycopodium Selago. Rosenberg: Sarrawarra gegen Jesowlug; Carls- ruhe: Zawisc (R.)!

L. annotinum. Gr. Wartenberg: Kl. Friedrichstabor, Märzdorf; Namslau: östl. von Sterzendorf (R.)!; Karlsmarkt: Althammer vielfach! (R.).

L. inundatum. Zabrze: Bielschowitz (Sch.).

L. chamaecyparissus. Gr. Wartenberg: Schlaupe (R.)!

Taxus baccata. Oppeln: .der Baum in Lugnian, Gehöft 117, hat fast 2 m Umfang und kräftige Benadelung; auch das Bäumehen in Jellowa, im letzten Gehöfte gegen Jesowlug, ist noch recht lebensfähig! Gesenke: ein Baum von etwa 1", m Umfang am Steinseifenfels, Rev. Buchbergstal! (Oberf. Pekarek).

Typha angustifolia f. elatior. Bunzlau: Kroischwitz (Sm.)!; f. Uechtritzi Pleß: Paprotzanteich (Sch.)!

Sparganium minimum. Hoyerswerda: Lohsa (Uttendörfer).

Potamogelon obtusifolius. Tost: Fasanerie (W.)!

Triglochin palustris. Landeshut: Neu-Weißbach (Sp.)!; Katscher: hinter der Wiesenmühle (Keilholz); Rybnik: Knurow u. a. (Sch.).

90 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Zea Mays. Gleiwitz: Schuttstellen am Krakauer Platze (W.).

Anthoxanthum aristatum. Tost: Straßengraben zw. Bitschin und Tatischau (W.)!

Trisetum flavescens. Neustadt: Kröschendorf u. a.; Gleiwitz: Klüschau (W.).

—+- Eragroslis minor. Ottmachau: massenhaft auf dem Mittelbahn- steige (B.)!; Peiskretscham: Bahnhof (W.)!

Melica uniflora. Namslau: Gühlchen (R.)!; Rauden: Barglowka (W.)!; Nicolai: Jamnatal (Sch.).

Dactylis glomerata f. lobata. Bunzlau: Thomaswaldau (Sm.)!; Neiße: Stadtpark (W.).

Poa Chaixi v. remola. Bolkenhain: Gießmannsdorf; Heuscheuergebirge: Dörnikau (Sp.)!

Festuca heterophylla, Reichenbach: Jentschwitz (R.)!

F. arundinacea. Breslau: Bettlern (R.)!

Bromus ramosus. Silberberg: Böhmischwald (Sp.)!; Heuscheuer- gebirge: an der Straße unweit der ehem. Sophientanne!, oberh. Dör- nikau! (Sp.).

B. erectus. Zobten: Marxdorf (Sp.)!; Zabrze: bei der Donnersmarck- hütte (Sch.)!

Hordeum europaeum. Bolkenhain: Gießmannsdorf; Eulengebirge: Ex- zellenzplan, Völkenplan bei Böhmischwald (Sp.)!

Eriophorum vaginatum. Friedland: in den Quitschellen bei Ellgut- Friedland (B.)!

Scirpus Tabernaemontani. Breslau: Wangern (R.)!

S. compressus. Neurode: Rotwaltersdorf (Sp.)!

Rhimchospora alba. Friedland O.S.: Quitschellen bei Ellgut-Fried- land (B.)!

Rh. fusca. Friedland: wie vor.

Carex dioeca. Nicolai: gegen Halemba (Sch.)!

©. Davalliana. Liebau: Boberwiesen bei Kunzendorf, Städt. Herms- dorf; Zobten: Kaltenbrunn (Sp.)!; Strehlen: zw. Riegersdorf u. Crummen- dorf, zw. Warkotsch u. D.-Lauden (Sw.)!; Freiburg: beim „russischen Lager‘“ an der Zeisbergstraße (Sp.)!

C. cyperoides. Zabrze: Halden bei Zaborze (Sch.)!

C. disticha. Schlawa: Pürschkau (R.)!; Kosel: Wiegschütz (Sch.)!

C. arenaria. Sagan: Zeissau (R.)!

©. virens. Salzbrunn: am Sattelwald; Silberberg: bei Böhmisch- wald (Sp.)!

C. paradoxa. Brieg: zw. Johnsdorf u. Giersdorf, mit C. panniculata (Sw.)!

C. teretiuscula. Kosel: Wiegschütz (Sch.)!

©. strieta v. gracilis. Breslau: Bogenau (R.)!

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 91

C. caespitosa. Strehlen: Steinkirche (Sw.)!

C. Bueki. Canth: Weistritzufer oberh. Rommenau (R.)!

C. Buxbaumi. Glogau: Sabor (R.)!; Zobten: Kaltenbrunn, Gr. Mohnau (Sp.)!; Wansen: gegen die Weihmühle (Sw.)!; Strehlen: zw. Riegersdorf u. Crummendorf (ders.).

C. tomenrtosa. Raudten: Urschkauer Ringwall; Breslau: Heidänichen, Malsen, Gr. Sürding (R.)!; Wansen: wie vor.; Ohlau: Chursangwitz gegen Kontschwitz (Sw.)!, Radlowitz, Thomaskirch (Sw.).

C. ericetorum. Tampadeler Wiesen (Sp.)!, im Zobtengeb. anscheinend sehr selten.

C. umbrosa. Brieg: Leubuscher Wald (R.)!; Münsterberg: Schön- johnsdorfer Forst (Sw.)!

C. montana. Lüben: südl. von Rinnersdorf; Raudten: zw. Urschkau und Rostersdorf; Brieg: Leubuscher Wald vor Baruthe; Reichtal: an der Butschkauer Grenze (R.)!; Strehlen: Kryhndörfel (Sw.)!

C. pendula. Bolkenhain: Einsiedel, beim Stein 1,7 der Gießmanns- dorfer Heerstraße (Sp.)!

C. silvatica. Lüben: zw. Talbendorf u. Thiemendorf; Steinau: Ursch- kauer Grund; Breslau: Gr. Sürding (R.)!

C. rostrata f. brunnescens. Liebau: Kunzendorfer Boberwiesen (Sp.)!

C. canescens X remola. Ohlau: Minken (Tischler)!

Calla palustris. Friedland O.S.: in den Quitschellen (B.)!

Juncus filiformis. Bolkenhain: T'homasdorf; Liebau: z. B. Boberwiesen bei Kunzendorf; Lewin: Stadtwiesen, Dörnikau (Sp.)!; Alt-Gleiwitz (W.)!

J. tenuis. Kosel: Wiegschütz (Sch.)!; Myslowitz:; Brzenskowitz; Glei- witz: Tatischau (W.)!, Exerzierplatz u. a. (Czmok)!; Rybnik: Czerwionka (Sm.)!

J. lamprocarpus f. stolonifer. Gleiwitz: Tümpel östl. der Stadt (W.)!

Luzula nemorosa. + Glogau: Straßengraben bei Schabitzen; Raudten: Urschkauer Grund, hier wohl ursprünglich (R.)!; Münsterberg: Schönjohns- dorf (Sw.); Neustadt: Kröschendorf u. a. (W.).

L. pallescens. Schweidnitz: Floriansdorfer Ziegelei; Landeck: Hain- wald bei Heinzendorf (Sp.)!

Veratrum album. Im Reinerzer Weistritztal abwärts bis gegen Alt- heide!

Colchicum aulumnale. Gr. Wartenberg: Mangschütz (Winterstein); Breslau: Gr. Sürding, Gnichwitz, zw. Irrschnoke u. Bismarcksfeld (R.)!

Anthericum ramosum. Reichtal: gegen Pietrowka (Burda)!, Butsch- kauer Grenze (R.)!; Ohlau: Minken (Winterstein)!; Strehlen: Töppendorf (Sw.).

Allium ursinum. Neumarkt: Stusa!

A. angulosum. Breslau: Zweibrot (R.)!; Krappitz: Oderufer (B.)!

92 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Lilium bulbiferum. Habelschwerdt: Seitendorf mehrfach, besonders au! einem Kleefelde gegen Lichtenwalde (Rother).

L. Martagon. Raudten: Urschkauer Grund, auch zwischen U. und Rostersdorf; Reichenbach: Jentschwitz (R.)!

Ornithogalum umbellatum. Glogau: Gramschütz; Raudten: Urschkau, Rostersdorf, Weissig (R.)!

Polygonatum officinale. Glogau: zw. Sabor u. Borkau; Raudten: zw. Urschkau u. Rostersdorf; Steinau: zw. Talbendorf u. M. Dammer; Namslau: Gühlchen (R.)!; Nicolai: Jamnatal (Sch.).

Gladiolus imbricatus f. parviflorus. Nicolai: Jamnatal (Sch.)!

Orchis sambucina. Strehlen: Louisdorf gegen Eisenberg (Sw.)!

O. incarnata. Breslau: Zweibrot (R.)!

Coeloglossum viride. Liebau: Petzelsdorf, Ob. Kunzendorf (Sp.)!

Platanthera bifolia. Breslau: Wäldchen zw. Jäschgüttel u. Zwei- brot (R.)!

P. chlorantha. Reichenbach: Jentschwitz (R.)!

Cephalanthera ziphophyllum. Zobten: zw. Floriansdorf u. Gr. Mohnau (Sp-)!; Neustadt: Schwedenschanze (Sch.); Hotzenplotz: Glemkauer Wald (W.).

Epipactis latifolia v. varians. Gleiwitz: in der Dombrowa (W.)!

E. palustris. Katscher: hinter der Wiesenmühle (Keilholz).

Spiranthes spiralis. Über den Gleiwitzer Standort vgl. bei Aspidium dilatatum (W.).

Neottio Nidus avis. Breslau: buschiger Oderdamm vor der Pleisch- witzer Fähre!

Salix peniandra. Hoyerswerda: Lohsa (Uttendörfer).

+ 8. daphnoides. Strehlen: Sandgrube vor Louisdorf (Sw.)!

S. aurita X cinerea. Breslau: Wangern (R.)!

S. caprea > cinerea. Breslau: Bogenau (R.)!

Alnus incana X rugosa. Breslau: zw. Grünhübel u. Bettlern (R.)!

Ulmus campestris v. suberosa. Ohlau: Chursangwitz; Strehlen: am Kryhnbach mehrfach; Wansen: gegen die Weihmühle (Sw.).

Thesium intermedium. Zobten: Tampadel (Sp.)!

Th. alpinum. Silberberg: unweit Bahnhof ‚Festung‘ (Sp.)!

Rumex limosus. Steinau: unweit des Oderhafens (Schmidt)!; Breslau: Opperau (R.)!

R. arifolius. Hohe Mense (Sp.)!

Chenopodium opulifolium. Schweidnitz: Zedlitz (Sp.)!

Ch. rubrum. Lewin: im Hofe des Gasthauses zur Post (Sp.)!

+ Corispermum intermedium. Myslowitz: Halden bei Janow (Seh.)!

Salsola Kali. Breslau: Gustav Adolf-Straße (Richters)!; Zaborzer Halden (Sch.)!

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 93

Silene dicholoma. Rotenburg a. O.: Läsgen (Schmidt)!; Bolkenhain: Gießmannsdorf (Sp.)!; Schönau: Rosengarten bei Ketschdorf (Schmidt)!; Riesengebirge: Ob. Hermsdorf u.K. (Sp.)!; Ohlau: Graduschwitz gegen Lorzendorf (Sw.)!; Neurode: Kol. Annaberg, Schlegel (Sp.)!; Gleiwitz: Klodnitzdamm bei der Hütte (W.)!

S. gallica. Schweidnitz: Kesselstift (Sp.), Kiefernberg bei Ob. Bögen- dorf (Sp.)!

—+ $. Armeria. Hotzenplotz: Maidelberg (W.)!

S. Otites. Lüben: nördl. von Barschau!; Steinau: Guhlvorwerk bei Mlitsch!

Melandryam album, rötlich blühend. Neustadt: Kröschendorf (W.)!

Cucubalus baccifer. Bernstadt: \Wilhelminenort, gegen Minken (Winter- stein)!

-+- Gypsophila panniculata. Grünberg: Weinbergsrand am Lindenberge (Schmidt)!

Tunica prolifera. Tost: Kottlischowitz (W.)!

-+ Dianthus barbatus. Gleiwitz: Klüschauer Wald unweit des Forst- hauses (W.)!

D. superbus. Prausnitz: am Stadtwalde (Winterstein)!

Stellarie nemorum. Carlsruhe: gegen Althammer (R.)!

S. Friesiana. Brieg: Rogelwitzer Forst (Tischler)!; Rybnik: zw. Leschezin u. Stein (Sm.)!

Trollius europaeus. Glogau: Hünerei (Koch); Bolkenhain: Gießmanns- dorf (Sp.)!; Canth: östl. von Woigwitz; Breslau: Bischwitz a. B. (R.)!; Strehlen: Baumgarten gegen Kontschwitz (Sw.).

Nigella arvensis! (+?) Neustadt: Zülzer Bahnhof (B.)!

Isopyrum thaliclroides. Frankenstein: Haunold (Kruber).

Actaea spicata. Namslau: Gühlchen (R.)!; Frankenstein: wie vor.; Münsterberg: Schönjohnsdorfer Wald (Sw.); Kosel: Gr. Ellguter Wald (Seh.)!

Aquilegia vulgaris. Haudten: Lehne zw. Urschkau u. Rostersdorf (R.)!; Strehlen: zw. Deutsch- u. Kl. Lauden (Sw.)!; Neustadt: beim Franziskaner- kloster (Sch.).

-+ Delphinium Ajacis. Neustadt: auf Flußkies in Ob. Langenbrück (W.).

Aconitum Napellus. Habelschwerdter Gebirge: westl. von Nesselgrund mehrfach!

Anemone pratensis. Glogau: Sabor (R.)!; Ohlau: Minken (Winterstein)!

Ranunculus circinatus. Gleiwitz: hinter dem Erlenwäldchen (Czmok) !

R. fluitans. Neustadt: Wiesegräflich (W.).

R. lanuginosus. Gr. Wartenberg: Märzdorf; Breslau: Guhrwitz (R.)!

Thalictrum aquilegifolium. Zobten: Kaltenbrunn (Sp.)!

94 ö HAhresbenieht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Th. minus. Strehlen: zw. Klein- u. Deutsch-Lauden (Sw.); Myslowitz: auf einer dürren Wiese bei Brzenskowitz, auffallend breitblättrig (W.)!

Berberis vulgaris. Breslau: Gr. Sürding, zw. Jäschgüttel und Bischwitz a. B. (R.)!; Tost: Schloßberg; Kieferstädtel: Rachowitz (W.)!

Corydalis intermedia. Neustadt: Höllengraben bei Kröschendorf (W.)!

Fumaria Vaillanti. Breslau: Gallowitz (R.)!

Cardamine impaliens. Reichenstein: am Predigerstein (Sp.)!

C. silvatica. Heuscheuer: Wasserfallweg (Sp.)!

C. trifolia. Reinerz: noch unterhalb Rückers, z. B. bei der Augen- trostbuche!; im Nesselgrunder Gebirge außerdem mehrfach im Quellgebiete des Kressenbachs, mit beiden Dentarien!

Dentaria enneaphyllo. Namslau: Minkowski (R.)!, Gülchen, hier mit D. bulbifera (R.)!

Arabis hirsuta. Silberberg: beim Bahnhofe „Festung“ (Sp.)!

A. arenosa. Görlitz: D.-Ossig!; Breslau: Bettlern (R.)!; Carlsruhe: Plümkenau (Tischler)!; bei Tost vielfach (W.)!

A. Halleri. Eulengebirge: Schirgenschänke bei Rudolfswaldau (Sp.)!; Gleiwitz: östl. der Stadt (W.)!

—- Sisymbrium Sinapistrum. Breslau: bei der Kürassierkaserne (Richters)!, dort auch $. Loeseli (ders.)!

Erucastrum Pollichi. Myslowitz: Halden bei Janow (Sch. u. W.)! Lunaria rediviva. Heuscheuergebirge: zw. Dörnikau u. Friedrichs- berg! (Sp.); Landeck: Ullersdorfer Park (ders.).

+ L. annua. Breslau: Krietern (R.)!

Teesdalea nudicaulis. Kosel: Wiegschütz (Sch.)!

Thlaspi perfoliatum. Rybnik: zw. Knurow u. Nieborowitz (W.).

Lepidium Draba. Strehlen: bei der Ploher Windmühle (Sw.)!; Zülz: Schönowitzer Zuckerfabrik _(B.)!

L. ruderale. Neurode: Schlegel (Sp.)!

—- Bunias orientalis. Breslau: Jäschgüttel (R.)!

Reseda lutea. Grünberg: beim Ruhschacht (Schmidt)!; Zabrze: auf Halden (Sch.); Gleiwitz: Soßnitza; Myslowitz: Brzenskowitz (W.)!

Drosera rotundifolia. Strehlen: Kryhndörfel (Sw.)!, zw. Riegersdorf u. Crummendorf (ders.).

+ Sedum spurium. Gnadenfeld: an Mauerwerk (Sch.)!

S. reflexum. Glogau: Sabor; Steinau: Culmikau (R.)!

S. villosum. Liebau: Städt. Hermsdorf (Sp.)!

-- Sempervivum tectorum. Kosel: Lenschütz (Sch.).

S. soboliferum. Liebau: Städt. Hermsdorf, Herrenberg bei Opperau (Sp.)!

Sazifraga decipiens. Heuscheuergebirge: im oberen Tale von Dörnikau (an einer kleinen Wassermauer) wieder aufgefunden (Sp.)!

Chrysosplenium oppositifolium. Jauer: zw. Rattschütz u. Jägendorfl; Isergebirge: im Kemnitztal unterh. der Leopoldsbaude (Kruber).

ll. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 95

Philadelphus coronarius. Gleiwitz: im Erlenwäldchen (W.).

Ribes Grossularia. Saabor: bei der Rieseneiche am Lippvorwerk!; Raudten: Urschkauer Grund; Gr. Wartenberg: nördl. vom Forsthaus La- terne; Breslau: Gebüsche bei Zaumgarten (R.)!; Münsterberg: Schönjohns- dorfer Forst (Sw.); Nesselgrunder Geb.: bei der Einsiedlertanne!; Zuck- mantel: gegen die Bischofskoppe (W.).

+ Spiraea tomentosa. Friedland: in den Quitschellen bei Ellgut- Friedland (B.)!

—+ 5. salicifolia. Gleiwitz: Gebüsche am Eingange zum Stadtwalde (Czmok)!; Kieferstädtel: Waldtümpel bei Rachowitz; Rauden: am Ufer der Ruda (W.)!

Rubus saxatilis. Reichtal: gegen Pietrowka (Burda)!; Juliusburg: Fürstenbrunn in der Bartkereier Forst!; Neumarkt: zw. Bruch u. Kobelnik (Spribille)!; Reichenbach: Jentschwitz (R.)!; Katscher: Poln. Krawarner Niederwald (Keilholz).

R. idaeus f. viridis!). Wohlau: zw. Gr. Ausker u. Garben, Kol. Cranz, Pathendorf; Sulau: bei Haltestelle Birnbäumel.

R. plicatus, mit z. T. 6- und 7-zähligen Blättern. Wohlau: Garben.

R. sulcatus. Gr. Strehlitz: Kaltwasser; Teschen: Bystrzitz.

R. nitidus. Wohlau: um Reudchen u. Mondschütz mehrfach, auch im ersten Wald an der Heerstraße nach Polgsen; Sulau: um Birnbäumel mehrfach, auch an der Eisensteinstraße, Wilkower Wald; Festenberg: gegen Gr.- u. Kl. Gahle, auch hinter Gr. Gahle und bei Bukowine; Neumarkt: Neudörfel.

R. senticosus. Wohlau: gegen Reudchen, sehr spärlich.

R. Wimmerianus. Teschen: Waldränder bei Bystrzitz und Nydek.

R. thyrsoideus (thyrsanthus),. Wohlau: zw. Garben u. Seifersdorf; Trebnitz: zw. Heidewilxen u. Hennigsdorf; ssp. candicans Wohlau: Kol. Cranz; Festenberg: gegen Gr. Gahle; Ohlau: zw. Dupine und Rodeland; Teschen: Nydek; ssp. incisiserratus Trebnitz: Sponsberg; Eulengebirge: Exzellenzplan bei Rotwaltersdorf (Sp.)!

R. constrictus. Teschen: Bystrzitz.

R. silesiacus v. Hofmanni. Wohlau: gegen Reudchen.

R. vulgaris v. rhamnifolioides. Wohlau: Garben gegen Gr. Ausker u. Seifersdorf; Trachenberg: Lauskower Forst; Öls: mehrf. um Zantoch; Ohlau: zw. Dupine u. Rodeland.

R. villicaulis f. subincisiserratus. Kandrzin: gegen Pogorzelletz.

R. macrophyllus. Wohlau: vielf. um Reudchen, Garben u. Polgsen, auch zw. Tannwald u. Riemberg; Trachenberg: Heidchener Forst bei Neu- dorf, um Fürstenau, bei Haltestelle Birnbäumel; Festenberg: gegen Gr.- u.

1) Mit Ausnahme der wenigen durch Zusatz gekennzeichneten Stücke ist das gesamte im folgenden genannte Rubus-Material von Prof. Spribille gesammelt und dem Herb. siles. überlassen worden; alle Bestimmungen rühren von ihm her.

96 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Kl. Gahle, vor Bukowine; Öls: zw. Gr. Mühlatschütz u. Zantoch; Falken- berg: zw. Schiedlow u. Comprachtschütz.

R. oboranus. Rybnik: gegen Stein u. Seibersdorf.

R. siemianicensis. Wohlau: zw. Friedrichshain u. Reudchen; Festen- berg: gegen Gr. Gahle; Falkenberg: wie vor.; Gr. Strehlitz: Kaltwasser.

R. chaerophyllus. Höchstwahrscheinlich bei Lauban: Friedersdorf (R.)!

R. chaerophylloides. Wohlau: zw. Tannwald u. Riemberg; Festenberg: bei Gr. Gahle mehrf.; Trebnitz: zw. Kl. Kainowe u. der Eisensteinstraße; Öls: zw. Gr. Mühlatschütz u. Zantoch.

R. Sprengei. Sulau: zw. Fürstenau u. Kl. Kainowe.

R. pyramidalis. Wohlau: gegen Polgsen u. Reudchen; Festenberg: gegen Gr.- und Kl. Gahle, auch zw. Gr. Gahle u. Bukowine; Brieg: Rogel- witzer Forst, zw. der Heerstraße und Neue Welt.

R. radula. Wohlau: um Reudchen u. Mondschütz, gegen Polgsen, Pathendorf, zw. Garben u. Seifersdorf, zw. Tannwald u. Riemberg; Trachen- berg: Lauskower Forst; Trebnitz: Sponsberg gegen Heidewilxen; Neumarkt: im nordöstl. Kreisteile vielfach; Gr. Strehlitz: Kaltwasser.

R. pallidus. Wohlau: Heerstraße vor Reudchen.

R. posnaniensis. Gr. Strehlitz: Kaltwasser.

R. Koehleri. Lauban: Morderund bei Langenöls (R.)!; Wohlau: gegen Reudchen u. Polgsen, zw. Garben u. Seifersdorf; Neumarkt: Saarawenze.

R. aprieus. Wohlau: zw. Garben u. Seifersdorf, Pathendorf, zw. Tannwald u. Riemberg; Gr, Strehlitz: Kaltwasser.

R. ligniciensis. Neumarkt: zw. Nippern u. Heidau.

R. varüfolius. Falkenberg: bei Bahnhof Schiedlow und zw. Sch. u. Comprachtschütz; Gr. Strehlitz: Kaltwasser.

R. Schleicheri. Falkenberg: wie vor.

R. Bellardii. Wohlau: zw. Tannwald u. Riemberg; Sulau: zw. Fürstenau u. Kl. Kamowe; Festenberg: Gr. Gahle gegen Bukowine; Falkenberg: zw. Schiedlow u. Comprachtschütz.

R. hirtus. Breslau: Schlanz (R.)!

R. serpens (f.). Trachenberg: Heidchener Forst bei Neudorf; v. pri- godscensis Festenberg: gegen Gr. Gahle.

R. hirtus (f.). Gr. Strehlitz: Kaltwasser; Teschen: Nydek.

R. nigricatus v. fallaciosus. Wohlau: zw. Tannwald u. Riemberg, zw. Garben u. Seifersdorf; Neumarkt: Saarawenze.

R. seebergensis. Wohlau: bei Reudchen mehrf., zw. Garben u. Seifers- dorf; Trachenberg: Heidchener u. Lauskower Forst.

R. krotoschinensis. Wohlau: zw. Tannwald u. Riemberg, zw. Garben u. Seifersdorf; Trachenberg: Lauskowe, zw. Fürstenau u. Kl. Kainowe; Festenberg: gegen Gr.- u. Kl. Gahle, vor Bukowine; Trebnitz: Sponsberg; Neumarkt: zw. Nippern u. Heidau, auch um Saarawenze.

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 97

R. polycarpus. Wohlau: zw. Tannwald u. Riemberg; Trachenberg: Lauskower Forst.

R. Baenilzi. Wohlau: um Tannwald mehrf., zw. Garben u. Seifers- dorf; Trebnitz: bei Hennigsdorf mehrfach, aber wenig.

R. oreogeton. Lauban: Friedersdorf (R.)!

R. serrulatus. Steinau: zw. Borschen u. Friedrichshain; Trachenberg: Heidchener u. Lauskower Forst; Trebnitz: zw. Hennigsdorf u. Kunzen- dorf; Neumarkt: zw. Nippern u. Heidau, zw. Nimkau u. Kadlau.

R. commiztus. Wohlau: Gr. Ausker; Gr. Wartenberg: Gr. Gahle.

R. gothicus. Neumarkt: im nordöstl. Teile des Kreises mehrfach.

R. Aschersoni. Wohlau: Cranz; Festenberg: vor Bukowine; Trachen- berg: Goitke; Neumarkt: Nimkau.

R. ciliatus. Festenberg: gegen Kl. Gahle.

R. caesius X idaeus. Wohlau: vor Polgsen; Neumarkt: zw. Nimkau u. Kadlau, zw. Bruch u. Kobelnik.

Potentilla palustris. Liebau: Boberwiesen bei Kunzendorf (Sp.)!

P. supina. Reichtal: Kreuzendorf (Burda)!; Hotzenplotz: D.-Paulo- witz (W.)!

P. rupestris. Glogau: Tauer (Koch).

P. recta. Neustadt: Dittersdorf, am Wege zum Bahnhofe (W.)!

-+ P. pilosa. Gleiwitz: in der Coloniestraße (Czmok)!

P. Wiemanniana. Glogau: Leschkowitz (R.)!; Haynau: Michelsdorf (Alt)!; Steinau: Urschkau, Rostersdorf; Breslau: zw. P.-Peterwitz u. Bahra, Sacherwitz (R.)!; Schweidnitz: Floriansdorf (Sp.)!

P. arenaria. Glogau: zw. Sabor u. Borkau; Raudten: bei Rostersdorf u. Urschkau (R.)!

P. opaca. Steinau: Urschkau (R.)!; Bernstadt: Ziegelhof (Tischler); Ohlau: Minken (ders.)!; Breslau: zw. Bettlern u. P.-Neudorf (R.)!; Neu- rode: z. B. Steinbruch bei Rotwaltersdorf (Sp.)!

P. procumbens. Oppeln: nördl. von Tarnau!

P. alba. Glogau: Tauer (Koch); Raudten: zw. Urschkau u. Rosters- dorf (R.)!

P. erecta > procumbens. Reichtal: Butschkauer Grenze (R.)!; Oppeln: nördl. von Tarnau!

Agrimonia odorata. Breslau: zw. Mochbern u. Opperau (R.)!; Neu- stadt: Hohle Gasse bei Kröschendorf (W.)!; Rybnik: Fasanerie zw. Belk u. Czerwionka (Sm.)!

Rosa canina f. decipiens. Breslau: Lohe; v. biserrata Breslau: zw. Jäschgüttel u. Alt-Gandau (R.)!

R. glauca v. diplodonta. Brieg: Piastental; Reichenbach: Lauterbach (R.)!

R. dumetorum v. pubescens. Breslau: Sandgrube hinter Klettendorf (R.)!

R. rubiginosa. Breslau: um Jäschgüttel mehrfach (R.)!

R. alpina. Waldenburg: Dittmannsdorf (Sp.)!

1910.

1

98 Jahresbericht. der Schles. Gesellschaft für vater]. Cultur.

Prunus avium. Neustadt: um Kröschendorf mehrfach (W.).

—- Lupinus anguslifolius. Reichtal: Wegrand zw. Proschau u. Herz- berg (R.)!

Genista germanica. Raudten: Urschkauer Grund (R.)!

+ Ulex europaeus. Breslau: Kiesgrube nördl. von Tinz (R.)!, Kunzen- dorfer Wald bei Obernigk (Spribille)!

Cytisus migricans. Neusalz: Hohe Heide bei Nittritz!; Jägerndorf: Melzerberg (B.)!

C. capitatus. Reichtal: gegen Pietrowka, Sgorsellitzer Wald (Burda)!

©. ratisbonensis. Namslau: Grambschützer Busch (Burda)!

Ononis spinosa. Lüben: zw. Barschau u. Pilgramsdorf!; Tost: zw. Ciochowitz u. Bitschin (W.)!

O. hircina. Naumburg a. B. (Schmidt)!; Bolkenhain: Gr. Hau (Sp.)!; Nicolai: Mokrau (Sch.)!

Trifolium rubens. Hotzenplotz: Glemkau (W.)!

T. pratense v. expansum. Rotenburg: Läsgen (Schmidt)!

Lotus siliquosus. Strehlen: vor Niclasdorf (Sw.).

Astragalus Cicer. Canth: Weistritzlehnen obh. Malkwitz (R.)!

Onobrychis vicifolia. Gleiwitz: Langendorf (Sch.)!, Klodnitzdamm gegenüber der Kgl. Hütte (W.)!

Vicia lathyroides. Steinau: Urschkau (R.)!; Canth: Bahndamm bei Mettkau (Sp.)!

V. tenuifolia. Ohlau: Chursangwitz (Sw.).

V. silvatica. Frankenstein: Haunold (Kruber).

Lathyrus tuberosus. Striegau: Günthersdorf (Sp.)!

L. paluster. Breslau: Wasserjentsch (R.)!

L. silvester. [Naumburg a. B.: Briesnitztal (Schmidt)!; Namslau: Gühlehen (R.)!

L. niyer. Öls: Gr. Graben (Schröder)!

Geranium phaeum. Freiburg: Fröhlichsdorfer Grund (Sp.)!

G. pratense. Um Tost vielfach (W.).

G. sanguineum. Reichtal: gegen Pietrowka (Burda)!; Reichenbach: Jentschwitz (R.)!

G. pyrenaicum. Grünberg: Gr. Lessen!; Krummhübel: Gehängeweg (Sp.)!; Breslau: Gr. Oldern (R.)!

G. molle. Bolkenhain: Gießmannsdorf (Sp.)!; Wohlau: zw. Garben u. Seifersdorf (Spribille)!; Schweidnitz: Bethanien (Sp.)!

G. dissectum. Kosel: Gieraltowitz (Sch.)!

@. columbinum. Ohlau: Rodeland (Tischler)!

Polygala amara. Ohlau: Teichvorwerk (Tischler)!; Breslau: südl. von Wangern (R.)!; Strehlen: zw. Deutsch- u. Kl. Lauden (Sw.)!

Mercurialis annua. Steinau a. ©.: Anger am Seminar (Schmidt)!

Euphorbia platyphylla f. cana. Gleiwitz: Langendorf (Sch.)!

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 99

E. palustris. Raudten: Urschkau; Breslau: Lohe (R.)!

E. villosa. Canth: Woigwitz (R.)!; Strehlen: zw. Warkotsch u. Deutsch- Lauden (Sw.)!

E. Esula. Schweidnitzer Bergland: Hohgiersdorf (Sp.)!

E. Oyparissias X Esula. Breslau: Belllern (R.)!

Acer campestre, Brieg: Conradswaldau (Sw.)!; Oppeln: westl. von der Oberf. Dembio! (Meyer)

A. Pseudoplatanus. Rosenberg: Forst Bodland!; Tost: Fananerie (W.)!

—+ Impatiens parviflora. Prausnitz: Gürkwitz (Winterstein).

Malva rotundifolia. Neustadt: Dittersdorf; Tost: Kottlischowitz (W.)!

—+-M. crispa. Neustadt: Wiesegräflich (W.).

M. neglecta > rotundifolia. Neustadt: Kröschendorf (W.)!

Hypericum montanum. Reichtal: gegen Pietrowka (Burda)!; Reichen- bach: Jentschwitz (R.)!

H. hirsutum. Neumarkt: Stephansdorfer Hochwald!

Viola pumila. Ohlau: Lorzendorf gegen Brosewitz, Chursangwitz (Sw.)!

V. palustris. Strehlen: Kryhndörfel (Sw.)!

Daphne Mezereum. Juliusburg: Bartkerei!; Namslau: Gühlchen (R.)!: Schmograu (Lischka)!; Münsterberg: Schönjohnsdorfer Forst (Sw.).

—+ Hippophae rhamnoides. Strehlen: Wegränder bei Baum- garten (Sw.)!

Epilobium Dodonaei. Bunzlau: Bobersandbank bei Tillendorf (Sm., Alt)!; Gleiwitz: im Hüttenhofe! (Czmok)

E. obscurum. 3olkenhain: Gießmannsdorf; Landeshut: Neu-Weiß- bach (Sp.)!

—- Oenothera grandiflora. Gleiwitz: Halden bei der Hütte! (Czmok)

Circaea alpina. Militsch: unter dem Kaltwasserberg im Rev. Gr. Lahse; Juliusburg: Fürstenbrunn in der Bartkereier Forst!; Münsterberg; Schönjohnsdorfer Forst (Sw.); Oppeln: Forst Jellowa, bei der großen Esche!, iybnik: zw. Leschezin u. Stein (Sm.)!

Sanicula europaea. Ohlau: Laskowitzer Worst (Tischler)!

Astrantia major. Juliusburg: Bartkerei!; Hotzenplotz: Stubendorf (W.).

Falcaria vulgaris. Tost: Kottlischowitz (W.)!

Pimpinella Sazifraga f. dissecta. Tost: Ciochowitz (W.)!

-+ Bupleurum falcatum. Myslowitz: Halden bei Janow (Sch. u. W.)!

Anthriscus nilidus. Reichenstein: am Predigerstein; Heuscheuergebirge: Wasserfallweg (Sp.)!, Dörnikau! (Sp.)

Oenanthe fistulosa. Prausnitz: am Stadtwalde (Winterstein).

Meum Mutellina. Hole Mense: gegen Grenzendorf (Sp.)! und Grun- wald!

Archangelica officinalis. Landeck: an der Biele bei Ullersdorf (Sp.).

Peucedanum Cervaria. Neustadt: Eichberg bei Kröschendorf (W.).

—+ Heracleum pubescens. Breslau: Wäldchen zw. Tinz u. Bettlern! (R.)

7*

100 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vater]. Cultur.

—- Cornus mas. Breslau: Erlengebüsch nördl. von Bogenau (R.)! Vaccinium Oxycoccus f. microcarpum. Bunzlau: Gröbelzeche (Sm.)! Primula officinalis. Raudten: zw. Urschkau u. Rostersdorf (R.)! Lysimachia nemorum. Zabrze: mooriges Ödland bei Karl Emanuel (Sch.)!

Trientalis europaea. Karlsmarkt: Althammer, bes. am Hirschgraben!; Schweidnitzer Bergland: Hohgiersdorf (Sp.)!; Neustadt: Kröschendorfer u. Kreiwitzer Wald (W.).

Anagallis arvensis f. lilacina. Naumburg a. B.: am Springberge (Sehmidt)!; f. earnea Silberberg: Böhmischwald (Sp.)!; v. coerulea Alt- Gleiwitz; Myslowitz: Janow (W.)!

Armeria vulgaris. Myslowitz: bei Birkental u. Imielin mehrfach (W.)!

Ligustrum vulgare. Strehlen: Baumgarten, anscheinend ursprünglich (Sw.)!; + Gleiwitz: Stadtwald (W.).

Erythraea pulchella. Gleiwitz: mehrfach, z. B. Preiswitz! (Czmok)!, Alt-Gleiwitz (W.)!

Gentiana purpurea wurde von Römer (Polzin) und E. Figert im Riesen- gebirge, nahe dem oberen Rande über dem Kleinen Teiche, beobachtet; sie ist zweifellos dort nur angepflanzt.

G. Pneumonanthe. Gleiwitz: hinter der Karl Oswald-Grube u. hinter dem Erlenwäldchen (Czmok)!

G. ciliata. Tost: Kottlischowitz (W.)!

Vinca minor. (+?) Breslau: Wäldchen bei Gr. Sürding (R.)!; Strehlen: Baumgarten (Sw.); Waldenburg: Juliansdorf (Sp.)!; Neustadt: Kröschen- dorfer Hinterhäuser (W.).

Phacelia tanacetifolia. Pleß: Gostin (Sch.)! —+- Omphalodes verna. Hirschberg: Janowitzer Park (Sp.)!

Lappula Myosotis. Gleiwitz: Schlackenfelder bei Soßnitza (W.)!

Asperugo procumbens. Grünberg: Alte Maugscht (Schmidt)!

Symphytum tuberosum. Neustadt: Kröschendorf (W.)!

—+- Borrago officinalis. Ohlau: Dorfstraße in Minken (Winterstein); Gleiwitz: Althammer (W.)!

Alkanna orientalis. Glogau: auf einem Ackerwege (Koch)!

Lithospermum officinale. Ohlau: Haltauf; Strehlen: Baumgarten (Sw.)!

Cerinthe minor. Ohlau: zw. Eulendorf u. Haltauf (Sw.)!; Tost: Kott- lischowitz (W.)!

Melittis Melissophyllum. Reichenbach: Jentschwitz (R.)!; Frankenstein: Haunold (Kruber).

Stachys germanica. Breslau: Jäschgüttel (R.)!

S. annua. (+?) Neustadt: Zülzer Bahnhof (B.)!; Myslowitz: Janow (Sch.)!

S. recta. Ohlau: Neu-Thomaskirch (Sw.)!

Salvia pratensis. Neurode: Allerheiligenberg bei Schlegel (Sp.)!

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 101

S. verticillata. Strehlen: Bahnhof Wäldchen (Sw.)!; Lewin: Tscher- beney!; —+ Kosel: Klodnitz-Oderhafen (Sch.)!; Leobschütz: Bahnhof D. Rasselwitz (W.)!; um Tost sehr häufig (W.); Zabrze: auf Halden (Sch.)!

—+ Hyssopus officinalis. Bolkenhain: Thomasdorf; Schweidnilz: Arnsdorf (Sp.)!

; Atropa Belladonna. Landeck: Hainwald bei Heinzendorf (Sp.)!

Verbascum Thapsus. Kandızin: Bahnhofsgelände (W.).

V. phlomoides. Ohlau: rechts der Oder mehrfach!, z. B. Minken (Winterstein)!

V. nigrum, weißblütig.. Rybnik: Alt-Dubensko (Sm.)!

V. nigrum > thapsiforme. Ohlau: Laskowitz (Tischler)!

V. n. x Thapsus. Bunzlau: obh. Kol. Laidenhäuser (Sm.)!

V. phlomoides > Thapsus (— montanum). Neustadt: Wildgrund (W.)!

Linaria Elatine. Myslowitz: Janow (Sch.)!; Rybnik: Czerwionka, bei der Grube (Sm.)!

L. arvensis. Hotzenplotz: Zottig (W.)!

Gratiola officinalis. Namslau: Wilhelminenort (Winterstein)!

Limosella aquatica. Schweidnitz: an der Neumühle (Sp.)!

Veronica montana. Namslau: Gühlchen (R.)!

V. Teucrium. Canth: Weistritzlehne obh. Malkwitz (R.)!; Jägerndorf: Melzerberg (B.)!

V. spicata. Strehlen: zw. Töppendorf und Friedersdorf (Sw.)!

V. verna v. Dilleni. Glogau: zw. Sabor u. Borkau (R.)!

—- Digitalis purpurea. Landeck: Hainwald bei Heinzendorf (Sp.)!

D. ambiyua. Katscher: Wäldchen beim Langenauer Hofe (Keilholz).

Alectorolophus serolinus. Eulengebirge: 7 Kurfürsten (Sp.)!

Utricularia minor. Friedland O.S.: in den Quitschellen bei Ellgut-Fr. (B.)!; Gleiwitz: Langendorf (Sch.)!

U. vulgaris. Steinau: Lehsewitzer See (Pieitler).

Orobanche major. Nicolai: Mokrauer Kalkberg (Sch.)!

Lathraea Squamaria. Namslau: Sterzendorf (R.)!; Nicolai: sehr sparsam im Jamnatale (Sch.).

—+ Asperula glauca. Breslau: Klettendorf, Gr. Mochbern (R.)!; Zabrze: Karl Einanuel (Sch.)!

A. odorata. Raudten: Urschkauer Grund (R.)!

Galium vernum. Namslau: Gühlchen (R.)!; Strehlen: zw. Großburg u. Michelwitz (Sw.)!; Waldenburg: Dittmannsdorf; Freiburg: Fröhlichs- dorf (Sp.)!

@. rotundifolium. Gr. Wartenberg: zw. Märzdorf u, Tschermin (R.)!; Konstadt: Reinersdorf! (R.)

G. silvestre. Neustadt: Eichberg bei Kröschendorf; Hotzenplotz: Zottig, Maidelberg (W.)!

102 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vater]. Cultur,

Sambucus Ebulus. Naumburg a. B.: zwischen Stadt u. Bahnhof (Schmidt)!; Tost: mehrfach (W.); Rybnik: Czerwionka (Sm.)!

8. racemosa. Namslau: Rev. Windisch-Marchwitz u. a.!

—+ Viburnum Lantana. Breslau: Kieferngebüsch bei Grünliübel (R.)!

Linnaea borealis. Namslau: Rev. Niefe, J. 135b, massenhaft! (Brösicke). -

—- Lonicera Caprifolium. Breslau: Weistritzdamm bei Rommenau (R.)!

L. Periclymenum. Lüben: Koslitz (Alt)!

L. Xylosteum. Neurode: Allerheiligenberg bei Schlegel (Sp.)!

+ L. tatarica. Trebnitz: bei den großen Wacholdern unweit Forst- haus Ujeschütz!; Breslau: Wäldchen bei Bahra (R.)!

Valeriana dioecca. Lüben: zw. Talbendorf u. Ziebendorf; Breslau: Wangern, zw. Irrschnocke u. Bismarcksfeld (R.)!

V. polygama. Gr. Wartenberg: Tschermin, Märzdorf (R.)!; Karlsmarkt: Althammer! (R.)

Dipsacus silvester. Prausnitz: zw. Jagatschütz u. Kodlewe (Winter- stein).

Knautia arvensis f. integrifolia. Reichtal: Butschkauer Grenze (R.)!; Ohlau: Minken (Winterstein)!

Suceisa pratensis f. incisa. Bunzlau: Dunkelteiche (Sm.)!

Scabiosa Columbaria. Ohlau: Minken (Winterstein)!

Campanula Medium. Breslau: Ödland bei Krietern (R.)!

C. latifolia. Neumarkt: Stusa!; Reinerz: Grenzendorf, Dörnikau (Sp.)!

©. Rapunculus. Kontopp: vor Mesche!

Solidago serotina. Rauden: Ufergebüsche der Ruda (W.).

-—+ 8. canadensis. Lauban: Ob. Langenöls (R.)!

Erigeron acer v. droebachiensis. Landeck: Hainwald bei Heinzendorf(Sp.)!

Helichrysum arenarium. Nicolai: innerh. mehrerer Beobachtungsjahre nur bei Mokrau, spärlich; vielleicht beruht die dortige Seltenheit der sonst, auch in den angrenzenden Teilen, so verbreiteten Art auf Ausrottung (Sch.)!

-+ Inula Helenium. Ohlau: Minken (Winterstein).

I. salicina. Zobten: Gr. Mohnau (Sp.)!

I. vulgaris. Greiffenberg: am Hohen Ramsen (R.)!; Silberberg: Exzellenzplan obh. Rotwaltersdorf (Sp.)!

Buphthalmum speciosum. Schweidnitz: Ob. Bögendorf (Sp.)! Xanthium strumarium. Ohlau: Minken (Winterstein); Zabrze: Schutt-

halden (Sch.)!

-- X, ilalicum. Zabrze: zwischen den Gleisen der Wolfganggrube (Sch.)!

Rudbeckia läciniata. Gr. Wartenberg: Rippin (Winterstein); Karlsmarkt: vielf., bes. gegen Althammer!; Kosel: Pogorzelletz (Sch.)!

Anthemis tinctoria. Neurode: Rotwaltersdorf (Sp.)!; Lewin: Dörnikau!

+ A. ruthenica. Breslau: Ödland bei der Synagoge (R.)!

I. Abteilung. Zoologiseb-botanische Sektion. 103

Matricaria diseoidea. Schmiedeberg: Buschvorwerk (Schmidt)!; Nams- lau: Balınhof! (Burda); Strehlen: desgl. (Sw.)!; auch auf den Bahnhöfen von Oberglogau, D. Rasselwitz u. Kandızin (W.); Tost: Schloßberg (W.)!

+ Ohrysanthemum coronarium. Myslowitz: auf einem Holzplatz in Birkental (W.)!

Petasites officinalis. Prausnitz (Winterstein).

P. albus. Kosel: Gr. Ellguter Wald (Sch.)!

—- Erechthites hieracifolius. Kieferstädtel: Rachowitz (W.)!

-- Doronicum Pardalianches. Nicolai: Jamnatal (Sch.)!

(+?) D. austriacum. Rybnik: zwischen Spendelmühle u. Wielopole (Sm.)! Scheint von den Beskiden aus in die oberschlesische Ebene vor- zudringen.

Senecio barbaraeifolius. Kosel: Pogorzelletz (Sch.)!

S. Fuchsi. Canth: Mettkau (Sp.)!; Tost: Bitschin; Kieferstädtel: Rachowilzer „Schweiz“ (W.)!

S. erispatus. Karlsmarkt: Althammer, häufig! (R.); Öls: Gr. Graben (Schröder)!; Rybnik: Nieborowitzhammer (Sch.)!

-+ Calendula officinalis. Myslowitz: Kartoffelfeld bei Brzenskowitz (W.)!

-+ Echinops sphaerocephalus. Bunzlau: an der Boberbrücke nach Tillendorf (Sm.)!; Reiehtal: Kreuzendorf (Burda)!

Carlina acaulis f. caulescens. Ohlau: Minken (Winterstein)!; Tost: Kottlischowitz (W.).

Arctium nemorosum. Reichenstein: Schlackental (Sp.)!

Carduus nutans. Neustadt: Kröschendorf (W.)!

0, crispus. Strehlen: Steinkirche (Schröder)!

C. Personata. Bunzlau: vor Uttig, Boberbrücke gegen Tillendorf (Sm.)!

Cirsium heterophyllum. Landeshut: Ob. Blasdorf, Petzelsdorf (Sp.)!

©. rivulare. Breslau: Zweibrot, zwischen Irrschnocke u. Bismarksfeld; Reichenbach: Jentschwitz (R.)!

C. canum > lanceolatum. Öls: Gr. Mühlatschütz (Tischler)! Das Exemplar steht, im Gegensatze zu dem früher von R. v. Uechtritz gefundenen, dem (©. canum näher.

Ü. canum >< oleraceum. Hotzenplotz: Dominium Würben (W.).

C. oleraceum >< palustre. Gleiwitz: Rudzinitz; Hotzenplotz: Domi- nium Würben (W.)!

C, oleraceum > rivulare. Bolkenhain: Gießmannsdorf (Sp.)!; Nanıs- lau: Gühlehen (R.)!; Neurode: Rotwaltersdorf (Sp.)!

C. palustre X rivulare. Liebau: Oppau (Sp.)!

Centaurea phrygia. Greilfenberg: Ob. Euphrosinental (R.)!

-+ €, solstitialis. Breslau: Feldbahnen bei Lohe mehrfach (R.)!

Hypochoeris glabra. Neustadt: Kröschendorfer Waldäcker (W.)!

-4 Pieris echioides. Breslau: Feldbahn bei Lohe (R.)!

P. hieracioides. Tost: Kottlischowitz (W.)!

104 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Tragopogon orientalis. Breslau: Pleische u. a. (R.)!

Scorzonera humilis. Glogau: Sabor (R.)!

Mulgedium alpinum. Wüstewaltersdorf: Wolfsberg bei Jauernig (Sp.)!; Heuscheuergebirge: Dörnikau! (Sp.)

Lactuca Scariola. Zabrze: Wolfganggrube (Sch.)!

Prenanthes purpurea. Neustadt: Kreiwitzer Oberwiesen (W.)!

Orepis praemorsa. Breslau: zw. Irrschnocke u. Bismarksfeld (R.)!; Strehlen: Baumgarten (Sch.)!

C. suceisifolia. Bolkenhain: Gießmannsdorf; Landeshut: Pfaffendorf, Oppau (Sp.)!

Hieracium vulgatum f. fastigiatum. Salzbrunn: Neu-Reichenau gegen den Sattelwald mit H. laevigatum v. alpestre (Sp.)!

H. barbatum. Langenbielau: Tiefer Grund (Sp.)!

H. Auricula X Pilosella. Schweidnitz: Floriansdorfer Ziegelei (Sp.)!

H. floribundum X Pilosella. Schweidnitzer Bergland: Hohgiersdorf (Sp.)!

H. Pilosella X pratense. Schweidnitz: Floriansdorfer Ziegelei; Char- lottenbrunn: Hausdorf (Sp.)!

Sodann berichtete Herr Th. Schube über:

Ergebnisse der phaenologischen Beobachtungen in Schlesien im Jahre 1910.

Nachdem von der 2. Hälfte des Februars an im größten Teile unserer Provinz längere Zeit hindurch verhältnismäßig warmes Wetter geherischt, blieb von der 2. Hälfte des März an die Temperatur fast stets merklich unter der normalen, nur etwa vom 14.—19. April (114.—119. Beobachtungs- tag) stieg sie plötzlich ungewöhnlich hoch (was sich ziemlich deutlich auch aus den betr. phaenol. Notizen erkennen läßt), um sogleich wieder bedeutend zu fallen. Vom 11. Mai an setzte dann, bis Anfang Juni vor- haltend, sehr heißes und trockenes Wetter ein, so daß man schon vielfach über Dürre zu klagen hatte. Nunmehr aber kamen fast ununterbrochen zunächst Gewitter-, dann auclı anhaltende Landregen: sieht man von Mitte September ab, so waren den ganzen Jahresrest über kaum einmal 2 anhaltend freundliche Tage hintereinander zu verzeichnen. Kurzum, es war wieder ein Jahr, das auch der Geduld der Phaenologen eine harte Probe auferlegte. Es haben indes fast alle altbewährten Kräfte wieder aus- gehalten; hoffentlich bleibt es auch weiter dabei und gehen die mir von anderer Seite gemachten Zusicherungen gleichfalls in Erfüllung! Die Aus- füllung der durch den Tod des Apothekers Dr. Pfeiffer (Steinau) eingetre- tenen Lücke hat Herr Lehrer M. Pfeiffer freundlichst übernommen, Möchte es nur einmal gelingen, auch in denjenigen Landesteilen, aus denen bisher noch immer keine Nachrichten vorliegen, Beobachter zu gewinnen!

Die zu beobachtenden Phasen waren: 1. e. Bl. Galanthus nivalıs, 2. e. Bl. Corylus Avellana, 3. B. O. Aesculus Hippocastanum, 4. e. Bl.

II. Abteilung. Zoologisch- botanische Sektion. 105

Narcissus Pseudonarcissus, 5. B. O. Tilia platyphylla, 6. e. Bl. Betula verru- cosa, 7. B. O. desgl., 8. e. Bl. Ribes Grossularia, 9. e. Bl. Prunus avium, 10. e. Bl. P. Cerasus, 11. e. Bl. Pirus communis, 12. e. Bl. Prunus Padus, 13. e. Bl. Pirus Malus, 14. e. Bl. Vaccinium Myrtillus, 15. B. OÖ. Pirus Aucuparia, 16. B. O. Fagus silvalica, 17. e. Bl. Aesculus Hippocastanum, 13. e. Bl. Crataegus Oxyacantha, 19. e. Bl. Syringa vulgaris, 20. B. O. Frazinus excelsior, 21. e. Bl. Pirus Aucuparia, 22. e. Bl. Cytisus Laburnum, 23. v. Bl. Alopecurus pratensis, 24. v. Bl. Phleum pratense, 25. v. Bl. Dactylis glome- rata (sowie Schnittbeginn |S. B.]), 26. v. Bl. Trifolium pratense, 27. e. Bl. Sambucus nigra, 28. e. Bl. Tilia platyphylla, 29. e. Bl. Lilium candidum, 30. v. Bl. Secale cereale hib., 31. S. B. desgl., 32. v. Bl. Sec. cer. aestivum, 33. S. B. desgl., 34. Fr. Pirus Aucuparia, 35. e. Bl. Colchicum autumnale, 36. Fr. Aesculus Hippocast., 37. L.V. desgl., 38. L. V. Fagus silv., 39. L. V. Betula verrucosa, 40. L. F. Fraxinus exc., endlich die Frühlingshaupt- phase (F. H.) als Mittelwert von Nr. 11, 12, 13 und 16. Die Bezeich- nungen sind dieselben wie in den letzten Berichten,

1. Hoyerswerda; Beobachter: Lehrer Höhn.

12860.522.,60:. 3.2107 5.121: 72 114.782 1195792 11657.10.21235; EEE 123: 134.135: 14.1395 155 110: 7. 137: 180 148; 19. 141; 21. 144; 22. 146; 23. 160; S. B. 170; 26. 160; 27. 153; 280141 3:0292187:730. 1565 312.196; 34.2 2145735. 7268; 136. 270; 37. 281; 39. 278; F. H. (126).

2. Rotwasser O.L.; Beobachter: Lehrer Rakete.

eu66:222,67; 32. 116: 52 11657720155 82 1135292 1285710. 183; Bor. 1. 142: 14. 120; 17.146; 18.1555 19. 147; 237144; 8. B. 161; 26. (169); 27. 168; 28. 180; 30. 160; 31. 212; 36. 273; 37. (285); 39. 299.

3. Bunzlau; Beobachter: Lehrer Devantie.

39308 TTELLS:EBT I allg 10. 135; 11. 136: 19.215307 183.141: 14221985 15. 123; Der 127; in. 144.718. 14757192145; 20. 145; 21. 146, 32. 152; 23./26. 158; S. B. 164; 26. 160; 27. 166; 28. 177; 29. 190; 30. 162; 81. 209: 34. 227, 36. 271, 37. 282, 38. 284; 39. 236; 40. 304; F. H. 134.

4. Haynau; Beobachter: Lehrer Liersch.

162069: 2.73; 8. I1H: 42 147052. 1292;,762128: 119; s. 119;

951285 10. 138; 11. 140; 12.140: 13. 144; 14. ver 10. 119: 16. 132, 17. 149; ı8. 148; 19. 150; 20. 146; 21. 145; 22. 153; 23. 152; 26. 162; S. B. 162; 26. 165; 27. 173; 28. 195; 30. 162; 31. 204;

34. 218, 36. 270; 37. 281; 38. 290, 39. 274; 40. 315; F. H. 139. 5. Wigandstal; Beobachter: Lehrer Rühle. INGA ED 6A ER 102 15 7 12828117 72915075 10.142; 11. 142; 13. 145; 14.128; 15.—, 128; ı6. 139; ı9. 145; 20.

106 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

ee a 15 rs a Be Aleiriy De Ar 0 rg ER Es Ds 86, 249; 40. 310; F. H. (142).

6. Hirschberg; Beobachter: Oberlehrer Kruber.

12 63:2.2% 695,3. M5:24. 11250552 123,77. DR 9205 10.125; 11. 129; 12. 139; 13. 136; 14. 128; 15. 121; ı6. 130; 17. 147; 18. 149; 19. 146; 20. 188; 21. 1525, 22,150; 23.2 1535 25. 166; S. B. 1165; 26: 152.5 127. 165; 28. 180); 1310, 1665) 312218,00340265:; 35. 258; 36. 285, 37. 293, 38. 295; 39. 295; 40. 298; P. H. 134.

7. Forstlangwasser; Beobachter: Lehrer Liebig.

1.96; 3. 147; 5.154; 7. 147; 3. 140; 9. 147; 10. 154; 12. 149; 13. 161; ı4. 141; ı5. 150; ı6. 150; ı9. 163; 20. 153; 21. 164; 23./25. 145; S.B. 169; 26. 173; 27. 196; 28. 198; 35. 214; 38. 237; 39. 247; F. H. (153).

$. Rawitsch; Beobachter: Inspektor Nitschke.

1206350 2.0577:83.12.077 2211055 SSH EL HNOFETELEISESSESIHN BF 9. 117; 10. 126; 11. 120, 12. 128; 13.134; 14.128; 15. 123; 16. 123; 17. 143; ı8. 144; ı9. 142; 20. 136; 21. 138; 22. 145; 23./25. 140; S.B32193502.26.0.150;2 272 1925232.16957.219,913557 300% 15 0-3 Esell50F 34. 208; 36. 248; 37. 250; 38. 254; 39. 256; 40. 259; F. H. 126.

9. Steinau a. O.; Beobachter: Lehrer Pfeiffer.

3.121; 5. 122; 6. 123; 7. 124; 8. 114; 9.116; 10. 118; 11. 120; 12. 121; 13. 129; 15. (—, 115); ı6. 123; 17. 143; ı8. 143; 19. 142; 20. 144; 21. 144; 22. 144; 23./25. 150; S. B. 171; 26. 150; 27. 158; 23. 1495829. 2183577300. 152; a1 LI 3 DATE al 26 res 0l: 318.2 9110: ,319% 51118: A0- NSS HR. SEINE 123: .

10. Brieg; Beobachter: Landwirtschaftslehrer Zahn.

2. 20:03. 122.22, 31057 52 12101862 DS 7 VOR ENGE 10. 119; ı1. 131; 12. 130, 13. 136; 16. 132; 17. 149; 18. 148; 19. 150; 20. 148; 22. 152; 27. 164; 28. 179; 29. 180; 36. 272; 37. 2935 38:29 392 292;740.0807,E. H. 130:

11. Breslau, Botan. Univers.-Garten; Beobachter: Inspektor Hölscher.

1. 68; 2.60; 3. 118; a. 112; 5. 123; 7. 123, s. 116; 9. 124; 10. 126; 11.124, 12.122; 13.131; 12. 133516. 1437178 1885; 18. 140; 19. 138; 20. 145; 22. 142; 23. 156; 26. 170, 27. 158; 28. 104: 29. 192; 35. 260; 236.261: 37.1.2905738. 2964023985300: 4:0. 809,52 r E12 1,30:

12. Breslau, Städt. Botan. Schulgarten; Beobachter: Inspektor Kiekheben.

131635. 82. 616:32.0022:° 2.104, 5.018295; 26 121: 22 12 Rad: 9. 120; 10. 124; 11. 126; ı2. 126; 13.135; 14. 127; 15. 135; ı6. 141; 17. 143; ı8. 145; ı9. 143; 20. 147; 21. 147; 22. 148; 23./25. 164; io Luder lol late: 219. 1185583100095 a2, 35.266; 36. 264, 37. 295; 38, 306; 39. 308; 40. 320; FE. H. 132.

U. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 107

13. Striegau; Beobachter: Prof. Dr. Kroll.

12.655: 2. 63; 3.119; 4. 10%; 5.116; 6. 121; 7. 113; 18.0114; 9, 120; 10. 125; 11. 125; 12. 126; 13. 134; 14. 125, 15. 115; 16. 128; 17. 145; 18. 148; 19. 144; 20. 141; 21. 150; 22. 152; 23./25. 163; S. B. 153; 26. 154; 27. 160; 28. 172; 29. 187; 30. 162; 31. 206; 3am220, 35. 2625.36.02765:37% 292; 3847293;:397 290; 40. 317; BE. 128:

14. Dittersbach, Kr. Waldenburg; Beobachter: Lehrer Jagsch.

1. 85; 3.130; 8.127; ı7. 144; 19. 150; 30. 174; 31. 222; 37. 280.

15. Bad Langenau; Beobachter: Hausbesitzer Rösner.

2103:,.32.129:7472106:55..186; 7. 129:232115559. 1242-7102 137;; Eee L 308 119%, 133,2 1.322 A 012.0195:0, 155 1297 172814550.183, 147; E16 021. 143: 799, 1152: 27271625, 28.2181; 29. :200,4.302 2164; 210034. 292: 35.236: 36. 271: 37.2509 38.0293: 23933065; 40303; E. H. 135.

16. Reinerz; Beobachter: Stadtförster Elsner.

1. (Leucoium vernum) 73; 2. 84; 3. 149; 4. 115; 5. 146; 6. 139; eo 8010.8:592 15.955010. 147:711..148-212. 140,213. 155577142 144; BAG; 1.7.8100: 185 1625, 19: 15557 20. 1585227 1162; DS 2:30: 202: 07 ll7z.: 28. 2.000.730: 116357031.2285;0 3472955 35. 257; 36. 286; 37. 290; 38. 300; 39. 290; 40. 304; F.H. 149.

17. Koschentin; Beobachter: Hofgärtner Barth.

3. 125; 5. 126; 7. 127; s. 117; 9. 126; 10. 132; 11. 136; 12. 128 282140:216..120: 17.145; 19. 145; 30,149: 21.2152; 7222150; SEBzlldl: 2 26.1159527..163::,28, 173; 30.165531. 209.086. 208; 202 285:738. 287; 40. 288; E. H. 131.

18. Oberglogau; Beobachter: Lehrer Sniehotla.

9326 3123 alle: LII:SE. 112-570128; 085 15, gall6 210. 194: 11.128; 12.1285 132 128,715. 109; 16. 2126; 17..145:718. 146; 19. 140; 21.142; 22. 150; 23./25. 162; 8. B. 163; 26. 155; 27. 160; 28. 174; 29. 176; ‘30. 160; 31. 202; 34. 240; 35. 253; 36. 283; F. H. 128.

19. Hultschin:; Beobachter: Lehrer Slesina.

EU 73 3. LIE 2 2 0 DI EI 5 13 ILS ll; 9. 121: 10. 125; 11. 129; 13.140; 14. 136; 15. 116; 16. 122; 17. 146; ı8. 158; 19. 148; 20. 144; 2ı. 153; 22. 161; 23./25. 160; SaBr172: 26. 170.97. 1794728. 188: 29.,1955; 130.,°1665,081. 210; 34. 249; 36. 271; 37. 285; 38. 298; 39. 304; 40. 314; F. H. (130).

20. Deutsch-Krawarn; Beobachter: Lehrer Heimann.

1.:58; 2.64; 3. 130; 4. 98; 6.131, —; 7. 120; 8. 115; 9. 118; 10. 1242 11..190;,13..12957162 1225, 717.5144;. 18. ,146,,719.0.142); 20. 135; 21. 144; 22. 146; 23./26. 155; S.B. 167; 27. 158; 28. 197; 29. 188; 30. 157; 31. 205; 34. 240; 36.268; 37. 279; 39. 281; 40. 294

108 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

21. Belschnitz; Beobachter: Lehrer Kotschy.

1. 60; 2. 61; 3. 120; 5. 136; 7. 110 0); s. 111, 9. 117; 10. 123; ı1. 122; ı2. 128; ı3. 135; 14. (131); ı5. 117; ı6. 117; 17. 143; ı8. 143; 19. 142; 20. 184; 21. 143; 22. 145; 23./25. 161; 26. 188; 27. 166; 28. 187; 29. 189; 30. 160; 31. 202; 34. 218; 35. 251; 36. 265; 37. 290; 38. 287; 39. 290; 40. 332; F. H. 126.

22. Gleiwitz; Beobachter: Hüttentechniker Czmok.

6 Bee ae ler Bee ie 9: NG: To124:2 11 12552123 133; 1 136: 152 122 TR NEE 192 142:0120. 14.0, SA aA 14550952150, ES alrbE 26.195; 27. 1565.28 .18357292 189577302 158531. 20 Es 36. 267; 40. 311; F.H. (131).

23. Beuthen 0O.S.; Beobachter: Lehrer Tischbierek.

1. 81; 2. 75; 3. 129, 4. 115; 5. 126; 6. 126; 7. 122; 8. 122; 9. 124; 10.126; ı1. 132; 12. 133; 13. 140; 14.128; 15.122; 16. 128, 17. 144; ı8. 150; ı9. 145; 20. 138; 21. 143; 23./25. 169, 26. 167; 27. .175; 28. 176; 29. 207, 30, 158,31. 205; 34. 221:83/6.02710: 37. 289; 38. 287; 39. 286; 40. 289; F. H. 133.

Sodann gab Herr Th. Schube

Ergänzungen zum Waldbuch von Schlesien.

Im vorigen Jahre habe ich wegen der Geringfügigkeit der Neueingänge von deren Veröffentlichung abgesehen, in diesem dagegen vermag ich wieder zahlreiche Ergänzungen zu bringen. Da das Landwirtschaftsministerium diese den staatlichen Forstverwaltungen unter ähnlichen Modalitäten wie seinerzeit das ‚„Waldbuch“ überweisen will, habe ich die wenigen auf Kron- und Staatsforsten bezüglichen Angaben der früheren Nachträge hier noch ein- mal aufgenommen; die hierbei in Betracht kommenden Örtlichkeiten sind durch Fettdruck hervorgehoben. Es scheint ja glücklicherweise das Interesse an der Erhaltung und Beschützung forstästhetisch und pflanzengeographisch wertvoller Einzelstücke und Bestände sich allmählich merklicher zu heben. Zu meiner Freude konnte ich auf meinen diesjährigen Studienfahrten bei mehreren der von mir besuchten Oberförster und Revierförster ein erheblich größeres Entgegenkommen wahrnehmen, als es bisher den Anschein gehabt hatte; ich darf daher wohl auch weitere Berücksichtigung meiner Wünsche erhoffen. Für jede Art der meinen Bestrebungen schon gewährten Unter- stützungen sei jenen Herren auch hier herzlich gedankt!

Auch von anderer Seite wurde mir mancherlei Hilfe zuteil, insbesondere von den Herren Öebulla-Koberwitz, Dietrich-Rietschen, Hacke-Haynau, Hinke-Lüben, Janeba-Mügwitz, Matzker-Lüben, Michael-Sagan, Pfeit- fer-Steinau, Remler-Breslau, Rothe-Bettlern, Sander-Glogau, Schmidt- Grünberg, Uttendörfer-Niesky, Wenke-Hirschberg und Wingenfeld- Oberglogau. Zu ganz besonderem Danke bin ich Herrn Parkinspektor

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 109

Lauche-Muskau verpflichtet, auch Herrn Rechnungsrat Stumpf-Potsdam, der zur Vervollständigung meiner jetzt reichlich 550 Nummern zählenden Glasbildersammlung schlesischer Holzgewächse wesentlich beitrug. Diese in ihrer Art wohl unerreichte Sammlung gewährt mir die Möglichkeit, im Gegensatze zu der andernorts üblichen Schablone meine zahlreichen, dem Heimatschutze stets unentgeltlich gewidmeten Vorträge immer dem jeweiligen Zuhörerkreise entsprechend zu variieren. Aus meinen im Druck erschienenen Arbeiten stehen mir jetzt mehr als 80 Klischees zur Ver- fügung.

S. 9. Bettlern. Am Nordtore des 2. Gutshofes, etwa 100 m von der Straße entfernt, eine *Rüster von 4,20 m Umfang.

Breslau. Die große Pappel nordöstl. von der Mauritiusbrücke trägt einen sehr ansehnlichen Holunderstrauch als Überpflanze. Kleinere der- artige Holderbüsche gedeihen im Botan. Garten auf der Riesenpappel und auf der Pirus suecica am Hauptgange. Mistel auf Spitzahorn ist auf der Holteihöhe und an der Tiergartenstraße kurz vor der Hebestelle zu sehen, ferner auf *Sumpfeiche mehrlach im Göpperthain.

S. 10. Clarenkranst. Nahe der Straße nach Trattaschine, J. 89, eine *Fichte von 3 m U.; der ganze angrenzende Schlag, in dem außer andern stattlichen Fichten nebst Kiefern auch Ahorn u. a. Laubhölzer vortrefflich entwickelt sind, muß als forstästhetisch recht wertvoll bezeichnet werden: hoffentlich kommt der Plan, einen Teil davon (etwa !/, ha) unan- getastet zu lassen, zur Ausführung! Die Elsbeeren im J. 121 lassen viel zu wünschen übrig; daß bei hinlänglichem Schutze, der ihnen jetzt ge- sichert erscheint, sie sich recht wohl halten könnten, beweist die andauernde Entwicklung jungen Nachwuchses, der selbst in ziemlich beträchtlicher Entfernung, in der Nordostecke von J. 116, zu beobachten ist.

Kottwitz. Die Eichen an der Alten Oder sind leider beim Bahnbau vernichtet worden; einige schöne Stücke stehen noch am „Niederwasser‘‘, J. 37, am Südrande, zwei durch einen Querast in 4 m H. verbundene “Eichen, die westliche mit 1,50 m U., die östliche wenig schwächer. Der fahrbare Weg, der bei der großen Sandgrube kurz vor den Berghäusern von der Straße Grebelwitz-Bergh. westwärts sich abzweigt, führt (nach etwa 600 m) daran vorbei.

Krieblowitz. Im Schloßpark außer schönen Silberpappeln, Linden u. a. namentlich auch große Eichen; die *stärkste (U. 5,64 m), „Blücher- eiche‘“‘, an dem den linken Schwarzwasserarm begleitenden Hauptwege.

Lohe. Im hinteren Teile des Parkes mächtige Rüstern, die *größte mit 4°, m U., auffallend stark spannrückig; auch am Mühlgraben ober- halb des Parkes solche bis zu 4°, m Umfang.

Oberhof. An der Dorfstraße hinter einem Gartentor eine Rüster von fast 4 m U. und 23 m Höhe.

110 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

S. 13. Pleischwitz. Im Grasgarten bei der Fähre auf einer Kopf- weide ein zum Blühen gelangtes Ahlkirschbäumchen, jetzt zufolge Stutzung strauchig zurückgehalten; am Damme zwischen dem Fährhaus und dem Kirchhof ein (wilder) Kirschbaum von 2 m Umfang.

Neu-Stabelwitz (Kol... Auf der Wiese des nordöstlichsten Grund- stücks, in der Nordwestecke, 2 durch einen Ast verbundene *Eichen von je lm U. (am besten zu sehen vom gegenüber, jenseits der Weistritz, gelegenen Parke von Lissa).

Tinz. Im nordwestlichen Teile des „Rabenbusches‘, nahe der Süd- seite des Weges von Domslau nach Kl. Sürding, der *,‚Teufelsstein‘‘, ein granitischer Geschiebeblock, von dem etwa 4 cbm durch Ausgrabung frei- gelegt sind.

S. 14. Zindel. Am Wege gegen Rattwitz eine Anzahl alter Maul- beerbäume (bis zu 1V, m U.).

Altkammer. Die größten Fichten im Schutzbezirke I sind durch Nonnenfraß zerstört worden, doch sind noch zahlreiche Fichten und Tannen von reichlich 2 m U. und mehr als 30 m H. im J. 32 sowie in den J. 26 und 27 in der Nähe des Hirschgrabens vorhanden; ähnliches gilt vom J. 73 ım Schutzbezirke II.

Conradswaldau. im Hochwalde stattliche Eschen (bis zu 2,30 m U.) und Eichen; die stärkste der letzteren (U. 5‘; m) am Beginne der Wald- wiese unweit des Forsthauses.

Riebnig. J. 6a, unweit des Oderdammes, eine Gruppe von Trauben- kirschbäumen, die geschützt werden soll. Sie sind zwar vorläufig noch nicht hervorragend (U. kaum 0,60 m), immerhin ist auch hier die Absicht der Beschützung freudig zu begrüßen.

Rogelwitz. J. 167, unweit des Gestells t (166/167), etwa 50 m vom Nordrande des Waldes, eine leider schon etwas abständige *Hainbuche von 31/, m U.; J. 161, östlich von der Brücke über den Flößbach, eine Urle von 31/, m Umfang. In der Nordostecke des J. 125, unweit der *,,‚Efeu- erle“, mächtige Fichten, Tannen und Buchen, desgl. im angrenzenden Teile von J. 124. Schöner *Mischwald ist auch noch in den J. 190 und bes. in J. 154 und 155 vorhanden, in 154 z. B. Eichen bis zu 5Y, m U., in 155 Eschen bis zu 2°/, m U.; im J. 190, am Waldrand, vom Gestell f bachabwärts, eine Erle, aus der ein von ihr glatt überwalltes Fichten- bäumehen herauszuwachsen scheint, weiterhin bachabwärts noch andere sonderbare Wuchsformen. Es wäre dringend zu wünschen, daß wenigstens einige Partien aus diesen Jagen so lange als möglich geschont blieben. Überaus zu bedauern wäre es auch, wenn bei Neuanlagen nicht etwas Rücksicht auf die ungemein interessante Krautwelt genommen würde; ganz besonderen Schutz verdienen die erst in den letzten Jahren entdeckten Standorte von Allium ursinum, J. 157, unweit des Südufers vom Flößbach (dort auch etwas östlich prächtige Buchen!), und von

I. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 111 Öarezx pilosa, J. 191, die hier einen weit nachı Nordwesten vorgeschobenen, pflanzengeographisch sehr beachtenswerten Standort hat.

Stoberau. Im nördlichen Teile des J. 182, an der Linie gegen 181, eine *Fichte von 2,35 m U. und reichlich 30 m H., deren Krone infolge Herabsenkung der Äste ogivalen Umriß zeigt. Am Gestell 159/160 stand bis 1906 eine Linde von nahezu 4 m U.}).

S. 15. Herzogswalde. An dem Wege, der an dem ersten großen Viadukt unter der Eisenbahn hindurch in den Wald führt, 6 Edelkastanien von 1—1!/,, m Umfang.

S. 16. Raschdorf. Das Revier enthält dicht oberhalb des Forst- hıauses und unterhalb des Hahnvorwerks sehenswerte, womöglich teilweise zu schützende Bestände; etwa 10 Minuten unter diesem Vorwerke stehen 2 Buchen, die in 4 m H. durch einen kräftigen Ast unter einander ver- bunden sind. Bei der Brandmühle 2 alte Kiefern, die stärkere von 2°, m Umfang.

Weigelsdorf. Am ‚Weigelsdorfer Kreuz‘ stattliche Urlen, darunter zwei von 2!/), m Umfang.

Alt-Heide. Unweit der Charlottenquelle ein starker, sehr auffallend gewachsener Apfelbaum.

S. 18. Gabersdorf. In der Nähe der Wiesauer Lärchen (deren stärkste übrigens nur 2,60 m U. besitzt) eine Birke, die in 2 m H, eine Maser von Y, m D. trägt. Am Fußwege von G. naclhı Willsch, gerade beim Eintritt in den Wald, eine große dreischäftige Buche mit Astver- wachsungen.

Kudowa. Vor der Lesehalle gegen die Fahrstraße ein breit- kroniger Eschenzwilling von 4 m U., mit einer kleinen Eberesche als Überpflanze am oberen Rande der Verwachsungswulst. An der Heuscheuer- straße, wenig oberhalb der Stelle, wo die Straße nach Bukowine ab- zweigt (die 500 m vom Beginne dieser Straße auf dem Meßtischblatt ein- getragene „Sophientanne‘“ ist seit 1535 eingegangen und jelzt völlig ver- schwunden!), eine ansehnliche, weithin sichtbare Buche von 2'/, m Umfang.

S. 21. Rückers. Vom ‚Hubertus‘ gegen den „Hellwigsplatz‘‘ am Ochsenberge zalılreiche prächtige alte Lärchen, deren Beschützung und Schonung sehr zu wünschen wäre; dasselbe gilt für die „Augentrostbuche‘“, die leider neuerdings Pilzangriffen stärker ausgesetzt erscheint.

Tscherbeney. An dem (300 m unterhalb des Forsthauses ab- zweigenden) Kommunikalionswege nach Straußeney, etwa 100 m von dessen Beginn, ein sonderbarer Buchenzwilling, der vor dem Herausfaulen des unteren Teiles des einen Baumes fast 5 m U. gehabt haben muß.

!) Conwentz schreibt 1908 in seinen „Beiträgen“, sie stehe 149/150, ‘was Gürich in seinen „Mitteilungen“, wie üblich, unberichtigt abschreibt. Auch ihre übrigen Zahlen enthalten leider verschiedene Fehler, wodurch mir beim Naclı- prüfen an Ort und Stelle mancherlei Zeitverlust verursacht wurde.

112 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Wallisfurth. Bei Kol. Wallisf,, an der Straße von Glatz nach Neu-Heide, eine Kapelle, bei der eine *Fichte von reichlich 2 mU. steht, die an der Spitze einen riesigen kelchförmigen Hexenbesen trägt.

Nd.-Backen. Die *Linnaea-Stelle liegt nordöstlich vom Steine 16,2 an der Linie 119/120. Dicht dabei eine starke *zweibeinige Kiefer, deren Stämme in 44, m H. verwachsen sind.

Rützen. 250 m jenseits der Bartsch, 50 m vom Wege Korangelwitz- Rützen entfernt, die stattliche, sonderbar verästelte *,‚Schlösselberglinde‘“.

S. 25. Nesselgrund. Im Gegensatze zu der einförmigen ‚Späten- walder Ewigkeit‘ finden sich zur Seite der ‚„Maxlinie‘ stellenweise schöne alte Tannen und Fichten. Die *,Einsiedlertanne‘‘ (Distr. 253, obh. der Stillerwiese) hält sich immer noch tapfer. Im Schutzbez. Neu-Biebers- dorf, in der Nähe des unteren Teiles des ‚„Tabakraucherweges‘“‘, am direkten Abstiege vom „Hellwigsplatze‘‘ gegen das Weistritztal mächtige Lärchenbäume (bis 21, m U.; vgl. S. 21 bei Rückers). An der Westseite der Kaiserswalder Straße, Schutzbez.Kaiserswalde, Distr.211, die prächtige *Haltertanne (U. 3,50 m). Im Schutzbez. Rinneberg, J. 46, links und rechts von der Straße je eine stattliche Tanne von etwa 2!/, m U.; eben- dort, J. 61, an der Ostseite dieser Straße eine auffällige Ineinanderklemmung einer Fichte und einer Buchengruppe. Der im „Waldbuch‘‘ abgebildete Riesenbaum führt den Namen „Schwarze Tanne“, An dem hübschen Rastplatze bei der Kressenbachschleuse erblickt man sowohl diese wie auch die „Einsiedlertanne“.

Donnerswalde (Karmine). Es erscheint äußerst wünschenswert, von den schönen Buchenbeständen, die namentlich im Rev. Pechofen noch vorhanden sind, wenigstens einen größeren Schlag zu schonen. J. 78 (15 m vom Gestell f) eine zweibeinige Buche: die schenkeldicken Stämme sind in 1%, m H. verschmolzen. Rev. Gr.-Lahse, am Kaltwasser gleich unterhalb der Brücke beim Kaltwasserberge, einige ansehnliche „Findlings- blöcke‘“ (bis fast 2 cbm oberirdisch).

S. 50. Joachimshammer. Am Damm östl. vom Eugenteich einige starke Eichen, etwa in der Mitte *eine von 5,20 m U., weiter südlich dicht beieinander zwei von 4, bezw. 5 m Umfang.

S. 31. Militsch. Die schöne Inschrift auf dem Parktore ‚Semper bonis patet‘“ besteht zwar noch (wenn auch etwas abgebröckelt, weshalb . sie von Partsch mißverstanden ist; vergl. dessen „Schlesien‘“, II, 456), doch ist leider nur noch der Weg rund um den Park freigegeben, von dem aus fast nichts zu sehen ist.

Postel. Der Wald zeichnet sich nicht nur durch seine forstästhetisch so wertvollen Bestände aus, sondern er enthält auch mehrere sehr beach- tenswerte Geschiebeblöcke, z. B. auf dem 'Totenberg, dicht beim Kirchhofe, einen Granitblock von 31/,.cbm (oberirdisch), nahe der Kuppe des Kummer- bergs einen von 11, cbm und einen ebensolchen 100 m nördl. der Land-

Il. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 113

straße Protsch-Waldkreischam; am Kälbergehege liegt ein *Quarzitblock von reichlich 4 cbm (abgebildet in der Zeitschr. „Schlesien“, 4. Jhrg., S. 112). Unweit des Waldvorwerks, bei der alten Lehmgrube, eine „Garben- kiefer“, mit 4 dicht neben einander aufsteigenden starken Ästen auf 1!/, m hohem Stamme.

S. 37. Sulau. Das Geisblatt ist leider eingegangen. Die Ahorn- bäume gehören zu Acer dasycarpum; unweil derselben einige schöne *Eschen mit prächtiger Elfeuumkleidung. Erwähnung verdient Vitis odorata mit armdicken Stämmen.

38. Giesdorf. Gegen Grambschütz, an der Bahn, in der Höhe des Heerstraßensteins 63,3 ein Kiefernzwilling mit mäeltiger Krone; der ver- wachsene Teil hat reichlich 4 m Umfang.

Niefe. J. 135b, reichlich 100 m südlich vom Kraschener Gestell, wenig westlich von der Linie 135/134 Linnaea borealis in großer Menge.

S. 39. Schadegur. Unweit des Vorwerks Sachtschale, an einer Wegunterführung bei der neuen Eisenbalın, eine eigentümliche *Ver- klemmung zweier Kiefern mit einer Eiche. Ein Ast der letzteren ist etwas bedroht, obgleich die Bahnbauverwaltung, der Fürsprache des Herrn Lehrer Herden-Butschkau nachgebend, in dankenswerter Weise die Schonung dieses „‚Naturdenkmals‘‘ veranlaßt hat.

Frankental. Die schönste *Eiche (,Waldmutter‘, U. 4,60 m) steht links von dem Fußwege, der von der Mühle ostsüdostwärls zum Walde und dann etwa 150 ın von dessen Rande ein wenig rechts von ihr sich hinzieht.

S. 40. Maltsch. Am Oderdamme gegen Regnitz (unweit des Steins 36,1) ein *Kreuzdornbaum von 6 m H. und 0,9 m Umfang.

Pusehwitz. Im Dominialgarten eine mächtige *Platane von 3,50 m U. Am Wege gegen Gohlau, hart an der Grenze, eine Eiche, die zwar nur knapp 4 m U., aber ein auffallend weit ausladendes Geäst besitzt.

S. 45. Stephansdorf. 5300 m nördlich vom Kirchhofe, am Mühl- grabendamme, stattliche Eichen; die stärkste („Waldmutter“) hat 6 ın U. An der Südwestecke des Kiefernschlages, reichlich 1 km südlich von Vogelherd, die ..Storcheiche“, ein trolz des nur mäßigen U. (4 m) wohl schon sehr alter Baum. Der „Hochwald‘‘ (zw. Schweinberg und Seedorf) enthält zahlreielie schöne Hainbuchen und Bichen, letztere (bis zu 4 m U.) teilweise recht hochschäftig, bes. die „Konradseiche“. Im Parke hat die größte Biche, dicht beim Eiskeller, 4, m U., in ihrer Nähe auch Erlen bis zu 2%, m Umfang.

Stusa. Im Wäldchen Eschen bis zu 3 m U., unter den Eichen fällt die hochschältige ‚‚Schweinitzeiche‘ aul. Im Gutshof eine schöne *Platane von 38,60 m Umlang.

Carlsberg. Im oberen Teile des ,„Wasserfallwegs“ Fichten und Tannen bis zu fast 3 m U., noch schönere im mittleren und oberen Teile

1910. 8

114 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

des „Gebirgsvereinswegs‘‘; an diesem bei der Kreuzung mit dem Weg Albendorf—Kl. Carlsberg eine “Tanne von 40 m H. und 31), m U. Unter- halb des Ascherfelsens ansehnliche *Fichten, die mit ihrem Wurzelwerke die Sandsteinblöcke sehr auffällig umkrallen.

S.46. Bartkerei. Im westlichen Teile der Forst schöne Bestände: zahlreiche *Fichten bis zu 2!/, m, Buchen bis 3 ın, Kiefern bis 2,70 m U., namentlich dort, wo die von Nordwesten kommende ‚„Schlottauer Linie“ (des Meßtischblattes!) die 1. Querlinie schneidet, doch auch um die Morgen- stern- und die Luziner Linie. An der Morgensternlinie (der Karte, von den Waldarbeitern als Schlottauer Linie bezeichnet!), unweit ihrer Kreuzung mit der Fischerlinie, ein schöner, der Kronprinzessin zu Ehren benannter *Kiefernüberhälter von 2,10 m U. Einige prächtige Bäume auch nahe dem Südteile der Fürstenbrunnlinie.

S. 47. 0Oels. In der „Fasanerie‘“, an einer Wegteilung unweit des Nordrandes, 2 *Eichen, die am Boden und wieder in 3m H. durch einen Ast verbunden sind; etwas südlich von da eine Buchengruppe, bei der ein sehr kräftiger Ast der einen in etwa 6 m H. von einer andern aul- genommen worden ist.

S.48. Laskowitz. Die pflanzengeographisch hochinteressante Vege- tation der Südwestspitze (etwa 3 ha) des Waldes ist auf Veranlassung des Besitzers, Graf Saurma-Jeltsch, bei der letzten Neubearbeitung sorgfältig geschont und durch Anbringung eines hohen Drahtzaunes gegen unberufene Eindringlinge geschützt worden: ein der Nachahmung sehr zu empfehlendes Beispiel opferwilligen Eintretens für den Heimatschutz.

S. 49. Steindorf. (Die jetzigen J.-Nummern stimmen, wie leider auch in vielen andern Fällen, mit den auf dem Meßtischblatt eingetragenen nicht überein, letztere sind südlich von Linie F um 29, nördlich davon um 31, nördlich von G um 33, nördlich von H um 34 zu erhöhen!) Außer einzelnen ansehnlichen Fichten und Buchen in den J. 74 (Ecke gegen 95), 96, 72 (im nordöstl. Teile) und 73 sind bes. in den J. 50 und 49 am Rande der großen Wiese zahlreiche stattliche Fichten, Tannen, Buchen und Hainbuchen vorhanden. J. 31, nahe dem Rande dieser Wiese, 150 Schritt südl. von F, eine *Hainbuche von 1,90 m U., die durch eine riesige Maser auf 2,355 m anschwillt; dort auch Buchen bis zu 3,10 und Eichen bis zu 4,50 m U,, ferner alte Urlen. Im Südteile von J. 32, in der nördl. Verlängerung des Westrandes der von Süden her eingreifenden Wiese, eine mächtige *Esche (U. 3,20) mit sonderbarer Längswulst (durch Blitz?). Etwa 80 m östl. von ihr eine etwas abständige Eiche von 5,10 m U. J. 35, nörd). vom Graben, ziemlich in der Milte zwischen den beiden Gestellen, ein Haselbusch von 13 m Kronendurchmesser, die Stämmchen bis 0,60 m stark. J. 34, hart an der Linie F, eine *Hainbuche, mit einer von 1 m abwärts ziemlich gleichmäßig rundum entwickelten Maser von 4,60 m U., auf der der obere Stamm (U. 2 m) wie auf einer „Kupitze“

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 115

zu stehen scheint. Bei der Kreuzung == zahlreiche Tannen bis zu 2%, m U.; J. 74, am Steindorf-Baruther Wege eine sonderbare Ineinander- klemmung von 2 Kiefern und einer Tanne.

S. 50. Breitenhain. Am Fußwege von der Goldenen Waldmühle zum „Kreuz‘‘, kurz bevor der anfangs steile Weg fast eben wird, eine *Buche von 3Y, m U., weiterhin eine ebenso starke, als „König“ bezeichnete; einige 100 Schritte westlich von dieser, ganz nahe dem ,.Kreuz“, dicht bei einander mehrere *Buchen von 3Y/,—3', m Umfang.

S. 53. Gorkau. Am oberen Parkende, dort, wo vom Beginne des „.Kellerbrunnenweges‘“ ein Privatweg sich abzweigt, eine Tanne mit reich- lichem Mistelbesatz.

Kapsdorf. Im Walde zahlreiche Eichen von 4—5 m U., am Fuß- wege gegen Kammendorf, unweit der Kreisgrenze, eine *Fichte von reich- lich 3 m Umfang.

S. 55. Zobten. Am ,„Moltkeweg“‘, kaum 100 m nördlich von der Kreuzung mit dem „Bergweg‘“, 2 am Boden und wieder zwischen 4 und 5 m H. verwachsene Fichten: die schwächere hat sich um die größere gewunden, ihr freies Ende ist vertrocknet. J. 49, an der westlichen Ver- längerung des Kindelbergwegs (‚‚Theresenweg‘‘), dicht vor der Kreuzung mit einem von oben kommenden Holzwege, zwei 50-jährige *Buchen, die am Boden und in 1Y/, m H. verwachsen sind, nachdem sie eine 100-jährige Kiefer umschlungen haben. Am Mittelberge („Bismarckweg‘‘) einige Elsbeer- bäumehen. Am Eintritt des Theodor Körner-Weges in den Wald (dieht obh. Gorkau) eine prächtige *Fichte.

S.56. Deichslau. Auf dem Kirchhof eine *Linde von 7,35 m U.; südlich vom Ostausgange des Dorfes eine Winterlinde von 4,80 m U., mit eigentümlicher Verästelung.

Mlitsch. Südlich vom Guhlvorwerk, besonders am Grenzwege naclı dem Oberteil von Talbendorf, einige große Wacholder (unterer Stamm- umfang bis zu 60 cın).

S. 57. Tarxdorf. Die Angabe über das Vorkommen von Silber- pappeln ist wenigstens neuerdings unzutrellend. Dagegen sind aus den J. 85 u. 36 unfern der Dombsener Gemeindegräserei große Kiefern (jenseits des Wiesensehlungs auch eine Eiche von 4'/, m U.) zu erwähnen: eine, nahe dem alten Oderdamme, hat bei 40 m H. einen astreinen Stamm von 20 m H. u. 2,50 m U, In der Nähe des J. 100, an der Grenze gegen die Diebaner Waldwiese, eine *Biche von 5,50 m Umfang.

Crummendorf. Auf dem Rummelsberggipfel ist außer den selönen Urlen auch das Vorkommen von Bergrüster zu beachten; am Abstiege gegen die Strehlener Hauptstraße große Ahornbäume, der *stärkste, un- mittelbar bei der ersten Straßenkehre unter dem Gipfel, hat 2,50 m U. Elsbeere kommt in kleineren Bäumen noch mehrfach vor, z. B. auch an

g*+

116 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

einem Fußwege gegen Geppersdorf. Mächtige Lärchen an dem östlichen Parallelwege zur Hauptstraße, bes. im J. 15,.wo *Stämme bis zu reichlich 2), m U. und fast 40 m H. zwischen prächtigen Kiefern stehen.

S. 58. Mehltheuer. Die *kreuzartige Ineinanderklemmung zweier -— ostwärts gerichteter Äste der „Kreuzeiche‘“‘ hatte ich nicht erst erwähnt, da sie zufolge Eingehens des einen Astes kaum noch zu erkennen ist. Wie Conwentz und Gürich von einer „Durcheinanderwachsung‘ der Äste berichten können, muß ihnen überlassen bleiben.

S. 61. Laasan. Im Hummelwalde (= Beatenwald) kommt, unweit des „Sterns“, Efeu vor, der bis zu S m H. an den Eichen hinauf- gewachsen ist.

S.62. Blücherwald. Auf dem Caritteberge, an der 1. Linie west].

von der Grenzlinie gegen Forst Bartkerei, die *,,Sedanbuche‘‘, ein Vierling

von etwa 3 m Umfang,

Gr. Commerowe. Beim Stein 6,8 eine Kopfweide mit einem Eber- eschenbäumchen als Überpflanze. An der ‚„‚Wunderbirke“ in Kl.-C. ist eine zweite starke Wurzel westwärts gerichtet, die den Weidenstamm zer- sprengt hat, aber so fest in ilın eingekeilt ist, daß sie sich kaum davon abhebt.

S.65. Kl. Ujeschütz. Östlich vom Forsthaus eine leider durch den Schneebruch vom 18. IV. 04 stark zerklüftete Reihe prachtvoller Wacholder, mehrere von 6—7!/, m H., der “stärkste hat am Boden 1,22 m, in Im H. noch 0,60 m U. In der Nähe der Trachenberger Linie schöne alte Kiefern im Gemisch mit Buche und Hainbuche, hier auch Richen bis zu 4 m U. J. 71b, an der Linie D, eine 100-jährige Kiefer, auffällig eingeklemmt in eine wohl gleichaltrige Hainbuche.

S. 67. Görbersdorf. Unweit ‚„Kluges Wiese“, gegen das ‚„Rieger- plänel‘‘, eine kleine zweibeinige Buche, weiterhin gegen das Goldwasser sehr schöne Fichten.

Langwaltersdorf, Auf der Kammhöhe obh. der Kirchenlehne, unweit des aussichtsvollen Vogelberges, malerische Buchen, Fichten und Tannen; besonders schön ist der "Teil der Forst (J. 49) in halber Höhe zwischen Blitzengrund und der Großen Heide: hier auch große Bergrüstern, z. B. *eine von reichlich 3 m U., dicht am Steige, zwischen Fiehten und . Tannen von ebensolcher Stärke,

Lomnitz. Im Dorfe, an dem von unten 2. Wege, der von der Hauptstraße ihr annähernd gleichlaufend abgeht, etwa 100 m obh. der Brücke, eine Linde (U. fast 5 m) mit einem Hirschholder als Überpflanze, Im ‚Tiefen Graben“ eine große Anzahl prächtiger Buchen (U. etwa 3 m), auch schöne Fichten und Tannen. L

S. 68. Baldowitz. Beim Forsthaus Laterne alte Haselbäumehben bis zu etwa 1 m Umfang.

ll. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 117

S. 69. Märzdorf. Gegen Tsehermin eine Schlucht mit prächtigen Fichten und Tannen; an der (Quelle des östlichen Seitenbächleins stehen Tannen von etwa 31, m Umfang.

S. 74. Praukau. Am Fußwege von der Regnitzer Fähre gesen Praukau eine Gruppe einer Art „Stelzenkiefern‘‘, deren Wurzelwerk infolge von Unterwaschung freigelegt ist. An dem großen Damme, der unweit der Göpperteiche von Osten her einmündet, zahlreiche schöne Maßholder und Hainbuchen.

S. 81. Prinzdorf. Von der Scheuchbuche zieht sich im Bogen ost- wärts gegen das Waldwärterhaus um den „Grünbusch‘“ ein (verbotener) Weg: an diesem zahlreiche hochschäftige Kiefern von 2—2", m U., aın Östrande auch schöne Buchen, die größte davon mit 5 m Umfang.

tl. Abbildung. Die Torstensonlinde bei Gurkau.

Ss. 83. Gurkau. Da meine 1908 gebrachte Berichtigung der Con-

wentzschen Angaben über die #Torstensonlinde von Gürich (zleichwie die

118 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

lichen Studienfahrten mehrere Hunderte geliefert habe, während er fast nichts Neues bringt!) nicht beachtet worden ist, dieser vielmehr von jenem abschreibt, der ‚in dem Rauschwitzer Gemeindeforst‘‘ stehende Baum sei im Innern auf Anregung des R.-G.-V. ausgemauert worden, sehe ich mich genötigt, nochmals darauf hinzuweisen, daß eine Ausmauerung, die ja bei der im „Waldbuch‘“ hinlänglich charakterisierten Eigenart der Wuclisver- hältnisse völlig verfehlt wäre, unterblieben und nur eine recht zweckmäßige Eindrahtung erfolgt ist, wie dies die hier beigegebene Abbildung deutlich erkennen läßt; der Baum gehört auch nicht zu Rauschwitz, das gar keinen Gemeindeforst besitzt, wie ja überhaupt dort in weiter Runde Wald fehlt. Sapienti sat!

Schabitzen. Gegen Rostersdorf 6 breitkronige alte Kiefern, die stärkste von 3,895 m Umfang.

Ss. 84. Görlitz. Gegenüber dem 1906 angegebenen Acer dasycarpum auch ein prächtiger A. platanoides; unweit des zur Erinnerung an die Promenadengründung gesetzten Denksteins eine Esche mit mächtiger Maser.

S.85. Nieda. Die 1906 angegebene *Hainbuche steht im Guts- parke. An einer Waldecke, links vom Wege Radmeritz-Nieda die „Tetzel- eiche“‘, ein noch unbedeutender Baum, der wohl zum Ersatz eines ein- gegangenen jahrhundertealten dienen soll. Auf dem Kirchhof eine mäch- tige, von Wildem Wein malerisch umkleidete *Robinie.

S. 86. Vorhaus. Unweit des Dorfes eine weithin sichtbare “Fichte von 2,70 m U. u. gegen 50 m H., die „‚Zimmerfichte‘‘ genannt.

Deutsch-Wartenberg. Am Kirchhofe große Winterlinden (U. bis 4°/, m). An der Stelle, wo vom Boberniger Hauptwege der Fußweg „nach dem Schloßberg“ sich abzweigt, starke Kiefern (bis 24, m U.)e dabei auch eine Buche (Zwilling?) von reichlich 3 m U. Am Anstieg, zum Schloßberge von Forsthaus Neuhaus her stehen dicht bei einander eine Buche von 3,70 m U. und eine Hainbuche von 2,70 m U.; am Wege von Neuhaus nach den 3 Kiefern (Forstort Mühlhorst) eine schöne Eiche („Schokoladeneiche‘‘) von 4,50 m Umfang.

Grünberg. An der Heerstraße gegen Halbemeilmühle eine arm- leuchterartig gewachsene Kiefer, an der Berliner Heerstraße (bei Stein 108,5) zwei prächtige Roßkastanien, die *größere von 4,40 m U.; im Garten der Gasanstalt ein gewaltiger Nußbaumdrilling, dessen völlig vereinigter Grund- stock jetzt leider in Erdaufwurf (ähnlich wie bei der Eibe auf der Seiler- bahn) verborgen liegt: es ragt noch ein Einzelstamm von 2,70 m und ein Zwillingsgebilde von 3,70 m U. (in jetziger Brusihöhe) heraus. Die *Silberpappel beim Amtsgericht hat 4,95 m U. Auf dem Grundstücke Niederstr. 41 ein Flieder von 0,76 m und nahe dabei ein Efeu von 0,25 m Umfang.

S. 89. Kontopp. Im Parke große Fichten (bis 2,70 m U.), auch eine Eiche am Westrande von 4m U. Am Meschlug, einem

II. Abteilung. Zoologisch-bolanische Sektion. 119 dem Meschsee im Norden parallel laufenden Wiesengrunde, beim Nordaus- gange einer seiner östlichsten „Grüfte‘“‘ ein *Wachholder von etwa 7 mH. und 0,5 m U. in Y/, m Höhe.

Läsgen. Im Parke große Eichen, mehrere von reichlich 5 m U., *eine besonders schöne im westlichen Teile hat 5'/,, eine am Nordrande 6,40 m Umfang.

Poln.-Nettkow. Der einige m hohe Stumpf jener Robinie, die an- geblich zu Ehren der ersten Anwesenheit Friedrichs des Großen gepflanzt ist, zeigt 3,44 m U, Vor dem Schloß ein prächtiger Ahorn von 2,64 m U., im nordwestlichen Parkteil ein Juniperus virginiana von 20 m H. und 1,70 m U.; im Rentamtsgarten eine Eiche von 4,90 m U. Sehenswerte, sehr artenreiche Gehölzanlage jenseits des Kanals.

Saabor. Die Angaben von 1908 sind mehrfach zu ergänzen (vergl. meinen Aufsatz in der Zeitschr. Schlesien, Ill, 577). Die *,,Mordeiche‘‘, zwischen dem See und der Straße nach Milzig, hat 5"), m Umfang. Beim Vorwerke Lodenberg stehen mehrere Eichen von 6 m U., die stärkste (noch ganz gesund), auf der Wiese am Südrande des Vorwerks, hat 8'/, m U,, eine wenig westlich von ihr (die „Hundehütteneiche‘‘), schon ziemlich verfallen, zeigt jetzt nahezu 7 m U.; die noch weiter westlich stehende hat 7,12 m, *eine recht malerische am Nordausgange 6,45 m Umfang, Eine große Anzahl mächtiger Eichen stehen bei dem verfallenen Lipp- vorwerk, in dessen unmittelbarster Nähe (dicht unter dem Hohlweg, der von der diluvialen Platte ins Alluvialgelände hinabführt,) auch die größte bisher aus Schlesien nachgewiesene *Rüster (U. 5,50 m) zu sehen ist; die “stärkste, gerade am Abhang unter der Vorwerksruine stehende und des- halb schwer zu messende, ergibt, wenn die Meßleine stets in 1/, m H. angelegt wird, 10,50 m U. Leider war meine Zeit zu knapp bemessen, um auch die in der Richtung auf die Kleinitzer Fähre hin stehenden Eichen zu besichtigen; von anderer Seite waren die erbetenen Nachrichten nicht zu erhalten. Im Orte, am Ausgange gegen Loos, 2 schöne Ahorn- bäume von fast 2!/, m U.; aus dem Parke sind Pappeln von reichlich 6 m U. (am Ludwigstaler Wege) sowie eine prächtige Silberpappel von 4,90 m U. zu nennen.

Sawade. Dicht beim Orte eine sehr auffällige, etwa 150-jährige ®Kiefer, deren Wurzelwerk durch Unterwaschung und Stürme ungewöhnlich tief freigelegt ist; eine hübsche Schilderung ihres Entwickelungsganges stand im „Niederschles. Anzeiger“, 1910, Nr. 177.

Schloin. Auf der Besitzung des Gemeindevorstehers eine prächtige Eiche von reichlich 5 m Umfang.

S. 90. Boberröhrsdorf. Im Dominialhofe eine *Linde von 7,15 m U. in 1, m H., wenig darüber in 3 Schäfte ausgehend; auf der west- lichen Seite trägt sie einen Holderstrauch als Überpflanze.

120 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

2. Abbildung. Die 2. Harfenfichte bei der Bobertalsperre.

Boberullersdorf. Hierher ist die auf S. 110 angegebene Notiz über die Harfenfichte bei Tschischdorf, Kr. Löwenberg, zu stellen. Etwa 20 Schritt unterhalb jenes Baumes wurde von H. Wenke (Hirschberg) noch ein #zweiter, ihm auffallend ähnlich gewachsener entdeckt (vergl. meinen Aulsatz „Eine sonderbare Duplizität der Fälle“ in Nr. 333 des ‚„Wanderers im Riesengeb.‘“). Wenn, wie vorauszusehen, nach dem Ausbau der Tal- sperre der dortige Bestand gefällt werden sollte, ist dringend darauf zu halten, daß dieser 2. (in den Bereich des Staubeckens fallende) Baum un- versehrt bleibt, damit das überaus seltene Doppelstück möglichst lange erhalten werde.

S. 93. Hohenwiese. Im Garten des Gasthauses „zum grünen Baum“ ein *Holunder, der in ®/, m H. 1,80 m U. besitzt; in I m H. geht er in 6 Teile aus. Gegenüber der Konditorei „Glück im Winkel“ ein anderer Holunder mit schönem, aufrechtem Stamme (H. 6 m, U. 0,90 m).

Petersdorf. Am Anstiege von der Ludwigsbaude gegen den Hochı- stein kommt man bald nach Erreichung des älteren Bestandes durch eine sehr malerische urwüchsige Waldpartie.

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 121

S. 94. Schmiedeberg. An der Südostseite der Oberförsterei (Arnsberg) eine Linde von 3,65 m U., dicht dabei eine *Buche von

4,56 m U. Am Landeshuter Kamme noch zahlreiche stattliche Buchen, z. B. wenige 100 m oblı. der „Großen Buche‘ die „Kleine Buche“ (U. 3%, m). Das Mehlbeerbäumehen unterhalb der Tannenbaude ist

glücklicherweise nieht völlig vernichtet worden, es ist wieder Stockaus- schlag erfolgt.

S. 95. Schreiberhau. Auch in Hinter-Schr. beim Gasthause ‚‚zur Linde“ eine hübsche Linde von 3°/, m Umfang.

Striekerhäuser. Gegenüber dem Gasthause „zur Landesgrenze‘ ein baumartiger Wacholder von 0,54 m Umfang.

S. 96. Litschen. Am alten Teichdamme große Eichen (bis zu 5 m U.), auch bei der nahen Ballakmühle eine Eiche von 5 m U. Bis zu diesem Jahre standen beim Dorfe eine Eiche von 6 m und eine Rüster von 5m U.; beide sind gefällt worden, da die eine durch Blitzschlag, die andere vom Sturme stark beschädigt worden sind.

Weißkollm. Im Park und in seiner Nähe stattliche Eichen, die stärkste, von 6 m U., leider nieht mehr ganz gesund; bei dem Sägewerk unweit des Schlosses ein Eichenvierling mit prächtiger Krone, am Nord- westausgange des Dorfes eine *Kiefer von 2", m U. Im Distr. 110 ein Bestand sehr alter Kiefern, die „Reiherkiefern“, von denen noch etwa 30 (früher erheblich mehr) von Reihern besiedelt sind; die *stärkste hat 2V, m, die übrigen haben 2—2Y, m U. Sie werden möglichst geschont werden.

S. 97. Kolbnitz. An der Pombsener Grenze, am Wege Ratischütz- Pombsen, eine schon sehr im Verfalle begriffene Wintereiche, die gegen 4 ın U. gehabt haben muß.

Mönchswald. Mehrfach schöne Fiehten und Tannen, bes. auch im Geißelgrunde; beim Abteilungsstein 99, an der Kolbnitzer Grenze eine Tanne von 2,70 m Umfang,

S. 98. Rattschütz. Bei der Ortstalel eine schöne Eiche von reich- lich 3 m U.; 200 m nordöstl. von da, ganz nahe dem Heßbergwege, eine Buche von 3,10 m Umfang.

Haselbach. Im oberen Teile, unweit der Bahn, eine Birke mit mehreren Dutzenden kopfsroßer Hexenhesen.

S. 101. Euphrosinental, Hier sind noch als Straßenbäume (an der Löwenberger Landstraße) Buchen von 2—3 m U. zu sehen.

lriedersdorf. Gegen Neu-Schweinitz eine schöne Linde von 4!/, m U., an der Grenze gegen den Ob. Langenölser Mordgrund ein Restbestand stattlicher Buchen (bis reichlich 3 m U,.), Tannen und Fichten.

Küpper. Die alten Bestände sind jetzt fast völlig geschlagen, z. T. infolge des Nonnenfvaßes der letzten Jahre. Vorhanden sind noch eine *Buche von 3,18 m U. am Forellenteich und einige andere schöne Buchen,

123 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

z. B. in Abt. 10, am Dreihäuserwege, eine von 21, m U., sowie mehrere hübsche Fichten und Kiefern, die möglichst geschont werden sollen. Die jetzt größte Fichte scheint diejenige in Abt. 7 am Hellbach, hart an der Grenze, zu sein (U. 2'/, m).

Ob. Langenöls. Im Mordgrunde die freistehende ‚„Jungbornbuche“ (U. über 3 m).

S. 102. Neu Löben. An dem Hause neben dem Forsthaus ein prächtiger *Efeu (U. mehr als 30 cm).

Rengersdorf. Östl. vom Dorfe, unweit des Weges nach Golden- traum, eine weithin sichtbare, reichkronige Kiefer von mehr als 2 m Umfang.

S. 110. Tschischdorf. Von hier zieht sich zwischen dem Seifen- bachtal und dem von dem großen Viadukt überspannten ein kleines Tal gegen den Bober, in dem ein Feldweg abwärts führt; an diesem steht links vom Eingang in den Wald ein Wacholder von fast 8 m H., das stärkste seiner 6 Stämmchen hat 0,55 m U. Auch andere ansehnliche Wacholder sind in der Nähe vorhanden. Über die Harfenkiefern vergl. das bei Boberullersdorf (S. 90) Gesagte.

S. 111. Barschau. Verfolgt man den vom Dominium (Campanini- Stift) nordwärts führenden Weg bis zur Abtrennungsstelle desjenigen nach Kreidelwitz und von da an den nur wenig westwärts abweichend sich hin- ziehenden alten Viehtrieb (an alten Maulbeerbäumen von 1!J, bis fast 2 m U. vorbei) durch den Wald weiter, so kommt man nach etwa 1 km Wald- weges an eine Stelle, wo sich dieser Weg in einen rechtwinklig nach rechts und einen im Bogen nach links verlaufenden teilt: der letztere führt nach etwa 50 m zu der (schon im Nachtrag 1906) erwähnten Eiche, die 6,93 m U. hat.

Koslitz. Im Gehöfte des Gasthauses ein schön gewachsener Holunder von fast 1m U. und 7” mH.; bei den „Weinhäusern‘‘ einige hohe Fichten und alte Edelkastanien. Wenig nördl. von diesen Häusern leitet ein Feld- weg ostwärts, nach einer kurzen Strecke offenen Geländes an einem ein- gezäunten Kiefricht vorbei: kurz bevor dieser an der Grenze der Regierungs- bezirke den Weg von Mlitsch nach Friedrichshuld trifft, sieht man im Norden die Krone der „Kaiserbuche‘‘ herausragen (H. 28, U. 3,30 m). Auch vom Koslitzer Gasthause aus ist diese zu erblicken.

S. 112. Gr. Rinnersdorf. Auf dem Kirchhof eine Linde von 4,80 m U.; im Walde die *,,Wunderbuche‘“, 8 (früher 9) größere und mehrere kleine Stämme am Grunde zu einem Stammkörper verschmolzen, der in /, m H. 5Y/, m U. besitzt. Man gelangt zu ihr, wenn man 135 m südlich vom Dominium von der alten Lübener Straße rechts abbiegt und nach 350 m den vom Schloßpark kommenden Weg nach links zum Wildpark hin verfolgt: man trifft dann nach 400 m (die 1. Hälfte außerhalb des Waldes, die 2. im Innern) auf eine Linie, an der man nach 250 m west- wärts gerichteter Wanderung den Baum zur Linken erblickt.

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 123

Beer 7 DEIN

3. Abbildung. Wachholder bei Heide nächst Muskau.

Heide. In melıreren Jagen, bes. massenhaft in J. 178S—181, Linnaeu

borealis. Bei den Häusern herrliche Wacholder, der *stärkste hat 0,7 m *

U. und 7 m H., der *östlichste treibt aus einem Stocke von 1,70 m U, (in 0,10 m H.) zahlreiche Stämmcehen, von denen das stärkste in Brust- höhe 0,60 m U, hat.

Jänkendorf. Eine *Eiche dieht beim Schlosse hat 5,65 m U. An der Wegeabzweigung gegen Alt Oedernitz eine *Kiefer von 2,95 m Umfang.

Lugknitz. Die im „Waldbuch“ angegebene *Eiche ganz nahe der Heerstraße hat 7,30 m U; im Gelände noch mehrere andere Rieseneichen, *eine besonders schöne (U. 5,86 m) bei der Tieslerschen

Braunkohlengrube. - In der Wussina ist u. a. die *,„Bertramkiefer*

124 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

(U. 3 m) zu nennen; oberhalb ihres Standortes mächtige “Tannen, z. T. mit Misteln. Von der Brücke bei der unteren Laube an am Schorn ab- wärts mehrere Fichten von 40 m H. und fast 3 m U., dicht am Wege eine jetzt leider eintrocknende *Kandelaberfichte von 3'/, m U.; ihr gegen- über am Bach eine andere (völlig gesund) von 51, m Umfang.

Muskau. Am ‚Grabmal des Unbekannten‘ eine *Kiefer von 2,45 m U., am ‚„Nachtigallensteig‘“ eine Eiche von 6,50 m U. Unweit des Schlosses ein ungewöhnlich schöner *Acer dasycarpum. In der Nähe der Bauschmiede eine Bergrüster von 4,60 m U., auch zwei riesige *Pappeln von je fast 6 m U.; im Bauhofe ein dreistämmiger *Holunder, dessen stärkster Stamm 1,80 m U, besitzt. Im Arboret, am Braunsdorfer Felde, 2 *Kiefern (dicht beieinander) von 2,40 bezw. 2,02 m, am Wegedreieck *eine von 2,338 m U. Am Rande des Bergparks die sehr auffallend gewachsene *,,Manno- Linde“ (früher „Gesellschaftslinde‘), im Bergparke prächtige Buchen. Unweit des Krauscehwitzer Kirchhofes wieder nennenswerte Eichen, darunter *eine (U. 5Y, m) mit besonders schöner Krone.

S. 113. Quitzdorf. An der Waldstraße eine *Fichte von 3,23 m U.

S. 114. Skerbersdorf. J. 263, am Neißedamm (Rev. Sagar), eine *Kiefer von 2,45 m U. J. 280 (Rev. Keula), am Wege Keula-Sagar, nahe der Sagarschen leldgrenze, eine mächtige *,‚Harfenkiefer‘*.

Dittersbach. In der Kieferheide, wenige m nördlich des Weges von D. nach Bahnhof Küpper, der „Teufelstein‘, ein Granitblock von etwa 13 cbm (oberirdisch), mit großem, an einen Pferdehuf erinnernden Eindruck auf der Oberseite. Vergl. meinen Aufsatz in der Zeitschrift ‚Schlesien‘, IV, Heft 4. Der Besitzer, Herr Gemeindevorsteher Lehmann, hat zuge- sichert, dieses hochinteressante Naturdenkmal unangetastet zu lassen.

Gorpe. An der Naumburger Heerstraße, vor der Mühle von Ober G., eine alte *Linde, die schon von /, m H. an kronleuchterartig in 16 auf- strebende Äste ausgeht.

Halbau. Um die Kirchhofsmauer mehrere ansehnliche Winterlinden, die stärkste (einfache) hat 44, m U.; die *Promnitzlinde (U. 7,10 m) ist zweifellos ein Zwilling.

8. 117. Sagan. Die bereits im „Waldbuch‘ erwähnte höchst auf- fällige *Zusammenwachsung von Eiche und Apfelbaum steht westlich vom Stein 2,3 der Straße. Im Parke eine schöne *Fichtengruppe, auch Schier- lingstannen bis zu 2,2 m U., im nordwestlichen Teile große Pappeln, im südlicheren (Kammerau) Eichen von 4—5 ın, *eine von.5Y, m U.; in der Nähe des Südausganges, nordöstl. vom Wege, 2 durch einen Querast ver- bundene Eichen. Im Walde gegen Halbau stehen an der Talleyrand- linie, dort, wo der Fürstenweg nach dem Waldhaus abzweist, zahlreiche prächtige alte Kiefern.

S.121. Schildau. Östlich der Straße vom Bahnhofe nach dem Dorfe, am Ufer eines Teiches, 2 Kopfweiden mit je einem Ebereschenüberbäumchen.

Il. Abteilung. Zoologiseh-botanische Sektion. 125

S. 125. Rokittnitz. Beim Dorfe sollen noch einige alte Eichen stehen.

S.130. Laband. Zum *,‚Teufelstein‘‘ kommt man, wenn man dem Wege folgt, der in der Verlängerung der von L. kommenden Heerstraße jenseits der Gleiwitz-Peiskretschamer ostwärts führt, und dann auf dem 1. Querweg nach rechts (,Teufelsallee“) etwa 450 Schritte zurücklegt; er liegt einige m südlich von diesem Wege,

S. 131. Reinersdorf. Die im Waldbuch erwähnte Tanne südl. bei der „Kaisertanne‘‘ ist als ‚‚Königstanne‘ bezeichnet worden; sie hat bei 45 m H. einen U. von 3,60 m. Auch im J. 78 ist eine jetzt frei stehende Tanne von 43 m H. und 3,60 m U. vorhanden.

S. 137. Neustadt. Am Wege nach Eichhäusel, unweit des Schieß- hauses, einige anselinliche Eichen, die *stärkste (mit einen Marienbilde) hat fast 41/, m Umfang. Die letzten alten Lärchen bei Eichh. sind 1908 geschlagen worden.

S. 138. Czarnowanz. An der Nordwestseite der Kirche eine #Winterlinde von 5,382 m U, wohl eigentlich noch stärker, da hier eine ansehnliche Erdaufschüttung vorzuliegen scheint.

S. 139. Danietz. J. 21, unweit des Forsthauses, einige alte Tannen (die stärkste 55 m lıoch, mit 3), m U.); nahe dabei auch ein Bestand alter Kiefern (bis zu 30 m H. und 1,90 m U.).

Derschau. Infolge eines Mißverständnisses ist die eigentlich hierher (Forst Grudschütz) gehörige Angabe über die dortigen Eichen zu Zbitzko gestellt (S. 141). Die Einzeichnungen des Meßtischblattes sind leider hier wie so oft, besonders bei neuerdings anders eingeteillen Bezirken ganz unzulänglich.

Jellowa. Die Eibe, die zwar nicht gerade bedeutend ist (H. 3”/, m U. 0,40 m), aber doch eine ganz hübsche Krone trägt, steht im letzten Gehöfte linkerhand des Weges von der Öberförsterei gegen Jesowlug. Letzteres ist ein altes Hochmoor mit riesigen Porstbüschen. J. 111, links vom Wege zw. Podewils und Kol. Kossowzen, eine *Kiefer mit eigentüm- lichem, beiderseits berindetem Spalt in d m H.: wohl ein „Lyrabaum“, dessen beide Äste untereinander verwachsen sind. J. 159 interessante Naturverjüngung von Kiefer auf Moorboden: im äußersten Nordwesten des J. 139 eine *Esche von 30 m H. und 4,20 m Umfang. In den nordwest- lichsten J. vielfach ältere Bestände mit schönen Buchen, Kiefern und Fichten (bis zu fast 3 m U.).

Lugnian. An der *Eibe (auf dem Grundstücke 117, etwas nördl. von der Kirche) scheint das „Palmzweigeschneiden‘‘ neuerdings fast gänzlich unterblieben zu sein, da sie auch im unteren Teile wieder mit ziemlich reichlichem Gezweig besetzt ist; der obere trägt eine recht ansehnliche Krone. Die Höhe beträgt gegen $ m, der U, fast 2 m: es ist dies also der stattlichste Eibenbaum Oberschlesiens,

126 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

S. 140. Neu Poppelau. Der *Wacholder beim Fährhaus Klink ist in den letzten Jahren etwas zurückgegangen, wird sich wohl aber bei hin- reichender Beachtung wieder erholen.

S. 141. Zbitzko. Über die im „Waldbuch“ genannten Eichen vel. die Bemerkung zu S. 139, Derschau. Das Grenzgebiet der J. 17 und 18 (Rev. Pirschhütte) nebst dem anstoßenden Teile von J. 40 (die Nummern des Meßtischbl. sind längst veraltet!) enthält hübschen älteren Bestand, dessen Schonung zum Schutze des Chronstauer Mühlbachs in Aussicht ge- nommen ist. Auch im J. 75 (Rev. Chronstau) soll eine größere Fläche geschont bleiben, auf der das Quellgebiet eines zum Flößbach fließenden Wasserlaufes liegt.

S. 143. Bodland. Rev. Christinenhof, J. 82b (der neuen Nume- rierung), südlich von den Wierschlyer Enklavewiesen, ein etwa 30 a be- deckender Horst von hochschäftigen Kiefern (U. 11/,—2 m), deren Schonung bestimmt in Aussicht genommen ist. J. 46, nördl. von Emilien- hütte, westl. vom Wege nach Wierschly, 2 von diesem aus sichtbare Eichen, die *größere (‚Max‘) hat 5 m, die andere („Eugen“) reichlich 4°/, m U.; dicht dabei Fichten bis zu 3 m und eine prächtige *Urle von

4. Abbildune. Die schönste der Eichen zwischen Carlsgrund und Vosshütte.

II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 127

1Y, m Umfang. Nahe der Oberförsterei (nordwest].), J. 74, einige schöne Buchen, die *größte hat reichlich 3 m U. Schöne Kiefern von 2 bis 2'/, m U. finden sich vielfach in der Forst zerstreut vor, namentlich auch östlich vom Jagdschlosse.

Carlsgrund. Von den großen Eichen gegen Voßhütte ist die *süd- lichste (U. 5,40 m) die schönste, die nächste ist mit 6 m U. die stärkste; unter den übrigen fallen noch besonders *drei dicht beieinander stehende von durchschnittlich 4Y, m U. auf.

S. 144. Kraskau-Neuhof. Im Schloßgarten eine prächtige Roß- kastanie von 4,65 m Umfang.

Sehlesische Gesellschaft für vaterländische Gultu

y 2 ss. II. Abteilung. Jahresbericht. | Naturwissenschaften. 1910. | e. Sektion für Obst- und Gartenbau.

&c are 29

Bericht über die Tätigkeit der Sektion für Obst- und Gartenbau im Jahre ıg10. Erstaltet von den Sekretären Felix Rosen und Jelto Hölscher.

Im Berichtsjahre fanden 5 Sitzungen statt, die sich eines guten Besuches erfreuten. Im Vorstande wurden für die nächstjährige Etats- periode die bisherigen Sekretäre wiedergewählt, außerdem trat an Stelle des krankheitshalber zurückgetretenen Herrn Apotheker Waldemar Beckmann Herr Kaufmann E. Eitner als Gartenkurator ein,

Zum korrespondierenden Mitgliede der Schles. Gesellschaft wurde vom Präsidium auf Vorschlag der Sektion der städt. Gartendirektor der Stadt Liegnitz, Kgl. Gartenbaudirektor F. Stämmler, ernannt.

Wie in früheren Jahren so fand auch im Berichtsjahre eine unent- geltliche Verteilung von Sämereien an die Mitglieder statt; es konnten im ganzen 65 Desiderate mit insgesamt 1225 Portionen Samen zum Versand kommen. Leider gingen von einzelnen Mitgliedern die Wünsche erst einige Wochen nach dem ausdrücklich festgesetzten Termin ein; sie konnten deshalb nicht mehr berücksichtigt werden. Wir möchten noch- mals an dieser Stelle darauf hinweisen, daß auch in Zukunft zu spät einlaufende Wunschzettel auf keinen all erfüllt werden können, da für die alljährlich zur Verteilung kommenden Samen eine bestimmte Summe ausgeworfen wird, die nachträglich nicht erhöht werden kann. Einige Mitglieder hatten auf den zurückgesandten Listen ihre Adresse anzugeben vergessen; war der Absender auch aus dem Poststempel nicht zu er- mitteln, so konnte natürlich sein Wunsch auch nicht berücksichtigt werden,

Um auch größeren Kreisen, namentlich Inhabern von Schrebergärten, Gelegenheit zu geben, sich über einschlägige Obstbaufragen zu informieren, wurde am 16. Oktober im Sektionsgarten zu Klettendorf ein Vortrag vom Sektionsgärtner Frost über die Pflege und den Schnitt der Obstbäume abgehalten, der, da auch eine kleine Obstschau mit dem Vortrage verbunden war, eine rege Beteiligung aufwies.

Am 3. und 4. September fand in Liegnitz die Feier des 25 jährigen Bestehens des Provinzial-Verbandes Schlesischer Gartenbau-Vereine statt, an der als Vertreter der Sektion Herr Garteninspektor Hölscher teilnahm. Die Sektion, die mit 9 anderen Gartenbau-Vereinen Schlesiens den

1910. 1

2 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Verband am 23. August 1885 in Breslau begründete, erhielt ein Diplom, das der Vertreter der Sektion mit einigen Dankesworten in Empfang nahm.

Im Klettendorfer Versuchsgarten war im Berichtsjahre die Entwicklung der Baumschulquartiere durchaus befriedigend; auch die Standbäume brachten schon recht nette Erträge.

Im manchen Gegenden von Schlesien, insbesondere auch in der Nähe von Breslau, trat im Sommer recht verheerend der sogenannte amerikanische Stachelbeermeltau, Sphaerotheca mors uvae, auf. Leider wird diesem äußerst schädlichen Pilze, der die befallenen Beeren vollständig vernichtet, noch lange nicht die gebührende Beachtung geschenkt.

Es kommen an Stachelbeersträuchern zwei Arten von Meltaupilzen vor: Microsphaera grossulariae und Sphaerotheca mors uvae. Eine genaue Kenntnis dieser beiden Pilzarten ist namentlich für Stachelbeerzüchter von größter praktischer Wichtigkeit; denn während der zuerst genannte Pilz, der sogenannte europäische Stachelbeermeltau, ein verhältnismäßig harm- loser Schmarotzer ist, vermag der „Beeren-Tod“, der sogenannte amerikanische Meltau, Sphaerotheca mors uvae, seine Wirtspflanze in außer- ordentlich verheerendem Maße heimzusuchen. Während der europäische Stachelbeermeltau einen zarten mehlartigen weißen Reif auf den Blättern hervorbringt, erzeugt der amerikanische Meltau anfangs weiße, später kaffeebraune, sammetartige, filzige Überzüge auf den Beeren sowie an den Jahrestrieben. Der Pilz wirkt da, wo er auftritt und sich unglaublich schnell verbreitet, ungemein schädlich. Die von ihm befallenen Beeren bleiben bald im Wachstum zurück, platzen vielfach mit breiten Rissen auf, fallen ab oder verderben durch hinzutretende Fäulnis. Sie reifen nie aus und schmecken im unreifen Zustand, zu Kompott verwendet, bitter oder wie angebrannt, so daß sie garnicht zu verwerten sind.

Zur Bekämpfung des Pilzes wendet man Schwefelkalium-Brühe an; diese ist der Kupferkalkbrühe vorzuziehen. Zu ihrer Herstellung werden 300—400 g Schwefelkalium in 100 Ltr. Wasser gelöst. Mit dieser Brühe werden die Sträucher in 8 bis 14 tägigen Zwischenräumen mittels einer Rebspritze bestäubt. Soll in einem Garten, wo sich die Krankheit bereits gezeigt hat, Erfolg erzielt werden, so ist es durchaus nötig mit dem Spritzen schon vor dem Austreiben der Sträucher zu be- ginnen; auch ist es von großem Nutzen die befallenen Sträucher stark zurückzuschneiden und den Abfall sorgfältig aufzulesen und zu ver- brennen, da hierdurch die gefährlichen Sporenherde vernichtet werden.

Unsere Apfelernte war relativ gut; die Früchte zeichneten sich ganz besonders durch Größe und Färbung aus; so wog z. B. eine Frucht von Peasgoods Sondergleichen 520 g, Bismarckapfel 480 g, von Laues Prinz Albert 420 g, vom Pariser Rambour Reinette 375g, Schöner von Boskoop 280 gu. a. m.

ll. Abteilung. Obst- und Gartenbau-Sektion. 3

Über die ncu angepflanzten Apfel-Sorten kann ein endgültiges Urteil noch nicht abgegeben werdeu, da sie erst noch weiter beobachtet werden müssen.

Von den neueren Birnen-Sorten lieferte „Alexander Chonier“ recht gute Resultate, sodaß diese Sorte zum Anbau warm empfohlen werden kann. Hingegen haben sich von älteren Sorten in unserer freien Lage die „Weisse Herbst-Butterbirne“ und „Hardenponts Winter- Butterbirne‘‘ gar nicht bewährt. Die Früchte werden alle rissig, so daß dieselben garnicht zu verwenden sind.

Von einigen neueren Erdbeer-Sorten, die angebaut wurden, haben sich nachbenannte gut bewälhrt: „Königin Louise‘ (Züchter: Goeschke, Köthen i. Anh.); sie hat sicher eine gute Zukunft. Die Frucht ist groß, länglich, oft zugespitzt und karmoisinrot gefärbt. Das Fleisch ist rosa, fest und von vorzüglichem Geschmack. Reifezeit sehr früh und lange an- haltend, da sich alle Beeren gut entwickeln. Eine andere reichtragende Sorte, die sich ihres festen Fleisches wegen vorzüglich zum Versand und Massenanbau eignet, ist die vom Züchter G. Soltwedel, Deutsch Evern, in Handel gegebene „Späte von Leopoldshall“. Sie zeichnet sich durch einen kräftigen gesunden Wuchs und große Fruchtbarkeit aus. Die Früchte haben aufangs eine breite, gelappte später runde Form, eine leuchtende Farbe und ein festes, scharlachrotes Fleisch, Die ersten Früchte kommen etwa 8 Tage später als die allbekannte Sorte „König Albert‘ zur Reife und die Erntezeit zieht sich sehr lange hin, weil die letzten Blüten sich erst entwickeln, wenn die ersten Früchte geerntet sind,

Über die einzelnen Sitzungen ist folgendes zu berichten:

In der I. Sitzung, Montag, den 24. Januar spricht Herr Obstbau- inspektor Rein über:

„Unsere Obstbäume und Sträucher im Garten der Stadt.‘

Vortragender ging in seinen interessanten Ausführungen davon aus, daß man bei Anpflanzung unserer Bäume und Sträucher im Garten der Stadt zunächst auf die Größe und Lage des verfügbaren Terrains Rück- sicht nelımen müsse. Sehr oft werde der Fehler gemacht, daß auf die Lebensbedingungen der zu pflanzenden Bäume und Sträucher nicht genügend eingegangen werde; auch sei vor allem die Sortenwahl im Hausgarten ausschlaggebend. Weiter beschäftigte sich der Redner mit den klimatischen Verhältnissen, die sich bei der Obstpflanzung im städtischen Hausgarten ergeben, erörterte die Wärme- und Feuchtigkeits- bedürfnisse der einzelnen Obstsorten. Von Äpfeln sind zur Anpflanzung im kleinen Hausgarten mit heißer Luft Sorten aus wärmerer Gegend zu wählen. Es sind vor allem Sorten zu meiden, die aus einem Klima mit feuchter Luft stammen, wie England und Amerika. Vorzuzielhen

sind für solche Lagen ungarische, russische und tiroler Sorten; 1*+

4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

auch einige italienische Sorten lassen sich mit Erfolg verwenden. Aber nicht die Sorte allein ist es, sondern auch die Baumform, die im kleinen Hausgarten berücksichtigt werden muß. Man wähle keine großkronigen Sorten, die oft verkümmern oder den kleineren Bäumen und Sträuchern Luft und Licht nehmen. g

Eine besondere Rolle spielt im Hausgarten auch die Beschaffenheit des Bodens, so ist bei der Anpflanzung von Äpfeln nur dann ein Erfolg zu erwarten, wenn die Bäume frühzeitig und intensiv bewässert werden können. Gut ist es auch, wenn durch öfteres Sprengen für eine genügende Luftfeuchtigkeit Sorge getragen wird. Birnen sind im allgemeinen genügsamer und gedeihen meist leichter und besser im Hausgarten; sie sind deshalb zur Anpflanzung ganz besonders zu empfehlen. Von großer Wichtigkeit ist es allerdings auch hier eine gute Auswahl zu treffen, vor allem sei die Lage frei und recht sonnig. Mit der Bewässerung ist es nicht so ängstlich wie beim Apfelbaum, auch leidet der Birnbaum bei weitem nicht so sehr vom Ungeziefer, er ist deshalb schon der Blutlaus wegen, die in der Großstadt so verheerend auftritt, dem Anbau des Apfel- baumes vorzuziehen. Weit mehr als das Kernobst verdient das Steinobst angepflanzt zu werden, das meist auch viel williger trägt. Viel Licht und Sonne ist allerdings auch bei ihm ein Erfordernis: man plaziere deshalb das Steinobst so frei wie nur möglich und meide großkronige Sorten. Von Pflaumen sind späte Sorten nicht so empfehlenswert; beim Pfirsich sind zugige Lagen zu vermeiden. Zu unterlassen ist bei den beiden letzten Obstarten das viele Schneiden und eine zu intensive Düngung.

Unter den Obstgehölzen ist der Wallnußbaum und die Haselnuß zu nennen. Ersterer kommt für einen Hausgarten nur da in Betracht, wo genug Raum vorhanden ist, etwa als einzeln stehender Baum als Schattenspender und Ersatz für eine Laube. Im kleinen Hausgarten ist er indessen nicht unterzubringen. Auch Quitte und Mispel sind zur Anpflanzung im Hausgarten zu empfehlen, zumal erstere hier oft eher zur Reife gelangt, als in freien Lagen; auch kann man dem Wasserbedürfnis dieses nicht sehr tief wurzelnden Strauches leicht abhelfen.

Weit leichter als die Obstgehölze sind die Beerensträucher, wie: Stachel-, Johannis-, Himbeere, Erdbeere und Brombeere im Hausgarten unterzubringen. Leider wird aber oft auf ihre Lebensbedingungen zu wenig Rücksicht genommen, so ist es bei der Himbeere, die bekanntlich wandert, ein Haupterfordernis, daß man sie nicht wuchern läßt.

Einen Übergang von den Obst- zu den Ziergehölzen bilden die ver- schiedenen Pirus- und Wildrosen-Arten, die schon ihrer schönen Blüten wegen einen hervorragenden Schmuck unserer Gärten darstellen.

Zum Schluß besprach Vortragender noch die Schädlingsfrage und be- tonte hierbei, daß diese wohl bekämpft werden können, wenn beizeiten dazugetan werde.

I. Abteilung. Obst- und Gartenbau-Sektion. 5

Mit Bezug auf das Gesagte wurden nachbenanute Obstsorten genannt:

A. Äpfel: (ungarische Sorten): Szabadkaer Serezika Szacsvays Taffetapfel Ungarische graue Reinette Ungarischer Rambur Sovarer Edelapfel Roter Kenezer Simonffys Apfel Graf Nikolaus Zichy Gelber Apfel der Pusta Fürst Bathyanys Rambur Graf Stephan von Szechenyi Madaer grauer Apfel Montine sko Paul Banf'ys Apfel

Englische (amerikanische) Sorten und solche aus Gegenden mit

feuchtem Klima: Baldwin Cox’ Orangenreinette Grünling von Rhode Island Hawthornden Lord Grosvenor Lord Suffield Evaapfel Goldparmäne Schöner von Boskoop Boikenapfel

Russische Sorten:

Charlamowski Antonowka Strumilowka Babuschkino Titowka (weißer-roter) Putiwka Astrakan (weißer-roter) Kaiser Alexander,

Tiroler Sorten: Edelroter Edelböhmer Köstlichster Rosmarin (weißer-roter) Weißer Winter Calvill

Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

B. Birnen.

Früh- und reichtragend, mit kleiner Baumform.

Alexander Lucas Boses Flaschenbirne Bunte Julibirne Charles Ernest Chaudys Butterbirne Clairgeau

Clapps Liebling Conference

Director Hardy Diels Butterbirne Alexandrine Douillard Esperine

Fouqueray

Frühe von Trevoux Congressbirne

Marie Lesueur Minister Lueius Rene Dunan.

Großkronige Bäume:

Englische Sommerbirne Amanliser Birne

Großer Katzenkopf Gute Graue

Kuhfuß

Oberilmer Pastorenbirne Pommersche Zuckerbirne Punktierter Sommerdorn Salzburger

Schlesische Weinbirne Schweizer Wasserbirne Wildling von Einsiedel.

0. Kirschen.

1. Sorten mit großer Krone. Früheste der Mark Große schwarze Knorpelkirsche Große Prinzessinkirsche Gubener Knorpelkirsche Schöne aus Marienhöh Tilgeners schwarze Knorpelkirsche

il. Abteilung. Obst- und Gartenbau-Sektion. u

2. Sorten mit kleiner Krone.

Coburger Maiherzkirsche Hedelfinger

Bopparder

Jahns Durchsichtige Kesterter Frühkirsche

Weichseln:

Rote Maikirsche Große lange Lotkirsche Kgl. Amarelle

D. Pflaumen. Königin Vietoria Czar Emma Leppermann.

Herr G. Bornemann, Florist aus Blankenburg am Harz, der als Gast der Sitzung beiwohnte, legte eine Anzahl schöner Cypripedien- Hybriden vor, unter denen namentlich die Formen mit weißer Fahne, die für den Blumenschnitt hervorragenden Wert haben, Beachtung verdienen, 80 ,„Calypso“ eine Kreuzung zwischen C, Spicerianum > C. Boxalli; „Lathamianum‘“, eine von dem Kurator des Botanischen Gartens in Edgebaston-Birmingham gezüchtete Hybride zwischen C. Spicerianum X C. villosum; ‚„Leeanum“ (C. insigne X C. Spicerianum) mit der groß- blumigen Form „superbum“.,

Von dem allbekannten und verbreitetsten Cypripedium insigne hat namentlich die großblütige Varietät „Chantini“ für feinere Bindereien einen hervorragenden Wert. Auch das aus Assam stammende €, Fairreanum, eine Art, die viel frische Luft und Licht verlangt, ist sehr empfehlenswert. Weit schöner als die Stammart sind die von ihm gezüchteten Hybriden wie: „vewillarium‘“‘ (barbatum > Fairreanum), „Arthurianum“ (C. insigne Chantini > Fairreanum), die aber leider bislang noch sehr hoch im Preise stehen.

Her» Bornemann machte bei der Vorführung dieser Hybriden auf die schöne Üypripedien-Sammlung des hiesigen Kgl. botanischen Gartens aufmerksam, wo die von ihm demonstrierten und noch viele andere Arten 3. Z. im herrlichsten Blütenflor sich befinden.

Herr Garteninspektor Hölscher macht im Anschluß an Herrn Bornemanns Ausführungen noch einige Angaben über die Kultur dieser Orchideen und erwähnt, daß demnächst im Botanischen Garten das aus den europäischen Gärten fast völlig verschwundene (. Boisserianum mit zwei Blütenstielen sich entfalten würde.

3 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

In der II. Sitzung, die Montag, den 28. Februar stattfand, sprach Herr Friedrich Zacher über:

„Schmetterlinge und Käfer als Schädlinge des Obstbaues“.

Zahllos sind die Schädigungen, die das Obst treffen können von der Blüte bis zur Reife, und nicht nur die Ungunst der Witterung ist daran schuld, wenn die Ernte nicht den Erwartungen des Züchters entspricht, sondern noch weit verderblicher wirken oft die Verheerungen, welche die große Schar der Tiere anrichtet, die an Wurzel und Stamm, Blatt, Blüte und Frucht der Obstbäume ihre Nahrung suchen. Auch pflanzliche Parasiten tragen ihr Teil bei, um dem Obstzüchter sein Leben schwer zu machen. Daher ist es nur recht und billig, wenn Zoologe und Botaniker Hand in Hand gehen, um dem Mann der Praxis mit ihrem Rat zur Seite zu stehen bei der Bekämpfung der Schädlinge. Aber wie liegen nun bei uns in Deutschland bezüglich des Pflanzenschutzes die Verhältnisse? Nur auf dem Gebiete des Forstwesens ist der Zoologie der Platz eingeräumt, der der Bedeutung der tierischen Schädlinge entspricht. Schon seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts haben die deutschen Forstzoologen eine vorbildliche Tätigkeit entwickelt, und da unter allen Schädlingen der Waldbäume die Insekten obenan stehen, so ist ihre Tätigkeit in erster Linie der Erforschung der Insektenbiologie zugute gekommen. Von dem hohen Stande der deutschen Forstentomologie legt das klassische ‚„Lehr- buch der mitteleuropäischen Forstinsektenkunde“ von Judeich und Nitsche ein rühmliches Zeugnis ab. Leider ist nun aber die Agrikulturentomologie einschließlich der Kenntnis der Obst- und Weinbauschädlinge dagegen arg zurückgeblieben.

Die Schuld daran mag zum Teil die Erscheinung tragen, daß die Schädlingsbekämpfung in Deutschland hauptsächlich in der Hand der Botaniker liegt und nur wenige selbständige Stellen für Zoologen und speziell für den Entomologen offen stehen. Ob das praktisch und nütz- lich ist, bleibt die Frage. Jedenfalls ist es auffällig, daß die so durchaus praktisch veranlagten Amerikaner in diesem Punkte ganz anders denken. Sie lassen sich die landwirtschaftliche Insektenkunde ein schweres Stück Geld kosten. Nicht nur, daß das „Department of Agrieulture‘“ ein besonderes ‚Bureau of Entomology‘‘ mit einem Stabe erstklassiger Forscher besitzt, auch jeder einzelne Bundesstaat der Union hat ein besonderes entomologisches Laboratorium, und es sind von den amerikanischen Entomologen ganz hervorragende biologische Arbeiten geliefert worden.

Da nun aber die genaue Kenntnis der Lebensgeschichte eines Insekts die erste Vorbedingung für eine erfolgreiche Bekämpfung bildet, so haben die Amerikaner auf diesem Gebiete die allergrößten Erfolge. 40 Millionen Dollars Schaden sollen nach einer Schätzung dem Lande dadurch jährlich

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erspart bleiben! Nun könnte man freilich behaupten, daß trotz allem die Schädigung durch pflanzliche Parasiten obenan stünde. Daß dem nicht so ist, geht aus einer Übersicht hervor, die ich der „Zeitschrift für wissen- schaftliche Insektenbiologie‘“ entnehme. Danach traten in einem Jahre als Schädlinge auf an:

Pilanzen Tiere Getreide 11 36 Rüben 12 16 Kartoffeln 13 11 Hülsenfrüchte 15 21 Öl- u. a. Pflanzen 20 49 Obst 28 54 Wein & 18

108 205

Gerade beim Obstbau überwiegen also auch die tierischen Schädiger ganz bedeutend, und es dürfte daher keine verlorene Mühe sein, wenn ich Ihnen die Biologie zweier Ordnungen etwas eingehender schildere, die die meisten und gefährlichsten Feinde der Obstbäume stellen. Da eine Berück- sichtigung aller tierischen Schädlinge zu weit führen dürfte, will ich mich auf die Schmetterlinge und Käfer allein beschränken.

Ich beginne die Reihe der Obstbauminsekten mit denen, die das Laub befallen und greife hier zunächst die heraus, die durch ihre Größe und lebhafte Beweglichkeit am meisten in die Augen fallen, die Schmetter- linge. Von Tagfaltern sind es zwei, die hier zu nennen sind, nämlich der Baumweißling, Aporia Crataegi, und der große Fuchs, Vanessa polychloros. Beide sind ja gut bekannt, besonders der Baumweißling mit seinen Raupennestern, die zum Unterschied von denen des Goldafters, „kleine“ Raupennester genannt werden. Ich will daher nicht näher auf sie eingehen. Der Baumweißling war schon seit vielen Jahren bei uns nicht mehr schädigend aufgetreten, hat sich aber in den Jahren 1907 und 1908 wieder recht unangenehm bemerkbar gemacht. Immerhin fällt die Schädigung durch die Tagfalter nicht sehr ins Gewicht. Dagegen sind in den letzten Jalıren aus allen Teilen des Reiches bewegliche Klagen eingelaufen über die enorme Schädigungen, die einige Spinner an den Obst- bäumen angerichtet haben, und ich möchte darum auf deren Lebens- geschichte etwas näher eingehen,

Da ist zunächst der Ringelspinner zu nennen, Malacosoma neustria. Seinen Namen hat er von der merkwürdigen Art der Eiablage erhalten, Das Weibchen kittet im Juli seine Eier in einem etwa I cm breiten Ringe um ein dünnes Baumästchen. Im Jahre 1906 hat man in einem ÖObst- garten in Nieder-Barnim 65 Ringe mit insgesamt 19000 Eiern gezählt, so daß auf einen Ring im Durchschnitt 292 Eier kommen würden. Die sehr bunten, längsgestreiften Raupen schlüpfen aus den glasharten Eiern im April oder Mai aus, ziehen in Gesellschaften umher und leben mitunter

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seltsamerweise mit den Raupen des Goldafters in freundschaftlicher Ge- meinschaft. Zu den Häutungen bauen sie sich ein gemeinsames Gespinst- nest. Oft setzen sie sich, besonders am frühen Morgen, in Klumpen in die Astgabeln und dann sind sie leicht aufzufinden und zu vernichten. Erst Mitte Juni verstreuen sie sich, um sich an geeigneten Punkten in einem dichten, doppelten Gewebe zu verpuppen. Im Juli kommt dann aus der Puppe der Falter hervor.

Nahe mit dem Ringelspinner verwandt und ihm auch in der Lebens- weise ähnlich ist der Schwammspinner, Eriogaster lanestris. Bei ihm finden wir aber schon einen besseren Schutz der Eier gegen den Winterfrost. Während der Ringelspinner seine Eier nackt ablegt, bedeckt sie das Weibehen des Schwammspinners mit einem schwammigen Gewebe aus Haaren, die es vom eignen Hinterleib losreißt. Sonst ist die Lebensweise dieselbe wie beim Ringelspinner: die gemeinsamen Wanderzüge der Raupen, ihr gemeinsam gesponnenes Nest, das als weißer Beutel vom Ast herabhängt u. a m. Als Nahrung bevorzugen sie die Blätter der Kirsche. In gleicher Weise, wie der Schwammspinner, schützt das Gold- after (Euproctis chrysorrhoea) seine Eier, Es ist ein ganz gefährlicher Schädling, nicht nur bei uns, sondern auch in Nord-Amerika, wohin es mit unserem Obst verschleppt worden ist. Es heißt dort ‚brown tail moth‘‘, Seine Eierschwämme legt es meist an die Unterseite der Blätter ab. Sie sind leicht kenntlich, weil sie mit den leuchtend rostroten Haaren bedeckt werden, die unser Schmetterling an den letzten Hinterleibsringen trägt. Das Goldafter ist der gefährlichste Feind unserer Obstbäume und es darf daher seine Bekämpfung ja nicht versäumt werden, die sehr leicht ist. Die jungen Räupchen überwintern nämlich gemeinsam, entweder unter loser Borke oder in einem gemeinsamen Gespinst, den „großen“ Raupennestern. Bis zum Februar sind sie daher leicht zu vernichten. Jedoch ist dabei Vorsicht am Platze, da die Haare der Raupe mit einer Giftdrüse in Verbindung stehen und daher schmerzhaftes Jucken und Ent- zündungen hervorrufen können. Die Raupen beginnen ihren Fraß im Herbst, überwintern und beginnen dann im April ihren neuen Fraß, bei dem sie alles kahl fressen und weder Blüten noch Blattknospen schonen.

Während die Puppen aller bisher genannten Arten frei liegen und den Schutz durch ein dichtes und festes Gewebe, einen Kokon, herstellen, verpuppt sich der Dickkopf, Porthesia dispar, die „gypsy moth‘ der Amerikaner, gern an geschützten Stellen wie Rindenritzen, Asthöhlen usw. So kann er es sich leisten, die Puppe nur unter einem ganz lockeren Gewebe zu verbergen. Um so besser sorgt er für seine Eier, indem er sie ebenso wie der Schwammspinner ganz mit einem dichten Filz von Haaren bedeckt. Das Absuchen der Bäume nach den Eierhaufen ist das beste Mittel zur Bekämpfung dieses Schädlings, denn die Raupen leben

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nur kurze Zeit gesellig, bilden keine Nester und sind völlig unersättlich, Sie gehen zur Not sogar an Nadelhölzer und sollen nicht einmal den giftigen Sadebaum verschonen. Auch dadurch schaden sie sehr, daß sie beim Fressen sehr wenig ökonomisch vorgehen. Sie fressen das Blatt nämlich nicht vom Rande her an, sondern beißen sehr häufig den Stiel durch, so daß das Blatt zu Boden fällt oder fressen es so aus, daß nur die Mittelrippe und die Randpartien übrig bleiben und so eine ankerförmige Fraßfigur entsteht. Der Schwammspinner besitzt die Gabe des Spinnens, nach der die ganze Familie benannt ist, nur noch in geringem Maße. Um so besser ist sie bei den anderen Arten ausgebildet, die erwähnt wurden, und es fragt sich, wo denn die Spinnorgane liegen. Es ist nun leicht zu beobachten, daß die Raupen mit dem Munde spinnen. Der Faden tritt an der Unterlippe aus einer hohlen Chitinspitze schon fertig hervor. Geliefert wird das Sekret, durch dessen Erstarren er entsteht, von zwei langen, vielfach gewundenen, schlauchförmigen Drüsen, die längs des Darmes den ganzen Leib durchziehen und erst in der Brust sich ver- einigen. Vor dem Eintritt in das Stilett wird der Faden durch einen mit starker Muskulatur versehenen Chitinring in die endgültige Form gepreßt. Wenn wir nun noch einenBlick auf das gegenseitige Verhältnis der beiden Ge- schlechter in der Familie der Spinner wer[en, so werden wir bei allen einen auf- fälligen Sexualdimorphismus beoachten können. Zunächst fällt die sehr verschiedene Größe der Geschlechter auf. Die Weibchen sind viel größer ale die Männchen und da obendrein ihr Hinterbleib noch prall mit Eiern gefüllt ist, so ist ihr Flug schwerfällig und langsam. Sie würden also leicht allen möglichen Feinden zum Opfer fallen, wenn sie zur Begattung umherfliegen würden, wie etwa die Tagfalter. Daher haben sie sich den Flug fast ganz abgewöhnt, dafür aber vorzügliche Anpassungsfarben er- worben, so daß sie auf der Rinde kaum zu erkennen sind und hier in Sicherheit die Männchen erwarten können. In wie vorzüglicher Weise nun die Männchen ihre Aufgabe lösen, die Weibchen aufzufinden, hat ein Versuch mit Saturnia pyri gezeigt, wo in einer Nacht zu einem gefangen gehaltenen Weibehen 150 Männchen angeflogen kamen! Es ist klar, daß das Männchen mit außerordentlich empfindlichen Sinnesorganen aus- gerüstet sein muß, um in der Nacht mit soleher Sicherheit seinen Weg zu finden, und zwar muß es einen ungemein feinen Geruchssinn besitzen, Als Sitz dieses Sinnes gilt bei den Insekten der Fühler und in der 'Tat, während der Fühler des Weibchens bei den Spinnern meist einfach faden- förmig ist oder nur ganz kurze Äste besitzt, ist der des Männchens kammförmig gefiedert. Dadurch wird seine Oberfläche ungemein vergrößert und es ist für eine viel größere Anzahl sensibler Elemente Platz vor- handen. Neuere Untersuchungen haben gezeigt, daß es viererlei Sinnes- elemente an den Fühlern der Spinner gibt, nämlich zur Aufnalıme mechanischer Reize haar- und borstenförmige, und zur Wahrnehmung

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chemischer Reize Sinneskegel, die entweder auf Griffeln oder in kleinen Höhlungen stehen. Für die Auffindung der Weibchen scheinen die Sinnesorgane der letzgenannten Art, die sensilla coeloconica, die Haupt- rolle zu spielen. Wie sehr die Männchen gegenüber den Weibchen im Vorteil sind, zeigen die folgenden Zahlen, welche die Anzahl der Sinnes- elemente an einem Fühler angeben. Es wurden gezählt sensilla coeloconica bei

d 2 Ewuproctis chrysorrhoea 1400 600 Lymantria monacha 770 330 Aybernia defoliaria 160 32.

Am stärksten ist also der Dimorphismus in den Sinnesorganen von Hybernia defoliaria ausgeprägt, wo das Weibchen nur den fünften Teil soviel sensilla coeloconica besitzt, wie das Männchen, und das stimmt auch damit überein, daß hier die Rückbildung des Flugvermögens beim Weibchen bis zur völligen Flugunfähigkeit und zum fast völligen Schwund der Flugorgane geführt hat. Die Weibchen der Frostspanner haben nur noch kleine, schuppenförmige Reste von Flügeln und es würde sie niemand für Schmetterlinge ansehen. Während die Männchen sehr flug- gewandt sind, kriechen die Weibchen wie plumpe häßliche Käfer an den Stämmen in die Höhe.

Als Schädlinge des Obstbaus kommen von den Fro stspannern haupt- sächlich zwei in Betracht: Cheimatobia brumata und boreata. Ihre Flugzeit fällt von Oktober bis Dezember. Das Männchen schwärmt am späten Abend um die Bäume, die Weibchen steigen zur selben Zeit vom Boden an den Stämmen empor zur Krone. Durch milde Witterung wird der Flug begünstigt, durch harten Frost zeitweilig unterbrochen. Aber selbst wenn die Temperatur schon auf 15° herabgesunken war, erscheinen die Falter hinterher doch wieder. Die Weibchen belegen die Laub- und Blütenknospen in den Kronen äußerlich mit einzelnen Eiern, die sehr fest angeklebt sind, so daß sie der Regen nicht abwaschen kann. Auch an Zweige und stielfeste Blätter werden die Eier mitunter abgelegt. Ein Weibchen legt bis 200 Eier. Sobald die Knospen zu schwellen beginnen kommen die Räupchen aus, befressen sie zunächst vornehmlich bei Nacht, bohren sieh oft tief hinein und fressen sie mitunter völlig aus, indem sie gleichzeitig ein feines Gespinst machen. Sobald sieh Laub und Blüten entfaltet haben, greifen sie die Blätter an, indem sie sie durchlöchern, aber nur selten vom Rande her anschneiden. Es kommt das angeblich daher, daß der Fraß an den noch gefalteten Blättern in der Knospe beginnt und daß die Raupe die dadurch entstandenen Löcher später nur erweitert. Wenn die Raupen Ende Mai bis Juni ausgewachsen sind, spinnen sie sich von den Bäumen herab und gehen in die Erde oder Boden- decke, wo sie mehr oder weniger tief sich verpuppen.

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Die Schädigung durch die Frostspanner kann eine selır erhebliche sein. Es tritt oft Kahlfraß ein, und wenn das mehrere Jahre nacheinander geschieht, so gehen die Obstbäume ein oder es erfrieren wenigstens die nieht hinreichend verholzten jungen Triebe. So entstand 1353 an der Bergstraße allein an der Kirschenernte ein Schaden von 170000 Gulden. 1906 trat der Frostspanner besonders schädigend auf in Oberfranker, Büdingen und Hannover. Im Bericht der Biologischen Reichsanstalt für 1908 wird Cheimatobia brumata dagegen nur beiläufig erwähnt. Ein natür- liches Gegengewicht gegen diesen Schädling bilden die Staare und Saat- krähen, auch kleinere Singvögel und sogar Körnerfresser, die die Raupen gern an ihre Brut verfüttern. Die Raupen sind auch gegen Feuchtigkeit sehr empfindlich und dem ausschlüpfenden Falter kann früher Schneefall sehr gefährlich werden. Dagegen scheint den Eiern auch die allerhärteste Kälte nichts anhaben zu können. Der beste Schutz der Bäume bleibt das Anlegen von Leimringen im Herbst.

Die übrigen Großschmetterlinge sind minder gefährlich und zeigen auch in ihrem Leben nichts biologisch bemerkenswertes. Dagegen ist bei den Kleinschmetterlingen, den „Motten“, noch viel merkwürdiges zu ver- zeichnen. Am auffälligsten ist die Apfelbaumgespinstmotte, deren käupchen im Juli große schleierähnliche Nester um den Baum weben, Manchmal kann die halbe Baumkrone durch einen solchen Schleier um- schlossen sein. Man hat nun versucht das Spinnvermögen der Gespinnst-

motten technisch zu verwerten und zwar hat ein Ingenieur Versuche an-

gestellt mit Yponomeuta evonymella, deren Gewebe eine ganz wunderbare Feinheit hat. Auf einen Millimeter Breite kommen nämlich 200—350 Fäden, deren Dicke etwa 0,062 mm beträgt. Es haben also erst 500 Lagen die Dicke eines Millimeters! Dabei hält der Faden dieselbe Zug- beanspruchung aus wie Messing, 15—20 kg auf 1 qmm. Infolge der Feinheit der Fäden ist das Gewebe auch sehr leicht. Ein Quadrameter wiegt nur 1,05 g, ist damit 13 mal so leicht wie der allerfeinste Cr&pe de Chine,. Bei künstlicher Zucht kann man Gewebe erzielen, die über Il m lang und Y, m breit sind. Es ist also nicht unmöglich, daß dieser Schädling sich zu nützlicher Tätigkeit „erziehen‘ läßt. Der Schaden, den diese kleinsten unter den Schmetterlingen anrichten, ist nicht unbeträchlich, und leider kommt es auch vor, daß früher harmlose Bewohner wilder Pflanzen am Obst Geschmack finden und dazu übergehen und dann selır schädlich werden. Dieser Fall ist im letzten Jahrzehnt bei der neuen Apfelmotte Ayyresthia conjugella eingetreten. In Schweden hat sie 1907 zum vierten Male binnen nur 10 Jahren die gesamte Apfelernte vernichtet. Vorher hat sie sich redlich vom Vogelbeerbaum oder liberesche er- nährt. Man hatte geglaubt, daß das Felilschlagen dieser Bäume die Uh- sache zur Übersiedlung auf den Apfelbaum wäre. Doch das hat sich als Irrtum herausgestellt. Entweder werden beide befallen oder beide verschont.

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Andererseits tritt die neue Apfelmotte auch da auf, wo ihre ur- sprüngliche Nahrung meilenweit nicht anzutreffen ist. In Schweden fliegt der Schädling von Mitte Juni bis Ende August. Die Eier werden auf die Früchte abgelegt, in die das Räupchen sich hineinfrißt, ohne selbst die Kerne zu schonen. Die Puppen liegen ganz flach in der Erde. In Deutseh- land ist sie bereits von 14 Fundorten bekannt.

Auch die Blätter bieten vielen Kleinraupen Nahrung. Bei allen diesen zarten Wesen besteht nun das Bestreben, sich auf irgend eine Weise gegen die Unbilden der Witterung zu schützen, und diese Aufgabe wird in sehr mannigfacher Weise gelöst. Wenn das Räupchen klein genug ist, um zwischen der Epidermis der Ober- und der Unterseite des Blattes Platz zu haben, so kann es sich das Spinnen ersparen und im Blattinneren unter dem Schutz der derben Oberhaut fressen. Die Gänge, die dadurch entstelen, nennt man Minen und die Tiere Minierraupen. Von ihnen mögen erwähnt werden Zyonetia Clerkella und Incurvaria pectinea. Die erste macht im Frühling geschlängelte, allmählich breiter werdende Gänge in den Blättern der Obstbäume und der Birke und verpuppt sich dann in einem sehr zierlichen Gespinst auf der Unterseite der Blätter. Die andere Miniermotte macht zahlreiche, rotbraune Platzminen, die sie später herausschneidet, so daß lauter rundliche Löcher entstehen. Eine zweite Gruppe von Kleinraupen lebt frei auf der Oberseite der Blätter, spinnt diese aber in verschiedener Weise zusammen. Acalla comparana zieht am Himbeerstrauche die Blätter an der Zweigspitze zusammen. Chimabacche fagella an Himbeere und Acalla variegana am Apfel- und Birnbaum leben zwischen flach zusammengesponnenen Blättern. Swammer- damia pyrella zieht die Blätter hohl nach oben zu einer Tasche zusammen. Orniz guttea und Gelechia rhombella am Apfel, Euplexia lucipara und Hesperia Sao an der Himbeere schlagen den Blattrand um. Eine letzte Gruppe von Kleinräupchen endlich verläßt sich ganz auf ihr Spinn- vermögen und spinnt einen Sack, der den Hinterleib schützt. Dies sind die Sackträgerräupchen der verschiedenen Coleophora-Arten. Merk- würdig ist dabei, daß das Säckchen stets so getragen wird, daß es senk- recht zur Blattoberfläche steht.

Die wenig entwickelte Bautätigkeit, welehe die Kleinraupen zu ihrem eigenen Sebutz erworben haben, führt uns zu einer dem Obst sehr ge- gefährlichen Gruppe von Rüsselkäfern, welche aus Blättern Behausungen für ihre Brut bauen und diese Industrie zu einer hohen Stufe der Vollendung geführt haben. Um bei ihnen die fortschreitende Entwicklung ihrer Bauten von unzweckmäßiger zu geschickter Anlage verfolgen zu können, müssen wir uns zunächst einmal zum Haselstrauch begeben. Dort finden wir im Sommer recht häufig die trommelartigen Blattgehäuse des schönen, korallenroten Apoderus coryli. Die Anlage dieser Trommeln ist insofern noch recht unpraktisch, als beim Bau die Mittelrivpe durch-

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schnitten und dadurch der Zu- und Abfluß der Säfte und die Ernährung des Larvenhauses gehemmt sind. Auch ist natürlich der Zusammenhang des Gehäuses mit der übrigen Blattspreite ein nur sehr loser, da er lediglich dnrch den Blattrand vermittelt wird. Ökonomischer verfährt schon der ebenso schön rote Attelabus curculionoides, der besonders an niederem Eichengestrüpp sein Wesen treibt. Er läßt wenigstens die Mittel- rippe stehen. Am allersinnreichsten ist jedoch die Düte angelegt, die Rhynchites betulae aus dem Birkenblatte anfertist. Bei seinem Larven- hause ist die Verbindung von Düte und Blattstiel eine besonders feste, da die Schnitte in verschiedener Höhe an der Mittelrippe ansetzen. In die nächste Verwandtschaft dieses Architekten unter den Rüsselkäfern gehören nun auch einige sehr bemerkenswerte Obstfeinde, die es allerdings meist in der Kunstfertigkeit nicht so weit gebracht haben. Da ist zu nennen der wenig geschiekte Rhinomacer betuleti, der im Mai und Juni sein Wesen auf den Obstbäumen treibt. Er nagt den Blattstiel oder den jungen Trieb an, so daß die Blätter schlaff werden. Darauf rollt er sie und klebt sie durch ein Sekret, das er aus dem Mund hervorbringt, zu- sammen. In das Innere dieser zigarrenähnlichen Rolle legt er sein Ei. Die Larve frißt nun in der Blattrolle, bis sie zur Erde fällt, und verläßt sie dann, um sich 3—4 em tief im Boden zu verpuppen. Im August bis September entwickelt sich der Käfer, der den Winter über versteckt bleibt. Nun wollen wir uns aber solch ein kleines Rüsseltier einmal genauer be- trachten. Da fällt uns eben als merkwürdigste Besonderheit auf, daß der Kopf vorn ganz beträchtlich verlängert ist und in einen veritablen Rüssel endist. Auch die Fliegen, Bienen, Schmetterlinge und manche anderen Insekten haben ja einen Rüssel als höchst vorteilhafte Neuerung erworben Jedoch haben sie ganz andere Teile dazu verwandt als unsere Käfer. Bei den Schmetterlingen sind es nur gewisse Mundteile, die eine ge- schlossene Saugröhre bilden und die Falter dazu verurteilen, sich mit flüssiger Nahrung zu begnügen. Besser gestellt sind die Hummeln und Bienen, da sie die Fähigkeit zu beißen und zu kauen trotz ihrer langen „Leckzunge‘‘ beibehalten haben. Bei den Rüsselkäfern nun sind die beißenden Mundteile ganz unverändert geblieben und nur die Schädel- kapsel ist vorn in eine enge, lange Röhre umgebildet, an der vorn der Mund sitzt. Dadurch sind sie befähigt ohne einen äußerlich kenntlichen Schaden anzurichten sich tief ins Innere von Nüssen, Früchten und Knospen hineinzufressen.

Das tut z. B. der grüne Kirschenstecher, Rhynchites auratus, gleich nach der Baumblüte. Er bohrt den Kelch seitlich an und frißt die Sexualorgane heraus. Sobald die jungen Früchte angesetzt haben, ent- wickelt er eine außerordentliche Gefräßigkeit, ohne dabei im geringsten wählerisch zu sein. Dann schreitet er zur Paarung, die etwa ®, Stunden dauert und nach jeder Eiablage wiederholt wird. Die Eier werden meist

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in junge Kirschen, aber auch in Äpfel, Birnen, Schlehen und Faulbaum- beeren gelegt. Nachdem das Weibchen in die Frucht ein tiefes Loch gefressen hat, das beim Steinobst mit einer Grube endet, die in den Kern hineingenagt ist, legt es das Ei in die Öffnung und schiebt es mit dem Rüssel bis auf den Grund des Fraßganges. Dann wird um das Loch eine ringförmige Falte genagt, die einen konzentrischen Ring um das Bohrloch bildet. So bekommt das Nest von außen das Aussehen einer flachen Grube, aus der ein Zäpfehen die vertrocknete Oberhant des Ringes hervorragt. Dadurch sind die Fraßwunden gut von Nestern zu unterscheiden. Nahe verwandt mit Rh. auratus ist Rh. bacchus, der gleichzeitig seine Schwärmzeit hat. Nur läßt er die Früchte nicht am Baum, sondern beißt den Stiel ab, so daß sie herabfallen. Nun würde es aber der Larve verderblich werden, wenn die Früchte faulten, und so ist es für den Käfer von größter Wichtigkeit, daß er an einem Pilz, Monilia fructigena, einen Bundesgenossen hat, der sich auf den Wund- stellen einfindet, die der Fraß des Weibchens bei der Eiablage erzeugt hat. Der Pilz mumifiziert die Früchte und schützt sie vor Fäulnis. Aber das Verhältnis ist ein gegenseitiges, da auch die Tätigkeit des Rhynchites für die Monilia förderlich ist. Der Pilz kann sich nämlich immer nur dort ansiedeln, wo er eine verletzte Hautstelle antrifft. So haben sich hier Pilz und Insekt verbündet, um dem Obstzüchter Schaden zu tun.

Da die übrigen Rüsselkäfer wenig neues und interessantes bieten, will ich mich gleich den Schmetterlingen zuwenden, die in den Früchten fressen. Es sind das vor allem zwei Kleinräupchen, Carpocapsa pomonella, der Erzeuger der „wurmstichigen“‘ Äpfel, und Carpocapsa funebrana, die Pflaumenmade. Beide verlassen die Frucht und verpuppen sich am Stamm. Aber nieht nur an weiches Fruchtfleisch wagen sich die Schmetterlings- raupen heran, sondern nicht einmal das feste, gesunde Holz ist vor ihnen sicher! Auch bei den Holzfressern können wir eine aufsteigende Reihe der Vervollkommnung beobachten. Die Konkurrenz der Holzfresser unter einander ist nämlich sehr groß, und wenn sie ohne jede Ordnung wirr durch einander fressen, so ist die Gefahr vorhanden, daß sie mehr auf alte, mit Kot gefüllte Fraßgänge treffen als auf Holz und so Hungers sterben müßten. Das wird leicht geschehen, wenn die Eier in Klumpen abgesetzt werden, wie bei den Holzschmetterlingen. Von ihnen nenne ich zunächst den Obstrindenwickler, Grapholita Woeberiana, der haupt- sächlich den Splint der Obstbäume angreift. Ein weiterer Schädling ist der Glasflügler, Sesis myopaeformis, der das Holz der Apfelbäume be- wohnt. Seine wachsgelbe etwas rötlich angehauchte Raupe arbeitet sich in den Splint hinein und frißt hier vom Juli bis etwa Mai. Da ja nun der vollendete Falter keine Beißwerkzeuge mehr hat, so muß die Raupe schon vor der Verpuppung das Flugloch fressen. Dann erst spinnt sie im Gange den Kokon. Die Puppe hat Stacheln an den Hinterleibsringen, und

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ehe der Schmetterling zum Ausschlüpfen reif ist, arbeitet sich die Puppe unter lebhaften Bewegungen aus dem Bohrloch heraus. Ganz ähnlich ist die Lebensweise des Weidenbohrers, Cossus cossus, (früher ©. ligniperda genannt), der jedoch bei weitem gefährlicher ist. Das Weibchen lest die Eier nicht wie die Sesien außen an die Rinde, sondern sie erspart den Räupchen diese Arbeit, sich erst einzubohren, indem sie mit ihrer Legeröhre die Eier in die Rinde der Wurzeln lest. Die Räupchen fressen zuerst gemein- sam unter der Rinde. Später gehen sie einzeln ins Holz hinein und fressen unregelmäßige, aufsteigende Gänge, die einen ovalen Querschnitt aufweisen, Gefährlich sind sie besonders dadurch, daß sie durchwegs in gesunden Holzpartien leben.

Auch bei dieser biologischen Gruppe sind es wieder die Käfer, die eine weise Vorsorge dafür treffen, daß ihre Nachkommen sich nicht gegen- seitig Konkurrenz machen. Das Weibchen der Borkenkäfer frißt nach dem Hochzeitsflug einen Gang durch die Rinde, in dem das Männchen nach- folgt. Die Paarung erfolgt dann in einem größeren Raum unter der Rinde, der Rammelkammer. Von hier beginnt der Muttergang, in dessen Verlauf das Weibchen rechts und links in gleichen Abständen Nischen nagt, in deren jede ein Ei abgelegt wird, Von dem Muttergange gehen ab und an Gänge nach der Rinde zu, die aber nie ganz die Oberfläche des Stammes erreichen. Man hat sie früher als Luftlöcher gedeutet. Jetzt weiß man, daß die Paarung zwischen den Eiablagen wiederholt wird. Da nun das Männchen dabei rechtwinklig zum Weibchen liegen muß, so wäre die Paarung in den engen Gängen unmöglich, wenn eben nicht diese „Luftlöcher‘‘ gefressen würden. Die Larven fressen nun von dem Mutter- gange aus strahlenförmig verlaufende Gänge, in denen sie sich schließlich verpuppen. Im Frühjahr schlüpft der Käfer aus. Da aber nur bei günstigen Wetter das Schwärmen möglich ist, so kommt es manchmal vor, daß die jungen Käfer noch ziemlich lange unter der Rinde leben müssen. Ihr „Nachfraß“ ist dann ganz unregelmäßig und kann häufig das klare Bild des Larvenfraßes ganz zerstören. Und auch nach der Biablage kann der Borkenkäfer noch schädlich werden, da er dann zum „legenerations- fraß“‘, schreitet, den er meistens in dünneren Ästehen vollführt. Auch dem Obst werden die Borkenkäfer zuweilen gefährlich und zwar hauptsächlich die Eccoptogaster-Arten: pruni am Pflaumen- und Birnbaum, ruguwlosus am Pflaumen-, pyri am Apfel- und Birnbaum.

Herr Garteninspektor Hölscher legt das Programm der Schlesischen Gartenbauaustellung vor.

Die große Rosenaustellung zur Feier des 25-jährigen Jubiläums des Vereins Deutscher Rosenfreunde soll mit einer Schlesischen Gartenbau- Ausstellung in der Zeit vom 25. Juni bis 10. Juli und vom 14. August bis zum 11, September im Stadtpark zu Liegnitz unter Leitung der

1910, 2

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Liegnitzer Gartenbau-Gesellschaft und der Mitwirkung der Gruppe Nieder- Schlesien des Verbandes der Handelsgärtuer Deutschlands verbunden werden.

Da die bisherigen Liegnitzer &artenbau-Ausstellungen Vortreffliches geboten haben, so steht gewiß auch diesmal den Interessenten ein hoher Genuß bevor. Herr Hölseher wirbt deshalb in warmen Worten für den Besuch und die Beschickung der Ausstellung und glaubt dies um so mehr zu können, da schon die Person des Kgl. Gartenbaudirektor Stämmler, der an der Spitze dieses Unternehmens stehe, für den besten Erfolg Gewähr leiste; außerdem würden in Liegnitz die Erzeugnisse der ganzen Provinz zur Schau gebracht werden, und so würde die Ausstellung ein Zeugnis von den Fortschritten des Gartenbaues in dem letzten Jahrzehnt geben.

Herr Verlagsbuchhändler Max Müller legt den Kassenbericht pro 1909 vor, aus dem hervorgeht, daß die Vermögensvermehrung mit 1783,89 Mark abschließt, die natürlich in den Beständen des Gartens zu buchen sind. Da die Revisoren bereits den Kassenbericht vorher genau geprüft hatten, beantragt der Vorsitzende Herrn Müller Entlastung zu erteilen, zu welcher Herr Apotheker Beckmann herzliche Worte des Dankes auspricht.

Die III. Sitzung fand am 26. September in Klettendorf statt.

Nachdem man sich am Eingang des Gartens versammelt hatte, über- nahmen die Herren Garteninspektor Dannenberg und Sektionsgärtner Frost die Führung durch den Garten, wobei sie die Gesichtspunkte bei Aufteilung der Anlage eingehend erläuterten. Herr Garteninspektor Dannenberg zeigte an den Bäumen die Vor- und Nachteile der einen und der anderen Erziehungsart bei den verschiedenen Obstpflanzungen, indem er dabei besonders darauf hinwies, daß bei einer Anlage von mittlerer Größe die niedrigen „Halbstämme‘“ die Fruchtpflege er- leichtern.

In dem neu angelegten Spaliergang wurden die Erziehungsmethoden väher erläutert und angegeben, daß hier sich die U-Form als die vorteil- hafteste bewährt habe.

Dem Rundgang folgte die Besichtigung einer kleinen Obstschau der im Garten gezogenen Birnen und Apfelsorten. Hier erläuterte Sektions- gärtner Frost die ausgestellten Früchte unter besonderer Berücksichtigung neuerer, wenig bekannter Sorten. Herr Professor Rosen gab die Richt- schnur für den Gartenbetrieb an und betonte, daß man wohl alle Erfolg versprechenden Sorten erproben, aber nur die bewährtesten davon für den Verkauf herazziehen solle.

Allgemein wurde in einer weiteren Aussprache bedauert, daß der schlesische Lehmapfel durch den in seiner Gestalt ähnlichen, aber weniger guten Welschweinling fast ganz verdrängt wurde. Dabei wurde der Verdienste des Herın von Salisch auf Postel gedacht, der bemüht

Il. Abteilung. Obst- und Gartenbau-Sektion. 19

ist, den alten schlesischen Lehmapfel wieder zu verbreiten. Herr Garten- inspektor Hölscher gibt dabei an, daß durch die freundliche Vermittlung des letztgenannten Herın der Sektionsgarten vor Jahren Reiser erhalten habe, die zur Veredlung von Standbäumen verwendet wurden. Die Sektion wird es sich angelegen sein lassen, auch in Zukunft das ihrige zur Ver- breitung dieses ausgezeichneten und bis ins späte Frühjahr hinein halt- baren Apfels beizutragen.

Im weiteren Verlauf der Sitzung wies Herr Verlagsbuchhändler Müller darauf lin, daß der Verkaufskatalog vergriffen sei, wobei Garten- inspektor Hölscher betonte, daß der Verband Schlesischer Bqumschulen- besitzer den Wunsch ausgesprochen habe, die Preise in dem neuen Katalog nach der Mindestpreisfeststellung des Baumschulenbesitzer- Verbandes zu normieren. Da seitens der Sektion eine Zusage bereits früher gegeben war, so soll dem Wunsche bei der Neuauflage Rechnung getragen werden: ebenfalls sollen dem Verzeichnisse wie früher An- weisungen über die beste Art der Pflanzung beigegeben werden.

Herr Professor Rosen betont, daß die anfragenden und bestellenden Gartenbesitzer angeben möchten, in welchen Boden die Bäume kommen sollen und welche sonstigen besonderen Verhältnisse bei der Auswahl der Sorten zu berücksichtigen sind. Man möge sich in jedem Bedarfs- falle der kostenlos zu Gebote stehenden Erfahrung des Sektionsgärtners ausreichend bedienen.

4. Sitzung, Möntag. den 17. Oktober.

Herr Öberlehrer Dr. G. Dittrich spricht über:

„Pilze des Scheitniger Parkes‘‘ (mit Demonstration).

Bei den günstigen Wachstumsbedingungen des letzten Sommers fanden sich auch in den unmittelbar an Breslau grenzenden Anlagen Pilze in größerer Zahl und in mannigfaltigeven Arten, als sie in anderen Jahren zu beobachten waren. Im Scheitriger Park wuchsen sie besonders zahl- reich in den westlich und südwestlich an den Göpperthain sich an- schließenden Teilen, auch am Finkenweg und nach dem Ferdinandsteich zu. Aus dem verhältnismäßig geringen Alter dieser Anlagen mag es sich wohl hauptsächlich erklären, daß in Schroeters Pilzfiora nur sehr wenige der hier aufgeführten Arten für Scheitnig angegeben sind, obgleieh darin naturgemäß gerade nahe gelegene Fundstellen, wie Botanischer Garten, ÖOswitz, Carlowitz, Strachate, am häufigsten verzeichnet werden.

Die folgende Aufzählung beschränkt sich auf größere, fleischige Arten, ist aber auch fir diese keineswegs vollständig, da sich bei weiterem Suchen die Zahl leieht auf das Doppelte vermehren lassen dürfte. Die Reihenfolge ist dieselbe wie bei Sehroeter, Die Pilze Schlesiens. Etwa die Hälfte der aufgeführten Formen lag bei dem Vortrag in frischen Exemplaren von den angegebenen Fundstellen vor.

230 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Herrn Professor Dr. Rosen, der mir zur Kontrolle der Bestimmung die Abbildungswerke des Pflanzenphysiologischen Instituts zur Verfügung stellte, danke ich verbindlich, ebenso Herrn Gartendirektor Richter, der mir das Betreten der Gebüsche und Rasenplätze freundlichst ge- stattete.

I. Basidiomyceten.

Hymenomyceten. Clavariaceen.

Olavulina eristata (Holms.) Schroet. August bis Oktober. Nordöstlich der Schweizerei.

Olavulina cinerea (Bull.) Schroet. September und Oktober. Zwischen Eichbornteich und der nach dem Botanischen Schulgarten führenden Kastanienallee; zwischen Göpperthain und Grüneicher Chaussee.

Olavaria inaequalis Müll. August und September. An denselben Stellen wie die vorige Art. Die Fruchtkörper waren auch innen orangefarbig.

Polyporaceen.

Boletus scaber Bull., „Graukappe“. Zwei Exemplare im August zwischen Eichbornteich und Kastanienallee.

Boletus bulbosus Schaejf., Steinpilz. Ein Exemplar Ende September am Wege westlich vom Eichbornteich.

Boletus radicans Schaeff. September und Oktober. Am Finkenweg in der Nähe der Radrennbahn; südlich der Schweizerei. Der Geschmack war schwach bitter.

Boletus subtomentosus L. in einer dunkelroten Abart Ende August nordöstlich der Schweizerei.

Boletus chrysentereon Bull. Anfang August am Grundstück neben dem Zoologischen Garten.

Agaricaceen.

Paxillus involutus Batsch, „Krämpling‘“. Juli bis Oktober. Zahlreich in den König-Wilhelm-Anlagen und weiterhin im Göpperthain auf Rasen- plätzen; vereinzelt am Finkenweg nach der Radrennbahn zu. In den Pilzbücheın als eßbar und sogar als wertvoll bezeichnet; frisch schmeckt das Fleisch säuerlich.

Coprinus micaceus Bull. Juli bis Oktober. In den Gebüschen um den Finkenweg an Baumstümpfen.

Coprinus atramentarius Bull, Tintenpilz. August bis Anfang November. An der (verlängerten) Tiergartenstraße, z. B. vor Nr. 104, und in der Kastanienallee nahe dem Botanischen Schulgarten.

Coprinus porcellanus Schaeff. September. Tiergartenstraße und süd- lich an der Rennbahn.

Lactaria subduleis Bull, Juli bis Oktober. Am Eichbornteich.

li. Abteilung. Obst- und Gartenbau-Sektion. 21

Lactaria fleeuosa Fr. Juli bis Oktober. Sehr verbreitet in den Gebüschen zu beiden Seiten der Kastanienallee, südlich davon bis zur Grüneicher Chaussee und in den Anlagen nach dem Oderschlößchen zu.

Dactaria necator Pers. Juli bis Oktober. In Mengen zu beiden Seiten des Eichbornteiches und der Kastanienallee und in der Umgebung des Ferdinandsteiches nach dem Rennplatz und dem Oderschlößchen zu.

Russula fragilis Pers. Juli bis September. Zwischen Rennplatz und Ferdinandsteich.

Russula wirescens Schaeff. Juli bis September. Östlich vom Eichbornteich.

Russulina integra (L.) Schroe. Juli bis Oktober. Die häufigste Täublingsart, namentlich am Zufluß des Eichbernteiches.

Marasmius alliatus Schaeff., ,„Mousseron“. August und September. Eichbornbrücke; Tennisplatz nahe dem Botanischen Sehulgarten.

Marasmius caryophylleus Schaeff. Mai bis September. Am östlichen Rande des Parkes in der Verlängerung der Kastanienallee.

Coprinarius disseminatus Pers. Juli bis September. Zwischen dem Rennplatz und der Feldmark Grüneiche.

Hypholoma appendiculatum Bull. Mai bis September. Am Briskeweg und besonders in allen Partieen um den Rennplatz zu der frühen Jahreszeit der häufigste Pilz; am Grunde von Baumstämmen, nahe dem Zoologischen Garten auch an einer lebenden Pappel.

Hypholoma fascieulare Huds., Schwefelkopf. Mai bis November. Über- all verbreitet, z. B. beim Schillerdenkmal, an der Radrennbahn. Der Hut ändert in der Färbung ab und ist namentlich im Jugendzustande nach der Mitte zu mehr rotgelb, so daß dann die Pilze von oben betrachtet H. lateritium ähneln.

Psalliota viridula Schaeff. August bis Oktober. Am Ende des Haupt- weges durch die König-Wilhelm-Anlagen und am Zaun des Nebengrund- stlickes des Zoologischen Gartens,

Psalliota campestris L., Champignon. August, Göpperthain an der Tiergartenstraße. Nahe dabei unter Kiefern standen einige habituell er- heblich abweichende, große und derbfleischige Exemplare, deren Hut mit dicken, braunen Schuppen, etwa wie beim Parasolpilz, besetzt war.

Psalliota arvensis Schaeff. August bis Oktober. Im nordöstlichen Teile des alten Parkes, im Göpperthain nahe der Tiergartenstraße und Kastanienallee, südöstlich des Rennplatzes, am Wege nach Oderschlößchen. Steht an Wohlgesehmack der vorigen Art erheblich nach. Eine vierte, kleine, im August an der Straße nach Leerbeutel wachsende, in einigen Merkmalen an Ps. silvatica erinnernde Art konnte nicht sicher be- stimmt werden.

22 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Derminus erustuliniformis Bull. Anfang September bis Ende November. In großer Zahl, auch in Hexenringen wachsend, auf den Grasplätzen nörd- lich vom Ferdinandsteich und östlich der Kastanienallee.

Cortinarius largus Fr. September, Eichbornteich an mehreren Stellen.

Pholiota mutabilis Schaeff., Stoekschwämmchen. September bis Novem- ber. An zwei Baumstümpfen zwischen Droschkenstandplatz und Schweizerei.

Hyporhodius icterinus Fr. September und Oktober. &ebüsch zwischen Ferdinandsteich und Finkenweg zahlreich, vereinzelt auch östlich und westlich davon. Geruch angenehm cumarinähnlich.

Hıyporhodius hydrogrammus Bull. September und Oktober. Weg am Eiehbornteich und nach dem Ferdinandsteich.

Rhodosporus cervinus (Schaeff.) Schroet. August und September. Finkenweg nördlich der Grüneicher Chaussee.

Russuliopsis laccata (Scop.) Schroet. August bis Oktober. Sehr zahl- reich in der Nähe des Wassergrabens vom Ferdinands- bis zum Eichborn- teich, fast nur in der Form rosella.

Agarieus Fibula Bull. August bis Oktober. Rasenplätze zwischen Eichbornteich und Grüneicher Chaussee.

Agaricus galericulatus Scop. Juli bis Oktober. Briskeweg, am alten Park, am Eiehbornteieh und weiter südlich.

Agaricus acervatus Fr. August und September. Gebüsche nördlich vom Ferdinandsteich.

Agarieus dryophilus Bull. Juni bis Oktober. Östlich vom Eiehbornteich.

Agaricus velutipes Curt. Anfaug September nur an einer Stelle auf- tretend, stellte sich der Pilz von November ab zahlreich in der ganzen Umgebung des Rennplatzes, auch im Göpperthain ein und wächst zurzeit (Januar) bei milder Witterung reiehlich. Der Stiel war bei allen Exemplaren im Gegensatz zu den Beschreibungen hohl.

Agaricus ostreatus Jacqu., „Drebling“. September bis Januar auf einem Baumstumpf am Östrande des Parkes, südlich der Radrennbahn. Nach Entfernung der zähen Außenschicht des Stieles ein sehr wohl- schmeekender Pilz.

Agaricus inversus Scop. August bis November. An vielen Stellen, wie am Nebengrundstück des Zoologischen Gartens und zwischen Eiehborn- teich und Rennplatz zahlreich; hier bildeten mehr als 100 Pilze einen Hexenring von ungefähr 5 m Durelimesser.

Agarieus nebularis Batsch. September bis November. Im Umkreise des Nebengrundstückes des Zoologischen Gartens; um den Ferdinands- teich; im alten Park nahe dem „Wasserfall“ in Hexenringen von sehr großen Exemplaren. An der zuerst genannten Stelle war im Oktober der größte Teil der Pilze regelrecht abgeschnitten, sie haben also auch in Breslau Liebhaber gefundeo, was sie wegen ihrer Ausgiebigkeit und ihres Wohlgeschmackes durchaus verdienen.

ll. Abteilung. Obst- und Gartenbau-Sektion. 33

Agaricus bicolor Pers. September bis November, im Oktober der häufigste unter den großen Pilzen des Parkes: Nördlich der Schweizerei, am Zoologischen Garten, in der Umgebung des Yerdinandsteiches usw., auch in (teilweise unvollständigen) Kreisen wachsend. Die in Michaels schönen Abbildungen besonders dargestellte Art Ayaricus personatus Fr. zieht Schroeter wohl mit Recht zu Agarieus bicolor.

Agaricus cyclophilus Lasch (Agaricus irimus Fr.). September und Oktober in einem Gebiüsch zwischen Kastanienallee und Tennisplatz. Der angenehme Geruch dieser seltenen Art gleicht dem von Rhizoma Iridis,

Agariceus saponaceus Fr. Zu derselben Zeit und an derselben Fundstelle wie die vorige Art, außerdem alljährlich südlich vom Rennplatz.

Agarieus rutilans Schaeff. Im August zwischen Eichbormteich und Kastanienallee.

Armillaria mellea Fl. Dan., Hallimasch. Im September und Oktober mehrfach im östlichen Teile des alten Parkes.

Lepiota procera Scop., Parasolpilz. August bis Oktober. In vielen Exemplaren in den Gebüschen südwestlich des Rennplatzes, auch am Ferdinandsteich und westlich vom Eichbornteich. Selbst größere Exemplare sind wohlschmeckend und nach der Zubereitung keineswegs zäh, wie ge- wöhnlich angegeben wird. Auf eine kleine Lepiotaart, die in den König- Wilhelm-Anlagen im August und September zu finden war, paßten die vorliegenden Beschreibungen nicht.

Amanitopsis plumbea Schaeff. Oktober. In der grauen Form zwischen Schweizerei und Schlangenwiese, in der gelben Abart westlich vom Eiehbornteich.

Amanila pustulata Schaeff. August bis Oktober. Um den Eichborn- teich und seinen Zufluß.

Amanita umbrina Pers. September. Westlich vom Eichbornteich.

„manita muscaria L., Fliegenpilz. August bis Oktober. In schönen Bxemplaren im Gebüselı nördlich vom Ferdinandsteich, auch an gvasigen Stellen nordöstlich des Rennplatzes.

Phalloideen.

Phallus impudieus 1, Stinkmorchel. Juni bis Oktober. Zahlveich am Finkenweg zu beiden Seiten der Grineicher Chaussee.

Gasteromyceten. Lycoperdon gemmatum Batsch. Juli bis Oktober. Überall verbreitet: König-Wilhelm-Anlagen, alter Park, Rennplatz usw. Lycoperdon uteriforme Bull. September und Oktober, Gebüsch nord- östlich des Ferdinandsteiches. Scleroderma vulgare Fl. Dan. Von August ab namentlich im Göppert- hain verbreitet.

34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

11. Ascomyceten. Humaria scutellata L. September und Oktober. Zwischen Moos auf einem Baumstumpf am Tennisplatz. Leotia lubrica Pers. September und Oktober. Zu beiden Seiten des Weges östlich vom Tennisplatz in großen Mengen; auch am Eichbornteich.

Herr Garteninspektor Hölscher legte verschiedene Zweige von Hamamelis virginiana vor und bespricht die kleine Familie der Hamameli- daceen, die noch viel zu wenig in unseren Parks und Gärten angepflanzt werden, namentlich wird hierbei auch die Anpflanzung des nordamerikanischen Amberbaumes, Liquidambar styraciflua, empfohlen, da derselbe durch sein schönes Laub und die herrliche Herbstfärbung eine besondere Beachtung verdient. Von neueren Stauden wurden die erst vor kurzem durch Wilson, einen Sammler der Firma Veitch & Co. in Chelsea-London, ein- geführten Senecio-Arten: S, clivorum, 8. Wilsonianus und $. Veitchianus, die aus China stammen und von dem Kewer Botaniker Hemsley bestimmt wurden, vorgeführt.

Von blühenden Pflanzen aus den Gewächshäusern des botan. Gartens fanden nachbenannte Gattungen und Arten, die Vortragender näher be- sprach, allgemeine Anerkennung. Von Orchideen: Stenoglottis longifolia, eine noch neue terrestische Art aus Natal, von der bekannten Firma Sander & Co. in St. Albans (Herts.) eingeführt; Cypripedium Lawrenceanum x villosum ist eine neue, bislang noch unbenannte Hybride, die sich durch besonders große Blüten und eine erstaunliche Reichblütigkeit auszeichnet.

Aus der Familie der Araceen wurden die neuen Anthurien:,, Quintus‘!, eine holländische Züchtung, sowie die in Florenz entstandene „Geheim- rat Engler‘, mit einer riesigen Spatha viel bewundert. Sodann empfahl Heır Hölscher die Anpflanzung des Arum italicum, das ganz winterhart ist und sich durch schöne Blätter, Blütenscheiden und Früchte auszeichnet.

Die 5. und letzte Sitzung im Berichtsjahre fand am 14. November statt. In derselben spricht Herr Prof. Dr. Schube über: „Gartenpflanzen in Schlesien zur Zeit Ludwigs XIV“.

Vortragender bemerkte in der Einleitung, daß er sich schon früher mit historisch-botanischen Studien befaßt habe und diese im vorigen Sommer wieder aufgenommen und auch auf solche Pflanzen, die sich auf den Gartenbau beziehen, erweitert habe. Veranlassung hierzu sei die „Phytologia magna“ von J. und G. A. Volekmann gewesen, ein Werk, das er zu diesen Studien aus der Hofbibliothek in Dresden zur Einsicht erhalten habe. Vortragender gab im weiteren Verlauf seiner Ausführungen eine kurze Biographie von Vater und Sohn und zeigte aus den ver- schiedenen Bänden die für den Gartenbau besonders in Betracht kommenden Pflanzenabbildungen, von denen in bezug auf ihre zeitige Einführung in

U. Abteilung. Obst- und Gartenbau-Sektion. 95

schlesischen Gärten nachbenannte Gattungen und Arten Beachtung ver- dienen: Tropaeolum majus, 1684 in Europa eingeführt und bereits 3 Jahre später in Schlesien kultiviert. Solanum Sodomaeum, Danae (Ruscus) race- mosa, Mimosa pudica, Rhus Cotinus, viele Leguminosen, Hibiscus syriaeus, Vitis vinifera f. laciniosa, die Petersilien-Rebe, verschiedene Pelargonien, namentlich Arten aus dem Kaplande, Ipomoeen, Pharbitis hispida, Asclepias syriaca, viele Mesembrianthema, Sassafra: officinalis, Leonotis Leonurus, Lantana Camara, Capsicum in verschiedenen Abarten, Cucurbita Pepo mit eigenartigen Formen, Yucca gloriosa, Tulpen mit langausgezogenen Perigon- blättern, Agave americana, Nelken, hiervon allein 170 sogenannte „‚Pi- kotten“, die in einem Breslauer Garten kultiviert wurden, Teuerium fruticans, Tecoma radicans, Ananassa sativa, Cistus-Arten, Liriodendron tulipifera, Momordica Charantia. Viele Pflanzen, die zu damaliger Zeit kultiviert wurden, sind inzwischen wieder aus den Gärten verschwunden, aber immer- hin zeigt die Wiedergabe der angeführten Arten, daß schon damals der Gartenbau in Schlesien auf einer ziemlich hohen Stufe stand.

Herr Verlagsbuchhändler Max Müller legt den Voranschlag für 1911 vor, der, da anderweitige Vorschläge nicht gemacht werden, genehmigt wird. Voraussichtlich dürfte hiernach ein Überschuß von etwa 2000 Mark zu erwarten sein.

1910. 3

schlesische Gesellschaft für vaterländische Gultur.

nr ss. III. Abteilung. Jahresbericht. Geschichte u. Staatswissenschaften 1910. a. Historische Sektion. Que = ER ars

Sitzungen der historischen Sektion im Jahre Igıo.

Am 18. Januar sprach Herr Professor Dr. Schoenaich über:

Die Libelli und ihre Bedeutung für die Christenverfolgung des Kaisers Decius.

In der Sitzung am 1. März, welche gemeinsam mit der philosophisch- psychologischen, der philologisch-archäologischen und der neuphilologischen Sektion gehalten wurde, sprach Herr Dr. H. Schmidkunz aus Berlin- Halensee über:

Hochschulpädagogik.

Am 10. Juni sprach Herr Dr. G. Hüsing über:

Das alte Reich von Susa und das Volk von Elam.

In der Sitzung am 6. Dezember (gemeinsam mit der philologisch- archäologischen Sektion) wurden als Sekretäre für die Jahre 1911 und 1912 die bisherigen Herren: Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Kaufmann, Archiv- direktor, Geh. Archivrat Dr. Meinardus und Prof. Dr. Krebs und als Delegierter ins Präsidium Herr Archivdirektor, Geh. Archivrat Dr. Mei- nardus wiedergewählt.

Hierauf folgte ein Vortrag des Herrn Geh. Regierungs-Rat Prof. Dr. Foerster:

Domherr Wigand von Salza und Libanios.

1910.

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88. III. Abteilung. Jahresbericht. Geschichte u. Staatswissenschaften 1910. b. Staats- u. Rechtswissenschaftliche Sektion.

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Sitzungen der Sektion für Staats- und Rechtswissenschaft im Jahre 1910.

Sitzung vom 18. April 1910. Vortrag des Herrn Geh. Justizrat Professor Dr. Gretener:

„Zur Reform des Strafrechts‘“.

Die Veröffentlichung des Vorentwurfs so führte der Redner aus fiel mitten in den Streit der kriminalistischen Schulen um die Grundfragen des Strafrechts. Bereits haben aueh Vertreter der beiden einander ent- gegenstehenden Richtungen der Strafrechtswissenschaft, der klassischen und der soziologischen Schule, zu demselben Stellung genommen, und es ist ohne Zweifel von günstiger Vorbedeutung für das Zustandekommen der von allen Seiten ersehnten Reform, daß nicht nur Vertreter der klassischen Schule denselben als taugliche Grundlage für weitere Beratungen be- zeichnet haben, sondern daß auch das Haupt der soziologischen Schule in Deutschland, Professor von Liszt, ausdrücklich erklärt hat, daß der Entwurf im großen und ganzen einen wichtigen Fortschritt bedeute und die von ihm gehegten Erwartungen übertrefle. Wenn der letzgenannte Kriminalist weiterhin behauptet, der Entwurf trage den Charakter eines legislativen Kompromisses, so ist ihm in dem Sinne beizustimmen, als der deutsche Entwurf ebenso wie der österreichische und der schweizerische als reformatorisch bezeichnet werden darf, dagegen ist die Ansicht zurück- zuweisen, daß die spezifischen Forderungen der soziologischen Schule durch den Vorentwurf zur gesetzgeberischen Anerkennung gelangt seien.

Die soziologische Scehule geht von der aetiologischen Be- trachtung des Verbrechens aus; der Kampf gegen das Verbrechen hat bei seinen Faktoren einzusetzen und zwar bei den individuellen Faktoren, mit anderen Worten die strafreehtliche Reaktion richtet sich gegen die größere oder geringere Gefährlichkeit des Individuums oder seine Anti- sozialität. Das einzelne Verbrechen sinkt demgemäß zu einem Symptom der Gemeingefährlichkeit des Individuums herab; nach Anschauung der klassischen Schule wird dagegen der Täter wegen seiner schuld- haften rechtswidrigen Tat und nach Maßgabe derselben bestraft.

Aus dieser gegensätzlichen Auffassung des Objektes der strafenden Tätigkeit des Staates ergeben sich die wichtigsten Folgerungen für die Ge-

1910, l

) Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

staltung des Strafrechts; die soziologische Schule verwirft ins- besondere das Ebenmaß von Schuld und Strafe, sie fordert Abschaffung der richterlichen Strafzumessung; ihr krıiminalistisches Programm lautet, auf den kürzesten Ausdruck gebracht: Besserung der Besserungs- fähigen, Unschädlichmachung der Besserungsunfähigen.

Der Vortragende gelang anf Grund einer eingehenden Prüfung der Bestimmungen des Vorentwurfs unter den dargelegten Gesichtspunkten zu dem Schlusse, daß der Vorentwurf durchweg auf dem $tand- punkt der klassischen Schule steht, daß insbesondere auch die vom Entwurfe eingeführte bedingte Verurteilung, die Verbindung von Strafe und Sicherungsmaßregeln sowie die Anerkennung der verminderten Zu- rechnungsfähigkeit in keinen notwendigen Zusammenhang mit der soziologischen Schule gebracht werden dürfen. Dagegen liegt in dem sogenannten Vikariieren von Strafe und Sicherungsmaßregel, wie die Motive zugeben, eine gewisse Prinzipwidrigkeit, ja eine Annäherung an den Gedankengang der soziologischen Schule. Professor von Liszt hat dem Gesetzgeber mehrfach vorgeschlagen, in jedem Einzel- falle dem Richter zu überlassen, zwischen Strafe und Sicherungsmaßregel zu wählen. Nach $ 42 des Entwurfs kann bei starfbaren Handlungen, die auf Liederlichkeit oder Arbeitsscheu zurückzuführen sind, in den ge- setzlich besonders bezeichneten Fällen an Stelle der Strafe auf Unter- bringung in ein Arbeitshaus erkannt werden. Die Tendenz dieser Be- stimmung ist aber keineswegs die von von Liszt ausgesprochene: ein allgemein gültiges Kriterium der Zurechnungsfähigkeit entbehrlich zu machen; andererseits beschränkt der Entwurf den Ersatz der Strafe durch Arbeitshaus auf Fälle, wo die verwirkte Strafe drei Monate nicht über- steigt. Weiterhin sind auch die Ausführungen der Motive über die Straf- zumessung nicht widerspruchsfrei. Mehrfach wird, in scharfer Ablehnung des soziologischen Standpunktes, als Gegenstand der Bestrafung die Tat und die in ihr verkörperte Schuld bezeichnet, gelegentlich aber behauptet. daß die Berücksichtigung einer Gesinnung, die anders als gerade in der Tat hervortrete, nicht ausgeschlossen sei. Man hat daraus abgeleitet, daß demnach ein Täter strenger bestraft werden dürfte, weil er Anarchist sei, oder straflose Vorbereitungshandlungen zu anderen Verbrechen begangen habe. Vortragender glaubt nicht, daß dieser Gedanke in $ 81 zum Aus- druck gekommen sei; wenn man sich darauf beruft, daß nach $ 81 des Vorentwurfs das Verhalten des Täters nach der Tat, namentlich die be- wiesene Reue zu berücksichtigen sei, somit ganz außerhalb der Tat liegende Umstände, so ist dagegen zu bemerken, daß es sich in diesen Fällen um Umstände handelt, die sich auf die zur Aburteilung stehende Tat beziehen und die konkrete Schuld in milderem Lichte erscheinen lassen.

Der Führer der soziologischen Schule in Deutschland scheint sich mit der Tatsache, daß das Programm seiner Schule vom Vorentwurf wesentlich

III. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 3

abgelehnt ist, bereits abgefunden zu haben; jedenfalls hat er sich das System der Enthaltung, welehes der Begründer der soziologischen Schule, E. Ferri, gegenüber den neueren Strafgesetzentwürfen beobachtet hat, nicht zu eigen gemacht. Eine Reihe kritischer Bemerkungen von Liszt’s zum Vorentwurf entspricht durchaus der Auffassung der klassischen Straf- rechtswissenschaft, so wenn von Liszt vom Gesetzgeber vor allem Klar- heit verlangt, aus welchen allgemeinen Merkmalen der allgemeine Ver- brechensbegriff sich zusammensetzt; wenn er behauptet, die Schuld setze Schuldfähigkeit voraus. Es ist ihm bezustimmen, wenn er die von den Motiven geforderte Beseitigung der Schuldausschließungsgründe rügt und Folgewidrigkeiten tadelt, wie die, daß der Entwurf in der Vorsatzlehre grundsätzlich der Willenstheorie folgt, bei der Bestimmung des dolus eventualis sich dagegen auf den Standpunkt der extremsten Vorstellungs- theorie stellt. So erfährt denn die vielgeschmähte und, wenn richtig ge- faßt, doch so unentbehrliche Begrifisjurisprudenz eine Unterstützung gerade von derjenigen Seite, von welcher gar viele diese am wenigsten erwartet haben. Es steht zu hoflen, daß das Werk der Reform der Strafgesetz- gebung aus dieser Haltung des deutschen Führers der soziologischen Schule Nutzen ziehen werde.

An der Diskussion beteiligten sich die Herren Rechtsanwalt Dr.Steinitz und Oberlandesgerichtspräsident Dr. Vierhaus.

Sitzung vom 21. November 1910. Vortrag des Herrn Professor Dr. von Wenckstern über

„Geld, Kredit, Bank und Börse in Theorie, Recht und Praxis“.

Alle Begriffe werden nach Inhalt und Umfang anders begrenzt, je nachdem schrankenlose Philosophie oder irgendwie begrenzte Systeme des Denkens die Wahlstatt der Begriffsbildung bilden.

Es gibt nur eine Logik sie ist dieselbe in der reinen wie in der praktischen Vernunft im Kantischen Sinne.

Die praktische Vernunft führt gewisse Postulate ein, durch welche die reine Vernunft in ihren Funktionen nicht geändert, wohl aber in einen begrenzten Raum verwiesen wird.

Verstehen wir zunächst unter ‚lUheorie“ Funktionen der reinen Ver- nunft und „Recht“, den Gesamtinhalt des konkreten Rechts unter Ein- schluß seiner Entwieklungsmöglichkeiten, als eine Begrenzung und „Praxis“ als eine andere Begrenzung. Nur wo Recht und Praxis nicht in Frage kommen, sind theoretisch schrankenlose Möglichkeiten gegeben.

Ersetzen wir nun aber das Wort ‚Theorie‘ durch das Wort „Philo- sophie‘, das Wort „theoretisch“ durch das Wort „philosophisch“, als von allen konkreten Begrenzungen und von allen Postulaten abgezogen als Philosophie im Sinne der reinen Vernunft!

4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Machen wir die Nutzanwendung auf den Zentralbegriff, sowohl der Volkswirtschaft wie des Rechts den Wert.

Zentralbegriff auch des Rechts: Denn werten heißt: Verhältnisse beurteilen. Wert ist: Ein richtig beurteiltes Verhältnis. Jede objektive Reehtssatzung und jedes subjektive Recht ist ein von den für die Rechts- bildung Befugten so beurteiltes Verhältnis, daß es aus dem Interesse des Rechtes selbst rechtlich zu fixieren war.

Der Volkswirt zieht alle Möglichkeiten für die Feststellung eines Werts schlechthin philosophisch heran.

Der Jurist macht allerlei Einschränkungen, z. B. die Einschränkung des Ertragswertes, das heißt, er scheidet alle anderen Merkmale für die Bestimmung des Wertes eines Grundstückes unter Umständen aus, sofern sie über den Kreis der durch die bisherige Nutzung bedingten Merkmale hinausgehen.

Die Praxis macht über die juristischen noch andere Einschränkungen: Dazu gibt das Recht dem Besitzer des Grundstückes die Möglichkeit dadurch, daß es ihn durch den Ertragswertparagraphen des Bürgerlichen Gesetzbuchs keineswegs in seinem Recht, testamentarisch anders zu ver- fügen, beschränkt.

Ein anderes Beispiel:

Philosophisch kann man für irgend eine Arbeitsleistung irgend einen Lohn als gerecht proklamieren.

Juristisch gilt der in den üblichen Formen des Arbeitsvertrages tat-

sächlich stipulierte Lohn.

Bei einer Lohnstreitigkeit, die vor das Gewerbegericht kommt, wird in der Praxis in zahlreichen Fällen ein Urteil gefällt, das juristisch un- richtig und von Philosophen wahrscheinlich auch nicht als ein allgemein gültiges anerkannt werden wird, weil praktische Erwägungen lokaler Natur den Ausschlag gegeben haben.

In diese drei Sphären der reinen Logik so will ich doch lieber statt Philosophie sagen des Rechts und der mit philosophischen und juristischen und hundert andersgestaltigen Elementen operierenden Praxis ist auch das Schicksal der 4 großen Institutionen getaucht des Geldes, des Kredits, der Bank, der Börse. Eine Theorie derselben und ihrer Zusammenhänge, endlich ihrer Bedeutung für Volkswirtschaft, Kultur und Zivilisation, für die Entwicklung des menschlichen Geschlechts, zunächst innerhalb desselben der einzelnen Nationen, insbesondere dann der deutschen, muß zu ihren Schicksalen in allen 3 Sphären Stellung nehmen.

Die Volkswirtschaftslehre in den ersten 3 Dritteln des 19. Jahrhunderts in ihrer schärfsten Zuspitzung insbesondere dem Manchesterstum, das bis in die 70er Jahre die Führung in Wissenschaft, in Rechtsbildung und Praxis hatte, legte den Schwerpunkt auf eine rein logische Lösung der 4 Probleme.

III. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 5

Man nahm gewisse Minimalforderungen erfüllende Rechtsordnungen als gegeben an gruppiert um absolute Freiheit der geschäftsfähigen Personen und um die Voraussetzung, daß die geschäftsfähigen Personen normalerweise vertragstreu sind und konstruierte ein ideales Geld, ideale Kreditorganisationen, ideale Banken, ideal wirkende Börsen, welche allem konkreten Rechtszugriff und konkreten Zugrifi der Praktiker in den anderen Berufen Industrie, Landwirtschaft, Staatsdienst ent- zogen waren, bezüglich entzogen sein sollten.

Seit 40 Jahren ist die Volkswirtschaftslehre der Welt von dieser Behandlungsweise fast ausnahmslos zurückgekommen. Sie hat jene Be- handlungsweise wieder aufgenommen und vielfach verfeinert, welche die Volkswirtschaftslehrer von Aristotoles’ und Platos Zeiten an bis auf Adam Smith, diesen eingeschlossen, benutzt hatten: Die reinliche Scheidung des Problems in die rein logische, die rechtliche, die praktische Sphäre.

Die Situation vor und nach 1870 kann so charakterisiert werden, (und bis auf 1911): zwischen 1800 und 1870 spitzte sich die rein logische Theorie der Volkswirtschaftslehre darauf zu, daß der freie Markt und seine vornehmsten Instrumente, Geld, Kredit, Bank, Börse, die Volks- wirtschaft selbst sei, daß seine freie Entfaltung die Vorbedingung gesunder Volkswirtschaft, dann auch einer starken Regierung und großer Kultur sei. Der Teil wurde dem Ganzen übergeordnet stellenweise nicht bloß theoretisch, sondern praktisch: Fürst Bismarck war bis in die 70er Jahre und Graf Itzenplitz bis zu seinem Tode strammer Manchestermann ein großer Teil der heutigen Konservativen sind, rein wirtschaftlich an- gesehen, auch heute noch stramme Manchestermänner, die z. B. den Schutzzoll nur als eine vorübergehende Maßregel unserer Zeit betrachten.

Nach 1870 hat die Theorie der ganzen Welt, besonders besonnen in Deutschland, das Ganze in sein Recht gerückt, den Markt als einen Teil der gesamten Volkswirtschaft, die ohne Recht und Staat und sittliche Fundamente des Volksganzen, das kompliziert und schwierig zu ergründen ist, gar nicht verstanden werden kann, wieder neu gelehrt anzusehen.

Innerhalb des Staates, innerhalb der Rechtsordnung schufen und ent- wickeln auch in ihrer sittlichen Verfassung sich ändernde Menschen den Markt und seine Instrumente, das Geld, den Kredit, die Bank, die Börse.

Die Theorie stellte die Forderung, daß sich der Markt und seine Instrumente eingliedern sollen in den Rechtsorganismus und in die Be- dürfnisse aller anderen Gewerbe und Berufe.

Der Teil wurde wieder als Teil behandelt.

Wohl besteht die Möglichkeit, daß der Markt und seine Herrscher innerhalb des Geld-, Kredit-, Bank- und Börsenwesens die Führung be- halten: Wo das aber der Fall in der Geschichte gewesen ist, hat sich dann eine Oligarchie, die in der Hauptsache Plutokratie war, auch

6 Jahresbericht der Schles, Gesellschaft für vaterl. Cultur.

staats- und rechtsbildend betätigt, hat ein solides Staatswesen mit solider Staatsordnung geschaffen, in das sich die Enkel der großen Väter ordnen mußten und ordneten, welche zuerst souverän aus ihrer Markt- macht heraus das Gemeinwesen gestaltet hatten oder, wenn dies nicht gelang, trat Verfall ein.

Gebilde von Bestand überwiegend kommerziellen Ursprungs sind die heute als Holland und Belgien machtvoll lebensfähigen alten Niederlande, ist Hamburg, ist in gewissem Grade England, sind in gewisser Beziehung die Vereinigten Staaten von Nord-Amerika.

Solche Oligarchien konnten aber auch verfallen Genua und Venedigs—! Wo ein wirkliches Staatswesen, das auch über den Kaufmann herrschte, entstand, blieb die Kraft bis in unsere Zeit: Wo der Staat schwach blieb oder wurde, sank kommerzielle und politische Blüte und Selbständig- keit in sich zusammen. Machtvoll trat Hamburg mit der letzten Aktion der Einbeziehung in die Zollgrenze in das Deutsche Reich der Ham- burgische Staat war ein alle seine Untertanen, auch seine vornehmsten Kaufherren, meisternder Staat geblieben! Genua und Venedig waren Schatten ihrer einstigen Größe geworden, als sie territorialisiert wurden.

In Preußen-Deutschland ist in dem Ineinanderspiel von Staat und Staatsbeamten mit Volkswirtschaft und Führern der Wirtschaft, insbesondere auch auf kommerziellem Gebiet seit den Zeiten Karls des Großen die Entwicklung des Geld-, Kredit-, Bank- und Börsenwesens sehr verschieden- artig im einzelnen, im ganzen aber doch so gewesen, daß wohl einmal der eine, ein anderes Mal der andere Brennpunkt der Ellipse „staatlich geregelte Volkswirtschaft“ oder man könnte auch sagen „volkswirtschaft- lich basierte Staatsordnung‘“ vorwiegenden Einfluß hatte, daß aber die Entwicklung mit einem Tennisspiel verglichen werden kann: der König, der Fürst und seine Beamten als Partner warfen würdigen Vertretern der Wirtschaft überhaupt und des Marktes insbesondere die Bälle zu und dieses 1100 Jahre dauernde Tennisspiel hat Deutschland eine Entwicklung gebracht, welche schwer an irgend einer Stelle ausschließlich dem einen oder dem anderen Partnerpaar zugeschrieben werden, deren Signatur in unseren Zeiten dadurch gegeben werden kann, daß man sagt: Eine glänzende Entwicklung der Kreditmöglichkeiten und der Kreditorganisationen, überwiegend unter Zustimmung der in diesen Organisationen maßgebenden Persönlichkeiten zu den Befugnissen, welche ihnen die Rechts- und Staats- ordnung gab oder zu welchen die zurückhaltende Staatsordnung sie autonom hat gelangen lassen, ist erreicht worden.

Sofern die Privatbanken bereits in diesen Kreis hineinfallen, gilt für sie generaliter dieselbe Auffassung. Im einzelnen sind Wünsche auf Ent- wicklungen vorhanden.

Das Geldwesen ist so organisiert, wie es die Vertreter des Marktes gewünscht haben vor allem durch die Einführung der Goldwährung

II. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion.

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durch die Einrichtung der Zentralnotenbank und auf dem ganzen Gebiet der Einzelheiten.

Die Börse erkennt heute grundsätzlich an, daß sie nicht als einzigste Institution aus dem Rechtsorganismus ganz autonom herausfallen kann: Sie hat eine ähnliche Stellung zum Staat und zur Praxis wie die Fakuläten der Universitäten zum Kultusministerium und zur Presse, Literatur, freien Wissenschaft.

Die deutsche Börse beklagt einige Maßregeln der letzten Zeit, ins- besondere die, welche für sie allerdings das beschränken, was sonst das Charakteristische der Entwicklung der 4 Institutionen Geld, Kredit, Bank, Börse im 19. Jahrhundert ist: einheitliche Regelung im Reich unter Berücksichtigung einer starken internationalen Aus- gestaltung der einzelnen Institute.

An diesem Maßstabe ist am konsequentesten entwickelt das Geld- wesen; ilım nalıe kommen die Kreditorganisationen überhaupt; einige Ab- brüche haben sich die Privatbanken einige noch unerfüllte Wünsche gefallen lassen müssen; mit vielen und großen unerfüllten Wünschen ist in ihrer Entwicklung tatsächlich gehemmt die deutsche Börse.

Die Theorie des Geldwesens ist fast ganz rein logisch geordnet worden und die Praxis wie das Recht haben die rein theoretischen For- derungen auch meistens verwirklicht.

Ähnlich liegt es bei den Kreditorganisationen. Die Privatbanken haben sich rechtliche Eingriffe gefallen lassen müssen und in noch höherem Maße die Börse, welche aus juristischer Betrachtung und aus dem Ideen- kreise der Praktiker der anderen Gewerbe und Berufe entstanden sind.

Meine persönliche Auffassung ist nun, daß den 4 Problemen gegen- über heute auf den Gebieten zu Leibe gegangen werden muß, auf welchen sie ihre Hauptentwicklung gefunden haben: Mich reizt es, die Theorien des Kredits und des Geldes zu überprüfen, nachdem die herrschenden Theorien auch in der Praxis sich durchgesetzt haben und die Praxis, die Rechtseingriffe aus juristischer und gewerblich beruflicher Stimmung ge- boren, ins Auge zu fassen, welche die Privatbanken und insbesondere die Börse zum Teil offensichtlich hemmen, zum Teil für die Zukunft bedrohen.

Als Ergebnis meiner theoretischen Erwägungen in bezug auf Geld und Kredit stelle ich heute hin, daß eine Umstellung vorgenommen werden muß: Man darf nicht das Geld als etwas Selbständiges, den Kredit als etwas anderes Selbständiges hinstellen, womöglich die Entwieklung der

“Volkswirtschaft dadurch verständlich machen wollen, daß man unsere Zeit als die der Kreditwirtschaft und die ihr vorhergehenden Jahrhunderte als die der Geldwirtschaft bezeichnet.

8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur,

Hier muß man geradezu umdrehen:

Das Geld ist durchaus das Spätere, der Kredit das Frühere, zeitlich und logisch.

Geld ist nichts anderes als eine besondere Form des Kredits: An Stelle des individuellen Schuldners tritt die ganze Gesellschaft als Schuldner, bereit die durch ein Geldstück repräsentierte Schuld im Kauf einzulösen.

Nur so kann wirklich der Charakter des Geldes in seiner Beziehung zum Gold und dieses, das heißt sein Wert, als das Maß aller Werte erkannt werden, so wie ein Teil des Erdquadranten als Meter Längenmaß ist.

Nur so kann eine richtige Auffassung des Kredits erzielt werden, da das Sehwergewieht nicht in Treu und Glauben liegt, das die Basis aller gesellschaftlichen Wirtschaft überhaupt nicht bloß des Kredits ist, sondern darin, daß Kredit Anteilnahme an Produktion ist, worunter auch alle noch so verkapselten Besonderheiten fallen bis zum Kredit, den der leicht- sinnige Haussohn macht: denn sein Kredit ist basiert auf der Produktion ihm nahestehender Unternehmungen.

Für die Banken möchte ich mich dahin resümieren, daß die spezifisch deutsche, von der englischen Entwieklung insbesondere abweichende, doch einen machtvollen Organismus zuwege gebracht hat, der sich von Fall zu Fall, schiedlich, friedlich mit dem Staat über Einzelheiten in seiner Ver- fassung auseinandersetzen soll.

Die Entwicklung der Kreditorganisationen überhaupt und der Privat- banken, insbesondere in Deutschland im 18., 19., 20. Jahrhundert bildet eines der rühmlichsten Blätter der deutschen Geschichte.

Endlich halte ich die deutsche Börse in der Tat durch Rechtsein- griffe infolge juristischer Spekulationen und allerdings relativ berechtigter Ansprüche der anderen Berufe und Gewerbe gehemmt.

Ob die beiden wichtigsten Klagepunkte, die Freigabe des Termin- handels und die Regelung der Differenz-Einwands-Gesetzgebung in einem dem Börsenstandpunkte entgegenkommenden Sinne gelöst werden, hängt von unserer ganzen nächsten wirtschaftlichen und politischen Entwicklung ab.

In der rein logischen Sphäre müssen diese Beschränkungen verurteilt werden.

In der juristischen Sphäre wird sich auch heute noch ein Teil der Erfahrenen und Weisen auf den Standpunkt Friedrichs des Großen stellen, daß man dem armen Manne dem Ungebildeten, vielleicht Fahrlässigen, vielleicht Verführten durch das Recht helfen müsse.

Das führt hinüber in die Sphäre der Praxis überhaupt:

Neben die Juristen stellen sich die Ethiker und für die Interessen einzelner Gewerbe und Berufe ihre Praktiker, z. B. die Landwirte.

Ein allgemeines Rezept ist gar nicht möglich innerhalb: der juristischen und praktischen Sphäre.

III. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 9

Als Praktiker kann ieh nur die Hoffnung aussprechen, daß auch hier ein dem Ganzen förderliches Suum euique gefunden werden möge, bald gefunden werden möge; als Theoretiker vertrete ich die Auffassung, und habe den Wunsch, daß der Terminhandel gestattet und daß jede Differenz- Einwandsmöglichkeit rechtlich genommen wird.

An der Diskussion beteiligten sich die Herren Rechtsanwalt Peiser, Professor Dr. Riesenfeld und Oberlandesgerichts-Präsident Dr. Vierhaus.

Sitzung vom 5. Dezember 1910. I. Vortrag des Herrn Dr. Dyhrenfurth über

„Die wirtschaftliche Umgestaltung eines Landgutes während der letzten 50 Jahre.‘

Der gewaltige Umschwung des Wirtschaftslebens in den letzten 50 Jahren so führte der Vortragende aus hat auch das seiner Natur nach am schwersten veränderliche Gewerbe, die Landwirtschaft, stark be- einflußt. Das prägt sieh selbst bei uns in der Großstadt aus: der große Wollmarktsverkehr der früheren Zeiten ist verschwunden, und an seine Stelle ist der Maschinenmarkt getreten, dessen Umfang stetig zunimmt. Dort war der Landwirt Verkäufer, hier ist er Käufer, und die Maschinen- markttage bringen nieht nur der Industrie sondern auch das ist von Beteiligten anerkannt worden vielen Breslauer Ladengeschäften ein besonders lebhaftes Geschäft. Es ist schwer, in der Geschichte eines einzigen Gutes alle Merkmale des großen Wandels aufzuweisen, weil gewöhnlich die notwendigen Aufzeichnungen fehlen. Im Vorjahre aber entdeckte der Vortragende im Hause eines früheren Pächters eines Gutes im Siden der Provinz Posen ein Buch, in dem alle baren Einnahmen und Ausgaben durch fast 30 Jahre von 1860 bis 1387 verzeichnet waren, Von 1557 ab fehlt das Material, doch hatte sich der Vortragende zur Ergänzung die Zahlen eines in jeder Beziehung sehr ähnlichen Gutes für die Jahre 1905/06 bis 1909/10 verschaffen können. In übersichtlicher tabellarischer Anordnung bot er nun einen detaillierten Überblick über die ermittelten Wirtschaftsergebnisse in den genannten Jahren dar, erläuterte die einzelnen Rubriken, beleuchtete das Ganze historisch und zog daraus die Folgerungen für die Praxis.

Im großen ganzen zeigte das Material natürlich das bekannte Bild: zunächst eine Periode extensiver Wirtschaftsweise, in den neunziger Jahren infolge der durch die Entwickelung des Verkehrswesens geförderten Auslandskonkurrenz ein Sinken und einen jahrelangen Tiefstand der Getreidepreise, der einen ebenso langen schweren Notstand der Land- wirtschaft bedeutete, ferner den Übergang zur intensiven Wirtschafts- weise und in Verbindung damit eine bedeutende Steigerung des Gesamt- umsatzes, die allerdings nicht auch eine entsprechende Steigerung des

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10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Reinertrages einschließt, und schließlich bis in unsere Tage hinein eine immer weiter gehende Intensivierung des Betriebes durch immer aus- gedehntere Verwendung der Hilfsmittel der modernen Wissenschaft und Technik. Als die drei Hauptfaktoren dieser Umwälzung kenn- zeichnete der Vortragende die gewaltige Ausdehnung des Verkehrs- wesens in der ganzen Welt, die Verbilligung des Geldes und die Fortschritte der landwirtschaftlichen Technik. Die Vermehrung und Verbesserung des Verkehrswege hatte einerseits einen schlimmen Einfluß durch die Verschärfung des ausländischen Wettbewerbes und weil sie viele ostdeutsche Arbeiter nach dem industriellen Westen zog. Aber andererseits brachte das Sinken der Seefrachten eine Verbilligung der Düngemittel, und der Ausbau der Eisenbahnen brachte die Möglichkeit, die Erzeugung von Massengütern, speziell von Zuckerrüben, zu vermehren. So hat sich z. B. nach dem Bau der Eisenbahn Maltsch—Jauer in dieser schon vorher hochkultivierten Gegend die mit Rüben bebaute Fläche verdoppelt. Die Beziehungen zum Auslande treten nunmehr im modernen Wirtschaftsbetriebe allerorts hervor: der Kuhpfleger ist ein Schweizer, zahlreiche Arbeiter sind Ausländer, das Vieh stimmt aus allen Teilen Deutschlands und dem Auslande und hat in der Krippe amerikanische Baumwollsaatmehl- und russische Sonnenblumenkuchen. Ebenso stammen die Düngemittel aus allen Weltteilen. Weiter wird die Intensität des Wirtschaftsbetriebes unterstützt durch das billigere Geld. Heute sind erststellige Hypotheken zn 5 bis 4 Prozent erhältlich, während man vor 40 Jahren 6 Prozent aufwenden mußte. Die fortgeschrittene landwirtschaftliche Technik hat uns durch Anwendung künstlicher Dünge- mittel, Drainage, Anbau besserer Sorten, Verwendung von Maschinen usw. mehr und billiger produzieren gelehrt. Die Wirkung der veränderten Wirtschaftsweise ist nun, daß durch die bessere Qualität der an- gebauten Pflanzensorten und die bessere physikalische Beschaffenheit des Bodens die Ernten sicherer werden; iu schlechten Jahren sinken die Erträge nicht mehr so wie in früherer Zeit. Die Vermehrung der Ernten des Landwirts aber bedeutet zugleich eine Vermehrung der Nahrungs- mittelvorräte für das ganze Volk und einen vermehrten Absatz für die Erzeugnisse des Industrie.

Von den zahlreichen bemerkenswerten Momenten auf die der Vor- tragende im einzelnen hinwies, sei hervorgehoben, daß die Arbeiter- löhne, die 1860 nur 3173 Mark betrugen, sich von 1883 bis 1887 schon auf jährlich etwa 8000 Mark bezifferten; die Schulbeiträge stiegen in derselben Zeit von 16 auf 400 Mark jährlich. Obgleich im ganzen die Einnahmen um das Vierfache, die Ausgaben um das Siebenfache sich ver- mehrt haben, bleibt dabei eine tatsächliche Vermehrung des Reinertrages nur um die Hälfte übrig. Da die intensive Bewirtschaftung bei schlechten Gütern fast ebenso hohe Ausgaben erfordert wie bei guten, während die Ein-

III. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 11

nahmen geringer und unsicherer bleiben, ist es heutzutage noch viel wichtiger als früher, nur die besten Objekte zu suchen. Bei schlechten Gütern sei vielleicht auch heute noch die extensive Wirtschaft am Platze, doch müsse das von Fall zu Fall technisch genau geprüft werden.

II. Wahl der Sekretäre und der Mitglieder des Präsidiums,

Gewählt wurden als Sekretäre durch Zettelwahl die drei bisherigen Sekretäre: Oberlandesgerichts-Präsident Dr. Vierhaus, Geh. Regierungsrat Prof. Dr. Wolf und Geh. Justizrat Prof. Dr. Leonhard. Durch Akkla- mation wurden die drei Sekretäre als Mitglieder ins Präsidium entsendet.

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sehlesische Gesellschaft für vaterländische Cultar.

88. iR IV. Abteilung. Jahresbericht. a. Philologisch-archäologische Sektion.

1910.

Sitzungen der philologisch-archäologischen Sektion im Jahre 1910.

Sitzung am 25. Januar 1910: Herr Professor Dr. Ziegler hielt einen Vortrag über: Die griechischen Studien des Lucilius.

Lucilius hat in ausgebreitetem Maße die verschiedensten Zweige der griechischen Literatur studiert. Vor allem zeigt sich in zahlreichen Szenen und Motiven ein starker Einfluß der kynischen Predigt und der menippeischen Burleske. Außer der schon von Birt als menippeisch erwiesenen Götter- versammlung im I. Buch sind hierher zu zählen die eine mythische Szenerie vorausselzenden Stücke, die Invektiven gegen Homer und den naiven Volksglauben, das häufige Thema der Verspottung von Philosophen aller Richtungen und Rhetoren; literarhistorisch, nieht nur persönlich, sind die Erotica zu nehmen und ebenso die, häufig den Rahmen zu letzterem Thema bildenden, zahlreichen Gastmahlszenen, in denen sich vielfach die zöoror der griechischen Symposienliteratur aufzeigen lassen.

An der Diskussion beteiligten sich die anwesenden Professoren Förster, Cichorius, Skutsch.

Sitzung am 1. März 1910, (gemeinsam mit der philosophisch-psychologischen, der neuphilologischen und der historischen Sektion).

Herr Dr. H. Schmidkunz (Berlin-Halensee) hielt einen Vortrag über Hochschulpädagogik.

An der Diskussion beteiligten sich die Herren: Geheimrat Kaufmann, Prof. Stern, Prof. v. Wenckstern, Prof. Kühnemann, Dr. Hönigs- wald, Dr. Chotzen, Dr. Sackur, Prof. Rosenfeld.

1910, 1

) Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Sitzung am 29. April 1910.

Herr Geh. Regierungs- und Provinzial-Schulrat Dr. Thalheim hielt einen Vortrag über

Der Diskos von Phaistos.

Die politischen Unruhen auf Kreta haben die stille Entdeckerarbeit nur wenig unterbrochen, die seit mehreren Jahrzehnten auf der Insel Engländer und Italiener betreiben. Die Hauptfundstätten liegen in der Mitte der Insel, Knossos im Norden und Phaistos im Süden, beide eine Stunde vom Meere, aber den Zugang zu ihm beherrschend. An beiden Orten haben nacheinander zwei Königspaläste bestanden, die Neubauten setzt man um das Jahr 1600, doch so, daß der Knossische früher, der von Phaistos erst nach diesem Zeitpunkt in der sogenannten spätminoischen Epoche stattfand. Beide Städte waren, wie alle Ansiedelungen auf Kreta, unbefestigt, im Gegensatze zu denen anderer Inseln und des Festlandes, ein Zeichen, wie sehr ihre Bewohner der Kraft ihrer Arme vertrauten.

An der Nordwestecke des Palastes von Phaistos, in einem von diesem durch einen Felsvorsprung getrennten und darum früher vernachlässigten Ausbau fand am 3. Juli 1908 Dr. Pernier eine gebrannte runde Tonscheibe mit einer Art Bilderschrift bedeckt. In einer Vorratskammer lag die Scheibe ein wenig geneigt in einer dunklen, mit Asche vermischten Erd- schicht zwischen Kohle und Tonscherben, wenige Zentimeter davon ein Bruchstück einer Tontafel, in die Zeichen der älteren kretischen Linear- schrift geritzt waren. Die Tonscherben gehörten durchaus dem Ende der mittelminoischen Zeit (vor 1600) an, und dadurch bestimmt sich auch das Alter des Diskos. Dieser ist in seiner Form nicht ganz regelmäßig, der Durchmesser schwankt von 158 bis 165, die Dicke zwischen 16 und 21 mm. Er ist also voraussichtlich nicht mittels einer Form hergestellt, sondern durch den Druck der Hand aus einer Tonkugel geformt. Der Ton ist äußerst fein, das Brennen unter hoher Temperatur gab der Oberfläche die Glätte der Majolika und eine schöne graugelbe Färbung, die ins Rötliche spielt. Der Brand der Zerstörung und die lange Berührung mit der Asche hat die Oberfläche ein wenig geschwärzt. Die Erhaltung ist vorzüglich. Nur ein Bildzeichen ist bis zur Undeutlichkeit verwischt.

Es leuchtet ein, daß die Bezeichnung Diskos nur auf die Ähnlichkeit der Form gegründet ist. Der Zweck der Scheibe ist durch die darauf befindlichen 241 Figuren gegeben, deren Anordnung durch eine mit der Hand vermittels eines spitzen Werkzeugs eingeritzte Spirallinie geregelt ist. Diese ist ganz augenscheinlich vom Rande aus nach der Mitte zu gezogen. Auf beiden Seiten erkennt man deutlich, wie die Hand, als sie nahe daran war den äußeren Kreis zu schließen, scharf nach rechts abbog. Die Linie mit den fünf runden Vertiefungen bezeichnet also den Anfang, nicht das Ende der Spirallinie. Gewisse Unregelmäßigkeiten in der Stellung der

IV. Abteilung. Philologisch-archäologische Sektion, 3

Figuren, die hier und da die Spirale berühren oder sogar überschreiten, stellen es außer Zweifel, daß die Zeichen einzeln nacheinander eingedrückt wurden, als der Ton noch feucht war. Ferner stimmen bei Wiederholungen die Gestalten der Figuren so völlig überein, daß nur angenommen werden kann, die einzelnen Zeichen seien immer mittels derselben Form eingepreßt worden. Diese Formen hatten einen scharf vorstehenden Rand, der den Umriß des Zeichens wiedergab, nicht wenige aber auch innerhalb dieser Kontur eine gewisse Zeichnung und selbst Modellierung. Nicht bloß diese Ausführung, sondern auch die naturwahre Auffassung setzt einen erheblichen Grad von Kunstentwicklung voraus. Da die einzelnen Zeichen mittels Formen eingeprägt sind, so haben wir eine gedruckte Inschrift vor uns. Die Formen sind gemacht die Wiederholung derselben Zeichen zu er- leichtern und ihre geschmackvolle Wiedergabe zu sichern. Man könnte die Herstellung vergleichen mit einem Druck, bei dem jeder Buchstabe nur einmal vorhanden ist und die Zeichen nacheinander einzeln gedruckt werden. Man sieht, es fehlt noch viel zu der Erfindung Gutenbergs. Die Beweglichkeit der Typen ist vorhanden, aber nicht die Verbindung dieser Typen zur Herstellung einer beliebigen Menge gleicher Abdrücke.

Von den Zeichen ist am interessantesten der bartlose Kopf mit der Federkrone. Er findet sich wieder auf ägyptischen Denkmälern des 13. und 12. Jahrhunderts bei räuberischen Seevölkern, den Ruku oder Lukki, und bei den Gefangenen des Königs Ramses III. auf Reliefs vom Tempel in Medinel-Habu bei den Pulesata und Zakkaru. Diese werden allgemein mit den Philistern zusammengebracht, die sicher über die kleinasiatische Küste nach Syrien gekommen sind, also vorher in Lykien gesessen haben können. Noch Herodot läßt auf der Flotte des Xerxes die Lykier Kappen mit Federn gekränzt tragen. Die Israeliten lassen die Philister von der Insel Kaptor kommen, unter der man seit alters Kreta versteht. Freilich braucht das Volk, das die vorliegende Inschrift geprägt hat, nicht auf Kreta gesessen haben. Sie kann von auswärts dahin gekommen sein. Und dies ist die Meinung von Evans, dem besten Kenner der Kretischen Funde. Seine Gründe sind folgende: Die erheblichen Abweichungen von der auf Kreta üblichen Bilderschrift können nicht aus der verschiedenen Herstellungsart mittels Formen erklärt werden. Vielmehr ist diese ab- weichende Herstellung ein Zeichen für den nichtkretischen Ursprung. Nur zehn von den Bildzeichen berühren sich mit kretischen, auch diese mit wesentlichen Unterschieden. Dagegen fehlen melırere von den geläuligen kretischen Zeichen. Man darf auch nicht annehmen, daß die Schrift des Diskos ein örtliches System sei, das dem knossischen parallel ging. Denn die verschiedenen Phasen der minoischen Kultur zeigen in den ver- schiedenen Gegenden volle Übereinstimmung. Entscheidend ist, daß in dem Palast von Phaistos in demselben Raume, wie der Diskos, eine beschriebene Tontafel gefunden wurde, die mit dem älteren Schriftsystem von Knossos

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4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

gleichartig ist. Der Diskos gehört also einer Zeit an, wo im Kreta die Hieroglyphenschrift schon durch eine Linearschrift verdrängt war.

Fragt man, wo die Schriftzeichen beginnen, ob am Rande oder in der Mitte, so ist wohl Eduard Meyer gegen Pernier und Evans im Rechte, wenn er sich für das erste entscheidet. Denn dies ist das Natürliche, wenn die ordnende Spirale vom Rande aus gezogen wurde, Ferner sind in den ähnlichen Systemen Köpfe und Figuren stets der Richtung der Schrift entgegengesetzt, schauen also den Leser an. Eine reine Buchstaben- schrift können wir nicht erwarten, denn diese wurde, soviel bekannt, erst um das Jahr 1000 von den Phönikiern erfunden. Die durch diametral gerichtete Striche getrennten Gruppen von zwei bis sieben Zeichen müssen aber wohl Worte bedeuten. Nach Analogie der ägyptischen wie der sumerisch-babylonischen Schrift dürfen wir uns auf eine Verbindung von Lautzeichen und sogenannten Ideogrammen gefaßt machen, welche entweder den Gegenstand bildlich darstellen oder wenigstens die Begriffssphäre an- geben, zu der er gehört. Dafür erscheint sehr geeignet der Männerkopf mit der Federkrone, der stets am Anfang des Wortes erscheint, vielleicht zur Andeutung von Personennamen. Auf Näheres kann ohne Abbildung nicht eingegangen werden. Es mag nur gesagt sein, daß einzelne Wörter mehrfach sich wiederholen, einmal sogar eine Gruppe von drei Worten. Der Anfang der ganzen Inschrift lag wohl am Rande der mit B bezeichneten Seite, weil mehrere Zeichen, die auf B häufig sind, nur am äußeren Rande von A vorkommen.

Als Inhalt der Inschrift hat Evans an einen Hymnus auf die große Göttermutter von Kleinasien gedacht, deren Symbol er in dem Zeichen sieht, das vielleicht eine Frauenbrust darstellt. Das ist natürlich ganz un- sicher, Aber die Formen der Zeichen waren gewiß nicht nur für diesen Diskos geschnitten. Weitere Funde und damit weitere Aufklärung werden hoffentlich nicht zu lange auf sich warten lassen.

An der Diskussion beteiligten sich außer dem Vortragenden die Herren Professoren Dr. Gercke, Skutsch, Schrader, Rosenfeld, Gymnasial- direktor Feit und Geh. Regierungsrat Prof. Dr. Foerster, der dem Vor- tragenden den Dank der zahlreichen Versammlung aussprach.

Sitzung am 26. Juli 1910.

Herr Professor Dr. Scheer hielt einen Vortrag: Zur Überlieferung des Aischylos.

In dem Vorworte seiner letzten Ausgabe des Aischylos spricht H. Weil die Ansicht aus, daß uns im ganzen der Text des Dichters “gar nicht so übel erhalten sei. Richtig dürfte daran sein, daß einmal die

IV. Abteilung. Philologisch-archäclogische Sektion. 5

Behandlung gröberer Entstellungen insofern erleichtert wird, als sie sich im ganzen unter gewisse Kategorien bringen lassen und dabei die Hills- quellen hier immerhin reichlicher als z. B. bei Sophokles fließen, ferner aber bei keinem Schriftsteller es so oft gelingt durch andere Abtrennung von Buchstaben, Silben (v. Wil. Ch. 145) und die leichten Mittel der Paläographie das echte Wortbild herzustellen. Ein paar Fälle der letztern Art möchte ich hier eingangs vorlegen. In dem ersten Teile des Gezänkes, in das sich Eteokles mit dem Mädchenchor eingelassen hat, versucht er sie schließlich mit der in eine Ermahnung gekleideten Drohung einzu- schüchtern Sept. 225 pyj por Yezods xaAodox Boulsuou xaxös' merdtapyia yap Eorı vis ebmpaklas uijenp, yovi) owrijpos' WÖ’ Eyeı Aoyos. Da der Spruch ihnen die Augen darüber öffnen soll, warum Beten schlecht bekommen kann, muß in yvyr) swripos die Spitze des Satzes liegen und dies im Gegensatze zu eunpazias stelien, also einst ö& enthalten haben. Von hier aus ist die Heilung leicht: Aischylos schrieb yuvn 8 &rnpes, ein bitter- böses Weib‘; denn in ihrem Namen wird die reı)av&yzr geübt, mit der die Regierungen den Aufsässigen zu ‚bereden‘ wissen. Daß Kreon sich des ersten Gliedes der Sentenz bedient (Ant. 675), ist bekannt; Euripides scheint an dem zweiten seine Freude gehabt und ihm die Wendung auf das ganze weibliche Geschlecht gegeben zu haben Andr. 353 el yuvalxts Zonev Krnpöv +0%09 Hipp. 630 6 dad Außwv drmpov &s Sonous xaxov. Oder sollte Aischylos sich wirklich auf einen ‚bewährten Spruch‘ beziehen? Der Scholiast erklärt Zeus owrrjp, Aelmer Aros und aus ähnlicher Auffassung sind im Grunde die 14 neuern Konjekturen, die Werklein gesammelt hat, hervorgegangen.

Von all dem, was man an Sept. 705/7 vöv 6Te oo TapEotaxev‘ Erel Ödalımv Ayparos avrporeia (s. Weckl.) ypovia nerudldaxtis laws dv EIdoı dalspwrepip rveypar: versucht hat, ist nichts außer Paleys &d tpona«{x brauchbar, weil niemand das Schlagwort des Bildes verstanden hat. Tpon«ix (Thes. s. tponaiog) heißt hier der landwärts wehende Seewind, der den Namen wegen des regelmäßigen Wechsels mit seiner sanftern (Theophr. d. vent. 5,5) Gegenströmung erhalten hat. Aischylos kannte seine wilde Natur: &v Kapuotyp 5& TnAmodra: my&ouoev Bote &Ealsıov eivar neyedog Theophr. l.1. 95. Ein dem entsprechendes Attribut muß sich also neben Ö’ hinter dem ungefügen öz{uwy verbergen; wir lernen es durch Lye. 27 rpnstipos aldıwvos 925 aldwv Opxoxzixg kennen und wissen jetzt, woher der Alexandriner den sonst nicht belegten Ausdruck erborgt hat. Ferner kann das nun noch mangelnde Prädikat des Vordersatzes nur in ypovix stecken, da neradAoxtög ‚umgesprungen‘ oflenbar dem Nachsatze gehört. Unbedenk- lich dürfen wir (Erel-) Ypovioy, ‚(eum-) consenueril‘ einsetzen. Den Naclı- satz, wo Yalepwripw nach seiner ganzen Anwendung unzulässig ist, hat man alleweile mit Coningtons Veieuwrzpw ‚si recte coniecit‘ (Dind,) ab- gefunden. Ich möchte yalspwrigw vorschlagen. Daß die Bemerkung E. M.

6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

220,5 yaAspev, Ent Bieppatwv ein Beispiel, nicht die Umgrenzung gibt, zeigen die mannigfachen Erklärungen der Lexx. yaAyvcs, eübtog, rpooyvrigs a. Was sich hier gegen, was für das aus lebendigem Brauche nicht bekannte Wort sagen läßt, liegt auf der Hand.

Um eines erloschenen Buchstabens willen ist die Stelle Suppl. 859 aysıos &yw Babuyalos Badıpelasg Badıpeizg YEpov fürchterlich mißhandelt worden; hier läßt sich der Anfang mit einfachen Mitteln herstellen. Hes. Taytog' xjpu&, npeoßeurng (vgl. ib. tayatos‘ 6 &E Enırayiig tu morWv) darf freilich nur als Wegweiser dienen; das Richtige finden wir erst, wenn wir von hier aus dem Scholion &yw 7) Batuyatos avakte nachgehen. Das schrieb der gelehrte Grammatiker, der mehrfach aeschyleische Ausdrücke in seine Erklärungen gemischt hat. Wir kennen das Wort in dieser Ver- wendung nur aus Hes. dyadiav' Baorelav. Aloy. Altwvalaıs (fr. 9); daß es Jede amtliche Würde bezeichnen kann, lehrt &va&. So ergibt sich zweifellos, daß er tayela SEyw, freilich aus seiner Glosse Baduyatos’ Yi peyadlwg eöyevris’ yaXoı yap ol eüyeveis auch, daß er dies Wort schon entstellt las. Niemand hat es beanstandet, niemand aber auch erwiesen, daß in gutem Griechisch die Zusammensetzung möglich sei. Der Herold führt den wuchtigen (B 267), benagelten Stab und wenn Aischylos dieses mit Bapuyalos (Bapuozinwy Call. fr. 120) bezeichnet, so hat er Xaloy ungeachtet yaßos a. so gefaßt, wie es nach ihm Amerias tat, Apeplas 5& Yıyv omeöwxe 6&Böov Sch. Ap. A 972. Nun mag man im Folgenden an Bpaßeias (so schon Hartung) pipwv BaorXeiag oder wie man ordnen will, denken.

1. Damit bin ich bereits in das Gebiet hinübergeglitten, das ich zum eigentlichen Gegenstand meiner Erörterung ausersehen habe. Ich möchte an einer Reihe von Beispielen zeigen, eine wie reiche Fundgrube für die Textkritik noch immer die Scholien bilden, und zwar rechne ich auch solche Stellen hierher, wo übergeschriebene Bruchstücke des Kommentars von den Schreibern teils aus Unverstand aufgenommen, teils in reiner Verzweiflung an dem Rätsel der Textzüge als Lösung mit diesen vertauscht sind. Suppl. 996 ff. hält Danaos seinen Töchtern eine kleine Vorlesung, wie sie sich nun in der neuen Heimat verhalten sollen. Junge Mädchen so vor Schaden zu hüten, sei keine leichte Aufgabe, wo nicht bloß Sterb- liche es auf ihr Verderben abgesehen hätten:

KAPTWLATE aTdLovra anpucce: Kunpis

Eeıy

Kamp WAYOUIARy UWanenv Epw. Das ist die Überlieferung; Scholien zu den Versen gibt es nicht und wir sind also ganz auf die eigene Findigkeit gestellt, die denn auch reiche Blüten getrieben hat. pet& xal toße Tolsı yevodw. Wenn es im Fg. ge- lingen sollte, das Rätsel, ın das der alte Herr seine Gedanken taktvoll kleidet, im ganzen zu rekonstruieren, bis zu einem gewissen Grade dessen

IV. Abteilung. Philologisch-archäologische Sektion. 7

Sinn zu erfassen und dem arg zugerichteten zweiten Verse wieder aufzu- helfen, so ermöglicht dies die fehlerlose!) Erhaltung von 1001. Eins ist festzuhalten. In diesen muntern, herzhaften Danaiden, deren Vorbild doch wohl in Athen heimisch war, schildert der Dichter Mädchen von ahnungs- loser Unschuld, deren ganze Welt das sittenreine Gemach der Mutter bisher gewesen ist. Sie können nicht bloß ihre schwarzen Vettern nicht leiden; ihnen sind überhaupt Heirat und das ganze alte eklige Mannsvolk zuwider (79 fi. 392). örwp« heißen sie, aber £peıy’ örwpx 998, sind weder teAstor (edwpor, wWpzior, Wptor, Wptpot), oder gar &Zwpor, noch Kinder, &wpot, sondern mitten im Aufblühen begriffen, &pritporot, wie ihre Schwestern sich Sept. 333 nennen, oder £&ywpot, wie die Botanik sagte, und wenn wir in unserer Stelle auf Evwpor in dieser dafür sonst nicht belegbaren Bedeutung gedrängt werden, so möchte ich dies nicht durch Eywpor er- setzen. Und jetzt lege ich den V. 1002 so vor, wie ich meine, daß er einst geschrieben stand: R Ah vNOHEvAV?) neveıy &pw EÜWPT AWÄUOLIKYNYWPELY TEIWY. Wie daraus unser Text Eiv zaWwpa wWAUovoav dwonevnv Epw entstehen konnte, ist ohne weiteres verständlich und so beschäftigt uns nur die Aufhellung der erschlossenen Lesung EÜWP« AWAUaUg” Avıv Wpelv TeAGv

mit ihren Glossemen. xx4 mag der Einfall eines Lesers sein, beweist aber, daß für &vopx schon eUwpx eingetreten war; Nvdmon&vnv p&verv und E&pwrog sind aber Fetzen einer Dianoia. &yn (Hes. &vn &wuaıg xal mp&kıs) begegnet bei Aischylos Sept. 713 A&yor’ &v wy Zum tıs, was der Scholiast treffend durch away zal telesdjvar Svyvanevx erläutert, im Deutschen sich durch ‚Möglichkeit‘ und „Entwickelung zu —“ wiedergeben läßt, und Wpelv ist uns aus der Sprache der ionischen Medizin erhalten, mit der sich Aischylos nicht selten berührt°), Erot. lex. 138, Kl. wp&ovrx' ypovilovra (die

1) Daß auch er Anfechtung erfahren hat, ist mir bekannt. Will man bei der Flut von Konjekturen usw., die sich über diese Dichtungen ergossen haben, jeden Vorschlag, jede Erklärung einer Besprechung unterziehen, so kann man über Aischylos nur noch Bücher schreiben. Ich habe mich hierin auf das Unumgäng- liche beschränkt; gelesen habe ich alles, was ich erreichen konnte,

2) Auf diesen orlhographischen Fehler, der gerade im Part. Perf. Pass. der Verba auf igw öfter vorkommt, führt das » in Ywo. das fem. nv wohl, weil bei dem Ersatz von xwAuoug’ Bpely durch Kodx SheAouoa) Nvronevmy neveıv nun dvnv durch @pxy wiedergegeben war. Zu den umständlichen &vnv agelv zeAmv vergl. Weckl. z. Pers. 232 duspats "HAlov pirvasparov,

°) Mitunter recht derb. Bekannt ist Klytaimestras Wort odtw zöv auto) Yuydv Spvyaveı nesosv Ag. 1388. Der Sarkasmus kehrt wieder. Allgemein hält man die Verse

8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

anschließende Herleitung des Wortes geht uns nichts an) und wird wohl wie ypoviCeıw von sich langsam entwickelnden Krankheiten und Geschwüren gebraucht sein. Verwandt in erhaltenen Schriftwerken ist es nicht. Nun sind wir in der Lage, den Gedanken zu übersehen. „Hindert doch Kypris, daß die noch herbe Frucht lesereif wird und das noch nicht voll ent-

Ch. 515/6 nödev xoag Enebev, &x Tivog Aoyov, nedVotepov TınWo” Avinestov nahog; für heil, indem dvrjxestov n&%og auf den Mord bezogen wird: „ehren will sie ihn nach unheilbarem Schlage‘“ v. Wil., „durch Ehren zu sühnen suchend‘“ Weckl. u. ähnl. überh. Der Chor hat aber, wie seine eigentliche Antwort auf diesen Vers zeigt 538/9 neuneı TEneıta Toode undeioug Xoas, Kxros Tonatov EAnloaoa nyıdrwv die Worte anders gefaßt; der denkt, da er nmnkatwv sagt (vgl. S. 17 über Ch. 529 und 538 und $. 10 Anm. 2), an solches nd®og, das Ag. 177 bezeichnet wird zöv nadeı ndIog YEvıa zupiwg Exeiv, au den nvrormmjpwv növog des Weibes, das dstıa rpootaryjptov xxpdölag und dann paßt zıu&o’ nicht mehr, sondern Orestes muß, wie wieder die abgetönte Antwort lehrt dxog ronatov Arloxca, einen medizinischen Ausdruck ge- braucht haben. Nun sind die einfachen xoai, wie Aischylos (Pers. 609) sie noch kennt, aus Milch, Honig, Wasser, Wein und Öl zusammengesetzt, denselben Substanzen, die in der Medizin als Grundlage für die Arzeneien dienen, mit denen verschluckte Gifte aus dem Körper entfernt werden (Nik. Alex. pass. und vielfach ähnlich Ps. Diose. rn. öy%. gpapı. Der Grund ist ersichtlich aus Hipp. m. zöv E&vı. r@Y. 20 Erm.). Allerdings, öenos, wie es im Prooem. von rn. 6. 9. p. 6 K. heißt, undsv Avaßarronsvoug (neddctepov, wundert sich Orestes) Bonyetv. eis („bis zum“) yap To repin&veiv T& TnapanaAododvre onnelu Erdorov ıWv papparwv Avlarov Eorı (TO natos) Svoßondyitwv uray dd Töv yXpovov yıron&wv. Daher meine ich, daß kedVotepöv T’ ivßo’ zu lesen ist „entfernen möchte“ (e/rioasa 539), „wo es zu spät ist“ (pedVorepov, OT’ oVdEv Apxet Soph. Tr. 711 gegen den lög alnarog neiag 717. neiag ist wohl verfehltes Glossem von Außpög Hes. Außpov: Ötuypov niiav, eine vox tragica nach Phot. s. v. vgl. Eur. Phoen. 674 uluatog 8’ Edeuoe yalav). ivav (2 —, Önep —) ist neben xadulpeıv (x —), Exxevodv, &Exysıy a. bei den Medi- zinern besäng für die Beseitigung schädlicher Stoffe: ivwmars yiveraı xdtw, Eorı d’öte xai Ayo Hipp. z. on. 20 Erm. Mit der Vorstellung der Vergiftung ist der Hörer aber vertraut; das hat der Chor der Klytaimestra ins Gesicht gesagt Ag. 1407 Ti narov, yuvaL, Xhovorpepis Eöavov 7) norov maoaneva Puräg 28 dAög öpjevov To’ &n&$ov Yvoc; So bleibt nur noch die Rechtfertigung des 7’ nach pedustepcv übrig. Dafür sich auf Prom. 878 Onwg ö2 y&rn und wegen der Stellung von 7’ auf Prom. 138 Tod nepi näoav zu berufen ist wegen des Überganges in den zweiten Vers Aischylos elidiert nicht wie Sophokles am Ende des Trimeters nicht ratsam, vielmehr nach Aöyov der Ausfall eines Verses anzunehmen, beispielsweise 178’ Y- nEpa HEpovo vepripos yEpa oder öwpedv rarpi (vgl. 519 <& öupe). Den Hinweis auf das auffällige Zusammentreffen von Orestes Erscheinen mit dem rätselhaften Opfer vermißt man geradezu. d’ od »povodvr: 517, scheint mir, läßt sich jetzt halten unter Berufung auf W 104 &tap ppeves odx Ev räprav. Wie in dem Toten nur der eine Trieb lebt Yarte pe Stu zayıora, so beherrscht die Seele des Ermordeten nur ein Verlangen, die pijvis nyaote:px, die nur durch die Rache an der Mörderin befriedigt werden kann und all ihr Suchen nach Frieden vergeblich macht. Un- versöhnliche Gegensätze. So dürften od Ypovodvr: wie ö’ erklärt sein. Wenn diese wivis 324 Ypowmpa heißt, Ypöynna To Havovrog ou Sxpager mupög narspd yvadog so ist das ja kein Widerspruch. Um ganz vollständig zu sein, als Objekt setzt

IV. Abteilung. Philologisch-archäologische Sektion. 1)

wickelte Mädchen bis zum ehrbaren geschlechtlichen Verkehr auswächst.“ Das ist in einer Brachylogie ausgedrückt, wie Aischylos sie ganz besonders liebt; durch das Bild steckt der eigentliche Gedanke im letzten Worte den Kopf. Das Glossem &pwrog wird wohl mitten aus der Dianoia herausgerissen sein (Prom. 596 Yeoouröy te vooov: tov Arös Epwra). Dafür teAwyv, das die heiligen Weihen der Ehe bedeutet (Eum. 895 Yun rp& yapınAlou zeioug, Poll. 3,, T&Ios 5 yaos Exadelto) statt des nicht ganz makellosen Yahwy einzusetzen heischte der Gegensatz zu xpuVooet; so treten die ayeyyvar yo: der Aphrodite erst in die volle Beleuchtung.

Wir brauchen aber hier noch nicht Halt zu machen. Die xoprw- 2% erinnern in diesem Zusammenhang an die heiligen Gärten der Aphrodite, die um ihre Tempel lagen, und zwar nicht bloß an ripe grapes, wie Paley meint, sondern an alle saftreichen Früchte des Südens, die vollgar unter der heißen Sonne zu spleißen und tropfen beginnen. Nun ist es höchste Zeit sie zu pflücken und zu genießen, die Feigen und y%«

und unter ihnen die Granate: iv yap Aypodiımv &v Kurpw da kommen wir wieder auf Zypern Ö6£vöpov Yurzdoa: Toüto waaıv Ev

kovoy (Eriphos bei Ath. 3,,c). Unbedingt schließt ferner der bisher ge- wonnene Gedanke die Bedeutung, die Paley in xnpuoost fand, offers to sale, aus mit der Aplırodite haben wir hier doch nicht zu tun —; vielmehr kann ot&Lov« xpVoce: zapruparz nur so gedeutet werden wie YEeviamxöra mpoXNpurtev Tıvd, also „ausruft, daß sie reif sind‘, „einladet zum Brechen“. Dies aber drängt auf die Vermutung hin, daß der Dichter hier den bekannten Brauch eines bestimmten Ortes im Sinne habe, wo die unter dem Schutze der Göttin stehenden Obstpflanzungen durch priesterliche Bekanntmachung der allgemeinen Lese an einem ge- wissen Tage preisgegeben wurden, und wüßten wir über das Opferfest, dessen Hesych gedenkt, mehr, als die dürre Notiz besagt, die trotzdem in jedem Worte an unsern Vers erinnert, %&prwars: Yuola Aypoölıng &v “Apadoüyr, so würde durch den Charakter dieses zyprischen Aphroditen- festes wahrscheinlich das Treiiende der Rätselhülle dieses Gedankens lebendiger einleuchten, als wir und Danaos Töchter es ahnen. Aber eins läßt sich noch erraten, warum nämlich Aphrodite im Rufe stand ihre zepeiv Önwpa vor der Vollreife zu verschenken. Wenn der übrige Obstschmuck „zum Springen gar“ von der Sonne gekocht ist, hat die Granate noch nicht die „jungfräuliche Herbheit‘‘ ganz überwunden; von

allerdings ja iväv den Krankheitsstoff, nicht dessen Wirkung voraus. Aber dieselbe Entwickelung zeigt Plat. rep. 3406d &fepneox: voonp« und wenn ich die nicht ganz zweifelsfreie Stelle Nie. A 459 beiseite lasse, Pind. P IV 293 oVAonevav vonaov &tsvrAyjoxtg und am andern Ende schließen ab ddspareurx yappanı, Bvoßoniinte Fapana, inauahaı To KWveiov a.

10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

allen Früchten, die der Herbst zeitigt, reift zuletzt das Symbol der Liebe (öbiyovoi te oda Emp. b. Plut. Mor. 683d).

Kürzer kann ich mich bei Suppl. 443 ff. fassen,

ra ypnparwv (yprjnacı M: m) ev Er Ecnwv moptoupevwyv

&rns (— nv eodd.: sch. Paley) ye peilw xal ney’ Zuminoag yönov (—

ov M: sch. Herm.) 445 yevor' dv &MMa Kryolou Alog yopıyv

xal yAuicon ToEEVONOA wi) Ta Aulpıq,

yevorto nulou nülos dv YeAxtipros (— nploıs M.: Turn.)

aryEıva Hupod AEpTa ALVNTIpLa.

Dazu das Sch. 447 Tod Arög Euniuniuvrog rat yenllovrog Atıg Tov yopov und 449 avrl Tod yAwsong Tokzuouong 6 Eorıv einovong. Das letztere bietet nichts von Belang; aber aus dem erstern schloß man mit Recht, daß dessen Verfasser &ng und yopnov, aber mit Unrecht, daß er, wie man seit Scaliger vielfach geglaubt hat, auch yspilwy für ye peilwv gelesen

habe. Daß hier vielmehr man vergleiche das zweite Scholion die beliebte Doublierung!) für ein Textwort mit xal, tor, Tiyouv, 8 &orı niemals, wenn ich richtig beobachtet habe, v) in diesen Scholien ver-

liegt, zeigt die Wortfolge, von der sehr selten abgewichen wird, und yelCovrog ist durch das nachfolgende yonoy hervorgerufen. So ist kein Grund zu zweifeln, daß der Vers in der Form, wie wir ihn lesen, von dem, der ihn redigierte, geschrieben worden ist, und &urAyjoag im Sinne von Eprieni@vrog?) zu fassen hat ihn nicht bloß der Glaube an die un- begrenzte &vaddayı) mıwWsewv (vgl. Sch. Pers. 124), sondern offenbar der nächste Satz 446ff. verführt, dem dieser dann nun analog geformt war. Die moderne Kritik, die sich natürlich gehütet hat ihm darin zu folgen, hat mit immer neuen Buchstaben- und Wortänderungen dem ausgerenkten Satzgliede zu helfen gesucht. Allein eine Hyperbel, wie das ja &ng Ye keilow ist, kann in gutem Stil doch nur entweder eine stärkere Hyperbel oder ein kräftiges Bild, das ein Schlagwort bedingt, weiterführen; und das fehlt all jenen Versuchen. Wohl aber zeigt jene Paraphrase uns den Weg zur Heilung. Bei Hesych lesen wir unter Aoüs’ mAoüg Tg vewg

1) Die, wie natürlich, in der Regel das betreffende Wort so wieder- gibt, daß zunächst dies selber oder ein stammverwandtes oder möglichst syno- nymes Wort und dann mit %ai die freiere Wiedergabe gesetzt ist, wie das ja seit Lehrs Pindarscholien bekannt ist. Daher zweifle ich, ob man zu Ch. 519 ı& dupr yecw Ö’tor: cüg äpxprias für Turnebus leichte Änderung peiw sich mit Recht auf das Scholion &vri Tod Unspßaiver ta dnaprnnara iv And zov dwpuv neıtu rail naupnyopiav beruft. Ich würde danach ı& dwp’ Areı$7j dsot! tag dpnapriag oder mv dyapriav vermuten.

2) Part. Präs. u. Aor. und Part. Perf. u. Aor. wechseln oft in Scholien ohne besondern Grund. Daher sind Schlüsse daraus auf die Textlesart nicht ohne Bedenken.

IV. Abteilung. Philologisch-archäologische Sektion. 1l

16 replypapov, n&ypı ob Töv poprov Außetv öpellet. Das gibt den passenden Versschluß xal pa’ &yyudev nAoou. Das Weitere ist ersichtlich; der Gram- matiker, auf den die bisher im Texte stehenden Worte und vielleicht auch die Glosse des Hesych zurückgehen, hatte die Bedeutung von mAoVg richtig erfaßt und aus seiner Erklärung waren die Worte neyay Eumiroxs Yopov zu der fremdartigen Bedeutung von rAo0g übergeschrieben, die dann mit geringer Änderung versgerecht wohl von denıselben gemacht worden sind,

Eıv der 1002 Yvdtonevnv in das Prokrustesbett des Trimeters mit Tilgung von 7v

schlug. Im folgenden Satze V. 448 auszuschließen ist ein starker Mißsriff, da ihn die Responsion der beiden Glieder 2 x 3 deckt, und der Anstoß wird durch die leichte Änderung Martins w@ntrjptos beseitigt. Ein drei- silbiger Gleichklang im Versschluß findet sich nur hier und ist obne Zweifel gewollt; ein Spiel, wie in diesen beiden Versen wuVou [üVog Vunod, VeixTijptos virmtipiog hat sich Aischylos in den uns erhaltenen Dramen nicht wieder gestattet (vgl. Pers. 746/7). Bei Sophokles findet er sich sogar viersilbig mehrfach. Daß in Suppl. 198 TO m paralov 6’ &x Tustwrw owppovavt Ku rpooWrwy önatog rap’ Mouyou gegenüber den sonstigen Vorschlägen (neTtwroswppovwy Pors. nEYLSTOSWPPOVWY M. Schmidt &s turwu.a owpp3vwy Stadtm. zutwroswppövwy Tuck u.a.s. Weckl.) Dindorfs Konjektur oeswppovyısnevwy dem Erfordernis der Stelle am besten entspricht, aber auch diese nur den Wert eines brauchbaren Glossems hat, ist wohl nicht nötig näher auseinanderzusetzen. Ich möchle nedttwpatonevwv zur Erwägung stellen. Wie sich nerxöetv (Xen. rn. inz. 4, rev Innov nerndereov Ano Tig PArvns) mit dmodvery Töv Öeonoy und peratpie- sacııaı (Phyl. bei Ath. XIII 593c nerappteoanevn nv Baotımıv Eoditz) mit anoödvaı (TO aypleogıe) wiedergeben läßt, so ist das passive nedwpal- Geodaı soviel als Knoövesdzı TO oehvorpoowreiv und nedwpatonevwv TWVv rposwnwy heißt «rodsdunevwy geuvöv av nposunwy. Das dööxınov der Grammatiker stört uns bei Aischylos am wenigsten (vgl. z. B. Phot. 113, Reitz.); das Simplex haben Eupolis und Menandros gebraucht und ein ionisches xatwpallerzr: asjvöverzt steht bei Hesych. Bemerkenswert ist das npösde Adwv, önwey ö& öpaxwv der Korruptel. Durchsetzt mit Interlinearia halte ich auch Ag. 1286 önwWporat yap Öpxog &x Vewv neyac.

Für das erste Wort steht in dem namenlosen Zitat EM 134,, Cram. AP I 885 &pape. Ein Glossem; denn Dindorfs Konjektur &pape y&p is und Schneidewins &pxpe (ev Y&p beweisen nur, daß das Wort sich nicht im Verse unterbringen läßt. Aber für das landläufige &uwporat? Im Grunde rechnen wir da gleich mit zwei Dummheiten, einer, die für das proprium einen verhältnismäßig ungewöhnlichen Ausdruck setzte, und einer andern,

13 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

die damit Text und Vers verdarb. Öbendrein, es hat Sinn, wenn ich sage Aoyos Apare eyas, weil dessen Unerschütterlichkeit durch £yag seine Begründung erhält, und öpxog &pape für nEyas Öpros Önwporat; aber ist eine solche rhetorische Stilverbesserung noch Scholiastenweise? Dann aber, was hat es überhaupt mit diesem Eid auf sich? Mißtrauen die Götter einander, weil das Verbrecherpaar etwa so hohe Gönner in diesem Kreise hat, daß es geraten ist sich gegenseitig festzulegen? Wo stellt sich denn sonst der Olymp um einer menschlichen Angelegenheit willen unter Eid? Und was heißt endlich pn£yas noch dabei!)? Treffend bemerkt Schneidewin, daß dieser Stelle die Worte, die Zeus in der Götterversamm- lung spricht & 37 &rel noo ol elnonev pels Eppnelav reubavres —. &x rap Opestao zioıs Eosernı Ws Epa “Epuelsg zu Grunde liegen. Denn wenn wir nicht Yjweig als pluralis maiestaticus fassen, so ist dieser Bescheid’ (ömdLeı ts &ytp& Aoyov yppaoaıs avdyxq Pind. Ol 108) aus ebensolchem großen Rat ergangen, wie die Botschaft an die Kalypso. Und welchen Grund konnte nun Aischylos haben, dafür Ööpxos p£yas einzu- setzen? xopmov Ever? Ich folgere, daß auch hier Aoyos ursprünglich gestanden hat, daß &pape uns den Fingerzeig für die richtige Lesart gibt und schreibe nach Ch. 648 Alxas £peldetat rudunv hier Epelderaı Aoyog yap &x dewv neyac. Dazu ist eine Paraphrase wie &pape ydp nEyas Aoyos Tror Ewmoraı Öpxos &x Yeov ganz wohl denkbar. Daraus sind dann die aeschyleische Hdschr- des Genuinum und der Archetypus von M in z. T. verschiedener Weise be- einflußt worden. Der zweitfolgende Vers lautet in M di OT EyW Adtoınog WO” Avaotevw; Scaligers Änderung xdroıxtos, die von den meisten gebilligt ist, beruhigt in Wirklichkeit unser paläographisches Gewissen mehr, als daß sie dem Sinnerfordernis Genüge schaffte. ‚‚Beklagt‘“ ist Kassandra von niemandem in ihrer Vereinsamung, für „‚beklagenswert“ (vgl. Ag. 1614 Zrorxtov Tövde BovAeüseı pövoy) hält das stolze Weib sich nieht, und die Deutung, die der Sinn der Stelle fordert, dur/) navr Evradd” Eripieyouoa „die mit ihren Klagen die Lüfte erfüllt“, würde dem Worte Gewalt antun. Ahrens schlug p£torzog vor; aber kann die sich so nennen, die noch das Haus nicht betreten hat und die es nur betritt, um hingeschlachtet zu werden? . Die geforderte Bedeutung gewinnen wir durch x&tauAos, vgl. Hes. x&tauAov' Karmuanpevov, dvamentapevov (= dveu&vov) und zu der Entstellung Karoınog führte die Doppelbedeutung von ouvavXos, also das Glossem x&tauAog'

t) Klausens Behauptung Hoc iure iurando omnia nituntur, quae in Choephoris Oresti, hoc iussum si negleciurus sit, minatur Apollo Ch. 270—296, 1032 findet in diesen Stellen keinen Anhalt. In bedenklicher Weise hat sich Schneidewin der Not entwunden: „gleichsam“ ein Eid.

IV. Abteilung. Philologisch-archäologische Sektion. 13

Möglich an sich und durch die Stimmung der Sprecherin (1264. 1271) wäre eine andere Erklärung; x«txvAos könnte auch „‚verhöhnt‘“, „‚ver- acht“ heißen. Aber das Zeugnis, was Suid. s. v. für yAeuxlcsyar aus einem Historiker beibringt aynmpednoav 5: ol Auxedarövior Toy Teiy@v yeAopevol Te xal XatzuAoupevor, schreckt aus mehr als einem Grunde von der Verwendung auf unsere Stelle ab.

Hier ist Gelegenheit, um auf die Ersetzung von Wrjpes 999 durch Yeol (Martin) zu kommen. J)ie Anfänge von 999, 1000 lauten unpes 8 za xywöale!) —. Allgemein hat Ch. S14 für YElwy Tpagıy oüpioaı YEiWYy TOM DER Yavel YpnLwv Dindorfs Konjektur Yeoy Zustimmung gefunden. In beiden Fällen hat der Schreiber als Korrektur für ein Textwort die darunter stehende Erklärung zu dem Textworte der zweiten Zeile angesehen. Nicht anders erklärt sich Suppl. 667 yenovrwv al yepapoio. ıpe- oBuToöcxor yalLovruv Vupeiaı pAeyovrov, aus Fn G. Hermann die völlig verschollene®) Variante YAeovrwy für YpAeyovrwv erschloß; der Mißgrifi des Schreibers hat uns für immer um die echte Lesart gebracht. Aber in solche Irrtümer wäre er nicht ver- fallen, wenn seine Vorlage ihn nicht gewöhnt hätte mit solcher Eigen- tümlichkeit zu rechnen. Und in der Tat, einmal aufmerksam gemacht, erkennen wir auch in anderer Erscheinung diese Interlinearia, z. B. Ag. 69 odd" Unoxiaiwv odrT Emielßwv (ö’üno M: Schuetz) DUTE Öuxpuwv Amupwv lepWv seit Casaubonus liest man Öroxa{wy, während das an der falschen Lesart hängende oöte öxxpuwy erst von Bamberger getilgt ist. Sept. 393/4 +aTaadalvwv pEveL Öppalver pEvwv hat Weil treffend die Entstellung von 394 auf eine darüberstehende gekürzte

1) xywögion heißt (nach Henses sicherer Emendation) Soph. Tr. 716 Nessos, der sonst in dem Stücke $jp genannt wird.

2) Im Scholion gehören rAnpovstwoav, zul Branperitwoev usw. wohl ur- sprünglich zusammen und erklären die obigen Worte mit dem Mittel Asineı 6 xal. Dies, die Vertauschung der Kasus und die Ergänzung der Kopula (z. B. Sch. Pers. 124) und zahlreicher Präpositionen, die mehrfach unsern Text beeinflußt hat, gehören zu den allzeit bereiten Hilfsmitteln der beiden Scholiasten, mehr als sonst irgendwo,

14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Erklärung von 393 patver nEvwv zurückgeführt!), wenn auch seine Änderung SpAlav xAveı> ein unnötiges Phantasiespiel ist. Nach dem Scholion Innog TOAspIoTig OKATLYYoS dxouwv xal ämıdunav roA&ov hat Wecklein öpyäraı xAUwy geschrieben und dies oder öpyalveı x. wird das Richtige sein. Vgl. Xen. rn. inn. 10,, alper dE Avwrepw T& ox&iy öpyılöevos. Betrachtet man von hier aus die vielgequälte Stelle Prom. 713 AN aALoTövors Yurrodas xolprrovsa paylarıy Exrrepäv yIova, so löst sich die Schwierigkeit sehr einfach in roöa (— as M: Dind.) yd,ag yYöva auf?). Das interlineare yu as (durch den von yVove gespalten) kann ursprünglich aus einer erklärenden Rückverweisung auf 708 entnommen sein, daß Prometheus mit ydova jene Kvmpotoug yuag meine, kann aber auch Variante sein. Wer sich an der dichten Wiederholung desselben Wortes stößt, lese einmal diese Rede von 700 ypeiav 701 Zypyjiste 707 ypyr) darauf durch. Nach demselben Gesichtspunkte trage ich auch kein Bedenken, Ag. 717 Edrpelbev 52 Acovıa alvıy Sopoıs dyalaxtov OUTWE Avrjp YPLonastov | so sieht die Überlieferung aus wegen des Scholions youv Av&dipebev abrov zov AdeEnvöpov rıs Ertedevra und des völlig überflüssigen »Lco- pxoTov wegen so zu rekonstruieren 718 Aydlaxtov N pro (nämlich yaruzıov vgl. S. 3 2uwpo u. ob. alver) 719 Eninuorov Hes. Entnaorog” Eniinnros und Eninaotov‘ Enlonaorov (— audalperov Hes. s. v.), &peiAzvopevov. Der Scholiast hat also, indem er &xtedevrz setzte, nach bräuchlicher Weise Anlaß und Ergebnis vertauscht.

Es ließen sich mehr Beispiele anführen, aber diese dürften genügen, um das Verständnis für den viel behandelten, nach meiner Meinung un-

1) Vgl. zu Sept. 636 ooi Euppepesta Aal nravoy Yavalv nerag das Scholion Yovedoat Arotavov. Die Konjekturen an diesem Verse sind aus Nichtbeachtung von o. 59 hervorgegangen, wohl der Originalstelle von Sept. 636. Den Grammatikern war der Ausdruck einfach Schema, Verschiebung. S.das Sch. « 59.

2) Ähnlich eingefangen ist nicht das Richtige, aber, wenn man so sagen darf, dessen Widerschein Suppl. 368 &yo d’&v od xpalvorn’ Undoxeoıv mapanpog, dorolg Ö: nÄsı TOvde zovWoag rip. Man verwarf damit den Eckstein des Satzes, daß man

vo

2 einstimmig Sophianos’ r«gog guthieß. Daß in der Korruptel rpöpog steckt, ergibt sich sowohl aus dem Gegensatz «ototg ö&, wie aus der Wiederholung des Gedankens 398 einov Ö2 Aal npiv, 00% Avsu Örjpov ade npafom avodd&reprpatwv. Die nach- drückliche Form läßt nicht die Ausrede zu, daß xpatwv etwa für das Plus, was in zpalvor 368 gegenüber mpagaun: 399 enthalten ist, gesagt sei.

IV. Abteilung. Philologisch-archäologische Sektion. 15

heilbar zerrütteten Abschnitt Sept. 274 ff. zu eröflnen. „Ich (gelobe) den heimischen Göttern

el Euvruyovrwv xal ncAews osawuE£evng

275 nyjAoıoıv!) aipdocovrag Eorlas Vewv

TaLPOXTOVODvraS Veolor 52’ Ereugone:

Yyjosıv Tponala Toleplwv 2 Echipara

Adapupa Öawv Soupininx® Ayvols Ööpors

oTEbw TPO vawWV rolspluv d Eohiıare. Dazu gehören die Scholien 1) 276 (275) Meine: Ynäs, Ypds Ereuyonar. Das ist ohne Zweifel richtiger als Tuckers tıyvag oder moAltas. Aber Yijnäs kann nicht fehlen und wenn man nicht mit Ritschl ain&oswy tod” schreibt, wovon to)” kaum besser ist als #6’ 276, bleibt nur übrig nach 273 oder 274 den Ausfall eines Verses anzunehmen, etwa &raoıy Yä&g ouvreieis Unloyopat.

2) 277 Yyjosıv tporaia" napammpyttov örı obderw Tv Y TWy Tponatwv Svonaoia (weil das alte Epos es nicht hat; alle drei Tragiker gebrauchen es) ara tov "Ereoxdea" Wore Aveßißaos 1% nark töv ypovov 6 Aloyudaz. Derartige Bemerkungen ziehen sich durch die ganzen Scholien; daß damit der Vers 277 bezeugt wird, ist für die zeitliche Einschätzung dieses Kom- mentars von Belang.

3) ib. Eodmacıy: Zodmpara avalyjow rp6 rwv vauy ra Adypupa. Das ist Unsinn; entweder ist nach &otrjuat& die Erklärung (vöv Tas mavorAias oder 7& önXlopate) ausgefallen oder, was weniger wahrscheinlich ist, es ist 85 Iyjpara?) avadıow <v?> usw. zu schreiben; also ein Fetzen von Paraphrase, aber mit einer Variante.

Durch den Druck habe ich angedeutet, was mir in diesem Abschnilte echt, ursprüngliche Glossen und Interpolation zu sein scheint und wie ich mir vorstelle, daß die eigentliche Verwüstung entstanden ist. Um Nebensächliches vorwegzunehmen, so ist Yewv 275 nach 271 veois im selben Salze ein offenbares Kuckuksei (etwa für unleser- liches ydovos oder roAews) und 279 rolenlwv 8 Zora die Aus- füllung des zerstörten oder unleserlichen Schlusses aus 277, dies wohl von demselben blöden Schreiber, der Ch. 146/7 (s. v. Wil.) und ölter in gleicher Weise lückenhafte Verse ausgefüllt hat. Aber schlimmer hat vor ihm ein Anderer gehaust. Denn daß jemand sich durch das Fehlen eines regierenden Verbums hat verführen lassen in dem unter- geschriebenen Stück Paraphrase T&upoxtovoüvrag Veois Veois ein- silbig, eine Lizenz, die sich Aischylos im Trimeter nicht gestattet und dem übergeschriebenen Yyjgsıy Tponaiz rolsulwy verstümmelte Verse zu sehen

1) Weils Konjeklur Sept. 43 nnAospayodvısg halte ich für zutreffend, die dorlige lectio tradita zxupo lür Glossem und für das mögliche Vorbild von taupoxtovoövrag in 276, wnAx natürlich in genereller Bedeutung.

2) Vgl. Hes. Hux° avadnız. Zoporing Zurpwver, Damit ließe sich eine Konjektur im Texte machen; aber was Gescheites küme dabei nicht heraus.

16 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

und daran seine Kunst zu erproben, scheint mir unzweifelhaft zu sein. Dann ist aber auch sicher, daß 278 oteıberv Adyupa öalwy die urspüngliche Lesart war und die Not ihn gezwungen hat den Wortverband seiner Vorlage zu sprengen und zu ändern. Leidlich ist ihn der erste Vers geglückt: &reuyopaı ist aus 2830 tor@üT’ Erevyov entlehnt und mit WÖ’ der Anschluß gewonnen. Im nächsten Verse haben wir in ö’ &odyjnatz wohl einen selbsterfundenen Schluß zu sehen und &s%yjuar« (nach yırwy gewagt?) scheint der Besonderheit wegen für navonAlac, ÖnAlonar« gesagt zu sein. Daß 278 aeschyleische?) Wörter enthält, kann nicht bestritten werden, wohl aber, daß es ein aeschyleischer Vers sei (ö&wv im Trimeter; aber der erschlossene Dimeter oreibeiy Adpupa Öxtwv). Und mit ortäb[w] werden wir wohl schließen müssen, da rpoO vauv dem Verdacht unterliegt eine Erläuterung des Scholions zu &yvois öönoig gewesen zu sein.

Vielleicht glückt es einem Andern, aus diesen Trümmern wieder glaub- liche Verse aufzubauen; ich kann Befriedigendes nicht vorlegen.

2. Ich gehe nun zu den eingangs erwähnten Scholien über, die ge- sammelt bei Kirchhoff u. Wecklein vorliegen. Wenn ich behaupte, daß unter diesen Trümmern noch eine ganze Anzahl von wertvollen Lesarten schlummern, z. T. an solcher Stellen, an denen die neuere Kritik sich heiß gemüht hat dem Gedanken des Dichters wieder zu Rechte zu ver- helfen, so wird das vielleicht Mißtrauen begegnen. Aber Scholienlesen will auch gelernt sein, und es ist dem Suchenden nicht ohne weiteres gegeben das leise Beben zu fühlen, wo die Gabel an das lebendige Tröpf- chen unter dem Boden mahnt. Zu Suppl. 830 öpw trade ppoljua npaEav rovwv Bıalwv zuov liegen bei Wecklein 11 Versuche vor, zu denen dann noch Camp- bells ppolw. andpkayra hinzukemmt. Von allen Herausgebern hat sich aber einzig Paley ernstlich mit dem Scholiasten oUx£tı rap& TOD naTpäg dnovoaan, AN abtönıng yevon&vn Bow befaßt und er kommt zu dem Ergebnis, dieser habe vielleicht öp@o® yYpolu, o0 “Avovo’ &uav rövwy gelesen. In Wirk- lichkeit las dieser $p06 für öpw und rpountag (vgl. Sept. 846 poünrog ayyeicv Aöyos) für npcd&av, wie die lediglich in Betracht kommenden Worte autönns yevontvn Bo& zweifellos erweisen, das Vorhergehende aber @1I& ist Eiwdev naparanBavonevov, um den Ausdruck des Dichters durch den Gegensatz verständlich zu machen, und es gibt keine hundert Verse in diesen Scholien, wo sich, nicht just immer in der Form oÜx-, dAA&-, aber doch am häufigsten, solche außer dem Wortlaut des Textes stehende Zusätze nicht fänden. Ein Beispiel anderer Art. Ch. 279 Bpotois nıpauoxwy eine schließt Blaß nach Rossbachs Vorgang als sicher, daß der Scholiast ToDg Ev vop moAltas Aouwkev &r yiis Epaore nicht Bporois, sondern doroig wie- dergebe, und hat diesem einen Platz in der v. ]. gegönnt; wie es zu bewerten

1) doupininyY zu ändern ist gar kein Grund, vgl. P 295 Ypixe Ö’inroddoe:«

Köpug mepi donpös Auwan mAyyero’ Eyyst te neydiw —. Verbeulte und zerhauene Trophäen waren sicherlich ebenso ehrenvoll wie bei uns zerschossene Fahnen.

IV. Abteilung. Philologisch-archäologische Sektion. 17

ist, zeigt die Bemerkung Bporois 8: rols Zyywplors zu Ag. 1133 Bporaig arzide- tat. Aber solche Fälle, wie dieser, sind verhältnismäßig selten; meistens wird an ihnen vorbeigegangen oder vorbeigeschossen. Ein Mißverständnis des Scholiasten ist es nicht, wie Dindorf meint, wenn jener Suppl. 539 pattpog aydovöpous Erwrds mit Xatavondg erklärt, sondern er las &rzuieız, vgl. 50 &y morovönams parpög-tonors!). Prom. 226/7 sollen die Worte Zyeot. ydp TWs Toüro Ti Tupawvlö: voona tois plAoroı ri) merordevar die Klage 6 tüv Yewv TUpavvos Wpeinnevos zaxaloı naorvals talodE ' dven- peibato begründen. Aber der Vorwurf liegt dem Prometheus durchaus fern; er klagt über schnöden Undank, daß Zeus den ganzen Gewinn für sich genommen habe?) und dem Helfer, dem er alles verdanke, nichts gönne (306 ff., 439 mit Sch., 976), aber über Mißtrauen nirgends. To Zuvnpoveiv zov Ylwy, sagt der Scholiast, der häufige Ausdruck für Undank. Also las er, denke ich, pr rerpayevar. Thuc. V 76 of @vöpes of rols Amredurnoviois mpXoooyres u. ö. im Attischen „im Interesse Jem. tätig sein“. Ähnlich stellt sich mit leichter Änderung 509 edeAnig &uı TovBE a’ Ex deatıwv Erı Audeyra für das Jahme ösou@yv die Vorlage des Scholions zoy yE 0’ &% Aextav nämlich 189 ff. aus dessen Umschreibung &p' dv A&yeıs wieder her. Paley vermutet &% Aoywy. Auch 919 zeoeiv Ariuwg TTWpar' 00x dvaoyer& wird hinter seinem pr) Suvaneva inavopdwrivar nicht 00x lxatıx oder obx &valoız, wie Wecklein meint, sondern oUx dvaorarı stecken. Oder soll uns von Handgreiflichem die Angst vor einer neuen Singularität zurückschrecken? Ich trage gar nicht Bedenken auf den nach Kratos Auffassung sinnlosen Seufzer des Hephaistos 48 Zuras tız auTNv AAAog Wpeilev Auyeiv?) jenen die schnöde Abfertigung ihm geben zu lassen &ravı' ayıdm mArv-beoisı Korpaveiv „dummes Zeug! Geteilt ist alles nur nicht das Regiment. Das hat der da oben für sich allein behalten und darum, der ist einzig frei und wir haben Order zu parieren“. Die Wirkung des höhnisch wiederholten Axysiv würde durch den Wechsel des Vokals vernichtet; das ist der Grund, warum wir hier das ionische & haben (vgl. v. Wil. zu Choeph. 535). Zu dieser Stelle besitzen wir zwei Scholien; das eine wptorat, Eturwarn schließt wohl an das handschriftliche erpdym „es ist festgestellt, steht fest‘“ an, während das andere mit seinem tollen Hyperbalon n&yvrx &% Marpwv Eedoraı tols Yeois Aıv TOD Apyeıv die Berechtigung für andere und meine Konjektur geliefert hat. Aber unge- rechtfertigt ist Stanleys Zrayıınj. Zum Schlusse möchte ich bemerken, daß, wenn man aus Hesiods Theogonie die Stelle erläutern will, dies nur

1) EM 35357 Sch. Ap. 1 800 änaydsıg’ tag pnavöpas zov Bouv. Prom. 652 mpög Adpvns Baybv Asınava, nolnvag Bouotdosig Te npög marpoc. 2) Vgl. Thuc. I17T zupawor d3 76 &9' Eauıav Hövov rponpujevor &g te To ame Kal ds rd zov Idtov olxov abge. 3) Aayxavsıy schon bei Homer O 191 der Ausdruck von dem Wirkungskreis, den die Götter bei der Ordnung der Dinge erhalten haben. 1910, 2

18 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

862 ff. sein kann aurap Ernel fa rovov (den Titanenkampf) naxapes Yeot EEetelesoav —, Ör) 5% Tor Wrpuvov Baorleusnev ME avaoosıy T'alns ‚sppadpoouvmarv "OAupmiov zupvona Ziv abavatwv: 6 && tolsıv El ÖLeödoouro ‚zundg. Parlamentarische Form; aber sachlich hat Kratos in seinem Kon- ‚stablerstil ganz recht. Vgl. Prom. 229.

Reich bedacht mit Verbesserungsvorschlägen man sehe die Zu- ‚sammenstellungen Weckleins; es lassen sich jetzt über zwanzig aufzählen sind die Verse Sept. 83/4; ich beschränke mich darauf festzustellen, was ‚der Scholiast, dessen Erklärung recht vollständig und fast unversehrt er- halten ist, gelesen hat. Die Worte lauten xal 1a is yiis SE pov nedl« -KATAKTUTOVNEVA TOIS Tool TWVv InnwWy 7 Tols ömloıs (im Sinne von roig önAltaıs: xal ray öniwy Hdschr. u. Ausgg. Wecklein hat es eingeklammert) zaoel pov mpoomelaleıv Töv Yiyov Tols walv (das weiter Folgende brau- chen wir nicht). Verglichen mit dem Texte ergibt sich zunächst v - ‚(oder was sonst möglich ist) y&g 8’ Ends nedl’ ömlörtun wol!) yplumrer?) xvodv. Das letzte Wort, das Hesych bewahrt hat xvoüs 6 2x toü dEovos yos ' Akyeraı ÖE nal avor) (xvon wie yvon?). nal 6 twv moöwv (böpog wg AloyvXog Igyıyyl (sr. 233 N). Tıveg SE Yacı Avolv Ev TöVv YXov, *voyjv ÖE zepl © nEpog ToD &Eovog, Y) yorvızis, ist ein wesentlicher Gewinn für das Hdschr. Bo& oder Bo&, so durchschlagend wie sicher. Denn wo hat je ein alter Grammatiker Boy, wenn es Geschrei bedeutet, durch ein er- ‚klärendes Wort ersetzt? Ersatz kann stehen und hat wohl immer in den Paraphrasen gestanden, wenn es Boyjderx oder nd&yr bedeutete; aber Boy) ’Geschrei’ wird so wenig, wie roUs, oTöua, Öuwporat und tausend andere propria ersetzt. Obendrein aber, Boy] paßt gar nicht. Der Feind ist los)?: .der himmelwirbelnde Staub zeigt, daß das Geschwader der Streitwagen mit dem charakteristischen Kreischen der Naben (Suppl. 180 öpw xövıy, dvaudov

D) ori recc. tt M. Daß der Scholiast wa gelesen hat, schließe ich natürlich nicht; ®ti würde ich einsetzen.

2) Für die Konjektur <noyuypiurteroı kann man sich nicht auf rpooreAdgeiv im Scholion berufen. E.M S1ö37 xpipertw onpalver to nepı Bam Aal mpooneldgw xuplws yap To rposeyyigeiv sch. Soph. 721 &ypinnzer’ 8 &orı npoceniiate Hes. Yplprrerar‘ nposeyyiger sch. x 516 yxpınpteis‘ npoonelucdeis, &% Tod Xplunıw To rpoonelagw ö. noda ypiumrera: heißt „er setzt seinen Fuß“; also kann der Scholiast nur xplumte: gelesen haben.

3) Für pedeitar schreibt Dindorf xasertaı, Weil rechtfertigt pedeitaı durch nedeltaı BeXos, Paley meint, das Bild sei entlehnt from setting a dog at the prey. Das und Anderes macht die nachfolgende Ausführung het moAdg Ode Aswg un- möglich; vielmehr ist der Ausdruck aus der atlischen Landwirtschaft genommen Plat. Legg. VIII S44c 2uv d2 &% Arög Ddara yevöpeva (nach starkem Regenfall) 6 Enavo (Yenpyav)netteig Einf; T& feupar« (nämlich durch Beseitigung der Wehre Pers. 88 ff.) PAarıy Tov xatw —, dypovönov („Flurvogt“) Enaywv-ragastw, Ti XpM rorelv. Auch Eur. Fr. 1044 pnsdsvra Kaprepöv Aldyov— der hat sein Ziel, wie pneteltaL ‚Berog hat Nauck grundlos wegen Plut. d. garr. 10 p. 534a nınvov &x TwWv xeıpWv .upevra angezweifelt.

IV. Abteilung. Philologisch-archäologische Sektion. 19

Ayyekov orparoü' auyıyyes ol aryWarv dboviiAaror!) daherjagt; darnach erst (88) wird auch das Geschrei des nachrückenden Fußheeres vernehmbar. Das ist Entwickelung, während die Textlesart eine matte Doublette gibt. Die nächste Frage ist, ob sich an der Spitze die Lücke ausfüllen läßt. Ich denke, ja. Wie dem Chor das Eleleu des Fußvolkes ins Ohr fällt, schreit er id ıW (86) auf und {w naxapes (96), wie die geschlagenen Schilde dröhnen und die Speere rasseln; auch der verstümmelte?) Anfang 78 wird mit einem Angstgeschrei eingesetzt haben. Nun werden aber ja Inter- jektionen von den Scholiasten nur in besondern Fällen interpretiert und ebensowenig in die Paraphrase herübergenommen, die beiden Sätze 82/3 und 84, alepl« “ovıs und xvod, die Höhe des heftigen Staubes?) und dies grelle Kreischen, vereinigen sich anderseits zu einem Schlusse „das

A) Auffallend ist, wie die 5p0x%r, der Lenker (vgl. z.B. W 417. 447 @ 265 Hes. A 341 Soph. El. 711) zurücktritt, noch auffallender in der Stelle der Supplices, wie Danaos 180/1 aus dem Staub und dem Schrillen der Naben den Vortrab erschließt (dyyekov otparod), das Gros aber hinter diesem sieht 182 öyAov Ö’ Unaonısmipa vul Sopuocoov (zusammen wohl dasselbe, was Sept. 100 schildert o0x dxover' donldwv “rurov; und 102 natayog ouy Evög dorög) Aevasw. Sagte er Hohov (Hepaldog YAwsang fotos Pers. 404) Asiccw, wie Sept. 103 #rurov dedopxa (S. Sch. z. St. und Ch. 970 idetv [Aroücaı])? Näher läge das synonyme fox%ov, das aber durch seine Ge- brauchssphäre ausgeschlossen wird.

2) Die Ergänzungen vor 82 Yosonarm-äyn („ic bejammere mein Unglück“), treffen nicht zu. Ypsonaı ist eine vox Aeschylea, bei Sophokles überhaupt nicht nachweisbar und dem attischen Publikum unbekannt, wie die Umständlichkeit seines Gebrauches lehrt. Es kommt bei Aischylos gesichert noch zweimal vor, in lyrischen Partien und wo wie hier Frauen klagen, Suppl. 112 zasira nayen neiex Ypsoneva Aeywv Aryem Bapen durpvorern (die Wiederholung 115 Ypeonevn nein hat Porson getilgt) und Ag. 1165 ZvoaAyet zuxg pivup& (doch wohl xıyup& wegen des vor hergehenden yowip dnypat) uud Yosonevas, also beide Male mit Tonwort. Dies hat Euripides unterdrückt, vielleicht weil das Wort durch Aischylos’ Gebrauch mehr bekannt geworden war. Jedenfalls hat er es von diesem übernommen: Hipp. 364 nadex peien Ypsopevag geht zweifellos auf Suppl. 112 zurück und die spöttischen Worte im Trimeter Med. 51 «urn Ypsonevn cuvı) xaxd schützen ebenso das öfter angegriffene «#4 in der obigen Stelle des Agamemnon. Dieser Tatbestand zwingt uns auch für Sept. 78 neben einer Interjektion noch ein Tonwort wie Aıyda, xıvup% anzunehmen und damit scheiden die bisherigen Ver- besserungsvorschläge ebenso aus, wie sich die Konjektur $peonev« (Enger) Ch. 830 für $p00002 und das hdschr. Ypsonevorg in der arg zerrütteten Partie 969/70, die in diesem Zustande schon dem Scholiasten vorlag, nicht gut heißen lassen, da es an dieser Stelle mit Schwund des Reflexivums die Bedeutung von ratavigewv, GAoAUgeıv haben würde. Für die beiden Tragiker, meine ich, müssen wir dabei bleiben, daß #p&o- pa ein mediales Intensivum zu seinem Abkömmling Ipnv& mit geschlechtlicher Einschränkung ist. Woher Hes. $peöpevov ' öAopupönevov stammt, steht dahin.

3) ainkepiu begründet das vorhergehende irrörag. Auch unser Soldat unter- scheidet aus der Ferne an der Staubwolke, ob da Fußvolk oder Reiterei herauf- zieht. Ein Ritterfräulein, das von der Burgzinne blickte, konnte ebenso saclıver- ständig wie diese thebanischen Mädchen reden, ohne damit aus den Grenzen ihres Geschlechtes herauszutreten.

20 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

sind die Streitwagen‘; da war es nur natürlich, wenn bei dem Ausfall der Interjektion der Zusammenhang dem Leser durch ein xxt verständlich gemacht wurde. Das Ergebnis für den Text ist also +&Xe und dafür möchte ich Exfe] vorschlagen. Daß einmaliges Ex auch für die tiefste Erregung ausreicht, beweist Eur. Hipp. 905, wo Hippolytos es beim Anblicke der toten Phaidra ausstößt: dann ist ö° zu tilgen kein Grund Eur. Jon 540 Eu 'tivog SE or mepuxa wjtpös; Damit wären die drei Dochmien voll- ständig; und sollten wir nun nicht die 20 Konjekturen begraben können?

Für die nächste Stelle muß ich kurz orientieren. In den Ch. 527 ff. erzählt der Chor dem Orestes den gräulichen Traum der Klytaimestra: eine Schlange man vergegenwärtige sich den Abscheu, den der naive Mensch vor diesem Tier hatte und hat!) habe sie geboren und diese in Windeln gebettet, &v omapyavoroı nalöög öpploaı Slxyv; das wäre xounloat oder eüvacaı oder ein Kompositum dazu, aber nimmer das, was wir im Scholion lesen Ws ralda aurov Exnteivar Eööxer Ey Tols omapyavals. Anfangs, bekenne ich, hat mich betroffen gemacht, daß v. Wilamo- witz dem Scholion gar keine Beachtung geschenkt hat; aber als durch eine andere Stelle, die weiterhin zur Behandlung kommt, meine Auf- fassung eine wesentliche Verstärkung erhielt, habe ich kein Be- denken mehr getragen die Folgerung zu ziehen. Der Zweck des Wickelns ist ja die im Mutterleib gekrümmten Gliedmaßen und namentlich die Beine zu strecken und zu schmeidigen Plat. Legg. VII 2 p. 7s9e Bovlsote &yn yElwrı ppalwpev Tidevreg voOUg TYV [EV XUOUOAY TEPLTATEIV, TO yevonevov dE mÄdTTELy oloy ArjpLvov Ewg dypo&vxal j£ypı Öualv Erotv orapyav&v; und Plut. d.lib. ed. 3e worep yap T& EAN To aWpatog do yevioewg TÄKTTELV TWV TeExvwy dvayxalov Eotıv, iva alte opt xal dorpaßn yevnıaı zÜmiaotoy yap ral Öypöv 1) veorng —, TAV ÖE To SrAnpev yadlerog naidrtrerat Vergleicht man hiermit Phot. Reitz. 64, öpya&lsıy (öpyäv: Reitz.)'ini Tod nalovra (mAdrrovia?) EEeiuuverv (= !ixtelvev) xal naddrtreıy (vgl. Hes. Öpyaoar ' Erorndoat. at Toy nAöy dpyadoaı paalv, & Eorıy Erorndoat und Hipp. z. vr. nad. 21 Erm. nıyetw SE yArapöv meilxprtov, Iva dvwpyaonevov Y TO own mpüg iv YPaptaxorootnv), so glaube ich behaupten zu dürfen, daß der Scholiast des Aischylos öpydoa: erklärt, zumal da das Wort als aeschyleisch er- wiesen ist.

Der Hauptzweck war also die Beine in Ordnung zu bringen, daß das Kind &prinoug, nicht ywAds werde (vgl. Eb. lex. Hom. @priroug). Des- selben Stammes ist dpriletv und das ungefähr synonyme apru(v)erv, die von den alten Grammatikern mit £romdler, napaoneualeıv, besser mit eütpentilerv, xoopeiv erklärt werden; denn daß sie den Nebenbegriff des Sorgsamen, Sachkundigen (entrndeiws, Zunetpws, ErtteAog) enthalten,

1) Eine Beziehung auf das chthonische Wesen der Schlange in unserer Stelle weiß ich nicht zu finden.

IV. Abteilung. Philologisch-archäologische Sektion. 2}

ergibt sich nicht minder beispielsweise aus M 43 rupymöcv opeas auroUg Npruvav als aus Theoer. 13,, Xopov &pri£ovro und das Kompositum aatapri£erv (vgl. Starıarreiy) war Jahrhunderte lang t. t. der Medizin und Athletik, wie Her. V 28 vooyjoxo« (Milet) &s r& padtorz oraoeı, äypı ob guiv ITaptor Katijptioav " Toutoug yap xataprioriipag eidovro ol MiAyjotor verglichen mit Epiet. diss. III 20,, lehrt 6 n&v Tod tpayıidov zadanıwy Kal mv Öoyuy JOD Kal Toüg Wpous xataprilwv Wpelel pe. In Sept. 370 sieht die Führerin des einen Halbchors den Späher nahen: orov87] &:wxrwv rourinoug yvoag roösy, ein wunderliches Bild: die Naben der Füße, das sind die Beine.!) Im selben Augenblicke gewahrt die andere Führerin den Eteokles, der in überstürzter Hast herankommt, orovÖr) Ö& Aal toüß’ oüx Amapriler roös. Die Worte sind mißverstanden und deshalb mit Konjekturen heim- gesucht worden; der Vers dürfte Aischylos Auffassung von 3 wieder- spiegeln yovvara Zppwoavro (das könnte 371 sein), rödeg 8’ Unepixtalvovro. Die Hast gestattet nicht Zpp&tpwg die Füße zu bewegen.

Damit hätten wir das Material beisammen, um den kranken Vers zu heilen xuxtaprileıv könnte man sagen —, an dessen Wiederherstellung auch v. Wilamowitz verzweifelt hat, den Doppelgänger (vgl. S. 4 A. 1) von 529 &v omapyavoroı nardös öpyaoaı ölamv,

Ch. 543 el yap Tov auroy XWpov ExdırWv Enol tobpelg endon onapyavımaeileror.

Für oupeig hat Porson oöyptg geschrieben, im übrigen aber der Über- lieferung sehr Gewalt angetan. Daß der Scholiast am Ende Yjptifeto ge- lesen hat, ergibt sich aus seiner Erklärung &nıneieias YEoöro. Wenn der Mensch seinem tückischsten Feind in der Natur begegnet, schlägt er ihn ohne Gnade tot, während sie ihm Lager gewährt und ihn mit aller Sorgfalt hegt das ist kein Durchschnittsgrammatiker gewesen, der diese auf ge- nauer Erfassung der Bedeutung von &prileıy beruhende Erklärung ge- schrieben hat. Ohne weiteres folgt aus Yjpti{ero, daß er omapyavorg las, und er&o« wandelt man wohl am einfachsten in das Wort um, das nach einem Partizipium nachdrücklich den Beginn des Hauptgedankens an- kündigt,

ougpıg Enerta omapyavors iprilero. Weniger sicher bin ich bei Suppl. 405 al zwvö’ EE loou peropevwv neradyels To ölxaıov Epkaı; ob wir aus dem Scholion el 6 Zeug Lloov yulatteı, tl dmopeis ouupayroxı tw Art; auf eine andere Lesart schließen dürfen, obwohl es mich sehr wahrscheinlich dünkt. Denn G. Hermanns Deutung perzAyeiv proprie est post aliquid dolere —. Id hie idem fere quod paenitere be- friedigt nicht und was Wecklein zu diesem hinzusetzt T! netzvoeig zal Storalerg, verliert neraAyeig aus Sicht; der Zusammenhang fordert,

1) Vgl. Eum. 36 das umgekehrte rodwxelx oxeAuv. 1910, 3

22 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

„sich in der Wahl zwischen den beiden Parteien durchaus nicht entschließen können“, da doch, heißt es im Vorhergehenden, Zeus nach seiner Ge- rechtigkeit zur guten Sache steht, du also ohne Gefahr auf unsere Seite treten kannst. Das ist genau das, was kurz der Scholiast in seiner Paraphrase sagt; aber die vox bellica ovpnayYjoa: scheint einen Wink zu enthalten, daß Amopeis die Bedeutung des entsprechenden Textwortes nicht ganz er- schöpfte, da To Ölxaroy Ep&aı nichts enthält, was zu ovppayfioaı zw Art Veranlassung geben konnte. Ein solches Wort haben wir in Hesychs Glosse petatypei, deren Beigabe noydet für uns bei der Durchsichtigkeit des Wortes keine Verbindlichkeit hat; ungezwungen ergibt sich, wenn wir Ti neratyjeis vollständig definieren, die Umschreibung t! anopwv, önotzpw ovpnayxyorg, Ev TW peratypio tov duo Avrnalwv Eotyxas; der Infinitiv wäre dann eben nach Anlogie von &nopeiv u. ä. zu fassen.

An der Diskussion beteiligte sich der größte Teil der Anwesenden.

Sitzung am 6. Dezember 1910. Herr Professor Dr. Foerster hielt einen Vortrag über: Domherr Wigand von Salza und Libanios. An den Vortrag schloß sich eine kurze Besprechung. Die Sitzung war gemeinsam mit der historischen Sektion.

Darauf folgte die Wahl der Sekretäre und des Delegierten. Als Sekretäre wurden wiedergewählt die Herren Professor Dr. Foerster und Professor Dr. Skutsch, letzterer auch als Delegierter der Sektion ins Präsidium.

sehlesisehe Gesellschaft für vaterländische Cultur.

Sy Zr 838 : > IV. Abteil - Jahresbericht. . 2 ee r h 1910. e. Sektion für neuere Philologie. @&e —— nn Serse ByO)

Sitzungen der Sektion für neuere Philologie im Jahre ıgıo.

1. Am 1. März fand eine Sitzung statt, die zugleich Sitzung der philosophisch-psychologischen, der philologisch-archäologischen und der historischen Sektion war.

Herr Dr. Schmidkunz aus Berlin-Halensee hielt einen Vortrag:

Über Hochschulpädagogik. 2. In der Sitzung vom 3. Juni sprach Dr. Vasili von Le Juge: Über das geistliche epische Volkslied des Russen.

3. Am 17. Juni gab Herr Oberlehrer Dr. Hilka:

Weitere Beiträge zur Secundusgeschichte in der altfranzösischen Literatur.

Die novellenartige Geschichte vom Philosophen Seeundus dem Schweig- samen und von seiner Unterredung mit dem Kaiser Hadrian ist das ganze Mittelalter hindurch in den verschiedensten Sprachen des Abend- und Morgenlandes eifrig gelesen und bearbeitet worden. Die Gestalt des heimkehrenden Studenten, der durch das in der Schule gehörte Wort von der Unbeständigkeit des Weibes sich zu einer schweren Sünde und einem Experiment mit so tragischem Ausgange hinreißen läßt, hat immer wieder die Aufmerksamkeit nicht nur asketischer Kreise gefesselt, wie dies die Secundusgeschichte in Chroniken!) und selbst Predigtexempeln?) bis an den Ausgang des Mittelalters beweist. Man kennt außer der griechischen Darstellung”) arabische, äthiopische, syrische, armenische, lateinische, spanische, italienische. altfranzösische und deutsche Versionent), der Stoff drang sogar bis nach dem äußersten Norden, nach Island). Es steht fest, daß die Lebensgeschichte des Secundus ursprünglich von der

1) Rogerius von Hoveden (Franecof. 1601), p. 815 und ganz gleichlautend Vincenz von Beauvais, Speec. hist. X 70u. 71 (Straßburg 1473). Daraus Antonini Archiepiscopi Florentini chron. I pag. 463 (1586) u. a.

2) z. B. Scala celi (des Dominikaners Johannes Gobii Junior [ca. 1300], wie zuletzt J. Klapper in den Mitgen d. schles. Ges. f. Volkskunde XX [1908], 1 fi. gezeigt hat), s. v. femina, fol. CXXXIlla, Druck auf der Breslauer Stadtbibliothek, Lübeck 1476: Legitur in gestis Secundi philosophi ete. Er erlaubt sich die Än- derung: Quae cum mater cognovisset, interfeeit se ipsam, was nirgends sonst bezeugt ist.

3) Ad. Schier, Demophili, Socratis et Secundi sententiae. Lips. 1754. Orelli, Opuscula Graecorum veterum sententiosa. Lips. 1819, I 208 ff. Mullach, Fragm. philos. graec. Paris, Didot I 512f. II. XXVILf.

4) Vgl. die ausführliche Bibliographie bei V. Chauvin, Bibl. des ouvrages arabes. IX. Liege-Leipzig 1905, p. 45—55.

5) H. Gering, Islendzk Aeventyri. I. Haile 1882.

1910. 1

9) Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

überlieferten Sentenzensammlung getrennt gewesen ist. Der ganze Stoff reizte die Gelehrtenwelt zur näheren Untersuchung, seitdem Tischen- dorf einen Teil des Bios Nexovvöov auf einem in Ägypten gefundenen Papyrusblatt erkannt hatte, das nicht viel jünger als das Il. nachchrist- liche Jahrhundert ist!). Über den Ursprung dieser Legende und ihre Verbreitung hat sich seit den letzten Jahrzehnten eine reiche Literatur ge- bildet. Zwei Orientalisten gaben den Anstoß, beide gingen von der griechi- schen Version aus, gelangten aber zu völlig entgegengesetzten Ergebnissen.

Revillout?) nahm einen Ur-Secundus in einer orientalischen (semitischen) Sprache an. In vier 1887—88 erschienenen Schriften setzte Johannes Bachmann’) mit seiner Kritik ein, die Folgendes erbringt: Der Seeundus ist wahrscheinlich griechischen Ursprungs aus dem 2. bis 3. Jahrh. n. Chr. und in Alexandrien entstanden. Die Sentenzen sind ein späterer Zusatz, die darin enthaltene Philosophie spiegelt eine neu- pythagoreische Weltauffassung in populärer Form wieder. Die äthiopische Version ist zweifellos aus der arabischen geflossen (ca. 10. Jahrh.), hervor- ragend durch den dort stark hervortretenden Hauch eines abgeklärten Geistes, aber doch auch nichts weiter als der vom christlichen Stand- punkte aus idealisierte und erweiterte griechische Secundus.. Die Vita selbst ist eine großartige didaktische Novelle. Doch konnte damit die Quellenfrage nicht als erledigt gelten, da bei der Wahl der Motive nicht ausschließlich griechische Anschauungen vorgewaltet haben. Allerdings ist, wie Ludwig Laistner*) gezeigt hat, in der Secundusgeschichte in eigentümlicher Weise die Hippolytus-Phaedrasage mit der Jokastegeschichte verschränkt. Aber die Tendenz der ganzen Novelle sei echt indisch, d. h. buddhistisch-asketisch. Wie es im griechischen Texte heißt: ötı TAI“ yuvn) ropvm, Y 8: Aatolon owppwv, so sagt auch Buddha: „Jedes Weib wird sündigen, wenn ihm Gelegenheit gegeben wird, es im Geheimen zu tun, sollte der Liebhaber selbst ohne Arme und Beine sein“5). Auf- fällig bleibt es ferner, sollte auch letzteres ein Gemeinplatz der Welt- literatur sein, daß in der Rahmenerzählung von Kalilah und Dimnah, als arabische Übersetzung des sanskrit. Pancatantra erwiesen, der Philosoph Bidpai wegen seines Freimutes erst zum Tode verurteilt, dann begnadigt und vor den König gebracht wird, um diesem bestimmte Fragen zu lösen. Die Werke des Philosophen werden gleichfalls der königlichen Bibliothek einverleibt®). So dürfte mindestens die Vita Secundi (der Ursprung dieses

!) H. Sauppe, Philologus 17 (1861), 150 zu Tischendorf, Notitia edi- tionis codieis bibliorum Sinaitici. Lips. 1860, p. 69—73.

2)\VieetSentencesdeSecundusd’apresdiversmss.orientaux.Paris1873

3) In der zusammenfassenden Studie: Die Philosophie des Neopytha- goreers Secundus. Linguistisch-philos. Studie. Berlin 1888.

4) In s. Rezension von Fr. Seiler’s Buch Ruodlieb, der älteste Roman des Mittelalters (Halle 1882) in der Ztschr. für dt. Alt. u. dt. Lit. IX (1883), 79 ff.

5) Benfey, Pantschat. I. 442.

6) Seiler a.a. 0.

IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 3

Namens bleibt noch immer in Dunkel gehüllt, selbst wenn man etwa an Sucanda Sucandra denken wollte) nach dem Orient hinweisen. Nicht ohne Bedeutung scheint auch der Umstand zu sein, daß in der vielum- strittenen und vielbehandelten Salomonsage, worauf Wesselofsky!) aufmerksam macht, die Prüfung der Mutter vorkommt (sie stirbt aber nicht, sondern fällt in eine todesähnliche Ohnmacht). Die Parallele in diesem Teile der Salomonsage, worin der Knabe Salomon als ebensolcher Misogyn wie Secundus erscheint und das gleiche Experiment aufs Exempel macht, ist augenfällig., Ob nun diese Erzählung tatsächlich vom Secundus beeinflußt ist und Wesselofsky nimmt es an —, ob nicht vielmehr eine gemeinsame Urform, die dann sicher orientalisch ist, anzusetzen sein dürfte, muß der Nachprüfung der Orientalisten überlassen bleiben. Auch für V, Chauvin liegt die Endentscheidung noch nicht vor (p. 45).

1883 erschien die wichtige Schrift von Paulus Cassel°), die einen weiteren Fortschritt auf diesem Gebiete bedeutet. Er sieht in der Vita des schweigsamen Philosophen eine verzerrte Bearbeitung der Erzählung der Sieben weisen Meister, also eine Art von Karikatur der Sindbansage. Der Sieg des buddhistischen Schweigens über die Sinne, als deren Inbegriff das Weib gilt, zieht sich als Tendenz durch beide Stoffe, was noch durch andere indische Parallelen beleuchtet wird. So scheine auch das Experi- ment des Secundus aus dem buddhistischen Indien zu stammen. Das Frage- und Antwortspiel sei sehr häufig in orientalischen Erzählungen, wie dies der Schluß des griech. Syntipas erweist, wo König und Prinz über allerlei Fragen disputieren. Im Namen Secundus will Cassel geradezu eine Verlesung von Syntipas sehen, was schwerlich anzunehmen ist. Wie dies bei Barlaam und Josaphat geschah, habe ein manichäischer Grieche in wenig geschickter Weise die buddhistische Erzählung zu einer Art von Roman gestaltet und ihm einen christlichen Mantel umgeworfen, Darin scheint aber Cassel zu weit zu gehen, daß er in der Secundus- geschichte ohne die Sentenzen ein manichäisches Produkt in syrischer Sprache sieht, da doch der syrische Text sicher der griechischen Quelle folgt, So hat eigentlich Cassel Revillouts Ansicht erhärtet, und auch Bachmann?) mußte bei aller entschiedenen Ablehnung eines syrischen Ur-Secundus zugeben: „Secundus ist der überspannte, in jeder Beziehung überbotene Sindbad.“

Endlich hat 1896 P. Jacobus Dr. Dashian*) nicht nur sämtliche

1) Neue Beiträge zur Geschichte der Salomonsage = Zeitschr. für slav. Phil. VI (1882), 578 fl.

2) Mischle Sindbad, Secundus-Syntipas ediert, emendiert und erklärt. Berlin 1888.

9) Im 1. Anhange (seiner oben erwähnten letzten Schrift) über „Die arabische Milchmädchen-Fabel.“

4) Das Leben und die Sentenzen des Philosophen Secundus des Schweigsamen in altarmenischer Übersetzung = Denkschriften der Kais. Akad. d. Wiss. zu Wien, phil.-hist. Klasse 44 (1896), Abh. III, 1—14.

1*

4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Streitfragen über die orientalischen Secundus-Bearbeitungen ebenso scharf- sinnig wie gründlich erörtert, sondern auch durch eine kritische Bearbeitung der armenischen Rezension eine empfindliche Lücke in der Secundus- Literatur ausgefüllt, da der armenische "Text wohl eine der ältesten der direkt aus dem griechischen Texte geflossenen Übersetzungen darstellt (7.—8. Jahrh.). Schon hier erscheinen Vita und Sententiae eng mitein- ander verbunden. Daher bleibt der Schluß gerechtfertigt, daß dasselbe in der vom Armenier benutzten griechischen Vorlage der Fall gewesen ist, vermutlich bereits in jener von Tischendorf aufgefundenen, leider un- vollständigen Handschrift, die sich durch ihr hohes Alter auszeichnet.

Seitdem hat man sich über den großen Schweiger-Philosophen in Schweigen gehüllt. Doch ist m. E. vorauszusehen, daß die Quellenfrage aufs neue und wohl erfolgreich wird aufgerollt werden können, sobald es gelingen dürfte innerhalb der noch immer reichfließenden indischen Literatur zu dem bisher nur geahnten buddhistischen Ur-Secundus vorzudringen.

Einem Rhetor und (armenischen) Sophisten Secundus, Lehrer des Herodes Atticus, der unter Hadrian in Athen gelebt hat, wie Philostratus in seinen Vitae Sophistarum!) I. 26 überliefert, werden die bei Mullach?) abgedruckten 19 yvopoı zugesprochen, sind aber unecht, wie Zeller) gezeigt hat. Über das Verhältnis der griechisch-lateinischen Sen- tenzensammlung zu ähnlichen lat. Traktaten, insbesondere zur Disputatio Adriani Augusti et Epicteti philosophi, dem Adrian und Epice- titus und der Altercatio Hadriani Augusti et Epicteti philosophi haben zuletzt in erschöpfender Weise W. Suchier*) und R. Zenker°) gehandelt. Ferner will uns H. Omont eine größere Arbeit auf Grund umfassenden Materials über diesen Gegenstand schenken.

Sämtliche Bearbeitungen in den romanischen Vulgärsprachen stammen natürlich aus den lat. Rezensionen. Die altspanische Version (in der 1. Fassung der Bocados de Oro) veröfientlichte H. Knust‘), desgleichen eine andere, die lediglich aus des Walter Burlaeus Liber de vita et moribus philosophorum’) übersetzt ist. Die altitalienische Version (nach Vincenz von Beauvais) findet sich in den Novelle antiche°),

1) Vgl. Fabricius, Bibl. gr. t. XII.

2) Fragm. philos. graec. I. 512—515.

3) Philosophie der Griechen. 3. Aufl. III2, S. 109, A.1.

4) Das provenzalische Gespräch des a Hadrian mit dem ee Kinde Epitus. Habilitationsschrift Marburg 1906, S. 9 ft.

5) Das provenzalische „Enfant sage“, Version B, in Vollmöllers Rom. Forschgen XXIII (Melanges Chabaneau), 1907, S. 926—931.

6) Mitteilungen aus dem Eskurial = Bibl. des lit. Vereins in Stuttgart, Bd. 141 (1879), 498, 602, 655. N

?) In derselben Bibl. Bd. 177 (1886), 372 ff.

8) hgb. Guido Biagi. Firenze 1880, No. 86 (p. 87 ff). Vgl. A. Graf, Roma nella memoria del medio evo II (Torino 1883), 44 ff.

IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 5

ferner in den Fiori di filosofit), eine andere bei Mone, Anzeiger 8, 233 (ital. Pergament vom Jahre 1475).

Die vorliegende Arbeit möge den bisher unbekannten oder noch un- gedruckten altfranzösischen Seeundus-Fassungen gewidmet sein. Dabei hat sich allerdings die Notwendigkeit ergeben, zum ersten Male den Versuch einer kritischen Ausgabe der lateinischen Über- setzung, von der bisher nur einzelne und meist schlechte Handschriften abgedruckt worden sind, zu unternehmen. Der Verfasser derselben ist der Arzt und spätere Abt von Saint-Denis Willelmus aus der Provence (Guillelmus Vapincensis, also aus der Diözese Gap), dessen Über- setzertätigkeit Delisle im Journal des Savants 1900, 725 ff. beleuchtet hat. Dies beweist das Explieit in der Hs. der Bibl. Nat. lat. 2495, A, fol. 80Y (Ende des X. Jhdts.):

Explieit uita secundi philosophi. de greco in latinum translata. a magistro Willelmo medico. natione pro- uinciali. hanc secum a constantinopoli detulit. post faectus monachus in cenobio sancti dionisii. ac post- remo preficitur abbas eiusdem loeci.

Eine damit völlig gleichlautende Angabe fand ich nur noch im Ineipit der Hs. Cambridge, Univ.-Bibl. Dd. IV. 11, fol. 66, b (XII. Jhdt.). Dieser Guillaume de Gap war demnach zuerst Arzt, dann Mönch, und besaß eine besondere Vorliebe fürs Griechische, was damals äußerst selten war. Abt wurde er 1172 oder 1173, mißfiel aber, weil er „ecclesiam Beati Dionysii tepide regebat“, dem Könige Philipp August und wurde 1186 abgesetzt. Sein Todesdatum ist unbekannt. Seine Reise nach Konstantinopel ist durch die Annalen von Saint-Denis unter dem Jahre 1167 bezeugt: Hoc anno Willermus Medicus attulit libros grecos a Constan- tinopoli. Wie Delisle berichtet, hat sich sogar eines dieser von ihm aus Konstantinopel mitgebrachten griechischen Bücher erhalten, nämlich das Lob des hl. Dionysius durch Michael Syncellus, angeblichen Patriarchen von Jerusalem, dessen lat. Übersetzung wir einem anderen Willelmus, dem Zeitgenossen des Arztes Willelmus, zu verdanken haben’).

Es gibt ungemein viele Has. des lat. Secundus. Oft sind Vita und die Sententiae getrennt überliefert. Namentlich in den letzteren herrscht öfters eine große Verwirrung, sowohl was ihre Reihenfolge als auch die Einzelfassung und den Wortlaut anbetrifit. Charakteristisch ist dabei die Verbindung je zweier Begriffe zu einem Ganzen. Arge Verstümmelungen hat ferner der Schluß erlitten, da die Schlußformel von den Schreibern selten verstanden worden ist.

Für die Herstellung des lateinisches Textes standen mir folgende Hss. zur Verfügung:

1) hgb. A. Capelli. Bologna 1865, 36 fl. 2) Vgl. außer Delisle a. a. O. Hist. litt. de la France XIV, 374—376, Gallia Christiana VII. col. 380.

6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vater]. Cultur.

a) schon ediert:

1. Königsberg (hgb. R. Reicke Philologus XVIII (1862), 523 ff. (K).

2. Maihingen (hgb. G. Schepps = Philologus XXXVII (1877), 562 ff. (Mhg).

3—6. München lat. 4789, 26135, 4739 (hgb. J. Bachmann, ebd. XLVI [1837]), 385 ff. und lat. 18757 (hgb. J. Bachmann, Die Philos. des Neopyth. Sec. Anhang III) (M!—M‘).

7 u.8. Würzburg. Mp. th. q. 14 u. Mp. th. £.55 (ebd.) (W! + W?).

9. Erfurt F. No. 346 (ebd.) (E).

10. Charleville No. 275 (ebd.) (Ch).

b) bisher nicht ediert: il. Paris, Bibl. Nat. lat. 2495 A, fol. 79b, XII. Jhdt. (P).

12. London, Brit. Mus. Arundel 125, fol. 95, XV. Jhdt. (L!).

13. Royal 12, D. III, fol. 144, XV. Jhdt. (L2).

14. Burney 360, fol. 43b, XIII. Jhdt. (L°).

15. Re 9, A. XIV, fol. 139b, XV. Jhdt. (L?). 16. Royal 12, €. VI, fol. 10, XIV. Jhdt. (13). 17. Sloane 1580, fol. 27, XIV. Jhdt. (L®).

18. Sloane 1610, fol. 187b, XV. Jhdt. (L?).

19. Sloane 3554, fol. 33b, XII. Ihdt. (L9).

20. Harley 399, fol. 1, XIV. Jhdt. (LP).

21. Addit. 11619, fol. 142, XIV. Jhdt. (L!9. 22. Addit. 11872, fol. 4Sb, XIV. Jhdt. (L}}).

23. Addit. 20029, fol. 137, XV. Ihdt. (L?2).

24. Cotton, Vespasian D. XIII, XV. Jhdt. fol. 139 (L!3).

25. Cambridge, Un. Libr. Dd. IV, 11, fol. 66b, XII. Ihdt. (C}). 26. Ff. VI, 53, fol. 214b, XIV. Jhät. (C?).

27. Ge. IV, 29, fol. 89, XIV. Ihdt. (C3).

28. LII, 15, fol. 3, XIV. Ihdt. (C*).

29. Corpus Christi College 275, fol. 214, XV. Jhdt. (Corp.). 30. Breslau, Un.-Bibl. IV, Q. 51, fol. 110, XV. Jhät. (Br.)

I. Die lateinische Übersetzung des Willelmus Medicus und die älteste altfranzösische Übertragung. (Bibl. Nat. 1553.) Dem kritischen lateinischen Texte, der sehr getreu bis auf die Wort-

stellung die griechische Vorlage wiedergibt ich benutze für die griech. Vita

Orellis Druck und für die Sentenzen die Rekonstruktion bei Bach-

mann, Die Philosophie des Neopyth. See. 8.17 ff. lege ich die älteste

und vorzüglichste der von mir eingesehenen und kollationierten Hss,

(No. 11) zugrunde.

Nur die wichtigsten Sinnesvarianten sind mitgeteilt, auf Verschreibungen, offenkundige Feliler, Auslassungen, Umstellungen u. ä. ist keine Rücksicht

IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 7

genommen. Gesperrter Druck bezeichnet Abweichungen oder Zusätze zum griechischen Original, Punkte sind Lücken im Verhältnis zu letzterem. Über- haupt war es hier sehr lehrreich zu sehen, wie die verschiedenen Schreiber oft sehr willkürlich mit dem Texte umgesprungen sind und wie es immer, bevor ein kritisches Endurteil möglich ist, von höchster Bedeutung bleibt, auf eine gute und alte Hs. zu stoßen.

Eine Vergleichung des von mir hergestellten Textes mit den bisher mitgeteilten Hssabdrucken wird unschwer beweisen, daß infolge der hier durch die griechische Vorlage möglichen Kontrolle die Rekonstruktion bis auf die Wortstellung genau zutrifft. Auch ermöglichte es die Gegenüber- stellung mit der altfranzösischen Übersetzung, die große Verwirrung am Schlusse der meisten lat. Hss. zu beseitigen. Zugleich hat sich er- geben, daß Willelmus sehr getreu übersetzt und sich seiner Aufgabe in vorzüglicher Weise entledigt hat. In seiner Gewissenhaftigkeit ließ er selbst den griechischen Schlußspruch des Schreibers nicht weg. Denn, wie mich Dr. M. Rhodes James (Cambridge) in liebenswürdiger Weise belehrt, läßt sich der jambische Schluß wohl folgendermaßen darstellen!):

Toy Öartuioıg ypaılavıe, TöV KEXTILEVOV, Tev AvayıyyvWarovra a0v rpodunig, YUAATTE TOUg Tpek, W Tptäg TprooAßte.

Willelmus: Digittis scribentem, possidentem, religiose legentem, tres pariter eustodi, Trinitas ter sancta!

Die älteste altfranzösische Übersetzung ist uns in der oft beschriebenen stattlichen Sammelhandschrift Bibl. Nat. f. fr. (ane. 7595) 1553 (XIII. Jhdt.)?) erhalten. Sie enthält 52 Stücke. Von Blatt 406 ab stehen auf je 2 Kolumnen in schöner deutlicher Schrift als No. 21—24 folgende 4 Prosa- stücke: 1) die bekannte Pilatuslegende, 2) als Fortsetzung dazu die Veronikalegende, zum Kaiser Tiberius in Beziehung gesetzt, 3) die Nerogeschichten und 4) unser Secundustext in 7 Spalten (fol. 409a bis 410c) mit roten Initialen und roten Überschriften. Der Dialekt des sorgfältigen Schreibers ist pikardisch-wallonisch. Die Novelle wie die Sentenzen sind gut erhalten und beruhen auf einer im allgemeinen guten lateinischen Vorlage. Sie bieten daher ein nicht zu unterschätzendes Mittel für die literarisch-sprachliche Kritik des lateinischen Seeundus und ein besonderes Interesse als frühes Beispiel der altfranzösischen Über- setzungstechnik, in der bereits so viel Gewandtheit entwickelt wird. Der Verfasser war aller Wahrscheinlichkeit nach ein gelehrter Geistlicher, der dem schwierigen Texte wohlgerüstet gegenüberstand. Zahlreiche Latinismen ließ er aber einfach stehen, die eingestreuten Glossen sind oft müßig, vielleicht aber ebenso wie die Ungenauigkeiten und oflenkundigen Fehler auf Rechnung des Schreibers zu setzen.

2) vgl. Wattenbach, Das Schriftwesen im Mittelalter. Leipzig 1896, S. 493. 2) Nach P. Meyer (Ro. XII, 629—630) zwischen 1258 und 1296 geschrieben. Der unter No. 14 geschriebene Veilchenroman enthält als Datierung das Jahr 1284,

8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Secundus fuit philosophus. Hie philosophatus!) est omni tempore, silentium conservans et Pythagoricam ducens vitam. Causa autem tacitur- nitatis huiusmodi fuit.

Missus est a progenitoribus?), cum |

adhuc parvulus°) esset, ad discendum. Dum) autem esset in discendistudio>), eontigit, ut pater eius moreretur. Itaque aliquando audivit in scolis

verbum huiusmodi, quia omnis

mulier fornicatrix®) est?) et, si latere

possit®), impudica°). Perfectus tan- dem effectus in philosophia remeavit in patriam suam communem!V)

gerens peregrinationis consuetudinem, |

baculum et peram circumferens,

coma!!) capitis et barba prolixal?). Hospitatus est autem in domo pro- pria, nemine domesticorum ipsum agnoscente!?), neque propria quidem matre. Volens igitur probare de mulieribus!*) sermonem, si forte verus esset, vocavit unam ex ancillis, promittens se daturum ei sex!)

1) LS philosophizatus. 2) W1a genitoribus; Li! a parentibus; a patre et a prog. 3) puer Lt, 4) Cum KLu, 5) Cum processisset ad discendum in studio cont. M&. 6) naturaliter meretrix vel f. Mhg. ?) esset P. M&. Wı. Cı. Corp. L3. Li, Lı2, 8) posset C!. L8. Lı1, Lı2, P, 9) et latere posset vix pudica MA. or. Täsa yoyn ropm, ni dE Audodon auppwv. 10) tod xuvös! Hs. Gud. ro nowosg! omnem Br. 11) longa quidem coma K. 12) protensa L12, 18) cognoscente P. M#. Lt. 14) de muliere L1. 15) centum M?. Mhg.

Li,

Bibl. Nat. £f. fr. 1553, fol, 409a. D’un philosophe ki fu apieles Secont.

El tans un empereor ki fu apieles Adriiens!) fu uns phillosophes ki avoit a non Secons. S’avint jadis que quant il fu jones enfes, ses peres et se mere l’envoierent a l’escole por aprendre; et en dedans chou K’il aprendoit, morut ses peres. Apries chou ieis Secons entendi es escoles que toute femme estoit fole, eticeste parole rechut Secons. A la pardefin avint k’il [devint]) grans maistres et parfais en phyllosophye et puis repaira en sen pais. Mais il avoit abit de pelerin et portoit baston et eskerpe et s’avoit molt longhe barbe et molt lons erins, si se hebrega en le propre maison de se mere. Mais il ne fu ame ki le reconneust, ne se propre mere. Secons valt esprover le parole k’il avoit Öle des femmes s’ele estoit vane°). Si apiela une des baisieles

1) Es lag eine Hs. etwa vom Typus M2. zu Grunde, wie der An- fang beweist: Temporibus Adriani floruit Secundus philosophus ete. Die Angabe von der pythogoreeischen Lebens- weise ließ der Übersetzer aus, weil sie wohl dem Leserkreise nicht verständlich gewesen wäre. ;

2) lies: veraie.

IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 9

aureos, asserens!) amare se domi- nam illius?), suam videlicet matrem. Quae aceipiens aurum°®) conabatur persuadere dominae suae?), ei pro- mittens?) aureos quinquaginta. At illa consentiens®) aneillae dixit, quia vespere?) faceret illum ingredi ad se latenter et dormiret cum eo. Philosophus autem has suseipiens promissiones®) a pedissequa mittens emit ad convivium°®) necessaria. Et cum a convivio surrexissent!), post- quam venerunt cubitum!!), illa quidem aestimabat se cum illo commisceri debere; sed ille velut propriam matrem amplectens et oculis perlustrans!?) inter ubera!°) illius dor- mivit usque mane. Mane autem facto surgens Secundus volebat egredi!?). At illa apprehendens eum ait: „Quo- niammetemptare volebas!?), id feeisti?“* Quidixit: „Nequaquam, dominamater! Neque enim dignum est me illud

1) asseruit Ct.

2) dominam domus K.

3) aureos K. Mi. centum cepit suadere Mhg.

4) suae ad eius amorem L!,

5) pr. ex parte sua Li.

6) cons. tandem L3.

?) v. facto Lu,

8) sermones L!.

9) ad opsonium K.

10) secessissent L!.

11) inierunt cubiculumL!!.v.in cubile L3.

12) zolg opdarnors nepizurov. osculis perlustrams P,W1. Lt. Lı2, C1, 03, C#, oseulis placans L3. L1S, oculis placans E. oculis eam aspiciens Mt,

13) inter brachia E.

14) egr. et discedere die meistenHss. |

15) voluisti K.

carnaliter |

se mere et li promist k’il li donroit - VI- deniers d’or s’ele pooit tant faire envers se dame qu’ele l’amast. Li baisiele prist l’or et molt se pena de faire cele besoigne a se dame et dist a se dame que eil pelerins li donroit .L. deniers d’or se le laissast le nuit jesir avoec li. Li dame si asenti et dist a le baisiele qu’ele le fesist venir en se cambre le nuit coiement, si dormiroit avoec li. Secons li phillo- sophes entendi de le baisiele ices promesses, puis si l’envoia querre chou ki neecessaires estoit a leur mangier. Et apres mangier se leve- rent et alerent couchier. Li dame euidoit k’il dust a li jesir carneument. Mais il se coucha entre ses mamieles et le baisoit!) et enbrachoit aussi com se propre femme?°), et ensi dormi iusques au matin sans plus faire. Au matin se leva Secons et s’en valt aler. Mais elle le retint et se li dist: „Por chou ke tu me voloies tempter, as tu chou fait?“ Et il li respondi: „Non fis, biele mere! N’il ne me loistmie touchier?) dont iou sui issus.‘*

1) Vorlage also: osculis. 2) lies: mere. 3) lies: taschier (lat. maculare).

10

Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

maculare, unde exivi!). Absit!‘“2) Illa vero seiscitata est ab eo, quis esset. Qui dixit ei: „Ego sum Se- eundus filius tuus.‘“ Illa autem re- cogitans?) in semetipsa et non ferens confusionem prae angustia exanimata est. Secundus vero sciens, quia propter suam loquelam mors matri suae contigisset, hane a se in posterum®) poenam exegit’), ne amplius loqueretur, et ita usque ad mortem taeiturnitatem conservavit®).

Circa idem’) vero tempus Adrianus imperator veniens Athenas°) audivit de illo; neque enim quiequam bono- rum°) eum latere poterat. Mittensque eum venire ad se fecit. Venientem itaque Secundum Adrianus probare volens, si forte silentium veraciter conservaret, surgens prior eum salu- tavit. Secundus autem propositum servabat silentium. Tune Adrianus ait illi: ‚Loquere, philosophe, ut a te aliquid discamus; impossibile est enrim te tacente sapientiam, quae in te est, manifestari‘!). Seceundus vero nihilominus tacebat. Adrianus iterum

1) oönep 2ENA%0v, nıävar. me maculare E. me violare locum a quo exivi L3. d. e. illud vas mac. Mhg. (3. Ls. L9. L10,

2) fehlt meist! pr) yevaro.

3) At illa cogitans K.

4) impositam L!.

5) gerit L3.

6) servavit silentium M#. tac. conser- varet L3 (dann: ne lingua per quam mater periit sibi ulterius seruiret). taci- turnus perseveraret L!.

7) illud K. xar& d& Tov Aaıpov &xelvov.

8) Athenis Mhg. L®.

9) boni W!. neque eum latere potuit rumor M&.

10) manifestare M#. Corp. L!. te ta- |

centem manifestare K.

Elle li demanda ki il estoit.

„Je sui‘, dist il, „Secons tes fils“. Quant il eut chou dit, elle eutssi grant confusion en li qu’ele ne le peut porter, ains devia lues por cele grant angoisse. Et si con li mere Secont fu morte, Secons vit bien que se mere estoit morte por le parole k'il avoit dite, et por chou emprist il ceste painne k’il ne parle- roit plus: en tel maniere tresques a le mort garderoit!) silenche. Si come Adriiens li empereres

vint d’Atainnes?).

En icel tans Adriiens li empereres venoit d’Athainnes et öi nouvieles de Secont ki estoit si sains hom. Il envoia por lui c’on li fesist venir, et on si fist. Adriiens le valtesprouver, quant il le vit venir, por savoir s’il par aventure wardoit si bien silenche come on disoit. Adriiens se leva premiers contre lui et le salua. Secons warda bien a cele fie le pro- pos de se silenche. Adriiens li dist donques: ‚„Phillosophes, parole que nous puissons auchune chose de ti aprendre! Car ceste chose ne puet estre que tu puisses manifester te sienche en taisant.‘“ Toutes voies: se taisoit Secons. Adriiens li dist:

1) Vorlage: conservaret. 2) Vorlage: Athenis wie Mhg. LS.

fälschlich.

IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie.

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ait illi: „Secunde, priusquam venirem, recte quidem tacebas, quia non habe- bas gloriosiorem tui auditorem, qui tuis verbis posset assistere. Nune autem ego adsum obseerans, ut lo- quaris extollens vocem tuam in vir- tute.‘“ At Secundus non moveba- tur tacens, adeo ut imperator expavesceret. Anxius!) igitur Adrianus dixit Tirponti?): „Fae, ut philosophus loquatur nobis vel unum verbum!“ Tirpon vero, ut revera erat°), ita respondit:

„Leones quidem*) et pardi ceteraque |

animalia concupiscunt humano ore loqui, sed de philosophi pertinacia°) nequaquam ita est°).“ Vocans autem quendam spiculatorem genti-

I

lem?) dixit: „Hune nolentem loqui |

1) oVrendechn, oßT Ws Baorda Eroßrm. "Ayavanınoag de. obstupesceret L!. rich- tig K: adeo nec imperatorem obstupes- cebat. Motus igitur.

2) noch immer ungeklärt! Typ- zoyi ze, Tyrponti K. Tyrponi primario ejuitatis L12. Typonti L!. Triponti W’. C3. C4. LS. Triponi L®. L9. cuidam potenti F. M#.

3) xal 6 n&v Tipnwv, Wonzp Zorlv elnev. Typons uero ut erat L1. Tirpo uero ut erat reuersa L9. Tyrpon uere siue pri- marius in re vera erat L1?2. Tripon erat W!. Li0. Lt, Lı®, Tripon iterum reuera interrogat Li. Tripon uero ut erat uenerandus et timendus L®. Tripon omnium rerum erat sapientissimus respexit et dixit C3. Tripon uero respondit Ct. loquatur ut revera erat resp. E. Potens auten ad praeceplum imperatoris ait illi. Mt.

4) K schiebt ein: et tigrides.

5) de continentia philosophorum M4.

%) sed non possunt. Secundus autem philosophus potens hoc vult nequaquam Mhg.

7) zıya onerovAdtupm "EAANVK. Specu- latorem L®.

de rechief: „Secont, devant chou que ie venisse, estoit il bien drois que tu te t@usses. Car tu n’avoies mie si glorieus auditor c’est a dire si glorieus oiant!) ki päust arester ates paroles ne aler encontre si com ie puis. Mais ves me chi ki molt desire que tu paroles; eslieve te vois en se vertu!“ Secons por chou n’estois?) nient mus, ains se taisoit por chou que li empereres se cremist. Adriiens fu molt an- goisseus et dist a Triponti°): „Fai que eis phyllosophes a nos [die] au mains une parole‘“ Tripons li respondi: „Li lyon et li lupart et les autres bestes convoitent k’il puissent parler de bouche humainne e’est a dire aussi come li hom*) mais il n’apartient mie en tel maniere a phyllosophe, ains doit parler apertement. Tripons apiela un serghant et se li dist: „Nous ne volons ke cil vive plus por chou k’il ne velt parler a l’empereor. Mainne l’ent et si le tourmente!“ Adriiens

Y) Glosse!

2) lies: estoit.

3) Vorlage: Triponti. 4) Glosse!

12

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imperatori !) nolumus vivere.. Abduc et torque eum!“ Adrianus denique spiculatorem latenter evocans ait illi: „Postquam philosophum eduxeris, per viam loquere illi et persuade, ut loquatur! Et siquidem persuaseris ei, ut respondeat, decolla eum; sin vero non responderit, iterum ad me!“

reduc eum Ducebatur itaque

tacens Secundus et spieulator eum |

compellebat ire ad piram?) Erat autem locus ille locus tormentorum. Qui dixit ei: ,‚O Secunde, quare tacens moreris?°) Loquere et vives! Praesta tibi vitam per verbum! Et

quidem eignus®) atque hirundo?) |

et aliae quaecumque volucres ad iocunditatem vitae suae®) data sibi voce utuntur, nec sine voce quieguam est in vita”). Paenite?) ergo, quia iam suffieit tibi silentiüi tempus transaetum ?).‘*

Aliis deinde pluribus verbis insta- bat!P) et persuadebat Secundo. Secun-

1) ]. ad iussum imperatoris L3.

2) Kai 6 nv onenovAdıwp nareßarvev Exwv abTöv eig zyv meipav Yv yap 6 Torog &xelvog Tov noAagonevov. Papyrus: eis retpark: ad piram tormentorum Erat etc. K. ad portam L?. ad pugnam F. ad pium. Erat autem pius |. t. M&. ad putrum Mhg.

3) @rodvijoxeis. morieris’ die meisten Hss.

4) öxuxvog (Papyrus fügt zu: &det) npög zepua od Biov. alauda Mhg.

5) u.6) fehlt griech.

7) nec iocundius uoce est qu. in vita L3.

8) paenitere W1.

9) silentium tempore transacto Li.

sileneium tempore tr. Ct. silentium tem- | |

YEYOo=- YEv

poris transacti Mhg. Mt. evos Ypövos.

10) insistebat K. M#.

AOTTS

ala pardefinapielacoiementle serghant et se li dist: „‚Quant tu auras le phyllosophe enmeng, si parole aluipar le voie et si li enorte k’il parolle! Et se tu li dis chose a coi il re- sponge, si le decole errant; et s’il ne te respont nient, ramainne le ar- riere a mi!“ En tel maniere enmena li sergans Secont et molt l’angous- soit de parler et disoit k’il le men- roit apyram. C’estoit uns lius la u on tormentoit les gens. Li sergans li dist: ‚O Secont, por coi te lais tu oceirre por parler? Parole et tu viveras! Donne vie a ti par pa- role......:) Les arondes et li autre oysiel ont vois ki leur’ est donnee por eslöechier leur vie, ne

| nulle chose n’est en vie k’il n’ait

vois. Repen te done, car li tans de te sillenche ki est trespasses, te doit bien souffire.‘

Et de chou et d’autres paroles arguoit’) molt Secont li serghans- li enortoit.?) Secons ki peu pri-

soit ceste vie, atendoit le mort en

1) der Schwan fehlt. 2) Vorlage: arguebat? 3) Glosse!

IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie.

13

dus vero vitam ipsam parvipendens !) mortem tacitus exspectabat verborum persuasionibus?) non conversus°). Tune spieulator ducens virum*) ad destinatum locum ait: „O Secunde, extende cervicem et suscipe in ea

gladium!‘“ Secundus autem extendens |

cervicem silentio vitam postposuit.

Nudum ) itaque ensem ostendens ®)

spieulator dixit: „Secunde, voce mor- tem?) redime!‘‘ Secundus nihilominus in silentio persistebat. Apprehendens igitur eum spieulator venit ad Adrianum et dixit: „Impe- rator, Secundum, qualem mihi tradi- disti, talem eum tibi reduxi usque ad mortem tacentem.” Adrianus autem

1

admiratus philosophi continentiam®)

surgens °) ait: „Secunde, silentium conservans!®) quandam quasi legem tibi proposuisti!!) solvique lex ista nullo modo potest.

Sumens igitur

tabulam istam seribe et loquere mihi | ' Ta as propost a warder sillenche

saltem manu tua!‘‘ Accipiens autem Secundus tabulam!?) seripsit in hune modum: „Ego quidem, o Adri-

tormentorum stans Br. uerbis persuadentibus

1) ante locum

2) Totg Aoyorg. L3.

3) Entorpazeic.

4) zov Avöpe.

5) yuavov. Tandem itaque Li,

6) Evdeimwönevog. extendens Mhg. osten- tans P. W!.

?) vitam L!,

8) P, Mt. constantiam E. Li, K. Corp. pertinaciam die meisten Hss.

9) avaorag Epn. Surge dixit Secunde K. Corp. L®. L®. L10,

10) serva K.

nihil motus L1,

11) constituisti M#. tibi tribuisti et posu-

isti Mhg.

12) tabellam Corp. t. istam P. tabulas |

istas M#.

ane, non te timeo, eo quod possis

MS. |

| taisant ne ne se convertissoit nient

por l’enortement de chelui. Li ser- ghans enmena donc Secont au liu

ı ki li estoit destine et puis li dist:

„Secons, estent le hateriel et si re- choif...le cop de l’espee!‘‘ Secons estendi le hateriel tout en taisant et peu prisoit sevie. Ale pardefin!) li mostra li serghans en tel ma- niere?) l’espee et se li dist: „‚Se- cont, achate te vie por parler!‘““ Se- cons se taisoit toustans.

Li sergans prist done Secont et si le remena a Adriien et puis li dist:

Si come li sergans ramainne Secont.

Empereres, je te ramain Secont autel con tu le me baillas. Car il a warde se sillenche tresques a la mort.“ Adriiens se mervilla molt de le consienche °) del phyllosophe, puis li dist: „Lieve tet), Secont!

aussi come loi; eiste loys ne te puet estre tolue. Pren ceste taule et escri et si parole... de ta main!“ Se- cons prist le taule et escrist en tel maniere: „O Adriien, certes ne te eriene point, ja soit chou chose que tu me) puisses oceirre. Car tu ies prinches de cesti tans. Il te loist

1) u. 2) Tandem itaque (fälschlich) wie in Li,

3) lies: constanche (Vorlage: stantia).

4) Vorlage fälschlich: Surge!

5) Vorlage: me.

con-

14

Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

oceidere!), quia princeps huius tem- poris videris existere?). Me autem?) oceidere tibi licet, verum voeis meae et verbi proferendi®) tibi nulla po- testas est.“ Adrianus itaque legens dixit: ‚Bene excusatus es’). Sed adhuc tibi quaedam‘) problemata ecee propono, quorum primum est, quid sit”) mundus, ut ad haec mihi respondeas 3).‘

Iterum autem Secundus reseripsit: Mundus est, o Adriane, constitutio caeli et terrae et omnium, quae in eis sunt, de quibus paulo post dis- seram, si his, quae dicentur, dili- genter °) intenderis 19).

1)Mundusestincessabiliseireuitus!?)| spectabilis supellex | ....12) | per se genitum theorema!°) | multiformis formatio | aeternus tenor| cireuitus sine errore | solis Jumen1?) | dies, nox | astra, tenebrae | terra!®), aer, aqua.

1) Papyrus: od poßoönaı os Ever Tod

&rodaveiv. me p. occ. K. Mi. 2) eüpedng. 3) yap. lies: enim oder quidem!

4) tod Enod (Pap. Ev Epoi) Tpopopın.os

Aöyov. verbum prof. M#. 5) oreroyjow. te excusas F. M*. (3. 6) elnoaı, 7) L3.

3) ut resp. fehlt Li.

9) diligentius LS.

10) attenderis L*.

11) ambitus W1.

12) Kodvortov dbwn« incontemplabilis celsitudo fehlt in allen lat. Hss., weil aus der Definition von Deus eingedrungen.

13) toreuma K.

14) YAlov Pos; cod. Gud. besser: “Atos, 98s = sol, lumen Br. sol luna LS.

15) ignis Mhg. zöp einiger griech.

Hss.

bien que tu me pues oceirre, mais tu n’as nul pooir de mi faire parler.‘ Adriiens luit cest escrit et puis si dist: „Tu ties bien escuses. Mais ie te wel encore faire auchunes de- mandes.

Chi li demande Adriiens

demandes.

Premiers ie te demande: chose est li mondes?...

De rechief Secons li respondi:

„O Adriien, li mondes est esta- blissemens del ciel et de le terre et de toutes les .choses ki ens el ciel et en le terre sont, des ques choses tu oras un peu apres, se tu vels entendre diligamment, et i poras aprendre.

Chi respont.

Li mondes est avironnemens ki onques ne cesse |et hauteche c’on ne puet veir!) | et si est lis?) en- genres par lui | et formanche de molt de formes | et: parduraule te- neurs | et avironnemens sans erreur | lumiere de soleil | et si est ior et nuis | et estoiles et tenebres | et terre et eve et airs.

Ques

1) Eingedrungen aus der Defi- nition von Deus wie schon im griech. Original (also auch in der Vorlage).

2) lies: vis (lat. theorema).

IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 15

2) Quid est Oceanus? Mundi am-

plexus | terminus eoronatus | vinculum |

atlanticum !) | universae naturae eir- cumeursus | orbis sustentaculum °) | audacia viae°) | limes terrae | divisio regnorum | hospitium fluviorum | fons imbrium | re- fugium in periculis | gratia in voluptatibus,

3) Quid estDeus? Summum bonum?) | immortalis mens | ineontemplabilis°) eelsitudo | forma multiformis | multi- plex spiritus | incogitabilis inquisitio | insopitus oculus | omnia continens | Berlin). .....

.XIl. signorum reeursus | prineipium cotidianum | aeterna computatio?) |...

1) Öespnög arkavımcg. lat. Hss. meist verderbt! athalantum W!. L12, antha- lanticum Ch. athlantium L?. L3,. Lıo, athalantium Br. attractivum K.

2) spectaculum Mhg. Rest fehlt

griech. 3) vitae L?. uite uel uie LS.

4) summum nachgetragen P. bo-

num W2. bei allen anderen zuletzt |

oder ausgelassen.

5) inconceptibilis Mhg.

6) mayuparis pog. Schluß lautet: lux P. Mhıg. W®. lux, ponum Ch. W1. LS, L10, L'!2, lux bonorum K. L?. lux ho- minum L!, Corp. lux luminum Ls, lux omnium L2, lux perhennis, summum bo- num E. Br. M*. lux bonitatis s. b. L®,

7) compilatio Br. Lt. M#

Et qu’est li grans mers? C'est li enbracemens del monde | termines eoronnes | loiens de choses estrai- snans!) | avironnemens de toute nature | estake et soustenemens del monde | et s’est hardemens de vie | et sentiers de terre | et devisions de regnes | osteus de flueves | huis°) de plueves |....|....|.“

„Di nous, qu’est Deus?“ dist Adri- iens. Secons respondi: „.....°) | C’est pensee nient morte | et hauteche e’on ne puet vir | et forme de molt de formes | et esperis de molt de plours*) | et enquisitions nient por- pensables | et ieus sans repos | et si contient toutes choses | et si est

elartes et iors et biens?).

4) Quid est dies? Stadium laboris | |

Qu’est iors? Jornee et®) estau- lissemens de travail | et s’est retor- nemens de trois?) signes | commen- chemens de chascun ior | et pardu- rables contes.

!)Vorlagenichtverstandenoder: vinculum attractivum wie K.

2) ungenau für fons oder Vorlage: ostium.

3) Vorlage begann also mit immor- talis mens.

4) lies: ploies.

5) Vorlage: lux, bonum.

6) lies: est.

?) .XU. in Vorlage zu .Il. ver- lesen.

16

Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

5) Quid est sol? Caeli oeulus | noc- tis concertator!) | ealoris eireuitus ?) |». . | indefieiens flamma | splendor sine occasu | caelestis viator | diei ornatus®) | caeli pulehritudo | naturae gratia|horarum distri- butor.

6) Quid est luna? Caeli purpura | solis aemula | malefactorum inimica | itinerantium solamen | navigantium directio | signum sollemnitatum | re- eireulatiomensium|oculusnoctis‘)| larga®) roris | praesagium tem- pestatum.

7) Quid estterra? Caeli basis |mundi meditullium ©) | gymnasium vitae | fruetuum custos et mater|operculum °) inferni | devoratrix omnium | mater nascentium | nutrix viventium | cella- rium®) vitae.

8) Quid est homo? Mens incarnata | spiritus receptaculum®) | .... | la- boriosa anima | parvi temporis habi-

taculum!°) | phantasma!!) temporis | speculator!?) vitae | lueis desertor |

1) abiectio M#. E. Br. conculcator L3.

2) fons L7.

3) ornator L3. Rest fehlt griech.

4) L3 u. M#, E fügt zu: amica maris,

5) ministra L?.

6) med. läßt aus! träglich eingeschoben. ?) perieulum Corp. L$.

8) granarium Mhg.

9) eingeschoben: spiritus recepta- culum nVevuatıxöv ayystov hinter p. t. hab. in Ch. L2. K. M&.

10) hereditaculum L7.

11) cod,. Gud. yavrasıa xpövou. fan- tasma siue umbra temporis L?.,

12) speculator uel spectator 04, tator M&.

in L! nach-

spec-

Qu’est li solaus? C’est ieus de eiel | enfremet&s de mont!) | et s’est aornemens?) de caleur | et s’est flame de nient defalans | et resplen- deurs sans decaiement | et celestius respasseres | aornemens de ior | bi- autes de ciel | et grasce de nature | departeres d’eures.

Qu’est June? Poupre de ciel | maisons°) de soleil | anemie de malfaiteurs | confors de commen- ceurs*) | esdreanche’) de chiaus ki nagent par mer | signes de sollemp- nites | commenchemens‘) de moys | iels de nuit | eslargeresse de rousee | messages de tempes.

Qu’est terre? ....”) |...) del monde | eommenchemens°) de vie | fondemens de ciel | warde et mere de fruis | couvreciaus d’ynfer | de- voueresse de toutes choses | mere des naissans | noriche des vivans | cambre de vie.

Qu’est hom? 19) Pensee encarnee | oe ame plainne de travail | habi- tacles de petittans |.... myres!!) de vie | porteres!?) de lumiere | devas- tanche de vie | et s’est pardurables

1) Vorlage nicht verstanden.

2) lies: avironnemens (lat, eircuitus). 3) lat. aemula nicht verstanden! 4) Jat. itinerantium falsch wieder-

| gegeben (lies: cemineeurs).

5) lies: direanche oder adreanche?

6) Vorlage: principium.

?) lat. celi basis umgestellt.

8) meditullium nicht verstanden oder es fehlte in der Vorlage (vgl. W2.

9) gymnasium nicht verstanden.

10) Hs. hat die Reihenfolge terre chius biautes hom.

11) ]ies: mireours.

12) ]jes: deserteres.

IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie.

17

-... | vitae consumptio | aeternus | mors | sergans de moit | trespassans

mortuusimancipium mortisitrans- |

iens viator | loci hospes. 9) Quid est caelum?'!) Sphaera vo- Jubilis | eulmen immensum.

10) Quid est pulchritudo? Naturalis compositio?) |....| parvi temporis fortuna |.....| flos mareidus | car- nalis felicitas | incompositum nego- tium | humana concupiscentia.

11) Quid est mulier? Hominis con- fusio | insaturabilis®) bestia | continua sollieitudo |.....indesinens pugna | eotidianum damnum | domus tem- pestas*) | sollieitudinis °) impedimen- tum | viri incontinentis naufragium 6) | adulterii vas | pretiosum ?) proelium | animal pessimum | pondus gravis- simum °) | aspis insanabilis®) | hu- manum mancipium.

12) Quid est amieus? Desiderabile nomen | homo vix apparens | non in- venienda possessio | refugium infeli-

1) fehlt griech.

9

2) guarar) kwypapix. captio P. Corp.

L!. L?2. L6. Lı0. L11, L12, Mhg, M4. Ch. |

captatio K. L?. L®. 3) insacjabilis E. K. Mi. Br. L$®. Lı0, 4) ciziag yeıpwv. richtig E. Ch. P. Corp. d. tempestatis die anderen Hss.

5) Apeptpviag securitatis! castitatis E. M4.

lies also:

LS, 6) Avdpög Arpmroög vauayıov, falsch continentis in vielen Hss.

Epmoßtov.

7) noAvrerdg nöAepog. perniciosum Ch. E. Le. L?. LS. L10. periculosum Mhg. L2. L3. Lu,

8) L11 fügt hinzu caput peccati. lima diaboli, expulsio paradisi.

9) insaciabilis K. LS. inattonevn Exıöva.

1910.

ungenau!

aleres | ostes de liu.

Qu’est chius? Rondeche tornaule | combles haus et grans | terre des vivans!).

Qu’est biautes? C'est naturaus prendanche?) | fortune de petit tans|

fleurs matissans°®) | bonne eurte de

, ehar | besoins nient ordenes | et s’est

humainne convoitise.

Et qu’est femme? Femme est confusions d’omme | bieste nient sa- oulaule | et s’est euriosit&s continuee |

| bataille adies durans | et s’est da-

mages chascun ior | maisons de tem- piest | emp&echemens de curiosite | perius d’omme incontinent | vaissiaus d’avoltire |....| et s’est tres piesme beste | et tres gries fais | et ieus nient saoulaule‘) | et humains serghans.

Qu’est amis? Desirables nons | hons a painnes aparans | et s’est possessions c’on ne puet trouver |

1) hinzugefügt!

2) Vorlage fälschlich captio.

3) lies: mareissans,

4) Vorlage: aspis insatiabilis miß- verstanden,

18 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

eitatis!) | miseriae respector?) | 5.0 0.000 | indeficiens quies?) | inde- sinens felieitas®).

13) Quid est agricola? Laborum?) minister |....| heremi eoaequator®) | operator escae | terrae medicus | arbustorum plantator | montium com- planator |....|

14) Quid est navis? Marina operatio | domus absque fundamento |..... avis lignea | incerta salus.

15) Quid est nauta? Fluctuum’) vi- ator | marinus equitator |....| orbis hospes | terrae desertor®) | tempes- tatis concertator ®) | .......

16) Quid sunt divitiae? Auri pon- dus | curarum ministrae |.... | de- lectatio iniocunda | insatiabilis invi- dia | res desiderata | desiderium in- explebile | os excelsum | invisa con- cupiscentia.

17) Quid est paupertas? Odibile bonum | sanitatis mater | curarum remotio | absque sollieitudine semita

1) xarapuyy dvoruyias. felicitatis MA.

2) Kardononog TaAaınwplas. inspector W1!. reparator Corp. L!. L2. Mhg. reper- tor L$. L8. receptor L10. reuelacio Br. E. M&.

3) unklar, da griech. «vuröoturov KELlıyALoV.

4) Für diese Definition in LU: Quid est facies mulieris? Sagitta vene- nata.

5) onwv (v. 1. xoprev) ümmperng. agrorum L$#. L8. Vorlage wohl növwwv? 6) Egmplag ovwjsng. temperator 13.

7) xunarwv Ööornöpog. Fluuiorum uiator L1. fluctuum vel fluuiorum LS,

8) yfis anootiıng.

9) yeyımvos dvraywviorng. contraetorW1, inserutator L?. Temptator K. contem- plator M4. Br.

et definemens de bonne eurte!) | rap- parillieres?) de misere | repos nient defaillans | bonne eurte nient de- laissans.

ER ee eoosioocanas

Qu’est nes? Ouvrages de mer | maisons sans fondement | oysiaus de fust | salus nient certainne.

Qu’est marinniers? Aleres et trespasseres par flueves | chevauchi- eres de mer | ostes de viande‘) | por- teres®) de terre | encerkieres®) de tempiest.

Que sont riqueches? Fais d’or | ministre des cures | delectations nient iuables | envie nient saoulee | chose desiree | desirs nient emplis | haute bouche | convoitise nient vue c’est c’on ne puet nient vir?).

Qu’est povret&s? C'est biens häis | mere de sanitet | remouvance de

cuers®) sentiers sans curiosites | rap-

1) Vorlage fälschlich felicitatis.

2) Vorlage also reparator.

3) Diese Definition von agricola fehlt.

4) Vorlage: (orbis hospes) mißver- standen.

5) lies: deserteres.

6) Vorlage fälschlichinscrutator.

?) müßige Glosse!

8) lies: cures.

IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 19

|»... . sapientiae repertrix!) | nego- tium sine damno | intractabilis sub- stantia | ....... .. possessio absque calumnia | incerta fortuna | sine solli- eitudine felicitas.

13) Quid est seneetus? Optatum malum |.... | viventium mors | in- columis langor | ..... | spirans mors | Veneris expers | mors exspectata | mors communis ?).

19) Quid est somnus? Mortis imago | laborum quies | medieorum experi- mentum°) | vigilantium sapientia | vinetorum solutio*) | infirmantium votum | miserorum desiderium | uni- versi spiritus requies |........ 20) Quid est vita? Beatorum’) laetitialmiserorum maestitia®)| exspectatio mortis.

21) Quid est mors? Aeternus som- nus | dissolutio corporum | divitum pavor | pauperum desiderium | inevi- tabilis eventus | incerta peregrinatio | latro hominis | somni pater | fuga vitae | resolutio omnium ?).

22) *Quid est littera? Custos histo- riae. 23) Quid estverbum? Proditoranimi,

1) cod. Gud. oopiag eup&mg. repara- trix Wi. L!. L2, rectrix Lt1 scientiae repertrix Mhg.

2) vexpüg xıvounevag,

3) inıpwv nuröpthwnd.

4) Bedsnevwv Aucıg. falsch vinclorum W2. Ch. uictorum L®. L8. L10, uotorum Lu,

56) Diese Defin. griech. bonorum die meisten Wi Li, L®. L8. C#. bonorum et beatorum Mt,

6) tristitia LB.

?) hominum K.

*) Der Rest der Definitionen ist griech. nicht zu belegen.

also ungenau!

fehlt

Hss.

parelleresse!) de sienche | buissons°) sans damage | sustanche nient trai- taule ne maniaule°) | possessions sans calenge | fortune nient certainne

Qu’est rielleche? C’est maus de- sires | et mors des vivans | langheurs nient haliegre | mors -abäee | si n’a point de luxure | et s’est mors aten- due | et mors commune.

Qu’est dormirs? C'est ymage de mort | repos de travaus |....| .... | desloiances de visces*) | et veus de malades | desirs de caitis | repos de tout esperit.

Qu’est vie? Löeche de bonnes eur&s | tristeche de caitis | atendanche de moıt.

Qu’est mors? Pardurables dor- mirs | desloianche de cors | peurs de riqueches®) | desiriers de povres | avenemens nient eskivables | peleri- naiges enterre®) | leres d’omme | peres de some | fuite de vie |....|.

A eeererage aka agake

rn re ne

Qu’est parole? Traissieres de

corage.

1) Vorlage fälschlich scientiae re- paratrix.

®) lies: besoins = lat. negotium.

3) müßiger Zusatz!

4) Vorlage hatte wohl vitiorum oder Fehler des Übersetzers.

5) divitum der Vorlage in divi- tiarum verlesen,

6) in terra fälschlich statt incerta wohl schon in der Vorlage.

”) Diese Defin. fehlt.

20

24) Quid est quod generat verba? Lingua.

25) Quid est lingua? Flagellum aeris!).

26) Quid est äer? Custodia vitae.

27) Quid est libertas? Hominis inno- centia.

28) Quidesteaput? Culmen corporis. 29) Quid est corpus? animae.

30) Quid sunt comae? Vestes capitis.

Domicilium

31)Quidestbarba? Sexusdiseretio?).

32) Quid est cerebrum? Custos memoriae. 33) Quid suntoculi? Duces corporis |

vasa luminis | indices animi.

34) Quid sunt nares? Adductio odo rum ?).

35) Quid sunt aures? Collatores®) |

SOoNOrum.

36) Quid est frons? Imago animi.

37) Quid est 0S? Nutritor corporis. | | corS,

38) Quid sunt dentes? Molae mor- dentes.

39) Quid sunt labia? Valvae oris. 40) Quid suntmanus? Operarii cor- poris.

41) Quid sunt digiti? plectrum.

42) Quid est pulmo? Servator äeris.

43) Quidestcor ? Receptaculumvitae.

Cordarum

1) Br. L3 fügen hinzu: quandoque vita, quandoque mors.

2) L! fügt hinzu: etatis distinctio.

3) odoris Li.

4) collectores M4. collacio L3.

Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Qu’est chou ki engenre parole? Li langhe.

Qu’est langhe? Flaiaus d’air. airs? Warde de vie. francise?

Qu’est Qu’est cense. Qu’est Qu’est

D’omme inno- cies?! Combles de cors. cors? Maisons d’arme. Que sont comes? Vesteures de cief.

Qu’est barbe? Demonstrance de sexe a che voit on l’omme!). Qu’est cerviaus? Warde de me- moire.

Que sont Öel? Meneur de cors | vaissiaus de lumiere | demostranche

de corage.

Que sont narines? Amenanche d’odour.

Que sont oreilles? Recheve-

resses?) de sons. Qu’est frons? Ymage de corage.

Qu’est bouke? Nourisseresse del

Que sont dent? Mueles mordans.

Que sont levres? Porte de bouque.

Que sont mains? Ouvrier de CorS.

Que sont doit? Harpe de cordes.

Quest poumons? Warderes d’air. Qu’est euers?! Receptacles de vie.

1) Glosse zu sexe! 2) Vorlage: collectores.

IV. Abteilung. Sektion

für neuere Philologie.

21

44) Quid estiecur? Custodia caloris. |

45) Quid est fel? eundiae?).

46) Quid est splen? Risus et laeti- | tiae capax. 47) Quid est stomachus? Ciborum | coquus.

45) Quid sunt 0832? Robur corporis. 49) Quid sunt pedes? Mobile fun- | damentum.

50) Quid sunt erura? Columnae cor- poris.

51) Quil sunt coxae? Epistilia co- lumnarum, t

52) Quid est sanguis? Humor ve- narum | vitae elementum °).

Suseitatio!) ira-

53) Quil sunt venae? Fontes carnis.

54) Quid est lux? rerum.

55) Quid sunt stellae? Pietura cul- minis | nautarum gubernatores | noctis decor.

l'acies omnium

56) Quid est pluvia? Conceptio ter-

rae | frugum genitrix *).

57) Quid est nebula? Nox in die | labor oculorum,

58) Quid est ventus? Aeris pertur- batio | mobilitas aquarum | siceitas terrae.

59) Quid sunt flumina? Cursus in-

deficiens | refectio solis | irrigatio terrae.

60) Quid est aqua? Subsidiumvitae | ablutio sordium °).

1) concitatio Li,

2) irae L®.

3) alimentum L?7,

4) gen. et nulrix

5) Mhg noch: de vite putrefacta!

L3.

Quid vinum? Aqua

Qu’est jusiers? Viande de cou- leur). ‘Quest fiel?

Esmouvanche d’ire.

Qu’est rate? Prendanche de ris

' et de löeche.

Qu’est bonsnens°)? Queus des

, viandes,

Forche de cors. Mouvaule fonde-

Que sont 08? Que sont pie? ment. Que sont euisses? de cors.

\ n fehlt.

Colombes°)

Qu’est sans? Humeurs des vain- nes | et elemens de vie.

Que sont vainnes? de char.

Qu’est Jumiere? Fache de toutes choses.

Que sont estoiles? Painture de comble | et gouverneur de notonniers | et biaus de nuit.

Fontainnes

Quest plueve? Concevanche de | terre | mere des bles.

Qu'est nubleche? nuis | et travaus d’els,

C'est iors et

fehlt.

caloris

1) lies: Warde de caleur. in coloris verlesen! 2) vgl. W. Foerster in Zts. f. rom. Phil,

‚1.399 zu bonnen.

3) lies: colomnes.

22

Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

61) Quid est geiu? Persecutor !) herbarım | vineulum terrae | fons aquarum.

62) Quid est nix? Aqua sicca. 63) Quid est hiems? Aestatisexul.?). 64) Quid est ver? Pictor terrae?).

65) Quidestaestas? Vestitioterrae ®).

66) Quid est autumnus? Maturatio

frugum?). 67) Quid est quod amarum dulce facit? Fames $).

68) Quid est quod hominem lassum fieri non sinit? Lucrum?

69) Quid est vigilanti somnus? Spes’?).

70) Quid est spes? Refrigerium 8) laboris | dubius eventus°).

71) Quid est amieitia? Aequalitas animorum 1°).

1) perscrutator Corp. L6. perscr. mem- brorum Mhg.

2)L’noch: horror anni. carcer florum.

3) L’noch: fugator hiemis. renouator anni.

%) L’ noch: facies anni. Li2 da- hinter: Quid annus? Quadriga mundi quo ducit omnia. nox et dies. frigor et calor.

5) diese Defin. selten richtig be- zogen!

6) quies post laborem E. Li noch: Quid est fames? Cibi desiderium.

7) lies: quies? Quid est spes? Vig. sompnus ref. ]. Corp. L3.

8) refugium M#. Corp. L2. (r. salutis L®).

*9) dazu LS: doloris mitigacio.

10) animorum velamicorumaequalitasK. amicorum Mhg. L8 (dazu: vinculum irre- cuperabile).

| | fehlt.

Qu’est nege? C’est eve seke. Qu’est yviers? Qu’est prinstans? Paignieres de

terre.

| Quest estes?

| teıre.

Qu’est vans!)? Mäuranche de bles.

Essius d’este.

Reviestemens de

Qu’estchou ki rent amer repos? Apres travail?).

Qu’est chou ki l’omme escorlongier?°)? vaigne luerum 3).

Qu’est repos? Dormirs vellans‘).

ne lait mie Wains

Qu’est esperanche? Refroide- mens de travail |....|. Qu’est amistes? Weletes d’a-

mours?).

ı) Vorlage fälschlich ventus für autumnus.

2) die Vorlage hatte: Quid est quod amarum dulce facit? Quies post laborem (vgl. E). Lies also: ki rent douc amer? Repos apres travail.

3) lies: escolorgier „glisser“. Dies erweist den Schreibfehler lapsum (statt lassum) in der Vorlage! Die Unsicherheit des Übersetzers bei Wains rief die Zusätze hervor.

4) Vorlage also: Quid est quies? Vigilanti (s) somnus.

5) Vorlage fälschlich amorum oder verlesen. Vgl. animorum vel amorum aequalitas K.

IV. Abteilung. Sektion

für neuere Philologie. 93

72) Quid est fides? Ignotae!) rei mi- |

randa?) certitudo?).

Igitur‘) Adrianus imperator, cum

haec legisset et didieisset causam, quare Secundus in silentio philo- sopharetur, praecepit eius libros sacrae?) bibliothecae inseri et inti-

tulari®) sub nomine?) Secundi phi- |

losophi°).

Digittis®) seribentem, possidentem, |

religiose legentem, tres pariter eustodi!®\, Trinitas ter!!) Sancta!!?).

1) jgnoratae K, Ch.

2) admittenda M.

3) Lıi2noch: Quid est inter veritatem et mendacium? Amor recti.

4) Tors Adpıavög Evrehivar Zexovv- dou Tod YLlocopon.

5) fehlt LS.

6) Schluß P. E. Br. C3. C. L7.

”) sub n. fehlt P. Ch. Wı. L2. Lı2,

8) Schluß M!. M#. C2. L3. Lıı, Mhg.

9%) Die Schlußformel haben K. Wı. W2. Corp. Ch. L?. Ls. L8. LS. L10. ins. et int. Sec. ph. digittis seruantis

sileneium (!) et religiose loquentis (!) |

Lı2,

10) Wı. Ch. Corp. L2. L®. L10, custodiat |

die übrigen Hss.

11) nur W?. Corp.

12) dahinter in L2: Sapiencia diuina est mundo spissior. celo alcior. melle duleior. vino suauior. lacte lenior. lapide durior. ferro forcior. auro preeiosior, sole splendidior. argento speciosior.

R. |

mari profundior.

Qu’est fois? Certainnetes de chose nient connute.

Donques Adriiens liempereres quant il eut lut et aprise le cause, pour coi Secons wardoit sillenche, il com- manda les livres de le sainte by- ble...?!) entituler des dois?) Secont le phyllosophe.

Li sainte Trinites warge°) ces trois ensamble, c’est ki l’eseriront et aront et liront religieusement. Chi define de Secont phyllosophe

Que Adriiens valt faire decoler.

1) bibliothecae inseri nicht standen.

2) lat. digittis falsch bezogen zu Secundi phil. statt zu scribentem (vgl. L12),

3) Vorlage: eustodiat Trin. sancta.

Ver-

34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Il. Vincenz von Beauvais und die altfranzösische Übersetzung in der Bibl. de Toulouse No. 452.

In sein Speculum historiale (XI 70 u. 71) hat Vincenz von Beauvais eine stark zusammengedrängte Bearbeitung des Secunduslebens und der Sentenzen nach der alten Übersetzung des Willelmus Medicus aufgenommen und dadurch ungemein zu ihrer Verbreitung beigetragen. Nach diesem Auszuge richtet sich auch die folgende altfranzösische Version, die wir in einer Handschrift der Toulouser Bibliothek finden. Sie trägt die Nummer 452 und stammt aus dem XIV. Jahrhundert!). Auf fol. 33—41 steht dieser Text zu je zwei Kolumnen in der Lebensbeschreibung des Kaisers Hadrian. Die Sprache des Kopisten, die nach dem Osten weist, bietet zu Aus- lassungen keinen Anlaß.

De Secont le philosophe et comment il tempta sa mere.

En celluy temps fu un philosophien qui ot nom Secont, li quieulx, come il estoit encore enfant a l’escole, (il) ouy dire une parole: que toute femme estoit nonchaste. Si avint que, come il feust parfeietement aprins en philosophie, il s’en retourna en son pays come pelerin commun, le baston en sa main, la pere°) en l’escherpe soubz l’esselle, a grans cheveaux et a longue barbe. Si s’en va herbergier en sa propre mayson sanz ce que nulz de l’ostel le cogneust ne sa propre mere. Si voult esprouver se ce estoit voir quil avoit ouy dire des femmez. Si promist a une des chambrieres ‘x* deniers?) d’or, maiz qu’elle feist tant que sa damme se voulsist dormir avec li. Si li acorda la damme et au soir fist entrer le pelerin en sa chambre®). Et ainssi come la mere cuida qu’il voulsist dormir avec elle charnelment, il se dormist aussi come avec sa mere iusques au matin. Et ainssi come il se voult yssir de la chambre, celle le prent et arreste et „Que est ce“, fist elle, „es tu venu yci pour moy tempter?“ „Mere“, dist le philosophe, „‚ce n’avendra ia, se Dieu plaist, que ie touche?) le vessiel dont ie suy yssuz!“ Celle fu toute esbaye et demanda qu’il estoit. „Je suy“‘, fist il, ‚Secons, ton filz‘. Et sa mere commenca a penser en soy et ne pot sostenir si grant confusion, si morut en la place. Et le philo- sophe cognoissant que par sa parolle sa mere estoit morte, se donna ceste penitence que iamaiz, tant come il vivroit, parole ne ystroit de sa bouche. Si ne parla oncques puys Secons iusquez a la mort.

Comment l’empereour manda Secont.

Or avint que l’empereour vint a Athenes et ouy parler de Secont

philosophe; si le fist venir a luy. Et ainssi come il fu venuz a l’em-

1) Beschrieben im Catalogue general des mss. des bibl. publ. des dep. Paris 1885, t. VII p. 262.

2) lat. pera, lies also: ou l’escherpe. 3) VB.x. aureos. 4) VB. vespere fecit eum ad se introduci.

5) lies: tache (lat. Texte: maculare),

IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 35

pereour, <cil> le salua premierement, maiz il ne respondi riens. L’em- pereour le menaca et le fist mener au lieu ou on menoit les maufaicteurs '); maiz riens ne valut. Le borrel le fist estaindre le col sur le trone pour luy decoler, maiz il prisa mains sa vie que sa silence. Et pour ce que le borrel avoit eu commendement qu’il ne le tuast mie, maiz qu’il le espoventast et apres le remenast a l’empereour, si le fist ainssi, et le remena, et dist a l’empereour qu’il avoit tenu sa silence iusques a la mort. „Et?) puis“, fist l’empereour: „que tu as prins ceste loy de silence, au main pren unes tables et parle a moy par escript, puis que de ta bouche parler ne veuls‘! Adonc le philosophe print unes tables et escript en ceste maniere. „‚Ädrians, dist il, „ie ne doubte riens, si tu es prince de ce temps; tu me pues bien occire, si veuls; maiz que tu me fasses parler, ton povoir ne se estent mye a ce‘. Adonc l’empereour li fist tout plain de demandes et le philosophe le (sic) respondi tout par escript.

Des responses que fist Secont a l’empereour. Ce sont les demandes que Adrians l’empereour fist a Secont le philosophe.

„Quel chose“, dist l’empereour, „est le monde?‘ „‚Secont respondi en eseript: Le monde est avironnement qui ne cesse |....°) | forme con- tenent maintez formes|....*) | mouvement ou il n’a point de decepcion ne de deffault.

L’empereours dist: Quel chouse est la grant mere (sic!)?

Le philosophe respondi: Ü’est l’embracement du monde | terme cou- ron& | hostel ou li fleuve sont herbergiez | et fontaine de pluies.

L’empereour: Quelle chose est Dieu? Le philosophe: Dieux est substance espirituelle, non mortel | hautesse sanz lieu®) | forme en qui sont toutes formez | encerchement qui seurmonte pansee | oeil qui ne dort oneques | ce qui contient toutes choses | lumiere | tout bien ®).

L’empereour: Quelle chose est le souleil? Le philosophe: L’oel du ciel | avironnement de chaleur | resplendisseur sanz obscurt& ?) | l’ornement du iour | le distribuiteur des heures.

L’empereour: Quelle chose est la lune? Le philosophe: La pourpre du ciel | celle qui est ialouse du souleil®) | contraire aux maulfaicteurs

1) Der Übersetzer kürzt hier bedeutend den Wortlaut bei VB.

®) VB. Quia lex ista silentii, quam tibi ipse proposuisti, nullo modo solvi potest, sumens tabulam istam scribe et loquere saltem manu tua.

3) VB. spectabilis suppellex.

4) aeternus tenor.

5) incontemplabilis celsitudo.

°) VB. lux bonorum. Die Vorlage hatte also: lux. summum bonum.

7) splendor sine occasu (der Übersetzer ist ungenau).

8) solis aemula.

236 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

.

| eonfort aux cheminans!) | adrecement des nageurs | signe de sollempnitez | mere des rouseez °) | signifiance de tempestes.

L’empereour: Quelle chose est la terre? Le philosophe: Le fon- dement du ciel?) | le milieu du monde®) | la mere et la garde des fruiz | la couverture d’enfer | la mere des nessanz | la nourisse des vivans | la devourresse de tot | celier de vie.

Quelle chose est homme°)? C'est esperit encharne | fantosme de temps | regardeur de vie | sergent de mort | chemineur trespassant | hostes de lieu | ame de travail | habitacle de petit temps.

Quelle chose est beaut&? Fleur flestrie | beneurte charnel | con- voitise humaine.

Quelle chose est femme? Confusion d’omme | beste non saoulable | eontinuez souciz | bataillez sanz cesser | peril®) d’omme nonchaste | humain service.

Quel chose est amiz? Ü’est nom desirrable | homme pou apparent | mauvaise fortune?) | beneurtez qui ne faut.

Quelle chouse sont richessez? Or pesant | menistre de curez | delit sanz ioye | envie non saoulable | desir a qui ne puet estre satisfacion faicte®) | bouche autaine | convoitise non veue.

Quelle chose est pouvret&e? Bien qui n’est pas amez°) | mere de bonnairet&!P) | privacion de cures | trouveresse de sagesse!!) |....1?) sanz domage | beneurte sanz esmay | possession sanz envie et sans faire tort!°).

Quelle chose est vieillesse? Mal desir!*) | mort des vivens | sauve langueur | sanz maladie de mort vivant!°).

Quelle chose est sommeil? Ymage de mort | repos de labour | veu de malades | desir de ceulx qui sont a mesaise !®).

1) VB. solamen iter agentium.

2) larga roris.

3) caeli basis.

4) mundi meditullium.

5) Auch VB. hat die Reihenfolge terra homo pulchritudo mulier.

6) Hs. besil.

%) ungenau! VB. infelieitatis refugium.

8) desiderium inexplebile.

9) Odibile bonum.

10) sanitatis mater.

11) VB. sapienciae repertrix.

12) negocium ausgelassen!

13) possessio absque calumpnia.

14) Jies: desire optatum malum.

15) unrichtig! VB. spirans mors.

16) miserorum desiderium.

Quelle

IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 97

chouse est vie? Liesce de beneures!) | tristece de ceulx qui

sont a mesaise | attente de mort.

Quelle

chose est mort? Sommeil pardurable | paour des richesses?) |

desir des pouyres | aventure de quoy nulz ne se puet garder°) | larron d’omme | fuite de vie | separacion des elemenst).

Quelle Quelle Quelle Quelle Quelle

Quelle de lumiere

Quelle de vie. Quelle

Quelle Quelle Quelle Quelle Quelle Quelle

chose est parolle? Ce qui trait le couraige. chouse est le corps? (’est la maison de l’ame. chose est la barbe? Congnoissance de sexe. chose est cervel®)? C'est la garde de memoire. chose est le front? C’est l’ymage de courage.

chose sont li oeil? Ce sont li conduiseur du corps | vessiaux | demonstreur de couraige.

chose est le cuer? C'est receptacle de vie ou vessiau ®)

chose est le foye? Ü’est la garde de chaleur.

chose est la vier’)? C’est ce qui eusmuet ire et felonnie®). chose est la rate? (est ris et vessiau de liesce°).

chose est l’estomac? C'est li queux des viandes.

chose sont li os? C'est la force du corps.

chose sont li pie? C’est fondement muable.

chose est li vent? C’est troblement de l’air | commocion des

eaves !P) | secherresce des terres.

Quelle

chouse sont li fleuve? Ü’est cours sanz fin | reflection du

souleil | arrousement de terre.

Quelle

chose est amisti6e? C’est avoir semblables couraigez 1).

Quelle chose est foy? C'est merveilleuse certainet@ de chousez non

veuez. Quelle

chose est ce qui ne lesse homme cesser? C'est gaing.

C’est ce que ie ay trouv& des dis Secont le philosophe.

DVB:

Bonoruim laetitia. Die Vorlage hatte also beatorum.

2) ungenau! divitum pavor.

3) inevitabilis eventus.

4) Vorlage also: elementorum (VB. resolucio omnium). 6) Diese Reihenfolge wie bei VB.

6) VB.

Receptaculum vitae; also vessiau als Var. zugefügt!

2) = fiel.

8) et f.

zugefügt (suscitatio iracundiae)!

9) Risus et laetitiae capax. 10) mobilitas aquarum. 11) aequalitas animorum,

38 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

1II. Die poetische Bearbeitung im didaktischen Epos Image du Monde.

Die bisher unedierte Dichtung Image du monde hat insbesondere durch Carl Fant!) eine ausführliche Würdigung erfahren. Man nimmt jetzt mit ziemlicher Bestimmtheit an, daß beide unmittelbar aufeinander folgenden Redaktionen (1245 1247) von demselben Dichter, nämlich Gautier von Metz?), stammen. Das großangelegte Gedicht bildet ein Lehrbuch der damals herrschenden Kosmogonie, Astronomie und Geographie. In der auf 11000 Achtsilbner angeschwollenen Umarbeitung (vgl. Fant p. 16 ff.) verdienen besondere Beachtung die eingestreuten Legenden. Hinter der nicht weniger als 1740 Verse umfassenden und bereits von Jubinal°) veröffentlichten Brandanlegende stehen zwei weitere Einschaltungen: a. „Del philosophe qui descrist comment Nature fist un home“ (= 158 w.). b. „Delphilosophe qui ocist sa mere par sa parole“ (= 306 w.). In der letzteren Erzählung, deren Analyse C. Fant p. 27 gegeben hat, erkannte ich unseren Stoff wieder, zumal auch Secundus selbst (v. 15) genannt wird. Durch ihren hohen poetischen Gehalt ver- dient sie in der Tat, ans Tageslicht gezogen zu werden. Der Schauplatz der Handlung ist hier nach Rom verlegt. Der Knabe Secundus muß 30 Jahre lang bei einem tüchtigen und von seinem Vater gut besoldeten Lehrmeister verweilen, damit es desto wahrscheinlicher wird, daß die Mutter den Heimkehrenden nicht wiedererkennt. Die Rolle der Kammer- frau ist weiter ausgesponnen, das Verhalten der Mutter erscheint in noch bedenklicherem Lichte. Neu ist die Bestattung durch die nichtsahnenden Verwandten. Das Talent des Dichters entfaltet sich besonders in der Schilderung der mannigfaltigen Folterqualen, denen auf den Befehl des erzürnten Kaisers der beharrliche Schweiger unterworfen wird, bis alles vor Secundus auf die Kniee fällt und ihn um Verzeihung bittet. Die an den Philosophen gerichteten Fragen sind zum Schluß nur summarisch an- gedeutet. So haben wir den Höhepunkt einer dichterischen Verklärung der Secundusgeschichte im alten Frankreich vor uns.

Bei dem Mangel einer kritischen Ausgabe mußte ich mich darauf- beschränken, einen getreuen Abdruck der Hs. Bibl. Nat. f. fr..25 407, fol. 50a bis 52c, anzustreben, die offenbar einem anglonormannischen Schreiber aus dem XIV, Jhdt. zuzuschreiben ist. Um aber einen einiger- maßen annehmbaren Text herzustellen, habe ich sämtliche Varianten einer anderen (Wiener) Hs. mitgeteilt und auf Grund dieses mir vorliegenden

1) L’Image du Monde, po&me inedit du milieu du XlIlIlIe siecle Upsala Universitets Ärsskrift 1886.

2) cf. P. Meyer, Rom. XXI 481 und Voretzsch, Einführung in das Stud. d. altfz. Liter. Halle 1905, S. 434.

3) Legende lat. de S. Brendan Par. 1836, p. 105 ft.

IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 239

Materials mir die am nötigsten scheinenden Textbesserungen diese betreffen in erster Linie die Wiederherstellung der Silbenzahl unter dem Texte anzuführen erlaubt. Eine sprachliche Uniformierung des Textes lag demnach noch nicht in meiner Absicht.

Diese Papierhs. der Wiener Hofbibliothek 3430, XV. Jhdt., jede Seite mit einer Kolumne, in deutlicher und schöner Schrift, zeigt eine Einteilung in 5 Bücher: 1. fol. I—39a: ]’advenement Nostre Seigneur. 2. fol. 39b—S1b: la nativite Nostre Seigneur. 3. fol. 82a—112a: la passion Nostre Seigneur Jhesucrist. 4. nach diesen biblischen Teilen fol. 112b: Cy commence le Rommant de l’Image du monde, fait l’an de grace mil. cc. 1111XX- XVII. le samedi devant la Magdalene; zunächst Ja mapemonde. 5. fol. 216: l’image du monde.

Unser Text ist überschrieben „Comment Second philosophe esprouva sa mere“, Er steht auf fol. 208b—213a. Un autre philosophe i out, K’une parole esprover vout K’il öi sovent affermer. Quant tans fu de li escoler, Ses peres k’assez out pur despendre, 5 L’envoia tantost pur aprendre A un philosophe de pris Loinz de lui en autre päis, Ke plus tost les en obliast Et al aprendre mielz pensast; 10 Kar ia nus entre ses parenz N’aprendra grant bien ne grant sens. En son päis ne en sa terre Ne puet on pas granz sens conquerre. Li enfes Seeundus out noun, 15 Ki puis home de grant renom. A celui son fiz enveia Et grant avoir li presenta Com eil k’assez en out;

Et li proia a mielz qu’il sout 20 Ke a son enfant bien apr&ist fol. 50b v. 1 V. ph. estoit 2 esprouuer voult 3 oy souuent 4 lemps; lui e.

5 Son pere qui ot assez a espandre. lies: Ses peres k’assez pout despendre 6 pour aprandre 8 loing 9 Que; l’entroubliast. lies: la l’entrioubliast?

10 Et alafaire mieulx p. 11 Car nul e. s. parens 12 Naprandra ja grans sens 14 on grant s. acquerre 15 Lenfant; ot non 16 p. fut de gr. r. lies: ki puis fut hom de gr. r. I7 A cellui s. filz enuoia 18 lui 19 qui

moult en ot. lies: Come cil ki a. 20 Et lui pria du mieulx quil sot 21 Que son e. (besser).

30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Tant ke philosophe le feist.

Li maistres cel enfaunt retint

Tant ke philosophes devint

Si bons c’om ne trovast maillor. 25 "XXX: anz fist oveke lui seior

Sanz veoir pere ne parent.

Une parole öi sovent

En escole prover et lire

Ki sovent li avoit fait ire; 30 Ne il ne la savoit desprover,

E pur ceo la vout esprover.

Du latin est ceus romanz pris:

Tote femme est fornieatris;

Se celer se puet, nonchaste est. 35 De la parole tels sens naist

Ou li plusur mettent tel glose:

Femme est luxuriose chose;

S’ele puet celer sa luxure,

N’est pas chaste ne virge pure. 40 Autrement dire le pöez,

Par autre moz si vous voillez:

Chaskune femme fornicastre;

Se celer le puet, n’est pas chaste.

De la glose et de la sentence 45 Fu cil philosophes en tence

Et pensa, puis qu'il fu ensi,

Done l’estoit sa mere autre si

K’on tenoit molt a prode femme. fol. 50. Si fu cil troblez en sa alme 50 K’il mut pur venir en sa teıre

Pur mielz la veritez enqueore.

De son maistre se part atant.

Par soet iornees erra tant

22 que ph. en f. (besser) 23 Le maistre 24 que philosophe 25 Si bon con ne trouoit meilleur. 26 Long temps fut a lui a seiour 27 Sans 28 oir souuent 29 pour voir eslire 30 Qui souuent lu 31 Kil ne la pouoit desprouuer 32 Et pour; voult esprouuer 33 De latin en tel rommans prins 34 Toute fame; fornicatrix 36 nest 37 pluseurs metent 38 Fame; luxurieuse 39 Selle 40 Nest vierge ne chaste p. 41 pouez 42 mot se vous voulez 43 Toute fame est f. 44 se puet 46 Fut ce philosophe en tance 47 questoit ainsi 48 autressi 49 Con t. moult proudefemme 50 Si en fut si trouble en same 51 Quil m. pour 52 Et pour mieulx verite enquerre. 53 som 54 ses iournees.

IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 31

K’en soen päis vint tot a pie 55 Come pelerins sanz faintie.

Si avoit este, XXX. anz ot;

Estrange se fist a plus qu’il pout.

A sa vile s’en est venuz,

Vers l’ostel son pere est m&uz. 60 A plus covertement quwil peut

Enquiert que sa gent faire suet.

Il sout la sante de son pere

Et k’a maison estout sa mere.

Lors vint al us de sa maison; 65 Le ostel queort cum errans hon.

Herbegez fu et il s’acointe

A la chaumberiere oiseuse et cointe.

Femme ke est sovent oiseuse

Par nature est luxuriuse. 70 Il li dist s’ele päust faire

K’a sa dame puist tant plaire

Ke ovoeke lui gäust cele nuit

Pur avoir de lui le deduit,

Il li dorret d’or "VI' besaunz, 75 Et sa dame en averoit 'X* taunz.

„Cest sunt garante; tant avrez. fol. 504 Faites le si com mieuz savrez!“

Cele ki öi le grant don,

A sa dame dist la raison 80 Du pelerin ki tant promet;

Estranges est si s’en revet,

Faire le puet celeement. 5 K’a valut? Ceo li dit tant

Ke la dame otrie li a. 85

55 Quen son p. v. tout 56 Com pelerin sans 57 Ny a.; ans 58 Lestrange fu au plus quil pot 59 ville; venus 60 Droit vers lostel les pas menus 61 Au plus couu.; pot 62 Enquist; seult 63 Et sceut que mort estoit son pere (richtig 64 Et quen m. estoit 65 de la m. 66 Lostel requiert comme errant hom 67 Herbergie 68 De la chamberiere moult cointe (besser) 69 Qui moult estoit orgueilleuse 70 Et p.n. luxurieuse 71 Il lui dist se tant pouez f. 72 Qua vostre d. peusse pl. lies: p&ust 73 Quauec lui jeusse vne n.; lies: K’avoee 74 Pour 75 Je vous donrray 'VI' besans 76 Et vo d. en aura dix tans. lies: avroit 77 Ce sont ‘LX’ tant en a. 78 F. le mieulx que vous pouez. 79 Celle qui joy 80 Dist a sa d. Si qui promet 82 Et e. est si sen vet 84 Que vault celle lui dist tant. lies: Ke valut? Cele li d. t. 85 Que octroie lui a,

39 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Cele au pelerin s’en reva

Et li conte ke tant a fait

Ke sa dame otrier li plait.

Cele nuit mangerent assez

Et burent bons vins et clarez; 90 Couchier vount, li liz furent faiz.

La dame a le pelerin trait

En sa chambre et prent son löer,

Puis le fait en son lit cochier,

Et ele se couche lez lui. 95 Braz a braz se pernent amdui.

Cele le baise par luxure,

Et eil qui de tel fait n’a cure,

La baise come mere autresi:

Plus n’en vout faire, enz s’endormi 100 Tant ke iorz fu, si s’en leva.

Quant la dame voit qu'il s’en va

Sanz plus faire, si a tel ire

Ke trop ele prent a maudire

Come femme luxuriose 105 fol. 51a Ka par us est contrariose.

Grant doel a femme refusee

Quant ele se est abaundonee.

Ribaut le elaime et si dist tant

K’ele li fra hounte grant, 110 Ainz k’il se departe du pais.

Cil ki fu de dolur afflis

Et out hounte du lait sa mere,

La vit lor vers lui si amere

Ke trop baiout a lui mal fere. 115 Lors dit pur lui de doel retraire,

Ke de pis ne venist a chief:

„Dame‘‘, fait, „il ne vus soit grief;

86 Celle 87 lui; que 8S Que; octroie le pl. lies: otrie 89 Celle; assez .— % fors vins 91 vont li lit f. fait 93 prant son loyer 94 couchier 95. Et se c. delez lui 96 Bras a bras se tiennent ambedui 97 Celle 98 Mais cil 99 comme; autressi 100 voult f. ains 101 jour fut si se lieua 103 Sans 104 Que trop le prant 105 Comme; luxurieuse 106 Par vsaige contralieuse. lies: Ki par us e. c. 107 dueil a fame 108 elle sest aband. (richtig) 109 et wi dit 110 Quelle lui fera honte (richtig) 111 Ains que sen parte 112 qui fut de doleur 113 Et ot honte 114 lors 115 Que trop baioit; faire 116 dist pour luy de dueil r. 117 Que 118 vous,

IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 33

Malades fui anuit si fort

Ke trop me dotai de la mort.‘“ 120 „Ha!“, fait ele, ‚„mavais truanz,

Faus pelerins, fel soiduianz,

K’ensi baiez femmes honir!

Sachez, ie vus frai languir

Si ke ia mes ior ne ferez 125 A femme ceo ke a mei fait avez.

Sui ieo puianz, sui ieo mesele?‘“

Lors vint avant la dameisele

Pur lui aider. Quant ceil le vit

Si plaines de mal esperit 130 Ke pas ne poet eschaper,

Sanz lui ou sanz eles grever,

Si prist sa mere a regarder fol. 51b Mut simplement e a plurer

Et dist: „Mere, ia deu ne place 135 Ke ieo en vus tel pecchie face

K’au leu de mun pere me mette,

Ou de tel oevre m’entremette

Par quoi il m’engendra en vus!

Il n’a iei fors Deu et nus, 140 Bien celerons cest forfait.

Ne doi pas a vus faire lait

Ne au leu dount sui issus.

Jeo sui vostre fiz Secundus.

"XXX anz m’avez mis a l’escoele.‘“ 145 Quant cele attendi la parole

Et eonuist qu’il estoit ses fiz,

Ses queors fu si de hunte afflis

De ceo ke abaundune se avoit

119 Malade fu henuyt 120 Que; doubtay 121 Ha. dist elle mau- uais truant 122 Faulx pelerin faulx soudoiant 123 (Quant si baez fames honnir 124 Certes je vous feray honnir. lies: ferai 125 Si que jamais ne 126 A fame ce que fait mauez. lies: ceo k’a mei f. a. 127 Suis je puant suis je meselle 128 v. a. lui la damoiselle 129 Pour; quant les vit. liess eil les vit 131 Qui pas ne pouoit eschapper. lies: pooit 132 Sans; sans elles 133 Lors prinst 134 Moult s. et a plourer '!35 mere a dieu 136 Que je en vous tel pechie f. 137 Que ou lien mon p. 138 Ne de t. euure 139 Par quoy m. en vous 140 Il na cy que dieu et nous 142 Ne doy en vous 143 Ne ou lieu dont suis yssus. lies: ie suii. 144 Je suis v. filz secondus 145 ans; a escole 146 celle entendit. lies: entendi 147 (uel congnut; son filz 148 Son cuer fut si de honte 149 De ce que abandonnee sestoit. lies: k’abandone s’avoit

1910. 3

34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

A son fiz ki sun mal savoit, 150 Et si grant dolurs li survint

Ke tantost murir lui convint:

A terre cheit estendue.

Quant ses fiz l’ad morte v&we,

Dolanz fu, quant par sun parler 155 Out fait sa mere devier.

Bien sout ke s’il se fust täus

Sa mere poerreit vivre plus.

Lors dist ke venjaunce prendroit

De ceo par quoi morte l’avoit, 160 Et enprist tel penaunce a faire fol. 5le Ke plus ne vout parole traire

Hors de bouche pur riens nee,

Puis ke sa mere out tüee.

Li parenz pur la dame firent 165 Lur doel et en terre la mistrent;

L’acheison de sa mort ne sorent,

Fors pur son fiz quider porent

De la ioie de sa venue

Fust ensi morte et esperdue. 170 La damesele quan k’ele pout,

Cela le fait ke autre nel. sout.

Cil fu muz ne vout paıler,

Et eil qui li vindrent visiter,

N’en porent ainz traire parole, 175 Dunt il priserent mains sa escole;

Se aucuns consau li requerout,

Par signe ou par escrit le fesoit;

Ke si il trovast consail en lui

Mielz qu'il ne feist en autrui. 180 Tant parla hom plus de cel home

150 fils qui s. m. scauoit 151 Quesi gr. doleur lui s. 152 Que t. mourir 154 fils la m. veue 155 Dolent fut; son p. 156 Ot 157 Bien scet sil se fust teus 158 peust— 159 vengence prandroit— 160 De ce dont m. la voit— 161 penance aftere 162 Que puis ne voult 163 H. de sa bouche pour. lies: sa b. 164 que s. m, en ot t. (besser) 165 parent pour 166 Leur dueil; mirent 167 La- choison; sceurent 168 par son fils cuider. lies: Fors ke p. 170 ainsi 171 La damoiselle tant com pot (besser) 172 que nul ne le scot. lies” k’autre 173 Lui fut muet ne voult p. (besser) 174 Cil qui le v. v. (besser) 175 one tr. 176 Dont prisierent moins sescole. lies: s’escole 177 Chascun eonseil lui requeroit. lies: S’aucuns 178 et par escript faisoit. Tilge le! 179 Que cil trouoit conseil. lies: s’il 180 Mieulx; en nulli 181 p. on puis richtig); homme.

IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 35

Ke la novele vint a Rome

Ke iloek un philosophe avoit

Mut sage et ke parler ne voleit

Ne nus savoit que chose il eust 185 Dunt la parole lesser deust.

Uns emperieres Adrians

K’a Rome regnoit a cel tans

Pensa k’il l’envierret queore fol. 51d Pur amender lui et sa terre, 190 Si il le pooit fere parler.

Son messagiers i fist aler.

Par tant firent quil vindrent a Rome.

Li emperieres et si home

Le recevoient a grant honur; 195 Sovent le arainent nuit et ior,

Mais n’en poeient parole traire,

Dunt plusurs eurent ire et contraire

Tant ke li rois un ior li dist

(Que semblant de courocie fist 200 Od ces barons ou il estoit)

Ke mut grant honte li fesoit,

Quant ne deignout od lui parler;

Kar bien avoit fet esprover

K’il parleroit bien se il voleit. 205 S’il parlast, et il le ferroit

Conseillir de tute sa terre,

Ke valut? Ne sout tant requerre

Qu’il parlast, et si home ont dit:

„Sire, il vus tient a grant despit. 210 Faites le grief torment soflrir!

182 Que la nouuelle; Romme 183 Que illec. lies: K’iloek 184 Moult saige et p. ne vouloit (richtig) 185 Ne nul ne scauoit quil eust (besser) 186 Dont le parler laissier deust (besser) 187 Vn empereur 188 Qui Romme tenoit a ce temps 189 lenvoieroit querre (besser) 190 Pour lui admender 191 S’il le pouoit faire p. lies: S’il 192 Bons messaiges y fit. lies: Bons messaiges 193 Tant firent quil vint a Romme (richtig) 194 Lempereur; homme 195 Le recoiuent (richtig); honeur 196 Souuent le resnent; jour. lies: l’arainent 197 puent (richtig) 198 Dont aucuns ont. lies: pl. ont 199 T. que le roy vn jour luy 200 courroux lui fit 201 O ses b. 202 Qui moult grant joie lui faisoit 203 daingnoit a luy 204 Car; fait esprouuer 205 Que b. p. sil vouloit. lies: s’il 206 p. il le feroit 207 Conseillier de toute 208 Mais il ne sceut t. r. 209 et ses hommes 210 vous; en gr. d. 211 Faictes lui griefz tormens souflrir

36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

En ceste court faites venir

Vos lions pur lui devorer,

Ou vus le faites tormenter

A voz tormentors felons!“ 215 Li rois dist oiant ses barons

Ke s’il ne parlast iusk’ a lors fol. 52a Qu’il sentiroit mainz tormenz fors. Un ior lur a nome li rois

Ne sai ou 'XV- iorz ou un mois —. 220 Quant li iorz vint, ne vout parler;

Li rois se prist mut de irer.

Ses tormentors venir fait,

Genz cum maufi6 hidus et lait,

Ki les genz dannes tormentoient 225 Ki a torment iuge estoient.

Li rois lur dist ir&ement

Qu'il le tormentent erüaument

Del plus grief torment qu’il sauront.

Cil dient k’ensi le feront. 230 Lors le saisissent cum malfe.

Li rois lur a dit a prive:

„si il parole, tuez le moi;

Et se il s’en tient, lassez le quoi!

Mes ainz ke iusk’ a la mort le menez, 235 Si ke vif le me remenez!“

Cil le deboutent et detraient,

La robe ceruelement detraient;

Des scorges granz et des espines

Le fount sentir grief disceplines; 240 Jambes et braz et doiz li tordent;

Li chien l’abäirent et le mordent.

212 celle; faictes 913 pour 214 vous; faictes 215 A vos tormenteurs. lies: tormenteors 216 Le roy 217 Que; parloit jusques 218 soufferroit tourmens fors 219 jour lui (besser) a nomme li roys 220 Ne scay ‘XV jours; moys 221 Quant vint le jour ne voult p. 222 Le roy se print moult a jrer 223 Ses tormenteurs. lies: tormenteors 224 Gens com maufez hideux et laiz 225 Hs. de aunes. V: Qui tous dampnez 226 Qui a tourmens jugiez e. 227 Le roy leur d. tout jr. 228 cruelment 229 Des pis tourmens quilz scauront 230 Ceuls d. quainsi 231 comme maufe 232 Le roy leur 233 Sil p.; moy. lies: S’il— 234 Sil se tient laissiez tout coy. lies: Et s’il 235 Mais ains jusqua la m. le mectez (besser) 236 Si que vif le ram. 238 eruelment Jui traient (richtig) 239 De gourgies grans et despines. lies: D’escorges 240 Lui font s. grans disciplines 241 et bras lui teurtent 242 labaient et le mortent. lies: l’abaient

IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 37

AI leu de torment mene le ount,

Tuz les maus qu’il seivent li font.

De broches poindre a li s’äerdent, 245 fol. 52b Les ongles des doiz li desherdent;

Il le rostissent et le lardent,

Si ke a bien pres trestut ne l’ardent.

Mes ne li seivent tel mal faire

K’il en puissent parole traire, 250 Ainz soefre tut mut bonement

Et oilz et mains vers le ciel tent.

Quant eil voient qu’il n’en porroient

Plus faire s’il ne ocioient,

Lors vint li maistres de eus avant, 255 Une hache en sa main trenchaunt,

Et dist: „Tent le col, si murras

Maintenant ou tu parleras!‘

Cil tent le col tantost avant.

Lors le remainent maintenant 260 Devant le roi, et quant il sout

K’ensi se t&ust sanz dire mot

Et de corage si constant,

Dedenz son queor li prisa tant

Com il pout plus priser nul home. 265 Touz les meillors mire de Rome

Manda pur lui fere garir.

Quant gariz fu, sil fist venir

Et dist: „Philosophes, bien voi

Ke sur toi as establi loi 270 Ke ta lange en parler se taist,

Eserif au mains s’il te plaist,

Se i’ai pooir en nule afaire,

243 Au lieu des tourmens m. lont. lies: l’ont 244 Tous les maulx quil sceuent lui font 245 buches; luy 246 dois lui esrachent 247 Ilz le rot, 248 lies: k’a. fehlt V. 249 Mais ne lui sceuent 250 Que ja p. en p. tr. 251 Ains souffre tout moult bonn. 252 Et mains et oeulx vers 253 Qvant v. que plus nen pourroient 254 l’occioient (richtig) 255 le maistre deulx. lies: d’eus. 256 haiche; trenchant 257 Et d. ca le coul si mourras 259 coul 260 Et le ram. 261 roy; scot 262 Quainsi se tient sans. lies: tut 263 En son couraige se consent 264 A son cuer le pr. t. 265 Comme il peust prisier homme 266 Tous les meilleurs mires de Romme, lies: mires 267 pour luy faire guerir 268 gueri fut si fist 269 philosophe; voy 270 Que seur toy; loy 271 Que ta langue 272 Escrips au moins. 1 Silbe fehlt! lies: se il 273 Se jay pouoir en nul affaire

38 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vater]. Cultur.

r2

Dunt parler toi puisse faire.‘ fol. 52 Tables li baille et eil eserit. 275

Apres li rent et li rois lit:

„Adrian, tu me puis tuer,

Mais ne me puis faire parler.

Pooir pues sur mun cors avoir

Mais sur l’alme n’as tu poer.“ 280

Lors s’est li rois agenuillez:

Simplement li chäi as piez,

Tuit si baron autresi

Et li proient pur deu merei

Des maus dunt tant l’ont fet grever; 28 Kar fait l’ount pur li esprover

Se pur torment ne mort fauderoit

De sun purpos k’enquis avoit.

Li philosophes lur fait signes

Qu’il lor pardone cum benignes. 290

Li rois ki le fait honurer,

Li ad empris a demaunder

Des plus forz choses qu’il savoit

Dont cil la raison escrivoit.

Premiers li demande quei est deus, 295

Qu’est nature, almes, angles et ciels

Que est estoille, June, et solaus,

Pur quoi sur touz est granz et beaus;

Qu’est mundes, elemenz et hom:

De tot li enquert la raison, 300

Dont droite demaunde sout faire.

Cil li eserit par tele affaire fol. 52d

or

274 Dontp.tep.f. 1Silbefehlt! lies: ietep. f. 275 lui; escripst 276 Au roy les baille et il les list 277 puez 278 puez 279 Pouoir puez s. mon corps 280 sur mon ame; pouoir 281 le roy agenoilliez 282 lui cheit aux 283 Et tout le b. autressi. lies: Et tuit si baron 284 Et lui cerient trestout merci 285 mauls dont; fait 286 Car f. Jont pour lui esprouver 287 pour t.; faindroit. lies: faudroit 288 De son pourpens que prins voit. Hier ein- geschoben: Ou prouue lont fin et estable | Ne tenoit point son sens a fable 289 Le philosophe si leur 290 leur pardoint com 291 Le roy le fit- moult honourer 292 Emprins wi a a demander 293 fortes; scauoit 295 Premier lui d. quest dieux. lies: qu’est 296 nature ange et cieulx. lies: alme 297 Quest nature (!) estoille et soulaus. lies: Quest 298 Qui est sur tous cler et beaus 299 monde element 300 De tout lui enquist raison 301 droicte demande scet f. 302 lui escripst par tel af.

IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 39

Que nus ne seit apres que dire,

Dunt li rois fist un livre escrire

Ou totes les responses mist 305 Ke eil philosophes li dist.

IV. Der Auszug im Renart le Contrefait.

Über diesen letzten Ausläufer des Roman de Renart im Mittelalter, der uns in 2 Redaktionen erhalten ist (Red. A. 1320—1322, Redaktion B 1328—1342) hat G. Raynaud in Rom. XXXVII (1908), 245—2853 aus- führlich gehandelt. Von diesem Gelehrten haben wir überdies in Kürze eine Ausgabe des umfangreichen Werkes zu erwarten.

Die Hs. der Wiener Hofbibliothek 2562 enthält auf fol. 171e bis 172a einen gedrängten Auszug der Secundusgeschichte. Ein Vergleich mit dem oben mitgeteilten Text der Toulouser Hs. beweist die Abhängig- keit von der letzteren Version und damit von Vincenz von Beauvais.

Die Abschrift des Textes verdanke ich der selbstlosen Liebenswürdig- keit des Herrn G. Raynaud in Paris.

En ce tempz fu ung philozophe qui ot nom Secont, lequel!), comme il estoit enflant a l’escolle, ouy dire ceste parole que nulle femme n’estoit point bien chaste. Sy advint que comme il fut bien parfaittement apris en philozophie, il s’en retourna en son pais comme ung pelerin commun, le baston en sa main?) et grans cheveulx et longue barbe, et se herbrega giez sa propre mere, et ne fut pas congnu de personne, ne de sa mere, ne d’autre. Sy voult esprouver se c’estoit verit€ ce qu’il avoit ouy dire des femmes, et promist a une des chambrieres dix deniers d’or, mais qu’elle feroit tant que sa dame voulsist couchier avee lui. Si fist tant la chambriere que la dame s’i acorda; et fist Ja dame le soir entrer le pelerin en sa chambre. Lors quant la dame cuida que le pelerin se d@ust dormir charnellement avec elle, il se endormi jusquez au matin avec sa mere. Et quant ce vint au malin, il se voult issir hors de la chambre, celle lui dist: „Que est cecy? Es tu venu pour moy tempter?‘“ ,,Mere‘, ce dit le philozophe, ‚ce n’avendra ja, se Deu plaist, que je touche le vaissiel dont je suis issus!“ Si fu celle esbahye, et lui demanda qu’il estoit. „Je suis“, dist il, „Secont, vostre filz“. Et lors la mere de vergoigne, de doeul et de meschief au coeur morust®) en la place. Lors quant li philozophe vöyt que par sa parole sa mere estoit morte, il se donna ceste

303 Que nul ne sceut 304 Dont le roy fit 305 toutes 306 Que; lui dist.

1) Hs. laquelle.

2) lat. peram ausgelassen!

3) dahinter in der Hs. die durchgestrichenen Worte: avant trois [jours?] passes (G. R.).

40 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

paine que jamais, tant qu’il viveroit, ne parleroit, ne parolle de sa bouce n’ysteroit. Si ne parla puis Second jusques a sa mort.

Or advint que l’Empereur vint a Athenes, et ouy parler de ce philo- zophe; si le fist a lui venir. Et quant il fut venu, l’Empereur le salua premier, mais cellui ne respondy riens. Lors l’Empereur le menacha et le fist mener ou lieu la ou on justichoit les malfaitteurz. Mais riens n’y vallut, car combien que on lui fist le col estendre sur le tronc pour de- coller, il prisa mains sa vye que sa silence; et pour ce que le bourrel avoit eu commandement qu’il ne le tuast pas, mais qu’il l’espoantast, si le fist ainsi, et le remena, et dist a l’Empereur qu’il avoit tenu sa. silence jusques a la mort. Adone lui dist l’Empereur: „Puisque tu as prins ceste loy de silence, au mains prens unes tables, et parlez a moy par escript, puis que par bouce parler ne veulx!“ Lors le philozophe print unes!) tables et escript en telle maniere: „Adrian, je ne te doubte riens, se tu es prinche de ce temps; tu me peus bien ochire, se tu veulx; mais ad ce que tu me faces parler, ton pooir ne s’i estend mye.‘‘“ Adonc l’Empereur lui fist moult de demandes auxquelez il respondy souffisamment et excellentement.

V. Das Secundus-Exemplum bei Eustache Deschamps.

An zwei Stellen seines gereimten „Miroir de mariage“ (cap. XXXI und LXXXVII)?) benützt Eustache Deschamps (1340—1406) die Secundus- geschichte als ein exemplum für die Unbeständigkeit des Weibes. Hier rückt in den Vordergrund die Mutter als ein Vorbild der weiblichen Treue vor dem Tentamen:

2795 Sa mere qui encor vivoit Et que preude femme tenoit. Estre sembloit d’oultre le Rhin.

Die Bestechungskunst des Pilgers und die Zureden der ancelle sind mit Behagen ausgeführt. Das Festmahl fehlt, da die heimliche Zusammen- kunft beschleunigt wird. Dem didaktischen Charakter dieser Einschiebung entsprechend streift der Dichter zuletzt nur ganz kurz die Begegnung mit dem Kaiser Hadrian in Athen. In der zweiten Anspielung

10 334 Or me remembre de Secont, Qui une auctorite trouva Par quoy en sa mere esprouva Que nulle femme n’estoit chaste findet sich die abweichende Angabe, daß Secons 17 Jahre von der Heimat abwesend gewesen sei. Das gefährliche Experiment des Philosophen wird

1) Hs. une.

2) Oeuvres completes d’Eustache Deschamps p. p. G. Raynaud, t. IX (Par. 1894, S. d. a. t. fr.), vv. 2781—2921 u. 10334—10377. Vgl. dazu die Anmerkungen von G. Raynaud in t. XI (1903), p. 177—178.

IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 41

entschieden verurteilt, vor diesem „art de phillosophie‘“ gewarnt und eine Verallgemeinerung des Ausspruches jener ‚auctorite‘“ abgewiesen. Nach- drücklich lautet daher die Kritik: 10428 Et Secont fut un grant trubert:

Se sa mere se consentit

Sanz le fait, puis s’en repentit,

Pour ce 'n’est ce pas consequence

Que chascune en ce fait s’avance

Et que non chaste soit trouvee;

Ceste sentence est reprouvee.

VI. Secundus in der Chronik des Jean d’Outremeuse.

Der Chronist Jean des Preis d’Outremeuse (1333—1400), lange Zeit Notar in Lüttich, hat in seine monumentale Weltgeschichte in Prosa, den Myreur des histors!), die Seeundusgeschichte mit geringen Änderungen nach der ältesten altfr. Übersetzung ?) aufgenommen.

Secundus ist hier „mult gran clers“. Jene Lehre fand er nach vier- zehnjährigem Studium in einem Buche und kehrte, zu dem tentamen lest entschlossen, nach Rom zurück. Das Mahl fällt vor die Versuchung. Deren Schwierigkeit wird hervorgehoben: „sa mere ... n’estoit mie une petit femme de basse lignie, ains estoit nee de prinche et de senateur de Romme.“ Nach der Beschämung verfällt sie in ein heftiges Fieber und stirbt in drei Tagen. Secons legt sich die bekannte Strafe auf und baut sich zu diesem Zwecke eine Hütte in einem Walde vor Rom. Nach 16 jähriger Buße besucht ihn dort der Kaiser Hadrian auf der Rückkehr von Rom, um seine „clergie‘‘ kennen zu lernen. Jene vornehme Per- sönlichkeit, die Secont zureden muß, gilt hier als „un de ses prinches, que ons appelloit Tyrpons“, der spiculator als „sorgant‘“ und die Richt- stätte als „le lieu ons faisoit les justiches de Romme“ und fernerhin als „le lieu ons tourmentoit les mallaiteurs, le queis lieu ons nomoit Pirram.“,

Nur 9 Definitionen (monde hons) sind hier enthalten, deren Ver- ständnis übrigens dem Herausgeber der Chronik insbesondere für „la grant

1) p. p. Ad. Borgnet. Bruxelles 186% (6 vols), t. I p. 537—542.

2) Bewiesen durch folgende Stellen: 1. si glorieux auditeur de moy, qui soy posist aresteir ü tes parolles, ne aleir encontre; 2. les lyons, lupars etc. 3. arguoit. 4 der Schwan fehlt. 5. Secon, lieve toy sus. 6. Secons |y sains hom. 7. Wortlaut der Definitionen nebst Irrtümern, z. B. loy&s de chouses estrangnes (!). Dagegen schließt richtig die Bestimmung von Oceanus: huys de plueve | refus emperins (lies: en perius = refugium in periculis) | et s’est grasce de delis (= gratia in voluptatibus). Somit lag Jean eine voll- ständigere altfr. Hs. vor.

43 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

mere‘“‘ Oceanus einige Kopfschmerzen verursacht zu haben scheint). Schließlich bedauert der Kaiser das Stillschweigen des Einsiedlers, der so weise Antworten auf die schwierigsten Fragen zu geben versteht und weist ihm in seiner Großmut eine Pension (rentes) und eine zahlreiche Dienerschaft bis zu seinem Tode an. ‚Enssy soy departit l’emperere de Secon.“

Besonderen verbindlichen Dank schulde ich bei der Ausarbeitung des vorliegenden Aufsatzes den Verwaltungen der Bibliotheken in Breslau, Cambridge, London, Paris, Toulouse, Wien, die mir die Durchsicht und Ver- wertung des handschriftlichen Materials bereitwilligst verstattet, den Herren C. Fant (Göteborg), M. Rhodes James (Cambridge), J. Klapper (Breslau), H. Omont (Paris), G. Raynaud (Paris), W. Soederhjelm (Helsingfors), Erik Staaff (Upsala), die mich mit Beiträgen und ihrer Hilfe bei Be- schaffung der Texte erfreut haben, und last not least dem Sekretär dieser Sektion unserer Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur, Herrn C. Appel.

4. Die Sitzung vom 9. Dezember war zugleich Sitzung der Sektion lür Neuere Kunst.

Nach der Wahl der Sekretäre und des Delegierten, welche die bis- herigen Amtsführenden, Herren Appel, Berneker, Koch und Sarrazin in ihren Funktionen bestätigte, sprach Herr Privatdozent Dr. Gustav Neckel über

Ibsens Nordische Heerfahrt.

Es ist natürlich, wenn man Ibsens Jugendarbeiten in erster Linie als Vorläufer seiner späteren Produktion betrachtet. Dieser Gesichtspunkt erweist sich für jedes einzelne Werk fruchtbar, am wenigsten vielleicht für „Frau Inger‘‘ und für das „Fest auf Solhaug‘‘ eine Studie, zu der der Dichter sich später nicht mehr bekannte —, weit mehr für „Catilina“ und die erst spät veröffentlichten ‚Olaf Liljekrans“ und „‚Johannis- nacht‘, am meisten aber für zwei Dramen des zweiten Kristianiaer Auf- enthalts: Ibsens erstes Thesenstück, die „Komödie der Liebe“, und sein erstes Problemdrama, das freilich das Problem noch nicht formulierte und sich noch historisch vermummte: die „Nordische Heerfahrt‘“.

Beide Werke überraschten bei ihrem Erscheinen durch kühne Neu- artigkeit, die „Komödie‘‘ durch ihre These, die von einer unreifen Kritik schonungslos heruntergerissen wurde, die „Heerfahrt‘' durch ihr Ethos und ihren Stil. Die „Heerfahrt‘‘ fand von Anfang an sehr verschiedene Beur-

1) I p. 541, n. 5: „J’avoue humblement ne rien comprendre aux definitions du philosophe, et je ne puis que felieiter l’empereur Adrien d’avoir trouve cela une bonne solution de sa question.“

[V. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 43

teilung. Der damals in der dänisch-norwegischen Literatur maßgebende Kritiker, Ludwig Heiberg in Kopenhagen, verwarf das Stück wegen der ungeschminkten Darstellung roher, barbarischer Sitten und fand seinen Stil manieriert. Er legte den Maßstab der älteren Ästhetik an. Später hat man das Drama mit seinen Quellen und den älteren Darstellungen desselben Stoffes der Brynhildsage verglichen, Man beantwortete sich zwei Fragen: ist der Dichter dem alten Sagenstoffe gerecht geworden? und: ist das Bild, das er von der gewählten Zeit entwirft, getreu? Beide Fragen scheint man heute mehr und mehr geneigt, in lobendem Sinne zu beantworten. R. Woerner spricht von der „schlichten, getreuen Darstellung altnordischen Lebens im Geiste und in der wortkargen, körnigen Rede- weise der Sagas“‘. W. Golther hat vor wenigen Wochen in Salzburg einem Bericht zufolge die „Nordische Heerfahrt‘‘ gepriesen als ‚eine dem tiefsten Gehalt der Sage gerecht werdende Dramatisierung‘“.

All dieses Lob ist m. E. nur teilweise verdient. Das Verhältnis des Dramas zu seinen (Juellen und zur kulturhistorischen Wahrheit ist zu kom- pliziert, um mit kurzen Worten erschöpft werden zu können. Auch ist es nicht so leicht, für die kulturhistorische Wahrheit einen Maßstab zu gewinnen; die Ausnutzung der dafür in Betracht kommenden Quellen ist mit großen Schwierigkeiten verbunden. Nun ist es ja für das Verständnis Ibsens eigentlich gleichgültig, inwieweit er das norwegische Leben des 10. Jahrhunderts richtig dargestellt hat. Ein Nachweis, wie ihn Vasenius für ,„Catilina‘‘ versuchte, daß der Dichter, durch die trüben Quellen hindurchschauend, intuitiv den wahren, den historischen Catilina erfaßt habe, bleibt wohl eine Spielerei. Aber es ist doch von Interesse, sich auch hierüber klare Vorstellungen zu bilden. Das germanische Altertum ist ja manniglach in der neueren Literatur behandelt worden, von Klop- stock und Ewald bis zu Felix Dahn, William Morris und Karl Gjellerup, und jeder einzelne dieser Schriftsteller hat naive Gläubige auch wider seinen Willen erweckt. Jeder fühlt den Unterschied zwischen Wagner und Ibsen, und die meisten geben wohl auch zu, daß das getreuere Bild das Ibsens ist. Doch wie weit geht nun Ibsens Treue? Es sei mir ge- stattet, hierauf in Kürze mit meiner Meinung zu antworten.

Die kulturhistorische Wahrheit stuft sich bei Ibsen nach den Personen ab. Die reinste Inkarnation heidnischen Geistes ist der junge Torolf, und demgemäß ist seine Aristie, die Trutzreden im zweiten Akt, die altertüm- lichste Szene des Ganzen. Auch die Gegenspielerin, Hjördis, tritt hier als echte Germanin auf. Anderswo, in dem Dialog mit Dagny vor dem Gast- mahl, und besonders in der großen Auseinandersetzung mit Sigurd im dritten Akt, wirkt Hjördis fast modern; so verfeinerte, vergeistigte Regungen sind dem 10. Jahrhundert nicht zuzutrauen. Noch hängen Stücke Heiden- tum an dem alten Örnulf, aber seine Großmut ist nicht heidnisch. Käre mag man als Skizze eines echten Typus gelten lassen. Die beiden männ-

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lichen Hauptcharaktere dagegen, Sigurd und Gunnar, sind idealisierte Bürger des 19. Jahrhunderts, als Wikinger verkleidet. Die äußeren Lebens- formen sind i. A. gut wiedergegeben; nur die Entführung in der Vor- geschichte wirkt allzu phantastisch. Die innere’ Lebensstimmung wird streckenweise frappierend gut vergegenwärtigt. Da erleben wir wirklich den Ernst des kriegerischen Lebens, der bei Ewald _und Öhlenschläger nirgend zu spüren ist. Aber an andern Stellen meldet sich doch wieder das gute Herz des Dichters und seiner Zeit; so bieder wie Örnulf, so skrupulös wie Gunnar, so zartfühlend wie Sigurd waren unsere Vorfahren und waren die Wikinger nicht. So dürfte ein feineres Gefühl, auch ‚ohne germanistische Bildung, die innere Einheit häufig vermissen. Das Gastmahl im zweiten Akt ist im Grunde ein Fremdkörper. Was in Sigurd und Hjördis einander: gegenübertritt, das sind zwei getrennte Welten, wie sie zwar in dem Innenleben unserer Zeit neben einander existieren, aber für die Zeit vor tausend Jahren nicht vorausgesetzt werden können. Damals ‚war ein solcher Konflikt nicht möglich, trotz des eindringenden Christen- tums, denn dieses Christentum war noch keine sittliche Macht, es konnte Charaktere wie Sigurd nicht schaffen.

Wie ist diese Mischung heterogener Bestandteile entstanden? stammt das Echte aus den Quellen und ist das Unechte Zutat? Nein; auch das Unechte stammt zum großen Teil aus den Quellen, genauer aus der Haupt- quelle: der Völsunga-Saga.

Bekanntlich ist diese Saga größtenteils fortlaufende Prosaparaphrase eddischer Gedichte. Diese Gedichte selbst liegen uns in derselben Reihenfolge teilweise vor in der sogenannten Edda, dem Codex regius der Liederedda. ‚Leider aber hat diese Handschrift eine umfängliche Lücke. Damit sind eine Anzahl Lieder für uns verloren. Von ihrer Beschaffenheit können wir uns in der Hauptsache nur auf Grund der Völsunga-Saga ein Bild machen. Gerade dieser Teil der Völsunga-Saga, der auf heute verlorenen Quellen beruht, ist Ibsens eigentliche Vorlage gewesen. Sein dritter Akt, der die Heldin der Reihe nach mit dem Gemahl, mit der Nebenbuhlerin und mit dem Geliebten zusammenführt, wurde deutlich angeregt durch Kapitel 28 und 29 der Saga.

Nun sind diese Kapitel, ebenso wie die zunächst angrenzenden Partien, in sich ungleichartig. Es finden sich Widersprüche, und auch die Charaktere .der Handelnden bleiben sich nicht gleich. Hieraus schließen wir heute auf Quellenmischung. Wie nachweislich an anderer Stelle, so hat der Sagaverfasser auch hier zwei Darstellungen desselben Stoffes vor sich gehabt, die stilistisch stark verschieden und wahrscheinlich sehr urn- gleichen Alters waren. Wir nennen sie das Alte Sigurdslied und das Große Sigurdslied. Nur jenes rechnen wir zur älteren, noch heidnischen Schicht der Eddadichtung; das Große Sigurdslied entstammt einem weit jüngeren Zeitalter, vermutlich dem 12. Jahrhundert. Dieses Große Sigurds-

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lied, ein umfängliches Werk von dramatischem Reichtum und psychologischer Feinheit, ist für die unechten, die moderneren Züge in Ibsens Dichtung zum guten Teil verantwortlich.

Es hätte das Ganze ohne Zweifel noch weiter von dem Geiste des 10. Jahrhunderts abgerückt, hätte der Dichter nicht andere Sagas zur Bereicherung des Bildes hinzugezogen. Diese Nebenquellen gehören der Gruppe der Isländergeschichten (Islendinga sögur) an, die über historische Überlieferungen eben aus dem 10. Jahrhundert aufgebaut sind, während die Fornaldarsögur (‚Geschichten aus der alten Zeit“), zu denen die Völsunga-Saga gehört, zwar z. T. ältere Tradition enthalten, aber poetische Tradition, die in jüngerer, christlicher Zeit ungleich stärker übermalt worden ist. Aus solchen Islendingasögur stammen an Einzel- motiven namentlich Örnulfs Trostlied (Egilssaga) und die Trutzreden beim Gastmahl (Niälssaga). Außerdem dankt das Drama ihnen den kriegerischen Geist, die rauhe Lebensluft, die uns gleich aus der Exposition so kräftig entgegenschlägt, und vor allem den Sprachstil, die kurzen, prägnanten Wechselreden, die um Henrik Jäger zu zitieren klingen wie die Schläge der kurzen Wikingerschwerter und die einen besonderen, im Deutschen nicht voll wiederzugebenden Reiz der Nordischen Heerfahrt aus- machen. Ibsen hatte in gewissem Sinne vollkommen Recht, wenn er (in der Vorrede zur ersten deutschen Ausgabe 1876) die isländischen Familien- geschichten die Hauptgrundlage seiner Dichtung nannte.

Doch und dies darf man sich nicht verdunkeln lassen die Fabel, das Rückgrat der Handlung, ist der Völsunga-Saga entnommen: Sigurd erwirbt die Geliebte für seinen Freund Gunnar, indem er die Freier- probe für ihn leistet, das Mädchen hintergeht und ihm abtritt; sie wird aufgeklärt durch Sigurds Gattin, einen unbedeutenderen Charakter, die ihren von Sigurd ihr übermütig abgenommenen Ring besitzt; und sie jagt den Helden in den Tod, um ihm selber nachzufolgen.

Die Identität der Schemata ist deutlich. Sie wird auch von Ibsen selbst an der erwähnten Stelle als sofort in die Augen springend

vorausgesetzt,

Von den Abweichungen suche ich das Wichtigste zu kennzeichnen.

Zunächst eine Änderung in der Struktur der Fabel selbst. Die Saga weiß von einer früheren Verlobung Sigurds und Brynhilds (Brynhild Ibsens Hjördis, ein Name, den in der Saga Sigurds Mutter trägt). Auf dieser Grundlage wird die Handlung dadurch ermöglicht, daß Sigurd einen Vergessenheitstrank genießt und infolgedessen die Braut vergißt. Ibsen schaltet diesen wunderbaren Zug aus und macht aus der Vorverlobung uneingestandene gegenseitige Liebe. Dadurch fällt seinem Sigurd die Auf- gabe zu, die eigene Liebe zu verleugnen, mit Selbstüberwindung zu ver- zichten, und diese heroisch durchgeführte Selbstüberwindung wird der Grundzug in des Helden Charakter, die Selbstüberwindung erst um des

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Freundes, dann um der Gattin willen, also aus Mit- und Pflichtgefühl. Ibsen zog damit eine Linie zu Ende, die er schon in der Quelle angefangen fand. Schon dort wird Sigurds schonendes Mitgefühl mit der Gattin betont (nach dem Großen Sigurdsliede): er will trotz Zureden nicht zu der grollenden Brynhild gehn, als aber Gudrun ihn unter Tränen bittet, tut er es. Ganz ähnlich bei Ibsen am Ende des ersten Aktes, von wo dann der Ton weiterklingt bis zum Ende. In der anschließenden großen Szene zwischen Sigurd und Brynhild läßt die Saga ihn gestehn, er habe sie mehr als sich selbst geliebt, aber er sei ein Opfer des Truges geworden. Der Vergessenheitstrank bewirkte also nur eine vorübergehende Umnebelung; bald hat Sigurd alles durchschaut, aber er hat pflichtbewußt geschwiegen, bis Gudrun selbst, die von seiner Liebe nichts ahnt, ihn den Gang tun läßt, der ihm Brynhilds Inneres enthüllen und seine eigene Selbstbeherr- schung zu Fall bringen soll. Nun hat wohl sicher die alte Dichtung Sigurds Selbstüberwindung in keiner Weise unterstrichen. Vielmehr ergab sich dieser Zug ungewollt, sobald man Sigurd, zum Zwecke der großen Aussprache, Brynhild lieben ließ und dabei den alten Grundriß beibehielt, daß die Katastrophe erst längere Zeit nach Brynhilds Vermählung erfolgt und durch den Streit der Frauen in Gang gebracht wird. Aber Ibsen durfte diesen Zug herauslesen, und er hat für ihn mehr bedeutet als das äußerliche Motiv des Trankes. Der Trank wird überdies nicht in diesem Zusammenhang erwähnt, sondern mehrere Kapitel früher, und alles weist darauf hin, daß gerade die Kapitel 23 und 29 auf den Dichter den tiefsten Eindruck gemacht haben. Er fand hier, erfindungsreich entfaltet, ein ein- faches, bedeutendes Motiv, das den Tragiker reizen mußte: zwei Liebende, durch Irrungen getrennt, finden sich, als es zu spät ist, und das bringt ihnen den Tod. Dieses Motiv, vermute ich, hat ihn gefesselt; noch über dreißig Jahre später taucht es, ein wenig anders gewendet, in „Hedda Gabler‘‘ wieder auf. Die Vorgeschichte hat er dann soweit wie möglich aus der zentralen Szene selbst herausgesponnen; der zauberhafte Trank lag also gar nicht einmal auf seinem Wege.

Die Modifizierungen der Fabel hängen eng zusammen mit der Be- handlung der Charaktere. Wir sahen, wie Ibsen bei Sigurd den: einen Zug zum beherrschenden erhebt: Selbstverleugnung auf dem Grunde des Mitleids. Sigurd bekämpft seine Liebe und verharrt gegenüber Hjördis Lebenswillen standhaft in der Verneinung. Hjördis ihrerseits ist die Be- jahende, die Wollende. Hierin besteht auf dem Höhepunkte der Hand- lung einfach und klar der Konflikt. Weniger einfach ist das Verhältnis der Rollen in der Saga. Dort hält Sigurds Gatten- und Freundestreue Brynhilds verhüllten und wohl auch ungewollten Liebesgeständnissen nur eine Weile stand, dann gesteht er nicht bloß seine Liebe, sondern will Brynhild besitzen und seine Frau verlassen; sie aber weist ihn stolz ab: „nicht will ich dich, und keinen andern‘. Die Szene macht dem seelischen

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Tiefbliek und der Gestaltungskraft des jüngeren Sigurddichters hohe Ehre; doch nennen wir ihn hier besser einen Brynhilddichter, denn Brynhild ist die Heldin, Sigurd nur dazu da, die Offenbarungen ihres Innern hervor- zurufen. Dieses Gewichtsverhältnis behält Ibsen bei. Auch sein Haupt- interesse ist bei dem weiblichen Charakter. Aber im übrigen schematisiert er. Sigurd darf sich nicht hinreißen lassen. Die Vorschläge, die er in der Saga macht, kommen nicht ihm zu, sondern Hjördis. Diese spricht also davon, daß er die Gattin verlassen soll, und sie will das Zusammen- leben; freilich denkt sie dabei nur an geschwisterliche Gemeinschaft in Kampf und Seefahrt. Diese Modifikation ist angelehnt an Brynhilds jung- fräuliches „nicht will ich dich, und keinen andern“ und „nicht will ich zwei Männer in einer Halle haben“. Eine Inkonsequenz aber war für Ibsen nicht zu vermeiden. Das gehörte ja zum Wesen dieser Szene, daß sie Klarheit zwischen den Liebenden schuf, und so durfte Sigurds Ge- ständnis nicht fehlen. Er legt es ab in unpersönlicher, doch durchsichtiger Erzählung mit der Rechtfertigung „du sollst lernen, mich milder zu be- urteilen“. Diesen Zweck konnte Sigurd auch erreichen ohne Erwähnung seiner Liebe; auch ohne sie wäre seine Erzählung verständlich. Anderswo versteht Sigurd sehr wohl, das unbedingt zu sagende diplomatisch zu scheiden von dem allenfalls Verschweigbaren. Wir dürfen annehmen, daß der Dichter den Rest von Sigurds Schwäche mit Bewußtsein hat stehen lassen, als einen psychologisch feinen Zug: schon Sigurds Bedürfnis, sich zu rechtfertigen, entspringt zuletzt aus Liebe zu Hjördis, wie nahe liegt es da, daß diese Liebe noch einen Schritt weiter geht und vor dem Scheiden ‚leb wohl, Gunnars Weib, wir sehen uns niemals wieder!‘ in verhülltem Bekenntnis ein kümmerliches Genüge sucht. Auf des Helden Bekenntnis folgt das der Heldin, ganz oflen, Die Quelle kennt, ihrer Anlage der Szene gemäß, diese Offenheit, das unverhüllte Gegen- übertreten nicht.

Wichtiger als diese Neudiflferenzierung der Rollen ist für den Gesamt- eindruck der Szene und des Dramas eine andere Tendenz Ibsens: die auf Vergeistigung und Verfeinerung. Sie ist für jene mitbestimmend gewesen. Um seiner Heldin Charakter recht scharf zu beleuchten, scheute der Dichter des Großen Sigurdsliedes sich nicht, Sigurd ihr eine Ehe zu Dreien vorschlagen zu lassen. Dies vertrug sich nicht nur nicht mit dem Ibsen- schen Sigurdcharakter, es war für Ibsen und sein Publikum an sich schon schlechtweg unmöglich. Deutlicher noch ist die Sublimierung bei Hjördis. Ihre rein geistigen Liebeswünsche sind schon erwähnt. In der Saga macht Brynhild, nachdem sie alles erfahren, ihrem Manne die heftigsten Vorwürfe und tobt gegen ihn wie eine Rasende. Nachher treibt sie ihn zur Er- mordung Sigurds, indem sie diesen verleumdet: er habe damals bei der stellvertretenden Werbung dem Freunde die Treue gebrochen. Diese Lüge die berühmte Rachereizung (hvöt) des Alten Sigurdliedes war schon

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einem der eddischen Dichter zu stark. Im sogenannten Kurzen Sigurdsliede der Edda wendet Brynhild das weit harmlosere Mittel an, daß sie droht, mit allen ihren Schätzen den Gatten zu verlassen. Der moderne Dichter kann jene rassige hvöt erst recht nicht gebrauchen. Auch das Motiv des Kurzen Liedes ist ihm nicht fein genug. Er läßt vielmehr Hjördis dem Gunnar Liebe verheißen, endliche Erwiderung der seinigen, während sie bisher kalt und unmild gegen ihn war. Dieser letzte kurze Hinweis in die Vorgeschichte ist der einzige Rest des überströmenden Abscheus Brynhilds gegen den Gemahl, wie ihn die Quelle auf die Bühne bringt. Mit der Enthüllung findet Hjördis sich schweigend ab. Sie hatte ja schon lange eine dunkle Ahnung der Wahrheit. Die gedämpfte Stimmung des beginnenden dritten Aktes, diese Stille vor dem Sturm, sticht so scharf und für Ibsen bezeichnend von der Vorlage ab wie keine andere Szene. Bezeichnend ist auch, daß die Aufreizung Gunnars ohne Folgen bleibt. Der Dichter gibt diesen Auftritt nur, um sowohl Hjördis wie Gunnars Charakter zu vertiefen. Güunnars Schwäche darf nicht zur Tat werden, ein Meuchelmord des Freundes am Freunde ist unmöglich. Höchstens ein Zweikampf wäre erträglich. Doch selbst hier bleibt es beim Vorsatz. Die Katastrophe wird vielmehr ganz anders eingefädelt, höchst persönlich, spiritualistisch, .

Wollen wir für Ibsens Verhältnis zur Völsunga-Saga eine kurze Formel, so kann sie lauten: ethische Idealisierung. Der Dichter, dem man einst die Rohheit seiner Menschen vorwarf, er fand die schon stark verfeinernde Schöpfung eines alten Realisten noch viel zu roh, er mußte sie in allen Stücken veredeln und vergeistigen, um sie als „menschliche Einkleidung“ für seine „Stimmungen, Vorstellungen und Gedanken‘ gebrauchen zu können.

Die Quellenuntersuchung ist schon in der engen Begrenzung auf das einzelne Werk und seine Spezialquelle für die Erkenntnis des Dichters lehrreich. Doch wirklich fruchtbar wird sie erst dadurch, daß wir die Abweichungen in den größeren Zusammenhang des Gleichartigen einstellen, das sich bei Ibsen überhaupt, vor und nach der Heerfahrt, findet. Wir müssen fragen: beruhen seine Selbständigkeiten gegenüber der Völsunga- Saga auf Einflüssen, denen er von anderer Seite unterworfen war, oder haben wir Grund zu der Annahme, daß ein nicht weiter ableitbarer Zug des Ibsenschen Ingeniums vorliegt? Ich glaube, daß es sich lohnt, diese Fragen zu stellen, daß ihre Verfolgung durch das Ibsensche Gesamtwerk interessante Beiträge verspricht zur Klärung des heute mit Vorliebe so genannten- Ibsenproblems. r

Auf Grund zusammenhängender Quellenberichte gearbeitet hat Ibsen ja auch sonst. Aber diese Quellen waren anderer Art als in unserm Falle. Es waren historische Berichte, die dem Dichter für die konkrete

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Ausgestaltung seiner Szenen bestenfalls Einzelheiten liefern konnten, Hier dagegen hatte er dichterisch geschaute Auftritte, lebende Charaktere vor sich. Natürlich ist es denkbar, daß er änderte, um zu ändern; auch wo ihm die alte Dichtung gefiel, konnte er sich doch nicht aller Selbständig- keit begeben. Aber es zeigt sich, daß dieser Faktor praktisch ausscheidet. Ibsen hat, soweit sich erkennen läßt, nirgends ändern wollen, wohl aber, wo er änderte, ändern müssen. Ihm schwebte, wie er selbst sagt, schon in unklaren Zügen das zu Gestaltende vor, ehe er an die Ausnutzung der Quellen ging. Welche Kraft diesen Gedanken und Stimmungen eigen war, zeigt sich überall da, wo die Quelle vor ihnen hat weichen müssen. Und wie der Große Krumme aus Peer Gynts Standhalten schließt, daß Frauen hinter ihm stehen, so wir aus der Wirkungslosigkeit der Quelle auf die Geister, die den Dichter umschwebten, als er las und ehe er las.

Es war die Rede von Vergeistigung. Auf die ungestüme Werbung in der Saga ‚laß uns beide ein Bett besteigen“ gibt Ibsen die Antwort: ‚nein, Sigurd, nicht als Gattin als eine jener starken Frauen, als eine von Hildes Schwestern will ich dir folgen, dich zu Kampf und Mannestaten anfeuern!'‘ So gut dieser Zug im engeren Zusammenhang und in den Charakteren begründet wird, seine Wurzel hat er nicht dort, sondern in einer gewissen Prüderie, die in Ibsens früherer Produktion an vielen Stellen merkbar ist, am deutlichsten in dem Balladenzyklus „Helge Hundingsbane‘“, aus der ersten Kristianiaer Zeit. Die Quelle, das sogenannte zweite Helgi- lied der Edda, schildert in glühenden Farben die Hochzeitsnacht des Toten mit der Witwe im Grabhügel. Daraus wird bei dem jungen Ibsen ein ganz anderes Bild: der Schatten steigt still und blaß aus dem Hügel empor und darf zu seinem Troste an Sigruns Seite sitzen, an oder auf dem Hügel

So sitzen nun die Beiden

Die ganze lange Nacht,

Nichts hat seit Helges Tode

Sigrun so froh gemacht. So zähmte und entstellte Ibsen vielleicht sich anlehnend an andere alte Überlieferungen von der Trauer um Tote eddische Verse, die zu den schönsten Perlen der germanischen Stabreimkunst gehören. Daß er gegen ihren hinreißenden Schwung ganz fühllos gewesen sei, ist nicht an- zunehmen (obgleich er vielleicht nur eine Prosaübersetzung benutzt hat). Aber es war etwas in ihm, das sich gegen diese kühne Erotik sträubte, Nicht bloß die Rücksicht auf das Publikum. Auch für ihn selbst, sein innerstes Gefühl, war Sinnlichkeit noch etwas wie Sünde. In „Frau Inger auf Östrot‘“ hat die Heldin in der Vorgeschichte einen Fehltritt begangen, sie hat einen unehelichen Sohn. Dieser Sohn wird ihr zum Hemmschuh auf dem vorgezeichneten Lebenswege und zum tragischen Verhängnis.

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Zwar ist es hier schon die Untreue gegen den inneren Beruf, die sich vächt, aber gleichzeitig doch auch noch die Sünde gegen Sitte und Religion. Die Komödie der Liebe hätte nicht gedichtet werden können ohne bewußte Geringschätzung der natürlichen Freuden der Liebe, die für Falk-Ibsen etwas schlechthin zu überwindendes sind. So überwindet sie Hjördis, so hat sie Sigurd überwunden.

Später handelt es sich nicht mehr um Überwindung. Lange ist die Rolle der Sinnlichkeit bei Ibsen die, daß sie mit zur Charakteristik der minderwertigen Menschen dient. So schon in dem Bekenntnisgedicht „Pa Vidderne‘‘ (‚Auf den Höhen‘) von 1860, dessen Held, der bäuerliche Bergjäger, eine Vorstudie zu Peer Gynt ist, vom Dichter geliebkost und gegeißelt zugleich. Dann in „Peer Gynt‘‘ selbst (Sennerinnen und Berg- geister, die Grüngekleidete, Anitra); in „Kaiser und Galiläer‘‘ (Helena, die tanzenden Mädchen beim Dionysoszuge); im „Puppenheim‘“ (Helmer); in den „Gespenstern‘‘ (Kammerherr Alving). In den meisten dieser Fälle ist das Sinnliche ein Attribut der Schwäche, der Charakterlosigkeit. Das gilt noch halb und halb von Hedda Gabler. Doch schon in ‚Rosmersholm‘ “weht deutlich ein anderer Wind. Rebekka ist nicht schwächer als Rosmer, sondern ihm eher überlegen, obgleich des Dichters Liebe mehr bei diesem ist, dem fein organisierten Geistesmenschen.

In den Alterswerken macht dann des Dichters Liebe immer mehr Konzessionen. Wie er schon in der ,„Wildente‘‘“ dem Manne mit der idealen Forderung geflissentlich fast jede Sympathie verscherzt hatte, so steht Alfred Allmers neben der gröberen, aber kräftigen Rita als ein Sonderling, der wohl Mitgefühl, doch auch Achselzucken hervorruft. Bau- meister Solness ist in seinen und des Dichters Augen der gesunden Hilde Wangel unterlegen. Und nun gar Rubek. Was für ein kleiner, alltäg- licher Mensch ist dieser berühmte Künstler! Und mehr als das: dieser letzte Ibsensche Held ist der erste, der mit seinen Träumen und rein geistigen Bedürfnissen in aller Form sich besiegt gibt von der natürlichen Sinnlichkeit. Aber was ist das nun für ein Paar der alternde, lebens- verdrossene Bildhauer und die halb wahnsinnige, hundertfach durch den Schmutz geschleifte Irene! Auch unter günstigeren Bedingungen bleibt die Sinnlichkeit häßlich. Ulfhejm sieht abschreckend aus. Doch, fragen wir, wie bei einem jungen Paar, das noch keine Vergangenheit hat? ist da die natürliche Liebe vielleicht doch schön? Ibsen bleibt uns die Ant- wort schuldig. Erhard Borkman wäre wohl ein junger Mann nach seinem Sinne, aber Frau Wilton, die geschiedene Frau, ist nicht die rechte-für ihn. Ingenieur Borgheim ist ein Prachtmensch, aber Asta wird ihm nur halb gehören. Hilde Wangel hat das Schicksal, daß ihr Herz an einem kranken, alternden Manne hängt. i

Wir dürfen aus diesen Phantasiebildern schließen, daß mit des Dichters instinktiver Wertung des sinnlichen Faktors eine Verschiebung vorgegangen

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ist. Auf die Verurteilung folgte zwar nicht Verherrlichung, aber Duldung. In der „Nordischen Heerfahrt‘“ ist der anfängliche Puritanergeist noch voll lebendig. Ja, er steht hier noch im Bunde mit einer gewissen Dosis Schamhaftigkeit, die sich erst in der nächsten Folgezeit zugunsten einer wohltuenden Unbefangenheit ganz verlor. Vermöge dieser Schamhaftigkeit vermied Ibsen anfangs erotische Vorstellungen überhaupt, bog sie ins Harm- lose um oder deutete sie nur an; dieses Andeuten begegnet z.B. in „Olaf Liljekrans“ und auch in der „Heerfahrt“. In „Pä Vidderne‘ beginnt er dann mit der ausgeführten, impressionistischen Schilderung eines ländlichen Liebesabenteuers; der Plan der Dichtung erforderte es, daß hier starke Farben aufgetragen wurden. Und so geht es weiter. Ibsen scheut sich hinfort vor nichts mehr, wenn der Gegenstand es mit sich bringt.

Dicht neben dem Puritaner steckte in Ibsen der Romantiker. Er war zeitweilig stark von Öhlenschläger beeinflußt. Wichtiger aber als der Öhlenschlägersche Geist, der kaum dauernde Spuren hinterlassen hat, ist seine eigene, persönliche Romantikerstimmung, die der Öhlenschlägerschen in gewisser Beziehung diametral entgegengesetzt ist. Der Gegensatz läßt sich kurz so formulieren: Öhlenschläger bringt die Helden der Vorzeit seinen Zeitgenossen menschlich näher; Ibsen stellte sie als Muster auf. Aus den vielgestaltigen Bildern des nordischen Altertums griff Ibsen eine Reihe als ihm zusagend heraus: solche, die die Lust an Kampf und Gefahr, den rauhen Kriegergeist, die Verachtung aller weichlichen Genüsse scharf aus- prägten. Die alten Biarkamäl beginnen mit dem Weckruf an die Krieger: „Nicht ruf’ ich euch zum Weine, noch zum Weiberkosen, ich ruf’ euch zum harten Spiel der Hild“. Die Stelle wird überliefert von der Heims- kringla und ist möglicherweise Ibsen bekannt gewesen. Sie könnte als Motto vor seinem Drama stehn. Im sogenannten Zweiten Helgiliede, das Ibsen einige Jahre vorher umgedichtet hatte, spielen die ansegelnden Wikinger ihre Heldenart gegen die Strandwächter aus: „Helgi hat oft schon die Aare gesättigt mit Feindesleichen, während du in der Mühle die Mägde küßtest“,. Mannigfach variiert wird von den Dichtern der verschiedenen Helgilieder und -fragmente das Verhältnis des Helden zu der Geliebten, die meist Sigrün heißt: als Walkyrje schwebt sie über ihm mit Schild und Lanze, ist ihm nahe in der Seeschlacht und hilft ihm den Königsthron er- kämpfen. Diese Züge hat Ibsen in seinen Hjördischarakter hineingearbeitet; er hat sie benutzt, um die Gestalt aus der fast bürgerlichen Enge der Völsunga-Saga auf eine ideale, heroische Höhe hinauszustellen. Auch Hjördis will mit ihrem Helden in den Kampf ziehen wie er es selbst einst von seinem Weibe gewünscht hat —, sie will nicht ruhen, bis er auf dem Thron Norwegens sitzt. Bezeichnend, daß weder sie noch er daran denkt, daß sie selbst die Waffen führen wird, wie das doch an sich bei einer solchen Kameradschaft am nächsten liegt (und in alten Quellen tatsächlich

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vorkommt). Das ist eben ein Rest der himmlischen Jungfrau der Lieder. Sogar der Luftflug selbst überlebt: da, wo Hjördis zu Dagny von dem Ritt der Toten spricht, der „gewaltigen Weiber, die ihr Leben nicht tatenlos verbracht‘‘ (unbeschadet, daß auch andere Vorstellungen eingewirkt haben). Wenn Hjördis sich ‚eine von Hildes Schwestern‘ nennt, so stammt auch der Ausdruck aus dem Zweiten Helgiliede (gögl Gunnar systra). Auf die Helgidichtung scheint unmittelbar angespielt zu werden mit dem Satze „wenn dir einst das Totenlied gesungen wird, so soll es künden von Sigurd und von Hjördis‘,

Hier liegt es klar zutage, wie die romantische Heldenverehrung mit persönlichen Erlebnissen verschmilzt. Nicht zufällig verkörpert sich der hochfliegende Wikingergeist gerade in einer Frau. In dem Briefe an Peter Hansen (1870) sagt Ibsen von der „Nordischen Heerfahrt“, er habe das Stück als Bräutigam geschrieben, und fährt unmittelbar fort: „für Hjördis habe ich dasselbe Modell benutzt wie für Svanhild in der Komödie der Liebe“. Man liest unwillkürlich heraus: dies Modell ist seine Braut und spätere Frau gewesen, Susanna Thoresen. Was wir über des Dichters Verhältnis zu seiner Lebensgefährtin wissen, erhebt diese Vermutung zu hoher Wahrscheinlichkeit, die für Julius Elias, den Vertrauten der Familie Ibsen, Gewißheit ist. Wie Susanna ihm einmal Eline Gyldenlöve war und noch Jahre nachher geistig vom Östrotgeschlecht stammte, so trugen ihm auch die kraftvollen Frauengestalten des Altertums ihre Züge, Sigrün und Brynhild-Hjördis; Svanhild ist benannt nach der Heldin des letzten Teils der Völsunga-Saga. Was Falk an Svanhild am meisten reizt, ist ihre ursprüng- liche, unverbildete Natur, die sie in seinen Augen der Svanhild der Vorzeit nahe rückt, weg von der Gesellschaft der Gegenwart wie denn in der Eingangsszene (schon des Prosaentwurfs) Svanhild abseits von den übrigen sitzt, „im Hintergrunde am Wasser“. Ursprüngliche Naturen sind aber auch Eline und Hjördis, nur daß bei diesen beiden auch bei Eline das Eigenwillige, Wehrhafte, Hochstrebende viel stärker betont ist als bei der Heldin der Gegenwartskomödie. Nun ist Eline eine Schöpfung, die höchst. wahrscheinlich vor des Dichters Bekanntschaft mit seiner späteren Frau fällt, und zweifellos gilt dies von einer noch früheren Vertreterin des Typus, Furia im ‚„Catilina“. Schon hieraus erhellt, daß man die Ein- wirkung des ‚Modells‘ auf das Bild nicht überschätzen darf. Ibsen ist zu allen Zeiten mit seinen „‚Modellen“ sehr frei umgegangen, so daß das Nachspüren nach solchen bei ihm eine undankbare Aufgabe ist. Überall sind mehrere Elemente verschmolzen, ältere mit jüngeren. So in Svanhild die Anne aus der „Johannisnacht“‘ mit persönlichen Erfahrungen und einem Hauch Sagastimmung; in.Hjördis der alte Furiatypus mit Eindrücken der Edda- und Sagalektüre und wiederum persönlichen Erfahrungen.. Woher dieser Frauentypus letzten Endes stammt, wird sich wohl nie ganz ent-

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hüllen. Einen unbestimmten Hinweis mögen wir jedoch dem „Catilina‘‘ entnehmen. Der Blick eines dunklen Auges, der den Catilina aus dem Zuge der Priesterinnen trifft und ihn mit Furia zusammenführt, ist der- selbe, den der junge Ibsen auf einem Ball in Grimstad tief in seine Seele dringen fühlte (Werke I, 203). In diesen Blick hat er viel. hineingelegt, vor allem dies: daß eine Seele, leidend wie er, aber stärker, feuriger als er, ihn auffordere, das Joch der kleinen Verhältnisse abzuwerfen. Daraus entstanden Furias wilde Klagen über ‚„Verhaßte Hallen! Zeugen meiner Leiden“ ..... und Catilinas begeisterte Einstimmung:

„Mir ist, du maltest meine eigne Welt Mit Flammenschrift, und jedes hohe Streben, Das ungeduldig mir die Seele schwellt.‘“

So legte der werdende Dichter seinen eigenen Freiheitsdrang in die fremde Seele. Es ist sehr denkbar wenn auch bei weitem nicht gewiß —, daß wir hiermit die Quelle der Furia-Reihe schon richtig und im äußeren Sinne erschöpfend festlegen. Fleisch und Blut haben ja die Frauen des „Catilina“ nicht; es sind fast Allegorien; um so glaublicher, daß das Modell der einen nur ein dunkles Auge war.

Dieses dunkle Auge trat in Wechselwirkung mit etwas Psychischem, das schließlich für uns das Interessanteste ist. Es handelt sich um jene Grunddisposition der Ibsenschen Seele, aus der Gestalten wie Furia und aus der sein ganzer „romantischer Idealismus‘ entsprossen ist. Es ist der Drang nach Freiheit, der den jungen Schiller aus der Karlsschule fliehen ließ, der Hunger nach großen Taten, der den jungen Ewald unter die Fahnen Friedrichs des Großen führte, und es ist das Aufblicken zum Weibe als zu einer Art höherem Wesen, im unbewußten Grunde als zu derjenigen, die die Macht besitzt, den Mann auf den höchsten Gipfel des Freiheits- und Tatgefühls zu erheben. Die Lebenssteigerung, die der Dichter sich so vom Weibe erwartet, ist natürlich. seelisch-sinn- licher Art, aber doch für ihn hauptsächlich seelischer. Gleichklang der Seelen das war es, worin er sie zunächst erlebte.

Nächtlich an seinem ersten Drama dichtend, berauschte er sich an der Vorstellung, wie Catilina von Furia seine geheimsten Gedanken und Pläne gekündet findet. Umgekehrt spricht Alfhild zu Olaf Liljekrans: „mir ist, als deutetest du mit deiner lebhaften Rede alle Runen meiner Sehnsucht“. Noch Brand fühlt sein Inneres geklärt und seinen ‚Lebens- weg klar vorgeschrieben durch Agnes’ Gesichte. Und so gesteht auch Sigurd der ihn zu kühnen, gemeinsamen Taten anfeuernden Hjördis: „das war einst mein schönster Traum“. Immer ist die Frau die Anfeuernde, die Zielsetzende noch im „Epilog“ (und auch in „Olaf Liljekrans‘). Aber der starke Wille, der Lebensdurst tritt nicht immer gleich stark an ihr hervor. In Alfhild schlummert er lange; dann erst steckt sie das Haus

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in Brand, wie die Gudrun der Edda’). Und Agnes muß neben Brand in die dienende Stellung zurücktreten, wie das der Plan der Dichtung er- forderte. Gleichzeitig aber spielt hier die zweite Anschauung Ibsens vom weiblichen Geschlecht herein, der Aurelia-Typus, den man wohl, in allzu schematischer Durchführung, dem Furia-Typus gegenübergestellt hat. Daß in Agnes wie in Alfhild und sonst beide Typen verschmelzen, zeigt klar die entscheidende Szene zwischen ihr und Brand, wo sie ihn erst auf das Ferne und Laute, dann auf das Nahe und Stille hinweist. Diese beiden Triebe sind in ihr wie in Brand, darin besteht hier die Seelen- verwandtschaft, und ihre Rolle als Führerin beschränkt sich darauf, daß sie das Machtverhältnis der Triebe in ihm für die Zeit ihrer Ehe umkehrt. Diese Beobachtung lehrt uns etwas Allgemeines über die Entstehung der beiden Typen überhaupt, etwas, was durch „Catilina‘“ bestätigt wird: sie sind ursprünglich abstrakte Verkörperungen der Ibsenschen Doppelseele, Ideale in Frauengestalt, die er rechts und links von sich aufstellte, und deren jeder er den eigenen Odem einblies. Beide Ideale sind von un- gleichem Format. _Das sanfte ist das kleinere, und es steht dem Dichter nahe, fast in Reichweite. Das kühne, wilde dagegen ist von ferner, fast überirdischer Größe; seinesgleichen sucht man beute in der Welt ver- gebens, und es täte doch der Welt so not. Dies eben ist Ibsens roman- tisches Ideal, das Ideal, dem er sein Leben lang anhing, immer den gegen- wärtigen Alltag verachtend, anfangs an die Vorzeit glaubend, später lieber, wenn auch zaghaft, an die Zukunft.

Darin also bestand der hohe Wert des heimischen Altertums für ihn, daß er hier sein romantisches Ideal wiederfand. Er mußte es selbst ent- decken, Öhlenschläger hatte ihm hierin nicht vorgearbeitet. Erst die Sagas wurden für Ibsen das große romantische Erlebnis. Hier fand er als Wirklichkeit, was er bisher vermißt hatte, ein resolutes Leben aus dem Ganzen, Vollen, Schönen.

Dieses Leben hatte für Ibsen, wie es scheint, zeitlebens etwas Vor- bildliches.. Aber es war ihm zugleich ein Problem weniger ein historisches natürlich, als ein praktisches Problem. Was davon verdiente an die Stelle unserer heutigen heuchlerischen Lebensformen gesetzt zu werden? Ibsen dachte dabei zunächst an die Ehe. Wie die Ehe in.'der alten Zeit tatsächlich beschaffen war, darum hat er sich wohl kaum ge- kümmert. Er stellte sich aber im Heidentum die Verhältnisse wesentlich ungebundener vor. Schon im „Hühnengrab‘‘ konnte er es sich nicht ver-

1) Hier zuerst hat Ibsen geschildert, wie auch ein weicher Frauencharakter, wo er in seinem Heiligsten verletzt wird, einer harten Tat fähig wird. Ebenso Dagny und noch Nora. In Olaf Liljekrans ist der Gegensatz psychologisch noch nicht völlig glaubwürdig gemacht, im „Puppenheim“ durch die fein differenzierende Beobachtung schon etwas verwischt.

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sagen, Wikinger als Frauenräuber auf die Bühne zu bringen. Solche Rohheit ist ihm weder damals noch später schön erschienen. Aber noch Hilde Wangel bringt Solness gegenüber dasselbe Thema zur Sprache und findet, es müßte spannend sein, geraubt zu werden. Solness beneidet die Wikinger wegen ihres robusten Gewissens, spricht von den Weibern, die manchmal gar nicht wieder von ihnen weggewollt, und Hilde kann diese Weiber riesig gut begreifen. Solches Spielen mit dem Feuer ist charak- teristisch für den alten Ibsen, den ausgewachsenen Kulturnihilisten, Der jüngere Ibsen gesteht uns öfter als einmal, wie nahe ihm der Gedanke der kurzen Bündnisse, der freien Liebe, lag, aber er läßt nirgends einen Zweifel darüber, daß er diesen Gedanken zu überwinden findet!). Der Gedanke scheitert regelmäßig an dem weiblichen Widerstand; der eine Held Falk gibt sich freiwillig besiegt, der andere nicht, aber es ist Peer Gynt. Noch im „Epilog‘“ lehnt Frau Maja ohne Schwanken Ulfhejms An- erbieten ab. In diesen Zusammenhang gehört auch die „Heerfahrt“. Sie liefert ‘ein praktisches Beispiel zu dem Gespräch zwischen Billing und dem kleinen Morten Stockmann im „Volksfeind‘“. Morten möchte Wikinger und Heide werden, dem freisinnigen Zeitungsschreiber gefällt das, doch selbst er zaudert einzuräumen, daß man als Heide alles tun dürfe, was man wolle. So darf auch Hjördis nicht alles tun, was sie will. Nicht bloß Sigurd, der Christ, verbietet es ihr, auch das eigene Gewissen. Sie ist feinfühlig genug, einen Ehebund mit dem Geliebten als unmöglich zu empfinden, weil Gunnar und Dagny leben, und selbst ihre Schildmaid- träume sind nicht viel mehr als eine Ausflucht vor sich selbst, ein kurzes Zurückdrängen des Todeswunsches durch den Lebenswillen. Als Sigurd sie vor die Alternative stellt, ob sie dem Gebot der Blutrache gehorchen will oder nicht, schwankt sie keinen Augenblick. Die Ehre ist ihr mehr wert als das Glück.

So findet der Dichter in den heidnischen Rechtsbegriflen selbst ein Korrektiv für den ungestümen heidnischen Lebenswillen. Nicht barbarische Zügellosigkeit stellt er dar, vielmehr einen unbesiegbaren Trotz, der sich selbst besiegt gibt vor dem Gesetz. Je stärker die Leidenschaft, umso höher der Triumph der Selbstüberwindung. Dies ist die Achse des Hjördis- charakters: wie stark muß bei einem so starken Willen die Kraft des Verzichtes sein, die ihn hemmen kann!

Diese Kraft des Verzichtes wird um dieselbe Zeit von Ibsen auch in andern Werken in den Vordergrund gestellt: im „Fest auf Solhaug“ (Margit), besonders in der „Komödie der Liebe“ und im „Brand“. Noch Nora und Stockmann, ja Wangel in der „Frau vom Meer‘, Rita in „Klein Eyolf“ sind starke Verzichter. Doch gibt es hier bemerkenswerte Unter-

') Falk und Svanhild, Peer und Solvejg (Nachlaß 2, 185), vgl. schon Olafs Traum.

d6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

schiede. - Brand, Nora, Stockmann verzichten auf große Güter, um ihrem inneren Beruf treu bleiben zu können. Dasselbe gilt "schon von Falk. Der Verzicht dieser Vier hat etwas Rebellisches, dem herkömmlichen Empfinden ins Gesicht Schlagendes. Wenn aber Margit ins Kloster geht, Hjördis bereit ist, der Blutrache zu Liebe das eigene Glück zu vernichten, so zahlen sie Tribut an die herrschende Sitte ihrer Zeit; sie beugen sich einem äußeren Gebot, das sie durch Gewöhnung in ihre Natur aufgenommen haben. Ähnlich später Rita in „Klein Eyolf“, wie überhaupt die Alters- dramen in vielfacher Hinsicht wieder an die Jugendwerke anknüpfen.

Genauer müßte man freilich bei Hjördis sagen: sie beugt sich der Sitte der mit ihr zugrunde gehenden Zeit. Denn Hjördis ist im Stücke die letzte Heidin. Das weiß Ibsen, der mit bewußter Absicht das Stück an der Grenze zweier Zeitalter spielen läßt. Hjördis ist das tragische Opfer dieser Übergangszeit. Wäre Sigurd nicht Christ Christ von Grund aus, er zeigt sich als solcher vom ersten Schwertschlag an —, er hätte vielleicht nicht so überedel verzichtet, jedenfalls könnte er, den Wunsch der Geliebten erfüllend, mit ihr sterben, statt daß er sie -zwingt, auf dem Grunde des Meeres ein Versteck zu suchen, wie später die an- geschossene Wildente.

Die Heldin als Opfer der Zeit dieser Gedanke wird im Drama nur eben angedeutet. Daß er aber für Ibsen, der von Anfang an den Helden gern als Einzigen gegen Alle kämpfen läßt, zeitweilig eine Rolle gespielt hat, bestätigt auch der Lustspielentwurf ‚Svanhild‘‘ (1860). Hier sagt Falk über die Svanhild der Völsunga-Saga: „Das war eine Königs- tochter und ein herrliches Weib; aber an den sozialen Verhältnissen im Eande war etwas faul; nun ja, anderswo ist es ebenso; man treibt’s so verzweifelt von Geschlecht zu Geschlecht, daß die Nemesis hin und wieder ans Werk muß, um ein wenig Gleichgewicht zu schaffen. Verstehen Sie mich?“ Svanhild: .,„Nein“. Falk: „Sehen Sie, wenn so durch lange Zeiten hindurch ein Bruch der menschlichen Ordnung stattgefunden hat, wenn es drum eine Folge der Verhältnisse ist, daß Ehen ohne Liebe ge- schlossen werden und die Liebe nur auf Grund von Verbrechen bestehen kann, so muß hie und da ein Opfer fallen, um die zornige Gottheit zu versöhnen. Und zum Opfer muß das Geschlecht das Beste hergeben, was es hat. So ist es der echten Svanhild ergangen; in ihrem Geschlecht waren häßliche Dinge geschehen; die Täter kamen mit heiler Haut davon; sie war unschuldig und wurde von vier Pferden zerrissen. Das ist ungefähr das, was man Fatum nennt.“ ;

Diese etwas unklaren Sätze sind unter anderem deshalb interessant, weil sie die früheste Hindeutung auf Nora enthalten. Auch das ‚„Puppen- heim“ schildert Zustände, wo „durch lange Zeiten hindurch ein Bruch der menschlichen Ordnung stattgefunden hat‘“‘ und wo dann ein edles Geschöpf

IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 57

als Opfer fallen muß. Nora mit ihren Schwächen und ihrer Tragödie ist das Produkt der männlichen Gesellschaft mit ihrer egoistischen Flachheit, zumal das Produkt der Erziehung ihres Vaters. Aber es ist in ihr ein starker Rest guter Natur, der sie zum edelsten Geschöpf ihres Kreises macht. Dieses Doppelwesen Noras und sein Zusammenhang mit ihrem Schicksal ist so klar herausgearbeitet, daß über die Intentionen des Dichters kaum ein Zweifel sein kann. Was ihm früher die Nemesis, die zornige Gottheit war, das wird jetzt klarer gefaßt als Vererbung und Einfluß der Umgebung (ein Gedankenkomplex, der zuerst im „Brand‘‘ Ausdruck findet). Damit rückt das Schicksal in die Persönlichkeit selbst hinein. Gleichwohl ist die ethische Grundstimmung dieselbe geblieben: das von Natur edlere Wesen sieht sein Leben vernichtet durch die Schuld der Verhältnisse. Die darin liegendeanklagende Tendenz bleibt in der „„Heerfahrt‘“‘ noch stumm, findet aber im Svanhild-Entwurf Worte und wirft in der ausgeführten „Komödie“ scharfe satirische Lichter seitwärts. Wer weiß, wenn wir die Vorarbeiten zu „Heerfahrt‘‘ hätten, ob uns die Tendenz nicht auch hier greifbar würde!

So wie das Drama vorliegt, dies kann nicht geleugnet werden, wird es allen Parteien sozusagen objektiv gerecht. Nicht einmal auf Gunnar fällt auch nur ein Schatten des Vorwurfs. Es wird vermieden, weil der Mann, für den Sigurd alles geopfert hat, die Achtung des Zuschauers be- halten muß. Sigurd aber ist der Ritter ohne Furcht und Tadel. Er hat eine undankbarere Rolle als seine Gegenspielerin, doch gewissermaßen zum Ausgleich wird über diese wiederholt „Schändlich!“ gerufen, von Örnulf, von Dagny, von Sigurd selbst. Es ist, als ob der Dichter sich scheute, merken zu lassen, wie sympathisch ihm Hjördis ist, wie er mitempfindet selbst bei den unbändigsten Äußerungen ihres Trotzes. Jedenfalls be- fleißigt er sich schon in diesem Jugendwerk einer impassibilite, die an Hedda Gabler erinnert. Bald sollte die Zeit kommen, wo er mit Bewußt- sein andere Wege einschlug, die er dann zwei Jahrzehnte lang verfolgt hat.

Sollen wir aus "unserm Drama einen Grundgedanken herausziehen, so wird er lauten: Heidentum und Christentum sind unversöhnliche Gegner. Ibsen unterstreicht diesen Gedanken noch am Schluß in Sigurds Bekenntnis, er sei Christ ein Bekenntnis, das einigen mit Unrecht überraschend gekommen ist und in Hjördis’ Verzweiflung darüber, daß sie nun nicht einmal mit dem Geliebten sterben kann. Diese schroffe Dissonanz ist die Dissonanz, die der Dichter zwischen den feindlichen Geistes- mächten empfand.

Es ist bekannt, wie Ibsens dramatische Pläne häufig, wenn nicht regelmäßig, aus allgemeinen Gedanken und Stimmungen sich verdichtet haben, Gut veranschaulicht wird dies durch die Vorarbeiten zum „Puppen- heim“, die im Nachlaß vollständig mitgeteilt sind. Es gilt aber auch schon von der früheren Periode, wie des Dichters Vorrede zur zweiten

5

58 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Ausgabe des Festes auf Solhaug beweist. Er spricht dort von den Stimmungen und Gedanken, die ihn Mitte der fünfziger Jahre erfüllten oder doch ihm mehr oder weniger klar vorschwebten, und für die er in den Isländer- geschichten die menschliche Einkleidung fand. Unter diesen Stimmungen und Gedanken besser als mit diesem Evörnövotv läßt es sich in der Tat nicht bezeichnen war auch der Gegensatz Heidentum: Christentum. Um ihn klar herauszuarbeiten, zumal in der entscheidenden Szene zwischen den Liebenden, wurden die Charaktere derart gerade gestreckt, wie wir das oben sahen, wurde insonderheit Sigurd, der Christ, auf eine einfache Formel gebracht.

Der Eindruck kann entstehen, daß diese Formel etwas zu abstrakt geblieben ist. Ohne Zweifel ist Sigurds Charakter nicht derart aus den Tiefen geschöpft wie Hjördis. Es haftet ihm etwas Konstruiertes an. Ibsen steht hier eben noch lange nicht halbwegs auf der langen Strecke vom Monodrama „Catilina‘“ zur ,Wildente“‘, wo alle Personen volles Leben und Rundung haben. Sigurd gleicht doch zuweilen mehr einer Pappfigur. Doch es ist bemerkenswert, wie der Dichter sich bemüht, ihm Odem einzublasen, und wie weit er es darin bringt. Sigurd ist nicht etwa nur prinzipienfest. Seine erste große Entsagung, zugleich seine folgenschwerste Tat, fällt vor seine Taufe, die er ja erst in England empfing. Er wußte damals noch nichts von christlichen Grundsätzen. Vielmehr handelte es sich um eine angeborene Wärme des Freundschafts- gefühls, verbunden mit einer jugendlichen Feinfühligkeit, die ihr abhält, einem Mädchen, das ihn zu hassen scheint, sich aufzudrängen. Sigurd ist also von Natur ohne jene Wehrhaftigkeit des Willens, nach der später Julian lechzt, die die Wikinger im „Hühnengrab“ und dann die in Hilde Wangels Plauderei ihr eigen nennen. Eben diese Anlage machte Sigurd zu einem willigen Hörer und Täter des Evangeliums. Und Ibsen verstand eine solche Anlage; war es doch seine eigene. Als Sigurd aus Hjördis’ Munde vernimmt, daß er im Irrtum war, daß sie ihn doch liebte, da deutet er an, er hätte wohl anders gehandelt, wenn er das rechtzeitig gewußt. Denn die Liebe sei eine so starke Gewalt. Kurz vorher hat diese starke Gewalt ihn hingerissen, Hjördis ein Geständnis zu machen, das er folge- richtig hätte verschweigen müssen. Alles dies sind Züge, die die Strenge des Sigurdcharakters mildern und doch sein seelisches Heldentum heller leuchten lassen, indem sie das menschliche Mitgefühl des Zuschauers und Lesers gefangen nehmen.

Nach derselben Richtung wirkt die Abwesenheit des Lehrhaften, der Diskussion. So modern Sigurd und Hjördis in ihrer großen Szene ge- zeichnet sind, so wenig denken sie daran, ihre verschiedene Lebensan- schauung in runden Formeln gegen einander auszuspielen. Wir begreifen, daß dies im gegebenen Falle unmöglich wäre. Schon die kulturgeschicht- liche Wahrscheinlichkeit verbot es. Künstlerische Zurückhaltung, Rücksicht

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auf das Publikum konnten hinzutreten. Gern wüßten wir, wie weit Ibsen sich durch solche Rücksichten hat einengen lassen. Auf Sigurds Seufzer „Ein unseliges Gespinst haben die Nornen um uns ge- sponnen‘, versetzt Hjördis: ‚Selbst bist du schuld daran; stark und kühn ziemt es dem Manne zu handeln“. Deutlicher, leidenschaftlicher bricht sie im letzten Akte aus: „Schlecht handeltest du damals! Alle guten Gaben kann der Mann seinem treuen Freunde geben, alles, nur nicht die Frau, die er liebt; denn tut er das, so zerreißt er das verborgene Gespinst der Nornen, und zwei Leben werden vernichtet‘‘. Dieselbe An- klage, nur noch härter, schleudert in Ibsens vorletztem Drama Ella Rentheim Gabriel Borkman ins Gesicht. Als Hjördis aber so spricht, ist sie von Sinnen, wie kurz vorher deutlich gemacht wird. Und eins sagt Hjördis nicht, was erst in „Baumeister Solness‘‘ zu Worte kommt: daß eine Ehe wie die Sigurds mit Dagny unsittlich ist. Die Wahrheitsforderung ist noch stumm.

Sphinxartig sieht uns dieses Drama an: Wer hat recht? Tief ein aber prägt sich der tragische Gegensatz, die Unvereinbarkeit der bejahen- den und der verneinenden Lebenswertung.

Diese Unvereinbarkeit war Ibsens Entdeckung. Kein Dichter vor und meines Wissens auch keiner nach ihm hat Christentum und germanisches Heidentum derart als schroffe Gegensätzegesehen. Und doch war das Verhältnis dieser beiden Mächte ein Gemeinplatz der nordischen Bildung, seitdieRomantiker angefangen hatten, das heimische Altertum neu zu erwecken. Die Is- ländersagas und die bedeutendsten der Königssagas spielen ja um die Zeit der Bekehrung, so gaben die Quellen das Thema selbst an die Hand. Und da die Quellen von einem Gegensatz der beiden Welten wenig wissen die Toleranz war ein hervorstechender Zug des ältesten nordischen Christentums —, so ging dieser Gegensatz auch den Dichtern vor der Hand nicht in seiner ganzen Tiefe auf. Öhlenschläger geriet mit seinem „Häkon Jarl“ zufällig an eine stärker tendenziös, kirchlich gefärbte Über- lieferung. Demgemäß triumphiert bei ihm das Christentum, genauer: diechrist- liche Humanität, glänzend und mühelos. Aber daneben wird geflissentlich gezeigt, wieder gesunde Heldensinn des Volkes dieser Humanität entgegenkommt, und die heimische Art kommt überhaupt nicht zu kurz; mit seinen blutigen Opfern und seiner Zügellosigkeit steht der Jarl allein, und Hinterlist, Verräterei sind aus dem Auslande eingeführt. Die herrschende Stimmung in diesen Dingen, die von Öhlenschläger und N. S. Grundtvig reicht bis zu Björnsons Reimbrief an Johan Sverdrup (1869) und weiter, war etwa diese: Nordischer Kämpengeist und Christentum sind einen Kompromiß eingegangen, auf dessen Boden wir heute stehen; sie konnten das leicht, weil der nordische Geist in seinem höchsten Aufschwung schon dem christlichen Ideal nahe gekommen war in der Völuspä —; ihr Bündnis wurde vollends fest und harmonisch durch die Reformation, in der das Christentum von

60 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

neuem nordischen Freiheitstrieb und nordische Streitbarkeit in sich aufnahm.

All dem stellt Ibsen sich von Anfang an selbständig gegenüber Schon im „Hühnengrab“ wagt er mit ein paar flüchtigen, aber grellen Farbenstrichen nordische Wildheit südlicher Milde entgegenzustellen. Doch die Größe, die in dieser Wildheit liegen kann, tritt hier noch nicht in den Gesichtskreis, so wenig wie bei Ewald und bei Öhlenschläger. Das ge- schieht erst in der „Heerfahrt“, und damit ist das Neue da. Hier wird zum ersten Mal das heidnische Fühlen und Wollen vollständig ernst ge- nommen; es wird mit Hingebung geschildert und gleichwertig dem christ- lichen Gegenspiel gegenübergestellt.

Von innen betrachtet: mehr als gleichwertig. Aber das ist nicht die beabsichtigte Wirkung. Diese begnügt sich vielmehr mit dem tragischen Gegensatz, und selbst der wird durch die konventionellen Schlußverse Örnulfs wieder verwischt es ist, als bäte der Dichter um Entschuldigung für seine Kühnheit.

Tatsächlich ist Ibsen nie einen ganzen Schritt weiter gegangen als hier. Die Umwertung, die Nietzsche vollzog, hat er nicht vollzogen, weder in „Rosmersholm‘‘ noch in „Baumeister Solness‘‘. Seine revolutionären Helden, die unterliegend ihrer Sache den Sieg gewinnen, sind nie Hjördis- naturen, nie rücksichtslose Begehrer, weder Brand noch Nora noch Stockmann.

Doch als Ibsen Norwegen verlassen hatte, da empfand er, daß die impassibilit& der bisherigen Werke nicht das Rechte für ihn sei. Er nannte es damals das „Ästhetische“: „das Ästhetische isoliert und mit dem An- spruch, für sich selbst Geltung zu haben“, das Betrachten des Schicksals durch die hohle Hand um des Effektes willen. Diese Betrachtungen, die er nicht zufällig gerade Björnson mitteilt (Ariceia 12. September 1865), empfangen ihr Licht durch den ganzen Charakter der damals entstehenden Dichtung, des „Brand“: das eigene Werten und Fordern sollte sich direkt in der Dichtung aussprechen, die Dichtung sollte Tendenz haben. Wie wir sahen, wäre Ibsen nicht imstande gewesen, seine früheren Werke, z. B. die ‚Heerfahrt‘‘, in die neue Stimmung umzudichten. Die neue Stimmung forderte vielmehr auch neue Stoffe. Diesen tendenziösen Stoffen hat Ibsen dann in der ganzen Periode seiner besten Kraft angehangen, von „Brand‘ bis zum „Volksfeind“ und ‚„Rosmersholm“. „‚Rosmersholm‘“ steht auf der Grenze. Schon in dem vorangehenden Werke, der ‚„Wild- ente‘‘, hatte die impassibilit€ der Alterswerke sich angekündigt, und nicht zufällig knüpft „Rosmersholm“ selbst wieder an das Jugendwerk, die „Heerfahrt‘‘, an.

sehlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur.

Ba u a re an J = er | V. Abteilung. Jahresbericht. 1 $

1910. | a. Mathematische Sektion.

Sa az Sur ——— _ 29

Sitzungen der mathematischen Sektion im Jahre ıgıo.

Die Sektion hielt am 30. November eine Sitzung ab, in der folgende Vorträge gehalten wurden:

Dr. H. Kober:

Anwendungen der Variationsrechnung auf Fragen der dynamischen Stabilität. Professor Dr. Kneser: Kleine Beiträge zur Funktionentheorie. I. Zur Theorie der elliptischen Funktionen.

1. Es ist bekannt, daß die doppeltperiodischen Funktionen durch ihre Singularitäten in gewissem Sinne eindeutig bestimmt werden. So ist die von Weierstraß eingeführte Funktion @u bis auf eine additive Konstante als diejenige doppeltperiodische Funktion bestimmt, die an der Stelle x = 0 einen Pol zweiter Ordnung besitzt und sich von der Größe lu? um eine an dieser Stelle reguläre Funktion unterscheidet, außer diesem Pol aber nur diejenigen Singularitäten aufweist, die durch ihn bedingt sind, Bezeichnet man durch und 20’ zwei Perioden der Funktion, aus denen alle übrigen durch Addition und Subtraktion abgeleitet werden können, durch m und m’ ganze Zahlen und setzt man

vw no —+ 2m, so sind alle Stellen »» Doppelpole, und in jedem einzelnen von ihnen ist die Differenz

1 (u u)?

pu regulär.

Es lohnt sich vielleicht, einmal darauf hinzuweisen, daß die doppelte Periodizität gar nicht einmal nötig ist, um die Funktion ou eindeutig zu definieren. Nehmen wir nur an, eine Funktion px sei an allen Stellen und nur an ihnen singulär, und zwar so, daß die Dillerenz

I ee (u w)® an der Stelle w regulär bleibt; ferner gebe es in der Ebene der komplexen Größe u eine Reihe von geschlossenen Kurven N Ntorina; Ungleichung

auf denen eine

|yu| <cC besteht, unter (' eine positive Konstante verstanden. Sind dann die Kurven ®, so beschaffen, daß sie bei hinreichend großen Werten von n

jeden gegebenen Kreis umschließen; daß ferner ihre Länge im Verhältnis

1

D&D

Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

zu dem Quadrat ihres kleinsten Abstandes vom Punkte —= 0 unendlich abnimmt bei wachsenden Werten von n; daß endlich die Kurven , von allen Stellen w um mehr als ein gewisses von n unabhängiges Stück ent- fernt bleiben, so genügen die geforderten Eigenschaften um nachzuweisen, daß die Funktion gu bis auf eine additive Konstante mit gu identisch sein muß.

In der Tat ist ja die Differenz fu = yu @u offenbar in der ganzen Ebene der komplexen Größe u regulär, also eine ganze Funktion von a. Die Funktion 94 erfüllt aber auf den Kurven ®,. ebenfalls eine Ungleichung von der Form

|pui <= €, in der C’ eine von n unabhängige positive Konstante bedeutet; denn die Werte, die die Funktion $4 auf einer Kurve ®, annimmt, werden auch im Innern irgend eines beliebig herausgegriffenen Periodenparallelogramms angenommen, und zwar in Punkten, die den Stellen «w nicht näher liegen als die Kurven ® überhaupt, woraus das Behauptete unmittelbar folgt, da die Funktion 94 ja nur an den Stellen w unendlich wird.

Aus den letzten beiden Ungleichungen ergibt sich aber eine weitere für alle Kurven $,:

fall <0C+ €.

Für jede ganze Funktion fu besteht nun, wenn der Punkt z im Innern

der Kurve $, liegt, die Gleichung

1 fu.du (1) Ze ya KR aus ihr folgt sofort n 1 fu.du 2 De Si (2) 7 2ni) (u 2)°

N

Beschränkt man ferner die Größe z auf irgend ein endliches Gebiet ©,

so liegt die Größe | fu | Inf n) | u | auf der Kurve $, unter einer von n unabhängigen positiven Konstanten 0” sobald n hinreichend groß geworden ist; ist daher %, der kleinste Abstand

der Kurve 8, vom Punkte « 0 und Z, ihre Länge, so gilt die Un- gleichung fu. du ne | SR NE Zu | K u? Bi nn | Rn u 5 (U Yy| | TER, 2

V. Abteilung. Mathematische Sektion. 3

und da wir die Gleichung lim Zn

oo Dee 0

voraussetzen, liegt die Größe |f’z| im ganzen Gebiet & unter einer beliebig kleinen Schranke; das Integral (2) konvergiert in diesem Gebiet gleich- mäßig gegen die Grenze Null bei wachsenden Werten von n. Daraus folgt die Identität TE=Ü und die Gleichung

fu = gu pu const. ist bewiesen, wir wiederholen es, ohne daß die Funktion pw als periodisch vorausgesetzl worden wäre.

2. Die Integrale (l) und (2) geben noch eine interessante Folgerung, wenn man sie auf die Funktion 94 selbst anwendet und mit ihrem oben bezeichneten Verhalten auf den Kurven $, in Verbindung bringt.

Sei fu eine beliebige meromorphe Funktion, die in der Umgebung eines Pols w in der Form

ee ans

dargestellt werden kann, wobei wu eine an der Stelle »v reguläre Funktion von u und G ein Polynom bedeutet, das mit seinem Argument zugleich verschwindet. Dann ist, was Cauchy bemerkt und vielfach benutzt hat, das Residuum der meromorphen Funktion fu/(u 2) an der Stelle u = w

die Größe ee G - )\ 2 w

Dies folgt leicht aus der Identität

en 1 1

N En er r a—w (u w)* zemw

En Er feel a. Ba (w— uw): | |

(a w)® \2 w GE Ben)

auf deren rechter Seite die Potenz (u ww)! mit dem Faktor (z— uw) ' behaltet ist; wendet man diese Bemerkung auf jedes Glied des Ausdrucks

1 6 ( = ): Une Id

so ergibt sich sofort der angegebene Ausdruck des gesuchten Residuums. An der Stelle « = z hat die Funktion fu/(uw z) ollenbar das Residuum fz. Da nun das dureh 27ei dividierte Integral einer meromorphen Funktion, genommen über eine geschlossene Integrationsbaln, der Summe der

4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Residuen aller im Innern dieser Kurve gelegenen Pole gleich ist, so folgt, wenn der Punkt z im Innern der Kurve $, liegt,

1 2 . du KA 2 an (=)

ri

n wobei rechts über alle Pole :” zu summieren ist, die im Innern der Kurve $, liegen; hieraus folgt weiter

1 fu.du „u ad 1 ) le 2)? =..,2 dz @ = ww)"

n wobei rechts ebenso zu summieren ist wie vorher.

Beschränkt man nun wieder die Variable z auf ein Gebiet & und zeigt sich, daß das Integral auf der linken Seite mit wachsenden Werten von n gleichmäßig bezüglich der Werte von z gegen Null konvergiert, so erhalten wir die im Gebiet & gleichmäßig konvergente Entwicklung

3 d ji = dz & (— —):

wobei rechts über alle Pole w zu summieren ist. Das bezeichnete Ver- halten zeigt das Integral jedenfalls, wenn fu = pu gesetzt wird; denn der absolute Wert dieser Funktion bleibt auf den Kurven ®, unter einer von n unabhängigen Grenze, hat also die Eigenschaften, die oben von der

ganzen Funktion fu nachgewiesen waren.

Da nun = G -( 2 2 W

zu setzen ist, so ist die Gleichung

u ro Pa 2, bewiesen und ihre rechte Seite konvergiert in jedem Gebiet gleichmäßig,

das keiner Größe w beliebig nahe kommt. Bezeichnet man durch einen Akzent am Summenzeichen, daß die Stelle v = 0 weggelassen werden soll, so folgt

5 2 i 1 3 Dazıess 23 22% (——,)

und die Summe rechts konvergiert gleichmäßig, wenn das Gebiet & nur keiner von Null verschiedenen Größe ıv beliebig nahe kommt. Gilt dies auch von einem sonst beliebigen Integrationsweg, der die Stellen 0 und z verbindet, so kann daher in der Gleichung

2 h 2

[@ u =) du = 92 fr (— nn Yen

0

gliedweise integriert werden, und man findet nn bekannte Formel

j Ba l ): a) Da Ne 7 BAU, 2 (G a w?

V. Abteilung. Mathematische Sektion. 5

II. Die Besselschen Funktionen bei Euler und die angenäherte Auflösung transzendenter Gleichungen.

Die Besselschen Funktionen kommen schon bei Euler an mehreren Stellen vor und werden von ihm in derselben Weise eingeführt und benutzt, wie es in neuerer Zeit bei verschiedenen Aufgaben der mathe- matischen Physik zu geschehen pflegt. Diese Tatsache wird von Fourier, Poisson und Bessel so wenig wie von Heine und Todhunter er- wälnt, wo es sich um Geschichte und Literatur der Besselschen Funktionen handelt; es dürfte daher angebracht sein, auf einige hierher gehörige Ab- handlungen von Euler hinzuweisen. Im Anschluß an eine von ihnen erhält man eine Methode, die Nullstellen einer transzendenten ganzen Funktion von ziemlich allgemeiner Natur annähernd zu bestimmen.

1. Im X. Bande der Novi Commentarii academiae Petropolitanae, der im Jahre 1766 erschienen ist, findet sich die Abhandlung de motu vibratorio tympanorum; in ihr wird die partielle Differentialgleichung der schwingen- den Membran aufgestellt, die Unbekannte als Produkt zweier Funktionen von je einer Variabeln angesetzt und für die eine dieser Funktionen die Differentialgleichung

d?u 1 du 82 | ale Te ee ig) a 1399" .( =)

erhalten, in welcher 3 eine Konstante bedeutet. Als partikuläres Integral derselben erhält Euler die Reihe I: VE x (' 30997 DAB FONDR=FA) ..)= u DI m: Für das allgemeine ek gibt er den Ausdruck SP (A(Psn F— 0Qc0os9) + A (P cos 9 + Q sin 9)), in welchem A und W Konstante sind und gesetzt ist

PZ-ı _ EHI, BIRNEN M 2.28+2 ' 2.3.4 28+2) 28 +3) @P+ 9)

BR EC Fo CR RN

2.3-4.5.6@B + DEE NAEFNEFHFINERHF 2P +3) RB a) 93

2-3 @8-+ 2) 28 + 5) ELDER LELNLBHN —_

Q == Vz

FESLSERHNCRFICHHNERFN Hierbei wird freilich übersehen, daß die Identität Psn9 —Qcsy=— 0 besteht, der Faktor der Konstante 4 also verschwindet; immerhin ergeben sich aus Eulers Entwicklung die von ihm selbst nicht bemerkten eleganten Formeln

6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

re 32 an + Fe 208+ 2). 2:4 @A-+ 2) EB a)

I

= mel NORD) 7 >roe- Der au

oder in moderner Bezeichnung

2 @r 11 (8): 2 (9) » cos 9,

a\P a OR— (5) 1 ORT (9) - sm.

Die Reihen P und @ sind offenbar beständig konvergent.

2. Die Besselsche Differentialgleichung ist ein spezieller Fall einer Gleichung, welche Euler im zweiten Bande der Integralrechnung be- handelt; in den SS 967 ff. gibt er für das allgemeine Integral der Gleichung Ytzcten Y ++ om 0, in welcher die ersten Buchstaben des Alphabets Konstante bedeuten, Reihen, welche Potenzen und Logarithmen von & enthalten. Das Auftreten logarith- mischer Glieder erkennt er als bedingt dadurch, daß die Wurzeln einer gewissen Gleichung, die wir jetzt die zum Punkte x = 0 gehörende determinierende Fundamentalgleichung nennen, gleich oder um eine ganze Zahl unterschieden sind.

In $ 955 desselben Bandes wird die Gleichung integriert, die durch die

Größe fr (2 Vx) dt

erfüllt wird. 3. Eingehender verweilen wir bei der schönen Abhandlung de

=

(a bar)

oseillationibus minimis funis libere suspensi, welche im ersten Teile des V. Bandes der Acta academiae Petropolitanae (pro anno 1781) gedruckt und im Jahre 1784 erschienen ist. In ihr gibt Euler für die Schwin- sungen eines frei herabhängenden, homogenen, schweren Fadens die Differentialgleichung

() ea Be 2)

ot? er

in welcher & die vertikale, vom unteren Ende des Fadens gerechnete, die horizontale Koordinate eines Punktes des Fadens, y die Konstante der Schwerkraft und i die Zeit bedeutet. Um nun eine Bewegung zu erhalten, bei welcher jeder Punkt schwingt wie ein einfaches Pendel von der Länge f, also eine einfache harmonische Bewegung, setzt Euler, indem er durch & eine Konstante bezeichnet,

y= Fe&-sin ( -- Y2).

und erhält dann aus der Gleichung (1) —ıe Ba = choc eng:

w Abe ilung. Matlıematische Sektion. 7

mit den Bezeichnungen ® a 5 Ian =

ergibt sich hieraus

yes dEy da I Ale per 2) ' Au: an du | %

(3) y= sin (E - :Y2) 2) GC):

Für das allgemeine Integral der Gleichung (2) wird ein Ausdruck ge- geben, der in moderner Bezeichnung folgende Gestalt hat: y y du e) x TO 2) CI Bl ın@ a Va) dabei sind C, und C, Konstante, und man hat die Gleichung = u? In) il s+ 75 a ICE ER Dasselbe Resultat findet sich auch in der auf die zitierte folgenden Abhandlung de perturbatione motus chordarum ab eorum pondere oriunda; hier wird der Faktor von C, in die Reihe

: r= 2 4 2 eykaut a (a Me Ti nn) u?

6 2 2 AR 7 VErRe BIS elale Mi 2... 0 4 entwickelt.

Beim herabhängenden Faden ergibt nun eine mechanische Hilis- betrachtung

(4) G =1(; man könnte dies auch daraus schließen, daß y für @ = 0 endlich bleiben muß. Ist ferner a die Länge des Fadens, so ist für © = a, d.h. für das obere Ende y = 0, also

(2) =04(2V°) -

Jeder positiven Wurzel der Gleichung (5) h@VYW) =0

entspricht daher eine besondere in der Form (3) darstellbare Bewegung des Fadens. Denkt man sich unzählige solche Bewegungen superponiert, so erhält man nach Eulers Ansicht unzweifelhaft alle möglichen kleinen Schwingungen; aber das eigentliche Problem bleibt ungelöst, so lange man nicht die unzähligen willkürlichen Konstanten ©, und & so bestimmen kann, daß der Faden für {= 0 eine beliebig gegebene Lage hat ‚‚quod certe opus omnes vires analyseos longe esset superaturum‘‘,

4. Trotzdem er in diesem Punkte, wie wir jetzt wissen, die Krüfte der Analysis unterschätzt, nimmt Euler die Diskussion der Gleichung (5)

8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

in Angriff und berechnet ihre drei kleinsten. Wurzeln nach einer Methode, die sich mit den heutigen Hilfsmitteln leicht völlig sicher begründen und verallgemeinern läßt. Sind die Wurzeln jener Gleichung etwa in geänderter Bezeichnung

und bei wachsenden Werten von v nach der Größe geordnet, so wird die Gleichung

ea) da oA, ad au). angesetzt und logarithmisch differenziert:

(6) dl 2 Vu) Es a, f &, |

du 1—o, u Ne a, U

Entwickelt man die linksstehende Größe nach Potenzen von ı#, so erhält man

dlgI, (2 Vu ae die Koeffizienten können als bekannt angesehen werden, da sie sich aus der Identität

d 7 u? u u?

ae N WE N Be

el etrm2 ) (\ 12 719592 ) ...)

4 + Au + leicht errechnen lassen. Die Gleichung (6) ergibt dann, da man auch rechts nach Potenzen von « entwickeln kann, durch Vergleichung der Koeffizienten gleich hoher Potenzen allgemein (8) A, april toi.

Diese an sich unhaltbare Betrachtung bedarf nur folgender Ergänzung. Aus den klassischen Untersuchungen über die reellen Integrale linearer Differentialgleichungen, welche Sturm im ersten Bande des Liouvilleschen Journals veröffentlicht hat, ist zu schließen, daß die Gleichung (5) keine komplexen Wurzeln besitzt, und daß eine arithmetische Reihe von posi- tiven Gliedern D,, b,, ... angegeben werden kann, für welche die Um- gleichung

(9) >> b,-ı. besteht, sobald » eine gewissen Grenze überschritten hat. Hieraus folgt, daß die Reihe & | «„ | konvergiert, und weiter nach einem Satze von

Weierstraß, daß das Produkt

: on: u ru —=]]J (' =— Ay il für ein beliebiges endliches Gebiet komplexer Werte von « gleichmäßig

konvergiert, endlich daß eine Gleichung I (2 Vu) = fu.e®"

V. Abteilung. Mathematische Sektion. )

besteht, in welcher & eine ganze rationale oder transzendente Funktion bedeutet. Die letzten beiden Gleichungen ergeben dann

ale, @ Vu) u N ur > : du len und die Reihe rechts konvergiert in jedem Gebiet gleichmäßig, innerhalb dessen keins ihrer Glieder unendlich wird. Nun sei etwa Cu =B, FT But Bu? L...;,

dann ist der Koeflizient von «* auf der rechten Seite der Gleichung (10)

+1 datt,

il da man in einer gleichmäßig konvergenten Summe von Potenzreihen nach Weierstraß addieren darf wie in einer endlichen Summe; der Definition (7) zufolge ergibt sich also anstatt der Gleichung (8) X (11) - kA= BR Deo,rt!,

il

(10)

und hieraus

+2 Bea N Ne S) Ar +1 HN „=a ei

a) Sea: aa —. B. ak SE ST (=)

vw—»ı

Da nun 6 u eine beständig konvergente Potenzreihe ist, so ist, wenn oe eine beliebige positive Größe bedeutet,

lim Br 108 —ı0, k=o also speziell auch (13) In deu Tee N el k=o k=a

Ferner sind den Ungleichungen EN zufolge die Reihen

tat (®) + (E) +:

konvergent und ihre Glieder nehmen beständig ab; man hat daher all- gemein

Pre ae:

also

on B 2 (14) lim >23 (&) a“ = k=o v=9\& Hieraus und aus den Gleichungen (13) folgt, daß die rechte Seite der Gleichung (12) dem Grenzwert @, zustrebt, wenn man % über alle Grenzen wachsen läßt, d.h.

EP. Lo ; A; (15) « = lim u a, = lim : ce An k=o = + 1

10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Eine weitere Näherungsformel ergibt sich aus der Gleichung (11), indem man für sie schreibt

SI NZ A; = ie! gi —— I +2(&) &

De)

$)

zieht man die (k + 1)t° Wurzel, so ergibt sich nach (13) und (14)

a+l a (16) a, lim VARE or > in Anno k=w k=o

Aus diesen und den Gleichungen (15), welche Euler aus der un-

richtigen Gleichung (8) ableitet, berechnet er a = 1,445795, was mit dem von Bourget in den Annales de l’ecole normale vom Jahre 1866 angegebenen Wert 2 Man 2,2000 960

völlig übereinstimmt.

Die weiteren Wurzeln a,, ds, -»- können ebenfalls aus den Gleichungen (11) approximativ berechnet werden, indem man diese in folgende Form setzt

4. "ti —B, ÄLy) Ga:

da die Größen &, in absteigender Reihe geordnet sind, so ergibt sich hieraus, ganz analog den Formeln (15) und (16)

51 lim VA, a

ko

4: Ta a," Su 4; = a," ae

5, —lım le:

Ebenso erhält man allgemein, wenn &,, @, ... «&, als bekannt an- gesehen werden,

Rn: a ee? an) En+i Pe en! IT im ae Es k=o Diese Formeln liefern bei Euler die Werte a, —1 1,6698, 0,0— 118,69,

welche er selbst für weniger genau als den für «a, erhaltenen erklärt; in der Tat ergeben sie 2Va, = 5,557 2 Wa, 8,534, während diese Werte nach Bourget sein müssen 99 = 5,520 99 = 8,654.

5. Daß die Betrachtungen, welche zum strengen Beweis der Euler- schen Formeln führten, sehr allgemeiner Natur sind, liegt auf der Hand; sie sind weder an die Ungleichungen (9) gebunden, noch an die Realität der Größen «,, sondern führen ohne wesentliche Modifikation zu folgendem Satze:

V. Abteilung. Mathematische Sektion. 11

Eine ganze transzendente Funktion #x, welche für = 0 nicht verschwindet, sei durchihre Entwicklung nach Potenzen von x gegeben; von ihren Nullstellen, welche nach wachsen- den absoluten Beträgen geordnet durch

bezeichnet seien, wisse man, daß keine zwei denselben ab- soluten Betrag haben und daß die Reihe

je see konvergiert, wenn r eine gewisse positive ganze Zahl ist. Definiert man dann die Größen durch die Gleichung

FIRE = 4 5 Aa + .--;

so gelten die Gleichungen (15), (16), (17), und aus ihnen können die unbekannten Größen & und & mit beliebiger Annäherung berechnet werden.

Denn nach dem Satze von Weierstraß über die Zerlegung der ganzen transzendenten Funktionen in Primlaktoren kann man bei den eingeführten Voraussetzungen setzen 2 ET 1 rl,r—i 7 Ay Oye X# Saal:

2 a a +3 W227 ) _ ! @,®2 )e

vl wobei © wiederum eine ganze transzendente Funktion ist, und das Produkt für beliebig große Gebiete der Variabeln x gleichmäßig konvergiert. Differenziert man nun logarithmisch, so ergibt sich Re bu ln 3 Eng! az a lcne und die Reihe rechts konvergiert in jedem Gebiet gleichmäßig, welches keinen der Werle «a, enthält, so daß man die gleichen Potenzen von & aus allen Gliedern zusammenfassen kann, und als Koeffizienten von x*, sobald kr, erhält

v2

Bi =, 32 a," an \.

va!

wenn yyiederum gesetzt wird

S (6) De 3 B; ach : k=0 Aus der Definition der Größen 4, Gleichungen (11). Da ferner allgemein

ergeben sich dann auch hier die

Ig+4ıl<|a, so ist für jeden ganzzahligen positiven Wert von k

ke + (+: le N la

12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

und hieraus folgt die Ungleichung (14). Aus dieser und den Re- lationen (11) erschließt man genau wie in dem ebigen speziellen Falle die Gleichungen (15), (16) und (17), womit unser Satz bewiesen ist. Diese Formeln geben, da die Größen leicht schrittweise berechnet werden können, die Möglichkeit, die transzendente Gleichung

ye=0 mit beliebiger Genauigkeit vollständig aufzulösen.

Ist 5x ein Polynom, so reduziert sich unsere Methode auf die be- kannte von Daniel Bernoulli herrührende, welche neuerdings meist als die Graeffesche bezeichnet wird.

6. Wir wenden die Eulersche Methode noch auf die Gleichung

(18) 1 + cos 2 &ofz = 0 an, die in der T'heorie der transversal schwingenden Stäbe vorkommt. Die linke Seite dieser Gleichung ist offenbar eine ganze Funktion von & = 2%; bezeichnet man sie durch 275%, so sieht man leicht, daß die Gleichung x 0 nur positive Wurzeln «4, ds, ... besitzt, die, wenn man zu immer größeren übergeht, annähernd wie die vierten Potenzen der ganzen Zahlen fortschreiten, so daß die Reihe

>>

1

Üü,

konvergiert. Nun gelten die Entwicklungen 28 %

el s age S 12 To 198.36 1 2% Be | Di 8 Der EB 1 33% (19) Der soo, x 12 192935 man hat also 1 38 4 —eNin 4A, F - = ı 12 = 122.35 zu setzen und erhält als erste Annäherung 4; A re a an 4, mer 12,7272

Hieraus ergibt sich

4 Va, = 1,88, was mit dem genauen Wert 1,3751 schon leidlich übereinstimmt. Lord Röayleigh stellt in $ !74 seiner Theorie des Schalles Be- trachtungen über die Wurzeln der Gleichung (18) und die Gleichung (19) an, die der Eulerschen Methode verwandt sind, sich aber in etwas anderer

V. Abteilung. Mathematische Sektion. 13

Richtung bewegen, indem «, mittels der asymptotischen Werte von &,, &s,** berechnet wird. Lord Rayleigh setzt aber dabei die Gleichung (20) 3z2=1I(1 o,x) v

an, die wohl kaum anders als mittels der funktionentheoretischen Sätze von Laguerre und Hadamard zu beweisen ist. Die oben durchgeführte Untersuchung zeigt, daß für die numerische Berechnung der Größen «, die Gleichung (20) nicht gebraucht wird, sondern nur die weit leichter be- weisbare ze = e%]I (1 o,x), v

in der © eine unbekannte ganze Funktion bedeutet.

schlesische Gesellschaft für vaterländische Gultur.

or USE

ss. | V. Abteilung. Jahresbericht. b, Philosophisch- psychologische 1910. Sektion. Sc: ER ars BEREITET I

Sitzungen der Philosophisch-psychologischen Sektion im Jahre 1910.

Sitzung am 3. Februar 1910. 1. Vortrag des Herrn Prof. v. Wenckstern:

Die Basierung der nationalökonomischen Wertlehre durch die moderne Psychologie. 2. Diskussion.

Sitzung am 1. März 1910. 1. Vortrag des Herın Dr. H. Schmidkunz (Berlin-Halensee):

Über Hochschulpädagogik. 2. Diskussion.

Sitzung am 4. Mai 1910. 1. Vortrag des Herrn Dr. E. Kieseritzky:

Logik und Folgestrenge. 2. Diskussion.

Sitzung am 16. Juni 1910. l. Vortrag des Herrn P. Margis: Methoden zur Individualitätsforschung.

2. Diskussion. 1910,

Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl, Cultur.

Sitzung am 7. Dezember 1910:

1. Wahl der Sekretäre der Sektion: die bisherigen Sekretäre: Herr Prof. Baumgartner, Herr Prof. Kühnemann und Herr Prof. Stern werden wiedergewählt.

2. Wahl des Vorsitzenden: Herr Prof. Kühnemann wird gewählt,

3. Wahl des Delegierten zum Präsidium: Herr Prof. Baumgartner wird wiedergewählt.

4. Vortrag des Herrn Prof. Kühnemann:

Leo Tolstojs Gedankenwelt und Mission.

Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur.

ss. | Jahresbericht. 1 V. EL UNE, 1910. | c. Sektion f.katholische Theologie.

er Ra DET hR 2,0

Sitzungen der Sektion für katholische Theologie im Jahre 1910.

Am 31. Januar sprach Religions- und Öberlehrer Hermann Hoff- mann aus Breslau über

Die blutenden Hostien von Wilsnack.

Im XIll. Jahrgang seines Berliner Bonifacius-Kalenders für 1575 hat der bekannte Geistl. Rat. Eduard Müller S. 2-——24 das „‚Wunderblut von Wilsnack und seine Geschichte‘ eingehend beschrieben und damit die Sache in weiten katholischen Kreisen bekannt gemacht. „Nicht ohne Leidenschaft,‘ wie Breest sich milde ausdrückt !), hat er die Geschichte erzählt und den Kult gegen protestantische Angreifer verteidigt. Kein Wunder, daß er an Dr. Götze einen leidenschaftlichen Gegner fand ?2). Müller sieht in den „blutenden Hostien‘“ eine wunderbare Bestätigung des Glaubens der Kirche an die Gegenwart Christi in der hl. Eucharistie, Götze in ihrem Kultus einen Beweis für den Aberglauben des Mittelalters. Beide haben Unrecht in der Form und in der Sache, denn beide kannten die Quellen nicht, auf denen sich unsere Kenntnis der Wallfahrt aufbaut, beide kannten die reich- lich vorhandenen Akten nich!, die uns ein wohlbegründetes Urteil über die Tatsachen und die Personen gestatten. Mit sorgsamem Fleiß hat Ernst Breest alle Quellen aufgespürt und in seinem grundlegenden Aufsatze „Das Wunderblut von Wilsnack (1383—1552). Eine Quellenmäßige Darstellung seiner Geschichte‘ im 16. Band der „Märkischen Forschungen“ die Ergebnisse seiner Untersuchungen uns vorgelegt. Diese Untersuchungen haben eine dankenswerte Ergänzung nach der kirchenpolitischen Seite hin erfahren durch Bruno Hennig, der in seinem Aufsatz „Kurlürst Friedrich I]. und das Wunderblut zu Wilsnack‘‘ ®) die Motive für den Sieg der Wall- fahrt über alle Angriffe herausstellt, Damit, können wir sagen, ist die Forschung über unsere Frage voraussichtlich am Ende.

Eben ist der die Westpriegnitz behandelnde Band des Verzeichnisses der Kunstdenkmäler der Provinz Brandenburg erschienen, der die Bau- geschichte der Wilsnacker Wailfahrtskirche in neues Licht rückt. Im

1) Märkische Forschungen, S. 133. 2) Blätter für Handel, Gewerbe und soziales Leben, Magdeburg 1875 Ss. 65 M 9) Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte XIX, S. 731, 1909, 1

2 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Jahre 1902 veröffentlichte Fr. Schmid in der „Zeitschrift für katholische Theologie‘ seinen klaren Aufsatz über „eucharistische Wundererscheinungen im Lichte der Dogmatik“. Somit ist unser Thema nach der geschichtlichen und nach der dogmatischen Seite hin zu einem gewissen Abschluß ge- kommen, so daß eine Darstellung und Würdigung dieser Frage in gewissem Sinne aktuell zu nennen ist. Dazu kommt, daß in der Geschichte der „blutenden Hostien“ von Wilsnack wie in einem Brennpunkte die bedeutenden Linien des religiösen, kirchlichen, kirchenpolitischen und kulturgeschichtlichen Lebens der Übergangszeit vom Mittelalter zur Neuzeit sich treffen, daß alle Richtungen der Theologie des 15. Jahrhunderts hierbei aufeinander- stoßen, daß auch die großen kirchenpolitischen Fragen und Kämpfe, das Ringen kirchlichen Reformeifers mit hierarchischen, politisch territorialen und finanziellen Interessen hier wie an einem Schulbeispiel deutlich wird, und daß fast alle in der Kirchengeschichte jener Zeit bedeutenden Männer in die Frage des Wunderblutes irgendwie verwickelt sind.

Wenn ich die Arbeiten der Männer, die zur Aufhellung unsrer Frage das Wort ergriffen haben, überblicke, so kann ich Gott sei Dank sagen, daß diese Frage nicht mehr einen konfessionellen Zank- apfel bildet. Breest sowohl als Hennig haben in ihren Arbeiten ohne Polemik und Feindseligkeit die Wahrheit zu erforschen und darzustellen gesucht, das gleiche gilt von Kaweraus vorzüglichem Artikel in der Real- Enzykiopädie für protestantische Theologie, dasselbe gilt von den Katholiken, die zu unsrer Frage sich geäußert haben. Daß Katholiken und Protestanten in dieser Frage einig geworden sind, ist wieder ein Beweis für die einigende Macht der Wahrheit und die Gegensätze überbrückende Kraft ihres Dienstes.

Bei Matthaeus Ludekus „Historia von der Urfindung, Wunderwercken vnd zerstörung des vermeinten heiligen Blutes zur Wilßnagk‘‘ (Wittenberg 1586) findet sich an erster Stelle die „Historia inventionis et ostensionis vivifici Sacramenti in Wilsnagk“, die 1520 in Lübeck bei Stelfan Arndes gedruckt ist. Diese historia gibt sich als Bericht des sonst nicht be- kannten Propstes von Havelberg, der den damaligen Bischof von Havelberg, Theodoricus, nach Wilsnack begleitete, als er das Wunder sehen und verehren wollte.

Der plebanus Johannes Calbutz (Cabbutz) ven Wilsnack war am Sonntag nach Mariä Himmelsfahrt 1383 nach Havelberg zum Kirchweih- fest gegangen. Während seiner Abwesenheit brannte Heinrich von Bülow am 16. August 1383 elf bischöfliche Dörfer nieder, darunter Wilsnack. Bei seiner Rückkehr sah der plebanus, wenigstens nach dem auf den Dompropst zurückgehenden Bericht, Kirche und Turm zusammenstürzen. Der Turm indessen blieb stehen und steht größtenteils heute noch. Am dritten Tage nach dem Brande kam er mit seinen Leuten wieder hin und durchsuchte den Trümmerhaufen, er fand die Glocke geschmolzen, die Altarplatte aus

V. Abteilung. Sektion für katholische Theologie. 3

Eichenholz verbrannt. Drei konsekrierte Hostien, die er dort in einem hölzernen Ciborium aufbewahrt hatte, glaubte er verbrannt, da von all dem nichts mehr aufzufinden war. Vorläufig ging er nach Groß-Lüben in der Nachbarschaft; er wollte seine Leute verlassen und eine andre Pfarrei nehmen. Im Schlaf wird er aufgefordert, am Sonntag in Wilsnack die hl. Messe zu halten. Am Morgen des Bartholomäustages, am 24. 3. ging er mit Meßgeräten nach Wilsnack, um zu zelebrieren. Als er hinkam, war der Altar schon zugerecht gemacht, eine Decke schon darauf gelegt, die drei Hostien, die der plebanus im Altar aufzubewahren pflegte und die er ver- brannt glaubte, lagen unversehrt darauf, nur am Rande ein wenig an- gesengt und mitten auf jeder ein Blutstropfen. In der Nacht hatte es geregnet, aber das Corporale und die Hostien waren trocken geblieben. Er trug die Hostien nach Lüben.

Der Bischof Theodorieus von Havelberg zitierte ihn und ging mit seinem Dompropst selber zur Untersuchung nach Wilsnack, zelebrierte auch dort, und durch das dort gesehene und erlebte Wunder wird er gläubig. Das Wunder wurde bald bekannt in Deutschland und darüber hinaus, und zahlreiche Wallfahrten erfolgten von jetzt an nach dem eben noch un- bekannten Norfe. Es folgen jetzt Wunder in größerer Zahl, und zwar meist Straf- und Heilungswunder. Blinde werden sehend, so Ditrich von Wenkstern. Eine Margarete wird vom Mühlrad zermalmt, das hl. Blut macht sie wieder ganz und lebendig. Ein Westfale, Berthold von Hansen, wird gehenkt, 36 Stunden hängt er am Galgen, da wird er losgemacht und kann nach Wilsnack gehen. Die Gemahlin des Kaisers Sigismund liegt am Palmsonntag 1390 stundenlang wie tot, wird aber wieder gesund und kann nach Wilsnack wallfahrten. Sigismunds Gemahlin hieß aber Maria und war zu jener Zeit schon tot.

Bischof Ditrich II. von Havelberg 1370—85 legt den Grund zu einer großen gotischen Hallenkirche in Wilsnack. Urban VI. gewährt am 10. 3.1384, ohne das Wunder zu erwähnen, einen Ablaß von einem Jahr und vierzig Tagen für Beicht, Besuch von Wilsnack und Almosen zum Kirchenbau, Nach zehn Jahren soll der Ablaß nicht mehr gelten. Am 16. 3. 1384 gewähren der Erzbischof von Magdeburg und die Bischöfe von Lebus, Brandenburg und Havelberg unter Erwähnung des Wunders einen Ablaß von je vierzig Tagen für jede Meile, jeden Kirchenbesuch und jeden Umgang um die Kirche; von Geld ist bei diesem Ablaß nicht die Rede, Der päpstliche Ablaßbrief von 1338 erwähnt von dem Wunder immer noch nichts.

Bischof Johann Wöpelitz 1386—91 brachte die Güter und Gerechtsame des Dorfes Wilsnack an sich und ließ durch eine Bulle Bonifaz’ IX. vom 15. 8. 1395 die Pfarrei Wilsnack sich inkorporieren mit der Ver- pfliehtung, dort einen vicarius perpetuus zu halten. Er war also fortan an dem Hostienwunder finanziell interessiert. Von den Einkünften der

1*

4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Wallfahrt aus den Bleihostien allein, die die Pilger erstanden und sich an Hut oder Rock hefteten, nahm der Bischof ein Drittel, sein Domkapitel ein Drittel, und das dritte Drittel kam zum Bau der Kirche von Wilsnack. Bischof Wöpelitz drohte noch, bei Widerspruch des Kapitels würde er die Einkünfte ganz an sich nehmen. Kein Wunder, wenn der Bau nur lang- sam vonstatten ging und eigentlich nie recht fertig wurde!

Die Wallfahrt wurde rasch berühmt: Aus Hamburg und Franken, aus Dänemark und Schweden, aus Polen und Ungarn, aus Süddeutschland, aus Spanien selbst kamen Wallfahrer. Wilsnack wurde Stadt, Herberge an Herberge entstand. Auch viel Gesindel kam mit den Wallfahrern, so daß Wilsnack vorübergehend dem Interdikt verfiel. Kaiser und Könige, Fürsten und Adlige, einzelne und ganze Scharen kamen. Auch Wallfahrten durch einen bestimmten Vertreter ausführen lassen wurde üblich. Es fanden Massenwallfahrten statt, wo einer den anderen ansteckte; wie eine Art religiöser Krankheit ergriff das Wallfahrtsfieber manchmal ganze Orte.

Der erste Bekämpfer der Wallfahrt war nach Ludecus Johannes von Wünschelburg, Professor in Leipzig. Er hat ein Büchlein ‚‚de variis superstitionibus‘“ geschrieben. Darin erzählt er z. B. von dem hölzernen Kruzifix in Krakau, das Harz schwitzt und das für das Blut Christi gehalten wird, und von dem erdichteten Blut in Wilsnack. Authentisches erfahren wir über die Bekämpfung der Wallfahrt durch Konrad Zoltow, früher Professor in Heidelberg, dann Bischof von Werden. Er ließ den Wallfahrern, wenn er nur konnte, die bleiernen Hostien von der Mütze reißen. Beide sind um 1400 gegen Wilsnack aufgetreten.

Schlimmer war der Angriff, der von Prag aus gegen Wilsnack sich richtete.

1403 hatte ein Prager Bürger Petrus von Ach die Wallfahrt nach Wilsnack gemacht; seine Hand war aber kontrakt geblieben. Er ver- abschiedete sich von der Geistlichkeit und stellte sich, als reise er ab. Heimlich blieb er zurück und war nicht wenig erstaunt, als er nach drei Tagen als geheilt ausgegeben wurde und als man von der Kanzel die silberne Hand zeigte, die er ex voto gestiftet hatte. „O Priester, was lügst du“ dachte er bei sich.

Erzbischof Zbinko von Prag setzte eine Untersuchungskommission ein, wie Hefele sagt, zur Untersuchung des angeblich heiligen Blutes. Zu der Kommission gehörte Johannes Hus. Die Kommission sollte die Leute aus- forschen, die angeblich in Wilsnack geheilt worden waren. Hus legte das Resultat der Untersuchung nieder in der determinatio quaestionum cum suo tractatulo de omni sanguine Christi glorificato. Er führt u. a. an, ein Knabe mit gelähmten Beinen sei schlimmer zurückgekommen, zwei geheilte blinde Frauen seien nie blind gewesen; die Klagen über die Gelbsucht dort seien allgemein sehr groß. Hus’ Hauptargument ist genommen aus der theologischen Meinung, daß Christi Blut ganz an der Verherrlichung

V. Abteilung. Sektion für katholische Theologie.

Ion

des Gottessohnes teil habe. Der Gedanke, daß an den Hostien verklärtes Blut des verklärten Heilands sieh zeigen könne; ist seiner Christologie und Eucharistielehre so fremd, so undenkbar, daß er ihn gar nicht erst diskutiert. Wenn an den Hostien Blut sich zeige, und wenn das Christi Blut sein soll, dann könnte es nur Blut Christi sein, das bei seinem Auf- enthalt auf Erden, etwa bei seinem Leiden, vergossen worden sei und bei seiner Himmelfahrt auf Erden zurückgeblieben sei. Nun sucht er aber in seinem Traktat nachzuweisen, daß der Auferstandene alle Tropfen seines vergossenen Blutes wieder an sich genommen und mit in seine Verklärung einbezogen habe. Mithin sei es unmöglich, daß in Wilsnack oder sonstwo an Hostien oder anderswo Blut Christi vorhanden und sichtbar sein könne.

Der Prager Erzbischof ließ nach dem Bericht der Untersuchungs- kommission eine Synode entscheiden. Diese verbot die Wahlfahrt und befahl in ihren Statuten vom 15. Juni 1405 allen Klerikern auf jeder Kanzel jeden Monat das Verbot der Wallfahrt nach Wilsnack zu erneuern: ne laici amoto peregrinari debeant ad quendam locum Welsenag ad sanguinem prout dicunt.

In Prag wurde an der Universität diese Frage, d. h. die theologisch- dogmatische, nicht die praktische, mit Leidenschaft erörtert. Das wichtigste Argument war immer, wie Hus in seinem Tractatulus es eingehend dar- gelegt hatte, daß der Herr Jesus keinen Tropfen seines vergossenen Blutes auf Erden zurückgelassen, sondern es alles nach der Auferstehung glorifiziert an sich genommen habe; ja wenn solches Blut angeblich auf Erden sich finde, sei es nicht höher zu achten als ein tierischer Kadaver, soll ein Magister in Prag nach dem Berichte des Franziskaners Döring, eines Wilsnacksfreundes, gesagt haben, Vielleicht war dieser Magister Hus selber; denn in seiner erwähnten Abhandlung, die zu dem vorstehenden völlig stimmt, findet sich auch das häßliche Wort vom Tierkavader.

Hus widerlegt auch die Einwände, die an der Universität gegen seine These de omni sanguine Christi glorificato gemacht wurden. Hus behauptet immer wieder, es gibt auf Erden kein Blut Christi,

1. Dem wurde entgegnet, wir besitzen Kleider Jesu, Tunika, das Schweißtuch der Veronica, die Dornenkrone, Nägel, das Kreuz Christi, alles mit Blut Christi besetzt. Hus sagt, das Blut Christi an diesen Dingen hat nur zur Erinnerung eine rote Farbe hinterlassen. Die Echtheit all dieser Reliquien zu leugnen kommt Hus gar nicht in den Sinn.

2. Man hat, so erwiderte man, das praeputium Domini mit seinem Blute. Hus erwidert «diesem Gegner, ehe der Betrüger die Echtheit des praepuliums beweist, wird die Posaune des jüngsten Gerichtes blasen.

3. Man brachte einen Konvenienzgrund gegen Husens These vor: Christi Blut wird, wenn es sichtbar wird, mehr wirken, als wenn es

6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

bloß geglaubt wird. Hus erwiderte mit einem Herrenworte: Selig, die nicht sehen und doch glauben.

Dies zur Probe und zum Einblick in die damalige Dialektik. Aus- führlich behandelt dies Hefele in seiner Konziliengeschichte, der zur Er- klärung der blutenden Hostien an Ehrenbergs Anführung der monas prodigiosa erinnerte und die Wunder für gefälscht hält.

Man kann das Zeugnis und das Vorgehen des Johannes Hus nicht dadurch entwerten oder entkräften, daß man sagt, er sei eben damals schon ein Ketzer gewesen. Erstens war er damals noch rechtgläubig und genoß in den höchsten kirchlichen Kreisen alles Vertrauen. Und zweitens waren seine größten Gegner auf dem Konzil von Konstanz, vor allen der gewandteste, der Augustiner Johannes Zachariae aus Erfurt genannt Hussi- tomastix, in dieser Frage durchaus mit ihm einig.

Bald sollte in Magdeburg selbst der Kampf beginnen.

Magister Christianus von den Minoriten in Magdeburg erzählte in Erfurt dem Magister Heinrich Tocke, daß der Wilsnacker Pfarrer, der inventor des Wunderblutes, zu ihm nach Magdeburg gekommen sei und gesprochen habe: ‚Ich sehe, daß ihr Mangel habt und eine neue Kirche braucht. Ihr wißt, wie berühmt der Zulauf gewesen ist, den ich in Wilsnack hervor- gebracht habe. Wenn ihr wollt, will ich Euch hier einen viel größeren Konkurs zustande bringen. Als ich in Wilsnack war, habe ich die Methode noch nicht so gut verstanden, wie ich sie mir jetzt ausgedacht habe.“ Der Pfarrer Cabbutz war 1386 ohne ersichtlichen Grund von Wilsnack vertrieben worden. Aus Rache vielleicht hat er sein Geheimnis verraten. 1429 erzählte Petrus Rumelant, Dominikaner in Magdeburg, daß den Dominikanern das gleiche Geständnis und das gleiche Angebot von dem Wilsnacker Pfarrer sei gemacht worden.

Magister Christianus hat offenbar in Magdeburg beim Kapitel und beim Erzbischof Mitteilung über den Betrüger gemacht; jedenfalls hat das sächsische Provinzialkonzil von Magdeburg .1402 mit der Sache sich befaßt und zehn Artikel dem Bischof von Havelberg zur genauen Auskunft über- geben. Darunter befinden sich folgende:

Die unzähligen unglaublichen Wunder.

Die Geistlichen, die solche Lügen aufbringen, werden nicht bestraft.

In ganzen Bänden werden diese Lügen schriftlich verbreitet.

Das Volk verehrt Blut, da doch keines da ist, und auch nichts, was dem Blute ähnlich ist (nullus cruor nec quid ceruori simile).

Der frühere Pfarrer hat vor Zeugen gestanden, wie er gehandelt.

Einige sagen als Ausrede, die Verehrung gelte dem Sakramente. Da könnten die Wallfahrer zu Hause bleiben. Sie wallfahren aber zum hl. Blute und beten: Hilf mir, heiliges Blut! Befreie mich, heiliges Blut!

Falsche, nicht approbierte Reliquien werden zur Verehrung gezeigt (Lichter, die sich selbst entzündet, die brennen und nicht verbrennen).

V,. Abteilung. Sektion für katholische Theologie.

=]

Apokryphe Ablässe werden verkündet olıne Autorisation.

Von reservierten Sünden wird ohne Erlaubnis absolviert.

Endlich wird Auskunft verlangt über den Vorwurf der Geldgier.

Von den Verhandlungen über diese zehn Artikel wissen wir nichts, von ihrer Beantwortung durch den Havelberger Bischof ebenso wenig. Aber, wie richtig, das Konzil erklärt eigentlich alles als Betrug.

Havelberg selber gab eigentlich die ganze Wundergeschichte auf und behauptete die Verehrung gelte dem Sakramente. Damit war ja eigentlich jedem Angriff der Boden entzogen, und die Wallfahrer konnten in ihrem Glauben belassen werden.

Die Reformkonzilien von Konstanz und Basel gaben der Wallfahrt Ablaßbriefe. Das darf uns nicht wundernehmen. In der Konzilskanzlei ging die Sache genau so mechanisch wie in der päpstlichen Kanzlei. Dem Konstanzer Konzil versprach der Bischof von Havelberg, er werde stets vor die drei Bluthostien eine konsekrierte Hostie legen lassen.

In der Zeit der Reformbestrebungen in der Kirche ergingen wider die Wilsnacker Wallfahrt heftige literarische Anfeindungen.

Der Hauptgegner war Heinrich Tocke, Professor in Erfurt, dann in Rostock und schließlich Domherr in Magdeburg. Er war ein ganz bedeutender Mann, begeistert für die Reform der Kirche. Er war vom Baseler Konzil nach Prag geschickt zu den Verhandlungen mit den Hussiten und er hat die Prager Kompaktaten zustande gebracht,

„Er halte den Wilsnacker Handel als Betrug erkannt.‘ Seit 1426 sammelte er Material gegen Wilsnack. Vielleicht hat er den Erzbischof von Magdeburg, Günther von Schwarzburg, veranlaßt, die Leipziger theologische Fakultät um ein Gutachten zu ersuchen. 1429 erfolgte dieses Gutachten, das sich gegen die Echtheit der Wilsnacker Hostien aus- sprach. Wegen dieses Gutachtens und wegen einer Predigt gegen die blutenden Hostien wurde der Professor Kone des Landes verwiesen.

1441 war Tocke Domherr in Magdeburg geworden. Jetzt nahm er mit aller Energie den Kampf gegen Wilsnack auf. Wilsnack aber hatte mächtige Beschützer: den Bischof Konrad Lintoff von Havelberg und den Kurfürsten Friedrich von Brandenburg. Trotzdem versprach Bischof Konrad am 12.6.1445, Mißbräuche abzustellen. Als Tocke den Bischof später aufsuchte und fragte, was er getan, erklärte der Bischof, er habe seinen Geistlichen verboten, falsche Wunder zu verkünden. Tocke benutzte die Nähe von Wils- nack, um eine genaue Untersuchung vorzunehmen. Am 12. 7. 1443 konnte er, wie Knöpfler schreibt, „sich durch Augenschein an Ort und Stelle von der völligen Haltlosigkeit der ganzen Wunderafläre überzeugen“, Dabei begleitete ihn Propst Petrus von Brandenburg: „Da war nichts Rotes, kein Spur, die Hostien waren gar sehr verzehrt und sahen aus wie Spinnesgewebe, so daß man zweifeln konnte, ob überhaupt von der Materie des Brotes noch etwas da war,‘ So stellt Tocke das Ergebnis der

8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

gemeinsamen Besichtigung dar, und der Propst von Brandenburg, ein Anhänger des Blutes, bestätigt: ‚Ich sah nichts Rotes, und habe nie etwas Rotes gesehen.“

Der Hauptverteidiger des Wunderblutes gegen Tocke und den Magdeburger Erzbischof wurde der Minorit Döring, der allesObservantentum in seinem Orden haßte, das der Magdeburger Erzbischof durchsetzen wollte; er war sogar das Oberhaupt. der deutschen Konventualen. Mit Bereitwillig- keit stellte er sich dem Kurfürsten Friedrich von Brandenburg zur Ver- teidigung des Wunderblutes zur Verfügung. Die Konventualen Döring und und Kannemann bekämpften in Erzbischof von Magdeburg den Förderer der Observanz.

Tocke hat aus lautersten Motiven gekämpft. Wahrhaft rührend ist zu lesen, wie er über seine Eindrücke spricht, als er die Feststellungen in Wilsnack macht. Bezeichnend für ihn ist auch die Geschichte von Wartenberg. Dort hat der Priester Tiedemann blutende Hostien. Tocke entlarvt ihn. Schließlich bekehrt sich der Betrüger und auf dem Baseler Konzil absolviert ihn Tocke.

1445 wurde Friedrich Graf von Beichlingen Erzbischof von Magdeburg. Er war ein ernster Reformator. Auch in den Klöstern wollte er die Reform durchsetzen. Döring und Kannemann leugneten seine Kompetenz. Beide wurden jetzt in jeder Sache, auch in der Wilsnacker, des Erzbischofs heftigste Gegner.

Magdeburg und Brandenburg lagen schon vor Tockes Auftreten in Fehde miteinander: Beteutende und wertvolle Lehen waren zwischen demErzbischof und dem Kurfürsten strittig, die diplomatische Fehde ging hin und her. Bei den Ausgleichsverhandlungen wählte der Erzbischof den Lübecker Bischof, der Kurfürst den Havelberger Bischof zu seinem Vertreter. Der Lübecker Bischof erhielt dann auch ein Mandat zur Untersuchung der Wilsnacker Sache. In der Lehenssache sowohl wie in der Wunderblutsache waren die gegnerischen Parteien in gleicher Weise feindlich. Der tatkräftige Erz- bischof suchte seinen Havelberger Suffragan zum Nachgeben in der Wils- nacker Sache zu zwingen und seine Metropolitangewalt, die früher ziemlich latent geworden war, zu erneuern und wieder geltend zu machen. Der Kurfürst dagegen wollte seinen Bischof schützen gegen eine ausländische Kirchenobrigkeit. So eng war das Bistum vom dem Territorium abhängig, zu dem es gehörte.

So waren es kirchenpolitische Gründe, die den Kurfürsten für Wilsnack eintreten ließen. Dazu kamen finanzielle.

Der Erzbischof ist zum energischen Kampf gegen Wilsnack im Sinne Tockes entschlossen. Dem Kurfürsten helfen Kannemann und Döring, die Konventualen, die Gegner des observanzfreundlichen Erzbischofs. Döring ist der einzige Zeitgenosse, der an des Erzbischofs Größe und gutem Willen zweifelt: Er spottet über ihn, den großen Reformator, den künftigen

V. Abteilung. Sektion für katholische Theologie. 9

Ketzer. Er nennt ihn bei der Nachricht von seinem Tode den Laienbischof, der zwar Eifer, aber keine Wissenschaft habe. Es genügt, demgegerüber an das Wort des Kardinals Nikolaus von Cusa zu erinnern: Ich habe keinen zweiten Bischof wie ihn in Deutschland gefunden.

Der Erzbischof war ein Mann ohne literarische Bildung. Deswegen hatte er bei seinem Regierurgsantritt erst bei Tocke Latein gelernt, und zwar mit solchem Eifer, daß er bereits nach einem Jahre sein Brevier lesen und verstehen konnte.

Der neue Erzbischof erkannte bald, daß kein Ort seiner Provinz relormbedürftiger sei als Wilsnack. Er wählte das Mittel der Tagfahrten, der persönlichen Verhandlung. Vier Versuche machte der Erzbischof 1446—49, Zweimal streikte der Havelberger Bischof, zweimal sandte er seine Theologen. Inzwischen hatte auch die Erfurter theologische Fakultät ein Gutachten gegen die Echtheit abgegeben, an dessen Zustandekommen Jakob Jüterbogk und Johannes Dorsten, der Augustinerprovinzial, beteiligt waren. Am Erfurter Gutachten von 1446 ist mancherlei interessant. Man sieht aus ihm, wie der Betrug wuchs. Die Magdeburger Provinzial- synode 1402 hatte jene Kerze geladelt, die als Reliquie verehrt wurde; und nun war hinzugekommen das Korporale, in dem die Bluthostien ge- funden worden waren, mit dem die Wallfahrer berührt wurden wie mit Reliquien. In Wilsnack wurde sogar behauptet, von dem dortigen Wunder habe das Fronleichnamsfest seinen Ursprung genommen.

Die Erfurter Fakultät verlangte ein Provinzialkonzil und über Wilsnack das Interdikt. Der Erzbischof übersandte noch 1447 das Erfurter Gutachten der theologischen und der juristischen Fakultät in Leipzig und bat um ein neues Gutachten, das die juristische Fakultät auch erstattete. Die theologische Fakultät scheint an ihrem Gutachten von 1429 genug gehabt zu haben.

Inzwischen hatte der Kurfürst Eugen IV. anerkannt. Dieser Papst hatte eine schwere Stellung. Er hatte das Baseler Konzil aufgelöst, und die deutschen Fürsten stellten sich neutral zwischen Papst und Konzil. Gegen große Zugeständnisse gelang es dem Papst nach und nach, die An- erkennung der deutschen Fürsten zu erhalten. In dem Augenblicke, da Kurfürst Friedrich II. ihn anerkennt, bittet der kurfürstliche Legat Kannemann in Rom um neue Gnaden; Eugen IV. gibt reichliche Ablässe, gestattet das Dazulegen einer konsekrierten Hostie (es war ja sonst nichts da) am 2.1. und 5. 2. 1447. Papst Nikolaus V, bestätigt unter dem 10. 9. 1447 die Edikte seiner Vorgänger und ernennt für Wilsnack zwei päpstliche Konservatoren.

So schuf man gegen die Metropolitangewalt durch Übertragung der päpstlichen Gewalt auf kurfürstliche Räte ein wirksames Gegenmittel. Daß Eugen IV. und Nikolaus V. so vertrauensselig gegenüber den Wilsnacker Er- zählungen waren, erklärt sich auch daraus, daß zu jener Zeit die Erzählung von dem eucharistischen Wunder von Bolsena aufkam, das Antoninus von

10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Florenz, + 1459, zum ersten Male erwähnt und das damals allgemein ge- glaubt wurde. Deswegen waren Eugen und Nikolaus leicht geneigt, Wilsnack zu schützen, um so mehr, als sie in diesen für wahr angesehenen Erzählungen himmlische und göttliche Beweise für die Gegenwart des ganzen Christus, also auch seine Blutes, unter einer, also auch unter der Brots- gestalt allein, gegenüber der hussitischen Bestreitung dieses Dogmas erblickten.

So hatten sich alle Versuche, gegen den Unfug einzuschreiten, als ver- geblich erwiesen; anscheinend hatte der Papst alles sanktioniert.

Auch persönliche Versuche des Dompropstes Eberhard Waltmann und Tockes beim Havelberger Bischof waren erfolglos. Eberhard Waltmann wurde für sein Auftreten gegen Wilsnack sogar hart mitgenommen. Johannes Capistranus verdächtigte ihn bei seinem Erzbischof der Ketzerei; ein Freund Capistrans hat seine Schriften derb zu widerlegen versucht und nennt darin unsern Dompropst immer aper durus oder bloß aper.

Jetzt wurde das Letzte versucht. Der Erzbischof beschwerte sich beim Papste und berief ein Provinzialkonzil nach Magdeburg. Der Papst hatte seinen Freund, den Kardinal Nikolaus von Cusa, als seinen Legaten nach Deutschland geschickt, um das Jubiläum zu verkünden und alle Bischöfe zur Reform ihres Welt- und Ordensklerus zu bewegen. Nikolaus Cusanus präsidierte auch der Magdeburger Provinzialsynode 1451. Tocke hielt bei den Verhandlungen über Wilsnack die Eröffnungsrede. Der Kardinal ver- bot das Ausstellen angeblich blutender Hostien und das Anfertigen von Bleinachbildungen unter Strafe des Interdiktes.

Bald exkommunizierte der Erzbischof den Havelberger Bischof und interdizierte Wilsnack kraft päpstlicher Vollmacht, die ihm der Kardinal von Cusa übertragen hatte. Daraufhin exkommunizierten die Pröpste von Stendal und Brandenburg, die päpstlichen Konservatoren des Havelberger Stiftes, den Erzbischof, ebenfalls kraft päpstlicher Vollmacht.

Beide Teile appellierten nach Rom; am 12. 3. 1453 hob der Papst die Sentenzen beider Parteien auf und ließ alles beim Alten.

Also hatten die Verteidiger des Wunderblutes gesiegt über den Erz- bischof und über Nikolaus von Cusa. Die Entscheidung fiel, als Kurfürst Friedrich II. in Rom war.

Es war ein Sieg der landesherrlichen Kirchenhoheit über die Metropolitangewalt mit Hilfe des Papstes am Vorabende der Reformation. Der Kurfürst hatte mit Erfolg den Eingriff einer auswärtigen kirchlichen Macht auf seine Bischöfe abgewiesen.

Es handelt sich um die Erlaubtheit einer Wallfahrt, also eine rein- und innerkirchliche Angelegenheit. Die Entscheidung wird der zuständigen kirchlichen Obrigkeit entrissen, indem der Landesherr sie sich selber vor- behält. So wird das ius circa sacra zu einem ius in sacra. Und das geschieht mit Hilfe des Papstes.

V. Abteilung. Sektion für katholische Theologie. 11

Jetzt wird der Kampf aufgegeben. Der Erzbischof schweigt. Das Wallfahren geht weiter. 1471 und 1480 kommen neue Ablaßbriefe.

Das literarische Geplänkel geht weiter. Man kämpft aber jetzt haupt- sächlich gegen die currendi libido: das Wallfahren nach Wilsnack wird zeitweise zur religiösen Krankheit, zur Epidemie, die ansteckt. Ganze Dörfer, Männer, Weiber, Kinder ziehen los: ähnlich wie einst die Flagel- klanten, wie die Kinderkreuzzüge, wie die Betkinder in der schlesischen Reformation. 1470 war z. B. in Thüringen, Erfurt, Bamberg, Bayern eine derartige Epidemie zu wallfahren. Kinder besonders liefen, die Leute vom Felde, der Bauer vom Gespann, alles wollte plötzlich nach Wils- nack „laufen“.

Luther ist natürlich scharf gegen Wilsnack eingeschritten, schon 1520 in seiner Schrift „an den christlichen Adel deutscher Nation“. Die Wall- fahrt war aber weitergegangen. Bischof Busso von Alvensleben, der letzte katholische Bischof von Havelberg, starb 1548, treu seiner Kirche. Auch nach seinem Tode gingen die Wallfahrten weiter. 1539 wurde die Reformation durch Joachim II. in Brandenburg eingeführt, 1545 bekam Wilsnack einen lutherischen Prediger. Acht Jahre war nun Wilsnack gleichzeitig lutherische Predigtkirche und gleichzeitig Wallfahrtskirche. 1552 hat der Prediger Ellefeld die Hostien verbrannt. Da er die konsekrierten Hostien nicht verbrannt hatte, wurde er nur des Landes ver- wiesen und nicht getötet.

Was ist von den blutenden Hostien von Wilsnack, was ist von ähn- lichen Wundern zu halten?

Hefele beruft sich bei Wilsnack auf Neanders Kirchengeschichte, der die Erklärung von Ehrenberg angenommen hat. Danach wäre das Bluten der Hostien veranlaßt durch den sog. Hostienpilz, den bacillus oder micrococeus prodigiosus.. Im Wilsnacker Falle ist diese Erklärung nicht nötig. Hier ist es notorischer Betrug. In manchen Fällen mögen subjektive Erklärungen am Platze sein: Suggestion, Autosuggeslion. Der religiöse Mensch wird sagen wollen, Gott erweckte in einem oder einigen Menschen den Eindruck des Blutes. Manchmal war es Betrug. Sind bei solchen Wundern Juden beteiligt, dann beruht das ganze auf Denunziationen, denen im günstigen Falle subjektive Wahrhaftigkeit zukommt, und auf Eingeständ- nissen, die die Juden auf der Folter machten, die also absolut wertlos sind. Der Dogmatiker Sachs sagt, ein Teil der Berichte ist unhistorisch, wie hinsicht- lich der Wunder zu Bolsena und Wilsnack, ein Teil ist verdächtig durch krasse Auffassung des eucharistischen Leibes Christi; in einzelnen Fällen erklärt es die Wundermonade. Das häufige Auftreten der Wunder zur gleichen Zeit macht sie alle verdächtig. Was die Naturwissenschaftler über die Hostien- wunder, die durch die monas prodigiosa hervorgerufen seien, schreiben, ist fast durchweg ungemein kritiklos zusammengetragen.

12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Nicht bei einem Fall ist meines Wissens festgestellt, daß das Bluten der Hostien wirklich durch den Hostienpilz hervorgerufen sei, obwohl Kulturen des Hostienpilzes auf Kartoffelscheiben oder Weißei oder Oblaten die Möglichkeit deutlich zeigen. Bei den vielen Judenhinrichtungen wegen Hostienschändung, die z. B. Binz zusammenstellt, sind solche auch auf- gezählt, wo von einem Bluten der Hostien nirgends die Rede ist, so bei der Breslauer Judenverfolgung 1453, in die Joh. Capistranus verwickelt ist.

Bezeichnend ist, was nach Raynald (Annales VI. 125) Benedikt XII. 1338 betreffs eines Hostienwunders in einem Dorfe bei Passau an den Herzog von Österreich schreibt: man solle die Sache erst genau untersuchen, da erwiesenermaßen in diesem Punkte schon Betrügereien vorgekommen seien. Auch dem Bischof schrieb der Papst, er soll die Untersuchung mit Rück- sicht auf die bereits vorgekommenen Fälschungen führen und diejenigen kanonisch streng bestrafen, die schuld daran seien.

Franz Schmid hat diese eucharistischen Wundererscheinungen im Lichte der Dogmatik betrachtet.

Im allgemeinen wird man von derartigen Erzählungen sagen müssen: Es sind Legenden, sie gehören zur religiösen Erzählungsliteratur. Analoge Wundererzählungen finden sich auch in heidnischen Religionen. Sie treten so zahlreich auf, daß für ıhre Tatsächlichkeit im einzelnen Falle der genaue Nachweis zu erbringen ist. „Der Dogmatiker sieht sich ge- nötigt, derartigen Erzählungen ein starkes Mißtrauen entgegenzubringen‘ und zwar weil Jesu Leib in der hl. Eucharistie im verklärten und leidens- unfähigen Zustande gegenwärtig ist. Der eucharistische Leib des Herrn ent- hält kein tropfbar flüssiges Blut, kann nicht verwundet oder verletzt werden und somit auch kein Blut verlieren.

Wenn wirklich in einem Falle Blut an Hostien nachgewiesen wäre, dann ist das nicht Blut Christi, darf nicht wie das eucharistische Blut Christi angebetet oder verehrt werden. Es ist auch nicht zulässig, derartige Blutspuren den Spuren gleichzuachten, welche etwa verschüttetes eucharistisches Blut auf dem Korporale hinterläßt. Ist die Gestalt des Weines dort vertrocknet, so ist die Gestalt des Weines eben verschwunden, und die eucharistische Gegenwart des Herrn beendet.

Das sind alles Produkte der Legende. In manchen Fällen, z. B. in Wilsnack, kann man von Betrug reden. In den meisten nicht. Ein sicher nachgewiesener Fall von blutenden Hostien ist mir nicht bekannt. Die Legende wird nicht mehr, wie frühere vorurteilsvolle Zeiten das taten, als Priesterbetrug aufgefaßt, sondern als religiöse Dichtung, als volks- pädagogisches Mittel zur Stärkung im Glauben, zur Warnung vor Frevel.

So ist Wilsnack, so sind die von anderswoher berichteten und von frühern Zeiten geglaubten Hostienwunder auch, wenn auch nicht, wie man früher meinte, ein übernatürlicher Beweis für die reale Präsenz des Herrn

V. Abteilung. Sektion für katholische Theologie. 13

in der hl. Eucharistie, so doch ein schöner Beweis für den festen Glauben früherer Zeiten an dieses heilige Mysterium. Am 14. Februar hielt Pfarrer Dr. Schönfelder aus Mühlbock einen

Vortrag über Das älteste Pontifikale von Breslau.

Die Dombibliothek zu Breslau besitzt als älteste liturgische Hand- schrift ein Pontifikale aus dem 12 Jahrhundert, auf welches zuerst. Jungnitz in „Martin Gerstmann, Bischof von Breslau“, !) S. 324 hin- gewiesen hat. Auf der Innenseite des Vorderdeckels ist dieses Pontifikale als ‚Ordinarius pontificalis antiquus‘ bezeichnet. Als Einband ist bieg- sames Schafleder verwendet, und zwar in der Art und Weise eines Brief- taschenumschlages, der 25 em hoch, 57 cm lang und dreimal gefaltet ist, so daß der letzte, überstehende Teil des Leders auf den vorderen zurück- gelegt werden kann. Als Verschluß dienten drei Riemcehen, von denen jetzt nur noch die Stümpfe vorhanden sind. Die Ränder des Einbandes sind, um ein Einreißen desselben zu verhindern, mit einem schmalen Leder- streifen umsäumt worden. Infolge dieses handlichen Einbandes und des kleinen Formates von 21><15 cm eignete sich unsere Handschrift besonders für den Gebrauch auf den Amtsreisen des Bischofs. Leider ist eine be- trächtliche Anzahl von Blättern der Handschrift verloren gegangen. Von den jetzt noch vorhandenen 124 Pergamentblättern stammen Blatt 56—89 und Blatt 98—100 aus einem noch älteren, dem elften Jahrhundert an- gehörenden Exemplare. Diese älteren Bestandteile sind erst nachträglich in das vorliegende Buch hineingebunden worden. Dies geht daraus her- vor, daß auf Blatt 102 mit den Worten ‚Verte tres cartas et invenies‘ auf eine ÖOration verwiesen wird, welche sich nicht auf dem angedeuteten, sondern auf Blatt 51 findet. Drei Blätter, die jetzt als Blatt 53—55 be- zeichnet sind, müssen zwischen Blatt 29 und 30 eingeschaltet werden, da sie die Gebete ‚Ad capillos tondendos‘ entlialten, welche der auf Blatt 30 beginnenden ‚Ordinacio clericorum‘ vorherzugehen haben. Zur Zeit des Gebrauches waren die Blätter noch nieht numeriert. Daher heißt es bei Verweisungen auf schon mitgeteilte Texte nicht: „Suche auf Blatt so und so viel“, sondern: „Blättre so und so viele Blätter zurück“. Dem ent- sprechend sind auch die Rubrik ‚Retro in VII charta* und die Rand- bemerkung ‚Require in XX folio‘ zu übersetzen: „Suche den Text 7 bezw. 20 Blätter vorher“. Einige leergebliebene Blätter sind im 13. Jahrhundert mit Nachträgen ausgefüllt worden. Jede Seite hat 19 Zeilen in einer Kolonne. Miniaturen fehlen gänzlich. Dafür sind in dem aus dem elften Jahrhundert stammenden Teile, welcher die bischöflichen Benediklionen und die Glockenweihe enthält, vier Initialen in vortrefllichen Arabesken von grüner Farbe ausgeführt, während sonst die Anfangsbuchstaben rot sind. Die Schriftform sind große Minuskeln, in den Überschriften des

1) Breslau 1898.

14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

älteren Teiles aber Majuskeln. Neumen finden sich nur über einigen Antiphonen und Präfationen. Die Handschrift dürfte nicht in Schlesien entstanden sein, sondern aus dem Gebiete der Salzburger Kirchenprovinz stammen, mit deren Ritus unser Pontifikale am meisten übereinstimmt. Ich gehe nun zum Inhalt des Buches über.

1. Ordo poenitentium.

Unser Pontifikale beginnt, wie viele andere, mit dem ordo poenitentium, d. h. den’ Anweisungen und Gebeten, mittels deren der Bischof die öffent- lichen Büßer am Gründonnerstag wieder in den Schoß der Kirche aufnahm. Die feierliche Ausstoßung der öffentlichen Sünder, welche am Ascher- mittwoch erfolgte, wird in unserem Torso nicht beschrieben. Der Ritus der Wiederaufnahme ist folgender: Am Gründonnerstag hält der Archidiakon an den Bischof vor der Kirchentür eine mit den Worten ‚Adest o venerabilis pontifix‘ beginnende Ansprache, welche sckon im Gelasianum und auch heute noch im PR (Pontificale Romanum) steht. Nachdem der Bischof drei Versikel gebetet hat, fährt der Archidiakon, wie im heutigen PR, also fort- ‚Redintegra in eis etc‘. Hierauf sagt der Bischof: Venite, der Archidiakonus: Flectamus genua und nach erfolgter Kniebeugung: Levate. Dieses Herbei- rufen und Niederknieen der Büßer wiederholt sich noch zweimal. Beim zweiten Rufen sagt der Bischof zweimal: Venite, beim drilten dreimal. Die Büßer legen sich nun dem Bischof zu Füßen, der Klerus aber setzt die mit Venite beginnende Antiphon fort und schließt hieran den Ps. 33 an. Während dieses Psalmes übergeben die plebisani (= plebani, Pfarrer) die Büßer dem Archidiakon und dieser dem Bischof, welcher sie in die Kirche eintreten läßt, wo sie sich auf den Boden legen. Nun folgt die Antiphon ‚Cor mundum‘ mit Ps. 50, worauf sich der Bischof ebenfalls auf den Boden legt. Nachdem der Klerus die Litanei gebetet hat, erlıebt sich der Bischof und betet das Pater noster, mehrere Versikel und 16 Orationen. Dieser ganze Ritus steht wörtlich bei Gerbert, Monumenta veteris liturgiae Alemanicae, II, 27. 28, wo aber die 14. (Deus qui mundum in peccati fovea) und die 15. Oration (Domine sancte pater omnipotens rex regum) fehlen. Nun erteilt der Bischof die Lossprechung. Unser Kodex enthält zwei Formeln für die Mehrzahl von Büßern und zwei für die Einzahl und zuletzt eine für die Mehrzahl. Nur das letzte Gebet der zweiten absolutio pluralis hat die autoritative Form: ‚Nos.. . . absolvimus vos‘. Die übrigen sind deprekativ. Alle diese Lossprechungsgebete sind auch bei Gerbert a. a. O. abgedruckt, jedoch nicht in der richtigen Reihenfolge. Auch ver- wirrt Gerbert dadurch, daß er die Überschrift ‚Absolutio pluralis‘ in „Absolutio presbyteri‘ verdorben und die Überschrift ‚Absolutio singularis‘ gar nicht verstanden hat. Nach der Lossprechung besprengt der Bischof ‚die Büßer mit Weihwasser, beräuchert sie mit Weihrauch und ermahnt sie, die Sünde nicht zu wiederholen.

V. Abteilung. Sektion für katholische Theologie. 15

2. Ordo in coena Domini.

Dieser Ordo beschreibt zunächst ausführlich den Verlauf der feier- lichen bischöflichen Messe am Gründonnerstag. Vor den Worten ‚Qui pridie welche den Einsetzungsworten vorangehen, empfängt der Bischof das Öl, welches zur Salbung der Kranken und Besessenen dienen soll, weiht es aber in Gemeinschaft mit den. Priestern erst vor den Worten ‚Per quem haec omnia‘, und zwar durch den Exorcismus ‚Exorcizo te immunde spiritus omnisque‘ und die Benedietio ‚Emitte Domine spiritum‘. Bis hierher stimmt alles überein mit Gerbert a. a. O., S. 76 und 77. Nun folgt das Gebet ‚Domine qui studio salutis‘, welches hier die Überschrift Benedictio eiusdem olei ambrosiana‘, bei Gerbert, a. a. O,. I, 77 aber die Überschrift ‚Benedictio olei pro infirmis‘ trägt. Alsdann die Benedictio eiusdem olei ad omnem Janguorem quocumgne tempore, welche bei Gerbert, a. a. O., I, 76 abgedruckt und richtiger als exoreismus bezeichnet ist.

Dieses letztere Krankenöl konnte in jeder Messe geweiht und auch von den Laien, ja von dem Kranken selbst angewendet werden. Dieselbe Formel hat Adolph Franz, Kirchliche Benediktionen im Mittelalter, I, 345 mitgeteilt und ausführlich besprochen. Das folgende ‚Per quem haec omnia‘ hat nicht römische, sondern mailändische Fassung, ebenso der Übergang zum Pater noster, welcher entsprechend der alten ambrosiamschen Liturgie, welche von Magistretti, Monumenta veteris liturgiae Ambrosiana, I 103 veröffentlicht ist, folgendermaßen lautet: ‚Oremus. Ipsius praeceptum est, Domine, quod agimus, in cuius nunc praesentia postulamus: Da sacrificio auetorem suum, ut impleatur fides rei in sublimitate mysterri, ut sicut veritatem caelestis sacrifieii exequimur, sie veritatem dominiei corporis et sanguinis hauriamus. Per eundem Christum Dominum nostrum dicentes: Pater noster ete‘. Hier bezweckt also die Rezitation des Pater noster die Vollendung der Konsekration, eine Auffassung, die sich z. B. auch in einer alten bei Franz, Messe im deutschen Mittelalter, S. 411 abgedruckten Meß- erklärung findet. Diese sagt nämlich, daß das Pater noster der Messe ‚ad perfieiendum corpus‘ diene. Wir verstehen diese Auffassung, wenn wir bedenken, daß die alte ambrosianische Messe noch die Epiklese, zwar nicht die des hl. Geistes, aber die des Vaters hatte. Daher heißt es in dem von Magistretti a. a. O. I, 102 veröffentlichen ambrosianischen Meßkanon nach den Einsetzungsworten: ‚Tuum est, omnipotens Pater, mittere nune nobis unigenitum Filium tuum‘.

Das Krankenöl wird nach der Reihe an seinen Aufbewahrungsort gebracht und die Messe fortgesetzt, gemäß den Anweisungen, welche sich wört- lich auch bei Gerbert, a. a. O. Il, 77 finden. Aufdie Kommunion des Bischofs folgt die Weihe des Chrisma, wiederum nach demselben Ritus, der bei Gerbert a. a. O. II, 77, f. steht. Nur schiebt unser Kodex zwischen der Vermischung des Balsams mit dem Öle und zwischen dem Exoreismus, welcher über das Chrisma gesprochen wird, die Worte ein, welche bei

16 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

dieser Vermischung gesprochen werden (Haec commixtio liquorum etc.) und die Oratio super utrumque balsami et olei: ‚Oremus Dominum nostrum omnipotentem qui incomprehensibilem etc.‘, welche auch im heutigen PR stehen. Das geweihte Christma wird vom Bischof und den Priestern geküßt, alsdann mit einem Tuche verdeckt und von den übrigen geküßt und schließlich an seinen Aufbewahrungsort gebracht. Unmittelbar darauf weiht der Bischof das oleum catechumenorum, und zwar auf die von Gerbert a. a. O. II, 78 f. angegebene Art und Weise. Zum Schluß werden die neuen hl. Öle mit den etwaigen alten vermischt und an die Priester verteilt. 3. Ad capillos tondendos.

Unsere Handschrift enthält für die erste Haarschur der Knaben nur eine einzige Oration, und zwar die dritte der von Franz, Kirchliche Benediktionen ]I, 250 mitgeteilten. Diese Zeremonie hatte den Zweck, die Knaben unter den besonderen Schutz Gottes zu stellen.

4. Ad clericum faciendum.

Bei Aufnahme in den geistlichen Stand werden hier vier Orationen gebetet. Die beiden ersten (Oremus dilectissimi und Adesto) stehen bei Gerbert a. a. ©. II, 44 f., die dritte und vierte (Omnipotens s. D. exaudi nos et da, ut ab omni servitute und Praesta quaesumus o. D. huie famulo duo N. cuius hodie) a. a. O. I, 256 f. Zwischen der zweiten und dritten Oration sind die Antiphonen u. der Psalm eingeschaltet, welche während des Tonsurierens gebetet werden und von Franz, Kirchliche Benediktionen II, 251 f. aus dem ältesten handschriftlichen Breslauer Rituale s. XIV. veröffentlicht sind.

5. Ad barbam tondendam.

Ebenso wie die oben erwähnte Haarschur wurde auch die erste Bart- schur mit einer kirchlichen Feier verknüpft. Die Zeremonie wurde aber allmählich auf die Mönche und Kleriker beschränkt und ist schließlich auch von diesen nicht mehr geübt worden. Unser Pontifikale enthält hier- für drei Orationen. Die erste ‚Deus cuius providentia‘ steht bei Franz a. a. O. Il, 254. Auf diese Oration folgen die Antiphonen und der Psalm, welche bei Martene, De antiquis ecclesiae ritibus Il, 499 !) für die Er- teilung der Tonsur verwendet werden. Die zweite Oration ‚Deus qui . ecelesiam‘ findet sich ebendort II, 444. Die letzte beginnt mit den Worten: ‚Domine s. p. omnipotens aeterne Deus cunctorum creator‘.

6b. Ordinatio elericorum. Am Eingange steht die Anweisung, wie die Östiarier, Lektoren, Exoreisten und Akoluthen ausgewählt und namentlich aufgerufen werden. Sie stimmt mit derjenigen überein, welche Martene a. a. O. II 398 f.

1) Roiomagi 1700.

V. Abteilung. Sektion für katholische Theologie. 17

aus einem Salzburger Pontifikale abgedruckt hat. Nun folgen die Ein- führung der Psalmisten und die Weihen der Östiarier, Lektoren, Exoreisten und Akoluthen. Die betrefienden Rubriken und Gebete sind fast dieselben wie bei Martene, a. a. O. II, 426—428. Diese Weihen werden erteilt, indem der Bischof den Ordinanden das den betrefienden Ordo cha- rakterisierende Symbol, also die Schlüssel, das Lektionar, die Exoreismen- sammlung oder das Kännchen überreicht und zwei Gebete spricht, deren erste ‚praelatio‘ und deren zweite ‚benedietio‘ genannt wird. Die praefatio ist eine Aufforderung zum Gebet, die benedietio aber dieses Gebet selbst. Nun folgt die Anweisung, wie die Priester, Diakone und Subdiakone aus- zuwählen sind. Sie stammt aus dem Gregorianum (Migne 78, 220 f.), wo sie sich aber nur auf Priester und Diakone bezieht. Die Weihe der Subdiakonen entspricht dem Formular des Gregorianum (Migne 78, 219), ist aber am Schlusse erweitert, indem der Bischof die mappula (manipulus) mit den Worten überreicht: ‚Investione harum mappularum subnixe ete,‘* Diese Formel ist abgedruckt bei Martene a. a. O. S. 447, wo aber die Anfangsworte abweichen. Die Weihe der Diakoneu und Priester ist dieselbe wie bei Martene a. a. O0. S. 447 f. Nun schließen sich die Meßgebete an, welche der Bischof bei der Priesterweihe verrichtet und auch Martene a. a. OÖ. S. 354 f. abgedruckt hat. Ferner die aus dem Gelasianum (Wilson, S. 149 f.) stammenden Meßgebete am Jahrestage der Diakonats- und Priesterweihe. Die Bischofsweihe aber fehlt in unserer Handschrift gänzlich.

7. Benedictiones episcopales,

Bis zur allgemeinen Einführung des römischen Pontifikale vom J. 1596 war es ein den Bischöfen eigentümlicher Gebrauch, vor dem Agnus Dei der feierlichen Messe einige Segensgebete über das Volk zu sprechen, Diese Gebete bestanden aus drei für den betreflenden Tag verfaßten Segenssprüchen und einem stets gleichlautenden Schlußgebete, auf welches die trinilarische Segensformel folgte. Der Ritus war folgender. Nachdem der Bischof die hl. Hostie in drei Teile gebrochen halte, legte er nicht nur die zwei größeren Teile, sondern nach den Worten ‚Qui tecum vivit ete.‘ auch noch den dritten Teil auf die Patene. Der Diakon wandte sich nun an das Volk mit der Aufforderung: ‚Humiliate vos ad benedictionem‘“, Alsdann nahm der Bischof Mitra und Hirtenstab und sang die Segens- gebete, indem er die rechte Hand gegen das Volk erhob und zuletzt das Kreuzzeichen über dasselbe machte. Hierauf legte er Mitra und Stab ab und setzte die Messe fort, indem er mit dem kleinen Teile der Hostie drei Kreuze über den Kelch maclıte. Diese benedictiones episcopales, welche schon Augustinus (Migne 33, 701 und 775) erwähnt, waren in Rom verpönt, obschon sie in einige vortridentinische Ausgaben des PR anhangs- weise aufgenommen wurden. Außerhalb Roms aber waren sie im ganzen

1910. 2

18 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Gultur.

Abendlande üblich, selbst im ambrosianischen, gallikanischen und moza- rabischen Ritus. Noch heute sind sie, wie Duchesne !) bemerkt, im Gebrauche der Kirche von Lyon. In manchen Handschriften werden diese Benediktionen an den betreffenden Tagen und Festen des Kirchenjahres ein- geschaltet, z. B. in dem Gregorianum, welches in die Patrologie von Migne, Band 78, aufgenommen ist. In unserem Pontifikale und in anderen Handschriften und Drucken bilden sie einen besonderen Abschnitt und sind nach dem Laufe des Kirchenjahres geordnet. Sie beginnen hier mit der Vigilie von Weihnachten und enden mit der Oktave von Pfingsten, worauf die Benediktionen für die Heiligenfeste von Nativitas s. Johannis bis St. Martin, für das Commune sancetorum, den 2.—25. Sonntag nach Pfingsten, die 4 Adventssontage und etliche Votivtage, sowie einige Nach- träge folgen. 8. Firmung.

Die Firmungsgebete, denen in unserer Handschrift die Überschrift und die Rubriken fehlen, bestehen aus der Oralion ‚Omnipotens sempiterne Deus qui regenerare‘, der Formel ‚Confirmo te in nomine p. et f. et ss. Amen‘ und drei kürzen Segensgebeten, von denen die beiden ersten auch im heutigen PR vorkommen. Die erwähnte Oration ‚Omnipotens ete.‘ ist im PR durch die Einschaltung von 4 Amen eindrucksvoll gegliedert worden.

9. Benedictiones vestimentorum sacerdotalium.

Für die Weihe der priesterlichen Gewänder werden auf Bl. 90 £. drei Orationen mitgeteilt, auf welche ich in Abschnitt 13 zurückkommen werde. Die ursprünglich leergebliebene Rückseite von Bl. 91 enthält als Nachtrag eine benedictio piscium, welche Franz, Kirchliche Benediktionen I, 587 abgedruckt hat.

10. Benedictio campanae.

Die Glockenweihe beginnt mit der ÖOration ‚Benedie Domine hanc aquam‘ und den Psalmen 145—150. Während derselben wird die Glocke init Weihwasser, welchem Öl und Salz beigemischt ist, gewaschen. Nach der ÖOration ‚Deus qui per Moysen legiferum‘ trocknet der Bischof die Glocke unter Rezitierung von Ps. 28, 3 fi. ab und salbt sie mit Chrisam, und zwar von außen siebenmal und von innen viermal, und spricht hier- bei: ‚Sanctificetur hoc vas in nomine patris etc‘. Im PR jedoch wird bei der Außensalbung Krankenöl verwendet. Nach der Oration ‚Omnipotens sempiterne Deus qui ante arcam‘ legt der Bischof Thymian, Weihrauch und Myrrhe in das Rauchfaß und stellt es unter die Glocke, mit denselben Worten, wie im heutigen PR. Den Schluß bildet die Oration ‚Omnipotens dominator‘. Alle hier erwähnten Orationen stehen noch im heutigen PR.

1) Origines du culte chretien, II. Aufl. S. 212.

=

V. Abteilung. Sektion für katholische Theologie. 19

ll. In purificatione s. Mariae. Benedictio cerei.

Von der Kerzenweihe sind in unserem Pontifikale nur die zwei ersten Örationen ‚Erudi‘ und ‚Sancta Maria‘ erhalten geblieben. Letztere wird in anderen liturgischen Büchern zur Kräuterweihe verwendet. Den Text beider Orationen bietet Franz a. a. O. I, 446 und 403.

12. Ordo ad benedicendam ecclesiam.

Die Kirchweihe hat folgende Bestandteile:

1. Litanei und Wasserweihe an dem Orte, wo die Reliquien in der Nacht vorher aufbewahrt wurden. 2. Erhebung der Reliquien; Zug nach der neuen Kirche. 3. Ein Diakon, in die Kirche eingeschlossen, zündet 12 Kerzen an den Wänden an; der Bischof betet an der Tür die Oration ‚Deus qui paterna‘. 4. Dreimal: Umzug um die Kirche und Pochen an die Türe. 5. Einzug in die Kirche, Litanei und Oration ‚Magnificare‘. 6. Griechisches und lateinisches Alphabet. 7. Weihe des Wassers, welches mit Salz, Asche und Wein vermischt wird; Lustration des Altares und der Kirche. 8. Konsekration des Altares mit hl. Öl und Chrisam; Konsekration der Kirche durch die Chrisamsalbung von 12 Stellen der Wand und durch die dazu gehörigen Orationen. 9. Übertragung und Einsetzung der Reliquien; Salbung und Bekleidung des Altares. 10. Messe.

13. Consecratio vestimentorum et utensilium ecelesiae.

Unsere Handschrift bringt auf Bl. 90 für die Weihung der priester- lichen Gewänder drei Örationen: ‚Ömnipotens s. D. qui per Moysen famulum tuum pontificalia‘, ‚Domine Deus Pater omnipotens rex et magnifieus triumphator‘ und ‚Da quaesumus clementissime Pater in quo vivimus.‘ Der Nachtrag auf Bl. 123 u. 124 enthält unter obiger Überschrift vier Örationen, nämlich noch einmal die soeben erwähnten Örationen ‚Domine Deus Pater‘ und ‚Omnipotens s. Deus‘ und zwei weitere: ‚Deus invietae virtutis auctor et omnium creator‘ und ‚Domine Deus omnipotens sicut ab initio‘. Hier sind auch die Weihungen der Kelche, Eucharistie- gefäße und Korporalien zu erwähnen, welche auf Bl. 97 stehen. Sie beginnen mit den Worten: ‚Dignare Domine calicem,‘ ‚Ömnipotens sempi- terne Deus manibus‘ und ‚Ömnipotens s. D, benedie linteamen istud.‘

14. Benedictio anuli.

Der Volksglaube schrieb den goldenen Ringen eine apotropäische Kraft zu. Man vergleiche hierüber Franz a. a. O. ll, 256. Unser Pontifikale enthält als Einschiebsel auf Bl, 52 eine Weihe solcher Ringe, die der Weihe des Bischofsringes (Migne 78,498) nachgebildet ist. Die Schlußworte der letzteren sind in der vorliegenden Formel sinngemäß um- geändert in: ‚ut armatus virtute caelestis defensionis proficiat omnibus se ferentibus ad aeternam salutem‘.

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30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

15. Kreuzweihe.

Ohne Überschrift sind am Schlusse unserer Handschrift drei Orationen nachgetragen. Ihr Zweck ist die Weihe jener Kreuze, welche an den Wegen oder auf den Feldern als Schutz der Saaten aufgestellt wurden. Die erste Oration beginnt mit den Worten ‚Rogamus te Domine,‘ !) die die zweite ‚Benedic Domine [hanc] crucem‘ und die dritte ‚Sanctifica Domine‘ stehen auch bei Franz a. a. O. II, 13 und im alten Lübecker Benediktionale, die vierte ‚[Vere dignum] aeterne Deus cuius sanctum et terribile nomen‘ in dem Pontifikale der Breslauer Dombibliothek vom Jahre 1435.

Soweit der Inhalt des ältesten Pontifikales von Breslau. Zu bedauern bleibt, daß einige Teile von ihm verloren gegangen sind. Wir bemerkten bereits, daß von der Kerzenweihe nur der Anfang noch vorhanden ist. Gänzlich fehlen die Weihen der Jungfrauen, Witwen, Äbte, Äbtissinnen, Bischöfe, Könige und Königinnen, welche in anderen Pontifikalien vor- kommen.

Am 9. März sprach Pfarrer Dr. Fink aus Strehlen über

den Vatikan.

Der Redner legte in seinem Vortrage die Bau- und Kunstgeschichte des Papstpalastes bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts ausführlich dar.

Am 19. April sprach Präfekt Dr. Strehler aus Neiße über

Eduard von Hartmanns System der Ethik.

Der ausführlichen Darlegung des Systems, die ständig mit kritischen Anmerkungen verknüpft war, folgte eine prinzipielle Auseinandersetzung mit den ethischen Grundsätzen Hartmanns. Auch das Wertvolle in Hart- manns Ethik, welche sonst in vielen Punkten eine energische Ablehnung ° herausfordert, hob der Vortragende hervor. Die architektonischen und konstruktiven Elemente dieses Moralsystems veranschaulichte der Redner durch eine schematische Zeichnung. An den Vortrag knüpfte sich eine lange und lebhafte Debatte.

Am 10. Mai sprach Pfarrer Herrmann aus Mochbern über

Die via crucis in Jerusalem, ihre Topographie und Geschichte.

In derselben Sitzung widmete der zweite Sekretär der Sektion, Erz- priester Dr. Bergel, dem verstorbenen Begründer und ersten Sekretär der Sektion, Prof. Dr. August Nürnberger, einen warm empfundenen Nach- ruf. Als erster Sekretär wurde durch Zuruf Professor Dr. J. Nikel gewählt.

Am 31. Mai unternahm die Sektion einen Ausflug nach Domanze, woselbst das Schloß und die katholische Kirche besichtigt wurde.

1) Abgedruckt in dem von Wilson herausgegebenen Benedictionarius Roberti Archiepiscopi, S. 107. (London 1903.)

V. Abteilung. Sektion für katholische Theologie. 21

Am 1. Juli sprach Prof. Dr. J. Nikel über

Die neueste Bestreitung der Geschichtlichkeit Jesu und ihre babylonischen Grundlagen. Der Vortrag ist abgedruckt im „Heliand‘“‘ (Monatsschrift zur Pflege religiösen Lebens für gebildete Katholiken, Paderborn bei Ferdinand Schöningh, 2. Jahrg., 1., 2. u. 3. Heft).

Am 10. November sprach Religions- und Öberlehrer Hermann Hoffmann aus Breslau über das Thema: Missionswesen und Missionswissenschaft. So habe ich mein Thema formuliert, um anzudeuten, daß ich theoretische und praktische, wissenschaftliche und pastorale Fragen be- sprechen möchte.

Gegenüber denen, die Christus dem Herrn seine göttliche Würde nehmen und das unter andern damit begründen, daß er irrtumsfähig gewesen sei, daß er sich z. B. geirrt habe bezüglich seiner Parusie, wird Jesu Missionsbefehl am Ende seines Erdlebens immer einen eindrucks- vollen Gegenbeweis abgeben: „Gehet hin und lehret alle Völker“ (Mt. 28. 19). In diesen Worten des Herrn liegt die Missionspflicht der Christen und das Recht der Heiden auf Verkündigung des Evangeliums begründet. Diese Pflicht der Christen ist eine allgemeine, nicht beschränkt auf die Berufs- missionare. Wir alle ohne Ausnahme haben die Pflicht der Anteilnahme am Missionswerk der Kirche durch Gebet, durch Beiträge, durch Anteil- nahme, durch Freude an ihren Erfolgen, und wir Priester durch Weckung des Missionsinteresses bei den Gläubigen in der Schule, auf der Kanzel, in Vereinen, „So haben wir die Pflicht uns solcher anzunehmen, die um seines Namens willen ausgezogen sind, damit wir Mitarbeiter der Wahrheit werden‘ (3 Joh. 5).

Die Tatsache, daß von drei Menschen nur ein einziger Christ ist, daß jährlich 84 Millionen ungetauft sterben, daß 120 Millionen Menschen existieren, an die missionarische Arbeit überhaupt noch nicht herangekommen ist, diese Tatsachen dürfen uns nicht kalt lassen.

Und wenn ich auch der festen Meinung bin, daß pastorale Praxis und theologische Wissenschaft ihre Pflicht gegenüber der Mission bisher nicht erfüllt haben, so läßt sich doch mit Freuden sagen, es wird besser; Gott sei es gedankt, das Interesse an den Missionen steigt.

Und das Jahr 1910 ist für die Entwicklung der Missionen von be- sonderer Bedeutung. In diesem Jahre haben drei Versammlungen statt- gefunden, die dem Missionsinteresse gewaltigen Vorschub leisten werden: Die erste Weltmissionskonferenz in Edinburg, der Missionstag auf der Generalversammlung der Katholiken Deutschlands in Augsburg und der Kolonialkongreß in Berlin.

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1. Die Weltmissionskonferenz zu Edinburg hat vom 14.—23. Juni getagt. Sie ist auf katholischer Seite wenig beachtet worden, Berichte brachten u. W. nur die Stimmen aus Maria-Laach und der „Heliand‘“ 1), An der Konferenz nahmen teil 1200 Delegierte, 3000 sonstige Teilnehmer, 160 Kirchen und Missionsgesellschaften waren vertreten, König Georg war Protektor, Adel und Geistlichkeit, Weiße ‘und Farbige, Missionare, Professoren, Frauen, alles war vertreten. Aus Deutschland waren u. a. an- wesendRichter undWarneck, die beiden bekanntestenprotestantischen Missions- schriftsteller, Karl Meinhof der Professor für Kolonialsprachen am Hamburger Kolonial-Institut, Geh. Kirchenrat Prof. Dr. Mirbt, der am eben genannten Institut als erster Vorlesungen über Missionswesen gehalten hat. Der König von England sandte ein langes Telegramm, ebenso das deutsche Kolonialamt, ebenso Theodor Roosevelt, welcher es bedauerte, nicht persönlich als Delegierter teilnehmen zu können. Die Bedeutung des Kongresses darf nicht unterschätzt werden, die Begeisterung war großartig, zum erstenmal war der ganze Protestantismus der ganzen Welt vereinigt. Kein Wunder, wenn die Teilnehmer an ein neues Pfingsfest, an ein ökumenisches Konzil dachten. Allerdings ohne zwei Drittel der Christenheit, ohne Katholiken und ÖOrthodoxe. Zur Kennzeichnung des Geistes, der auf der Konferenz herrschte, seien aus der Eröffnungsrede des Erzbischofs von Canterbury, des ersten Geistlichen im Britischen Reiche, folgende Worte angeführt: „Es ist mir unbegreiflich, warum die Christen in den ver- gangenen Jahrhunderten sich so wenig um die Mission gekümmert haben. Doch Gott der Allmächtige herrscht! Er hat unsere Vorfahren geleitet, wie wir glauben, daß Er uns leitet. Die jetzige Zeit, darüber besteht kein Zweifel, ist die von Gott bestimmte.

Die Schwierigkeiten, die uns entgegentreten sind diese: Wie können wir europäisches Leben und Wissen in den Osten bringen? Die europäischen Völker haben Reichtum und Luxus zu ihrem Gott gemacht, und diese wollen ihnen die frohe Botschaft bringen? Die Lauheit und Lässigkeit so vieler, die sich Christen nennen. Wollen wir Erfolg haben, so müssen wir dieselben aufwecken; sie müssen fühlen und verstehen lernen, daß es keinen anderen Namen gibt, in welchem das Heil und die Erlösung zu finden sind, als nur in dem Namen unseres Herrn und Heilandes Jesus Christus. Nur die Überzeugung von dem, was wir Gott . schuldig sind für Seine große Gabe, Seinen Sohn, ist es, die uns stärken und beleben kann zum Kampf, dessen Ausgang aber nicht unser, sondern des Herrn ist.

Das aber, Brüder und Schwestern, bedeutet Anstrengung, das bedeutet Opfer, die unser Herr von uns fordert; das bedeutet einen Mut, den Tausende von unseren zaghaften, verschlossenen Menschen nicht haben.

1) Religiöse Monatschrift für gebildete Katholiken, Paderborn. 2. Jahrg. Heft 1.

V. Abteilung. Sektion für katholische Theologie. 33

Unsere Aufgabe ist es, sie zu stärken und zu beleben. Gott wird uns den Weg dazu zeigen. Davon aber seid überzeugt, daß die Mission das Zentrum der Kirche werden muß. Darauf kommt es an. Und das laßt uns beherzigen, darauf unsere Politik richten, dafür beten und dann ja, es stehen vielleicht hier einige, die den Tod nicht schmecken werden, die den Herrn in Seiner Herrlichkeit kommen sehen werden... .“

Bischof Brent von den Philippinen berichtete, daß er gerade vor seiner Abreise einen Methodisten auf der Kanzel vertreten, ohne Buch gebetet und ohne Manuskript gepredigt habe. Das ist für einen englischen Bischof etwas Großes. Er führte weiter aus:

Die Katholische Kirche stehe allein, er bäte die Protestanten, sich den Katholiken zu nähern und sie als wahre, aufrichtige Christen zu behandeln; aufbauen sollten sie, aber nicht zerstören, doch wenn zum Kampfe auf- gefordert, möchten sie auch ehrlich kämpfen. „Was nützt es, sagte der Prinzipal of the Baptist Kollege in Delhi, wenn hier zu Reue und Buße gemahnt wird wegen unserer Trennung und doch weiter nichts dar- aus folgt?

Die Pflicht unserem Herrn gegenüber ist die, unsere Kräfte zusammen- zuziehen, um gegen die ungeheuren Mächte der Finsternis zu kämpfen.

Vor allen Dingen laßt alle Bilterkeit ferne von euch sein, denn wenn die nicht da ist, schaden Meinungsverschiedenheiten nicht viel.“

An jeden Tage wurden die Verhandlungen auf eine halbe Stunde unterbrochen, die dem Gebete gewidmet war. Und die Gebetstunde des letzten Tages galt der großen heiligen Bitte des Herrn aus seinem hohen- priesterlichen Gebet: daß alle eins seien.

Zur Begründung der auf der Konferenz herrschenden Zuversicht seien einige Zahlen angeführt. Man schätzt die Höhe der Missionsalmosen auf protestantischer Seite jährlich auf 103%, Millionen Mark, wovon 42 Millionen auf Amerika und 39 Millionen auf Großbritannien entfallen. Zum Vergleich sei daran erinnert, daß die Jahreseinnahme des Vereins zur Verbreitung des Glaubens 6400000 Fres. und die des Kind- heit - Jesu - Vereins 3300000 Fres. betragen. Missionspriester aus dem Westen zählte man in den protestantischen Missionen 5522, eingeborne Missionspriester 5045, nichtordinierte Missionshelfer aus dem Westen gab es 13758, nichtordinierle eingeborne Missionshelfer 92918. Man zählte in den Missionsschulen 1200000 Schüler, 155000 Mittelschüler und 3000 eingeborne Theologiestudierende. Man hatte 88 Aussälzigenhäuser. Es gab 2 Millionen Kommunikanten und 5 Millionen Anhänger. Die Missionsapotheken wurden 4 Millionen mal beansprucht. Diese Zahlen mögen zugleich das katholische Vorurteil von der Unfruchtbarkeit der protestantischen Missionen zerstören und ausrotten helfen. Das war ein- mal, ist aber nicht mehr.

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Die Stellung der Konferenz zur katholischen Mission war eigentümlich. Die oben mitgeteilten Äußerungen waren doch vereinzelt. Die Anglikaner, die Hochkirchler, würden sicherlich gern mit den Katholiken zusammen- getagt haben; in ihren Zeitschriften wird ja z. B. dem Erzbischof von Canterbury der Vorwurf gemacht, er habe durch seine Teilnahme seinen katholischen Standpunkt preisgegeben. Auf dem Kongreß war christlich gleichbedeutend mit protestantisch man schien überhaupt nur eine protestantische Mission zu kennen, z. B. wenn man sagte, in China seien 250000 Christen vorhanden; nun gibt aber es dort allein über eine Million katholischer Christen. Vom Altertum und Mittelalter und seiner Missions- arbeit wurde viel gesprochen; aber von den herrlichen, glänzenden Leistungen der katholischen Mission im 16. und 17. Jahrhundert, von der erfolgreichen, der kolonisatorischen Tätigkeit katholischer Großmächte, namentlich Portugals und Spaniens, parallel laufenden Missionsarbeit der Jesuiten, Franziskaner, Dominikaner, Karmeliter u. a. war nicht die Rede. Das kommt freilich z. T. auch daher, daß wir Katholiken davon leider selber so wenig wissen. Und diese Ruhmestaten der katholischen Mission wieder ins helle Licht zu setzen, diese Schätze zu heben und allgemein bekannt zu machen, wird eine der dringendsten Aufgaben der gleich zu er- wähnenden neu aufsteigenden katholischen Missionswissenschaft sein.

2. Daß auf der Generalversammlung der Katholiken Deutsch- lands zu Augsburg die Missionssache einen so hervorragenden Platz an- gewiesen erhalten hat, ist nur möglich gewesen durch die Arbeit des Breslauer Katholikentages 1909, der in der Geschichte des katholischen Missions- wesens in Deutschland einen Markstein bildet. Hier hat Fürst Löwenstein seine herrliche Rede über das Missionswesen gehalten und damit Missions- begeisterung in weite Kreise getragen. Auf dem Breslauer Katholikentage wurde folgende Resolution angenommen:

„Die 56. Generalversammlung der Katholiken Deutschlands erinnert eindringlich an die bedeutungsvolle Stellung, welche die Bekehrung der Heiden in dem Heilswerke der Kirche nach dem Willen ihres göttlichen Stifters einnimmt. Mit besonderen Nachdruck richtet sie die Aufmerksam- keit der deutschen Katholiken gerade in dieser Zeit auf das Wirken der Missionen, in der die vollendete Aufteilung der unzivilisierten Gebiete der ‚Erde unter die christlichen Staaten und das wieder erwachende National- gefühl der heidnischen und mohammedanischen Kulturvölker die religiöse Zukunft der Heidenländer zur Entscheidung bringt. Auch weist sie auf die Tatsache hin, daß die hohen Ziele wahrer Kulturarbeit in den Kolonien ohne die ungehinderte Mitwirkung der Missionare nicht erreicht werden können. Sie empfiehlt daher dem tatkräftigen Wohlwollen der deutschen Katholiken alle Werke, welche der Ausbreitung des hl. Glaubens dienen, die Missionshäuser, die ihre Mitglieder als Apostel in die

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heidnische Welt aussenden, und die Vereine, deren Gebete und deren Geldmittel die Erhaltung und Ausbreitung der Missionen bezwecken.

Die 56. Generalversammlung spricht der opfervollen und erfolgreichen Tätigkeit der Missionsgesellschaften hohe Bewunderung, den Vereinen auf- richtigen Dank und volle Annerkennung aus. Sie nennt von diesen be- sonders den Verein für die Verbreitung des Glaubens (Franziskus- Xaverius-Verein), den Kindheit-Jesu-Verein, den bayrischen Ludwig-Missions- Verein und die Missionsvereinigung katholischer Frauen und Jungfrauen, welche alle Missionen gleichmäßig unterstützen, sowie den Afrikaverein deutscher Katholiken und die St. Petrus-Xaver-Sodalität, deren Wirksam- keit bestimmte Gebiete umfaßt. Sie erwartet, daß die Katholiken Deutsch- lands weit mehr noch als bisher diese Vereine fördern und unterstützen werden.“

An dieser Resolution war bemerkenswert 1. die Begründung: das Vor- dringen des Islam und des Buddhismus; unsre sittliche Pflieht an unsern Kolonien; Frankreichs Ausscheiden von der ersten Stelle der Missionsförderer. 2. die Einheitlichkeit. Es war das erste Mal, daß auf einem Katholiken- tage alle Missionsgenossenschalten und alle Missionsvereine in einer gemein- samen Resolution empfohlen wurden.

Das dauernd Wertvolle, was der Breslauer Katholikentag für die Missionen geleistet hat, war aber die Begründung eines ständigen Missions- ausschusses des Zentralkomitees der Generalversammlungen der Katholiken Deutschlands unter dem Vorsitze des Fürsten Löwenstein. Dieser Missions- ausschuß hat es durchgesetzt, daß auf dem Augsburger Katholikentage ein ganzer Tag der Missionsfrage gewidmet wurde. Professor Beck-Freiburg i. Schw. sprach über innere Mission, Abt Norbertus O. S. B. von St. Ottilien über äußere Mission und ebenso Professor Meyers-Luxemburg. Namentlich die Rede des sympatischen Abtes Norbertus war hinreißend.

Und auf diesem Katholikentag hat auch der Missionsausschuß eine wichtige Sitzung gehalten. Ehe ich aber von dessen Tätigkeit zusammen- hängend berichte, will ich von der dritten Veranstaltung berichten, die für Missionen so wichlig ist, vom

3. deutschen Kolonialkongreß, der am 6, 7. und 8. Oktober 1910 in Berlin im Reichstage getagt hat, von Missionaren und Missions- freunden stark besucht war, mit der Mission sich viel beschäftigt hat und der Mission reiche Förderung zu bringen berufen ist. Der Kongreß war hochinteressant und lehrreich in jeder Beziehung, vorzüglich vorbereitet und organisiert, vielseitig in seinen Darbietungen.

Auf dem Kongreß haben sieben evangelische und drei katholische Geistliche Vorträge gehalten. In den Plenarversammlungen kam nur ein Geistlicher zu Worte Pfarrer D. Richter, der über das Problem der Neger- seele und den sich daraus für die Entwickelung des Negers ergebenden Folgerungen sprach. Es hat sich ja jetzt Gott sei Dank in der Auffassung

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von der Kulturfähigkeit des Negers ein allgemeiner Umschwung vollzogen. Die Zeiten, wo dem Neger jede Bildungsmöglichkeit abgesprochen wurde, sind vorüber. Der verewigte Bischof Schneider von Paderborn, der schon 1885 über die Kulturfähigkeit des Negers schrieb, u. a. haben nicht um- sonst gekämpft. Jetzt wissen wir, welch eigenartig entwickelte Sprachen die Neger sprechen, welche tiefsinnige Poesie sie besitzen, jetzt sagen uns Gelehrte, daß manche Negerstämme ums Jahr 1000 an Kultur kaum hinter den Deutschen zurückstanden, jetzt ist es wahrscheinlich geworden, daß die Technick der Eisenschmelze nicht bloß unabhängig von den Negern erfunden worden ist, sondern auch uns von ihnen überkommen ist. Kurz die Anschauungen über die Entwicklungsfähigkeit des Negers sind heute ganz andere als vor einem Menschenalter. Dieser Umschwung der Stimmung kommt auch der Bewertung der Missionsarbeit zugute. Es ist doch eine Leistung allerersten Ranges, daß in unseren Kolonien in etwa 2000 Missionsschulen gegen 190000 Kinder unterrichtet werden, eine Leistung, die in dem ersten Vortrag des Kongresses, den Schinckel, der Präses der Handelskammer Hamburg, über die Kolonialwirtschaft als Ergänzung der heimischen Volkswirtschaft hielt, volle Anerkennung fand. Es war unstreitig einer der Höhepunkte des ganzen Kongresses, als dieser Redner unter deın Beifall der ganzen Versammlung nach dem Hinweis, daß wir die Bedürfnislosiekeit des Negers zur Genußfähigkeit umwandeln, erklärte: „Nicht der Materialismus mit seinen öden Diesseitsinteressen, nicht der Buddhimus mit seiner lähmenden Resignation, nicht der Islam mit seiner Kulturfeindlichkeit, sondern einzig und allein die Religion der aufopfernden Liebe kann das eingeborene Volk heben und die Bedürfnisse, die wir wecken, stillen.“

Von den sieben Sektionen des Kongresses beschäftigle sich die vierte mit den religiösen und kulturellen Verhältnissen der Kolonien und über- seeischen Interessengebiete. Das große Interesse, das die Teilnehmer des Kongresses am Missionswesen nahmen, zeigte sich äußerlich schon darin, daß diese vierte Sektion den zahlreichsten Besuch aufwies und demgemäß auch den größten Saal zugewiesen erhalten hatte. Die Sektion widmete einen ganzen Tag der Behandlung der Islamfrage bezw, Islamfragen.

Missionsinspektor Axenfeld sprach über die Ausbreitung des Islam in Afrika und ihre Bedeutung für die deutschen Kolonien dort selbst, Prof, Dr. Becker vom Kolonialinstitut in Hamburg behandelte Staat und Mission in der Islampolitik, während P. Hansen die Frage erörterte: „Welche Auf- gaben stellt die Ausbereitung des Islam den Missionen und Ansiedlern in den deutschen Kolonien?“ Schließlich behandelte den Islam auch der Vor- trag des Provinzials der weißen Väter, P. Froberger, der am letzten Tage die Polygamie und deren kulturelle Schädigungen behandelte. Im Westen Afrikas dringt der Islam von innen, im Osten von Asien herein. Nicht religiöse, sondern soziale Umstände breiten den Islam aus, nicht seine

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religiöse Kraft, sondern die günstige Situation. Der Islam ist in der unvergleichlich günstigen Lage, Propaganda treiben zu könren ohne Polemik, er braucht den Negern fast nichts zu nelımen, er läßt ihnen ihren Ahnenkult, ihre Vielweiberei. In unserem Menschenalter entscheidet sich die religiöse Zukunft Deutschostafrikas, vielleicht ganz Afrikas. Die Islamisierung unserer Kolonien ist nicht unabwendbar, das ist Übertreibung, Uganda z. B., das so gefährlich zwischen dem beiden islamischen Angrifis- flächen liegt, hat sicherlich eine christliche Zukunft. Der islamisierte Neger ist nicht für das Christentum verloren, das ist Übertreibung. Die Islamisierung hemmt die Kultur und gefährdet die europäische Herrschaft, denn der Neger sieht zum Weißen herauf, der Moslem verachtet ihn; der heidnische Neger ist zutraulich, der mohammedanische verschlossen; der letzte ist unsittlicher als der erste; Fatalismus, Geisterfurcht, Zauberglauben, diese Haupthindernisse kultureller Hebung, beseitigt der Islam nicht, die Polygamie, das Haupthindernis wirtschaftlicher Arbeit, erklärt er für er- laubt. Wegen dieser Schäden des Islams muß die Regierung ihn zurück- zudrängen suchen; ihn zu bekämpfen kann aber nur Sache der Missionen sein, nicht der Regierung. Axenfelds vorzüglichem Referat folgte Beckers Rede, die den Eindruck einer gewissen Islamfreundlichkeit hervorrief. In seinem Optimismus betreffend die Ungefährlichkeit des Islam und seiner Wandlungsfähigkeit gossen manche Kenner Afrikas den Essig ihrer gegen- teiligen Erfahrungen. Ihm gegenüber betonte auch P. Hansen, daß der Islam nicht bloß eine religiöse, sondern auch eine kolonialpolitische Gefahr ist. Denn Islam ist ausgesprochener Antieuropäismus und von politischen Träumen und Hoffnungen unzertrennlich. Die Christianisierung Afrikas ist Ehrensache und Ehrenpflicht Europas. Die Verhandlungen dieses Tages fanden in einer einstimmig angenommenen Resolution einen fruchtbaren und harmonischen Abschluß; die Resolution verdient weiteste Beachtung; sie lautet: „Da von der Ausbreitung des Islam der Entwicklung unserer Kolonien ernste Gefahren drohen, rät der Konialkongreß zu sorgsamer Beachtung und gründlichem Studium dieser Bewegung. Er hält es bei grundsätzlicher Unparteilichkeit der Regierung für geboten, daß alle Be- teiligten gewissenhaft vermeiden, was zur Förderung des Islam und zur Benachteiligung des Christentums ausgelegt werden könnte, und alle Bestrebungen der Mission unterstützen, besonders die des Schul- wesens und der Gesundheitspflege. Die Ausbreitung des Islam enthält eine dringliche Aufforderung an das christliche Deutschland, die vom Islam noch nicht ergrilfenen Gebiete unserer Kolonien ohne Verzug in missionarische Pflege zu nelımen,“

Von den übrigen in der vierten Sektion gehaltenen Vorträgen erwälnen wir noch: die eindrucksvolle Rede des Abtes Norbertus von St. Ottilien über die Ziele und Wege der Eingeborenenerziehung, die nicht Anerziehung von Bedürfnissen sein darf, sondern Erziehung zur Arbeit sein muß; den

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von Prof. Mirbt, der am Hamburger Kolonialinstitut Vorlesungen über Missionswesen gehalten hat, über die Bedeutung der Mission für die kulturelle Erschließung unserer Kolonien, den von Prof. Meinhof vom Kolonialinstitut in Hamburg über die praktische Bedeutung der Einheits- sprachen in unseren Kolonien, einen Vortrag, der sich auf Afrika beschränkte, aber von A. P. Schmidt, dem gelehrten Herausgeber des Anthropos für unsere nichtafrikanischen Kolonien ergänzt wurde; und den von Prof. Haußleiter über die Bedeutung der ärztlichen Mission in den deutschen Kolonien.

Der Kolonialkongreß ist beabsichtigt als Propagandamittel für unsere Kolonien, zur Förderung des Verständnisses und des Interesses an unseren Kolonien. Der Kongreß hat aber ebenso das christliche Deutschland hin- gelenkt auf seine sittlichen und religiösen Pflichten gegen die Kolonien. So wird der Ertrag des Kongresses auch für die Missionen ein reicher sein. Am Sonntag nach dem Kongreß fand eine große Missionsversammlung statt im Zirkus Busch, am Montag gleich drei katholische Versammlungen, in denen je zwei Missionare sprachen. In fast allen katholischen und evangelischen Kirchen der Reichshauptstadt fanden am Sonntag Missions- goitesdienste statt. Der Kongreß gab auch dem ständigen Missionsausschuß der deutschen Katholikentage Gelegenheit zu einer Ausprache. So waren die nächsten Wirkungen des Kongresses für die Missionssache schon recht erfreuliche. Möchten sie auch für später weiter wirksam werden, Eine erfreuliche Folgeerscheinung des Kongresses bleibe nicht unerwähnt. Katholische und evangelische Missionare und Missionsfreunde kamen durch die Verhandlungen ungewollt in ständige, persönliche Berührung. Alte Bekanntschaften hüben und drüben vom letzten Kolonialkongreß 1905 her wurden mit Freuden erneuert, neue geknüpft. Die persönliche Berührung derer, die gemeinsam auf dem Felsengrund des Glaubens an die Gottheit Christi stehen, ist die schönste Vorbedeutung für ein friedliches Neben- einander in den Kolonien. Mit Genugtuung wurde das am Schluß der Arbeiten der Missionssektion festgestellt. Und mit dem letzten Wort, das in jener Sektion gesprochen wurde, und zwar in bezug auf diese erfreuliche Tatsache, wollen auch wir diesem Bericht schließen: ‚Und dabei soll es bleiben! Amen.‘

Und nun zur Tätigxeit des Missionsausschusses des Zentral- komitees der Generalversammlung der Katholiken Deutschlands. Seine Gründung war auf der Versammlung der Missionsfreunde auf dem Breslauer Katholikentage am 1. September 1909 von dem Zentralkomitee erbeten worden. Dieses bildete in seiner Sitzung am 2. 9. 1909 aus seinen Mitgliedern Fürst Löwenstein, Graf Oppersdorf, Kommerzienrat Cahensly- Limburg, dem verdienstvollen Leiter des Rafaelvereins zum Schutze katholischer deutscher Auswanderer, und Prälat Dr. Werthmann, dem Leiter des Charitas-Verbandes für das katholische Deutschland, seinen

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ständigen Missionsausschuß, der am 22. Januar 1910 seine erste Konferenz in Berlin abhielt, zu der außer Zentrumsabgeordneten und Missionsfreunden die Vorstände sämtlicher in Deutschland bestehenden Missionsvereine und die Vertreter sämtlicher deutscher Missionsorden und -Kongregationen eingeladen waren.

Der Vorsitzende, Fürst Löwenstein, hatte versucht über die Missions- leistungen der deutschen Diözesen Angaben zu machen; das war nur teil- weise möglich; jedenfalls konnte er mitteilen, daß die Diözese Straßburg 48 Pig. pro Kopf der Bevölkerung aufbringt, das ist der höchste Betrag, eine andere Diözese 2 Pig.; das ist der niedrigste Betrag. (Bemerkt sei, daß solche Schätzungen immer hinter der Wirklichkeit zurückbleiben, schon weil die den Missionsgenossenschaften gespendeten Missionsalmosen einer Statistik, besonders einer Diözesanstatistik unzugänglich sind. Msgre. Werthmann z. B. schätzt die jährlichen Missionsleistungen der deutschen Katholiken auf 20 Millionen Mark.) Weiter konnte er mitteilen, daß der Kindheit-Jesu-Verein in Deutschland weit mehr aufbringt als der Franz- Xaver-Verein; es hat sich also der Kindheit-Jesu-Verein fast überall hin Eingang verschafit, es fehlt aber an den nötigen Organen, die den heranwachsenden Menschen aus dem Kinderverein in den der Erwachsenen überführen.

P. Huonder S. J., der Redakteur der der weitesteten Verbreitung würdigen „katholischen Missionen‘ (Freiburg, Herder) und der ebendort erscheinenden empfehlenswerten „Kath. Missionsbibliothek“ hielt ein Referat über die „Neubelebung und Organisation der Missionsvereine, insbesondere den Verein der Glaubensverbreitung‘‘. Das Oeuvre de la propagation de la foi ist 1822 in Frankreich gegründet, das oeuvre de |’ enfance de Jesus Christ ebendort 1843.

Meyers nennt das erstere die weltumspannende Missionsorganisation ; „ich spreche den Wunsch aus, dieser segensvolle Verein möchte sich zu einem Weltverein, zu eimer wirklich kirchlich beglaubigten Zentrale ent- wickeln, die in das Missionswesen größere Einheit und Kraft hineintragen würde“, Durch seinen Staatssekretär Kardinal Merry del Val hat Pius X. der Konferenz sagen lassen, er segne sie besonders, weil sie nicht neue Missionsvereine gründen wolle, sondern die bestehenden Werke, besonders das wunderbare Werk des Vereins zur Verbreitung des Glaubens unter- stützen wolle. Dieser von den Päpsten so oft und so warm empfohlene Missionssammelverein baut seine Organisation auf dem Grundsatze auf, daß es besser ist, wenn viele wenig als wenn wenige viel geben. Ein Sou wöchentlich, ein Vaterunser täglich. Zehn Mitglieder bilden immer eine Gruppe, zehn solehe Zehnergruppen eine Zenturie in der Pfarrei, zehn Zenturien 1000 Mitglieder eine Division im Dekanat. Also eine Organisation, ähnlich der, die allen vom Kindheit-Jesu-Verein her bekannt is, Wo der Verein so organisiert ist, fließt das Geld für die Missionen

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reichlich; in Frankreich ist diese Organisation in jeder Pfarrei eingeführt, jeder Pfarrer hat darum dort Missionsinteresse, darum hat auch Frankreich im 19. Jahrhundert die reichsten Beiträge für die Missionen geliefert und die meisten Missionsberufe gehabt. In den Diözesen Straßburg und Metz ist der Verein aus der französischen Zeit her eingeführt, darum bringen auch diese beiden Diözesen unter allen deutschen die höchsten Missions- almosen auf. Im übrigen Deutschland hat der Verein eine solche Ein- führung nicht erfahren. Die Verteilung der eingegangenen Gelder erfolgt in Lyon unter der Zustimmung der Propaganda. Die Jahreseinkünfte be- laufen sich auf 6'/, MillionenFres. Davon erhalten die französischen Missionen das meiste. Das ist durchaus gerecht, weil die meisten Beiträge und die meisten Missionare aus Frankreich kommen. Deutschland bringt 650000 Fres. für den Verein auf und erhält für seine Mission 608000 Fres. und für seine Diaspora 152000 Fres. Die politische Zerrissenheit Deutschlands zur Zeit der Gründung des Glaubensverbreitungsvereins und das damalige Vereinsrecht haben zu einer Art Trennung des Vereins geführt. Er wurde in Österreich, Bayern und Preußen wohl eingeführt, und zwar als Leopold-, Ludwig- und Franzikus-Xaverius-Verein, aber von der Lyoner Zentrale getrennt und nur in loser Fühlung mit ihr erhalten.

In Frankreich also Zentralisation mit großartigen Erfolgen, in Deut- schland Zersplitterung mit geringen Erfolgen. Da der große Missionsverein nur die Missionen unterstützt, nicht aber die Missionshäuser und Missions- bildungsanstalten in der Heimat, müssen auch Sondervereine bestehen. Aber Vereinheitlichung des Missionswesens ist wünschenswert, liegt in Wunsche der Päpste und im Interesse der Missionen. Wäre der Glaubens- verbreitungsverein in Deutschland eingeführt, und würden von den 22 Millionen deutscher Katholiken nur 2 Millionen mit dem geringsten Beitrag beitreten, so ergäbe das eine Jahreseinnahme von 1200000 Mark. Die Geistlichkeit würde gern für den Verein eintreten, weil ihre Rechte dabei gewahrt bleiben, und sie die Leitung des Missionssammelwesens in der Hand hätte, während jetzt die Sammelarbeit in Deutschland Sache der Missionshäuser und der Laien ist und oft ohne, manchmal gegen die Leiter der organisierten Seelsorge stattfindet und sich der bischöflichen Leitung und Aufsicht entzieht. Durch Zentralisierung würde das Missionswesen größeres Ansehen und größeren Einfluß und größere Werbekraft erlangen, die Leitung und Verwaltung würde weniger kostspielig und kompliziert, die Verteilung der Missionsgelder wäre gerechter, die Kontrolle besser, und die erziehlichen Wirkungen dieses Vereins würden die Erziehungsarbeit des Kindheit-Jesu-Vereins an den Erwachsenen fortsetzen. Prälat Werthmann betonte ausdrücklich, der Missionsausschuß will selbstverständlich nicht Lehrer der Bischöfe, nicht Reformator oder Reorganisator der Missionsvereine, nicht Instruktor der Missionsorden sein. Neben der Tätig- keit dieses allgemeinen Missionsvereines, der die Missionen, aber nicht die

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Missionshäuser unterstützt, ist natürlich auch das Sammeln der einzelnen Missionsgenossenschaften notwendig. Das Kollektieren der Missionare ist jetzt nach Roms Anordnung nur gestaltet mit Erlaubnis des Kardinal- präfekten der Propaganda und des Diözesanbischofs. Die deutschen Missionsoberen halten sich streng an die römischen Vorschriften und arbeiten auf Beseitigung aller Auswüchse des Kolleklierens hin. Das Kolportieren von Drucksachen halten sie für stalthaft, als Deckmantel zum Kollektieren aber für verwerflich. ‚Die versammelten Vereinsvorstände und Missionsoberen verurteilen entschieden alle Mißbräuche auf dem Gebiete des Kollektierens; sie werden dagegen ankämpfen, soweit es in ihrer Macht steht, und werden streng darauf sehen, daß die Kollekten in Zukunft nur mehr im Einklang mit den römischen Vorschriften erfolgen. Sie richten an das Zentralkomitee der Katholiken Deutschlands die Bitte, die Vereine zur Unterstützung der Missionen, die Missionsorden und -Kongregationen und deren Erziehungsanstalten zur Heranbildung von Missionaren wohl- wollend zu empfehlen.“ Es ist begreiflich, daß von dieser Erklärung der Missionsausschuß freudig Kenntnis nahm.

Die Verhandlungen dieser Konferenz wurden in einer Denkschrilt niedergelegt, die jetzt auch der Öffentlichkeit zugänglich gemacht ist (Freiburg i. Br. Charitas-Verlag). Die Denkschrift wurde alsbald dem deutschen Episkopat vorgelegt, und die 1. Fuldaer Bischofsversammlung des Jahres 1910 hat sich mit der Missionsfrage eingehend befaßt. Als Frucht dieser Beratungen ist angesehen der Entschluß der Bischöfe, für die katholische Universität in Tokio eine Kollekte zu veranstalten, die durch einen gemeinsamen Hirtenbrief der preußischen Bischöfe begründet und empfohlen wurde. Das Wichtigste aber ist, daß die in Fulda ver- sammelten Bischöfe die Wiedereinführung des Glaubensverbreitungsvereins beschlossen haben und seine Einführung mit einem gemeinsamen Hirten- brief, der am Beginn d. J. 1911 verlesen wird, einleiten werden.

Seine wichtigsten Leistungen hat der Missionsausschuß aufzuweisen in der Forderung der Missionswissenschaft.

Die Aufgaben der theologischen Wissenschaft gegenüber der Mission hat P. Streit-Hünfeld in einer jetzt auch öffentlich zugänglichen Denkschrift (Freiburg i. Br. Charilas-Verlag) dem Missionsausschuß dargelegt. Die wissen- schaftliche Missionskunde müßte ein Doppeltes tun: die Mission theologisch begründen und darlegen, also Missionstheorie und Missions- methodik und die geschichtliche Entwicklung der Mission aufzeigen, also Missionsgeschichte.

Wir werden rundweg sagen dürfen, daß unsere katholische Theologie bis ganz vor kurzem ihre Aufgaben gegenüber der wissenschaftlichen Missionskunde vernachlässigt hat. Das sei kein Vorwurf, sondern erklärt sich daraus, daß wir bis vor kurzem noch über eine Kargheit der Zahl wissenschaftlicher Arbeiter auf theologischen Gebiete klagen mußten, und daß

32 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

darum unsere Theologen, namentlich unsere Professoren, noch mit andern dringenden Arbeiten überlastet sind. Aber nicht bloß missionstheologische Neben- und Gelegenheitsarbeit ist zu fordern, es wäre ein Glück, sie würde schon geleistet, sondern eine wissenschaftliche Missionstheologie im Hauptamte tut uns not und soll erstehn. Exegese und Patristik müssen der Missionswissenschaft behilflich sein. Die katholische Theologie hat in neuerer Zeit kein einziges wıssenschaltliches Missionswerk hervorgebracht. Als Ansatz zur Missionsforschung auf biblischem Gebiete ist Meinertz’ vor- zügliches Werk über Jesus und die Heidenmission zu begrüßen. Fischer, Krose, Huonder, Schwager, die beiden Streit, Pietsch, Schmidt, Schmidlin sind die Namen, die bisher die katholischen Leistungen auf dem Gebiete der Missionskunde bestritten haben. Die praktische Theologie hat bisher der Mission gegenüber ebenso vollständig versagt. Meuniers Predigten über den Kindheit-Jesu-Verein sind der erste und einzige Beitrag der theologischen Praxis für die Mission. Homiletik und Katechetik geben keine Anweisung, wie die Missionsfrage in der Schule und auf der Kanzel zu behandeln ist.

Die Protestanten haben bereits eine reiche Missionsliteratur, es gibt zahlreiche Werke für Missionspredisten, Warnecks „Mission in der Schule‘ hat schon die 10. Auflage erreicht.

Missionsgeschichte, Missionsgeographie, Missionsstatistik bieten ein Riesen-Arbeitsfeld. Eine Missionsgeschichte kann vorläufig gar nicht ge- schrieben werden, weil die missionsgeschichtliche Quellenforschung und Quellenkritik noch beginnen soll. Die Archive von Lissabon und Madrid sind überreich an Quellenmaterial, das bisher gar nicht oder nur im kolonial- geschichtlichen oder politischen Interesse benutzt wurde. Es wird Zeit, daß die Propaganda in Rom ihr Riesenmaterial zum Teil wenigstens der Forschung erschließt. Die gedruckte Literatur alter Zeit über Missions- wesen ist ungemein wertvoll, ungeheuer selten und darum ungeheuer gesucht.

Für unsere Universitätstheologie hat bis ganz vor kurzem die Mission überhaupt nicht existiert. Im Jahren 1909 wurde an 12 Universitäten von 15 evangelischen Professoren 17 Vorlesungen und in Halle und Straßburg auch missionswissenschaftliche Seminarübungen gehalten. Dazu kamen im Kolonialinstitut zu Hamburg 6 Vorlesungen von Mirbt über Missionsfragen. In Halle ist seit 1905 Haußleiter o. ö. Professor für Missionswissen- schaft; in Berlin hat sich Stosch als Privatdozent für Missionswissenschalt habilitiert. Bei den Protestanten steht es jetzt so, daß Mirbt sagen kann: „Der Fall, daß ein evangelischer Theologe während seines Universitäts- studiums keine Gelegenheit erhält, in die Mission sich einführen zu lassen, wird heutzutage kaum noch vorkommen, denn die Mission ist in den Arbeitskreis fast aller theologischen Fakultäten aufgenommen“. Bei den Katholiken war es bis vor kurzem noch umgekehrt, daß man sagen konnte:

V, Abteilung. Sektion für katholische Theologie. 33

„Der Fall, daß ein katholischer Theologe während seines Universitäts- studiums Gelegenheit erhält, in die Mission sich einführen zu lassen, wird heutzutage kaum vorkommen.“ In allerletzter Zeit fängt es an, besser zu werden. Schmidlin in Münster ist 1910 zum a. o. Professor der Kirchen- geschichte ernannt worden mit dem besonderen Lehrauftrag für Dogmen- geschichte, Patrologie und katholische Missionskunde. Er hat im Sommer- semester 1910 bereits ein Publikum über neuere Missionsgeschichte vor 120 Hörern gehalten und liest im Wintersemester 1910/11 öffentlich über Einführung in die Missionswissenschaft und ein zweistündiges missions- geschichtliches Privatkolleg und hält außerdem noch ein einstündiges exegelisches Seminar über Missionsfeste in den Evangelien.

An allen Universitäten gibt es evangelische akademische Missions- vereine, und zwar solche für Studenten, aber auch solche für Studentinnen, auch in Breslau. Sie alle sind zusammengeschlossen im christlichen Studentenbund für Mission, dieser gehört dem christlichen Studentenweltbund an, der 1907 in Tokio seine 7. Weltkonferenz abgehalten hat.

In dieser Beziehung ist unter den Katholiken bis vor kurzem ebenfalls nichts geschehen. Fürst Löwenstein hat auf dem Breslauer Katholikentage katholische Studenten-Missionsvereine angeregt. In Münster ist d. J. der erste katholische Studenten-Missionsverein gegründet worden. 240 Studenten aller Fakultäten sind sofort beigetreten. Das sollte an jeder Universität geschehen, auch in Breslau. Das ist mein erster Wunsch.

In jeder katholisch-theologischen Fakultät sollte dem Studenten Gelegenheit geboten sein, über Mission unterrichtet zu werden, sollte sich die Erkenntnis durchsetzen, daß man heute nicht mehr Theologie studieren kann, ohne sich mit der Mission zu beschäftigen. Und an einer Universität wenigstens, meinetwegen in Münster, müßte ein eigner Lehrstuhl für Missionswissenschaft errichtet werden mit einem missionswissenschaftlichen Seminar und entsprechender Bibliothek.

Dieser Professor und dieses Institut hätten große Aufgaben .Letzteres hätte Missionstheoretiker und -Praktiker, Literaten und Gelehrte und Missionare einzuführen in die wissenschaftliche Behandlung der verschiedenen Missionsfragen. Es hätte vor allem Mitarbeiter zu schulen für die großen Aufgaben der Missionsgeschichte und Mitarbeiter heranzubilden für eine wissenschaftliche Missionszeitschrift. Eine „Zeitschrift für Missions- wissenschaft“ tritt unter Schmidlins Leitung mit Beginn des Jahres 1911 ins Leben (Münster, Aschendorff). Wir begrüßen in ihr eine willkommene Frucht der Tätigkeit des Missionsausschusses. Den „katholischen Missionen ‘‘, Herders ganz vorzüglicher Missionszeitschrift, soll damit natürlich keine Konkurrenz geschaffen werden; die Arbeitsgebiete und darum auch die Interessentenkreise beider Zeitschriften sind ja auch völlig verschieden,

P. Streit hat im Auftrage des Missionsausschusses auch eine Denk- schrift verfaßt über die Herausgabe einer Missionsbibliothek, Prof,

3

34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Schmidlin eine solche über Herausgabe eines Missionsarchivs. Eine Missions- geschichte kann, wie schon gesagt, bis jetzt nicht geschrieben werden, weil die Quellen noch nicht erschlossen sind. Die erste Arbeit muß also die Stoffsammlung sein.

Wer weiß denn, daß wir ım 17. Jahrhundert schon eine hervor- ragende Missionswissenschaft gehabt haben, die wir jetzt erst mühsam neu schaffen müssen? Wer weiß denn, daß Suarez sich mit der theologischen Begründung der Mission abgemüht, daß der Dominikaner Franziskus a Victoria als erster die sittlichen Pflichten der Kolonialmächte gegen die Eingeborenen und das Verhältnis von Regierung und Mission behandelt hat, daß der Jesuit Acosta eine Missionsmethodik schrieb, daß der Karmelit Thomas a Jesu eine systematische Missionskunde verfaßt hat? Die Missionsarchivalien sind zum großen Teil in Spanien und Portugal teils vergraben, teils vernichtet. Es ist notwendig, ein Inventar der Missions- handschriften und einen Katalog der älteren Missionsliteratur herzustellen.

Die Missionsbibliothek oder besser Missionsbibliographie müßte alle historischen, geographischen, statistischen Werke der Missionare aufführen, ihre ethnographischen und linguistischen Arbeiten, ihre literarische Tätig- keit in Schaffung eines einheimischen Literaturbuches. Bibliographische Genauigkeit und Zuverlässigkeit wären natürlich Haupterfordernis. Biographische Notizen über die Missionare dürften nicht fehlen.

Der Missionsbibliographie müßte zur Seite treten ein katholisches Missionsarchiv zur Herausgabe von archivalischen und handschriftlichen Quellen zur Missionsgeschichte, Über dies Missionsarchiv hat Schmidlin eine Denkschrift ausgearbeitet.

Die Mittel zu diesen weitausschauenden Unternehmungen hofft man von der Görres- und Leogesellschaft, von den Regierungen, dem Episkopat und reichen Missionsfreunden zu erhalten.

Die Bibliotheca missionum und das Missionsarchiv würden eine herr- liche Apologie der wissenschaftlichen Leistungen der Missionare darstellen; bedenken wir doch bloß, daß Ethnographie, Linguistik und Anthropologie Wissenschaften sind, die unsere Missionare mitgeschafien haben, daß diese Wissenschaften aus der Arbeit der Missionare unendlich viel schöpften und noch schöpfen, oft ohne ein Wort des Dankes. Ein herrliches Zeugnis für die Kulturarbeit der Missionare wäre dieser glänzende Beitrag zur . ehristlichen Literatur- und Kulturgeschichte.

Am 9. Dezember hielt Prof. Dr. Renz einen Vortrag über das Thema: Der Begriff des religiösen Opfers, eine Frage der Moral und des Rechts.

An den Vortrag knüpfte sich eine lange und lebhafte Diskussion. In derselben Sitzung wurden für die Jahre 1911 und 1912 als Sekretäre Prof. Dr. J. Nikel und Religions- und Oberlehrer Hermann Hoffmann, als Delegierte für das Präsidium Erzpriester Dr. Bergel und Prof. Dr. Nikel gewählt.

schlesische Gesellschaft ‚für Yaterländische ulır.

Sz i V. Abteilung. Jahresbericht. 5 & d. Evangelische Theologie. 1910. us RE 2,9

Bericht der evangelisch-theologischen Sektion über das Jahr ıgı0.

Folgende Sitzungen wurden gehalten: Am 27. Juli sprach Pastor Guhr über: Die deutsch-evangelische Gemeinde in Bukarest. Am 4. November Professor D. G. Hoffmann über: Johann Timotheus Hermes.

Am 9. Dezember: 1. Pastor prim. Zickermann über:

Die Mosaik-Landkarte von Madeba.

2. Zum ersten Sekretär und Delegierten wurde Professor D. Arnold und zum zweiten Sekretär Kircheninspektor Propst Decke wieder- gewählt.

An sämtliche Vorträge schlossen sich Diskussionen an.

D. Arnold.

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Sitzungen der technischen Sektion im Jahre ıgıo.

Sitzung vom 9. Februar 1910. Vortrag des Herrn Professor Ramisch über:

„Die neueren Gesichtspunkte zur Beurteilung der Standsicherheit von Sperrmauern‘“.

Sitzung vom 28. Juni 1910. Vortrag des Herrn Oberlehrer Maßkow über: „Das elektrotechnische Laboratorium und die elektrischen Einrichtungen der Königlichen Höheren Maschinenbauschule‘,

Im Anschlusse hieran erfolgte eine Besichtigung des Laboratoriums unter Leitung des Herrn Vortragenden.

Sitzung vom 9. Dezember 1910. Neuwahl der Sekreläre und des Delegierten. Es wurden durch Zuruf wiedergewählt: als erster Sekretär und Delegierter Herr Professor Dipl.-ng. Kosch, als zweiter Sekretär und Schriftführer Herr Oberlehrer Dipl.-Ing. Wohl. Vortrag des Herrn Professor Dr. ng. Hilpert über: „Die Einrichtungen des Elektrotechnischen Instituts der Königlichen Technischen Hochschule“, An den Vortrag schloß sich eine Besichtigung des Instituts an unter Leitung der Herren Prof. Hilpert und seiner Assistenten,

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Sehlesisehe Gesellschaft für vaterländische Cultur.

88 - 3 | VI. : Jahresbericht. | h ‚bteilung 1910. | b. Sektion für Kunst derGegenwart. SAeIı B are En 29

Sektion für Kunst der Gegenwart.

Die Tätigkeit der Sektion setzte infolge der Erkrankung ihres ge- schäftsführenden Vorsitzenden im Jahre 1910 spät ein mit ihrer ersten Sitzung am 17. März.

Herr Dr. Landsberger hielt den Vortrag: Was ist Impressionismus?

Den Vorsitz führte Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Foerster. An den Vortrag schloß sich eine kurze Diskussion an.

Die zweite Sitzung am 10. Mai brachte den Vortrag des Herrn Direktorialassistenten Dr. phil. Arthur Lindner im Schles. Museum der bildenden Künste:

Führung durch das Kupferstichkabinett des Schlesischen Museums der bildenden Künste.

Die Sitzung wurde um 4 Uhr eröffnet. Der Vortragende gab nach einleitenden Worten unter Hinweis und unter Benutzung der ausliegenden Werke einen Einblick in die reichen Schätze unserer Museumssammlung, die viel zu wenig bekannt und genutzt sind.

Die dritte Sitzung am 8. Juni erledigte zunächst den Bericht des Vorsitzenden über die Arbeiten der Ausschüsse, welche am 18. Mai getagt hatten. Die Sektion wählte dann einstimmig zum zweiten Vertreter in das Präsidium Herrn Universitäts-Pro- fessor Koch, der dem Sekretariat für Diehtkunst vorsteht.

Es folgte der Vortrag des Herrn Professor Koch:

„Die Dichtung von Richard Wagners Ring des Nibelungen.“

Eine Besprechung des Vortrages, der feinsinnig in die Dichtung ein- führte, ihr Werden und ihre Beziehungen aufdeckte, erfolgte nicht.

Es folgte am 22. September

Besuch der Neubauten der Technischen Hochschule unter Führung des Herrn Provinzialkonservators Baurat Dr. phil. Burge- meister. Der Führende gab in großen Zügen Geschichte und Vorbedin- gung der Bauten und erläuterte kurz ihre Wesenheit. Besonderen Reiz erhielt die Wanderung dadurch, daß in den einzelnen Instituten die Vor- steher derselben Vorträge mit Demonstrationen hielten, so: Herr Professor Stock im chemischen Institut, Herr Professor Hilpert im elektro- technischen Institut und Herr Professor Baer in der maschinen- 1910,

2 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. technischen Abteilung, alle unterstützt von ihren Assistenten, so daß reichste Eindrücke in dem schön erfundenen und ausgezeichnet durch- geführten Bau mit seiner gediegenen Innenausgestaltung und hochstehenden Einrichtung der Einzelinstitute gewonnen wurden.

Durch die Bemühungen des Herrn Professor Dr. Dohrn konnte am 23. November der fünfte Vortrag gehalten werden, zu dem alle Mitglieder der Gesellschaft geladen waren. Ihn hielt Herr Dr. Neitzel aus Cöln a. Rh. Sein Thema war: Richard Strauss mit Erläuterungen am Klavier.

Die Sitzung war sehr zahlreich besucht und gestaltete sich besonders anziehend durch die Verbindung des dasWesen des Komponisten darstellenden Wortes mit der erläuternden Musik aus den beiden Opern Salome und Elektra.

Montag, den 12. Dezember, fand die sechste und letzte Sitzung statt. In ihr wurde vom Vor- sitzenden mitgeteilt, daß die Herren Baurat Dr. Burgemeister und Direktor Janitsch auf eine Wiederwahl verzichtet hätten. Als Sekretäre wurden wiedergewählt: für Abteilung Denkmalspflege und Heimatschutz: Herr Architekt Henry, für Abteilung Musik: Herr Professor Dr. Dohrn, für Abteilung Dichtkunst: Herr Universitäts-Professor Dr. Koch. Neu gewählt wurden als Sekretär der Abteilung Architektur: Herr Baurat Grosser, erner als Sekretär der Abteilung für Malerei und Bildhauerkunst: Herr Professor Irrmann. Letzterer lehnte die Wahl ab.

Zu Vertretern im Präsidium wurden die Herren Architekt Hen ry und Professor Koch, zum geschäftsführenden Vorsitzenden Herr Architekt Henry wiedergewählt. Die Anregung einer Sammlung für einen kleinen Geldfond der Sektion wird dem neuen Vorstande unterbreitet werden. Im Bericht über die Ausschüsse mußte der Vorsitzende darauf hinweisen, daß zwei neue Entschließungen diese Arbeiten vorläufig unterbrochen haben. Im Sommer 1910 wurde nämlich die Abteilung ‚‚Schlesischer Heimatsbund“ gegründet, der sich nach und nach sein Arbeitsfeld sucht. Die Stadt aber beschloß eine Jubiläums-Ausstellung größeren Stiles für 1913. Nach Erledigung des geschäftlichen Teiles hielt Herr Carl van Treeck seinen Vortrag über

Alte und neue Glasmalerei, bei dem schöne alte Glasfenster und Entwürfe neuerer Künstler die Worte veranschaulichten.

Schlesischt Gesellschaft für Yaterländische Gultur,

88. Jahresbericht. Nekrologe. 1910, | ©: Exp Ne3 20

Nachrichten über die im Jahre ıgıo verstorbenen Mitglieder der Schlesischen Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Alphabetisch geordnet.

Am 3. April starb Richard Abegg an einer tödlichen Verletzung, die er sich bei einer Ballonlandung zuzog. Einem schaffensfreudigen und erfolgreichen Leben ist ein plötzliches Ende gesetzt worden.

Richard Abegg wurde am 9. Januar 1869 zu Danzig geboren und genoß seine Schulbildung am Wilhelmsgymnasium zu Berlin. 1886 bezog er die Universität und widmete sich in Kiel, Tübingen und Berlin dem Studium der Chemie und verwandter Gebiete. Seine Doktorarbeit machte er unter A. W. von Hofmann in Berlin und promovierte 1891. Dann wandte er sich von der organischen Chemie zu der damals grade mächtig auf- blühenden physikalischen Chemie, zu deren Studium er bereits als junger Student durch Lothar Meyers ‚Moderne Theorien der Chemie‘ angeregt worden war. Zur Vervollständigung seiner wissenschaftlichen Ausbildung arbeitete er in den Laboratorien von Ostwald (Leipzig) und Arrhenius (Stockholm) und siedelte 1894 als Assistent zu Nernst nach Göttingen über, Hier habilitierle er sich in demselben Jahre und erhielt 4 Jahre später das Prädikat Professor. Ostern 1899 folgte er einem Rufe Laden- burgs als Abteilungsvorsteher an das Chemische Institut der Universität Breslau.

In seinen Lehr- und Wanderjahren in Leipzig, Stockholm und Göttingen beschäftigte sich Abegg hauptsächlich mit verschiedenen Gebieten der Lösungstheorie, die er durch wertvolle experimentelle Beiträge, vor altem über Diffusion und Gefrierpunktserniedrigungen erweiterte. Bei seiner Übersiedelung nach Breslau erschien die gemeinsam mit G. Bodländer verfaßte Abhandlung „Die Elektroaffinität, ein neues Prinzip der chemischen Systematik“, die ihn in die erste Reihe der selbständigen Forscher stellte und gleichzeitig die Richtung für seine späteren Arbeiten angab. Abegg und Bodländer erkannten, daß die für die einzelnen Elemente ver- schiedene Tendenz Ionen zu bilden, sich zur einfachen und vollständigen Systematik der anorganischen Chemie eignet. Denn erstens ist diese Tendenz, die als Elektroaffinität bezeichnet wird, in den meisten Fällen

1910. 1

0) Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

eine exakt meßbare Größe, und zweitens steht sie zu fast allen chemischen und physikalischen Eigenschaften der Elemente, besonders zu ihrer Stellung im periodischen System, in enger Beziehung.

Seit 1899 war Abegg, unterstützt von einer großen Zahl von Schülern, die zum Teil aus allen Kulturländern, vor allem englischer Sprache, zu ihm strömten, im Breslauer Laboratorium damit beschäftigt, die quantitativen Belege für seine theoretischen Anschauungen zu erbringen. Alle diese Arbeiten über Komplexbildung, Überführungszahlen, Löslichkeit, Dampfdruck, Gleichgewicht in Lösungen etc. verfolgen den gleichen Zweck, nämlich darzutun, daß die untersuchten physikalischen und chemischen Eigenschaften der einzelnen Elemente sich gesetzmäßig nach der Elektro- affinität und der Stellung im periodischen System abstufen. Der gleichen Erkenntnis entsprang seine Valenztheorie, die er in mehreren Abhandlungen begründete. Da die Annahme einer konstanten Wertigkeit der Elemente im Sinne der älteren Valenztheorie durch die Entwickelung der Wissen- schaft widerlegt wurde, und es sich als unzweckmäßig herausstellte, Kom- plex- und Molekularverbindungen von den übrigen Verbindungen prinzipiell zu scheiden, so mußten unsere Anschauungen über die Vaienz und ihre Abstufungen eine Erweiterung erfahren. Abegg suchte das Problem durch die Annahme zu lösen, daß jedem Element die konstante Summe von 8 Normal- und Kontravalenzen zukommt, deren Betätigung von der Elektroaffinität und Valenz aller die Verbindung bildenden Komponenten abhängt. Das Chlor z. B. besitzt eine negative Normalvalenz und 7 positive Kontravalenzen. Dem positiven Wasserstoff und den Metallen gegenüber betätigt es nur die erstere, dem negativen Sauerstoff gegenüber die letzteren, ohne daß jedoch immer alle 7 Kontravalenzen gleichzeitig abgesättigt zu werden brauchen.

Es ist hier nicht der Ort, die Abeggsche Valenztheorie eingehend zu erörtern, aber es soll hervorgehoben werden, daß die Abeggschen Ab- handlungen über dieses Thema eine Fülle von Gedanken und Beobachtungen enthalten, die zwar vielleicht im einzelnen vielen Chemikern bekannt waren, aber von Äbegg zum ersten Male scharf ausgesprochen und zusammen- gefaßt wurden und erst durch ihn Gemeingut der Wissenschaft geworden sind. Auch die neuere Elektronentheorie der Materie durch Drude, J. J. Thomson und andere hat zu einer auffallenden Bestätigung der Abeggschen Valenztheorie geführt.

Abeggs Verdienste um die Chemie sind durch seine Forschertätigkeit keineswegs erschöpft. Er empfand auch das Bedürfnis, das von ihm als richtig Erkannte in der Wissenschaft zur Geltung zu bringen. Dies gilt vor allem von seiner Überzeugung, daß die physikalische Chemie keine Spezialwissenschaft, sondern die Grundlage der ganzen Chemie, besonders der anorganischen ist. Daher entschloß er sich zur Herausgabe des schon von Bodländer (7 1904) geplanten großen Handbuches der anorganischen

Nekrologe. 3

Chemie, welches für die Entwickelung unserer Wissenschaft von grund- legender Bedeutung sein wird. Denn zum ersten Male ist hier der Ver- such gemacht, die Ergebnisse der chemischen Forschung nicht nur zu sammeln, sondern gleichzeitig vom einheitlichen Standpunkt einer Gesetzes- wissenschaft aus darzustellen. Wenn auch von den bisher erschienenen Bänden nur relativ kurze Kapitel von Abeggs eigener Hand geschrieben sind, so trägt doch die Anlage und Organisation des Ganzen so sehr den Stempel seines Geistes, daß das Werk, das seinen Namen führt, ein un- vergängliches und ehrenvolles Denkmal seiner Tätigkeit bilden wird. Neben der Redaktion des Handbuches entfaltete Abegg noch eine viel- seitige literarische Tätigkeit. Er verfaßte eine Reihe kleinerer Schriften, war Redakteur der von der Deutschen Bunsengesellschaft herausgegebenen „Zeitschrift für Elektrochemie‘‘ und Mitglied der internationalen Kommission, die die alljährliche Veröffentlichung sämtlicher physikalisch - chemischer Konstanten ins Werk setzen soll.

Abeggs Vielseitigkeit zeigte sich auch in dem lebhaften Interesse, mit welchem er alle Fortschritte der Technik verfolgte, besonders solche, die die Vervollkommnung unserer wissenschaftlichen Hilfsmittel zum Ziele haben. Er war ein ausgezeichneter Photograph und hat einige Abhand- lungen über das Wesen der photographischen Prozesse veröffentlicht. Für sein Laboratorium suchte er stets die neuesten und besten Apparate zu beschaffen. Die Entwickelung der Luftschiffahrt verfolgte er mit besonderer Freude, und nicht nur als Zuschauer, sondern, seiner tätigen Natur ent- sprechend, als Mitarbeiter. Er gründete den Schlesischen Verein für Luft- schiffahrt und leitete ihn als Vorsitzender, bis er bei der Ausübung dieses Sportes, der ihm in den letzten Jahren die liebste Erholung bildete, einen allzu frühen Tod fand.

Abeggs Leben war, trotz mancher Enttäuschung, reich an Freuden und Anerkennung. Im Jahre 1901 erhielt er einen Ruf als Professor an die Universität Christiania und wurde, da er diesen ablehnte, zum außer- ordentlichen Professor an unserer Universität ernannt. Im gleichen Jahre wurde er auswärtiges Mitglied der norwegischen Akademie, und im Jahre 1909 etatsmäßiger Professor für physikalische Chemie an der neugegründeten Technischen Hochschule zu Breslau, Für das Jahr 1910 wurde er in den Vorstand der Deutschen Chemischen Gesellschaft gewählt, Zahlreichen wissenschaltlichen, gemeinnützigen und sportlichen Vereinen gehörte er als tätiges Mitglied oder als Vorsitzender an, die alle sein jühes Hinscheiden aufs tiefste bedauern. Vor allem schmerzlich aber ist sein Verlust seinen zahlreichen Freunden und Schülern, die er in den Jahren gemeinschaft- licher Arbeit durch den Reiz seiner Persönlichkeit zu sich herangezogen hatte. Frei von jedem Vorurteil und jedem persönlichen Interesse, stellte er seine ganze Kraft stets in den Dienst der Sache, der er sich mit Hin-

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4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

gebung widmete, und schuf sich dadurch ein Vertrauen und eine Ver- ehrung, deren sich nur ganz seltene Menschen erfreuen können.

Der Sehlesischen Gesellschaft gehörte Abegg seit seiner Übersiedelung nach Breslau im Jahre 1899 an.‘' An der Gründung der Technischen Sektion hat er tätigen Anteil genommen.

O0. Sackur.

Am 14. Februar starb Herr Kaufmann und Stadtrat Adolf Friedenthal.

Er wurde geboren am 13. Juni 1846 zu Breslau, besuchte das Magdalenen-Gymnasium, welches er 1863 verließ, um in das vom Vater und dessen Brüdern gegründete, angesehene Groß-Tuchgeschäft „Gebrüder Friedenthal‘‘ einzutreten. An dieser Stätte hat er 48 Jahre hindurch zuerst als Lehrling und Gehilfe, später als Chef und Hauptleiter mit nie rastendem Fleiße und mit vorbildlicher Treue und Gewissenhaftigkeit gearbeitet, stets getragen von dem Vertrauen seiner Sozien und der Liebe seiner Untergebenen, denen er jederzeit ein gerechter und fürsorglicher Vorgesetzter war. Jeder folgte gern dem Rate und den Anordnungen dieses ruhigen und vornehm-bescheidenen Mannes in dem Gefühle, einem Menschen gegenüberzustehen, in dem strengste Rechtlichkeit, treueste Zu- verlässigkeit und wahre Herzensgüte sich paarten mit einer ruhigen Klar- heit des Urteils und einem umfassenden, auf gewissenhaftester Prüfung der Verhältnisse fußenden Wissen.

Adolf Friedenthal war kein Gelehrter, aber ein in seltenem Maße allgemeingebildeter Mann, allen Gebieten der Wissenschaft und Kunst, namentlich der Musik und unserm Breslauer Orchester-Verein, ein lebhaftes Interesse und offenes Herz entgegenbringend.

1886 wurde er in die Stadtverordneten-Versammlung gewählt. Was er in dieser Stellung der Städtischen Verwaltung und der Bürgerschaft geleistet, das ist freilich nicht aus vielen und langen Reden in den Ver- sammlungen zu ersehen denn nichts war ihm fremder, als ein Sich- Vordrängen in der Öffentlichkeit —, aber in den Kommissionen und Deputationen und in den Kuratorien der verschiedenen Anstalten (ich nenne besonders die Sparkasse und die Betriebswerke) war er ein Arbeiter von höchster Pflichttreue, Gründlichkeit und Sorgfalt. Und so hörte jeder, Freund wie Gegner, stets auf seine ruhigen, sachlichen, strengste Objektivität anstrebenden Ratschläge und Ausführungen, und ohne Unterschied der Parteien wählte ihn 1909 die Versammlung in Anerkennung seiner Ver- dienste für die Vaterstadt und seiner hervorragenden menschlichen Eigen- schaften einstimmig zum Stadtrat.

Als die Wahl erfolgte, hatte die Todeskrankheit, der er erlag, schon begonnen, ohne daß er selbst es ahnte. Ja, er starb, ohne zu wissen, welches Leiden ihn dahinraffte. Schwer aber lastete es auf seinem Ge-

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Nekrologe. 5

wissen, daß er seine amtlichen Obliegenheiten nicht so erfüllen konnte, wie es seinem Pfliehtgefühl entsprach, wenn er auch immer und immer wieder mit bewundernswerter Energie versuchte, den Rest der schwindenden Kräfte seinem neuen ihm so teuren Wirkungskreise zu widmen.

Mit Adolf Friedenthal ist ein wahrhaft guter Mensch und einer der besten Bürger unserer Stadt dahingegangen. Aber die Erinnerung an diesen selbstlosen und lauteren, klugen und güligen Mann, wird bei keinem, der ihn kannte, verlöschen.

Dr. AN.

Johann Gottfried Galle.

In seinem 99. Lebensjahre hat Geheimrat Professor Dr. Johann Gottfried Galle am 10. Juli 1910 seinen Erdenlauf vollendet. Mit ihm ist ein Astronom verschieden, der in der Geschichte der Himmelskunde für immer unvergeßlich ist, und dem wegen seiner Sorgfalt und seines Pflicht- gefühls allgemeine Hochachtung und Verehrung entgegen gebracht wurde.

J. G. Galle wurde am 9, Juni 1812 im Pabsthaus bei Gräfenhainichen zwischen Wittenberg und Bitterfeld geboren. Der Pabst heißt dort ein Wald, und den damaligen Teerofen des Pabsthauses hatte sein Vater gepachtet. Galle erhielt den ersten Unterricht bei einem benachbarten Pastor und absolvierte bis 1830 das Wittenberger Gymnasium. Nach dreijährigem Studium auf der Universität Berlin legte er die Prüfung pro facultate docendi ab und war 1333 bis 35 Gymnasiallehrer für Mathe- matik in Guben und Berlin,

1535 berief ihn sein Lehrer Encke als seinen ersten und einzigen Gehilfen an die in diesem Jahre von Schinkel am Ende der Charlotten- straße neu erbauten Sternwarte in Berlin. Hier widmete er sich 16 Jahre hindurch besonders dem neuen Refraktor von 9 Pariser Zoll Öffnung aus der Werkstatt von Utzschneider und Fraunliofer, und die „Astronomischen Nachrichten“ bringen fortwährend Berichte über seine Beobachtungen und Bahnrechnungen von Planeten und Kometen. In diese Zeit fallen seine wichtigen Entdeckungen.

Den inneren dunklen Ring des Saturn findet und mißt er 1338 und besehreibt ihn als einen schleierförmigen Anhang des Hauptringes. Encke erwähnt Galles Entdeekung in der Berliner Akademie zweimal, aber nur gelegentlich, da ihn mehr seine Aulfindung der Enckeschen Teilung interessiert. So kam es, daß Galles Entdeckung zunächst wenig beachtet und vergessen wurde und daß Bond in Cambridge Mass. den dunklen Ring 1350 von neuem entdeckte. Ohne seine Priorität besonders zu wahren, veröffentlicht Galle jetzt seine Messungen des dunklen Ringes von 1335 und 1539, nur um nachzuweisen, daß dieser schon damals vorhanden und sichtbar gewesen war, da die Frage der Veränderlichkeit des Ring- systems aufgeworfen war. Noch 1872 schreibt Galle in den Astr. Nachr.

6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Bd. 101, daß, nachdem Encke seine Beobachtung erwähnt hatte, und da dieser auf dergleichen Beschreibung physischer Verhältnisse einen geringen Wert zu legen pflegte, so hätte er damals, wo er erst seit einigen Jahren in die astronomische Beschäftigung eingetreten war, es nicht für ange- messen und wichtig genug gehalten, weiter über seine Entdeckung des Ringes zu schreiben. Man ersieht hieraus Galles persönliche Bescheiden- heit und seine sachliche Korrektheit.

Im Alter von 27 Jahren entdeckte Galle drei Kometen, am 2. De- zember 1839, am 25. Januar und 6. März 1840, den ersten und dritten vor Sonnenaufgang. Sie erregten, zumal da seit 5 Jahren keine neuen Kometen entdeckt waren, das lebhafte Interesse der Astronomen, und gleich darauf stiftete der König von Dänemark eine Kometenmedaille (Astr. Nachr. No. 400).

Galle promoviert 1345 in Berlin und reduziert in seiner Dissertation sorgfältig die Kopenhagener Meridianbeobachtungen von Olaf Roemer vom 90. bis 23. Oktober 1706, die allein der Feuersbrunst vom 21. Oktober 1728 entgangen waren. Er bestimmte aus ihnen, die als erste Meridian- beobachtungen einen höheren Grad der Genauigkeit ergaben, für diese frühe Zeit die Örter von 88 hellen Sternen, sowie von Sonne, Mond und Planeten.

Am 23. September 1346 entdeckte Galle den Neptun. Als er am Morgen dieses Tages von Leverrier den Brief mit dem Dank für die Übersendung seiner Dissertation und mit der Ortsangabe des errechneten Planeten erhält, betrachtet er die Nachsuchung als seine Pflicht. Er teilt den Brief Encke mit und erlangt von ihm die Zustimmung zur Nach- forschung, obwohl Encke sich über die Aussicht auf Erfolg sehr zweifel- haft ausspricht. Der Wunsch von d’Arrest, der in Berlin seinen Studien oblag, bei der Nachsuchung zugegen sein zu dürfen, wird anstandslos gewährt. Galle findet von Leverriers Ort entfernt einen Stern 8. Größe, der in der Berliner Akademischen Sternkarte von 21% fehlt, und seine wiederholten Messungen ergeben eine kleine, aber noch zweifelhafte Be- wegung. Am 24. September ist eine Bewegung von vorhanden und damit die Planetennatur des Gestirns erwiesen. Näheres über die Vor- gänge bei der Beobachtung findet man in Galles lesenswerten Aufsätzen in den A.N. Bd. 89 und 101. Er selbst lehnte es stets ab als Entdecker . zu gelten und bezeichnete Leverrier als den eigentlichen Entdecker des Neptun. Doch erhielt Galle aus Paris das Kreuz der Ehrenlegion.

Im Herbst 1851 wurde Galle als Nachfolger v. Boguslawskis zum Professor an der Universität und Direktor der Sternwarte nach Breslau berufen. Hier hat er eine segensreiche Lehrtätigkeit entfaltet, bis in sein 80. Lebensjahr regelmäßig Vorlesungen gehalten und die Leitung der Sternwarte 451/, Jahre sorgfältig ausgeübt. Seine Vorlesungen umfaßten gegen die frühere Zeit erheblich erweiterte Gebiete, und seine Hörerzahl

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im Privatkolleg stieg 1378 auf 60 Studierende. Vorzüglich vorbereitet, las er lichtvoll und klar und führte so viele Schüler der Astronomie dauernd zu.

Von seinen wissenschaftlichen Arbeiten geben die Register der A. N. dauernd Kunde. Er gab und behandelte in seiner Breslauer öffentlichen Antrittsvorlesung die Verbesserung von Planetenbahnen aus Beobachtungen im Moment der Oppositionen. Er gab eine Metlıode zur Berechnung der Höhe des Nordlichtes, regte erfolgreich die Bestimmung der Sonnen- parallaxe durch die Beohachtung verhältnismäßig erdnaher kleiner Planeten an und verfaßte eine elegante Methode zur Berechnung von Meteorbahnen. Sein wichtigstes Werk ist das allbekannte Verzeichnis aller bisher be- rechneten Kometenbalınen bis 1894 mit Angabe aller Quellen der Be- obachlung und Rechnung.

Außerdem hat er die Konstanten des Erdmagnetismus für Breslau durch tägliche Beobachtungen bestimmt, bis die Legung der Schienen der Straßenbahn neben der Universität die Fortsetzung dieser Arbeit durch lokale Störungen des Erdmagnetismus unmöglich machte. In seinen Grundzügen der schlesischen Klimatologie hat er die Mittelwerte und Extreme für Breslau bestimmt. Diese Grundzüge erschienen zuletzt 1391 in den Schriften der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur,

Galle leitete seit 1851 als Sekretär viele Jahre die meteorologische und später die geographische Sektion der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur und publizierte in ihr 1591 die vieljährigen Mittel- werte der Breslauer meteorologischen Beobachtungen, ferner alljährlich die Übersicht über die meteorologischen Beobachtungen.

In seinen Mitteilungen der Breslauer Sternwarte von 1879 gibt er pietätvoll Nachrichten über die Entstehung des astronomischen Unterrichts und der Sternwarte sowie ihrer baulichen Veränderungen, endlich ein Verzeichnis aller vorhandenen Instrumente und ihrer Herkunft, die geo- graphischen, meteorologischen und magnetischen Konstanten von Breslau.

Galle war auswärliges Mitglied der Königl. Astronomischen Gesell- schaft in London, korrespondierendes Mitglied der Königl. Bayerischen Akademie der Wissenschaften und Ehrenmitglied der Schlesischen Gesell- schaft für vaterländiache Cultur. Aus Anlaß von Jubiläen hat er in den letzten Jahren von seiten der Astronomen und von seiner Universität Breslau, an der er bis zu seiner Übersiedelung nach Potsdam im April 1897 wirkte, vielfache Ehrungen erfahren.

Am 9. Juni 1902, zu seinem 90. Geburtstage, kamen Deputalionen der Astronomischen Gesellschaft, des Astrophysikalischen Instituts in Pots- dam, der Berliner und Breslauer Sternwarte und anderer Körperschaften zu ihm zur Beglückwünschung aus Anlaß der seltenen Feier. Der neun- zigjährige Greis hörte stehend alle Ansprachen an und erwiderte stehend jede einzelne in rüstiger Gesundheit. Alle Briefe, die er zu Jubiläen, an

8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Geburtstagen oder zu Neujahr erhielt, beantwortete er selbst mit sicherer Hand und besonders schöner Handschrift ausführlich. Erst nach seinem 98. Geburtstage, 9. Juni 1910, übernahm sein Sohn die Beantwortung.

Verheiratet war Galle mit der Tochter des Breslauer Professors Regenbrecht und aus dieser Ehe erwuchsen ihm zwei Söhne.

Ein ernster, religiöser Sinn, Treue und große Sorgfalt auch in Einzel- heiten, verbunden mit Genialität, sind die Eigenschaften, die seinen Charakter auszeichneten. Seinen reichen Anteil an den Erfolgen und Errungen- schaften deutscher Wissenschaft hat er sich in stiller Arbeit und deutscher Gründlichkeit gesichert. J. Franz.

Paul Glasenapp.

Am 27. Juli 1910 entschlief sanft am Herzschlag zu Breslau nach langem schweren Leiden im 55. Lebensjahre der Königliche Regierungs- und Baurat a. D. Paul Glasenapp, Generaldirektor der Breslauer Actien- Gesellschaft für Eisenbahn-Wagenbau und Maschinenbau-Anstalt Breslau, seit dem Jahre 1882 Mitglied des Vereins Deutscher Maschinen-Ingenieure.

Mit Glasenapp ist ein Mann aus dem Leben geschieden, welcher sowohl im preußischen Staatseisenbahndienst, wie auch als Attach& bei der Kaiserlichen Botschaft in Washington und als Leiter großer Werke Her- vorragendes geleistet hat. Leider wurde er zu früh aus seinem Wirkungs- kreise abberufen. Seine ganze umfangreiche Tätigkeit und sein reiches Wissen hat er zuletzt in den Dienst der von ihm geleiteten Werke in Breslau gestellt, deren dauernde ausgezeichnete Leistungen er nicht allein auf der Höhe erhalten, sondern auch nach jeder Richtung hin vervoll- kommnet und namentlich durch umfangreiche Anlagen neuer Werkstätten für die Zukunft sichergestellt hat. Er wurde mitten aus einem arbeits- reichen Leben abgerufen, trotzdem er in der letzten Zeit infolge seiner Erkrankung sich eine gewisse Schonung auferlegen mußte.

Paul Ulrich Glasenapp wurde in Neudorf bei Culm a. W. (West- preußen) am 10. Dezember 1555 geboren, wo sein Vater Gutsbesitzer war. Nach dem Besuch des Gymnasiums zu Frankfurt a. O. war er zunächst in den Jahren 1874/75 als Maschinentechniker bei der Königl. Direktion der Ostbahn zu Bromberg tätig, studierte in Berlin an der Königl. Gewerbe-Akademie, später Königl. Technischen Hochschule, vom Jahre 1875 bis 1879 und bestand in März 1880 das Examen als Regierungs-Maschinen- Bauführer. Er leistete seine einjährige Dienstzeit in Landsberg a. W. ab und wurde zu den Reserve- bezw. Landwehr-Übungen bei dem Leib- grenadier-Regiment Erstes Brandenburgisches No. 8 in Frankfurt a. ©. eingezogen, wo er im Jahre 1899 zum Hauptmann der Landwehr befördert wurde. Er besaß die Landwehrdienstauszeichnung I. Klasse.

Im Jahre 1881 kam er zu der Königl. Eisenbahndirektion Hannover, von wo er während der Jahre 1382/83 nach Bochum als Abnahmebeamter

Nekrologe. 9

gesandt wurde. Nachdem er am 4. Oktober 1834 die zweite Staatsprüfung abgelegt hatte, wurde er zum Regierungs-Maschinenmeister und im Jahre 1886 zum Königl. Regierungsbaumeister ernannt und war während der Jahre 1834—1892 erneut bei der Königl. Eisenbahndirektion zu Hannover in verschiedenen Dienststellen tätig. Während der Jahre 1892—1895 war er bei der Königl. Eisenbahndirektion in Erfurt angestellt, und wurde am 20. September 1893 zum Königl. Eisenbahn-Bauinspektor ernannt. Bei der Neueinrichtung der Königl. Eisenhahndirektion Halle a. S. wurde er nach dort versetzt, verblieb dort während der Jahre 1895—1898 und wurde alsdann zum Vorstand der Königl. Eisenbahn - Hauptwerkstätte Speldorf (Rheinland) ernannt.

Im Jahre 1599 wurde er als Hilfsarbeiter in das Ministerium der öffentlichen Arbeiten berufen und im April 1900 erfolgte seine Zuteilung als maschinentechnischer Attach& bei der Kaiserlichen Botschaft in Was- hington auf den Zeitraum von drei Jahren, wo er Gelegenheit hatte, das Eisenbahnwesen der Vereinigten Staaten, sowie die glänzende industrielle Entwicklung dieses Landes eingehend kennen zu lernen. Am Ende seines Aufenthaltes in den Vereinigten Staaten von Nordamerika war er Führer bei einer Studienreise des Herrn Staatsministerss von Rheinbaben und einer größeren Anzahl von Staatsbeamten, welchen er durch seine Kenntnis von Land und Leuten den dortigen Aufenthalt außerordentlich lehrreich machte. Den Festlichkeiten im Jahre 1902 in New York und Chicago aus Anlaß des Besuches Seiner Königlichen Hoheit des Prinzen Heinrich von Preußen hatte er die Ehre als Attach& der Deutschen Bot- schaft beizuwohnen. Am 9. September 1902 wurde er zum Königl. Re- gierungs- und Baurat ernannt und schon bald hierauf durch die Verleihung des Roten Adler-Ordens IV. Klasse ausgezeichnet. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland richtete und bearbeitete er das in Amerika gesammelte Studienmaterial. Am 29. Februar 1904 wurde er aus dem Staatsdienst entlassen, um als Generaldirektor in die Dienste der Breslauer Actien- Gesellschaft für Eisenbahn-Wagenbau und Maschinenbau-Anstalt Breslau überzutreten.

Mit großer Energie und anerkennenswertem Fleiße hat Glasenapp die von ihm durch eine reiche Praxis im Gebiete der preußischen Staats- eisenbahn-Verwaltung und seine im Auslande gesammelten Erfahrungen benulzt, um sie in seiner neuen Stellung zu verwerten. Dies war ihm nicht allein vielfach im Betriebe der von ihm geleiteten und rühmlichst bekannten Breslauer Actien - Gesellschaft für Eisenbahn-Wagenbau und Maschinenbau-Anstalt Breslau möglich, sondern seine Erfahrungen kamen ihm besonders zustatten beim Neubau der großen Werkstätten der oben genannten Actien-Gesellschaft, Die Vervollkommnung der Fabrikation der von ihm geleiteten Werke sowie die der Vollendung entgegengehenden Werkstätten bilden ein glänzendes Zeugnis für seine große technische

10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Befähigung und für seinen weiten Blick und sichern ihm ein ehrendes Andenken über seinen Tod hinaus.

Er war in allen seinen Lebensstellungen von seinen Mitarbeitern geschätzt und geliebt und von seinen Untergebenen geachtet und geehrt War er doch selbst ein leuchtendes Vorbild von treuer Pflichterfüllung und stets erfüllt von idealen Bestrebungen, das Beste in seiner Amts- tätigkeit zu leisten. Sein gewandtes Auftreten wie seine weltmännische Erfahrung sicherten ihm auch eine hervorragende Stellung in seinem neuen Wirkungskreis, so daß er bereits im Februar 1906 den Vorsitz im Verband schlesischer Metallindustrieller in Breslau übernehmen konnte, Während seiner Tätigkeit in Breslau blieb er dauernd mit der Eisenbahn- Verwaltung in nahen Beziehungen. Im Verein Deutscher Maschinen- Ingenieure war er ein reges Mitglied und beteiligte sich besonders be- Stellung von Preisausschreiben und Prüfung der eingegangenen Lösungen. Während seiner Tätigkeit bei der Eisenbahn sowohl wie im diplomatischen Dienst im Auslande wie auch in der Industrie seines Vaterlandes hat er Hervorragendes geleistet; sein liebenswürdiges und formvollendetes Auf- treten ließ von ihm noch eine glänzende Zukunft erwarten, Leider wurde er zu früh seiner Tätigkeit entrissen, und es trauern mit seiner Gattin und seiner Familie seine Mitarbeiter und Freunde an der Bahre dieses trefflichen, leider zu früh verstorbenen Mannes.

Frau Baurat Cläre Grosser, geb. Jaretzki, zu Breslau geb. den 9. Februar 1859 und gest. den 29. Oktober 1910. Es ist das erste Mal, daß der Jahresbericht der Schles. Gesellschaft in einem Nekrologe auch einer Frau zu gedenken hat. Und es ist uns wehmütige Freude, bezeugen zu dürfen, daß gerade diese Frau zu uns gehörte. Sie steht vor uns mit ihrer sinnigen, feinen und vornehmen Art, mit einem Geiste, offen für alles, was groß, edel, gut, rein und schön ist in dieser Welt. Ihrem Gatten ist sie in 29 Jahren die verständnisvolle Genossin seines künst- lerischen Schaffens gewesen. Mit dem Zauber echter Weiblichkeit hat sie sein Haus zu einem glücklichen Heim gemacht. Auf ausgedehnten Reisen, die sie mit ihm in fast alle Länder Europas unternahm, hat sie mit ihm die Herrlichkeiten der Schöpfung, wie die Gebilde und Bauten menschlicher Kunst bewundert. Nicht minder gern lauschte sie den edlen Werken der Tonkunst. Ihre Liebe zur Natur, zu dem Garten mit seinen Blumen hat sie im Jahre 1907 unserer zoologisch-botanischen Sektion und unserer Sektion für Obst- und Gartenbau zugeführt. Die letzten Veilchen, die die Herbstsonne um ihr schönes neues Heim erblühen ließ, schmückten das stille Totenbett der auch im Leide bewährten Dulderin. Ihre nimmer versiegende Herzensgüte hat ihr viele Herzen gewonnen.

Georg Hoffmann.

Nekrologe. ır

Am 10. Mai 1910 starb im Alter von 45 Jahren der Mittelschulrektor Hermann Grosser. Er stammte aus einfachen ländlichen Verhältnissen. Geboren am 20. Februar 1865 in Kroisch bei Liegnitz, besuchte er die Schule seines Heimatsortes und dann Präparandenanstalt und Lehrerseminar in Reichenbach O/L. Nachdem er in Johnsdorf Kr, Schönau und an einer Breslauer Volksschule Lehrer gewesen war, wurde er 1892 als Mittel- schullehrer an die Margaretenschule berufen, und 1898 wurde ihm die Begründung einer neuen Mittelschule in Breslau der Katharinenschule übertragen, der er seit dieser Zeit als Leiter, seit 1901 als Rektor vor- stand.

Hier entfaltete er die reichen Gaben seines Geistes und Gemütes. Unter seiner Führung wuchs die Schule zu 17 Klassen heran und wurde zur neunstufigen Anstalt ausgebaut. Seinen Schülerinnen war er ein väterlicher Freund, seinen Amtsgenossen ein treuer Berater und ein Vor- bild der Pflichterfüllung.

Nachdem er durch einen Studienaufenthalt in Genf und Paris seine sprachlichen Kenntnisse erweitert hatte, widmete er sich vor allem dem Studium der Kindesseele, besuchte Vorlesungen über Psychologie und Philo- sophie an der Universität Breslau und trat mit den Professoren Dr. Ebbing- haus und Dr. W. Stern in einen regen geistigen Verkehr. Die Jugendkunde, an deren Ausbau zur Wissenschaft jetzt eifrig gearbeitet wird, erfuhr durch ihn eine reiche Förderung. Seine Schule war für alle Bestrebungen auf dem Gebiete Messungen der geistigen Ermüdung durch den Einfluß des Unterrichts, Prüfungen der Aufmerksamkeit, Bedeutung der Schüler- zeichnungen für die Kenntnis der jugendlichen Seele, Einführung der Werktätigkeit in den Schulbetrieb u. a. m. eine dienstbereite Stlälte, und zur wissenschaftlichen Verwertung dieser Forschungen bot er stets seine nie müde helfende Hand. Seinem Bienenfleiße entging nichts, was in Theorie und Praxis auf dem Felde der Psychologie in der ganzen Welt geleistet wurde, so daß er in Breslau als einer der besten Kenner dieses Zweiges der Wissenschaft genannt zu werden verdiente. Und da er sich an dem Lehrervereinsleben rege beteiligte, und bei jedem Gedankenaus- tausch über pädagogische Fragen gern die geistige Führung übernahm, von seiner Behörde auch wiederholt zur Darbietung von Vorträgen herangezogen wurde, so hat auch die Breslauer Lehrerschaft manche Anregung und Förderung durch ihn erfahren.

Nicht minder bedeutsam war sein Einfluß auf die Weiterentwickelung des preußischen Mittelschulwesens. Durch Aufsätze in Fachschriften und Versuche an seiner Schule hat er für dessen Gestaltung gewirkt und an den Entwürfen zu den neuen ministeriellen Lehrplänen dieser Schulgattung und an den Beratungen darüber teilgenommen, Wenige Monate nach der Veröffentlichung der Bestimmungen, die der Mittelschule einen festen Platz und eine klar abgegrenzte Aufgabe zwischen der Volksschule und der

12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

höheren Schule zuweisen, ereilte ihn der Tod. Er war ein stiller, be- scheidener Mann.

An seiner Bahre trauerten nicht allein seine Witwe, eine Tochter des kürzlich verstorbenen Geheimen Regierungsrats Sperber, und zwei Söhne, sondern auch die große Schar seiner Schülerinnen, seine Berufsgenossen und viele unserer Mitbürger. Rosteutscher.

Am 28. September 1910 verschied auf seinem Landsitze zu Dobbrikow (im Kreise Luckenwalde) das langjährige Mitglied (seit 15. Januar 1870) der „Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur‘“, der Erste Königl. Hausarchivar, Geheimer Archivrat Dr. J. Großmann.

Julius Großmann, am Sonntag Lätare (2. März) 1345 zu Chmielowitz bei Oppeln geboren, erhielt seine Vorbildung anfangs auf dem Elisabetanum, dann seit 1857 auf dem Magdalenen-Gymnasium in Breslau, das er im Herbste 1864 mit dem Zeugnis der Reife verließ.

Im Oktober desselben Jahres bezog er die Breslauer Universität, um sich dem Studium der Philosophie und Philologie, vor allem aber der Geschichte zu widmen.

Seit den Tagen, da Eduard Cauer!), der Schüler Schlossers und Rankes, der Verfasser der bekannten ‚Geschichtstabellen“, die Teilnahme des Schülers an geschichtlichen Dingen und Charakteren erweckt hatte, fühlte dieser sich unwiderstehlich angezogen von der großen „Lehrerin des Lebens“ und ihrem unermeßlichen Bildungswerte. Auf der Universität war es besonders der treffliche Richard Röpell, der den talentvollen, von heißem Wissensdurste erfüllten Studenten anregte und förderte. Auf dessen Ver- anlassung setzte Großmann seit Ostern 1866 seine Studien in Berlin fort. Kaum aber hatte er dort festen Fuß gefaßt, als der deutsche Krieg ausbrach. Nun litt es ihn nicht länger bei seinen Büchern. Im Mai trat er als Kriegsfreiwilliger in das Garde-Füsilier-Regiment ein. Aber seine Hoffnung, mit ins Feld ziehen zu können, ging nicht in Erfüllung. Die Siegesnach- richt von Königgrätz, die in den Vormittagsstunden des 4. Juli die Straßen der preußischen Hauptstadt mit nie erlebtem Jubel erfüllte, ereilte den jungen Garde-Füsilier auf der Wache am Brandenburger Tor.

Nachdem Großmann seiner Dienstpflicht genügt, nahm er Ostern 1867 mit um so größerem Eifer seine Studien wieder auf. Mommsen und Ranke, besonders aber Joh. Gust. Droysen, zogen ihn mächtig an. Aber auch Männer wie Kirchhof, der Altphilologe, und Heinrich Kiepert, der gelehrte Geograph, der in der Erinnerung der jüngeren Generation nur noch als komische Figur fortlebt, Lepsius, der ausgezeichnete Ägyptologe, und der geistvolle Philosoph Trendelenburg fesselten seine erkenntnisdurstige Seele und machten seiner frohgemuten Natur die idealistische Weltansicht, die

1) 7 1831 als Stadtschulrat in Berlin.

Nekrologe. 13

„des Lebens bleiches Antlitz durch des Traumes rosenfarb’nen Schleier schmückt‘‘, zum Bedürfnis. Auch die bittersten Erfahrungen seines späteren Lebens haben diese Anschauung nicht zu erschüttern vermocht.

Im Sommersemester 1868 wurde er in Droysens historische Gesell- schaft aufgenommen, ein Umstand, der für seinen Studiengang von Bedeutung wurde, In die Quellen zur Geschichte des 17. Jahrhunderts eingeführt, machte er sich nunmehr daran, diesen Zeitraum mit seiner Fülle noch ungelöster Probleme zu erforschen. Die erste vielversprechende Frucht dieser Studien war eine Arbeit über „Ernst von Mansfeld und die Schlacht an der Dessauer Brücke“, auf Grund deren er am 29. Juli 1869 von der Breslauer Universität, an die er im Frühjahr desselben Jahres zurückgekehrt war, zum Doktor promoviert wurde. Als eine besondere Gunst durfte er es betrachten, daß ihm die philosophische Fakultät gestattete, seine Disser- tation in deutscher Sprache, anstatt in der vorgeschriebenen lateinischen zu verfassen.

Die Dissertation bildete die Einleitung zu einer größeren Arbeit, die im Dezember 1869 erschien unter dem Titel „Des Grafen Ernst von Mans- feld letzte Pläne und Taten“. Diese, auch heute noch nicht überholte, Schrift behandelt bekanntlich das für Schlesien so verhängnisvolle Unter- nehmen des Mansfelder Grafen in seinen Ursachen, seinem Zusammenhang, seinem Verlauf und seinen Folgen in breiter Ausführlichkeit und mit selb- ständigem, kritischem Urteil. Zugrunde liegen ihr die nicht nur bis dahin unbeachtet gebliebene Korrespondenz Mansfelds mit Johann Ernst von Weimar, sondern auch neues, mit großer Umsicht gesammeltes, Akten- material aus den Breslauer Archiven und dem Geheimen Staatsarchiv.

Nachdem sich Großmann mit so großem Erfolge in die Wissenschaft ein- geführt hatte, gedachte er seine Forschungen auf die ungedruckten Quellen, die in den Archiven beruhenden Akten auszudehnen. In erster Linie kamen für seine Zwecke die reichen Schätze der Wiener Archive in Betracht. Hieran sollte sich dann die Durchmusterung der Bayrischen Archive schließen, die eben durch Franz von Löher reorganisiert und der wissenschaftlichen Forschung erschlossen worden waren.

Im April 1870 traf er in Wien ein, wo er besonders im Haus-, Hof- und Staatsarchiv freundliche Aufnahme fand. Aber schon nach wenigen Monaten ward er durch den Ausbruch des deutsch-französischen Krieges seinen Studien entführt. Im schlesischen Füsilier-Regiment Nr. 38 zog er nach Frankreich, nahm an der Belagerung von Paris teil und gehörte dann zu den Auserwählten des VI, Armeekorps, denen es vergönnt war, am 1. März 1871 die feindliche Hauptstadt zu betreten.

Im August 1871 kehrte er aus dem Feldzuge heim. Nur wenige Wochen gönnte er sich die nötige Erholung von den Kriegsstrapazen, die auch seiner eisernen Natur hart zugesetzt hatten. Dann eille er abermals nach Wien, um dort seine Archivstudien wieder aufzunehmen. Er lag

14 Jalıresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur

ihnen bis zum Beginn des Jahres 1872 ob. Da trat die Notwendigkeit an ihn heran, sich für einen bestimmten Lebensberuf zu entscheiden. Seinem Lieblingswunsch, sich der Universitätslaufbahn zu widmen, mußte er schweren Herzens entsagen. Er vertauschte sie mit dem Archivdienst. Am 1. April 1872 wurde er dem schon damals unter Hilles Leitung stehenden Staatsarchiv zu Schleswig zur Ausbildung überwiesen und am 1. März 1873 in das Königliche Hausarchiv berufen, dem er seit April 1881 bis zu seinem Scheiden aus dem Amte als erster Hausarchivar vorstand.

Für seinen neuen Beruf brachte Großmann wertvolle Gaben mit: Treffliche Vorbildung, hervorragendes Organisationstalent, praktischen Sinn, sorgsame Vorliebe und nie erlahmenden Eifer für die Pflege der seiner Hut anver- trauten ehrwürdigen und kostbaren Archivschätze und den Drang, durch tüchtige Arbeit dauernde Werte zu schaffen. So konnte es denn nicht fehlen, daß die Sichtung und Ordnung der Archivalien unter seiner Leitung erhebliche Fortschritte machte, die heute zahlreichen wissenschaftlichen Benutzern zugut kommen. Nicht minder groß sind seine Verdienste um die Vermehrung der Archiv-Bibliothek. Hier hat er namentlich die Literatur über Friedrich den Großen und seine Werke mit Umsicht und eindringendem Verständnis gepflegt und auf diesem Gebiete eine ander- weitig kaum vorhandene Vollständigkeit erstrebt und erreicht.

Neben seiner amtlichen Wirksamkeit ging, namentlich in den 70er ‚Jahren, eine fruchtbare literarische Tätigkeit einher. Vor allem galt es, (die Früchte der Wiener Archivstudien der Wissenschaft zugänglich zu machen. Nachdem er 1870 „Über Privatarchive“ (Schlesisch. Provinzialbl.) gehandelt und 1871 in den „Forsch. zur deutsch. Gesch.“ über „Müllers Reichstagstheatrum‘“, erschien dort 1872 ein instruktiver Aufsatz über „Die Geschäftsordnung in Sachen der äußeren Politik am Wiener Hofe zu Kaiser Leopolds und Lobkowitz’ Zeiten“. Diese Arbeit, mühsam aus einzelnen zerstreuten Nachrichten erwachsen, gewährt einen lehrreichen Einblick in „jene Unbeweglichkeit und Zähigkeit, jene Unentschlossenheit und Doppel- sinnigkeit, die die damalige österreichische Politik kennzeichneten“.

Hieran schloß sich im Jahre 1373 eine größere, mit zahlreichen Akten- beilagen ausgestattete, auch heute noch ihren Wert behauptende, Schrift!) über den „Kaiserlichen Gesandten Franz von Lisola im Haag 1672— 13“. Lisola erscheint hier als der einzige kaiserliche Diplomat, der die Not- wendigkeit einer Annäherung der protestantischen Seemächte zum Zwecke des Widerstandes gegen Ludwig XIV. einsah und befürwortete, eine Auf- fassung, die in Wien gar nicht verstanden wurde, und der den kaiserlich- holländischen Vertrag vom 13. Dezember 1672 als seine eigenste Sache betrieb und zustande brachte. Durch die „Folgen, die sich seiner Idee nach an diesen Vertrag knüpfen sollten und tatsächlich knüpften“, übte er

1) Zuerst erschienen im Archiv für österr. Gesch. (51. Band).

Nekrologe. 15

„auf die Entwicklung der Geschichte Österreichs nicht nur, sondern ganz Europas eine tief eingreifende Wirkung“.

Als eine wertvolle Ergänzung dieser verdienstlichen Arbeit ist eine andere, ebenfalls auf den Akten des Wiener Staatsarchivs beruhende Ab- handlung anzusehen. Sie wurde 1876 ausgegeben unter dem Titel: ‚Die Amsterdamer Börse vor 200 Jahren. Ein Beitrag zur Geschichte der Politik und des Börsenwesens im mittleren Europa (1672—73).“ Hier wird u. a. die Einwirkung der Amsterdamer Börse auf die europäische Politik anziehend geschildert, der Stand der Kurse als Beweggrund poli- tischen Handelns angeführt und die Ursachen für deren Steigen und Fallen erörtert. Auch in dieser Darstellung spielt Lisola die Hauptrolle. Er war die Seele und das treibende Element der Koalition gegen Frankreich. In seinen Gesandtschaftsberichten wies er beständig auf eine energische Kriegs- führung hin und gab sich alle erdenkliche Mühe, dem Wiener Hofe den finanziellen Zustand der Republik und die inneren Gründe der Wert- schwankungen der Obligationen begreiflich zu machen, mit dem Holland seine vertragsmäßigen Subsidien bezahlte.

Zwei Jahre später veröffentlichte er zuerst im 27. Band des Archivs für österr. Geschichte und dann selbständig eine auf Archivalien des Wiener Reichskriegsarchivs zurückgehende Schrift über „Raimund Montecuceoli. Ein Beitrag zur österreichischen Geschichte des 17. Jahrhunderts, vor- nehmlich der Jahre 1672—73.“ Klar und anschaulich schildert der Ver- fasser Montecuccolis Bestrebungen, die Franzosen am Rhein mit aller Macht zu bekämpfen und zu diesem Zwecke mit dem Großen Kurfürsten Hand in Hand zu gehen, und weist überzeugend nach, daß sie infolge der Machinationen Lobkowitz’s aufgegeben wurden, obwohl sie bereits die Billigung der geheimen Konferenzen in Wien gefunden hatten.

Außer diesen größeren Arbeiten lieferte seine fleißige Feder damals und später mancherlei wertvolle Rezensionen und Beiträge für die „All- gemeine Deutsche Biographie“, „Müllers Zeitschrift für Deutsche Kultur- geschichte‘‘!) und später auch für das „Hohenzollern-Jahrbuch“. Bemerkens- wert ist namentlich der dort (Jahrgang 1900) veröffentlichte Aufsatz über die „Jugend Friedrich I., ersten Königs in Preußen“, der das Thema er- schöpfend behandelt und viele neue Tatsachen zur Lebensgeschichte des ersten preußischen Königs beibringt.

Das nächste Dezennium füllten die Vorbereitungen zur Herausgabe des VIII. Bandes der Monumenta Zollerana aus. Sie führten ihn auf ein Gebiet, dem er seinem ganzen Studiengange nach ziemlich fern stand, nämlich das der zollerischen Vor- und Frühgeschichte. Aber frohen Mutes und mit der ihm eigenen Energie machte er sich an die Arbeit und drang

ı) Hingewiesen sei auf die dort 1874 und 1875 abgedruckten interessanten Arbeiten über „Das seelzagende Elsaß“ und „Ir. K. von Moser“.

16 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

allmählich so weit vor, daß er als einer der besten Kenner dieser schwierigen, nur von wenigen Historikern beherrschten Periode gelten durfte. So vorbereitet, konnte er denn getrost im Verein mit Martin Scheins an die Bearbeitung des schon vom Grafen. Stillfried gesammelten, überreichen Materials gehen und das großartige Monumental-Werk, dessen 7. Band 1861 ausgegeben worden war, 1886 zum Abschluß bringen. Der schwierige Druck des stattlichen Bandes erforderte einen Zeitraum von nahezu vier Jahren. Er enthält Urkunden des gemeinsamen Urstammes bis zum Jahre 1235, des schwäbischen (fürstlichen) Zweiges von 1235 bis 1417 und der fränkischen (burggräflichen) Linie (1235— 1417). Außer- dem bietet er wertvolle Nachträge, Ergänzungen und Berichtigungen zu Bd. I—VII, die Zeit von 1085—1417 umfassend, und in ihnen neue wichtige Daten zur Lebensgeschichte einzelner, bisher unbekannter Mit- glieder des zollerischen und burggräflichen Hauses, so daß deren Aufnahme in die Stammtafel des Hauses ermöglicht wurde.

Nicht zu verkennen ist, daß die äußere Bearbeitung des Materials hinter der modernen, namentlich von Weizsäcker begründeten Editions- technik zurückbleibt. Die Art der sprachlichen Behandlung der Texte, deren historische Bearbeitung und Erklärung und die entsprechende Ein- richtung des Druckes lassen leider manche Wünsche unerfüllt. Keiner hat diese schmerzlicher empfunden als der Herausgeber selbst, und häufig hat er mit mir den Gedanken erwogen, wie ihnen abzuhelfen sei. Indes alle diese Bemühungen scheiterten an der harten Notwendigkeit, den im Haupt- werk vertretenen Grundsätzen auch im Schlußbande folgen zu müssen. In der Tat wäre ein nach modernen Prinzipien bearbeiteter Ergänzungs- band völlig aus dem Rahmen des Gesamtwerkes herausgetreten und hätte „eine gewisse Unsicherheit in seiner Benutzung hervorrufen müssen, die den Wert der gebotenen Ergänzungen nur beeinträchtigen konnte“.

Daneben beschäftigte Großmann damals der großartige Plan der Herausgabe der „Politischen Testamente‘‘ König Friedrichs des Großen. Diese Arbeit sollte im Jahre 19886 den Manen des großen Königs aus Anlaß seines 100. Todestages als eine Gabe des Hausarchivs dargebracht werden.

Bei den archivalischen Arbeiten hatte sich längst der Mangel einer zuverlässigen Stammtafel des Hauses Hohenzollern empfindlich bemerkbar gemacht. Das unhandliche Werk des Grafen Stillfried ist völlig unzulänglich. Andere einschlägige Genealogien wandelten auf seinen Spuren. Der Gedanke, eine allen wissenschaftlichen Anforderungen genügende Stammtafel zu schaffen, wurde daher vielfach im Schoße des Hausarchivs erörtert. Seine Ausführung. konnte indes erst nach der im Jahre 1895 erfolgten Über- siedelung des Archivs in sein neues Heim zu Charlottenburg ernsthaft ins Auge gefaßt werden. Und da war es besonders Großmann, dessen Tatkraft alle mit der Herstellung eines so umfassenden Werkes verbundenen Schwierig- keiten und die im Laufe der Zeit entstandenen Hemmnisse siegreich über-

Nekrologe. 1öff

wand. An der Arbeit waren die Archivare des Gesamthauses beteiligt. er selbst übernahm die Redaktion und schuf vor allem die Abteilungen: „Urstamm“ und „Burggrafen von Nürnberg“, für die er besonders vor- bereitet war. Auch die Idee der äußeren Anordnung, die gänzlich von der bei ähnlichen Genealogien üblichen Form abweicht und sich in der Praxis durchaus bewährt hat, ist sein unbestrittenes geistiges Eigentum. Nach 10jähriger, mühevoller Arbeit konnte die Genealogie des Gesamt- hauses Hohenzollern in einer des Gegenstandes würdigen äußeren Aus- stattung der Öffentlichkeit übergeben werden. Und es war gewiß ein Moment erhebender Genugtuung, als es Großmann am 18. Dezember 1905 ver- gönnt war, das unter unendlichen Mühen zustande gekommene Werk im Verein mit seinen Mitarbeitern Sr. Maj. dem Kaiser und Könige überreichen zu dürfen. Das geschah zu einer Zeit, da er bereits aus dem Amte geschieden war. Am 1. Oktober 1901 hatte er, nachdem er 1895 zum Geheimen Archiyrat ernannt worden war, Abschied von der Stätte genommen, der er länger als 28 Jahre seine beste Kraft gewidmet hatte. Die Folgen der Kriegsstrapazen, vor allem ein sich allmählich mehr und mehr fühlbar machendes Gehörleiden hatten ihn, der kaum die Mitte der 50 überschritten hatte, vorzeitig zur Entsagung genötigt.

Schon im Frühling dieses Jahres war er dem nervenmordenden Getriebe der Großstadt entflohen. An den Ausläufern des Fläming, in echt märkischer Landschaft, hatte er einen kleinen ländlichen Besitz er- worben und dort auf einsamer Höh’, umrahmt von düsteren Kieferwäldern und blinkenden Seen, ein stattliches Haus errichtet, von dessen Zinnen ınan einen entzückenden Rundblick genießt. Hier lebte er ganz seiner kleinen ländlichen Wirtschaft, und in der stillen Weltabgeschiedenheit fand er auch bald den inneren Frieden wieder, den des Schicksals rauhe Hand ihm jählings geraubt. In Haus und Garten, in Wald und Feld betätigte sich sein praktischer Sinn. Und schon nach wenigen Jahren erhoben sich an der Stätte, die vorher nur eine öde Heidefläche gewesen, ein blühender Garten, blumige Wiesen und fruchtbare Ackerflächen. Mit berechtigtem Stolze durfte er gelegentlich seine Freunde, die in dem gasllichen Hause immer willkommen waren, auf die Erfolge seiner ländlichen Wirksamkeit hinweisen.

Die Verwaltung des kleinen Reiches nalım den rastlos tätigen Mann vom Frühjahr bis zum Herbste in Anspruch. Fahrten in Wald und Feld mit seinem prächtigen Ponygespann, das er meist selbst zu lenken pflegte, waren seine liebste, aber auch die einzigste Erholung, die er sich gönnte. Aber sobald die Tage kürzer und die Abende länger wurden, kehrte er doch immer wieder gern in sein geräumiges, behaglich eingerichtetes Studierzimmer zurück, um hier die unterbrochenen Arbeiten wieder auf- zunehmen. So entstand hier noch 1906 eine anregende Schrilt über den „Familiennamen der Hohenzollern‘, die letzte Arbeit aus seiner fleißigen

1910. N

18 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Feder. Andere, wie die „Geschichte der Politischen Testamente‘“ des Großen Königs, für die er umfassende archivalische Studien gemacht, sind leider nicht mehr zur Vollendung gekommen.

Nur wenige Jahre durfte sich unser Freund des ländlichen Friedens „procul negotiis“ freuen. Seit geraumer Zeit waren die Lemuren an der Arbeit, ihm das Grab zu graben. Und nachdem im Jahre 1907 der All- bezwinger mit leise mahnendem Finger an die Pforte seines Hauses geklopft, siechte er seit dem Frühjahr 1910 langsam und unter Schmerzen dahin. So bedeutete denn der Tod, der ihn am 28. September 1910 ereilte, in Wahrheit eine Erlösung für ihn. ‚In der Furche, in der ich geboren, will ich auch sterben.“ Diesen Wunsch, dem er einst in seiner drastischen Weise Ausdruck verliehen, hat die sonst so mitleidlose Parze großmütig ihm erfüllt. Am Sonntag, den 2. Oktober, einem milden, sonnenhellen

Herbsttage, haben wir ihn mit militärischen Ehren und unter Begleitung einer unabsehbaren, aus der ganzen Umgegend zusammengeströmten Volks- menge zu Grabe getragen. Die ratlose Erstarrung, die an offenen Gräbern über den Menschen gekommen und die auch uns erfaßt hatte, lösten ein erhebendes Finale die Salven, die krachend über den frischen Hügel rollten, in der Ferne ein dumpfes Echo erweckend.

Fern von seiner geliebten schlesischen Heimat hat Großmann seine letzte Heimstatt in märkischer Erde gefunden, inmitten einer Natur, deren herben Zauber auch er, wie jeder Naturfreund, ehedem gern auf sich wirken ließ. Hier ruht er nun aus der vornehme, geradsinnige Mann, der trefiliche Soldat, der pflichttreue Beamte, der tüchtige Gelehrte von allen Mühen und Arbeiten, allem Leid und jeglicher Erdenqual, von allen Sorgen, Bitternissen und Enttäuschungen, die auch ihm, wie jedem wackern Erdenpilger, das Leben reichlich zugemessen hatte. Möge ihm die Erde leicht sein!

Halensee-Berlin. Georg Schuster.

Eisenbahndirektionspräsident a. D., Wirklicher Geheimer Oberregierungs- rat Ernst Hermann wurde am 23. Februar 1842 in Heiligenstadt ge- boren. Nach erfolgreichem Besuch des Königlichen Domgymnasiums in Magdeburg bezog er im Wintersemester des Jahres 1862 die Universität Halle a. S., um die Rechte zu studieren, setzte das Studium vom Winter- semester 1864 bis zum Sommersemester 1865 in Berlin fort und bestand am 1. November 1865 in Naumburg a. S. die Auskultatorprüfung. Darauf wurde er bei dem Appellationsgericht in Magdeburg beschäftigt und daselbst nach der am 3. Juni 1867 bestandenen zweiten Prüfung zum Referendar ernannt. Im September 1869 ließ er sich an das Kammergericht in Berlin überweisen und vollendete dort seine Ausbildung.

Nach bestandenem Assessorexamen (13. August 1870) war er zunächst im Justizdienst tätig, verwaltete während des Krieges mit Frankreich vom

Nekrologe. 19

1. September 1870 ab eine, später beide Gerichtskommissionen in Öster- burg i. Altm. und wurde nach Beendigung des Krieges am 1. August 1871 zum Kreisrichter in Seehausen i. Altm. ernannt.

Am 1. Juli 1872 verließ er den Staatsdienst und trat zur Eisenbahn- verwaltung über, zunächst als Hilfsarbeiter und später als Mitglied des Direktoriums der Magdeburg-Halberstädter Eisenbahngesellschaft. Bei der Verstaatlichung dieser Privatbahn erhielt er am 1. Februar 1380 die Stelle eines Mitgliedes der für die Verwaltung der Magdeburg-Halberstädter und Hannover - Altenbekener Eisenbahnunternehmungen eingerichteten König- lichen Eisenbahndirektion in Magdeburg. Am 9. September 1830 zum Eisenbahndirektor ernannt, wurde er am 1. April 1883 als Mitglied der Königlichen Direktion der Oberschlesischen Eisenbahn nach Breslau ver- setzt, wo ihm nach seiner am 18. Februar 1886 erfolgten Ernennung zum Regierungsrat am 1. Mai 1886 die Stelle des Direktors bei dem König- lichen Eisenbahn-Betriebsamt (Brieg—Lissa) verliehen wurde. Bei der Umgestaltung der Eisenbahnbehörden am 1. April 1895 kam er als Ober- regierungsrat zur Königlichen Eisenbahndirektion in Halle a. $., von wo er am 15. Februar 1899 mit dem Auftrage zur Wahrnehmung der Ge- schäfte des Präsidenten der Königlichen Eisenbahndirektion nach Breslau zurückkehrte. Am 17. Mai 1899 erfolgte seine Ernennung zum Präsidenten dieser Behörde. Diese Stelle hat er zehn Jahre lang mit bestem Erfolge verwaltet, bis ihn im April 1909 andauernde Krankheit zwang, sich von den Dienstgeschäften zurückzuziehen und seinen Abschied nachzusuchen, der ihm zum 1. August 1909 unter Verleihung des Charakters als Wirk- licher Geheimer Öberregierungsrat mit dem Range der Räte erster Klasse erteilt wurde. Es war ihm leider nicht vergönnt, sich des durch lang- jährige hervorragende Dienste wohlverdienten Ruhestandes zu erfreuen, weil ein schweres körperliches Leiden diesen ausfüllte, bis ein sanfter Tod ihn am 8. September 1910 erlöste.

Wie aus Vorstehendem ersichtlich ist, stammte der Varstorbene noch aus der Schule der großen Privatbahnen. Seine reichen Erfahrungen auf dem Gebiete des Verkehrswesens und der Verwaltung stellte er nach der Verstaatlichung der Magdeburg-Halberstädter Eisenbahn ganz in den Dienst der preußischen Staatsbahnverwaltung, an deren Tätigkeit zur Förderung des deutschen Wirtschaftslebens auch er reichen Anteil genommen hat. Zahlreich waren die seinen Verdiensten zuteil gewordenen Anerkennungen. An Orden besaß er seit 1889 den Roten Adlerorden vierter Klasse, seit 1899 den Roten Adlerorden dritter Klasse mit der Schleife, seit 1902 das Komthurkreuz zweiter Klasse des Königlich Sächsischen Albrechtordens, seit 1904 den Kronenorden zweiter Klasse, seit 1905 das Komthurkreuz mit dem Stern des Kaiserlich und Königlich Österreichischen Franz-Joseph- Ordens und seit 1906 den Roten Adlerorden zweiter Klasse mit Eichen- laub. Er war eine kernige mannhafte Natur von hohem Gerechtigkeitssinn,

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30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

scharfem Verstande und großem praktischen Geschick. Im Kreise der ihm unterstellten Beamten war er infolge der gerechten Handhabung der Ge- schäfte beliebt und verehrt. Der Verstorbene war seit mehreren Jahren Witwer und hinterließ fünf erwachsene Kinder.

Der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur gehörte er sowohl während seiner erstmaligen Anwesenheit in Breslau, als auch später seit dem Jahre 1901 an.

Am Mittwoch, den 10. August 1910, starb in Brieg, wohin er sich nach Niederlegung seiner amtlichen und privaten Geschäfte von Breslau zurückgezogen hatte, Herr Professor Dr. Franz Hulwa im Alter von fast 80 Jahren. Er war am 28. November 1830 in Oppeln geboren und ist seiner schlesischen Heimat, abgesehen von einigen Lehr- und Wander- jahren, treu geblieben, treu im Streben und treu im Schaffen.

Er hatte sich anfangs der Pharmazie gewidmet, dann aber nach dem Staatsexamen als Apotheker in Breslau, Berlin und Leipzig seine Studien fortgesetzt und war Michaelis 1856 als Assistent für die Vorlesungen über Agrikulturchemie, Physik, Technologie usw. in das Laboratorium der da- maligen landwirtschaftlichen Akademie Proskau eingetreten, wo er auch als Privatdozent für analytische Chemie wirkte.

Vier Jahre später ging er an das landwirtschaftliche Institut in Berlin, arbeitete auch in der Redaktion des damaligen landwirtschaftlichen Zentral- blattes von Wilda und Kroker und widmete sich auf Anregung von Mitscherlich dem Studium der Maschinenkunde und der Zuckerfabriks- technik.

Im Jahre 15864 kehrte er nach Schlesien zurück, um in Zuckerfabriken den technischen Betrieb kennen zu lernen. In dem Kriegsjahre 1866 schloß er sich dem freiwilligen Studentenkorps an, welches Schlesien zur Pflege der Verwundeten auf den Kriegsschauplatz in Böhmen sendete. Nach Beendigung des Krieges eröffnete Hulwa in Breslau ein chemisches Laboratorium und eine Düngemittelkontroll-Station für Schlesien, die spätere Versuchsstation des landwirtschaftlichen Zentralvereins, die er ebenfalls leitete. Während des Feldzuges in Frankreich führte er mehrere größere Sanitätskolonen nach dem Kriegsschauplatze als Delegierter des Vater- ländischen Frauenvereins. Er erhielt aus diesem Anlasse das Eiserne Kreuz und das Bayrische Verdienstkreuz.

Seine Arbeiten über die Lebensmittelkontrolle mit Bezug auf das Gesetz vom 14. Mai 1879 über den Verkehr mit Nahrungsmitteln usw. bildeten die Grundlagen für die Errichtung des chemischen Untersuchungs- amtes der Stadt Breslau. Im Auftrage der städtischen Behörden ver- anstaltete Hulwa jahrelang eingehende Untersuchungen des Oderwassers oberhalb, innerhalb und unterhalb Breslaus, der Breslauer Brunnenwässer und des Breslauer Leitungswassers, von denen die Arbeiten über die Be-

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schaffenheit des Oderwassers in manchen Beziehungen als bahnbrechend anzusehen sind. Die große, von ihm herausgegebene Arbeit erhielt auf der allgemeinen deutschen Ausstellung für Hygiene und Rettungswesen in Berlin 1832/83 die silberne Medaille, auf der großen Ausstellung in Wien den ersten Preis (Ehrendiplom und goldene Medaille), wie sie auch in wissenschaftlichen Kreisen ehrenvollste Beurteilung fand. Auf Grund der chemisch-mikroskopischen Untersuchungen bei dieser Arbeit bildete Hulwa ein Abwässerreinigungsverfahren aus, das seit 1884 in vielen großen Be- trieben erfolgreich eingeführt ist.

Der Breslauer Stadtverordneten-Versammlung gehörte er sechs Jahre lang an.

Seine Arbeiten über Wasserrecht und Selbstreinigung der Flüsse führten ihn schließlich dem Fischereiwesen zu, und auf diesem Gebiete war er bis zum Jahre 1908 als Geschäftsführer und Schatzmeister des Schlesischen Fischerei-Vereins, als Delegierter Schlesiens zum Deutschen Fischereirate, als Mitglied der wissenschaftlichen Kommission des Deutschen Fischerei-Vereins usw., auch als Gründer und Leiter des Schlesischen Fischereiklubs erfolgreich tätig. Als Anerkennung für sein ersprießliches Wirken wurde ihm im Jahre 1896 das Prädikat Professor verliehen, und anläßlich seiner Amtsniederlegung als Geschäftsführer des Schlesischen Fischerei-Vereins im Herbst 1908 erhielt er den Kronenorden 3. Klasse.

Bevor er nach Brieg zog, blieb er noch 2 Jahre in Breslau, um auch sein Abwasserreinigungsverfahren in andere Hände zu legen und sich ganz vom Erwerbsleben zurückzuziehen, aber in diesen 2 Jahren hat er durch Teilnahme an den Versammlungen des Schlesischen Fischerei-Vereins, der Breslauer Anglervereine und bei sonstigen Gelegenheiten seine Liebe zur Fischerei und sein Interesse an der Fischerei noch oft zu beweisen Gelegen- heit genommen, erst kurz vor seinem Scheiden aus Breslau hielt er noch einmal im Fischerei-Vereine einen Vortrag über die Geschichte der Fischerei.

Diese Anhänglichkeit hat ihm auch die Freundschaft weitester Kreise in Breslau und in Schlesien über seinen Tod hinaus bewahrt.

Der Grundzug seines Charakters war Liebenswürdigkeit, jedoch haben auch die schmerzlichen Seiten des Lebens den arbeitsfreudigen Mann nicht unverschont gelassen, auch haben Enttäuschungen mancher Art diesen Zug seines Wesens zu verkümmern versucht, der aber immer von neuem wieder an seinen berechtigten Platz getreten.

Daß die Gemeinde der Leidtragenden, die sich an seinem Grabe ein- gefunden hatte, vornehmlich aus Fischereifreunden und Anglern bestand, läßt neben anderem ebenfalls erkennen, daß seine Arbeit für die Fischerei in Schlesien unvergessen bleiben wird. Mehring.

Max Kärnbach, Justizrat, Rechtsanwalt und Notar zu Breslau, war in Schlawa Kr. Freystadt am 3. September 1856 geboren. Nach dem

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Besuch des Gymnasiums zu Görlitz, wohin seine Eltern ihren Wohnsitz nach Aufgabe des Rittergutes Schlawa verlegt hatten, bezog er April 1876 die Universität Leipzig, um dann in Berlin und Breslau seine Studien fortzusetzen. Seine Tätigkeit als Referendar (1881) absolvierte er fast ganz in Breslau, wo er sich bald nach bestandenem Assessorexamen 1837 als Rechtsanwalt niederließ. Hier entfaltete er rasch eine sehr ausgebreitete Tätigkeit und wußte sich durch seine Tüchtigkeit so auszuzeichnen, daß ihm schon 1900 das Notariat und 1907 der Titel Justizrat verliehen wurde. Neben seiner beruflichen Arbeit widmete er sich der Pflege und Förderung der deutschen Turnsache, für die ihn schon auf dem Gymnasium sein Turnlehrer Sordan begeistert hatte. Mit großem Eifer lag er ihr ob in dem 1875 gegründeten akademischen Turnverein. Lange Jahre hat er als Referendar und Assessor die Turnwartgeschäfte dieses Vereins geführt und an der Ausbildung einer tüchtigen Schar akademischer Turner gearbeitet. Bald wurde er führende Persönlichkeit auf dem Gebiete des Turnens in Schlesien; 1890 übernahm er das Schriftwartamt im 2. deutschen Turn- kreise, war 1894 Geschäftsführer des großen Deutschen Turnfestes in Breslau, nachdem der 1893 gegründete Turngau Breslau ihn an seine Spitze gestellt hatte. Den Gau hat er bis zu seinem am 17. Mai 1910 erfolgten Tode geleitet und durch diese Stellung dem Vereins-Turnwesen in Breslau die Richtung gegeben.

Seinen gemeinnützigen Sinn betätigte er auch auf seinem engeren Arbeitsgebiet, indem er hervorragend bei der Gründung des schlesischen Pfandbriefinstituts für städtische Hausgrundstücke tätig war.

Ein rasch fortschreitendes Herzleiden brach die rüstige Kraft dieses tüchtigen, in stiller ernster Arbeit unermüdlich tätigen Mannes in seinem 55. Lebensjahre. Prof. Partsch.

In dem vergangenen Jahr hat die Schlesische Gesellschaft für vater- ländische Cultur einen schweren und geradezu unersetzlichen Verlust er- litten durch den Tod ihres Ehrenmitgliedes Robert Koch. Koch hat seit der Mitte der 70er Jahre des vorigen Jahrhunderts in engen Beziehungen zu unserer Gesellschaft gestanden. Als der damalige Kreisphysikus in Wollstein seine Studien über die Ätiologie des Milzbrandes durchführte, da waren es Breslauer Gelehrte, an ihrer Spitze unser berühmter Botaniker Ferdinand Cohn und der Pathologe Cohnheim, welche mit intuitivem Blick die unabsehbare Tragweite dieser ihnen von Koch demonstrierten Ent- deckungen erkannten. Mit immer steigender Anteilnahme und mit stetig wachsender Verehrung hat die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur auch den weiteren Adlerflug des Genius Robert Koch verfolgt, der ihn zu ungeahnten Höhen der wissenschaftlichen Erkenntnis emportragen sollte. Schon in Wollstein hatte Koch die Methodik der mikroskopischen und kulturellen Untersuchungen bakterieller Krankheiten ausgebildet und

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damit den Weg gebahnt, der ihm und seinen Schülern ein Eindringen in die bis dahin verschleierten Geheimnisse der Infektionskrankheiten er- möglichte. Die Entdeckung des Tuberkelbazillus war die erste reife Frucht der neuen Methodik. Als ein in sich geschlossenes unangreif- bares Tatsachengebäude stand sie da und erregte mit vollem Recht unbe- schreiblichen Enthusiasmus in allen Kreisen der wissenschaftlichen Welt. Es folgte 1884 die Ergründung der Cholera-Ätiologie, eine wissenschalt- liche Leistung, die deshalb von fundamentalster Bedeutung ist, weil durch sie der von Koch selbst bis zum Ziel durchschrittene Weg zu einer rationellen Bekämpfung dieser furchtbaren Seuche gebahnt wurde. 1890 veröffentlichte Koch seine Entdeckung des Tuberkulins und dessen wunder- bare spezifische Wirkung auf tuberkulöse Krankheitsprozesse. Es steht nunmehr, trotz aller Anfeindungen, fest, daß wir in dem Tuberkulin nicht nur ein sicheres Erkennungsmittel der Tuberkulose besitzen, sondern auch eine Heilsubstanz ersten Ranges, welche gewisse Formen des tuberkulösen Prozesses auf das günstigste beeinflußt.

Seit 1896 sahen wir Koch auf zahlreichen Expeditionen, welche ihn in fast alle Erdteile führten; die Rinderpest, die Malaria, die Bubonenpest, die Schlafkrankheit wurden eingehend erforscht, und wichtige wissenschaft- liche Ergebnisse waren die Früchte dieser anstrengenden Reisen. Auch die Tuberkulosefrage ließ ihn nicht aus ihrem Bann, so wies er mit Nachdruck auf die Verschiedenheit der Erreger der menschlichen und der tierischen Tuberkulose hin und mitten in weit ausschauenden Arbeiten über Tuber- kulose-Immunität überraschte ihn der Tod.

Nur in den gröbsten Umrissen konnte das überreiche Lebenswerk des Entschlafenen skizziert werden. Wenn später Geborene die Geschichte der Medizin schreiben werden, so wird Robert Kochs Name die Inauguration einer neuen Epoche bedeuten und die endgültige Lösung uralter Rätsel, an denen bis dahin Menschenwitz und -Kunst sich vergeblich versucht hatten,

Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur wird stets mit berechtigtem Stolz darauf hinweisen, daß der dahingegangene Geistes- fürst zu den Ihrigen gezählt hat und ihm ein nie erlöschendes ehrfurchts- volles Gedenken bewahren. R. Pfeiffer.

Julius Kühn, das Ehrenmitglied unserer Gesellschaft, ist am 14. April 1910 in Halle a. S. im 85. Lebensjahre gestorben. Er wurde am 23. Ok- tober 1525 in Pulsnitz in der Oberlausitz geboren. Nach Erlernung der praktischen Landwirtschaft wurde er schon im Jahre 1348 als Gutsamt- mann in Krausche bei Bunzlau in Schlesien selbständig wirtschaftender Beamter. Schon hier, in mühevoller praktischer Arbeit betätigte er sein Forscherinteresse. Er war einer der ersten, der die Schädigung der Kultur- pflanzen, sowie überhaupt die Behinderung der Kulturmaßnahmen durch

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mikroskopisch kleine Organismen erkannte. Noch bescheiden tastend bei seinen Untersuchungen, suchte er damals in der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur Anschluß an Göppert und Ferdinand Cohn, und er hat es Zeit seines Lebens dankbar anerkannt, daß sie den Wert seiner Beobachtungen anerkannten und ihm den Weg zu eingehendem Studium ebneten. Seine Entdeckung und Beschreibung der in den Drainröhren schädlich wirkenden Algen Leptothrix Kühniana im Jahre 1851 und die Untersuchung über die Entwickelungsgeschichte des Rapsverderbers Sporidesmium exitiosum Kühn, im Jahre 1854 gehören zu den ersten Marksteinen der Forschung über die der Landwirtschaft schädlichen niederen Pflanzen. In den Jahren 1855 und 1856 studierte er in Poppels- dorf, wurde 1856 in Leipzig zum Doktor promoviert und war im Sommer 1857 Privatdozent in Proskau. Doch kehrte er alsbald noch einmal in die Praxis zurück und übernahm die Verwaltung der gräfl. Egloffsteinschen Besitzung in Schwusen im Kreise Glogau. Als Güterdirektor in Schwusen war er den Landwirten der Nachbarkreise ein leuchtendes Vorbild als Ackerwirt und Viehzüchter; doch gab sein im Jahre 1858 erschienenes Werk „Die Krankheiten der Kulturgewächse, ihre Ursachen und ihre Ver- hütung‘‘ auch glänzendes Zeugnis von seiner unermüdlichen Forscher- tätigkeit. Die hier gebotene seltene Vereinigung einer Fülle von Be- obachtungen des verantwortlich tätigen Praktikers mit der sorgfältigen Untersuchung des Forschers haben diesem Buche als einem klassischen Muster in der landwirtschaftlichen Literatur bleibenden Wert verliehen. Und wieder war es die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur, welche durch Stellung einer Preisaufgabe im Jahre 1858 die Anregung zu seinem Werke ‚Die zweckmäßigste Ernährung des Rindviehes“ gab. Dieses Buch, in der Hand fast jedes praktischen Landwirtes und Landwirtschaft Studierenden, ist seitdem wie kein anderes das meist benutzte Lehrbuch der landwirtschaftlichen Fütterung geworden; im Jahre 1906 erschien es in 12. Auflage. Sein erster hochbedeutsamer Erfolg aber war, daß, als in Halle im Jahre 1862 ein Lehrstuhl für das landwirtschaftliche Studium gegründet wurde, die Augen der entscheidenden Männer sich nur auf den in Praxis und Wissenschaft gleich hervorragenden Verfasser dieses Buches richteten.

Er übernahm die Berufung; aber sogleich zeigte sich das Programm ‚seines Strebens. Mit dem Lehrstuhl allein war ihm nicht gedient, sein dringendstes Bestreben war darauf gerichtet, ein Forschungsinstitut zu er- richten, und er hat unter viel Sorgen und Mühen als erster den Ausbau eines eigentlichen landwirtschaftlichen Forschungs- und Lehrinstituts nach selbständigem Plane bewerkstelligt. Die mustergültige Durchführung dieses Zieles hat er selbst immer für den Höhepunkt seines Werkes gehalten. Nicht in den Rahmen eines Mustergutes, wie es bei den landwirtschaft- lichen Akademien beliebt war, auch nicht als chemisches, zoologisches oder

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botanisches Institut wollte er seine Arbeitsstätte gedacht wissen. Das Institut sollte auf exakt naturwissenschaftlicher Grundlage landwirtschaft- lieh-wissenschaftliche Forschungsmethoden ausbilden und hiernach solche Aufgaben wissenschaftlich zu lösen suchen, die der Förderung des land- wirtschaftlichen Betriebes dienen.

Als einzelne Zweige des Instituts schuf er den Versuchs- und Pflanzen- garten, die Versuchswiese, das große Versuchsfeld, den sehr umfangreichen Haustiergarten; hier führte er die mannigfaltigsten Kreuzungs- und Akkli- matisationsversuche aus, durch welche er einmal allgemeine züchterische Fragen lösen wollte betreffend Befruchtungsmöglichkeit zwischen fremden Pferde-, Rinder-, Schaf- und Schweinerassen und -Arten einerseits und den verschiedenen heimischen Rassen andrerseits, sowie betrefis Vererbung der Körperformen, dann aber namentlich die Frage, ob etwa Kreuzungsprodukte irgend welchen Grades leistungsfähige Nutztiere für die Zwecke der ein- heimischen Haustierhaltung ergeben könnten. Als weitere Zweiginstitute wurden angelegt: das Veterinärinstitut, das Institut für die Prüfung land- wirtschaftlicher Maschinen und Geräte, sowie das Institut für Molkerei- wesen USW.

Unendlich zahlreich sind die Veröffentlichungen in periodisch er- scheinenden Zeitschriften und eigenen Mitteilungen, durch die er Zeugnis ablegte von der Art seines Arbeitens und von der Emsigkeit, mit welcher er alle Seiten des landwirtschaftlichen Betriebes in das Bereich seiner Untersuchung und Förderung zog, und durch welche er einen stillen, aber sicheren Einfluß auf die gesamte Landwirtschaft ausübte. Es gibt kein landwirtschaftliches Gebiet, für welches er nicht, ausgerüstet mit reichen Erfahrungen und Beobachtungen, wissenschaftliche Beiträge zur Erkenntnis der Vorgänge geliefert oder praktische Vorschläge zur Richtschnur des Handelns bekannt gegeben hätte: gleichviel ob er besonders geprüfte Fütte- rungsmaßregeln vorschlug, oder eine bewährte Methode der Ackerdrainage kundgab, oder zur Klärung der Frage von der Getreideversorgung die Be- friedigung des heimischen Getreidebedarfes durch inländische Produktion, sowie den Terminhandel in Getreide behandelte.

Er war ganz und gar kein Spezialist; das konnte er nicht sein, sonst hätte er nicht der Begründer der modernen Landwirtschaftswissenschaft sein können; sein Forschungs- und Lehrgebiet war die gesamte Landwirtschaft, auf alle Zweige wirkte er befruchtend ein. Aber aus seiner Schule gingen im natürlichen Verlauf Spezialisten hervor, denn unter seiner Führung ist der Umfang der einzelnen Forschungsgebiete so groß geworden, daß die Be- arbeitung eines jeden von ihnen spezielle Vertreter verlangt. So wirken von seinen Schülern die einen auf dem Gebiete der Pflanzenproduktions- lehre, die anderen in der Tierzuchtlehre und auch die Wirtschaftslehre wird als besonderes Forschungsgebiet gepflegt.

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Zahlreich und glänzend waren die Ehrungen, die ihm und seiner Tätigkeit zuteil wurden: 1882 wurde er Geheimer Regierungsrat, 1892 Ge- heimer Ober-Regierungsrat und 1903 Wirklicher Geheimer Rat mit dem Titel Exzellenz. Aber stets nahm er die über das gewöhnliche Maß weit hinausgehenden Ehrungen und Anerkennungen, die ihm von seiten seines Königs und der vorgesetzten Behörden, sowie von seiten seiner Schüler und Anhänger zuteil wurden, nur als seinem Werke, nicht seiner Person gel- tend, entgegen und freute sich ihrer nur als Gewähr dafür, daß sein Werk bleiben werde.

Er hat das dem Sterblichen in der Regel zugemessene Maß des Lebens weit überschritten, genau bis zu dem Zeitpunkt, als seine Arbeit getan war; er ist nicht herausgerissen mitten aus noch unbefriedigtem Wollen, sondern er hat sein über alles geliebtes Werk vollendet. Und dieses sein Werk, die Ausarbeitung und Festigung der Landwirtschaftswissenschaft in Lehre und Forschung als ein berechtigtes und erfolgreiches Glied der Uni- versität, hat er so fest begründet und abgeschlossen, daß er beruhigt da- hinfahren konnte. Sein Werk wird bleiben: nicht als starres Gebilde, sondern als ein Vermächtnis, das reichlich ausgenutzt werden, als ein Baum, der immer neue Zweige mit neuen köstlichen Früchten treiben wird. Alle seine Schüler, die seines Geistes einen Hauch verspürt haben, werden in ihren Stellen das von ihm Übernommene nicht als unverrück- bares Schema behalten, sondern es nach ihren Kräften weiter ins einzelne verfolgen und den neuen Verhältnissen entsprechend durchbilden. Je reichere und mannigfaltigere Früchte es in dieser Richtung tragen wird, umso mehr wird das seinem Sinn, seinem Hoffen entsprechen. Aber ein Fortschritt ist nur auf seinen Bahnen gegeben; in diesem Sinn wird sich sein Wunsch erfüllen, den er nach seiner Berufung als Professor nach Halle im Jahre 1362 aussprach: „Ich folgte diesem Rufe mit voller Liebe, denn er erfüllte mir das Höchste von dem, wonach ich frühzeitig in tiefster Seele mich gesehnt. Gott wolle die Saat segnen, die auszustreuen ich be- rufen bin.“ Holdefleiß,.

Königlicher Landes-Ökonomierat Dr. Viktor Kutzleb wurde am 16. Februar 1854 zu Klein Struppen, Amtshauptmannschaft Pirna im Königreich Sachsen, geboren. Er absolvierte das Gymnasium zum heiligen Kreuz zu Dresden und wandte sich im Jahre 1871 der praktischen Land- wirtschaft zu. Nachdem er reichlich vier Jahre auf Gütern des König- reichs Sachsen und der Provinz Brandenburg tätig gewesen war, bezog er 1376 die Universität Halle a. S., um dem Studium der Landwirtschaft ob- zuliegen, und erlangte im Oktober 1879 durch die vorgeschriebene Prüfung die Befähigung zum Lehrer der Landwirtschaft an Landwirtschaftsschulen. Von da an war er Assistent für Versuchswesen am landwirtschaftlichen Institut der Universität zu Halle, promovierte im Jahre 1882 mit einer

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Arbeit: „Untersuchungen über die Ursachen der Kleemüdigkeit‘‘ und wurde dann am 1. April 1883 Redakteur des im Verlage der Buch- handlung von Wilh, Gottlieb Korn in Breslau damals erscheinenden „Land- wirt‘, einer Stellung, in welcher er bis zum 31. Dezember 1886 tätig war. Vom 1. Januar 1387 an wurde er selbständiger Hilfsarbeiter im General- sekretariat des landwirtschaftlichen Zentralvereins für Schlesien, war aber als solcher noch gleichzeitig Redakteur des „Feierabend des Landwirts“. Zu gleicher Zeit wurde er zum Geschäftsführer des landwirtschaftlichen Vereins zu Breslau und der Maschinenmarktkommission ernannt. Am 6. März 1892 wurde er zum Generalsekretär des landwirtschaftlichen Zentralvereins für Schlesien berufen und mit der Begründung von dessen Rechtsnachfolgerin, der Landwirtschaftskammer, am 1. April 1896 zum ersten geschäftsführenden Beamten dieser Organisation gewählt. In dieser Stellung war er tätig, bis ihn am 2. Mai 1910 ein plötzlicher Tod aus seinem arbeitsreichen Leben riß.

„Über dreiundzwanzig Jahre hat er so heißt es in dem ihm von der Landwirtschaftskammer gewidmeten Nachruf dem landwirtschaftlichen Zentralverein für Schlesien und dann der Landwirtschaftskammer mit nie ermüdendem Fleiß und seltener Gewissenhafligkeit gedient, in nie ver- sagender vorbildlicher Pflichttreue hat er seine Kräfte und reichen Er- fahrungen für die Interessen der schlesischen Landwirtschaft eingesetzt. Er kannte nichts als seinen Dienst, seine Arbeit, und nur wer ihm in der Arbeit nahe treten durfte, wußte seinen vollen Wert zu schätzen, Ein Leben, reich an gesegneter Tätigkeit, hat mit dem Tode dieses in Breslau und der gesamten Provinz Schlesien hochangesehenen Mannes seinen Ab- schluß gefunden. Unvergängliche Verdienste hat sich der Entschlafene insbesondere um die Landwirtschaft unserer Heimatprovinz erworben, Dankbarkeit und Treue werden ihm Schlesiens Landwirte übers Grab hin- aus bewahren.“

Von größeren literarischen Arbeiten erschienen: „Ist der bäuerliche Wirtschaftsbetrieb mit dem der größeren Güter konkurrenzfähig?‘‘ (1385), „Zur Geschichte des internationalen Maschinenmarktes in Breslau“, „Bei- träge zur Chronik des landwirtschaftlichen Vereins zu Breslau‘, „Der land- wirtschaftliche Zentralverein für Schlesien in seinem 50jährigen Bestehen‘ (Breslau 1392), außerdem zahlreiche Aufsätze in verschiedenen landwirt- schaftlichen Fachzeitungen.

Am 15. März 1910 starb zu Berlin der Professor der Chemie, Geheimer Regierungsrat Dr. Hans Landolt, Mitglied der König]. Preußischen Akademie der Wissenschaften im hohen Alter von fast 79 Jahren nach einem arbeitsreichen und arbeitsfrohen, fruchtbaren Leben.

Landolt ist der Sproß einer alten angesehenen Züricher Patrizier- familie und wurde am 5. Dezember 1831 geboren. Die Schulbildung

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erhielt er in seiner Vaterstadt, und dort bezog auch der Neunzehnjährige die Universität, um sich dem Studium der Naturwissenschaften, insbesondere dem der Chemie und der Physik zu widmen. Als Professor der Chemie wirkte damals in Zürich Löwig, welcher im Jahre 1852 nach Breslau übersiedelte, um den durch Bunsens Wesggang erledigten Lehrstuhl einzu- nehmen. Landolt folgte dem verehrten Lehrer nach dem Osten, und hier in Breslau erwarb er sich im Jahre 1853 mit einer Dissertation ‚über die Arsen-Aethyle‘‘ den Doktorhut. Um den Blick zu weiten, zog der junge Doktor nach Berlin und nach Heidelberg, wo er bei Mitscherlich und Rose sowie unter Bunsens Leitung arbeitete. Nach diesen Wanderjahren habilitierte er sich 1856 in Breslau, doch ist er nicht lange als Lehrer unserer Universität tätig gewesen, denn bereits ein Jahr später sehen wir ihn als Extraordinarius an der Universität Bonn. Als im Jahre 1869 die Technische Hochschule zu Aachen ins Leben trat, übernahm er die Pro- fessur für Chemie, welche er bis zum Jahre 1880 bekleidet hat. Von Aachen ging er an die neu errichtete Landwirtschaftliche Hochschule nach Berlin, und im Jahre 1891 wurde er als Nachfolger Rammelsbergs an die Spitze des II. Chemischen Institutes der Universität gestellt, welches jetzt den Namen Institut für physikalische Chemie führt. Seine Lehrtätigkeit stellte er im Jahre 1905 ein, um sich ganz wissenschaftlichen Arbeiten widmen zu können, welche er in der physikalisch-technischen Reichs- anstalt zur Durchführung brachte.

Die ersten in Löwigs Laboratorium ausgeführten Untersuchungen behandeln Themata der organischen Chemie, später hat er sich ganz dem Grenzgebiet zwischen Physik und Chemie zugewandt. Die Zahl seiner Arbeiten ist außerordentlich groß, und es ist ein Ding der Unmöglichkeit, sie hier sämtlich zu berücksichtigen, wir müssen uns auf die von allge- meiner Bedeutung beschränken.

Großes Interesse erregten seine Studien über die Molekularrefraktion organischer Verbindungen, bei denen es ihm gelang, eine für jede Flüssig- keit charakteristische, von der Temperatur wenig abhängige Funktion des Brechungsindex, das spezifische Brechungsvermögen aufzufinden. Diese Größe behält ihren Wert auch bei Mischungen mehrerer flüssiger Substanzen bei, und es wird so möglich, einerseits das spezifische Brechungsvermögen der Mischung aus dem Konstanten der Komponenten nach der Mischungsregel zu berechnen, andererseits aus den Konstanten einer Lösung, bei bekanntem Lösungsmittel, die des gelösten Stoffes zu ermitteln. Auch den Beziehungen der Molekularrefraktion zu der Atom- refraktion der Bestandteile, welche das Molekül aufbauen, ist Landolt nachgegangen, und aus seinen und später aus den Brühl’schen Unter- suchungen hat sich ergeben, daß die Molekularrefraktion einer Ver- bindung sich bis auf bestimmte konstitutive Einflüsse additiv aus den Atomrefraktionen zusammensetzt. Das Refraktometer hat sich als ein

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wichtiges Handwerkzeug bei der Erforschung und bei der Aufklärung von Konstitutionsfragen erwiesen und ist im organischen Laboratorium unent- behrlich geworden.

Von grundlegender Bedeutung sind weiter seine Studien über das Drehungsvermögen optisch aktiver Stoffe. Alle Einflüsse, von denen diese Erscheinung abhängig ist, haben eingehendste Prüfung gefunden. Wir sind durch Landolt orientiert über den Einfluß der Temperatur auf die Größe der Drehung, bei Lösungen über den Einfluß des Lösungsmittels, des Mediums in welches die Moleküle eingebettet sind. Bei optisch aktiven Säuren und Basen kennen wir die Verschiebungen bei der Salzbildung usw. Aber auch den Untersuchungshilismitteln wandte Landolt sein Interesse zu; die von ihm vorgeschlagene Konstruktion des Polarisations-Apparates hat sich als die beste bei allen wissenschaftlichen Untersuchungen bewährt und ebenso hat er sich verdient gemacht um die Herstellung mono- chromatischer Lichtquellen, deren man bei den Messungen des optischen Drehungsvermögens bedarf.

Während der beiden letzten Jahrzehnte beschäftigte ihn die Frage nach den Gültigkeitsgrenzen des Gesetzes von der Erhaltung der Masse bei chemischen Reaktionen. Mehrere Forscher hatten gefunden, daß das Gewicht von Stoffen, welche man in zusammengeschmolzenen Gefäßen aufeinander reagieren läßt, nach der Reaktion kleine Änderungen zeigt. Diese Beobachtungen erweisen sich als richtig. Die gefundenen Gewichts- differenzen waren mit Sicherheit etwas größer als die möglichen Beob- achtungsfehler. Landolts Untersuchungen über den Grund dieser Er- scheinungen sind klassische Präzisionsarbeiten, die mit bewunderungs- würdiger Sorgfalt und Ausdauer durchgeführt worden sind, und die schließlich von Erfolg gekrönt waren. Er konnte feststellen, daß die Differenzen nicht durch Änderungen des Substanzgewichtes, sondern durch kleine thermische Nachwirkungen, kleine langsam zurückgehende Volum- änderungen der Gefäßwände bedingt waren, und daß das Gesetz von der Erhaltung der Masse selbst unter den allerschärfsten Beobachtungs- bedingungen strenge Gültigkeit besitzt.

Zu der reichen Forschertätigkeit kam eine fruchtbare literarische. Sie beschränkte sich nicht nur auf die eigenen Arbeitsgebiete wie das in zwei Auflagen erschienene „Optische Drehungsvermögen organischer Substanzen und dessen praktische Anwendungen“, sondern sie hat sich auch auf allgemeine Darstellungen ausgedehnt. So hat Landolt für Graham-Ottos Handbuch den umfangreichen Teil über die Beziehungen zwischen den physikalischen Eigenschaften der Stoffe und ihrer chemischen Zusammensetzung geliefert. Und schließlich müssen wir noch eines anderen Werkes gedenken, durch welches sich Landolt den Dank aller Physiker und Chemiker erworben hat, die Physikalisch-chemischen Tabellen von Landolt und Börnstein. Nur ein Werk hat er nicht mehr zum Ab-

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‚schluß bringen können, die Biographie seines Lehrers Robert Bunsen, ‚zu der er bereits seit Jahren ein umfangreiches Material gesammelt hatte.

Schenk.

Fr. E. August Meitzen, am 16. Dezember 1822 geboren, am 19. Januar 1910 gestorben, war ein Kind Schlesiens. Seine Universitäts- zeit hatte er zwischen Heidelberg, Tübingen und Breslau geteilt, anfangs Naturwissenschaften, später die Rechts- und Staatswissenschaften studiert, im Februar 1848 promovierte er in Breslau mit einer Schrift über die Uhrenindustrie des Schwarzwalds. Inzwischen in den Justiz-, später in ‚den Verwaltungsdienst getreten, war er 1850 Regierungsreferendar in Breslau, 1853 wurde er in noch sehr jungen Jahren zum Bürgermeister von Hirschberg gewählt, 1856 trat er als Regierungsassessor in den ‚Staatsdienst zurück, wurde Spezial- und seit 1861 Grundsteuerregulierungs- kommissar in Breslau. Gleichzeitig begann er sich unter Wattenbachs Leitung archivalischen Studien zur Agrargeschichte Schlesiens zu widmen, und diese in Verbindung mit dem Inhalt seines Staatsamts entschieden seinen weiteren Lebensgang, der im wesentlichen der Agrargeschichte an der Hand jener ältesten Dokunıente, welche die Flurverfassung bietet, gewidmet blieb. 1865 wurde er zur Bearbeitung des monumentalen, vom Preußischen Landwirtschaftsministerium herausgegebenen Werkes „Über den Boden und die landwirtschaftlichen Verhältnisse des preußischen Staates‘‘ nach Berlin berufen, erhielt als Regierungsrat 1368 die Stelle eines Mitgliedes des preußischen statistischen Bureaus, wurde 1872 Ge- heimer Regierungsrat und erstes Mitglied des kaiserlich statistischen Amtes des Deutschen Reiches, auch 1875 im Nebenamt außerordentlicher Pro- fessor der Staatswissenschaften an der Universität Berlin. 1892 wurde er daselbst zum ord. Honorarprofessor ernannt. Seit 1882 ist er wegen ‚schwankender Gesundheit aus dem statistischen Amte ausgeschieden. Von dem Wunsche getrieben, seine agrargeschichtlichen Studien zu einem letzten Abschlusse zu bringen, führte er nun, bereits den Siebzig zueilend, noch Reisen durch ganz Europa aus, um, nachdem er „sein letztes Wort‘ gesagt, aus diesem Lehen zu scheiden.

Die Richtung, in welche die Arbeiten Meitzens gingen, ist im wesent- lichen bereits bezeichnet. Sie nahmen ihren Ausgang bei seiner Arbeit „Urkunden schlesischer Dörfer zur Geschichte der ländlichen Verhältnisse

und der Flureinteilung insbesondere“ im Codex diplomatic. Silesiae, Bd. IV, Breslau 1863.

Was das vorhin schon genannte Werk über den Boden und die landwirtschaftlichen Verhältnisse des preußischen Staates betrifft, so ist 1868 sein erster Band, 33 Jahre später, 1901, sein sechster und letzter erschienen. Zwischen hinein wurden von Meitzen hauptsächlich Arbeiten

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zur Technik und Theorie der Statistik und sein großes Werk „Siedelung und Agrarwesen der Deutschen und Skandinaven, der Kelten, Römer, Finnen und Slawen“ 1895 veröffentlicht. Das Fazit seiner Lebensarbeit in nochmaliger Überprüfung der in jenem Werk von 1895 gewonnenen Ergebnisse hat er in dem vorerwähnten sechsten Bande über den Boden usw. des preußischen Staates gezogen. Er holt hier weit aus, bietet sehr viel mehr als der Titel besagt, eine geschichtliche Darstellung von Besiedelung und Wanderung zurück bis an die Schwelle der Eiszeit, unter Heran- ziehung und Interpretation der vielfachen Funde, des Hausbaues und anderer Zeugnisse, setzt die Arbeit für das ganze deutsche Altertum und Mittelalter fort und bietet zuletzt eine insbesondere auch statistische Dar- stellung der Lebens- und Wirtschaftsverhältnisse der landwirtschaftlichen Bevölkerung des preußischen Staats in unseren Tagen, ein, wie man schon dieser Inhaltsangabe entnehmen kann, großartiger Lebensabschluß!

In eine kritische Würdigung der Einzelergebnisse seiner Forschung einzutreten ist hier nicht wohl der Platz. Nur das mag gesagt sein, daß, wie auch Gleichstrebende anerkannt haben, Meitzen „Führer und Pfad- finder auf dem Gebiete der Siedelungsforschung gewesen ist“. Er hand- habte das Material, welches Ackerflur- und Dorf-, wie Hausbau ihm boten, mit einer kaum von einem anderen erreichten Meisterschaft und wußte ihm eine Fülle von Ergebnissen für die Völkergeschichte zu entnehmen.

Ohne mitarbeitende Phantasie wäre das wissenschaftliche Lebenswerk Meitzens nicht so reich gewesen. Trotzdem hat er den festen Boden der Tatsachen niemals unter den Füßen verloren. Seine Arbeiten strömen auf jeder ihrer tausenden von Seiten ‚Erdgeruch‘‘ aus. Wirkt schon dieses Element seines wissenschaftlichen Wesens anziehend und über- zeugend, so nicht minder die schlichte Ehrlichkeit und Ruhe der Dar- stellung, die Meitzen als den Mann ausweist, der in seiner Arbeit

unterging. Nicht zuletzt an Männern dieses Stils ist das deutsche Volk groß geworden! Julius Wolf.

Am 29. März 1910 starb zu Breslau Herr Bergassessor a. D. Karl Friedrich Nägeli. Er wurde geboren am 25. März 1872 zu Wege- leben, Provinz Sachsen, erreichte also nur ein Alter von 38 Jahren. In seinem Heimatort, wo sein Vater eine Maschinenfabrik nebst Kessel- und Kupferschmiede betrieb, besuchte er zunächst die Gemeindeschule. Seine weitere Schulbildung erlangte er in der Oberrealschule zu Halberstadt und später im Realgymnasium zu Guben, das er im Jahre 1891 mit dem Zeugnis der Reife verließ. Von einer besonderen Vorliebe für den Berg- bau erfüllt, begann er seine vorbereitenden Studien als Bergbaubellissener zu Clausthal i. Harz und besuchte hieran anschließend vom Jahre 1892 ab die Universität und technische Hochschule zu München, um im Jahre

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1895 die Fachstudien auf der Bergakademie zu Clausthal zu beendigen. Nach dem im Juni 1896 bestandenen Examen betätigte er sich als Berg- referendar in den verschiedensten Betrieben und daran anschließend vom 5. Oktober 1899 als Bergassessor im Oberbergamisbezirk Halle. Am 1. Januar 1901 verließ er den Staatsdienst, um bei der Firma C. Kulmiz, G. m. b. H. Saarau, die Geschäftsführung als Generaldirektor der von Kulmizschen Bergwerke zu übernehmen. Hier war seinem ratlosen Tätigkeitsdrange ein weites und dankbares Feld eröfinet. Bei der Be- gründung des niederschlesischen Kohlen-Syndikates hat er sich besondere Verdienste erworben, ebenso wie bei der Errichtung bedeutender Koks- werke auf Melchiorgrube bei Waldenburg und bei der Gründung einer Raseneisenerz-Verwertungs-Gesellschaft.

Nach Aufgabe dieser Stellung begründete Nägeli am 1. April 1907 die Deutsche Montangesellschaft m. b. H. Breslau, deren sämtliche Geschäftsanteille er ebenso wie die Geschäftsführung auf sich ver- einigte. Die Tätigkeit dieser Gesellschaft, welche auch nach seinem Ableben, durch seine Gattin, unterstützt von Fachleuten, fortgeführt wird, erstreckte sich auf den Erwerb und den Betrieb von Braunkohlen-Gruben, sowie Erz-Bergwerken, teils im inländischen, teils im österreichisch- ungarischen Gebiet gelegen, sowie ferner auf die Erbohrung und Aus- beutung von Mineralwasserquellen. Außerdem wurde er als Sachver- ständiger für bergbauliche Angelegenheiten zur Abgabe gerichtlicher, sowie sonstiger Gutachten herangezogen, leitete bezw. beaufsichtigte im Auftrage von Privatpersonen diverse Bohrungs- und bergbauliche Betriebsarbeiten und vermittelte mit Erfolg den Verkauf von Erzförderungen.

Mitten in diesen erfolgreichen Bestrebungen wurde er von einer Krankheit befallen, die ihn nach und nach zu einer Einschränkung dieser Tätigkeit zwang, und am 29. März 1910 wurde er nach mehrwöchentlichem Krankenlager dahingerafit, viel zu früh für seine Familie und die zahl- reichen Freunde, welche er vermöge seiner vorzüglichen Eigenschaften des Geistes und Herzens erworben hatte. Unserer Gesellschaft war er jederzeit ein eifriger und selbstloser Förderer, Kapal.

Augustin Nürnberger, ein Sohn der Grafschaft Glatz, an der er sein Leben lang mit rührender Liebe hing, war am 6. Januar 1854 in Habelschwerdt geboren, studierte nach Absolvierung des Gymnasiums in Breslau Theologie und widmete sich damals besonders in dem vom Professor Friedlieb geleiteten Seminar exegetischen Studien. Nach Vollendung des theologischen Trienniums in Breslau hörte er noch zwei Semester theologische und pädagogische Vorlesungen an der Karl-Ferdinands- Universität in Prag und empfing dort, da das Breslauer Alumnat der kirchenpolitischen Wirren wegen geschlossen war, am 13. Juli 1879 die Priesterweihe. Nachdem er hierauf kurze Zeit als Informator in der

Nekrologe. 3 33

Familie des Grafen Henckel von Donnersmarck in Siemianowilz gewirkt hatte, zog er Ende des Jahres 1879 nach Rom, wo er bis zum Jahre 1881 als Kaplan an der Deutschen Nationalkirche S. Maria dell’ Anima weilte. Hier lag er hauptsächlich historischen Studien ob und durch- forschte eifrig die Vatikanische Bibliothek, sowie die Vallicellana und Angelika. Mit gleichgesinnten deutschen Freunden schloß er sich in Rom unter Leitung von Monsignore de Waal einem historischen Vereine an, dessen Mitglieder in zwanglosen Zusammenkünften, die des öfteren an geschichtlich denkwürdigen Örtlichkeiten in der Umgegend von Rom statt- fanden, die Resultate ihrer historischen Forschungen vortrugen und be- sprachen. In die Heimat zurückgekehrt, wurde Nürnberger im Jahre 1382 als Religions- und Oberlehrer am Gymnasium in Neiße angestellt und wirkte dort durch neun Jahre, bei Kollegen und Schülern geachtet und beliebt, in segensreicher Weise. Seine historischen Studien setzte er eifrig fort und veröffentlichte das Resultat derselben in zahlreichen wissen- schaftlichen Abhandlungen. Das Leben und die Schriften des hle. Bonifacius bildeten ganz besonders den Gegenstand seiner Forschungen, deren Resultate er in 16 Abhandlungen, die mit großer Anerkennung in wissenschaftlichen Kreisen begrüßt wurden, der Öffentlichkeit übergab. Auch der Geschichte seiner engeren, ihm so teueren Heimat, der Graf- schaft Glatz, widmete er mehrere wissenschaftliche Studien. Im November 1883 war er in Tübingen gleichzeitig mit Hermann Schell zum Doctor theol. promoviert worden. Seinen Wirkungskreis am Gymnasium in Neiße vertauschte er 1891 mit einer gleichen Tätigkeit am St. Mat- thias-Gymnasium in Breslau und habilitierte sich im Jahre darauf als Privatdozent in der theologischen Fakultät der Leopoldina. 1894 wurde er zum Extraordinarius und 1901 zum ordentlichen Pro- fessor der Patrologie, Dogmengeschichte, Archäologie und neueren Kirchengeschichte befördert. Während seiner akademischen Tätigkeit publizierte der Unermüdliche eine Reihe von Abhandlungen aus dem Gebiete des Kirchenrechts und der Kirchengeschichte, sodann das dreibändige Hauptwerk „Papsttum und Kirchenstaat“ und die Festschrift: „Zum zweihundertjährigen Bestehen der katho- lischen Theologen-Fakultät an der Universität Breslau‘,

Als bei der Jahrhundertfeier der Schlesischen Gesellschaft für vater- ländische Cultur, welcher Nürnberger seit längerer Zeit als eifriges Mit- glied angehörte, Geheimer Regierungsrat Dr. Förster, der Präses der Gesellschaft, den Wunsch aussprach, es mögen unter den Sektionen, die in ihr blühen und gedeihen, auch die theologische Wissenschaft vertreten sein, da griff Nürnberger diese Anregung eifrig auf, und in kurzer Zeit gelang es ihm, im Verein mit Domherrn Professor Dr. Sdra- lek eine Sektion für katholische Theologie ins Leben zu rufen, welche infolge des eifrigen Werbens ihres ersten Sekretärs, zu welchem

1910. 3

34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

Nürnberger gewählt wurde, rasch an Mitgliederzahl zunahm. Nürnberger war die Seele der neuen Sektion, hielt selbst eine Reihe interessanter geschichtlicher Vorträge aus dem Gebiete seiner Forschungen und zog andere Mitglieder zu dieser Aufgabe heran. Leider begann für ihn jetzt schon die Zeit schwerer körperlicher und auch seelischer Leiden, zu denen sich schließlich ein hartnäckiges Augenübel gesellte, das ihn völliger Erblindung entgegenzuführen drohte.

Erst nach hartem seelischen Kampfe entschloß er sich, der dringen- den Mahnung des Arztes Folge zu leisten, Urlaub nachzusuchen, seine Lehrtätigkeit bis auf weiteres zu sistieren und sich auch der Lektüre ganz fast zu enthalten. Von dieser Zeit an war seine Kraft gebrochen, sein Froh- sinn dahin, und als das Augenübel ein wenig sich zu bessern schien, da bildete sich bei ihm infolge einer schweren Erkältung an Weihnachten 1909 ein Lungenleiden aus, das ihn langsam dem Tode entgegenführte, der ihn in den Morgenstunden des 20. April 1910 ereilte. Was Rektor und Senat der Universität in dem ihm gewidmeten Nachrufe rühmend hervor- hoben: „Ein unermüdlicher und erfolgreicher Forscher ist mit ihm dahingegangen .... Bei allen Amtsgenossen hat er sich durch Lauterkeit seiner Gesinnung, Kernigkeit seines Wesens und Liebenswürdigkeit im Verkehr Achtung und Zuneigung erworben‘, das wird jeder unterschreiben, der ihm im Leben näher gestanden. Viele ehemalige Schüler, die ihm reiche, wissenschaftliche Anregung verdanken, trauern um ihn, viele Freunde, die in ernsten, wie in heiteren Stunden sich oft und freudig um ihn scharten, klagen, daß er so früh ihnen genommen wurde. Möge er ruhen im Frieden!

Bergel.

Fedor Pringsheim wurde am 24. August 1823 in Bernstadt ge- boren. Nachdem er das Gymnasium in Öls besucht, kam er 1843 nach Breslau. Von Hause aus wenig bemittelt, mußte er in angestrengter Arbeit als Angestellter von Bankgeschäften seinen Unterhalt verdienen. 1858 gelang es ihm, sich selbständig zu machen. Als Chef des von ihm unter der Firma Pringsheim & Co. begründeten Bankhauses errang er rasch nicht nur geschäftliche Erfolge, sondern auch eine angesehene Stellung in der kaufmännischen Welt.

Nach dem Kriege von 1870 nahm das deutsche Wirtschaftsleben einen ungeahnten Aufschwung. Der plötzlich nach Deutschland herein- strömende Milliardensegen beschleunigte auch die notwendige Einbürgerung moderner Wirtschaftsformen. Zahlreiche Aktienunternehmungen wurden damals auch in Schlesien ins Leben gerufen und bei einigen geschah dies unter hervorragender Mitwirkung von Fedor Pringsheim. Es waren dies folgende Gesellschaften: die Breslauer Spritfabrik A.-G., die Oppelner Port- land-Zementfabriken (vormals F. W. Grundmann) und die Provinzial-

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wechslerbank. Während die Bank nur kurze Zeit bestand, haben sich die beiden anderen Gesellschaften als durchaus lebensfähig erwiesen und Pringsheim konnte an der Spitze des Aufsichtsrats fast 40 Jahre lang ihr Gedeihen befördern. Später wurde er auch in den Aufsichtsrat der nachher verstaatlichten Rechte-Oderufer-Eisenbahn, des Schlesischen Bankvereins, der Schlesischen Feuerversicherungs-Gesellschaft und der Breslauer Baubank gewählt.

Schon frühzeitig hatte er ein lebhaftes Interesse für politische und kommunale Fragen bekundet. Er gehörte ursprünglich der nationalliberalen Partei an und war eine Zeitlang Schatzmeister des nationalliberalen Wahl- vereins in Breslau. Als 1379 die Änderung der Bismarckschen Politik, insbesondere der Zollpolitik, den Austritt einer Anzahl Mitglieder aus der nationalliberalen Partei herbeiführte, schloß er sich der liberalen Ver- einigung an. Er machte dann die Wandlungen des entschiedenen Libera- lismus mit und gehörte zuletzt der freisinnigen Vereinigung an.

1379 wurde Pringsheim zum Stadtverordneten, 1892 zum unbesoldeten Stadtrat gewählt. Letzteres Ehrenamt bekleidete er bis 1907. Beim Ausscheiden aus dem Magistratskollegium wurde ihm in Anerkennung seiner Tätigkeit der Titel ‚Stadtältester‘‘ verliehen. Da er als Dezernat die Angelegenheiten der städtischen Bank zugewiesen erhielt, so konnte er auf einem ihm nahe liegenden Gebiet seine reichen Erfahrungen im Dienste der Stadtgemeinde verwerten.

Obwohl jeder Art von Orthodoxie abhold, hielt er sich doch ver- pflichtet, für die Glaubensgemeinschaft, der er angehörte, zu arbeiten. 1879 in den Vorstand der Breslauer Synagogengemeinde gewählt, war er 18 Jahre Vorsitzender dieser Korporation und für die Interessen derselben unermüdlich tätig. Seine Verdienste, besonders um die finanzielle Ent- wicklung der Gemeinde, wurden beim 25jährigen Dienstjubiläum 1904 nachdrücklich hervorgehoben und 1908 anläßlich des 80. Geburtstages nochmals gefeiert durch Errichtung einer Ehrenstiftung.

Neben den beiden Hauptämtern fand er noch Zeit, eine Reihe anderer gemeinnütziger Interessen zu fördern. So war er Mitglied der Veran- lagungskommission, Vorstandsmitglied des Schlesischen Kunstvereins, der Gesellschaft der Brüder, des kaufmännischen Vereins von 1834 und Kurator mehrerer Stiftungen.

Auf verschiedenen Gebieten konnte Pringsheim bis in ein hohes Alter eine fruchtbare Tätigkeit entfalten, bis er derselben am 2. Mai 1910 für immer entrissen wurde. Dr. O. Pringsheim.

Herr Bruno Richter, geb. den 6. August 1847 zu Breslau, besuchte das Gymnasium zum Hl. Geist hierselbst. Nach Absolvierung seiner Lehr- zeit in der Schletterschen Buchhandlung war er in Zürich, Genf und Berlin als Gehilfe tätig und trat 1873 eine Stellung als Disponent bei der

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Photographischen Gesellschaft in Berlin an. Seine Tätigkeit für diese an- gesehene Firma brachte ihn in engere Beziehungen zum Auslande. Große Reisen nach den Skandinavischen Ländern, Rußland, Österreich, den Balkanstaaten, Frankreich und England erschlossen seinem Hause neue Absatzgebiete und führten schließlich dazu, daß der Verstorbene für seine Firma in Paris wie in Wien Zweisgeschäfte gründete und zum raschen Emporblühen brachte.

1879 eröffnete er dann in seiner Vaterstadt Breslau in der Schloßohle eine eigene Kunsthandlung. Seine reichen Erfahrungen, sein kaufmännischer Weitblick, der mit einer großen persönlichen Liebenswürdigkeit gepaart war, ließen auch dieses junge Unternehmen in gedeihlichster Weise sich entwickeln. In rastloser Arbeit gelang es ihm, seiner Kunsthandlung einen führenden Platz unter den großen Kunsthandlungen Deutschlands zu sichern.

Sichtbaren Ausdruck fand dies in’ der Verleihung des Titels eines Hofkupsthändlers Seiner Majestät des Kaisers und Königs am 18. April 1900, sowie Ihrer Kgl. Hoheit der Frau Erbprinzessin von Sachsen-Meiningen am 3. April 1903.

Auch in wissenschaftlichen Vereinen und Körperschaften zur Pflege der Kunst hat der Verstorbene eine verdienstvolle Tätigkeit entfaltet, so war er jahrelanges Mitglied der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur, Vorstandsmitglied von folgenden Vereinen: Verein der Geschichte der bildenden Künste, Kunstgewerbeverein, Gesellschaft für Volkskunde, Tatraverein, Kindergartenverein, Riesengebirgsverein, sowie tätiges Mitglied im Künstlerverein, Schillerverein, sowie anderen der allgemeinen Wohlfahrt dienenden Vereinen.

Er starb nach kurzem schweren Leiden im 63. Lebensjahre am 25. Juni 1910. Seine sterbliche Hülle wurde am 30. Juni in Zittau ijS. eingeäschert. Paul Heymann.

Der am 17. November 1910 verstorbene Herr Hermann v. Tempsky, Fideikommißbesitzer auf Baara, entstammt einem alten, ursprünglich polnischen Adelsgeschlechte, dessen sichere Stammreihe im Jahre 1414 mit Benedict v. Tempski auf Tempez beginnt. Sebastian v. Tempsky er- warb im Jahre 1623 das Gut Quickendorf unweit Frankenstein im damaligen Fürstentume Münsterberg, vermählte sich am 24. September 1624 mit Helene v. Muhr und wurde der Stammvater des schlesischen Astes der Familie.

Am 16. August 1827 zu Jauer geboren und ursprünglich für die militärische Laufbahn bestimmt, die einzuschlagen ihn Kurzsichtigkeit ver- hinderte, entschied sich Hermann v. Tempsky für den landwirtschaftlichen Beruf. Nach Absolvierung der landwirtschaftlichen Akademie zu Proskau erwarb er nacheinander die Rittergüter Nieborowitz, Maserwitz und Baara.

Nekrologe. 37

Später verkaufte er die beiden ersten Güter und machte das im Jahre 1858 erworbene Baara im Jahre 1906 zum Fideikommiß. Der Verstorbene war einer der ältesten Angesessenen des Landkreises Breslau und erfreute sich allgemeiner Wertschätzung. Länger als ein Menschenalter war er mit großer Pflichttreue in Kreis- und Ehrenämtern, als Polizeidistrikts-Kommissarius, als Amtsvorsteher und Kreistags-Abgeordneter, als Mitglied des geschäfts- führenden Ausschusses des schlesischen Provinzial-Vereins der Viktoria- National-Invaliden-Stiftung und Vertreter der deutschen Adelsgenossenschaft für den Kreis Breslau-Stadt tätig. Der Schlesischen Gesellschaft für vater- ländische Cultur, deren Bestrebungen er ein reges Interesse entgegenbrachte, gehörte der Verstorbene lange Jahre an. Vermählt war Hermann v. Tempsky mit Valentine v. Gallwitz-Dreyling, die ihm am 2. Februar 1900 im Tode voranging. Eugen von Tempsky.

Am 17. August d, J. starb in Hannover Herr Dr. Treumann.

Geboren zu Ratibor im Jahre 1341, besuchte Julian Treumann das Königliche Gymnasium zu Leobschütz, welches er August 13861 mit dem Maturitätszeugnisse verließ, bezog Michaelis 1861 die Friedrich-Wilhelms- Universität zu Berlin, um Mathematik und Naturwissenschaften zu studieren, wandte sich bald ausschließlich dem Studium der Chemie und der ver- wandten Fächer zu, besuchte auch gleichzeitig das damalige Gewerbe- Institut, dessen Abteilung für Chemiker und Hüttenleute er angehörte. Ostern 1864 siedelte er an die Universität Breslau über und wurde dort am 6. August 1864 auf Grund einer Dissertation: „De alkalinarum terrarum quibusdam salium decompositionibus adumbratis Bergmani u. Bertholeti de affinitate Doctrinis‘“ nach abgelegter Prüfung zum Dr. phil. promoviert. In den nächstfolgenden Jahren machte Treumann zur Vervollkommnung seiner technischen Kenntnisse größere Reisen und war zu gleichem Zwecke in verschiedenen industriellen Etablissements, darunter auch auf den Hüttenwerken zu Königs-, Lydoynia- und Friedrichs-Hütte tätig, nahm aber die akademischen Studien Ostern 1367 auf der Universität Halle-Witten- berg wieder auf und bestand Michaelis 1867 bei der Königlichen wissen- schaftlichen Prüfungskommission zu Halle a. S. die Staatsprüfung pro facultate docendi, Nach kurzer Lehrtätigkeit am Philantropin (Realschule) zu Frankfurt a. M. ging Treumann nach Paris, besuchte daselbst im Wintersemester 1368/69 Vorlesungen an der Sorbonne, Ecole des mines, kehrte Ostern 1869 nach Berlin zurück und unterzog sich daselbst der Prüfung für Lehrer an technischen Fachschulen (Gewerbeschulen), welche er Dezember 1569 bestand. Nach kurzer Lehrtätigkeit an der damaligen Provinzial-Gewerbeschule zu Görlitz ließ sich Treumann 1870 in Han- nover nieder und eröflnete ein chemisches Laboratorium, verbunden mit chemisch-technischer Versuchsanstalt. An dem Kriege 1870 beteiligte sich Treumann als Kriegsfreiwilliger und fand Verwendung bei der Feld-

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Intendantur der Division Kummer. Aus Frankreich zurückgekehrt, nahm Treumann seine Tätigkeit in Hannover auf, hielt auch in den Jahren 1875—1881 Vorträge über Prüfung und Abnahme von Eisenbahn-Werk- statts-- und Betriebs-Materialien, welche einer chemischen Untersuchung bedürfen, an der Königlichen technischen Hochschule, später auch zeitweise Vorträge über chemische Technologie an der städtischen Handelsschule zu Hannover.

Seine Haupttätigkeit bestand in der Funktion als beratender Chemiker der Königlichen Eisenbahndirektionen zu Berlin, Hannover, Bromberg und Magdeburg —, welche Stellung er für die Bezirke Hannover und Magde- „burg seit dem Jahre 1871, für den Bezirk Berlin seit dem Jahre 1881, für den Bezirk Bromberg seit dem Jahre 1888 bekleidete.

Daneben war er auch als Sachverständiger anderer Staatsbehörden, ferner als beratender Chemiker der Vereinigten Deutschen Petroleumwerke zu Peine (seit dem Jahre 1886) und der Fabriken von Sir Thomas: Storey (Firma Storey brothers & Co.) in Lancaster (seit April 1839) tätig.

Treumann hat ein Verfahren zur Verarbeitung: des Leinöls für die Zwecke der Lack- und Firnisindustrie, desgleichen ein: Verfahren zur Herstellung sogenannter Harzlacke in zahlreichen Fabriken des In- und Auslandes eingeführt und stand in beständigen Beziehungen zu diesen Fabriken.

Abgesehen von einer größeren Arbeit „Über den Schutz eiserner Schiffsböden gegen Rost und Anwuchs‘‘, welche die Admiralität im Jahre 1875 zum Gebrauche für das Ingenieurpersonal der Kaiserlichen Marine hat vervielfältigen lassen, und einer von der Königlichen Eisenbahndirektion zu Hannover für den internen Dienstgebrauch gedruckten Arbeit „Über die Prüfung und Abnahme von Materialien‘‘ und neben kleineren Aufsätzen technischen Inhalts sind von Treumann umfangreiche Arbeiten ver- öffentlicht worden: Über den Schutz des Eisens gegen das Rosten (Zeit- schrift des Hannov. Ingenieur- und Architektenvereins 1379, Wagners Jahresberieht 1879); „Farbenanstriehe und Lacküberzüge und die zu deren Herstellung benützten Materialien‘ (Glasers Annalen für Gewerbe und Bauwesen 1885) und a. a. ©. „Über Mineralschmieröle (Glasers Annalen 1884, 1887).

Alle Bestrebungen zur Förderung des Chemikerstandes fanden bei Treumann eifrige Unterstützung. Ein großer Teil seiner Arbeit galt dem Verband selbständiger öffentlicher Chemiker, dessen zweiter Vor- sitzender er seit einer Reihe von Jahren war. Als Vertreter seines Ver- bandes gehörte Treumann auch dem Ausschuß zur Wahrung der gemein- samen Interessen des Chemikerstandes an. Stets verfocht er in Vorträgen wie in der Debatte die Forderung, daß die Reifeprüfung die Vorbedingung zum Studium der Chemie sein müsse, und bekämpfte deshalb aufs nach- drücklichste die Ausnahmestellung, die den Pharmazeuten bei der Zu-

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lassung zur Prüfung als Nahrungsmittelchemiker bisher noch eingeräumt wird. Sein besonderes Streben galt der Stellung des chemischen Sach- verständigen vor Gericht. Wie er das Ansehen des Gutachters und die ihm zu gewährende Entschädigung zu vergrößern sich bemühte, so ver- langte er auch von ihm die höchste Zuverlässigkeit und Unabhängigkeit, die Treumanns eigene Tätigkeit stets auszeichnete.

Am 12. Februar 1910 verstarb zu Breslau nach kurzem Krankenlager an den Folgen einer Operation der Direktor der Breslauer Disconto-Bank, Herr Dr. jur. Hans Vosberg.

Einer alteingesessenen schlesischen Familie entstammend, war Vosberg am 28. August 1865 zu Patschkau geboren, wo sein Vater damals Kreis- richter war. Er besuchte, nachdem sein Vater 1863 nach Gleiwitz und 1379 an das Amtsgericht Breslau versetzt worden war, bis 1879 das Gym- nasium in Gleiwitz und von da ab das Elisabeth-Gymnasium in Breslau.

Ostern 1885 bezog Vosberg die Universität und studierte in Breslau und Berlin die Rechte, arbeitete nach bestandenem ersten Examen kurze Zeit als Referendar beim Amtsgericht Winzig und trat dann, nachdem er inzwischen zum Doktor juris promoviert war, aus dem Staatsdienste aus, um sich der Banklaufbahn zu widmen.

Zunächst trat er als Volontär in die Breslauer Wechslerbank in Breslau ein und ging dann nach kurzer Zeit in den Reichsbankdienst über. Hier hat er nacheinander in Chemnitz, Gleiwitz, Allenstein und in Waldenburg gewirkt, wo er die damals neu gegründete Bankstelle einrichtete. Dann wurde er Bankassessor und zweiter Vorstandsbeamter der Reiehsbankstelle in Duisburg. Von da aus wurde er 1907 in den Vorstand der Breslauer Disconto-Bank zu Breslau berufen.

Schon während seiner Tätigkeit bei der Reichsbank zog Vosberg durch seine kaufmännische Begabung und seine hervorragende Initiative die Auf- merksamkeit seiner Vorgesetzten auf sich. Seine Tätigkeit bei Einrichtung der Reichsbankstelle in Waldenburg war eine sehr verdienstvolle und nicht nur von der Reichsbank, sondern auch von den beteiligten kaufmännischen und industriellen Kreisen des Bezirks lebhaft anerkannte. Nicht minder erfolgreich war er in Duisburg tätig, wo es nicht zum wenigsten seinem Einfluß und seiner Arbeitskraft zuzuschreiben war, daß die Entwickelung der dortigen Stelle eine von Jahr zu Jahr größere wurde.

Diesen Erfolgen hatte es Vosberg zu verdanken, daß er 1907 in einen im Vorstand der Breslauer Disconto-Bank frei gewordenen Posten berufen wurde. Auch hier hat er die in ihn gesetzten Erwartungen nicht ent- täuscht, sondern bald seine ganze Persönlichkeit in dem neuen Wirkungs- kreise eingesetzt und die ihm eigenen Fähigkeiten betätigt. Es kamen ihm hierbei die vielfachen Beziehungen zustatten, die er während seiner Reichs- banklaufbahn sowohl geschäftlich als persönlich angeknüpft hatte, zumal er

40 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.

in allen Kreisen, mit denen er in Berührung kam, durch sein liebens- würdiges und offenes Wesen und seine freie, gesellige Art sich überall Freunde gemacht hatte, die sich seiner auch nach langer Zeit immer wieder gern erinnerten.

Im öffentlichen Leben hat sich Vosberg nicht betätigt, obwohl er auch dafür reges Interesse hatte, besonders wo es sich um seine schlesische Heimat handelte, an der er mit großer Treue hing.

Vosberg gehörte zahlreichen Verwaltungen industrieller und anderer Unternehmungen an, u. a. dem Aufsichtsrate der Oberschlesischen Port- land-Zement und Kalkwerke, Aktiengesellschaft Groß Strehlitz, deren Vor- sitzender er war, der Breslauer Baubank, der Schlesischen Dampfer-Kom- pagnie, der Terrain-Aktiengesellschaft Kleinburg, der Ostbank für Handel und Gewerbe und anderen mehr.

Dr. med. Melchior Willim, Sanitätsrat, geb. am 25. August 1855, gest. am 28. Oktober 1911, besuchte das Matthiasgymnasium zu Breslau und bezog nach erfolgter Reifeprüfung die Universität in Breslau, woselbst er 1879 die ärztliche Staatsprüfung ablegte. Er promovierte mit einer Dissertation „über das genu valgum‘‘ bei dem Chirurgen Prof. Fischer, war dann als Assistent bei Prof. Biermer und Prof. Müller in Wiesbaden tätig und ließ sich nach seiner Verheiratung mit Pauline geb. Herzogin von Württemberg im Mai 1880 als praktischer Arzt in Breslau nieder. Er war in seinem Berufe unermüdlich und gönnte sich keine Erholung. Die Liebe und Dankbarkeit seiner Patienten wurde ihm in besonders reichem Maße zuteil.

Am 18. Juli 1910 verschied zu Düsseldorf unser Ehrenmitglied, der frühere langjährige Präsident des Düsseldorfer Landgerichts, Geheime Ober- justizrat Witte im 82. Lebensjahre. Über den Lebenslauf des Verewigten erfahren wir folgendes: Geboren 1829 in Stettin, studierte Witte in Heidel- berg und Bonn, begann in seiner Vaterstadt seine juristische Laufbahn als Hilfsrichter am Appellationsgerichte und setzte sie sodann am Berliner Stadtgerichte fort. 1874 erfolgte seine Ernennung zum Appellations- gerichtsrate in Breslau, 1879 zum Landgerichtsdirektor ebenda, 1889 zum Landgerichtspräsidenten in Neiße, von wo er am 1. Januar 1892 in gleicher Eigenschaft nach Düsseldorf übersiedelte, um schließlich am 30. Juni 1903 nach dem 50jährigen Dienstjubiläum in den Ruhestand überzutreten.

Außer auf juristischem Gebiete entwickelte er eine fruchtbare wirt- schaftspolitische, kirchliche, parlamentarische und wissenschaftliche Tätig- keit. So war er 15 Jahre Mitglied des Verwaltungsrates der Berlin- Stettiner Eisenbahn, fast ebensolange Mitglied des Provinzialbank-Ausschusses und des Gemeindekirchenrates zu St. Elisabeth in Breslau, ferner Justizitar der Reichsbank in Düsseldorf und Präsident der Kaiserlichen Disziplinar-

Nekrologe. 41

kammer ebenda. Im Jahre 1876 wurde er von der nationalliberalen Partei in das preußische Abgeordnetenhaus gewählt, dem er als Vertreter des Wahlkreises Schweidnitz-Striegau-Freiburg bis zum Jahre 1879 angehörte. Von 1877 bis 1881 vertrat er den gleichen Wahlkreis auch im Reichstage,

Bei dieser Überfülle von Arbeit fand er stets noch Zeit zu künstlerischen und vor allem wissenschaftlichen Bestrebungen aller Art. Als Kind einer großen Seehandelsstadt und als Sohn eines Großkaufmanns hatte er seine Blicke von Jugend an fernen Ländern zugewendet und reges Interesse für die Erde und ihre Völker an den Tag gelegt. Als eifriges Mitglied der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin trat er in Beziehungen zu den großen Forschern der damaligen Zeit: Bastian, Gerhard Rolfis, Schweinfurth, Koldewey, Frhr. v. Richthofen u.a. m. In seinem Berliner Hause wurde unter anderem der Plan der ersten Expedition zur Einführung japanischer Kunsterzeugnisse nach Deutschland erwogen. In Breslau waren es vor allem die Professoren der Universität, in Düsseldorf die Koryphäen der Kunst, in deren Verkehr er nach angestrengtester Berufsarbeit immer neue Anregungen auf dem Gebiete des allgemeinen Wissens und des Idealen suchte. Alljährliche große Reisen, darunter auch eine in. den Orient, deren Eindrücke er in der kleinen Schrift „Eine Osterreise nach Jerusalem‘‘ niederlegte, seine reichen theoretischen Kenntnisse durch eigene An- schauungen zu erweitern und zu vertiefen.

Von hohem wissenschaftlichen Werte waren seine Leistungen auf dem Gebiete der Entomologie, besonders der Coleopterologie. Seine mit unend- licher Mühe und Sorgfalt allmählich auf über 300000 Stück zusammen- gebrachte Sammlung der 4 Gruppen Buprestiden, Cetoniden, Longicornen und Lucaniden sucht in Deutschland und darüber hinaus ihres Gleichen, zumal sie eine ganze Reihe von Käfern enthält, die erst durch ihn be- kannt oder überhaupt nur in einem oder doch nur in ganz vereinzelten Exemplaren vorhanden sind.!) Unter seinen engeren Fachgenossen galt er als Autorität, dem gar manches Stück von befreundeter Seite zur Be- stimmung übersandt wurde. Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur ehrte seine Verdienste auf diesem Gebiete durch Ernennung zu ihrem Generalsekretär und später zum Ehrenmitgliede.

Daß es einem so vielseitigen Leben auch sonst nicht an Anerkennung gefehlt hat, ist selbstverständlich. Sichtbaren Ausdruck fand sie u. a. durch Verleihung des Roten Adlerordens 2. Klasse, des Königl. Kronenordens 2. Klasse mit dem Stern, des Charakters als Geheimer Oberjustizrat mit dem Range eines Rates Il. Klasse. Im Februar 1910 war es ihm noch beschieden, das Fest der goldenen Hochzeit und damit gewissermaßen den Abschluß eines reichbewegten, aber auch reichgesegneten Lebens zu begehen.

1) Die Sammlung wird bis zur Entscheidung, ob einer der z. Zt. noch minder- jährigen Enkel sie übernimmt, im Düsseldorfer städtischen Museum weiteren Kreisen zugänglich gemacht werden.

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‚Zwei Reden gehalten vo ben des Stiftungstages : am. 17. Dezember 1304. "An die Mitglieder der Gesellschaft } } sämtliche ’Schlesier, von.R Oeffentlicher ihres S

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eneral-Sachregister ‚der in-den a de chles. Geseli . * ine). enthaltenen Aufsätze, geordnet i in alphab.' ige von Se aft F vaterländische Coltur, Die undertjahrfeier i "Breslau 1904. - RS :

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Jahres-Bericht

der

Schlesischen Gesellschaft

für vaterländische Cultur.

1910. ll. Band.

m

LIBRARY NEW YORK BOTANICAL

GARDEN.

Breslau. G. P. Aderholz’ Buchhandlung. 1911.

Inhalts-Verzeichnis des II. Bandes des 88. Jahresberichtes.

LIBRARY Fer NEW YOoRs . = » . BOTANICAI Berichte über die Sektionen. Rn I. Abteilung: Medizin. a. Sitzungen der medizinischen Sektion.

(Die römischen Zahlen zeigen den Teil, die arabischen die Seitenzahlen an.)

Seite Allard: Zum Vortrage (T. U. S. 54) von Most.........ee2222e2eee22.. I 5 Sa]

_ z - (OEWIEES SA) EEE EDHYanme ee ee IE56%

= - . (UBSTEES ES 9) EEE WEICH TOTIR Teer erstere tere lerage I 8

Über pseudopulmonale Geräusche und ihre Vermeidung bei der

Auskultation der Lungenspitzen.........222222ssnseeeeennnnnen II 107

Klinische Beobachtungen an anaphylaktischen Anfällen nach

SEFUND EREIONEN WARE EEE Eee JE RL Ne I 172 Baruch, Max: Über Stauungsbehandlung bei Sehnenscheidenphlegmone I 90 Bauer: Demonstration einer Cyste.........n.noooeroneenosennuunennne I 46

Kind mit hochgradigen amniotischen Abschnürungen............- I 88

Konservierter Phocomelen ..........eccononnonoononnnannnnanunn I KEN)

Neues Röntgendurchleuchtungsverfahren ........22..-2222ee022 0: 17298 Biedermann: Arthritis deformans ........o..ucueooenereennnernenner I 9 Bogatsch: Rezidivierende Oculomotoriuslähmung ........-2ees2s0200.- Ie261 Bondy, O©.: Zum Vortrage (T. UI. S. 164) von Ludwig Fraenkel........ I 11t Bonhöffer: Demonstration eines Kranken mit überwiegend halbseitiger

ISNLARIO eleretelie/aie e aialarn eo ataleketünn efahalen efele ne Tasse ale Reese Fer nla ers jegannieke 2 atte 1217

Operierter Tumor des linken Kleinhirnbrückenwinkels ..........- IgE18

Zum NaErag? (RES ED EV OT VI KEre Eee erantejalejejae I 2%

_ . (RE IE SE GE Nr Zn et nee ejekorata ers I 32

. - (SETS SS AD ee Udo HE Re el seele I 4

= . . ELITE UNION Rear eb7

—_ (SUN SCH OJEIE ASTNEISSER Me reale ec a sin enianars I 9%

Bemerkungen zur Behandlung und Diagnose der progressiven

ENENELSBODAHRRRTEN EEE BRNO II 139

Zum Vortrage (T. Il. S. 139) und (T. I. S. 104) von Schröder ... I 123 Brade: Demonstration eines . Falles von Magentuberkulose.............- I 4

Zum Vortrage (T. II. S. 148) von E. Melchior..................- I 108 Bnaendles 'Dertiäre IaNoayeer er en nmnaaeneee l 7

Brieger: Fall von Tuberkulose des weichen Gaumens und der hinteren FECHTEN G ee re SEN I 3

IV Inhalts-Verzeichnis.

Bruck, Carl: Zum Vortrage (T. I. S. 172) von Allard Coenen: Über Mutationsgeschwülste (Carcinoma sarcomatodes) und ihre Stellung im onkologischen System

Zwei Gylindromer er ee EEE 2 ZumWVortrage (#12 Ss 74)Evon.Ke Ziegler Er Über die Folgezustände der Spontanblutungen in die Umgebung derNiere (sogenannte perirenaleHydronephrose und Hämatonephrose)

Demonstration einer exstirpierten Cystenmilz.................... Zum Vortrage (T. I. S. 85) von Richard Levy................... = - = (E75 289)Er- a MelcHionerrre rer ee eu - - (ESTESS 93) EEE SEES ch u ltze er ee Über die Fortschritte in der Pathogenese und Therapie der Banereasnekrose ..... 9 ac. ae Dee ee

—— E77 um@Viortragestee@ 11. SE 1 OD) ee Eee = - - (BITSSE126)EvonzTietzes Les Se ee Cohen, Curt: Augenverletzung durch ein neues Rasiermittel........... Cohn, Max: Technische Fortschritte in der Röntgenphotographie....... Über die Anwendung der ungedämpften elektrischen Schwingungen (Forest’sche Nadel) zu operativen Zwecken............u.222222.. Davidsohn: Zum Vortrage (T. I. S. 74) von K. Ziegler...............

Dreyer: Zum Vortrage (T. 1]. S. 4) von Willi Hirt :..................

Nutzen und Gefahren der Sauerstoffatmung bei schweren Blut- VIREN AHEAD NORHAR RR RD SIHEUBODBAED AEG

Durchholz, Carl: Gastrische Krisen bei einem Fall von jugendlicher

Ephraim: Endobronchiale Therapie .................ceeeceeeeeeeenne Zum Vortragen (a SE SA) ee ee Eppenstein: Über Stickstoff-Pneumothorax........--.n--2r2eeseeenn- Foerster, O.: Zum Vortrage (T. I. S. 6) von Carl Durchholz ........ = - - (ESTEIS:S1 9) = EEE Kramer = - = (T. I. S. 22) SLEItZUten erenelekee a oe = = WESTES AO) ES TUdlofeerer er ee Fraenkel, L.: Grünes Brustdrüsensekret..............-. 22-0222 eenen- Die interstitielle Eierstocksdrüse................2eeeeceeceeeeen- 7 mWVortragen Ey IE STI6A) Eee BE Fritsch: Säbelscheidentibia bei erworbener Lues..................... Geis: Die Jonentherapie bei Erkrankungen des Auges................. Der prognostische Wert der Netzhautblutungen und Netzhaut- gefäßerkrankungen für den Gesamtorganismus................0.- Goebel: Zum Vortrage (T. II. S. 54) von Most.................2200.. Er a = (EST.IS68) 8 WDIetzeng ee er _ - z (T. 1. S. 126) = RE URS SDR Goerke: Schwerhörigkeit bei Leukämie ..............-.eecereennneen: Goetsch: Zum Vortrage (T. I. S. 71) von Minkowski ................- Gottstein, G.: Zum Vortrage (T. II. S. 4) von Willi Hirt............- Groenouw: Demonstration der Durchleuchtungslampen von Sachs und Lange an einem Auge mit Aderhautsarkom ..............-.222.- auuız Zum Vortrage (T. I. S. 6) von Carl Durchholz............- - - (T. II. S. 110) von A. Neisser...............

N

Seite

I 101 I L I 43 I 78 7 I 3 I83 1290 I 3% I 125 I 104 129 Il 1 I 12720 12276 I 14 56) I 6 1 83% 1267 I 5) I 6 12230 193 I % 1216 I 164 I 111 I 3 53 I 110 12251 170 1199) I 2 178 I Su.13 I 47 I 6 1595

Inhalts-Verzeichnis

Hegner: Über die Wirkungsweise des Quarzlichtes auf die trachomatöse BiudehautzdesgAngeser se ee seele nee ee Heimann, Fritz: Zum Vortrage (T. II. S. 164) von Ludwig Fraenkel... Herten: Lupus der Uvula und des Arcus glossopalatinus.............- Hinsberg: Zum Vortrage (T. I. S. 86) von Richard Levy ............. Hirt, Willi: Die Behandlung der Prostatahypertrophie.................- Anm Vorkrager (RA TE SEA) Re rk tae fee are oate ee lee Hoffmann, Michael: Über die Abkühlung der Inspirationsluft bei der Aethertropfnarkose, ihre Bedeutung und ihre Verhütung ........- Hörz=Torsion des Samenstrangsr „te. .r u edeln seen anna enne en Eigentümlicher Entzündungsprozeß in der Mamma............... Hürthle: Zum Vortrage (T. I. S. 27) von @. Lenz.................... Jacob, J.: Diagnose u. mechanische Behandlung des systolischenGeräusches und der Pulsation der linken oberen vorderen Intercostalräume .. Form Mortrager (IRRE S WDR) ee ee ea ee Joseph: Zum Vortrage (T. I. S. 77) von Coenen .......ee2r2eeeeeee Kaliski, Joseph: Zum Vortrage (T. II. S. 84) von Ephraim ........... Kaposi: Zum Vortrage (T.I. S. 77) von Coenen ........222urecue 220 Klaatsch, H.: Die fossilen Menschenrassen Europas zur Eiszeit ........ Klieneberger: Zum Vortrage (T. II. S. 139) von Bonhöffer und (T. I. SEELE) VORNE SCHLONerEe ee ee ejere dene delete een ee einen te Kramer, F.: Demonstration zur Prognose der Poliomyelitis ant........ Küttner: Zum Vortrage (T.I. S. 1) von Coenen...........222222222.. > - KEANES SAN SEE WI ID EH TE nr Demonstrationen: 1. Fibrolipoma pendulum petrificatum des Oberschenkels ..... 9. Melanom des Ohrläppchens ..........«-eessaseeeeenener en Vorstellung von drei operierten Rückenmarkstumoren, darunter zwei Fälle von Tumor der Cauda equina ......eeeeennuunuennene Bericht über 22 in den letzten $S Monaten ausgeführte Nieren-

SEITEN ER ea een

Operierte enorme Elephantiasis seroti ...e..-suarenneeeneeeeneen

Transplantation eines Hüftgelenks aus der Leiche ..............- Demonstrationen:

1. Madelung'scher Eetthals........u.... sooeneoneronsuıe er

BEN enroNDrOIatOoSaE ee ee aeiemeisie ana cine

ESASKOTHUL Se ee Re ee TORE ke ar nclein egal

4. Parafünprothesen...eun.naoeuoonnerusaueoneennnenenntsnen

Zum Vortrage (T.1. S. 71) von Minkowski.............. arsr...

. (T.L.S. 74) » KR. Ziegler .....2cersueneesorunee Demonstrationen:

1. Rankenneurom des Halses ....e...ceersennnenenenne ren

2. Fall von Hepatico-Duodenostomie »...uuurersnonenerennnne-

3. Fall von erfolgreicher Exstirpation eines Hirntumors aus der

Gegend des Chiasma nervi Oplici zuuseersnennneeennee nenne

4. Zwei erfolgreiche Gelenktransplantationen aus der Leiche...

Inguinalhernie von der Größe eines Mehlsackes ..............».- Zum Vortrage (T. II. S. 148) von E. Melchior.............+- Ss Landmann: Zum Vortrage (T.I. S. 69) von Tietze.........- RR RE Landois: Demonstration von zwei Speichelsteinen ..... ».-....rrrr+»

Seite

II 103 171131 SEAT 12:86 u 4 I 14 I 61 I 3 I 88 1,233 I 9%) I 53 ze I 66 I 79 I 15 I 124 122219 I 1 l 7 I 7 I 7 I ‚33 I 35 1,233 l 33 | I 51 I 55 I 55 LITE I 75 l s0 I 80 3 | I 8 I I 107 I 69u.70 l %

VI Inhalts -Verzeichnis.

Lenz, G.: Organisation und Lokalisation des Sehzentrums ............ Erfahrungen mit dem Exophthalmometer, dem Tonometer und dem

Anomaloskop................ 087006100 000000008000 500508000000 Be,yiyp Richard:PEnterocystom 2 re Nasenplastik bei Sattelnase mit Knochentransplantation aus der Tibia des Patienten...... N NENNEN TINTEN ESTER NT LTE

Zum Vortrage (T. II. S. 172) von Allard.............ccccc...... Dudloft:2HallEvon®Hrypotonier ar

Luxation des Naviculare der Handwurzelknochen................ Über die Spiralfissuren der Tibia bei Kindern................... Mann, Ludwig: Zum Vortrage (T.I. S. 18) von Bonhöffer............. Melchior: Zum Vortrage (T.]1. S. 71) von Minkowski ................ Die differentialdiagnostische Bedeutung der croupösen Pneumonie gegenüber akuten entzündlichen intraabdominellen Prozessen.....

EZ UmWVortragen (ATS ESG) ee Über tuberkulösen Gelenkrheumatismus................22c20220. Über das chronische Duodenalgeschwür ................e2220200. BZ umWVortrages(lyoIPe S@148)W Sy re Minkowski: Zum Vortrage (T. I. S. 24) von Ponfick ................ _ - - GREAT SE) EZ Rosentelder rer

- - (EIIE2S284)7 = Ephraim nen ee Demonstrationen: 1. Primäre Lungenactinomycose .......22222e2eeecenerenenenee 6.0 2. Rheumatoiderkrankung bei Tuberkulose ............ezer2220. 3. Pulsierender Mediastinaltumor ............222c2eceenen 600868 4. Aneurysma des Arcus aortae und der Aorta descendens ...... Zum Vortrage (T. I. S. 77) von Coenen .......ereerceeceen nenn _ - - (T. II. S. 125) - ee Vaehe Mohr: Hess’sche Ptosisoperation ..............e.ceeeeeeeeeeeneeenenn Vorstellung eines Mädchens mit beiderseitig großer Gesichtsspalte Bil oje CANDangELO 605000800808050000600880048000000003 Most: Zur Kasuistik der Hysterie und Fremdkörper im Darm .......... Neisser, A: Zum Vortrage (T. Il. S. 4) von Willi Hirt ............... _ = = (T. II. S. 139) = Bonhöffer und (T. I. S. 104) von?Schrödersereit. 4. - eneele ae edel ee ET ee Über die Bedeutung des Ehrlich’schen Arsenobenzols für die Syanlispgehnclhing 5000650000 09000000600800082000000800,000805006 Neisser, Emil: Compressio medullae durch intradurales Hämatom ..... Ossig: Zum Vortrage (T. I. S. 49) von Max Cohn ...... Olaleleloge ren ejerefheloge —_ = 5 (EIERS DA)2 Se DMosteers ee ee Pfeiffer: Zum Vortrage (T. II. S. 172) von Allard.................... v. Pirquet, C.: Zum Vortrage (T. Il. S. 172) von Allard ............. Ponfick: Zum Vortrage (T. I. S. 1) von Coenen ......2..-2reeerenen _ = - (STE STAU) EZ WATT HIT ee etere Anatomisches und Experimentelles zur Nieren-Pathologie ........ Zum Vortrage (T. I. S. 24) ............ 06000060000000000 00000006 Worte der Erinnerung an Robert Koch .............2ecse200. ö Renner: Zur Nierendiagnostik -.......ee....... 66.000000660000000000

Chylus an Stelle von Bruchwasser bei eingeklemmtem Bruch Demonstration ein.durch Oesophagoskopie entferntenKnochensplitters

Seite

IT ©2327 I 5 18 I 8% I 102 I 2 I 4 I 8 I 18 I 72 I 89 I 90 I 10 II 148 I 109 I 24 I 56 I 66 TE 1 7A 173 I 74 179) I 103 I 58 I 58 I 54 ll I 112 I 110 I 6 I 50 I 51 I 100 I 100 I 2 12 I 24 I 26 57 48 I 5 1279

Inhalts-Verzeichnis.

Riegner: Demonstrationen:

iss Doppelte Kıeferfraktun ee. nen re

2 inberkulosenden. Unterkiefers rn ee Rosenberg: Zum Vortrage (T. II. S. 20) von Max Cohn ............. Rosenfeld: Zum Vortrage (T. I. S. 24) von Ponfick ................. = 5 - (T. II. S. 30) - Jean Schäffer ........... = > - GRSIESEO2 Es dacahker een = Außergewöhnlicher Fall von Korpulenz ...........-.er2ceeecen. Eiweißkörper und Leberverfettung .......-.-.2.2. neensennneenn Zum Vortrage (T. Il. S. 71) ...... nabahdonee ende Eee ee = - GEIZSTEDEvonzIrienel ZerRren ee aeeers: . I ENERTEN 2 NE BobDaBeean 3a rnene = E - (TOUSS 1231-22 Goenenare gesessen = E - (EIIZSSHUSI 2 BS Melchjorse regen Schäffer, Jean: Experimentelle Untersuchungen über den Einfluß der lokalen Behandlung auf die Entzündung .0.....-.-ecessenecee.e nme VortnagestA TS SO) Sera ee east leere Scheller: Zum Vortrage (T. II. S. 172) von Allard ........... ...... Schiller, Max: Totale Hypertrophie einer Körperhälfte .............. Schmeidler: Zum Vortrage (T. I. S. 52) von J. Jacob ...............- = = - (T.I.S. 74) = Minkowski .............

Schröder, P.: Syphilitische Erkrankungen des Centralnervensystems .. Schultz, J. H.: Segmentäre, isolierte Bauchmuskellähmung bei Polio-

Myelitis anterior achte. 1.22% aan nee aeridaae sahaeee

SE NENELCYSEEN. © 2.0 orte eier sale eietele een nee N ER EN:

Snanmaus: Retroviscerales Lipom..- «1. wm eine... @2 0 Saeieeiereereieieiaene

Stern, R.: Infektion der Harnorgane .....-........enenceenaceceneene

Zum Vortrage (T-%IS. 69); von Tietzer. 20.0 een aaeeielaiel. eisen

= : 5 EEE) N OENTE aaa aaa

= - - (123792) as Wünicklerzeis ee re er eereeretea Demonstrationen:

I kkechtsseitige, GYstennieren. u eieikleine sine ein alas un alain olaleie ae nein

hr RENTEN Sch arena eo eo gan ann a

3. Fieberhafte Erkrankung der Gallenwege..........-.urrunsr 00:

Zum Vortrage (T. UI. S. 172) von Allard.................zoo0s0n.

= . - (T.I. S.164) = Ludwig Fraenkel...............

Stertz: Cerebrospinale Cysticerkose ................uersnenenannneens

Meningealcyste des linken Schläfenlappens.........-.ur-serr00.-

[EEE ET DrEDANAUONEN Eee ee ee ana nueie

Zum Vortag SEA) VOnS Wall Eintr ee en.

_— . . (UOISSS DI) SE Kültnantee tee een elesieieinte

_ . (T.1. S. 54) NLA Sg RETTEN Demonstrationen:

1. Beiträge zur Chirurgie der Leber..........eererereneenennens

a3 Empyem. der. Gallenblasesern sense ensenan ers unanesnennen

3. Traumatische Leberruptur.........en.snsusnonnnnenusunnnnnne

4. Leberabscegß nach Perityphlitis ...........-...eereeserenenes

Studien über Epithelwachstum .....»..r.sseeeeesenenenenenennenne

Triepel: Die anatomische und medizinische Nomenklatur............-

Uhthoff: Zum Vortrage (T.I. S. 27) von G. Lenz.........+-2sero0er.

VL Seite

I 3 I 8 150 15235 I 48 I 53 I 5 m 97 I 64 22165 I 104 I 109 II 30 I 38 I 97 I 7 12293 I 74 I 104 1 99 I 3 I 3 L 3 Ki 70 I % 1 Kr) I 9 193 12293 I 103 I 110 I) 132 I 3 12210 I 51 I 54 1.16% 1 68 I 69 I © I 1236 I 61 I 33

VII Inhalts -Verzeichnis.

Uhthoff: Vorstellung eines Falles von Gummata beider Augenlider mit auffällisschneller Rückbilduner 2... 12... 2..22 I Zum Vortrage (T. 1. S. 31), von ’Küttner...........e I _ - = (T. UI. S. 110) von A. Neisser...................... I

Zwei bemerkenswerte Fälle von plötzlicher doppelseitiger Erblindung im@höheren"Tebensaltenı Ray er. II

Vix: Fall von Muskelatrophie bei Tabes und anatomischer Befund bei progressiver spinaler Muskelatrophie ...................2.2...2 0 FT WIEN Sycın go 1myellee ger ET TE I IE WUXatORSUPEAPUDICHE TITTEN I

Wetzel, G.: Die aufrechte Haltung des menschlichen Kopfes mit Demon- stration neuer Verbesserungen am diagraphischen Apparat ....... I Wincekler: Demonstration eines Mediastinaltumors ................... I Wolff, Hans: Zum Vortrage (T. I. S. 172) von Allard ............... I Ziegler, K.: Milzexstirpation und Röntgenbehandlung bei Leukämie ... I

b. Sitzungen der hygienischen Sektion.

Heymann, B.: Über den gegenwärtigen Stand der ätiologischen Trachom- TOTSCHUN ER 2 2 REEL LH I Weitere Mitteilungen zur Trachomfrage ................e222.20. I Über die Fundorte der Prowazek’schen Körperchen ........... ot Oettinger, W.: Über den Nachweis des Bacterium coli im Trinkwasser I Pfeiffer: Zum Vortrage (T. Il. S. 187) von B. Heymann ............. I = - = (T. 1. S. 132) W. Oettinger ............. I Telke: Zum Vortrage (T. II. S. 187) von B. Heymann ................ I Uhthoff: Zum Vortrage (T. Il. S. 187) von B. Heymann ........ 1131: Wolffberg, S.: Zum Vortrage (T. II. S. 187) von B. Heymann ........ I

131 133 187 132 132 133 131 132 132

Schlesische Geselschal fr valerländische Kult,

38. I. Abteilung. Jahresbericht. Medizin. 1910. a. Medizinische Sektion. ©,x = RE BO)

Sitzungen der medizinischen Sektion im Jahre 1910.

Sitzung vom 14. Januar 1910.

Vorsitzender: Herr Ponfick. Schriftführer: Herr Minkowski.

Hr. Coenen:

Ueber Mutationsgeschwülste (Careinoma sarcomatodes) und ihre Stellung im onkologischen System.

Die zuerst von Ehrlich und Apolant beim Mäusekrebs beobach- teten Umwandlungen von Careinomen in Sarkome sind aus vielen Krebs- instituten bestätigt worden und drücken somit ein gesetzmässiges Ver- halten dieser Geschwülste aus. Nach A. Sticker kaun man solche Ge- schwülste Mutationsgeschwülste nennen. Auch beim Menschen gibt es Uebergänge zwischen Careinom und Sarkom, die dem Begründer der wissenschaftlichen Geschwulstlebre Rudolf Virchow gut bekannt waren, und von letzterem als Carcinoma sarcomatodes bezeichnet wurden. Gerade diese Geschwulstform ist in der letzten Zeit durch die experimentelle Krebsforschung wieder in den Vordergrund des Interesses gestellt. Auch klinische Beobachtungen von Careinoma sarcomatodes beim Menschen liegen vor. Es sind nach den Statistiken von Herxheimer und L. Lipp- mann etwa 20 Fälle in der Literatur bekannt. An der Mamma ist das Careinoma sarcomatodes nur 3 Mal beobachtet, und zwar von Dorsch, Schlagenhaufer und vom Vortragenden (Fall aus der Privatklinik von Herrn Prof. Küttner). Klinisch war der Tumor, der sich als Carcinoma sarcomatodes erwies, ausgezeichnet durch die scharfe Absetzung desselben vom Drüsenkörper der Mamma. Redner nimmt für seinen Fall an, dass zuerst die sarkomatöse Komponente da war, und dass dann durch den Reiz der Sarkomzellen auf die Epithelien das Carcinom entstand. In dem Dorsch’schen Falle war zuerst das carcinomatöse Gewebe da, die sarkomatöse Wucherung des subepithelialen Gewebes entstand sekundär. Bei Schlagenhaufer bestanden Careinom und Sarkom der Mamma zu gleicher Zeit neben einander. Das Carcinoma sarcomatodes kommt also zustande: 1. durch sarkomatöse Umwandlung eines Careinoms; 2. durch careinomatöse Umwandlung eines Sarkoms; 3. durch gleichzeitiges Neben- einanderbestehen von Careinom und Sarkom, die sich im Wachstumsbe- reich mit einander mischen. Klinisch ist die excessive Bösartigkeit des Careinoma sarcomatodes hervorzuheben. Die angeführten 3 Entstehungs- möglichkeiten des Carcinoma sarcomatodes sind sowohl klinisch, als auch experimentell sicher gestellt. (Die ausführliche Veröffentlichung wird an anderer Stelle erfolgen).

Diskussion.

Hr. Küttner hat die genaue Untersuchung des Tumors veranlasst,

weil sowohl die Anamnese wie der klinische Befund gewisse, durch den

Schlesische Gosellsch. f. vaterl. Kultur. 1910, 1. 1

2 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Vortragenden bereits erörterte Abweichungen vom gewöhnlichen Bilde des Mammacareinom ergaben. Redner hat soeben die Nachricht erhalten, dass die Patientin ein Rezidiv bekommen hat, es entspricht dies der vom Vor- tragenden hervorgehobenen ausserordentlichen Bösartigkeit der Mutations- geschwülste. Vor Kurzem hat ein italienischer Autor Nassetti (Sopra un caso di carcinoma del tiroide receidivante in sarcoma Policlinico, sez. chir. 1909. XVI. 10; Ref. in Zentralblatt für Chirurgie 1909. No. 52) einen wichtigen Beitrag zu der Frage geliefert. Bei einem 38jähr. Patienten war eine seit 18 Jahren bestehende Struma bösartig geworden und zu einer orangegrossen Geschwulst herangewachsen. 10 Tage nach der Entfernung des Tumors trat in der Narbe ein Rezidiv auf, das teil- weise mit der Vena jugularis verwachsen war. Auch die rezidivierende Geschwulst wurde entfernt, trotzdem kam es bald zu abermaligem Rezidiv, das den Tod herbeiführte. Die histologische Untersuchung er- gab, dass die primäre Geschwulst ein reines Carcinom mit spärlichem, bindegewebigem Stützgewebe war, während das Rezidiv und ebenso ein gleichzeitig entfernter Lymphknoten ein reines Spindelzellsarkom erkennen liess. Nassetti hat für diese Fälle eine neue Hypothese aufgestellt, welche aber für die vom Vortragenden mitgeteilte Beobachtung nicht zutreffen kann, wohl überhaupt etwas gewagt ist; er nimmt an, dass die Entwicklung des Careinoms zwar eine genügende Immunität gegen Carcinomzellen geschaffen habe, dass aber die entstandenen Immunkörper nicht ausreichten, um das Weiterwuchern des interepithelialen Stütz- gewebes zu verhindern.

Hr. Ponfiek: Erscheinungen von Wucherung des Zwischengewebes im Bereiche eines primär in krebsiger Umwandlung begriffenen Drüsen - bezirkes lassen sich zwar öfters antreffen. Indes ereignet es sich doch nur ausnahmsweise, dass ein derartiger Vorgang zur Entstehung eines so massiven, so typisch-sarkomatösen Gewebes fübrt, wie wir es in der von dem Herrn Vortragenden soeben mitgeteilten Beobachtung und den von ihm projizierten Präparaten gesehen haben.

Das Umgekehrte, dass sich nämlich innerhalb eines primären Sarkoms die epitbelialen Elemente und zwar in bösartigem Sinne an der Vermehrung beteiligen, ist allerdings noch seltener.

Die Tatsache, dass in solchen Fällen ich erinnere nur an die Adenosarkome der Brustdrüse, das sog. Cystosarcoma phyllodes der Mamma u. a. die Neubildung epithelialer Elemente zwar an Zahl und Umfang einen erstaunlichen Grad erreicht, trotzdem aber durchaus homolog bleibt, legt gewiss ein besonders schlagendes Zeugnis dafür ab, dass wir es bei der Erzeugung derjenigen epithelialen Elemente, die wir als solche krebsiger Natur bezeichnen müssen, mit Produkten durchaus eigenartiger Natur zu tun haben.

Hr. Cohen: Augenverletzung durch ein neues Rasiermittel. (Siehe Teil II.)

Sitzung vom 2l. Januar 1910. Vorsitzender: Herr Harttung.

Hr. Goerke: Schwerhörigkeit bei Lenkämie.

Demonstration von zwei Kranken mit Leukämie. Bei dem einen war im Verlaufe. einer chronischen lymphatischen Leukämie eine all- mählich zunehmende Schwerhörigkeit aufgetreten, bei dem anderen ganz plötzlich eine fast völlige Taubheit. In beiden Fällen handelt es sich nach dem Ergebnisse der Funktionsprüfung um eine Erkrankung des inneren Ohrs (Labyrinths). Während man in dem ersten Falle an eine

allmähliche degenerative Veränderung der Nerven bzw. Nervenendstellen infolge Iymphoider Infiltration zu denken hat, hat in dem zweiten Falle offenbar eine intralabyrinthäre Hämorrhagie zu einer Zertrümmerung der Weichteile und damit auch des Corti’schen Organs geführt.

Zur Illustration des zweiten Vorgangs wird ein entsprechendes mikroskopisches Präparat, von einem früher beobachteten und unter- suchten Falle herrührend, demonstriert. n

Hr. Brieger demonstriert einen Fall von Tuberkulose des weichen Gaumens und der hinteren Rachenwand.

Hr. R. Stern stellt einen Fall von Infektion der Harnorgane vor, die sich im Laufe eines Typhus entwickelt hat und auch nach Auf- hören des Fiebers fortbesteht. In dem reichlich Eiter enthaltenden Harn fanden sich Typhusbaeillen in Reinkultur.

Hr. Tietze: Trepanationen.

a) Tuberkel des Kleinhirns. 6jähbriges Mädchen, welches mit ver- schiedenen tuberkulösen Knochenherden Ende 1908 in das Krankenhaus aufenommen worden ist. Ein bis auf den Knochen reichendes tuber- kulöses Geschwür findet sich rechterseits dieht hinter dem Warzen- fortsatz auf der Hinterhauptschuppe. Es fehlen alle cerebralen Er- scheinungen. Aus der Anamnese aber ist ersichtlich, dass das Kind 4 Monate vor der Aufnahme schwerkrank gewesen ist. Sie hatte furcht- bare Kopfschmerzen, Erbrechen, wurde bewusstlos, hatte Krämpfe. Das hat sich inzwischen mehrmals wiederholt, doch waren keine Symptome vorhanden, welche eine bestimmte Lokaldiagnose ermöglicht hätten. Bei der Operation war man gleichfalls sehr überrascht, dass das vorhin beschriebene tuberkulöse Geschwür durch den Knochen hindurch in eine fast walnussgrosse tuberkulöse Höhle im rechten Kleinhirn führte. In- folge der Verwachsungen vollzog sich die Operation wie eine gewöhn- liche Auskratzung. Leider musste vom Knocben ziemlich viel geopfert werden. Heilung sehr langsam, aber ohne Zwischenfall. Das prolabierte Kleinhirn hat sich überhäutet.

b) Trepanation wegen Gehirndrucks. Vortragender erinnert an zwei Fälle von disseminierten kleinen Tuberkeln an der Konvexität des Ge- hirns, die er vor einiger Zeit an gleicher Stelle besprochen hat. Beide Fälle waren unter dem Bilde des sogenannten Pseudohirntumors ver- laufen. In dem ersten Falle wurde die Sachlage erst bei der Sektion erkannt; in dem zweiten Falle wurde der Knochenlappen zum Teil ent- fernt, worauf Patient einen grossen Teil seiner Beschwerden verlor. Die Besserung konnte nur auf die Druckentlastung zurückgeführt werden. Beide Fälle waren durch Herrn Foerster zur Operation gebracht worden. In gleicher Weise und ebenfalls in Gemeinschaft mit Herrn Foerster wurden 4 Fälle behandelt, welche Redner heute vorstellt. Gemeinsam waren alle vier Erscheinungen von Hirndruck, die sich allerdings in verschiedenen Formen, von heftigen Kopfschmerzen bis zu wiederholten Krämpfen, präsentierten. Als Ursache wurden in zwei Fällen ebenfalls zerstreute Tuberkel auf der Konvexität bei der Operation nachgewiesen, in den anderen Fällen als wahrschein- lich angenommen. Das Resultat bestand darin, dass zwei Patienten, ein Knabe und ein junges Dienstmädchen, die vornehmlich über Kopf- schmerzen geklagt hatten, diese verloren. Die Operationen sind aber erst einige Wochen her. Von den anderen Patienten, halbwüchsigen Mädchen, die beide an Krämpfen litten, ist die eine seit der Operation, d. h. seit 11/, Jahr ohne Krämpfe geblieben, bei der anderen sind die Krämpfe nicht verschwunden, aber ganz unzweifelhaft sehr viel seltener geworden. Herr Foerster wird über diese Fälle genauer berichten.

1*

4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Hr. Brade: Demonstration eines Falles von Magentuberkulose.

M. H.! Ich zeige Ihnen hier das interessante Präparat einer chirurgischen Magenerkraukung, nämlich der Magentuberkulose und zwar gerade der seltensten Form dieser an und für sich nicht häufig vor- kommenden Krankheit, nämlich die hypertrophische, tumorartige, im Gegensatz zu der häufiger beobachteten ulcerösen oder miliaren Knötchenform. -

Das vorliegende Präparat ist durch Operation gewonnen und stammt von einem 19jährigen Gymnasiasten, der seit sieben Jahren kränklich war und seit einem Jahr über Magenbeschwerden klagte. Die Beschwerden bestanden hauptsächlich in stark saurem Erbrechen, das anfangs alle 3—4 Tage, in letzter Zeit aber fast täglich auftrat; das Erbrochene war niemals schwarz oder blutig. Obwohl der Appetit dabei gut blieb, nahm er stark ab und wog bei der Aufnahme nur 75 Pfund.

Die Untersuchung ergab keine nachweisbaren Veränderungen der inneren Organe, besonders konnte an den Lungen keine Erkrankung festgestellt werden. Ein Tumor in der Magengegend war durch die Bauchdecken nicht fühlbar. Die Untersuchung des Mageninhaltes ergab Hypersekretion mit starkem Säureüberschuss, meist reichliche freie Salzsäure, zweimal auch Milchsäure stark positiv, lange Stäbchen.

Durchleuchtung des Magens nach Wismutmahlzeit war ergebnislos. In Annahme eines den Pylorus verengenden Tumors wurde zur Operation geschritten. Dabei zeigte sich die Pylorusgegend verdickt, eigentümlich infiltriert; in der Umgebung lagen zahlreiche derb infiltrierte Drüsen. Da der Magen gut beweglich war, wurde die Resektion nach der zweiten Billroth’schen Vorschrift ausgeführt.

Der Verlauf war günstig, es trat Heilung p. i- ein, nach 4 Wochen wurde der Patient mit sieben Pfund Gewichtszunahme bei gutem All- gemeinbefinden entlassen. Nach zwei Monaten stellte er sich in bestem Wohlbefinden und einer mit weiteren Gewichtszunahme von 25 Pfund wieder vor.

Das Präparat schien zunächst die Tumordiagnose zu bestätigen. Alle Schichten der Magenwand sind verdickt und infiltriert, in der Mucosa erheben sich gewulstete Stränge, die sternförmig zu einer grossen, derben Wulst zusammenlaufen und den Pylorus verengen. Um so überraschender war das Ergebnis der mikroskopischen Untersuchung. Von Tumor ist keine Spur zu sehen, die Drüsen sind gut ausgebildet, reichliche kleinzellige Infiltration zwischen fibrösen Strängen durchsetzt alle Schichten, das Iymphatische Gewebe ist hypertrophisch, die Blut- gefässe sind erweitert. Erst die Untersuchung der mitentfernten Drüsen schaffte Klahrheit, denn hier fanden sich typische Tuberkel mit zentraler Verhärtung und Riesenzellen.

Nachträglich wurde uns noch von dem vorbehandelnden Arzte auf unseren Bericht hin mitgeteilt, dass der junge Mann im Jahre zuvor wegen initialen Lungenspitzenkatarrhs hehandelt worden sei und auf Tuberkulininjektion ausserordentlich lebhaft reagiert habe.

Die Diagnose der Magentuberkulose ist sehr schwer, wenn nicht unmöglich; am ehesten ist sie noch zu stellen, wenn bei schweren Phthisikern Magendarmstörungen auftreten oder bei tuberkulös Belasteten Erbrechen mit hohem Säureüberschuss eintritt. Auch intra operationem oder bei Autopsie ist häufig die Diagnose noch nicht sicher zu stellen, erst die mikroskopische Untersuchung lässt die richtige Diagnose er- kennen, mitunter auch erst mit Hilfe der regionären Lymphdrüsen wie in unserem Falle und dem analogen von Ricard und Chevrier.

Die Prognose der Magentuberkulose ist schlecht, falls nicht voll- kommene Entfernung des erkrankten Gewebes durch chirurgischen Ein- grift möglich ist.

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 5

Hr. Eppenstein: Ueber Stickstoff-Pneumothorax.

Fortanini und später Murphy waren die ersten, die eine Reihe von Fällen veröffentlichten, in denen sie versucht hatten, die kranke Lunge einer Körperseite durch Herstellung eines Pneumothorax mittels Stickstoff ruhig zu stellen und auf diese Weise zu heilen Später haben in Deutschland sich hauptsächlich Brauer in Verbindung mit Küttner, sowie Schmidt und Lesser mit dieser Methode praktisch und theo- retisch beschäftigt. Bedingungen sind möglichste Einseitigkeit der Er- krankung und die Auffindbarkeit eines freien Pleuraspaltes, von dem aus der Stickstoff eingeleitet wird. Zur Druckregulierung benutzten wir den Murphy’schen Flaschenapparat, zur Insufflation teils die Brauer- Küttner’sche Schnittmethode, teils das direkte Einstechen des Schmidt- schen Troikarts. Die Herstellung des Pneumothorax gelang infolge pleuritischer Verwachsungen nicht in allen Fällen, wohl aber in den folgenden: (Demonstration der Kranken nebst Röntgenbildern.)

1. K.B., 48jähriger Wagenwärter. Lungenkrank seit März 1909. Im Sputum Tuberkelbaeillen. Infiltration der oberen Hälfte der rechten Lunge. Fieber zwischen 38° und 39°.

Am 20. X. 1909 Freilegung der Pleura rechts hinten unten (Pro- fessor Tietze) mittels Intercostalsehnittes in leichter Chloroformnarkose; Einfüllen von ca. 1200 ccm Stickstoff; erst nach 3 Stunden leichter Collapszustand. ö

23.X. In Fieber und Auswurf keine Veränderung.

27.X. Nachfüllung von 1300 cem Stickstoff. Man sieht deutlich vor dem Leuchtschirm die Verschiebung des Mediastinums nach links, des rechten Zwerchfells nach unten. Es folgt alsbald ein Hautemphysem, das bis zur linken Wange reicht, wenig Beschwerden macht und nach einigen Tagen wieder resorbiert ist.

8. XI. Fieber nicht über 38%; auf Wunsch Entlassung. Zu Haus im ganzen Wohlbefinden und 6,5 kg Gewichtszunahme. Wenig Auswurf, kein Fieber. Die jetzige Durchleuchtung ergibt ausser der alten Infil- tration ausgedehnte Schrumpfungsprozesse rechts, die das rechte Zwerch- fell nach oben, das Mediastinum nach rechts ziehen. Kleiner Rest des Pneumothorax im Zwerchfellrippenwinkel, der wieder aufgefüllt werden soll.

2. 38jähriger Eisenbahnschaffuer. Lungenkrank seit Weihnachten 1908. Aufnahme 8. November 1909.

Infiltration der oberen linken Lungenabschnitte. Subfebril. Sputum enthält Tbe-Bacillen. Nach zweimaligem vergebliehem Versuche, mittels Schnittverfahrens einen Pneumothorax herzustellen, gelingt dies durch Punktion (am 7. XII. 1909) mit dem Schmidt’schen Troikart links seitlich oberhalb des Zwerchfells (vor dem Röntgenschirm). Nach Ein- stich Druck von 2 mm Hg. Einfliessen von ca. 1000 cem N bei bis + 15 mm Hg. Der Stickstoff verbreitet sich hauptsächlich zwischen Zwerchfell und Lungenbasis, sowie zwischen Mediastinum und Lungen- innenfläche. Bald nachher trat ohne sonstiges Hautemphysem ein solches am Halse auf, und bei schräger Durchleuchtung sah man das hintere Mediastinum mit Gas angefüllt. Ausser leichten Schlingbeschwerden keine Plagen. Baldiger Rückgang des Mediastinal-Emphysems, das auch bereits von anderer Seite beschrieben wurde.

29. XII. In ambulanter Behandlung 800 cem insuffliert, hoher Druck von zeitweise + 24 mm Hg notwendig. Danach etwas stärkere Dyspnoe mit kurzdauernden celonischen Krämpfen beider Arme bei er- haltenem Bewusstsein („pleurale Eklampsie“).

15. I. 1910. 800 cem bei ca. 10 mm + Hg ohne Zwischenfall; vorher im Pleuraraum 2 mm Hg.

6 Jahresberieht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Pat. ist z. Z. ohne besondere Beschwerden, hat sein Gewicht vom Oktober 1909 und sehr wenig Auswurf.

3. S4jähriger Arbeiter. Bronchiektasien mit ausgedehnter Infiltration des rechten Ober- und Mittellappens. Seit September 1909 stinkender Auswurf. Nie Tuberkelbacillen, nie elastische Fasern. Trommelschlägel- finger; zeitweise Fieber gehabt.

11. XI. 1909. Ineision rechts hinten unten mit Lokalanästhesie nach Skopolamin 0,0004. Insufflation von 1200 ccm N unter 10 mm Hg Druck. Kleiner Pneumothorax.

22. XII. Nachfüllung von 1300 cem, vorher 2 mm Hg.

29. XI. 1500 cem. Ausgedehnter Pneumothorax im Gebiet des rechten Unterlappens. Eine Ablösung des verdichteten Oberlappens von der seitlichen Brustwand ist nicht zu erkennen.

Subjektiv besteht Besserung im Befinden; objektiv ist die Sputum- menge noch nicht deutlich verringert. Es ist evtl. extrapleurale Thorako- plastik in Aussicht genommen.

Die beobachteten Zufälle (leichter Collaps, pleurale Eklampsie) werden uns veranlassen, zukünftig kleinere Mengen N und diese möglichst langsam einfiessen zu lassen. Für die allgemeine Praxis ist das Ver- fahren schon deshalb nicht geeignet, da es der ständigen Röntgenkontrolle bedarf; auch wir sehen nämlich, wie andere Autoren, dass mit dem Auf- treten eines Pneumothorax die physikalischen Erscheinungen schwer deutbar zu werden pflegen. Die bisherigen Resultate fordern jedenfalls zu weiterer Ausübung der Methode auf, wenn auch Vorsicht in der Be- urteilung der Erfolge geboten ist.

Hr. Carl Durchholz:

Gastrische Krisen bei einem Fall von jugendlicher Tabes.

Vortr. stellt einen Fall von Tabes bei einem 24jährigen jungen Manne vor. Vater des Patienten hat Lues, die Mutter Tabes. Demnach ist bei dem Patienten Tabes auf Grund hereditärer Lues wahrscheinlich. Besonders bemerkenswert sind bei diesem Falle gastrische Krisen ohne Schmerzen in der Magengegend; vielmehr gehen dem Erbrechen äusserst heftige Schmerzanfälle in der Gegend des Manubrium sterni voraus, welche während der gastrischen Krise anhalten und erst nach Beendigung derselben abklingen. Dieser Erscheinung entspricht eine hyperalgetische Zone über dem Manubrium sterni. Man muss deshalb an den Magen- krisen vorausgehende Oesophaguskrisen denken. Therapeutisch ist bei diesem schweren Krankheitsbilde die Foerster-Tietze’sche Operation, die Durchschneidung der hinteren Wurzeln, in Betracht zu ziehen.

Diskussion.

Hr. Harttung fragt, welche Aussichten die spezifische Behandlung bei Gastrokrisen biete.

Hr. 0. Förster: Ich habe in diesem Falle die Vornahme einer Hg-Behandlung mit Calomelinjektionen widerraten, obwohl ich eine solche sonst im allgemeinen bei Reizerscheinungen der Tabes sehr hoch schätze. Aber bei den gastrischen Krisen und Darmkrisen versagt diese Behandlung leider meist ganz, im Gegenteil sah ich wiederholt erhebliche Verschlechterung speziell der Krisen. Ich glaube, dass angesichts des schlechten Zustandes des Kranken die Operation allein in Frage kommen dürfte.

Hr. Emil Neisser:

Compressio medullae durch intradurales Hämatom.

Vortr. bespricht unter Demonstration von Präparat und Zeichnungen einen Fall, bei dem die Ursache der Querschnittslähmung ein intradurales extramedulläres Hämatom gewesen ist, das infolge der Ruptur eines miliaren Aneurysmas einer Arteria radieularis anterior entstand. Es

I. Abteilung. Medizinische Sektion. Ü

lag bei der 52 jährigen Patientin allgemeine Arteriosclerose, im speziellen aber solche der Hirn- und Rückenmarksarterien, vor.

Hr. Max Schiller: Totale Hypertrophie einer Körperhälfte.

Vortr. stellt einen 1l1jährigen Knaben vor, bei dem sich seit der Geburt eine ausgeprägte Hypertrophie der linken Hälfte des Schädels, des Gesichts, der Zunge, des Rumpfes, sowie der linksseitigen Extremi- täten zeigt. Entsprechend der Hypertropbie ist die linke Seite die motorisch kräftigere. Ausser diesem Riesenwuchs finden sich an dem Knaben noch zwei angeborene Anomalien, nämlich Leistenhoden und Nabelbruch. :

Hr. Braendle stellt einen Fall von tertiärer Lues mit ausgedehnter Zerstörung der Nase, des Naseninnern, des harten und weichen Gaumens vor. Es handelt sich bei der Patientin um eine hereditäre Lues. Der Prozess wurde in seinem Beginn an der Nase von anderer Seite für Lupus gehalten und mit Pyrogallussalben behandelt. Die Zerstörungen sind derart, dass die Sprache der Patientin kaum noch verständlich ist.

Sitzung vom 28. Januar 1910.

Vorsitzender: Herr Ponfick. Schriftführer: Herr Minkowski.

Vor der Tagesordnung.

Hr. Küttner stellt vor: 1. Einen Fall von Fibrolipoma pendalunm petrificatum des Oberschenkels.

Der kopfgrosse, seit 14 Jabren bestehende Tumor war ulceriert; aus der Ulcerationsfläche ragte eine harte, knochenartige Masse heraus, welche am aufgesägten Präparat als ungewöhnlich ausgedehnter, die ge- samte zentrale Partie der Geschwulst einnehmender, auch im Röntgen- bilde gut sichtbarer Verkalkungsherd hervortritt.

2. Einen Fall von Melanom des Ohrläppcehens mit ausgedehnter Disseminierung in der Nachbarschaft und grossen Metastasen in den tiefen cervikalen Lymphdrüsen.

Tagesordnung.

Hr. Willy Hirt: Die Behandlung der Prostatahypertrophie. (Siehe Teil II.)

Diskussion.

Hr. Küttner hat viel Gelegenheit, besonders die schweren Fälle von Prostatahypertrophie zu bebandeln. Er rät dazu, möglichst ohne operative Maassnahmen auszukommen und empfiehlt für den Katheterismus den Bartrina’schen Katheter. Bei akuter Retention soll die Blase nicht vollkommen entleert werden, da sonst leicht Blutungen auftreten. Fast stets gelingt bei akuter Retention der Katheterismus, nur bei falschen Wegen ist man gelegentlich zur Blasenpunktion genötigt. Redner führt diese stets als capilläre Punktion aus, da er bei Einführung eines stärkeren Troikarts die Urininfiltration des Cavum Retzii fürchtet; gelingt aus- nahmsweise auch nach der Blasenpunktion der Katheterismus nicht, so ist operatives Vorgehen angezeigt. Von der Röntgentherapie hat Redner nur vorübergehende Erleichterungen, keine Dauererfolge gesehen; er verwirft das Bottini’sche Verfabren als unsicher und gelährlich und erwähnt kurz die Bier’sche Unterbindung der Hypogastrica und die Gold- mann'sche Ventrofixation der Blase. Ausgedebnte Erfahrungen besitzt Redner über die sexuellen Methoden. Er berichtet aus seiner Assistenten- zeit über drei Kastrationen, von denen zwei erfolgreich waren, die dritte aber bei einem ca. 75 Jahre alten Manne ein Suieid im Gefolge hatte.

8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Redner hat zahlreiche Resektionen des Ductus deferens nach Isnardi- schen Prinzipien ausgeführt und eine Reihe von Besserungen, keine Heilungen gesehen. Merkwürdig ist, dass sich trotz ausgiebiger Resektion die Kontinuität des Ductus anatomisch und funktionell wiederherstellen kann. Jetzt übt Redner als operatives Verfahren ausschliesslich die Prostatektomie und ist von der perinealen zur suprapubischen Methode übergegangen. Die letztere Operation ist sehr einfach, zur Nachbehand- lung wird ein dicker Nelatondauerkatheter eingelegt und wasserdicht ein suprapubisches Drain in der Blase befestigt; dadurch gestaltet sich die Spülbehandlung nach der Operation für Arzt und Patienten sicherer und leichter als beim einfachen Dauerkatheter. Die Resultate der Prostatek- tomie sind funktionell gute, die Mortalität aber beträchtlich, da die Patienten, bei denen man mit konservativem Verfahren nicht auskommt, sich meist in einem für operative Eingriffe recht wenig günstigen All- gemeinzustande befinden. Redner fragt den Vortragenden nach seiner Anästhesierungsmethode bei der Prostatektomie.

Hr. G. Gottstein: M. H.! Wenn ich auch im allgemeinen mit der Ansicht der Herren Vorredner übereinstimme, möchte ich mir dennoch erlauben, auf einige Punkte ausführlich einzugehen, weil sie mir recht wichtig erscheinen. Leider kann ich Ihnen über mein Material keine genauen Zahlen angeben, da die Zeit zur Zusammenstellung derselben nicht genügte. Bei akuter Retention gehe auch ich gewöhnlich so vor, dass ich zuerst mit einem Seidenkatheter, und zwar Bartrina von etwa 12 Ch., die Harnröhre zu passieren versuche. Gelingt das nicht, so greift man am besten, wie schon der Herr Vorredner gesagt hat, zum Metallkatheter. Aber was ich für besonders wichtig halte, man muss einen möglichst dicken Metallkatheter von etwa 27—30 Ch. wählen. Die Gefahr einer Perforation ist meiner Meinung nach mit diesem Instrument nicht gross. Wenn Herr Hirt vorhin einen Fall erwähnte, in dem mittels Metallkatheters eine Perforation zustande gekommen war, so lag dies wohl daran, dass der Patient narkotisiert war; beim nichtnarkoti- sierten Patienten glaube ich kaum, dass man mit einem so dicken Instrument eine Perforation machen könnte. Gelingt aber auch die Ein- führung eines dicken Metallkatheters nicht, so hat mir in einer Anzahl von Fällen ein Peitschenkatheter ausgezeichnete Dienste geleistet; man wählt ihn am besten so, dass er an der Spitze einen Knopf hat, sonst aber haarfein anfängt und bis zur Dicke eines gewöhnlichen Katheters anschwillt. Nebenbei möchte ich bemerken, dass ich noch nie nötig gehabt habe, eine Blasenpunktion vorzunehmen, sondern dass es mir immer gelang, mit irgend einem Katheter die Harnröhre zu passieren, trotzdem ich sowohl in der urologischen Poliklinik, wie im Krankenhaus und in meiner Privatpraxis über ein grosses Material verfüge. Auch von Herrn Geheimrat Garre& weiss ich durch persönliche Mitteilung, dass er nie nötig gehabt hat, eine Blasenpunktion wegen akuter Retention auszuführen.

Der zweite Punkt, auf den ich näher eingehen muss,‘ betrifft das Stadium der inkompletten Retention. Ich entferne mich hier mit meinen Anschauungen zum Teil von den Schulansichten. Die Lehrbücher sagen fast alle, dass man in Fällen von inkompletter Retention den Patienten katheterisieren soll, bis es gelungen ist, die Menge des Residual- harnes auf O0 oder wenigstens so weit wie möglich herabzusetzen. Ich kann mich auf diesen Standpunkt nicht stellen. Ich betrachte jeden Katheterismus als einen nicht ungefährlichen Eingriff, insbesondere aber bei. Prostatikern. Der Eingriff ist deshalb nicht ungefährlich, weil wir es wenigstens bisher nicht in der Hand haben, besonders beim mehr- maligen Katheterismus, eine Cystitis zu vermeiden, und Cystitiden sind die unangenehmsten Komplikationen, die bei Prostatahypertrophie auf- treten können. Ich versuche den Katheterismus völlig aseptisch oder

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I. Abteilung. Medizinische Sektion. g

antiseptisch auszuführen, aber ich muss sagen, dass selbst in den Fällen, in denen vorher die Harnröhre aufs gründlichste ausgespült wurde, doch nicht immer eine Cystitis vermieden werden konnte, ohne dass ich mir selbst auch nur die geringste Schuld beimessen könnte. Es ist eine besondere Eigentümlichkeit, worauf auch schon der Herr Vortragende aufmerksam gemacht hat, dass manche Patienten sich monate- und jahre- lang unsteril katheterisieren können, ohne Cystitis zu bekommen, während andere trotz grösster Asepsis und Antisepsis mitunter schon nach ein- maligem Katheterisieren einen Blasenkatarrh akquiriert haben. Ich warne also in Fällen von inkompletter Harnretention bald zum Katheter zu greifen, sondern glaube, dass wir mit unseren kleinen Mittelchen, wie Sitz- bäder, Stuhlzäpfehen usw., die Beschwerden wesentlich herabmindern können.

Der ablehnenden Beurteilung der Bestrahlung der Prostata mit Röntgenstrahlen kann ich mich nicht ganz anschliessen. Ich habe eine ganze Reihe von Fällen von Prostatahypertrophie, sicherlich etwa 20 Fälle, bestrahlt und mir besonders die weichen, drüsigen Formen dafür ausgesucht, und habe in vielen Fällen wesentliche Erleichterung durch Prostatabestrahlung vom Rektum her gesehen. Ganz auffallend war die Besserung in einem Falle, in dem ein Patient, der über ein Jalır lang dauernd katheterisiert werden musste, nach einer einmaligen Bestrahlung während 10 Minuten am nächsten Tage zum ersten Male nach einem Jahre wieder spontan Urin liess. In welchen Fällen die Röntgenbestrahlung wirkt, kann ich nicht sagen; ich kann nur kon- statieren, dass in einer ganzen Reihe von Fällen nicht nur der Urinakt wesentlich erleichtert, sondern auch die Zahl der Miktionen verringert wurde. Um Suggestion kann es sich sicherlich nicht in allen Fällen handeln, denn ein Teil meiner Patienten hat sich nur sehr ungern der Bestrahlung unterworfen. Im allgemeinen gehe ich so vor, dass ich eine Serie von 6 bis $ Bestrahlungen ä 71/, bis 10 Minuten in 3 bis 4 Wochen durchführe. Tritt danach keinerlei Besserung ein, so sehe ich von weiterer Bestrahlung ab. Sonst setze ich nach mehr oder minder grosser Pause mit einer nochmaligen Serie von Bestrahlungen ein.

Was die Prostateectomia suprapubica und perinealis be- trifft, so habe ich eine Aera der perinealen uud eine Aera der supra- pubischen durchgemacht, und bin doch in letzter Zeit immer mehr dazu gekommen, die suprapubische vorzuziehen. Aber meine Herren, für wesentlich halte ich, dass bei der suprapubischen Operation nicht die Schleimhaut der Harnröhre, d.h. der ganze prostatische Teil der Harn- röhre mit der Prostata zusammen herausgenommen wird, sondern die Drüsenlappen möglichst sauber herauspräpariert werden unter Er- haltung der Urethralschleimhaut, ferner, dass die Blase völlig primär geschlossen wird, abgeseben von zwei kleinen Jodoformstreifen zum Ableiten des Wundsekretes der äusseren Wunde. Die Gefahren der Blutung und Infektion schätze ich nicht hoch ein, wenn nur die Nach- behandlung, die allerdings an den Assistenten enorme Anforderungen stellt, riebtig durchgeführt wird. Dazu ist nötig, dass in den ersten Tagen beinahe viertelstündlich der eingelegte Dauerkatheter mit 10 bis 20 com kalter Borsäurelösung ausgespült wird. Ich habe nie eine irgend stärkere Blutung oder schwere Infektion erlebt. Die perineale Prostatektomie ist sicher leichter ausführbar, hat aber den grossen Nach- teil, dass es nicht selten zu Verletzungen des Mastdarms kommt, die ausserordentlich schwer zur Heilung zu bringen sind. Ich erinnere mich besonders eines Falles, bei welchem Mikulicz durch einen schlecht gehaltenen Haken eine Rektumperforation entstanden war, die auch nach einem Jahr trotz mehrfacher plastischer Operationen uicht heilte. Weiter bleiben nicht selten perineale Fisteln zurück, die sehr schwer heilen. In einer ganzen Anzahl von Fällen perinealer Prosta-

10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

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tektomie habe ich Strikturen der Harnröhre auftreten sehen, wodurch der Patient wieder zum Katheterisieren bzw. Bougieren übergehen musste. Der Herr Vortragende hat daher ganz recht gehabt, wenn er seinem Patienten mit unwillkürlichem Urinabgang nach Prostateetomia perinealis getröstet hat, er solle nur warten, sein Zustand werde sich schon wieder geben. Wenn dies nach acht Monaten wirklich eingetreten ist, so lag dies meiner Meinung nach daran, dass sich allmählich eine Striktur ausbildete.

Ich glaube daher, dass die suprapubische Operation noch immer geringere Nachteile gegenüber der perinealen aufweist.

Eigene Erfahrungen über die sexuellen Operationen stehen mir nieht zur Verfügung, abgesehen von den zahlreichen an der Mikulicz- schen Klinik ausgeführten Resektionen der Vasa deferentia. Die Resultate sind damals von Hoffmann in Brun’s Beiträgen kritisch beleuchtet worden. In einem gewissen Prozentsatz der Fälle ist zwar Besserung, nieht aber Heilung eingetreten. Ueber Kastration fehlen mir Erfahrungen.

Hr. Tietze: M.H.! Die Erfolge, welche uns Herr Hirt bezüglich seiner Prostatektomien vorgetragen hat, sind äusserst günstige. Sie beweisen, dass er nicht nur gut operiert, sondern auch seine Fälle zur Operation gut ausgesucht hat, und auch das ist zweifellos richtig und notwendig. Leider sind aber die allgemeinen Erfahrungen nicht ganz so gute, und auch meine eigenen Resultate stehen sehr hinter den vor- getragenen zurück. In meiner Klientel sind in den letzten vier Jahren 15 Prostatektomien gemacht worden, 6 suprapubische und 9 perineale. Davon sind vier Patienten gestorben, je zwei aus beiden Gruppen. Leider muss ich bekennen, dass ein Todesfall auf eine mangelhafte Technik zurückzuführen ist, auch muss ich hinzufügen, dass zweimal bei perinealen Operationen leichte Verletzungen des Rektums zustande gekommen sind. Es ist zwar dadurch den Patienten kein erheblicher Schaden erwachsen, aber natürlich sind solche Ereignisse fatal und ver- zögern die Heilung. Sie dürfen also nicht verschwiegen werden. Nun sind ja solche Eingeständnisse für den Operateur nicht gerade sehr an- genehm, aber doch sind diese Ereignisse bezüglich der Beurteilung des Wertes einer Operation nicht einmal die schlimmen, denn technische Fehler kann man vermeiden, wie ich denn überhaupt die Prostatektomie nicht gerade für eine technisch schwierige Operation halte. Schlimmer sind dagegen die Todesfälle, die man aber auch bei einwandsfreier Technik nicht ganz vermeiden kann, denn sie werden die Resultate immer bis zu einem gewissen Grade trüben. Dazu gehören Pneumonie, Embolien, Herzschwäche, Urosepsis, Blutungen. Von meinen Patienten starb ausser dem erwähnten einer an Pneumonie, einer an Urosepsis, einer sechs Wochen nach der Operation an eitriger Basilarmeningitis. Dieser letztere Todesfall ist besonders interessant. Der Patient war mit Lumbalanästhesie ‚operiert worden. Bei dem langen Intervall zwischen Operation und Tod und infolge des Umstandes, dass die Rückenmarks- häute unbeteiligt waren, erklärte der Obduzent die Meningitis als unab- hängig von der Operation. Immerhin erinnerte auch dieses Vorkommnis an eine frühere Beobachtung.

Ich sab, dass eine traumatische Harnröhrenstriktur in ziemlich brüsker Weise mit einem festen Katheter gesprengt wurde. Der Katheter blieb liegen. Nach einigen Tagen zeigte Patient Erscheinungen einer Cerebrospinalmeningitis und ging bald zugrunde. Bei der Sektion reich- lich Eiter im Rückenmarkskanal und an der Schädelbasis, und eine zweite eitrige Meningitis in Zusammenhang mit einer Prostataaffektion habe ich bestimmt auch einmal bei einer Sektion gesehen, weiss aber nicht mehr die näheren Daten; vielleicht ist Herr Ponfick in der Lage, Auskunft zu geben. Ich möchte also die von mir zuerst erwähnte

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eitrige Basilarmeningitis doch nicht so ohne weiteres als unbeeinflusst von der Operation erklären. Diese Tatsachen beweisen, dass die Prosta- tektomie zwar nicht so gefährlich ist, dass Rovsing’s witziger Ausspruch, es sei gefährlich geworden, ein alter Mann zu werden, nachdem die Prostatektomie erfunden sei, berechtigt erscheint, aber sie zwingen jedenfalls, die Indikationen für den Eingriff gewissenhaft zu stellen. Als dringende Indikationen betrachte ich: 1. Unvermögen, spontan zu urinieren bzw. beträchtlichen Residualharn bei infizierter Blase und Niere. Man braucht meines Erachtens sich nur einmal Präparate von Rückstauung des Urins nach Prostatahypertrophie mit ihren Folgen auf dem Sektionstisch anzusehen, um die Berechtigung dieser Indikation zuzugeben. 2. Aber auch erhebliche Grade von Cystitis ohne wesentliche Nierenbeteiligung erscheinen mir, wenn vorangegangene Behandlung erfolglos war, aus denselben Gründen Veranlassung zur Operation abzugeben. 3. Sich wiederholende schwere Blutungen. Es ist bekannt, dass selbst starke Prostatablutungen zum Stillstand ge- langen, ohne Schaden anzurichten; wiederholen sich die Ereignisse aber oft, so ist die Operation am Platze wegen der Gefahr des häufigen Blut- verlustes und wegen der Gefahr der Infektion. Schon in diesen dringen- den Fällen muss man sich den Kräftezustand des Patienten, den Zustand seiner Lungen, seines Herzens genau ansehen und namentlich auf das Vorhandensein von Zucker achten. Noch mehr ist das erforderlich bei den relativen Indikationen, d. h. wenn es sich bei nicht infizierter Blase darum handelt, dem Patienten zur spontanen Miktion zu verhelfen. Wird man daher unter den ersten der zuletzt angedeuteten Möglichkeiten unter Umständen zur suprapubischen Fistel greifen, so wird man im zweiten Falle die Gefahren der Operation ganz besonders sorgfältig gegenüber den Unbequemlichkeiten und Gefahren des gegenwärtigen Zustandes ab- zuwägen haben und sehr oft einen regelmässigen Katheterismus vorziehen.

Kontinent sind alle meine Patienten geworden, manche allerdings erst nach Monaten; alle konnten spontan urinieren und hatten, wenn überhaupt, geringen Residualharn. Ueber die Erektionsfähigkeit besitzen wir keine sicheren Daten.

Ich möchte mir dann noch ein paar Bemerkungen über die Histologie der Prostatahypertrophie erlauben. Zurzeit hat wohl die Theorie am meisten Geltung, welche die Prostatahypertrophie auf entzündlichem Wege erklären will; namentlich soll für die Entstehung eine voran- gegangene Gonorrhöe wichtig sein. Wie Sie nun aus den von Herrn Hirt produzierten Bildern gesehen haben, handelt es sich bei der Affektion um eine starke Vermehrung des Bindegewebes mit epithelialen Wucherungen. Man konnte dementsprechend den entzündlichen Reiz etwa in dem Sinne deuten, wie manche Forscher die Cystenmamma (Mastitis interstitialis) als ein entzündliches Produkt ansprechen. Ich habe mir immer vorgestellt, dass bei der Prostata ähnliche Verhältnisse vorliegen möchten, wie ich sie bei der senilen Mamma gefunden habe, bei der ich in etwa 25 pCt. der Fälle eigenartige Epithelwucherungen nachweisen konnte. Natürlich ist damit das Wesen der Vergrösserung auch noch nicht erklärt, aber die Analogie liegt nahe, da es sich doch auch hier um eine Geschlechtsdrüse handelt.

Hr. Neisser: Ueber operative Behandlung der Prostatahypertrophie habe ich natürlich keine Erfahrungen. Dagegen habe ich im Laufe der Jahre namentlich in der Privatpraxis ein reichliches Material von Fällen mit beginnenden Prostatabeschwerden gesehen und habe mich dabei überzeugen können, dass man in der Tat sehr häufig und sehr lange Zeit auch ohne regelmässigen Katheterismus, selbst wenn eine unvoll- kommene Blasenentleerung mit Residualbarn vorliegt, auskommt. Zwar ist, seitdem wir das Urotropin und verwandte Präparate kennen (vom

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Urotropin gebe ich und habe dabei nie eine Störung gesehen ge- wöhnlich 4 bis 6 bis 8 g pro die, und zwar stets nach der Mahlzeit mit sehr reichlicher Flüssigkeitszufuhr), die Gefahr der Cystitis ungemein geringer geworden, da das Urotropin sicherlich prophylaktisch wirkt, teils als Cystitis verhinderndes Mittel, teils als Mittel, welches der alka- lischen Zersetzung vorbeugt; aber es. scheint mir doch, als wenn, wie Herr Gottstein es schon hervorgehoben hat, bei nicht gar zu schweren Fällen mit noch mässigen Residualharnmengen das Wohl- befinden ohne die dauernde Quälerei des Katheterisierens grösser wäre, als mit Katheterismus und der dadurch ermöglichten völligen Blasen- entleerung. Prägt man dazu den Patienten ein, dass sie zu ganz be- stimmten Tageszeiten auch ohne sich einstellenden Harndrang ganz regel- mässig urinieren müssen, so vermeidet man weitere Steigerung der Blasen- dilatation und damit das Zunehmen der Residualharnquantität und damit alle mit der Blasenüberfüllung zusammenhängenden Nachteile und Gefahren.

Auf diese Erziebung muss man überhaupt hei beginnenden Prosta- tikern das grösste Gewicht legen. Ich glaube bestimmt, dass man da- durch die Dilatation der Blase vermeiden oder wenigstens lange Zeit hintanhalten kann.

Ein besonderes Gewicht ist ferner auf die sorgfältige Behandlung der so oft nach Gonorrhöe zurückbleibenden chronischen Prostatitisformen zu legen. Die Möglichkeit eines Zusammenhanges der. Hypertrophie mit diesen chronisch-entzündlichen Bindegewebsprozessen ist wohl nicht von der Hand zu weisen.

Hr. Ponfick: Was die erste der von dem Herrn Vortragenden auf- geworfenen Fragen betrifft, die Quelle der Blutungen, so möchte ich be- merken, dass die Vergrösserung der Prostata, besonders aber die ihres mittleren Lappens, in einem immer zunehmenden Bezirke des Blasen- halses zur Emporhebung und Verdünnung von dessen Schleimhaut führen muss.

Da das nun keineswegs in ganz gleichmässiger, sondern in uneben höckeriger Weise zu geschehen pflegt, so kann es gewiss nicht ausbleiben, dass deren Gefässe gedehnt, varicös ausgeweitet und somit dünnwandiger werden. Und das um so eher, als gleichzeitig die wachsende Ausdehnung des Behälters selber und die hypertrophischen Vorgänge in seiner Wand nur allzusehr geeignet sind, jene Stauung der Mucosa, als auch ihrer Venen noch zu verstärken.

Was sodann die Plötzlichkeit anlangt, mit der die Harnverhaltung nicht selten auftritt, so hängt dieses Phänomen, wie ich glaube, mit be- stimmten organischen Veränderungen des Detrusor vesicae zusammen. Wiederholt habe ich nämlich beobachten können, dass dessen Fasern ‚und Bündel unverkennbare Zeichen einer tiefgreifenden Metamorphose darbieten.

Zuweilen machen sie sich schon für das blosse Auge geltend durch gelbliche oder graubraune Färbung, sowie auffallende Schlaffheit und Lockerheit dieser oder jener, mitunter sogar sämtlicher Muskelzüge. Mikroskopisch bekunden sie sich in Gestalt einer teils fettigen, teils pigmentösen Entartung der einzelnen glatten Muskelfasern.

Während nun der normale Detrusor, wie genugsam bekannt, eine sehr ansehnliche Dehnung zu ertragen vermag, ohne seine Kontraktions- energie einzubüssen, wird man das von einem so degenerierten schwerlich in gleichem Maasse erwarten dürfen.

Gegen eine solche Deutung der Genese der in Rede stehenden Ischurieform kann, meines Erachtens, auch eine Wahrnehmung nicht mit überzeugender Kraft eingewendet werden, die für manche Fälle allerdings der Erwägung wert sein mag. Ich meine die Tatsache, dass man, nach

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der auf irgendwelchem Wege bewirkten Befreiung der Harnblase von dem angestauten Inhalt, schon verhältnismässig rasch Zeuge davon werden kann, wie der Detruser die Fähigkeit wiedergewinnt, sich selbsttätig, und zwar mit befriedigendem Erfolge zusammenzuziehen.

In Fällen der letzteren Art dürfte eine voraufgegangene über- mässige Dehnung des Detrusor anzuschuldigen sein mit oder ohne prä- existente motorische Schwäche, die sich ja trotz dem Fehlen sicht- und greifbarer Degenerationsmerkmale selır wohl annehmen lässt.

Hr. G. Gottstein: M. H.! Ich sehe mich gezwungen, doch noch- mals auf das Stadium der inkompletten Retention einzugehen, um nicht falsch verstanden zu werden. Mir scheint dies so wichtig, weil es sich nicht um eine Frage handelt, die nur den Urologen und Chirurgen interessiert, sondern gerade mit diesen Fällen hat der praktische Arzt fast täglich zu tun. Was Herr Hirt erwähnte, dass in manchen Fällen des Stadiums der inkompletten Retention Urintoxikation eintreten kann, ist völlig richtig. In solchen Fällen, die ich nicht selten zu be- obachten Gelegenheit hatte, halte ich selbstverständlich den Katheter immer für unbedingt erforderlich. Es kommt gar nicht so selten vor, dass in meine Sprechstunde Patienten mit Magenbeschwerden, Appetit- losigkeit, Erbrechen, mit Furcht vor beginnendem Magencarcinom kommen, bei denen sich als Ursache der Beschwerden eine inkomplette Retention infolge von Prostatahypertropbie ergibt; in diesen Fällen leistet der Katheter vorzügliche Dienste.

Aber, meine Herren, die Zahl dieser Fälle ist verschwindend klein im Vergleich zu den anderen von mir auf 8SO—S5pCt. geschätzten Fällen von inkompletter Retention, bei denen die Beschwerden des Patienten fast ausschliesslich in häufigerem Harndrang, besonders nachts, bestehen und bei denen mehr oder weniger grosse Residualharnmengen ohne sonstige schwere Allgemeinerscheinungen vorhanden sind. Die Prostata- hypertrophie ist ja ein Leiden, dessen erste Symptome, wenn man die Anamnese nur genau genug erhebt, sich recht häufig bis ins 35. bis 40. Lebensjahr zurückverfolgen lassen, das in den ersten Jahren damit beginnt, dass die Patienten nachts l mal urinieren müssen, nach weiteren 5—6 Jahren nachts 2 mal und bei denen sich später auch am Tage, besonders in den Nachmittagsstunden häufigeres Urinieren wie früher einstellt. In solchen Fällen halte ich den Katheterismus nicht für nötig, sogar für nicht ungefährlich, wie ich schon vorbin gesagt habe. Ich begnüge mich in solchen Fällen damit, 2—3 mal täglich Sitzbäder zu verordnen, Stuhlzäpfehen zu geben, die Diät zu regeln, das Quantum der Flüssigkeit auf ein Minimum, besonders in den Abendstunden, herab- zusetzen, die Stublentleerung so zu regelu, dass ein breiiger, nicht aber fester oder flüssiger Stuhl erreicht wird. Mit dieser Behandlung sah ich, dass die Patienten sich jahrelang ohne wesentliche Beschwerden befanden und vor allem das Glück hatten, nicht jede Woche 1—2 mal zum Arzt laufen zu müssen, um sich katheterisieren zu lassen. M. H., unter- schätzen Sie das psychische Moment nicht, dass darin liegt, dass ein solcher Prostatiker dauernd an den Arzt gefesselt ist, dass er kaum wagt, den Ort, an dem er lebt, zu verlassen, weil er neue Beschwerden befürchtet.

Ich wiederhole also nochmals: Diese Patienten mit inkompletter Retention ohne Allgemeinerscheinungen brauchen nicht katheterisiert zu werden, wir kommen mit anderen Mitteln ebensogut aus, ohne uns den Gefahren eines häufigen Katheterismus auszusetzen.

Ich muss auch noch kurz auf die suprapubische Prostatek- tomie eingehen. Wenn Herr Hirt glaubt, dass auch bei supra- pubischer Operation mit der Erhaltung der Schleimhaut ebenso wie bei der perinealen eine Striktur entstehen müsste, so glaube ich, ist er im

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Irrtum. Das Wesentliche ist, dass die Schleimhaut erhalten bleibt, und hier tritt bei der Schrumpfung des Gewebes nicht eine Striktur ein, sondern gerade umgekehrt, eine Erweiterung der Harnröhre, da die Schleimhaut durch das Narbengewebe nicht zentral-, sondern peripher- wärts gezogen wird.

Was die Anfrage von Herrn Neisser wegen des Wertes des Uro- tropins bei Prostatahypertrophie betrifft, so möchte ich den Wert im allgemeinen nicht sehr hoch einschätzen, d.h. prophylaktisch leistet das Urotropin gute Dienste da, wo eine Cystitis zu erwarten ist. Ist erst eine Cystitis da, so hat das Urotropin nur Wert, wenn der Urin alkalisch ist; bei saurem Urin ist es zwecklos.. Was die Dosen bei Urotropin anbetrifft, so bin ich nicht so vorsichtig wie Herr Hirt. Auf Empfehlung von Herrn Richard Stern habe ich im allgemeinen grosse Dosen ge- geben, in einzelnen Fällen bin ich auf 6, ja Sg pro die gestiegen, und habe trotz der grossen Zahl der Fälle (sicherlich mehr als ein halbes Tausend) niemals eine Hämaturie durch Urotropin eintreten sehen. Allerdings bin ich bei Urotropin ebenso wie bei anderen Medikamenten bei den ersten Gaben sehr vorsichtig; denn wir wissen ja, dass alle Medikamente individuell verschieden wirken, Ich fange gewöhnlich mit 2—31/, g-Tabletten an, steige täglich um weitere 1—2 Tabletten; in dieser Weise vorgehend, habe ich nie eine schädliche Wirkung gesehen, bis auf die mitunter ‚auftretende Appetitlosigkeit, die mich zwang, Uro- tropin durch andere ähnliche Mittel zu ersetzen.

Hr. Dreyer empfiehlt, um die Entleerung der Blase durch den Darmkatheter nach suprapubischer Prostatektomie noch zu begünstigen, an den Dauerkatheter einen längeren Schlauch anzusetzen, der in ein am Boden neben dem Bett stehendes, mit etwas Flüssigkeit gefülltes Ge- fäss hineingeleitet wird. Infolge Heberwirkung sind so die Abfluss- bedingungen die denkbar günstigsten.

Hr. Willi Hirt: Wenn Herr Küttner die suprapubische Prostat- ektomie bevorzugt, so möchte ich dazu bemerken, dass meiner An- sicht nach bei operativer Beseitigung der Prostatahypertrophie durchaus individuell vorgegangen werden muss. Für die Fälle mit stark in die Blase vorspringendem Mittellappen ist die suprapubische Operation durchaus indiziert; die tief in die Urethra hineinreichenden Seitenlappen aber können von oben nur sehr schwer oder gar nicht entfernt werden. Es entstehen grosse Wundräume, die keinen Abfluss haben. Die Blut- stillung in der Tiefe der Urethra prostatica von oben her ist sehr schwierig und unzuverlässig. Für diese Fälle ist eben die perineale Operation die einzig richtige.

Die Befürchtung von Herrn Gottstein, dass nach perinealer Operation leichter Strikturen auftreten wie nach suprapubischer, kann ich nicht teilen. Eine gewisse Gefahr der Strikturbildung besteht nach jeder Prostataoperation, weil eben ausgedehnte Narbenmassen gebildet werden.

Diese Gefahr wird aber durch Bougierungen in grösseren Zeit- abständen, etwa alle 3—4 Monate einmal, beseitigt. Werden bei supra- pubischer Operation die Seitenlappen entfernt, so ist die Möglichkeit der Strikturbildung genau die gleiche wie bei perinealem Vorgehen.

Der Standpunkt Herrn Gottstein’s gegenüber der inkompletten Retention scheint mir nicht ganz ungefährlich. Wenn erheblichere Mengen Residualharn, etwa von 100 ccm an, bestehen, so sollen sie entfernt werden, sonst droht die allmähliche Urinintoxikation des gesamten Organismus. Auch wird durch Residualharn eine reflektorische Polyurie hervorgerufen, die den Zustand in einen Circulus vitiosus überzuführen droht.

Herrn Neisser’s Anfrage bezüglich Urotropin beantworte ich nach meinen Erfahrungen dahin, dass ich zwar im Urotropin ein sehr wert-

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volles Präparat für die Desinfektion der Harnwege erblicke und immer zunächst verordne. Trotzdem wird es hin und wieder schlecht ver- tragen und vermehrt das lästige Dranggefühl und das Brennen beim Wasserlassen. Bei grösseren Dosen, 3—4 g täglich, habe ich schon dreimal Hämaturie erlebt, die völlig zweifellos durch das Urotropin hervorgerufen wurde; meiner Ansicht nach sollte nicht mehr als dreimal täglich 0,5 g gegeben werden.

Was die histologischen Vorgänge bei der Prostatahypertrophie betrifft, so erwidere ich Herrn Neisser und Herrn Tietze, dass haupt- sächlich in der Arbeit von Ciechanowsky der Zusammenhang zwischen Gonorrhöe und Prostatahypertrophie betont wird. Der frübere Stand- punkt der französischen Schulen, dass die Prostatahypertrophie nur eine Teilerscheinung einer allgemeinen arteriosclerotischen Wucherung des Bindegewebes darstelle, ist wohl hauptsächlich durch die Arbeit Casper’s widerlegt.

Wenn Herr Ponfick die Urinretention bei Prostatahypertrophie in Beziehung bringt mit einer durch Dehnung hervorgerufenen Atrophie des Detrusor, so sind zweifellos sehr viele Fälle von dieser Art. Bei der akuten Retention, besonders der erstmalig auftretenden, braucht aber eine derartige Atrophie durchaus nicht vorhanden zu sein: im Gegenteil erkennt man die enormen Anstrengungen der Blasenmuskulatur, sich ihres Inhalts zu entledigen, oft direkt an den tetanischen Kontraktionen, die man deutlich mit dem Katheter bei der Entleerung fühlt. Die akute Retention wird häufig ausschliesslich durch Kongestion hervorgerufen, wenn wir auch nicht imstande sind, das innere Wesen dieser Kongestion und ihre eigentliche Entstehung sicher analysieren zu können.

Sitzung vom 3. Februar 1910.

Vorsitzender: Herr Ponfick. Schriftführer: Herr A. Neisser.

Hr. E. Melchior: Ueber tuberkulösen Gelenkrhenmatismus. (Siehe Teil 11.)

Hr. H. Klaatsch: Die fossilen Menschenrassen Europas zur Eiszeit.

Vortr. schildert unter Vorführung zahlreicher Lichtbilder die neuen Funde fossiler Menschen in der Dordogne, deren Skelette er auf Wunsch des Entdeckers im Herbst 1908/09 gehoben hat, des Homo Mousteriensis und Homo Aurignacensis.

Die anatomische Untersuchung hat ergeben, dass es sich um Vertreter von zwei gänzlich voneinander verschiedenen Menschentypen handelt, deren Entwicklung auseinander undenkbar ist. Das morphologische Studium des Gliedmaassenskeletts führt zur Neststellung zahlreicher fundamentaler Verschiedenheiten. Dem plumpen und derben Neandertal- typus, dem der Moustiermensch zugehört, steht die schlanke und graeile Beschaffenheit des Skeletts vom neuen Fundort „Combe Capill“ gegen- über, das in jeder Hinsicht Anknüpfungen an den modernen Europäer gestattet, zugleich aber primitive Charaktere und Anklänge an indo- nesische und australische Eingeborne erkennen lässt. Die extreme Dolichocephalie mit Index 65 reiht den Aurignacmenschen den Funden von Galley-Hill in England und solchen aus Mähren (von Brünn und Brüx) an.

Die absolute Länge ist sehr bedeutend: 198 cm. Die Stirn ist hoch und schmal, das Hinterhaupt zapfenförmig vorspringend mit deutlichen Eindrücken der Oceipitallappen des Grosshbirnes. Der Proc. mastoideus ist stark, das Tympanicum schwach entwickelt. Es besteht kein Torus occipitalis und die Ueberaugenwülste folgen dem modernen Europäertypus.

16 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Abweichend vom Neandertaltypus ist auch die Gesichtsbildung. Die Augenhöhlen sind viereckig niedrig (Durchmesser transversal 40, vertikal 28). Die Nasenöffnung ist schmal, der Gaumen sehr eng, aber hochgewölbt. Der Unterkiefer zeigt neutrale Kinnbildung und starke Spina mentalis interna.

Am Rumpfskelett fällt die gute Ausbildung und Höhe der Rippen auf; die Lendenwirbel sind relativ auffällig klein und das Sacrum ist nicht durch ein Promontorium abgesetzt.

Dieser Befund erinnert an die Australier. Das gleiche gilt von den Proportionen der Extremitäten, deren untere Abschnitte lang sind im Verhältnis zu den oberen, obwohl die Arme und Beine im ganzen relativ kurz sind. Die Stehhöhe des Homo Aurignacensis dürfte ca. 160 cm betragen haben. Alle Gliedmaassenknochen sind von denen des Neandertaltypus verschieden, nicht nur durch die viel geringeren Breiten der Gelenkenden und kleineren Durchmesser der Gelenkköpfe, sondern auch in der Modellierung des Muskelreliefss. Am Radius fehlt die Krümmung gänzlich, die bei Spy, Neandertal und Moustier besteht. Das Femur ist gerade, der Femurkopf steiler emporgerichtet, die Condylen sind viel kleiner als bei Neandertal. Die Tibia zeigt typische Platyknemie.

Hand- und Fussskelett sind von auffällig zierlichen Dimensionen.

Die Unterschiede zwischen der Neandertalrasse und der Aurignac- rasse sind so gross, dass sie eine Unterscheidung als Spezies durchaus rechtfertigen könnten. Diese beiden Rassen sind während der Eiszeit in Mitteleuropa aufeinander getroffen, wohin sie auf gänzlich verschiedenen Wegen gelangt sind.

Für den Menschen von Le Moustier hat der Vortr. die Verwandt- schaft mit Afrikanegern durch das Gebiss bereits bewiesen; die weiteren vergleichend anatomischen Studien bestätigen immer mehr die nahe Ver- wandtschaft der Skelette von Neandertal und Spy mit den massiven Knochenbildungen eines Teiles der Neger Ostafrikas. Zugleich aber offenbaren sich immer deutlicher die gorilloiden Anklänge, die die Neandertalskelette besitzen, und auf die der Vortr. schon früher die Auf- merksamkeit gelenkt hat. Es sind speziell die Reste von Spy und dem Bonner Neandertalskelett, die hierbei in Frage kommen; die von Krapina bieten manche Abweichungen dar. Jedenfalls lässt sich schon jetzt für einen Teil der zum Neandertaltypus gestellten Reste sowie auch für den Homo Mousteriensis die afrikanische Verwandtschaft und Herkunft nicht mehr bezweifeln, die ja auch mit der umgebenden präglazialen Tierwelt (der Wärmefauna des Elephas antiquus) vollkommen übereinstimmt. Ganz anders der Homo Aurignacensis. Die Tierwelt, mit der er zusammen während der Eiszeit auftritt, ist die von Asien eingewanderte, durch die Gletscher nach Süden verdrängte Kältefauna, deren mächtigste Vertreter Mammut und wollhaariges Nashorn sind.

Mit ihnen kam der neue Mensch von Asien, auf dessen Süden seine anatomischen Verwandtschaftsbeziehungen hinweisen, nicht nur zu den Menschenrassen, sondern auch zu den Anthropoiden. Die systematische vergleichende Untersuchung zeigt nämlich, dass an Humerus, Radius, Ulna, Femur und Tibia wobei von Variationen der Längendimensionen gänzlich abzusehen ist sich auffallende Aehnlichkeiten zwischen den Aurignacmenschen und Simia salyrus gerade in den Punkten finden, in denen Verschiedenheiten von den afrikanischen Anthropoiden bestehen. Die orangoiden Variationen der Australier sprechen in gleichem Sinne, und das schlanke Femur des Pithecanthropus gehört in denselben Formenkreis, als dessen weit auseinander entwickelte Endzweige nur der zum Anthropoiden herabgesunkene, enorm umgestaltete Orang und andererseits die vortrefflich emporentwickelte europäische Urrasse sich darstellen.

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Dass die beiden fossilen Urtypen Europas sich später miteinander vermischt baben, machen die späteren Skelettfunde aus eiszeitlichen Schichten wahrscheinlich. Der fossile Mensch aus der Renntierzeit von Chancelade, dessen Reste im Museum in Perigneux aufbewahrt sind, hat zwar viel Aehnlichkeit mit dem Homo Aurignacensis, erinnert aber in einigen Charakteren der Gliedmaassenknochen bedenklich an den Neandertaltypus. Die Oro-Magnonrasse, die am Ende der Eiszeit die wunderbaren Kunstwerke der Dordogne schuf, vereinigt im Schädel Eigen- schaften der beiden Urrassen. Auch die heutige Bevölkerung Mittel- europas ist aus einem Gemisch der beiden Typen entstanden, wobei im Norden der dolichocephale überwiegt.

Klinischer Abend vom 11. Februar 1910. Vorsitzender: Herr Bonböffer.

Hr. Bonhöffer:

1. Demonstration eines Kranken mit überwiegend halbseitiger Apraxie.

Der 5ljährige Patient ist im September nach einem eintägigen Vor- stadium von Kopfschmerzen und Uebelbefinden ohnmächtig geworden. In den folgenden zwei Tagen noch zwei Anfälle von Bewusstlosigkeit.

Als Residuum fand sich zunächst eine rechtsseitige Lähmung und Sprachverlust. Die Lähmung ging zurück, der Sprachverlust blieb.

4 Monate nach den Insulten fand sich der Kranke in der Klinik ein.

Der Befund, der sich jetzt bei dem Kranken erheben lässt, ist der einer leichten rechtsseitigen Facialisparese des Mundastes und einer vollständigen Wortstummheit bei gut erhaltenem Sprachverständnis. Spontan schreiben ist rechts und links unmöglich. Leseverständnis hat wohl sicher gelitten, doch ist festzustellen, dass Patient sicher, wenn auch mühsam einzelnes richtig liest. Agnostische Störungen fehlen. Extremitätenlähmungen bestehen nicht, auch die feineren Fingerbewegungen (Opposition und Interosseifunktion ete.) sind beiderseits erhalten. Charak- teristisch ist das motorische Verhalten des Kranken. Er manipuliert vielfach ungeschickt, ist oft nicht imstande einen erfassten Gegenstand wieder loszulassen. Bei Zweckbewegungen der rechten Hand geht die linke Hand meist unwillkürlich mit.

Bei gesonderter Prüfung der rechten und der linken Hand auf Praxie zeigt sich, dass die rechte Hand im allgemeinen die Ausdrucksbewegungen des Greifens, Drohens, Faustmachens, Zeigens, Schwörens, die Zweck- bewegungen des Klopfens, des Fliegenfangens, Leierdrehens richtig macht, während die linke Hand in der Mehrzahl der Fälle lediglich erhoben und ausgestreckt wird. In manchen Fällen kommt links eine der ver- langten Bewegungen entfernt ähnliche aber im einzelnen gröbere Zweck- bewegung zustande. Vormachen führt im allgemeinen zu keiner wesent- lichen Besserung des Resultates.

Beim Manipulieren mit beiden Händen zum Zwecke der Ausführung komplizierter Handlungsfolgen kommen zahlreiche Entgleisungen vor. Abschneiden, Anzünden und in den Mund Stecken der Zigarre gelingt nieht in der richtigen Folge. Dasselbe geschieht beim Eintauchen der l'eder, beim Kämmen mit Bürste und Kamm usw., Gesichtsbewegungen sind gleichfalls apraktisch. Es handelt sich um ein Gemisch motorisch und ideatorisch apraktischer Störungen. Doch überwiegen die ersteren erheblich.

Anatomisch ist eine Läsion der Brokagegend und in Analogie der bisherigen anatomischen Befunde bei linksseitiger Apraxie eine Schädigung des Balkens zu erwarten. Eine genaue Schilderung des Falles wird später erfolgen.

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Schlesische Gesellsch, f, vaterl, Kultur 1910, T, 7

18 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

2. Operierter Tumor des linken Kleinhirnbrückenwinkels.

Die Frau, die ich Ihnen hier zeige, hat vor annähernd 2 Jahren anschliessend an einen Abort, Kopfschmerzen bekommen, über Schwindel, Schwäche der linken Seite, Sausen inı linken Ohr und etwa gleichzeitig über linksseitiges Gesichtsreissen geklagt. Die Beschwerden nahmen zu, das Gehör wurde links schlechter und einige Wochen vor ihrer Aufnahme stellte sich schlechtes Sehen ein. Anfang Dezember trat sie mit einer doppelseitigen links stärkeren Stauungspapille mit episodisch auftretenden Kopfschmerzen und mit starken Schwindelempfindungen in unsere Be- obachtung ein. Objektiv fand sich weiterhin: linksseitige zentrale Taub- heit, fehlender Cornealreflex links, hypästhetische Zone hauptsächlich im Gebiete des II Quintusastes, Geschmackstörung links, Störung der kon- jugierten Blickbewegung nach rechts und links, Ataxie der linken Hand und des linken Beines ohne Lageempfindungsstörung auf dieser Seite. Keine Pyramidensymptome. Der Facialis zeigt links keine, gelegentlich rechts eine leichte Parese des unteren Astes. Keine Nackensteifigkeit.

Die Diagnose wurde auf Tumor des Kleinhirnbrückenwinkels mit wahrscheinlichem Ausgangspunkt vom Acusticus gestellt. Für Lues sprach nichts. Jod hatte sich erfolglos gezeigt. Im Hinblick auf die drohende, aber noch nicht vollständige Amaurose erschien ein operativer Eingriff dringlich. Herr Küttner hat die Kranke zweizeitig operiert. Es fand sich der Tumor ein zellreiches Fibrom an der erwarteten Stelle. Seine Entfernung gelang anscheinend vollständig. Was sich heute 1!/, Monate nach der Operation feststellen lässt, ist eine Besserung hin- sichtlich der subjektiven Symptome. Kopfschmerzen und Schwindel haben aufgehört. Von den übrigen Symptomen hat sich leider das Sehen noch nicht wesentlich restituiert, immerhin besteht Lichtschein und gelegentlich gelang Zählen einzelner Finger. Die Ataxie der linken Ex- tremitäten ist erheblich gebessert, auch die Blickstörung erscheint nicht mehr so hochgradig. Acusticus und Trigeminousfunktion ist begreiflicher- weise nicht wiedergekehrt. Die Trigeminusschädigung erstreckt sich jetzt vielmehr auf alle 3 Aeste.

Auf einen Punkt möchte ich noch hinweisen. Hier wie in zwei anderen Fällen von Acusticustumor, die ich in den letzten 2 Jahren be- obachtet und zur Operation gebracht habe, war auffallend die geringe Sehädigung des Facialis trotz seiner Nachbarschaft mit dem Acusticus und seiner Lage zwischen den beiden durch den Tumor geschädigten Nerven Acusticus und Quintus. In keinem Falle bestand eine Lähmung des Facialis, die elektrische Erregbarkeit war unverändert. Ein ähnliches Verhalten findet sich auch in der Kasuistik früherer Beobachter. Es scheint, dass die Resistenz des peripheren Facialis in seinem intracra- niellen Teil gegen Druck besonders gross ist. Er verhält sich anschei- nend umgekehrt, wie der Abducens, dessen Vulnerabilität schon durch geringe Druckschwankungen bekannt ist. Derartige Differenzen in der Widerstandskraft einzelner nervöser Organe sind uns auch sonst bekannt. Ich erinnere nur an die Empfindlichkeit der hinteren Wurzeln bei Hirn- druck im Vergleich zu den vorderen.

Ueber die definitive Prognose des Falles lässt sich bei der kurzen Zeit, die seit der Operation vergangen, natürlich noch nichts sagen.

Diskussion.

Hr. Ludwig Mann: Ein Fall von Brückenwinkeltumor ist kürzlich in der kgl. Augenklinik zur Beobachtung gekommen und ebenfalls von Herrn Küttner mit Erfolg operiert worden. Auch in diesem war die geringe Beteiligung .des Facialis auffallend. Die galvanische Unter- suchung des Acusticus resp. N. vestibularis ergab vollständig normalen galvanischen Schwindel (keine Babinski’sche Ohrreaktion.. Da hier vollständige Taubheit und Fehlen der kalorischen Labyrintherregbarkeit

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bestand, so ist aus diesem Befunde zu schliessen, dass der galvanische Reiz am Nervenstamm selbst angreifen kann, auch wenn die Endapparate völlig ausser Funktion gesetzt sind.

Hr. F. Kramer: Demonstration zur Prognose der Poliomyelitis ant.

Die demonstrierten 4 Fälle sind Beispiele dafür, dass die Prognose der poliomyelitischen Lähmungen nicht immer so schlecht ist, als viel- fach angenommen wird. Abgesehen von den Fällen, bei denen nur im akuten Stadium Lähmungen auftraten, sind auch diejenigen, bei denen nach Abklingen der akuten Erscheinungen noch schwere motorische Aus- fallserscheinungen bestehen, einer sehr erheblichen Rückbildung, ja völligen Heilung fähig. Der Restitutionsvorgang zieht sich oft über viele Monate hin; mitunter ist er erst I—1!/, Jahre nach der akuten Er- krankung ganz abgeschlossen. Für die Prognose gibt das Verhalten der elektrischen Erregbarkeit wesentliche Anhaltspunkte; ist I—2 Wochen nach Eintritt der Lähmung die faradische Erregbarkeit in den betroffenen Muskeln erhalten und besteht keine oder nur partielle Entartungsreaktion, so ist eine Restitution dieser Muskeln ziemlich sicher zu erwarten; aber auch in einem Teile der Muskeln, der komplette Entartungsreaktion zeigt, stellt sich, allerdings erst nach längerer Zeit, die Funktion wieder ber. Für die Praxis folgt aus diesem Verhalten, dass die Behandlung mit Elektrisation und Massage lange Zeit fortgesetzt werden muss, um ‚die sich eventuell noch restituierenden Muskeln vor zu schneller Atrophie zu schützen und dadurch bessere Bedingungen für die Wiederherstellung zu schaffen. Auch soll man mit operativen Maassnahmen nicht zu zeitig beginnen; diese dürfen erst vorgenommen werden, wenn man es sicher mit einem endgültigen Zustande zu tun hat.

Fall 1. 22jähriger Mann, Ende Oktober 1909 mit Fieber und Rückenschmerzen erkrankt, nach 2 Tagen Eintreten von Lähmungen an beiden Beinen. Bei der Aufnahme Ende November Unfähigkeit zu gehen und zu stehen, sinkt beim Versuche zu stehen zusammen. Völlige Lähmung der Hüftbeugen; erhebliche Parese der Kniebeugen, der Dorsal- flexion der Füsse, etwas geringere Parese der Kniestrecker. Herabsetzung der faradischen Erregbarkeit, etwa dem Grade der Lähmung entsprechend; partielle Entartungsreaktion im linken Vastus intern. und im linken Gastrocnenius. Seitdem allmählich fortschreitende Besserung. Kann jetzt stehen und gehen, Gang etwas vorsichtig und unbeholfen. Dorsalflexion noch etwas mangelhaft; Hüftbeugung mit leidlich guter Kraft, ebenso Kniebeugung, Kniestreckung und Plantarflexion. Nach dem Befunde ist völlige Restitution zu erwarten.

Fall 2. Kind von 3 Jahren. Akute Erkrankung im September 1909. Am 5. Tage Eintreten von totaler Lähmung des rechten Armes und Beines, kann nicht sitzen, den Kopf nicht halten. Mitte Oktober zuerst in der Poliklinik. Damals bestand noch Schwierigkeit der Kopfhebung, des Aufsetzens. Totale Lähmung des rechten Armes, mit Ausnahme der Ellbogenbeugung, und des rechten Beines, bis auf leichte Kniebeugung und -streekung. Jetzt fehlt nur noch der Abducetor pollieis brevis ganz, ferner besteht erhebliche Parese des Triceps, des Tibialis anticus und der rechtsseitigen Bauchmuskulatur, sonst nur noch geringe Parese in den früher gelähmten Muskeln. Entartungsreaktion nur im Abductor pollieis brevis.

Fall 3. S Jahre. Akute Erkrankung Ende September 1909, Lähmung des linken Beines. Mitte Oktober besteht noch Lähmung des Quadriceps, des Hüftbeugers und des Tibialis anticus, ausserdem erhebliche diffuse Parese des Beines. ‚Jetzt besteht nur noch Lähmung des Tibialis anticus und geringe Parese in der übrigen Beinmuskulatur. Gehfühigkeit ganz erheblich gebessert.

9%

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Fall 4. Zeigt noch keine so gute Restitution, ist aber dadurch be- merkenswert, dass nach dreimonatigem unverändertem Bestehen der Lähmung noch erhebliche Besserung eintrat. Akute Erkrankung im Juli; Lähmung des rechten Beines, bis Oktober unverändert. Damals bestand sehr erhebliche diffuse Parese des rechten Beins, totale Lähmung: des Quadriceps und des Tibialis anticus. Die Kniestreckung ist wieder- gekehrt, die diffuse Parese erheblich gebessert. Es besteht noch Lähmung im Tibialis antieus und Farese im Temur fasciae lotae.

Diskussion.

Hr. ©. Foerster: Ich kann die Ausführungen des Herrn Kramer nur voll bestätigen. Von den 15 Fällen von Poliomyelitis, die ich während der letzten Epidemie hier beobachtet habe, sind 5 ganz oder fast ganz restlos geheilt. In dem einen Fall haben allerdings auch auf der Höhe der Krankheit keine Lähmungen, sondern nur schwere ver- einzelte Reizerscheinungen bestanden, die ganz gewichen sind; in einem Fall, in dem sich die Lähmung etappenweise entwickelte, und auf der Höhe schwere Lähmung beider Beine, des Rumpfes und der Blase be- stand, ist heute auch kein Rest mehr vorhanden; in meinem dritten Falle hatte sich die Lähmung auch etappenweise entwickelt, auf der Höhe bestand Schwäche beider Beine, totale Lähmung des rechten Ileo- psoas, des linken Tibialis anticus, des rechten Triceps brachii, des linken Externa digitor. c. longus und der Bauchmuskulatur. Auch hier ist totale Restitution erfolgt bis auf eine sehr geringe Parese des linken Tibialis anticus und des linken Extensor digitor. ce. longus, die aber auch jetzt noch beide in der Restitution begriffen sind. In einem vierten Falle auf der Höhe völlige Bauchmuskellähmung, Schwäche beider Beine, Lähmung beider Tibiales antiei, jetzt völlige Restitution bis auf eine Lähmung des untersten Abschnittes des Obliqui abdominis beiderseits. In einem 5. Falle auf der Höhe schwere meningitische Er- scheinungen, rechts Facialislähmung, links Abducenslähmung, totale Restitution.

Ich möchte nun ferner bemerken, dass auch die Muskeln, die während der akuten Lähmung Entartungsreaktion zeigen, doch der- völligen Restitution zugänglich sind. Das beweisen meine Fälle.

Den Zeitpunkt, wann die Restitution ihren Abschluss erlangt haben dürfte, möchte ich noch erheblich weiter setzen, als Herr Kramer. Ich habe noch nach 2—2!/, Jahren ganz erhebliche Besserung von total ge- lähmten Muskeln beobachtet.

Hr. Stertz: a) Cerebrospinale Cysticerkose.

Der 49jährige Lederarbeiter H. L. ist im Laufe der letzten Jahre reizbar, vergesslich, nachlässig in seiner Arbeit und in allen Verrichtungen geworden. Seit Monaten unsicherer, zittriger Gang. Seit 3. XII. 1909 akute Veränderungen, Bewusstseinsstörung, delirantes Verhalten, zeitweise schlafsüchtig. Klagt über Kopf- und Rückenschmerzen. Ziemlich erheb- licher Potus, nie Krämpfe oder Delirien. Mittlerer Ernährungszustund,, innere Organe ohne Befund. Subfebrile Temperaturen bis 37,8, Puls 78, regelmässig. Schlaffer, benommener Gesichtsausdruck. Vibrieren der: Gesichtsmuskeln, sehr starkes Zungenzittern, Zittern der Hände, lebhafte Sehnenreflexe, rechts Babinski und Oppenheim’scher Reflex. Ischias- phänomen angedeutet. Rücken und Nacken steif gehalten, Muskulatur etwas empfindlich.

Pupillenreaktion etwas herabgesetzt, Trigeminuspunkt druckempfind- lich. Sprache nicht gestört. Alle Bewegungen sind steif, langsam, un- beholfen, der Gang ist unsicher, mit kleinen Schritten, taumelnd. Psy- chisch ist Pat. benommen, desorientiert, oft verlangsamt in allen Reaktionen, zeigt Andeutung von Perseyeration, die Aufmerksamkeit ist stark herabgesetzt, die Merkfähigkeit desgleichen. Es besteht eine aus-

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gesprochene Denkträgheit, welche seine intellektuellen Defekte oft grösser erscheinen lassen, als sie in Wirklichkeit sind. Die Ereignisse der letzten Zeit sind grösstenteils vergessen oder die Erinnerung daran verfälscht. Sich selbst überlassen liegt er ohne Mimik, ohne Zeichen spontaner Auf- merksamkeit, ohne alle Initiative, mutacistisch und akinetisch im Bett, besorgt nicht einmal seine Bedürfnisse. Er äussert niemals Krankheits- gefühl. Entsprechend dem tiefen Darniederliegen spontaner psychischer Funktion besteht ein hoher Grad von Suggestibilität auf psychischem und motorischem Gebiet. Er lässt sich allerlei einreden, liest von einem leeren Blatt, ist ausgesprochen kataleptisch, gelegentlich echopraktisch. Die Bereitwilligkeit, sprachlich zu reagieren, in Verbindung mit dem schweren Darniederliegen des gesamten Denkmechanismus führt zu einer dem „Vorbeireden“ analogen Reaktion, sie begünstigt ferner das auto- matische Wiederholen angeregter Leistungen. Obgleich keine Lähmungen vorliegen, ist Pat. ausserstande, die für das Aufstehen aus dem Bett er- forderliche Bewegungsfolge, sei es in der Erinnerung, wachzurufen, sei es zu verwirklichen. Das scheinbar Uebertriebene dieser eigenartigen apraktischen Störung macht auf den ersten Blick einen hysterischen Eindruck.

In der ersten Zeit verschlechterte sich der Zustand noch etwas. Es entwickelte sich ein leichter Grad von Stauungspapille und eine vollkommene Astasie und Abasie. Pat. liess sich einfach hintenüber- fallen. Dabei fehlte ihm soweit seine Aeusserungen Schlüsse er- laubten jedes Krankheitsgefühl. Später besserte sich der Zustand allmählich etwas, und es schwankte die Intensität der Symptome. Ge- legentlich waren Singultus und schmatzende Mundbewegungen zu beob- achten, sonst keinerlei Reizerscheinungen. Pat. erlangte ein ungefähres Verständnis der Oertlichkeit, auffallend war aber seine gänzliche Unfähig- keit, sich im Raum zu orientieren, wenige Schritte von seinem Bett fand er es nicht wieder. Dabei war keine Störung des stereoskopischen Sehens nachweisbar. Gelegentlich zeigte er Andeutung von Witzelsucht. Pat. ist zurzeit erheblich freier als jm Anfang. Er bietet jetzt im wesent- lichen ein schweres Korsakow sches Zustandsbild.

Die diagnostische Bewertung dieser Erkrankung würde eine gänzlich unsichere sein ohne das Ergebnis der Spinalpunktion. Dieselbe wurde viermal ausgeführt. Das erstemal entleerten sich zuerst nur einige Tropfen klarer Flüssigkeit, dann drängten sich eine etwa erbsengrosse und zwei kleinere zusammengefaltete weisse, durcbschimmernde Blasen durch die Kanüle. Die mikroskopische Untersuchung derselben ergab, dass es sich um übrigens sterile Cysticerken handelte. Der Eiweissgehalt war beträchtlich erhöht, betrug das zirka Fünffache des normalen. Phase I (Nonne-Apelt) war deutlich positiv, es bestand sehr starke Lymphocytose; die serologische Untersuchung nach Wasser- mann ergab hier wie im Blutserum ein negatives Resultat. Bei der zweiten Punktion wurde keine Flüssigkeit erzielt; die dritte Punktion förderte wieder vier kleine, bis etwa hanfkorngrosse Blasen derselben Beschaffenheit, die vierte nur klare Flüssigkeit. Einmal wurde die Ab- scheidung eines feinen Fibrinnetzes beobachtet. Der serologische und eytologische Befund war stets der gleiche. (Demonstration der Präparate.)

Damit ist die Diagnose einer cerebrospinalen Cysticerkose intra vitam gesichert. Bemerkenswerterweise fehlt bisher das Bruns’sche Phänomen, auch andere Symptome, die bis zu einem gewissen Grade als charakteristisch angesehen werden. In der Haut, den Augen und einigen mit Röntgenstrablen durchleuchteten Muskeln waren keine Cysticerken vorhanden. Es handelt sich nach dem Befund um einen chronischen Reizzustand der Meningen mit vermehrter Liquor- absonderung und offenbar ziemlich reichlichen, freischwimmenden Cysti-

22 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

cercusblasen. Daran mögen sich konsekutiv diffuse hirnatrophische Prozesse angeschlossen haben.

b) Meningealeyste des linken Schläfenlappens.

R. L., 22jähriger Briefträger, früher nicht krank, klagte zuerst Juni—Juli 1909 über Kopfschmerzen und Schwindelgefühl; zeitweise besser. Am 24. XI. soll er im Dienst umgefallen sein. Seitdem wieder mehr Kopfschmerzen, schlechte Sprache und schiefer Mund, zunehmende Benommenheit. Anfang Dezember (Krankenhaus Zülz) schwer soporös, weite, starre Pupillen, Urin- und Stuhl i.B. Am 5. XII Aufhellung des Bewusstseins, gab keine Antwort und erschien taub. Am 7. XII. be- gann er undeutlich und unverständlich vor sich hinzureden. Pupillen reagieren wieder. Gang etwas taumelnd, liess sich füttern. Schien einiges zu verstehen. Aufnahme am 16. XII. Leicht benommen, schnelt ermüdbar, starke Perseveration. Zeitweise Hinausdrängen. Subfebrile Temperaturen. Facialis links < rechts. Tremor der Zunge, sonst kein körperlicher Befund. Wortverständnis = 0, Spontansprache zeigt eine schwere paraphasische Störung (literal und verbal), häufig anhaltender Rededrang. Nachsprechen nicht besser. Lesen mit vielen Paraphasien, Schreiben desgleichen, auch Nachschreiben,; Zahlen meist richtig gelesen und geschrieben. Melodien offenbar nicht erkannt; Pat. kann auch keine solchen produzieren (früher Musiker). Affekt indifferent, leichte emotionelle Schwäche. Zuweilen Pseudoflexililitas. Sehr wenig Initiative. Anscheinend meist kein Krankheitsgefühl. Spinalpunktion (mehrfach): Starke Lymphoeytose, Eiweiss vermehrt, Wassermann negativ bezüglich der Spinalflüssigkeit, im Blutserum positiv. Allmählich etwas besser. 14. I. Punktion des linken Schläfenlappens. Sogleich nach Durchbohrung der Dura quillt reichlich und offenbar unter Druck Flüssigkeit mit frischer blutiger Beimengung heraus. Nach Abfluss von 15 ccm sistiert derselbe. Hirnsubstanz oder Tumorgewebe wird nicht erhalten. Im Zentrifugat des Liquors rote Blutkörperchen und dem- entsprechend weisse. Die Lymphoeyten erscheinen vermehrt, aber nicht in dem Grade wie in der Spinalflüssigkeit. Danach freier, lebhafter. Pat. macht ausserdem eine Hg-Kur und nimmt Jodkali. Allmähliche, aber nicht sehr weitgehende Besserung der sensorischen Aphasie unter Schwankungen.

Nach Beendigung der Schmierkur keine Aenderung der Lympho- eytose und des serologischen Befundes. Die Diagnose schwankte zwischen Tumor bzw. Abscess oder einem luetischen Prozess im linken Schläfen- lappen oder einer atypischen Paralyse. Gegen Tumor sprach das dauernde Fehlen von Hirndrucksymptomen, gegen Abscess das Fehlen jeder Aetiologie und das Ergebnis der Hirnpunktion, gegen Paralyse die Konstanz und Schwere der als einziges Lokalsymptom vorhandenen sensorischen Aphasie. Ein luetischer Prozess, vielleicht endarteriitischer Natur, hätte besonders im Hinblick auf den Ausfall der serologischen und cytologischen Untersuchung eine gewisse Wahrscheinlichkeit für sich. Nach dem Ergebnis der Schädelpunktion kommt aber vor allem auch eine meningeale Cyste im Gebiet des linken Schläfenlappens in Betracht. Es sprach dafür der Umstand, dass sich 15 cem einer liquor- ähnlichen, nur anscheinend nicht so Iymphocytenreichen Flüssigkeit un- mittelbar nach Einstich in die Dura unter Druck entleerten, während nachher trotz mehrfach wiederholten Einstichs sich kein Tropfen mehr entleerte. Das ist nicht das Verhalten, wie man es bei Punktion des freien intraduralen Raumes antrifft. Dass sich die lokalen Symptome nach Ablassen der Flüssigkeit nicht wesentlich besserten, mag damit zusammenhängen, dass sich die Flüssigkeit wieder ansammelte, bzw. dass die chronisch-meningitischen Prozesse, welche zur lokalen Cystenbildung führten, fortbestehen. Es wird auf die üngsten Befunde von Krause-

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 23

Placzek und Oppenheim-Borchard hingewiesen. Eine Trepanation

ist auch in unserem Falle in Aussicht zu nehmen angesichts der mangel-

haften Restitution unter antiluetischer Behandlung und Punktion. Diskussion.

Hr. 0. Förster: Ich kann die Vermutung des Herrn Vortragenden, dass möglicherweise die meningeale Cyste in Verbindung mit einer luetischen "Erkrankung des linken Schläfenlappens stehen könne, be- stätigen. Ich habe 2 Fälle von ausgesprochener luetischer Erkrankung des Hirns beobachtet, bei einem 34 jährigen und bei einem 36 jährigen, beide mit motorischer Aphasie und rechts Hemiplegie, in denen eine Endarteritis mit Erweichung zugrunde lag und in denen solche menin- geale Cysten bei der Autopsie gefunden wurden. In dem einen Falle hatte die Cyste die Grösse eines halbierten Apfels und sass über der Broca’schen Windung und dem unteren Teil der Zentralwindungen, intra vitam hatte sie häufig epileptische Anfälle, meist von Jackson- schem Typus hervorgerufen. In dem anderen Falle sass sie an der- selben Stelle, war etwa von der Grösse einer halben Walnuss.

Hr. Vix:

Ein Fall von Muskelatrophie bei Tabes und anatomischer Befund bei progressiver spinaler Muskelatrophie.

Es wird ein Patient demonstriert, ein 49 jähriger Schuhmacher, der Ende der achtziger Jahre Lues akquiriert hatte, die mit 2 Schmierkuren behandelt worden war. Im Sommer 1905 erkrankte er mit beginnenden Schmerzen in den oberen Extremitäten. Ein Jabr später suchte er die Poliklinik auf, weil sich seit einiger Zeit auch Schwäche in den Händen und Unterarmen bemerkbar machte. Die Untersuchung ergab das Be- stehen einer Störung der Pupillenreaktion, Aufhebung der Patellar- und Achillessehnenreflexe und geringe Ataxie der Beine. Ausserdem fand sich eine Atrophie mit Parese in der Streckmuskulatur beider Unter- arme und beginnende Atrophie der kleinen Handmuskeln beiderseits. Im November v. J. stellte sich Patient wieder vor. Die Atrophie und Parese war inzwischen proximal bis zu den Mm. deltoidei beiderseits fortgeschritten. Einzelne Muskeln waren mehr oder weniger verschont geblieben, namentlich waren die Beuger am linken Oberarm gut erhalten. Ueberbaupt waren die Atrophien am linken Arm weniger weit fortge- sehritten als rechts. Auf energische antiluetische Bebandlung hin trat nicht nur Besserung des Allgemeinbefindens, sondern auch eine er- hebliche Besserung der Funktion, namentlich der Mm. deltoidei ein. Der Patient zeigt jetzt beiderseits Atrophien der kleinen Handmuskeln und eine fast totale Atropbie der Muskulatur der Streckseite beider Unterarme. Die Flexoren am Unterarm sind besser erhalten. Rechts ist der Biceps zum Teil atrophisch, der M. supinator long. fehlt ganz, links sind beide gut erhalten. Die Tricepsfunktion und die des M. del- toideus ist ebenfalls links besser als rechts. Sensibilitätsstörungen besteben nicht. Ebenso bestebt keine E.-A.-R., sondern nur Herab- setzung der elektrischen Erregbarkeit in den atrophischen Muskeln. Die tabischen Symptome sind gegenüber den früheren Befunden nicht fortgeschritten. Neuritische Symptome bestehen nicht, auch spricht die Art der Ausbreitung der Atrophien gegen neuritische Aetiologie. Der Sitz der anatomischen Läsion ist in den vorderen Wurzeln und viel- leicht auch den Vorderhörnern zu suchen. Es handelt sich aller Wahr- scheinlichkeit nach um einen luetisch-meningitischen oder -meningo- myelitischen Prozess. Im Zusammenhang mit dem vorgestellten Fall werden einige mikroskopische Präparate eines etwas atypischen Falles von spinaler progressiver Muskelatrophie gezeigt, bei dem im späteren Verlauf ebenfalls reflektorische Pupillenstarre bei dem Patienten aufge- treten war. Die Krankheit hatte im 44. Lebensjahr begonnen, der Exitus

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trat nach 15 Jahren an Magenkrebs ein. Die Präparate zeigen meningo- myelitische Veränderungen, die namentlich im unteren Hals- und oberen Brustmark zu Verwachsungen der Meningen und Umschnürungen der Spinalwurzeln geführt haben. Es fanden sich Degenerationen in der Randzone der weissen Substanz und den Hintersträngen. Dort, wo die Meningen die schwersten Veränderungen zeigen, entsprechend den moto- rischen Zentren für die Muskeln der oberen Extremitäten im Rücken- mark, finden sich ausgebreitete Ausfälle der grossen motorischen Vorder- hornzellen, die auf manchen Schnitten zu dem vollständigen Verschwinden geführt haben. . Das untere Brust- und Lendenmark zeigen intakte Vorderhörner. Es wird auf den Nutzen der antiluetischen Behandlung in dem ersten Falle hingewiesen. (Der Fall wird in extenso beschrieben werden.) Diskussion.

Hr. Bonhoeffer weist auf die Wichtigkeit des anatomischen Be- fundes der meningitischen Abschnürung der vorderen Wurzeln in dem Falle des Herrn Vix hin, weil er, wie gewisse Beobachtungen französischer Autoren, zeigt, dass dem typischen Bilde einer spinalen progressiven Muskelatrophie nicht, wie die landläufige Annahme es will, ein primärer Schwund der nervösen Vorderhornelemente, sondern ein chronisch progedienter meningitischer Prozess entspricht.

Hr. Schröder demonstriert einige zu dem Vortrage des Herrn Crumer über Poliomyelitis gehörige Präparate.

Sitzung vom 18. Februar 1910.

Vorsitzender: Herr Ponfick. Schriftführer: Herr A. Neisser.

Hr. Ponfiek erläutert zunächst an der Hand mehrerer in ver- schiedenen Farben gehaltenen Tabellen die Schwierigkeiten und tief- begründeten Hindernisse, die sich einer sogenannten rationellen, neben dem anatomischen auch das ätiologische Moment umfassenden Einteilung der verschiedenen Nierenerkrankungen entgegenstellen.

Um zu einem besseren Verständnis der innerhalb des entzündeten Organs wahrzunehmenden Anomalien zu gelangen, die sich klinisch vor allem in Ausscheidung von Eiweiss und Cylindern bekunden, eignet sich, seiner Meinung nach, vor allem das Studium derjenigen Veränderungen, die sich durch experimentelle Eingriffe bestimmter Art hervorrufen lassen.

In diesem Sinne hat er sich zuvörderst bemüht, die Folgeerscheinungen zu erforschen, wie sie sich nach Unterbindung des Ureters einstellen und im grossen und ganzen der menschlichen Hydronephrose entsprechen. Gestützt auf eine mannigfach abgestufte Reihe solcher Nieren, deren Wandlungen er teilweise länger als ein halbes Jahr hindurch verfolgt hat, schildert er sowohl diejenigen Abweichungen in Gestalt und Gefüge des Drüsenparenchyms, die sich mit blossem Auge beobachten lassen, als auch die feineren, nur mittels des Mikroskops erkennbaren. Die auf jedem dieser Wege erhaltenen Befunde veranschaulicht er mittels zahl- reicher Lichtbilder.

Diskussion.

Hr. Minkowski: Die vom Vortr. betonte Inkongruenz in der Ein- teilung der Nephritiden nach den ätiologischen Momenten einerseits und den pathologisch-anatomischen Veränderungen andererseits kann nicht überraschen, wenn man bedenkt, dass nicht nur die Art der Krankheits- ursachen, sondern auch die Intensität, Dauer und Häufigkeit ihrer Ein- wirkung auf die Gestaltung eines Krankheitsprozesses von Einfluss sein muss, und ferner, dass daneben noch nicht nur die individuell ver-

I. Abteilang. Medizinische Sektion. 25

schiedene Widerstandsfähigkeit des ganzen Organismus, sondern auch die Verschiedenbeiten in der Widerstandsfähigkeit der einzelnen Organe und der einzelnen Gewebselemente zur Geltung kommen. Die ätiologische Gruppierung von Krankheitszuständen entspricht daher durchaus nicht einer höheren Stufe unserer Erkenntnis, als die anatomische; es handelt sich nur um ein anderes Einteilungsprinzip. Das gleiche Verhältnis besteht aber auch zwischen der anatomischen und der rein klinischen Auffassung der Krankheitsbegriffe. Auch sie sind einander nicht zu sub- ordinieren, sondern nur zu koordinieren. Für die klinische Auffassung entscheidend ist stets die Störung der Funktion. Diese braucht sich aber durchaus nicht immer mit den morphologischen Veränderungen zu decken.

Was die Entstehung der Harneylinder betrifft, so sprieht die klinische Beobachtung zugunsten der Annahme des Vortragenden, dass die Cylinder schon in den ersten Anfängen der Harnkanälchen geformt werden können, und dass sie infolge der erbeblichen Elastizität der geronnenen Massen, aus denen sie bestehen, ihre ursprüngliche Form wieder annehmen können, nachdem sie die engeren Abschnitte der Harnkanälchen passiert haben. Nur so ist es zu erklären, dass man mitunter im Harn Cylinder findet, die vollkommen die Windungsformen der Tubuli contorti wieder- geben. Einen Ausdruck für die Intensität der Funktionsstörung geben aber die Cylinder nicht. Sind sie doch oft am spärlichsten gerade da, wo wir den schwersten Formen der Niereninsufficienz begegnen, und findet man sie nicht selten auch bei Zuständen, bei denen entzündliche Veränderungen der Nieren im gewöhnlichen Sinne überhaupt nicht be- stehen, wie bei leterus und bei Obstipationen.

Hr. Rosenfeld: Die heutigen Darlegungen des Herrn Ponfick sind, wenn ich es recht verstanden habe, der weitere Ausbau seiner vor einigen Jahren hier vorgetragenen Lehre, dass durch in den Harnkanäl- chen steckenbleibende Cylinder in den oberhalb liegenden Nierenab- schnitten Störungen hervorgerufen würden. Wenn durch Verlegungen des Ureters so grosse Veränderungen hervorgerufen werden, wie sie heute wieder erörtert worden sind, so wird die obige These gewiss wahr- scheinlicher. Und doch halte ich es für ausgeschlossen, ein Verständnis für das Wesen der Nephritis etwa im Sinne solcher Versuche mit Ureter- hemmung zu begründen. Für den so rätselhaften und merkwürdigen Zug des Fortschreitens des nephritischen Prozesses mögen ja die Folgen der obstruierenden Cylinder einen kleinen mechanischen Beitrag liefern am ehesten würde ich doch die Spekulation im Sinne der Cytotoxine gelten lassen: die zerstörten Nierenepithelien werden resorbiert und geben die Veranlassung zur Bildung eines Autocytolysins, welches die Verewigung des nephrotoxischen Prozesses verschuldet.

Für die Aetiologie aber möchte ich unter anderen Substanzen auch unsere Ernährung heranziehen. Wir nehmen immer an, dass das art- fremde Eiweiss unserer Nahrung durch das Erepsin u.a. bis zu den Aminosäuren zerspalten jeden Artcharakter verliert und erst den neuen Menschenartcharakter durch die Synthese gewinnt. Nun möchte ich meinen, dass dieser Schutzapparat, der uns vor artfremdem Eiweiss schützen soll, doch dann versagen kann, wenn er, wie das bei den Fleischpolyphagen zutrifft, allzusehr in Anspruch genommen wird. Dann kursiert eben artfremdes Biweiss und erzeugt eventuell bei seinem Durchgange durch die Nieren (vielleicht Anaphylaxie nebenbei und) eine Reizung. Hierfür sprechen einige Tatsachen. So die sehr häufige Albu- minurie der fleischpolyphagen Fettleibigen, die unter der Kartoffelkur, als bei Eiweisszufuhrverminderung, in einem oder einigen Tagen oft schwindet. Experimentelle Brfahrungen habe ich darüber nur wenige. Eine ist besonders interessant: Als ich die Kelling’schen Embryonal-

26 Jahresbericht der Schles.' Gesellschaft für vaterl. Kultur.

zelleninjektionen (Hühnerembryonenemulsionen) nachprüfte, erzeugte ich zwar keine Carcinome, aber einmal eine so schwere Nephritis beim Hunde, wie sie mir sonst experimentell nicht gelungen ist. Als ich im Verfolg dieser Beobachtung einem Hunde grössere Mengen von Pferde- serum einspritzte, fand ich Albuminurie, aber keine Nephritis. Zu er- innern wäre auch an jene Versuche, in denen nach Eierfütterung Bier- eiweiss im Harn erschienen sein soll.

Was nun die Entstehung der Cylinder in den viel gewundenen Harnwegen anbetrifft, so kann ich Herrn Ponfick soweit beipflichten, dass jedenfalls Cylinder aus dem Tubuli contorti stammen. Es ist ganz so, wie Herr Minkowski eben sagte, dass Cylinder die gewundene Form eines Abgusses der Tubuli contorti darstellen. Freilich könnten sie auch in diese Form durch eine visa tergo in den weiteren Kanälchen gedreht worden sein, wie das jeder Faden wird, den eine vis a tergo durch ein weiteres Rohr schiebt: er würde immer korkzieherförmig gedreht werden. Dass dem hier nicht so ist, kann dadurch bewiesen werden, dass sich an die Korkzieherpartie des Cylinders (an dem übrigens noch die hoben Epithelien der Tubuli eontorti sitzen können) ein ganz gradliniger hyaliner Cylinder ansetzen kann, der keine Spur von Drehung aufweist.

Die Gewundenheit des Weges ist auch Schuld an einem eigentüm- lichen Phänomen beziehentlich des Fettes in der Niere. Die Niere ist ein Organ, welches Fett secerniert, und zwar wie die Mikroskopie zeigt, in den Tubuli contorti denn dort sieht man im günstigen Falle das Vorrücken des Fettes von dem Basalteile der Zelle bis zum liminalen Teile. Dementsprechend findet man auch Fett im Harn. Aber nicht alles secernierte Fett wird ausgeschieden, sondern gerade an der Henle- schen Schleife, wo die günstigste Stelle hierfür ist, wird das secernierte Fett zum Teil wieder zurückresorbiertt und dadurch erklärt sich die eigenartige Anhäufung, die das Fett gerade an dieser Stelle zeigt. Es wäre noch vieles über das Fett der Niere zu sagen, das die vorgerückte Zeit zu übergeben nötigt; nur das eine möge hervorgehoben werden, dass ich Ausdrücke wie „fettige Degeneration der Harnkanälchen“ nur als eine abgekürzte Bezeichnung für ein pathologisches Bild ansehen kann, denn eine fettige Degeneration der Niere bin ich nicht geneigt anzuerkennen.

Hr. Ponfiek: Was zunächst die Einwände betrifft, welche Herr Minkowski gegen die Verschmelzung der beiden Tabellen erhoben hat, deren einer das anatomische, deren anderer das ätiologische Einteilungs- prinzip zugrunde liegt, so decken sie sich durchaus mit denjenigen, die ich selber dagegen geltend gemacht habe.

Sind sie doch von mir in der ausgesprochenen Absicht nebenein- ander gestellt worden, Ihnen allen recht schlagerd vor Augen zu führen, dass sich mindestens gegenwärtig eine Systematik nicht durch- führen lässt, die darauf abzielt, gleichzeitig beiden Gesichtspunkten ge- recht zu werden.

Was sodann die von Herrn Rosenfeld berührten Prozesse anlangt, die sich an den Glomerulis und in den Quellgebieten der gewundenen Kanälchen abspielen, so bin ich gerade damit schon seit längerer Zeit beschäftigt.

In nicht ferner Zeit hoffe ich, Ihnen auch hierüber nähere Mit- teilung machen zu können. Wie ich aber schon heute sagen darf, sind die Ergebnisse, welche beim Studium nicht nur der experimentellen, sondern auch der menschlichen Hydronephrose gewonnen worden sind, wohl danach angetan, uns einen tieferen Einblick in die Natur der teils filtrativen, teils diffusorischen Vorgänge zu verschaffen, durch welche die chemische Konstitution des in Kapselräume und oberste Tubulusstrecken gegossenen Fluidums bestimmt wird.

I. Abteilung. Medizinische Sektion.

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Sitzung vom 25. Februar 1910.

Vorsitzender: Herr Ponfick. Schriftführer: Herr Uhthoff.

Hr. 6. Lenz-Breslau: Organisation und Lokalisation des Sehzentrums.

Der Vortragende gibt im Anschluss an eigene klinisch-anatomische Untersuchungen und auf Grund einer kritischen Würdigung der gesammten in Betracht kommenden Literatur eine Zusammenfassende Darstellung des zur Zeit vorliegenden Tatsachenmaterials und der daraus abzuleitenden Anschauungen bezüglich der Organisation und Lokalisation des Seh- zentrums. Als solches wird ein eventuell aufzufindendes Hirnrinden- gebiet bezeichnet, dessen Läsion immer und konstant einen Gesichtsfeld- defekt verursachen würde.

Zur Zeit sind es im wesentlichen zwei Ansichten über die Organisation des Sehzentrums, die sich diametral gegenüberstehen. Die Zentralisten, an ihrer Spitze Wilbrand und Henschen statuieren eine Projektion der Retina auf ein umgrenzbares Gebiet der Hirnrinde durch eine kon- tinuierliche d. h. eine gesetzmässige Ordnung beibehaltende Leitung. Demgegenüber gibt die von der Schule v. Monakow’s vertretene De- zentralisationslebre nur bis zum Corp. gen. ext. eine gewisse Projektion zu. Dann aber sollen die Sehfasern ohne bestimmte Ordnung auf den ganzen Hinterhautslappen, speziell auch auf die Aussenfläche desselben bis nach vorn zum Gyrus angularis verteilt sein. Bei Untergang ein- zelner, speziell makulärer Fasern sollen andere die Funktion übernehmen können, das ganze System sei somit kein unverrückbar festes.

Welcher dieser beiden Theorien soll man sich nun anschliessen ? Wenn die Sehbahn an irgend einer Stelle zentralwärts vom Chiasma durchbrochen wird, so tritt infolge der Partialkreuzung im Chiasma eine homonyme Hemianopsie der gegenüberliegenden Gesichtsfeldhälften auf. Ein kompletter Ausfall der Funktion wird jedoch kaum Anhaltspunkte geben können für den inneren Aufbau des betroffenen Gebietes. Sehr viel geeigneter hierzu sind partielle Läsionen unter dem Bilde partieller Hemianopsien, wie sie in allen Formen und Grössen zur Beobachtung kommen. Besonders wichtig ist dabei das Verhalten der Defekte der Gesichtsfelder beider Augen zueinander bezüglich ihrer Form, die beinah immer eine ausgesprochene Symmetrie erkennen lässt. Nach eigenem Material zeigten 31 von 34 Fällen partieller Hemianopsien eine voll- kommene Kongruenz der Defekte. Es beweist dies eine ganz regelmässige Durchmischung der vom gekreuzten und ungekreuzten Bündel her- stammenden Leitungsfasern bezw. deren Endelemente in der Rinde. Gerade diese Tatsache führte Wilbrand zur Aufstellung seiner Theorie der Fascikelfeldmischung, dass sich nämlich immer eine gekreuzte und eine ungekreuzte Faser zusammenlegen und gemeinsam endigen. In der Rinde kommt es danach zu einer Anordnung der Elemente nach Art eines Schachbrettmusters. Diese Theorie wurde noch viel plausibler durch die Auffindung kleinster hemianopischer Gesichtsfelddefekte, wie sie sowohl in der Gesichtsfeldperipherie (Förster), als auch im makulären Gebiet gefunden wurden, und die eine ganz auffallende Kongruenz ihrer Form aufweisen. Von letzteren existieren zur Zeit 13 Fälle in der Lite- ratur, darunter eine eigene Beobachtung des Vortragenden. Ebenso sehen sich auch periphere erhaltene Gesichtsfeldinseln oft ausserordentlich ähn- lich. Alles dies lässt sich eigentlich nur aus dem Gesetz einer strengen Projektion erklären, die sowohl für das periphere, wie das makuläre Gesichtsfeld gelten muss.

Für diese einwandfreien Tatsachen hat die Dezentralisationstheorie eine plausible Erklärung bisher nicht beigebracht. Ihren Anschauungen

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gemäss könnte es eigentlich niemals zu einem dauernden isolierten Aus- fall makulären Gebietes kommen, da der Defekt ja bald durch das funk- tionelle Eintreten von Peripheriefasern gedeckt werden müsste. Dem widerspricht aber die tatsächliche Beobachtung der konstant ihre Form beibehaltenden, kleinsten inselförmigen Makularskotome. Speziell für diese Fälle, von denen keiner zur Autopsie kam, wird an die Möglichkeit gedacht, dass der Herd nicht im zentralsten, sondern im primären Teil der optischen Bahn gesessen haben könnte, wo ja eine gewisse Projektion zugegeben wird. Doch beweisen eigentlich ganz einwandsfrei eine eigene Beobachtung des Vortragenden, wo die kleinen Defekte apoplektitorm unter Halluzinationen und Lichterscheinungen bei einer 62jährigen Frau auftraten, ferner ein Fall Wilbrand’s (Verletzung des Hinterhauptes mit einer sehr kleinen Schraube), feruer einige von Inouye mitgeteilte Fälle von Schussverletzung der Sehsphäre aus dem russisch-japanischen Kriege, dass solche kleinsten, dauernden, homonymen Makularskotome auch durch Läsionen des zentralsten Teils der optischen Bahn verursacht werden können.

Die gelegentlich beobachteten Asymmetrien der hemianopischen Defekte erklären sich nach der Theorie Wilbrand’s ungezwungen aus einer individuell verschiedenen Verlagerung der Elemente innerhalb der Leitung bezw. deren Endigung.

Während nun aber ein isolierter Ausfall makulären Gebietes doch immerhin ein seltenes Ereignis ist, sehen wir demgegenüber ausser- ordentlich häufig ein Freibleiben makulären Gebietes, eine sogen. Makula- aussparung bei sonst kompletter Hemianopsie. Und diese Tatsache ist eine Hauptstütze der Dezentralisationstheorie. Sie erklärt dies aus den reichen Anschlüssen des makulären Gebietes, sodass eigentlich immer zahlreiche Fasern erhalten bleiben, mag der Herd sitzen, wo er wolle, und aus einer Restitution, derart dass die vorhandenen, anschlussfähigen Neuronenkomplexe in erster Linie in den Dienst der makulären Funktion sich stellten, und nur ein eventueller von der Zerstörung freigebliebener Ueberfluss der Peripherie zugute käme.

Demgegenüber hebt Wilbrand hervor, dass die Makulaaussparung sofort beim Auftreten der Hemianopsie in voller Form vorhanden sei und sich nicht erst ausbilde, dass somit hier etwas Präexistentes im Spiele sein müsse. Und dieses Präexistente sieht Wilbrand in einer Doppel- versorgung des makulären Gebietes, derart dass in der makulären Region eines jeden Auges ein Zapfen durch eine im Chiasma sich dichotomisch tejlende Faser mit beiden corticalen Sehzentren in Verbindung stehe.

Der Vortragende hat sich selbst eingehend mit der Frage der Doppel- versorgung beschäftigt und steht auf dem Standpunkt, dass diese in der Tat die klinischen Erscheinungen in einwandfreier Weise erklären kann. Die typische Makulaaussparung hat eine charakteristische Form, indem sie sich im Prinzip auf das Makulagebiet beschränkt, die Farbengrenzen schliessen sich der Weissgrenze an und die Sehschärfe ist im ausgesparten Bezirk nicht alteriert, wie nach der Theorie v. Monakow’s zu er- warten wäre.

Käme nun aber nach Wilbrand die Doppelversorgung im Chiasma zustande, so müsste eine typische Makulaaussparung bei Läsionen der ganzen optischen Bahn zu erwarten sein. Frühere Untersuchungen des Vortragenden sprachen nun aber dafür, dass eine typische Aussparung nur bei Läsion des zentralsten Teils der optischen Bahn gefunden wird. Eine Kontrolle dieser Ansicht an dem gesamten verwertbaren Sections- material der Literatur hatte im wesentlichen dasselbe Ergebnis. Es kommen zwar auch restierende Bezirke der Makulagegend bei Läsionen des primären Teils der Bahn und des Anfangsteiles der Sehstrahlung zur Beobachtung, doch lassen sich diese von der typischen Aussparung

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durch ihre Form unterschneiden. Die Grenze zwischen dem Auftreten der Aussparung und dem Fehlen derselben liegt etwa in der Mitte des Parietallappens, hier müsste also die doppeltversorgende Verbindungsbahn nach der anderen Seite herüberziehen. Für eine gewisse Selbständigkeit dieser Bahn scheint eine Beobachtung des Vortragerden zu sprechen, wo vielleicht eine partielle Läsion dieser Bahn vorlag. Es gibt einige sichere Sectionsfälle, wo der zentralste Teil der optischen Bahn zweifellos völlig durchtrennt war und doch eine typische Aussparung bestand. Danach kann eine gewisse Bevorzugung des makulären Gebietes etwa dureh eine bessere Gefässversorgung im Sinne Förster’s nicht allein das Wesen der Aussparung ausmachen, wenn eine solche Bevorzugung auch zweifellos zuzugeben ist.

Es gibt ferner einige namentlich der älteren Literatur angehörige Fälle, wo bei zentralem Sitz der Läsion die Trennungslinie durch den Fixierpunkt zog. Hier scheint also die doppelversorgende Bahn gefehlt zu haben, vielleicht sind in ihrer Existenz individuelle Schwankungen anzunehmen. Schwierig zu erklären sind auch die kleinsten Skotome im Makulargebiet, warum bier nicht eine Kompensation durch die Doppel- versorgung eingetreten ist. Vielleicht fehlte auch hier die Duppel- versorgung, oder es bestand hier eine symmetrische Läsion auch der gegenüberliegenden Hemisphäre.

Die Makulaaussparung hat sonach einen gewissen lokalisatorischen Wert, der auch dadurch nicht herabgesetzt wird, dass sich am Zustande- kommen der Aussparung noch ein von der Läsion verschonter Bezirk, der gerade die Makula versorgt und für den ja sicher eine gewisse Bevorzugung besteht, beteiligt. Denn die supponierten Schutzvorrichtungen treten ja ebenfalls bei zentralem Sitz der Läsion in Funktion und für die gleiche Lokalisation spricht ja die Makulaaussparung.

Alles in Allem erklärt somit die Annahme einer präexistenten Doppel- versorgung die tatsächlichen Verhältnisse viel einwandsfreier, als es die Dezentralisationstheorie vermag, und damit fällt die positive Hauptstütze derselben. Es muss somit auch der zentrale Teil der optischen Bahn organisiert sein nach dem Prinzip strenger Projektion der Netzhaut und diese Aıt der ÖOganisation schliesst die Folgerung in sich, dass es ein umgrenzbares Sehzentrum geben müsse.

Henschen und Wilbrand lokalisieren dieses Sehzentrum in das Gebiet der Fissura calcarina mit Ausnahme des hintersten Teils derselben. Sie stützen sich dabei auf die Beweiskraft der sogenannten reinen Rinden- fälle, wie sie besonders in zwei Beobachtungen Henschen’s (Fälle Nils Holm und Hilden) zur Verfügung stehen sollen. Verwertbar für die gestellte Frage sind ja nur Fälle, wo nur die Rinde, nicht aber auch die Sehstrahlung von der Läsion betroffen waren, da in letzterem Falle grosse Rindengebiete in unkontrollierbarer Weise von der Funktion ausgeschlossen werden.

Die Beweiskraft der erwähnten Fälle als reine Rindenfälle wird nun von v. Monakow auf das entschiedenste bestritten. Immer sei hier auch die Sehstrablung primär in Mitleidenschaft gezogen gewesen und hätte nicht nur, wie Henschen behauptet, sekundäre Degenerationen gezeigt. Bei der Lage der Sehstrahlung dicht unter dem Boden der Calcarina und bei der ganzen Art der Gefässversorgung sei überhaupt bier eine reine Rindenläsion auf Grund von Gefässprozessen von vorn- herein unmöglich.

Gegen diese Behauptungen v. Monakow's lässt sich kaum etwas einwenden und speziell erscheint bezüglich der Fälle Henschen’s eine Einigung in der Frage, ob die Veränderungen der Sehstrahlung primär oder sekundär waren, kaum im Bereich der Möglichkeit zu liegen. Wenn aber entsprechend der Ansicht der Dezentralisten auch die Aussenfläche

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des Hinterhauptslappens zum Sehzentrum gehören würde, so müsste man bei Läsion dieser Gegend konstant dauernde hemianopische Gesichtsfeld- defekte erwarten, da gerade auf Grund der kleinsten makulären Skotome eine Uebernahme der Funktion durch andere Rindengebiete, speziell der Innenfläche des Ocecipitallappens abzulehnen ist. Das ist aber nicht der Fall. Der Vortragende konnte aus der Literatur im ganzen 20 Sections- fälle zusammenstellen, wo bei Läsion der Aussenfläche hemianopische Störungen vermisst wurden. Indem die einzelnen Fälle in ein Hirnschema eingetragen wurden, ergab sich ein Gebiet, das der ganzen in Betracht kommenden Aussenfläche des Hinterhauptslappens bis nach vorn zum Gyrus angularis entsprach. Dieses ganze Gebiet kann also nicht zum Sehzentrum gehören.

Wenn die Dezentralisten gegen eine Lokalisation auf die Innen- fläche geltend machen, dass es auch hier negative Fälle d. h. solche ohne hemianopische Störungen gibt, so beweisen diese Fälle vielmehr, dass die Innenfläche nicht in ganzer Ausdehnung zum Sehzentrum gehören kann. Diese Fälle gestatten also sogar eine nähere Umgrenzung des fraglichen Gebietes. Es muss allerdings zugegeben werden, dass bier das klinisch-anatomische Material noch ein recht spärliches und wenig zuverlässiges ist. Doch glaubt sich der Vortragende berechtigt, aus dem derzeitigen Material per exclusionem folgenden Schluss zu ziehen: Das Sehzentrum ist zu lokalisieren in das Gebiet der Fissura calcarina, in den unteren Teil des Cuneus, den oberen des Gyrus angularis, nimmt nach hinten an Ausdehnung zu und greift hier noch auf den hintersten Abschnitt des Gyrus fusiformis über. Bezüglich des hintersten Teils der Calcarina wird auf den Schluss des Vortrages verwiesen.

Diese per excelusionem gewonnene Lokalisation erfährt nun noch eine wichtige positive Unterstützung durch eine eigene Beobachtung des Vortragenden. Es handelte sich um eine sehr partielle Hemianopsie, die hauptsächlich den unteren, weniger den oberen Quadranten betraf. Es fand sich ein Tumor im vorderen unteren Abschnitt des Cuneus, wodurch die Fiss. cale. in ihrem vordern Teil lädiert wurde, und zwar besonders die Oberlippe, sehr viel weniger die untere Lippe. Die Seh- strahlung war frei, eine funktionelle Störung derselben durch Fernwirkung glaubt der Vortragende ausschliessen zu können. Der Fall hat also den grossen Vorzug, dass es sich hier nicht um einen Gefässprozess handelt, derartige Fälle werden ja von den Dezentralisten von vornherein abgelehnt. Er beweist, dass die betroffenen Hirnpartien zum Sehzentrum gehören können, da die Hemianopsie eine sehr inkomplette war. Jedenfalls führt uns der Fall in positivem Sinne auf dasselbe Gebiet, das wir vorher auf einem anderen Wege fanden.

Dieses Resultat klinisch-anatomischer Untersuchungen erfährt nun eine sehr willkommene Bestätigung und Erweiterung durch die Ergebnisse der modernen Histologie, die namentlich durch die Arbeiten von Bolton und Brodmann in der Aufstellung des sogenannten Calcarinatypus gipfeln, d.h. in der Auffindung eines eine cytoarchitektonische Sonder- stellung aufweisenden, scharf umgrenzbaren Hirnrindengebietes in der in Rede stehenden Gegend. Das den Calcarinatypus zeigende Gebiet deckt sich nun eigentlich Wort für Wort mit dem oben als Sehzentrum umgrenzten Gebiet. Wenn auch naturgemäss eine histologische Eigen- tümlichkeit eines Rindenbezirks naturgemäss noch nichts über die Funktion desselben aussagen kann, so beweist doch hier gerade die überraschende Uebereinstimmung in den Ergebnissen beider Forschungs- wege, dass hier spezifische Formation und spezifische Funktion eins sein müssen, dass wir also in diesem umgrenzten Rindenbezirk das Sehzentrum vor uns haben. Und wo bisher noch hinsichtlich einer ganz genauen Begrenzung die klinisch-anatomische Forschung versagte und aus nahe-

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liegenden Gründen wohl noch lange versagen wird, da kann man jetzt auf Grund dieses Ergebnisses den Resultaten der Histologie unbedenklich folgen.

Bezüglich der speziellen Auordnung der visuellen Elemente hat Henschen darauf aufmerksam gemacht, dass entsprechend seiner Loka- lisation streng in die Calcarina die obere Calcarinalippe die oberen, die untere Lippe die unteren Retinalquadranten versorgen soll. Eine gleiche Anordoung soll auch rückwärts für die optische Leitungsbahn gelten. Da diese „vertikale Projektion“ von den Dezentralisten auf das ent- schiedenste in Abrede gestellt wird, hat der Vortr. das gesamte Sections- material hinsichtlich dieser Frage einer Kritik unterzogen und gefunden, dass kein einziger Fall existiert, wo nicht eine Läsion der Sehbahn von oben her zuerst eine Alteration der oberen Retinalquadranten unter dem Bilde einer hemianopischen Gesichtsfeldeinschränkung von unten her ge- setzt hätte und umgekehrt. Komplette Hemianopsien, wie sie von den Dezentralisten herangezogen werden, sind für die vorliegende Frage überhaupt nicht zu verwerten. Die eigene Beobachtung des Vortr. be- weist eigentlich allein schon die Existenz der „vertikalen Projektion“: Der erheblieheren Läsion der oberen Calearinalippe entsprach der aus- gedehntere Gesichtsfelddefekt der unteren Quadranten, der geringfügigen Schädigung der unteren Lippe die leichtere Störung der oberen Gesichts- feldhälften. Dazu kommt dann noch eine ganze Reihe anderer sicherer Fälle, so dass an der „vertikalen Projektion“ kaum noch zu zweifeln ist. Es hat dies auch eine erhebliche praktisch-lokalisatorische Bedeutung. Alle Läsionen der Sehbahn von unten her, z. B. Basaltumoren, Klein- hirnaffektionen, werden zuerst eine hemianopische Einschränkung von oben auftreten lassen, alle Herde oberhalb der Sehbahn, z. B. Affektionen der Capsula interna, eine solche von unten her.

Ein ganz besonderes Interesse, aber auch ebenso grosse Schwierig- keiten bot von jeher die Lokalisation der Macula dar. Dass auch diese projiziert und somit innerhalb des Sehzentrums gelegen sein muss, er- gibt sich aus dem obigen. Henschen lokalisiert bei Macula in den vordersten Teil der Calcarina, Wilbrand lässt diese Frage noch un- entschieden. Am geeignetsten erscheinen a priori zur Lösung des Problems die Fälle von doppelseitiger Hemianopsie mit kleinstem zen- tralem Gesichtsfeldrest. Doch haben diese Fälle den grossen Nachteil allzugrosser Ausdehnung der Herde, so dass eine Einigung über die Deutung des anatomischen Befundes, speziell über die Funktionsfähigkeit kleiner Riudeninseln nicht erzielt werden konnte. So liegen die Ver- hältuisse bei einer ganzen Reihe vielerörterter und vielumworbener Beobachtungen, z. B. bei den Fällen von Förster-Sachs, Laqueur- Schmidt, Küstermann u. a., wo die Macula bald nach vorn, bald nach hinten in der Calcarina je nach der Deutung lokalisiert wurde. Eine bessere Binsicht in diese komplizierten Verbältuisse versprach sich deshalb der Vortr. von einer kritischen Verwertung der Fälle partieller Hemianopsie, und besonders geeignet schien in dieser Hinsicht die eigene Beobachtung zu sein. Betroffen war der Intensität nach besonders das periphere Gesichtsfeld, und besonders schwer geschädigt war der vordere Teil der Calcarina. Es lag also nahe, beides in Beziehung zu bringen. %s folgt daun das geringfügiger alterierte paramaculäre Gebiet und dem- entsprechend war die Mitte der Calcarina relativ wenig in Mitleidenschaft gezogen. Es blieb dann für die Macula nur noch der hinterste Teil der Fissur übrig, über dessen Funktionsfähigkeit ein Zweifel nicht be- stand. In analoger Weise liessen sich dann noch einige andere Sections- fälle der Literatur analysieren. Und in gleichem Sinne sprechen einige Fälle von Verletzung des in Rede stehenden Gebietes ohne Section, 2. B. Wilbrand (Schraubenverletzung), Inouye (Schussverletzungen).

32 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Wichtig ist ein Fall von doppelseitiger Hemianopsie (Christiansen), der zur Section kam. Es war hier durch einen Schuss beiderseits der vordere Abschnitt der Calcarina zerstört und trotzdem war das zentrale Sehen erhalten. Alles in allem glaubt der Vortr., dass das zurzeit vor- liegende Material uns schon berechtigt, die Macula in den hintersten Abschnitt der Fissura cealcarina zu !okalisieren. Damit ist auch die Frage beantwortet, ob dieses Gebiet überhaupt zum Sehzentrum gehört, und zwar im Gegensatz zu Henschen im bejahenden Sinne und in Uebereinstimmung mit den Ergebnissen der histologischen Forschung. Diskussion.

Hr. Hürthle richtet an den Vortr. folgende Fragen: 1. Wie er sich bei der Annahme einer strengen Zentralisation zu der Tatsache stelle, dass die Zahl der Fasern der Sebstrahlung 5—4 mal so gross sei wie die Zahl der Opticusfasern? 2. Ob er auf Grund seiner Beobach- tungen auch Angaben über den motorischen Teil des Sehzentrums machen könne?

Hr. Bonhoeffer: Leider habe ich den ersten Teil des Vortrages des Herrn Lenz nicht wit angehört, es mag mir deshalb manches aus seiner Beweisführung fehlen. Zu der Bemerkung des Herrn Hürthle über das zablenmässige Verhältnis der Optieusfasern zu den Sehstrahlungs- fasern und seinen daraus gezogenen Schlussfolgerungen möchte ich in Uebereinstimmung mit dem Vortr. bemerken, dass die Verhältnisse der Sehstrahlung in ihrer Beziehung zur Sehbahn wohl noch keineswegs so klar sind, dass eine auch nur annähernd sichere Auszählung der der Sehbahn zugehörigen Fasern möglich ist. Es gehören keineswegs alle Fasern der sogenannten Sehstrar ‘ng der Sehbahn zu. Erst jüngst konnten wir in einem Falle, den Herr Vix beschrieben hat, zeigen, dass erhebliche Teile der sogenannten Sehstrahlung ausgefallen sein können, ohne dass Hemianopsie besteht. Die Sehstrahlung enthält mehr als nur die optische Bahn.

Zur Frage der Lokalisation der Augenbewegungen, die von Herrn Hürthle angeregt worden ist, möchte ich bemerken, dass neuere Reiz- versuche an Menschen doch dafür sprechen, dass das Stirnhirn hier von Bedeutung ist. Ob dies die einzige lokalisatorisch für die Augenbewe- gungen in Frage kommende Hirnpartie ist, scheint mir noch nicht er- wiesen. Ich erinnere an die Wernicke’schen und andere Beobachtungen, nach denen das untere Scheitelläppchen von lokalisatorischer Bedeutung ist. Was den Versuch des Herrn Vortr. anlangt, die corticale Lokalisation der Macula in der Calcarina zu erweisen, so verkenne ich nicht die Bedeutung der von inm gezeigten symmetrischen Maculadefekte, doch fehlt es mir, wenigstens nach dem Teil seiner Ausführungen, den ich gehört habe, an einer Erklärung dafür, dass auch nach ausgedehnten doppelseitigen Herden im Marklager des Hinterhauptlappens und bei doppelseitiger Hemianopsie das maculäre Sehen erhalten bleibt. Man muss da schon einen recht wunderlichen Verlauf der zentralen maculären Sehbahn an- nehmen. Vor allem möchte ich aber darauf hinweisen, dass dem Ver- such einer vollständigen Projektion der Peripherie in der Hirnrinde die- selben Schwierigkeiten auch auf allen anderen Gebieten der Hirnpathologie uns entgegentreten. Ich erinnere Sie an die zentralen Hemiplegien, wo wir auch bei doppelseitigen Herden das Erhaltenbleiben bestimmter Extremitätsbewegungen sehen. Auch das Vorkommen einer vollständigen zentralen Taubheit durch doppelseitige Schläfelappenherde ist meines Wissens noch nicht durch einwandfreie Befunde erwiesen. Der Wer- nicke-Friedländer’sche Fall ist nicht einwandfrei. Ich kann mich noch immer des Gedankens nicht entschlagen, dass den pbylogenetisch älteren Teilen des Mittelhirns auch heute noch eine funktionelle Mit- wirkung zukommt, die zur Erklärung dieser bei Hirnmantelherden übrig-

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 33

gebliebenen Funktionsreste in Anspruch genommen werden kann, viel- leicht nicht in dem Sinne, dass sie ganz selbständig bewusste Empfin- dungen vermitteln, aber doch in dem Sinne, dass sobald überhaupt nur Reste von Verbindung mit ihrer Projektionsrinde bestehen, dass dann die erwähnten Funktionsreste bestehen bleiben.

Hr. Uhthoff fragt den Vortragenden, wie er sich die Lage der Nervenbahnen denkt, welche in Berücksichtigung der Tierexperimente von Munck u. a. Augenbewegungen auslösen von der Gegend des Hinter- hauptlappens resp. des Sehzentrums aus.

Klinischer Abend vom 4. März 1910.

Hr. Küttner: 1. Vorstellung von drei operierten Rückenmarkstumoren, darunter zwei Fälle von Tumor der Cauda equina.

Fall1. Myxomatöses Endotheliom der Cauda equina.

28 jährige Frau, die seit 5/, Jahren über Schmerzen an der Aussen- seite des Oberschenkels, in den Knien und im Kreuz klagte, auch be- standen zeitweilig Schmerzen in der Gegend des Hüftgelenks. Bei Er- sehütterung, z. B. Wagenfahrten, steigerten sich die Kreuzschmerzen.

Die Untersuchung ergab an den inneren Organen einen normalen Befund mit Ausnahme einer beweglichen Retroflexio uteri. Mitunter bestand Ischiasphänomen, die Ischiadieusdruckpunkte waren aber nicht nennenswert empfindlich. Die Sehnenreflexe an den unteren Extremitäten waren lebhaft, Clonus bestand jedoch nicht. Bei Beugung des Rumpfes nach vorn fiel eine Steifigkeit der Lendenwirbelsäule auf. Dabei war die Wirbelsäule weder direkt noch auf Stauchung schmerzempfindlich. An den Röntgenbildern liess sich nivsts Abnormes erkennen. Auch fanden sich am Nervensystem ausser den angeführten lebhaften Reflexen gar keine pathologischen Erscheinungen, insbesondere auch nicht der Sensibilität.

Da die Patientin infolge der neuralgiformen Schmerzen selbst mit Morphium weder bei Tag noch in der Nacht schlafen konnte, verwiesen wir sie wegen des Verdachts eines intraspinalen Prozesses an die Kgl. Nervenklinik, zumal für die Spondylitis, die am ehesten in Betracht ge- kommen wäre, weder klinisch noch röntgenologisch Anhaltspunkte vor- handen waren.

In der Kgl. Nervenklinik (Herr Bonhoeffer) wurde nun bei der Lumbalpunktion eine zitronengelbe Flüssigkeit mit erhöhtem Eiweissgehalt und vermehrter Lymphocytenzahl gewonnen, ein Befund, wie er genau einem vor 2 Jahren bei einem Patienten mit Caudatumor erhobenen (Fall 2) entsprach. ÖObne dass weitere Symptome in die Er- scheinung getreten wären, entschloss man sich im Einverständnis mit der Patientin zu einer Probefreilegung der Cauda equina, da der Ver- dacht eines Tumors in dieser Gegend durch den Liquorbefund an Be- rechtigung zugenommen hatte.

Am 10. Februar wurde die Laminektomie im Bereich der ganzen Lendenwirbelsäule ausgeführt. Bei der Punktion des freigelegten Dura- sackes in Höhe des 4. Lendenwirbels wurden nur wenige Kubikzentimeter einer gelben Flüssigkeit aspiriert. Nach Eröffnung der Dura kam zwischen den Caudafasern ein dunkelblauer feiner Strang zu Gesicht, der in Höhe des oberen Randes des 2. Lendenwirbels in einen zwischen den Wurzeln vollkommen verschwindenden Tumor überging. Der Tumor reichte bis ans obere Ende des 1. Lendenwirbels, er war gut abgekapselt und liess sich stumpf gut auslösen. Allerdings mussten dabei zwei

Schlesische Gesellsch. f. vaterl, Kultur, 1910. 1. b)

34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Wurzeln, die in grösserer Ausdehnung mit dem Tumor verwachsen waren, wie es am Präparat auch zu erkennen ist, mit entfernt werden, ebenso der lange dunkle Strang, der bis in den Kreuzbeinkanal herabreichte. Es scheint sich aber dabei um sensible Wurzeln gehandelt zu haben, da bei ihrer Durchtrennung Zuckungen nicht beobachtet wurden und auch nachher von dieser Seite keine Ausfallserscheinungen auftraten.

Der Wundverlaaf war vollkommen glatt. Von seiten des Nerven- systems konnte zuerst eine schlaffe Parese des linken Beines festgestellt werden, die wohl auf die bei der Operation nicht vollkommen zu ver- meidende Blutung in den Duralsack zurückzuführen sein dürfte. Die Bewegungsfähigkeit hat sich inzwischen in sämtlichen Muskelgebieten wieder eingestellt. Die Patientin kann noch nicht spontan Urin ent- leeren. Die Defäkation ist ungestört. Von Sensibilitätsstörungen konnte nur eine kleine anästhetische Zone um die Analöffoung und am Damm nachgewiesen werden (Demonstration der Patientin und des Präparates). I

Die mikroskopische Untersuchung des in frischem Zustand über dattelgrossen Tumors ergab ein scheinbar myxomatös degeneriertes Stütz- gewebe neben Zellanhäufungen, die vorwiegend im Anschluss an die Gefässendothelien sich wohl entwickelt haben. Dem mikroskopischen Bilde nach macht der Tumor keinen ganz benignen Eindruck, da er aber abgekapselt und mit Sicherheit in toto entfernt ist, so besteht- eine berechtigte Aussicht auf vollkommene Wiederherstellung der Patientin.

Fall 2. Zellreiches Fibrom der Cauda equina.

40 jähriger Buchhalter, von Herrn Bonhoeffer zur Operation über- wiesen.

Vor 4!/, Jahren Lungenentzündung. bald danach Schmerzen in beiden Fusssohlen, als ob Pat. auf Nadeln ginge. Anfang Oktober 1907 dumpfes Gefühl in der linken Hüfte, das dann in die rechte Hüfte und ins Kreuz zog. Vier Wochen lang sehr heftige, bohrende und schneidende Schmerzen in der linken Hüfte, manchmal auch rechts, sowie im Kreuz und in der Steissbeingegend. Mitte Februar 1908 fühlte sich der Pat. auf den Beinen schwach. Am 16. oder 17. II. 1908 knickte er plötzlich zusammen und fiel hin. Seitdem bettlägerig.

Pat. muss sich beim Gehen rechts auf einen Stock stützen. Gang sehr unsicher. Parese der unteren Extremitäten, links mehr als rechts. Patellar- und Achillessehnenreflex fehlen beiderseits, Fusssohlenreflex links schwächer als rechts, beiderseits Fussbeugung und Plantarflexion der grossen Zehe. Cremasterreflex links erheblich schwächer als rechts. Bauchdeckenreflex lebhaft und auf beiden Seiten gleich. Keinerlei Sensibilitätsstörungen. Blasen- und Mastdarmfunktion ungestört.

Lumbalpunktion ergibt zwischen 3. und 4. Lendenwirbel klare, goldgelbe Flüssigkeit. Vermehrung der Lymphoeyten und starker Fibrinreichtum des Liquors. Die Paresen nehmen immer mehr zu, so dass Pat. nicht mehr allein am Stock gehen kann. Keine Entartungs- reaktion.

Die Diagnose lautete auf Tumor der Cauda equina.

Bei der Operation wurde die Dura im Bereiche des 2., 3. und 4. Lendenwirbels freigelegt. In der Höhe zwischen 2. und 3. fand sich ein Tumor, der die Caudastränge auseinanderdrängte und mit ihnen und der Dura verwachsen war (Demonstration des Präparates und einer Ab- bildung des Operationsbefundes). Entfernung mit Resection zweier Caudastränge und der Dura in der Ausdehnung eines Fingernagels. Der Tumor ist dattelgross, wird radikal entfernt und erweist sich histo- logisch als zellreiches Fibrom. Glatte Heilung.

I. Abteilung. Medizinische Sektion.

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Pat. wird 2 Jahre nach der Operation als vollständig gesunder und in verantwortungsvollem Beruf tätiger Mann vorgestellt!).

Diese beiden Fälle von völlig abgekapseltem, alle Aussichten für eine dauernde Heilung bietendem Tumor der Cauda equina widersprechen dem schlechten Rufe, in dem diese Geschwülste stehen. In der Tat handelt es sich meist um maligne, von den Wirbeln ausgehende, sekundär auf das Rückenmark und seine Häute übergreifende Tumoren. Cassirer fand, dass unter 5l Fällen, die er aus der Literatur zu- sammenstellte, höchstens in 6—8 Fällen (15 pCt.) die Möglichkeit einer völligen Exstirpation vorhanden war; nach seiner Berechnung erreicht der Prozentsatz der bisher erzielten Dauerheilungen für die Tumoren der Cauda equina noch nicht 10 pCt. Unsere Beobachtungen sprechen dafür, dass es auch Geschwülste der Cauda gibt, die sich von den übrigen Rückenmarkstumoren ihrem ganzen Charakter und ihrer Prognose uach nicht unterscheiden. Wahrscheinlich sind sie häufiger als ange- nommen wird, wenigstens hat Vortr. noch einen dritten Fall gesehen, in dem aber bisher die Operation verweigert wurde.

Von grosser diagnostischer Bedeutung scheint das zi- tronen- bis goldgelbe, eiweiss- und Iymphocytenreiche Punktat bei der Lumbalpunktion zu sein, welches in Fall I mangels anderer sicherer Symptome für die Indikation zur Operation ausschlaggebend war.

Fall3. Psammom in Höhe des 4. Brustwirbels!).

41 jähriges Fräulein, von Herrn v. Strümpell zur Operation über- wiesen.

Die Diagnose war auf eine intravertebrale, aber extramedulläre Herderkrankung, und zwar auf Rückenmarkstumor gestellt worden. Das Verschwinden der Bauchdeckenreflexe wies darauf hin, dass die obere Grenze des Herdes mindestens das 8. Dorsalsegment erreiche, die segmentär begrenzte Empfindungsstörung entsprach ebenfalls dem 8.—-9. Dorsal- segment. Nach dem Sherrington’schen Gesetz musste die obere Grenze des Herdes mindestens das 7., wenn nicht das 6. Dorsalsegment erreichen.

Demgemäss wurde die Laminektomie im Bereiche des 3.—5. Brust- wirbels in typischer Weise ausgeführt und unter dem 4. Wirbelbogen der intradural, aber extramedullär gelegene, mantelgrosse Tumor ge- funden, der sich histologisch als Psammom erwies. Er hatte das Mark von vorn und links nach rechts und hinten verdrängt, war gut abge- kapselt und liess sich im Gesunden entfernen. Die Heilung erfolgte ohne Störung, die anfangs heftigen nervösen Reizerscheinungen verloren sich rasch. Die trotz aller Vorsicht aufgetretene, durch den Sitz des Tumors links vorn bedingte operative Schädigung der linksseitigen Hinter- stranggebiete mit ausgesprochener Störung der Lageempfindung ging bald zurück.

Die Patientin wird 21/, Jahr nach der Operation iu voller Gesund- heit vorgestellt. Sie gebt ihrem Berufe als Lehrerin ohne jede Störung nach.

2. Hr. Küttner:

Bericht über 22 in den letzten $ Monaten ausgeführte Nierenoperationen.

Am Schluss des vorigen Semesters war ich in der Lage, Ihnen über 68 Nierenoperationen zu berichten, die in den ersten 2 Jahren meiner hiesigen Tätigkeit ausgeführt worden sind. Ich möchte Ihnen nun heute kurz über die seitdem operierten Fälle referieren. Es wurden in den letzten 8 Monaten von chirurgischen Erkrankungen der Niere und des

1) Vgl. diese Wochenschr., 1909, No, 2.

36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Harnleiters 33 behandelt und bei 20 Patienten 22 Operationen ausgeführt. Wir haben also in 23/; Jahren 116 chirurgische Nierenaffektionen be- obachtet und90Nierenoperationenvorgenommen. Bei den nichtoperier- ten Patienten war entweder das Leiden chirurgisch nicht mehr angreifbar, oder der Eingriff wurde von den Patienten abgelehnt, bei den übrigen Nichtoperierten wurde eine konservative Therapie eingeschlagen. Bei den von mir eigenhändig ausgeführten 80 Operationen habe ich nur einen Todesfall zu beklagen, einen an Pneumonie verstorbenen 73 Jahre alten Herrn mit subphrenischem Abscess nach Niereneiterung betreffend, was einer Mortalität von 1,25 pCt. entspricht.

Angeborene Missbildungen haben wir in 3 Fällen gesehen. Der eine Fall ist noch in unserer Behandlung. Es handelt sich um eine doppelseitige Cystenniere, bei der die schwerer veränderte Seite freigelegt und ein Stück der Cystenniere entfernt und die übrigen zugänglichen Öysten dieser Seite eröffnet wurden (Demonstration der Patientin und des Präparates). Den anderen Fall hat Ihnen hier Herr Gottstein vorgestellt, es war ein Mädchen mit hymenal mündendem überzähligem Ureter. Bei der Patintin, die vorher unter beständigem Harnträufeln zu leiden hatte, habe ich den überzähligen Ureter in die Blase implantiert und dadurch volle Heilung erzielt. Beim dritten Fall lag eine Hypoplasie, man könnte fast sagen Aplasie der einen Niere vor; auf den Fall komme ich bei den Steinnieren zu sprechen.

Von Wandernieren wurden 3 Gegenstand klinischer Behandlung, eine Patientin lehnte den Eingriff ab, in 2 Fällen wurde die Nephropexie ausgeführt. In dem einen dieser beiden Fälle war es wiederholt zu den Erscheinungen der intermittierenden Hydronephrose gekommen.

Von den 4 Fällen von Sackniere sind 3 operiert worden, in 2 Fällen lag eine Pyonephrose vor, von denen eine Patientin sich noch in Be- handlung befindet (Demonstration der Patientin und des Präparates). In einem 3. Fall von Pyonephrose wurde die Operation abgelehnt.

Der 4. Fall betrifft eine Hydronephrose von Kopfgrösse, bei der in- folge völligen Schwundes des Nierenparenchyms die Nephrektomie aus- geführt wurde (Demonstration des Patienten und des Präparates).

Steinnieren wurden in 5 Fällen operiert, in einem 6. Fall von Ureterstein wurde ein Eingriff abgelehnt. Die Art des Eingriffes bei Nierensteinen machen wir abhängig von dem Sitz des Steines und von dem Zustand der Niere. So waren wir in zwei Fällen genötigt, die Nephrektomie vorzunehmen. Selbstverständlich überzeugten wir uns vor- her von der Leistungsfähigkeit der gesunden Seite durch funktionelle Nierenuntersuchung.

Bei dem einen Patienten war die Niere ganz geschrumpft und von Abscessen durchsetzt, und es wäre zwecklos gewesen, den Versuch ihrer Erhaltung zu machen. Der Patient wurde geheilt (Demonstration des Präparates).

Die zweite Patientin hat ebenfalls die Nephrektomie gut überstanden. Sie war vor 21/, Jahren in die Klinik wegen Magenbeschwerden aufge- nommen worden. Es fand sich damals ein den Pylorus total stenosierendes Uleus, das durch Gastroduodenostomie ausgeschaltet wurde. Die Patientin hatte sich seitdem gut erholt. Um die Weihnachtszeit 1909 bekam sie einen Schmerzanfall im Leib und Rücken, der bald wieder vorüberging. Als sie nun die Klinik wieder aufsuchte, fühlte man am Pylorus eine Resistenz und die chemische Magenuntersuchung ergab eine starke Hyper- acidität, die Salomon ’sche Probe fiel positiv aus. Da nun die Patientin seit der Magenoperation an Gewicht wesentlich zugenommen hatte, die Schmerzen nur ein einziges Mal kolikähnlich aufgetreten waren, so lag der Verdacht einer Nierensteinaffektion nahe, zumal der Urin Eiweiss und Eiterkörperehen enthielt. Die Röntgenaufnahme zeigt einen grossen,

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hirschgeweihähnlich verzweigten Nierenstein. Bei der Operation sah man die Niere den grossen Stein als dünnen schlaffen Sack umgeben, dessen Erhaltung ein Fehler gewesen wäre. Patientin hat den Eingriff glatt überstanden, die andere Niere secerniert reichlich, der filtrierte Urin ist jetzt eiweissfrei (Demonstration der Patientin, des Präparates und des Röntgenbildes).

Der Patient, den ich Ihnen jetzt zeige, hat gleichfalls eine kompli- zierte Anamnese. Vor 6 Jahren war er wegen eitriger Appendieitis anderweitig operiert worden. Ein halbes Jahr nach der Operation stellten sich kolikartige Schmerzen in der rechten Seite ein. Es entwickelte sich eine Narbenhernie, und als der Patient im vorigen Jahre zum erstenmal die Klinik aufsuchte, wurde, da an den Abdominalorganen und im Urin nichts Pathologisches nachweisbar war, angenommen, dass es sich um Adhäsionsbeschwerden im Anschluss an die damalige Operation bzw. die Narbenhernie handle und deshalb die Radikaloperation der letzteren vorgenommen. Nach einiger Zeit stellte sich der Patient wieder vor, da sich die Beschwerden nicht verloren hatten. Da der Verdacht einer Nierenaffektion immer wieder auftauchte, wurde die cystoskopische Untersuchung und eine Röntgenaufnahme der rechten Niere veranlasst, die aber ein vollkommen negatives Resultat zeitigten. Erst als der Patient sich im Januar d. J. wieder vorstellte, gelang es, im Röntgenbild das Vorhandensein eines Nierensteins nachzuweisen. Die Operation bot grosse technische Schwierigkeiten, da das perinephritische Gewebe stark entzündlieh verändert und narbig geschrumpft war, wohl infolge der voraufgegangenen eitrigen Appendieitis. Erst nach grossen Anstrengungen war es möglich, die Niere zu Gesicht zu bekommen, aber nur in entkapseltem Zustand. Nun aber konnte man den Stein in der Niere nieht fühlen; da ausserdem der Patient, ein korpulenter Gastwirt, etwas kollabierte und bei Ineision in die entkapselte Niere eine stärkere Blutung zu gewärtigen war, wurde von weiterem Vorgehen Abstand genommen und die Niere durch Tamponade vorgelagert. Durch genaue Röntgenaufnahmen bestimmten wir dann die Lage des Steins, und es gelang in einer zweiten Sitzung, ihn ohne erhebliche Schwierigkeiten durch eine kleine Ineision aus der Niere zu entfernen, die durch Catgut- naht wieder verschlossen wurde. (Demonstration des Patienten, der Röntgenbilder und des Präparats.)

Am günstigsten liegen die Fälle, bei denen der Nierenstein im Nierenbecken liegt; bier können wir, wie in diesem weiteren Falle, durch eine einfache Ineision des Nierenbeckens, die Pyelolithotomie, den Stein entfernen. Das Nierenbecken wird durch eine zweischichtige Catgutnaht unter Vermeidung der Schleimhaut wieder verschlossen, und auch dieser Fall hat wieder gezeigt, eine wie grosse Neigung das Nieren- becken zur prima intentio besitzt. (Demonstration der geheilten Patientin und des Präparats.)

Der letzte Fall von Nierenstein war vor 4 Jahren wegen mehrtägiger Anurie von Herrn Garre in der Klinik hier nephrostomiert worden. Es stellte sich dann wieder eine genügende Funktion der Niere ein. Vor einem Jahr bemerkte die Patientin bei der Urinausscheidung den Abgang kleiner Concremente, 4 Tage vor der vor 14 Tagen er- folgten Aufnahme in die Klinik steliten sich nun wiederum heftige Schmerzen in der rechten Rückenseite ein mit Temperatursteigerung und der Entleernng von nur spärlichen Tropfen Urin. Die Patientin wurde in urämischem Zustande mit völliger Anurie eingeliefert; die sofort angefertigten Röntgenbilder ergaben Schatten im Bereich der Niere, einen kleineren etwas tiefer und einen dritten Steinschatten im Becken. Es wurde sofort die rechte Niere freigelegt; sie war stark eyanotisch und an der Oberfläche von zahlreichen miliaren Abscessen

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durchsetzt. Durch Ineision der Niere gelang die Entfernung eines Nierenbeckensteins; es wurde ein Drain eingelegt, um auf diese Weise den Abfluss des Urins zu ermöglichen, da der Zustand der Patientin ein Vorgehen auf die beiden, wahrscheinlich im Ureter sitzenden Steine nicht gestattete. Die erwartete Urinsecretion trat nicht auf, und der Zustand wurde noch bedrohlicher, so dass wir uns am gleichen Abend noch entschlossen, auch die linke Seite freizulegen. Hier konnte aber trotz genauesten Nachsuchens die Niere nicht gefunden werden; dagegen sah man ganz deutlich den Ureter nach oben ziehen, der stellenweise etwas erweitert war und ungefähr in Höhe des 1. und 2. Lendenwirbels in ein Gebilde einmündete, das als rudimentäre Niere anzusprechen war. Das Gebilde hatte Nierenform, war aber nur 3—4 cm lang, von Blei- stiftdieke, der Hilus bzw. die Einmündungsstelle des Ureters war auf der lateralen Seite. Es lag also hier eine congenitale Hypoplasie mit Dystopie der Niere vor, und zwar in so hohem Grade war das Organ in seiner Entwicklung zurückgeblieben, dass von einer Funktion nicht die Rede sein konnte. Die andere kranke Niere hatte somit allein die ganze secretorische Funktion zu erfüllen, und es ist verständlich, dass durch den Verschluss des Nierenbeeckens und des Ureters sich diese wiederholten mehrtägigen Anfälle von Anurie einstellen konnten. Die Nephrostomie hat sich nachträglich dann doch als wirksam erwiesen, denn bereits am nächsten Tage fand eine reichliche Secretion statt, die urämischen Symptome sind zurückgegangen und seitdem nicht wieder aufgetreten. Auch hat sich inzwischen schon gelegentlich ein Teil der Urinmenge auf dem Wege durch die Blase entleert.

Die 4 beobachteten Fälle von Pyelitis reagierten auf die interne Behandlung in günstiger Weise, so dass keine Veranlassung zu einem chirurgischen Eingreifen vorlag.

Von 8 Fällen von Nierentuberkulose kamen 5 nicht zur Operation: bei den meisten lag eine ausgedehnte anderweitige Tuberkulose vor; ein Teil lehnte die Operation ab. In 3 Fällen ist die Nephrektomie ausgeführt worden.

Die chronischen Entzündungen haben neuerdings häufiger die Anregung zu operativen Maassnahmen gegeben als früher, und hier sind es besonders die Nierenblutungen, deren Aetiologie teilweise noch im Dunkel liegt, die aber durch die von Edebohls empfohlene Ent- kapselung günstig zu beeinflussen sind. In dem einen Falle lag wohl eine solche essentielle Nierenblutung vor, die während der Beobachtungs- zeit in der Klinik sistierte, so dass bei der normalen Beschaffenheit des Urins wir uns zunächst nicht zu einem Eingriff entschlossen, vielmehr den Patienten noch in Beobachtung behalten. In einem zweiten Falle litt der Patient an in grösseren Intervallen auftretenden linksseitigen Nierenkoliken mit heftigen Blutungen. Es wurde bei intakter rechter Niere eine Probeineision ausgeführt und, da kein pathologischer Befund erhoben wurde, die bewegliche Niere mit zwei Catgutnähten ohne Blutung an der 12. Rippe fixiert.

Am Abend war der Verband durchgeblutet, der Patient verfiel immer mehr und starb in der Nacht. Die Section ergab makroskopisch und mikroskopisch an der Niere keine Veränderungen; in der Radix mesenterii sass ein altes, nicht von der jetzigen Operation stammendes, teilweise schon organisiertes Hämatom neben dem Colon descendens, ein ebenfalls altes im Musculus quadratus lumborum und eines im Musculus iliacus, ein frisches ausgedehntes Hämatom lag retroperitoreal hinter dem Colon descendens. Die Deutung des Falles dürfte wohl dahin gehen, dass die Nierenblutungen bedingt waren durch eine renale Hämophilie, wie sie zuerst von Senator beschrieben wurde. Sie tritt bei Personen auf, bei denen von Hämophilie sonst nichts beobachtet werden kann, und die von

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eigentlich entzündlichen Veränderungen an den Nieren nichts aufweisen, wie es auch in dem geschilderten Falle war. Die retroperitonealen Blutungen, denen der Patient schliesslich ja auch erlegeu ist, dürften verglichen werden mit den Fällen von Massenblutungen in das Nieren- lager, auf die Wunderlich zuerst hingewiesen hat und die neuerdings in der Literatur häufiger beschrieben worden sind. Da nirgends ein grösseres Gefässlumen als Quelle der Blutung nachgewiesen werden konnte, so sind auch diese wiederholten, spontanen, pararenalen Blutungen als hämophile Erscheinung aufzufassen.

In dem nächsten Falle liegt eine chronische renale Hämaturie vor, und zwar stammt die Blutausscheidung aus beiden Nieren, auch liess der Urin von beiden Seiten Beimengungen von Cylindern und Epithelien erkennen. Auf der einen Seite glaubte man eine vergrösserte Niere zu fühlen. Tuberkelbaeillen konnten nicht nachgewiesen werden, auch der Tierversuch ist negativ ausgefallen. Wir nahmen deshalb an, dass es sich um eine chronische doppelseitige, hämorrhagische Nephritis handelt und glaubten uns berechtigt, bei der schlechten Prognose, die dieser Erkrankung zukommt, den Versuch mit der Edebohls’schen Nieren- entkapselung zu machen und haben zuerst die verhältnismässig bessere Seite operiert. Der Blutgehalt des Urins ist seitdem geringer, vor allen Dingen hat sich die Patientin durch den Eingriff ganz eklatant erholt, und wir wollen nun in einer zweiten Sitzung auf der rechten Seite in gleicher Weise vorgehen. (Demonstration der Patientin.)

Bei den drei Nierentumoren handelt es sich in zwei Fällen um kindliche Tumoren, von denen der eine sich bei der Operation infolge ausgedehnter Drüsenmetastasen im Abdomen als inoperabel erwies. Die mikroskopische Untersuchung einer Drüse ergab ein Angiosarkom. Das andere Kind, ein 6jähriger Knabe, konnte mit Erfolg operiert werden, hier lag ein Mischtumor vor (Demonstration des Präparates). Der letzte Fall bot grosse operative Schwierigkeiten. Wir hatten einen linksseitigen Nierentumor diagnostiziert und uns zuerst zu einer Probe- freilegung der gesunden Seite entschieden. Trotz sorgfältigen Suchens gelang es nicht, auf der rechten Seite eine Niere nachzuweisen. In einer zweiten Sitzung wurde dann durch Laparotomie der rechte Ureter auf- gesucht, der nach oben in einen vollkommen cystischen Tumor neben der Wirbelsäule einmündete. Nach Verschluss der Laparotomiewunde habe ich dann die kranke linke Seite freigelegt und fand einen in der Mitte der Niere nach der Konvexität zu stark vorspringenden, gut ab- gekapselten Tumor. In Anbetracht des schlechten Zustandes der rechten Niere und mit Rücksicht darauf, dass der Tumor gut zu enueleieren, von der Niere selbst an beiden Polen noch sehr viel funktionsfähiges Gewebe vorhanden war, beschränkte ich mich auf die Enucleation des Tumors, der sich mikroskopisch als Hypernephrom herausstellte. Auch dieser Patient hat die Operation gut überstanden. (Demonstration des Präparates.)

3. Hr. Kütiner: Operierte enorme Elephantiasis seroti.

23 jähriger Mann mit mehlsackgrosser Elephantiasis seroti. Patient war aufs äusserste durch Lymphorrhöe und Erysipele erschöpft. Ener- gische Behandlung der Herzschwäche. Dann Operation mit Erhaltung von Penis und beiden Hoden. Urethra völlig verschlossen, der Urin hatte sich aus einer Anzahl Fisteln entleert. Mühsame Wegsammachung der Harnröhre und Einlegung eines Dauerkatheters. Vorstellung des ausserordentlich erholten Mannes, der nach 6 jähriger Bettruhe wieder auf den Beinen ist, des Präparates und der Moulage.

4. Hr. Küttner: Transplantation eines Hüftgelenkes aus der Leiche. Bei dem 31 jährigen Manne musste wegen Chondrosarkoms das obere Femurdrittel einschliesslich des Hüftgelenkes unter Momburg’scher

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Blutleere reseziert werden. Sofortige Transplantation des gleichen Knochens und Gelenkes von einem nach Operation eines Hirntumors im Coma Verstorbenen, der dem Sektionsbefunde nach im übrigen gesund war. Der Knochen wurde 11 Stunden nach dem Tode entnommen, in Kochsalzlösung, der Chloroform zugesetzt war, aufgehoben und 24 Stunden später implantiert. Glatter Heilungsverlauf. Patient wird 14 Tage nach der Operation vorgestellt. (Demonstration des Röntgenbildes.) Das end- gültige Resultat ist abzuwarten.

Hr. Ludloff stellt einen Fall von Hypotonie und einen Fall von Luxation des Naviculare der Handwurzelknochen vor.

Das 12 jährige Mädchen ist für sein Alter sehr gross, ungemein schlank und mager. Es fallen die Flachheit des Thorax, die langen unteren Extremitäten, die hohlen Füsse und die überaus. langen, schlanken Hände auf. Das Gesicht hat einen eigentümlichen Ausdruck. Am Hals fehlt die Schilddrüse. Der Gang ist ungeschiekt und unsicher. Romberg’s Phänomen fehlt. Die Mutter bringt die Patientin wegen des unsicheren Ganges; angeblich soll dieselbe schon früher an Plattfüssen behandelt worden sein. Anamnestisch hebt die Mutter hervor, dass das Kind sehr spät sitzen und sehr spät laufen gelernt hat. Es hat lange gedauert, ehe das Kind im Sitzen den Kopf richtig halten lernte. Die geistigen Fähigkeiten stehen weit hinter denen anderer Mädchen dieses Alters zurück. Pat. hat schreiben gelernt, malt aber grosse ungeschickte Buch- staben. Die Untersuchung ergab ausser den obenerwähnten Merkmalen eine auffallende Gelenkerschlaffung und Muskelschwäche an den Armen und an den Füssen. Pat. kann mit aller Bequemlichkeit die Arme so verdrehen, dass sie dieselben auf den Rücken legt und nun mit der rechten Hand z. B. über die linke Schulter greift. Die Hände sind in den Handgelenken so weit überstreckbar, dass die Handrücken fast die Dorsalseite der Unterarme erreichen; die Unterschenkel können ebenfalls im Kniegelenk überstreckt werden. Bei mässiger Ueberstreckung tritt eine Subluxation des Unterschenkels nach hinten ein. Die Füsse können ebenfalls so weit dorsal flektiert werden, dass die Fussrücken fast die Vorderfläche des Unterschenkels berühren. In den Hüftgelenken fällt vor allem übertriebene Abduktionsmöglichkeit auf, während die Flexion bei gestreckten Extremitäten nicht ganz so weit getrieben werden kann, wie z. B. bei Tabikern. Die verschiedenen Reflexe zeigen nichts Ab- normes.

Wenn man dieses Krankheitsbild als Hypotonie bezeichnet, ist damit noch nicht allzuviel gesagt.

Förster hat in seiner Arbeit: „Der atonisch-astatische Typus der infantilen Cerebrallähmung“ Fälle beschrieben, die hiermit eine gewisse Aehnlichkeit haben. Vielleicht ist unser Fall hier unterzubringen.

Diskussion.

Hr. O0. Förster: Ich habe den soeben von Herrn Ludloff vor- gestellten Fall leider nicht selbst untersucht und möchte daher meine Ansicht vorläufig unter einiger Reserve zum Ausdruck bringen. Aber es scheint mir, als ob dieser Fall tatsächlich grosse Aehnlichkeit mit den von mir beschriebenen Fällen der atonisch-astatischen infantilen Cerebrallähmung darbietet. Erstens bietet er dieselben extremen Grade von Hypotonie in den meisten Muskelgruppen der Beine, des Rumpfes und der Arme, und zweitens bestehen auch jetzt noch leichte Störungen in der Gleichgewichtserhaltung beim Stehen, Gehen, Aufstehen usw. Diese letzteren Störungen scheinen aber, wie Herr Ludloffja schon betont hat, früher erbeblich grösser gewesen zu sein, und es scheint ein voll- kommener Verlust der statischen Muskelleistungen, die der Kopfhaltung, dem Sitzen, dem Stehen usw. zugrunde liegen, bestanden zu haben, ganz analog der schweren Astasie, die in meinen Fällen bestanden hat.

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Ich habe ja auch schon bei meinen Fällen die allmähliche Besserung der anfangs erwähnten Astasie betont, und unter dem Gesichtspunkte des so beträchtlichen Ausgleiches, den dieselbe in dem vorliegenden Falle erfahren hat, interessiert mich dieser letztere ganz besonders. Die Zugehörigkeit des vorliegenden Falles zu der grossen von Freund unter dem Kollektivbegriff der infantilen Cerebrallähmung zusammen- gefassten nosographischen Gruppe, dürfte auch wohl gegeben sein durch die Tatsache, dass der Zustand angeboren ist, ferner, dass noch jetzt eine Imbeeillität besteht. Ob noch weitere cerebrale Merkmale vor- handen sind oder waren, wäre interessant festzustellen. Bezüglich der Frage der eventuellen Lokalisierbarkeit des atonisch-astatischen Sym- ptomenkomplexes im Stirnhirn, sowie über die Verwandtschaft desselben mit dem cerebellaren Typus möchte ich auf meine Arbeit verweisen. Ich möchte hier nur aus dieser erwähnen, dass ich früher solche Fälle immer für echt cerebellare Störungen gehalten habe, bis ich durch die Autopsie eines anderen belehrt wurde.

Hr. Bonhoeffer: Das Mädchen zeigt bei der neurologischen Untersuchung keine Symptome, die auf eine überstandene cerebrale Kinderlähmung hinweisen. Ueberhaupt ist der Befund, abgesehen von der Hypotonie und den wohl als Degenerationssymptom aufzufassenden Proportionsstörungen der Gliedmaassen in neurologischer Hinsicht negativ. Es ist in birnlokalisatorischer Hinsicht wohl kaum möglich, irgend etwas Bestimmtes auszusagen. Vielleicht kann man an etwas Cerebellares denken. Die Hypotonie scheint mir übrigens doch eine ganz allgemeine auch auf das Hüftgelenk sich erstreckende zu sein, wie die Fähigkeit des Mädchens beweist, in Rückenlage die im Knie gebeugten Beine seitlich bis zur Horizontalen auf die Ebene der Unterlage zu legen.

Hr. Ludloff: Der andere demonstrierte Fall, die Luxation des Navienlare, zeichnet sich durch seine Seltenheit aus.

Es handelt sich um einen Artisten von ca. 30 Jahren, der im November bei seinen Produktionen am Trapez dadurch verunglückte, dass der eine Strick des Trapezes riss. Patient stürzte 9 Meter herunter auf den Fussboden auf beide Hände und Füsse. Er fühlte sofort heftige Schmerzen und wurde mit geschwollenen und deformierten Handgelenken in die Klinik eingeliefert.

Die Untersuchung an der rechten Hand ergab deutlichen Schmerz- punkt in der Gegend des Navieulare, so dass hierauf ein Bruch des Kahnbeines festgestellt werden konnte.

Die linke Hand dagegen zeigt, wie Sie hier an dem Gipsguss sehen, eine leichte radikale Adduktion und einen Vorsprung in der Gegend des Radiusendes an der Volarseite. Aus dieser Radialadduktion und dem scharfen Vorsprung wurde die Diagnose auf typische Radiusfraktur ge- stellt. Obgleich mit der Diagnose Radiusfraktur nicht übereinstimmte, dass die Stellung ä la fourchette nicht ausgesprochen war. Die aufge- nommenen Röntgenbilder bestätigten einerseits die Diagnose an der rechten Hand, Bruch des Kalınbeines, überraschten uns aber an der linken Hand. Wie Sie aus dem Röntgenbilde sehen, gehört der vor- springende Knochen nicht dem Radius an, sondern ist das vollständig luxierte Kahnbein, das sich fast senkrecht zum Radius aufgestellt hat. Diese reine Luxation des Naviculare ist eine seltene Verletzung. Ich habe bis jetzt in der ganzen Literatur nicht einen einzigen Fall be- schrieben gefunden, obgleich der Bruch des Navieulare und die Ver- renkung des Mondbeines sehr häufig in der letzten Zeit beobachtet worden ist. Nach eigener Erfahrung und nach den Angaben von Querveinssind die häufigsten Verletzungen der Handwurzelknöchen einer- seits Brüche des Kahnbeins und Verrenkungen des Mondbeins oder Brüche des Mondbeins oder des Kahnbeins allein. Von beiden Fällen kann ich

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Ihnen sowohl Röntgenbilder wie Patienten, die in den letzten Tagen zur Beobachtung gekommen sind, vorstellen. Es kommen diese Verletzungen viel häufiger vor, als sie diagnostiziert werden. Dagegen bleibt die Ver- renkung des Naviculare, wie mir scheint. ein Unikum. Sie scheint fast durch denselben- Mechanismus hervorgerufen zu werden, wie die Radius- fraktur. Ueber den näheren Mechanismus ist nichts bekannt. Ich er- kläre mir die Sache so, dass durch den Zug des Ligamentum carpi radiale das Naviculare herausgerissen wird aus dem Gefüge der Hand- wurzel, während die Fraktur des Naviculare durch Kompressionen des Processus styloidius in das Naviculare hinein hervorgerufen wird. Es wird in diesem Falle immer darauf ankommen, ob die Hand mehr in radialer Adduktion oder reiner Dorsalflexion übermässig beansprucht wird. Unter den anderen Röntgenbildern sehen Sie zwei, bei denen sich die Vor- stellung, dass der Processus styloideus radii das Naviculare wie einen Keil auseinandersprengt, geradezu aufdrängt.

Der weitere Verlauf des Falles gestaltete sich ebenfalls sehr inter- essant. Ich versuchte das Naviculare einzurenken; es trat auch ein scheinbares Einrenkungsgeräusch auf, und bei Ueberstreckung verschwand der vorspringende Knochen in der Tiefe. Ein aufgenommenes Röntgen- bild zeigte aber, dass die Reposition nicht gelungen war Wir ent- schlossen uns daher, operativ das Naviculare zu reponieren. Der Schnitt über die höchste Höhe des Vorsprungs parallel der Sehne des Flexor carpi radialis legte sofort das Naviculare frei. Dieses hatte sich so ge- dreht, dass die obere Spitze, das Tuberculum, proximal heruntergeklappt war, so dass es nach der Ellenbeuge schaute und zu gleicher Zeit so gedreht war, dass seine Gelenkfläche mit dem Capitatum der Vola parallel lag. Ich versuchte nun unter Leitung des Auges das verdrehte Navi- eulare zurückzudrehen und in seine Lücke hineinzupressen. Ich be- merkt, dass es nur noch an seinem unteren Ende durch straffes Binde- gewebe befestigt war. Es gelang selbst nach mehrfachen Versuchen nicht. Deshalb schnitt ich nun’ gegenüber auf den Dorsum der Hand- wurzel ein und kam auch sofort auf die Lücke zwischen den Multangula capitatum und suchte nun mit einem Knochenhaken vom Handrücken aus das Naviculare in seine Lage hineinzuziehen. Auch das gelang nicht. Da entschloss ich mich, die letzte Befestigung zu durchschneiden, löste das Naviculare vollständig los, um es aber nicht zu exstirpieren, sondern steckte es, nachdem ich es mit Kochsalzlösung abgespült hatte, von der Rückseite an seine eigentliche Stelle, und wie Sie sehen, ist der Knochen reaktionslos wieder eingeheilt.

Die Beweglichkeit der Hand ist wieder eine fast vollständig normale geworden, bis auf eine geringe Beschränkung durch die Verwachsung der Sehne des Flexor carpi radialis mit der Haut an der Stelle, wo die Haut durch das darunter liegende Naviculare etwas nekrotisch geworden war.

Die gestern aufgenommenen Röntgenbilder zeigen etwas sehr Auf- fallendes.

1. Dass an der rechten Hand der Bruch im Naviculare nicht verheilt ist, und dass das proximale Stück viel intensivere Schatten gibt als das distale.

2. An der linken Hand, dass das Naviculare an seiner richtigen Stelle liegt und sich seine Gestalt nicht verändert hat, seine Konturen sind regelmässig und scharf. Dagegen gibt es viel intensivere Schatten als die übrigen Knochen; besonders durchsichtig erscheint das benach- barte Capitatum.

Ich schliesse daraus, dass sowohl das eine Stück des frakturierten Naviculare als auch das implantierte Naviculare noch nicht vollständig normal ernährt und zum Leben erwacht sind. Mit Interesse werden wir weiter beobachten, was aus den beiden Knochen wird. Beschwerden hat

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der Patient an beiden Händen keine nennenswerten, dagegen ist es wohl kaum möglich, dass er jemals wieder als Artist am Trapez auftreten kann.

Hr. Riegner demonstrierte einen Fall von doppelter Kieferfraktur. Der Unterkiefer war auf der rechten Seite binter dem zweiten kleinen Backenzahn, auf der linken Seite am aufsteigenden Aste quer durch den Angulus gebrochen. Der Unterkiefer stand einen Finger breit vor dem Oberkiefer. Der Patient konnte den Mund nicht schliessen, da die frakturierten Stücke des aufsteigenden Astes sich ineinander eingekeilt hatten. Nach Reporierung der Bruchstücke wurde der Schrüder’sche Gleitschienenverband angelegt. Durch die Wirkung der am Öber- und Unterkiefer an starken Aluminiumbronzedrähten angelöteten Gleit- schienen wurde binnen einigen Tagen ein vollkommener Kieferschluss hergestellt. Der Patient konnte sofort nach Anlegung des Verbandes feste Nahrung zu sich nehmen.

Ferner stellte Hr. Riegner eine Patientin vor, bei welcher infolge von Tuberkulose der Unterkiefer beiderseitig exartikuliert worden war. Während der von Herrn Küttner vorgenommenen Operation wurde in das leere Kieferbett eine von Schröder angegebene Immediatprothese aus schwarzem Kautschuk eingeschoben und die Weichteile darüber ver- näht, so dass der horizontale Teil der Schiene frei in die Mundhöhle hineinragte. Die Patientin war bereits nach einigen Tagen imstande, weiche Speisen, Brot usw. zu kauen. Der ausgezeichnete funktionelle Erfolg ermutigte den Vortr., um die Zähne des Oberkiefers zur Kaufunktion besser heranzuziehen, nach etwa 10 Wochen einen metallenen, aus ver- goldeter Platinlegierung getriebenen Unterkiefer als definitiven Ersatz einzusetzen. Auf dem metallenen Kiefer wurden zwei Kronen aus Gold zur Befestigung einer Kautschukprothese aufgelötet. Bereits am dritten Tage nach Einsetzen der Prothese war die Patientin imstande, Butterbrot und kleingeschnittenes Fleisch zu kauen. Das Gewicht des Metallkiefers mit der Zahnprothese war nur 3 g schwerer als die Kautschukschiene. Vortr. glaubt, dass die Ursachen der in der Literatur erwähnten Misserfolge nach Ersatz der Mandibula, in dem Gewicht der meist aus Zion her- gestellten Prothesen zu suchen seien. Das Gewicht der Protbese dürfe der Leistungsfähigkeit der Raumuskulatur keinen Eintrag tun.

Hr. Coenen demonstriert 2 Cylindrome. Das eine war von der Tränendrüse bei einer 59 jährigen Frau vor 14 Jahren entstanden, wurde vor 7 Jabren operiert und rezidivierte dann allmählich. Wegen des Sitzes des Tumors am äusseren Teil des rechten Ueberaugenhöhlenrandes, und wegen der geringen Malignität wurde hier die klinische Diagnose auf ein von der Tränendrüse ausgegangenes Cylindrom gestellt. Die mikroskopische Untersuchung des exstirpierten Tumors bestätigte die Diagnose. Das andere Cylindrom befand sich am Oberkiefer, als ein eircumscriptes, apfelgrosses, Knochen enthaltendes Gebilde. An dem Resectionspräparat sieht man schon makroskopisch die für Cylindrome charakteristischen hyalinen Kolben, Zapfen und Cylinder. Besonders bemerkenswert ist dieses Cylindrom dadurch, dass es Knochen bildete, so dass man seine Entstehung aus einem ektodermalen und mesen- chymalen Keim annehmen muss.

Hr. Renner: Zur Nierendiagnostik.

Die reiche Fülle des uns zu Gebote stehenden Materials .an chirur- gischen Nierenerkrankungen gibt uns naturgemäss auch reiche Gelegen- heit zur Anwendung und Erprobung der differentialdiagnostisch wichtigen neueren Untersuchungsmethoden, unter denen ich speziell den Ureteren- katheterismus, die funktionellen Methoden und das Röntgenverfahren nennen will.

Es kann nicht im Rahmen der heutigen Demonstrationen liegen,

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Ihnen ein Referat über den Wert oder Unwert der einzelnen Methoden zu liefern; ich möchte Ihnen heute nur an der Hand zweier Fälle die Leistungsfähigkeit, aber auch die Grenzen in manchen Fällen zeigen.

Im ersten Falle handelt es sich um eine 29jährige Frau, 1 Jahr vorher an fieberloser Spitzenaffektiou ärztlich behandelt, und damals in bezug auf die Bauchorgane für gesund befunden. Während der ersten Hälfte einer Schwangerschaft erkrankte sie dann mit vorübergehenden Schmerzen in der rechten Bauchseite, welche im 7. Monat sehr heftig und anhaltend wurden. Sie strahlten von der rechten Nierengegend nach der Hüfte aus. Neben dem graviden Uterus war damals eine un- deutliche Resistenz im Gebiete des Colon ascendens zu fühlen. Die Temperatur stieg manchmal bis 37,5%. Im Urin fanden sich Spuren von Eiweiss und spärliche, nicht zusammengeballte Leukocyten. Nach dem normal verlaufenden Partus fand sich ein grosser Tumor der rechten Bauchseite, und die Patientin wurde der Klinik mit der Wahrscheinlich- keitsdiagnose Hydronephrose, vielleicht auch ÖOyvarialeystom, zur Ope- ration überwiesen. Hier fand sich in der Mitte der rechten Bauchseite bis an den Nabel reichend ein kindskopfgrosser, kugliger, prall elastischer, fluktuierender Tumer von glatter Oberfläche, allseitig gut verschieblich. Er reichte nach hinten bis unter den Rippenbogen, liess sich seitlich von der Leberdämpfung nicht abgrenzen, war palpatorisch, besonders von der Lendengegend aus, schmerzhaft. Vaginal liess sich ein Zusammenhang mit den Genitalien nicht feststellen. Der Urin war ohne pathologischen Befund.

Für die Annahme eines Ovarialtumors sprachen Form und Ober- fläche, sowie die leichte Verschieblichkeit der Geschwulst, für einen Nierentumor (Hydronephrose) die Unmöglichkeit, vom Abdomen aus oder bimanuell einen Zusammenhang mit den Genitalien nachzuweisen, ferner der scheinbare Ausgang von der Nierennische und die nierenkolikartigen Schmerzen während der Entstehung der Geschwulst in der Schwanger- schaft. Herr Gottstein nahm nun in der Hoffnung auf weitere Aufklärung den Ureterenkatheterismus vor, welcher links rhythmische Secretion ergab, rechts bei Vorschieben bis 25 cm ebenfalls rhythmische Secretion, bei Vorschieben des Katheters bis 30 em, dagegen kontinuier- liches Abtropfen sehr reichlicher Urinmengen, wobei sich der Tumor ein wenig zu verkleinern schien. Man konnte also daran denken, dass der Katheter oberhalb 25 cm rechts ein Hindernis überwunden und zur teil- weisen Entleerung einer Hydronephrose geführt hatte. Das Ergebnis der funktionellen Untersuchung sprach ausserdem für eine relative Insuffizienz beider Nieren. Bei der danach beschlossenen Probefreilegung ergab sich, dass es sich doch um ein rechtsseitiges Ovarialeystom han- delte, dessen Entfernung leicht gelang. Die Heilung erfolgte glatt.

Hatte der Ureterenkatheterismus im vorliegenden Falle zum Hin- neigen der Differentialdiagnose nach der falschen Seite geführt, so gab er im folgenden noch komplizierteren Falle Anlass zum Ausschluss der anfänglichen falschen Diagnose.

Es war wiederum eine Frau von 35 Jahren, welche früher wegen einer linksseitigen Ovarialgeschwulst operiert worden, und 14 Tage vor der Aufnahme nach einer Entbindung an Lungen- und Brustfellentzündung erkrankt war. Nach deren Ablauf stellten sich heftige Leibschmerzen rechts und Zeichen einer Blinddarmentzündung ein, wegen deren allge- meiner Ausbreitung der behandelnde Arzt die Frau der Klinik überwies. Nachdem das anfänglich extrem aufgetriebene Abdomen auf Klysma weicher geworden war, liess sich in der rechten Bauchseite ein fast kopf- grosser, cystischer, mit den Genitalien anscheinend nicht zusammen- hängender Tumor feststellen. Da gleichzeitig im Urin alle Sorten von Cylindern, Leukocyten und Albumen gefunden wurden, bestand der Ver-

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dacht einer Nierenaffektion, der durch das Ergebnis des von mir vorge- nommenen Ureterenkatheterismus zunächst noch bekräftigt wurde. Es fand sich nämlich beiderseits Albumen, rechts mehr, ferner rechts Leuko- eyten, Nierenepitbelien, reichlich Cylinder, links nur wenig Cylinder, vereinzelte Epithelien. Die Gefrierpunktserniedrigung war rechts geringer als links. Phloridzindiabetes trat beiderseits in 73 Minuten nicht ein, ebenso wenig Indigkarmin bis 35 Minuten nach der Injektion. Erst Nachts trat eine leichte, rasch vorübergehende Grünfärbung des Gesamt- urins auf. Danach schien es sich mit Wahrscheinlichkeit um eine rechts- seitige, leicht infizierte Hydronephrose und um doppelseitige Nephritis zu handeln.

Belehrt aber durch die Erfahrung im vorhergehenden Falle liessen wir Ureteren und Nieren nach Injektion vou 5 pCt. Collargol in die Ureterenkatheter röntgen, und es gelang mir so, besonders die rechte Seite sehr gut darzustellen. Wie Sie auf dieser Platte sehen (Demon- stration) ist der rechte Ureter etwas weiter als der linke, was vielleicht daher rührt, dass ich in ihn noch während der Aufnahme weiter ein- spritzte. An der rechten Niere sieht man nun aber die Nierenkelche sehr schön ausgeprägt, und die Niere selbst anscheinend von normaler Grösse. Danach wurde die Annahme einer Hydronephrose hinfällig, da bei einem so grossen Tumor die Nierenkelche unmöglich so schön hätten erhalten sein können.

Eine weitere Sicherung der Diagnose nach der positiven Seite hin gelang uns nicht, wohl aber zeigte sich bei der Operation der Ausschluss einer Erkrankung der Niere selbst als berechtigt. Es fand sich ein sehr grosser, von der Beckenschaufel bis zur hinteren Leberfläche reichender retroperitoneal gelegener Abscess, welcher von der Niere ganz abgegrenzt war, und Streptokokken in Reinkultur enthielt. Die Heilung verlief bis auf eine vorübergehend aufgetretene Kotfistel glatt. Der Ausgangspunkt der Eiterung blieb dunkel, wir gehen aber wohl nicht fehl, wenn wir einen retrocoecal gelegenen Wurmfortsatz als schuldigen Teil ansehen. Für Ausgaug vom Övarium fanden sich keine Anhaltspunkte. Die konkurrierende doppelseitige Pyelonephritis, welche das klinische Bild zuerst trübte, ist inzwischen fast ganz zurückgegangen.

Hr. Landois: Demonstration von zwei Speichelsteinen, die aus dem Duetus submaxillaris der linken Seite durch Spaltung des Ganges (Prof. Küttner) entfernt wurden, und die durch Stauung des Secretes zur Abscedierung der Glandula submaxillaris geführt hatten. Der Abscess wurde von aussen eröffnet, die Speicheldrüse war ganz nekrotisch.

Bemerkenswert ist, dass es gelang, die Speichelsteine durch das Röntgenverfahren (Filmaufnahme Dr. Fabiunke) vor der Operation zu diagnostizieren.

Hr. Weil stellt einen Patienten vor mit Syringomyelie, bei dem vor 8 Jahren ein geringfügiges Trauma zur Ruptur der langen Bicepssehne geführt hat. Der Vortragende erörtert den Zusammen- hang der beiden Erkrankungen: 1. könnte die Syringomyelie damals zu einer Spontanfraktur der Knochen im Schultergelenk geführt haben und nebenbei zur Abreissung der Bicepssehne; 2. könnte eine Arthropatbie des Schultergelenks, auf den Sulcus bieipitalis übergreifend, eine all- mäbliche Destruktion der Sehne hervorgerufen haben, und 3. ist es möglich, dass ein Fall von reiner Spontanruptur der Sehne, analog den Spontanfrakturen bei Syringomyelie, vorliegt.

Hr. Hörz stellt einen von ihm operierten Fall von Torsion des Samenstrangs vor und bespricht an der Hand des Präparats die Patho- logie und Therapie dieser Erkrankung.

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Hr. Bauer demonstriert eine (yste, die von einer 45jährigen Frau stammt, die im November 1908 zur Aufnahme kam, und aus deren Krankengeschichte er folgende Daten wiedergab:

Im Alter von 26 Jahren machte Pat. einen Typhus durch, im An- schluss daran eine Bauchfellentzündung, die sich 1901 wiederholte. Seit dem Jahre 1902 hatte sie unter anfallsweise auftretenden Koliken zu leiden, die vom Arzt als Gallensteinkoliken gedeutet wurden. 11/, Jahre vor ihrer Aufnahme bemerkte sie eine langsam zunehmende Schwellung des Leibes, und S Tage vor der Aufnahme trat auch Anschwellung der unteren Extremitäten hinzu. Schon 3 Wochen vor ihrem Hiersein ver- mochte Pat. ihren Haushalt nicht mehr zu besorgen und war gezwungen, das Bett zu hüten.

Bei ihrer Aufnahme befand sich Pat. in sehr schlechtem Ernährungs- zustande. An der rechten Mamma fand sich ein kleiner derber Knoten, der als Seirrhus aufgefasst werden musste. Das Abdomen war sehr stark aufgetrieben, der Nabel verstrichen; während auf der rechten Seite absolute Dämpfung bestand, war auf der linken infolge starker Blähung des Colon descendens tympanitischer Schall vorhanden. Bei Rectal- und Vaginaluntersuchungen ergab sich Tiefstand des Douglas. Die unteren Extremitäten waren stark geschwollen, der drückende Finger hinterliess überall eine deutliche Delle. Im Urin, der nur in geringen Mengen vor- handen war, fanden sich Spuren von Albumen.

Bei einer unmittelbar nach der Aufnahme vorgenommenen Probe- punktion entleeren sich S!/, 1 einer wasserhellen klaren Flüssigkeit, die reichlich Kochsalz, Spuren von Albumen enthält, ein spezifisches Gewicht von 1008 besitzt, die im übrigen keine Haken, keine Berusteinsäure und keine sicher nachzuweisenden Membranfetzen enthält.

Auf die klinische Diagnose komme ich noch zu sprechen.

Einige Tage nach der Aufnahme erfolgte die Operation. Es wird ein Hautschnitt vom Nabel bis 31/;, cm oberhalb der Symphyse aus- geführt. Nach Eröffnung der Peritonealhöhle zeigt sich eine grosse weisse, vom Peritoneum überkleidete Cyste, die zunächst als Ovarial- cystom angesprochen wird; indessen zeigt sich, dass diese Cyste zwar ins kleine Becken herabreicht, jedoch nirgends gestielt ist und sich bequem aus dem Peritonealblatt herausschälen lässt. Nach mehrfacher Vernähung des hinteren Peritonealblattes, die, um Taschenbildung zu vermeiden, ausgeführt wird, erfolgt die Hautnaht. Ueber den Heilungs- verlauf kann ich mich sehr kurz fassen. Schon eine Woche nach der Operation verschwanden die Oedeme der Beine, und die Urinmengen wurden wieder normal. 2 Wochen nach der Operation war Pat. bei sehr gutem Allgemeinbefinden ausser Bett, und am 31. Dezember 1908 konnte die Amputation der rechten Mamma wegen des dort vorhandenen Sceyrrhus vorgenommen werden.

Was das durch die Operation gewonnene Präparat anbelangt, so fand sich auf der über 40 cm im Durchmesser baltenden Cyste auf ihrer glänzend weissen Oberfläche nichts Besonderes. An mehreren Stellen ragen kurze bindegewebige, zottenartige Gebilde in das Lumen der Cyste hinein. :Die Wandstärke ist ungleich und schwankt zwischen 1—5 mm.

Was die mikroskopische Untersuchung anbelangt, so zeigte die Cystenwand durchweg bindegewebige Struktur mit einem aus abgeplatteten Zellen bestehenden Belag. Nur an einzelnen Stellen, an welchen Ein- senkungen vorhanden waren, hatten die Belagzellen mehr cylinderförmigen Charakter, ebenso an Stellen, an denen sich papilläre Erhebungen in das Lumen der Oyste vorfanden.

Auch in diesem Falle konnte, wie in den übrigen derartigen Fällen es handelt sich um eine retroperitoneale Lympheyste, wie noch aus- zuführen sein wird die klinische Diagnose nicht gestellt werden.

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 47

Die von Tillaux für derartige Cysten aufgestellten Forderungen, grosse Beweglichkeit, tympanitischer Schall vor der Geschwulst, tympa- nitischer Schall zwischen Tumor und Symphyse können bei ungewöhnlich grossen Cysten und bei bestehenden Verwachsungen nicht in Anwendung gebracht werden. In diesen Fällen liegt die Verwechslung mit Ovarial- eystomen sehr nahe, und diese werden erst dann auszuschliessen sein, wenn festgestellt wird, dass der Tumor von unten nach oben wuchs und dass die Ovarien unabhängig von der Schwellung und ohne Verbindung mit ibr bestehen. Für die weiter in Frage kommenden Echynococeus- eysten fehlte die bei diesen typische lamelläre Schichtung der Wand, und ebenso liess das Fehlen von Haken und Bernsteinsäure im Inhalt der Cysten diese Bildungen ausschliessen. An seltenere Cysten, wie Urachuseysten, Panereas- und Milzeysten war wegen der abweichenden Lokalisation und wegen des abweichenden mikroskopischen Bildes nicht zu denken. Endlich durften Enterocystome ausgeschlossen werden, ob- wohl manches, so das an einigen Stellen auftretende Cylinderepithel dafür sprach; denn derartige Cysten werden, entsprechend ihrem ätio- logischen Zusammenhange mit dem Ductus omphalomesentericus nur an Stellen beobachtet, die dem Verlaufe des Dotterganges entsprechen, so an der inneren Bauchwand der Konvexität des Darmes und zwar am unteren Teile des Jejunums, am Ileum, der Ileocoecalklappe und der Nähe derselben.

In unserem Falle musste also, nachdem die übrigen Cysten aus- zuschliessen waren, erstens auf Grund des Sitzes, weiter auf Grund des mikroskopischen Bildes, endlich auf Grund des Cysteninhalts die Diagnose retroperitoneale Lympheyste gestellt werden, eine seltene Bildung, die in den letzten 10 Jahren von Stehr, Elter, Minssen und Weyde- mann beschrieben worden und über deren Genese seit Narath’s Arbeit bis in die Gegenwart diskutiert wird. Am wahrscheinlichsten ist, dass derartige Cysten aus Lymphextravasaten, aus Lymphdrüsen, aus dem Ductus thoracicus oder anderen Lymphgefässsträngen ihren Ursprung nehmen und zwar infolge von chronisch entzündlicher Wucherung des Lymphgefässendothels. Nach Tilger’s Theorie erweitert das prolife rierende Epithel zunächst mechanisch das Lymphgefäss und führt durch Desquamation zum Verschluss eines selbst stark erweiterten derartigen Gefässes. Die zentralen Massen der Endothelien zerfallen und führen so zunächst kleine cystische Hohlräume mit trennenden Scheidewänden herbei. Durch Konfluenz entstehen grössere Cysten dadurch, dass die trennenden Scheidewände durch Druckatrophie zu Grunde gehen, und es kommt so nach und nach dadurch, dass der Vorgang sich wiederholt, zu immer grösseren Cysten“, ja zu Cysten von der Grösse, wie die bier vorliegende.

Hr. Herten stellt einen Fall von Lupus der Uvula und des Arcus glossopalatinus vor, der sekundär bei beginnender Tuberkulose der rechten Lungenspitze auftrat. Charakteristisch war neben der Knötchen- form der absolut schmerzlose Verlauf, obwohl die disseminierten Knöt- chen ao einer Stelle der Uvula geschwürig zerfallen waren. Histologisch zeigte die Probeexcision aus der Uyula dicht unter dem Epithel Tuberkel mit Langhans’schen Riesenzellen.

Sitzung vom 11. März 1910.

Vorsitzender: Herr Ponfick. Schriftführer: Herr Rosenfeld.

Hr. Groenow: Demonstration der Durchleuchtungslampen von Sachs und Lange an einem Auge mit Aderhautsarkom. Der Vortragende weist darauf hin, dass es oft schwer, zuweilen un-

48 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

möglich sei, lediglich auf Grund des Augenspiegelbefundes festzustellen, ob eine Netzhautablösung durch eine Geschwulst bedingt sei oder nicht, zumal die Ablösung die Geschwulst zuweilen an Ausdehnung weit über- treffe und daher vollkommen verdecke. In diesem Falle lässt sich meist Klarheit schaffen mittels Durchleuchtung, insofern eine einfache Ablösung Licht durchtreten lässt, während eine Geschwulst dasselbe zurückhält. Für diesen Zweck sind zwei Durchleuchtungslampen angegeben worden, von Lange und von Sachs, welche beide demonstriert werden. Die Lampe von Lange wird durch einen Akkumulator gespeist und ist weniger lichtstark als die von Sachs, welche direkt an die Lichtleitung angeschlossen wird. Beide Lampen sind so konstruiert, dass sie das Lieht durch einen Glasstab oder Glaskegel auf einen Punkt konzentrieren. Wird das Ende des Glasstabes der Lampe neben der Hornhaut auf die Sclera des cocainisierten Auges aufgesetzt, so tritt Licht durch die Selera hindurch, und die Pupille erscheint rot leuchtend. Sucht man auf diese Weise die Sclera ringsherum ab, so findet man, dass an den Stellen, wo im Innern des Auges sich eine Geschwulst befindet, die Pupille nicht erhellt wird. Man kann so feststellen, ob eine Geschwulst überhaupt vorhanden ist, und welche Ausdehnung sie hat. Vortr. zeigt an einem frisch enucleierten Auge mit Aderhautsarkom, dass man die Ausdehnung der Geschwulst auf diese Weise am uneröffneten Augapfel sehr deutlich feststellen kann.

Hr. Jean Schäffer:

Experimentelle Untersuchungen über den Einfluss unserer thera- peutischen Maassnahmen auf die Entzündung. (Siehe Teil II.) Diskussion.

Hr. Rosenfeld: Die ausgezeichneten Untersuchungen des Herrn Schäffer sind als ein Beispiel zu begrüssen, wie man therapeutische Maassnahmen auf experimentelle Grundlagen stellen soll. Doch haben sie nur so weit eine Beweiskraft, als es die Bedingungen, unter denen sie angestellt sind, gestatten. Bei bestimmten Erkrankungen, bei be- stimmten Lokalisationen und rücksichtlich bestimmter Nebenwirkungen geben sie noch keinen Aufschluss. Wieso z. B. bei der Gicht den meisten Patienten Kälte, einigen jedoch die Wärme die besten Dienste leistet, wäre noch näher festzustellen. An der Konjunktiva ist das Hantieren mit feuchter Kälte in Form der gewöhnlichen nassen Umschläge häufig von einer blennorrhöeartigen chemotischen Schwellung der Glieder gefolgt, was ebenfalls noch nicht erklärt ist. Und drittens ist bei der Perityphlitis, wenn selbst warme und kalte Umschläge von gleichem Wert wären und dieselben Tiefenwirkung entfalteten, wegen des Neben- affektes auf die Peristaltik die Wärme bei weitem vorzuziehen; denn die gewünschte Ruhigstellung des Darmes erfolgt durch warme Breiumschläge besser als unter Eis.

Hr. Schäffer: Herrn Rosenfeld erwidere ich, dass auf die Be- handlung mit unseren therapeutischen Eingriffen, insbesondere Hitze, Kälte, die davon betroffenen inneren Organe gewiss in besonderer Weise reagieren, die Drüsen vielleicht durch verstärkte oder verminderte Secretion, der Darm durch Peristaltik, und dass diese Erscheinungen natürlich bei der praktischen Verwendung mitberücksichtigt werden müssen. Dagegen glaube ich, dass entzündliche Erscheinungen innerhalb soleher Organe in der gleichen Weise beeinflusst werden, wie wir es in der Haut fanden, weil die hier maassgebenden Faktoren, der Blut- und Lymphzirkulationsapparat, sich nicht anders verhalten wird wie an den untersuchten Lokalisationsstellen.

Die Frage der Tiefenwirkung müsste von Fall zu Fall ent- schieden werden. Es gibt ja Untersuchungen z. B. der Tiefenwirkung

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 49

lokaler Hitzebehandlung und über die in den tiefen Schichten zustande kommenden Temperaturen bei thermischer Behandlung. Ich glaube aber, dass die Tiefenwirkung der Hitzebehandlung viel beträchtlicher ist als die der direkten Temperaturveränderung, weil es sich ja nicht um einen unmittelbaren, sondern refiektorisch ausgelösten Effekt handelt. In meinen mikroskopischen Präparaten fand ich noch tief unter der Musku- latur bis in die Nähe des Peritoneums die Vermehrung der Blut- und Lymphzirkulation in unverminderter Stärke und ihre eigentümliche Wirkung auf die Entzündungsprozesse deutlich ausgesprochen.

Als ich einmal den Peritonealraum miteröffnete, sah ich das Peri- toneum byperämisch und serös transsudiert. Wenn die Organe nicht zu weit entfernt von der Haut sind, werden diese gewiss durch eine genügend lange fortgesetzte Lokaltherapie mit beeinflusst vorausgesetzt freilich, dass sie nicht etwa eine ganz andere Blutversorgung haben. Natürlich wäre es sehr erwünscht, auch bezüglich dieser Frage besondere Versuche anzustellen.

Zur Verwendung übermässiger Hitze möchte ich bemerken, dass unbedeutende Hämorrhagien und kleine blasige Abhebungen, die bald wieder schwinden, noch nicht die Ueberschreitung der erlaubten Grenzen der lokalen Wärmetherapie andeuten. Dass aber direkt gewebsschädigende Temperaturen auf die tiefer liegenden Schichten und dort gelagerte Organe heilsam wirkt, möchte ich nicht annehmen, weil nach meinen Untersuchungen hierbei der ganze reflektorische Vorgang (der offenbar von den Nervenendigungen der Haut ausgeht) überhaupt nicht ausgelöst wird. (Dass etwa die tief eingedrungene Hitze an den dort liegenden Blut- und Lymphgefässen einen analogen reflektorischen Vorgang bedingt, müsste erst bewiesen werden.)

Der von Herrn Rosenfeld angeführte Fall der ungünstigen Beein- flussung einer Konjunktivitis durch kalte Umschläge steht ganz im Ein- klang mit den Resultaten meiner Experimente. Ich halte in der Tat trockene Wärme hierbei für indiziert, die ja dann auch in dem genannten Fall zur baldigen Heilung führte. Jedenfalls glaube ich, dass die Schleimhäute ebenso wie die Haut reagieren, wie ich beispielsweise an der Urethra nachweisen konnte. Bei der lokalen Hitzebehandlung einer eitrigen Urethritis sah ich mehrfach die seröse Secretion zunehmen, den Leukocytengehalt abnehmen.

Im übrigen aber stimme ich ganz Herrn Rosenfeld bei, dass es falsch wäre, die von mir für eine bestimmte und absichtlich umschriebene Fragestellung festgestellten Tatsachen auch auf andere Verhältnisse und Lokalisationsstellen ohne weiteres zu übertragen.

Sitzung vom 18. März 1910,

Vorsitzender: Herr Ponfick. Schriftführer: Herr Partsch.

Hr. Max Cohn-Berlin:

1. Ueber die Verwendung ungedämpfter elektrischer Schwingungen

(Forest'sche Nadel) zu operativen Eingriffen. (Siehe Teil IL.)

2. Technische Fortschritte in der Röntgenphotographie.

Vortr. sieht in einer guten Fixation des aufzunehmenden Objekts und in der Verwendung der Gehler’schen Folie einen bedeutenden Fortschritt in der Röntgentechnik. Expositionszeiten über acht Sekunden können vermieden werden, ohne dass das Instrumentarium, sei es nun ein Induktor von nur 40 cm. Funkenlänge oder ein Idealapparat ete., irgendwie überlastet werden braucht. Bei mittelmässiger Belastung genügt für eine Thoraxaufnahme eine Exposition von 1/,—1 Sekunde, für Magendarmaufnahmen eine solche von I—1'/, Sekunde. Bei dieser Technik

Schlesische Gösollsch. f vaterl. Kultur 1910, 1, 4

50 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

gelang die einwandfreie Darstellung von Leber und Milz in Uebersichts- aufnahme ohne Verwendung irgendeiner Blende. Bei Schädeluntersu- chungen gelang beim Lebenden nicht nur die Darstellung der Nähte, sondern auch der Salei für die Gefässe, sowie in einzelnen Fällen die der Diploe. Ganz besonders muss betont werden, dass nur durch Ver- wendung des Schmidt’schen Fixationsapparates Aufnahmen möglich sind, die späterhin Vergleichsuntersuchungen unter genau denselben Verhältnissen gestatten. Der Orthopäde und der Internist dürften von der Normalaufnahmetechnik den grössten Vorteil haben.

Diskussion.

Hr. Ossig: Den Mitteilungen betreffend die Gehler-Folie kann ich nur zum Teil beistimmen. Die Verstärkung durch diese Folie ist auch nach meinen Erfahrungen eine sehr erhebliche. Ich habe damit nur 1/3, der sonst verwendeten Zeit gebraucht. Um allerdings einzelne von Herrn Cohn angeführte Belichtungszeiten zu erreichen, musste ich zu wesentlich stärkerer Belastung der Röhre greifen.

Die Folie ist leider nicht kornfrei, wie vorhin gesagt wurde. Die einzelnen Schirme scheinen überhaupt verschieden zu sein. Letzterer Umstand fällt nicht sehr ins Gewicht, da die betreffende Firma nicht zusagende Folien bereitwillig umzutauschen scheint.

Es fragt sich nun, ob die Abkürzung durch die Gehler-Folie tat- sächlich ein wesentlicher Fortschritt ist. Für Aufnahmen bewegter Körperteile (Herz) oder Kinder ist dies ohne weiteres zuzugeben, zumal wenn ungestörte Strukturzeichnung nicht unbedingt nötig ist. Sehr wertvoll ist die Gehler-Folie auch für die Teleaufnahmen des Herzens. In allen übrigen Fällen aber dürfte eine längere Belichtung und ein damit erzieltes kornfreies Bild vorzuziehen sein. Schädelaufnahmen mit schärfster Zeichnung der Gefässfurchen und Nähte (wie das eine gezeigte Bild) sind jedenfalls schon vor der Gehler-Folie von mir bzw. unter meiner Leitung sehr oft ausgeführt worden.

Im Anschluss daran zeigt O. drei seitliche Aufnahmen des Gesichts- schädels und Halses aus 70 em Focusabstand mit !/,, Sekunde, während des Phonierens der Vokale a, i und u ausgeführt.

Hr. Rosenberg: In der Kgl. Universitätsklinik für Ohren-, Nasen- und Kehlkopfkrankheiten zu Breslau (Direktor: Prof. Dr. Hinsberg) wurden Versuche mit einem gleichen Apparat gemacht, wie ihn der Herr Vortragende gezeigt hat. Für Operationen in der Mundhöhle ist das Operieren ohne Blutung besonders wichtig, weil man dann Narkose an- wenden kann, ohne den Patienten der Gefahr der Blutaspiration aus- zusetzen; und darum wurde an die Versuche mit der Forest’schen Nadel mit besonderem Interesse herangegangen. ÜOperiert wurden mehrere Fälle von hypertrophischer Gaumenmandel, ein luetischer Granu- lationstumor am weichen Gaumen und ein Hautcarcinom der Ohrmuschel und ihrer Umgebung. In den meisten Fällen war die Blutung sehr gering, doch kann nicht verschwiegen werden, dass in einem Falle von Exeision der Tonsillen eine stärkere venöse Blutung erfolgte. In einem Falle von Exeision beider Tonsillen wurde die eine Seite mit der Forest’schen Nadel, die andere mit Messer und Schere operiert. Der Nachschmerz war auf der mit der Forest’schen Nadel operierten Seite stärker, und die Heilung ging langsamer vonstatten.

Die Schmerzhaftigkeit bei Operationen mit der Forest’schen Nadel ist, soweit es sich um Operationen in der Mundhöhle handelt, nach unseren Erfahrungen durch Infiltrationsanästhesie zu beherrschen.

Zu erwähnen ist, dass bei der Operation des Hautcareinoms deut- liche Wärmestrahlung an der entgegengesetzten Schädelseite hindurch- gefühlt werden konnte. Es soll die Frage offengelassen werden, ob dieser Erscheinung eine wesentliche Bedeutung zukommt.

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 51

Sitzung vom 6. Mai 1910.

Vorsitzender: Herr Ponfick. Schriftführer: Herr Tietze.

Vor der Tagesordnung.

Hr. Küttner demonstriert 1. einen Fall von Madelung’schem Fett- hals, 2. einen Fall von ausgebreiteter Neurofibromatose mit multiplen weichen Fibromen, die ganze Körperoberfläche einnehmenden Nerven- näyis und einer ausgedehnten Lappenelephantiasis der rechten Gesichts- hälfte und des Halses.

Diskussion.

Hr. Tietze: Den sogenannten Madelung’schen Fetthals habe ich wiederholt gesehen und habe eigentlich den Eindruck gehabt, als wenn er nicht allzu selten sei. Erst im vorigen Winter ist auf meiner Ab- teilung wieder einer operiert worden.

Besonders interessiert hat mich die zweite Demonstration von Herrn Küttner insofern, als ich vor einer Reihe vou Jahren aus der Miku- liez’schen Klinik eine ganz ähnliche Beobachtung veröffentlicht habe. Bei der Patientin bestand neben einer Reihe von Hauttumoren eine sogenannte Pachydermatocele, d.h. ein grosser Hautsack, welcher von der rechten Gesichtshälfte herunterhing. In demselben verteilte sich ein mächtiger Nervenstamm, welcher eine Reihe verschieden grosser Tumoren trug, die sich als Neurofibrome erwiesen. Auch in den kleinen Hauttumoren waren bei passender Behandlung fibrös entartete Nerven- fasern nachzuweisen. Ich habe den Fall in Brun’s Beiträgen be- schrieben.

Tagesordnung.

Hr. Michael Hoffmann: Ueber die Abkühlung der Inspirationsluft bei der Aetlıernarkose, ihre Bedeutung und ihre Verhütung. (Siehe Teil II.)

Hr. Most: Zur Kasuistik der Hysterie und Fremdkörper im Darme, (Siehe Teil IL.)

Diskussion.

Hr. Ossig: Im Anschluss an den Vortrag von Herrn Most er- laube ich mir, eine Aufnahme des eben demonstrierten Kranken zu zeigen. Sie ist im Stehen, dorso-ventral aufgenommen. Man sieht eine ganze Anzahl Fremdkörperschatten, alle offenbar von Nägeln herrührend, an verschiedenen Stellen des Leibes, besonders aber in der Gegend des Reetums. Es scheint, dass die im Bilde sichtbaren Schatten auf 40 bis 50 Nägel zu beziehen sind.

Hr. Goebel bemerkt, dass der von Herrn Most vorgestellte Patient vom 3.—19. März er. auch im Augusta-Hospital gelegen und dort Schüttelfröste und hohe Temperaturen vorgetäuscht hat. Als höchste wurde 41,5° beobachtet; auch Erbrechen brachte er vor und belog sonst das Pflegepersonal in der raffiniertesten Weise. Es handelte sich ohne Zweifel um eine Psychose auf hysterischer Basis.

Hr. Allard berichtet im Hinblick auf die artifiziellen Temperaturen des vorgestellten Patienten über eine kürzlich mit ihm gemachte Beob- achtung, dass eine Hysterische durch rhythmische Contractionen des Levator ani erhöhte Temperaturen erzeugte.

52 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Sitzung vom 13. Mai 1910.

Vorsitzender: Herr Ponfick. Schriftführer: Herr Tietze.

Vor der Tagesordnung Besprechung über die Form der Publikation der Verhandlungen in den Jahresberichten.

Dann hielt Herr J. Jacob seinen Vortrag: Diagnose und mechanische Behandlung des systolischen Geräusches und der Pulsation der linken oberen vorderen Intercostalräume.

Die mannigfache Bedeutung und diagnostische Schwierigkeit, welche gewöhnlich nur mit Hilfe der Statistik eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose gestattet, legt er dar an zwei Beispielen.

Ein 19jähriger Primaner ist cyanotisch und kurzatmig bei Be- wegung. Respiration 16, Puls 72. Spitzenstoss im 6. Intercostalraum innerhalb Mamilla. Pulsation am Unterende des Brustbeins und im 4. und 5. Intercostalraum rechts. Starkes systolisches Geräusch an der ganzen linken vorderen Brustwand und handbreit rechts vor der Mamilla. Es verdeckt sowohl die Pulmonal- als die Aortentöne, die unterhalb der 4. Rippe jedoch beiderseits deutlich zu vernehmen sind. Das Ge- räusch endigte genau unmittelbar hinter dem zweiten Ton und war nur ein verlängertes systolisches. Am stärksten zu hören war es zwischen 3. und 4. Rippe auf der linken Hälfte des Brustbeins. Es fragte sich nun, ist das die beliebte Insuffizienz der Mitralis oder Stenose oder Aneurysma der Pulmonalis oder Ductus Botalli oder Defekt des Ven- trikelseptums?

Vortr. hat auch bei Mitralinsuffizienz den zweiten Ton durch ein verlängertes Geräusch verdeckt gefunden. Gegen den Septumdefekt sprach nur die Wahrscheinlichkeit, dass dessen Geräusch stets rechts ebensogut oder stärker sein muss als links, zufolge der grösseren Stärke des 1. Ventrikels und der Berührung des rechten Ventrikels mit dem Brustbein, gegen Ductus Botalli das Fehlen der Dämpfung im 1. und 2. Intereostalraum, gegen Aneurysma der Pulmonalis oder der Aorta das Fehlen der Pulsation; aber doch gab all das keine sichere Entscheidung. Eine hochgradig foreierte Inspiration führte sie herbei. Beschleunigung und Verkleinerung des Radialpulses im Inspirum und grosse Verstärkung des systolischen Geräusches liessen keinen Zweifel, dass es sich um ein Geräusch in der Pulmonalis handelte. Die Erörterung der Physiologie und Pathologie würde das Referat zu sehr ausdehnen.

Ein zweiter Fall betraf ein nahezu 9jähriges Mädchen, welches Erweiterung des linken Ventrikels noch mehr als des rechten aufwies. Respiration 38, Puls 96, sehr klein und weich. Haut und Schleimhäute cyanotisch, sichtbare Atemnot auch in der Ruhe. Eine starke Pulsation sicht- und fühlbar im 1. und 2. Intercostalraum links, ebenso starkes Schwirren fühlbar bis in die linke Halsgegend. Starkes systolisches Ge räusch ebenda, am stärksten im 2. Intercostalraum.

Frage: Ist das ein Aneurysma der Aorta, der Pulmonalis oder ein Duetus Botalli? Eine Insuffizienz der Mitralis schloss Vortr. wegen. der Lokalisation von vornherein aus. Denn eine Pulsation des linken Herz- ohrs würde schwerlich bis ans Brustbein gereicht haben und das systo- lische (reräusch nicht so stark bis im Halse hörbar gewesen sein. Aneurysma der Pulmonalis schloss er aus, weil es schwerlich bis in den ersten Intereostalraum reichen würde, und weil es in der reichen patho- logisch-aratomischen Sammlung der Universität nicht zu finden war, Aneurysma der Aorta, weil der Schmerz fehlte und das Schwirren bei diesem Aneurysma nicht beobachtet worden ist. Es entspricht dies der inspiratorischen Verstärkung des systolischen Geräusches der Pulmonalis, d.h. es wurde das Blut in die Pulmonalis und in das linke Herz so

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 55

stark angesaugt, dass es nicht dem Auge, nur noch dem Gefühl wahr- nehmbar war. Diese Erscheinung kennzeichnet ganz sicher den Ductus Botalli. Denn ein Aortenaneurysma hat trotz der theoretischen Denk- barkeit noch nie eine inspiratorische Abschwächung der Pulsation gezeigt. Auch das ©. Gerhard’sche Symptom der Dämpfung des 1. und 2. Inter- costalraumes links vom Sternum unterstützt die Diagnose, obwohl es ausnahmsweise auch bei Aortenaneurysma zutreffen kann. Diese Pulsation ist merkwürdigerweise in der Darstellung der angeborenen Herzkrank- heiten von H. Vierordt nicht erwähnt. Sie mag in sichtbarer Form auch sehr selten sein, ihre Fühlbarkeit ist aber sicher häufig der Auf- merksamkeit entgangen. Sehr bezeichnend für den Zustand ist auch das starke fühlbare Schwirren.

Es handelt sich also im ersten Falle um eine Erkrankung der Pulmonalis und im zweiten Falle um einen Ductus Botalli. Sehr wichtig erscheint dem Vortr. der Gegensatz der Symptome zwischen beiden Fällen zur Unterscheidung der Erkrankung des linken und rechten Herzens überhaupt, bei der Stenose normaler Puls und normale Atmung neben grosser Erweiterungsfähigkeit der Lunge und dann noch vor- handener Kurzatmigkeit. Diese berubt auf der Blutleere der Lungen- gefässe. Bei dem Ductus Botalli ist dagegen beschleunigte Pulsfrequenz und beschleunigte Atmung höchst charakteristisch. Es beruht das auf Ueberfüllung der Blutgefässe der Lunge, und diese bedingt wegen ihrer geringen Dehnbarkeit die Beschleunigung der Atmung und ist dem Vortr. maassgebend für sämtliche Erkrankungen des linken Herzens.

Betrefis der mechanischen Therapie ist dem Vortr. gesteigerte In- spiration für die Erkrankung des rechten Herzens selbstverständlich wie für Erkrankung des linken Herzens willkürlich oder passiv gesteigerte Exspiration maassgebend. Er erörtert auch die Frage, wieweit Oertel recht gehabt hat, das Bergsteigen allgemein für Erkrankung des Herzens zu empfehlen, und weist nach, dass es nur anwendbar ist bei leidlicher Gesundheit des linken Ventrikels, um die Schwäche des rechten Ven- trikels zu heben. Zu diesem Zwecke hat er schon einige Zeit vor ÖOertel das Bergsteigen empfohlen.

Diskussion.

Hr. Rosenfeld bespricht die Erleichterung der Diagnose durch die Cyanose, ausserdem die grosse O-Zehrung der Pulmonalfehler, sowie die schon von Schwenninger vielgeübte Respirationsübung bei Herzfehlern.

Hr. Schmeidler spricht über accendentelle Geräusche an der Pulmonalis.

Hr. Jacob: Auf die Bemerkung des Herrn Rosenfeld, dass die Cyanose die Erkenntnis der angeborenen Herzfehler sehr erleichtere, be- merkt Vortr., dass die Oyanose etwa in der Hälfte der angeborenen Herzfehler fehle, dass sie aber häufiger vorkomme, als in den postfötal erworbenen Herzkrankheiten. Dies beruhe auf dem Wesen der Cyanose und dem Umstande, dass die fötalen Herzkrankheiten häufiger das rechte Herz betreffen als das linke, weil das rechte Herz in der fötalen Periode die Hauptarbeit zu verrichten habe, dank dem Umstande, dass die Zirkulation vom rechten Herzen durch den Ducetus Botalli nach der Aorta gehe, um durch die Umbilicalarterien in der Placenta den Gas- austausch zu bewirken. Im postfötalen Leben würde der Gasaustausch durch die Lungen bewerkstelligt, und dies geschehe durch die Entfaltung der hisher collabierten Lungen, welche das aus dem rechten Herzen kommende Blut in den Lungenkreislauf abfübren und von der Aorta ab- lenken. Infolgedessen werde der Ductus Botalli überflüssig, er schliesse sich in den ersten Lebensmonaten durch Zellwucherung; bleibe er offen, so ergebe das die Tatsache, dass ein Teil des verbrauchten Blutes aber-

54 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

mals der Aorta zugeführt und der Entgasung entzogen werde. Es ist darum der postfötale Ductus Botalli gewissermaassen eine Erkrankung des rechten Herzens, dessen Hauptarbeit in der Entgasung des Blutes besteht, und je mehr diese verhindert wird, desto mehr gewinnt das Blut den venösen Charakter. Die Erkrankungen des linken Herzens wirken in viel geringerem Grade schädlich auf den Gasaustausch und erzeugen darum viel seltener die Cyanose.

Nun ist es aber nicht allein die Entgasung, welche die sogenannte Cyanose erzeugt, sondern auch, wie verschiedene Beobachtungen beweisen, die Ueberfüllung der Venen des Aortenkreislaufes trägt den Hauptanteil daran. So beobachtete Moritz einen Fall von örtlicher Cyanose des linken Armes. Bei erhobenem Arm verschwand sie. Wenn also das venöse Blut der Brachialis rasch nach dem Herzen zu entfernt wurde, so verschwand die Cyanose. Bei der Section stellte sich heraus, dass die Brachialis aus dem linken Pulmonalaste direkt entsprang, und es wird durch diesen Fall wohl klargelegt, welche Momente die Cyanose bewerkstelligen.

Auf Herrn Schmeidler’s Bemerkung, dass er mit Herrn v. Strüm- pell zusammen ein systolisches Geräusch in der Pulmonalis wahrgenommen habe bei einem Falle von Blutvergiftung, richtete der Vortr. die Frage an ihn, woraus der Sitz des Geräusches in der Pulmonalis gefunden sei. Der Umstand, dass das Geräusch im 2. Intereostalraum links wahr- genommen wurde, sichere keineswegs den angenommenen Sitz, sondern es könne ebensogut im linken Herzen in der Mitralgegend zustande kommen. Er schlug Herrn Schmeidler vor, in einem zukünftigen solchen Falle starke Inspirationen machen zu lassen. Eine dadurch be- wirkte Verstärkung des Geräusches beweise den Sitz in der Pulmonalis, eine Abschwächung den Sitz im linken Herzen.

Damit wäre allerdings noch nicht sichergestellt, ob es sich um ein Blutgeräusch in der Pulmonalis, oder um ein Vitium handle, sondern darüber entscheide für die Pulmonalstenose eine starke Erweiterung und Hypertropbie des rechten Ventrikels unter Abschwächung des 2. Pulmonal- tons, die Insuffizienz der Pulmonalis aber beweise erst die Verstärkung des 2. Pulmonaltons, welche aber durch starke Inspiration mit dem systolischen Geräusch zugleich geschwächt oder neutralisiert werden müsse.

Hr. Renner: Chylus an Stelle von Bruachwasser bei eingeklemmtem Bruch.

Einklemmung des angeborenen Leistenbruchs etwa 6 Stunden nach der Mittagsmahlzeit. Bei der Operation, etwa 3 Stunden nachher, un- gefähr 20 cem einer milchigen Flüssigkeit im Bruchsack. Um Aseites chylosus konnte es sich nicht handeln, weil die Flüssigkeit mikroskopisch und chemisch die Eigenschaften von Chylus hatte, weil ferner Flüssigkeit in der Bauchhöhle nicht nachweisbar war, vor allem aber, weil die Her- kunft des Transsudates durch strotzende Füllung der Chylusgefässe des Darms und des Mesenteriums, in welchem sogar bis knackmandelgrosse Ergüsse sichtbar waren, bewiesen wurde. Merkwürdiger als dieser bisher anscheinend noch nicht beschriebene Befund ist eigentlich die Tatsache, dass es nicht öfter zu Chylusstauung und Transsudation kommt, da doch anzunehmen ist, dass sich nicht allzu selten Darm in der Verdauungs- periode einklemmt.

Diskussion.

Hr. Tietze: Ich balte die Beobachtung von Herrn Renner auch für sehr selten. Ich habe dergleichen bei einem sehr grossen Hernien- material noch nicht gesehen, auch nicht bei Experimenten, welche ich aus verschiedenen Gründen vorgenommen habe. Die Sache muss doch

I. Abteilung. Medizinische Sektion.

© or

wohl so erklärt werden, dass wahrscheinlich durch den einklemmenden Sehnürring der Abfluss in den prall gefüllten Chylusgefässen des Darms gehindert worden ist und dieselben geplatzt sind oder eine Transsudation durch die Wand stattgefunden hat. Auffallend ist nur, dass man dies so selten beobachtet, wie denn überhaupt der Befund gefüllter Chylus- gefässe am Darm des Menschen bei Operationen sehr selten erhoben wird.

Sitzung vom 27. Mai 1910.

Vorsitzender: Herr Ponfick. Schriftführer: Herr Tietze.

Vor der Tagesordnung.

Hr. Küttner demonstriert

l. einen Fall von Skorbut mit Hämartbros des Kniegelenks und aus- gedehnten Hautblutungen. Pat. stammt aus Breslau; besondere Schäd- lichkeiten sind nicht nachweisbar, ebensowenig waren sie in zwei weiteren Fällen vorhanden, die Vortr. an der Breslauer Klinik beobachtete;

2. einen Russen mit Paraffinprothesen in der Gegend der Sehnen- scheiden des Fusses, die zum Zweck der Entziehung vom Militär- dienst hergestellt worden sind.

Ausser Paraffinprothesen wurden als Mittel zu dem gleichen Zweck beobachtet: 1. Carbolgangrän an Fingern oder Zehen, 2. Crotonöl- phlegmone, 3. künstliche Hernien, bei deren Herstellung ein Mann auf dem Abdomen des Patienten sitzt, der andere mit beiden Daumen die Bruchpforte aufreisst, 4. künstliche Trommelfellperforationen, 5. Phloridzin- diabetes.

Hr. Rosenfeld: Die Dame, welche sich freundlichst dazu verstanden hat, sich hier demonstrieren zu lassen, stellt einen aussergewöhnlichen Fall von Korpulenz dar. Als ich sie im vorigen Jahre vor etwa 16 Monaten in Behandlung bekam, wog sie 367!/s Pfund. Das Gewicht hat sich inzwischen bis zum Januar dieses Jahres, also im Zeitraum von 11 Monaten, auf 258 Pfund vermindert, also rund um 80 Pfund. Die enorme Energie, mit der die Dame lauge Zeit ihre Kur durchgeführt hat, hat aber in diesem Jahre stark nachgelassen, so dass in den letzten Monaten nur noch 12 Pfund abgenommen worden sind, und damit bisher ein Gesamtgewichtsverlust von 92 Pfund erreicht ist. Pat. ist, wie mir vorgelegte Bilder beweisen, schon als Kind ausser- gewöhnlich stark gewesen. Man pflegt das als einen Beweis sogenannter Fettsuchtsanlage zu bezeichnen. Und wenn ich nun noch hinzufüge, dass ich im Jabre 1908 die Pat. schon einmal behandelt habe und damals gesehen habe, dass selbst bei einer Kost von 1000 Kalorien keine wesentliche Abnahme mehr zu erzwingen war, nachdem die Pat. die ersten 30 Pfund abgenommen hatte, so können Sie verstehen, dass ich damals mit einem jener sehr seltenen Fälle von konstitutioneller Fettsucht auf Grund verlangsamten Stoffwechsels zu tun zu haben glaubte. Und doch war das keineswegs der Fall. Auch diese Pat. hat ihre Korpulenz dem Nahrungsüberschuss zu danken, und zwar ist es hier hauptsächlich die überreiche Zufuhr von Kohlenhydraten, welche zu dieser grossartigen Ablagerung von Fett geführt hat. Die Wirkung der Entfettungskur nach meinem Regime ist auch jetzt, nach mehr als ein- jähriger Anwendung, wenn sie von der Pat. vorschriftsgemäss durch- geführt wird, in ihrer Wirkung nicht im geringsten abgeschwächt, so dass täglich noch 100—150 g Gewichtsverlust eintreten. Die Ver- minderung des Gewichts ist bereits um 25 pCt. des Anfangsgewichts gelungen und wäre schon erheblich weiter gediehen, wenn nicht Pat. im September vorigen Jahres eine Erkrankung durchgemacht hätte, welche

56 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vater]. Kultur.

zeigt, ein wie gefährlicher Zustand höchstgradige Korpulenz ist. Von der Krankengeschichte will ich Ihnen bloss den Status schildern, den ich sah, als ich zu der Dame auf ihren westpreussischen Wohnsitz gerufen wurde: Das ganze Abdomen schien von der Leber erfüllt, die das Zwerchfell heraufgedrängt hatte, die Bauchwand vortrieb und nur einen ganz kleinen Teil des Unterleibes, etwa zwischen Spina anterior sup. ossis ilei links bis rechts von der Symphyse, noch mit Darmschlingen erfüllt zeigte, ein Bild, das auch bei reichstem Material Kliniker wohl kaum mehrmals in ihrem Leben sehen. Es stellte sich heraus, dass diese enorme Leberschwellung höchstwahrscheinlich durch Druck auf die Blutgetässe zustande kam, dass eine grosse Pancreascyste entstanden war und eine solche Blutstase in der Leber bewirkt hatte. Allmählich ging die Leberschwellung vorbei, und als die Leber dünner geworden war, konnte man unter ihr einen grossen kugeligen cystischen Körper fühlen, den als Pancreascyste anzusprechen am nächsten lag.

Nachdem die Attacke in der Hauptsache vorüber war, nahm die Pat. die Entfettungskur sofort wieder auf, wozu ich ihr riet, damit sie durch möglichste Einschränkung ihrer Fettleibigkeit die Disposition zu Rezidiven des Pancreashämatoms verlöre. Jetzt hat sich die Cyste voll- ständig verloren.

Tagesordnung. Hr. Dreyer: Nutzen und Gefahren der Sauerstoflatmung bei schweren Blutverlusten.

Vortr. hat in Ergänzung der von Küttner begonnenen Unter- suchungen Versuche über die Wirksamkeit der Sauerstoff- und der Sauer- stoffüberdruckatmung bei lebensgefährlichen Blutverlusten angestellt. Das Resultat war: Bei schweren Blutverlusten ist eine günstige Wirkung der einfachen Sauerstoffatmung unverkennbar.

Von einer Sauerstoffüberdruckatmung liess sich ein darüber hinaus- gehender Nutzen nicht feststellen. Dahingegen ist die Atmung von einem überhaupt wirksamen, d. h. etwas stärkeren Ueberdruck bei ge- schlossenem Thorax von einer Einwirkung auf den Kreislauf begleitet, die als Abweichung von der Norm und damit im Sinne einer Schädigung aufzufassen ist.

Demnach ist von einer Sauerstoffüberdruckatmung, solange nicht neue, bisher unbekannte Tatsachen beigebracht worden sind, als Hilfs- mittel bei schweren Blutverlusten abzusehen.

Hr. Rosenfeld: Eiweisskörper und Leberverfettung. (Siehe Teil II.)

Diskussion.

Hr. Minkowski weist darauf hin, dass man bei der Berechnung von Durchschnittswerten nicht Zahlen in Rechnung setzen darf, die sich in ganz extremer Weise vom Durchschnitt entfernen. Berücksiehtigt man diesen Umstand, so ergibt sich zwischen den Wirkungen des Muskel- fieisches und der Thymusdrüse in bezug auf die Fettablagerung gar keine wesentliche Differenz. Damit aber würde den weiteren Schluss- folgerungen des Herrn Vortragenden eigentlich die Basis entzogen, da Ja in bezug auf die Kohlehydratablagerung Muskelfleisch und Thymus sich ganz verschieden verhalten sollen.

Auch dass die Benzoesäure durch ihre Paarung mit Glykuronsäure dem Organismus Kohlenhydrate entziehen und dadurch die Fettablagerung begünstigen sollte, erscheint kaum annehmbar. Denn die Paarung mit Glykuronsäure spielt nach Zufuhr von Benzoesäure im Vergleich zur Paarung mit Glykokoll eine so untergeordnete Rolle, dass bei dem grossen Umfang des Kohlenhydratumsatzes im Organismus die Entziehung einer so geringen Menge von Kohlenhydratgruppen kaum einen wesent- lichen Ausschlag geben könnte.

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 57

Hr. Rosenfeld: In der Thymustabelle fällt ausser dem Versuch I 26 noch der Versuch IS6 und IS9 aus der Reihe, insofern als bei diesen die N-Ausscheidung sowie die Glykosurie auffallend schwach war; dies würde die Mittelzahl wiederherstellen. Jedenfalls zeigt die überwiegende Zahl der Fälle, in denen die Leberverfettung durch Thymus nicht ver- hütet ist, deren Insuffizienz gegenüber dem Fleisch.

Die Ausscheidung von Kohlenhydraten nach Glykokoll ist beim Hunde keineswegs gering, jedenfalls meist grösser als die Hippursäure- zahlen. Beim Menschen, bei dem Herr Minkowski wohl zumeist Ver- suche gemacht hat, ist das Verhältnis vielleicht anders. Es kommt auch gar nicht auf die absolute Grösse der Kohlenhydratentziehung an; beim Alkohol z. B. ist sie minimal, beim Phosphor fehlt sie ganz, und doch beweisen zwei Tatsachen die wahre Rolle der Kohlenhydrate: erstens, dass die höchsten Glykogenmengen der Leber durch Phosphor, Arsen in wenigen Stunden schwinden, zweitens, dass alle Verfettungen durch die geeigneten Kohlenhydrate verhindert werden.

Klinischer Abend vom 3. Juni 1910. Vorsitzender: Herr Uhthoff.

1. Hr. Ponfick: Worte der Erinnerung an Robert Koch. 2. Hr. Uhthofl: Zwei bemerkenswerte Fälle von plötzlicher doppelseitiger Erblindung im höheren Lebensalter. (Siehe Teil 11.)

Diskussion.

Hr. Bonhoeffer: Wenn es sich in den beiden interessanten, von dem Herrn Vortragenden angeführten Fällen von akut eingetretener Er- blindung und Opticusatrophie um basale Blutungen gehandelt hat, so würde vielleicht durch die Lumbalpunktion eine weitere Klärung des Falls zu erzielen gewesen sein, vielleicht sogar noch zu erzielen sein. Bei basalen intracraniellen Blutungen kommt Blut in den freien Subdural- raum und zumeist auch in den Arachnoidealraum. Es ist dann im Lumbalpunktat, wenn die Passage frei ist, eine durch die Lösung von Hämoglobin bedingte Gelbfärbung des Liquor zu erwarten. Es scheint nicht völlig ausgeschlossen, dass dies vielleicht auch jetzt nachweisbar ist.

Mit der Diagnose basaler Blutung schwer vereinbar ist, wie auch der Herr Vortragende hervorhebt, das Fehlen anderer Cerebralsymptome, da die Blutung doch so stark sein musste, dass die optischen Bahnen akut ausser Funktion gesetzt wurden.

Ich möchte bei der nachgewiesenen Arteriosclerose der Retinal- gefässe in Erwägung geben, ob in der Retina bzw. in dem Optieus nicht ein ähnliches Verhalten statthaben kann, wie wir es gelegentlich im Gehirn sehen. Ohne dass es zu ausgesprochenen thrombotisch oder embolisch bedingten Gefässverschlüssen kommt, wird allein schon durch die arteriosclerotische Verschlechterung der Zirkulation eine Ernährungs- störung des Gewebes bedingt, die sich in einem allmähligen Zugrunde- gehen des nervösen Gewebes in Form von Atropbie dokumentiert. Alzheimer und Schroeder haben solche nicht embolisch oder thrombotisch bedingte arterioselerotische Veränderungen beschrieben. Es scheint nicht undenkbar, dass auch im Opticus, wenn längere Zeit eine derartige unzulängliche Ernährung stattgefunden hat, eine akute irgend- wie bedingte stärkere Blutdruckschwankung, die in beiden Fällen wohl nach den anamnestischen Daten angenommen werden darf, ausreichen kann, die Sehfunktion definitiv zu vernichten, ohne dass das Bild der Embolie oder Thrombose der Zentralarterie auftritt, und ohne dass eine völlige Aufhebung der Zirkulation einzutreten braucht.

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3. Hr. Lenz-Breslau: Vortr. berichtet nach Demonstration der Instrumente über die Erfahrungen, die mit dem Exophthalmometer (Hertel), Tonometer (Schiötz), und dem Anomaloskop (Nagel) in der Breslauer Universitäts-Augenklinik gemacht wurden. Das Exoph- thalmometer hat sich speziell für die zahlenmässige Feststellung der Zunahme eines Exophthalmus bei einfacher Handhabung gut bewährt. Bei dem Tonometer nach Schiötz wird namentlich die Gleichmässigkeit der Resultate hervorgehoben, die verschiedene Beobachter zu gleicher Zeit erhielten. Das Instrument hat sich als ein sehr brauchbares In- strument erwiesen speziell dann, wenn es darauf ankam, leichtere Druck- steigerungen zu konstatieren, wie z. B. beim Glaukoma simplex, und die Wirkung der therapeutischen Maassnahmen in exakten und relativ fein abstufbaren Werten zu kontrollieren. Die Anwendung war im ganzen einfach, eine Schädigung der Hornhaut durch das Aufsetzen des Instruments auf dieselbe wurde nicht konstatiert.

Einer eingehenden Besprechung wird das Anomaloskop gewürdigt, dass der Analyse der Farbensinnanomalien mit Hilfe spektraler Gleichungen dient. Die typischen Verwechslungsgleichungen hat der Vortr. ausge- tuscht, mit Autochromplatten (Lumicre) photographiert und demonstriert diese als Diapositive. Der Hauptwert des Instrumentes liegt nach der Ansicht des Vortr. in der Schnelligkeit der exakten Diagnose der Farben- sinnanomalie. Die zahlenmässige Festlegung der Resultate gestattet einmal eine spätere Kontrolle und besonders ermöglicht sie Vergleiche mit den Prüfungsergebnissen von anderen Farbenblinden. Und gerade deshalb wird es durch die sehr einfache Untersuchung zahlreicher Personen möglich sein, die Resultate wissenschaftlich zu verwerten und ey. neue Typen aufzustellen.

4. Hr. Mohr stellt eine 17jährige Patientin nach Hess’scher Ptosis- operation vor. Dieselbe hat mit S Jahren aus unbekannter Ursache eine Oculomotoriuslähmung erlitten, die nunmehr in allen Zweigen zurück- gegangen ist, bis auf eine rechtsseitige komplette Ptosis.

Abgesehen von der kosmetischen Beeinträchtigung durch dieses Leiden besteht natürlich auch praktisch vollkommene Gebrauchsunfähig- keit des befallenen Auges, wenn nicht Abhilfe geschaffen wird. Die Menge der angegebenen Operationsmethoden und das eifrige Suchen nach neuen Modifikationen zeigt, dass die meisten angegebenen Verfahren unbefriedigende Resultate geben, selbst die, welche versuchen, die fehlende Muskelfunktion des Levator palpebrae durch andere Muskeln (Frontalis, Reetus superior) zu ersetzen. Als konservativ-mechanische Methoden sind Ptosisbrille, Ptosisspange oder beim männlichen Geschlecht in be- stimmten Gesellschaftskreisen das Tragen eines Monokels zu erwähnen.

In der hiesigen Augenklinik sind recht gute Resultate mit der Hess’schen Operation erreicht worden, die darin besteht, dass von einem Hautschnitt im Arcus superciliaris aus die Lidhaut bis fast zum Lidrand in ganzer Breite unterminiert wird und dann durch Matratzennähte in einer Falte nach oben gezogen und zur Vernarbung gebracht wird. Man hat während der Nachbehandlung durch Nachlassen oder Anziehen der Nähte beständig die Modifikation des Effektes in der Hand. (Demon- stration einer Anzahl Photographien von Patienten nach dieser Operation.)

Contraindiciert ist die Operation, falls noch eine Lähmung des Rectus superior besteht, da alsdann die physiologische Aufwärtsrollung des Bulbus im Schlafe fehlt und die Cornea in der zuweilen noch leicht offenen Lidspalte Schaden nehmen kann. Trotz der vor allem kosmetisch vor- züglichen Resultate muss der Eingriff als ein relativ grosser und die Nachbehandlung als eine ziemlich langdauernde bezeichnet werden.

Sodann wird ein jetzt Iljähriges Mädchen mit beiderseitiger grosser Gesichtsspalte und grosser Gaumenspalte vorgestellt, das durch die

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weitklaffenden Spaltbildungen aufs äusserste entstellt war. Das Kind war von den Eltern vollständig dem Anblick der Mitwelt entzogen worden und aus abergläubischen Vorstellungen heraus vernachlässigt und miss- handelt worden. Es wurde zufällig von einem Menschenfreund gesehen, als es über die Strasse huschte und, sobald es sich beobachtet sah, sich in eine Scheune flüchtete und dort ins Heu einwühlte, offenbar instinktiv seine abscheuerregende Hässlichkeit fühlend. Geistig und körperlich war das Kind vollkommen verwildert. Der Entdecker brachte das Kind in die hiesige chirurgische Klinik, wo noch v. Mikulicz seinerzeit die grossen offenen Gesichtsspalten plastisch deckte. Später wurde das Kind der Augenklinik überwiesen. Ophthalmologisch interessierte, dass nach Angabe der Verwandten schon bald nach der Geburt das rechte Auge sich entzündete und schrumpfte, offenbar deshalb, weil das Lid an dem defekten unteren Orbitalrand nicht genügend Halt fand, und ekropionierte, so dass der Bulbus nicht mehr den genügenden Schutz hatte.

Man fand jetzt in der Tiefe der Orbita ein phthisisches, nicht mehr entzündlich affiziertes Auge und ein stark deformiertes, nasal defektes, ekropioniertes Unterlid. Mittels Fricke’scher Lappenbildung aus der Schläfengegend wurde ein neues Lid gebildet mit gutem kosmetischem Effekt. Das Kind wurde nun wieder von den Eltern aufgenommen, konnte gemeinsam mit den übrigen Kindern die Schule besuchen und entwickelte sich nunmehr auch geistig in jeder Beziehung uormal.

Die Sprache war bis jetzt noch wegen des grossen Gaumendefektes etwas unverständlich. Diesen mit Gaumenplatten zu decken unternahm Herr Riegner, so dass jetzt auch die Sprache verständlich ist. Durch das Zusammenwirken der verschiedenen ärztlichen Disziplinen wurde das Kind auf diese Weise dem praktischen Leben wiedergegeben.

5. Hr. Hegner: Ueber die Wirkungsweise des (uarzlichtes auf das Trachom. (Siehe Teil II.)

6. Hr. Geis: Die Ionentherapie bei Erkrankungen des Auges.

Bereits seit längerer Zeit war man bestrebt, Medikamente vermittels des elektrischen Stromes in den menschlichen Körper einzuführen. Erst als die neueren Kentnisse der Elektrolyse uns Aufschluss über die Fort- pflanzung des elektrischen Stromes im menschlichen Körper gaben, gelang es wirklich, vermittels der Iontophorese Medikamente in den Körper einzuführen. Setzt man die Elektroden eines galvanischen Elementes an den menschlichen Körper, so geraten die lonen derart in Bewegung dass die Auionen zur Anode wandern und die Kationen zur Kathode. Bringt man nun zwischen Körper und Elektrode eine elektro- lytische Lösung, so tritt bekanntlich ein Ionenaustausch ein, indem der Körper au der Anode seine Anionen abgibt und dafür die Kathionen der Lösung empfängt. An der Kathode gibt er seine Kationen ab und empfängt die Anionen der Lösung. Bringt man also z. B. eine Zink- lösung an die Anode, so gibt der Körper seine Chlorionen als Anionen ab und empfängt die Kationen der Lösung, nämlich die Zinkionen; diese haben nun als Kationen das Bestreben, von der Anode weg zur Kathode zu gelangen, so dass also auf diese Weise Zink in die Tiefe des Gewebes selbst eindringt. Die Tiefe des Eindringens ist abhängig von der Stärke und Dauer des angewandten Stromes, und ihre Wirkung ist natürlich am stärksten an der Stelle des Eintritts in den Körper. Man hat nun die verschiedensten Medikamente in ihrer lokalen ionto- phoretischen Wirkung untersucht. Es sollen z. B. mit dem Zinkion eiternde Geschwüre, tuberkulöse Gewebe, chronische eiternde Katarrhe zur Ausheilung und Vernarbung in wenigen Sitzungen gebracht worden sein,

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In der Augenheilkunde wurde die Ionentherapie erst vor kurzem von Wirtz eingeführt. Eine grosse Anzahl von infektiösen Hornhaut- prozessen ist durch die Antiseptica eben deswegen nicht zu beeinflussen, da diese in der gewöhnlichen Konzentration eine oberflächliche Nekrose bedingen und dadurch am Eindringen ins Gewebe verhindert werden; durch den elektrischen Strom dagegen gelingt es, sie bis zu jeder be- liebigen Tiefe ins Gewebe zu bringen. Man hat nun (Wirtz, Zahn) die verschiedensten Medikamente in ihrer ionthophoretischen Wirkung auf die Hornhaut des lebenden Kaninchens untersucht und auch die Stärke der Dosierung, die natürlich abhängig ist von der Stärke und der Dauer des Stromes, genau festgestellt. Im grossen und ganzen ist das Zink in einer halbprozentigen Zine. sulf.-Lösung am geeignetsten. Um die Art der Wirkung kennen zu lernen und festzustellen, ob auch wirklicb eine Tiefenwirkung ensteht, hat Zahn sodann zahlreiche Kaninchenaugen, die man zu den verschiedensten Zeiten nach der Ionto- phorese enucleierte, mikroskopisch untersucht. Es ergab sich dabei, dass schon bei ganz schwachen Strömen, nach deren Anwendung inner- halb zwei bis drei Wochen eine vollständige Restitutio der klaren und durchsichtigen Hornhaut eintrat, die Wirkung des Zinkion auf die Horn- haut eine solch hochgradige und tiefgenende war, dass das ganze Gewebe der Hornhaut wie ausgetrocknet war und die Zellkerne ihre Färbbarkeit verloren. Die Veränderungen entsprachen an Ausdehnung genau der Grösse der angewandten Elektrode und waren in den tiefsten Schichten genau so ausgesprochen, wie in den vordersten; ein Beweis der wirk- lichen Tiefenwirkungen der Iontophorese. Diese bedeutenden Schädigungen des Gewebes durch verhältnismässig schwache Ströme legen die Ver- mutung nahe, dass die Wirkungen der Iontophorese auch in einer direkten Schädigung der das Gewebe durchsetzenden Eitererreger beruht. Diese so günstigen experimentellen Ergebnisse waren nun die Ver- anlassung, die Iontophorese bei den verschiedensten Augenerkrankungen anzuwenden. Während man vun meistens bei Keratitis parenchymatosa, Seleritis, Maculae corneae u. dgl. keinen Erfolg sah, sollen die Erfolge bei Hornhautgeschwüren, speziell auch beim Uleus serpens, sehr günstig sein. Nach einer oder wenigen Sitzungen entsteht ein grauweisser Schorf, der sich in wenigen Tagen abstösst; das Geschwür reinigt und über- häutet sich. Die Narbe ist sehr zart und fein, zum Teil soll die Ionto- phorese den Kauter vollständig ersetzen. Günstig sind auch die Erfolge bei Blepharitis ulcerosa, Keratitis dendritica u. dgl.

In der Breslauer Universitäts-Augenklinik wurden in der letzten Zeit ebenfalls mehrere Fälle mit Iontophorese behandelt. Die An- wendung geschah auf folgende Art: Eine kleine Elektrode wird mit einer balbprozentigen Zine. sulf.-Lösung gefüllt, und die Lösung tränkt einen an der Spitze angebrachten Wattepfropf, der beliebig gross zu wählen ist. Die Elektrode wird mit der Anode des galvanischen Stromes ver- bunden, während der Patient die Kathode in die Hand bekommt. Nach Einlegen eines Lidhalters wird dann die Elektrode direkt auf den Horn- hautprozess aufgesetzt, bei Liderkrankungen direkt auf die Lider, dann lässt man den elektrischen Strom in Stärke von zwei M.-A. 1-2—3 Minuten einwirken, bis ein grauweisser feiner Schorf entsteht. Die Methode wurde zunächst angewandt bei Blepharitis ulcerosa; dabei stellte sich aber heraus, dass die Prozedur an den Lidern sehr schmerzhaft war und auch nicht rascher zum Ziele führte wie bei der gewöhnlichen lokalen Behandlung. Weniger schmerzhaft dagegen erwies sich die Iontophorese der Hornhaut vor allem, wenn die Bindehaut nicht berührt werden musste. Beim scrophulösen Hornhautgeschwür hatte man gute Erfolge. Ueber die iontophoretische Wirkung beim Pneumokokken- geschwür kann ein abschliessendes Urteil erst gewonnen werden nach

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Ablauf einer für das Ulceus serpens günstigeren Jahreszeit, um dann erst auf Grund einer grossen Anzahl von Ulcera ein endgültiges Resultat zu erhalten. Jedenfalls aber kann man sagen, dass der Iontophorese eine gewisse Bedeutung in der Therapie zukommt.

Hr. Bogatsch stellt einen Fall von rezidivierender Oculomotorius- lähmung vor.

Der 19 jährige Patient leidet seit seinem 6. Jahre an anfallsweise auftretenden, heftigen, rechtsseitigen Kopfschmerzen mit Unwohlsein und Erbrechen, die nach 2 Tagen von einer vollständigen Lähmung des rechten Oculomotorius abgelöst werden. In den ersten beiden Tagen fühlt Patient sich so matt, dass er sein Bett aufsuchen muss; sobald jedoch die Lähmung eingetreten ist, lassen die Kopfschmerzen nach; sein körperliches Befinden wird rasch besser. Im Verlauf von S Tagen sind die Augensymptome abgeklungen; Patient ist wieder ganz gesund und frei von Beschwerden; sein rechtes Auge soll dann wieder ganz normal sein. Diese Anfälle wiederholen sich alle 7—8 Wochen.

S Tage nach einem solchen Anfall stellte sich Patient vor. Es konnte folgender Befund erhoben werden. Etwas blasser, aber kräftiger junger Mann; innere Organe normal; Obr, Nase, Nebenhöhlen ohne pathologischen Befund; geringe Neigung zu nervöser Disposition; Sero- reaktion nach Wassermann negativ; kein Anhalt für Lues oder Tuber- kulose. Geringe Ptosis oder Divergenzstellung des rechten Auges. Die Bewegungen des rechten Bulbus nach links und unten weisen kaum merkliche Störungen noch auf, während beim Blick nach oben das rechte Auge ganz bedeutend zurückbleibt. Die inneren Zweige des Oculo- motorius (Sphincter, Pupillae, Akkomodation) sind noch völlig gelähmt. Es bestehen typische gekreuzte Doppelbilder. Aetiologisch ist eine Läsion (Tumor) anzunehmen, die den intracraniellen Oculomotoriusstamm trifft; dafür spricht die Tatsache, dass der Nerv in allen Zweigen be- troffen ist. Zwei Seetionen bestätigen die Annahme, die das eine Mal ein Neurofibrom, das zweite Mal ein Fibrochondrom ergaben, die die Fasern des Nerven auseinandergesprengt hatten.

Die Prognose ist quoad vitam günstig, quoad sanationem infaust, da Heilungen bis jetzt noch nicht beobachtet worden sind.

8. Hr. Uhthoff: Vorstellung eines Falles von Gummata beider Augenlider mit auf- fällig schneller Rückbildung.

Sitzung vom 10. Juni 1910.

Vorsitzender: Herr Ponfick. Schriftführer: Herr Minkowski.

Hr. Triepel: Die anatomische und medizinische Nomenklatur.

Unsere Nomenklatur weist, wie wohl allgemein bekannt ist, zahl- reiche Mängel auf. Man hat auch schon öfter den Versuch gemacht, dem Uebelstande abzuhelfen, freilich sind die Erfolge, die hierbei erzielt wurden, noch nicht sehr gross. Der Praktiker geht an Nomenklaturfragen meistens achtlos vorüber, und doch wäre es sehr wünschenswert, wenn auch er zur Abstellung der gröbsten Missstände die Hand böte.

Ich habe als Anatom mich vorwiegend mit der anatomischen Kunst- sprache beschäftigt und werde mir daher erlauben, Ihnen zuerst und ausführlicher über diese zu berichten.

Die anatomische Nomenklatur hat eine lange Geschichte, von der ich aber hier nur denjenigen Teil besprechen kann, der in die jüngste Zeit fällt. Im vorigen Jahrhundert wurde es als ein grosser Uebelstand empfunden, dass mit der Zeit eine ungeheure Menge synonymer Bezeich-

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nungen gebildet worden war, und dies war die Hauptveranlassung dafür, dass die deutsche anatomische Gesellschaft 1839 eine Kommission mit der Abfassung eines einheitlichen Namensverzeichnisses beauftragte. Nach 6 Jahren war die Arbeit der Kommission beendet, und die anatomische Gesellschaft nahm 1895 auf ihrer Versammlung in Basel das Namens- verzeichnis einstimmig und ohne Kritik an. Die Baseler Nomina ana- tomica, abgekürzt BNA, hatten einen gewaltigen Erfolg, sie gingen in zahlreiche Lehrbücher und Atlanten über und fanden so die weiteste Verbreitung. Und doch stecken sie voll von Fehlern und Unschönheiten. Im vorigen Jahre machte ich mit Unterstützung von Fachphilologen den Versuch, die Mängel der BNA zu beseitigen, und als Frucht dieser Arbeit erschien unter dem Titel „Nomina anatomica“ ein neues Namens- verzeichnis.

Die Ausstellungen, die man an den BNA machen kann, sind ver- schiedener Art, ich muss mich darauf beschränken, einige Beispiele an- zufübren. Zunächst sind verschiedene Mängel der BNA sachlicher Natur. Der Muse. abductor pollieis brevis abduziert den Daumen gar nicht, er sollte seiner Funktion nach Opponens pollieis superficialis heissen. Die uralte Bezeichnung Intestinum rectum ist falsch, als erste Kennzeichen des „geraden“ Darms werden in den BNA zwei Krümmungen angegeben (Flexura sacralis, Flexura perinealis)! Man könnte das Rectum leicht ersetzen durch Enddarm, Intestinum terminale.

Die anatomische Sprache ist reich an bildlichen Ausdrücken; es wäre kleinlich, wenn man alle Bilder, wie Thalamus optieus, Aquaeductus cerebri u.a.m. streichen wollte. Nur an der Pia mater, der frommen Mutter, habe ich in meinen Nomina anatomica nicht festgehalten, ich habe sie durch Meninx vasculosa ersetzt.

Viel zahlreicher als die sachlichen sind die sprachlichen Mängel der BNA.

Einige Bildungen des Namensverzeichnisses stellen sich als grobe grammatische Fehler dar. So lautet hier der Genetiv von genu auch wieder genu (anstatt genus), der Genetiv von cornu auch wieder cornu (anstatt cornus). Falsch ist glomerulus, das Diminutiv von dem säch- lichen glomus kann nur heissen glomerulum. Falsch ist es ferner, Knäuel- drüsen mit Glandulae glomiformes zu übersetzen, richtig wäre Glandulae glomeriformes. Auch Porus sudoriferus ist zu beanstanden, er ist umzu- ändern in Porus sudorifer. Weiterhin findet man in den BNA eine männliche Appendix (App. fibrosus hepatis), sowie einen weiblichen Paries (P. membranacea u. ähnl.)! Im Anschluss sei erwähnt, dass man nicht der Embryo, sondern das Embryon zu sagen hat.

Sodann sind manche richtigen Wörter falsch gedeutet und demnach falsch angewendet worden, wodurch oft die lächerlichsten Zusammen- setzungen herauskommen. Vasa lIymphatica heisst wasserscheue Gefässe, Art.-pudenda, Arterie, deren man sich schämen muss; N. pudendus, Nerv, dessen man sich schämen muss; Ligg. eruciata, gekreuzigte Bänder! Die genannten Ausdrücke lassen sich gut ersetzen durch Vasa lympharia, Art. pudendorum, N. pudendorum, Ligg. erueiformia. Die Oblongata (seil. medulla), ein neugebildetes Wort, kann nur mit länglich gemachtem Mark übersetzt werden, passend wäre für verlängertes Mark prolongata. Con- jugata (seil. diametros) heisst der verbundene, der verheiratete Durch- messer, nicht zu beanstanden ist recta, gerader Durchmesser. Iliacus ist nicht etwa von ilia (Weichen) abgeleitet, sondern ist Adjecetivum zu ileus; sehr hübsch ist z. B. Spina iliaca anterior superior, die vordere, obere, an Darmverschlingung leidende Spitze u. ähnl.m. Ich habe in den Nomina anatomica das von ilia richtig abgeleitete ilieus für iliacus eingesetzt. Thoracicus bezeichnet zwar auch ursprünglich einen Kranken, es heisst „an Brustschmerzen leidend“, ischiadieus heisst „an Hüftweh

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leidend“, aber diese beiden Worte sind doch wenigstens richtig von thorax bzw. ischion abgeleitet.

Ferner gibt es eine Reihe von Bezeiehnungen, die vollkommen will- kürlich gebildet siod, die zum Teil jeder sprachlichen Grundlage ent- behren. Hier sind zu nennen hallux und tendo, wofür ich die richtigen Wörter hallex und tenon gebrauche. An Stelle von stapes, einem sehr hässlichen Wort, habe ich das von einem Philologen empfohlene pedi- stibulum eingeführt. Ganz sinnlos sind hilus, ileum und synovia, ich habe sie durch porta, ilicum und serum articulare ersetzt. Auch cerumen ist willkürlich gebildet, die Römer nannten das Ohrenschmalz sordes aurium.

Sehr zahlreich sind in der anatomischen Kunstsprache die Eigen- schaftswörter auf ides bzw. ideus. Man hat hier Adjectiva zu unter- scheiden, die eine Aehrlichkeit, und solche, die die Zugehörigkeit be- zeichnen. Jene dürfen nur mit der Endung ides gebildet werden, man hat also zu sagen Muse. deltoides und nicht etwa deltoides oder deltoideus oder deltoideus; man hat zu sagen Processus mastoides, Os hyoides usw. Soll dagegen die Zugehörigkeit bezeichnet werden, so ist aus sprachlichen Gründen der Endung ideus die in jüngster Zeit empfohlene Endung idieus vorzuziehen. Gut ist hiernach Art. deltoidiea, Foramen mastoidieum, Muse. stylobyoidieus usw. £

Ganz schlecht in sprachlicher Beziehung sind die Bildungen auf idalis, wie ethmoidalis, sphenoidalis. Sie sind zu ersetzen durch ethmoides, sphenoides bzw. ethmoidieus, sphenoidieus.

Noch einige Adjectiva auf eus habe ich zu erwähnen, deren Endung in icus oder ius verwandelt werden sollte. So ist z. B. laryngius besser als laryngeus, oesophagius besser als oesophageus, carpicus besser als carpeus usw.

Hier spielt, wie bei den vorhin erwähnten Wörtern auf ideus, die Betonungsfrage eine wichtige Rolle. Man hört gelegentlich laryngeus (mit dem Ton auf der drittletzten Silbe), das ist gänzlich unberechtigt; laryngeus lässt sich allenfalls verteitigen, das beste bleibt freilich laryn- gius (oder laryngieus).

Leider werden sehr oft auch bei anderen Wörtern Betonungsfehler gemacht. So kann man z.B. hören: umbilieus, vesica, mediastinum, urethra, cardia, während es heissen muss: umbilicus, vesica, medias- tinum, urethra, cardia. Soleus ist zwar kein richtiges lateinisches Wort, es soll aber offenbar lateinisch sein, und darum darf man keinesfalls soleus aussprechen. Ich fürchte, wenig Beifall zu finden, wenn ich auch retina als falsch bezeichne, richtig würde sein retina.

In der Nomenklaturkommission der anatomischen Gesellschaft ist viel darüber gestritten worden, ob es sich empfiehlt, Personennamen zu verwenden, wie in Bauhin’scher Klappe, Ductus Botalli u. a. m. Ich glaube mit Wilhelm His, dass soß'he Namen cinen gewissen didak- tischen und auch einen gewissen historischen Wert besitzen. Nur soll man sich davor hüten, sie in allzugrosser Häufung zu gebrauchen.

Auch in der medizinischen Nomenklatur, zu der ich mich jetzt wende, spielen die Personennamen eine grosse Rolle, es werden häufig durch solche Namen gute sachliche Bezeichnungen verdrängt. (regen den Missbrauch ist in jüngerer Zeit Orth aufgetreten, ebenso Mamlock- Berlin. Dieser tadelt u.a, dass man gelegentlich mehrere Personen- namen zu einem einzigen hässlichen Wort verbindet, in dem Bestreben, jedem Autor zu seinem Rechte zu verhelfen. Als Beispiel wird auge- führt die „Wassermann-A. Neisser-Bruck’sche Reaktion“. Weiter- hin wendet sich Mamlock gegen die Gewohnheit, ein Symptom einzig und allein durch einen Personennamen ohne erklärenden Zusatz zu be- zeichnen. Wenn es in einer Krankengeschichte (Otitis media) heisst:

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„Weber nach rechts, Rinne negativ, Schwabach verlängert“, so ist das zwar kurz, aber gewiss nicht besonders schön.

Auch sprachliche Mängel weist die medizinische Kunstsprache auf, aber, wie ich glaube, nicht in demselben Umfange wie die anatomische. A. Rose-New York hat sich ein unbestreitbares Verdienst dadurch er- worben, dass er in zahlreichen Schriften auf die Fehler der medizinischen Nomenklatur aufmerksam gemacht, und dass er die Bearbeitung eines Lexikons der sprachlich gereinigten Fachausdrücke in Angriff ge- nommen hat.

Ich beschränke mich darauf, von den vielen inkorrekten medizinischen Namen einige als Beispiele anzuführen.

Ein vielgebrauchter Ausdruck ist Hämoptod, aber der zweite Teil dieses Wortes besitzt keine sprachliche Grundlage. Richtig und schon im Altertum geläufig ist die Bezeichnung Hämoptysis.

Inkorrekt sind ferner Actinomyeose, Glykosurie, Cholelithiasis, es sollte heissen Aetinomycetose, Glykurie, Chololithiasis.

Das fehlerhafte Diphtheritis hört man heute erfreulicherweise schon ziemlich selten, richtig ist Diphtherie.

Sehr oft begegnet man hybriden Bildungen, d.h. solchen, die aus lateinischen und griechischen Elementen zusammengesetzt sind. Sie sollten nach Möglichkeit vermieden werden. Hierhin gehören vor allem Namen von Entzündungen, wie Appendicitis, Tonsillitis, Conjunetivitis, auch Tuberkulosis ist hybrid. Hier reinen Tisch zu machen, halte ich zurzeit freilich nicht für angängig, und Ausdrücke wie Conjunctivitis und Tuberkulosis sind kaum durch andere, gleich kurze und gleich prägnante, zu ersetzen. Bei Tuberkulosis will selbst der sonst so strenge Rose ein Auge zudrücken.

Die Aussichten auf eine sprachliche Reinigung unserer Nomenklatur sind, wie mir scheint, bei dem medizinischen Anteil besser als bei dem anatomischen. Richtige Bezeichnungen, wie Diphtherie, Perityphlitis u.a., werden mit der Zeit immer mehr Boden gewinnen. Die sprach- lichen Mängel der anatomischen Nomenklatur kann man einteilen in Schönheitsfehler und grobe Schnitzer. Der Kampf gegen die Schönheits- fehler stösst auf die grössten Schwierigkeiten, er wird wohl erst dann zu Ende geführt werden, wenn ein neuer Vesal auftritt, der die Ana- tomie nicht nur in sachlicher, sondern auch in formeller Beziehung voll- kommen beherrscht. Eine Ausrottung der groben Schnitzer karn man schon eher, wie ich glaube, auf dem Wege der Agitation erreichen. Man sollte immer wieder betonen, dass wir z.B. keinen an Darm- beschwerden leidenden Muskel besitzen, keine gekreuzigten Bänder, keine wasserscheuen Gefässe, keine Nerven und Arterien, deren wir uns schämen müssen.

Diskussion.

Hr. Rosenfeld: Zu den sehr*zu unterstützenden Bestrebungen des Herrn Vortr. kann ich nur meine Zustimmung aussprechen. Freilich bin ich in einigen Punkten nicht seiner Meinung. Wenn der Vortr. meint, man sollte statt laryngeus lieber laryngius sagen, so ist das Geschmacksache, ob man das Adjektiv eben mit lateinischer Endung - versieht oder ob man das Adjektiv aus dem Griechischen übernimmt und latinisiert. Für den Vorschlag, die Worte: „auf ein ides be- züglich“ nicht auf ideus, sondern auf idieus zu bilden, spricht die Hoff- nung, dass dann die schrecklich falsche Betonung leichter unterbleibt. Dass es Umbilicus heissen muss, ist sicher, ebenso Mediastinum. Aber die Art. pudenda nicht stehen lassen zu wollen, scheint mir nicht recht begründet. Haben doch die alten Anatomen gewiss soviel Latein verstanden, dass sie wussten, sie nannten damit die Arterie: eine, deren man sich schämen muss; ich meine, das ist die halbhumoristische Auf-

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 65

fassung der alten Anatomen, die ja auch das eine Paar der Vierhügel Nates genannt hat. Der Tadel, der gegen das Wort Glykosurie erhoben ist, scheint mir nicht berechtigt. Für Zuckerruhr besteht schon das riehtig gebildete Wort Meliturie. Wollte man mit Glykosurie dasselbe sagen, so dürfte es auch nicht, wie Vortr. empfiehlt, Glykurie, sondern Glykyurie heissen: Glykosurie heisst aber Ausscheidung von Glykose, identisch mit Dextrosurie und analog mit Levulosurie, mit Pentosurie. Höchstens konnte man Glykyurie oder noch besser Saecharurie bilden, um das der Sache nach nicht mehr berechtigte Meliturie (mit einem |, aber Mellitus mit 2 I) zu vermeiden; es wird ja doch nicht Honig ent- leert. Dass es wünschenswert wäre, die Autorennamen zu ersetzen, ist zuzugestehen, aber sehr umständlich. Es ist ja unglaublich komisch, wenn, wie Hermann Cohn auf die Bildung Meibomitis sagte, „so ein alter Geheimrat sich plötzlich entzündet“, aber wie sollte jener zitierte Obrenbefund kürzer beschrieben werden? Bei der Fülle neuer Sym- ptome wird die Bezeichnung nach dem Autor vielleicht noch insofern das geringere Uebel sein, weil sie die wenigsten Missverständnisse veranlasst.

Hr. Ephraim hält seinen Vortrag über endobronchiale Therapie.

(Siehe Teil II.) Die Diskussion wird vertagt.

Sitzung vom 17. Juni 1910.

Vorsitzender: Herr Ponfick. Schriftführer: Herr Minkowski.

Diskussion über den Vortrag des Herrn Ephraim: Ueber endobronchiale Therapie.

Hr. Rosenfeld: Die endobronchiale Methode, die uns hier Herr Ephraim vorgeführt hat, verdient nach den bisherigen Resultaten sehr die Berücksichtigung der Aerztewelt, wenn auch andere Methoden, 2. B. die endotracheale Einspritzung von 4 pCt. Arg. nitricum durch die Rima glottidis hindurch, wie ich sie vor langen Jahren angegeben habe, auch nicht ganz ohne Erfolg bei Bronchitis putrida usw. sind. In einer früheren Sitzung ist die Gefährlichkeit des endobronchialen Verfahrens hervorgehoben worden, aber eine gute Technik vorausgesetzt, scheint sie nur durch die Verwendung von Cocain und ähnlichen Stoffen unangenehm werden zu können. Sie sieht für den Zuschauer ein wenig bedenklich aus, die Patienten empfinden aber nach ihren eigenen Angaben keine Belästigung.

Betreffs des Zustandekommens der Heilwirkung der endobronchialen Behandlung bei Asthma freut es mich, dass Herr Ephraim die Er- klärung, die ich in unseren Diskussionen darüber gegeben und vertreten babe, nunmehr sich auch zu eigen gemacht hat, die Auffassung nämlich, dass es sich um eine Art Abhärtungsverfabren an den Bronchien handelt. Diese neue Vorstellung ist durch die Analogie mit meiner Behandlung der Hyperemesis nervosa entstanden, die auf folgender Ueberlegung basiert: Wenn man den Pharynx durch den Finger stark berührt, so erzeugt man Brechwirkung. Je öfter das aber geschieht, um so mehr stumpft sich der Reiz ab, um so schwerer kommt es zum Erbrechen, der Pharynx wird abgebärte. Wenn man nun bei Hyperemesis nervosa eine Sonde bis in den Magen führt und stecken lässt, so ist das ähnlich einem am Pharynx stark reizenden Finger, der sogar bis in den Magen herabreicht. Auf diese Weise kommt es zu einer Abhärtung des Pharynx, der Brechreiz hört auf, und öfters habe ich mit einer einzigen Sondierung durch 2—3 Minuten die Hyperemesis neryosa heilen sehen; freilich be- durfte es nicht selten auch mehrerer Sondierungen u. ähnl.

Schlesische Gesellsch. f, vaterl, Kultur, 1910, 1. I

66 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Das Asthma besteht in einem Krampf der Bronchialmuskulatur, der mittels der Kältewirkung der Luft, die nieht mehr durch die Nase (welche durch die übermässig geschwellten Schwellkörper verschlossen ist) vorgewärmt ist, sondern direkt durch Mund und Larynx einströmt, hervorgerufen wird (oder eine nervöse Irradiation ist). Wird nun die Bronchialschleimhaut ausgiebig berührt, wie das bei der Bronchoskopie geschieht, so härtet sie sich gegen die Berührung mit kalter Luft ab und reagiert nicht mehr mit krampfiger Verengung. Die Abschwellung durch Cocain. Adrenalin ist ein gutes Unterstützungsmittel eben dieser Abhärtung. Die der endobronchialen Behandlung nachfolgende Expektora- tion ist die Folge: der Katarrh, der besteht, macht Seeretion; diese ist sonst meist resorbiert worden, weil durch das zusammengekrampfte Bronchialrohr die Expektoration schlecht gelang. Wahrscheinlich hat das Secret vorher auch noch zum Bronchospasmus beigetragen. Jetzt aber kann es glatt expektoriert werden und gelangt deshalb an die Aussenwelt. Da kein Bronchospasmus mehr entsteht, kommt es auch zur Heilung des begleitenden Katarrhs. Das scheint mir die allen Phäno- menen gerechtwerdende Erklärung für die Wirksamkeit der endobronchialen Therapie bei Asthma zu sein.

Hr. Joseph Kaliski: Ich habe einige Fälle von Asthma bron- chiale von Herrn Ephraim behandeln lassen. In allen Fällen wurde Besserung erzielt, in zwei Fällen war der Erfolg ein so ausgezeichneter, dass ich darüber mit wenigen Worten berichten möchte.

1. Eine 60 jährige Dame litt seit Jahren an hartnäckigen Bronchi- tiden, die von mehr oder minder schweren asthmatischen Anfällen be- gleitet waren. Ganz besonders während der rauheren Jahreszeit wurde sie viel von asthmatischen Anfällen gequält. Schon nach einer broncho- skopischen Behandlung, die während eines wenn auch leichteren Anfalles gemacht wurde, hörten die asthmatischen Beschwerden auf. Die während des Winters und Frübjahrs hier und da’ auftretenden übrigens von nun an leichteren Bronchitiden hatten nie mehr asthmatische Anfälle zur Folge. Patientin konnte sich nunmehr, was bisher nicht möglich war, ihren häuslichen Pflichten widmen, sie gewann die verlorengegangene Lebenslust wieder.

2. 37 jähriger Stukkateur, der seit 11/, Jahren an schweren asthma- tischen Anfällen litt, war seit vielen Monaten vollständig erwerbsunfähig. Nach einer einmaligen bronchoskopischen Spraybehandlung schwanden die asthmatischen Beschwerden, auch die Bronchitis besserte sich. Nach kurzer Zeit konnte er wieder seinem Beruf nachgehen, selbst während der Wintermonate war er ungestört tätig. Als im Anschluss an eine Influenza wieder leichtere asthmatische Erscheinungen eintraten, wurde er nochmals von Herrn Ephraim in einer Sitzung behandelt. Seitdem blieb er dauernd von Asthma verschont.

Ich möchte noch hinzufügen, dass der therapeutische Eingriff von den Patienten nicht als besonders unangenehm empfunden wurde. In einem Falle trat eine (leichte) Cocainintoxikation auf, deren Erscheinungen nach 1 Stunde geschwunden waren.

Hr. Minkowski: Da nach den Mitteilungen des.Herrn Vortragenden zu erwarten ist, dass die endobronchiale Behandlung in vielen Fällen versucht werden wird, so muss die Frage aufgeworfen werden, ob die Einführung des Bronchoskops unter allen Umständen unbedenklich ist. Dass die Einführung der starren Röhren so gut vertragen wird, beruht offenbar auf der Nachgiebigkeit des normalen Lungengewebes und der freien Beweglichkeit der Bronchien. Die Verhältnisse können sich aber ändern, wenn durch Infiltrationen der Lunge oder andere krankhafte Prozesse die Bronchien fixiert sind. Zum mindesten wird in solchen Fällen grosse Vorsicht geboten sein.

1. Abteilung. Medizinische Sektion. 67

Hr. Allard weist auf die Erfolge der Asthmabehandlung mit sub- eutanen Adrenalininvjektionen hin. Möglicherweise ist demnach der Er- folg der endobronchialen Therapie auf den Zusatz von Nebennieren- substanz zu der Injektionsflüssigkeit zu beziehen.

Hr. Ephraim: Die Ungefährlichkeit der Bronchoskopie bei Pneu- monie ergibt sich aus dem günstigen Verlauf der Extraktionen von Fremdkörpern, die zu einer solehen geführt hatten. Intratracheale In- jektionen bei Bronchiektasie usw. sind der unmittelbaren Aussaugung, Auswaschung usw. der Herde zweifellos weit unterlegen. Die Sterilität der tieferen Luftwege in der Norm wie nach der Inhalation von Bak- terienkulturen beweist, dass auch trockene, noch so kleine Partikel bei der Atmung nicht in die Tiefe dringen; übrigens war in dem Vortrag nur von Flüssigkeitsinhalation die Rede.

Das neryöse spastische Moment beim bronchialen Asthma wird höchstwahrscheinlich nur durch die lokale Entzündung ausgelöst, ebenso wie Spasmen des Darms, des Öesophagus usw. aus gleicher Ursache. Deshalb kann bei der endobronchialen Behandlung vielleicht schon der mechanische Reiz heilsam wirken. Mit der Annahme, dass das Bronchial- asthma auf allgemeiner neuropathischer Konstitution beruht, stehen die Tatsachen in Widerspruch, dass ein sehr grosser Teil der Asthmatiker quoad Nervensystem ganz gesund ist, dass bei den meisten übrigen die Neurasthenie sich erst als Folge der asthmatischen Beschwerden ent- wickelt hat, dass letztere durch psychische Einwirkungen nur selten zu beeinflussen sind, ferner die Seetionsbefunde u. dgl. Wenn man will, kann man die asthmatischen Erscheinungen ebenso wie die häufig be- gleitenden Affektionen der Nase und der Haut als Symptome der sogen. exsudativen Diathese nach dem Vorbild von Strümpell ansehen (andere sind ihrer Seltenheit wegen nicht als zum Asthma gehörig zu betrachten); eine ursächliche Beziehung zwischen diesen Erscheinungen besteht jedoch nicht.

So erklärt sich das Fiasko der endonasalen Behandlung beim Bronchialastbma. Es wird nur dadurch etwas verdeckt, dass die Be- handlung der Nase in manchen Fällen von Pseudoasthma gute Erfolge gibt. Und zwar in solchen, in denen eine partielle Nasenstenose be- sonders des Nachts, wo eine willkürliche Vertiefung der Atmung weg- fällt und die Nasenschleimhaut zur Anschwellung neigt, zur Verflachung der Atmung und zu Stauung im kleinen Kreislauf führt, die sich sub- jektiv als Atemnot geltend macht. Bei Mundatmern kommen derartige Zustände nicht vor.

Dauernde Erfolge sind beim Asthma nur von der Beeinflussung der erkrankten Schleimhaut zu erwarten (Jod, Röntgenbestrahlung; hierher gehören auch die schweisstreibenden Verfahren. Am unmittelbarsten wirkt auf sie die endobronchiale Behandlung; diese gibt auch die besten Erfolge. Die subeutanen Injektionen von Adrenalin haben keine Dauer- wirkung, sondern kupieren lediglich den einzelnen Anfall.

Die Asthmabehandlung stellt nur eine einzelne Form der endo- bronchialen Therapie dar, die sich auch in einer ganzen Reihe anderer Erkrankungen schon bewährt hat. Weitere Anwendungsmöglichkeiten dürften sich bei weiterer Verbreitung und qualitativer Ausgestaltung des Verfahrens noch eröffnen.

Hr. Tietze: 1. Beiträge zur Chirurgie der Leber.

a) Demonstration einer Reihe von Gallenblasen, welche wegen Empyem oder Hydrops exstirpiert worden waren und teils durch ihre Grösse, teils durch die Lagerung der Steine, teils durch ihre Zeichnung ein gewisses Interesse beanspruchten. Eine von diesen Gallenblasen zeigt neben einer Reihe ziemlich grosser Steine ein deutliches Careinom,

68 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vater]. Kultur.

Redner weist darauf hin, dass diese Kombinationen häufig beobachtet werden, und dass zwischen beiden Erscheinungen ein Zusammenhang konstatiert worden sei. Er ist durchaus der Meinung, dass dies möglich ist, fasst aber die Sache nicht so auf, dass der Reiz der Steine an sich das Carcinom hervorgerufen hat, sondern dass beide Erscheinungen Aus- druck einer schweren Destruktion und Veränderung im Charakter der Schleimhaut seien. Bezüglich der Operation beim Empyem ist er der Meinung, dass, wenn irgend möglich, die Exstirpation auszuführen sei, aber gerade bei dieser Affektion handelt es sich manchmal um so enorme Gallenblasen, dass die Operation derselben gewiss sehr grosse Schwierig- keiten darbieten würde, und so hat er sich oft genug mit der einfachen Eröffnung begnügen müssen. In einigen Fällen allerdings musste noch nachträglich die Gallenblase exstirpiert werden. Redner glaubt, dass man gerade auf diesem schwierigen Gebiete ganz besonders individuali- sieren müsse.

b) Krankendemonstration. Bei dem ersten der vorgestellten Patienten handelte es sich um einen solchen Fall von Gallenblasen- empyem, wo zunächst nur die Gallenblase eröffnet worden ist. Der Patient ist jetzt 48 Jahre alt und wurde vor zwei Jahren operiert. Es blieb aber eine Fiste) zurück, aus der sich fast sämtliche Galle ent- leerte. Daher vor einigen Wochen erneute Operation. Es wurde die Gallenblase aus ihren Schwarten befreit und exstirpiert, was sich aber sehr bald als Fehler erwies, denn es zeigte sich, dass der Choledochus durch eine Pancreatitis indurativa vollkommen verschlossen war, so dass die Gallenblase sehr gut zur Verbindung mit dem Darm hätte benutzt werden können. Glücklicherweise aber waren die Gallenwege so stark erweitert der Choledochus fast daumendick —, dass ohne grosse Mühe eine Verbindung zwischen Cysticus und Dünndarm angelegt werden konnte. Heilung.

2. Um ein Empyem der Gallenblase, das aber leider bereits per- foriert war, handelte es sich auch in einem zweiten Falle, welcher wegen der Beurteilung der augenblicklich sehr beliebten Bede-Kur erwähnt werden soll. Patient, Mitte der 40er, Lehrer, wird wegen eines schweren Gallensteinleidens in die Klinik aufgenommen; wahrscheinlich Per- foration der Gallenblase. Es besteht bereits Peritonitis. Die dem Patienten vorgeschlagene Operation wird von diesem abgelehnt, weil er vor einigen Wochen die Bede-Kur durchgemacht habe, wobei ihm ca. 30 walnussgrosse Steine abgegangen seien, er könne daher keine Gallensteine mehr haben. Die Nacht verläuft sehr schlecht. Endlich entschliesst sich Patient am nächsten Tag zur Operation. Perforation der Gallenblase, allgemeine Peritonitis, Choledochotomie, Hepaticus- drainage. Patient stirbt nach 3 Tagen an Sepsis. Bei der Section zeigt sich, dass die Gallenwege zwar erweitert sind, dass sie aber niemals Raum geboten haben würden für die Menge und Grösse der von dem Patienten angeblich entleerten Steine. Es sind noch zwei Konkremente übersehen worden, die, beide von der Grösse eines Haselnusskernes, un- gefähr der Lichtung der Gallenwege entsprechen. Eine Fistel zwischen Gallenwegen und Darm besteht nicht. Wir haben uns das Mittel ver- schafft und eine ganz gesunde Person hat dasselbe eingenommen, mit dem Erfolge, dass auch bei diesem Herrn sich eine ganze Reihe eigen- tümlicher, konkrementartiger Gebilde aus dem Darm entleerten, welche ihrer Gestalt und Färbung nach an Gallensteine erinnerten. Die chemische Untersuchung ergab, dass sie zum Teil aus Paraffın und ölsauren Substanzen bestanden, welche in dem eingenommenen Mittel enthalten sind. Die Beobachtung des pathologischen Präparates sowohl wie das mitgeteilte Experiment ergeben die Bede-Kur, wie bereits zu vermuten war, als groben Schwindel. Vielleicht mag das Mittel manch-

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 69

mal insofern Erfolg haben, als es abführend wirkt; in der Regel aber wird es sich bei den sogenannten entleerten Gallensteinen wahrschein- lich um ähnliche Gebilde handeln, wie sie bei uns gefunden wurden.

3. Traumatische Leberruptur.

Junger Mann von 18 Jahren kommt mit den Erscheinungen einer schweren inneren Blutung in das Hospital, nachdem er kurz zuvor von einem schweren Lastwagen überfahren worden ist, der ihm quer über den Rippenbogen gegangen ist. Laparotomie mit Durchtrennung des 7. Rippenknorpels, wodurch die konvexe Leberoberfläche gut zugänglich wird. 12 cm langer Riss parallel dem Ansatz des Ligamentum teres an der konvexen Leberoberfläche. Die Glisson’sche Kapsel ist in Form eines Fetzens eine Strecke weit von der Leber abgerissen, ist aber mit ihr noch in Verbindung. Kolossale Blutmenge im Abdomen. Neben- verletzungen finden sich nicht. Tamponade, Schluss der Bauchwunde, Heilung, die jetzt nahezu beendet ist. Es ist der fünfte Fall von Leber- ruptur, welchen Redner in den letzten 4 Jahren beobachtet hat, drei sind durch Operation geheilt. Dieser Fall aber bot aus anderen Gründen ein besonderes Interesse. Es war nämlich bei der Aufnahme aus dia- gnostischen Gründen sofort katheterisiert worden. Dabei hatte sich eine ganz geringe Menge, etwa 20 ccm eines ‚trüben, hochgestellten Urins ent- leert, der deutlich Eiweiss und granulierte und hyaline Cylinder enthielt. Der Patient hatte vorher, wie er angab, niemals Zeichen einer Nieren- störung dargeboten. Jetzt blieb etwa 14 Tage Eiweiss im Urin nach- weisbar, während etwa S Tage noch körperliche Elemente gefunden werden konnten. Blut fand sich nicht im Urin. Patient hatte bei der Aufnahme die Erscheinungen schwerer Stauungsblutungen im Gesicht dargeboten, und namentlich waren an beiden Skleren deutliche subkon- Junktivale Blutungen sichtbar. Etwa 3 Wochen nach dem Unfall klagte er darüber, dass er mit dem rechten Auge schlechter sehe, und Herr Landmann stellte an dem Augenbhintergrund Veränderungen fest, wie sie dem Bilde einer Retinitis albuminurica entsprechen. Dieselben waren wesentlich rechts vorhanden. Blutungen der Netzhaut fehlten. Herr Land- mann wird sich noch darüber äussern, wie überhaupt der Fall wegen seines ungemeinen Interesses noch weiter bearbeitet werden wird. Auch diese Erscheinungen sind jetzt fast völlig verschwunden.

4. Leberabscess nach Perityphlitis.

Die Beobachtung entspricht ganz einer früheren, von Herrn Küttner veröffentlichten. Nach einer Perityphlitis, welche bei einem jungen Manne mit heftigen Schüttelfrösten eingesetzt hatte, entwickelte sich, nachdem der Wurmfortsatz, der schwere Veränderungen aufwies, exstirpiert und die Venen des Cöeums unterbunden worden waren, unter hohem Fieber Schwellung und Schmerzhaftigkeit in der Lebergegend. Bei der Ineision entleerte sich zwischen Zwerchfell und Leberoberfläche eine grosse Menge trübserösen Exsudates. Ein Abscess wurde zunächst nicht gefunden. Tamponade. Nach einigen Tagen entwickelt sich reichlich galliger Ausfluss aus der Wunde; offenbar handelte es sich um einen Abscess an der Leberoberfläche, der schliesslich in die Wunde durch- gebrochen war.

Diskussion.

Hr. Landmann: An dem durch Herrn Tietze vorgestellten Fall Bild (3) wurde eine schwere Netzhautaffektion 10 Tage nach der Leber- zerreissung am rechten Auge beobachtet, die in völligeHeilung überging. Da alleAnzeichen einer Nephritis vorlagen, wurde das Augenleiden auf die Niere bezogen; mit dem Schwinden von Eiweiss und Forinelementen etwa vom

70 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

10. Tage nach dem Unfall wichen die ausgedehnten Veränderungen der Netzhaut, bestehend in Oedem und weisslichgelben Plaques mit spärlichen Hämorrhagien verhältnismässig schnell bis zu voller Sehschärfe, normalem Gesichtsfeld und Hintergrund. Das linke Auge bot geringes Oedem der Netzhaut, nur wenige Tage ohne funktionelle Beinträchtigung.

Es lag traumatische Netzhauterkrankung entweder durch Nieren- quetschung oder eine durch die schwere Rumpfkompression bedingte Alteration der Lymphbahnen bzw. des Lymphstromes vor; der Fall wird anderweitig verüffentlicht.

Hr. Goebel hat bei drobender Gallenblasenperforation bzw. perito- nealer Reizung in Fällen grosser technischer Schwierigkeit statt der Ex- stirpation oder Fistelanlegung eine Punktion der Gallenblase vorgenommen, die Blase nach Jodoformgazeumpolsterung der Kuppe an das Peritoneum parietale genäht, die Wunde sonst geschlossen und nun auch in den nächsten Tagen post operationem bei Temperaturerhöbung usw. erneut punktiert. In zwei Fällen ist seit längerer Zeit prompter Nachlass der Symptome eingetreten. Es wird durch diese Methode die so unangenehme Fistelbildung vermieden. Durch die Entspannung der Blase werden wohl in diesen Fällen die eingeklemmten Steine wieder mobil, die Schleimhaut- schwellung und die entzündliche Reizung lassen nach und so auch die bedrohlichen Symptome.

Bezüglich des Zusammenbangs von Carcinom und Steinbildung er- innert Redner an die Siegert’schen vergleichenden Untersuchungen bei primärem und sekundärem Gallenblasenkrebs, die bei ersterem fast kon- stant, bei letzterem nur selten eine Lithiasis ergaben.

Der letzte, von Herrn Tietze demonstrierte Fall erinnert Vortr. an seine Erfahrungen mit egyptischen Leberabscessen, nach deren Incision ebenfalls infolge massenhafter Abstossung nekrotischer Wandpartien und dadurch bedingter Eröffnung zahlreicher Gallengänge eine profuse, die Kranken bedenklich schwächende Secretion von Galle eintritt.

Herrn Landmann möchte Redner fragen, wie in den bisher von Perthes, Milner, Sick u.a. beschriebenen Fällen die dort beobachtete Sehstörung erklärt, bzw. welcher ophthalmoskopische Befund erboben wurde.

Hr. R. Stern: Die von Herrn Landmann gefundenen Veränderungen des Augenbintergrundes könnten auf die Verletzungen der Nieren zurück- zuführen sein. Die reichliche Ausscheidung von byalinen und granulierten Cylindern, roten Blutkörperchen und Eiweiss in der ersten Zeit nach der Verletzung macht es wahrscheinlich, dass letztere- zu ausgedehnten Nekrosen der Nierenepithelien geführt hat. Es ist öfters beobachtet, dass nach Trauma solche Nekrosen entstehen. Die Beschaffenheit des Harns ist in derartigen Fällen die gleiche wie bei akuter Nephritis. Es er- scheint nun möglich, dass ausgedehnte Nekrosen der Nierenepithelien in gleicher Weise verändernd auf die Retina wirken, wie wir dies von akuter und chronischer Nephritis wissen.

In der Literatur existieren einige Fälle, in denen sich nach Nieren- verletzungen Symptome chronischer Nephritis, unter anderem auch mit Netzhautveränderungen, gezeigt haben sollen. Für diese Fälle ist sämtlich der Einwand möglich, dass die chronische Nephritis schon vorher bestanden haben könnte. Nachdem aber in unserem Falle einerseits die Netzhaut- veränderungen und die Sehstörung, andererseits die Zeichen der Nieren- erkrankung sich vollständig zurückgebildet haben, halte ich es für möglich, dass hier ein ursächlicher Zusammenhang bestanden hat.

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 71

Klinischer Abend in der medizinischen Klinik am 1. Juli 1910. Vorsitzender: Herr Minkowski. Hr. Minkowski demonstriert 1. Primäre Lungenactinomycose.

Eine 33jährige Frau, die seit 7 Jahren an Gallensteinkoliken leidet, klagt seit 8 Monaten über Schmerzen in der linken Seite. Es besteht Husten und Fieber. Man findet eine Infiltration des linken unteren Lungenlappens mit Neigung zur Schrumpfung, ferner einen falschen Tumor über dem linken unteren Thoraxende, von knorpelharter Konsitenz an den Rippen fixiert. Als der Tumor an einzelnen Stellen weicher zu werden beginnt, wird eine Probepunktion ausgeführt, die resultatlos verläuft. Die Vermutung, dass es sich um eine Actinomycose handelt, wird durch die Operation bestätigt. Der unter der Haut gelegene Herd wird exstirpiert. Mach einiger Zeit brechen Lungenabscesse nach den Bronehien durch, und es entstehen auch neue subeutane Abscesse. Im Sputum und im Abscesseiter werden jetzt regelmässig Actinomyceskörner gefunden, und es gelingt auch den Strahlenpilz in Reinkultur zu züchten. Eine radikale Operation erscheint bei der Ausdehnung der Infiltration in der Lunge, wie sie namentlich im Röntgenbilde zu erkennen ist, nicht ausführbar. Unter Jodkaligebrauch verschlimmert sich anfangs das Allgemeinbefinden, nachdem aber mehrere Abscesse aufgebrochen sind, und sich einige Fisteln ausgebildet haben, scheint der fortgesetzte Jod- kaligebrauch eine günstige Wirkung auszuüben.

Diskussion: Hr. Coenen bemerkt zu dem vorgestellten Falle, dass sich bei der Operation eine mit Granulationen und Actinomyces- drüsen angefüllte Fistel fand, die hinter den Rippen hoch herauf reichte. Dieselbe wurde nach Möglichkeit gespalten und ausgekratzt. Eine radikalere Operätion war nicht indiziert.

- Hr. Minkowski demonstriert 2. Rlıenmatoiderkrankung bei Taber- ulose,

Die 34jährige Patientin leidet seit ihrem 16. Lebensjabre an einer Lungentuberkulose. Im Jahre 1903 hat sie in einer Heilstätte eine Tuberkulinkur durchgemacht, wurde aber als ungeheilt entlassen. Seit- dem hat die Lungenerkrankung nur sehr langsame Fortschritte gemacht. Es besteht eine beiderseitige Spitzeninfiltration mit spärlichen Rassel- geräuschen. Im Sputum Tuberkelbacillen. Im Jahre 1907 stellte sich eine schmerzhafte Schwellung beider Handgelenke ein, die sich nach 14 Tagen zurückbildet, aber eine Versteifung der Gelenke zurückliess. Seitdem wiederholten sich in Schüben Anfälle von Gelenkschwellungen, die allmählich sämtliche Gelenke der Extremitäten betroffen haben. Zunächst wurde die linke, dann die rechte schneller betroffen, später die Ellenbogengelenke und die Finger. Im Jabre 19038 kam eine Ver- steifung des linken Kriegelenks zustande, im Jahre 1909 wurde auch das rechte Kniegelenk befallen, dazwischen auch die Fusssoblen und die Zehen. Unter geringen Schmerzen treten Schwellungen der Gelenke ein, die sich nach ein paar Wochen zurückbilden, aber jedesmal Versteifungen der Gelenke zurücklassen. Jetzt bietet die Kranke das Bild einer chronischen, deformierenden und ankylosierenden Polyarthritis, mit Auf- treibungen der Gelenke, Schrumpfungen des Baudapparates, Subluxationen, Rarefication der Knochen an den Gelenkenden, spärlicher Exostosenbildung. Der Fall wäre nach der Auffassung von Poncet als tuberkulöses Rheumatoid zu bezeichnen. Redner bespricht die Gründe, die zu gunsten der ätiologischen Bedeutung des tuberkulösen Infektes bei der Ent- stehung von Gelenkveränderungen angeführt werden, und gelangt zu dem Schlusse, dass weder anatomisch noch klinisch eine scharfe Ab- grenzung des tuberkulösen Rheumatoids von anderen ähnlich verlaufenden, akuten und chronischen Gelenkerkrankungen möglich ist, dass aber

12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

andererseits ein ursächlicher Zusammenhang in gewissen Fällen wahr- scheinlich ist, und vielleicht durch eine besondere Wirkung irgend welcher in den Tuberkelbacillen enthaltenen oder unter ihrem Einfluss entstehenden Toxine auf die Gelenke erklärt werden kann. Die Häufig- keit der tuberkulösen Rheumatoiden ist aber jedenfalls von den fran- zösischen Autoren übertrieben worden. Für die Therapie ergeben sich aus der Betonung der ätiologischen Bedeutung der Tuberkulose keine wesentlichen neuen Gesichtspunkte, insofern als die Wirksamkeit einer spezifischen Behandlung nicht erwiesen, die gegen die Tuberkulose ge- richtete Allgemeinbehandlung aber ohnehin schon in den meisten Fällen der chronisch-deformierenden Gelenkerkrankungen indiziert ist. Die grösste Rolle spielt auch hier, wie in anderen Fällen rheumatoider Erkrankungen, die lokale Anwendung der verschiedensten physikalisch-therapeutischen Prozeduren.

Diskussion.

Hr. Küttner ist ebenfalls der Ansicht. dass Poncet den Begriff des tuberkulösen Gelenkrheumatismus zu weit fasst. Die Hauptfrage dürfte immer sein: Handelt es sich um echte tuberkulüse Gelenkaffck- tionen, oder liegen Mischinfektionen vor, wie sie bei der Tuberkulose so häufig vorkommen, ist also der „tuberkulöse“ Gelenkrheumatismus nicht einfach eine septische Komplikation der Tuberkulose? Redner ist nun in der glücklichen Lage, über einen nach dieser Richtung sehr instruktiven Sectionsbefund berichten zu können. Ein 21 jähriges junges Mädchen, bei welchem die Totalexstirpation des Unterkiefers wegen Tuberkulose mit unmittelbarem prothetischem Ersatz ausgeführt worden war, erkrankte Ende Dezember 1909 ganz plötzlich unter Schmerzen und Fieber an Ergüssen im linken Ellenbogen-, linken Knie- und rechten Fussgelenk. Die Gelenkaffektion erreichte ihren Höhepunkt Ende Februar 1910, also 2 Mouate nach Beginn, und klang dann ab. Später traten allgemeine Oedeme infolge Nierenamyloids auf, nach deren Beseitigung durch Scarifieation auch an den Gelenken jede Schwellung verschwunden war. Die Kranke ging an ulceröser Lungenphthise und allgemeiner Amyloidose zugrunde. Bei der Section fand sich im linken Kniegelenk die Synovial- flüssigkeit etwas vermehrt, gerötet, die Synovialis zottig hyperämisch, stellenweise pannös und an einzelnen Partien fungusartig. Im rechten Fussgelenk war die Kapsel ebenfalls hyperämisch und pannös, am inneren Talusrand fanden sich zwei ganz kleine Knorpelusuren, das linke Ellenbogengelenk war normal. Es waren also in den drei be- fallenen Gelenken alle Abstufungen bis zu echter fungöser Tuberkulose, die mikroskopisch durch die Anwesenheit von Tuberkeln charakterisiert war, nachzuweisen, trotzdem klinisch die Erscheinungen des „Gelenk- rheumatismus“ völlig zurückgegangen waren, ein Beweis, dass es sich beim tuberkulösen Gelenkrheumatismus nicht um zufällige Komplikationen, sondern um echte Erscheinungsformen der Tuberkulose handeln kann.

Hr. Melchior: Neben der grossen Zahl von Fällen, bei denen auf Grund rein klinischer Erwägungen die Diagnose „Tuberkulöser Gelenk- rheumatismus“ mit mehr oder weniger Recht gestellt wurde, gibt es bisher nur verschwindend wenige Beobachtungen, wo eine exakte Grund- lage für diese Diagnose vorhanden war. Autoptisch fand sich eine Synovialtuberkulose in den Fällen von Laveran und Maylard; im ersteren Falle als Teilerscheinung einer allgemeinen miliaren, im anderen einer disseminierten Tuberkulose. Die klinischen Erscheinungen waren beidemal die eines akuten polyartikulären Rheumatismus. In einem weiteren Falle von Dieulafoy und Griffon, der klinisch zur Heilung gelangte, ergab der Tierversuch die Anwesenheit von Tuberkelbaeillen; in einem vierten Falle, der von Elbe mitgeteilt worden ist, ergab die

I. Abteilung. Medizinische Sektion.

os

Probeexcision aus zwei gleichartig erkrankten Gelenken das eine Mal nur rein entzündliche Veränderungen, im anderen Gelenk die Anwesen- heit von Tuberkelknötchen.

Es spricht dieser letztere Befund dafür, dass es sich bei dem tuber- kulösen Gelenkrheumatismus wohl nur um eine flüchtige Tuberkelaussaat handelt, welche einer anatomischen Rückbildung wieder fähig ist.

Die soeben von Herrn Küttner mitgeteilte Beobachtung bildet also erst den fünften Fall von tuberkulösem Gelenkrheumatismus mit nachgewiesenem anatomischen Substrat. Als ein diagnostisch inter- essanter Umstand muss dabei die Tatsache betrachtet werden, dass ein auf dem Höhepunkt der Erkrankung mit dem Exsudat des Kniegelenks angestellter Tierversuch negativ verlief. Dieses Verhalten weist also darauf hin, dass jedenfalls zwischen der Anwesenheit der Tuberkel- bacillen in der Synovjalis und in dem Gelenkexsudat kein Parallelismus zu bestehen braucht. wie wir das übrigens schon von der Pleuratuber- kulose her wissen.

Von weiterem prinzipiellem Interesse ist ferner der Umstand, dass der tuberkulöse Gelenkrheumatismus wiederum ein Beispiel dafür liefert, dass die Tuberkulose der Gelenke anatomisch wie funktionell einer völligen Ausheilung fähig ist.

Hr. Goetsch erwähnt zur Toxinhypothese bei tuberkulösen Rheuma- toiden, dass er bei Tuberkulintherapie sorgfältig alle Fälle ausschalte, wo anamnestisch Gelenkrheumatismus nachweisbar, da er besonders beim kindlichen Organismus sowie bei höheren Tuberkulindosen Exacerbationen auftreten sah. Es seien ferner typische Rheumatoide bei zu hohen Tuberkulindosen beobachtet, ohne dass Arthritiden vorher bestanden.

Hr. Minkowski demonstriert 3. einen pulsierenden Mediastinal- tumor.

Bei einer 40 jährigen Frau entwickeln sich seit einem Jahre die Erscheinungen einer Kompression der Vena cava superior: starke Aus- debnung der Halsyenen, an denen Pulsationen nicht wahrnehmbar sind, Oedem des Gesichts, Venectasien am Thorax, die offenbar einen venösen Collateralkreislauf bilden, der das Blut nach dem Gebiete der Vena cava inferior hinführt. Es findet sich eine grosse Dämpfung, die sich an die Herzdämpfung anschliesst, nach dem Jugulum hinaufreicht, hauptsächlich aber sich nach rechts unten, an die Leberdämpfung anstossend, bis zur vorderen Axillarlinie erstreckt. Das Herz ist nach links verschoben, an- scheinend nicht vergrössert. Herzaktion regelmässig, von normaler Frequenz. Reine, laute Herztöne über der ganzen Ausdehnung der Dämpfung, nirgends Geräusche. Keine Erscheinungen einer allgemeinen Zirkulationsstörung. Im 3.—5. Intercostalraum rechts vom Sternum deutliche Pulsation, offenbar, auch nach den Ergebnissen der Registrie- rung, isochron mit dem Aortenpuls. In letzter Zeit ist in der rechten Pleurahöhle ein kleiner Erguss hinzugekommen. Am Röntgenschirm er- kennt man einen dem Umfange der Dämpfung entsprechenden, rechts vom Herzen gelegenen, mit der Aorta gleichzeitig pulsierenden Schatten.

Der Verlauf des Leidens, die starke Kompression der Vena cava superior, die eigentümliche Lage der pulsierenden Geschwulst, das Ver- halten der Herztöne, das pleuritische Exsudat lassen zunächst an einen Mediastinaltumor denken. Die Pulsation spricht nicht dagegen, da auch eine allseitige, dilatatorische Pulsation bei durch Autopsie sichergestellten Mediastinaltumoren beobachtet wird, wenn diese die Aorta umwachsen haben oder sehr gefässreich sind (siehe z. B. Letulle, Arch. generales de medecine, 1890). Immerhin muss trotz der ungewöhnlichen Lage der Geschwulst ein Aortenaneurysma als wahrscheinlich angenommen werden. Ein von v. Schroetter (Erkrankungen der Gefässe. Nothnagel’s Hand- buch, Bd. 15, T. 1, S. 206) abgebildetes Präparat eines in den rechten

74 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Ventrikel sich hineinwölbenden Aneurysmas der Aorta ascendens ent- spricht ungefähr der Lage der pulsierenden Geschwulst zum Herzen. Bemerkenswert ist, dass die Wassermann’sche Reaktion bei der Patientin positiv ausfiel, was zugunsten der Annahme eines Aneurysmas verwertet werden könnte.

Zum Vergleich demonstriert der Vortr. 4. einen Patienten mit einem grossen Aneurysma des Arcus aortae und der Aorta descendens, das die vordere Brustwand unter Usur der Rippen als pulsierenden Tumor stark vorgewölbt hat. Bemerkenswert ist in diesem Falle, dass, wie in vielen anderen Fällen, die Kompressionsbeschwerden nachgelassen haben, nachdem das Aneurysma durch die Thoraxwand bindurchgewachsen ist, ein Umstand, der den Vorschlag beachtenswert erscheinen lässt, in ge- eigneten Fällen, bei unerträglichen Beschwerden solchen Patienten da- durch Erleichterung zu verschaffen, dass man Rippen oder einen Teil des Sternums reseciert. Die Gefahr der Perforation nach aussen wird anscheinend dadurch nicht erhöht!).

Diskussion.

Hr. Schmeidler: Ich habe in meinen jüngeren Jahren einen ganz analogen Fall in meiner Privatpraxis gesehen, welcher zur Section kam; dieselbe wurde von dem allzu früh verstorbenen Carl Weigert ausge- führt und damit die Diagnose eines enorm grossen Aneurysma aortae bestätigt, welches fast die ganze rechte Brustseite eines jungen Mädchens einnahm. Dasselbe pulsierte nicht, es war so von Blutgerinnseln erfüllt, dass es als fester Schalleiter dergestalt zwischen Trachea und rechter Thoraxwand diente, dass man dort, in der Seitenlinie rechts unten, nicht nur lautes Bronchialatmen, sondern sogar Trachealatmen hörte. Das erste Symptom, weswegen meine ärztliche Hilfe begehrt wurde, war ein heftiger Schmerz in der rechten Halsseite. Die darauf von mir vor- genommene vollständige Untersuchung ergab eine ausgesprochene Däm- pfung der ganzen vorderen und seitlichen rechten Brustseite, teilweise auch des Rückens, wie erwähnt, ohne Pulsation. Der Exitus erfolgte durch plötzliche Ruptur des aneurysmatischen Sackes in die Brusthöhle. Das Aneurysma hatte die rechte Lunge zum grössten Teil usuriert.

Hr. Allard: Zur physikalischen Diagnostik der initialen Lungentuberkulose. (Siehe Teil II.)

Hr. K. Ziegler: Milzexstirpation und Röntgenbehandlung bei Leukämie.

Vortr. demonstriert einen lall myeloider Leukämie bei einem 22 jährigen Mädchen, deren Erkrankung seit 5 Jahren Gegenstand ärzt- licher Beobachtung und Behandlung ist. Zu Anfang über 300 000, ging die Leukocytenzahl unter der Röntgenbestrahlung der Milz bedeutend herab, bis 23000 und 12000, die Milz verkleinerte sich stets, einmal bis zum Verschwinden der Tastbarkeit. Die Patientin war nach den Bestrahlungszeiten 2, 5 und sogar 9 Monate arbeitsfähig. Stets stellte sich unter starkem Wachstum des Milztumors das Rezidiv ein. Während der letzten Röntgenbehandlung ging die Leukocytenzahl von 170 000 auf 40 000 herab, die Milz verkleinerte sich wesentlich nach ca. 50 Be- strahlungen, ein weiterer Erfolg konnte aber trotz energischer Bestrahlung nicht mehr erzielt werden.

Am 26. III. 1910 wurde in der chirurgischen Klinik die Milz ex- stirpiert. Die Wundheilung verlief normal, eine Blutung stellte sich

1) Minkowski, Deutsche med. Wochenschr., 1908, S. 1700, und Borowsky, Die Perforationsrichtung der Aneurysmen der Aorta tho- racica, Inaug.-Dissert. Breslau 1910.

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 75

nieht ein. Die Leukoeytenzahl stieg kurz nach der Operation auf ca. 100 000, fiel aber bald wieder auf den usprünglichen Wert vor der Operation von ca. 40000 zurück. Circa 4 Wovhen später machte sich ein erneuter Anstieg der Leukocyten bis 128000 geltend. Auffaliend war dabei die hohe Zahl kernhaltiger roter Blutkörperchen. Die Plättehen waren vor und besonders nach der Operation enorm vermehrt. Die Rekonvaleszenz nach der Operation zog sich infolge fieberhafter Bronchitis und offenbar endocarditischer Prozesse über S Wochen hin. Iniolge des Anstiegs der Leukoeyten wurde täglich die Leber bestrahlt, worauf die Leukocytenzahlen bis ca. 70 000 zurückgingen. Trotz dieser hohen Zahl erholte sich die Patientin zusehends, die Zahl der roten Blutkörperchen, der Hämoglobingehalt nahm zu, Patientin fühlte sich und fühlt sich heute so wohl, wie nur zu den Zeiten stärkster Remission. Ein ab- schliessendes Urteil über den Erfolg der Operation wird sieh erst später geben lassen. Es soll dann ausführlicher darüber berichtet werden.

Vortr. bespricht dann die Indikation und Berechtigung zu dem chirurgischen Eingrif und berührt kurz die bisherigen Erfahrungen über die Folgen der normalen und leukämisehen Milz. Ausführlicher soll auf diese Fragen an anderer Stelle eingegangen werden.

Diskussion.

Hr. Coenen macht auf das schwere Krankenlager aufmerksam, das diese von ihm splenektomierte Patientin durchmachte, und das durch Fieberbewegungen kompliziert war, für die klinisch gar kein Anhalt ge- funden wurde. Möglicherweise war dieses verursacht durch fermentative Prozesse im hämatopoetischen System, z. B. im Knochenmark. Es ist bekannt, dass man nach Milzexstirpation in der Rekonvaleszenz Tempe- ratursteigerungen beobachten kann, die weder mit Infektion, noch mit anderen Komplikationen erklärt werden können. Herczel glaubt, dass diese Temperatursteigerungen bei Milzexstirpation auf einer durch Pancreasschädigung verursachten Fettgewebsnekrose beruhen.

Hr. Küttner: Die Chirurgen stehen im allgemeinen der Milz- exstirpation bei Leukämie sehr zurückhaltend gegenüber, weil sie einmal durch Blutungen und Verwachsungen sehr gefährlich zu sein pflegt und zweitens ebensowenig Dauererfolge bringt wie jede andere Therapie. Ob präli- minarische Röntgenbestrahlungen die Operationen stets leichter gestalten werden, erscheint Redner zweifelhaft, da sie gefässreiche Verwachsungen zu erzeugen imstande sind. Wie bei keiner Milzexstirpation im voraus gesagt werden kann, ob sie leicht oder schwierig sein wird, so kann gelegentlich auch einmal die Splenektomie bei Leukämie äusserst einfach sein. Redner exstirpierte eine riesenhafte leukämische Wandernilz, bei der jede Verwachsung fehlte und die ganze Operation eigentlich in der Ab- bindung des langausgezogenen Stieles bestand. Auch hier war die Patientin durch den Fortfall des grossen Tumors wesentlich gebessert, aber geheilt wurde sie nicht, sondern sie ging zwei Jahre nach der Operation an ihrer Leukämie zugrunde, obwohl alle in Betracht kommenden Partien, Knochenmark und Leber, konsequent weiter be- strahlt worden waren.

Was die Polycythämie nach Milzexstirpation betrifft, so berichtete Redner im Anschluss an eine Demonstration v. Strümpell’s in dieser Gesellschaft über einen Fall, in dem sich nach Exstirpation der Milz wegen Schussverletzung eine Polyeythämie entwickelt hatte. Der Patient ist 5 Jahre nach der Splenektomie einer Coronarsclerose erlegen. Die Section (Prof. Beneke-Marburg) ergab, dass sich etwa 100 Milzen neugebildet hatten, so dass das ganze Peritoneum mit ihnen bedeckt war. Die Beobachtung beweist erstens, dass bei genuiner Polycythämie die Splenektomie therapeutisch nicht in Betracht kommen kann, zweitens

76 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

aber auch, dass die Erfolge der Splenektomie überhaupt durch derartige Neubildungen in Frage gestellt werden können.

Hr. Davidsohn: Ich habe bei meinen Milzexstirpationen, die ich bei meinen Amyloidarbeiten in einer Zahl von mehr als 200 ausführte, niemals gesehen, dass die Lymphdrüsen dabei die Tätigkeit der Milz vikariierend übernehmen. Ich glaube nicht an dieses Eintreten, eher treten noch Leber und Niere für die Milz ein.

Sitzung vom 8. Juli 1910.

Vorsitzender: Herr Ponfick. Schriftführer: Herr Rosenfeld.

Vor der Tagesordnung.

Hr. L. Fraenkel: Grünes Brustdrüsenseeret.

Vortr. demonstriert eine 24jährige Frau, die sich im 4. Monat ihrer 4. Gravidität befindet, aus deren rechter Mamma sich ein Tropfen voll- kommen tiefgrünen Secrets bei jeder Untersuchung seit 5 Wochen aus- drücken lässt. Ihre 3 Kinder hat sie normal geboren und genährt, das letzte vor 22 Monaten, aber nur 8 Tage gestillt, weil ein schweres, 9 Wochen anhaltendes Puerperalfieber sie daran hinderte. Die Milch soll stets vollkommen normal im Aussehen und Bekömmlichkeit gewesen sein; Pat. litt nie an Mastitis, will Schlag, Stoss oder dergleichen gegen die Brust niemals erlitten haben, hat sonstige Krankheiten nicht durch- gemacht, nahm keine Medikamente und fühlt sich vollkommen wohl. Die anderen Se- und Excrete, spezieil der Urin, sind durchaus normal, Zeichen von Gallenretentionen bestehen nicht. Die Mammae sind mässig entwickelt, die rechte ist etwas stärker als die linke, lässt sich gut durchpalpieren, nirgends eine abnorme Resistenz erkennen. Die Warzen sind gut und normal überhäutet. Vor 6 Jahren will sie wegen wunder Warzen Schwarzsalbe beiderseits aufgelegt bekommen haben; doch auch dieses ätiologische Moment ist mir unwahrscheinlich, weil der Tropfen aus der Tiefe in jedesmal gleicher Weise sich herausdrücken lässt. Aus der linken Mamma ist keinerlei Secret exprimierbar. Die Frau kam vor 5 Wochen zu uns, weil sie wissen wollte, ob sie gravida sei, und dabei wurde zufällig das Phänomen entdeckt. Die mikroskopische Unter- suchung des metallisch schimmernden Brustdrüsensecrets ergibt, dass es sich um eine gut- und gleichmässig emulgierte Milch, nicht Colostrum, handelt. Es sind kleine runde Fetttröpfchen, sehr wenige, und zwar nicht pigmentierte Colostrumkörperchen vorhanden; der tiefgrüne Farb- stoff, der unter dem Deckglas sofort stark verdünnt erscheint, ist als leichtgrüner Reflex auch im Mikroskop noch erkennbar, dagegen sind gefärbte Körnchen oder Zellen nicht vorhanden; es handelt sich also um einen gelösten Farbstoff, nicht um Pigment. Ob der Farbstoff im Milch- serum gelöst ist oder an den Fetttröpfehen haftet, konnte ich nicht sicher entscheiden. Blutderivate, speziell ausgelaugte rote Blutkörperchen, fehlen vollkommen, ebenso Bakterien.

Zur genauen chemischen Untersuchung reichte die jedesmal ex- primierte Menge nicht aus; doch war Herr Röhmann so liebens- würdig, festzustellen, dass Biliverdin nicht vorliege. Wir wollen jetzt, nachdem die Demonstration stattgefunden hat, so viel wie möglich von dem Secret sammeln, um die weiteren chemischen Reaktionen anzustellen.

Abnorme Färbungen des Brustdrüsensecrets sind bekannt, besonders eine rote oder braune Färbung desselben. Sie ist bedingt durch das Vorhandensein von bakteriellen Spaltungsprodukten oder roten Blut- körperchen bzw. Blutserum. Man nahm für die letzteren Fälle vielfach an, dass es sich stets um beginnende maligne Tumorbildungen in der

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 77

Brust handeln müsse, eine Ansicht, die m. E. falsch ist, wenigstens sah ich wiederholt rotes Colostrum, ohne dass es später zur Tumorbildung kam. Es liegen offenbar in diesen Fällen abnorme Kommunikationen mit dem Blutgefässsystem vor. Ueber grüne Milch habe ich nirgends etwas finden können.

Es lässt sich also über die Natur und Entstehung dieser merk- würdigen Farbenbildung heute noch nicht anderes sagen, als dass es sich um eine anscheinend den Drüsenzellen der rechten Mamma aus- schliesslich innewohnende und erworbene Funktion handelt, ausser der Milch einen grünen Farbstoff abzuscheiden. Vielleicht wird die chemische Untersuchung oder der weitere Verlauf uns interessante Aufschlüsse ver- schaffen, speziell darüber, ob im Wochenbett bei Produktion grösserer Milchmengen das Phänomen in gleicher Intensität bestehen bleibt, vor- ausgesetzt, dass es überhaupt zu einer Entbindung ad terminum kommt; das ist immerhin noch fraglich, weil vor kurzer Zeit geringfügige äussere Blutungen bestanden. Die Patientin bekam deshalb einige Male Opium- tinktur, aber erst nach Feststellung der grünen Brustdrüsenabsonderung.

Tagesordnung.

‚Hr. 6. Wetzel hält seinen angekündigten Vortrag: Die aufrechte Haltung des menschlichen Kopfes und demonstriert neue Verbesserungen am diagraphischen Apparat.

An neuen Apparaten wurden demonstriert: ein Universalknochen- halter, der eine Klemme mit drehbaren Doppelklauen vorstellt und auf alle Knochen des menschlichen Skeletts sowie die meisten tierischen Knochen anwendbar ist, ein durch besondere Stabilität ausgezeichnetes Stativ zur Aufstellung der Knochen für diagraphische und photographische Aufnahmen. Als Schreibfläche ist gegenüber den bisher gebräuchlichen eine ebene (Spiegel) Glasplatte eingeführt, welche nachträglich fein rauh gemacht wird. Sie vereinigt zwei Vorzüge: sie ist völlig eben und ver- hindert gleichzeitig die Verschieblichkeit des aufgelegten Papiers. Ausserdem gleitet der Diagraph auf einer solchen rauhen Fläche besser als auf einer glatten.

Der Inhalt des Vortrags bezog sich auf eine neue Horizontalebene, die als Grundhorizontale bezeichnet wird und durch die oberen Gelenk- flächen des Epistropheus bestimmt ist. Diese Ebene ist bei aufrechter Haltung annähernd horizontal. Interessant sind die Beziehungen der bisherigen von den Anthropologen verwendeten Horizontalen zu ihr. Von diesen stimmt die Homy’sche, von Klaatsch neuerdings wieder in den Vordergrund gestellte Horizontale Lambda-Glabella in der Richtung unter geringen Abweichungen mit der Grundhorizontalen überein. Ferner steht die Bregeva-Basion-Linie stets annähernd senkrecht auf der Grund- horizontalen. Dies stimmt mit der empirischen Regel von Klaatsch überein, wonach Glabella-Lambda-Linie und Bregeva-Basion-Linie sich stets unter einem annähernd rechten Winkel kreuzen. Aus den neuen Beobachtungen geht hervor, dass den beiden Linien von Klaatsch auch eine Bedeutung für die Mechanik des Schädels zukommt.

(Der Vortrag erscheint ausführlich in der Zeitschrift für Morphologie und Anthropologie.)

Hr. Coenen: Ueber die Folgezustände der Spontanblufungen in die Umgebung der Niere (sogenannte perirenale Hydronephrose und Hämatonephrose). Nach einer Uebersicht über die bisher bekannten 13 Fälle der Literatur über Blutungen in das Nierenlager stellt der Vortr. zunächst fest, dass in den meisten derartigen Fällen die Quelle der Blutung in der Niere selbst liegen muss, die wahrscheinlich in vielen Fällen, be-

78 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

sonders in den mit Nephritis komplizierten, auf dem Wege einer Peri- nephritis haemorrhagica blutige Schübe in die Umgebung der Niere abstösst. Dafür, dass das perirenale Hämatom aus der Niere stammt, sprechen 1. die anatomische Lage des Hämatoms, 2. die in mehreren Fällen gefundenen Kapselrisse der Niere, die den Weg des aus der Niere ausgetretenen Blutes zeigten, 3. die hämorrhagische In- fareierung der fibrösen Nierenkapsel in einigen Fällen, 4. die Beobachtung von perirenalen Hämatomen durch geplatzte Nierentumoren bzw. durch arrodierende Tuberkulose. In 9 von den 13 Fällen waren die Nieren nephritisch verändert. Da die chronische Nephritis, wie aus den Arbeiten von J. Israel und Askanazy bekannt ist, sehr oft zu Nierenblutungen Veranlassung gibt, so ist es wahrscheinlich, dass diese Nierenerkrankung auch eine wesentliche Rolle bei der Entstehung des perirenalen Häma- toms spielt. Da ausserdem bei nephritischen Prozessen meist die fibröse Nierenkapsel an dem Entzündungsprozess teilnimmt, so gewinnt dadurch die Annahme einer Perinephritis haemorrhagica an Wahrschein- lichkeit. In einigen Fällen ist sie mit Sicherheit mikroskopisch nach- gewiesen. Obwohl die Aetiologie des perirenalen Hämatoms ganz ver- schieden ist (chronische Nephritis, eitrige Nephritis, Nierencareinom, Nierensarkom, Nierentuberkulose, Hämophilie), so sind doch die Symptome sehr einheitlich und markant und werden charakterisiert durch plötzlich auftretenden Schmerz in der Nierengegend, die Zeichen innerer Blutung und die Entwicklung eines retroperitonealen Tumors. Dazu gesellen sich meist meteoristische Erscheinungen. Interessant sind die Folge- erscheinungen des perirenalen Hämatoms, besonders in den Fällen, wo das Hämatom die gauze Niere ausserhalb der Nierenkapsel als eine ab- geschlossene Bluteyste umgibt (Haematoma renis extracapsulare ceysticum [Ponfick]). Dies war der Fall in einer Beobachtung von 0. Hildebrand und von M. Koch. Durch Auslaugung des Blutfarb- stoffs und Eintritt Iymphatischer Flüssigkeit in den Cystensack wird schliesslich aus der Bluteyste eine Wassercyste, ähnlich wie die apoplektische Hirneyste. Dadurch entsteht ein Zustand, den man, weil er an einen ähnlichen derartigen von Minkowski und Friedrich beschriebenen Fail erinnert, perirenale Hydronephrose nennen kann. Diese perirenale Hydronephrose unterscheidet sich aber von der Minkowski’schen dadurch, dass sie extrakapsulär liegt und aus einem Hämatom entstanden ist, während die von Minkowski beobachtete und von Friedrich operierte perirenale Hydronephrose intrakapsulär lag und nach Minkowski’s Ansicht durch die Ansammlung Iymphatischer Flüssigkeit zwischen Nierenoberfläche und fibröser Nierenkapsel bedingt war. Ponfick nennt diesen letzteren Krankheitsprozess ein Hygroma renis intracapsulare. Demnach müsste man die aus einem extrakapsulären perirenalen Hämatom hervorgegangene Wassercyste Hygroma renis extracapsulare nennen. Ein solches lag vor in einem Falle von M. Koch und in einem Falle von Malherbe. Die Beobachtung Kirmisson’s, die dieser Autor äussere oder subkapsuläre Hydro- nephrose nannte, entspricht dem Fall Minkowski’s, ist also ein Hygroma renis intracapsulare. Mit Hämatonephrose hat Cathelin einen teils flüssigen grossen Bluterguss innerhalb der fikrösen Nierenkapsel bezeichnet, der infolge tuberkulöser Gefässarrosion entstand. Es ist nach der Ansicht des Vortr. nicht ausgeschlossen, dass dieses intra- kapsuläre Hämatom auch zu einer wässrigen Cyste, also zu einem Hygroma renis intracapsulare führen kann.

Praktisch hat das perirenale Hämatom oder die Massenblutung ins Nierenlager ein hervorragendes Interesse, weil die Mortalität der Er- krankung sehr hoch (61 pCt.) ist und nur bei chirurgischer Therapie, die in Ineision, Tamponade, eventuell Nephrektomie bestand, Heilungen

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 79

erzielt sind (50 pCt.). Die Diagnose dieser Wunderlich’schen Krankheit ist wegen der markanten Symptome nicht schwer, wenn man daran denkt. Die besprochenen Folgezustände, die sich nur in einigen Fällen entwickeln, machen diese Affektion noch interessanter.

Diskussion.

Hr. Minkowski weist darauf hin, dass der Ureterenkatheterismus mit Erfolg zur Diagnose einer perirenalen Hydronephrose angewandt werden kann. In dem von ihm mitgeteilten Falle konnte aus der inner- halb der Cyste gelegene Niere durch Ureterenkatheter ein Harn ge- wonnen werden, der, abgesehen von einem etwas grösseren Eiweissgehalt, sich in Quantität und Qualität nur wenig von dem aus der anderen Niere gewonnenen Harn unterschied.

Hr. Kaposi fragt den Vortr. nach dem Verhalten der Nebennieren in den geschilderten Fällen, und zwar mit Rücksicht auf die ganz kürz- lich mitgeteilten Fälle von Blutungen in das Nierenlager, die Roesle- München publiziert hat.

Hr. Joseph: Die Fälle von paranephritischen Bluturgen, in denen sich anatomisch keine grobe Ursache feststellen lässt, werden in ihrer Genese vielleicht verständlicher, wenn man annimmt, dass sie nicht durch Rhexis eines grösseren Gefässes, sondern per diapedesin entstehen. Die Diapedese kann man sich als Folge einer z. B. durch Ein- klemmung eines Konkrementes im Ureter veranlassten nervösen Stauung in der Niere denken. Blutdrucksteigerung bei nephritisch ver- änderten Nieren würde eine derartige Blutung noch begünstigen.

Klinischer Abend vom 15. Juli 1910 in der ebirurgischen Klinik. Vorsitzender: Herr Küttner.

Vor der Tagesordnung.

Hr. Renner:

Demonstration eines durch Oesophagoskopie entfernten Knochen- splitters.

Eine Frau hatte in der Suppe einen Knochensplitter verschluckt, der ein Geflügel- oder Rindsknochen sein konnte. Sie verspürte stechende Schmerzen in der Gegend der Brustbeinmitte, die auch nach einer vom zuerst zugezogenen Arzte vorgenommenen Sondierung nicht aufhörten. Am nächsten Tage suchte sie die Klinik auf. Röntgenbild negativ.

Oesophagoskopie ergab bei 40 cm einen eitrig-schleimigen Pfropf; nach Wegtupfen wurde eine ganz feine helle Leiste schräg im Lumen sichtbar, die sich mit der Zange und gleichzeitig mit dem Rohr leicht entfernen liess. Sie erwies sich als ganz dünne Corticalislamelle eines grösseren Knochens, von annähernd dreieckiger Gestalt mit unregelmässigen Rändern, 2,5: 2,2 : 1,7 cm.

Vortr. warnt, wie auch Gottstein schon mehrfach, eindring- lich davor, in solchen Fällen, wenn über die Gestalt des Fremdkörpers gar nichts bekannt ist, zu sondieren, da es dadurch zu festerer Ein- keilung und Verletzung kommen kann. Allenfalls kaun man bei sicher runden und glatten Fremdkörpern versuchen, sie durch Sonden herunter- zustossen. Sondierung nur zu diagnostischen Zwecken ist absolut zu verwerfen, da sie für die Therapie keinen Vorteil bringt. Auch vor der Benützung des Münzenfängers zur Extraktion bei derartig scharfrandigen und spitzen Fremdkörpern ist zu warnen, da der Münzenfänger beim Emporziehen keinen Schutz vor Einkeilung oder Einrissen bietet, während das ösophagoskopische Rohr, an welches der Fremdkörper während der Extraktion fest angepresst gehalten wird, in den meisten Fällen, wenigstens

so Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

bei nicht zu grossen Körpern, die Ränder deckt und eine gefahrlose Entfernung gestattet.

Auch im vorgestellten Falle war der Verlauf absolut reaktionslos.

Das einzuschlagende Verfahren bei verschluckten Fremdkörpern, die von oben nicht direkt mit Finger oder Zange erreichbar sind, wäre also folgendes:

Bei glatten oder runden, nicht zu grossen Körpern Versuch der Extraktion mit Münzenfänger oder des Herunterstossens mit Sonde.

Bei Fremdkörpern unbekannter Grösse oder Gestalt, sowie bei scharfkantigen oder spitzen, Ueberweisung an einen mit der Oeso- phagoskopie vertrauten Arzt oder, wenn nicht anders möglich, Oeso- phagotomie.

Wenn möglich, soll vor jedem instrumentellen Eingriff ein Röntgen- bild angefertigt werden.

Hr. Küttner stellt vor 1. einen Fall von ausgedehntem Ranken- neurom des Halses bei allgemeiner Neurofibromatose.

Die 21 Jahre alte Patientin zeigt alle Symptome der Neurofibroma- tose in seltener Vollendung nebeneinander; multiple weiche Fibrome, multiple Nervennävi, Lappenelephantiasis und Rankenneurom. Der Vater der Patientin leidet ebenfalls an Neurofibromatose. Bei der Exstirpation des grossen, elephantiastischen Tumors am Halse, in den zahlreiche, zu Rankenneuromen umgewandelte Nervenstämme eintraten, kam es zu sehr unangenehmen Störungen der Atmung und Zirkulation mit tiefer Cyansoe, die nicht aufgeklärt werden konnten und zu rascher Beendung der Ope- ration nötigten. Deckung des grossen Defektes durch Transplantation nach Thiersch in einer zweiten, ohne Störung verlaufenen Sitzung.

Im Anschluss demonstriert K. einen zweiten Fall von Neurofibroma- tose mit elephantiastischem Tumor am Halse, der wohl ebenfalls als Rankenneurom aufzufassen ist. Eine sichere Feststellung ist hier nicht möglich, da die Operation verweigert wird.

2. Fall von Hepatico-Duodenostomie.

ö3jährige Frau. Seit Jahren Gallensteinkoliken, hie und da mit Ieterus. Seit 3 Wochen feststehender, hochgradiger Ieterus. Keine Gallenblase fühlbar. Leber vergrössert. Diagnose: Choledochusverschluss durch Stein.

14. III. 1910 Operation. Gallenblase klein, geschrumpft, mit Steinen gefüllt. Choledochus hochgradig narbig verengert, aber noch durch- gängig. Drainage des Hepaticus, Choleeystektomie. Glatter Heilungsverlauf.

Die Hoffnung, dass der narbig verengte Choledochus für die Passage der Galle ausreichen würde, bestätigte sich nicht. Zwei Wochen nach der Entlassung trat unter Schmerzen wiederum Ieterus auf, der konstant blieb und mit vollkommener Entfärbung der Stühle einherging.

11. VI. 1910. Zweite Operation. Sehr ausgedehnte Verwachsungen von Netz, Magen, Darm, Peritoneum parietale und Unterfläche der Leber, die den Choledochus in den peripheren Abschnitten vollkommen um- mauern. Schliesslich gelingt es, oberhalb der Unterbindungsstelle des Cystieus den auf Daumendicke erweiterten Hepaticus in der Ausdehnung von einigen Zentimetern freizulegen. Eröffnung und Sondierung ergibt einen totalen Verschluss an der Stelle der früheren Narbenstenose. Eine Exstirpation der Striktur mit Naht oder Plastik kam wegen der Aus- dehnung der Verwachsungsmasse, eine Cholecystenterostomie wegen Fehlens der auch vorher für eine derartige Vereinigung gänzlich unbrauch- baren Gallenblase nicht in Betracht. Es blieb gar nichts anderes übrig, als das kleine Stück freigelegten Hepaticus mit dem Duodenum zu anastomosieren. Die Operation wurde mit Naht ausgeführt und führte zu glatter Heilung ohne Störung. Vorstellung der nicht mehr icterischen Patientin 41/); Wochen nach der Operation.

I. Abteilung. | Medizinische Sektion. sl

3. Fall von erfolgreicher Exstirpation eines Hirntumors aus der Gegend des Chiasma nervi optici.

Die Patientin, eine 32 Jahre alte Gattin eines Arztes, wurde von. Herrn Uhthoff und Herrn Foerster zur Operation überwiesen.

Seit 6 Jahren starke Kopfschmerzen, die rechts stärker sind als links. Gleichzeitig entwickelte sich auf dem rechten Auge ganz langsam eine Abnahme der Sehschärfe, die rechts allmählich zur völligen Er- blindung führte. Vor einem Jahre rechts völlige Amaurose, links Stauungspapille, Geruchslähmung auf der rechten Seite mit Geruchs- parästhesien, Trigeminusbyperästhesie und Abschwächung des Corneal- reflexes rechts. Libido sexualis hatte fast völlig aufgehört (spontane Angabe). Vor 2!/, Monaten akquirierte Pat. Scharlach, und seit dieser Zeit trat ein rapider Rückgang der Sehschärfe auch auf dem linken Auge ein.

Am 1. Juni 1910 wurde folgender Befund erhoben: Rechtes Auge: Völlige Atrophie; linkes Auge: Stauungspapille; Gesichtsfeld äusserst eingeengt. Facialisparese links angedeutet. Geruch völlig aufgehoben. Geschmack nicht gestört. Kein Romberg, kein Babinski, kein Oppenheim. Rechter Patellarreflex um ein weniges schwächer. Wassermann im Blut und in der durch Lumbalpunktion entleerten Cerebrospinalflüssigkeit negativ. Röntgenbefund negativ. Diagnose: Tumor in der Gegend des Chiasma nervi optici.

2. VI. 1910. Operation. Bildung eines osteoplastischen Lappens auf der rechten Seite, der von der Gegend der Stirnhöhle bis auf die Linea semieircularis herübergeht, nach hinten ungefähr bis an die Coronar- naht als Basis geht und vorne am Orbitalrand beginnt. Resecetion des ganzen Dachs der Orbita unter sorgfältigster Vermeidung der Stirn- und Siebbeinhöhle. Dauernd starke Blutung, der Tumor erscheint am hinteren Ende der vorderen Schädelgrube, wo er die Dura perforiert hat. Radikale Entfernung unter Vermeidung des Seitenventrikels. Schleunige Hautnaht nach Ablösung des Knochenlappens wegen schwersten Collapses. Er- holung nach intravenöser Kochsalz-Suprarenin-Infusion.

Heilungsverlauf fieberfrei bis auf eine Angina. Der anfangs starke Liquorausfluss sistiert bereits zeitweise (6 Wochen nach der Operation). Rückkehr des Geruchsinns nach 14 Tagen; langsame Besserung des Sehens im Laufe der ersten 3 Wochen nach der Operation, seitdem Stillstand. Stauungspapille im Rückgang.

4. Zwei erfolgreiche Gelenktransplantationen aus der Leiche.

Fall 1. Implantation des Hüftgelenkes und oberen Femurdrittels nach Reseetion wegen Chondrosarkoms. Ein- heilung seit 5 Monaten.

3ljähriger Streckenarbeiter. Der Tumor mit Knochen und Gelenk wurde am 17. II. 1910 unter Momburg’scher Blutleere entfernt und sofort das Leichengelenk implantiert. Dieses stammte von einem Pa- tienten mit Gehirntumor, der iin Coma gestorben und, wie die Section erwies, im übrigen vollkommen gesund war. Das Gelenk wurde 12 Stunden post mortem unter allen aseptischen Kautelen entnommen und 24 Stunden in Kochsalzlösung mit Chloroformzusatz aufgehoben, also 36 Stunden nach dem Tode implantiert. Völlig reaktionsloser Ver- lauf und glatte Einheilung. Patient wird im Gypsverband herumlaufend vorgestellt, an der Vereinigungsstelle mit dem peripheren Femurende ist Konsolidation eingetreten und Callus auch an dem implantierten Leichen- knochen sichtbar.

Fall 2. Implantation der Tibiagelenkfläche des Knie- gelenkes mit einem 9 cm langen Tibiastück nach Resection wegen Chandrosarkoms. Einheilung seit 6 Wochen.

45jäbriger Landwirt. Es fand sich klinisch und im Röntgenbild ein

Schlesische Gesellsch. f. vaterl. Kultur, 1910. TI. 6

82 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

ea. faustgrosser Tumor im oberen Tibiaende, der von innen her die Cor- ticalis stark verdünnt und an einer Stelle bereits durchwuchert hatte. Diagnose: Chondrosarkom.

Der Patient stellte sich im Mai vor, und es wurde mit ihm verab- redet, dass er, im Falle sich geeignetes Ersatzmaterial fände, telegraphisch zur Operation bestellt werden würde.

Bei einer an Embolie nach Oberkieferresection verstorbenen Frau wurde 3 Stunden post mortem die linke obere Tibia- und Fibulahälfte unter aseptischen Kautelen entnommen. Die Aufbewahrung wurde in Ringer’scher Lösung ohne Chloroformzusatz und im Kältekasten „Frigo* bewerkstellisgt. Der Patient traf am Abend nach Empfang des Tele- gramms ein, und es wurde ihm am 4. Juni morgens ein 9 cm langes Stück der Tibia, welches das Chondrom enthielt (Demonstration des Präparates) samt Gelenkflächen exstirpiert, und das entsprechende Stück aus der Leiche im ganzen 27 Stunden post mortem (24 Stunden Konser- vierung) eingesetzt; als Bolzen wurde das ca. 15 cm lange, von der gleichen Leiche entnommene, Fibulastück verwandt. Operation ohne Blutleere.

Der Verlauf war durch Temperatursteigerungen bis 38,6 in der ersten Woche gestört. Das Fieber, welches bei ruhigem Puls und gutem Allgemeinbefinden verlief, war durch Resorption aus der grossen Wund- höhle bedingt. Vom 14. Tage ab dauernd normale Temperatur. Pat. wird im Gypsverband 6 Wochen nach der Operation vorgestellt.

Diskussion zu 3.

Hr. Uhthoff erläutert noch näher die Momente, die ihn in Gemein- schaft mit Herrn Foerster veranlasst haben, in dem vorliegenden Falle von operiertem Hirntumor schon vor einem Jahre mit aller Bestimmtheit die Diagnose eines Hirntumors in der rechten vorderen Schädelgrube mit Zerstörung des rechten ÖOpticus, Beeinträchtigung der Olfactorii und Stauungsprpille auf dem linken Auge zu stellen. Trotz damaliger Warnung hat Patientin mit der Operation so lange gewartet, bis auch die Sehkraft des linken Auges ganz schlecht geworden war. Nach der Operation ist die Stauungspapille links fast geschwunden, aber unter atıophischer Verfärbung der Papille; das Sehen ist bisher ungefähr das- selbe geblieben, wie vor der Operation. Vortr. ist in diesem Falle über- zeugt, dass sich bei rechtzeitiger Operation mehr von der Sehkraft hätte erhalten lassen, da der ganze Verlauf dafür sprach, dass lediglich eine Kompression des linken Opticus und keine Durchwachsung desselben von seiten des Tumors vorlag.

Hr. Ludloff: Ueber die Spiralfissuren der Tibia bei Kindern.

Die Spiralfissur der Tibia ist eine wenig gekannte, aber doch ziemlich häufige Verletzung bei Kindern im Alter von 1 bis ca. 5 Jahren. Sie entsteht ohne grössere Gewalteinwirkung. Gewöhnlich wissen die Kinder oder ihre Angehörigen nichts weiter anzugeben, als dass das betreffende Individuum beim Laufen oder Spielen hingefallen ist.

Die Symptome sind folgende: Im Vordergrunde steht die Beobachtung, dass das betreffende Kind nicht dazu zu bringen ist, auf das eine Bein zu treten. Wenn es steht, hält es das verletzte Bein im Hüft- und Knie- gelenk gebeugt, im Fussgelenk mässig gestreckt, ohne mit den Zehen den Boden zu berühren. Aeltere Kinder hüpfen auf einem Bein. Das Bein wird in Rückenlage aktiv in allen Gelenken frei und ohne Schmerz- äusserungen bewegt. Ein Hämatom und grössere Schwellung fehlen. Nur beim Vergleich mit dem anderen Bein fällt auf, dass das untere Drittel des verletzten Unterschenkels unbedeutend geschwollen ist.

Beim Palpieren ist keine Spur von Dislokation zu fühlen, bei Rota- tionsversuchen manchmal ein kurzes Knochenknacken, wobei Schmerz

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 83

geäussert wird. Man ist meist nicht in der Lage, zu fühlen, wo das Knacken stattfindet. Palpiert man mit dem Finger streichend über die -Tibiavorderfläche, so fühlt sich die distale Hälfte im Vergleich zum unverletzten etwas „verschleiert“ an. Bei ceircumscripter Palpation findet man gewöhnlich zwei mehrere Zentimeter voneinander ent- fernte, ganz ceircumseripte, druckempfindliche, Bruchschmerz gebende Stellen an der Vorderfläche der Tibia. Im Röntgenbild sieht man, wenn man zwei Aufnahmen (eine von der Seite und eine von vorn nach hinten) macht, oft nur bei der einen Aufnahme eine spiralig von unten nach oben die ganze Vorderfläche der Tibia durchlaufende feine Spalte.

Vortr. hat an der Leiche eines 3!/, jährigen Mädchens experimentell dieselben Formen dadurch erzeugt, dass er den Fuss wie einen Fenster- wirbel fasste und ad maximum auf der einen Seite nach innen, auf der anderen Seite nach aussen drehte. Dabei entstehen nach lautem Knacken an beiden Unterschenkeln die Fissuren in derselben Ausdehnung und Form, wie die beobachteten. Es war an beiden Unterschenkeln Krepi- tation und abnorme Beweglichkeit aber nur bei Rotationsbewegungen nachzuweisen. Auf den in den verschiedensten Lagen aufgenommenen Röntgenbildern war aber nur an dem nach innen torquierten Unterschenkel die Fissur zu sehen, bei dem nach aussen torquierten liess das Röntgen- bild keine Fissur erkennen, obwohl auch hier abnorme Beweglichkeit nachzuweisen war. Bei diesen Torsionen waren weder die Knöchel, noch die Fibula, noch die Bänder der Fussgelenke verletzt worden. Vortr. hält diese Verletzung für analog den In- und Eversions- frakturen der Knöchel der Erwachsenen. Es scheint ihm eine typische Verletzung des frühen Kindesalters von 1—5 Jahren zu sein, die vikariierend für die Knöchelfrakturen und Fuss- gelenksdistorsionen der Erwachsenen und älteren Kinder eintritt. Man wird in dieser Auffassung noch dadurch bestärkt, dass Distorsionen und Knöchelfrakturen nach der Erinnerung des Vortragenden bei Kindern nicht beobachtet werden.

Die Spiralfissur der Tibia, bei der nie ein Bruch der Fibula zugleich beobachtet wurde, scheint beim Laufen dadurch zustande zu kommen, dass das Kind über seinen adduzierten Fuss nach vornüber fällt. Nach mehreren im Laufe von 10 Jahren beobachteten Fällen scheint die Pro- gnose günstig, die Fissur heilt ohne alle funktionellen Folgen. Aber trotz- dem scheint die Anwendung einer Gipshanfschiene zweckmässig, selbst wenn durch das Röntgenbild nachgewiesen ist, dass keine Spiralfraktur mit Verschiebung stattgefunden hat. Auffallend bleibt, dass einige Mütter angeben, dass das Kind das Bein doch ca. 6 Wochen nicht als Stütze benutzt habe.

Hr. Coenen demonstriert eine von ihm exstirpierte Cystenmilz, die die kolossalen Dimensionen von 33 X 20 x 10 cm hat. Sie wog 2!/, kg und enthielt in zahllosen Cysten, die von Faustgrösse in allen Ueber- gängen bis zu Erbsengrösse herabsteigen, 715 g seröser, klarer, hydrocelen- ähnlicher Flüssigkeit. Fast die ganze Milz war in Cysten aufgelöst, nur geringe indurierte Milzreste waren sichtbar. Die Trägerin der Milz, eine 39 jährige Frau, hatte damit eine normale Schwangerschaft und Geburt durchgemacht. Diese polyeystische Degeneration des Organs beruht auf einer allgemeinen Lymphangiektasie. Das Blutbild war normal. Der Heilungsverlauf verlief ohne jede Störung und stach grell ab von dem bei einer wegen myeloider Leukämie vom Vortragenden gemachten Splenektomie, die mit Fieber kompliziert war, ohne dass es gelang, da- für einen hinreichenden Grund zu finden; schliesslich trat aber nach 4 Wochen doch Heilung ein. Bisher sind etwa 50 Fälle nicht parasitärer Milzeyste beobachtet, von denen 34 operiert sind. Dieses ist der erste operierte Fall polyeystischer Milzdegeneration.

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Hr. Fritsch: Säbelscheidentibia bei erworbener Lues.

M.H.! Ich zeige Ihnen die Photographie und das Röntgenbild einer einseitigen Säbelscheidentibia, die in ihrer Art ausserordentlich inter- essant ist.

Die Tibia en lame de sabre, wie Fournier in seiner grundlegenden Arbeit die Deformität genannt hat, wurde bisher als ein Charakteristikum der Lues hereditaria tarda angesehen, also eine Form der ererbten Lues, die nach mehrjähriger Latenz bei im Wachstum begriffenen Individuen zum Ausbruch kommt.

In diesem Sinne haben sich alle Autoren, die über dieses Thema geschrieben haben, ausgesprochen. Ich erwähne vor allem Wieting. In der Arbeit über die Tibia en lame de sabre, in der er bewies, dass es sich dabei um eine reelle Verbiegung der Tibia und nicht nur um eine durch Periostauflagerungen vorgetäuschte handelt, sagte er zum Schluss, dass er gerade in dieser tatsächlichen Verkrümmung und Ver- längerung der Tibia die Punkte sieht, die für eine hereditär luetische Erkrankung charakteristisch sind. Als Einschränkung fügt er allerdings die Fälle hinzu, in denen die Lues in frühester Kindheit erworben wurde, sodass die tertiären Symptome noch in die Wachstumszeit fallen.

Dieser Ansicht schlossen sich später Moses und Finkh an und auch in der Deutschen Chirurgie und im Handbuch für Chirurgie wird in dem betreffenden Kapitel die Erkrankung in diesem Sinne besprochen und der Reiz auf die im Wachstum begriffenen Epiphysen als Erklärung der Verkrümmung und Verlängerung angesehen.

Bei den Bildern, die ich Ihnen hier zeigen kann, handelt es sich nun im Gegensatz zu den bisherigen Anschauungen um eine Tibia en lame de sabre bei einer Patientin, die ibre Lues im ausgewachsenen Alter akquieriert hat, und bei der es trotzdem zu dieser Deformität gekommen ist. Es ist eine 65 jährige Frau, die von ihrem Manne vor etwa 38 Jahren mit Lues infiziert und damals ärztlicherseits behandelt wurde. Vor 11 Jahren bemerkte sie an einer Stelle des Schienbeins, mit dem sie sich lange Zeit bei dem Heben ihres kranken Mannes gegen die Bettkante gestemmt hatte, eine Verdickung des Knochens sich ent- wickeln, die sich immer mehr ausdehnte und schliesslich zu einer starken Krümmung des Schienbeins führte.

Der Verdacht, dass es sich um eine Tertiärform der Lues handelte, wurde durch die Wassermann’sche Probe und das Röntgenbild be- stätigt.

Dieses zeigt das typische Bild eines luetisch erkrankten Knochens. Man sieht die gummösen Teile als dunkle Schatten, eingerahmt von den undurchsichtigen sclerosierten Partien. Die gummöse Ostitis führt näm- lich zu erheblichen Hyperostosen. Wird nun mehr selerotisches Gewebe gebildet, als zum Ersatz des gummösen nötig ist, ein Vorgang, der wahrscheinlich durch den fortwährenden Reiz in unserem Falle noch begünstigt ist, so kommt es schliesslich zu einer Verlängerung des Knochens, und ist dieser Knochen, wie die Tibia an beiden Seiten an einen sich nicht mit verlängernden Knochen, die Fibula, fixiert, so muss sie sich im Bogen um letzteren krümmen.

Die Verlängerung und Verkrümmung wird natürlich eine noch er- heblichere sein, wenn, wie bei der Lues hereditaria tarda, der Reiz auf die im Wachstum befindlichen Epiphysen noch hinzukommt.

Unser Fall beweist aber, dass auch eine im ausgewachsenen Alter akquierierte Lues zur Tibia en lame de sabre führen kann, wenn auch sicher diese Erscheinungsform zu den grössten Seltenheiten gehört.

Erwähnen möchte ich noch, dass die Säbelscheidentibia allerdings auch bei erwachsenen Individuen beobachtet wurde, dass dann aber die ersten Anfänge der Deformität bis in das Wachstumsalter zurückgingen.

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 85

Bei unserer Patientin aber sind erst vor 11 Jahren, also im Alter von 54 Jahren, die ersten Erscheinungen an der Tibia aufgetreten, und sie ist stets unter ärztlicher Kontrolle gewesen, da ihr Bruder selbst Sanitätsrat ist und sie häufig behandelt hat.

Hr. Spannaus zeigt ein Bild und Präparat von einem Patienten, der im Winter in der Klinik operiert wurde. Die Halsseite war der Sitz eines retrovisceralen Lipoms, das bis zur Wirbelsäule heranreichte und über die Mitte hinaus die Trachea verdrängt und zum Teil kom- primiert hatte. Der Vortragende macht auf die Seltenheit der sub- fascjalen Lipome aufmerksam. Interessant ist die Differentialdiagnose. Hier konnte leicht ein Lymphangiom, eine branchiogene Cyste, eine Bluteyste ausgeschlossen werden.

Wegen ihres Wachstums in den Furchen und Spalten der Gewebs- schichten führen diese Geschwülste zu Kompressions- und Verdrängungs- erscheinungen, wie denn auch unser Patient über Atembeschwerden zu klagen hatte.

Hr. Richard Levy demonstriert eine Frau von 32 Jahren, bei der er vor 4 Monaten ein mannskopfgrosses Enterocystom entfernt hat. Der Tumor war unbemerkt entstanden und hatte keinerlei Beschwerden von seiten des Darmes verursacht, lag in der linken Bauchseite, die er ganz ausfüllte. Colon transversum und descendens waren nach rechts und abwärts verlagert, das Mesocolon, stark ausgezogen, bedeckte die Ge- schwulst. Diese wurde durch einen Schlitz im Mesocolon freigelegt, die Entfernung war jedoch schwierig, da starke Gefässe mit sehr brüchiger Wand vorhanden waren, und der Tumor an der Hinterwand breitbasig aufsass. Der Inhalt der Cyste hatte graugrüne Farbe und dünn- schleimige Konsistenz. Die Wand bestand aus derbem Bindegewebe, auf der Innenseite war ein Epithelbelag nicht mit Sicherheit nachzu- weisen, dagegen zeigten papilläre Exerescenzen einen darmzottenähn- lichen mikroskopischen Bau mit auffallend vielen Becherzellen. Während der demonstrierte Tumor keinen Zusammenbang mit dem Darm aufwies, war in dem zweiten Fall ein solcher vorhanden, jedoch ohne Kommunikation mit dem Lumen des Darmes ausgebildet. Das Präparat stammte von einem 41/, jährigen Kinde, das mit Erscheinungen des ebronischen Ileus in die Küttner’sche Klinik eingeliefert war, und hier entwickelte sich das Bild des akuten lleus in den nächsten Stunden. Bei der Operation fand sich schon eine diffuse Peritonitis und einen um seine Achse im Sinne des Uhrzeigers um 120° gedrehter eystischer Tumor mit klarem Inhalt, der am obersten Jejunum aufsass. Darm- resection. Tod an Peritonitis.

Der Vortr. bespricht die Genese der Enterocystome aus dem Ductus omphalo-entericus und verweist auf die Zusammenstellung von 39 Fällen von Colmers, nach der noch ausserdem von Braun, Franke und Rögner solche Fälle mitgeteilt wurden. Die Gefahr des Ileus und die von Colmers berechnete Mortalität von 35 pCt. zwingen auch dann operativ vorzugehen, wenn ein Enteroeystom zwar angenommen wird, Beschwerden aber noch nicht vorhanden sind.

Diskussion.

Hr. Coenen bemerkt, dass bei dem gedrehten Enterocystom des Kindes, von dem das eine Präparat stammt, bereits bei der Operation eine seröse Peritonitis vorhanden war. Diese trübt die Prognose im Kindesalter erheblich, während sie bei Erwachsenen meist überwunden wird. Auch bei ähnlichen, viel leichteren abdominellen Eingriffen, z. B. bei der Lösung zweier Fälle von Invaginatio ileocoecalis im frühen Kindesalter gestaltete diese schon bei der Operation bestehende seröse

56 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Peritonitis den Ausgang des leichten chirurgischen Eingriffes tödlich. Dies spricht dafür, dass die Bauchfellentzündung im kindlichen Alter schwerer verläuft, als bei Erwachsenen, eine Ansicht, die noch nicht allgemein anerkannt ist. ;

Hr. Richard Levy zeigt einen Fall von Nasenplastik bei Sattelnase mit Knochentransplantation aus der Tibia des Patienten. Es wurde ein dem Defekt entsprechendes Stück der Tibiakante (nach Abhebelung der narbigen Haut von der Unterlage am Nasenrücken) mit gutem kosmetischem Erfolg zur Einheilung gebracht. (Siehe Figur 1 und 2).

Figur 1.

Diskussion.

Hr. Hinsberg: Seitdem wir mit Hilfe der Stein’schen Spritze Paraffin von 42° Schmelzpunkt kalt injizieren, haben wir Embolien oder sonstige Störungen nicht mehr erlebt. Auch in der Literatur sind Vergleichsfälle meines Wissens seitdem nicht mehr publiziert worden. Ich glaube deshalb, dass gegen die Anwendung der Paraffininjektion zu kosmetischen Zwecken Bedenken nicht mehr bestehen.

Hr. Weil stellt einen Jungen von 11 Jahren vor, der angeblich vor 4 Wochen von einem von vornher kommenden Wagen umgeworfen wurde. Das Rad des Wagens habe ihn am Oberschenkel und an der Hüfte gestreift, und man sieht jetzt noch Narben, die von dieser Ver- letzung herrühren. Der Junge konnte nicht selbst aufstehen, wurde nach Haus transportiert, blieb 8 Tage im Bett liegen, ohne dass der Arzt gerufen wurde, dann konnte er wieder, wenn auch hinkend, gehen,

J. Abteilung. Medizinische Sektion. 37

Figur 2.

und jetzt wird er zu uns gebracht, weil sein Gang sich nicht bessert. Er hinkt immer noch stark; es fällt auf die starke Aussenrotation des linken Beines, die Abduktion ist aufgehoben. Trendelenburg ist beim Stehen auf dem rechten Bein positiv.

Vorn sieht und füblt man eine rundliche harte Prominenz unter der Spina superior über dem Schambein. Medial von ihr pulsieren die Liefässe.

Es handelt sich demnach zweifellos um eine Luxation im Hüft- gelenk, und zwar nach vorn, um eine „Luxatio suprapubica“

Eine Schenkelhalsfraktur, die wegen der Aussenrotation des Beines in Betracht gezogen werden müsste, ist durch die Stellung des fühl- baren Kopfes sofort auszuschliessen.

Das Röntgenbild lässt uns in diesem Fall etwas im Stich: Es zeigt die Sagittalstellung des Schenkelhalses, lässt aber die Luxation nicht sehr deutlich zum Ausdruck kommen.

Zu beachten wäre noch, dass der Junge Sensibilitätsstörungen am Oberschenkel hat, und dass der Patellarreflex links nur schwach aus- lösbar ist, ferner dass der Umfang des Oberschenkels etwas vermindert ist. Dies beweist, dass der Nervus femoralis, der in derartigen Fällen oft schwer lädiert ist, auch bier leicht verletzt ist.

Bekanntlich sind bei den regulären Hüftgelenksluxationen die Bänder, besonders das Ligamentum Bertini, erhalten. Sie sind für den Mechanis- mus der Luxation von Bedeutung. Ein Modell, von Herrn Lud- loff angegeben, an dem die Bänder durch Gummizüge ersetzt sind,

88 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

macht dieses Verhältnis klar. Bei der Luxation nach hinten tritt Innen- rotation, bei der Luxation nach vorn Aussenrotation des Beines auf in- folge der Spannung des Ligamentum ileofemorale.

Diese Verhältnisse sind zu beachten bei der Reposition, die durch Zug, Flexion und Innenrotation auszuführen ist. Sie wird in diesem Fall wohl gelingen. In einem anderen, ähnlich liegenden Fall, der nicht mehr redressiert werden konnte, hat sich durch Bildung einer neuen Pfanne eine relativ gute Beweglichkeit hergestellt.

An dem vorgestellten Falle ist merkwürdig:

1. das jugendliche Alter des Patienten,

2. die Genese, durch eine von vorn innen nach hinten aussen einwirkende tangentiale Gewalt,

3. die rasche Herstellung einer relativ guten Funktion.

Hr. Hörz bespricht einen eigentümlichen Entzündungsprozess in der Mamma, bei dem es zu einer Obliteration der grösseren Ausführungs- gänge kommt. Dieses Krankheitsbild, von dem bis jetzt nur vereinzelte Fälle veröffentlicht sind, wird neuerdings mit dem Namen „Mastitis ob- literans* bezeichnet. Infolge der Obliteration der Ausfübrungsgänge kann es zu Secretstauung und späterhin zu kristallinischen Aus- scheidungen in dem gestauten Secret kommen. Die Kristalle wirken als Fremdkörper und verursachen die Bildung von Fremdkörperriesen- zellen. Dadurch kommen mikroskopische Bilder zustande, die leicht mit Tuberkulose und, wenn es sich um radiär angeordnete Kristalldrusen handelt, mit Aktinomykose verwechselt werden können.

Hr. Bauer demonstriert ein Kind mit hochgradigen amniotischen Abschnürungen, das am 30. April als zweites Kind gesunder Eltern geboren wurde. Die Geburt verlief glatt als Steissgeburt ohne ärztliche Hilfe. Laut Angabe des Vaters sind in der Aszendenz keinerlei Miss- bildungen aufgetreten, so dass hier nicht von einer avitären Vererbung gesprochen werden kann, sondern man vielmehr an eine sogenannte primäre Keimesvariation denken muss, die wohl meist kombiniert mit äusseren Ursachen zu derartigen Bildungen führt; als solche kommen irgendwelche mechanische Insulte, Traumen, Tumoren im Uterus, weiter der schon seit Hippokrates für Missbildungen beschuldigte Frucht- wassermangel in Betracht. Als wichtigstes Moment aber in der Aetio- logie der Missbildungen sind neben dieser Oligohydrämie die Anomalien des Amnions anzusehen, die von vielen Autoren, so von v. Winkel sogar als die einzige Ursache sämtlicher äusseren Missbildungen ge- nannt werden; zu solehen Anomalien haben wir, neben der pathologischen Frage des Amnions, abnorme Verwachsungen und Stränge desselben, Defekte des Amnions und des Hydramnions zu rechnen. In diesem Falle dürften wohl amniotische Bänder, die sogenannten Simonart’schen Bänder für die Entstehung dieser Missbildung verantwortlich zu machen sein, die durch Umschnürung um die unteren Extremitäten, wahrschein- lich in den ersten 3 Monaten des Embryonallebens diese Entwicklungs- störung veranlassten.

Bei dem Kind ist das rechte Bein um 7 cm kürzer als das linke, ebenfalls bestehen beträchtliche Umfangsdifferenzen. Nach Palpation und Röntgenbild ist die Tibia nur andeutungsweise vorbanden, die Fibula ist ebenso wie die Kniescheibe nicht nachzuweisen. Die Kerne der Fuss- wurzelknochen sind im Röntgenbilde nicht zu erkennen; von den Gewebs- strahlen sind nur der erste und dritte ausgebildet. Der Fuss steht in ausgeprägter Pes-equinovarus-Stellung und zeigt die mehrfach be- schriebene Hummerscherenstellung der ersten und fünften Zehe. Am linken Bein sind neben beträchtlicher Deformität der Tibia ein teilweiser Defekt der Fusswurzelknochen und der zweiten Zehe vorhanden.

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 39

Hr. Bauer demonstriert noch kurz einen anderen 1907 zur Beoh- achtung gekommenen konservierten Phocomelen mit dem dazu ge- börigen Röntgenbilde, dessen Missbildungen gleichfalls amniogener Natur sind, bei dem es zur Amputation der ‘linken oberen Extremität ge- kommen und ein fast völliger Defekt des linken Femur und der beiden Fibulae vorhanden ist, und der ausserdem Defekte der Hand- und Fuss- wurzel, der Mittelhand- und Mittelfussknochen, der Zehen und der Finger aufweist.

Hr. Melchior bespricht an der Hand zweier Fälle die gelegentliche differentialdiagnostische Bedeutung der eroupösen Pneumonie gegen- über akuten entzündlichen intraabdominellen Prozessen.

Im ersten Fall war ausserhalb von autoritativer Seite die Diagnose Appendieitis oder Pyelitis acuta gestellt und die Patientin, eine 58jährige Frau, zur sofortigen Operation in die Klinik geschiekt worden. Auf Grund des hier erhobenen Befundes wurde zunächst abgewartet; am anderen Tage erst traten deutliche Erscheinungen einer Oberlappen- pneumonie auf; Patientin ging an der Schwere der Infektion zugrunde. Bei der Section fand sich das Peritoneum völlig intakt; nur in der Gallenblasengegend bestanden ältere Verwachsungen.

Der zweite Fall betraf eine Gravida im 5. Monat, die wegen Er- scheinungen, die auf eine acute Appendieitis hindeuteten, eingeliefert worden war. Es handelte sich in diesem Falle um eine Unterlappen- pneumonie, die kritisch zur Lösung kam unter gleichzeitigem Verschwinden der abdominellen Symptome. Als besondere Komplikation bestand hier eine Pyelitis, die erst nachträglich in die Erscheinung trat. Ein direkter Zusammenhang mit der durchgemachten Pneumonie ging aus der an- gestellten bakteriologischen Untersuchung nicht mit Sicherheit hervor. Vortr. fasst die abdominellen Erscheinungen bei Pneumonie, auf deren praktische Bedeutung für die Chirurgie in Deutschland zuerst Herr Küttner hingewiesen hat, als eine Irradiation in die untersten Inter- costalnerven auf, wodurch eine Schmerzhaftigkeit und Hyperästhesie der Bauchgegend hervorgerufen werden kann. Als differentialdiagnostische Momente kommen in Betracht: 1. das völlige oder nabezu vollständige Fehlen einer defense musculaire bei diesen irradiierenden Vorgängen. Für Pneumonie spricht ferner 2. das Vorhandensein von exzessiv hohen Temperaturen (um 40° und eventuell noch höher‘, 3. Injektion des Ge- sichtes bei Pneumonie, „teint plomb&“ bei Peritonitis, 4. der Befund eines gespannten und vollen Pulses bei diesen Umständen ist mehr für Pneumonie zu verwerten, 5. Herpes und initialer Schüttelfrost sind eben- falls eher bei Pneumonie anzutrefien, 6. thorakale Atmung spricht für Peritonitis; abdomineller Typus für intrathorakale entzündliche Prozesse. Die bekannten pbysikalischen Zeichen der Pneumonie lassen hier nicht selten im Stich, da in diesen Fällen der Lungenherd mitunter anfangs zentral lokalisiert ist und erst später nachweisbar wird. Vortr. betont die praktische Wichtigkeit dieser Erkrankungsform, da bis 1909 bereits 15 Fälle in der Literatur vorliegen, in denen irrtümlicherweise laparo- tomiert wurde bei negativem Befund seitens des Peritoneums. Es ist klar, dass durch einen derartigen Eingriff die Prognose der Pneumonie erheblich verschlechtert wird.

Diskussion.

Hr. Allard erwähnt die Möglichkeit, dass es sich bei den Abdominal- symptomen im Beginn der Pneumonie nicht nur um irradiierende Schmerzen im Gebiet der unteren Intercostalnerven handele, sondern um wirkliche peritoneale Reizung. In einem von ihm beobachteten Falle, in dem die Laparotomie gemacht wurde, fand sich wenigstens in der Bauchhöble ein seröses Exsudat, das seiner Menge nach gering war, aber doch über die normale Menge der Peritonealflüssigkeit hinausging.

90 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Hr. R. Stern frägt, ob in Fällen, die mit den Symptomen peri- tonealer Reizung zur Operation oder Autopsie gekommen sind, eine: genaue bakteriologische Untersuchung des Peritoneums vorgenommen worden ist. Es kann bekanntlich auch bei makroskopisch intaktem Peritoneum eine peritoneale Infektion bestehen.

Hr. Coenen: Die von Herrn Melchior vertretene Ansicht, dass die abdominalen Symptome bei der Pneumonie infolge irradiierenden Nerven- reizes zustande kommen, lässt sich meiner Ansicht nach stützen durch die Tatsache, dass auch bei Schussverletzungen der Lunge, wo eine In- fektion des Peritoneums noch nicht zustande gekommen sein kann, ge- legentliche Schmerzen im Bauch beobachtet werden, die infolge des schrägen Verlaufs der Intercostalnerven von oben nach unten in den Bauch verlegt werden. (Beobachtung von O. Hildebrand.)

Hr. Melchior betont gegenüber Herrn Allard, dass der relativ häufige Befund einer Oberlappenpneumonie nicht gegen die Irradiations- tbeorie zu sprechen braucht, da es sich gleichzeitig um eine basale Pleu- ritis (Pleuritis diapbragmatica) handeln kann, wie es z. B. in Fall 1 durch Section festgestellt wurde. Gegenüber Herrn Stern weist Vortr. darauf hin, dass die meist im Kindesalter beobachtete Pneumokokken- peritonitis doch andere Erscheinungen macht als die in Rede stehende Erkrankung. Es sei ausserdem fraglich, ob ein eventueller Befund von Pneumokokken in der Peritonealflüssigkeit gleichzusetzen ist mit einer Entzündung des Peritoneums, zumal bei schweren Pneumonien die Pneumokokken sich nahezu regelmässig in der Zirkulation nachweisen lassen, also auch in den Körperflüssigkeiten auftreten können.

Hr. Max Baruch:

Ueber Stauungsbehandlung bei Sehnenscheidenphlegmone.

M.H.! Die akute eitrige Sehnenscheidenentzündung trägt im Gegen- satz zu anderen pyogenen Erkrankungen der Finger den Stempel der Progredienz. Auf anatomisch vorgezeichneter Bahn breitet sie sich mit grosser Schnelligkeit bis in die Vola und eventuell bis zum Vorderarm aus und führt nur zu oft in foudroyanter Weise zu allgemeiner Sepsis.

Während dieser schlimmste Ausgang mehr oder weniger von der Virulenz der Bakterien bedingt wird, haben wir eine andere schwere Folgeerscheinung in jedem Falle zu gewärtigen: die Nekrose der be- fallenen Sehne. Damit ist das Schicksal des Fingers und, sofern es sich. wie bei der Volaphlegmone, um Daumen und kleinen Finger handelt, das Schicksal der ganzen Hand besiegelt. Der Finger stellt sich in Beugecontractur und wird dann meist als lästiges Funktionshindernis der Hand im Grundgelenk exartikuliert.

Einen Patienten vor dieser schweren Verstümmelung zu be- wahren, gelang bis vor nicht langer Zeit nur ausnahmsweise. Lossen, dem wir die neuesten Untersuchungen hierüber verdanken, konstatierte in nicht weniger als 85 pCt. der Fälle völligen Misserfolg aller thera- peutischen Maassnahmen.

Erst seitdem Bier uns gelehrt hat, die Sehnenscheidenphlegmonen rationell zu behandeln, ist ihre Prognose wesentlich besser geworden. Sehen wir doch nach seiner Methode in fast 70 pCt. volle funktionelle Heilungen. Und das auch in schwereren Fällen. Zu diesen ist eine der beiden Patientinnen zu rechnen, die ich Ihnen heute demonstrieren darf.

Es handelt sich um eine 19jährige Wärterin aus der Augenklinik, welche am zweiten Tage ihrer Erkrankung, und bereits ergebnislos in- eidiert, hoch fieberhaft und somnolent in unsere Behandlung kam. Dem Verlaufe der Beugesehnen des rechten Daumens entsprechend fanden wir bis über das Handgelenk hinaus Rötung und starke Druckschmerzhaftig- keit. Bei der sogleich vorgenommenen Operation entleerte sich aus der

2

IT. Abteilung. Medizinische Sektion. 91

durch drei kleine Ineisionen eröffneten Sehnenscheide reichlich Eiter, in dem wir Streptokokken als Erreger nachweisen konnten. Wir unter- warfen den krankeu Arm einer 22stündigen Stauung.

Sechs Tage später erkrankte auch die Sehnenscheide des kleinen Fingers. Wir hatten also das ausgesprochene Bild einer Volaphlegmone vor uns. Bei der Operation fand sich trüb-seröse Flüssigkeit in der Sehnenscheide. Es wurde weiter gestaut, im ganzen 14 Tage lang. Nach weiterer fünftägiger Heissluftbehandlung wurde Patientin mit kleiner, gut granulierender Wunde am Vorderarm und mit voller Funktion der befallenen Sehnen vor zwei Monaten entlassen. Die Patientin tut seit dieser Zeit ihren vollen Dienst und hat, wie Sie sich überzeugen wollen, ihre volle Kraft in den Fingern wiedererlangt.

Die zweite Patientin hat erst vor wenigen Tagen unsere Klinik ver- lassen. Es handelte sich um einen bei weitem leichteren Fall mit zwei Tage zurückliegender Infektion des linken 4. Fingers. In dem trüb- serösen Exsudat der Sehnenscheide fanden sich Staphylokokken. Mit der im übrigen ganz gleichen Behandlung erzielten wir in drei Wochen eben- falls gute funktionelle Heilung. Die Wunden sind noch nicht ganz ge- schlossen und schon bewegt Patientin den Finger in ausgiebigster Weise.

Diese schönen Erfolge verdanken wir nächst der frühzeitigen Diagnose, auf die bei dem leichten Absterben der Sehne stets der Sehwerpunkt der Erfolge beruhen wird, zweifellos der Bier’schen Me- thode. Das Prinzip derselben läuft, wenn wir von den mehr oder weniger problematischen Theorien über die Stauung absehen, unserer Ansicht darauf hinaus, die an sich schlecht ernährte Sehne vor dem Vertroeknen zu schützen. Darum vermeiden wir die früher ge- übten grossen Ineisionen, durch welche die Sehne wie die Sehne eines Bogens ausgespannt wird und begnügen uns mit mehreren kleinen Schnitten. Darum verzichten wir auch auf jegliche Tamponade und Drainage und suchen nur das Verkleben der Wundränder durch Salben- verband zu verhindern. Des weiteren lassen wir durch 22 stündiges Tragen der Staubinde die kranke Sehne in Oedemflüssigkeit schwimmen, kehren so gleichzeitig den Gewebsstrom nach aussen und machen also eine permanente Irrigation von innen heraus.

Dass wir im Interesse grösserer Uebersichtlichkeit stets in Narkose und unter Blutleere operieren, sei nebenbei erwähnt. Das oft schwierige Aufsuchen der erkrankten Sehnenscheide in der Hohlhand und am Vorderarm erleichtern wir uns wesentlich dadurch, dass wir in die Scheide eine gebogene Knopfsonde einführen, auf deren Spitze wir direkt ineidieren.

Für den guten Erfolg maassgebend sind vor allem auch von Anfang an konsequent durchgeführte aktive und passive Bewegungen in allen Gelenken. Deshalb vermeiden wir auch Schienen und fixierende Ver- bände und halten die Patienten au, besonders in den täglich während der Staupause zu nehmenden heissen Handbädern sich fleissig zu bewegen.

Versiegt die Eiterung, sind die entzündlichen Erscheinungen abge- klungen, dann lassen wir die Stauung fort und suchen durch Heissluft- behandlung die erzielte Beweglichkeit weiterhin zu fördern.

Man kann über die Erfolge der Stauungstherapie nach Bier geteilter Ansicht sein. In der Behandlung der akuten Sehnenscheiden- phlegmonen leistet sie uns jedenfalls so Vortreflliches wie keine andere Methode. Wir können deshalb auch heute noch unterschreiben, was Bardenheuer auf dem Chirurgenkongress 1906 gesagt hat: „Wahr- haft glänzend sind die Erfolge bei den Sebnenscheidenphlegmonen, und wenn die Methode nichts mehr leistete als dieses, so würde sie ver- dienen, nicht vergessen zu werden.“

92 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Klinischer Abend vom 22. Juli 1910 in der medizinischen Universitätsklinik.

Vorsitzender: Herr R. Stern.

Vor der Tagesordnung.

Hr. Küttner demonstriert einen 53 Jahre alten Mann mit einer riesenhaften, bis auf den Unterschenkel hinabhängenden Inguinal- hernie von der Grösse eines Mehlsackes. Hochgradige Beschwerden durch das völlige Verschwinden des Penis und die dadurch verursachte Behinderung der Urinentleerung.

Hr. Winckler: Demonstration eines Mediastinaltumors.

Das vorliegende Gewächs stammt von der Section eines 22 jährigen Mannes, der angeblich erst 4 Wochen vor dem Tode mit Atembeschwerden erkrankt ist. Zugleich hatte der Verstorbene eine Anschwellung der rechten Brustseite beobachtet, die stetig an Grösse zunahm. Die Section ergab einen über mannskopfgrossen Tumor im vorderen Mediastinum, der nach vorn auf das Sternum übergreifend dieses grösstenteils zerstört hatte und schliesslich als faustgrosse Geschwulst unter der Haut zutage trat. Die Neubildung hat fernerhin die Oberlappen beider Lungen völlig durchsetzt und sich kontinuierlich auf das hintere Mediastinum bis zur Wirbelsäule fortgesetzt. Aorta, sowie die übrigen Gefässstämme sind gleich wie die Speiseröhre allseitig von der Geschwulst umwachsen, die nach oben bis über die Schlüsselbeine emporreicht, nach unten beider- seits die achte Rippe erreicht. Beide Pleurablätter sind, ebenso wie das parietale und viscerale Pericard von massenhaften Geschwulstknoten durchsetzt.

Die mikroskopische Untersuchung zeigt, dass die Neubildung aus sehr gleichmässigen, kleinen, runden Zellen, spärlichen Bindegewebs- fasern und wenigen Blutgefässen besteht. Es handelt sich demnach um ein Rundzellensarkom, und es ist nicht ausgeschlossen, dass Reste von Tbymusgewebe den Ausgangspunkt des Tumors darstellen.

Diskussion.

Hr. R. Stern, auf dessen Abteilung der Patient lag, macht darauf aufmerksam, dass trotz der enormen Ausdehnung des Tumors, die auch klinisch aus der sehr grossen Dämpfung diagnostiziert werden konnte, die subjektiven Beschwerden ausser in den letzten Tagen relativ gering waren.

Tagesordnung.

Hr. J. H. Schultz:

Segmentäre, isolierte Bauchmuskellähmung bei Poliomyelitis anterior acuta.

Der Fall ist bemerkenswert durch gekreuzte Lähmung des Obliquus abd. ext. (links unten, rechts oben) und partielle Beteiligung des Rectus, sowie des Erector trunci; andere Lähmungserscheinungen bestehen bei dem 2 Jahre alten Knaben nicht (erkrankt März 1910).

Hr. R. Stern zeigt 1. einen Patienten mit rechtsseitiger Cystenniere, dem vor 7 Jahren von Mikulicz die sehr stark vergrösserte linke Niere exstirpiert worden war. Die Niere erwies sich als vollständig eystisch entartet; die Exstirpation war wegen starker Blutungen erfolgt. Die rechte Niere wurde bei der Operation anscheinend unverändert gefunden; doch vergrösserte sie sich bald nachher zu einem grossen Tumor. 5 Jahre lang gutes Allgemeinbefinden. In den letzten 2 Jahren wiederholte mässige Blutungen; Vortr. bespricht die Indikationen zur Operation bei Cystenniere.

Hr. Renner demonstriert das bei der Operation des von Herrn Stern vorgestellten und von v. Mikulicz damals operierten Patienten

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 93

gewonnene Präparat. Die Niere war abnorm gross, wog 1600 g und entbielt nur noch minimale Reste normalen Nierengewebes. Die Ope- ration war durch Verwachsungen sehr erschwert.

Auch in einem zweiten, von Herrn Küttner operierten Fall war die Diagnose vor der Operation nicht gestellt worden. Hier begnügte man sich mit Exeision eines Teiles der ebenfalls vollkommen degene- rierten Niere und Anstechen einer Anzahl oberflächlicher Cysten. De- monstration auch dieses Präparates. Der Erfolg war nicht sehr er- mutigend, Patientin verliess in einem leicht chronisch urämischen Zu- stande die Klinik. Redner betont, wie in seinem früheren Vortrage, dass man nur unter ganz besonderer Indikation operieren solle, wenn auch Fälle, wie der Krönlein’s, zeigen, dass gelegentlich gute Dauererfolge möglich sind.

Hr. R. Stern demonstriert 2. eine Patientin mit typhöser Pyelitis. Die Patientin war Ende vorigen Jahres mit hohem Fieber und den Er- scheinungen einer Infektion des Harnapparates erkrankt. Im Harn und im Blute waren Typhusbacillen nachweisbar. Nach dem Aufhören des Fiebers blieb die Pyelitis (dureh Ureterenkatheterismus festgestellt) be- stehen. Bei Urotropingebrauch starke Abnahme der ausgeschiedenen Typhusbacillen, nach Aussetzen des Mittels sofort wieder starkes An- steigen der Keimzahlen.

3. Eine Patientin, deren Typhusinfektion unter dem Bilde einer fieberhaften Erkrankung der Gallenwege verläuft. Die gewöhnlichen klinischen Symptome des Typhus fehlten durchaus. Die Diagnose konnte durch Nachweis von Typhusbacillen im Urin und im Stuhlgang. sowie der agglutinierenden Wirkung des Blutserums, die anfangs gering war, im Verlauf der Erkrankung aber zunahm, gestellt werden.

Hr. Biedermann: Vorstellung eines Falles von Arthritis deformans mit hochgradigen Veränderungen fast aller Gelenke der Extremitäten und Onychogryphosis.

An Stelle von Nägeln sieht man bis 3 cm lange aus lamellenartig übereinandergelagerten Hornschichten bestehende Hörner wie Cornua eutanea. An einem Nagel thront noch auf der Höhe dieser Hornschicht der vollständig aus der Nagelfalz gehobene Nagel.

Dass die Veränderungen der Nägel hier auf derselben Basis wie die Arthritis deformans entstanden sind, beweist der Umstand, dass sich die Veränderungen an den Nägeln der Zehen zu gleicher Zeit vor 3 Jahren mit den Gelenkveränderungen an den unteren Gliedmaassen gebildet haben. Die Nägel an den Fingern blieben jedoch ganz normal, bis im April 1909 auch an den oberen Gliedmaassen unter starken rheumatischen Attacken Gelenkveränderungen entstanden. Erst jetzt traten hier dieselben Hornwucherungen ein. Die Ursache sind wahr- scheinlich trophische Störungen.

Demonstration einer Röntgenphotographie der Hände. Hochgradige Deformation der Gelenkenden der Knochen.

Hr. J. H. Schultz: Lebereysten.

Bei einem 50 jährigen Manne zeigte sich klinisch die Leber in toto stark vergrössert mit vielfach deutlicher Fluktuation. Auch das Zwerch- fell wurde rechts durch eine Cyste kugelig vorgewölbt (Röntgen). Da die Wassermann’sche Reaktion negativ war, konnte zunächst besonders an Echinococcus oder polycystische Degeneration gedacht werden. Patient wurde im März 1910 in der medizinischen Universitätspoliklinik untersucht und bis Juni beobachtet. Eine inzwischen mehrfach ange- stellte Komplementablenkung gegen Hammelechinokokkenflüssigkeit gab keinen sicheren Anhaltspunkt für Echinococeusantikörper im Blutserum

94 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

des Patienten. Eosinophilie war inkonstant. Die Operation durch Herrn Küttner im Juni 1910 ergab eine isolierte polycystische Degeneration der Leber ohne Nierenbeteiligung. Patient befindet sich jetzt mit einer gutsitzenden Gummileibbinde subjektiv wohl.

Hr. Coenen: M. H.! Dieser Patient, den Herr Schultz soeben vorgestellt hat, wurde uns durch die Güte von Herrn Stern zur Operation überwiesen. Er wurde am 21. V. 1910 von Herrn Küttner operiert. Nach der Eröffnung der Bauchhöhle mit dem Kehr’schen Wellenschnitt entquoll derselben eine gelbliche, seröse Flüssigkeit. Es bestand also Ascites. Die ganze Leber war in Cysten aufgelöst, die von Hühnerei- bis Kirschgrösse wechselnd die Oberfläche des Organs ganz uneben und buckelig und höckerig gestalteten, sodass makroskopisch normales Lebergewebe überhaupt nicht mehr wahrzunehmen war. Durch diese cystische Umwandlung hatte die Leber ein bleigraues Aussehen bekommen und war stark vergrössert, sodass sie weit in die Bauchhöhle hineinragte. Der Inhalt der Lebereysten war eine wasserklare Flüssig- keit, die sich von dem gelblichen Bauchhöhleninhalt unterschied. Einige der grösseren Cysten wurden wegen der Gefahr des Platzens excidiert und dabei das angrenzende Gewebe zur mikroskopischen Untersuchung mit entfernt. Die Leberwunde wurde tamponiert, die Heilung erfolgte ohne Störung.

Mikroskopisch wurden die grösseren Cysten von einem deutlichen Epithelsaum eingefasst, dessen Zellen an den ganz grossen Cysten sehr flach waren, in den kleineren aber eine gestrecktere, mehr kubische oder eylindrische Form hatten. Das Lebergewebe selbst war ausserordentlich reduziert und durch eine ausgedehnte interstitielle Entzündung zum Schwund gebracht. An manchen Stellen sah man in der interstitiellen Wucherung kleine cystische Erweiterungen der Gallengänge, bis zu dem Bild des Cystadenoms. Diese beginnenden cystischen Erweiterungen zeigten auch ein ziemlich hohes Epithel, das die Gallengänge wesentlich von den Blut- und Lymphgefässen unterscheidet. Ausser den cystisch erweiterten Gallengängen sah man noch einfache gangförmige oder zapfen- artige Gallengangswucherungen in dem interstitiell entzündeten Gewebe.

Nach dem mikroskopischen Bilde müssen wir demnach die Leber- cysten als multiple Gallengangscysten auffassen. Die grösseren Cysten sind aus der Konfluenz der kleineren multiplen entstanden. Nach der grundlegenden Arbeit von C. Hoffmann „Ueber wahre Lebereysten“ (Grenzgebiete, Bd. 10) sind die Cystadenome der Leber und die soge- nannten cystischen Degenerationen der Leber als einheitliche Bildungen aufzufassen. Ihre Entstehung verdanken sie einer Gallengangswucherung und ceystischen Erweiterung der neugewucherten Gänge. Durch weitere Entwieklung können sich multilokuläre in unilokuläre Cysten umbilden, ein Vorgang, von dem noch die als Leisten der Cystenwand vorhandenen Reste der früheren Septa Zeugnis ablegen. Ausser der cystischen Degene- ration finden wir in unserem Falle noch ausgedehnte cirrhotische Prozesse, ähnlich wie bei der Lebereirrhose. Daher erklärt sich auch wohl in unserem Fall der Ascites in der Bauchhöhle. Es. bestehen also sowohl anatomisch, als auch klinisch gewisse Analogien zwischen der polycystischen Leberdegeneration und der Lebereirrhose. Die sieh dabei abspielenden Prozesse, sind dieselben, aber graduell sehr verschieden. In beiden wuchert das Bindegewebe reichlich (Hepatitis interstitialis) und in beiden proliferieren die Gallengangsepithelien stark, die im ersteren Falle multiple Cysten bilden, im zweiten Falle aber nur gangartige Neubildungen zeigen. Im ersteren Falle treten die Gallengangseysten weit in den Vordergrund, im zweiten die interstitiell entzündlichen Prozesse. Bei der Lebercirrhose ist der Ascites eine frühzeitige Erscheinung, während er bei der poly- cystischen Leberdegeneration erst später, wenn alles Lebergewebe auf-

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 95

gebraucht ist, auftritt (unser Fall). Aus dem letzteren Grunde ist auch in unserem Falle eine Heilung nicht mehr zu erwarten. Einen ganz ähnlichen Fall von multiplen nichtparasitären Lebereysten, die aber nur auf den linken Leberlappen beschränkt waren, heilte v. Haberer durch die Leberreseetion (Wiener klin. Wochenschr., 1909, Nr. 5l).

Sitzung vom 29. Juli 1910.

Vorsitzender: Herr Ponfick. Schriftführer: Herr Partsch.

Hr. A. Neisser: Ueber das neue Ehrlich’sche Syphilisheilmittel. (Siehe Teil II.)

Diskussion.

Hr. Hartung berichtet in aller Kürze über die Erfolge der auf seiner Abteilung vorgenommenen Hatainjektionen, die sich im wesent- lichen mit denen von Herrn Neisser decken. Die Anzahl der behandelten Fälle betrug bis jetzt 18, die Injektionen wurden in der grossen Mehrzahl mit der alkalischen Lösung nach Wechselmann aus- geführt. Erst neuerdings wird das unlösliche neutrale Präparat Michaelis-Wechselmann verwendet. Im Gegensatz zu den Beob- achtungen an der Neisser’schen Klinik muss festgestellt werden, dass die Injektionen in den ersten Tagen ausserordentlich schmerzhaft waren, und dass sich grosse Infiltrate bildeten, die etwa 4—6 Tage zu ihrer Rückbildung brauchten. Bei einzelnen Patienten hielt die spontane Schmerzhaftigkeit und die Druckempfindlichkeit noch über 14 Tage an. Auch wurden ständig in den ersten 3—4 Tagen Temperaturen bis zu 39° und darüber beobachtet,, die ja durchaus verständlich sind als Resorptionstemperaturen und mit besonderer Rücksicht auf die Er- klärung, die diesen Temperaturanstiegen eben von Herrn Neisser gegeben sind. Ueble Zwischenfälle sind bisher nicht beobachtet worden, speziell keine Erscheinang von Arsenintoxikationen im Nervensystem oder sonst. Die Wassermannreaktion ist bis jetzt bei allen Kranken die Behand- lungszeit erstreckt sich auf 1 Monat noch positiv. Das verblüffende Zurückgehen von papulösen Infiltrationen, besonders ad genitalia, haben wir vermisst. Es trat gewiss eine Rückbildung ein, speziell hörte das Nässen auf, und der Spirochätenbefund wurde negativ, aber massige Papelkonvolute verfielen nicht der schnellen Resorption, die wir erwartet hatten. Dagegen war in fast allen Fällen eine erhebliche Hyperleuko- eytose zu konstatieren, die bald nach der Injektion eintrat und mehrere Tage andauerte bis zu erheblichen Leukocytosenvermehrungen um das Doppelte der ursprünglichen Anzahl. Auch muss durchaus festgestellt werden, dass in nahezu allen Fällen der Einfluss der Injektion auf den Allgemeinkörper ein durchaus günstiger war (Gewichtszunahme, Ver- schwinden subjektiver Krankheitserscheinungen). Besonders günstig war der Erfolg bei maligner Lues. (Vorstellung einiger Kranken.)

Hr. Bonhöffer: Bei dem von Herrn Neisser erwähnten Fall aus meiner Klinik mit den unangenehmen Folgeerscheinungen der Injektion des Ehrlich’schen Mittels hatte es sich um eine spinale Lues gehandelt. Wir hatten den Fall zur Behandlung gewählt, weil es sich noch um keine ganz inveterierte Lues gehandelt hatte; die Gesamtdauer der Spinalerkrankung betrug etwa 10 Monate. Quecksilber und Jod wirkten nicht ausreichend. Die Intensität der spinalen Symptome, die sich aus Hinterstrang-, Seitenstrang- und Wurzelerscheinungen zusammensetzten,

war schwankend. Vor der Injektion bestand eine Paraparese beider

96 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

unteren Extremitäten mit deutlichem Prädilectustypus. Eine früher vor- handene totale Blasenlähmung mit Cystitis war geschwunden und die spontane Urinentleerung gut möglich. Im Gefolge der Injektion, die mit der neutralen Suspensien gemacht wurde, traten zunächst sehr starke . Schmerzen von 3tägiger Dauer, eine vollständige Blasenlähmung und eine vollständige Parese der linken unteren Extremität ein, an der vorher geringe Hüft- und Kniestreckung, Plantarflexion und eine Spur von Zehenbeugung möglich gewesen war, auch rechts waren die Lähmungs- erscheinungen stärker. 8 Tage nach der Injektion ist dieser Zustand noch nicht geändert.

Bei der Niederschrift dieser Bemerkung kann ich über einen zweiten Fall mit unangenehmen Folgeerscheinungen, den ich in der Diskussion noch nicht erwähnen konnte, berichten. Es handelt sich um einen be- ginnenden Paralytiker, bei dem in letzter Zeit 2mal zuletzt 10 Tage vor der Injektion ein paralytischer Anfall aufgetreten war. 2 Stunden nach der Injektion der Lösung in die Vene trat eine Temperatursteigerung auf 39,4 und ein schwerer epileptischer Anfall mit residuärer linksseitiger Hemianopsie, grober Sensibilitätsstörung des linken Arms und links- seitiger Tastlähmung auf. Ob es sich dabei um einen einfachen para- lytischen Anfall oder um eine Embolie handelt, ist noch nicht zu ent- scheiden. Ebenso kann natürlich über den definitiven Erfolg in beiden Fällen noch kein Urteil abgegeben werden.

Hr. Uhthoff erwähnt, dass drei von seinen Patienten mit Keratitis parenchymatosa bei Lues congenita mit 606 auf seine Bitte von der Neisser’schen Klinik aus injiziert worden sind.

In zwei Fällen (Kind von 8 Jahren, 0,2 intramuskulär injiziert, und Mann von 24 Jahren, 0,6 intravenös injiziert) lag die Sache so, dass der Hornhautprozess noch in der Entwicklung begriffen war; uns erschien daher besonders lehrreich, hier den unmittelbaren Einfluss des Mittels zu beobachten. Ein Stillstand des Prozesses wurde durch die Behand- lung nicht herbeigeführt, sondern derselbe verlief langsam progressiv, so wie es eigentlich auch ohne Anwendung des Mittels zu erwarten ge- wesen wäre. Auch die Vascularisation der Hornhaut ging in der gewöhn- lichen Weise vor sich, so dass von einem unmittelbaren Einfluss des Mittels auf den Krankheitsprozess jedenfalls nicht gesprochen werden konnte. In dem einen Falle sind jetzt 4 Wochen vergangen und in dem zweiten ca. 21/g Woche. Im ganzen kann der Prozess als ein relativ milder bezeichnet werden, und möchte Redner dahingestellt sein lassen, ob die Anwendung des Mittels nicht doch einen gewissen günstigen Einfluss ausgeübt hat.

In dem dritten Fall, einem 1Sjährigen jungen Menschen, war die Keratitis parenchymatosa auf beiden Augen schon sehr vorgeschritten und die Hornhäute ganz getrübt mit auffallend starker Vascularisation. Besonders bot diese Gefässneubildung auf dem linken Auge ein eigen- tümliches Bild, indem sie sich sowohl vom unteren als vom oberen Horn- hautrande zentralwärts vorschob, so dass noch ein horizontales ca. 3 mm breites bandförmiges Terrain von der Vascularisation verschont war, welches jedoch ebenfalls grün parenchymatös getrübt erschien. Die intramuskuläre Injektion 0,6 des Mittels brachte jedenfalls auch hier zunächst keinen Stillstand des Prozesses hervor, sondern die Vasculari- sation schob sich unentwegt langsam vorwärts, so dass jetzt fast die ganze linke Cornea stark rötlich vascularisiert ist. Die Reizerscheinungen waren mässig, es sind jetzt ca. 14 Tage seit der Injektion vergangen.

Bei der Keratitis parenchymatosa scheint somit durch die An- wendung des Mittels kein unmittelbar sistierender Einfluss auf den Prozess ausgeübt zu werden, wenigstens war er in den drei beobachteten Fällen nicht direkt wahrnehmbar.

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 97

Vielleieht liegen bei der Keratitis parenchymatosa die Verhältnisse auch anders als bei syphilitischen Prozessen der Haut oder gummösen Prozessen anderer Organe. Dass auch bei der Keratitis parenchymatosa direkt eine Anwesenheit der Spirochaeta pallida in der Hornhaut anzu- nehmen ist, erscheint wohl sicher mit Rücksicht auf die experimentell- syphilitische Hornhautaffektion beim Tier und den vereinzelten Befund beim Menschen (Igersheimer). Redner glaubt jedoch, selbst, wenn es gelänge, die Krankheitserreger durch das Mittel direkt abzutöten, wir bei der Keratitis parenchymatosa doch nicht ein sehr schnelles Ver- schwinden der Veränderungen erwarten könnten. Die einmal gesetzten Veränderungen müssten, nach des Vortr. Ansicht, auch dann einen er- heblichen Zeitraum in Anspruch nehmen bis zu ihrer Rückbildung bei der Eigenart der tiefen chronischen entzündlichen Infiltration.

Dass die Hornhaut für das Mittel ganz besonders schwer zugänglich sei, möchte Vortr. eigentlich nicht glauben, zumal eine recht reichliche Gefässneubildung in den Hornhäuten der Patienten vorhanden war. Bei einem Patienten trat ein Herpes labialis bald nach der Injektion ein, welche von einer kurzen Fieberattacke gefolgt war. Bei dem Sjährigen Kinde zeigte sich 14 Tage nach der Injektion leichte Schwellung des rechten Kniegelenks, welche jedoch in wenigen Tagen wieder verschwand und auch vorher schon gelegentlich vorhanden gewesen war.

Hr. Neisser (Schlusswort).

Sitzung vom 4. November 1910.

Vorsitzender: Herr Ponfick. Schriftführer: Herr A. Neisser.

Hr. Allard:

Klinische Beobachtungen an anaphylaktischen Fällen bei Serum- behandlung. (Siehe Teil IL.) Diskussion.

Hr. R. Scheller: M. H.! An dem Vortrag des Herrn Allard habe ich ein um so berechtigteres Interesse, als der „Kollege S.“, den Herr Allard so liebevoll behandelt hat und dessen Leidensgeschichte er geschildert hat, niemand anderer als ich bin.

Viel zur Krankengeschichte zu erzählen vermag ich nicht, da ja viele Einzelheiten des Krankheitskomplexes mir als Patienten nicht zum Be- wusstsein gekommen sind; ich möchte betonen, dass ich unter dem Ein- drucke der grössten Atemnot stand, und das Empfinden hatte, dass ich nur willkürlich zu atmen vermochte; ja, ich musste um jeden Atemzug förmlich kämpfen. Der Todesgefahr, in der ich durch diese Atemstörung schwebte, wohl bewusst, hatte ich andererseits keine Ahnung von der beinahe ebenso gefährlichen Vasokonstriktion, wenn mir auch die Rälte der Haut und der kalte Schweiss auffiel. Subjektive Beschwerden seitens des Herzens bestanden nicht. Ueberhaupt bis auf das Gefühl der fürchter- lichsten Atemnot fühlte ich mich sonst wohl und erinnere mich, dass ich während der ärgsten Zeit ein Hungergefühl hatte.

Ich habe schon früher, wie Herr Allard bereits berichtet hat, ana- phylaktische Anfälle durchgemacht, so gelegentlich einer zweiten Diph- therieserumipjektion, infolge welcher am 7. Tage ein Serumexanthem, sowie universelle Neuralgien und Myalgien auftraten; auch habe ich während der zweiten Woche einer Wutschutzimpfung sehr grosse Beschwerden gehabt, ja infolge allgemeiner Gesundheitsstörung ca. S Pfund ab- genommen.

Da ich Hammelserum vorher niemals injiziert erhalten habe, und die von Herrn Allard an mir beobachtete Erkrankung von einer Injektion

Schlesische Gesollsch. f. vaterl, Kultur. 1910. I. [

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mit Hammelserum herrührte, so ergibt sich die Frage, worauf wohl diese Erkrankung zurückzuführen ist.

Das Serum hat wohl an und für sich keine schädlichen Eigenschaften gehabt, was dadurch bewiesen wird, dass eine Dame, die mir bei dem verunglückten Milzbrandexperiment geholfen hat, aus derselben Flasche die gleiche Menge Serum injiziert bekam, und so gut wie gar keine Folge- erscheinungen hatte.

Ferner könnte man der Meinung sein, dass die früheren Immuni- sationen mit Pferdeserum und Kaninchenrückenmark die Anaphylaxie für Hammelserum zur Folge gehabt hätten, dass also hier vielleicht ein Uebergreifen der sensibilisierenden Wirkung des artfremden Eiweisses (Rind, Kaninchen) auf das Eiweiss einer anderen Spezies (Hammel) an- genommen werden könnte. Dies ist aber nach den bisherigen Forschungs- ergebnissen, welche zeigten, dass die Anaphylaxie streng spezifisch ist, höchst unwahrscheinlich.

Vielleicht könnte man eine andere Erklärung heranziehen. Einer privaten Mitteilung seitens des Herrn Prausnitz zufolge ist ein Ange- stellter einer chemischen Fabrik, der sich nur mit dem Entnehmen, Trocknen und Zermahlen von Pferdeimmunserum zu beschäftigen hatte, im Laufe der Zeit so empfindlich gegen Pferdeserum geworden, dass er jedesmal, wenn er mit Trockenpferdeserum arbeitete, Asthmaanfälle bekam; er bekommt diese Anfälle nicht, wenn er mit einer Maske arbeitet, die ihn gegen Staubinhalation schützt. Es wäre denkbar, dass ich, der ich seit langem sehr viel mit Hammelblut arbeite, ähnlich wie jener Angestellte, durch allenthalben im Laboratorium herumfliegenden trockenen Blutstaub sensibilisiert worden bin, und es würde vielleicht daraus die Forderung resultieren, namentlich bei Aerzten, die eine derartige Labora- toriumsbeschäftigung haben, mit Seruminjektionen besonders vorsichtig zu sein.

Bemerken möchte ich, dass eine Idiosynkrasie gegen Hammelfleisch bei mir weder je bestanden hat, noch jetzt. besteht.

Was die Djagnose eines anaphylaktischen Anfalles beim Menschen aulangt, so glaube ich mit Herrn Allard, dass wohl bei Kindern, die bereits unter hochgradigen Diphtheriesymptomen Seruminjektionen be- kommen, ein eventueller Tod durch Anaphylaxie nur zu leicht als Folge der Diphtherieerkrankung angesehen werden kann, und so der Diagnose entgeht. :

° Hüten müssen wir uns vor der ersten Seruminjektion und diese nur im äÄussersten Notfalle verabreichen; ebenso müssen wir die prophylak- tischen Seruminjektionen so gut wie ganz fallen lassen, denn jede der- artige nicht unbedingt notwendige Injektion macht eine später notwendig werdende Injektion entweder unmöglich oder sehr gefährlich.

Schliesslich ist einerseits die Forderung, möglichst hochwertige Sera in kleinem Volumen zu gebrauchen, nachdrücklich zu unterstreichen ; ebenso wäre es mit Freude zu begrüssen, wenn Immunsera für jede Krankheit von verschiedenen Tierarten in Bereitschaft gehalten würden.

In der Veterinärmedizin beginnt man die Seruminjektionen dadurch unschädlich zu machen, dass man für die Therapie Serum anwendet, welches von Tieren derselben Art gewonnen worden ist.

Die weitere Diskussion wird vertagt.

Hr. Albert Bauer berichtet über das von ihm ersonnene neue Röntgendarchleuchtungsverfahren, über welches er in Nr. 44, S. 2025, dieser Wochenschrift bereits kurz berichtet hat.

Bisher war die Röntgendurchleuchtung nur mit Hilfe der sogenannten Fluorescenzschirme, platin-baryum-eyanürbedeckter Schirme, möglich, wobei körperliche Dinge, Organe, Knochen, Fremdkörper, Geschwülste, auf eine Ebene projiziert, und somit in einer gewissen Verzerrung dargestellt

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 99

wurden. Ein weiterer Uebelstand war der, dass man bei mehreren, zeitlich getrennten Durchleuchtungen keine konstanten Bilder erhielt, sondern immer wieder infolge des stets veränderten Schirmabstandes auch bei tangential angelegtem Schirm und der Stellungsabweichung des Objektes verschiedene Bilder hervorrief. Ein dritter, nicht geringer Mangel lag in der Unmöglichkeit, die gefundenen Verhältnisse bei der Durchleuchtung auf der Körperoberfläche graphisch festzuhalten.

Allerdings hat die Orthodiagraphie diese Mängel, wenigstens was die Durehbleuchtung des Rumpfes anbelangt, mit der ihr möglichen parallelen Projektion mit senkrechter Durchstrahlung zu beheben gesucht, doch sind der weiteren Anwendung dieser grossen, komplizierten und teuren Appa- rate Grenzen gezogen.

Ich habe versucht, die vorher präzisierten Unvollkommenheiten bei der Durchleuchtung dadurch fortzuschaffen, dass ich die Körperoberfäche selbst zur Fluorescenz brachte und auf ihr Knochen, Organe usw. direkt projizierte, indem ich die Körperoberfläche, sowohl Rumpf als auch Ex- tremitäten, mit platin-baryum-cyanürimpräguniertem Trikot oder Binden umkleidete, die sich dank ihrer Blastizität den Formen der Körperober- fläche vollständig anschmiegten. Man wird ferner ohne Zuhilfenahme eines Orthodiagraphen die Grenzen von Organen und Geschwülsten, oder die sonstwie gefundenen Verhältnisse an der Extremität direkt mit Hilfe aufgelegten Pauspapiers festlegen, und sich dadurch gewissermaassen, wenigstens hinsichtlich der topograpbischen Verhältnisse, einen gewissen Ersatz für die Röutgenphotographie schaffen können.

Erwähnen möchte ich noch, dass man mit dieser Durchleuchtungs- methode in der Lage sein wird, Manipulationen, z.B. Repositionen von Frakturen an der Extremität, direkt vorzunehmen, ohne durch den Röntgen- sehirm behindert zu sein.

Auf Grund der zuerst ausgeführten Vorzüge gegenüber dem bis- herigen Durchleuchtungsverfahren glaube ich, dass diese Neuerung zu einem nicht unwesentlichen Hilfsmittel bei der Röntgendurchleuchtung werden wird.

(Die Herstellung des Durchleuchtungsmaterials hat die Firma Reiniger, Gebbert & Schall übernommen.)

Sitzung vom 11. November 1910.

Vorsitzender: Herr Ponfick. Schriftführer: Herr Minkowski.

Fortsetzung der Diskussion über den Vortrag des Herrn Allard: Anaphylaktische Anfälle bei Serumbehandlung.

Hr. Hans Wolff ist der zweite Patient mit Anaphylaxie, den Herr Allard behandelt hat. Er gibt noch zu seiner Krankengeschichte die anamnestisch interessante Tatsache an, dass die Tochter seines Bruders an einer konstitutionellen Anaphylaxie gegen Hühnereiweiss leidet und schon auf minimale per 05 zugeführte Mengen mit heftigen ein Fieber und Urticaria begleitenden Magendarmerscheinungen reagiert. Er selbst leidet an einer hochgradigen Idiosynkrasie gegen Austern, die sich auf ähnliche Weise äussert. Bemerkenswert zu seinem Krankheitsbild ist ferner noch, dass am 7. Tage nach der Injektion, am Tage vor Ausbruch der schweren anaphylaktischen Erscheinungen, eine abermalige lokale Reaktion in Gestalt von Schwellung, Rötung und Hitze des Arms auf- trat. Er betont ferner den von Herrn Allard zu wenig hervorgehobenen Unterschied in den an das Herz gestellten Anforderungen in beiden Krankheitsfällen und die dadurch erklärliche Insuffizienz in seinem eigenen. Bei Herrn Scheller (erster Fall) stand im Vordergrund der Erscheinungen

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100 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

die zentrale Atembehinderung, im Hintergrund die vasomotorischen Stö- rungen, die sich nur in einer Vasokonstriktion äusserten. Bei ihm selbst beherrschte das Krankheitsbild die enorme Vasodilitation, die eine so grosse Gefahr für das Herz bedeutet, da die ganze Blutmenge nach der Peripherie geschleuderf wird und das Herz sich um den leeren Ventrikel kontrahiert; die Gefahr der Verblutung in die Peripherie liegt nahe. Hierbei können natürlich Insuffizienzerscheinungen wie Unregelmässigkeit in der Contractionsfolge und fadenförmiger Puls anftreten. Ueberhaupt fasst Redner den von Herrn Allard als Vasokonstriktion aufgefassten Zu- stand, der jedesmal auf die Dilatation folgte, als Collaps auf. Sicher spielt beim Zustandekommen dieses auch noch der enorme durch die universelle Urticaria gesetzte Juckreiz eine Rolle. Im Falle Scheller wurden derartige Anforderungen an das Herz nicht gestellt und so er- klärt sich dessen bessere Funktion.

Hr. Pfeiffer: Die beiden von Herrn Allard besprochenen Fälle von anaphylaktischem Schock nach Serumeinspritzungen sind zweifellos von hervorragendem Interesse. Besonders bemerkenswert ist der Fall Scheller, weil hier die subcutane Einspritzung von 20 ccm Hammelserum so überaus schwere anaphylaktische Symptome auslöste, obwohl der betr. Patient vorher niemals mit Hammelserum behandelt worden war. Als Erklärung für dieses Verhalten wurde von Herrn Allard eine ange- borene individuelle Idiosynkrasie angenommen, während Herr Scheller mit der Möglichkeit rechnete, im Laboratorium durch Inhalation minimaler Mengen angetrockneten Hammelserums sich sensibilisiert zu haben. Ich möchte auf eine dritte Möglichkeit hinweisen. Friedberger hat ge- zeigt, dass gewisse Immunsera, wenn sie zu früh nach der letzten In- jektion des Antigens abgenommen werden, ausgesprochen toxisch wirken können, und nimmtan, dass in solehen Fällen in dem Serum neben den spezifischen Antikörpern noch Antigenreste vorhanden seien, die in dem passiv immunisierten Organismus aufeinander reagierend einen anaphylak- tischen Zustand herbeiführen. Das im Falle Scheller benutzte Serum stammte von gegen Milzbrand immunisierten Hammeln. Wir wissen, dass bei der Immunisierung schliesslich sehr grosse Quantitäten von Milzbrand- bakterien einverleibt werden, es wäre deshalb denkbar, dass noch Reste dieser Antigene in ihm vorhanden gewesen sind.

Wie dem auch sei, ich möchte Sie bitten, die praktische Bedeutung dieser beiden Krankheitsgeschichten nicht zu überschätzen und sich speziell bei Diphtheriebehandlung nicht von der frühzeitigen Seruman- wendung abschrecken zu lassen. Allerdings bin ich der Ansicht, dass die prophylaktische Anwendung des Diphtherieserums mit einer gewissen Reserve vorzunehmen ist, da wir sonst, wenn nach einigen Wochen trotzdem eine Diphtheritis zum Ausbruch kommt, bei den vorbehandelten Individuen mit der Möglichkeit einer Sensibilisierung rechnen müssen. Ich halte allerdings diese Gefahr nicht für sehr gross, da beim Menschen zum Glück schwere anaphylaktische Erscheinungen nur äusserst selten beobachtet werden, möchte aber trotzdem besonders davor warnen, solchen früher prophylaktisch immunisierten Menschen therapeutisch wirksame Serumdosen intravenös zu geben.

Hr. ©. v. Pirquet: Für diejenigen, welche mit den Forschungen über Anaphylaxie noch nicht vertraut sind, möchte ich in Kürze ein Uebersicht über das Thema geben.

Die Reaktionsfähigkeit des Organismus wird durch das: Ueberstehen einer Krankheit, durch die Vorbehandlung mit bakteriellen Produkten und anderen körperfremden Substanzen in gesetzmässiger Weise verändert.

Diese Veränderung der Reaktionsfähigkeit, die Allergie, kann bestehen:

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 101

1. in einer zeitlichen Aenderung der Reaktionsgeschwindigkeit:

a) sofortige Reaktion unmittelbar nach der zweiten Einführung des fremden Agens oder innerhalb der ersten 24 Stunden,

b) beschleunigte Reaktion nach einigen Tagen, beschleunigt gegenüber der nach der ersten Einführung verfliessenden In- kubationszeit vor der „normalzeitigen Reaktion“,

2. in einer quantitativen Aenderung der Reaktionsgrösse:

a) verstärkte Reaktionsfäbigkeit (Ueberempfindlichkeit, Anaphylaxie),

b) verminderte oder aufgehobene Reaktionsfähigkeit (Unter- empfindlichkeit, Unempfindlichkeit oder Immunität),

3. in einer qualitativen Aenderung der Reaktionsart und des

reagierenden Gewebes.

Ausser den Phänomenen der sofortigen und beschleunigten Reaktion handelt es sich um die der passiven Anaphylaxie (bei Ueber- tragung des antikörperhaltigen Serums) und der Antianaphylaxie (bei Absättigung des Antikörpers infolge der kurz vorausgegangenen Reinjektion mit dem Antigen).

Die Biologen haben jetzt vornehmlich die Allgemeinsymptome nach der Reinjektion studiert und waren hauptsächlich darauf ausgegangen, den Tod der Versuchstiere heryorzurufen. Die Allgemeinsymptome sind nun davon abhängig, dass das Apotoxin, das Gift, welches durch Ver- einigung von Antigen und Antikörper entsteht, im Allgemeinkreislauf ge- bildet wird. Die feineren klinischen Symptome, die dabei zutage treten, hängen vermutlich davon ab, ob das Apotoxin mehr in den Zentral- organen (Nervensystem) oder in der äusseren Haut oder in der Lunge erzeugt wird. Bei intrayenöser Injektion scheint die Bindungsart und damit der Angrifispunkt der Gifte nach Tierart und Individuum ver- schieden zu sein. Viel klarere Verhältnisse erhalten wir, wenn wir das Apotoxin an einer Stelle zur Bildung bringen, an der wir den ganzen Verlauf klar beobachten können. Ich habe darum von Anfang an das Experimentieren auf der Haut (eutane und subeutane Injektion) bevor- zugt. Es ist dies ungefähr so, als wenn man, um den Eiftekt des elek- trischen Stromes zu studieren, einen peripheren Reizpunkt aussucht; die intravenöse Injektion wäre dem vergleichbar, dass man den Strom durch den ganzen Körper durcbgehen lässt und statt auf Zuckung nur auf Tod achten würde.

Zur klinischen Verwertung ist es aber auch sehr wichtig, die All- gemeinwirkungen zu studieren; in diesem Sinne sind die Fälle des Herrn Allard sehr interessant, weil jetzt Reinjektionen von älteren Personen immer häufiger vorkommen werden, die in ihrer Jugend Diphtherieserum therapeutisch erhalten hatten und daher solche Symptomenkomplexe öfters zu erwarten sind.

Hr. Carl Bruck: M. H.! Die Ausführungen des Herrn Allard haben mich um so mebr interessiert, als ich seit mehreren Jahren mit Untersuchungen über die Bedeutung des Anaphylaxiephänomens für das Gebiet der Hautkrankheiten beschäftigt bin.

Ich begann diese Untersuchungen bei der Urticaria. Zwei Punkte waren es, die als pathogenetische Momente für die Urticaria in Betracht kamen: eine nervöse Theorie, die z. B. die Urticaria factitia, die psyebische Urticaria usw. erklären sollte, und die „toxische“ Theorie, die die exogenen (Insektenstich, Raupen usw.) und endogenen (Autointoxikations- urticarien) Urticariaformen verständlich machte. Aus dem Rahmen dieser toxisch-nervösen Urticariapathogenese fiel jedoch die sog. Urticaria ex injectis völlig heraus, da ja hierbei Substanzen und Nahrungsmittel ia Betracht kamen, die nicht als Gifte angeseben wurden. Es gelang mir nun, durch Versuche, auf die ich bier nicht eingehen kann, zu zeigen,

102 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

dass die Urticaria ex injectis auf einer echten, angeborenen oder er- worbenen Anaphylaxie beruht, dass sich also im Körper derartiger Menschen bei der Einverleibung der betreffenden Speisen ein „Anaphylaxie- gift“ bildet, genau so wie es sich in den von Herrn Allard be- schriebenen Fällen nach subeutaner Einverleibung eines bestimmten Serums gebildet hatte.

Ich habe dann einige Fälle von Arzneiexanthemen einer Unter- suchung unterzogen. Auch hier ergab sich, dass verschiedene Er- scheinungen, die wir bisher mit dem nichtssagenden Begriff „Idiosynkrasie“ belegten, echte Anaphylaxiephänomene darstellen. So gelingt es, bei Tuberkulin-, Jodoform- und Antipyrinidiosynkrasien den sog. anaphylakti- schen Reaktionskörper durch Uebertragung des Serums solcher Menschen auf normale Tiere nachzuweisen.

Es ist dieses Phänomen um so interessanter, als es sich um Anaphylaxien gegen chemisch definierbare Substanzen handelt. Ich stelle mir das so vor, dass durch die Einführung dieser Arzneimittel menschliches Eiweiss gewissermaassen heterologisiert worden ist dadurch, dass jene Substanzen Verbindungen mit Eiweiss (jodiertes Eiweiss usw.) eingehen, und gegen dieses heterolog gewordene Eiweiss dürfte die be- treffende Anaphylaxie zustande kommen.

Ich glaube also, dass das Anaphylaxiephänomen für die Dermatologie und speziell auch für die Arzneidermatosen eine sehr grosse Bedeutung hat.

Ich möchte mich dann noch zu zwei Fragen äussern:

1. Die Entstehung der Anaphylaxie im Falle Scheller. Ich glaube in der Tat, dass es sich hier um einen reinen Fall von angeborener Anaphylaxie handelt. Es mag auf den ersten Blick absurd erscheinen, dass ein Mensch mit einer Anaphylaxie gegen Hammelserum auf die Welt kommt, ohne dass ihm je solches Serum zugeführt worden ist. Aber dem Biologen sind solche Erscheinungen ganz geläufig. Bildet sich doch z. B. schon im zweiten Lebensjahr bei fast allen Menschen ein hämolytischer Amboceptor gegen Hammelblut, während das Blut des Säuglings ihn noch nicht enthält; oder finden sich doch in den meisten Seris Amboceptoren gegen Cholera u. dgl., ohne dass der betreffende Mensch je etwas mit Cholera zu tun hatte.

2. Die therapeutichen Vorschläge, die gemacht wurden. Es wurde da hauptsächlich das Chlorcaleium hervorgehoben. Ich möchte zur Er- wägung stellen, ob in solchen Fällen nicht womöglich gleich im Beginn an die Einleitung einer Narkose gedeutet werden können, liegen doch experimentelle Untersuchungen von Besredka u. a. vor, die zeigen, dass Tiere durch Narkose völlig vor dem Ausbruch des anaphylaktischen Anfalls geschützt werden können, bzw. der bereits ausgebrochene Anfall zum Stillstand gebracht werden kann und sogar bei intracerebraler Zufuhr des Antigens, einem Modus, der sonst unfehlbar den Tod herbei- führt. Ich möchte also anheimstellen, in solchen, glücklicherweise ja seltenen Fällen an die Narkose zu denken!

Hr. Richard Levy schliesst sich den Ausführungen des Herrn Pfeiffer an, was die prophylaktische Serumeinspritzung bei der Diphtherie angeht. Denn da man bei ca. 90 pCt. der Fälle bei Serumbehandlung Heilung erzielt, so kann man ruhig abwarten, ob überhaupt eine Infektion zustande kommt, die vielleicht ungefährlicher ist als die anaphylaxie- erzeugende prophylaktische Injektion. Anders verhält sich Redner aber gegenüber der prophylaktischen Tetanusseruminjektion. Hier soll keine Einschränkung in der Anwendung Platz finden, da die therapeutische Wirksamkeit des Tetanusserums noch sehr fraglich, die prophylaktische dagegen anerkannt ist. Zur Applikationsweise des Serums überhaupt erklärt Redner, dass die subeutane Injektion ja weniger leicht akute anaphylaktische Zustände auslöst als die intravenöse, dass sie aber

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keineswegs rationell ist. Gerade bei den schweren Fällen von Diphtherie, wo der Körper mit Toxin überschwemmt ist, muss eine rasche Zufuhr des Antitoxins statthaben, sonst kommt sie überhaupt nicht zur Wirk- samkeit. Redner hat zusammen mit Morgenroth-Berlin Versuche über Diphtherieserumresorption in der Weise angestellt, dass 3 gleich schweren Kaninchen die gleiche Menge hochwertigen Heilserums, dem einen sub- eutan, dem anderen intravenös und dem dritten intramuskulär, zugeführt wurde. Von 4 zu 4 Stunden wurde durch Blutentnahme festzustellen versucht, wie viel Antitoxin in den Kreislauf übergetreten ist. Am günstigsten verhielt sich natürlich das intravenöse Tier, während bei dem intramuskulär gespritzten nach 4—S Stunden schon eine eirca sechsfach grössere Menge Antitoxin im Blut nachweisbar war als bei dem subeutan gespritzten.

Gegen die Einführung der intravenösen Injektion des Serums in der Praxis kann eingewandt werden, dass bei Kindern im Privathause die technischen Schwierigkeiten entgegenstehen; ferner ist nicht ausgeschlossen, dass bei dieser Einführung auch eine teilweise schnellere Ausfuhr ein- tritt. Desbalb träte die intramuskuläre Injektion am zweckmässigsten an die Stelle der subeutanen, indem einfach an der Streckseite des Oberschenkels tiefer injiziert wird. Dass auch beim Menschen die sub- eutane Resorption des Serums eine sehr langsame ist, beweist der zweite von Herrn Allard besprochene Fall, wo am siebenten Tage nach der Einspritzung rein lokal an der Injektionsstelle eine heftige Reaktion auftrat, der beste Beweis dafür, dass noch nicht alles resorbiert war. Ein derartiges Verhalten wird aber bei der Applikation von Heilserum keineswegs bezweckt.

Hr. R. Stern: Die Annahme, dass im ersten der von Herrn Allard berichteten Fälle eine angeborene Ueberempfindlichkeit so hohen Grades gegenüber Hammelserum bestanden habe, ist meines Wissens bisher ohne Analogie. Ich möchte daher darauf hinweisen, dass neuere Untersuchungen über Anaphylaxie das gleiche ergeben haben, was für die übrigen biologischen Reaktionen bereits erwiesen war; es besteht zwar im allgemeinen Spezifität in quantitativer, nicht aber in qualitativer Beziebung. Das heisst, nach Injektion des Serums einer Tierart bewirkt das Serum der gleichen Art in kleinsten Dosen anaphylaktische Er- seheinungen; aber auch das Serum anderer auch nicht näher ver- wandter Tierarten kann in erheblich grösseren Dosen ähnliche Wirkung haben. (Vgl. z. B. die Versuche von Dörr und Russ.) Es besteht daher auch die Möglichkeit, dass im Falle Scheller die vor Jahren erfolgte Injektion von Pferdeserum eine Ueberempfindlichkeit gegenüber Hammelserum hinterlassen hat. Hätte Pat. noch einmal Pferdeserum be- kommen, so wäre, wenn diese Vermutung richtig ist, die Reaktion noch sehr viel stärker gewesen und hätte wahrscheinlich zu tödlichem Aus- gang geführt.

Hr. Allard (Schlusswort).

Hr. Coenen: Ueber Panereasnekrose. (Siehe Teil 11.) Diskussion.

Hr. Minkowski hält die Cammidge’sche Reaktion überhaupt nicht für beweiskräftig. Zur Trypsinbestimmung ist die Methode von Eduard Müller wohl ebenso brauchbar wie die von Gross, aber für die rechtzeitige Erkennung einer Pancreasnekrose behufs Indications- stellung zur Operation dürfte weder der positive noch der negtaive Aus- fall der Trypsinproben einen besonderen Wert haben. Das Ausbleiben der Glykosurie in den meisten Fällen von Pancreasnekrose findet eine ungezwungene Erklärung in dem Umstande, dass die Nekrose im allge- meinen zu den eircumscripten Erkrankungen zu rechnen ist, die ebenso-

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wenig wie die partiellen Pancreasexstirpationen unbedingt eine Zucker- ausscheidung zur Folge haben müssen. Bemerkenswerter ist es, dass in einzelnen Fällen die Pancreasnekrose mit Glykosurie einhergeht, oder nach der Ausheilung noch nachträglich zum Auftreten eines Diabetes Veranlassung geben kann. Bei dieser Gelegenheit macht Redner auf eine neuerdings erschienene Arbeit von Weichselbaum aufmerksam, der bei 183 Autopsien von Diabetikern in keinem einzigen Falle Veränderungen am Pancreas vermisst hat und namentlich einer bisher übersehenen „bydropischen Degeneration“ der Langerhans’schen Inseln eine beson- dere Bedeutung beilest.

Hr. Coenen: Selbstverständliich kommt der Cammidge’schen Reaktion keine Bedeutung zu für die Indicationsstellung bei Erkrankungen des Pancreas. Ihr diagnostischer Wert wird verschieden beurteilt, so dass sie im Verein mit der E. Müller’schen Pancreasfunktionsprobe nur als Hinweis für die Diagnose benutzt werden kann.

Hr. Rosenfeld: Zu der Frage der mangelnden Glykosurie bei Pancreasnekrosen kann man darauf hinweisen, dass oft nach Störungen am Pancreas auch kleinere oder grössere Leberdegenerationen gefunden worden sind. Da nun Leberausschaltung die Zuckerausscheidung auf- hebt ein Frosch, dem das Pancreas allein exstirpiert ist, ist glyko- surisch; wenn man ihm aber ausser dem Pancreas nach Marcuse’s Vorgang noch die Leber fortnimmt, so hört die Glykosurie auf so kann die begleitende Leberschädigung das Ausbleiben der Zuckeraus- scheidung nach Pancreasnekrose erklären.

Sitzung vom 18. November 1910.

Vorsitzender: Herr Ponfick. Schriftführer: Herr Rosenfeld.

1. Hr. Bonhöffer:

Bemerkungen zur Therapie und Diagnose der progressiven Paralyse, (Siehe Teil II.)

2. Hr. P. Schröder:

Syphilitische Erkrankungen des Zentralnervensystems. (Mit Demon- strationen am Projektionsapparat.)

Vortr. bespricht die im Anschluss an syphilitische Infektion sich entwickelnden Nerven- und Geisteskrankheiten unter Hinblick auf die ihnen zugrunde liegenden anatomischen Vorgänge und ihre Beeinfluss- barkeit durch antisyphilitische Heilmittel.

Die endgültige Entscheidung im Einzelfalle, ob spezifisch luetische Veränderungen, ob Kombinationen mehrerer Formen von verschiedener therapeutischer Dignität vorliegen, schliesslich, ob es sich um syphi- litische oder um sogenannte metasyphilitische Prozesse handelt, kann oft erst durch die anatomische Untersuchung getroffen werden; diese Entscheidung ist besonders wichtig, wenn neue Heilmittel auf ihren Wert geprüft werden sollen.

Der Lues cerebrospinalis im engeren Sinne liegen anatomisch ent- weder Gummata oder diffuse infiltrative Vorgänge an den Meningen zu- grunde, d.h. echte luetische Granulationsprozesse ganz derselben Art, wie sie überall im Körper vorkommen. Sie spielen sich primär am Bindegewebsapparat ab, d.h. an den Hirn- und Rückenmarkshäuten, sowie an der Adventitia der Gefässe; sie schädigen das ektodermale Nervengewebe nur sekundär und lokal; im weiteren Verlauf können sich Narben und eventuell sekundäre Degeneration entwickeln. Diese Pro- zesse bilden, solange sie frisch sind, die eigentliche Domäne der anti- syphilitischen Behandlung.

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Von ihnen wesentlich verschieden sind die sogenannten metasyphi- litischen Erkrankungen, deren Hauptparadigmata, weil am häufigsten vorkommend, Tabes dorsalis und progressive Paralyse darstellen. Ana- tomisch ist bei beiden das Wesentliche ein langsamer, allmählicher, oder auch mehr akut in Schüben verlaufender Untergang nervösen funktio- nierenden Gewebes mit gleichzeitigen (resp. sekundären) Wucherungs- vorgängen am ektodermalen und mesodermalen Stützgewebe. Daneben finden sich auch bei ihnen bei der Paralyse stets erheblich, bei der Tabes relativ gering infiltrative Vorgänge, und zwar Ansammlungen von Lymphocyten und Plasmazellen in den Arachnoideal- sowie den adventitiellen Lymphräumen um die Gefässe!). Tabes und Paralyse sind nicht syphilitische Erkrankungen in demselben Sinne wie die echte Meningomyelitis und Meningoencephalitis luetica; ob an ihrer Genese die spezifisch syphilitischen Krankheitserreger überhaupt noch direkt beteiligt sind, wissen wir nicht; deshalb ist es zum mindesten fraglich, ob wir jemals mit spezifischen antiluetischen Mitteln Heilung er- reichen werden. Bei Erzielung guter Erfolge in einzelnen Fällen muss man stets daran denken, dass spontane Stillstände und weitgehende Remissionen bei Tabes und bei Paralyse nicht ganz selten sind, dass die klinische Differentialdiagnose gegenüber der Lues cerebrospinalis mitunter nicht leicht ist, schliesslich, dass es Kombinationen von Para- Iyse und namentlich von Tabes mit echten luetischen Prozessen gibt, und dass in solchen Fällen die teilweisen therapeutischen Erfolge durch die günstige Beeinflussung der zufälligen luetischrn Komplikationen ihren Grund haben können.

Ausser Paralyse und Tabes gibt es von anderen, in verschieden weitem Sinne als syphilitisch bzw. metasyphilitisch zu bezeichnenden Krankheitsprozessen im zentralen Nervensystem wahrscheinlich noch eine ganze Reihe. Nur von einigen unter ihnen wissen wir Genaueres.

Vortr. erinnert an die sogenannte syphilitische Spinalparalyse von Erb, an die genetisch und ihrer klinischen Zugehörigkeit nach dunklen Sehnervenatrophien bei Luetikern, an die Gefässwanderkrankungen und ihre Folgezustände [a) Arterioselerose ohne spezifische Merkmale, b) Heubner’s Endarteriitis luetica obliterans der groben Gefässe], ferner an die neuerdings von Nissl und Alzheimer beschriebenen Hirnrindenverödungen bei gleichzeitiger Endarteriitis der feinsten Ge- fässe, und manches andere mehr.

Klinisch können sich im Einzelfall erhebliche differentialdiagnostische Schwierigkeiten ergeben, oder aber die histologische Untersuchung post mortem bringt Ueberraschungen. Vortr. erläutert das an der Hand zweier Fälle aus der Breslauer psychiatrischen Klinik, welche in den letzten Monaten zur Section kamen.

1. R.G., 49 jähriger Zimmermann (vergl. Stertz, Allgem. Zeitschr. f. Psychiatrie, 1908, Bd. 65, S. 572). Starker Trinker; über Lues nichts zu erfahren. Seit 1904 wegen Delirium tremens, Polyneuritis alcoholica, Lebereirrhose wiederholt in Krankenhäusern; 1908 mit der Diagnose progressive Paralyse in die Klinik eingewiesen; Paralyse ähnliches Bild;

1) Ob es sich dabei, wie gewöhnlich angenommen wird, um ent- zündliche Vorgänge im Sinne Cohnheim’s, d.h. um Extravasationen von weissen Blutelementen durch die Capillarwände hindurch, handelt, ist, soweit mir bekannt, nicht genügend sichergestellt. Zu denken wäre jedenfalls daran, dass umgekehrt die Lymphocyten, welche man in den Lymphräumen von Adventitia und Pia findet, aus dem Lymphsystem des Körpers stammen, und sich durch Stauung, durch Chemotaxis oder dergl. in den erkrankten Gebieten anhäufen, d.h. dass sie nicht hämatogener Natur sind.

106 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vater]. Kultur.

im Lumbalpunktat keine Vermehrung der Lymphocyten, Wassermann- sche Reaktion negativ (Blut nicht serologisch untersucht). Klinische Diagnose: alkoholische Pseudoparalyse. Letzte Aufnahme 19. Juli 1910, nachdem einige Tage zuvor eine rapide Verschlechterung ein- gesetzt hatte. Schwere cerebrale Symptome von bulbärem Cha- rakter. Exitus nach 4 Tagen. Die Section ergab (neben geringen arteriosclerotischen und älteren tuberkulösen Veränderungen an den inneren Organen) von seiten des Gehirns: 1180 g Hirngewicht, diffuse Verdickung der Pia, am stärksten symmetrisch über dem Fuss der oberen und mittleren Stirnwindung; auf Einschnitten hier dicht gedrängte, frische, erst einige Tage alte kleine Blutungen in den cberen Rinden- schichten; vordere Zentralwindung beiderseits frei; die Blutungen er- strecken sich vom Suleus praecentalis einige Zentimeter weit nach vorn; im Fuss der unteren Stirnwindung sind sie nur ganz spärlich anzutreffen. Histologisch: Alte fibröse Leptomeningitis ohne frische Infiltrate. Hirn- rinde im Gebiet der Blutungen, aber auch an einigen anderen Stellen, z. B. an der Basis, auf weite Strecken verödet, d. h. stark verarmt an Ganglienzellen ohne gleichzeitige erhebliche Gliawucherung; in denselben Bezirken, geringer an anderen Stellen, Wucherung der Endothelien der feinen Gefässe, vor allem der Capillaren (Endarteriitis); aus den so ver- änderten Gefässen sind die frischen Blutungen erfolgt. Daneben mässig starke Sclerose der basalen Arterien.

Wenn die Zahl der untersuchten Fälle solcher Art auch noch gering ist und die Akten über ihre Bedeutung noch nicht als geschlossen an- gesehen werden dürfen, wird doch nach dem, was bisher bekannt ist (Nissl, Alzheimer), mit grosser Wahrscheinlichkeit das Vorliegen einer eigenartigen metasyphilitischen Erkrankung bei R. G. angenommen werden müssen, für deren Diagnose die klinischen Kenntnisse keine aus- reichenden Anhaltspunkte gegeben hatten.

2. T. St., 40 Jahre alt. Luetische Infektion vor 15 Jahren. Vor S Jahren Ausschläge, 4 Schmierkuren. September 1909 Begiun des Leidens mit Parästhesien im linken Arm und mit Gürtelgefühl. Trotz sofort eingeleiteter antisypbilitischer Therapie (Schmierkur und Jodkalium). Zunahme der Störungen: Allmählich Parese erst des rechten, dann des linken Beines, Ret. urinae. Bei Aufnahme am 10. März 1910: Pupillen different, träge Lichtreaktion; Patellar- und Achillessehnenreflexe fehlen, Babinski rechts 4, links ?; Sensibilitätsstörungen bis herauf in Höhe der Brustwarzen, ausserdem an den Fingerspitzen; Atrophie an den Handmuskeln, keine Ea.-R.; Cystitis, Blasenschwäche. Therapie: Kalomel- injektionen, Jodkalium, am 14. Juli Injektion von Ehrlich-Hata „606“. Keine Besserung, zunehmender körperlicher Verfall, starke Abmagerung. Atrophien an den unteren Extremitäten, an den Armen, den kleinen Handmuskeln (rechts > links), nirgends Ea.-R. Untere Extremitäten schlaff gelähmt. Lumbalpunktion (14. März 1910): Keine Vermehrung der Lymphocyten, Eiweiss leicht vermehrt, Wassermann’sche Reaktion positiv; serologische Untersuchung des Blutes nach Wassermann gleichfalls +. Keine cerebralen Symptome, keine psychischen Störungen. Exitus am 10. September 1910, ein Jahr nach Beginn des Leidens.

Die Diagnose war auf eine Meningomyelitis luetica gestellt worden. Die Section und die histologische Untersuchung ergab nichts davon, ergab überhaupt nichts im Rückenmark, das als spezifisch luetisch hätte angesprochen werden können, wohl aber grobe, sehr ausgedebute Mark- faserdegenerationen in den weissen Strängen; im ganzen Dorsal- und Cervicalmark sind die Hinterstränge, bis auf winzige Reste neben der Raphe und im ventralen Feld, degeneriert, desgleichen die Kleinhirn- seitensträünge und die Gowers’schen Bündel; die Degeneration der Hinterstränge im Lumbal- und Sacralmark ist erheblich geringer; ausser-

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dem finden sich, namentlich in den oberen Rückenmarksabschnitten, diffuse leichte Liehtungen der Seitenstranggrundbündel und, eine Strecke weit im Dorsalmark, Degeneration eines Faserzuges in beiden Vorder- strängen (Hellweg’sche Dreikantenbahn?). Die Hinterstrangdegeneration ist aufwärts bis an die Hinterstrangkerne zu verfolgen, die Degeneration der Kleinhirnseitenstränge und der Gowers’schen Bündel bis in die Corp. restiform. bzw. bis in die oberen Kleinhirnschenkel hinein (Pal- Präparate). Die Pyramidenbahnen sind beiderseits vom unteren Cervical- mark an (Grenze nicht ganz scharf) bis ins Sacralmark herunter voll- ständig degeneriert. Keine groben Ausfälle der Vorderwurzelzellen, völliges Fehlen der Zellen der Clarke’schen Säulen. Vordere und hintere Wurzeln zeigen nur geringfügige Ausfälle.

Histologisch: Keine Infiltrate; in den degenerierten Partien dicht- gedrängt (im Gewebe und angehäuft um die Gefässe) gliogene Körnchen- zellen; an denselben Stellen starke Vermehrung der Gliafasern; auf Fibrillenpräparaten (Bielschowski) Achseneylinderausfall quantitativ entsprechend dem Markfaserausfall auf Pal-Präparaten. Endarteriitis weder an den groben noch an den feinen Gefässen.

Es handelt sich demnach um eine eigenartige degenerative Er- krankung des Rückenmarkes, welche sich in keine der wohlbekannten Typen einreihen lässt, welche, grob lokalisatorisch betrachtet, am ehesten den sogenannten kombinierten Strangerkrankungen zuzuzählen wäre; ihre Entwicklung aus disseminierten Herden (Minnich, Nonne, Henne- berg u. a.) erscheint nicht wahrscheinlich. Für den Zusammenhang mit der Lues scheint vieles zu sprechen; beweisen lässt sich dieser Zusammenhang nicht.

Die Diskussion wird vertagt.

Sitzung vom 25. November 1910.

Vorsitzender: Herr Ponfick. Schriftführer: Herr Rosenfeld.

Hr. Melchior: Ueber das chronische Duodenalgeschwür. (Siehe Teil II.) Diskussion.

Hr. Küttner: Das Uleus duodeni ist zweifellos weit häufiger, als zurzeit angenommen wird. In England und Amerika ist dies längst be- kannt, neuerdings wird das Leiden, insbesondere auf Grund der eng- lischen und amerikanischen Arbeiten, auch in Deutschland weit häufiger richtig und rechtzeitig erkannt. Redner hat zurzeit 4 Fälle in Behand- lung, der eine ist vor 7 Tagen operiert worden, die drei übrigen können sich zu ihrem Schaden zur Operation nicht entschliessen, obwohl sie schwer leiden und in hohem Maasse besonders durch Blutungen ge- fährdet sind.

Redner stimmt dem Vortragenden darin zu, dass angesichts der grossen und unberechenbaren Gefahren, welche jeden Träger eines chro- nischen Duodenalgeschwürs bedrohen, der Schwerpunkt bei der Indication zum chirurgischen Bingriff auf die Forderung einer rechtzeitigen Ope- ration zu legen ist, welche den Komplikationen vorbeugt und den Pa- tienten nicht erst im Stadium äusserster Schwäche trifft.

Der Vergleich mit dem Ulcus ventrieuli liegt sehr nahe, und doch liegen die Verhältnisse bei letzterem wesentlich anders. Einmal ist die Gefahr der Perforation beim Magengeschwür eine bedeutend geringere als beim Ulcus duodeni. Sodann haben wir es auch vom rein tech- nischen Gesichtspunkte mit verschiedenen Dingen zu tun. Die rationelle operative Behandlung des Magengeschwürs, speziell des extrapylorischen,

108 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

erfordert Eingriffe, die nicht selten hohe Anforderungen an das chirur- gische Können stellen; ihre unmittelbare Gefahr ist daher nicht zu ver- nachlässigen. Die Vornahme einer einfachen Gastroenterostomie beim Duodenalgeschwür event. verbunden mit einigen Kopfnähten zur Ver- engerung des Pylorus aber ist eine Operation, die heutzutage eine denkbar günstige Prognose quoad vitam gibt. Dazu kommt, dass cs sich beim unkomplizierten Uleus duodeni meist um kräftige, in gutem Ernährungszustande befindliche Männer handelt, während beim Magen- geschwür viel häufiger die Gesamtkonstitution beeinträchtigt ist.

Redner glaubt, dass diese Erwägungen dazu beitragen dürfen, dem Arzt im gegebenen Falle den Entschluss zur Operation zu erleichtern, zumal die Dauererfolge der Gastroenterostomie nach dem überein- stimmenden Urteil der erfahrensten Operateure als ausserordentlich günstig bezeichnet werden müssen.

Hr. Brade: M. H.! Im Anschluss an den eben gehörten Vortrag möchte ich Ihnen kurz über unsere Beobachtungen des fraglichen Leidens auf der chirurgischen Abteilung des Allerheiligenhospitals bezw. in der Privatklinik von Herrn Prof. Tietze berichten.

Zur Beobachtung kamen 6 Patienten, durchweg Männer, von denen der jüngste 33, der älteste 58 Jahre alt war. 2 davon waren schwere Alkoholiker. Bei 4 der Pat. bestanden seit Jahrzehnten Beschwerden, 2 klagten erst seit einigen Monaten. Im wesentlichen bestanden die Be- schwerden aus mehr oder weniger typischen Schmerzen, längere Zeit nach der Nahrungsaufnahme bei gut erhaltenem Appetit. Der Druck- schmerz war inkonstant, auch die Palpationsergebnisse waren in der Regel unsicher. 4 mal bestand Erbrechen, 3 mal davon blutiger Natur. Bei diesen 3 Pat. war das Blut auch im Stuhle nachweisbar. Bezüglich des Magenchemismus wäre zu erwähnen, dass freie Salzsäure immer vor- handen war; 3 mal bestand Hyperchlorhydrie. Die Gesamtacidität hielt sich 4 mal in normalen Grenzen; 1 mal war deutliche Erhöhung vor- handen, 1 mal Hypacidität. Milchsäure wurde nie gefunden.

Die Diagnose wurde mit Sicherheit vor der Operation nur 1 mal ge- stellt, in den anderen Fällen kam zum mindesten differentialdiagnostisch Uleus bzw. Carc. ventriculi, Cholecystitis und Cholelithiasis in Frage. Sämtliche Pat. wurden operiert, und zwar wurde 5 mal die Gastro- enterostomie mit oder ohne Entero-Anastomose vorgenommen, 1 mal die Resection des Geschwüres. In diesem Falle sass das Uleus dicht am Pylorus, reichte sogar noch in diesen hinein. In 1 Falle sass das Uleus in der medialen Wand des absteigenden Astes, war mit dem Pancreas- kopf fest verwachsen und bildete einen tiefen, in das Pancreas hinein- reichenden Trichter. 1 mal sass das Geschwür an der Hinterwand des absteigenden Astes, ö mal war der Sitz wegen Verwachsungen mit der Umgebung nicht mit absoluter Sicherheit festzustellen. Von den Pat. ist 1 gestorben und zwar der älteste, der in sehr elendem Allgemein- zustande fast völlig ausgeblutet in unsere Behandlung kam. Kurz nach der Operation, die in Gastroenterostomie bestand und sehr glatt und rasch verlief, ging der Patient an einer profusen Blutung aus dem Ge- schwür zugrunde. 1 Patient, der aus Russland stammte, wurde ungeheilt und ohne wesentliche Besserung der Beschwerden nach Gastroenterosto- mie entlassen. In diesem Falle handelte es sich aber vielleicht um ein Carcinom. Ueber das weitere Schicksal des Mannes konnte nichts in Erfahrung gebracht werden. Bei den 4 anderen Patienten war der Er- folg sehr befriedigend; es war stets Aufhören der subjektiven Beschwerden und rapide Gewichtszunahme festzustellen. Der gute Erfolg hat auch, soweit uns bekannt, bei allen Patienten angehalten, doch ist bei zwei von ihnen die Zeit nach erfolgter Operation noch zu kurz, um von einer Dauerheilung reden zu können. Wir stehen auf dem Standpunkt, dass

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das Uleus duodeni bei interner Behandlung jedenfalls in den wenigsten Fällen geheilt werden kann, und dass dieses Leiden eine spezifisch chi- rurgische Therapie erfordert. Die Operation der Wahl ist die Gastro- enterostomie, die Resection kommt nur in den wenigsten Fällen in Be- tracht, bei besonders günstigem Sitz des Geschwürs dicht am Pylorus und bei gutem Kräftezustand der Patienten. Meist wird der Resection der Allgemeinzustand und Verwachsungen des betroffenen Darmteiles mit der Umgebung im Wege stehen.

Hr. Rosenfeld: Die Diagnose des Ulceus duodeni ist auf sehr viel- deutige Symptome zu stützen. Die spät nach der Mahlzeit auftretenden Schmerzen sind ausser anderen Affektionen besonders der Hyperaeidität ebenfalls eigen, die Lokalisation des Schmerzes ist meist nicht charakte- ristisch, und so bleibt als einziges einigermaassen frappantes Symptom, Blutmengen, die nur per anum zutagetreten. Ich entsinne mich eines Falles bei einem älteren Manne, wo die Schmerzen wegen der fast starren Pupillen als für Crises gastriques verdächtig galten, bis endlich Blut- abgang mit dem Stuhl die Diagnose auf Uleus duodeni hinleitete.

Solange die Diagnose solche Schwierigkeiten macht, kaun man über die Prognose des Ulceus duodeni nichts Verlässliches aussagen. Man wird eben nur die frappanten Fälle beurteilen, und dann allerdings wohl eine weniger günstige Prognose stellen, als wenn man wie beim Ulcus ven- trieuli die vielen Fälle, die spontan oder ganz leicht heilen, auch beim Uleus duodeni kennte.

Wegen der Eventualität einer Perforation oder einer Blutung gleich operieren zu wollen, scheint mir deswegen noch nicht geboten, ebenso wenig wie beim Ulcus ventrieuli. Beim Ulcus ventrieuli hat uns die günstige Wirkung der Gastroenterostomie in der Ansicht bestärkt, dass die Therapie darauf gerichtet sein muss, den Pylorus offen zu halten: Wenn das geschieht, so heilen die Ulcera.. Und die Offenhaltung des Pylorus besorgt die von mir angegebene Fetteiweisskost bei acidem Magen ebenso gut, wie die chirurgische Maassnahme. Darum bin ich dafür, immer erst abzuwarten, ob nicht mit Fetteiweisskost der chirurgische Eingriff überflüssig gemacht wird.

Hr. Melchior (Schlusswort): Bezüglich der Ausführungen von Herrn Rosenfeld möchte ich mich auf folgende Punkte beschränken:

Was zunächst die von ihm hervorgehobene Schwierigkeit der Diagnose betrifft, muss ich nochmals betonen, dass z. B. Moynihan, der doch eine besonders grosse Erfahrung auf diesem Gebiete besitzt, angibt, dass in der Mehrzahl seiner Fälle die richtige Diagnose vorher gestellt worden war. Auch Interne, wie Ewald und neuerdings Umber (Therapie d. Gegenw., Oktober 1910), nehmen einen optimistischen Stand- punkt bezüglich der Diagnostizierbarkeit des chronischen Duodenal- geschwürs ein. Ich erinnere, dass auch unter den von mir heute mit- geteilten Fällen zweimal die Diagnose vorher gestellt werden konnte; retrospectiv glaube ich, dass es wohl auch in den anderen Fällen mög- lich gewesen wäre. Es ist aber zu berücksichtigen, dass die Erkennung dieser Krankheit zum grossen Teil eine Errungenschaft der neuesten Zeit darstellt.

Bezüglich der Frage: interne oder chirurgische Behandlung? geht meines Erachtens aus den vorliegenden Tatsachen folgendes hervor:

Die chirurgische Therapie, i. e. Gastroenterostomie (mit eventueller Verengerung des Pylorus bei fehlender Stenose) hat bereits den Beweis geliefert, dass sie mit grosser Sicherheit Dauerresultate bezüglich der Heilung des Leidens gewährleistet; von seiten der inneren Medizin steht aber, wie Herr Rosenfeld selbst betonte, ein derartiger Nachweis noch aus. Es muss daher, wie die Dinge einmal liegen, heutzutage bis

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auf weiteres die chirurgische Therapie des chronischen Ulcus duodeni als die einzig rationelle bezeichnet werden.

So lange nicht der Beweis geliefert wird, dass auch durch interne Maassnahmen dauernde gleichwertige Erfolge mit der gleichen Sicherheit gezeitigt werden, sehe ich keinen Grund, von diesem in meinem Vortrag näher ausgeführten Standpunkt abzugehen.

Der von Herrn Rosenfeld angezogene Vergleich mit der Indications- stellung beim Uleus ventrieuli dürfte wohl schon auf Grund der von Herrn Küttner in der heutigen Diskussion geltend gemachten Gesichts- punkte nicht maassgebend sein.

Hr. Franz Geis:

Der prognostische Wert der Netzhautblutungen und Netzhautgefäss- erkrankungen für den Gesamtorganismus.

Der Vortragende bespricht an der Hand des Uhthoff’schen Beob- achtungsmaterials die Prognose von Netzhautblutungen und Netzhaut- gefässerkrankungen. Ungünstig ist die Prognose der Netzhautblutungen bei Arteriosclerose, Diabetes und chronischer Nephritis, die abgesehen von der Gefässwanderkrankung auf erhöhten Blutdruck zurückzuführen sind, da sie in der Regel Vorläufer von Schlaganfällen (Gehirnblutungen) sind. Nicht in gleichem Maasse ist dies der Fall bei isolierten Blutungen in die Macula, ferner bei präretinalen Blutungen und Glaskörperblutungen.

Von den Netzhautgefässerkrankungen besitzen die sclerotischen Er- krankungen der Netzhautarterien (starke Gefässeinschneidungen, End- arteriitis obliterans, sogenannte Embolie oder Thrombose der Zentral- arterie oder eines Astes bei Arteriosclerose) eine ernste prognostische Bedeutung, da sie auf eine Arteriosclerose der Hirngefässe hinweisen, die leicht zu Schlaganfällen führt. Günstiger ist dagegen die Prognose der Thrombose der Vena centralis retinae oder eines ihrer Aeste, die oft auch nur eine lokale Erkrankung ist.

Sitzung vom 2. Dezember 1910.

Vorsitzender: Herr Ponfick. Schriftführer: Herr A. Neisser.

Hr. Ludwig Fränkel: Die interstitielle Eierstockdrüse. (Nach Untersuchungen mit Fräulein 5 Schäffer.) (Siehe Teil II.)

Diskussion.

Hr. Robert Stern demonstriert histologische Präparate der Ovarien einer Osteomalaeischen, die 11 Monate nach der Entbindung kastriert wurde. Zahlreiche kleine und mittlere Gefässe sind hyalin degeneriert, wie es von vielen Autoren bei der Osteomalacie gefunden wurde. Ferner sieht man die Theca interna mehrerer atresierender Follikel beträchtlich gewuchert, ihre Zellen vergrössert, epitheloid und durch radiär verlaufende feinste Capillaren in balkenartige Züge gesondert. Bei einem zusammen- gefallenen Follikel ist diese Thecazone so ausgedehnt, dass das Bild demjenigen eines Läppchens einer interstitiellen Drüse ähnlich wird, wie wir sie bei grösseren Tieren kennen. Da diese Lager epitheloider Theca- zellen histogenetisch mit der Glande interstitielle übereinstimmen und nur im Grad der Entwickelung von ihr verschieden sind, können sie wohl mit ihr in Parallele gesetzt werden. Es handelt sich hier zweifellos um dieselben Gebilde, die Seitz, Wallart u. a. in der Schwangerschaft, Bulius und Wallart auch bei Osteomalacischen gesehen haben. Ob es jedoch angängig ist, diesen gewucherten Thecazellen eine Drüsen-

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 111

funktion zuzusprechen oder sie gar zur Osteomalacie in ätiologische Be- ziehung zu bringen, erscheint fraglich.

Hr. Fritz Heimann demonstriert mikroskopische Präparate vom ÖOvarium einer Patientin, die wegen malignen Chorionepithelioms in der hiesigen Universitäts-Frauenklinik operiert wurde. Uterus und beide Ovarien wurden vaginal entfernt. Die Anamnese bietet keine Besonder- heiten. Der Primärtumor sass im Uterus und zeigte das typische Bild eines Chorionepithelioms. In dem mikroskopischen Präparat sieht man die Theca interna eines atretischen, Follikels stark gewuchert, an verein- zelter Stelle die Theca externa durchbrechend. Die Zellen der Theca interna sind in radiären Balken angeordnet, zwischen sich ein feines Netz von Bindegewebe und Capillaren fassend. Im Vergleich zu den Zellen eines Corpus luteum, das man im ganzen Schnitt sieht, sind die Zellen der Theca interna bedeutend kleiner. Eine hyaline Membran fehlt oder ist wenigstens nur in Spuren angedeutet. Im Innern des Follikels sind noch degenerierte Granulosaepithelien zu sehen. Eine Färbung mit Sudan zeigt reichlich Anwesenheit von Fetttröpfechen. Das Bild entspricht ganz den Befunden, die Wallart beim Menschen ge- funden hat; nach ihm müsste man also hier von einer Glande interstitielle sprechen.

Hr. 0. Bondy fragt den Vortragenden nach der Stellung der „Scheindrüse“. Es sei nicht mit voller Schärfe hervorgetreten, ob die Scheindıüse aus dem Corpus atreticum oder dem Corpus albicans ent- stehe. Im ersteren Falle, der wohl auzunehmen sei, ist die Scheindrüse sowohl histogenetisch als anatomisch mit der interstitiellen Drüse iden- tisch und die Tierarten, bei denen eine solche „Pseudoglande“ sich finden, sind wohl zu denen zuzuzählen, bei denen sich die echte Glande nach- weisen lässt, trotzdem physiologisch bezüglich der Funktion eine Differenz ist. Anfrage, ob Fettfärbung am frischen Präparat vorgenommen wurde.

Hr. L. Fräokel (Schlusswort): Um die Frage des letzten Diskussions- redners vorwegzunehmen: Die Scheindrüse des Mandrill besteht aus dicht zusammengelagerten und unregelmässig gestellten Corpora atretica, d. s. narbig gewordene atretische Follikel, die Bezeichnung Pseudoglande be- zieht sich demnach auf den jetzigen Befund. Es ist möglich, dass früher das demonstrierte Gebilde eine echte Glande war, dass also die atre- tischen Follikel als solche konfluierten und die Drüse bildeten; es ist aber auch möglich, dass die Follikel einzeln vernarbten und erst später als Narben in der Tiefe zusammentrafen. In keinem Falle besteht zur- zeit eine interstitielle, funktionsfähige Drüse, Fettfärbung fiel negativ aus.

Herrn Heimann möchte ich erwidern: Sein Präparat zeigt eine so- genannte Luteineyste, wie solche bei Chorionepitheliom nicht selten sind. Die Schicht der Theca-interna-Zellen ist ziemlich breit, jedoch nicht über- mässig in Vergleich zur Lumengrösse. Ob die kräftig entwickelte Theca externa überall die erwähnte Schicht abschliesst oder nicht, und ob die Theca-interna-Zellen etwas hervorquellen, wage ich trotz genauer Be- trachtung des Präparates nicht zu entscheiden, aber geschlossene Zell- formation im Sinne einer Glande liegen nicht vor.

Dagegen hat das Gebilde, welches Herr Stern im osteomalacischen Ovarium demonstrierte, eine gewisse Aehnlichkeit mit der interstitiellen Drüse. Doch werden Sie, wie es auch Herr Stern tut, ohne weiteres zugeben, dass alles, was ich Ihnen bei den Tieren zeigen konnte, quantitativ einen enormen Unterschied darbot. Im übrigen ist die Dis- kussion, die einst Seitz und Wallart gegen mich führten, nur eine solche um das Wort Glande. Dass gewisse Wucherungen auch beim Menschen vorkommen, ist sicher. Will jemand derartige Zellzüge als

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Glande bezeichnen, so ist das seine Sache. Was ich, und mit mir wohl jeder, als Drüse bezeichnen muss, haben meiue hier vorgewiesenen Tierpräparate gezeigt. Sie sehen totocoelo anders aus und haben mit denen vom Menschen vorgezeisten Bildungen nur die Histogenese gemeinsam.

Sitzung vom 9. Dezember 1910.

Vorsitzender: Herr Ponfick. Schriftführer: Herr A. Neisser.

Diskussion über die Vorträge der Herren Bonhoeffer und Schröder: Ueber Diagnose und Therapie der Paralyse sowie luetische Er- krankungen des Zentralnervensystems.

Hr. A. Neisser: Das zahlreiche Auditorium, das sich zu den Vor- trägen der Kollegen Bonhoeffer und Schröder eingefunden hatte, hat wohl zur Genüge bewiesen, welch grosses Interesse die von ihnen behandelten Themata erregt haben. Und in der Tat müssen wir für die empfangenen Anregungen und Mitteilungen ungemein dankbar sein. Ich glaube, dass es den meisten von uns, wenn ich zuerst auf den Schröder’schen Vortrag eingehen darf, unbekannt war, welch eminente Ausbildung bereits die Histopatbologie des Gehirns erfahren, und wie in krasser Weise sich die patbologisch-histologischen Befunde bei den ver- schiedenen Hirnkrankheiten trotz ihrer klinischen Verwandtschaft und Aehnlichkeit unterscheiden. Den Hirnpathologen sind allerdings durch diese Tatsachen erst recht besondere Aufgaben erwachsen, wenn wir von ihnen die Erklärung fordern: Wie können eigentlich derart ver- schiedene pathologische Alterationen so ähnliche, klinisch oft gar nicht zu differenzierende Krankheitsbilder hervorrufen ?

Was die Ausführungen des Herrn Bonhoeffer betrifft, so wollte er, wenn ich ihn recht verstanden habe, etwa folgendes sagen:

l. Nach wie vor, trotz der reichlichen Ausnutzung der modernen mikroskopischen, chemischen und biologischen Verfahren für die Unter- suchung des Serums und der Cerebrospinalflüssigkeit nach Wassermann, Nonne usw., bestehen in sehr vielen Fällen ungemein grosse diagnostische Schwierigkeiten, ob wirklich Paralyse vorliegt. Nach wie vor sollen wir den Schwerpunkt der Diagnostik auf die klinischen Untersuchungs- methoden und auf die klinische Beobachtung verlegen.

Dabei aber ist Herr Bonhoeffer der Wassermann’schen Reaktion gegenüber nicht etwa ein Skeptiker oder gar ein Verächter; im Gegen- teil, er hat ausdrücklich betont, wie ungemein wertvoll dieses diagnostische Hilfsmittel in unzähligen Fällen sei; aber in einzelnen Fällen versage die Methode anscheinend doch, und somit könne sie allein für sich für die Stellung der Diagnose nicht ausschlaggebend sein.

2. Sodann wies Herr Bonhoeffer auf die Schwierigkeit der klini- schen Diagnostik hin, hervorgerufen durch die grosse Aehnlichkeit der Krankheitsbilder bei ganz verschiedenen Krankheitszuständen, z. B. bei manchen schweren Neurasthenien, bei verschiedenen Formen der eigentlichen Hirnsyphilis. Er sprach von der Möglichkeit einer Kom- bination von Paralyse mit eigentlicher Hirnsypbilis oder der Kombination einer Syphilis mit anderen Psychosen. Dasselbe gilt ja auch für die spinalen Erkrankungen, wo wir auch mit Kombinationen von wahrer Tabes mit spinaler Lues zu rechnen haben. Es wurde sodann nicht bloss von ihm, sondern auch von Herrn Schröder darauf hingewiesen, dass es auch noch andere Krankheiten gäbe, die ganz ähnliche klinische wie anatomische Zustände wie die Paralyse hervorriefen, z. B. Trypanosomenkrankheiten nach den Spielmair’schen Unter- suchungen und die Hundestaupe (nach Schröder).

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Es war daher folgerichtig, wenn Herr Bonhoeffer sagte: Für die Erkenntnis des wirklichen Wertes einer Therapie sei die erste Bedingung, dass man genau wisse, welche Krankheit man eigentlich behandelt habe. Es sei leicht möglich, dass manche glaubten, einen Paralytiker ge- bessert oder gar geheilt zu haben, wo essich nur um cerebrospinale l,ues oder um eine Kombination von Paralyse und eigentlicher Hirnlues gehandelt habe.

3. Ferner aber, so fuhr Herr Bonhoeffer fort, erschwere die Beur- teilung des therapeutischen Effekts der Paralyse selbst das Eintreten der Remissionen; wobei ich die Frage aufwerfen möchte: Wie kann man sich eigentlich diese Remissionen erklären? Solange es sich um nur unbedeutende Schwankungen handelt, so kann man sich denken, dass unter Umständen intakte Hirnbezirke für die bereits zer- störten Ganglienzellen und Fasern vikariierend eintreten könnten. Wenn uns aber Herr Bonhoeffer von einem Fall berichtet, bei dem schon ein sehr weit vorgeschrittenes Stadium der Paralyse eingetreten war, und bei dem doch nachher eine jahrelange Remission eintrat, wie ist das mit den anatomischen Hirnbefunden in Einklang zu bringen? Spielen nicht neben den degenerativen Prozessen einfach entzündliche und funktionelle Prozesse eine Rolle? Also Erscheinungen, die in der Tat Schwankungen unterliegen können, und bei denen die Remissionen er- klärlicber werden, als wenn man alle Krankheitssymptome auf wirkliche organische Veränderungen von Greweben und Zellen zurückzuführen hätte. Wenn aber diese Auffassung berechtigt ist, dann ist die Möglichkeit einer therapeutischen Beeinflussung nicht ohne weiteres abzuweisen.

Herr Bonhoeffer hat nun, wenn ich mich recht erinnere, auch die Frage gestreift: Ist dem 606 die Eigenschaft, bei der Paralyse kurativ zu wirken, in erhöhtem Maasse zuzuschreiben? Er hat die Frage nicht verneint, aber doch mit äusserster Skepsis behandelt. Er sagte: Wenn schon das Quecksilber, das doch sonst ein so aus- gezeichnetes Mittel für die Syphilis ist, versagt, ist da nicht a priori auch von 606 ein ähnlicher Misserfolg zu erwarten?

Nun, in der Tat, von verblüffenden und ganz überzeugenden Heil- erfolgen ist vor der Hand nichts zu berichten; aber ebensowenig möchte ich aus den bisherigen mit 606 erzielten Resultaten auf eine völlige Wertlosigkeit schliessen. Vielleicht ist man in Dosierung und Gesamtanwendung bisher ganz falsch vorgegangen; vielleicht waren die Dosen zu klein oder auch zu gross und die Anwendung nicht konsequent genug. Ich könnte mir sehr gut vorstellen, dass es sehr viel nützlicher bei all diesen Formen sein müsste, eine grössere An- zahl von kleinen Dosen hintereinander, natürlich in ge- eigneten Intervallen, zu verabreichen, als nur mit wenigen grösseren Dosen zu arbeiten.

Es kommt ferner in Betracht die Möglichkeit, dass es verschiedene Qualitäten des Syphilisgiftes gibt, von denen die eine mehr auf Quecksilber, die andere besser auf die neuen Arsenpräparate reagiert. Der Verdacht, dass es ein bestimmtes, wenn ich so sagen darf, neuro- tropes Syphilisgift gibt, ist ja doch schon mehrfach ausgesprochen worden, Und in der Tat ist es sehr schwer, in den gar nicht seltenen Fällen von familiärer Tabes und Paralyse und in denjenigen Fällen, wo verschiedene Paralytiker aus ein und derselben Infektionsquelle sich ihre Krankheit holten, eine andere Erklärung zu finden als die: ein be- stimmtes Syphilisgift mit bestimmten neurotropen Eigenschaften an- zunehmen. Ich möchte meinen, dass man erst recht gerade bei der Paralyse das 606 probieren müsste, eben weil die bis- herige Quecksilbertherapie in diesen Fällen versagt hat.

Schlosische Gesellsch. f. vaterl. Kultur. 1910, 1. 8

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Wie aber soll man sich einen Heilerfolg durch 606 bei Paralyse denken? Das 606 ist ein spirochätentötendes Mittel. Wie aber steht es mit Spirochäten bei der Paralyse? Es sind para- Iytische Gehirne auf Spirochäten untersucht worden und stets mit negativem Befund, aber doch eben meist Gehirne von Leuten, die in den letzten Stadien der Krankheit und sehr viele Jahre post infectionem gestorben sind. Dass man da nichts von Spirochäten gefunden hat, wird niemand verwundern. Ich glaube also, diese Frage wird nur da- durch zu entscheiden sein, dass man in frischen Fällen derartige Unter- suchungen anstellte, und dann auch wiederum nicht nur mikroskopische. Die Möglichkeit, dass neben der Spirochätenform eine andere Form des Virus existiert, ist doch gegeben. Ebenso wie wir erst neuerdings ge- lernt haben, dass es neben der bacillären Form des Tuberkulosevirus noch eine granuläre gibt, die man auch nur durch eine ganz bestimmte Färbungsmethode darstellen kann, so wäre es auch möglich, dass es eine granuläre Form der Spirochäten gäbe, die wir vor der Hand nicht kennen. Man müsste auch noch einen Schritt weitergehen und den Versuch machen, Impfversuche aller Art mit den paralytischen Gehirnen anzustellen. Also die Möglichkeit, dass Virus selbst noch mitspielt, sei es in Spirochäten, sei es in anderer Form, ist nicht aus- geschlossen, und damit wäre eine gewisse Indication für die Anwendung von 606 gegeben.

Das 606 hat aber nicht bloss parasitotrope, sondern auch organo- trope Eigenschaften. Wir sehen derartig rapide Heilungen von Ge- schwüren eintreten und auch sonst Einwirkungen auf Gewebe, dass man unmöglich annehmen kann, dass alles das nur auf dem Umwege der direkten Spirochätenvernichtung vor sich gehen solle. Vielleicht also werden die Plasmaansammlungen direkt vom 606 beeinflusst.

Schliesslich hat man auch mit antitoxischen Eigenschaften des 606 zu rechnen, wie sich auch aus dem frappanten Einfluss ergibt, den wir (namentlich bei maligner Syphilis) auf den ganzen Körperzustand, auf die Anämie, auf Schmerzen und subjektive Symptome konstatieren.

Man könnte sich auch vorstellen, dass durch das 606 diejenigen chemischen Vorgänge, die zur Bildung der „Reagine“ bei der positiven Reaktion führen, beeinflusst werden. Ob und welche dieser Stoffe eventuell bei der Paralyse schädlich sein könnten, wissen wir freilich nicht. Da aber jeder Paralytiker -—— bis auf ganz verschwindende Aus- nahmen eine positive Reaktion aufweist, so ist der Gedanke, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dieser positiven Reaktion und den Stoffen, die sie zustande bringen, einerseits und der Paralyse andererseits bestehe, nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen. Wir stellen ja auch gerade mit Berücksichtigung der Paralyse die Ferderung auf, jeden Syphilitiker solange zu behandeln, bis die positive Reaktion dauernd in eine negative ver- wandelt worden ist. Ich will bier die sehr schwierige Frage nicht verfolgen, wann man sich auf eine wirklich definitive Beseitigung der Reaktion verlassen darf. Dass das einmalige Eintreten einer negativen Reaktion nichts beweist, wissen wir alle. Sind wir denn aber jetzt schon sicher, dass, wenn z. B. im Laufe eines Jahres drei- oder viermal hintereinander, ohne jede Behandlung natürlich, eine Reaktion negativ geblieben ist, dass dann auch definitiv eine Heilung eingetreten ist? Ich glaube, man kann diese Frage immer noch nicht absolut mit „Ja“ beantworten. wenn ich auch glaube, dass in den allermeisten solchen Fällen eine definitive Heilung eingetreten sein wird.

Was die Frage der Vorbeugung der Paralyse durch eine ge- eignete Syphilisbehandlung betrifft, so muss ich in erster Reihe betonen, dass man aus den bisherigen Behandlungsresultaten gar keinen

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Schluss ziehen kann, wie man diese Frage beantworten soll. Es ist zwar richtig, dass wir jetzt viele Fälle sehen, die, trotzdem sie einer wiederholten und reichlichen Behandlung mit Quecksilber vorher unter- worfen waren, paralytisch geworden sind. Nimmt man sich aber bei solehen Patienten, wie überhaupt bei allen alten Syphilitikern, die wir, sei es durch manifeste Symptome, sei es durch die Seroreaktion, als ungeheilt erkennen, die Mühe, genau festzustellen, wie sie behandelt worden sind, so hört man, dass diese sogenannte „reichliche und energische“ Behandlung sehr häufig sich in nichts auflöst. Entweder waren die Kuren ganz unvollkommen und schlecht gemacht oder aber es waren innere oder Einreibungskuren, die vielleicht zwar sorgfältig durchgeführt worden sind, aber eben als Einreibungs- kuren so unzuverlässige Einwirkungsmethoden auf die Syphilis darstellen, dass ich aus ihnen nie den Schluss ziehen möchte, es habe sich um wirklich kräftige und energische Quecksilbereinwirkungen gehandelt. Einreibungskuren sind Blender; sie können wohl Sym- ptome zum Verschwinden bringen, können die Menschen anscheinend heilen; aber ein Vertrauen, dass bei dieser so unzuverlässigen Methode wirklich eine energische Quecksilberwirkung zustande kommt, habe ich nicht mehr, seitdem wir in der Lage sind, Latenz und Heilung durch die Wassermann’sche Reaktion zu unterscheiden. Also mit Bezug auf die Quecksilberkuren werden wir in Zukunft den Standpunkt ein- nehmen müssen, uns nur auf wirklich sichere Einverleibungs- methoden, d.h. also Einspritzkuren, und zwar womöglich mit Präparaten, die nicht von heute auf morgen aus dem Körper wieder verschwinden, zu verlassen.

Vorderhand also waren die meisten Versuche mit un- geeigneten und unzureichenden Mitteln angestellt. Dann darf man aber jetzt nicht ohne weiteres sagen, dass selbst energische und gute Vorbehandlung nicht imstande sei, der Paralyse vorzubeugen.

Aber auch aus einem anderen Grunde sind möglicherweise die meisten Fälle, die trotz einer anscheinend sorgsamen Behandlung später paralytisch geworden sind, doch ungeeignet behandelt worden. Die Auf- fassung, dass man die Syphilis möglichst bald nach der Infektion, also womöglich noch vor dem Erscheinen aller sekundären Erscheinungen be- bandeln müsse, hat sich noch lange nicht in den ärztlichen Kreisen Bahn gebrochen; selbst in spezialistischen Kreisen huldigen noch viele der alten Anschauung, man möge die sekundären Erscheinungen ab- warten. Ich halte das, wie ich des häufigen ausgeführt habe, für grundfalsch und habe den entgegengesetzten Standpunkt seit mehr als 30 Jahren vertreten.

Da wir nun gar nicht wissen, in welchem Momente nach der Infektion diejenigen Degeneralionen oder entzündlichen Erscheinungen, die sich schliesslich als Paralyse äussern, einsetzen, so wissen wir auch nicht, ob wir nicht in all den Fällen, in denen wir erst bei sekundären Erscheinungen zu behandeln anfangen, zu spät kommen. Ja, man könnte sich sogar vorstellen, dass man selbst dann noch zu spät kommt mit der Behandlung, wenn man bei ausgebildetem Primäraffekt beginnt. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass letzteres der Fall ist, ist natürlich sehr viel geringer als die andere. Je früher man mit der Behandlung anfängt, um so weniger wird man zu fürchten haben, den geeigneten Vorbeugungstermin für die Degenerationserscheinungen im Gehirn und Rückenmark zu verpassen. Also auch bier werden andere Zeiten ab- gewartet werden müssen, nämlich die Zeiten, in denen die allermeisten Syphilisfälle wirklich energisch und zeitig genug behandelt werden.

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Drittens kommt in Betracht, dass sicherlich die jetzigen Paralytiker nicht lange genug behandelt worden sind. Früher hatte man ja keine Möglichkeit, anders zu behandeln, als bis zum Verschwinden aller Symptome oder mit Ausnutzung der chronisch-intermittierenden Be- handlung 3—4 Jahre nach der Infektion (wobei ich immer wieder darauf verweisen muss, dass sehr viele dieser bei der chronisch-intermittierenden Methode angewandten Kuren schlechte bzw. nicht genügend wirksame Einreibungs- oder Injektionskuren waren). Erst seit 4—5 Jahren wissen wir ja durch die Benutzung der Wassermann’schen Reaktion, dass eben auch dann noch sehr viele Menschen ungeheilt bleiben. Alle diese Fälle, die mit positiver Reaktion übrig geblieben sind, sind auszuscheiden aus der Zahl der Paralytiker, bei denen man die Be- hauptung aufstellt, dass eine genügende Vorbehandlung bei ihnen nicht die Paralyse habe verhindern können. Man hätte sie eben be- handeln müssen, bis die positive Reaktion dauernd und vollständig verschwunden ist, d.h. bis wirkliche Heilung eingetreten ist, wirkliche Heilung an Stelle der Symptom- losigkeit.

Und nun schliesslich die Frage: Wird die Einführung des 606 uns nach dieser Richtung hin einen Fortschritt bringen? Das ist sehr wohl möglich, wenn ich erstens an die Ausführungen erinnere, die ich oben gemacht habe, dass es vielleicht ein Syphilisgift gibt, welches auf Quecksilber so gut wie gar nicht reagiert, dagegen auf 606. Ferner halte ich das 606 für ein dem Hg überlegenes Heilmittel; wenn wir erst gelernt haben werden, es in richtiger Methode, oft und lange genug, eventuell in Kombination mit Hg und Jod anzuwenden, werden wir sicherlich in der Syphilistherapie bessere Erfolge haben, als bisher.

Ich halte es für sehr wohl möglich, dass ein gänzliches Einschwenken unserer Syphilisbehandlung in die Bahn, die ich schon skizziert habe, dazu führen kann, die Menschheit von Tabes und Paralyse zu befreien.

Diese soeben von mir aufgestellten Forderungen sind um so dring- licher durchzuführen, wenn man die Syphilis nicht als die alleinige Ur- sache der Paralyse ansieht, sondern sie als die Folge einer Kombi- nation von Schädigungen auffasst, mögen das nun „Syphilis plus Alkohol“ oder „Syphilis plus Civilisation“ sein. Schliesslich ist ja die Syphilis immer noch der angreifbarere und der der Therapie zugäng- lichere ätiologische Faktor.

Wie soll sich nun der praktische Arzt verhalten? Der gewöhnliche Verlauf der Dinge ist der, dass gewisse nervöse und psy- chische Symptome den Verdacht, es könnte sich um eine Paralyse han- deln, erwecken. Der Verdacht wird gestärkt, wenn der Arzt weiss, dass der Patient früher eine Syphilis durchgemacht hat. Ist die Reaktion positiv, so wird er erst recht an die Möglichkeit einer beginnenden Paralyse denken, selbst wenn er sich darüber ganz klar ist, dass die positive Reaktion keinen stringenten Beweis dafür bietet, dass die Gehirnaffektion Paralyse ist. Erstens könnte es sich um echte Hirnsyphilis handeln; sodann darum, dass ein Syphilitiker, dessen irgendwo sitzender Spiro- chätenherd die positive Reaktion erzeugt, nur an einer schweren Neur- asthenie mit paralyseähnlichen Symptomen erkrankt. Womöglich soll nun die Lumbalpunktion hinzutreten. Aber es ist ja bekannt, dass das schon auf grössere Schwierigkeiten stösst, da nicht jeder Patient sich zu derselben hergibt und die Vornahme einer Lumbalpunktion überhaupt nicht Sache jedes praktischen Arztes in allen Verhältnissen sein wird. Soll man nun nicht, selbst wenn der Fall diagnostisch nicht klar liegt, sofort mit der Behandlung beginnen? und zwar, wie ich vorbin schon sagte, mit 606 plus Quecksilber plus Jod. Ein Schaden irgend welcher Art kann nach den Erfahrungen, die bisher über 606 von

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anderen und auch von mir gesammelt worden sind, nicht angerichtet werden, weder durch die 606-Behandlung allein, noch durch die Kombi- nation selbst mit energischen Quecksilberkuren. Man hat also nichts zu verlieren, nur zu gewinnen.

Natürlich muss man sich darüber klar sein, dass, wenn nun viel- leicht eine Besserung eintritt, man nicht ohne weiteres von einer Heilung der Paralyse sprechen kann. Aber hat man dann nicht jedenfalls, mag nun eine wahre Paralyse oder mag eine andere echte syphilitische Hirn- krankheit vorgelegen haben, richtig gehandelt? Ich erinnere dabei noch- mals an die von Herrn Bonhoeffer selbst hervorgehobene und aus- führlich besprochene Schwierigkeit der Differentialdiagnose. Ist es nicht jedenfalls riebtiger, einer Paralyse gegenüber einen im End- effekt überflüssigen, aber unschädlichen Behandlungs- versuch gemacht zu haben, als bei einer echten Hirnsyphilis die durchaus notwendige Therapie zu unterlassen?

Aber aucb bei einer schon vorgeschrittenen Paralyse möchte ich mich im allgemeinen auf die Seite derjenigen stellen, die zu einer Behandlung raten falls die Angehörigen es verlangen. Ich weiss sehr wohl, dass in einer Anzahl von Fällen, die auch ich mitbehandelt habe, und die zum Teil von Herrn Bonhoeffer, zum Teil von Herrn Förster gesehen worden sind, schwerere Anfälle nach der 606-Behandlung eingetreten sind. Aber der Beweis, dass durch die 606-Behandlung diese Schädigung eingetreten ist, ist eben so wenig zu erbringen, wie der Beweis, dass eine Besserung durch die Behandlung herbeigeführt wurde. Und schliesslich: ist es wirklich ein Unglück, wenn bei einem Paralytiker eine Verschlimmerung eintritt, wenn vielleicht sogar der letale Exitus etwas schneller herbeigeführt wird? Ich kann mir vorstellen, dass man sich unter Umständen sogar mehr davor fürchten wird, durch die Therapie eine Besserung oder ein Stillstehen der Erkrankung zu erzielen, da man doch Heilung oder Restitution zu einem lebenswerten Status nicht erzielen kann, das Elend des Kranken und seiner Angehörigen also nur verlängert. Und in der Tat habe ich aus diesen Erwägungen heraus schon manchmal von der Behandlung abgeredet.

Aber ganz anders, wie gesagt, stehe ich den milderen Formen und den Anfangsstadien der Paralyse gegenüber. Hier und ganz beson- ders bei der Tabes bin ich entschieden für den Versuch, eine Behandlung vorzunehmen.

Natürlich darf man, wenn Besserungen eintreten, nicht ohne weiteres ein Jubelgeschrei über den glänzenden Erfolg des 606 bei Paralyse aus- stossen. Immer ist der Gedanke, es könnte sich um spontane Remission handeln, festzuhalten. Aber die Tatsache, dass es spontane Remissionen gibt, beweist auch wiederum nicht, dass nicht auch therapeutisch solche Remissionen oder sogar dauernde Besserungen herbeizuführen siod. Ich meine, man muss sogar sagen: Gerade die spontanen Remissionen beweisen die Möglichkeit einer kurativen Beeinflussung. Und es haben doch auch ganz zuverlässige und nüchterne Beobachter berichtet, dass sie ganz auffällige und lange anhaltende Erfolge geschen hätten, die sie demgemäss geneigt sind, in einen Zusammenhang mit der voraufgegangenen Behandlung zu bringen. Für die Tabes möchte ich das entschieden behaupten.

So möchte ich mich also dahin resümicren, dass wir doch mit aller Kraft dahin wirken sollten, alle Fälle, wo überhaupt nur der leiseste Verdacht auf Tabes und Paralyse vorliegt, in energischer Weise einer 606-Behandlung, eventuell einer kombinierten Behandlung von Queck- silber plus Jod plus 606 zu unterwerfen.

Betrefis 606 habe ich schon oben erwähnt, dass ich glaube, dass

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man für diese Zwecke nach einer grösseren Anfangsdosis mit der chro- nischen Anwendung kleiner Dosen vielleicht am allerweitesten kommen wird. Ich selbst glaube mich davon überzeugt zu haben, dass doch in vielen Fällen von Tabes ein wesentlicher Umschwung im subjektiven Befinden und damit wohl .auch in gewisser Weise im objektiven Status eintritt, derart, dass man an einen Einfluss der Behandlung auf den Krankheitsprozess denken muss. Wenn nun nach einer Injektion eine Remission eintritt und dieselbe wieder nach kurzer Zeit verschwindet, so liegt der Gedanke nahe, durch ehronische Behandlung einen chronischen günstigen Zustand herbeizuführen; und solche Kur ist um so leichter durchführbar, als es richtig zu sein scheint, dass mit kleinen Dosen in solchen Fällen ganz dasselbe erreicht werden kann, wie mit grossen. Es erscheint mir doch ein Gewinn oder wenigstens des Versuches wert, Kranke in dieser Weise zu behandeln. Vielleicht werden sie nicht definitiv geheilt; aber sie werden vielleicht auf lange Jahre hindurch, sagen wir künstlich, in einem Zustand gehalten, in dem sie arbeits- und erwerbsfähig bleiben, so dass sie nicht so schnell, wie Unbehandelte, einem vollständigen Ruin verfallen und aus dem sozialen Leben auszuscheiden genötigt sind.

Noch viel wichtiger aber bleibt die Aufgabe, die ja immer wieder betont werden muss, durch eine sehr zeitige, wirklich energische und genügend lange und unter steter Kontrolle der Wasser- mann’schen Reaktion geleitete Behandlung dem Auftreten der Paralyse und Tabes entgegenzuarbeiten.

Ich, meine Herren, glaube an die Möglichkeit, dass wir dieses Ziel erreichen können, und in dieser Ueberzeugung handle ich. Sie werden sagen: ein unverbesserlicher Optimist! Aber wer Arzt sein will, muss, glaube ich, seinem wirklichen Skeptizismus eine ganze Dosis Optimismus zumischen, und natürlich bildeich mir ein, gerade die richtige Mischung in meinem therapeutischen Vorgehen anzuwenden!

Hr. Uhthoff geht auf die Differentialdiagnose zwischen progressiver Paralyse, Hirnsypbilis und arteriosclerotischen Hirnveränderungen in betreff der Augensymptome näher ein.

Er erörtert zunächst den Begriff der sogenannten „Retinitis para- lytica“, die früher als eigenartige Veränderung der progressiven Para- lyse gelegentlich betont wurde. Auf Grund seiner eigenen Untersuchungen kann er diesem angeblichen Krankheitsbilde keine pathologische und differentialdiagnostische Bedeutung zuerkennen.

Sodann erörtert er die Opticusaffektion bei progressiver Paralyse, die wie bei der Tabes nur in der Form von progressiver Opticusatrophie vorkommt. Anderweitige Mitteilungen in der Literatur halten der Kritik nicht stand. Die Opticusaffektionen bei Hirnsyphilis sind durchweg anderer Natur, was näher ausgeführt wird. Hemianopsie (temporale und homonyme) fehlen ganz bei der progressiven Paralyse, während sie bei Hirnsyphilis und arterioselerotischen Hirnveränderungen eine nicht uner- hebliche Rolle spielen. Sodann geht Redner auf die Augenmuskel- lähmungen bei der Paralyse, Hirnsyphilis und Hirnerweichung näher ein und zeigt, wie auch hier wichtige differentialdiagnostische Anhaltspunkte gewonnen werden können. Dasselbe gilt von dem Verhalten der Pupillen bei den einzelnen Erkrankungen, was näher dargelegt wird.

Zum Schluss bespricht Redner noch kurz das Verhalten der Retinal- arterien zu den pathologischen Veränderungen der Hirnarterien und ver- weist hierbei noch einmal auf die ausführlichen Mitteilungen von Herrn Geis in einer der letzten Sitzungen inbetreff seines gesamten Beob- achtungsmaterials.

Hr. 0. Foerster: M. H.! Ich möchte zunächst bemerken, dass auch ich bei sicher ausgesprochener progressiver Paralyse bisher niemals einen

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wirklichen Erfolg von der spezifischen Behandlung gesehen habe. Ich habe eine solche in einer ganzen Reihe von Fällen immer in der Form der Kalomelinjektionen und zwar in wiederholten Kuren angewandt. Allerdings war in all den Fällen, die ich bier zunächst im Auge habe, bereits das Krankheitsbild der Paralye entwickelt. Auch in 2 Fällen, in denen dem Ausbruch der Paralyse lange Jahre eine Tabes voranging, habe ich trotz energischer wiederholter Kalomelbehandlung die Entwick- lung der Paralyse nicht verhindern können, obwohl vorher gerade die Tabes, wenigstens in dem einen Falle einen entschiedenen Rückgang der objektiven und subjektiven Symptome unter den verschiedenen Kalomel- kuren hatte erkennen lassen.

Einige Male habe ich allerdings bei ausgesprochener Paralyse durch die Kalomelbehandlung die Wassermann’sche Reaktion im Blute negativ werden sehen. Nun möchte ich aber doch auch über eine Reihe von Beobachtungen berichten, die einerseits, wenigstens zum Teil, eine günstige Beeinflussung erkennen lassen, andererseits aber gerade die Schwierigkeit der Differentialdiagnose zwischen sicher progressiver Paralyse und lueti- scher Pseuodoparalyse illustrieren. Zunächst ein Fall, bei dem in körper- licher Beziehung reflektorische Pupillenstarre und + Babinski, in psychi- scher Beziehung Reizbarkeit, depressive Stimmung mit allen möglichen Angstvorstellungen und Schlaflosigkeit bestand; der Blut-Wassermann war +, ebenso der Wassermann im Liquor +, es bestand eine enorme, fast das ganze Gesichtsfeld deckende Lymphoeytose, hochgradige Eiweiss- vermehrung und positive Nonne’sche Reaktion; es lag also ein Liquor- befund vor, der im allgemeinen als beweisend für echte Paralyse ange- sehen wird. In diesem Falle wurde durch eine Hg-Kur zunächst ein Verschwinden des Blut-Wassermann erzielt, durch eine weitere energische Kalomelbehandlung verschwand er auch im Liquor, die Lymphocytose und Eiweissvermehrung gingen auf ein Minimum zurück, die psychischen Symptome schwanden, seit über Jahresfrist besteht volles Wohlbefinden. Hieran möchte ich eine ganz analoge Beobachtung anreihen, körperliche Pupillenstarre, -—- Babinski, Romberg, Hypalgesie, Blasenlähmung psychisch, auffallende Reizbarkeit, aufgeregtes verändertes Wesen, schlechter Schlaf, Andeutung von Sprachstörungen, im Blut Wasser- mann —+, ebenso im Liquor, 15 pM. Eiweiss, enorme Lymphocytose, Nonne +. Nach 2 maliger Injektion von 606 ü 0,3 zwar keinerlei Ein- fluss auf die klinischen Symptome, aber Verschwinden dss Wassermann im Blut und Liquor, Verschwinden der Lymphoeytose und der Eiweiss- vermehrung, nur die Globulinreaktion bleibt schwach positiv. Ich bin nun nieht der Ansicht, dass in diesen beiden Fällen der Beweis einer bestehenden Paralyse erbracht sei, wenn auch der Liquorbefund den Verdacht, dass sie drohe, sehr nahe legen muss und sicherlich noch vor kurzer Zeit von vielen als beweiskräftig angesehen worden wäre und von manchen wohl auch heute noch obne weiteres als beweiskräftig an- gesehen wird. Ich möchte die Fälle zunächst einmal einfach registrieren mit bezug auf die Beeinflussung des Prozesses in serologischer, cytologi- seher und chemischer Hinsicht, um so mehr als ja von denen, die in der rage der therapeutischen Beeinflussung der Paralyse auf positivem Boden stehen, geltend gemacht werden wird, dass die Fälle, wo die Krankheit einmal voll entwickelt ist, nicht mehr geeignet sind, sondern, dass nur gauz im Beginn der Erscheinungen Hilfe möglich ist, und da tatsächlich von Marie und Levaditi, von Plaut, von Kafka Er- wägungen darüber angestellt sind, ob dem Stationärwerden der Paralyse ein Verschwinden der Wassermann’schen Reaktion im Blut und Liquor entspricht.

Es kommt bei solchen Fällen, wie den mitgeteilten, tatsächlich auf die Stellungnahme an, hält man die Symptomatologie für maassgebend,

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so handelt es sich in beiden Fällen natürlich nicht um Paralyse, legt man den Hauptwert auf die serologische, eytologische und chemische Be- schaffenheit, so würde man Paralyse annehmen und ihre günstige Beein- flussung nicht übersehen können. Wie schwierig manchmal die Verhält- nisse liegen, das möchte ich noch kurz an drei weiteren Fällen dartun, die ein Gegenstück zu den beiden eben mitgeteilten bilden, die klinisch absolut das Bild der echten Paralyse boten, neben körperlichen Symptomen starker Verlust der Merkfähigkeit, charakteristische Störungen der Sprache und Schrift, charakteristischer Verfall der Persönlichkeit, allmähliche Entwicklung der paralytischen Demenz, Fehlen jeder Krank- heitseinsicht für die Defekte und in denen zwar der Blut-Wassermann +, aber der Liquor keine Komplementbindungsreaktion zeigt, nur eine sehr mässige bzw. gar keine Lymphocytose, eine sehr geringe oder gar keine Eiweissvermehrung und in einem Falle auch keine Globulinreaktion zeigt. Klinisch symptomatologisch also sichere Paralyse, nach dem Verhalten des Liquor luetische Pseudoparalyse. In dem einen Falle, in dem der Liquor überhaupt ganz normale Beschaffenheit zeigt, habe ich den Ver- dacht, dass es sich um die Alzheimer’sche Endarteriitis der feinsten Rindengefässe handelt. Ich habe gerade bei luetischer Endarteriitis des Gehirns wiederholt ganz normale Liquorverhältnisse gefunden, was ich entgegen Nonne betonen möchte. Wie steht es nun in diesen Fällen mit der therapeutischen Beeinflussung? In dem einen ist trotz energi- scher wiederholter Hg-Behandlung die Krankheit dauernd fortgeschritten, und besteht jetzt nach 21/, jähriger Beobachtung tiefe Verblödung; in dem 2. Falle, dessen Verlauf sich bereits über 5—6 Jahre erstreckt, ist unter Hg, speziell unter Kalomelbehandlung eine ganz auffallende. immer fortschreitende Besserung eingetreten, so dass der vorher läppische und stark demente Kranke jetzt wieder geschäftlich umfänglich tätig ist, der dritte Fall, den ich auch seit 4 Jahren verfolge, ist durch wiederholte Kalomelkuren und neuerlich durch 606 so erheblich gebessert, dass man versucht sein könnte, eine Heilung anzunehmen, hier sind auch die körperlichen Symptome bis auf die Pupillenstarre gewichen. Stellt man sich auf den Standpunkt, dass die Symptomatologie das Ausschlag- gebende ist, so müsste man alle 3 Fälle unbedingt als Paralyse gelten lassen, die günstige Wirkung der spezifischen Behandlung ist in 2 Fällen unverkennbar, der Liquorbefund spricht nicht für echte Paralyse. Also einfach liegen die Verhältnisse m. E. nicht. Wegen der Schwierigkeit der Diagnose einerseits und wegen der zweifellos vorhandenen Möglichkeit einer recht günstigen Beeinflussung gerade solch zweifelhafter Fälle anderer- seits möchte ich aber für alle diese letzteren einer recht energischen konsequent fortzusetzenden spezifischen Behandlung unbedingt das Wort reden. Ich könnte noch aus der Zeit vor der Wassermann’schen Reaktion speziell 2 Fälle anführen, die aueh beide als Paralyse gelten, beide schwer dement absolut ohne Krankheitseinsicht waren und durch Kalomel so gebessert sind, dass der eine sein Referendarexamen gemacht hat, der andere seinen Beruf als Oberförster jetzt seit 5 Jahren versieht. Doch sind diese beiden Fälle differentialdiagnostisch nicht durch die Liquoruntersuchung geklärt worden.

Ich wende mich nunmehr zur Tabes dorsalis. Herr Schröder hat den Standpunkt vertreten, dass der tabische Prozess durch die spezifische Therapie nicht beeinflusst werden könne, da er seiner Natur nach ganz anders geartet sei als die echt luetischen Prozesse. Wenn bei der Tabes vermeintliche Erfolge erzielt wurden, so wäre dabei an spontanem Stillstand oder Remissionen der Krankheit oder an die Bei- Beimengung echt syphilitischer Affektionen zur Tabes, die der Hg-Be- handlung zugänglich seien, zu denken. Ich habe in der Frage der Tabes- behandlung 2 Perioden durchgemacht, von 1896—1902 habe ich bei

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 121 Wernicke und besonders bei Fränkel ein grosses Tabesmaterial lange beobachtet, das nie spezifisch behandelt wurde, seit 1902, wo ich durch Harttung auf die Kalomelbehandlung bei syphilitischen Affektionen des Nervensystems hingewiesen bin, bis jetzt also seit S Jahren, habe ich alle meine Fälle, soweit diese es irgend vertragen, ganz regelmässig und in bestimmten Zeitabständen immer erneut, mit Kalomel behandelt, und ich kann gerade im Vergleich mit den Wahrnehmungen der früheren Periode nur sagen, dass der wohltätige Einfluss der Behandlung im all- gemeinen nicht zu verkennen ist. Nicht nur werden einzelne Symptome zumeist sehr günstig beeinflusst, besonders die lanzinierenden Schmerzen, Parästhesien, ferner vor allem die Blasenstörungen, Sensibilitätsstörungen können weichen, den Patellarreflex habe ich 6 mal wiederkehren sehen, ebenso oft die Pupillenreaktion, den Achillesreflex 2 mal. Andere Sym- ptome reagieren nach meiner Erfabrung weniger, so die Krisen, die ich meist verschlimmert gefunden habe, ebenso die Artbropathien werden nicht beeinflusst. Dagegen habe ich auf die Optieusatrophie niemals einen schädlichen Einfluss gesehen. Zwei Punkte sind es besonders die für die spezifische Wirkung des Hg besonders sprechen; erstens beob- achten wir sehr oft, dass zu Beginn der Kur nach der 1., 2. 5. Ein- spritzung, die zumeist nur kleine Dosen 0,01—0,02 enthalten, einzelne Symptome geradezu eine, ich möchte sagen, reaktive Verschlimmerung erfahren; das gilt ganz besonders von den lanzinierenden Schmerzen, diese können nicht selten auch bei solchen Tabikern, die sonst überhaupt nicht daran leiden, durch Kalomelinjektionen geradezu experimentell erzeugt werden. Ebenso habe ich öfters Magen-, Intestinal-, Rectal-, Blasenkrisen danach auftreten sehen, die mit dem Sistieren der Injek- tionen wieder ganz schwanden, bei erneuter Injektion wieder erschienen. Erst mit der Verabfolgung weiterer grösserer Mengen schwinden dann die Schmerzen ete. mehr und mehr. Diese reaktive Verschlimmerung einzelner Symptome habe ich nur bei echter Lues cerebrospinalis öfters gefunden, und sie sind, so viel ich weiss; auch sonst bei sypbilitischen Affektionen beobachtet worden.

Vielleicht gibt diese anfängliche reaktive Verschlimmerung beim Einmarsch des Hg einen Fingerzeig dafür ab, warum Schmierkuren oder Injektionen löslicher Hg-Salze so oft keinen Nutzen, ja nach manchen Angaben sogar Schaden stiften sollen, indem hier möglicherweise die Hg-Wirkung denjenigen energischen Grad, der für eine durchgreifende Wirkung erforderlich ist, gar nicht erreicht. Ich möchte übrigens gleich bemerken, dass auch bei 606 dasselbe Verhalten beobachtet werden kann. Auch hier zu Anfang Steigerung gewisser Symptome, dann Ab- nahme; gelegentlich können auch durch 606 latente Herde aufgerüttelt werden und dadurch eine Reihe vorher nicht vorhandener Symptome auftreten (Pupillenstarre, Verlust derSehnenreflexe, Babinski, Krämpfe usw.). Ich gehe auf die günstigen Einwirkungen, die ich von 606 gesehen habe, beute noch nicht näher ein, weil die Beobachtungszeit noch zu kurz ist.

Der zweite Punkt, der mir für die spezifische Wirkung des Kalomels bei der Tabes zu sprechen scheint, ist der, dass die Wirkung meist nur eine Zeit lang anhält, dann treten in vielen Fällen die Erscheinungen wieder mehr hervor, weichen nun aber bei einer erneuten Kur wieder und in noch höherem Grade. Diese hartnäckigen Fälle, in denen ein und dasselbe Symptom immer wieder auftritt und erst Schritt für Schritt Terrain gewonnen wird, halte ich für recht beweisend. Stelle ich in bezug auf die Gesamtheit der Symptome und die Progressivität der Krankheit meine behandelten Fälleden nicht behandelten gegenüber, so kann ich nur sagen, dass erstere sich in der Mehrzahl dauernd gebessert haben oder doch bei langjähriger Beobachtung stationär geblieben sind, dass dagegen die nicht bebandelten Fälle fast alle eine erhebliche

122 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Verschlechterung, speziell eine starke Zunahme der Ataxie erkennen

lassen. Ein hemmender Einfluss der Therapie auf die fortschreitende Entwicklung des Prozesses muss also entschieden anerkannt werden.

Herr Schröder hat darauf hingewiesen, dass der tabische Prozess als ein einfach degenerativer im Gegensatz zu dem infiltrativen Gefäss- prozess der echten Lues stehe. Nun hat ja aber Herr Schröder selbst darauf hingewiesen, dass neben dem einfach degenerativen auch ein (tefässprozess nebenhergeht, die perivasculäre Infiltration mit Plasma- zellen und einzelnen Lymphocyten, und dass dieser Gefässprozess gerade zu Anfang besteht, noch ehe nennenswerte degenerative Veränderungen auffallen. Ob dieser Gefässprozess das Primäre ist und sekundär von ihm erst die Degeneration abhängen, ist wohl noch strittig. Alzheimer. der diese Frage für die Paralyse erörtert, kommt zu der Auffassung, dass der Gefässprozess und ein davon unabhängiger primärer degenera- tiver Prozess besteht. Jedenfalls ist aber nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen, dass dieser Gefässprozess eine Rolle in der Sympto- matologie der Tabes spielt, speziell lanzinierende Schmerzen und andere Reizerscheinungen können von einem solchen interstitiellen infiltrativen Prozess ganz gut abhängen, ebenso kann er durch Druck auf die be- nachbarten Nervenfasern reparable Ausfallssymptome hervorrufen. Und dass möglicherweise gerade auf diesen Prozess das Hg eine günstige Einwirkung ausübt, ist auch nicht als unmöglich zu bezeichnen. Beachtenswert erscheint mir auch, dass gerade dieser Gefässprozess gar nichts Systematisches hat, er findet sich nicht nur in den Hintersträngen, sondern im ganzen Mark, in den Seitensträngen, auch gelegentlich in den Vorderhörnern, im Kleinhirn usw. Im Zusammenhang hiermit ist daran zu erinnern, dass die Symptomatologie der Tabes nicht selten über das reine Hinterstrangsbild hinausgreift, ich erwähne nur Symptome von Seiten der Vorderhörner (Muskelatrophie, Augenmuskelläbhmungen, Blasen- lähmung) und von Seiten der Seitenstränge (Paralyse der Beine). Ich habe in meinen Tabesfällen gerade zu Anfang gar nicht selten von Seitenstrangsymptomen nur -+ Babinski gefunden, und zwar ist mir dabei aufgefallen, dass derselbe nicht immer konstant ist, sondern wechselt. Ich möchte in Parallele hierfür daran erinnern, dass wir auch bei der spinalen Kinderlähmung so häufig das Babinski’sche Symptom, und zwar variabel, antreffen, und dass wir auch hier anatemisch im Areal der Seitenstränge interstitielle Iymphocytäre Ansammlungen finden.

Die gelegentliche Beteiligung der Vorderhörner der Tabes ist ja allgemein bekannt, klinisch gibt sie sich in dem Auftreten von pro- gressiver Muskelatrophie zu erkennen, die sich für Tabes hinzugesellt. Es ist nun höchst interessant, dass man in neuerer Zeit mehr und mehr auch für die rein spinalprogressive Muskelatrophie eine syphilitische Aetiologie in Anspruch nimmt. In einem Teil der Fälle, die klinisch als reine Muskelatrophie anzusprechen sind, liegen ächt syphilitische Veränderungen an den Meningen mit Beteiligung der vorderen Wurzeln zugrunde, in einem anderen Teil aber fehlen solche typischen Verände- rungen an den Meningen und Wurzeln, und besteht ein degenerativer Prozess in den Vorderhörnern auch wieder mit Beteiligung der Gefässe (byaline Degeneration, perivasculäre Zellinfiltration). Zwischen den Fällen von echter Tabes mit Muskelatrophie einerseits und der reinen isolierten progressiven Muskelatrophie andererseits stehen Fälle, die be- sonders von Rose beschrieben sind, wo die Muskelatrophie überwiegt und nur vereinzelte tabische Symptome hinzutreten.

Ein letztes Wort über den interessanten Fall von kombinierter Strangerkrankung, den Herr Schröder demonstriert hat und dem er auch eine luetische Aetiologie zugeschrieben hat. Kombinierte Strang-

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erkraukung ist bei spinaler Lues nach m. E. nicht etwas so seltenes, meist stehen die Seitenstrangsymptome im Hintergrund, können aber auch gelegentlich sehr stark werden, wie ich das jüngst in einem Falle gesehen habe, der fast ganz geläbmt war. Was in allen diesen Fällen aber vorliegt, ist die + Lymphocytose, + Nonne bei negativem Wasser- mann. Im Schröder’schen Fall aber war, soviel ich höre, nur der Wassermann positiv. Der anatomische Befund ähnelt doch in der Haupt- sache den Rückenmarksveränderungen, wie sie besonders bei schwerer Anämie, bei Alkoholisten usw. von Lichtheim, Minnich, Nonne be- sehrieben sind. Dass Lues gelegentlich schwere Anämie macht, ist sicher. Ich möhhte hieran anschliessend noch darauf hinweisen, dass auch bei der echten syphilitischen Spinalparalyse in einer Reihe von Fällen kombinierte Strangerkrankung mit oder ohne fleckweise verstreute Herde beschrieben sind; in einem Teil gesellten sich dazu noch Verän- derungen an den Gefässen (Media- und Adventitiaverdiekungen).

Hr. Bonhoeffer: Was die von Herrn Neisser an mich gestellte Frage anlangt, wie man es sich im Hinblick auf die Schröder’schen Bilder vorzustellen hat, dass auch bei weit vorgeschrittener Paralyse noch Remissionen eintreten können, so ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Zellen und Fasern in gewissen Degenerationsstadien offenbar noch reparabel sind, dass auch manches substituierbar ist. Für manche Fälle scheint mir ein klinisch psychopathologisches Moment eine Rolle zu spielen. Insbesondere bei manchen mit Grössenkonfabulationen, Merk- fähigkeitsdefekt, einhergehenden und äusserlich nach dem Inhalt der Grössenideen oft recht dement aussebenden Fällen handelt es sich oflen- bar um keine einfachen Ausfallserscheinungen, sondern um psychische Zustandsbilder, die hinsichtlich der Restituierbarkeit den Dämmer- zuständen nahestehen. Gewiss aber wird bei Individuen, deren Hirn- rinde, wie in einzelnen Bildern des Herrn Schröder, so gut wie nichts mehr von Rindenstruktur zeigt, eine sozial in Betracht kommende Remission nicht mehr zu erwarten sein.

Ueber die Wirkung von Ehrlich 606 bei Paralyse habe ich mich absichtlich nicht, weder in positiver noch in negativer Hinsicht, ausge- sprochen, weil unsere Erfahrungen noch nicht ausreichend sind. Wir haben einige Fälle nach Einspritzung des Mittels unbeeinflusst weiter verlaufen sehen, zwei kamen auffallend schnell unter Entwicklung von Serien paralytischer Anfälle zum Exitus. Zwei gerade in allerletzter Zeit uns in die Hände gekommener Fälle ganz frischer paralytischer Erkrankung sind bis jetzt gleichfalls unbeeinflusst geblieben. Bei Hirn- lues haben wir zwei vorläufig recht gute Erfolge, bei Tabes keine wesent- lichen Besserungen gesehen. Aber ich betone ausdrücklich, dass unsere Erfahrungen keineswegs ausreichen zu einem therapeutischen Urteil bei Paralyse. Wenn durch meine Ausführungen ein Skeptizismus gegenüber dem neuen Mittel durchgeklungen bat, so galt er weniger dem Mittel selbst, als der Neigung, die therapeutischen Lueserfahrungen ohne weiteres auf die Paralyse zu übertragen. Ich wollte gerade hierin die Sonder- stellung der Paralyse betonen.

Ich halte für davon unabhängig die Frage, ob die Paralyse lediglich eine modifizierte Spirochätenerkrankung ist, oder ob ein zweites ätio- logisches Moment neben dem sypbilitischen Virus wirksam ist. Die Be- deutung des familiären Auftretens der metasyphilitischen Erkrankungen für die Frage einer neurotropen Modifikation des Syphilisgiftes ist, wie ich Herrn Neisser zugebe, nach wie vor sehr beachtenswert. Ich finde sogar, dass die metasyphilitischen Familienerkrankungen, wenn man danach sucht, gar nicht so selten sind.

Der erste Teil der Ausführungen des Herrn Förster stimmt mit meinen Erfahrungen überein. Wenn ich die Aussichtslosigkeit der Queck-

124 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

silbertherapie bei der Paralyse betont habe, so schliesst dies natürlich nicht aus, dass in speziellen Fällen, wenn die Differentialdiagnose zwischen der Paralyse und Lues zweifelhaft ist, eine Quecksilberkur zu versuchen ist. Ich halte es nur für nötig, darauf hinzuweisen, dass ein Erfolg mit Quecksilber bei der Paralyse eine Komplikation oder eine Fehldiagnose wahrscheinlich macht, und dass, wenn wir ein Heilmittel für die Paralyse suchen, nach unseren bisherigen Erfahrungen dieses auf anderen Wegen zu finden sein dürfte.

Bezüglich der Tabes hat Herr Förster, wie ich denken möchte, Herrn Schröder missverstanden. Dieser hat, wie ich ihn verstanden habe, lediglich betont, dass eine anatomische Heilung des tabischen Hinterstrangsprozesses von der spezifischen Behandlung nicht zu er- warten sei. Dass die Tabes in ihren Einzelsymptomen in manchen Fällen in hohem Maasse therapeutisch beeinflussbar ist, hat Herr Schröder nach den klinischen Erfahrungen gewiss nicht bestreiten wollen. Die Uebereinstimmung zwischen Tabes und Paralyse als meta- syphilitische Erkrankungen erstrecken sich, wie wir wissen, nicht auf Verlauf und Erkrankungsdauer. Es mag auch sein, dass echtluctische, Begleiterscheinungen bei der Tabes eine noch grössere Bedeutung haben als bei der Paralyse. Jedenfalls spielt die Beeinflussung von menin- gitischen Verdickungen, die Lösung von Wurzelumsehnürungen bei der therapeutischen Beeinflussung der Tabes eine wesentliche Rolle. Damit mögen auch die Erfolge bei Quecksilber, speziell Kalomel, zusammen- hängen. Es ist nicht gesagt, dass die Beeinflussung immer eine spe- zifische ist. Ob es sich um Beeinflussung der Plasmazellinfiltrate dabei handelt, scheint mir zweifelhaft, denn diese sind im Gehirn bei der Paralyse noch viel stärker entwickelt als beim tabischen Prozess und zeigen sich hier vom Queeksilber nicht beeinflussbar.

Was die von Herrn Förster erwähnte Auffassung der Franzosen von der progressiven Muskelatrophie als metasyphilitischer Erkrankung anlangt, so darf ich sie an die Demonstration des Herrn Vix zu Anfang des Jahres in dieser Gesellschaft erinnern, der als anatomischen Befund bei spinaler Muskelatrophie eine luetische, meningitische Narbenbildung nachweisen konnte, welche die vorderen Wurzeln abgeschnürt hatte, und der in einem Falle von Tabes kompliziert mit vorderen Wurzelerschei- nungen therapeutische Erfolge mit Quecksilbertherapie zeigen konnte. Es handelt sich bei diesen Fällen wohl um eine echte luetische, die vorderen Wurzeln einschnürende Meningitis und wohl nicht um eine metasyphilitische Erkrankung.

M. H.! Wenn ich noch einmal auf den Ausgangspunkt zurückgehen darf, so war der Grund, aus dem ich die progressive Paralyse zum Gegenstand meiner Ausführungen machte, vor allem in der Absicht ge- legen, zu vorsichtiger Beurteilung der Erfolge zu mahnen. Wenn unter dem faszinierenden Einfluss des neuen Mittels selbst Fachpsychiater dem Irrtum, Spontanremissionen als Heilerfolge anzusprechen, verfallen können, wie es Herrn Kollegen Alt in dem Falle des von ihm erwähnten Amts- richters gegangen ist, so liegt diese Gefahr bei dem Praktiker, der die Schwierigkeiten in Diagnose und Verlauf naturgemäss nicht so leicht übersehen kann, gewiss noch viel näher.

Hr. Klieneberger: Herr Bonhoeffer und Herr Schroeder haben in ihrem Vortrag über die Differentialdiagnose der progressiven Paralyse und der syphilitischen Erkrankungen des Zentralnervensystems wiederholt auf die Ergebnisse der Serodiagnostik und der cytologischen Betrachtung der Cerebrospinalflüssigkeit Bezug genommen. Ich bitte um Erlaubnis, mit einigen Worten auf diese Ergebnisse ein- gehen zu dürfen. Herr Bonhoeffer hat bereits darauf hingewiesen, dass die Erwartungen, die wir ursprünglich auf die Oytodiagnostik ge-

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setzt haben, nicht in dem weiten Maasse, wie wir hofften, erfüllt wurden, und dass es uns später mit der Serodiagnostik ähnlich erging. Diese Untersuchungsmethoden, die unsere Diagnostik zweifellos einen grossen Sehritt vorwärts brachten, tragen ihren Hauptwert nicht in sich, sondern sie gewinnen ihre Bedeutung erst in Beziehung untereinander und in ihrer Verbindung mit der klinischen Betrachtung.

Zunächst hat sich gezeigt unsere Untersuchungen stützen sich auf ein Material von über 500 Krankheitsfällen —, dass eine Zellver- mehrung in der Cerebrospinalflüssigkeit bei den verschiedensten Erkrankungen des Zentralnervensystems vorkommen kann, unabhängig davon, ob es sich um einen syphilitischen, metasyphilitischen oder ganz andersartigen Prozess handelt. Es muss aber hervorgehoben werden, dass wir bei sicherer Paralyse und Tabes Zellvermehruug niemals ver- misst haben, während 'diese bei allen anderen Erkrankungen, auch bei der spinalen und cerebrospinalen Lues fehlen kann, und dass gerade bei den metasyphilitischen Erkrankungen die Zellvermehrung sehr häufig eine sehr beträchtliche ist. Es spricht aber nach unseren Erfahrungen ein normales cytologisches Verhalten der Cerebrospinalflüssigkeit gegen Paralyse und Tabes, eine erbebliche Pleoeytose ist im Zweifelsfall mehr für die Diagnose einer metasyphilitischen Erkrankung zu verwerten.

Es hat sich ferner gezeigt, dass auch der Eiweissgehalt der Cerebrospinalflüssigkeit bei den verschiedenartigen Erkrankungen des Zentralnervensystems erhöht sein kann, unabhängig von der Natur des Leidens und unabhängig von dem Zellgehalt.

Auch das gemeinsame Vorkommen von Eiweiss- und Zell- vermehrung, das eine Zeitlang als charakteristisch für metasypbilitische Erkrankungen angesprochen wurde, hat diese Bedeutung nicht behauptet. Es fand sich nämlich diese Kombination bei der spinalen und cerebro- spinalen Lues, ferner bei Tumoren des Gehirns und Rückenmarks, bei cerebrospinaler Cysticerkose, Gehirnapoplexie, Meningitis und Meningo- myelitis u. a., andererseits war bei einem Teil unserer Fälle von meta syphilitischen Erkrankungen der Eiweissgehalt normal oder war nur mässig erhöht. Es scheint, als ob gerade eine geringe und mittlere Eiweissvermehrung gemeinsam mit starker Pleocytose bei Paralyse und Tabes besonders häufig ist.

Ueber die Ergebnisse der Serodiagnostik an unserer Klinik hat vor etwa 3 Jahren Herr Stertz an dieser Stelle berichtet. Ich möchte auf die damaligen Ausführungen nicht mehr eingehen und Ihnen nur kurz die Resultate einer Zusammenstellung mitteilen, die ich im April d.J. abschloss, und die sich über die voraufgegangenen 11/, Jahre erstreckt. Ich möchte vorausschicken, dass wir in dieser Zeit nur mit wässrigem Extrakte gearbeitet haben.

Wir untersuchten in dem angegebenen Zeitabschnitt 73 Fälle von klinisch sicherer Paralyse. In 60 Fällen wurde das Blutserum, in 70 die Spinalflüssigkeit untersucht. Das Blutserum war in allen untersuchten Fällen positiv, der Liquor in 69 Fällen positiv, in einem Fall auch bei wiederholter Untersuchung negativ.

Des weiteren wurde in 24 Fällen von Tabes dorsalis die Wasser- mann’sche Reaktion angestellt. Das Blutserum wurde in 22 Fällen untersucht und zeigte in allen diesen Fällen positive Reaktion, der Liquor wurde gleichfalls in 22 Fällen untersucht und ergab in 12 Fällen positive, in 10 Fällen negative Reaktion.

Von spinaler und cerebrospinaler Lues kamen 36 Fälle in unsere Beobachtung. Das Blutserum, das in 29 Fällen untersucht wurde, reagierte in 22 Fällen positiv, in 7 Fällen negativ. Die Cerebrospinal- flüssigkeit wurde in 31 Fällen untersucht und verhielt sich Tmal positiv, 24 mal negativ.

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Schliesslich wurden 140 Fälle der verschiedenartigsten nicht luetischen Erkrankungen des Zentralnervensystems untersucht, teils, weil eine voraufgegangene Infektion sicher oder wahrscheinlich war, teils aus differentialdiagnostischen und therapeutischen Erwägungen. In einem Fall fand sich positive Blut- und Liquorreaktion bei einer katatonischen Kranken, bei der die klinische Beobachtung während zweier Jahre keine Anhaltspunkte für das Vorliegen einer syphilitischen oder metasyphiliti- schen Erkrankung des Zentralnervensystems ergeben hat. In 22 Fällen reagierte das Blutserum positiv; in 21 dieser Fälle war die Infektion sicher oder wahrscheinlich, ohne dass sich aber syphilitische oder meta- syphilitische Prozesse im Zentralnervensystem abspielten; nur in einem Fall, bei einem Kinde mit basalem Hirntumor, machten weder die anamnestischen Erhebungen noch die autoptische Betrachtung eine luetische Infektion wahrscheinlich. Bei allen anderen Kranken fiel die Reaktion negativ aus.

Es erhellt aus unseren Untersuchungen, dass die positive Blut- reaktion bei Paralyse und Tabes die Regel ist, dass sie bei Lues spinalis und cerebrospinalis fehlen kann, und dass der Liquor sich bei Paralyse meist, bei Tabes sehr häufig, bei spinaler und cerebrospinaler Lues selten positiv verhält.

Ich muss aber hinzufügen, dass nach Abschluss meiner Zusammen- stellung noch ein zweiter, auch autolytisch bestätigter Fall von Para- lyse in unsere Beobachtung kam, in dem der Liquor negativ reagierte, sowie ein Fall klinisch sicherer Paralyse, in dem Blut und Liquor sich negativ verhielt, ein Vorkommen, das uns früher schon einmal begegnet ist. Auch bei einem klinisch sicheren Tabiker fanden wir kürzlich negative Reaktion in Blutserum und Liquor. Ferner haben wir den Wechsel zwischen positiver und negativer Reaktion bei einem und dem- selben Kranken wiederholt zu beobachten Gelegenheit gehabt. Wir wissen keine befriedigende Erklärung für dies Verhalten. Wir müssen daraus entnehmen, dass der negative Ausfall der Wassermann ’schen Reaktion zumal bei einmaliger Untersuchung weder die Syphilis ‚les Zentralnervensystems noch die Paralyse und Tabes ausschliesst, ebensowenig wie der positive Ausfall der Reaktion für das Vorliegen einer syphilitischen oder metasyphilitischen Erkrankung des Zentral- nervensystems beweisend ist, um so mehr als es sich ja hier stets um Kombination eines Nervenleidens nicht luetischer Natur mit einer mani- festen oder latenten Lues handeln kann. Irrtümer sind nach der einen wie nach der anderen Seite hin möglich. Vermeiden oder verringern können wir diese nur durch eingehende klinische Betrachtung; dabei aber ist uns die Cyto- und Serodiagnostik ein wertvolles Hilfsmittes, sie ist imstande, die klinische Diagnose zu stützen oder in Zweifel zu ziehen, in manchen Fällen kann sie von ausschlaggebender Bedeutung sein, und so trägt sie vor allem dazu bei, die klinische Betrachtung zu vertiefen.

Sitzung vom 16. Dezember 1910.

Vorsitzender: Herr Ponfick. Schriftführer: Herr A. Neisser.

Hr. Tietze: Studien über Epithelwachstum.

Redner gibt an der Hand zahlreicher Lichtbilder ein Referat über eine Reihe seiner histologischen Arbeiten, die, aus verschiedenen An- lässen entstanden, als gemeinsames Resultat gewisse Aufschlüsse über das Wesen der Carcinomzelle ergeben haben. Wenn auch ein Teil dieser Arbeiten bereits publiziert ist, so bittet er doch um die Er- laubnis, diese Zusammenfassung hier vorlegen zu dürfen, weil er den

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jetzigen Augenblick, in welchem sich eine intensive Forschung mit Immunisierungsfragen auch auf dem Gebiete der Careinomerkrankung beschäftigt, für besonders wichtig und geeignet erachtet, noch einmal über die Bedeutung und Entstehung des Careinoms nachzudenken. Man sollte meinen, dass alle Immunisierungsbestrebungen auf höchst schwachen Füssen ruhen, solange über das Wesen der Erkrankung, gegen welche immunisiert werden soll, so ausserordentlich wenig bekannt ist. Die ersten Untersuchungen des Redners gingen von rein praktischen Gesichts- punkten aus. Braun und Bennet hatten vor etwa 10 Jahren un- abhängig voneinander den Rat gegeben, bei Ulceus ventrieuli perforatum die Naht durch ein aufgepflanztes Netz zu verstärken, bzw. das Loch durch einen Netzzipfel zu plombieren. Redner hat den Vorgang der Einheilung des Netzes im Tierexperiment studiert und dabei gefunden, dass neben anderen Vorgängen, die in einer ausführlichen Arbeit in Bruns’ Beiträgen beschrieben wurden, vor allen Dingen eine höchst interessante Epithelisierung des eingepflanzten Netztampons sich voll- zieht. Das benachbarte Magenepithel kriecht von den Rändern zunächst in einfacher Lage von Cylinderzellen über das granulierende Netz hinweg, bald aber sieht man kleine Falten, kleine Erhebungen im Epithelbelag, in die, wie Redner aunimmt, sekundär Bindegewebe aus dem Netz ein- sprosst; an anderen Stellen erscheinen Drüsenquerschnitte dicht unter dem Epithelsaum, aber in das Netz hineingetrieben; und ist der ganze Prozess beendet, so sind diese drüsigen Bildungen zahlreicher geworden, und auf dem Netz erheben sich eine Reihe von Zotten, so dass im ganzen das Bild einer Magenschleimhaut, allerdings in verzerrten Zügen, wiederhergestellt ist. Besonders interessant war, dass an einer Stelle offenbar Magenepithel durch einen Seidenfaden bei der Naht in die Tiefe geschleppt worden war. Aus diesen Findlingen hatten sich auch wieder in der Nähe des Fadens eine Reihe drüsiger Schläuche entwickelt.

Redner sieht in diesen scheinbar einfachen Verhältnissen Tatsachen von fundamentaler Bedeutung. Sie beweisen, dass die normale, gesunde Epitbelzelle immer das Bestreben bat, auch in postembryonalen Ent- wicklungsphasen sich in den Verbänden wieder aufzubauen, die im Embryonalleben ihr Gesetz waren; sie behält die Gesetze und Richt- linien ihres Wachstums bei und weiss sie auch unter ungünstigen Ver- hältnissen, wie hier bei der Verpflanzung auf ein ihr fremdes Medium, wieder durchzusetzen.

Wenn daher, wie bei dem Careinom, Bildungen erscheinen, die in ihrem Aufbau der normalen Wachstumsrichtung der Epithelzelle fremd sind, so heisst das, dass die formierenden Zellen vollkommen entartet, dass sie Wesen geworden sind, die sich in ihrer ganzen Art, in ihren gesamten Lebensäusserungen vollkommen von der normalen Zelle unter- scheiden, sie sind eine vollkommene Abart geworden.

Will man nun die Gesetze des Epithelwachstums genau studieren, so müsste man, um aus der ursprünglichsten Quelle zu schöpfen, embryo- logische Studien treiben, doch gewähren auch Drüsen, die sich erst nach der Geburt allmählich zu ihrer vollen Reife entwickeln, gute Beispiele, so u. a. die Prostata, wie Redner an der Hand von Projektionsbildern erläutert. Man findet hierbei zwei Typen des sich vermehrenden Epithels, auf der einen Seite mächtige, alveolär angeordnete, von straffer Kapsel umgebene Zellhaufen, auf der anderen vielfach sich streekende und ver- ästelnde, papillär ausgezogene Drüsenschläuche, einen Typus, welcher all- mäblich der vorherrschende wird, während in jugendlichen Drüsen noch beide Formen dicht nebeneinander bestehen können.

Es ist nun sehr interessant, dass auch bei krankhaften Prozessen, welche eine Proliferation des Epithels zustandebringen, die Epithel- vermehrung sich in Anlehnung an diese normalen Typen vollzieht, dass

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aber auch in der Wachstumsrichtung des Epithels um so mehr eine Ab- artung eintritt, je mehr sich auch klinisch die Erkrankung als ein dem Körper schädlicher und fremdartiger Prozess erweist. Der innere Zu- sammenhang ist allerdings vielleicht eher der, dass das Ursprüngliche die Abartung der Zelle ist, die ihrerseits durch eine perverse Secretion den Bestand des Organismus schädigt.

Redner sucht dies an der Hand von Projektionsbildern zu erweisen, welche einer früberen Arbeit von ihm (Ueber Cystadenoma mammae und seine Beziehungen zum Careinom der Brustdrüse) entlehnt sind. Er legt auch hier wieder besonderen Nachdruck darauf, dass bei dem so- genannten Cystadenom der Mamma, das in nicht seltenen Fällen die Vorstufe eines Carcinoms bildet, gewissermaassen schrittweise eine Ab- artung der Zelle zu erkennen ist, und er macht besonders auf das Adenocarcinom aufmerksam, das gewissermaassen eine Zwischenstufe darstellt wie namentlich schön an den Drüsenmetastasen zu erkennen ist —, indem nämlich Stellen vorhanden sind, in denen die Zellen sich noch ganz nach Drüsentypus aneinanderreihen, während in anderen Stellen die plumpe Form des sogenannten Carcinoma simplex vor- herrschend geworden ist.

Wenn man nun in der Carcinomzelle eine vollkommen entartete Epithelzelle erkennt, so ist es interessant, den Ursachen dieser Degene- ration nachzuforschen.

Sehr nahe liegt es, an parasitäre Einflüsse zu denken, und in den unbegrenzten Wachstumsmöglichkeiten der Careinomzelle, in der schnellen und leichten Art der Metastasierung gewinnt dieser Glaube immer eine neue Stütze. Allerdings besitzt die Forschung nach dieser Richtung hin kein gesichertes Resultat. Redner hat geglaubt, diesem Problem näherzukommen durch das Studium der Coceidienleber, die man ja wohl als eine durch Epithelschmarotzer bedingte Erkrankung bezeichnen kann. Die Erkrankung ist ausgezeichnet durch eine sehr lebhafte Wucherung des Epithels, die sich ganz in den vom Cystadenoma mammae bekannten Formen vollzieht (Demonstration); aber ein Careinom hat tedner trotz sorgfältigsten Studiums dabei nicht gefunden. Seine Unter- suchungen waren also in diesem Sinne ergebnislos. Redner erinnert aber an die besonders durch Herrn Goebel’s Forschungen bekanntgewordenen Bilder des Bilharziacareinoms.

Eine zweite Hypothese bezieht sich auf den Einfluss der Seneszenz der Gewebe. Redner demonstriert eine Abbildung aus seiner Arbeit über die Epithelveränderungen in der senilen weiblichen Mamma. Eine entscheidende Klärung ist aber in dieser Frage nicht erfolgt. Endlich bespricht Redner den Einfluss bestimmter chemischer Reize, erinnert an den sogenannten Schornsteinfeger-, Paraffin- und Anilinkrebs und zeigt Bilder, die er durch Einspritzung von Sudanöl nach den Vorschriften von Fischer in das Ohr von Kaninchen erhalten hat. So ähnlich das histologische Bild dem Careinom ist, so ist doch kein Zweifel, dass damit ein echtes Careinom nicht erzeugt ist, denn es fehlt diesen Gebilden die Fähigkeit selbständiger Wucherung. Auch das würde dafür sprechen, dass bei der Careinomwucherung ein sich selbst fortzeugendes Agens tätig ist.

Redner ist sich bewusst, dass seine Studien nichts weiter als einige an sich gewiss’ sehr interessante Tatsachen berührt haben, dass sie aber einen Aufschluss über die Carcinomgenese in keiner Weise erbracht haben. Wir müssen eingestehen, dass uns das Wesen der Krebs- wucherung zurzeit ganz unbekannt ist. Will man aber, ausgerüstet mit noch so mangelhaften Kenntnissen, doch an das Problem einer Krebs- immunisierung herangehen, so verdienen diejenigen Versuche noch am ehesten Vertrauen, welche zum Zwecke der Immunisierung die kranke Zelle, die Krebszelle selbst verwenden.

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Diskussion.

Hr. Goebel bespricht die Art und Weise der Entstehung des Car- einoms auf entzündlich gereiztem Boden, speziell eingehend auf seine Studien über die ätiologische Bedeutung der Bilharziainfareierung der Blase und des Mastdarms für die hier beobachteten Careinome. Dieselben entstehen zum Teil als Carcinomata solida, deren Zellen ähnlich den Blasenepithelien sind, in Blasen, die durch lange Zeit hindurch mehr oder weniger chronisch entzündet gewesen sind. Niemals aber konnte ein direkter Uebergang von Blasenepithelien in Carcinomzellen nachge- wiesen werden, im Gegenteil, es fand sich stets eine scharfe Grenze (Demonstration). Besonders auffällig war die Entstehung von Cancroiden und von Schleimzellenkrebsen. In diesen Fällen fanden sich aber zu- gleich Veränderungen der Blasenmucosa im Sinne einer Leukoplakie, also einer epidermoidalen Metaplasie, oder (bei Schleimkrebs) einer Bil- dung von Cylinderzellenschläuchen, die ganz den Lieberkühn’schen Krypten der Darmschleimhaut glichen (entodermale Metaplasie). Es liessen sich gewiss für diese Metaplasien, besonders leicht eben für die Darmepithelmetaplasie, auch Keimverirrungen als Ursache annehmen. Das ist obne weiteres nicht auszuschliessen. Vortr. erinnert an die Be- funde in ekstropbierten Blasen (Enderlen u.a.), in denen es auch zur Bildung von Gallertkrebs kam. Ein Uebergang der metaplastisch ver- änderten Epithelien in Carcinomzellen liess sich aber auch nirgends nachweisen, im Gegenteil zeigten die letzteren stets scharfe Grenzen und immer noch Färbungs- und Gestaltunterschiede vom (metaplastisch veränderten) Schleimhautepithel.

Zwei Punkte sind noch besonders zu betonen: Erstens das Ent- stehen des Carcinoms unter dem Schleimhautepithel. Wenigstens liessen sich oft (Demonstration) deutliche Bilder eines Durchbruchs des Krebses durch das Epithel auffinden. Zweitens der mangelnde Nachweis des Uebergangs eines gutartigen Tumors in ein Careinom. Vortr. geht auf die gutartigen Tumoren der Blase bei Bilharziakrankheit noch weiter ein (Demonstration) und macht hier besonders auf die Epithelverände- rungen aufmerksam. Weiter erörtert-er den Begriff der Malignität eines Tumors, die Rolle tierischer Parasiten bei derselben (Barrel) und die Wirksamkeit etwaiger Toxine, die er bei Bilharziakrankheit glaubt negieren zu können. (Näheres siehe Zeitschr. f. Krebsforsch., Bd. 3, H. 3, und Careinom und mechanische Reize, Volkmaun’s Sammlung klin. Vorträge, Nr. 403, Neue Folge, Chirurgie, Nr. 110.)

Hr. Coenen: Zu dem Schlusswort des Herrn Tietze, dass die von diesem angenommene völlige biologische Differenz der Krebszelle und Epithelzelle die Möglichkeit einer Serumtherapie gebe, ist zu bemerken, dass dieses Ziel praktisch noch in weiter Ferne steht; bis jetzt ist mit dieser Art der Krebsbehandlung nichts erreicht. Eher hat man beim Sarkom nach Einspritzungen mit Coleyserum einen auffälligen Rückgang des Tumors gesehen, aber Dauerresultate sind auch hier noch nicht ge- zeitigt, und die Metastasen kamen doch. Die einzige Therapie, die über wirkliche definitive Heilresultate beim Krebs verfügt, ist die chirurgische Behandlung. Dies hat der um die Krebsforschung verdiente E. v. Leyden rückhaltlos anerkannt. Auf dem letzten Chirurgenkongress, Berlin 1910, zeigte sich der eben am 12. Dezember 1910 verstorbene Altmeister der deutschen Chirurgie, Franz König, noch einmal in seiner ganzen Grösse mit 8 einwandfreien Dauerheilungen nach Totalresection des Oberkiefers wegen mikroskopisch sichergestellten Careinoms. Die er- grauten Patienten waren bis zu 26 Jahren rezidivfrei geblieben, also sicher dauernd geheilt. Hieraus geht hervor, dass die Ausrottung des Krebses mit chirurgischen Mitteln möglich ist. Dieses muss zunächst unsere Richtschnur bleiben.

Schlesische Gesellsch. f. vaterl. Kultur, 1910. TI, I

selsisch üesellschall fi valerländische Aulr.

38. 1. Aptellang Jahresbericht. | Medizin. 1910. b. Hygienische Sektion. x Ka _ DENIED IE Er)

Sitzungen der hygienischen Sektion im Jahre 1910.

Sitzung vom 19. Januar 1910. Vorsitzender: Herr R. Pfeiffer.

Hr. B. Heymann:

Ueber den gegenwärtigen Stand der ätiologischen Trachomforschung. (Mit mikroskopischen Demonstrationen.)

(Der Vortrag erscheint unter dem Titel: „Ueber die Fundorte der

Prowazek’schen Körperchen“ im II. Teil.) Diskussion.

Hr. Uhthoff weist zunächst auf das Dankenswerte der mühsamen Heymann’schen Untersuchungen hin, welche zeigen, wie die Frage von der Bedeutung der Prowazek’schen Trachomkörperchen nur schrittweise und noch durch viel Arbeit gefördert werden muss. Er vermisst bei den Be- funden von sogenannten Trachomkörperchen bei den Bindehautentzündungen der Neugeborenen ohne Gonokokken in manchen Arbeiten nähere An- gaben über etwa sonst vorhandene Mikroorganismen, wie z. B. Pneumo- kokken, welche erfahrungsgemäss beim Neugeborenen auch sehr heftige Konjunktivitisformen hervorrufen können, die sogar in den ersten Tagen eine gewisse Aehnlichkeit mit der eigentlichen Conjunetivitis blennorrhoica der Neugeborenen haben können. Uhthoff geht sodann auf die Ver- breitung des Trachoms in Schlesien näher ein und findet, dass Schlesien bei Verteilung der Staatsmittel zur Trachombekämpfung zu wenig be- rücksichtigt worden ist. Zum Schluss gibt er noch einige Daten zur Geschichte des Trachoms.

Hr. Telke: Dem Herrn Geheimrat Uhthoff, welcher der Ansicht ist, dass das Trachom sich nicht nur auf den Kreis Gross-Wartenberg beschränkt, sondern in Schlesien auch noch anderwärts Verbreitung ge- funden hat, und dass demgemäss der Staat verpflichtet wäre, ent- sprechend grössere Aufwendungen für die Bekämpfung dieser Krankheit zu machen, möchte ich erwidern, dass ein grösserer, besondere Maass- nahmen der Bekämpfung erfordernder Herd der Körnerkrankheit (Granu- lose bzw. Trachom) bisher tatsächlich nur in dem genannten Kreise er- mittelt worden ist. Der Kreis Gross-Wartenberg, welcher an die südlichen Kreise der Provinz Posen mit vorwiegend polnischer Arbeiterbevölkerung grenzt und auch von der russisch-polnischen Grenze nicht weit entfernt liegt, ist von dort aus verseucht worden, wobei der stetige Verkehr und Wechsel der Arbeiter auch heute noch die Hauptrolle spielt. Die Be- kämpfung der Körnerkrankheit in der Provinz Posen hat notwendiger- weise ihre Fortsetzung im Kreise Gross-Wartenberg finden müssen, für den der Staat schon in den neunziger Jahren erhebliche Mittel zur Ver- fügung gestellt hat. Selbst jetzt, wo die Seuche in diesem Kreise schon eine erhebliche Abnahme gefunden hat, sind noch 5000 Mark in den

4

132 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Etat eingestellt worden, wozu von der Kreisverwaltung noch weitere 1000 Mark bewilligt wurden, welcher Gesamtbetrag zu einer wirksamen Bekämpfung völlig ausreicht.

dm übrigen sind ständige Herde der Körnerkrankheit wenigstens im Regierungsbezirk Breslau nicht bekannt geworden, wenigstens nicht seit 1901, seitdem ich in diesem Bezirke tätig bin. Die durch die Sachsen- gänger jahraus jahrein eingeschleppten Fälle werden meist schon an der Grenze rechtzeitig ermittelt; wo dies nicht geschehen ist und wo durch sie ausnahmsweise eine vorübergehende Verbreitung der Granulose im Inlande bewirkt worden ist, haben die örtlichen Bekämpfungsmaassregeln ausgereicht, so dass es der Staatshilfe nicht bedurft hat.

Hr. S. Wolffberg ist nach den hiesigen Erfahrungen davon über- zeugt, dass das Trachom in der Stadt Breslau nur sehr wenig verbreitet ist; unter den Volksschülern scheine es höchstens in ganz vereinzelten Fällen vorzukommen.

Hr. Uhthoff betont, dass auch nach seiner Ueberzeugung das Trachom speziell in Breslau im Laufe der Jahre seltener geworden ist, doch glaubt er nicht, dass Schuluntersuchungen allein bier einen richtigen Einblick gewähren.

Hr. Pfeiffer hebt hervor, dass in den Ausführungen Heymann’s das seltene Vorkommen des 'Trachoms in Breslau nur insoweit eine Rolle spielt, als Heymann einen Gegensatz konstatiert hat zwischen diesem seltenen Auftreten des Trachoms und der offenbar grossen Verbreitung von Säuglingsblennorrköen mit Prowazek’schen Einschlüssen. Dieser Gegensatz sei zweifellos vorhanden und spreche keineswegs zugunsten einer Identität der Einschlusskörperchen bei beiden Affektionen.

Sitzung vom 24. Februar 1910. Vorsitzender: Herr R. Pfeiffer.

Hr. W. Oettinger: Ueber den Nachweis des Bacterium coli im Trinkwasser. (Mit Demonstration eines Apparates.)

Der Vortr. bespricht kurz die Wandlungen, die die Beurteilung der Ergebnisse bakteriologischer Wasseruntersuchungen im- Laufe der Zeit erfahren hat, wobei er ausführlicher auf die neuerdings mehr in den Vordergrund tretende und in ihrer Bedeutung noch scharf umstrittene Untersuchung des Wassers auf Bacterium coli eingeht. Er betont, dass bei dieser Methode nur quantitative Resultate verwertet werden können, dass aber unsere bisherigen Verfahren zur Züchtung des Bacterium coli aus Wasser nur höchst unsichere quantitative Resultate geben. Einen wesentlichen Fortschritt bedeutet daher ein im hygieni- schen Institut zu Göttingen konstruierter und von Marmann im Zentral- blatt für Bakteriologie 1909 beschriebener Apparat. Die Hauptschwierig- keit, die darin besteht, dass die Züchtung auf festem Nährboden mit der Verarbeitung grösserer Wassermengen vereinigt werden muss, ist hier dadurch überwunden, dass auf Endoplatten grössere Wassermengen (10 ccm) durch Darüberleiten eines erwärmten Luftstromes ziemlich rasch (in einer halben bis einer Stunde) zum Verdunsten gebracht werden. (Demonstration eines nach diesem Prinzip eingerichteten Apparates und der damit gewonnenen Platten.)

Vortr. hofft, dass namentlich die bakteriologische Kontrolle von Sandfilteranlagen von dieser Methode Nutzen haben werde, und dass es gelingen werde, mit ihrer Hilfe eine brauchbare bakteriologische Filter- kontrolle zu erhalten. Auch dann allerdings wird man die Versorgung

I. Abteilung. Hygienische Sektion. - 133

von Breslau mit filtriertem Oderwasser nur als bedauerlichen Notbehelf auflassen dürfen.

Diskussion. Hr. Pfeiffer betont, dass die Sandfilter des Bres- lauer Wasserwerkes zurzeit einwandfrei arbeiten, und dass das filtrierte Wasser jetzt keinen Anlass zu Besorgnissen gibt.

2. Hr. Heymann: Weitere Mitteilungen zur Trachomfrage. (Mit Demonstration von Prä- paraten von infizierten Affen.) Der Vortrag ist in dem Originalartikel „Ueber die Fundorte der Prowazek’schen Körperchen“ im II. Teil enthalten.

Setlesische Gesellschaft für valrländische Kultur.

s8. I. Abteilung. Jahresbericht. Medizin. 1910. a. Medizinische Sektion. x a ee ara Ne ee ae

Vorträge der medizinischen Sektion im Jahre 1910.

T: Augenverletzung durch „Rasillit‘“.

Von

Dr. Court Cohen, Augenarzt in Breslau.

Folgender Fall, den ich in meiner Praxis kürzlich zu beob- achten Gelegenheit hatte, gibt mir im Interesse der öffent- lichen Gesundheitspflege Anlass zur sofortigen Mitteilung.

Patient, ein 2Sjähriger Herr, war wegen einer leichteren Pneumonie seit S Tagen bettlägerig und hatte den Wunsch, sich seines ihm während des Krankseins gewachsenen Backenbartes zu entledigen. Um die Prozedur des Rasierens wegen der Bett- lage besonders einfach zu gestalten, bediente er sich des „Rasillits“ Es ist dies ein neuerdings in den Handel gekommenes Pulver, welches, zu einem Brei angerührt, auf die Barthaare aufgetragen wird und diese ohne Zuhilfenahme eines Messers innerhalb 2 bis 3 Minuten bhinwegtilgt. Beim Auftragen der Masse passierte meinem Patienten das Versehen, dass ihm etwa eine halbe Messer- spitze von der Masse in das linke Auge spritzte. Das Auge entzündete sich sofort unter heftigen Schmerzen und schwoll er- heblich an. Da geeignete Pflege vorhanden war, wurde der Bindehautsack des verletzten Auges sofort von dem eingedrungenen Brei befreit und gründlich ansgewaschen, worauf die Schmerzen nachliessen. Als ich 12 Stunden später Patienten sah, erhob ich folgenden Befund: Linkes Auge zeigt mässige Schwellung der Lider. Die Lidränder sind mit Sekretbrocken bedeckt, die Lid- bindehaut ist diffus gerötet und geschwollen, die Augapfelbinde- haut zeigt besonders in der unteren Hälfte pralle Gefässfüllung in entzündlichem Reizzustande. Das Hornhautrandschlingennetz ist in mässigem Grade injiziert. Hornhaut intakt, Medien klar. Fremdkörperreste waren im Bindehautsacke nicht mehr auffindbar. Unter Auswachungen und Umschlägen heilte die Entzündung bis auf leichte Rötung innerhalb S Tagen ab, ohne eine Sehstörung zu verursachen.

Es handelte sich demach um eine artifizielle Conjunetivitis, die wegen ihres stürmischen Einsetzens und wegen der sie aus- zeichnenden eiliaren Injektion durchaus ernsthaft aufzufassen war.

Sehlesische Gesellsch. f. vaterl. Kultur, 1910. 1

2 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Ich liess es mir deshalb angelegen sein, durch den Tier- versuch die Aggressivität des von meinem Patienten verwandten Rasierpulvers „Rasillit“ für das Auge festzustellen.

T. Ich benutzte ein gesundes Kaninchen. In dessen rechten Bindehautsack brachte ich eine halbe Messerspitze von „Rasillit“ in breiförmig angerührtem, räsierfertigen Zustande, in den linken das gleiche Quantum des trockenen, der ÖOriginalbüchse ent- nommenen Pulvers.

Beide Augen reagierten sofort mit heftigem entzündlichen Reizzustand und schwollen rasch an. Das Tier wurde darauf sich selbst überlassen. Nach Verlauf von 24 Stunden stellte ich nach Auswaschen beider Augen fest:

Rechts hochgradige pralle Schwellung der Lider. Mässig starke Chemose der Conjunetiven. Augapfel etwas protundiert. Die Conjunetiven zeigen starke Rötung und grosse Verätzungs- effekte mit nekrotischen Partien. Die Cornea ist matt, in toto weiss getrübt, die oberflächlichen Schichten sind nekrotisch, rauh. Tension normal.

Links etwa das gleiche Bild wie rechts, nur eine kleine Stelle unten aussen auf der Cornea ist ungetrübt geblieben, aber glanzlos

Beide Augen zeigten also im wesentlichen das gleiche Bild, wie man es bei schwerer Kalkverätzung zu finden gewohnt ist.

II. Darauf untersuchte ich noch an einem zweiten gesunden Kaninchen die Schnelligkeit, mit der das „Rasillit“ imstande ist, deletäre Wirkungen am Auge auszulösen. Ich brachte zu diesem Zwecke dem Kaninchen eine kleine Dosis angerührtes „Rasillit“ in den Bindehautsack. Bereits nach 3 Minuten wusch ich die Masse wieder aus. Das Auge wies schon eine hochgradige Entzündung der Bindehaut mit überaus starker Öhemose und ciliarer Injektion auf. Die Cornea war in toto matt, glanzloss und hauchig getrübt.

Der Verlauf war ad I, allmähliches Abklingen der Rut- zündung innerhalb von 8 Tagen. Die Corneae blieben undurch- sichtig, weiss getrübt mit narbiger Degeneration. Ad II bildete - sich ebenfalls die Entzündung und Chemose langsam zurück. Die Cornea behält eine leichte Mattigkeit und zarte Trübung und eine narbige Veränderung am unteren Limbus.

Aus den Tierversuchen geht hervor:

1. Das „Rasillit“ ist für das Auge ein höchst gefährlicher, aggressiver Körper. Es verursacht bei längerem Verbleiben im Bindehautsacke Nekrosen der Bindehaut und Hornhaut und führt durch narbige Degeneration der Hornhaut zu völliger und dauernder Erblindung.

2. Diese deletären Folgen zieht das Eindringen von „Rasillit“ sowohl im trockenen, pulverförmigen (im Handel geführten) Zu- stande als auch im breiartig angerührten (rasierfertigen) Zustande nach sich.

3. Bei ganz kurzdauerndem Verbleiben des „Rasillit“ im Bindehautsacke (3 Minuten!) tritt bereits eine stürmische Binde- hautentzündung und Trübung der Hornhaut auf.

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 3

Vergegenwärtigt man sich gegenüber diesen Ergebnissen den relativ gutartigen Verlauf, den die durch das „Rasillit“ ausgelöste Augenerkrankung bei meinem Patienten genommen hat, so muss man berücksichtigen, dass bei diesem infolge einer für den Fall günstigen Lage deı äusseren Umstände die eingedrungene Masse unmittelbar nach dem Hineinfliegen gründlich ausgewaschen wurde. Man ist durchaus berechtigt anzunehmen, dass Patient es lediglich dem so- fortigen Eingreifen seiner anwesenden Pflegerin zu verdanken hat, dass sein verletztes Auge vor schwerem und dauerndem Schaden bewahrt blieb. Denn, wie wir gesehen haben, birgt das „Rasillit“ beim Eindringen in das Auge Gefahr im Verzuge.

Die verätzende Wirkung des „Rasillit‘“ auf das Auge, die in allen wesentlichen Zügen der Kalkverätzung gleicht, erklärt sich aus seiner chemischen Zusammensetzung:

Die von einem vereidigten Chemiker angestellte Analyse des „Rasillits“ ergibt stark alkalische Reaktion und als Hauptbestandteile Schwefel, Kalk und Magnesia. Es erübrigt sich demnach etwas über die Gefährlichkeit des Produktes für das Auge hinzuzufügen. Abgesehen davon, dass der Kalk zu den gefährlichsten industriellen Schädlingen des menschlichen Auges gehört, ist hervorzuheben, dass sich gerade die Körper mit alkalischer Reaktion durch besondere Aggressivität gegen- über tierischen Geweben auszeichnen.

Wenn nun auch das „Rasillit‘“ kein Mittel zur Benutzung für das Auge ist, so muss man doch bedenken, dass es als Rasierpaste in das Gesicht und in die nächste Nachbarschaft der Augen gebracht wird, und dass bei den Manipulationen seiner An- wendung immer leicht etwas von der Masse ins Auge spritzen kann, wie das auch meinem Patienten passiert ist.

1.

Die Behandlung der Prostatahypertrophie.

Nach eigenen Beobachtungen. Von

Dr. Willi Hirt-Breslau.

M. H.! Der kurze Bericht, den ich mir erlauben will, Ihnen über die Behandlung der Prostatahypertrophie zu geben, basiert auf den Erfahrungen, die ich bei 75 Fällen meiner Privat- praxis aus den letzten Jahren gemacht habe.

Zuvor will ich ganz kurz die Art der Erkrankung, um die es sich handelt, an einigen pathologisch-anatomischen und an einigen mikroskopischen Präparaten erläutern.

Die Vergrösserung der Prostata betrifft entweder die ganze Drüse oder einzelne Teile derselben, den Mittellappen oder die Seitenlappen.

Die Vergrösserung der Seitenlappen weist man vom Mast- darm aus nach, wo ein deutlicher, vorspringender Tumor fühlbar ist; die Hypertrophie des Mittellappens erstreckt sich meistens nach dem Blasenhohlraum hin und wird im Cystoskop erkannt. Aus der Behinderung, die der Katheter beim Einführen erfährt, kann man nicht mit Sicherheit auf die Art der Vergrösserung schliessen. Die Vergrösserung der Drüse erreicht trotz ihres an und für sich gutartigen Charakters manchmal sehr erhebliche Grade, so dass die ganze Blase vom Tumor ausgefüllt ist. (Demonstration.

Mikroskopisch stellt sich die Wucherung dar als Hyver- trophie des Epithels oder des fivromuskulären Bindegewebes oder als aus beiden kombinierte Form. Häufig trägt zur Vergrösserung der Drüse das Auftreten von Retentionscysten bei, die teils mit gallertigen Massen, teils mit amyloid geschichteten Prostata- konkretionen angefüllt sind. (Demonstration.)

Klinisch unterscheiden wir drei Stadien: das Reizstadium, mit vermehrtem, namentlich nächtlichem Harndrang, das der in- kompletten und das der kompletten Retention mit Ueber- dehnung der Blase. Häufig jedoch wird die allmähliche Entwick- lung der Krankheit unterbrochen durch Zwischenfälle, die vor

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 5

allem ärztliche Hilfe erfordern, vor allem die akute Harnver- haltung und die Hämaturie.

Wodurch die akute Retention eigentlich hervorgerufen wird, ist oft rätselhaft. Wir nennen den Vorgang Kongestion, und dass tatsächlich die Harnorgane vor Blut strotzen, sieht man an der dauernd geschwellten, halberigierten Glans penis. Wie aber diese Kongestion oft in ganz kurzer Zeit zustande kommt, wissen wir nicht; ebensowenig, wieso sie sich oft plötzlich wieder verliert. Von meinen 75 Patienten kamen 19 im Zustande der akuten Retention in meine Behandlung, mehrere von ihnen zu wieder- holten Malen.

Ich katheterisiere diese akuten Fälle stets mit dünnen, glatten, wohleingefetteten, seidenen oder halbseidenen Kathetern, am besten Porges No. 12 oder 13 mit Mercierkrümmung.

Bei stark verengter prostatischer Harnröhre, wie sie hier meist vorliegt, gehen Nelatons, die sonst sehr beliebt sind, wegen zu grossen Widerstandes nicht hinein, dicke seidene Katheter finden ebenfalls eine zu beengte Passage, Metallkatheter sind in nicht sehr geübter Hand gefährlich und kommen erst im Notfalle an die Reihe, wenn die Seidenkatheter versagen, was aber nur sehr selten der Fall ist. Dann sind am besten dicke Metall- katheter von gewöhnlicher Krümmmung, Metallkatheter mit Benigquekrümmung benütze ich fast niemals. Beim Metallkatheter kommt die alte Vorschrift in Betracht, sich an die obere Wand der Urethra zu halten. Die Hauptgefahr, die Prostata zu durch- bohren, besteht in dem Moment, wo der Katheter gesenkt wird, oft hilft man sich hierbei durch gleichzeitige Rektalpalpation. Die verschiedenen Hand- und Kunstgriffe bei erschwertem Kathete- rismus, die in den Lehrbüchern stehen, kann ich hier nicht be- sprechen, in seltenen Fällen habe ich Cocain oder Adrenalin in die Urethra gespritzt, meist ohne Erfolg, die Kongestion wird wenig dadurch beeinflusst.

Gelingt bei akuter Retention der Katheterismus nicht, so muss die Blasenpunktion gemacht werden, am besten mit einem mittelstarken Troicart, durch den ein Dauerkatheter in die Blase eingeführt und befestigt wird.

ös ist mir bis auf zwei Fälle bisher stets gelungen, den Katheter einzuführen, der eine Fall ging in andere Hände über, bei dem anderen legte ich nach Punktion eine Fistel an, die nach vier Wochen verheilte.

Oft geht nach ein- oder mehrmaligem Katheterismus die Kongestion zurück, die spontane Miktion beginnt wieder, monate- oft jahrelang hat der Patient wieder verhältnismässige Ruhe. Aus diesem Grunde soll man meiner Ansicht nach bei akuter Retention abwartend konservativ behandeln und grössere operative Eingriffe nach Möglichkeit vermeiden.

Der zweite Zwischenfall ist die Hämaturie. Manchmal kommen nur wenige Tropfen am Ende der Miktion, manchmal profuse Blutungen, die den Katheter verstopfen.

Die Ursache der Hämaturie bei Prostatahypertrophie kann zweierlei Art sein; entweder ist es wieder allgemeine Kongestion,

6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

bei der es diffus aus dem Parenchym blutet, oder, wie ich direkt beobachtet habe, es blutet an ganz bestimmter Stelle aus einer oder mehreren Venen. Die erweiterten Venen werden beim Wachs- tum der Drüse immer mehr an die Oberfläche gedrängt und immer dünnwandiger, bis sie schliesslich bersten.

Die Therapie der Hämaturie besteht ausser der Verordnung von Styptica im Katheterismus, eventuell Dauerkatbeterismus mit heissen oder kalten Spülungen von Borsäure, Argentum nitricum oder Gelatine. Adrenalin wirkt meist nur für kurze Zeit. Ein- mal machte die Entleerung der Blase infolge der geronnenen Blutmassen grosse Schwierigkeit und war nur mit dem stärksten Evakuationskatheter möglich. .

Entwickelt sich die Prostatahypertrophie ohne diese Zwischen- fälle, so erfordert zunächst das Reizstadium mit seinem häufigen Harndrang eine Behandlung. Die beste ist meistens das Ein- führen von Sonden, erst dünneren elastischen, dann dicken metallenen.

Wodurch diese Sonden wirken, ist nicht ganz klar.

Vielleicht drängen sie die vergrösserten Lappen rein mecha- nisch auseinander; vielleicht wirken sie auf die durch Kongestion überempfindlich gewordene Schleimhaut, wie man zu sagen pflegt, abstumpfend. Manche vertragen die Sonden gar nicht, der Reiz wird stärker, es blutet jedesmal. Hier muss man sich auf heisse Sitzbäder, heisse Klystiere, häufige Bewegung im Zimmer be- schränken. Ichthyol- oder Jodzäpfehen oder Prostatamassage wirken wenig, einigemal sah ich vorübergehend Erfolg von Anusol- zäpfchen.

Ist es zur inkompletten oder kompletten Retention ge- kommen, so halte ich zunächst regelmässigen Katheterismus, ein- oder mehrmalig täglich, für angezeigt. Trotz aller Vorsicht hin- sichtlich der Asepsis entwickelt sich häufig Cystitis, die Spülungen erfordert, auch prophylaktisch sind Spülungen bei jedem häufigeren Katheterismus indiziert.

Wenn der Katheterismus schwierig ist, oder aus äusseren Gründen nicht mehrmals täglich ausgeführt werden kann, oder wenn ich den Versuch machen will, aus dem Stadium der unvoll- kommenen Entleerung wieder zur völligen Entleerung zurückzu- kommen, so wende ich den Dauerkatheter an. mittelstarken Nelaton oder Seidenkatheter. Intelligentere Patienten können trotz des Dauerkatheters aufbleiben. Die häufig entstehende Orchitis oder Epididymitis wird nach bekannten Grundsätzen be- handelt-

Das ist die rein konservative Behandlung, die ich in fast allen Fällen zunächst einleite. In der Mehrzahl der Fälle erreicht man damit einen befriedigenden oder wenigstens leidlichen Zu- stand. Unter den 75 Fällen glaube ich von 30 zu wissen, dass sie bei stetigem oder zeitweisem Katheterisieren sich erträglich wohl befinden. Von definitiven Heilungen kann man bei dem eminent chronischen und unberechenbaren Verlauf der Krankheit naturgemäss nicht reden, da jederzeit totale Retention, Cystitis oder Hämaturie eintreten kann.

I. Abteilang. Medizinische Sektion.

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Ist aus irgend einem Grunde eine Aenderung dieses Katheter- lebens erwünscht oder notwendig, so treten die operativen Maass- nahmen ein.

Hier will ich der Vollständigkeit halber zunächst die Be- strahlung der Drüse mit Röntgenstrahlen erwähnen, die eine Zeitlang empfohlen wurde. Ich habe sie in 2 Fällen vorgenommen, je 5 Minuten lang durch ein Mastdarmspeculum die Prostata direkt bestrahlt, ohne jeden Erfolg.

Die sexuellen Operationen zur Beseitigung der Prostata- hypertrophie bestehen in der Resektion der Vasa deferentia und in der Kastration. Durch trophische Vorgänge soll danach eine Ver- kleinerung oder wenigstens Abschwellnng der Drüse eintreten. Ich habe die Resektion der Vasa deferentia dreimal vorgenommen bei Fällen von andauernder inkompletter Retention, obne wesent- lichen dauernden Erfolg.

Trotzdem würde ich unter Umständen bei grossen weichen, stark kongestionierten Drüsen, wenn ein grösserer Eingriff nicht in Frage kommt, die Operation wieder versuchen, da ein Zu- sammenhang zwischen Hoden resp. Samenleiter und Prostata sicher besteht, und die Operation bei alten, sowieso zeugungs- unfähigen Leuten zum mindesten unschädlich ist.

Injektionen von Flüssigkeiten, wie Alkohol, Jodtinktur, Lugol’sche Lösung usw. in das Gewebe der Prostata habe ich nie vorgenommen. Die grosse Schmerzhaftigkeit, die akute Schwellung, die mangelnde Asepsis, die Gefahr der Embolie hat mich nie dazu greifen lassen.

Die Bottini’scheÖperation, die in der endovesikalen, galvano- kaustischen Durchtrennung der prominenten Prostatalappen besteht, habe ich 10 mal ausgeführt unter 75 Fällen. Es handelte sich stets um lange andauernde komplette oder unkomplette Retention. 2 Fälle habe ich 2 mal operiert, da nach anfänglichem Erfolge, d. h. Verminderung des Residualbarns auf höchstens 50 cem, nach Jahresfrist ein Rezidiv auftrat. Beide Fälle sind einige Monate nach der zweiten Operation an chronischer Urinintoxikation und Schrumpfniere gestorben. Einen völligen Erfolg, d. h. Beseitigung der objektiven Beschwerden und Verminderung des Residualharns auf höchstens 50 ccm habe ich seit 2 Jahren 2 mal erzielt, Besserung beider Symptome trat 3mal ein, ohne jeden Erfolg habe ich 3 mal operiert. Todesfälle im Anschluss an die Operation habe ich nicht erlebt, desgleichen keine der gefürchteten Nach- blutungen.

Die Bottini’sche Operation ist lediglich indiziert, wenn eystoskopisch ein grosser, breit aufsitzender, in die Blase vor- springender Mittellappen zu konstatieren ist. Die Operation ist wenig eingreifend, ungefährlich, erfordert nur etwa 8 Tage Klinik- aufenthalt, ist aber bezüglich des Erfolges durchaus unsicher. Ueber diese Unsicherheit ist Patient vorher unbedingt aufzuklären.

Wenn der Zustand des Patienten einen etwas grösseren Ein- griff irgendwie gestattet, so ist die Prostatektomie vorzu- nehmen, die perineale oder die suprapubische.

Die perineale ist indiziert, wenn vom Rektum aus ein grosser

f6) Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

deutlich vorspringender Tumor palpabel ist. Je grösser der Tumor, desto leichter die ‚Operation.

Bei kleineren Tumoren ist die Orientierung erschwert und die Gefahr der Mastdarmverletzung viel grösser als bei grossen Tumoren. Ich habe in meiner Privatpraxis die Operation 7 mal ausgeführt. Todesfälle habe ich keinen, Misserfolg habe ich einen, bei dem die Prostata verhältnismässig klein war. Hier ist erstens die Retention nicht völlig. behoben, so dass der Katheter nicht entbehrt werden kann, ausserdem besteht eine kleine Mastdarm- Harnröhrenfistel, so dass hin und wieder Flatus durch die Urethra abgehen. In den anderen Fällen habe ich einen vollen Erfolg erzielt, d.h. völligen Fortfall des Katheters, völliges Verschwinden des Residualharns und der Cystitis. Dieselben Symptome vor der Operation waren sehr schwer gewesen, besonders der letzte Fall hatte einen geradezu idealen Erfolg. Eine Zeitlang trat einmal nach der Operation unwillkürliches Harnträufeln ein, so dass ein Urinal getragen werden musste. Nach 8 Monaten war diese Störung verschwunden.

Ich halte die perineale Operation für überaus segensreich, die Beschwerden sind mit einem Schlage beseitigt und die Aus- sichten auf dauernden Erfolg sind sehr gute.

Weniger befriedigt bin ich von der suprapubischen Prostat- ektomie, die ich 3 mal, allerdings in der Poliklinik, ausgeführt habe. Todesfälle hatte ich nicht, aber auch keinen so völligen Erfolg wie bei der perinealen Prostatektomie.

Die suprapubische Operation ist ausschliesslich bei in die Blase vorspringendem Mittellappen, der cystoskopisch nachgewiesen ist, indiziert.

Die tief in die Urethra hinabreichenden Seitenlappen, die bei der perinealen Operation so leicht zu entfernen sind, lassen sich von oben nur sehr schwer exzidieren, die Blutung dabei ist sehr erheblich und schwer zu stillen, während von unten her leicht die Klemmen anzulegen sind und ohne Beschwerden 1—2 Tage liegen bleiben können.

Die suprapubisch Operierten verloren ihren Residualharn und ihre Öystitis nicht völlig, vermutlich, weil neben dem grossen Mittellappen, der entfernt wurde, Teile der Seitenlappen zurück- blieben, die die Miktion behinderten. Die Infektionsgefahr ist bei der suprapubischen Operation höher als bei der perinealen wegen der schlechteren Abflussverhältnisse.

Dies sind meine speziellen therapeutischen Erfahrungen und Ratschläge. Die allgemeine Therapie der Prostatahypertrophie, Diätvorschriften,. Regelung des Stuhlgangs, Bäder, Schutz vor Erkältungen sind allgemein bekannt. Das Hauptgewicht aber liegt in den meisten Fällen in der eben geschilderten lokalen Behandlung.

Thesen.

1. Das Reizstadium der Prostatahypertrophie behandle ich mit Einführung von Sonden, Sitzbädern, Moorbädern, heissen Klystieren, Diät.

2. Die chronische inkomplette und komplette Retention,

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 9

ebenso die akute totale Harnverhaltung und die Hämaturie be- handle ich zunächst mit aseptischem Katheterismus nebst Blasen- spülungen, bei länger dauernden und schwierigeren Fällen ver- suche ich den Dauerkatheter.

3. Ist Operation erwünscht oder notwendig, so ist die Reihenfolge der Eingriffe nach ihrer Schwere: Resektion der Vasa deferentia, Bottini’sche Operation, perineale, suprapubische Prostatektomie. Ebenso nach ihrer Aussicht auf Erfolg, doch gibt die perineale erheblich bessere Aussichten als die supra- pubische Operation.

4. Die Resektion der Vasa deferentia ist speziell indiziert bei allgemein vergrösserter weicher Drüse. Bottini und supra- pubische Prostatektomie bei in die Blase vorspringendem Mittel- lappen, perineale Prostatektomie bei nach dem Mastdarm hin ver- grösserten Seitenlappen.

II. Ueber tuberkulösen Gelenkrheumatismus.

Von

Dr. E. Melchior.

M. H.! Gestatten Sie mir, Ihre Aufmerksamkeit auf ein Krankheitsbild zu richten, das entschieden häufiger ist, als es nach der geringen Beachtung, die es zumal in Deutschland bisher erfahren hat, den Anschein haben könnte, dessen Kenntnis auch praktisch nicht ohne Wichtigkeit ist, nämlich den tuber- kulösen Gelenkrheumatismus.

M. H.! Es ist wohl einem jeden unter Ihnen gelegentlich ein Fall von multipler Gelenkentzündurg begegnet, bei dem die Diagnose ich möchte fast sagen faute de mieux auf Polyarthritis rheumatica gestellt wurde, obwohl einzelne Züge nicht ganz in das Bild des gewöhnlichen passten. Der Beginn war ein mehr subakuter, das Fieber nur gering, auch die Schmerzen nicht von der Heftigkeit wie bei der akuten polyrbeumatischen Attacke; es fehlte u. a. das charakteristische Schwitzen und die bekannte, namentlich in schweren Fällen häufig zu beobachtende erythematöse Rötung der Haut über den erkrankten Partien, sowie der sprungbafte Wechsel in dem Befallenwerden der einzelnen Gelenke.

Bestehen in derartigen Fällen somit von Anfang an leise Zweifel an der Richtigkeit der gestellten Diagnose, so ist nament- lich der weitere Verlauf dazu angetan, um diese Skepsis noch zu verstärken; der Gelenkprozess erweist sich als äusserst torpide, er trotzt allen Behandlungsversuchen, besonders der quasi spezifischen Salieyltherapie; wenn die Gelenkergüsse dann schliess- lich nach wochen- bis monatelangem Bestehen verschwinden, tritt nur in wenigen Fällen eine völlige Restitutio ad integrum ein; meist bleibt eine Versteifung in einem oder mehreren der be- fallenen Gelenke zurück; in nicht ganz seltenen Fällen kommt es zur Entwicklung eines echten tuberkulösen Fungus.

Die Individuen, die man an derartigen atypischen Gelenk- prozessen erkranken sieht, pflegen einer ganz bestimmten Klasse

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anzugehören; es handelt sich nämlich fast ausnahmslos um Personen, die entweder bereits an einer klinisch manifesten Organ- tuberkulose leiden oder doch wenigstens durch Habitus, Heredität oder ihre somatische Vergangenheit nach der tuberkulösen Seite bin dringend suspekt sind.

Es ist das unbestreitbare Verdienst des Lyoner Chirurgen Poncet obwohl nicbt ihm, sondern dem italienischen Kliniker Groceo die Priorität hierbei zukommt durch eine grosse Reihe von Untersuchungen und Publikationen trotz mannigfacher gegen seine Lehre erhobener Angriffe immer wieder darauf hingewiesen zu haben, dass die Tuberkulose imstande ist, ein Krankheitsbild wie das eben skizzierte hervorzurufen, einen sogenannten tuber- kulösen Gelenkrheumatismus.

Gestatten Sie mir, kurz Ihnen über die wesentlichsten Tat- sachen zu berichten, welche unserer bisherigen Kenntnis des tuberkulösen Gelenkrheumatismus zugrunde liegen, ich möchte Ihnen im Anschluss daran einen einschlägigen Fall demonstrieren, der sich zurzeit in der chirurgischen Klinik befindet, und den ich Dank der gütigen Erlaubnis meines hochverehrten Chefs, des Herrn Prof. Küttner in der Lage bin, Ihnen heute vorzuführen.

Poncet unterscheidet neben jenen eingangs skizzierten subakut verlaufenden Fällen, welche die häufigste Erscheinungsform des tuberkulösen Gelenkrheumatismus bilden, akute oft foudroyant verlaufene Fälle von schlechtester Prognose quoad vitam, welche nichts anderes darstellen, als eine mit besonderer Beteiligung der Gelenke einhergehende allgemeine Miliartuberkulose.

Die erste exakte Beobachtung dieser Art hat Laveran im Jahr 1876 mitgeteilt: Ein 22jähriger Mann, welcher als Kind eine Pleuritis durchgemacht hatte, wird unter den Erscheinungen eines anscheinend typischen, akuten, polyartikulären Gelenkrheumatismus aufgenommen. In den nächsten Tagen tritt hohes Fieber, Husten, Dyspnoe, diffuses Rasseln über der Lunge ein. Tod am 14. Tage. Autoptisch: Miliartuberkulose mit Beteiligung der Gelenke.

Ein weiterer Fall stammt von Maylard, er trägt den Titel: „Ein Fall von akuter Lungen- und Gehirntuberkulose mit Tuberkel- knötchen in den Synovialmembranen der Gelenke. Klinische Erscheinungen die des akuten Gelenkrheumatismus.“ Es ist vielleicht nicht ohne Interesse, dass kein Geringerer als Kuss- mau] bereits im Jahre 1857 in einer Arbeit: „Rheumatismus articulorum acutus mit Tabereulosis miliaris“ die Möglichkeit eines kausalen Zusammenhanges zwischen Tuberkulose und gewissen an akuten Gelenkrheumatismus erinnernden Krankheitsformen in Erwägung gezogen hat. Leider fehlt in seinen Fällen eine mikro- skopische Untersuchung der Gelenke. Wegen des gleichen Mangels möchte ich hier auch auf einige weitere hierher gehörige Fälle aus der neueren Literatur von Strauss und Reinhold nicht eingehen.

Neben dieser anatomisch wohlcharakterisierten Gruppe von überaus akut und stets tödlich verlaufenen Fällen ist die patho- genetische Auffassung der eingangs erwähnten subakuten Fälle grösseren Schwierigkeiten begegnet.

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Bei einer Reihe derartiger Fälle ist nämlich der Verdacht der tuberkulösen Aetiologie erst später retrospectiv wach ge- worden, so dass aus dem floriden Stadium genauere Untersuchungen vielfach fehlen.

Dies gilt in erster Linie von den oben erwähnten Fällen, in denen sich allmählich in einem oder dem anderen der anscheinend rheumatisch erkrankten Gelenke ein echter tuberkulöser Fungus ausbildete.

Aeltere Beobachtungen hat u. a. Schreiber mitgeteilt, aus der Poncet’schen Schule liegen derartige Mitteilungen von Egmann und Martin vor; von amerikanischen Autoren hat Stern einen entsprechenden Fall beigebracht; auch Krause schreibt in seiner Bearbeitung der Tuberkulose der Knochen und Gelenke in der „Deutschen Chirurgie“: „Die Tuberkulose der Gelenke beginnt zuweilen unter Fieberbewegung und mit Schmerzen in mehreren Gelenken, schliesslich aber lokalisiert sich die spezifische Erkrankung nur in einem Gelenk, wie wir das am häufigsten beim Hydrops tuberculosus beobachten können.“

Einen recht instruktiven Fall in dieser Hinsicht verdanken wir König: Ein junges, an Nierentuberkulose leidendes Mädchen erkrankt „anscheinend an akutem Gelenkrheumatismus“ in mehreren Gelenken. Während die Erscheinungen sonst zurück- gingen, vereiterte das rechte Hüftgelenk. Es wurde reseciert und erwies sich als tuberkulös. Nach 4 Wochen Tod an allgemeiner Tuberkulose. Autoptisch: akute Miliartuberkulose sowie multiple ältere Käseherde in mehreren Organen. Ueber die Beschaffenheit der früher erkrankten Gelenke wird leider nichts mitgeteilt.

Der springende Punkt in derartigen Fällen ist nun die Frage, ob es sich hierbei um eine sekundäre Infektion von ursprünglich rbeumatisch erkrankten Gelenken handelt oder ob dem ganzen von vornherein eine tuberkulöse Infektion zugrunde liegt, die eben in den einzelnen Gelenken einen verschiedenen Decurs genommen hat. Ich glaube, dass der letztere Modus im allgemeinen die grössere Wahrscheinlichkeit besitzt und fast zur Gewissheit wird in Fällen wie dem letzteitierten, wo der Uebergang zur manifesten Gelenktuberkulose in so rapider Weise erfolgt.

Achnliche Erwägungen werden, vielleicht auch nicht mit derselben zwingenden Notwendigkeit, dann anzustellen sein, wenn sich an eine derartige polyartikuläre, anscheinend rheumatische Erkrankung unmittelbar das Auftreten von tuberkulösen Veränderungen am Knochensystem (Gibbus, Spina ventosa usw.) anschliesst. In der Kasuistik Poncet’s finden sich mehrere derartige Beobachtungen erwähnt.

Eine besondere Stütze zugunsten der Annahme eines tuber- kulösen Gelenkrheumatismus dürfte die Diagnose dann erhalten, wenn gleichzeitig mit dem Gelenkprozess anscheinend „rheuma- tische“ Komplikationen auftreten, für die es gelingt, den Nach- weis der tuberkulösen Natur zu führen. Eine derartige Koinzi- denz mit einer tuberkulösen Pleuritis z. B. hat Laub sowie Besancon- mitgeteilt... Eine ähnliche Beobachtung findet sich unter meinen früher publizierten Fällen (Therapie der Gegenwart, 1908):

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Bei einem 16jährigen jungen Mädchen stellte sich im Ver- laufe eines atypischen, sich über ein Vierteljahr hinziehenden Gelenkrheumatismus eine zweifellos tuberkulöse Pleuritis ein, so- wie suspekte Erscheinungen seitens einer Lungenspitze. Bei einer 10 Monate später vorgenommenen Nachuntersuchung konnte ich eine Infiltration der betreffenden Lungenspitze feststellen.

M. H.! Das, was ich Ihnen zuletzt vorgetragen habe, sind klinische Betrachtungen, die vielleicht ganz plausibel klingen mögen, aber doch keine strikten Beweise darstellen, wenn es gilt, wissenschaftlich exakt die Natur einer, sagen wir, neuen Krank- heit zu begründen. Wir können denselben aber dann führen, wenn es uns gelingt, durch Verimpfung des Gelenkexsudates auf das Meerschweinchen bei diesem Tuberkulose zu erzeugen. Ein derartiger Beweis ist allerdings bisher erst in wenigen Fällen er- bracht worden. Als von prinzipieller Wichtigkeit führe ich die folgenden Beobachtung von Dieulafoy und Griffon an:

Ein 3Sjähriger Mann ohne gonorrhoische Antecedentien er- krankt unter multiplen Gelenkerscheinungen anscheinend rheuma- tischer Natur mit nur mässigem Fieber. Das Ganze geht ziem- lich schnell zurück, nur das rechte Kniegelenk bleibt durch Er- guss geschwollen. Punktion des Gelenkes einen Monat nach Be- ginn der Erkrankung: im Erguss ausschliesslich Lymphocyten. Bei zwei mit der Flüssigkeit geimpften Meerschweinchen ent- wickelt sich Tuberkulose. Der Gelenkerguss ist nach einem weiteren Monat verschwynden. Es restiert nur noch ein gewisser Grad von Kapselverdickung.

Angaben über einige weitere positive Fälle, darunter von Delbet und Tuffier, sowie ein ausführliches Literaturverzeichnis finden sich in einem von mir verfassten Sammelreferate in Öentralblatt der Grenzgebiete, XII, 1909 angegeben.

Ein wichtiges, wenn auch nicht absolutes Kriterium vermag unter Umständen die cytologische Untersuchung der Gelenk- ergüsse zu geben, nämlich dann, wenn ein Ueberwiegen der Lymphocyten, eine Mononucleose, bereits im akuten Stadium sich vorfindet.

Auf Einzelheiten dieser namentlich von französischer Seite für die Diagnostik der Gelenkergüsse festgestellten Tatsachen kann ich hier nicht eingehen. Eine positive Tuberkulinreaktion, auf die von Poncet viel Wert gelegt wird, beweist natürlich nur, dass irgendwo ein tuberkulöser Herd im Organismus vorhanden ist. Immerhin ist sie aber in Fällen, wo rein nach dem klini- schen Verlauf der Verdacht auf tuberkulösen Gelenkrheumatismus ausgesprochen werden muss, ohne dass es sonst gelingt, eine tuberkulöse Organerkrankung nachzuweisen, von gewissem Werte.

Von grösserer diagnostischer Bedeutung ist selbstverständlich eine lokale Tuberkulinreaktion, die bisher allerdings nur in wenigen und zwar ausschliesslich chronischen Fällen beobachtet worden ist; dies ist wohl damit zu erklären, dass während des febrilen Stadiums Tuberkulininjektionen zu diagnostischen Zwecken im allgemeinen nicht angestellt werden.

M. H.! Ich darf nicht verschweigen, dass neben der kleinen

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Zahl von Fällen mit positivem Tierversuch in einer Reihe von anderen Fällen die mit der Gelenkflüssigkeit injizierten Meer- schweinchen nicht tuberkulös geworden sind. Es muss aber frag- lich erscheinen, ob ein derartiges negatives Resultat dazu be- rechtigt, die Tuberkulose auszuschliessen in Fällen, die ihrem sonstigen klinischen Verhalten nach in das Gebiet des tuberku- lösen Gelenkrheumatismus gehören.

Ich erinnere daran, dass König, wohl einer der berufensten Kenner auf diesem Gebiete, ausdrücklich betont, dass bei dem Hydrops tubereulosus der mit der in Frage stehenden Er- krankung sicher nahe verwandt ist das Experiment nicht so sicher Tuberkulose hervorruft, wie dies mit dem Eiter des kalten Abscesses der Fall ist; in gleichem Sinne hat sich Broca ge- äussert, sowie Krause in speziellem Hinblick auf die mit Reis- körperchen einhergehenden Formen der Gelenktuberkulose.

Unerklärt bleibt natürlich die Frage, warum in dem einen Fall der Tierversuch positiv ausfällt, in anderen negativ; ob es sich um besonders schwach virulente Bacillen hierbei handelt, wie einige behaupten, ob die Bacillen frühzeitig wieder aus den Ergüssen verschwinden, oder ob schliesslich die Gelenkflüssigkeit als solche einen gewissen hemmenden Einfluss auf den Ausfall des Experi- ments ausüben kann das alles sind Fragen, denen es sich vielleicht verlohnen würde, näher nachzugehen.

Wie eigenartig mitunter die Verhältnisse in derartigen Fällen liegen können, lehrt eine von Elbe mitgeteilte Beobachtung. Es handelt sich um ein 10Ojähriges, erblich nicht belastetes, früher gesundes Mädchen, „das vor anderthalb Jahren subakut an multiplen Gelenkergüssen und unvollkommener Versteifung in den Ellenbogen-, Knie- und Fussgelenken erkrankte und seitdem vor- übergehend auch Schmerzen im rechten Hand- und Hüftgelenk und verdächtige Erscheisungen an beiden Lungenspitzen bekam“. Im Röntgenbild fanden sich keine Knochen- und Knorpelverände- rungen. In einem excidierten Probestück aus dem rechten Knie- gelenk liessen sich nun zahlreiche Tuberkel- und Riesenzellen nachweisen, während beim linken Kniegelenk es sich nur um einfache entzündliche Veränderungen handelte. Ein mit der Flüssigkeit aus diesem Gelenk geimpftes Meerschweinchen war nach 40 Tagen nicht tuberkulös erkrankt. Trotzdem neigt der Autor dazu wie mir scheint, mit vollem Recht —, die Tuber- kulose als Ursache der Erkrankung beider Gelenke anzusehen.

Falls diese Beurteilung richtig ist, läge es vielleicht nahe, anzunehmen, dass in einigen Gelenken die einmal in der Syno- vialis vorhanden gewesenen Tuberkel mit Hinterlassung von nur rein entzündlichen, nicht spezifischen Veränderungen wieder ver- schwinden können.

Auf die Möglichkeit eines derartigen Schwundes der spezifi- schen Elemente hat König'von jeher aufmerksam gemacht, ebenso auch Pribram.

Immerhin wäre es ja auch denkbar, dass in einem solchen Falle bei geringer Ausbreitung der Tuberkel ein excidiertes

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Stückchen der Synovialis gerade zufällig frei von Knötchen gefunden wird.

Poncet hatte nun ursprünglich, veranlasst dureli den gelegent- lichen negativen Ausfall der Tierexperimente, die Ansicht vertreten, dass der tuberkulöse Gelenkrheumatismus durch die Wirkung spezifischer Texine zustande kommt. Diese Theorie hat in- zwischen an Terrain verloren durch die später bekannt gewordenen Fälle, in denen der Nachweis von Bacillen bzw. von Tuberkel- knötchen gelang. Eine Diskussion über diese Frage erübrigt sich dabei um so mehr, als Poncet, wie aus einer neueren, grösseren, zusammen mit Leriche über diesen Gegenstand ver- fassten Arbeit hervorgeht, diese Lehre von der toxischen Ent- stehung immer mehr aufzugeben scheint.

Von vornherein musste die Richtigkeit dieser Theorie äusserst fraglich erscheinen, da echte zirkulierende Toxine bei der Tuber- kulose nicht bekannt sind.

Dagegen bietet sich eine wirksame Stütze für die Annahme hämatogener bacillärer Entstehung auch bei sonst gutartig ver- laufenden Fällen in der, namentlich durch die Arbeiten von Liebermeister, Schnitter und anderen nachgewiesenen Tatsache, dass bei Tuberkulösen viel häufiger als man früher annahm Bacillen zeitweise im Blute kreisen, ohne dass dabei schwerere klinische Erscheinungen, geschweige die einer allgemeinen Miliar- tuberkulose zu bestehen brauchen.

Für diese Auffassung lassen sich auch König’s Erfahrungen verwerten: Es gibt nach diesem Autor Formen von multipler tuberkulöser Gelenkerkrankung, „bei welchen man wegen des milden Verlaufs Zweifel an ihrer tuberkulösen Natur hat“. „In den immerhin seltenen Fällen,“ schreibt König, „welche ich sah, erkrankte kurz nacheinander eine Anzahl von Gelenken unter Erscheinungen, welche zur Annahme einer granulierenden Synovitis Anlass gaben. Es kommt vor, dass die Erkrankung in einem oder dem anderen Gelenk vollkommen zurückgeht, da, wo sie bleibt, behält sie ihren chronisch-rheumatischen Charakter gleich dem wirklichen chronischen Rheumatismus .... Man kann zweifelhaft sein, ob es sich in solchen Fällen multipler Gelenk- erkrankung nicht um einen Infektionsmodus handelt gleich dem der allgemeinen miliaren Infektion. Die klinische Beobachtung hat mir wiederholt Bilder geliefert, welche es annehmbar er- scheinen lassen, dass akute Miliarinfektionen bei Tuberkulose nicht immer tödlich sein müssen; die akute miliare Infektion beschränkt sich auf bestimmte Gebiete und bleibt denen fern, deren Betroffenwerden das Leben besonders gefährdet“. Auch der Genfer Kliniker Bard hat in den Thesen zweier seiner Schüler, Lasserre und Pallard, eine ähnliche Auffassung über die anatomische Grundlage des tuberkulösen Gelenkrheumatismus ausgesprochen. Er möchte diese Form von Tuberkelaussaat ihres benignen Charakters wegen im Gegensatz zu der klassischen Miliartuberkulose als „granulie diserete“ bezeichnen. Es sei ferner daran erinnert, dass, wie wohl Chamorro zuerst be- schrieben hat, auch der bekannte Hydrops articularis tubereulosus

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völlig akut nach Art und Weise eines monartikulären Gelenk- rheumatismus einsetzen kann. Die Annahme, dass in den uns beschäftigenden Fällen gelegentlich eine multiple derartige Er- krankung vorliegt, würde also prinzipiell nichts Neues voraus- setzen.

An dieser Stelle dürfte vielleicht folgende Beobachtung von Rafin von Interesse sein, zumal wenn man sich der wohl von König zuerst hervorgehobenen Tatsache erinnert, wie relativ häufig sich an grössere operative, an tuberkulösen Knochen und Gelenken unternommene Eingriffe der Ausbruch einer akuten Miliartuberkulose ausschliessen kann. Man könnte nun versucht sein, in Rafin’s Beobachtung an eine derartige, wenigstens flüchtige Aussaat von Bacillen in die Gelenkmembranen zu denken.: Der strikte Beweis dafür fehlt natürlich:

16jähriger Junge, Mutter leidet an Lungentuberkulose, am 5. November Ineision eines kalten Abscesses am Oberschenkel, von einer Caries der Beckenschaufel ausgehend. Es wurde eine partielle Resektion derselben vorgenommen. Am 17. November brüsker Temperaturanstieg auf 39,2° mit multiplen Gelenk- anschwellungen und Schmerzen. Nach 13 Tagen Rückkehr zur Norm.

Ebenso sah Lexer (Allgem. Öhirurg., 1910, 4. Aufl., I, S. 391) einen Fall von tuberkulösem Gelenkrheumatismus „einmal nach Exstirpation tuberkulöser Lymphdrüsen als Vorboten der all- gemeinen Miliartuberkulose unter akuten fieberhaften Erscheinungen auftreten“.

M. H.! Auch bei der Pat., die ich Ihnen jetzt zeigen möchte, ist es nach Analogie derartiger Beobachtungen nicht ganz auszuschliessen, dass ein grösserer operativer Eingriff mit die Veranlassung zum Ausbruch der in Frage stehenden Er- scheinungen bildete.

Es handelt sich um ein 19jähriges Mädchen; ihre Mutter ist an Lungenschwindsucht gestorben, und auch in ihrem eigenen Leben scheint die tuberkulöse Infektion eine ganz besonders ominöse Rolle zu spielen. Als Kind machte sie eine tuberkulöse Drüsenerkrankung am Halse durch. Sie sehen die charakte- ristischen Residuen, welche sich unter dem Bilde eines Scrofulo- derma präsentieren.

Im Herbst 1907 stellte sich eine Tuberkulose des Unter- kiefers ein, es kam zur Totalnekrose des Knochens, und der gesamte Unterkiefer musste am 6. XII. 1909 in der chirurgischen Klinik exartikuliert werden. Die Patientin trägt zurzeit eine von Herrn Professor Riegner verfertigte Immediatprothese. Sie ist wegen dieser seltenen Form der Erkrankung bereits von Herrn Professor Küttner in der Breslauer chirurgischen Gesell- schaft am 13. XII. 1909 demonstriert worden, ich möchte daher hier nicht näher auf diese Frage eingehen.

Die Operation als solche ist gut überstanden worden, die Wunde hat sich bis auf eine kleine Fistel geschlossen; wie Sie an der Temperaturkurve ersehen, war sie vom 12. Tage post ope- rationem ab fieberfrei. Dieser Zustand dauerte etwa 10 Tage,

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dann traten am 21. resp. 22. Tage wieder erhöhte Temperaturen auf, die am 23. Tage 38° erreichten, zugleich mit Schmerzen und Schwellung an dem Fussgelenk.

Es war zuerst lokal nur ein eben nachweisbarer Erguss vor- handen. Die Schwellung hat inzwischen zugenommen; ca. 14 Tage später traten Schmerzen im linken Ellenbogen und linken Knıe auf, und es entwickelte sich allmählich das Bild, das Sie jetzt vor sich sehen. Wie die Temperaturkurye zeigt, hat das Fieber in geringem Maasse (Höchsttemperatur 38,4) angehalten.

Betroffen sind das linke Knie, der linke Ellenbogen und das Tibeotarsalgelenk. In allen Gelenken ist ein deutlicher Erguss vorhanden, am geringsten am Ellenbogen, die Haut über den Gelenken ist blass, die lokale Temperatur ist erhöht. Die Patientin fühlt sich dabei recht wohl, hat nur ganz geringe Schmerzen, sie kann ihre Gelenke gut gebrauchen.

Welcher Art ist diese multiple Gelenkerkrankung, die wir hier vor uns sehen?

Für Gonorrhöe, Lues fehlen jegliche Anhaltspunkte; um einen echten akuten Gelenkrheumatismus anzunehmen, dazu sind doch die Erscheinungen viel zu torpide, wir würden da ein höheres Fieber und stärkere Schmerzen erwarten, zumal in einem Fall wie dem vorliegenden, wo keine Salicyltherapie eingeleitet worden ist; ein an Polyarthritis rheumatica acuta erkrankter Patient sucht von selber Bettruhe auf und vermeidet ängstlich jede Bewegung, während in diesem Fall die Patientin von Anfang alle Bewegungen ausführte und am liebsten sich ausser Bett aufhielt.

Ganz auszuschliessen ist die Annahme, dass es sich etwa um eine durch Eiterkokken entstandene pyämische Erkrankung handelt.

Bei dem Bestehen der konstitutionellen Tuberkulose bei der Patientin, bei dem eigentümlichen Adspekt der befallenen Gelenke, die einzeln genommen, besonders das Tibiotarsalgelenk, ganz dem Bilde eines Hydrops tubereulosus entsprechen, und bei dem klinischen Verhalten, das zu keiner sonst in Betracht kommenden Gelenkinfektion recht passt, haben wir die Diagnose auf einen tuberkulösen Gelenkrheumatismus oder Poncet’sche Krankheit gestellt. Wir nehmen an, dass es in diesem Fall zu einer multiplen Aussaat von Tuberkelbaeillen in die Blutbahn gekommen ist, die sich speziell in einzelnen Gelenken lokalisiert und dort die Veränderungen, die Sie vor sich sehen, hervor- gerufen haben. Wir sind berechtigt, uns in so konkreter Weise auszudrücken, denn es ist in diesem Fall gelungen, die Existenz einer tuberkulösen Bacillhämie direkt nachzuweisen.

Ich habe am 24. Februar der Patientin 10 ccm Blut aus der Armvene entnommen. Dasselbe ist von Herrn Dr. Ziesch& von der Königlichen medizinischen Klinik nach einer von ihm angegebenen, noch nicht publizierten Methode auf das Vorhandensein von Tuberkelbacillen untersucht worden. Das Prinzip der Methode besteht darin, dass das in bestimmter Weise vorbehandelte Blut mittels Antiformin zersetzt wird und im Centrifugat die Tuberkel- bacillen nach Ziehl-Neelsen identifiziert werden.

Schlesische Gesellsch. f. vaterl. Kultur. 1910. II 2

Gesellschaft für vaterl. Kultur.

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Es ist Herrn Dr. Ziesche, dem ich für seine freundliche Unter- suchung zu besonderem Dank verpflichtet bin, gelungen, mittels dieser Methode Tuberkelbacillen in dem übersandten Blute nach- zuweisen.

Sie wissen, und ich wies bei der Besprechung der Theorie des tuberkulösen Gelenkrheumatismus darauf hin, dass eine der- artige Bacillhämie in neuerer Zeit in zahlreichen Fällen von Tuberkulose, insbesondere bei Phthisis pulmonum erhoben worden ist, in unserem Falle halte ich den Befund nun für besonders wichtig, da zurzeit sonst kein klinisch nachweisbarer manifester tuberkulöser Herd besteht.

Es liegt daher eine gewisse Wahrscheinlichkeit für die An- nahme vor, dass der vorangegangene grössere operative Eingriff vielleicht die Ursache für den Uebertritt der Bakterien in die Blutbahn abgegeben hat.

Es reiht sich somit dieser Fall den bereits erwähnten Beob- achtungen von Lexer und Rafin an, in denen ebenfalls ein operativer Eingriff an tuberkulös erkrankten Organen dem Aus- bruch der Gelenkerkrankung vorausging; im ersteren Falle handelte es sich um eine Drüsenausräumung, im anderen Falle um eine Partialresektion der tuberkulös erkrankten Beckenschaufel.

Wenn wir diese Beobachtungen kombinieren mit der längst bekannten Tatsache, dass sich an derartige operative Eingriffe nicht gar so selten einmal eine allgemeine Miliartuberkulose an- schliesst, gewinnt die eingangs näher ausgeführte, zumal von König vertretene Anschauung, dass der tuberkulöse Gelenk- rheumatismus nichts anders darstellt als eine Art von Miliar- tuberkulose, welche auf bestimmte Gebiete beschränkt bleibt, wie es ja für einzelne hyperakut verlaufene Fälle durch Sectionsbefund festgestellt ist, eine weitere Stütze.

Ich glaube daher, dass dieser Fall von tuberkulösem Gelenkrheumatismus, in dem eine tuberkulöse Bacill- hämie zum ersten Male in vivo gelang, für die patho- genetische Auffassung des Morbus Poncet von prin- zipieller Bedeutung ist.

IV.

Ueber die Anwendung der ungedämpften elek- trischen Schwingungen (Forest’sche Nadel) zu operativen Zwecken.

Von Dr. Max Cohn.

Ueber die Anwendung der Forest’schen Nadel zu operativen Zwecken habe ich vor etwa Jahresfrist einige kurze Bemerkungen in der Berl. klin. Wochenschr. (1909 No. 18) veröffentlicht?). Seitdem haben sich meine praktischen Erfahrungen erweitert, und ich habe auch einige Untersuchungen darüber angestellt, wie die Wirkungsweise des mysteriösen kleinen Drähtchens, dass die menschlichen Gewebe einem Messer gleich zu durchtrennen ver- mag, zu erklären ist. Bevor ich auf diese Details näher eingehe, ist es wohl aber nötig, auf die Grundlagen des Verfahrens, die physikalische Anordnung des Apparates, etwas näher einzugehen.

Die in der Elektrotherapie verwandten Hochfrequenzströme werden unter Zuhilfenahme eines Funkeninduktors erzeugt. Die Sekundärklemmen desselben sind mit einem Schwingungskreis verbunden, welcher sich aus Selbstinduktionsspule, Kondensatoren und Funkenstrecke zusammensetzt. Dieser Anordnung können die gedämpften Hochfrequenzströme entnommen werden, welche sich durch eine sehr hohe Spannung, grosse Polwechseszahl und geringe Intensität auszeichnen. Hochfrequenzströme dieser Art werden z. B. bei der Fulguration verwandt, wo die durch hohe Spannungen erzeugten Funkenentladungen eine Rolle spielen.

Ganz andere Resultate liefert dagegen ein Schwingungskreis, welcher zur Erzeugung ungedämpfter Hochfrequenzströme einge- richtet ist. Zwar setzt sich auch ein solcher Schwingungskreis aus Selbstinduktion, Funkenstrecke und Kondensatoren zusammen,

1) v. Ozerny-Heidelberg hat zu demselben Thema in No. 11 der Deutschen med. Wochenschr., 1910, einen ausführlichen Beitrag geliefert, der in diesem Vortrag nicht mehr verwertet werden konnte. Macken- rodt-Berlin hat am 11. III. 1910 in der Berliner Gyräkologischen Ge- sellschaft über eine Uterusexstirpation mit der Forest’schen Nadel berichtet. Es freute mich zu hören, dass er dabei dieselben Beobach- tungen gemacht hat, über die ich schon ein Jahr vorher dasselbe ver- öffentlicht hatte. Allerdings vergass er meinen Namen dabei zu nennen.

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doch fällt hier die Anwendung eines Induktors zur Erzeugung hochgespannter Ströme fort. Der Apparat, welcher denSchwingungs- kreis enthält, kann direkt an das Leitungsnetz eines Blektrizitäts- werkes angeschlossen werden. An Stelle der sonst üblichen Ent- ladungsfunken wird hier ein Lichtbogen mit grosser Fläche und sehr geringer Länge verwandt. Es gelingt mit einer solchen Anwen- dung ungedämpfte Hochfrequenzströme zu erhalten, welche zwar eine verhältnissmässig geringe Spannung, dagegen aber eine unge- mein hohe Frequenz (Polwechselzahl) und grössere Intensität be- sitzen. Es wird Sie interessieren, dass dieselbe Art von elek- trischen Strömen bei der drahtlosen Telegraphie Verwendung findet.

Nun, meine Herren, diese technisch-theoretischen Erörterungen werden Ihnen sinnfälliger werden, wenn ich Ihnen die einzelnen Bestandteile, die zur Erzeugung dieser ungedämpften Schwingungen dienen, am Apparat selber vor Augen führe. Das Instrumen- tarium ist in überaus einfacher Weise auf einem kleinen, auf Rollen fahrbaren Tischehen montiert.

Wenn der Preis des Apparates trotz seiner scheinbaren Einfach- heit ein relativ hoher ist, so erklärt sich das daraus, dass die Teile des Ganzen Präzisionswerke sind, für die an die Patentinhaber hobe Licenzen gezahlt werden müssen.

Der elektrische Strom wird der Stadtleitung entnommen; ein einfacher Stechkontakt stellt die Verbindung her. Es ist zweckmässig, die Leitung mit 10 Ampere zu sichern und ge- sondert an das Netz anzuschliessen, da sonst die Sicherung leicht durchbrennt. Ausser dem Motor und den Kondensatoren, die sich auf dem unteren Fache des Tischehens befinden, sehen Sie hier oben eine sinnreich konstruierte Funkenstrecke. Die Funken werden nicht zwischen zwei Spitzen zur Entladung gebracht, sondern zwei Kupferplatten von grosser Dicke liegen, getrennt durch ein kreisförmiges weisses besonders präpariertes Papier, mit breiter Fläche aufeinander, und nur die mit dem Gebrauch ein- tretende zerfressene Beschaffenheit der Papierscheiben gibt Zeug- nis davon, dass hier stille Funkenentladungen stattfinden.t) Ganz unten befinden sich dann noch zwei besonders abgestimmte Glülı- lampen, die zur Prüfung des Wiederstandes in den Stromkreis eingeschaltet sind. Diese Metallfadenlampen müssen von demjenigen der den Apparat bedient, beobachtet werden. Brennen sie zu hell, so ist der Widerstand herabgesetzt, was im besonderen der Fall ist, wenn das zwischen den Kupferplatten befindliche kreis- förmige Papier bis zur Peripherie zerstört ist. Der Strom wird unipolar abgenommen; einer bipolaren Anwendung steht indes nichts im Wege sind; ich habe mich dieser Anordnung nie be- dient, kann mir auch keine Vorteile davon versprechen. Ein genügend langes Kabel wird in Kontakt gebracht. mit einem Glasstäbehen, das in einer Platinöse, die nadelartig aufge- bogen ist, endigt. Es kommt darauf an, dass die Nadel, in der

1) Neuerdings wird der Apparat mit einer noch weiter verbesserten Funkenstrecke geliefert.

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ja die eigentliche Kraft aufgespeichert ist, sehr fein ist. Nur von diesem Gesichtspunkte aus ist die Verwendung des Platin gerechtfertigt. Nicht daran zu denken ist, dass die Entwicklung hoher Hitzegrade dieses Edelmetall notwendig macht. Ein Glühend- werden, wie es beim Paquelin der Fall ist, tritt beim Gebrauch nicht ein. Und gerade in der Applikation bestimmter niedriger Hitzegrade sehe ich den spezifischen Effekt der Forest’schen Nadel. Ich komme später darauf zurück.

Wie gestaltet sich nun der Betrieb?

Eine Hülfsperson versorgt die Eiuschaltung. Sie kaun evtl. entbehrt werden, wenn der Öperateur selbst die Schaltung versorgt. Der Schalter an der Stechdose wird in Kontakt gebracht, der Motor angedreht und ein kleiner Stöpsel auf dem Tischchen, das das Instrumentarium in toto darstellt, gleichfalls eingeschaltet. Man sieht nun an der Nadel durchaus nichts. Wenn man jedoch an ein Gewebe, das einen gewissen Flüssigkeitsgehalt hat, heran- kommt, so tritt eine elektrische Entladung ein, die sich durch einen winzig kleinen Funken an der Spitze äussert, und das Gewebe wird je nach der Länge der Dauer der Einwirkung in verschiedener Weise verändert. Betrachten wir uns zunächst ein- mal die Einwirkung auf rohes Eiweiss. Fährt man schnell über die Oberfläche des Eiweissspiegels hinweg, so bildet sich eine schmale weisse Linie, ein Beweis, dass an dieser Stelle das Ri- weiss zur Gerinnung gebracht worden ist. Eine Tiefenwirkung kann man in diesem Falle nicht beobachten. Sticht man aber in das Eiweiss hinein, so sieht man, dass auch in der Tiefe bis dorthin, wo die Nadelspitze reicht, sogar etwas darüber hinaus, eine Gerinnung eintritt, während sich an der Oberfläche beim Kontakt mit ‘der Nadel eine Braun- bis Schwarzfärbung einstellt und zugleich sich ein brenzlicher Geruch verbreitet. Man ersieht daraus, dass eine höhere Temperatur auf das Eiweiss eingewirkt hat und zwar so, dass die schnellere Einwirkung, wie dies bei dem strichförmigen Darüberhinwegstreichen statt hat, einen ge- ringeren Effekt hervorruft, als bei dem Einstechen und dem längeren Verweilen an einem Punkte. Diese Beobachtung wird man nun zweckmässig bei der Anwendung zu Heilzwecken benutzen können, wie sich weiter ergeben wird. Nehme ich mir nun ein festes Stück Muskelfleisch und betrachte an diesem die Einwirkung der Forest’schen Nadel, so kann ich zweierlei erreichen: Einmal kann ich die Gewebe - schnittförmig durchtrennen und zweitens kann ich durch längeres Verweilen an einem Punkte eine Ver- schorfung bewerkstelligen. Am toten Gewebe lässt sich nun, was sehr bemerkenswert ist, absolut nicht mit derselben Intensität ein Effekt erzielen, wie beim lebenden, gut durchbluteten Gewebe, das vermöge seines Flüssigkeitgehaltes jeder elektrischen Ein- wirkung emen geringeren Widerstand bietet. Dieses Phänomen wird besonders deutlich, wenn ich totes Fleisch benutze, das schon längere Zeit gelegen hat, oder mit der Nadel Gewebeteile zu durchtrennen versuche, die fester sind, wie z. B. Sehnen, oder die nach dem Tode mehr Flüssigkeit hergegeben haben, wie die Muskeln; so das Fett.

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Nachdem ich diese Vorstudien getrieben hatte, ging ich recht bald daran, an Tieren die Einwirkung der ungedämpften elek- trischen Schwingungen zu studieren. Mein erster Versuch war der einer Leberresection beim Kaninchen. Es wurde mit der Nadel, nachdem das Tier an der Bauchfläche rasiert war, eine Ineision gemacht und die Leber mit einer Naht angeschlungen. Darauf resezierte ich mit der Nadel etwa !/, des rechten Leber- lappens. Die Blutung war eine minimale. Etwas Blut, das aus dem Parenchym nach der Durchtrennung noch austrat, wurde durch eine geringfügige Verschorfung mit der Nadelspitze bald zum Stehen gebracht. Die Bauchwunde wurde durch einige Seidennähte verschlossen; das Tier überstand den Eingriff sehr gut und hat noch vier Monate danach gelebt. Es ging dann an aer bei Kaninchen häufigen Ooceidiengeschwulst ein, wurde seziert, und ich konnte an der KResectionsstelle keinerlei Veränderung mehr konstatieren. Ich möchte noch bemerken, dass der resezierte Leberlappen eingebettet und mikroskopisch untersucht wurde und an der Schnitifläche die Zeichen der Verschorfung und der Nekrose bot, während an den entfernter gelegenen Partien die kleinzellige Infiltration mehr und mehr nachliess. Nun, bei diesen Versuchen zeigte es sich, dass auf die Blutstillung des lebenden Tieres durch die Nadel ein günstiger Einfluss ausgeübt wird. Die capilläre und die interstitielle Blutung wird bei gewöhnlichen Geweben, ohne dass eine wesentliche Verschorfung ausgeübt wird, gestillt, wie es sich bei der Durchtrennung der Bauchmuskeln und der Haut zeigte. Die parenchymatöse Blutung der sehr blutreichen Leber wird dagegen dadurch beherrscht, dass man eine gewisse Verschorfung herbeiführt. Diese Verschorfung ist aber hier nicht mit derjenigen des Paquelin zu verwechseln, die, wie sich noch später bei der Erörterung der Behandlung der Geschwülste zeigen wird, doch einen wesentlich anderen Effekt auslöst.

Nachdem ich verschiedene derartige Untersuchungen angestellt hatte, machte ich mich daran, auch durch Verwendung bei Menschen Erfahrungen zu sammeln. Ich wurde gewissermaassen durch einen Zufall dazu veranlasst, ein ulceriertes, jauchiges Mammacareinom mit der Nadel zu behandeln. Es handelte sich um eine sehr herabgekommene Frau, die in beiden Brüsten einen fortgeschrittenen Krebs aufwies, der die eine Mamma vollständig zerstört hatte. Sie war in grosser Ausdehnung geschwürig zer- fallen und mit einem schmierigen, übelriechenden Secret bedeckt. Solaminis causa sollten diese Partien fulguriert werden. Es war gerade Kohlensäure, deren man zur Kühlung bedurfte, nicht vor- handen, und so entschloss ich mich, in diesem Falle die Forest- sche Nadel in Anwendung zu bringen. Hier konnte von einer Exeision keine Rede sein, sondern es war nur daran zu denken, dass man die geschwürig zerfallene Krebswunde mit der Nadel gewissermaassen scarifizierte. Dabei wurde die Nadel auch tief in das Gewebe eingestochen. Es ist sicher, dass die Pleura von der Nadelspitze durchbohrt wurde, ohne dass sich irgendein störender Zufall ereignete. An einer anderen Stelle machte ich, um die Schnittwirkung zu erproben, die Excision eines circum-

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scripten Knotens, die glatt gelang, ohne dass ein Gefäss mit einer Klemme gefasst werden brauchte. Da ich nicht darüber informiert war, ob die Schnittlinien durch eine Naht reaktionslos sich ver- einigen liessen, wurde der Defekt tamponiert, die ulcerierte Fläche mit Peru-Lenizetpuder bestreut. Die weitere Beobachtung an dem Defekt, der durch Schnittwirkung erreicht war, zeigte, dass die Wundflächen schon am nächsten Tage so absolut frisch aus- sahen, als ob das Messer geschnitten hätte, während an den anderen Partien, wo ich weit in die Tiefe hinein verschorft hatte, sich grössere Geschwulstmassen abstiessen. Der Erfolg dieser Behand- lung war ein ganz ausgezeichneter, denn nach wenigen Wochen hatte sich ein zirka eine Handfläche grosser Defekt, der von den geschwürig zerfallenen Geschwulstmassen angefüllt war, voll- ständig überhäutet, und zwar in einer Weise überhäutet, wie man es nur sieht, wenn elektrische Energien auf lebendes Gewebe zur Anwendung gebracht worden sind. Es ist ohne Zweifel, dass hierin eine Besonderheit der Behandlung besteht, die ich schon früher bei der Fulgurationsmethode rühmend hervorgehoben habe, die vitalisierende Kraft auf das in der Umgebung des Kranken befindliche gesunde Gewebe. Ich möchte bei dieser Gelegenheit einen Augenblick abschwei- fen und dabei das rückhaltlos absprechende Urteil entkräften, das von einem Herrn der hiesigen Chirurgischen Klinik über die Fulguration gefällt worden ist. Ich habe vom ersten Tage an, wo ich über meine Erfahrungen über die Fulguration berichtete, bis heute meinen Standpunkt noch nicht zu ändern brauchen; ohne Zweifel besitzen wir in dieser elektrischen Behandlungs- methode ein Mittel, grössere Weichteildefekte im Sinne der Ver- narbung günstig zu beeinflussen. Ebenso entschieden spreche ich meine Ansicht aus, dass der Fulguration sowohl, wie auch jetzt der Forest’schen Nadel kein spezifischer Wert für die Behand- lung des Carcinoms zukommt. Es ist überhaupt eine missliche Sache, eine neue Oarcinomtherapie zu prüfen. Es hat sich die Gewohnheit eingebürgert, wenn jemand ein neues Mittel gegen den Krebs empfiehlt, zu erwarten, dass nun jeder Fall auch durch dieses neue Mittel geheilt werden müsste. Wenn wir aber bedenken, dass kein Arzt bei einem Falle von vorgeschrittener Lungentu- berkulose glauben würde, seinem Patienten wieder eine gesunde Lunge zu verschaffen und ihn überhaupt zu heilen, wo doch die Ursache der Lungentuberkulose uns jetzt bekannt ist, meinen nun diejenigen, die eine Krebstherapie nachprüfen wollen, dass jeder kachektisch schwerkranke Mensch nun durch ein Lokalmittel ge- bessert oder gar geheilt werden könne. In diesem Sinne haben sich die Nachprüfungen verschiedener Autoren bei der Fulguration bewegt. Es konnte gar nicht genug darauf hingewiesen werden, wie kachektisch und wie schwerkrank die Patienten waren, bei denen sie das Verfahren in Anwendung gebracht haben. Nun möchte ich aber durchaus nicht die scheinbaren Erfolge sanktio- nieren, von denen der Begründer der Fulgurationstherapie, Keating Hart, seinerzeit alle Welt in Erstaunen setzte. Es waren eben nur Scheinerfolge, die evtl. zu vollen Erfolgen wurden, wenn vor

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der Anwendung der Fulguration alles Kranke mit dem Messer entfernt war, und sich dann der grosse Defekt ohne besonderes Zutun mit frischen Granulationen auskleidete und auch in recht kurzer Zeit zu einer schönen glatten Narbe führte. Dieses Letztere ' liegt ohne Zweifel an der Anwendung des besonderen Verfahrens und kann auch als ein spezifischer Effekt dargestellt werden, und nur von diesem Gesichtspunkte aus habe ich die Ful- guration gebilligt und kann in der Anwendung der Forest’schen Nadel nur eine Verbesserung des gleichen Prinzips entdecken. Besser aus verschiedenen Gründen. Durch Versuche zahlrei- cher Art wissen wir, dass der Hochfrequenzfunken nur ganz oberflächlich wirkt, und dass er über Buchten, die ja jede Wund- fläche aufweist, hinwegspringt. Dies wird durch die Nadel ver- mieden. Mit dieser spitzen Nadel kann ich in die kleinsten Wundwinkel gelangen; ja, ich kann sogar durch die intakte Ober- fläche bis in 4—5 cm tiefe Regionen eindringen und dort mit ab- soluter Sicherheit alles kranke Gewebe zerstören. Zu gleicher Zeit bietet mir das Instrumentarium den Vorteil, dass ich es anstatt des Messers zum Schneiden benutzen kann. Will ich bei einem inoperablen Careinom, das von gesunder Haut bedeckt ist, das Messer in Anwendung bringen, so muss ich unbedingt einen grossen Weichteildefekt setzen. Das habe ich bei der Anwendung der Nadel nicht nötig, da ich eben mit einem Instrument arbeite, das wegen seiner Aufspeicherung von Kraft in seiner Spitze viel handlicher zu benutzen ist wie ein Messer, das eine lange Schneide bat. Was nun die Bekämpfung der Blutung anlangt, so sehe ich in dieser Beziehung die wertvollste Bereicherung in der chirur- gischen Therapie. Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass eine grosse Anzahl von Verschleppungen von Krebskeimen dadurch geschieht, dass Blutbalınen durch die Operation breit eröffnet werden, und dass durch diese Eröffnung der Gefässe die Möglich- keit geschaffen wird, dass die Krebskeime in entferntere Regionen verschleppt werden. Es ist eine verblüffende Erscheinung, eine Wunde an der Brust zu betrachten, die durch die Forest’sche Nadel hervorgerufen ist. Häufig sieht man überhaupt nur Blutungen in der Form von geringfügigen roten Punkten, und wenn schon einmal ein kleineres Gefäss spritzt, so wird die Blutung vollständig gestillt, wenn man einen Tupfer auf die blutende Stelle drückt und mit der Nadel weiterarbeitet. Ich habe zu wiederholten Malen Mammaamputationen vorgenommen, wo nur eine oder höchstens zwei Ligaturen zu legen waren. Diese, durch elektrische Einflüsse bedingte Blutstillung hat besonders dann ihre Vorteile, wenn ulcerierte jauchige Tumoren wegen kon- stanter schwerer Blutung in Behandlung kommen.

Ich möchte Sie auf einen Fall hinweisen, den ich vor wenigen Wochen in Behandlung genommen habe, nachdem erst kurze Zeit vorher eine Blutung mit dem Paquelin zur Stillung gebracht werden musste. Es handelte sich um ein Sarkom der Orbita, das das linke Auge vollständig zerstört hatte und als faustgrosser Tumor von knolligem Aussehen die Augenhöhle überragte. Während man durch den Paquelin nur eine ganz oberflächliche

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Verschorfung hervorrufen konnte, brachte ich den Beweis, dass man eine derartige Geschwulst, die ja natürlich nicht mehr zu operieren geht und daher jeden Eingriff rechtfertigt, im Bereiche des Tumors abtragen kann, ohne eine grössere Blutung zu be- kommen.

Hätte man das mit dem Paquelin versucht und dies ge- schah in einem: kleinen Bezirk —, so hätte das einer stunden- langen Arbeit bedurft, gar nicht der Unbequemlichkeiten des Verfahrens zu gedenken, dass andauernd am Glüheisen Gewebs- teile sich festsetzen, die nur losgelöst werden können, nachdem wieder eine Erkältung eingetreten ist. Natürlich auch an der Nadel setzen sich derartige nekrotische Gewebsfetzen fest, aber ein kleiner Griff am Schalttischehen setzt die Nadel ausser Funktion, und sofort kann man ohne Störung weiterarbeiten. Hat man, wie es überhaupt notwendig ist, eine grössere Anzahl von Nadeln in Bereitschaft, so wechselt man dieselben öfter aus, währenddessen das gebrauchte Instrument wieder gereinigt wird.

Eine Besonderheit in der Blutstillung konnte ich bei diesem Falle zur Anwendung bringen: Blutet an der Oberfläche das Parenchym oder spritzt ein Gefäss, so steche ich seitlich von der blutenden Stelle mit der Nadel ein und bringe so das tiefe Gewebe und damit auch das zuführende Gefäss zur Gerinnung resp. Thrombosierung.

Nun hatte ich schon gesagt, dass ich bei der Entfernung eines Krebsknotens durch die schneidende Wirkung der Nadel gesehen hatte, dass am Tage nach der Operation die Wundhöhle ein absolut reines Aussehen hatte, und es lag nahe, auch beim Menschen sofort nach der Operation die Schnittflächen durch Nähte zu schliessen. Das habe ich in einer ganzen Reihe von Fällen getan, und ich konnte mich immer wieder überzeugen, dass es einen absolut glatten Wundverlauf gab.. Es fragte sich nun, zu ergründen, worauf diese Erscheinung zu beziehen war. Ich machte zu diesem Zweck eine Anzahl von Bakterienversuchen, die ich Ihnen kurz schildern will:

Von einer virulenten Milzbrandkultur wurde eine Oese in einer Aufschwemmung von 1/, cem Wasser einer Maus A unter die Rückenhaut eingespritzt, während ich von derselben Kultur mit der Platinspitze der Forestnadel ein gleiches Quantum ent- nahm, dann den Strom einschaltete und vermöge der schneidenden Kraft der Nadel einer Maus B gleichfalls unter die Rückenhaut brachte. Die Maus A starb regelmässig nach ca. 24 Stunden, während die Maus B nach derselben Zeit noch absolut frisch war und erst nach 2—3 Tagen zu kränkeln begann, um zu dieser Zeit oder in den nächsten 2 Tagen zu Grunde zu gehen. In der Milz der Maus B wurden Milzbrandbaecillen im Ausstrich gefunden. Es zeigte sich hier, dass die mit der Milzbrand-Forestnadel be- handelte Maus unzweifelhaft und zwar war das ein konstanter Befund länger am Leben blieb wie die injizierte Maus.

Bei einer Verwendung einer Kultur von Staphylokokken- sepsis war das Resultat für die Forestnadel ungleich günstiger. Die von der Kultur injizierte Maus ging zugrunde, während die

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Beschickung der Forestnadel mit derselben Kultur auf die Maus keinen spezifischen Einfluss ausübte.

Versuche mit Diphtheriebaecillen führten zu keinem Resultat, weil ich zu damaliger Zeit keine für Meerschweinchen tödliche Kultur erlangen konnte.

Wenn wir nun darüber nachdenken, wodurch die Unterschiede zwischen virulenten Staphylokokken und Milzbrandbaeillen bedingt werden könnten, so müssen wir den Wärmegrad berücksichtigen, der in der Nadelspitze durch Elektrizität etwa erzeugt und auf die Gewebe in Anwendung gebracht wird. Die verschiedene Wärmefestigkeit der beiden Bakterienarten liefert uns annäherungs- weise einen Schlüssel, wie hoch die Wärme, die zur Anwendung kommt, ist. Sie wissen ja, dass die Milzbrandbacillen eine wesent- lich geringere Widerstandsfähigkeit gegen Wärme besitzen als die Milzbrandsporen, die erst durch eine Hitzeentwicklung von 140 bis 150° zur Abtötung gebracht werden. Diese Milzbrandsporen brauchen, wenn sie in den Körper gelangen, einige Zeit zu ihrer Entwicklung, und darauf führe ich es zurück, dass die Mäuse, welche mit der Milzbrand-Forestnadel behandelt wurden, erst nach 2 Tagen krank geworden sind, ein Zeitraum, der wohl zur Ent- wicklung der Milzbrandbaeillen aus den Sporen notwendig gewesen ist, während die Uebertragung von Staphylokokken durch die elektrische Nadel keinen störenden Einfluss auf Leben und Ge- sundheit gehabt hat.

Daraus ersehen wir, dass die Wärmeentwicklung in der Forest’schen Nadel geringer als 150° ist, und aus demselben Grunde resultiert der Unterschied zwischen der Paquelinwirkung und der des elektrischen Instrumentes. Will man einen metallischen Körper zum Glühen bringen, wie es bei der Anwendung des Glüh- eisens geschieht, so braucht man Hitzegrade von über 500°, und durch diese Hitzegrade ruft man am tierischen Gewebe Zerstörungen hervor, die absolut mit Gewebsnekrose verbunden sein müssen. Das Gegenteil zeigt sich bei der Anwendung der ungedämpften elektrischen Schwingungen. Wir wissen jetzt empirisch, dass durch die schnelle Anwendung der Nadel resp. die Applikation von etwa 150° Wärme lebendes Gewebe in Form eines Schnittes durch- trennt wird, ohne dass ein dauernder Schaden der Schnittflächen sich daran anschliesst.

Nun, diese Beobachtungen verdienen noch aus einem anderen Grunde besondere Beachtung. Eine Operation mit der Forest- schen Nadel ist eine absolut aseptische Operation; wenn ich meine Hände nicht mit der Wundfläche in Berührung bringe, so wäre es nicht einmal notwendig, dass ich eine Händedesinfektion vornehme und so gestaltet sich die Vorbereitung überaus einfach: Man wäscht sich die Hände gründlich mit Wasser und Seife und lässt in gleicher Weise den Patienten vorbereiten. Bemüht man sich dann, die Finger nicht in die Wunde zu bringen, so kann es zu keiner Infektion kommen. Ich kann sagen, dass ich bei denjenigen Fällen, wo das Öperationsgebiet von vornherein nicht infiziert war, Wundverhältnisse gesehen habe, wie man sie kaum bei anderen Operationen beobachtet. Die Verklebung der Wund-

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fläche ist eine so schnelle, dass ich mich in einem Falle von Radikaloperation eines Mammacarcinoms veranlasst sah, schon am zweiten Tage sämtliche Nähte zu entfernen. Nun, dieser Versuch glückte nicht, die Wunde ging wieder auf, und ich musste zum zweiten Male nähen. Das ist ja aber erklärlich, weil nach der Entfernung einer fettreichen Mamma die Spannung in den Geweben eine sehr grosse ist.

Ich wollte damit nur kennzeichnen, wie ausgezeichnet die Wundflächen nach diesen Operationen aussehen. Wenige Wochen nach einer derartigen Operation sieht man nur noch die punkt- förmigen roten Stellen, die von den Stichkanälen herrühren, während die Narbe sich als solche kaum noch lineär zeigt.

Selbstverständlich ist die Forest’sche Nadel nicht nur be- schränkt auf die Therapie maligner, besonders inoperabler Ge- schwülste, sondern man kann sie auch in Anwendung bringen im Gebiete der Hautkrankheiten, bei der Behandlung von Hämorrhoiden sowie überall da, wo man bei der Entfernung von Geschwülsten, Warzen, Cancroiden ein besonders gutes kosmetisches Resultat haben will. Vor allem die Angiome und die Naevi dürften in das Indikationsgebiet der Forest’schen Nadel fallen. Es muss noch hervorgehoben werden, dass die Anwendung des Verfahrens grosse Schmerzen bereitet, und dass nur bei tiefer Narkose von ihm Gebrauch gemacht werden kann. Dagegen fällt der Nachschmerz vollkommen weg. Ich habe immer und immer wieder von meinen Patienten gehört, dass sie nur über die Nachwehen der Narkose, aber nie über Schmerzen im Operations- gebiet zu klagen hatten.

Zum Schluss möchte ich Ihnen noch genauer über einen Fall berichten, den ich veranlasst habe, zur Vorstellung am heutigen Abend hierher zu kommen und der Ihnen die Vorzüge des von mir empfohlenen Verfahre.s recht deutlich vor Augen führen dürfte.

Fräulein D. leidet seit vielen Jahren an einem Gesichtslupus, der mit allen Mitteln, die uns zu Gebote stehen, behandelt worden ist. Vor vier Jahren wurden auch die Röntgenstrablen in aus- gedehntem Maasse zur Anwendung gebracht. Die Behandlung mit den X-Strahlen ist der Patientin in böser Erinnerung geblieben, weil sie die auftretenden Hautreaktionen lange Zeit empfindlich in ihrem Wohlbefinden gestört haben. Als Rest der Behandlung sind auf der rechten Gesichtsseite zahlreiche punktförmige Blutungen übrig geblieben, während sich vor etwa ?/, Jahren ein ständig an Ausdehnung zunehmendes Gesichtscarcinom auf der linken Wange ausbildete. Dieses ulzerierte bald und nahm eine derartige Ausdehnung an, dass in der Begrenzung von Nase, Oberlippe, linken Mundwinkel bis 1 cm unter dem unteren Augenlid alles von einem ausgedehnten jauchigen Krebsgeschwür eingenommen war, das gewulstete, zerklüftete Ränder aufwies und dessen In- filtration fast bis zur Mundschleimhaut reichte. Von einer chirurgischen Behandlung war nicht viel zu erwarten. Aus diesem Grunde schickte sie mir ihr Arzt zur Beurteilung, ob ein elektrisches Verfahren in Anwendung zu bringen wäre. Ich habe die Patientin

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in mehreren Sitzungen, das erste Mal am 1. Dezember v. J., operiert, und zwar wurde so vorgegangen, dass ich meinen linken Zeigefinger in die Mundhöhle einführte und mit der rechten Hand die Forest’sche Nadel im Bereiche des Tumors und noch 1 cm darüber hinaus an der Lippe war dies allerdings nicht mög- lich bis fast zur Mundschleimhaut durchstach. Die Wund- fläche wurde mit dem für solche Zwecke besonders gut geeigneten Perulenicetpuder dick bestreut. Der Eingriff wurde ambulatorisch vorgenommen. Der Puder klebte nun an der Wundfläche einer- seits und durch das Sekret andererseits an dem Tupfer fest und blieb so lange liegen, bis sich das nekrotische Geschwulstgewebe leicht ohne Blutung mit dem Tupfer zusammen herausheben liess. Unter der gleichen Behandlung verkleinerte sich der Defekt zu- sehends bis auf den Bezirk an der Lippe, der nicht radikal be- handelt worden war. Hier wurde zunächst noch einmal die gleiche Prozedur vorgenommen wie bei der ersten Operation, und sodann mit einer Radiumkapsel eine mehrstündige Bestrahlung der Partien angeschlossen, die noch als krebsverdächtig gelten konnten.

Ich möchte noch hervorheben. dass auch auf der rechten Wange ein halblinsengrosser Carcinomherd bestand, der durch eine einstündige Radiumbehandlung in 14 Tagen glatt zur Heilung gelangt war. Eine kleine Delle mit Pigmentierung können Sie jetzt noch an dieser Stelle sehen. Ich zeige Ihnen diese Patientin jetzt in einem Zustande, der noch nicht als Endresultat bezeichnet werden kann. Ich spreche auch nicht von einer Heilung, sondern nur von einer günstigen Beeinflussung; aber im ganzen ist das Resultat ein solches, dass man sich desselben erfreuen kann. Bedenken Sie nur, welche Defekte man hätte setzen müssen, um dieses ausgedehnte Careinom, das ich im Lumierebilde vor der Behandlung festgehalten habe, radikal durch das Messer zu beseitigen. Sie wissen, wie schwer es vor allem hält, an der Wange plastische Defekte züı decken, während hier ohne jede Plastik ein geradezu ideales kosmetisches "Resultat erzielt worden ist. Man kann sagen, dass die linke Wange eigentlich eine bessere Vernarbung zeigt als die rechte, wo ein Lupus unter der gewöhnlichen Therapie mit günstigem Erfolge behandelt worden ist, und ich glaube auch, dass bei vereinzelten Knötchen- eruptionen die Behandlung mit der Forest’schen. Nadel ihre guten Resultate geben wird.

Zusammenfassung:

Ich kann daher wohl sagen, dass wir in der Anwendung der ungedämpften elektrischen Schwingungen in der Form der Forest’schen Nadel ein neues Verfahren besitzen, das imstande ist, an die Stelle anderer operativer Maassnahmen zu treten und diese zu vereinfachen, und dass die elektrische Nadel vermöge ihrer eigentümlichen vitalisierenden Kraft auf das Gesunde gerade dort ihr Hauptbetätigungsfeld finden wird, wo durch eine Krank- heit schon grössere Defekte bestehen oder zu Heilungszwecken gesetzt werden müssen.

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Experimentelle Untersuchungen über den Ein- fluss der lokalen Behandlung auf die Entzündung.

Von

Professor Dr. J. Schäffer - Breslau.

M. H.! Ueber das von mir angekündigte Thema habe ich Ihnen schon vor einiger Zeit eine kurze Mitteilung gemacht, als ich ‘meine ersten experimentellen Untersuchungen über den Einfluss der üblichen Entzündungsbehandlung begonnen hatte. Nachdem ich mit dieser Arbeit zu einem gewissen Abschluss - gekommen bin, und ich jetzt auch Gelegenheit habe, Ihnen die Präparate mit dem Skioptikon zu demonstrieren, will ich mir ge- statten, Ihnen in aller Kürze über die Hauptergebnisse zu be- richten. Ich kann Ihnen genauere Details und technische Einzel- heiten ersparen, da ich den gleichen Gegenstand ausführlich in einer Monographie behandelt habe.t)

Bei diesen Untersuchungen handelt es sich um die für jeden Praktiker wichtige Frage: Wie wirken die von uns alltäglich verwandten Behandlungsmethoden auf die lokale Entzündung?

Obgleich die praktische Heilkunde seit Jahrhunderten, ja zum Teil seit Jahrtausenden dauernd und alltäglich mit diesen Maassnahmen arbeitet, ist eine Klärung über ihre eigentliche Wirkungsweise noch nicht erfolgt. Verschiedene Anschauungen stehen sich hier unvermittelt gegenüber. Dies liegt offenbar vor allem daran, dass man im grossen ganzen auf die grobe Empyrie angewiesen war; und sie hat den einen dieses, den anderen jenes gelehrt. Wo der eine Arzt Hitze verwendet, behandelt der andere mit Kälte; der eine schwärmt für feuchte Verbände und nennt sie ein vorzügliches Antiphlogistikum; der andere verwirft sie, weil er fürchtet, dass sie die Entzündung steigern und ver- schleppen könnten, und so fort.

1) Der Einfluss unserer therapeutischen Maassnahmen auf die Ent- zündung. Mit 11zum Teil farbigen Tafeln. Verlag von Ferdinand Enke, Stuttgart.

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Jeder Arzt kennt wohl solche in der Praxis bisweilen recht peinliche Widersprüche. ;

Einem Patienten mit Epididymitis werden heisse Umschläge verordnet. Erstaunt sagt er, dass er bisher wohl falsch behandelt worden sei; denn er habe ja gerade das Gegenteil, Eisblase, be- kommen. Nun, man wird schon eine Antwort finden, um das gefährdete Vertrauen zur ärztlichen Kunst und die Kollegialität zu wahren, aber die Antwort: Welcher von den beiden Aerzten hat denn recht? ist nicht so leicht zu geben.

Die Hauptursache dafür, dass die klinische Beobachtung bisher uns so auffallend wenig strikte Indikationen für die Ent- zündungstherapie gegeben hat, ist wohl die, dass die gewöhnlichen, scheinbar so einfach und typisch verlaufenden Entzündungsprozesse doch im Grunde genommen ganz verschiedenartig hinsichtlich der Tendenz ihres weiteren Verlaufs sind, dass sie, ich möchte sagen, von Anfang an verschiedenartig angelegt sind. So können wir ja selbst bei einem gewöhnlichen Furunkel, bei einer Drüsenent- zündung, bei einer Epididymitis uns niemals ganz sicher über die Zeitdauer bis zur Abheilung äussern. Verwende ich nun bei einer solchen Entzündung irgendeine Behandlungsmethode, so werde ich leicht in einem günstigen Falle den schnellen Verlauf auf die Therapie zurückführen und umgekehrt. So erklären sich dann die verschiedenen Ansichten und Auffassungen der einzelnen Aerzte. Ja, hätten wir es in der Praxis wirklich mit absolut gleichartigen und gleichwertigen Entzündungsvorgängen zu tun, dann wäre diese Frage praktisch längst entschieden.

Ich meine nun, dass hier das Experiment einsetzen und die Aufklärung bringen muss. Wir müssen versuchen einen bestimmten, wohlgraduierten Entzündungsreiz aus- zulösen, um daran den Effekt der verschiedenen Be- handlungsmethoden zu studieren. Dieses scheinbar so ein- fache Postulat ist aber durchaus nicht leicht zu erfüllen. Es gibt schon ältere Untersuchungen über diese doch eigentlich sehr nahe liegende Frage; sie führten zu keinem brauchbaren Resultat, weil die Grundbedingung für derartige Experimente fehlt: eine Ent- zündung von bestimmter Art, Stärke und Ausdehnung künstlich hervorzurufen. Ich will auf die älteren Experimente mit sub- eutanen Injektionen, Einführung von Glasperlen, Verätzungen usw. nicht eingehen, Ihnen auch meine Vorversuche nicht mitteilen, sondern bald über die schliesslich von mir ausgearbeitete Faden- methode berichten, die wie ich glaube am meisten die gewünschten Forderungen erfüllt.

An symmetrischen Stellen eines Versuchstieres werden nach einer bestimmten Technik Catgut- oder Seidenfäden, die mit einer entzündungs- erregenden Flüssigkeit getränkt sind, durch die Haut und das Unterhaut- bindegewebe eingeführt. Ich bekomme dann, wie Ihnen die Präparate zeigen werden, einen bestimmten gleichstarken Entzündungsvorgang auf beiden Seiten. Auf der einen Seite nehme ich nun irgendeine Behand- lung vor, heisse Umschläge, Eisblase, Spiritusverbände usw., während die andere Seite unbehandelt bleibt und nun jederzeit als Kontroll- präparat dienen kann.

32 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Diese Versuchsanordnung bietet nun die Möglichkeit eine grosse Anzahl von Modifikationen der Versuche vorzunehmen: Ich kann eine reine Fremdkörperentzündung erzeugen, wenn ich die Faden steril ein- führe, eine chemische Entzündung, wenn ich sie in Karbol- oder Höllen- steinlösung tauche, eine bakterielle Entzündung durch vorheriges Im- prägnierern der Fäden mit Staphylokokken-, Streptokokken - Auf- schwemmungen usw. Ich bin in der Lage, die Behandlung zu jeder beliebigen Zeit einzuleiten, bald zu Beginn des Versuchs, also im ersten Stadium der Entzündung, oder auch später, nachdem sich schon ein stärkeres Infiltrat entwickelt hat. Ich kann die Behandlung jederzeit aussetzen und beobachten, wie dann der Entzündungsprozess weiter ab- läuft. Der Entzündungsreiz lässt sich aber auch beliebig unterbrechen.

einfach durch Herausziehen des Fadens kurz die Versuchs- anordnung kann einer bestimmten klinischen Fragestellung angepasst werden, und ich habe worauf ich den allergrössten Wert lege stets

in der unbehandelten Kontrollseite ein wertvolles Vergleichsobjekt, um eben genau feststellen zu können, was die Therapie geleistet hat. Zum Schluss des Versuchs werden die beiden symmetrischen Hautstücke exzidiert und so geschnitten, dass der Faden quer getroffen wird.

Ich will Ihnen natürlich Einzelheiten der Technik ersparen; sie wird in der oben erwähnten Monographie ausführlich behandelt.

Für die heutige Demonstration wählte ich vor allem Fäden, die mit Höllenstein imprägniert wurden, weil sie wegen des starken, scharfumschriebenen Entzündungswalles für die relativ schwache Vergrösserung bei der Skioptikon-Demonstration sich am besten eignen.

Ich demonstriere Ihnen zuerst einen Vorversuch, der Ihnen eine solche Fadenentzündung zeigen soll.

Sie sehen in diesem Präparat!) (es handelt sich um einen Versuch an Kaninchen, die ich meist für diese Experimente verwandte) die Haut des Tieres, den Querschnitt des Catgutfadens, dessen Braunfärbung von der 5proz. Höllensteinlösung herrührt; ringsum ein ovaläres Intiltrat ziemlich scharf umschrieben, wie es eben einer solch intensiven Argentum- wirkung während der Sstündigen Versuchsdauer entspricht. Das In- filtrat schliesst aber den Faden nicht gleichmässig ein; er liegt vielmehr exzentrisch. Dies rührt daher, dass die verschiedenen Hautschichten auf denselben Entzündungsreiz nicht gleich stark reagieren: das Epithel mit ganz geringen entzündlichen Erscheinungen, stärker schon die subepitheliale Zone, am meisten aber die lockere Schicht über der Muskulatur. Der Muskel selbst reagiert sehr wenig, die darunter liegende Schicht aber um so stärker.

Da in unserem Schnitt der Faden etwa an der Grenze zwischen subepithelialer und supramuskulärer Zone liegt, sehen wir nach unten zu eine stärkere Zellansammlung, die eben die exzentrische Lage be- dingt. Wir müssen jedenfalls beim Vergleich der beiden Seiten stets dieselben Fadenhöhen (oder wenigstens gleich reagierende Schichten) wählen, um nicht zu Trugschlüssen zu kommen.

Im zweiten Präparat liegt der Faden gerade in der Muskulatur; das Infiltrat bildet dabei eine Art von Achterfigur, weil in der Muskel-

il) Vergleiche Figur la, das Kontrollpräparat zum ersten Versuch. Die mikroskopischen Bilder sind mit freundlicher Erlaubnis des Verlages F. Enke in Stuttgart nach den zum Teil farbigen Tafeln der eingangs erwähnten Monographie hergestellt. Der beschränkte Raum gestattet es nur einen kleinen Teil der zahlreichen Abbildungen hier wiederzugeben.

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 33

schicht selbt ein ganz geringer, nach oben und unten zu aber wieder ein sehr heftiger reaktiver Entszündungsvorgang sieh abspielt. Der Grad der Reaktionsfähigkeit hängt natürlich in erster Reihe von dem Reichtum an Blut- und Lymphgefässen ab.

Ich beginne mit den Behandlungsversuchen und zwar mit einer in der Praxis ja ungemein häufig verwandten Methode, der lokalen Wärmetherapie entzündlicher Vorgänge. Sie hat sich in der Schulmedizin wie in der Heilkunde der Laien durch Jahrtausende erhalten von der Behandlung der Aegypter mit heissen Ziegelsteinen bis zu den modernen elektrisch be- triebenen Heissluftdouschen und Wärmedosen. Aber gerade hier zeigt sich, dass die klinische Beobachtung gar leicht zu falschen Anschauungen führt. Man kann auch jetzt in vielen Lehrbüchern noch lesen, dass die lokale Wärmetherapie die entzündlichen Vorgänge steigert und die Eiterung vermehrt. Die durch die Wärmeapplikation verstärkte Hyperämie täuscht eine stärkere Entzündung vor. Sie werden aber bald sehen, dass diese An- schauung irrig ist. Ich will gleich von vornherein bemerken, dass ich die verschiedenen Arten der Hitzeapplikation unter- suchte: trockene Hitze, Heissluftbehandlung, Thermophor- kissen, auch die gewöhnlichen Breiumschläge, die sich ja gerade beim Laienpublikum, namentlich bei den weiblichen Familien- angehörigen der Patienten, einer ausserordentlichen Beliebt- heit erfreuen. Da ich aber wesentliche Unterschiede bei den verschiedenen Formen nicht fand, will ich Sie nicht mit den zahlreichen Präparaten behelligen und die Wärmebehandlung im ganzen vorführen.

Der erste Versuch bezieht sich auf eine frühzeitige Be- handlung, die also schon im allerersten Beginn des Ent- zündungsvorganges einsetzt. Es ist ein Versuch von Sstündiger Dauer. Die Versuchsanordnung entspricht freilich den gewöhn- lichen Verhältnissen der Praxis nicht, weil wir Aerzte es meist schon mit ausgesprochenen Entzündungsprozessen zu tun haben. Gelegentlich kommt man aber doch dazu z.B. bei einem eben beginnenden Bubo, bei einer akuten Epididymitis schon im allerfrühesten Stadium die Wärmebehandlung einleiten zu können.

Zuerst die Kontrollseite (Fig. la), also die Entzündung, die der Höllensteinfaden während S Stunden ohne therapeutische Beeinflussung auslöst. Es ist also ein Präparat ähnlich wie das erste, das wir uns eben nur als Vergleichsbild zu der Gegenseite kurz zu betrachten brauchen. Ich bitte Sie nur zu beachten, dass der Faden selbst noch reichlich Höllenstein enthält, und dass auch in der Umgebung deutliche braunschwarze Argentumniederschläge zu erkennen sind.

Auf der behandelten Seite ein absolut anderes Bild (Fig. 1b). Der Faden liegt scheinbar reaktionslos im Gewebe. Sehen wir uns das Präparat genauer an, so finden wir eine ausserordentlich starke arterielle Hyperämie. Oft sind die Arterien gegenüber der (regen- seite um das drei-, vierfache dilatiert und haben ein ebenso weites Lumen wie die begleitenden Venen. Ebenso erkennen wir eine sehr starke Füllung sämtlicher Lymphgefässe und Lymphspalten. Die Gewebsbündel sind auseinander gedrängt, das Gewebe serös durchtränkt, daher es locker gewebt, weitmaschiger erscheint.

Schlesische Gesellsch. f. vaterl. Kultur. 1910. II, 3

34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Figur 1a.

Unbehandelt.

Diese Iymphatische Zirkulation ist am stärksten um den irritieren- den Fremdkörper herum, wo sich geradezu Seen von Lymphe gebildet haben. Dagegen fällt uns auf, dass die Höllensteinniederschläge im Ge- webe sehr viel schwächer sind. Es fand also eine stärkere Resorption statt, die zu bekämpfende Schädlichkeit (hier Höllenstein), wurde sehr viel mehr in Angriff genommen und beseitigt als auf der Kontrollseite.

Am meisten aber interessiert uns das Verhalten der Leuko- eyten, also die Frage der lokalen Eiterung. Nun, Sie sehen, dass bei ganz frühzeitiger Hitzeapplikation eine Eiterung voliständig ver- misst wird. Auf den ersten Bliek scheinen die Entzündungszellen ganz zu fehlen, wenigstens ist in dem abgebildeten Präparat kaum etwas da- von zu bemerken; mit starker Vergrösserung finden wir aber doch in den Gefässen selbst und in ihrer unmittelbaren Umgebung eine deutliche Leukoeytose, bei genauerer Untersuehung mit Oelimmersion auch eigen- artige Gebilde, schwach gefärbte, in Degeneration begriffene weisse Blutkörperchen, nirgends aber eine nennenswerte Infiltrations- bildung.

Ich will hier auf theoretische Erörterungen möglichst wenig eingehen, aber doch einige Worte sagen über die sehr auffallende Tatsache, dass wir hier so wenig Leukocyten um den irritieren- den Fremdkörper finden. Aus meinen Versuchen geht hervor, dass mehrere Ursachen schuld daran sind. Erstens treten wegen der erhöhten Zirkulationsschnelligkeit weniger weisse Blutkörperchen aus den Gefässen heraus (man sieht sie auch weniger wandständig als auf der Kontrollseite). Zweitens werden sie durch die er- höhte Iymphatische Zirkulation schneller fortgespült und verteilt und endlich der bei weitem wesentlichste Punkt werden sie durch die so reichlich vorhandene Lymphe aufgelöst unter der Bildung eigenartiger Degenerationsformen, die ich in An-

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Figur 1b.

Behandelt.

Einfluss der Wärmebehandlung auf einen Entzündungsprozess.

lehnung an die Ponfick’sche Bezeichnung: Schattenbildung der roten Blutkörperchen „Leukocytenschatten“ nannte. Es sind also tatsächlich viel mehr Leukocyten hierbei mit im Spiele, als es dem histologischen Bild entspricht; sie wirken wahrschein- lich sogar biologisch besonders intensiv durch das Freiwerden der in ihnen enthaltenen Stoffe, vielleicht im Sinne der Buchner- schen Alexintheorie, aber sie kommen jedenfalls klinisch für die Bildung umschriebener Eiterberde nicht in Betracht.

Den klinischen Verhältnissen mehr entspricht der nächste Versuch, der sich auf die Hitzebehandlung eines schon be- stehenden entzündlichen Infiltrats bezieht. Der Versuch wird so angestellt, dass ich auf beiden Seiten einen Höllenstein- faden durchziehe, nach 6 Stunden beide Fäden entferne und nun auf einer Seite eine bestimmte Zeit (wieder 6 Stunden) behandle. Ich habe also ein 6stündiges Infiltrat auf beiden Seiten gesetzt,

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36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

das nur auf einer Seite beeinflusst wird. (Hätte ich den Faden liegen gelassen, so würde er ja in den letzten 6 Stunden noch neue Infiltratvorgänge ausgelöst haben. Der Versuch wäre da- durch komplizierter geworden.)

Wir finden also aut der Kontrollseite!) ein starkes umschriebenes Infiltrat und die Stelle des entfernten Fadens markiert durch die noch ziemlich deutlichen Höllensteinniederschläge.e Auch in der Umgebung noch entzündliche Vorgänge.

Und nun wollen wir sehen, was die nachträgliche Hitzebehandlung geleistet hat. Auf der behandelten Seite erkennen wir sofort einen ganz erheblichen Effekt im Sinne einer Verringerung und Verteilung der Eiterung. Freilich ist es in dieser Zeit der Behandlung nicht gelungen, die Infiltratbildung vollständig zu beseitigen, aber sie sehen ganz deut- lieh, dass die ursprünglich starke Eiterung erheblich ver- mindert und in die weitere Umgebung verteilt wurde. Wir müssen nach diesen und anderen Experimenten annehmen, dass bei weiterer Fortsetzung der Hitzebehandlung beispielsweise bei regel- mässiger Wiederholung an den folgenden Tagen es schliesslich ge- lingen wird, die lokale Entzündung ganz zu beseitigen. Auch in diesem Präparat ist überall cine starke Erweiterung der Gefässe, besonders der Arterien, eine seröse Durchtränkung erkennbar. Gerade nach der Stelle, wo der Faden lag, nach der Lücke (die auf der Kontrollseite bereits ge- schlossen war) strömt die unter dem Einfluss der Wärme reichlich zirkulierende Lymphe zu... Sie bildet eine stets wieder zu kon- statierende Tatsache die stärkste Lymphansammlung, einen Lymph- see am Locus minoris resistentiae.

Diese Tatsache ist von grosser Bedeutung für die Frage der Abscessbildung. Ist nämlich bei dem zu behandelnden Ent- zündungsprozess eine stärkere Gewebsschädigung, eine um- schriebene Nekrose, eine vielleicht klinisch schon nachweisbare „Gewebslücke“ vorhanden, dann ist es leicht möglich, dass die Hitzebehandlung zur Beschleunigung der Abscessbildung und zum schnelleren Durchbruch führt, weil eben nach jener Stelle die Lymphe schon aus rein physikalisch-mechanischen Gründen hinströmend eine Abscedierung nach aussen begünstigt. Ich habe dies auch klinisch bisweilen konstatieren können und fand dann den Abscessinhalt meist dünn eitrig, also mit Iymphatischer Bei- mischung, sah auch dann gewöhnlich eine schnelle und günstige Rückbildung des ganzen Prozesses. Bei der Bubotherapie bei- spielsweise kommt man nach vorausgegangener Wärme- applikation oft mit ganz kleinen Inzisionen aus. Das Secret wird bald dünnflüssig. serös. Die Heilung erfolgt schnell, namentlich wenn die Hitzeapplikation noch weiter fortgesetzt wird.

Von grosser praktischer Bedeutung ist die Frage: Wie ist der Ablauf der Entzündung nach Aussetzen der Hitze- behandlung? Strömen nicht jetzt in die reichlich vaskulari- sierten und lymphatisch durchtränkten Gewebe und nach der Fadenstelle die Leukocyten um so reichlicher? Wird nicht das, was bisher versäumt wurde, jetzt nachgeholt, gerade weil die Pforten, aus denen die Entzündungszellen kommen, weit geöffnet

1) Die hier beschriebenen Präparate sind in der erwähnten Mono- graphie reproduziert.

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I. Abteilung. Medizinische Sektion. 37

sind? Damit würde natürlich die anfangs erreichte Eiterungs- verhinderung wieder vereitelt. Doch das trifft nicht zu.

Im Gegenteil: die Vorgänge, wie sie einmal die Hitze angebahnt hat, bleiben lange Zeit, auffallenderweise 24, ja 36 Stunden in ganz ähnlichem Sinne bestehen! Dies soll uns das folgende Experiment zeigen.

Der Versuch gestaltet sich so, dass ich auf beiden Seiten die Argentumfäden (5 pCt.) durchziehe, auf der einen Seite von Anfang an, und zwar 6 Stunden behandle, nach dieser Zeit die heissen Umschläge fortlasse und erst nach 24 Stunden die Exeision vornehme, um zu sehen, wie während dieser Zeit sich die Entzündungsvorgänge gestaltet haben.

Sie sehen auf der Kontrollseite ein mächtiges Infiltrat, das, der langen Versuchsdauer entsprechend, stärker ist, als wir es bisher sahen.

Auf der anderen, der behandelten Seite, ein ganz anderes Bild, Es ist gar keine Rede davon, dass nach dem Aussetzen der Hitze- behandlung etwa eine reaktive Entzündung bald einsetzt, vielmehr und ich sehe nach allen meinen Versuchen dieses Verhalten als etwas Gesetzmässiges an -— hat die Hitzetherapie eine ganz auffallende Nach- wirkung in dem Sinne, dass auch nach dem Aussetzen der eiterungs- verhindernde Effekt für lange Zeit bestehen bleibt. Sie sehen um den Faden herum nur ganz unbedeutende diffus verteilte, streifige Leuko- eytenherde; dagegen besteht noch ein sehr deutliches Oedem, eine ausser- ordentlich starke Hyperämie.

Der durch die Hitzebehandlung einmal veränderte Modus der Zirkulationsvorgänge wird also lange Zeit nahezu unverändert beibehalten. Es ist wenn ich diesen Vergleich ziehen darf —, als ob ich eine Maschinerie durch eine Steuerung auf eine neue Gangart eingestellt hätte. Die Maschine läuft in dieser Ein- stellung weiter. Dieses Verhalten scheint mir für die praktische Verwendung der Hitzebehandlung sehr wichtig; ich kann z. B. einen ganz wesentlichen Effekt erreichen, wenn ich nur zeitweise mit Hitze behandle, beispielsweise zweimal 1—2 Stunden und zwischendurch vollständig aussetze. Die Durchführung einer dauernden lokalen Hitzetherapie ist ja aus äusseren Gründen störend, oft überhaupt undurchführbar, schädigt mit der Zeit auch das Gewebe, und wir können tatsächlich eben mit kürzerer zwei- oder dreimal vorgenommener Hitzeapplikation annähernd das Gleiche erreichen, weil hier eine so ausgesprochene Nachwirkung vorliegt. Besonders wirksam wird diese kurz wiederholte Hitze- behandlung, wenn ich zwischendurch eine Lokalbehandlung ver- wende, die in ähnlichem Sinne wirkt: nämlich schwache Spiritus- verbände. Auf diesen Punkt komme ich später noch einmal zurück.

Von den Hitzeversuchen will ich Ihnen noch die nächsten zwei Präparate demonstrieren. Sie zeigen uns den Einfluss thermischer Behandlung auf einen bakteriellen Prozess, was naturgemäss in praktischer Hinsicht von grösstem Interesse ist. Ich will aber gleich von vornherein als ein gesetzmässiges Er- gebnis einer grossen Anzahl von Versuchen mitteilen, dass unsere Lokaltherapie stets in gleichem Sinne auf die Ent- zündung wirkt, gleichviel wodurch diese ausgelöst wurde.

33 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Der Versuch ist angestellt mit sterilen Seidenfäden, die mit Aufschwemmungen eines virulenten Stammes von Staphylococcus aureus imprägniert sind. Im übrigen entspricht die Versuchs- anordnuug ganz der des ersten Versuchs.

Auf der Kontrollseite!) sieht man einen solchen Seidenfaden, der vollständig durchsetztist von Leukocyten, die eben unter dem Einfluss der Staphylokokken sich ansammelten. Der Faden selbst ist ungefärbt, wird aber dadurch mit seinem Maschenwerk deutlich sichtbar, dass die Lücken von den Leukocyten ausgefüllt sind.

Ganz anders die mit heissen Umschlägen behandelte Seite (in diesem Fall wurden die gewöhnlichen heissen Breiumschläge ver- wandt). Sie sehen, dass die Hitze auch die bakterielle Leuko- eytose verhindert. Wir haben sonst wieder die arterielle Hyperämie, die seröse Transsudation des ganzen Gewebes, die stärkste Ansammlung von Flüssigkeit in der Gegend des Fadens, der in einem See von Lymphe schwimmt. Besonders interessant ist das Verhalten der Staphylokokken auf der Kontroll- und behandelten Seite. Auf der be- handelten Seite weniger Bakterien, meist auch etwas schlechter gefärbt und nicht etwa durch die stärkere Fluxion weiter verschleppt, wie man leicht vermuten könnte, Wir können also sagen, dass auch in dieser Hinsicht die Hitze günstig wirkt.

Natürlich ist es nicht angängig, dieses mit Staphylokokken ge- wonnene Resultat auch bezügiich anderer bakterieller Erkrankungen so ohne weiteres zu verallgemeinern. Indessen deuten manche klinische Beobachtungen darauf hin, dass es auch bei anderen Infektionen sich ebenso verhält. Das Resultat steht ferner im guten Einklang mit den modernen theoretischen Vorstellungen von den im Serum enthaltenen Schutzstoffen, von der Autoserumtherapie und den beim Zerfall der Leukocyten freiwerdenden wirksamen proteolytischen Enzymen. Dagegen scheinen wenigstens in unserem Falle die Leukocyten nicht die bedeutsame, Ihnen von Metschnikoff zugeschriebene Rolle zu spielen.

Von der Hitzeapplikation nur noch ein Präparat, das sich auf die Frage der zu verwendenden Temperatur bei der Wärmetherapie bezieht. Ich habe eine Anzahl von Ver- suchen mit verschiedener Temperatur gemacht und dabei kon- statiert, das man nie bis zur Grenze der Gewebsschädigung gehen soll. Bei feuchter Wärme nicht über 41° C., bei trockener Wärme nicht über 450 C. Meine Befunde stimmen hier gut mit den von den Klinikern angegebenen Zahlen. Ich glaube, dass man im ganzen in der Praxis damit auskommt, dass man sich nach dem subjektiven Empfinden des Patienten, also nach der klinischen Verträglichkeit richtet. Jedenfalls ist aber die Vor- stellung, etwa durch eine übermässige Hitzeapplikatiou besonders viel erreichen zu können, ganz falsch. Man könnte ja denken, dass gerade eine übertriebene Hitze noch besser verteilend und eiterungsverhindernd wirkt eine Ansicht, zu der übrigens das Laienpublikum oft neigt. Indessen das Gegenteil ist der Fall. Ueberschreite ich nämlich die noch vertragene Tempe- ratur, so fällt die eigenartige, sonst regelmässig auf- tretende Einwirkung der Wärmetherapie auf die Ent-

1) Vergl. die ganz ähnlichen Bilder des Versuchs mit Staphylo- kokkenseidenfäden und Alkoholverband (Fig. 5a und 5b).

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I. Abteilung. Medizinische Sektion. 39

zündung fort. Die Infiltrate werden nicht verhindert, wie Ihnen das Präparat zeigt.

Es ist ein sechsstündiger Versuch, wie der erste mit einem 5proz. Höllensteinfaden; Umschläge von 48S—50° C.

Das Infiltrat ist eher stärker, kompakter wie auf der Kontrollseite, keine Spur der für die richtig durchgeführte Wärmetherapie charakte- ristischen Erscheinungen der Hyperämie, der Lymphfluxion, der Leuko- eytose verhindernden Wirkung. Dagegen erkennen Sie im Präparat ganz deutlich eine Gewebsschädigung: Hämorrhagien, Schädigungen der Gefäss- wände, bisweilen sogar Stase und Austreten von Hämosglobin.

M. H.! Bei den anderen therapeutischen Maassnahmen, die wir in ihrer Wirkungsweise noch experimentell zu untersuchen haben, kann ich mich viel kürzer fassen. Ich habe mich mit dem ersten Abschnitt, der Hitzetherapie, absichtlich eingehender beschäftigt, um Ihnen das Prinzip und die Art der Untersuchungs- methode zu zeigen.

Die Kältebehandlung kann ich auch darum weniger aus- führlich besprechen, weil über diese einigermaassen richtige Vor- stellungen herrschen. Freilich existieren auch keine genaueren Untersuchungen über die feineren Vorgänge der unter dem Ein- fluss der Kältewirkung ablaufenden Entzündung. Unsere Kenntnisse über die meisten klinisch wichtigen Dinge sind noch sehr lücken- haft; die bisherigen Untersuchungen haben nur einige Einzelfragen beantwortet.

Meine ersten Versuche mit einer ziemlich starkwandigen Gummieisblase hatten keine brauchbaren Resultate ergeben. Ich bekam erst sicher überzeugende Präparate, als ich die gewöhn- liche Schweinseisblase verwandte. Man sollte nicht glauben, wie von derartigen Kleinigkeiten die therapeutische Wirkung abhängt. Im weiteren Verfolg meiner Versuche salhı ich, dass man schliess- lich auch mit einer Gummieisblase etwas erreichen kann, wenn man eine dünnwandige wählt, kleine Eisstückchen nimmt, Luft und Wasser aus der Eisblase ablässt und darau fachtet, dass die Blase wirklich gleichmässig anliegt.

Ich zeige Ihnen zuerst wieder einen Argent. nitr.-Faden- versuch mit frühzeitiger Behandlung (Fig. 2a und 2b).

Die unbehandelte Seite als Kontroll- und Vergleichsobjekt bietet also das bekannte Bild der reaktiven Entzündung um den Faden herum.

Das Präparat der anderen Seite (Fig. 2b) lehrt auf den ersten Blick, dass wir bei so frühzeitiger Verwendung der Eisblase ein ausser- ordentlich wirksames Mittel haben, entzündliche Vorgänge zu vermeiden. Der Faden mit der stark irritierenden Substanz liegt nahezu reaktionslos im Gewebe. Nur dort, wo kleine Gefässe in der Nach- barschaft liegen, erkennen Sie Ansammlungen von Leukocyten. Auch sonst ist in dem Schnitt schon mit schwacher Vergrösserung zu kon- statieren, dass in und um die Gefässe herum zahlreiche weisse Blutkörperchen gelagert sind. Diese strangförmigen eben dem Gefässverlauf entsprechenden Infiltrate sind geradezu als charakteristisch für die entzündlichen Vorgänge unter der Kältewirkung anzusehen.

Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man annehmen, dass etwas Aehnliches vorliegt wie bei der frühzeitigen Hitzebehand- lung, wo ja gleichfalls der Faden scheinbar reaktionslos im Ge-

40 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Figur 2a.

Unbehandelt.

webe lag. Tatsächlich liegen aber hier ganz andere Verhältnisse vor. Wir haben ja bei der thermischen Behandlung eine ge- waltige Reaktion von seiten des Blut- und Lymphgefässsystems. Hier aber wird tatsächlich die natürliche Reaktion des Organismus vollständig gehemmt, eine Hemmung, die ich auf die unmittel- bar lähmende Einwirkung der Kälte auf die Leukocyten zurück- führe. Ich möchte den hier sich abspielenden Vorgang als etwas Ungünstiges auffassen, vor allem weil das schädliche Agens (hier das Argent. nitrieum) gar nicht in Angriff genommen wird. Die sonst dem Organismus zur Verfügung stehenden Abwehrmittel, die heilsame Reaktion wird so gut wie vollständig ausgeschaltet, daher denn auch die Höllensteinmassen unvermindert und un- verändert an dieser Stelle liegen bleiben (der längliche Streifen am Fadenquerschnitt in Fig. 2b), während sie auf der Kontroll- seite doch zum Teil schon bekämpft und fortgeschafft wurden und vollends gar in den Hitzepräparaten in der gleichen Zeit schon fast vollständig beseitigt waren.

Sehen wir aber von dieser allgemeinen biologischen Frage ab, und beschäftigen wir uns vorläufig nur mit der lokalen Eiterung unter dem Einfluss der Kältetherapie. Sie gelingt ja freilich bei ganz frühzeitiger Behandlung ebensogut, wie mit Hitzeapplikation. Tatsächlich wird der praktische Effekt aber sehr überschätzt, wenn wir nur diesen einen Versuch mit so- fortiger Behandlung betrachten. Wir finden nämlich ganz im prinzipiellen Gegensatz zu der Einwirkung der Hitze dass nach

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Figur 2b.

Behandelt.

Einfluss der Kältebehandlung auf einen Entzündungsprozess.

Fortlassen der Kältebehandlung sogleich eine sehr starke reaktive Entzündung einsetzt, dass die gelähmten Eiterkörperchen bald aus ihrem lethargischen Zustand erwachen und massenhaft nach dem Faden zuströmen, um so mehr, als ja das schädliche irritierende Agens unverarbeitet liegen blieb.

Dies lehrt uns der nächste Versuch, der genau dem oben vor- geführten Hitzeexperiment zur Demonstration des weiteren Verlaufs nach dem Fortfall der Lokalbehandlung entspricht. Ich habe den Versuch auch in der zeitlichen Anordnung ganz analog vorgenommen; also 6 Stunden Kältebehandlung und 24 Stunden ohne Be- handlung.

Im Kontrollpräparat eine starke reaktive Entzündung von 6 + 24 Stunden.

Die behandelte Seite zeigt keinen, jedenfalls keinen wesent- lichen Unterschied mehr, während der analoge Hitzeversuch eine enorme Differenz aufwies. Daraus ergibt sich also die praktisch wichtige Kon- sequenz, dass nach dem Aussetzen der Kältebehandlung die versäumte Eiterung sehr bald nachgeholt wird, dass also keine Spur von Nachwirkung, wie bei der Hitze, vorhanden ist.

Will ich also etwas Sicheres im Sinne der Eiterungsverhinde- rung wit der Eisblase erreichen, so muss ich diese langdauernd und ohne Unterbrechung (möglichst auch nachts) verwenden. Eine

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solche Verlangsamung und Verzögerung einer Entzündung kann natürlich in manchen Fällen uns sehr erwünscht und von grösstem Nutzen sein. Handelt es sich z. B. um einen lokalisierten Eiterungsherd in der Nähe des Peritoneums oder sonst einer grösseren Körperhöhle oder in der unmittelbaren Nachbarschaft eines lebenswichtigen Organs, so dass wir beim weiteren Fort- schreiten der lokalen Entzündung ein Uebergreifen und damit eine unmittelbare Lebensgefahr fürchten müssen, dann ist naturgemäss die den Prozess hemmende Kälte aber möglichst kontinuier- lich strikte indiziert. Oder haben wir es mit einem akuten Entzündungsprozess, sagen wir bakterieller Natur zu tun, von dem eine gefahrdrohende Allgemeinresorption mit hohem Fieber aus- geht, dann brauchen wir wieder die Eisblase. Liegen aber derartige Rücksichten nicht vor, dann scheint mir der lokale Entzündungsprozess selbst Hitze, nicht Kälte- behandlung zu erfordern, weil nämlich dann an Ort und Stelle zweifellos eine schnellere Heilung und Restitutio ad integrum erfolgt.

Dies stimmt auch mit meinen praktischen Erfahrungen überein, und ich will nur ein Beispiel, bei dem man diese Vorgänge deutlich über- sehen kann, aus meinem Spezialfach anführen: die Epididymitis acuta. Wählt man hier die Eisblase und sie wird gerade bei dieser Erkrankung von manchen bevorzugt, weil sie sehr gut sympto- matisch wirkt dann bekommen wir zuerst eine scheinbar günstige Ab- schwellung. Indessen der Prozess wird sehr hingehalten, verzögert, und es bleiben dann die derben narbenähnlichen Infiltrate lange Zeit, viel- leicht auch dauernd zurück. Die Hitzebehandlung aber bekämpft von Anfang an die Schädlichkeit, schafft das Infiltrat fort. Wir erzielen eine bessere Restitutio adintegrum und vermeiden so die die Funktion des Organs gefährdenden chronischen Infiltratreste.

Die nächsten Versuche beziehen sich auf die in der Praxis ja gleichfalls ausserordentlich viel verwandten feuchten Ver- bände. Aber auch hier arbeitet man mit Methoden, deren eigentliche Wirkung uns wenig bekannt ist. Ueber den Einfluss der feuchten Verbände gehen die Meinungen der Aerzte sehr aus- einander. Ich sprach schon in der Einleitung davon, dass manche Autoren sie für eiterunghemmend halten, dass andere wieder ihre Verwendung widerraten, weil sie meinen, dass sie eine Eiterung verstärken, eine bakterielle Entzündung verschleppen.

(In Parenthese will ich bemerken, dass ich hier nicht von der Ein- wirkung feuchter Verbände auf Wunden oder Erosionen spreche, wobei ja die verwandte Lösung direkt auf das erkrankte Gewebe wirkt teils chemisch, teils physikalisch insbesondere auch unmittelbar auf die Bakterien. Ich spreche hier vielmehr von dem Einfluss auf Entzündungs-

prozesse bei intakter Haut. Natürlich werden aber auch diese Momente bei der Behandlung „offener Stellen“ ausserdem eine Rolle spielen, ab- gesehen von der direkten Beeinflussung der Wundfläche).

Die Versuche mit den feuchten Verbänden sind nicht sehr einfach. Ich habe zu Anfang gar keine übereinstimmenden Ergebnisse bekommen, bis ich nach zahlreichen Experimenten

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dahinterkam, dass an den ungleichmässigen Resultaten die nicht genügend exakte Technik der feuchten Verbände schuld war. Prinzipiell sind nach meinen Untersuchungen zwei Formen der Ver- bände zu unterscheiden: erstens der eigentlich feuchte Verband mit imperemabler Deckschicht, zweitens der Priessnitz- Umschlag ohne eine solche undurchlässige Deckschicht. Diese beiden Verbände wirken durchaus verschieden. Freilich ist bei den erstgenannten feuchten Verbänden noch ein Punkt wesentlich, dass nämlich der Verbandwechsel so selten als irgend- wie möglich vorgenommen wird. Ich habe in der ersten Zeit bei meinen Experimenten die feuchten Verbände gewissermaassen um sie recht feucht zu erhalten alle drei Stunden erneuert und bekam sofort andere Resultate. Lasse ich aber einen richtig applizierten feuchten Verband 12 Stunden liegen, so bekomme ich eine, wenn auch nicht sehr starke, aber immerhin doch nach- weisbare, entzündungswidrige Wirkung.

Ich zeige Ihnen die Einwirkung eines derartigen feuchten Verbandes mit essigsaurer Tonerde, der 12 Stunden lang und zwar vom ersten Beginn der Entzündung an auf eine Fadenentzündung (1proz. Arg.- lösung) wirkt (Fig. 3a und 3b). Man sieht, dass die Einwirkung nicht zu vergleichen ist mit den bisher untersuchten thermischen Maassnahmen, dass aber immerhin doch (auch bei dieser schwachen Vergrösserung) eine deutliche Differenz zu konstatieren ist.

Die reaktive Entzündung ist auf der behandelten Seite im ganzen geringer an Ausdehnung, so dass die Leukocyten nicht so dicht gedrängt und weniger zahlreich erscheinen als auf der behandelten Seite. Bei genauer Untersuchung finden wir auch eine venöse Hyperämie und ein ganz leichtes diffuses Oedem, das sich soweit erstreckt, als eben der feuchte Verband appliziert wurde. Damit hängt auch eine bessere Verteilung und Resorption des Argent. nitrice. zusammen. Mit stärkerer Vergrösserung lassen sich geringe Alterationen der Epithel- schicht feststellen. Zu berücksichtigen ist übrigens, dass solche feuchten Verbände in der Praxis für gewöhnlich für längere Zeit oft viele Wochen dauernd durchgeführt werden, so dass dann natürlich eine bessere Wirkung herauskommt, als ich Ihnen bei unseren immerhin doch nur auf kurze Zeitdauer sich erstreekenden Versuchen demonstrieren kann.

Ganz anders wirken die Priessnitz-Verbände. Darauf bezieht sich der nächste Versuch (Fig. 4a und 4b). Ich habe die Technik, die ja bekanntlich etwas verschieden geübt wird, so durchgeführt, dass ich zuerst eine feuchte Lage Gaze (mit Wasser oder einer ganz schwach antiseptischen Lösung getränkt) auf die Haut legte, darüber mehrfache Bindentouren eines Nanellartigen Stoffes applizierte. Alle 21/, Stunden wurde der feuchte Um- schlag erneuert. Eine impermeable Bedeckung wurde vermieden.

Der Versuch ist ganz analog dem eben demonstrierten, also 12 Stunden Dauer, Iproz. Arg.-Faden, sofortige Behandlung. Sie sehen eine ganz andere Wirkung. Die Leukocyten sind reichlicher, diehter gedrängt und umschliessen den Fremdkörper fester, wie ich in sämtlichen Versuchen konstatierte, gleichsam als ob ihre Agilität oder Vitalität erhöht wäre. Die Hyperämie ist ganz unbedeutend.

Diese Priessnitz-Umschläge werden ja nun gewöhnlich zur Bekämpfung lokaler, oberflächlich liegender Entzündungen kaum

44 “Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Figur 3a.

Unbehandelt.

Figur 3b.

Benandelt.

Einfluss eines feuchten Verbandes auf einen Entzündungsprozess.

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 45

Figur 4a.

Unbehandelt.

Figur 4b.

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Behandelt.

Einfluss Priessnitz’scher Umschläge auf einen Entzündungsprozess.

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46 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

benützt. Für diesen Zweck wählen wir erfahrungsgemäss den eigentlichen feuchten Verband. Er wirkt nun in der Tat auch in dem gewünschten Sinne, aber eben nur dann, wenn wir auf die beiden Hauptpunkte achten, dass wir wirklich eine Verdunstung, also besonders an den Rändern des Verbandes verhindern, und dass wir ihn möglichst selten wechseln. Ein frisch angelegter feuchter Verband wirkt nämlich ziemlich entgegengesetzt, wie ein Verband, der schon lange Zeit lag, offenbar weil zuerst die Flüssigkeit sich erwärmen muss, der Haut also die Wärme ent- zieht, während er erst später, nachdem die gleichmässige feuchte Wärme sieh entwickelte, den antiphlogistischen Effekt ausübt. Ich habe den Versuch mit feuchten impermeablen Verbänden auch so anstellt, dass ich alle 21/, Stunden wechselte ich bekam ein anderes, geradezu entgegengesetztes Resultat, nämlich die an- regende Wirkung eines Priessnitz-Umschlages.

Ich kann also nur nochmals als das Fazit dieser Versuche hervorheben, dass es ein grosser Fehler ist, die Applikationsart der Verbände zu vernachlässigen und, wie es manchmal geschieht, dem Wartepersonal zu überlassen. Am zweckmässigsten legen wir einen feuchten Verband so an, dass wir reichliche etwa 15 bis 20 Lagen Verbandmull ordentlich anfeuchten, darüber eine dicke, gleichfalls feuchte Watteschicht geben, Gummipapier oder Billrothbatist überlegen (den feuchten Fleck möglichst 2—3 quer- fingerbreit überragend), dann eine Lage trockene Watte und die Binde. Sehr gut ist es, die Umgebung mit Vaseline einzufetten, um an den Rändern des Gummiflecks die Impermeabilität zu sichern. Ein solcher feuchter Verband bleibt 12, ja 24 Stunden feucht, ohne dass er gewechselt zu werden braucht; dann wirkt er aber auch gut oder wenigstens deutlich entzündungswidrig. Bemerken will ich nur noch, dass es nach meinen Versuchen gleichgültig ist, welche Lösung man zu den feuchten Verbänden nimmt. Man kann 3proz. Borlösung, 1proz. essigsaure Tonerde, 2—35proz. Resorzinlösung wählen, ohne dass der Einfluss auf die Entzündung sich ändert offenbar weil eine wesentlich physi- kalische, nicht chemische Wirkung stattfindet. Bei Wunden ist natürlich die Art der Lösung von Bedeutung.

Von dem nächsten Kapitel, dem Einfluss der Spiritus- verbände brauche ich Ihnen nur weniges zu sagen. Ich will mich darauf beschränken, Ihnen einen einzigen Versuch zu demon- strieren, weil nämlich die Behandlung mit Spiritus- verbänden (wenigstens in starker Konzentration) eine über- raschende Aehnlichkeit mit der Wirkung der lokalen Hitzebehandlung, ja eine fast vollständige Analogie aufweist. Es ist bisweilen nahezu unmöglich aus den ent- sprechenden Präparaten zu erkennen, ob eine Behandlung mit Hitze oder mit Spiritusverbänden vorliegt. Bei den Experimenten, die ich bezüglich der zeitlichen Anordnung und der verschiedenen Modifikationen ganz ebenso anstellte, wie bei den schon be- richteten Hitzeversuchen, bekam ich das gleiche Resultat, so dass ich es Ihnen ersparen kann, die durchaus ähnlichen Präparate noch einmal vorzuführen.

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 47

Ich zeige Ihnen nur einen Versuch, der sich auf die früh- zeitige Behandlung einer Staphylokokkenentzündung mit 95 proz. Spiritusverband nach Salzwedel’s Vorschriften bezieht. Versuchs- dauer 8 Stunden (Fig. 5a und 5b).

Sie sehen auf der Kontrollseite den Querschnitt eines Seiden- fadens. (Für Bakterienversuche eignet sich dieser besser, als Catgut, da er sich natürlich leichter und gleiehmässiger mit Bakterienauf- schwemmungen imprägnieren lässt.) Der Faden ist von Leukocyten- reihen reiehlich durchsetzt, und von einem starken Leukocytenwall ein- geschlossen. Es handelte sich um einen besonders virulenten, stark leukotaktisch wirkenden Staphylokokkenstamm.

Im Präparat der behandelten Seite ein vollständig anderes Bild.

Auch bei starker Vergrösserung keine entzündlichen Infiltrate, nur ganz vereinzelte, meist schlecht gefärbte Leukocyten. Dagegen fällt eine ausgesprochene, seröse Durchtränkung des ganzen Präparates auf, eine vollständige Umspülung des Fadens mit Lymphe, die Bildung eines Lymphsees, in dem die Fadenbündel schwimmen. In den Präparaten mit Müller’scher Vorbehandlung finden wir dann auch eine starke Hyperämie kurz die bekannten Bilder, die wir von der Hitze- behandlung her kennen. Schliesslich sind mit Oelimmersion auch zahl- reiche Degenerationsformen der Leukocyten undihre Endstadien, die Leukocytenschatten, nachweisbar. Bemerkenswert ist endlich, dass auch die Staphylokokken sich ebenso wie bei der Hitzebehand- lung verhalten, dass ihre Zahl und Färbbarkeit geringer ist. Man ge- winnt überall den Eindruck, dass auch in diesem Falle Hyperämie und die gesteigerte Iymphatische Fluxion eine antibakterielle Wirkung entfalteten.

Die übrigen vielfach variierten Versuche mit Spiritus- verbänden lehren uns, dass die günstigste Wirkung erzielt wird, je frühzeitiger die Behandlung einsetzt, dass wir eine langdauernde Nachwirkung baben also die gleichen Ergebnisse wie bei den Hitzeexperimenten. Was die Technik der Verbände betrifft, so haben sich die Vorschriften Salzwedel’s am besten bewährt: vielfache mit Spiritus getränkte Gazelagen, überdeckt von per- foriertem Billrothbatit. Die Häufigkeit des Verband- wechsels spielt hier keine so grosse Rolle, wie bei den feuchten Verbänden (offenbar, weil der Spiritus im wesentlichen eine chemische Wirkung auf die Haut ausübt, und die durch den Verband bedingten physikalischen Bedingungen erst in zweiter Reihe in Betracht kommen). Natürlich muss der Verband er- neuert werden, sobald er anfängt trocken zu werden, etwa nach 6—S Stunden. Je höher die Konzentration des Spiritus genommen wird, um so besser ist die Wirkung. Man soll möglichst Konzentrationen von 85,90 und 96 pCt. verwenden, so- weit dies vertragen wird. Unter 70 pOt. ist der Einfluss auf die lokale Eiterung schon recht unbedeutend.

Besonders erwähnenswert ist ein Punkt, der schon den Kollegen Plato und v. Winivarter bei ihren Experimenten mit der gleichen Versuchsanordnung auffiel, dass nämlich für die Wirkung der Spiritusverbände ganz auffallende individuelle Differenzen bestehen. Das eine Tier reagiert ausgezeichnet, bei dem anderen ist die Wirkung ganz minimal oder fehlt auch ganz. Ich habe bei zahlreichen, absichtlich am gleichen Tage, unter möglichst gleichen Bedingungen vorgenommenen Versuchen

48 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Figur 5a.

> Unbehandelt.

Figur 5b.

Behandelt.

Einfluss eines 95 proz. Spiritusverbandes auf eine Staphylokokken-- entzündung.

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 49

dies sehr oft bestätigt gefunden, während bei der thermischen Behandlung z. B. bei der Hitzetherapie abgesehen von un- bedeutenden Schwankungen ganz gleichbleibende Resultate er- zielt wurden. Auch meine eigenen klinischen Beobachtungen scheinen mir diese Tatsache für die praktische Verwendung der Spiritusverbände zu bestätigen. In manchen Fällen bleiben die Resultate ganz aus. Ich halte es demnach für prinzipiell richtig, wenn durch den Verband nicht bald eine Hyperämiesierung er- reicht wird, diese Methode zu verlassen und möglichst zur Hitze- therapie überzugehen.

Ein zweiter Punkt, der gleichfalls die klinische Brauchbar- keit des Spiritusverbandes wesentlich einschränkt, ist die Tatsache, dass die am besten wirkenden, hochkonzentrierten Spiritusverbände von vielen Menschen, namentlich an Körperregionen mit emp- findlicher Haut, nicht vertragen werden. Die hier bisweilen ge- wählte Aushilfe, die Haut mit Zinkpaste oder Salben zu bedecken, ist, wie schon Salzwedel angab, unzweckmässig, weil nach unseren übereinstimmenden Versuchen hierdurch die Wirkung des Verbandes ilusorisch wird. Dagegen scheinen mir Versuche, die wir mit Spiritusverbänden mit chemischen Zusätzen, z. B. mit Salieylsäure und namentlich mit Resorzin an- stellten, auch von praktischem Wert zu sein. Man kann hier mit relativ geringen Spirituskonzentrationen auffallend gute Wirkung im Sinne der Eiterungsverhinderung und -verteilung er- zielen. So wirken z. B. 50 pCt. Spiritus mit 2—3 pÜt. Resorzin- zusatz sehr günstig, ohne dass die Haut gereizt wird.

Ich möchte Ihnen nun ganz kurz auf Grund der zahlreichen Experimente, die ja doch schliesslich mit Rücksicht auf die Praxis gemacht wurden, sagen, wie ich mir die zweckmässigste Behand- lung einer lokalen Entzündung und Eiterung vorstelle. Bei Furunkeln, entzündlichen Hautinfiltraten, Inguinaldrüsenentzündung, paraurethralen Infiltraten, bei der Epididymitis, der Arthritis gonorrhoica, paraurethralen Abscessen, kurz bei allen akuten öiterungen, die icb als Dermatolge zu behandeln Gelegenheit hatte, hat sich mir folgendes kombinierte Verfahren einer Spiritus- und Wärmebehandlung sehr gut bewährt: Ich ver- ordne zweimal täglich trockne heisse Umschläge (Termophor oder Breiumschläge mit Billrothunterlage) 1 bis 2 Stunden lang. Die hierdurch erzielte Hyperämisieruug und Ilymphatische Fluxion suche ich auch für die Zwischenzeit möglichst vollständig zu er- halten durch einen Verband mit schwachem Resorzinspiritus, z. B.

Resorein alb. 4,0. Spiritus reetifieat. (40 pCt.) ad 200,0.

Ich kann hier diese relativ schwache Konzentration wählen, weil es sich’ ja nur darum handelt, die Blut- und Lymphfluxion zu unterhalten und nicht erst auszulösen. Allmählich pflege ich auch die Spirituskonzentration, wenn es die Haut verträgt, bis 50 pCt. zu erhöhen, bin aber selten genötigt, zu noch höheren Konzentrationen überzugehen.

Die Applikation geschieht wie bei den eigentlich feuchten Verbänden, d. h. mit impermeabler nicht perforierter Deckschicht:

Schlesische Gesellsch. f. vaterl. Kultur. 1910. U 4

50 Jahresberieht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Verbandwechsel etwa zweimal täglich. Unter dieser kombinierten Behandlung sah ich oft anscheinend intensiv einsetzende Ent- zündungen z. B. der Inguinaldrüsen zu meiner Ueberraschung sich zurückbilden, grössere furunkulöse Infiltrate schneller ablaufen und auch in den Fällen, wo es doch zu einer Abscessbildung kam, nach kleinen Ineisionen schnelle Rückbildung eintreten.

Natürlich kann man von Fall zu Fall manche Modifikation vornehmen. Bei der Arthritis gonorrhoica wählte ich zweimal täglich eine Stunde Heissluftbehandlung statt der Umschläge. Bei chronischen, sehr hartnäckigen Entzündungsprozessen wird man die Konzentration der Spiritusverbände schliesslich noch höher nehmen, dagegen an empfindlichen Hautstellen, z. B. bei der Behandlung der Epididymitis gonorrhoica, mit schwächeren Lösungen beginnen und so fort. Gerade bei der letztgenannten Erkrankung war ich mit den Resultaten auch insofern sehr zu- frieden, als nur geringe Infiltratstränge zurückblieben.

Kommt es im vorliegenden Fall zu einer Abscessbildung namentlich bei spät einsetzender Behandlung wird dies nicht selten geschehen —, so ist natürlich eine Entleerung des Inhalts auf chirurgischem Wege angezeigt. Ich fand aber beispiels- weise bei der Bubonenbehandlung —, dass man meist mit kleinen Eingriffen auskommt, dass die Secretion, wie schon oben erwähnt, bald einen mehr serösen Charakter annimmt, und dass oft eine sehr schnelle Heilung erfolgt, namentlich wenn man die gleiche Lokal- behandlung auch nach dem Einschnitt weiter fortsetzt. Nebenbei ist auch -die Verwendung der Bier’schen Saugglocke, gleichzeitig auch zur besseren Entleerung der Abscesshöhle, sehr zweck- mässig.

Dass freilich in einigen Fällen mit hohem Fieber infolge einer starken Resorption vom Krankheitsherd aus die Hitze- und Spiritusbehandlung contraindiziert ist, habe ich schon erwähnt. Hier und in ähnlichen Fällen soll man den Ablauf des entzünd- lichen Prozesses absichtlich durch Kältebehandlung verzögern und hinhalten.

Die nächsten Präparate beziehen sich auf die sogenannte derivierende und ableitende Therapie, d. h. auf die früher so sehr häufig, jetzt vielleicht etwas seltener verwandten Pinselungen mit hautreizenden Stoffen und die Applikation irritierender Pflaster. Ich habe die Versuche nicht sehr lange fortgeführt, weil ich doch bald den Eindruck gewann, dass, soweit die Bekämpfung der Ent- zündung in Frage steht, davon nichts Wesentliches zu erwarten ist. Jedenfalls ist sicher, dass eine sogenannte Ableitung nicht stattfindet. Diese Vorstellung, krankhafte Stoffe von einem Ent- zündungsherd abzuleiten, stammt ja noch aus der Zeit der mittel- alterlichen Anschauung von den Acrimonia sanguinis, den Schärfen des Blutes, die von der erkrankten Stelle fortgeleitet werden sollten. Von solcher Ableitung ist sicher keine Rede. Wenn überhaupt ein Effekt erzielt wird, so handelt es sich um eine Zuleitung, d. h. um einen leicht hyperämisierenden Einfluss, wie ich in vollständiger Uebereinstimmung mit Bier annehme. Freilich ist meine bestimmte Ueberzeugung, dass bei der üblichen

I. Abteilung. Medizinische Sektion. Sl

derivierenden Therapie wenn man nicht ganz übertriebene Irritationen verwendet ein nennenswerter Einfluss auf die Ent- zündung überhaupt nicht nachweisbar ist. Am ehesten vielleicht noch bei der Jodtinktur, aber nur dann, wenn man sehr intensiv die Haut damit bearbeitet.

Bei dem einzigen Versuch, den ich Ihnen demonstrieren will, handelt es sich um ein Experiment am Meerschweinchen. 24 stündige Dauer des Versuehs. Häufige Bepinselung mit Jodtinktur sogleich nach Einführung des 1 proz. Höllensteinfadens.

Auf der Kontrollseite erkennen Sie entsprechend der schwachen Konzentration des Argent. nitrie. nur eine unbedeutende, den Faden ein- schliessende reaktive Entzündung.

Auf der behandelten Seite fällt uns eine Dequamation der obersten Hornsehicht auf. Die Zellen zeigen grossenteils Jodfärbung; die subepitheliale Zone ist erfüllt von einer Ansammlung zerfallener Leukoeyten, richtiger von mannigfach gestalteten Kerntrümmern. In der gleichen Zone besteht eine venöse Hyperämie und ein leichtes Oedem. Was die Fadenentzündung selbst, die uns ja am meisten interessiert, an- belangt, so ist ein Unterschied gegenüber der Kontrollseite nur in der obersten Schicht, diebt unter dem Epithel zu konstatieren, und zwar nur soweit, als die entzündliche Hyperämie der Joddermatitis reicht; dort finden wir eine unbedeutende Verringerung und Verteilung des Fadeninfiltrats.

Aber schon 2, 3 Millimeter unter der Haut ist gar kein Effekt der Jodpinselung nachzuweisen, die Tiefenwirkung fehlt vollständig. Und auch diesen geringen Eintluss fand ich eben nur bei Versuchen mit übertriebener Verwendung der Jodtinktur, bei sehr starker Bepinselung. Bei der üblichen Jodtherapie sah ich gar keine Differenz, selbst wenn die Behandlung von Anfang an stattfand.

Danach ist also sicher, dass wir für die Beseitigung eines entzündlichen Infiltrats mit den anderen uns zur Verfügung stehenden therapeutischen Maassnahmen, namentlich Hitze- oder Spiritusbehandlung, sehr viel mehr erreichen, und zwar ohne Schädigung des Gewebes, während hier das Wenige, das überhaupt erzielt wurde, auf Grund einer erheblichen Alteration der obersten Schicht zustande kam. Vielleicht ist aber bei der derivierenden Therapie an eine ganz andere Wirkung zu denken. An den irritierten Hautstellen bekommen wir in der subepithelialen Zone eine Ansammlung ausserordentlich zahlreicher schnell zerfallender Leukoeyten (schon am zweiten Tage findet man nur noch ein Trümmerfeld von Kerndetritus); es wäre also denkbar, dass die hierbei freiwerdenden proteolytischen Enzyme irgendeine Rolle bei der therapeutischen Verwendung der Jodpinselung spielen. Das ist aber rein hypothetisch und unbewiesen, und ieh erwähne es auch nur ganz beiläufig, weil ja manche moderne Anschauungen sich in diesem Gedankengang bewegen.

Auch bei der Verwendung irritierender Pflaster, Carbol-, (uecksilberpflaster usw., habe ich einen nennenswerten Einfluss auf subeutane Entzündungen nicht nachweisen können. Das Epithel freilich wird alteriert; wir bekommen eine Vermehrung der Kern- teilungsfiguren, ödematöse Schwellung, Leukoeytendurchsetzung, so dass natürlich der Einfluss der Pfastertherapie auf epitheliale Erkrankungen z. B. auf Dermatosen absolut erklärlich ist. Aber

4*

52 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

bei der üblichen Entzündungstherapie, von der ja heute die Rede ist, ist nach meinen Versuchen, bei nur einigermaassen tiefer lokalisierten Prozessen, auch von der Pflasterverwendung nicht viel Positives zu erwarten.

Nun zum letzten Abschnitt. Es sind Versuche, die ich in Gemeinschaft mit Herrn Kollegen Honigmann, Chirurg in Breslau über den Einfluss der Bier’schen Stauung auf Ent- zündungsprozesse angestellt habe. Ich will Ihnen nur einen Ver- such zeigen und mich hier ganz kurz fassen, weil wir mit den Rückschlüssen, die wir von den hier gefundenen Resultaten auf klinische Verhältnisse machen, besonders vorsichtig sein müssen. Wir haben uns zwar bemüht, durch verschiedene Modifikationen der Versuchsanordnung an den Extremitäten von Kaninchen eine Stauung zu erzielen, die vielfache Analogien bietet zu der thera- peutisch beim Menschen verwandten. Immerhin aber muss man ein Fragezeichen hinzufügen, weil ja nach Bier’s eigenem Aus- spruch die subjektiven Angaben des Behandelten notwendig sind, um den richtigen Stauungsgrad zu bekommen. Wir machten die Versuche so, dass wir mit einem 5 mm starken Gummischlauch eine hintere Extremität eines Kaninchens stauten, und benutzten die Versuche nur dann, wenn eine bestimmte Anzahl Kriterien erfüllt war: Erhaltenbleiben des Arterienpulses, Füllung der Venen, hyperämische Verfärbung der Haut, Warmbleiben der Extremi- täten, leichtes Oedem u. s. f. (siehe das Kapitel in der erwähnten Monographie). Es wurden nun in der gewöhnlichen Weise die Fäden wieder durchgezogen, gleichzeitig natürlich auch an der anderen ungestauten Extremitüt, um dauernd ein Vergleichsobjekt zu haben. Einige Ergebnisse sind aber vielleicht selbst bei grosser Skepsis und Reserve brauchbar und zur Klärung der Vorgänge geeignet, über die ja ganz widersprechende Ansichten und Hypothesen, zweifellos auch viele unrichtige Vorstellungen bestehen.

Im Kontrollpräparat sehen Sie, dass die Haut der Kaninchen- extremität etwas andere anatomische Verhältnisse zeigt; sonst haben wir das gewohnte Bild des Argentumfadens mit der eireumscripten entzünd- lichen Reaktion. Versuchsdauer 9 Stunden.

Nun die behandelte Seite. Der Versuch wurde so angestellt, dass ein dreistündiges Infiltrat 6 Stunden lang gestaut wurde, also frühzeitige Behandlung einer schon im Gange befindlichen Entzündung. Der Faden liegt nahezu reaktionslos im Gewebe; ausgesprochene venöse Hyperämie, deutliches Oedem also im ersten Augenblick ein Bild, das an die Hitzepräparate erinnert. Freilich fällt uns bald auf, dass die Ent- zündungszellen doch mit im Spiel sind; wir fioden nämlich, dass die Venen dicht erfüllt sind, auch umscheidet von Leukocyten, so dass sie oft diehte Infiltrationsstränge inmitten eines sonst zellfreien Ge- webes darstellen, ein immer wiederkehrendes charakteristisches Bild in allen unseren Stauungsversuchen. Mehrere Ursachen sind maass- gebend für dieses eigentümliche Verhalten: die verlangsamte Zirkulation, die Lymphstauung mit erhöhter Spannung des Gewebes, vor allem aber die Tatsache, dass die Leukocyten auf ihrer Wanderung nach der Stelle des Reizes zugrundegehen. Mit stärkerer Vergrösserung entdeckt man zahlreiche schlecht tingible Leukoeyten, aber ganz andere Formen, als wir sie bei der Hitzebehandlung sahen. Keine Karyolyse, keine Schatten- bildung; die Konturen der Zellen bleiben scharf bis zum Schluss, während. die Färbbarkeit dauernd abnimmt.

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 33

Doch ich will hier auf diese theoretisch gewiss inter- essante Tatsache nicht eingehen, dass den Entzündungsprozessen nnter dem Einfluss der verschiedenen therapeutischen Maassnahmen auch ganz verschiedene eigenartige, charakteristische, histologische Veränderungen zukommen, dass also die Entzündungsvor- gänge durch die Behandlung nicht etwa nur eine sraduelle Verschiebung, sondern dass sie eigenartige Modifikationen und qualitative Veränderungen erfahren.

Aus den Resultaten der vielfach variierten Stauungsversuche will ich nur berichten, dass auf der behandelten Seite die In- filtratvorgänge geringer waren, dass die Resultate wieder am günstigsten waren bei frühzeitigem Beginn der Behandlung, dass endlich auch nach dem Abnehmen der Stauungsbinde eine be- trächtliche Nachwirkung (noch 24 Stunden und später) erkennbar war, so dass auch aus diesem Grunde die Pausen zwischen den Stauungszeiten uns zweckmässıg erscheinen. Dagegen zeigten einige Versuche, dass die eiterungshemmende Wirkung aufhört, sobald wir die Stauung übertreiben und die obenerwähnten Ver- suchsbedingungen nicht innehalten. Die Experimente mit Staphylo- kokkenfäden deuteten auch hier wieder darauf hin, dass die grössere Ansammlung von Blut und Lymphe günstig wirkten im Sinne der Bakterienbekämpfung!).

Damit komme ich zum Schluss. Aus der grossen Reihe der Entzündungsversuche habe ich Ihnen nur einen kleinen Bruchteil vorgeführt, um Ihnen die Art der Experimente und der Versuchs- anordnung zu zeigen. Ich bin nun weit davon entfernt, solche Labora- toriumsversuche zu überschätzen und die damitgewonnenen Resultate etwa unmittelbar auf klinische Verhältnisse zu übertragen. Der letzte Prüfstein für den Wert und die Brauchbarkeit jeder Heilmethode wird stets die Klinik selbst und die praktische Erfahrung bleiben.

Es haben sich aber bezüglich mancher prinzipiellen Fragen so gleichmässige, ja, ich darf sagen, gesetzmässige Resultate er- geben, dass ich doch glaube, aus ihnen auch einige praktische Schlüsse ziehen zu dürfen: Schlüsse für die Auswahl der Behand- lungsmethode, für die zeitliche Applikation, für die richtige Technik, für die Indikation und Contraindication im einzelnen Falle. Vor allem aber können die Versuche dazu beitragen, das eigentliche Wesen unserer Entzündungstherapie aufzuklären; sie geben uns eine bessere Vorstellung über die feineren Vorgänge, die unter dem Einfluss unserer lokalen Eingriffe sich abspielen. Wissen wir aber erst damit einmal besser Bescheid, dann muss es auch gelingen, die praktische Entzündungstherapie zielbewusster und damit erfolgreicher zu gestalten.

1) Auf unsere Untersuchung mit der Bier’schen Saugglocke gehe ich nicht ein, wir sind mit der Technik noch nicht so weit, um die gewonnenen Resultate verwenden zu können. Die Tierhaut (ins- besondere der Kaninchen) scheint für die Anstellung dieser Versuche nicht geeignet Aus den wenigen einigermaassen gelungenen Experimenten schien uns freilich eher hervorzugehen, dass hier doch andere Vorgänge als bei der Bindenstauung sich abspielen; wir konnten jedenfalls eine Verminderung der lokalen Eiterung nicht nachweisen.

YA

Zur Kasuistik der Hysterie und Fremdkörper im Darme.

Privatdozent Dr. Most.

Bei dem bunten und vielgestaltigen Symptomenbilde, welches die Hysterie bietet, ist auch die Mitteilung von Einzelbeobachtungen, welche gewisse Eigenarten bieten, von Wert. Deshalb darf der folgende Fall vielleicht einiges Interesse beanspruchen.

Am 2. April 1910 wurde der 35 Jahre alte Monteur B. N. aus Görlitz in anscheinend schwer krankem Zustande in das Krankenhaus eingeliefert.

Die anamnestischen Daten, die erst später eruiert werden konnten, und immerhin nur mit Vorsicht zu verwerten sind, ergaben, dass er als Kind viel an Gehirnkrämpfen gelitten haben soll. Nach Angabe des Vaters sei er stets sehr nervös gewesen. Sonst war er gesund. Er hat bei der Marine gedient. Im Jahr 1903 erlitt er angeblich beim Anlegen elektrischer Leitungen einen elektrischen Schlag, so dass er bewusstlos geworden und cyanotisch ausgesehen haben soll. Er sei dann ein Viertel- jahr krank gewesen. Im Herbst 1909 fiel ihm bei der Arbeit eine Trans- mission auf den Kopf. Vor Schreck habe er damals für den Augenblick eine Art Lähmung der linken Körperseite bekommen. Seitdem leide er, wie er sagt, öfter an Aufregungszuständen und Krämpfen, über deren genaue Art er nichts anzugeben weiss, da er dabei bewusstlos sei. Auch habe er öfters Angstzustände und Verfolgungsideen. Ende Januar will er eines Tages Magenbluten gehabt haben, das sich abends, in der Nacht und am nächsten Tage früh nochmals einstellte. Es sollen dunkle, klumpige Massen in etwa Litermenge und darüber ausgebrochen worden sein. N. setzte damals die Arbeit nur zwei Tage lang aus und habe dann wieder leichtere Tätigkeit ausgeübt, bis er Ostersonnabend mittag von neuem Magenbluten bekommen haben soll, wobei er angeblich etwa ®/ 1 ausbrach. Auch hier soll das Blut dick und klumpig schwarz ge- wesen sein. ÖOsterdienstag hat er wieder angefangen zu arbeiten. Da kam er beim Besteigen einer Leiter mit dieser heftig zu Fall, so dass er bewusstlos wurde, und zwar gerade, als er Telephondrähte mit Nägeln befestigen wollte. Dabei soll er nach Monteursitte eine ganze Menge Nägel, etwa 30 Stück, im Munde gehabt haben, welche er beim Falle alle verschluckt habe, wenigstens seien sie nirgends zu finden gewesen und bald nach dem Fall habe er intensive Magenschmerzen

I. Abteilung. Medizinische Sektion.

or

gehabt. Seitdem habe er sich geschleppt und sei krank und hatte an- geblich hohes Fieber. Ob er früher schon bei Gelegenheit Nägel verschluckt hat, weiss er nicht; immerhin sei dies möglich, da er, wie gesagt, bei der Arbeit meist Nägel, um sie bei der Hand zu haben, im Munde hatte.

Patient macht bei der Aufnahme einen schwerkranken Eindruck. Mit stieren Augen, die Zähne krampfhaft aufeinander gepresst, das Ge- sicht nach Art des Risus sardonieus verzogen, erinnerte er lebhaft an einen beginnenden schweren Wundstarrkrampf. Dabei zeigte das Thermometer 39°C und darüber. Eine oberflächliche Wunde am rechten Knie, welche von dem Falle von der Leiter am Osterdienstag herrührte, und die etwas schmierig belegt war, konnte die Eingangspforte für das Tetanusgift gewesen sein. Dabei fiel es allerdings auf, dass der Puls langsam (58 pro Minute und darunter) und von guter Qualität war, dass weiterhin noch keinerlei Reflexkrämpfe an dem übrigen Körper aus- zulösen waren, ja dass sich auch bei direkter Reizung der Gesichts- und Kaumuskulatur kein stärkerer Trismus zeigte, dieser sich sogar mitunter löste. So konnte die Diagnose Tetanus ausgeschlossen werden. Auch Symptome einer Meningitis lagen nicht vor.

Immerhin war das Krankheitsbild ein ganz eigenartiges. Meistens die Zähne aufeinandergepresst, das Gesicht krampfhaft verzogen, lag er im übrigen wie geläbmt im Bett. Die emporgehobenen Extremitäten fielen schlaff herab. Abends zeigte das Thermometer hohe Temperaturen, die notorisch vielfach von starkem Schweiss begleitet waren. Der Puls blieb dabei stets langsam. In der Nacht bekam er krampfartige Anfälle, er wälzte sich, tobte, warf sich aus dem Bett.

Die Untersuchung der Organe des ganzen Körpers ergab keinerlei krankhafte Veränderungen; nur Schmerzen in der Magengegend und im ganzen Leibe, ohne palpatorischen Befund. Eine Ursache für das Fieber fand sich also nicht. Die Reflexe waren alle vorhanden, aber abgeschwächt, Berührung der Scleralkonjuncetiva rief keinen deutlichen Reflex hervor. An den unteren Extremitäten schien eine Hypalgesie zu bestehen. Der Augenhintergrund war normal (Prof. Groenouw). Es bestand kein aus- gesprochener Brechreiz.

Bei den Krämpfen verletzte sich N. ebenso wenig, wie beim Herab- fallenlassen der am Tage scheinbar gelähmten Extremitäten auf die Bett- kante usw. Der Arm, das Bein fielen stets ins Bett.

Trotz des schwerkranken Eindruckes, den der Patient machte, und trotzdem er am Tage wie gelähmt dalag, gab er auf Fragen meistens prompte Antwort.

Aus alledem, dem eigenartigen Gemisch von einander zum Teil widersprechenden Symptomen, dem Charakter der krampfartigen Anfälle einerseits und jenem der Lähmung andererseits musste die Diagnose Hysterie gestellt werden.

Es war nun die nächste Aufgabe, das Fieber klarzustellen. Dabei zeigte sich, dass die Temperatursteigerungen, wie schon gesagt, häufig von profusen Schweissausbrüchen gefolgt waren, dass aber stets eine baldige zweite Messung Temperaturen unter 3700 Achselmessung ergaben. Je mehr die Schwester die Temperaturmessung kontrollierte, desto seltener wurde das Fieber. Immerhin kamen noch einige Anstiege vor. Um diese hervorzurufen genügte es, dass die das Thermo- meter und den Arm des Kranken haltende Schwester auch nur einige Augenblicke vom Bett sich entfernte, um in demselben Zimmer einen Handgriff zu machen.

Das eine Mal am 21. April, nachdem schon längere Zeit keine Temperaturanstiege beobachtet worden waren war das Quecksilber bis zum Ende der Röhre (42,40 0.) gestiegen, nachdem die Schwester nur 3—4 Sekunden unter weiterer Beobachtung des Kranken vom Bett

56 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

gewichen war, um einen Handgriff bei einem anderen Bette zu machen. Eine erneute Messung ergab normale Temperatur. Ja einmal zeigte das Thermometer über 39°C. Achseltemperatur, als eine sehr umsichtige und zuverlässige Schwester beobachtend am Bett sitzen blieb, aber die Decke über den das Thermometer haltenden Arm gedeckt liess. Eine sofortige Kontrollmessung ergab normale Temperatur. Ein Stuben- genosse will später einmal beobachtet haben, wie N. das obere Ende des Thermometers auf die Hand aufschlug.

Ueber Schmerzen im Leibe, welche schon anfangs vorhanden waren, wurde andauernd in intensiver Weise geklagt. Anfangs bestand Stuhlverstopfung. Als mehrere Tage nach der Aufnahme nach einem Einguss eine Entleerung folgte, fanden sich in den Fäces und eingehüllt in harte Skybala eine grössere Anzahl einzöllige dicke Drahtnägel. Seitdem fanden sich in jedem Stuhlgang dieselben in geringerer und grösserer Anzahl, bis 75 Stück in einer Entleerung. In der Regel waren sie von demselben Kaliber und derselben Art, einmal waren aber auch andersartige und scharfrandigere dabei. N. führt diesen Befund auf die bei dem genannten Unfall am Charsamstag verschluckten Nägel zurück und gab hinterher an, dass der letzte Stuhlgang vor Ein- tritt ins Krankenhaus ebenfalls solche enthalten habe. Der Stuhlgang im Krankenhaus war hart und die Nägel meist von Skybala all- seitig umhüllt. Sie konnten also nur aus dem Darm mit dem Stuhl- gang entleert worden sein. Weiterhin konnte ich am 19. April solche mit dem Finger im Reetum fühlen, und schliesslich erwies am 20. April die Röntgenuntersuchung, die ich Herrn Dr: Ossig ver- danke, noch eine grosse Anzahl, 40—50 Nägel in den Därmen. (conf. Figur.)

Die Quelle des Nägelkonsums gab am 18. April ein mit Nägeln vollgefülltes Portemonnaie unter dem Keilkissen des Bettes. Und als diese Quelle verstopft war, versuchte sich N. am 24. April und aber- mals am 4. Mai durch einen Besuch solche, und zwar dieselbe Sorte, importieren zu lassen.

N. klagte dauernd über Magenbeschwerden, und jeder Versuch, feste Nahrung zu sich zu nehmen, wurde angeblich von Erbrechen gefolgt. Das Erbrochene war aber eigenartig: Die Semmelteile lagen meist würfelförmig unverdaut in der Flüssigkeit; auch enthielt das Er- brochene keine Säure. N. wurde auch bei der Fabrikation des Er- brochenen beobachtet. Er soll zunächst bei der Mahlzeit Mehlsuppe in das Gefäss, dann Milch und etwas Wasser hineingegossen haben. Semmel hielt er stets in seiner Schublade. Wiederholt wies er auf blutige Bei- mengungen im Erbrochenen hin. Diese waren aber gering, und da man ihnen keine besondere Aufmerksamkeit zollte, kamen sie selten vor. Eine anfangs bestehende angebliche Urinretention behob sich von selbst.

Unter den eben geschilderten Symptomen besserte sich der Allge- meinzustand zusehends. N. wurde teilnehmender. Lag er apathisch da, so gab er auf Anreden, ja selbst auf ein ihn interessierendes Gespräch, ohne dass man sich an ihn wandte, Antwort. Allmählich konnte er auch mit Hilfe von Suggestion und Faradisation zum Gehen gebracht werden. Auch die nächtlichen Anfälle wurden leichtere, nachdem 'man ihnen seitens der Umgebung weniger Interesse entgegenbrachte.

Das Aussehen des N. war anfangs in der Tat ein blasses, krank- haftes. Es fiel dies am deutlichsten nach den ersten Aufstehversuchen auf. Es besserte sich jedoch zusehends, so dass er innerhalb 10 Tagen, vom 26. April bis 4. Mai trotz angeblicher Anorexie und dauerndem Erbrechen! sieben Pfund zunahm.

Trotzdem klagte er dauernd noch über intensive Leibschmerzen und Erbrechen. Er verlangte dringend eine Operation. In der Nacht vom 22. zum 23. April brachte er sich mit einem Taschenmesser, das er

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 97

Röntgenbild der Abdominal- und Beckengegend, welches die Nägel im Darmkanal zeigt.

zufällig erreicht hatte, einen 2—3 cm langen Schnitt oberhalb des Hand- gelenkes bei, welcher aber nur die Haut bis an das Unterhautzellgewebe getrennt hatte. Gleich darauf rief er um Hilfe!

Nun half energisches Zureden und das sichere Versprechen, dass nach Entfernung der mittels Röntgenbildes im Darm nachgewiesenen Nägel seine Krankheit behoben sei.

Die Brechneigung hielt an, trat aber mehr zurück, da ihr kein sonderliches Interesse seitens der Aerzte und Schwestern entgegen- gebracht wurde. Im ganzen wurde aus dem krankheitssüchtigen, unzu- friedenen N. ein relativ heiterer, zufriedener, leicht beeinflussbarer Mensch.

Dass es sich in diesem Falle um eine echte Hysterie, keine bewusste Simulation gehandelt hat, geht wohl daraus zweifels- ohne hervor, dass erstens N. ausgesprochene hysterische Stigmata aufweist: Er war stets nervös, hat angeblich schon früher an krampfartigen Anfällen gelitten. Fernerhin bot N. bei der Aufnahme die Anzeichen einer krankhaften Veränderung seiner Psyche und seines Nervenlebens. Der schwerkranke Allgemein- eindruck, der eigenartige Wechsel zwischen Lähmungen der Extremitätenmuskulatur und motorischen Reizzustände (Trismus,

58 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

nächtliche Krämpfe), welch letztere sogar zeitweise einen mania- kalischen Charakter annahmen, die leichte Beeinflussung der Krankheitssymptome durch eine Suggestivtherapie: all dies spricht

einwandfrei für Hysterie. Ein Simulant macht abgesehen davon, dass hier kein vernünftiger Grund für solcherlei bewusste Verstellungskünste vorlag einen durchaus anderen Eindruck

und ist nicht so leicht und derart zu beeinflussen. Auch: jetzt noch ergibt die Untersuchung eine Hypästhesie der rechts- seitigen Extremitäten und eine Herabsetzung des Rachen- und Sclerareflexes, zudem mannigfache subjektive Klagen, wie über innere Aufregungszustände, Angstzustände und dergl.

Bei der Aufnahme des Kranken ins Hospital war allerdings die Diagnose auf den ersten Augenblick nicht ganz leicht zu stellen. Nach Ausschluss des Tetanus konnte man immerhin an eine cerebrale Störung denken. Doch führte der negative so- matische Befund im Verein mit dem extrem wechselvollen, sprung- haften Charakter des Krankheitsbildes bald auf die richtige Fährte.

Das vermeintliche Fieber stellte sich hier, wie so oft bei der Hysterie, als Täuschung heraus. Ich will hier nicht auf die Möglichkeit oder Unmöglichkeit des sogenannten hysterischen Fiebers eingehen. Ich verweise hierbei auf die interessante Ab- handlung von Kausch!). Staunenswert ist wiederum die Ge- schicklichkeit, mit der unser Hystericus selbst die genau beob- achtende Schwester hinterging.

Dieser Fall erinnerte mich an eine vor einiger Zeit gemachte Beob- achtung, wo ich vom Hausarzt zu einem 12jährigen Knaben wegen Ver- dachts auf Sepsis der hohen steilen Fieberkurven wegen gerufen wurde. Dabei stellte sich heraus, dass mit der Entfernung des Bettwärmers aus dem Bereich des kleinen Patienten auch das Fieber schwand!

Im Vordergrunde des Krankheitsbildes steht bei unserem Kranken die Manie, Nägel zu schlucken. Ob ihn der Unfall in der oben geschilderten Weise, wo er die Nägel im Munde hatte und dieselben dabei versehentlich verschluckt haben soll, auf den Geschmack gebracht, oder ob er dies bereits früher in seiner krankhaften Veranlagung getan hat, sei dahingestellt. Interessant und typisch ist es jedenfalls, dass N. strikte in Abrede stellt, dass er je früher oder gar im Kranken- haus bewussterweise Nägel geschluckt habe, wiewohl er doch dessen überführt wurde durch Auffinden des mit Nägeln gefüllten Portemonnaies und jener Bestellungen durch den Besuch. Auf wiederholtes, eingehendes Befragen während seiner Rekon- valeszenz gab er stets an, er wisse vom Verschlucken der Nägel nichts. Ich habe im ganzen 192 Nägel gezählt, die sich im Stuhlgang vorfanden, und zwar 168 Nägel vor der Röntgen- untersuchung und 24 nach der letzteren. Hinzu kommen noch einige, die notorisch verloren gegangen sind, und 20 bis 30 Stück, die gemäss der Röntgenuntersuchung noch im Leibe sein müssen, so dass ich den realen Nägelkonsum des Kranken auf über 200,

1) Mitteilungen aus den Grenzgebieten der Medizin und Chirurgie. Supplementband, 1907.

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 59

etwa auf 250 Stück schätzen möchte. Eine Täuschung ist hier nicht oder nur nur zum geringsten Teile möglich, da die bei weitem überwiegende Mehrzahl der Nägel in harte Kotmassen eingehüllt war und mit Mühe aus ihnen herausgelöst werden musste. Zudem zeigte das Röntgenbild noch eine grosse Menge derselben im Darmkanal. Diese kann N. nicht alle beim Unfall auf einmal verschluckt haben. Er muss sie allmählich wir vermuten, wohl eingehüllt in Semmel im Krankenhaus zu sich genommen haben.

In dieser Hinsicht reihen sich diese Beobachtungen den anderen Fällen von Fremdkörperkonsum seitens Hysterischer an. Ich erinnere an die Fälle von Haar- und Wolleschlucken, die dann zu dem bekannten Bilde des Trichobezoar führen, wie es jüngst Ranzi!) demonstriert und eingehend beschrieben hat. Ferner erinnere ich an die Fälle von verschluckten Nadeln, deren 151 in der Wölfler-Lieblein’schen Statistik?) mit 28 Todes- fällen enthalten sind. Auch Fälle von Glasscherbenkonsum 28 an der Zahl, mit 3 Todesfällen führen diese Autoren an. Aber auch Nägel sind bekanntlich wiederholt verschluckt worden.

Wölfler und Lieblein berichten von 19 Fällen. Weiterhin stellte Middeldorpf auf dem Chirurgenkongress 1908 ein Mädchen vor, dem er 1620 Nägel, Drahtstifte, Haken zu Buchbinderzwecken aus dem Magen auf operativem Wege entfernt hatte. Borchardt®) berichtet von einem Patienten, dem er 105 Nägel, 3 Schrauben, eine Messingkette, eine Sicherheitsnadel und eine Nähnadel aus dem Magen entfernt hat, die dieser wegen einer Bierwette im Werte von 50 Pfennig ver- schluckt hatte.

Uebergehen will ich die Fälle von verschluckten Knochen, Gebissen, Messerklingen, abgebrochenen Instrumenten usw., da dies meist unglück- liche Zufälle sind. Kurz seien die Beobachtungen Coenen’s*) erwähnt, der sah, wie ein Nagel und eine Nadel den Darmkanal beschwerdefrei passierten, während eine S cm lange Stopfnadel unter den klinischen Bilde einer akuten Blinddarmentzündung das Colon ascendens perforiert hatte. Pilcher (eit. b. Wölfler-Lieblein) sah 19 Nägel den Darm schadlos durchwandern. Vor einiger Zeit sah ich ein Kind, das eine 4—5 cm lange Brosche verschluckt hatte und welche beschwerdelos den ganzen Magendarmkanal passierte.

Ein grosser Teil dieser Fälle beweist, wie relativ selten solcherlei, auch spitze, Fremdkörper ernste Störungen im Magen- darmkanal hervorrufen, und dass man meist mit einem konser- vativen Heilverfahren den beliebten Kartoffel- und Breikuren sehr wohl auskommt. Ja, selbst in unserem Falle, der in der Zahl der schadlos den Magendarmkanal passierten Nägel alle bislang bekanntgegebenen Fälle meines Wissens weit übersteigt, traten keinerlei objektive Störungen auf. Man

1) Wiener klin. Wochenschr., 1904, No. 50.

2) Wölfler und Lieblein, Die Fremdkörper des Magendarmkanals des Menschen. Deutsche Chirurgie, 1909.

3) Borchardt, Gastrotomie wegen Fremdkörper. Diese Wochen- schrift, 1910, No. 8, S. 329.

4) Medizin. Section der schlesischen Gesellschaft für vaterländische Kultur; Allgem. med. Centralztg., 1909, No. 16.

60 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

muss staunen, wie all die spitzen Gegenstände den Pylorus und alle weiteren Engen passiert haben, wenn der Kranke sie auch wohl eingehüllt in Semmel mit Geschick geschluckt haben mag.

Andererseits sind Fälle bekannt, wo selbst ein Nagel (Wölfler-Lieblein), eine Nadel (Coenen) den Tod oder bedenkliche Erscheinungen hervorgerufen haben, Fälle, die zur Vorsicht mahnen!

Bekanntlich sind es zumeist Geisteskranke gewesen, welche jene Manie, Fremdkörper zu verschlucken, zeigten, oder aber die den Geisteskranken verwandten Hysterischen. Dies trifft auch in unserem Falle zu, und gerade hier ist das zeitweise Prä- dominieren der allgemeinen hysterischen Symptome in akuter Form bemerkenswert.

Es handelt sich um einen neuropathisch veranlagten Mann, der, meines Erachtens, auf der Grenze der Psychose steht. Er litt an Aufregungs- und Angstzuständen, die auch während der Krankenhausbeobachtung hervortraten. Es ist glaub- haft, dass ein Unfall, wie der von ihm angegebene, die schwere Attacke, mit der er ins Krankenhaus eingeliefert wurde, hervor- gerufen hat. Ob das angebliche versehentliche Verschlucken der Nägel bei dem Fall ihn zu dieser eigenartigen Manie geführt hat, oder ob er dies bereits vorher getan hat, worauf seine Angaben über früheres Magenbluten vielleicht hinweisen könnten, steht dahin).

1) Wie aus einer Diskussionsbemerkung des Herrn Prof. Göbel gelegentlich meiner Demonstration hervorging, befand sich unser Patient bereits einmal im März d. J. im hiesigen Augustahospital. Er täuschte dort Fieber vor. Die „Nägelmanie“ bestand damals noch nicht.

VI.

Ueber die Abkühlung der Inspirationsluft bei der Aethertropfnarkose, ihre Bedeutung und ihre Verhütung.

Dr. Michael Hoffmann.

Bei der Aethertropfnarkose mit der Schimmelbuschmaske nach Witzel schwankt die Temperatur der Inspirationsluft inner- halb weiter Grenzen. Es ist gelungen, durch einen geeigneten Messapparat diese Schwankungen festzustellen. Die höchste Temperatur übersteigt die Temperatur des ÖOperationsraums um mehrere Grad (bis zu O.). Die niedrigsten Temperaturen be- wegen sich bei einer Anzahl von Narkosen zwischen 4,6% und —+4,1°C. Im ersteren Fall betrug die Temperatur des Operations- saales + 21!/,°, die Abkühlung der Temperatur also 26,1%. Im letzteren Falle war die Lufttemperatur im Saal —+-23'/,0, die Abkühlung also 19,15%. Es ist das zugleich die grösste und die geringste in den einzelen Versuchen beobachtete Abkühlung.

Die Vorgänge werden am deutlichsten illustriert, wenn man die Temperatur der Inspirationsluft und den gleichzeitigen Aether- verbrauch in Form von Kurven darstellt. Das ist in Figur 1 nach den Daten einer tatsächlichen Beobachtung geschehen.

Auf der Abseisse sind die seit Beginn des Aethertropfens verflossenen Zeiten aufgetragen, auf der Ordinate die Tempera- turen der Inspirationsluft in Graden Celsius. Gleichfalls auf der Ordinate sind die verbrauchten Aethermengen aufgetragen in der Weise, dass die den Aetherverbrauch für je 5 Minuten in Kubik- zentimetern angebenden Zahlen zusammenfallen mit den Zahlen für die Temperaturen. Die Gesamtmenge des verbrauchten Aethers wird durch die von den Koordinaten und der gebrochen gezeich- neten Aetherkurve umgrenzte Fläche angegeben, wobei in der Zeichnung je 5 X 2,5 qmm einem Kubikzentimeter Aether ent-

62 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

sprechen. Die Kurve entspricht einer Naıkose mit geringem Aetherverbrauch und von ungestörtem Verlauf. Bei schlecht ge- leiteten Narkosen kommen jähe Temperaturschwankungen zwischen den höchsten und tiefsten erreichbaren Temperaturen, d. h. Schwankungen von mehr als 30° vor.

Aus der Kurve geht die Abhängigkeit der Temperatur der Inspirationsluft vom Aetherverbrauch klar hervor.

Diese Temperaturen der eingeatmeten Luft sind nicht identisch mit der Temperatur der durch den Mull der Schimmelbuschmaske hindurchtretenden Luft. Bei jedem Atemzuge bleibt nämlich ein Teil der Exspirationsluft zwischen dem Gesicht des Patienten und der Wölbung der Narkosenmaske zurück; diese mischt sich bei der Inspiration der durch den Mull hindurchgetretenen Zimmerluft bei und erhöht ihre Temperatur beträchtlich. Die Temperatur der durch den Mull hindurchgetretenen Luft wurde direkt ge- messen und dabei unter 15,10 C. festgestellt. Auch nach in- direkten Bestimmungen muss die Temperatur dieser Luft um mehr als 15° hinter der Temperatur der tatsächlich eingeatmeten Luft zurückbleiben. Es konnte weiter nachgewiesen werden, dass der zurückbleibende Rest der Exspirationsluft sich im wesentlichen nur dem ersten Teil der Iuspirationsluft beimischt, so dass also gegen Schluss der Inspiration Luft von ausserordentlich niederer Temperatur eingeatmet wird.

Unter der. Voraussetzung, dass die zum Verdampfen des Aethers nötige Wärmemenge von der den Aetherdampf aufnehmen- den Luft herstammt, kann man nun die sich abspielenden Vor- gänge durch Berechnungen verfolgen. Die Resultate sind folgende. Die durch Aufnahme einer bestimmten Menge Aetherdampf ver- ursachte Abkühlung der Luft hängt ab von der Temperatur der Luft, ihrem Gehalt an Wasserdampf und dem Barometerstand. Für einen speziellen Fall sind diese Verhältnisse in Figur 2 durch Kurve 1 dargestellt.

Auf der Ordinate ist der Gehalt eines Aetherdampf-Luft- gemenges an Aetherdampf bei 731 mm (Quecksilber Barometer- stand in Volumenprozent aufgetragen, auf der Abscisse die Tem- peratur des Gasgemenges absteigend von + 22,200. Kurve 1 hat folgende Bedeutung: Die Ordinate jedes Punktes gibt an, wie- viel Volumenprozent Aetherdampf Luft von 22,20C., 6,83 mm Quecksilber Wasserdampfdruck aufgenommen haben muss, damit eine der Abseisse entsprechende Temperatur erreicht wird. Da- bei herrscht ein konstanter Luftdruck von 731 mm.

In Kurve 2 stellen nun die Ordinaten die Dampfspannung des gesättigten Aetherdampfes für die den Abscissen entsprechen- den Temperaturen dar, umgerechnet in Volumenprozent bei 731 mm Luftdruck. Kurve 1 und 2 müssen sich schneiden, und dieser Schnittpunkt hat folgende Bedeutung: Seine Ordinate (6,8) gibt ‚an, wieviel Aetherdampf in Volumenprozent Zimmerluft von der angegebenen Beschaffenheit überhaupt aufnehmen kann, wenn eine Wärmezufuhr von aussen nicht stattfindet. Denn dann hat infolge der durch die Abscisse (— 23,30) angegebenen Abkühlung der

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 63

Figur 1.

+ 23° Zimmertemperatur

EEE ET

[38

5,90 15 20 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 75 80 85 90 95 Minuten

Figur 2.

+2220 +150 100 +50 -59 -10°9 -150 -20° -25°

64 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vater]. Kultur.

Luft der Aetherdampf den lediglich von der Temperatur ab- hängigen Sättigungsdruck erreicht, den er nicht übersteigen kann.

Die experimentellen Untersuchungen zeigen nun, dass diese niederen Temperaturen von der durch den Mull der Narkosen- maske hindurchtretenden Luft annähernd erreicht werden können. Sie beweisen damit, dass’ bei der Aethertropfnarkose der Gehalt der Inspirationsluft an Aetherdampf nicht über ein gewisses, ziemlich niedriges Maass steigen kann, dass also durch die Ab- kühlung der Inspirationsluft eine Selbstregulierung ihres Aether- gehaltes stattfindet.

Diese Abkühlung kann durch die warme Exspirationsluft nicht gestört werden, da deren Wärme im wesentlichen zum Verdampfen von Aether, nicht zum Erwärmen der Maske benutzt wird, und da der von ihr produzierte Aetherdampf der weiteren Narkose verloren geht.

Die Selbstregulierung des Aethergehaltes der Inspirationsluft liefert eine ausreichende Erklärung für die erfahrungsgemäss fest- gestellte Ungefährlichkeit der Aethertropfnarkose selbst bei Aus- führung durch unerfahrene Narkotiseure.

Sie wird erkauft durch eine beträchtliche Abkühlung der In- spirationsluft, und es fragt sich, ob durch diese nicht andere Schädigungen des Patienten entstehen können. Dass lediglich die blosse Aethernarkose imstande ist, Schädigungen der Atmungs- organe zu bewirken, ist durch zahlreiche Tierversuche erwiesen. Welche Rolle die Abkühlung der Inspirationsluft spielen kann, ist fraglich. Sicher ist, dass durch Kältegrade, wie sie bei der Aethertropfnarkose auftreten, bei einer Anzahl von Menschen Ver- mehrung der Secretion in den oberen Luftwegen hervorgerufen wird. Ferner ist nachgewiesen, dass Narkotisierte gegen Abkühlung besonders empfindlich sind.

Es ist daher berechtigt, die Abkühlung der Inspirationsluft bei der Aethertropfnarkose zu verhindern, wenn dies ohne Schaden, vor allem chne Störung der Selbstregulierung geschehen kann. Dies ist nun in überaus einfacher Weise möglich.

Wie oben schon erwähnt, wird bei der Aethertropfnarkose die warme, mit Wasserdampf gesättigte Exspirationsluft im wesent- lichen dazu benutzt, zwecklos Aetherdampf zu erzeugen. Wenn man nun zwischen Gesicht des Patienten und dem Mull der Narkosemaske eine Anzabl Drahtsiebe bringt, so gelingt es, die Wärme der Exspirationsluft zum Teil festzuhalten und der In- spirationsluft mitzuteilen. Die Selbstregulierung des Aethergehaltes wird dadurch in keiner Weise gestört, da ja die vorher stark ab- gekühlte Luft erst dann erwärmt wird, wenn sie den ätherhaltigen Mull passiert hat, also eine weitere Aetheraufnahme nicht mehr möglich ist. Das Durchtropfen. von Aether durch den Mull in die Siebe findet niemals statt, selbst nicht bei stärkstem Aethergebrauch.

Einen schematischen Querschnitt einer nach diesem Prinzip konstruierten Narkosemaske!) zeigt Figur 3.

1) Hergestellt von der Instrumentenfabrik Louis und H. Loewenstein- Berlin.

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 65

aa ist der untere Rand der Maske, der wie bei der Sudek- schen Maske exakt nach der Gesichtsform des Patienten gekrümmt ist. b ist eine flache, nach Art eines Simses umlaufende Rinne, auf der 7 Siebe aus vergoldetem Kupferdraht aufliegen. Das oberste Sieb besitzt einen in die Rinne passenden verbreiterten Fuss. Ueber das äusserste Sieb wird die achtfache, engmaschige Mulllage e gebreitet. Das Ganze wird durch den Bügel d zusammen- gehalten. Die Maske hat, fertig armiert, annähernd die Grösse und Gestalt der Schimmelbuschmaske. Sie ist einfach gebaut, leicht zu reinigen und auskochbar. Die Atmung durch sie ist absolut ungehindert. Das sich notwendigerweise zwischen den Sieben und in ihren Maschen ansammelnde Kondenswasser haftet dort so fest, dass ein Herabtropfen ausgeschlossen ist. Die Maske wird in genau derselben Weise benutzt, wie die Schimmelbusch- sche; ibre Anwendung soll infolge ihrer grösseren Stabilität etwas bequemer sein.

Mit dieser Maske wurden nun mit Hilfe desselben Apparates wie ber der Schimmelbuschmaske Untersuchungen über die Tempe- ratur der durch sie bei der Narkose eingeatmeten Luft angestellt. Dabei fand sich, dass

1. trotz starken Aethergebrauchs sich die Inspirationsluft bei 22° Zimmertemperatur nicht unter + 17,3% abkühlte, also nicht nennenswert; dass nach Herausnahme der inneren 6 Siebe eine starke Abkühlung eintritt, bei —- 23° Zimmertemperatur bis auf 2,5°; die Siebe sind es also, die die Abkühlung ver- hüten; 3. dass die Temperaturschwankungen nar halb so gross sind, wie bei der Schimmelbuschmaske und nur langsam eintreten.

Die Siebmaske stellt also einen automatisch den Aether- gehalt und die Temperatur der Inspirationsluft regulierenden Apparat dar.

19

Schlesische Gesellsch, f. vaterl. Kultur, 1910, II. J

VII.

Ueber zwei bemerkenswerte Fälle von plötz- licher doppelseitiger Erblindung im höheren Lebensalter.

Von

W. Uhthoff.

M. H.! Ich gestatte mir, Ihnen zwei Kranke mit plötzlicher doppelseitiger Erblindung auf Grundlage peripherer bzw. basaler Optieuserkrankung vorzustellen, welche ich nach meinen Er- fahrungen als ausserordentlich selten bezeichnen muss.

Der erste Fall betrifft eine 7ljährige Frau, welche sich bis dahin stets einer guten Gesundheit erfreut hatte und bis zu ihrer Erblindung arbeitsfähig war. Im August 1909 will sie vorübergehend an „Gelenk- rheumatismus“ gelitten haben, sie hat jedoch das Bett deshalb nicht gehütet und war bald wieder arbeitsfähig. Vor 7 Wochen will sie an plötzlich auftretenden Kopfschmerzen gelitten haben, welche nach 14 Tagen wieder aufhörten, auch konnte sie trotz dieser Kopfschmerzen und trotz ihren hohen Alters ihrer Tätigkeit nachgehen. Vor 4 Wochen ist sie dann ohne besondere sonstige Beschwerden plötzlich auf beiden Augen erblindet, es zog sich ganz akut ein „Schleier“ vor beide Augen, und seit der Zeit ist sie total blind geblieben, keine Liehtwahrnehmung, keine Pupillenreaktion auf Licht, Pupillen beiderseits etwas erweitert und starr. Ophthalmoskopisch besteht zurzeit eine deutliche atrophische Abblassung der Pupillen mit scharfer Begrenzung. Die Retinalarterien sind zum Teil stark verengt und von etwas unregelmässigem Kaliber. Rechts betrifft diese Verengerung hauptsächlich die nach oben von der Papille verlaufenden Arterienstämme, während der untere Stamm noch relativ weit und gut durchgängig ist. Bei Fingerdruck auf den Bulbus lässt sich ein deutliches Pulsieren dieses unteren Arterienstammes konstatieren, während im Bereich der oberen stark verengten Arterien- äste ein solches Pulsieren kaum nachweisbar ist. Auf dem linken Auge verhalten sich die Retinalarterien ähnlich, nur dass hier gerade der obere Retinalarterienstamm relativ frei ist, während die unteren stark verengt erscheinen. Dementsprechend pulsiert auch der weitere obere Arterien- stamm deutlich bei Fingerdruck auf den Bulbus, während die unteren eine solche Pulsation kaum erkennen lassen.

Es handelt sich jedenfalls auf beiden Augen um teilweise ausgesprochene pathologische Veränderungen einzelner Arterien-

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 67

äste, aber doch nicht in dem Maasse, dass man daraus die ab- solute komplette doppelseitige Amaurose erklären könnte.

Das Allgemeinbefinden der Patientin ist sonst zurzeit absolut gut, es bestehen keine sonstigen cerebralen Beschwerden, auch die genauere objektive neurologische Untersuchung (Prof. Mann) ergibt keine Anhaltspunkte für irgend eine bestehende intra- eranielle Herderkrankung. Der Urin ist frei von Saccharum und Albumen, für frühere Syphilis keine Anhaltspunkte, und die sero- diagnostische Untersuchung des Blutes fällt negativ aus. Auch die sonstige Untersuchung der Organe ergibt bis auf deutliche Arteriosclerose keine krankhaften Veränderungen.

Die plötzliche doppelseitige dauernde Erblindung muss jeden- falls unter diesen Umständen als periphere, im Bereich der Öptieusstämme bedingte angesehen werden, aber eine Thrombose der Retinalarterien kann meines Erachtens nicht allein als die Grundlage für die totale Erblindung angesehen werden, da doch einzelne grössere Arterienstämme als relativ gut durchgängig nachweisbar sind, abgesehen auch davon, dass eine solche doppel- seitige und plötzlich gleichzeitig auftretende thrombotische Ver- stopfung der Retinalarterien als ein ausserordentlich seltenes Er- eignis angesehen werden müsste.

Ebenso steht es meines Erachtens mit der Annahme einer eventuellen doppelseitigen Thrombose des Stammes der Arteria ophthalmica in dem hinteren Abschnitt der Orbita. Es ist über- dies durchaus noch nicht gesagt, dass die Verstopfung des Stammes der Arteria ophthalmica immer zu einer völligen Er- blindung des betreffenden Auges führen müsste. Auf Grund meiner eigenen Sectionsergebnisse von ÜCarotisthrombose mit Ver- sperrung des Zuganges der Arteria ophthalmica glaube ich, dass ein solcher Vorgang wohl gelegentlich völlige Erblindung des be- treffenden Auges hervorrufen kann, aber ich habe auch einen sicheren Sectionsbefund, wo trotz einer Thrombose der Carotis interna über die Abgangsstelle der Arteria ophthalmica hinaus, das Auge sehend blieb und ebenso thrombotische Verstopfungen der orbitalen Aeste der Arteria ophthalmica nicht vorhanden waren. Es scheinen in dieser Hinsicht die Verhältnisse ver- schieden zu liegen, je nach anatomisch vorhandenen mehr oder weniger ausgesprochenen Anastomosen der orbitalen Arterienäste mit den Gesichtsarterien bzw. mit den Aesten der Maxillaris interna. Eine einseitige oder gar doppelseitige Thrombose aber der Carotis interna erscheint mir hier absolut ausgeschlossen schon wegen des Fehlens aller ausgesprochen cerebralen Er- scheinungen.

Desgleichen, glaube ich, ist hier eine doppelseitige Affektion des Hinterhauptlappens im Sinne einer doppelseitigen Hemianopsie bei dem positiven ophthalmoskopischen Befunde und dem Fehlen aller sonstigen, etwa auf Oceipitalerkrankung deutenden Erschei- nungen (Halluzinationen, Orientierungsstörungen, Verlust der optischen Erinnerungsbilder usw.) auszuschliessen.

Auch sonst sind pathologische Bedingungen, welche er- Sahrungsgemäss zu plötzlichen ein- und doppelseitigen Erblindungen

5 e

68 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

unter dem Bilde der peripheren Sehnervenerkrankungen führen können, in unserem Falle ausgeschlossen. Menstruationsanomalien, Gravidität und Lactation fallen ja bei unserer 71 jährigen Patientin von selbst fort. Ein akuter Blutverlust ist der Seh- störung nicht voraufgegangen. Erkrankungen des Nervensystens, welche gelegentlich akute hochgradige Sehstörungen hervorrufen können (multiple Sclerose, Myelitis, Hirnlues, Hirntumor, Hydro- cephalus u. a.) sind meines Erachtens mit Sicherheit auszu- schliessen, ebenso jede rein funktionelle Erblindung (Hysterie). Intoxikationen (Bleivergiftung, Methylalkohol, Chinin usw.) liegen sicher nicht vor, ebenso kein Anlass zur Annahme einer Auto- intoxikation, Krebskachexie u. a. Auch ein Schädeltrauma ist nicht voraufgegangen.

Als am wahrscheinlichsten möchte ich in diesem Falle für die Entstehung der Sehstörung noch eine basale Blutung aus einer Hirnarterie, ja eventuell auch aus einem geplatzten kleinen Aneurysma auf Grundlage der bestehenden Arteriosclerose mit Eintritt von Blut in die Sehnervenscheiden annehmen. Wenn es auch auffällig erscheinen muss, dass unter diesen Umständen weitere schwerere cerebrale Erscheinungen fehlen und gefehlt haben (nur die voraufgehenden Kopfschmerzen), so halte ich eine derartige Pathogenese der Sehstörung doch für möglich und wüsste keine bessere Erklärung zu geben. Auch kann gelegentlich eine Blutung aus einem Aneurysma zunächst in der Umgebung des Aneurysma abgekapselt bleiben, ohne sich diffus an der Hirnbasis zu verbreiten, und so die Sehnerven bzw. das Chiasma kom- primieren. Ich entnehme diese Möglichkeit aus einer mündlichen Mitteilung des Herrn Prof. Otfried Foerster, der einen der- artigen Sectionsbefund nach plötzlich eingetretener Erblindung beobachtete. Dass bei den unvollkommenen thrombotischen und sclerotischen Vorgängen im Bereiche der Retinalarterien auf den beiden Augen eine so plötzliche doppelseitige und dauernde Er- blindung in unserem Falle zustande gekommen sein könnte, er- scheint mir unwahrscheinlich, wenn auch im Bereiche der Hirn- pathologie gelegentlich auch pathologische Veränderungen und Ausfaliserscheinungen besonders im Gebiete der Hirnrinde beob- achtet worden sind in Fällen, wo die Section nur sclerotische Alterationen der betreffenden zuführenden Hirnarterien nachwies, aber keine vollkommene thrombotische Verlegung (Schroeder, Alzheimer, Bonhoeffer u. a.).

Blutungen aus Rupturen basaler Aneurysmen sind öfters beob- achtet worden (Bellamy, Mackenzie, Samt, Fürstner u..a.), allerdings liegen nicht immer Angaben über Sehstörungen vor. In dem Falle von Bellamy fand sich Neuritis optica.

Die durch Lumbalpunktion gewonnene Cerebrospinalflüssigkeit zeigte sich klar, sie enthielt keinen Blutfarbstoff, doch dürfte dieser Umstand wohl nicht mit Sicherheit gegen die Diagnose einer früher (vor 5 Wochen) erfolgten basalen Blutung verwertet werden.

Der zweite Fall, den ich mir Ihnen vorzustellen erlaube, betrifft einen 59jährigen Bahnarbeiter K.K., der nach früherem Wohlbefinden.

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 69

Anfang März 1910 einen plötzlichen Anfall von „Zittern“ mit starkem Erbrechen erlitt. Am nächsten Tage hatte er noch ein grosses Gefühl von „Mattigkeit“, und an diesem Tage senkte es sich auf einmal „wie ein Schleier“ vor beide Augen, so dass er nichts mehr unterscheiden kounte und nur noch hell und dunkel sah; er war fast vollkommen er- blindet, nachdem er bis dahin, wie er bestimmt versicherte, durchaus gut gesehen hatte. Da der Zustand sich nicht besserte, suchte er nach 3 Tagen die Schlesische Augenheilanstalt auf, wo die Diagnose auf neuritische Sehnervenatrophie gestellt und eine Behandlung mit Jodkali eingeleitet wurde. Hierauf trat allmählich Besserung cin, und Patient wurde mit Jodkali entlassen. Bald darauf jedoch verschlechterte sich der Zustand von neuem, und es trat wieder fast völlige Erblindung ein. Da jetzt eine Besserung ausblieb, wurde er am 2. V.1910 in die Uni- versitäts-Augenklinpik aufgenommen.

Die objektive Untersuchung ergab bei der Aufnahme: Beiderseits besteht das Bild der ausgesprochenen ÖOpticusatrophie. Pupillen weiss verfärbt, mit einem Stich ins Grünliche, leichte Pigmentunregelmässig- keiten in der Umgebung der Papillen, die Grenzen der Papillen fast scharf konturiert. Die Netzhautgefässe sind auch hier zum Teil stark verengt und von unregelmässigem Kaliber. Rechts betrafen die Verände- rungen besonders die nach oben verlaufenden Arterienstäimme, während die unteren einen relativ normalen Durchmesser zeigten; letztere pulsierten auch auf Druck sehr ausgesprochen, während die oberen verengten Aeste nur schwache Pulsation zeigten. Links war das Verhalten der Netzhaut- gefässe ganz analog, auch hier waren die oberen Aeste stark verdünnt und von unregelmässigem Kaliber, während die unteren sich relativ normal verhielten und auch auf Fingerdruck eine gute Pulsation erkennen liessen, während die oberen kaum wahrnehmbar pulsierten. Die Diagnose musste dem Bilde nach auf neuritische Atrophie mit teilweisen ausge- sprochenen sclerotischen Veränderungen der Netzhautgefässe gestellt werden. Das Gesichtsfeld ist auf beiden Augen fast total defekt, nur eine ganz kleine runde Gesichtsfeldpartie von ca. 8 Durchmesser, etwas exzentrisch vom Fixierpunkt, ist noch erhalten. Farben werden nicht erkannt, Finger auf 1m gezählt. Seinem Verhalten nach macht Pat. für gewöhnlich den Eiudruck eiues völlig Erblindeten mit grosser Hilf- losigkeit in bezug auf seine Orientierung. Auch ist das minimale Sehen in den kleinen exzentrischen Gesichtsfeldpartien ausgesprochenen Schwan- kungen unterworfen, so dass Patient vorübergehend so gut wie gar nichts sieht.

Zurzeit ist Patient jetzt ganz frei von cerebralen Beschwerden, auch die wiederholte genaue neurologische Untersuchung (Prof. Mann) ergibt nichts von Herderscheinungen. Ebenso weist die interne Untersuchung in der medizinischen Klinik keine sonstigen Organerkrankungen nach bis auf allgemeine Arterioselerose und einen geringen Gehalt von Eiweiss und ziemlich zablreiche hyaline und gekörnte Cylinder im Urin (wohl arteriosclerotische Nephritis). Von einer Erkrankung der Nebenhöhlen ist auch hier nichts nachweisbar. Keine Kopfschmerzen, kein Schwindel usw.: prägnant tritt lediglich das Symptom der hochgradigen Sehstörung zutage, die jm Laufe der weiteren Beobachtung trotz aller Behandlung keine Besserung erfuhr. Die serologische Blutuntersuchung fiel auch hier negativ aus.

In diesem Falle unterliegt es laut der Krankengeschichte wohl keinem Zweifel, dass schon vor dem Eintritt der plötzlichen hochgradigen Sehstörung auf beiden Augen eine pathologische Veränderung der Sehnerven im Sinne einer neuritischen Atrophie bestand, obwohl Patient mit aller Bestimmtheit behauptet, bis zu

79 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

der plötzlichen Erblindung gesund gewesen zu sein und auch durchaus gut gesehen zu haben. Nach dem Verhalten der restirenden kleinen Gesichtsfeldteile muss die Sehstörung als eine durch eine Erkrankung der Opticusstämme vor dem Chiasma be- dingte angesehen werden. Es ist meines Erachtens nicht angängig, mit Rücksicht auf den ophthalmoskopischen Befund die Sehstörung lediglich durch direkte Alterationen der Retinalarterien im Sinne thrombotischer oder sclerotischer Veränderungen zu erklären. Eine direkte Läsion der interkraniellen Opticusstämme muss auch hier angenommen werden. Alle jene beim ersten Fall eventuell in Betracht gezogenen Möglichkeiten (multiple Sclerose, Myelitis, Hirnsyphilis, akuter Blutverlust, Intoxikationen, Oceipitallappen- erkrankungen usw.) fallen auch hier weg. Als das wahrschein- lichste möchte ich auch hier eine basale Blutung vielleicht aus einem präexistirenden basalen Aneurysma annehmen, welches schon vorher die Optici beeinträchtigte.e Auch an einen basalen prä- existierenden Tumor, etwa in der Hypophysisgegend ist hier viel- leicht zu denken, in den hinein etwa eine Blutung erfolgte. Gerade auf dem Gebiete der Hypopbysistumoren sind wiederholt derartige plötzliche periphere Erblindungen oder hochgradige Amblyopien beobachtet worden (Baily, Woolcombe u.a.). Auch ich habe bei meinem Material von Hypophysistumoren 2 mal Gelegenheit gehabt, derartiges zu beobachten, ja, in dem ersten Falle trat nach vorübergehender Erblindung wieder Besserung ein, welche noch jahrelang bis zum Tode anhielt. Die Section ergab ein grosses Öystadenom der Hypophysis. Auch hier wies die Lumbalpunktion keine wesentlich pathologische Beschaffenheit der Cerebrospinal- flüssigkeit auf.

IX.

Eiweisskörper und Leberverfettung.

Von Prof. Dr. @eorg Rosenfeld-Breslau.

Die Untersuchungen, über welche ich Ihnen heute zu be- richten beabsichtige, basieren auf jenen Gedankengängen über das Zustandekommen der Verfettung, die ich Ihnen hier in ihrer ganzen Entwicklung schon vorgetragen habe. Das Grundphänomen war die Tatsache, dass das Phloridzin, welches eine beträchtliche Zuekerausscheidung hervorruft, am Hungertier eine starke Leber- verfettung bewirkt, dass diese Verfettung aber unterbleibt, wenn dem phloridzinvergifteten Tiere Zucker per os zugeführt wurde. Da sich analoge Beobachtungen wie am Phloridzin an der ganzen Reihe der verfettenden Agenzien: Chloroform und Phosphor, Oleum pulegii, Menthol, Pancreasexstirpation, Alkohol und Campher u.a. gewinnen liessen, so ergab sich als Grundregel folgender Satz: „Die Verfettung der Leber kommt zustande, wenn der Kohlen- hydratbestand der Leber geschädigt ist, und wird verhütet durch reichliche Kohlenhydratzufuhr.“ Diese Tatsachen drängten auf die Frage hin, welchen Einfluss eigentlich die Kohlenhydrate aus- übten, dass sie bei ihrem Vorhandensein die Leberverfettung hinderten, bei ihrem Fehlen sie zustande kommen liessen. Die Vorstellung, die ich zunächst mir bildete, war die, dass die Kohlen- hydrate die Verbrennungserreger für die Fette bildeten. Und die Genese der Verfettung stellte sich also folgendermaassen dar: In die Leber strömt stets der Fettstrom ein wie in andere Organe. Bei der Anwesenheit von Kohlenhydraten werden die Fette verbrannt, und es kommt nicht zur Leberverfettung. Beim Fehlen der Kohlenhydrate aber bleibt die Entflammung der Fette aus, sie werden nicht verbrannt, bleiben in der Leber liegen, und so kommt es zur Fettanhäufung in der Leber, zur Leberverfettung.

Die Rolle eines Entflammungsmittels konnten die Kohlen- hydrate in sehr verschiedener Weise spielen. Sie konnten als Katalysatoren fungieren, als eine Art unbeteiligter Sauerstoffüber- träger; sie konnten eventuell lediglich die Zelle in ihrem vollen ÖOxydationsvermögen erhalten, und schliesslich war es denkbar, dass sie eine chemische Verbindung mit den Fetten eingingen

12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

und auf diesem Wege deren Verbrennung erleichtern. Für jeden Fall, ganz besonders aber für den letzteren, für den Versuch ins- besondere, der Fettkoblenhydratverbindung eine grössere Körperlich- keit zu verleihen, war es von Wichtigkeit, zu untersuchen, welche Kohlenhydrate in der Lage sind, auf die Fette so entflammend zu wirken, was ja dasselbe heisst wie die Frage: Welche Kohlen- hydrate sind imstande, die Leberverfettung zu verhüten? Da stellte es sich denn heraus, dass nur ein enger Kreis der Kohlen- hydrate dazu befähigt ist, nur die Dextrose, die Lävulose, die Saccharose und andere Polysaccharide, wie z. B. das Stärkemehl waren dazu imstande, während die Kohlenhydratalkohole und Kohlenhydratsäaren versagten.

Daraus ergab sich als ein erster Schritt, dass, wenn man eine Verbindung der Fette mit den Kohlenhydraten suchen wollte, sie nur in Verbindungen mit diesen Hexosen und Polysacechariden zu finden sein konnte.

Es war aber auch eine mir längst bekannte Tatrache, dass nicht nur die Kohlenhydrate die Fähigkeit besassen, die Leber- verfettung zu verhindern, sondern dass dieselbe Eigenschaft dem Fleische zukam. Wenn man einem Hunde nach fünftägigem Hungern Phloridzin mit grösseren Mengen Fleisch verabfolgt, so sieht man die Verfettung ebenfalls ganz so wie nach Zucker aus- bleiben. Bei dem Studium des Einflusses von Substanzen auf die Verbrennung des Fettes durften also auch die Eiweisskörper nicht übergangen werden, und es musste die Frage untersucht werden: Welche Eigenschaft ist es, die dem Fleische die Fähigkeit verleiht, die Verbrennung der Fette an- zuregen? So erwuchs die Frage: Ist es das Fleisch unter den Eiweisskörpern, das diese Fähigkeit allein besitzt, oder sind alle möglichen Eiweisskörper so konstituiert, dass auch sie die Fett- verbrennung ermöglichen?

Um an diese Untersuchungen heranzutreten, bedurfte es zu- nächst quantitativer Untersuchungen darüber, welche Menge Fleisch notwendig ist, um gerade eben die Verfettung zu verhüten. Man konnte betreffs dieser Verhütung in verschiedenem Grade anspruchs- voll sein. Da der Fettprozentgehalt der Leber im Hungertiere ca. 10 pCt. beträgt, so war eine Berechtigung vorhanden, nur derjenigen Fleischmenge, welche die 10 pCt. Fett herstellte, die Eigenschaft eines Verhüters der Verfettung zuzubilligen. Aber man musste vielleicht für diesen Zweck sich zu den höchsten Dosen Fleisches, mehr als 100 g pro Kilogramm, verstehen. Wenn dem nun auch, so lange es sich um Fleisch handelte, nicht leicht ein Bedenken durch Verträglichkeit der Substanz (eventuell auch durch Kostbarkeit) entgegenstehen würde denn die Hunde nehmen solche Mengen Fleisch nach den vorbereitenden fünf Hungertagen mit Freuden zu sich, behalten und verarbeiten sie meistens so war das bei anderen Eiweissstoffen vielleicht sehr anders. Man konnte sich aber schliesslich auch mit einer weniger vollständigen Verhütung der Verfettung für unsere Zwecke begnügen. Denn da die gewohnte Dosis Phloridzin, 0,2 pro Kilogramm subeutan wie uns frühere Untersuchungen ergeben

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 73

hatten eine Verfettung von ca. 30 pCt. Fett auf die Trocken- substanz der Leber erzielte, so war die Verhütung der Verfettung eigentlich schon erwiesen, wenn sich nur ca. 15 pCt. Fett in der Leber fanden. Diesen Effekt erreichten nun in den Versuchen 16 und 17 Mengen von 60 g Fleisch pro Kilogramm Tier, ja sogar schon 30 g, wie Versuch 19, 117, 118 zeigten nur in Ver- such IS fand sich noch 22,6 pCt. Fett (s. Tabelle 1).

Tabelle].

R Fleisch

©

si Gewicht! Urin Leber Fleisch

= DEN on lewett| | N ro kg 2 k 5 u | ı pP 5

g g g | pCt. Glykogen | pCt. | g

rl LE 1 | 158 072 013.0%-| 60 mal 91 24 44 15,0 Sue 60 Kl 9,0 27 69 22,6 | 0 | 14,5 30 0 26 5 | 1E 38 W/snGer 142 30 Bin 61 16 38 13,6 re E01 30 I1S 5,5 14 27 11,6 2,07 | 11,4 30 BEE En la ee. | =

Damit hatte sich als eine den Vergleich ermöglichende Menge 30 g Fleisch pro Kilogramm oder etwas mehr herausgestellt; denn diese Menge reichte aus, die Leberverfettung nahezu voll- ständig zu verhüten.

Der erste Vergleichsstoff war das Casein, das mir in aus- gezeichneter Reinheit durch die Freundlichkeit des Herrn Prof. Bergell zur Verfügung stand. Da als verhütende Fleisch- dosis 30 g und etwas darüber angenommen wurde, so gab ich zunächst 9—10 g Casein pro Kilogramm, die etwa 40—45 Fleisch an Eiweisswert gleichstehen. Die Mengen wurden gut vertragen. Als aber das Ergebnis der ersten drei Versuche es nahelegte, grössere Mengen von Casein in den Kreis der Untersuchung ein- zubeziehen, fand sich, dass diese grossen Quanten doch leicht er- brochen wurden (s. Tabelle 2), dass also unsere obigen Bemühungen um die kleinste die Verfettung hindernde Minge gerechtfertigt waren.

Das Ergebnis der ganzen Versuchsreihe ist aber eindeutig.

Da die Durchschnittszahl 26 pÜt. Fett in der Leber beträgt, so gelingt es also dem Öasein nicht, die Verfettung zu verhüten.

Öhne vorderhand auf die Details einzugehen, betrachten wir jetzt die Versuchsreihe, die mit Kalbsthymus angestellt wurde. Hiervon wurden ebenfalls wie vom Fleisch den Tieren 30 g pro Körperkilogramm gegeben; meist wurde auch das Futter ohne Widerstreben genommen, aber die Hunde zeigten doch eine deutliche Neigung zum Erbrechen, und im Versuch 126 wurde auch eine kleine Menge erbrochen. Die Tabelle 3 enthält die Ergebnisse.

74 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Tabelle 2. 2 Casein = Cl Urin Leber Casein S EN D Fett | N zZ k | = | ro k S |pro kg|pro kg | pCt. eiylayan I Den 110 6,0 | 1,54 | 3.34 | 30,2 ) 11,05 10 111 6715 |25 | 242 sı) 11,63 9 112 6 | 084 | 2,3 22,3 0 121 9 115 7,5 ‚Verlust | Verlust) 36,9 S 23 ISO 2% 114 5.08 Ko’ome oTs2 #394 Se enois 10? 120 7,83 1,9 | 3,5 12,7 S 13,3 11 Mittel | 6,03 | 1,206 | 2,774 | 26,4 wu 11,45 zu 1) S bedeutet „Spuren“. Tabelle 3. = Thymus E Gewicht| Urin Leber | Thymus E N D Fett | Ne 2 | Alyk 10 k pro kg | pro kg p6t. Giykopen pCt. a I | | I | | ı9 les |ıs | 406 | 24,9 OD os en ı2s|[50 |ı2 | 20 BROBOR I 90 | 792 a se ae 18 S 122 33 Tor 15 143 | 31 203 |0,474pCt.| 11,05 33 168 | 4,0 17 22 | BA) 0 BL 30 169 | 44 115 | 21 ST lese Er osso 186 5,5 | 0,56! | 0,32! | 15,46 0 13,18 | 25 189 | 50 | 0,08 | 122 | 15,04 | 0,63pct. | 12,17 30 Mittel | 4,887 | 1,183 | 2,097 | 24,6 EL | 86g } = | 1332 | oa Er RR ai +89g | | |

Wie man sieht, ist das Ergebnis ein sehr wechselndes. Der Versuch [86 mit der niedrigsten Zahl ist durch irgend ein Moment, vielleicht schlechte Resorption des Phloridzins, wohl fehlerhaft, da auffallend geringe Mengen von Zucker ausgeschieden wurden. Wenn man von ihm absieht, ist in zwei Fällen die Verfettung verhütet worden; in den übrigen Fällen ist es nicht gelungen. Halten wir uns einfach an die Durchschnittsberechnung, so sind 24,37 pCt. Fett in der Leber festzustellen, welcher Mittelwert ebenso wie die überwiegende Zahl der Fehlfälle die schlechte Fähigkeit der Kalbsmilch, die Leberverfettung zu ver- hüten, illustriert.

Als nächste Versuchsreihe möge die mit Eiereiweiss aus- geführte aufgeführt werden.

-1 [l

I. Abteilung. Medizinische Sektion.

In zwei Versuchen ist das ganze Ei verwendet worden (115 und 119), sonst nur Weissei in der Menge von 100 g pro Kilo- gramm. Diese Substanz wurde mit der Sonde eingegossen und nicht erbrochen. Die Uebersicht über die Resultate ist folgende (Tabelle 4):

Tabeile 4.

= Eiereiweiss

= | Urin | Leber

2 gemacht N | D | Fett | air N Weissei

kg | prokg|prokg | pCt. | Iykogen I: pCt. pro kg

I15 6,2 u 24,23 10,55 ' Ganze 119 4,8 | 26,8 0 11,1 \S) Eier I16 7,5 1.0 1,6 33,1 0? 10,45 ; 100 g I 22 7,7 0,9 3,06 46,06 0 7,78 |100 8 123 8,8 0,61 0,9 32,36 0,94 9,9 | 100 g 127 9,7 | 1,04 rl 30,6 0? 10,48 100 g 128 0 6,06 34,5 0 9,2 ' 100 g Mittel _ 1,12 2,66 32,52 9,965 |

Hier ist also von einer Hinderung der Verfettung nicht die Rede ja, man könnte beinahe zu der Erwägung veranlasst werden, ob nicht die Weisseifütterung die Leberverfettung erhöht; aber bis zu 37 pCt. Fett findet sich auch bei reinem Hunger nach 0,2 g Phloridzin pro Kilogramm in der Leber.

Die Frage wäre zu diskutieren, ob etwa eine sehr schlechte Resorption des Futters an dieser gänzlichen Wirkungslosigkeit schuld sei. Solcher Gedanke lag um so näher, als der Diekdarın stets prall mit stinkendem Kot gefüllt war. So machte ich zwei Versuche mit Weisseifütterung ohne Phloridzin. Der Dickdarm zeigte dasselbe Bild. Da aber die Leber reichlich Glykogen ent- hielt, so war doch Sicher soviel Weissei resorbiert worden, dass der Einfluss des Eiweisses auf die Verfettung gesichert war. Das- selbe beweist auch die Stickstoflzahl im Harn, die der Stickstoff- ausscheidung bei den anderen Versuchen ganz analog ist. Den Gedanken, dass das Weissei an sich etwa Verfettung der Leber bewirke, hat der normale Fettgehalt der Leber bei diesen beiden Versuchen mit Weissei ohne Phloridzin widerlegt (Tabelle 5).

Mangel an Material zwang bei der Untersuchung des Edestins auf verfettungshindernde Wirkung, es mit zwei Versuchen bewenden

Tabelle 5. En ne 8 | Gewicht | Urin Leber Weissei E N Fett |_ N 2 kg pro kg pCt. Glykogen pCt. pro kg 130 4,8 1,58 g 8,58 1,039 13,2 100 g I81 9,0 | 0,41Sg 12,58 1,24 12,05 100 g

76 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

zu lassen. Das Edestin, welches ich der Freundlichkeit des Herrn Prof. Röhmann verdanke, wurde in der Menge von S-13 g pro Körperkilogramm mit Wasser angerührt, durch die Sonde ein- gegeben und wurde gut vertragen. Die Versuche I 34 ergaben 27,4 pCt. in der trockenen Leber, 142 38,7 pOt. Fett; also ein- deutig: Unvermögen, die Verfettung zu verhüten.

Ein ebenfalls merkwürdiges Resultat zeigte sich, als statt des Fleisches defibriniertes Ochsenblut gegeben wurde. Die Menge, in welcher das Ochsenblut gegeben wurde, wurde danach berechnet, dass das Ochsenblut in einer Bestimmung 2,7 pCt. N und 16 pOt. Trockenrückstand enthielt. So mussten 80 g Blut pro Körper- kilogramm für weit mehr als äquivalent den 30 g Fleisch gegen- über betrachtet werden. Das Blut wurde im allgemeinen nicht gut von den Tieren vertragen, entweder erbrachen sie einen Teil, oder sie bekamen teerartige, dünne Stühle, welche so gut wie immer den Urin verunreinigten und somit eine Verfolgung des N-Umsatzes unmöglich machten. Jedoch war bei der die N-Zufuhr im Fleisch um ca. 100 pCt. übertreffenden Stickstoffdosis des Blutes es nicht recht zweifelhaft, dass bei diesen Blutversuchen die äqui- valente Menge Stickstoff im Körper zur Verwendung kam. )

Die tabellarische Uebersicht der Versuche folgt (Tabelle 6):

Tabelle 6. Fett in der Nummer Glykogen | trockenen Leber

pCt. 135 0? 14,2 136 32,3 137 0? 46,6 140 02 54,1 141 0? 22,8 143 0,64 pCt. 13,7 146 | 22,2 147 = 21,8 Mittel 25,96

In dem Versuch 143 liegt nicht eine Verfettungshinderung durch die Wirkung des Blutes vor, sondern es handelt sich um einen nach dem Sectionsbefund maximal fettarmen Hund, bei dem eine Leberverfettung natürlich nicht zustande kommen konnte. Die Durchschnittszahl von 26 pÜt. zeigt das erstaunliche Resultat, dass dem Blut nicht gelingt, was dem Fleisch möglich ist, die Leberverfettung zu verhüten. Hier kann die sehr schlechte Resorption des Blutes recht wohl hindernd in Frage kommen, ob- wohl die stark übertriebene Zufuhr quantitative Unterschiede einigermaassen ausschliesst und mehr auf qualitative Differenzen in der Wirkung beider Stoffe hinweist.

Führen wir uns nun in einer tabellarischen Uebersicht die Mittelwerte der Fettprozentzahlen in der Leber bei den ver-

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 77

schiedenen Eiweisssubstanzen vor, so ergibt sich, dass einzig das Fleisch ein sicherer Verhüter der Leberverfettung ist, während selbst die ihm so nahestehenden Substanzen wie Thymus und Blut diese Gabe nicht oder sicher nicht konstant besitzen.

Fleisch. . . . 15,6 pÜt. Fett in der Leber

Gaseinr 2.3: 26:4: ln a 2 Iihymussan 2 EDANGEEE" re Weisses. -02.20982:525. RL 5 Edestine 2.2 72.0.323:055, tn n ee ee ee

Diese Sachlage drängte uns zu dem neuen Problem: Welche Eigenschaft zeichnet denn das Fleisch so vor den anderen Eiweiss- substanzen aus? Dass Resorptionsverhältnisse höchstens bei dem Blut in Frage kommen könnten, könnte nur für den Fall des Blutes den Unterschied erklären, bei den übrigen Substanzen waren die Resorptionsverhältnisse gewiss nicht schuld. Bei der grossen Kompliziertheit in der Zusammensetzung aller der ver- wendeten Substanzen konnte man an die Unterschiede in der prozentualen Zusammensetzung nach sehr verschiedenen Gesichts- punkten herangehen.

Zunächst sei bemerkt, dass die aus allen Versuchen hervor- tretende überlegene Rolle des Fleisches in der Fettverhütung nicht seinem Besitz an Extraktivstoffen zuzuschreiben ist; denn auch andere Substanzen, wie z. B. Casein oder Edestin, mussten mit ziemlich grossen Mengen Fleischextrakt gegeben werden, damit sie von den Hunden genommen, resp. behalten wurden. Und trotz dieser Hinzufügung von Extraktivstoffen trat keine Verfettungs- hinderung ein.

Man konnte auch den Besitz oder das Fehlen von Kohlen- hydratradikalen, den Bestand an Aminosäuren usw. in Frage ziehen.

Der Gedankengang, in dem ich mich dem Problem, die Eigenartigkeit der Fleischwirkung aufzuklären, näherte, war fol- gender:

Das Eiweiss, ebenso das Fleisch kann man auffassen als ebenso aus einer Fülle von einzelnen Bausteinen bestehend, etwa wie ein Ankersteinbaukasten. Da sind weisse und rote und blaue Steine von der verschiedensten Grösse und Form vorhanden. Wenn ein Tier hungert, so lebt es von seinem eigenen Fleische, abgesehen vom Fette. Dabei zerlegt es das Fleisch in die ver- schiedentlichsten Bausteine, hat aber die Gesamtheit aller Bau- steine zur Verfügung. Nun könnte es ja sein, dass die Gesamt- heit der Bausteine das Wesentliche ist, wie man eben manche Vorlagen des Ankersteinbaukastens nur im Besitze aller Steine bauen kann, Es könnte aber sein, dass unter diesen Bausteinen einzelne wären, die ganz unersetzlich sind.

Eine solche Gruppe hat Abderhalden schon im Tyrosin und im Tryptophan gefunden. Wenn er nämlich abiuretisch ge- spaltenes Eiweiss verfütterte, so gelang es auch ihm, wie es O0. Loewy zuerst gezeigt hatte, das Tier mit diesem in die ein- zelnen Bausteine zerlegten Biweissbaukasten ebenso auf dem Stick-

78 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

stoffgleichgewicht zu erhalten, wie wenn er Eiweiss im ursprüng- lichen Zustande gegeben hätte. Entfernte er aber aus den Bau- steinen das Tyrosin und Tryptopban, so waren die übrigen Bau- steine des Eiweisses nicht imstande, das Gleichgewicht des Tieres zu erhalten.

In ähnlicher Weise beabsichtigte ich, dem hungernden Tiere von den Bausteinen seines Körperfleisches, von dem es lebte, diesen oder jenen zu entziehen. Gross ist die Wahl der Bau- steine nicht; denn es kann sich doch nur um Glykokoll, Ornithin oder Öystin handeln. Von diesen Substanzen sind die Bedingungen der Glykokollentziehung die bei weitem bestgekannten und hand- lichsten. Gelingt es doch unschwer, einem Säugetiere seinen ganzen Glykokollvorrat, ja noch mehr, zu entziehen, wenn man ihm die genügenden Mengen von Benzoesäure verabfolgt, mit dem das Glykokoll eine Bindung zu Hippursäure erfährt. Eine Reihe von Erwägungen sprach für das Projekt einer Glykokollentziehung. Jene Eiweisskörper, denen es gar nicht gelingt, die Verfettung zu hindern, wie das Rieralbumin, das Casein, das Serumalbumin, sowie das Globin, sind ganz glykokollfrei. Das Histon aus der Thymus enthält auch nur 0,5 pCt., im Edestin sind 1,2 pCt., aber auch mehr, und im Serumglobulin über 3 pCt. Glykokoll enthalten. Das Muskelfleisch enthält aber weitaus am meisten, über 4 pÖt., Glykokoll.

So war denn Anlass genug gegeben, einmal nachzusehen, ob das Fehlen von Glykokoll es war, das bei einer Reihe der unter- suchten Eiweisssubstanzen sie hinderte, die Verfettung zu ver- hüten. Es musste also versucht werden, ob die Entziehung des Glykokolls beim Hungertier die Verbrennung des Fettes in der Leber aufheben würde, d.h. zu einer Leberverfettung führen würde.

Darum gab icb den hungernden Hunden Natrium benzoi- cum, erreichte damit eine starke Hippursäureausscheidung und wirklich eine mächtige Leberverfettung. Die ersten Zahlen, die ich sah, waren 31,9, 33,4 und 38,8 pCt. Fett in der Leber.

Damit schien gewissermaassen der geschilderte Gedankengang zu einem Triumph geführt zu haben.

Aber bei näherem Zusehen stellte es sich doch heraus, dass der Sieg noch nicht so entschieden sei. Denn wenn auch eine reichliche Glykokollentziehung durch die Hippurausscheidung be- wiesen war, so fanden sich im Harn neben der Hippursäure nicht unbeträchtliche Mengen von Kohlenhydraten, die Jaffe und Magnus-Levy als Benzoeglykuronsäuren ansehen.

So entsteht denn die Frage, ob nicht die Kohlenhydratent- ziehung durch die Benzoesäure in der gleichen Weise Leberver- fettung machte, wie ich sie nach Campher- und Mentholverab- folgung beschrieben habe, welche ebenfalls dem Körper Glykuron- säuren entziehen.

Diese Frage konnte man zu entscheiden versuchen, denn wenn man zum Natrium benzoicum Glykokoll hinzu verab- folgte, so verbindet sich die Benzoesäure mit dem ihr von aussen

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 79

zugeführten Glykokoll und der Organismus ist imstande, seine Glykokollvorräte zu behalten.

Die erste Vorbedingung war die, für die Benzoesäure die- jenige Dosierung zu finden, welche die Hunde immer vertrugen und mit einer Leberverfettung beantworteten. Die Hunde sind nämlich viel empfindlicher gegen Benzoesäure als Kaninchen, welche 1,7 g pro Körperkilo vertrugen. Die Dosis tolerata bei den Hunden betrug aber nur 1,0 g. Jede wesentliche Ueber- schreitung konnte den Hunden gefährlich werden. Die Fett- prozentzahlen, die sich alsdann in der Leber ergaben, waren unter Weglassung der Versuche an fettärmsten Tieren

25,5 pCt. in der Leber 22,5 27,5 25,12 2 15,44 20,7 21,8 + n

Mittel 22,65 pCt. Fett.

Der Modus procedendi war derselbe wie beim Phloridzin:

5 Tage Hunger als Vorbereitung, dann 2 Tage hintereinander je

1 g Natrium benzoicum pro Kilo, dann Tötung durch Verbluten.

Diese Zahlen änderten sich nicht erheblich, als Glykokoll

zu der Benzoesäure hinzugegeben wurde, so dass in der Leber an Fett vorhanden war 19,0 pCt. Te

20,2

15,8

32,6

25,8,

im Mittel 21,7 pÜt.

Es ist also kein wesentlicher Unterschied durch das Glyko- koll erreicht worden. Auch die Zufütterung von Gelatine, die etwa 16,5 pCt. Glykokoll enthält, zum Natrium benzoicum (oder auch zum Phloridzin) vermindert die Verfettung nicht im ge- ringsten.

Somit ist schon damit klar, dass die Glykokollentziehung keine Rolle bei dem Zustandekommen der Leberverfettung bei Natrium benzoicum spielte.

Es musste sich ja auch positiv beweisen lassen, dass die Kohlenhydratentziehung, die wir im Harn durch das Natrium benzoicum zustande kommen sehen, vielmehr die Schuld an der Leberverfettung trug; denn wenn man Kohlenhydrate zu dem Natrium benzoicum hinzugab, liess sich erwarten, dass das Na- trium benzoieum sich der zugefütterten Kohlenhydrate bemächtigte und die Vorräte des Körpers intakt liess. Der Erfolg war, dass sich in der Leber nach Natrium benzoicum 1 g pro Kilo und Dex- trose 8 g pro Kilo an Fettprozenten in der Trockensubstanz fanden:

s0 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

21,0 pCt. Fett

10,4 15,0 AV 1 7,6 20.0 „m 20,0 n eh) 17,4 1a eb 18,4

im Mittel 17,4 pOt. Fett.

Wenn auch die Verfettungshinderung nicht bis zum höchsten Grade gediehen ist, so ist sie doch ganz deutlich und durch grössere Dosen von Dextrose oder Polysacchariden noch zu ver- stärken. Aber leider ist durchweg nicht ohne weiteres bewiesen, dass wirklich die Kohlenhydratentziehung einzig schuld sei. Das wäre doch nur dann anzunehmen, wenn sich hier der einzige Punkt im Stoffwechsel des Tieres änderte, dass ihm bei Zucker- zufuhr durch die Benzoesäure die Kohlenhydrate nicht mehr ent- zogen würden. Das trifft nun nicht zu; denn merkwürdigerweise mindern sich nach Kohlenhydratdarreichung bei Natrium benzoicum auch die Hippursäurewerte ganz erheblich, öfter bis O, so dass die Kohlenhydratzufütterung dem Tiere nicht bloss seine Kohlenhydrat-, sondern auch seine Glykokoll- vorräte erhält.

Der Grund dieses Vorganges ist ganz einfach. Die giftige Benzoesäure wird von dem Organismus teils durch die Paarung mit Glykokoll, teils durch die Paarung mit Kohlenhydrat ent- giftet. Die Entgiftung durch Kohlenhydrate ist so viel leichter, dass sich die Benzoesäure im Falle der Zuckerzufütterung nur oder meist durch Kohlenhydrate entgiftet, und so dem Organismus sein Glykokoll belässt.

Damit war aber unsere Frage, was die Leberverfettung be- dingt, die Glykokollentziehung oder die Kohlenhydratentziehung, noch nicht entschieden, weil hier zu gleicher Zeit beiderlei Ent- ziehung weggefallen war.

Es liess sich aber ein Weg finden. Das nächsthöhere Homo- logon der Benzoesäure ist die Phenylessigsäure. Sie hat die Eigentümlichkeit, sich ebenfalls mit Glykokoll zu paaren, indem sie als Phenacetursäure im Harn erscheint, ohne Kohlenhydrate mit sich zu reissen. Die Phenylessigsäure, welche ich nach dem Vorschlag von Herrn Prof. Neuberg verfütterte, entzog dem Körper nun grössere Mengen von Glykokoll. Es traten in der Leber aber nur 17,8 pCt.

13,66 und 11,7 Fett auf.

Damit ist auch nach dieser Methode gezeigt, dass die Glyko- kollentziehung es nicht ist, die die Leberverfettung macht, und damit ist auch die Frage dahin beantwortet, dass nicht die Glykokollfreiheit des Eiereiweisses, des Oaseins usw. schuld daran ist, wenn diese Substanzen die Leberverfettung nicht verhindern.

I. Abteilung. Medizinische Sektion. s1

War also das Glykokoll ausser Spiel, so konnten noch andere Gruppen aus dem Riesenkomplexe der Bausteine des Fleisches in Frage kommen, welche den eigentümlichen Vorzug des Fleisches vor den anderen Substanzen bedingen konnten. Es lag ja einiger- maassen nahe, der Kohlenhydratgruppen in den verschiedenen Eiweisskörpern zu gedenken: besitzt doch z. B. das Casein keinerlei prosthetisches Kohlenhydrat; aber während das Fleisch mit solchen prosthetischen Kohlenhydratgruppen dazu befähigt ist, die Leberverfettung zu verhindern, sind Kalbsmilch und Bier- eiweiss, die ebenfalls reich an Kohlenhydraten sind, dazu nicht imstande.

Immerbin wird aber die Vorstellung von der Fettverhütung durch Eiweisskörper in der Richtung sich bewegen, die durch die Tatsache gegeben ist, dass die Kohlenhydrate ja die Fähigkeit der Verfettungshinderung in ausgesprochenem Maasse besitzen.

Die Mengen der durch die Ernährung mit verschiedenen Eiweisskörpern etwa verfügbar werdenden Kohlenhydrate lassen sich aus dem Stoffwechsel ableiten.

Bevor wir dies aber tun, wollen wir den Stoffwechsel und die Körper-N-Bilanz der Hunde an sich noch ohne Rücksicht auf die Kohlenhydratbildung kurz betrachten.

Wir müssen nämlich konstatieren, dass die Bilanz des N-Umsatzes, wenn man Fleisch- und Caseintiere vergleicht, inso- fern ungünstig für die Fleischtiere ist, dass die Fleischtiere eine negative, die Caseintiere eine positive N-Bilanz haben. Wenn wir dagegen die Menge N ausrechnen, welche sich in demjenigen Quantum Leber befindet, das dem Kilo des Tieres zugehört, so ergeben sich folgende Zahlen:

1 Kilo Hund besitzt g trockene Leber, darin sind g N Hungerhund . . . . za 0,947 Hunger —- Phloridzin . 11,8 0,675 Fleisch is ; 8,133 0,994 Oasein n 5 7,983 0,902 Thymus en : 7,3 0,836 Weissei 2 s 6,53 0,685 Edestin —- en ß 9,7 0,961 oe MANDE 8,078 0,845

Wir sehen also, dass einzig die Fleischfütterung (abgesehen vom Edestin) imstande ist, in der Leber so viel Eiweiss anzu- häufen, dass die Menge des Lebereiweisses pro Kilo des Hunger- hundes übertroffen wird.

Wenn wir nun uns den Stoflwechsel bei denjenigen Versuchs- reihen ansehen, welche ohne starke Diarrhöen verlaufen sind und eine Urinuntersuchung ermöglichen, so ergibt sich folgendes: Aus- gehend von der pro Kilo Tier ausgeschiedenen Menge Stickstoff und Dextrose können wir berechnen, wieviel Kohlenhydrat dem Organismus noch zur Verfügung stand. Nehmen wir nämlich die Zahl g N pro Körperkilo und multiplizieren sie mit 3,0, so bekommen wir angenähert diejenige Zahl von Kohlen- hydraten, die im gegebenen Falle aus dem Eiweissumsatz als ge-

Schlesische Gesellsch. f. vaterl. Kultur, 1910, U. 6

82 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

bildet angenommen werden können. Wenn man von dieser Zahl die Menge der pro Kilo Tier im Harn ausgeschiedenen Dextrose abzieht, so lernt man die Menge Kohlenhydrate kennen, welche noch für die Oxydation im Organismus zur Verfügung standen. Es resultieren folgende Zahlen:

B 2 D. pro Kilo D. verfügbar

Dlersonkilo ausgeschieden pro Kilo Rleischr wer: 1,49 3,097 1.37 Gaseine a. 0: 1,206 2,774 0,544 ihyımuspane re 1,183 2,097 1,452 Weissei . . . 1,124 2,652 0,920 Edestiner2.. 1,8 3.85 1,55

Die Zahlen für das Edestin können nicht so ernst in Betracht gezogen werden, weil nur zwei Versuche vorliegen.

Ausserdem steht der Zuverlässigkeit der ganzen Berechnung der Umstand gegenüber, dass es doch sehr zweifelhaft ist, ob aus allen Kiweisskörpern Kohlenhydrate in gleicher Relation zum N gebildet werden!). Auch ist nicht zu vergessen, dass die Unter- schiede verhältnismässig sehr geringe sind und die gesamte ver- fügbare Menge au Kohlenhydraten auch sehr unbeträchtlich ist.

Und doch gewinnen auch diese kleinen Mengen sogleich an Bedeutung, wenn man die glykogenbildende Kraft der ver- schiedenen Eiweissstoffe mit in Betracht zieht.

Das kann in zweifacher Weise geschehen.

Erstens kann man den Glykogengehalt der Leber bei diesen verschiedenen Fütterungssubstanzen heranziehen, und da zeigt sich denn, dass bei den Fleischtieren am häufigsten ein posi- tiver Glykogenbefund zu verzeichnen ist. Zudem sieht man, dass wo bei Fütterung mit anderen Stoffen nennenswerte Glykogenmengen sich finden, da auch ausnahmsweise meist die Leberverfettung verhütet war.

Zweitens kann man diejenigen Glykogenmengen betrachten, die sich nach etwa gleichwertigen Mengen Fleisch, Casein, Eier- eiweiss und Thymus bilden, ähnlich wie sie Felix Rosenthal in seiner Arbeit aus meinem Laboratorium?) zusammengestellt hat.

Zugeführter Eiweisskörper Glykogengehalt im Durchschnitt

Fleisch reichliche Mengen bis 6,12 pCt.

Casein 3,09 p©t. Eiereiweiss Ina

Thymus 0,284

Wir finden also, dass die entfettende Wirkung mit der stärksten Aufbringung von Kohlenhydraten verbunden ist.

Nebenbei sei bemerkt, dass die gleiche Reihenfolge wie in der glykogenbildenden Kraft auch für den Gehalt an Monamino- säuren bei den genannten Eiweisskörpern gilt.

1) Man darf auch nicht vergessen, dass bei einzelnen Versuchen der Zusatz von Fleischextrakt den N-Umsatz kompliziert.

2) Felix Rosenthal, Ueber den Einfluss des Eiweissstoffwechsels auf die Acetonurie im normalen Organismus. Zentralbl. f. innere Med., 1908, Nr. 8.

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 83

Nach alledem kommen wir zu der Anschauung, dass das Fleisch seine eigentümlich bevorzugte Stellung in der Ver- fettungshinderung der Intensität seiner Beteiligung am Kohlenhydratstoffwechsel zu danken hat.

Um dem gesamten Zusammenhange gerecht zu werden, muss in aller Kürze auf die Entstehung des Acetons eingegangen werden. Vor 25 Jahren habe ich gezeigt!), dass kohlenhydrat- freie Biweisskost auch beim gesunden Menschen zur Acetonurie führt. Für dieses Phänomen ergab sich in den letzten Jahren die Deutung, dass auch hier nicht Kohlenhydrate genug verfügbar sind, damit die Fette ganz verbrennen können, also bis CO, und H,0, sie bleiben auf der Oxydationsstufe etwa des Acetons stehen. Werden nun aber dem gesunden Menschen sehr grosse Mengen von Fleisch gegeben, so verhindern oder vermindern sie die Entstehung von Aceton?2). Nun zeigt Felix Rosenthal in einer Arbeit aus meinem Laboratorium, dass zu dieser Aceton- verminderung in erster Reihe Fleisch, viel weniger Casein, Eier- eiweiss, Thymus?) geeignet waren.

So finden wir eine ähnliche Skala der Eiweisskörper in ihrem Vermögen die Verfettung zu verhindern, wie bei der Verminderung der Acetonurie.

Auch in dieser letzteren Funktion ist es nach den Rosen- thal’schen Ausführungen das Nächstliegende, die Kohlenhydrat- produktion der betreflenden Eiweissstoffe, und zwar nicht in bezug auf die prosthetischen Kohlenhydratgruppen, sondern wohl mehr in bezug auf die Bildung von Kohlenhydraten aus Monamino- säuren oder Oxyaminosäuren in Parallele zu setzen mit ihrer antiacetonurischen Leistung.

So entsteht die Vorstellung, dass die Verfettungsverhütung wenigstens in einer Hauptrichtung durch das Fleisch in ganz ähnlicher Weise zustande kommt, wie nach Fütterung mit nativen Kohlenhydraten, dass die Fleischfütterung in einer wesentlichen Beziehung eine Kohlenhydratdarreichung auf Umwegen darstellt. Die Brücke von der Verfettungshinderung durch Kohlenhydrate zu der durch Eiweiss ist zum Hauptteil gebildet durch jene Bausteine des Eiweisses, welche eine Umwandlung in Kohlenhydrate er- fahren können.

Herrn Geheimrat Prof. Dr. Filehne danke ich zum Schlusse für die Güte, mit der er mir wie stets gestattete, die Tierversuche in seinem Institute auszuführen.

1) Rosenfeld, Ueber die Entstehung des Acetons. Deutsche med. Wochenschr., 1385, Nr. 40.

2) Rosenfeld, Die Grundgesetze der Acetonurie und ihre Be- handlung. Zentralbl. f. innere Med., 1895, Nr. 51.

3) Betrefis der Thymus müsste noch untersucht werden, ob nicht mitgefütterte Thyreoidea eine Rolle spielt.

IK,

Ueber endobronchiale Therapie. Von Dr. A. Ephraim -Breslau.

Im vorigen Jahre habe ich in diesem Kreise meine An- schauungen über den Wert der Besichtigung der Bronchien vorge- tragen!); heute möchte ich mir erlauben, Ihnen meine Erfahrungen über deren örtliche Behandlung mitzuteilen. Letztere stellt ein altes Problem der ärztlichen Kunst dar, dessen Lösung man bis- her auf zweierlei Weise, durch Inhalationen und durch intra- tracheale Flüssigkeitseinspritzungen, versucht hat.

Ueber den Wert der Inhalationen besteht seit Jahrzehnten ein Widerstreit der Meinungen, der noch bis in die letzten Jahre eine umfangreiche Literatur gezeitigt hat, ohne jedoch zu einer sicheren Entscheidung zu führen. Um eine solche zu finden, habe ich mich der bronchoskopischen Methode bedient. Drei Per- sonen liess ich, nachdem sie durch Anästhesierung des Kehlkopfes und der Trachea für diese Untersuchung vorbereitet waren, an einem durch Druckluft betriebenen Inhalationsapparat, wie er in Ems und Reichenhall üblich ist, in 30 tiefen Atemzügen fein zer- stäubte wässerige Methylenblaulösung inhalieren; unmittelbar darauf besichtigte ich Kehlkopf und Bronchien. Es ergab sich, dass in allen 3 Fällen die Taschenbänder, die Stimmbänder und die Inter: arytänoidfalte stark blau gefärbt waren, dass dagegen in 2 Fällen in Trachea und grossen Bronchen gar keine, im dritten nur eine geringe ceircumscripte Blaufärbung an der medialen Wand des linken Hauptbronchus dicht unterhalb der Carina bestand. Dass der allergrösste Teil der eingeatmeten Farbstoffpartikel wieder ausgeatmet wird, geht daraus hervor, dass, wenn man die Patienten tief durch den Mund einatmen und durch die Nase ausatmen liess, ein vor die letztere gehaltenes weisses Tuch fast ebenso schnell ebenso blau wurde, wie wenn man es direkt vor den In- halationsapparat hielt.

Auch das zweite, eben genannte Verfahren der intra- trachealen Flüssigkeitseinspritzungen prüfte ich in dieser

1) Diese Wochenschr., 1909, Nr. 43 u. 44.

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 85

Weise an 3 Patienten. Während sie sich in sitzender Stellung befanden, führte ich den Tubus durch die Glottis und spritzte dann 3 ccm Methylenblaulösung in die Trachea. Diese floss in einem Tempo, dessen auffallende Langsamkeit wohl auf die Tätig- keit des Flimmerepithels zurückzuführen ist, an der vorderen Trachealwand in ganz schmaler Strasse herab, um in einem Falle gänzlich, im zweiten zum grössten Teil in den rechten, im dritten fast ausschliesslich in den linken Bronchus zu gelangen. Es liess sich ferner feststellen, dass sie auch in den Bronchien, und zwar lediglich an deren medialer Wand, in schmaler Strasse in den Unterlappenast herabfloss, dass dagegen die Mündungen der oberen Aeste gänzlich unberührt blieben.

Diese Versuche zeigen, wie ich glaube, in einwandfreier Weise, dass weder die Inhalation noch die intratracheale Injektion von Flüssigkeiten für die Behandlung der Bronchien in Frage kommen kann. Zwar kann man sie auf letztere Weise in den Bronchial- baum gelangen lassen, aber es ist doch weder möglich, die ge- samte Bronchialschleimhaut, noch auch einen bestimmten Teil derselben zu treffen, ganz abgesehen davon, dass wir annehmen müssen, dass ein sehr erheblicher Teil der sehr langsam herab- fliessenden Arzneilösung resorbiert wird, bevor sie in die tieferen Bronchialabschnitte gelangt. Viel kann hieran auch nicht ge-

ändert werden, wenn man entsprechend vielfach geübtem ärzt- lichem Vorgehen grössere Flüssigkeitsmengen injiziert und den

Kranken bald darauf auf die zu behandelnde Seite legt; denn auch so ist es nicht möglich, der Flüssigkeit eine genügend bestimmte Direktion zu geben.

Ein drittes Verfahren, nämlich das der Flüssigkeitsinjektionen durch einen in die Bronchien geführten Katheter, ist schon 1535 von Green empfohlen und von Jacob und Rosenberg 1904 wieder aufgenommen worden; so gelingt es zwar, Flüssigkeit in die Unterlappenäste zu bringen, aber eine diffuse oder eine elektive Bespülung der Bronchien ist auch auf diese Weise nicht möglich.

Empfehlenswerter ist ein viertes Verfahren, das aber auf- fallenderweise zu therapeutischen Zwecken gar nicht angewendet worden zu sein scheint, nämlich das der intratrachealen Zerstäubung. Auch dieses habe ich an 3 Personen auf broncho- skopischem Wege unter Verwendung von Methylenblaulösung ge- prüft. Es zeigte sich, dass auf diese Weise eine völlige Bespülung der Trachea und des rechten Hauptbronchus in ihrer ganzen Höhe und Öircumferenz erreicht wird, dass dagegen der linke Bronchus nur in sehr geringem Grade und alle oberen Aeste gar nicht ge- troffen werden. So mag dieses Verfahren für die örtliche Behand- lung der Trachea vortrefllich, für Erkrankungen im Gebiet des rechten Unterlappenbronchus vielleicht geeignet sein, dagegen erfüllt es ebenso wenig wie die Inhalationen und die oben er- wähnten Injektionsverfahren den Wunsch, in jedem geeigneten Fall von bronchialer Erkrankung diese örtlich behandeln zu können; ein Wunsch, der um so berechtigter erscheint, je mehr wir uns von dem Nutzen einer solchen Behandlung im Bereich der oberen

s6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Luftwege überzeugen, und je weniger wir von dem Nutzen einer internen arzneilichen Behandlung überzeugt sind.

Zu zeigen, dass dieser Wunsch insoweit erfüllbar ist, dass wir auf die Bronchialschleimbaut in mannigfacher Weise und mit Nutzen lokal medikamentös einwirken können, ist der Zweck meiner beutigen Ausführungen. Dagegen soll die chirurgische Behand- lung bronchialer Erkrankungen ebenso wenig berührt werden, wie die Frage der endobronchialen Behandlung von Erkrankungen der Lunge.

Technik.

Für die örtliche Behandlung der Bronchien kommt in erster Reihe der bronchoskopische Tubus in Betracht. Durch ihn können wir zunächst Secrete entfernen, und zwar auf verschiedene Weise. Für gewöhnlich geschieht dies durch Einführung eines dünnen starren Rohres an die zu entleerende Stelle, durch das mittels einer Saugpumpe (ich benutze die Bier’sche) das Secret in ein zwischengeschaltetes Reservoir eingesaugt wird. Handelt es sich am grössere Secretmengen, so kann man die Saugkraft grosser evakuierter Flaschen benutzen, die man durch einen Schlauch mit dem Tubus verbindet. Eine Belästigung des Kranken ist damit nicht verbunden, ebensowenig die Gefahr einer Aspiration der Bronchialschleimhaut, da der Tubus weder den Kehlkopf noch den Bronchus Juftdieht abschliesst. Ganz profuse Secretmengen kann man auch nach Tieflagerung des Kopfes, wenn die Unter- suchung im Liegen vorgenommen wird, durch den Tubus zum Ab- fliessen bringen; von diesem Verfahren habe ich jedoch bisher keinen Gebrauch gemacht. Kann man die Stelle der Secret- produktion nicht unmittelbar erreichen, so muss man den Effekt des Hustens mit der Aspiration verbinden: in dem nachher zu erwähnenden Fall von Bronchiektasie habe ich die Höhle auf diese Weise zur völligen Entleerung gebracht.

Die Applikation von Medikamenten durch den Tubus hindurch kann auf mehrfache Weise geschehen. - Eingiessungen oder Einspritzungen sind allenfalls nur bei eircumscripten Krank- heitsherden angezeigt, auf die man den Tubus präzis eingestellt hat; falls es sich um Auftragung stark wirkender Medikamente auf eine umschriebene Stelle handelt, ist der Wattepinsel, sonst aber der Spray vorzuziehen. Man benutzt dazu lange, dünne Zerstäuber, deren Spitze man unter Leitung des Auges dem Krankheitssitz möglichst nahe bringt. Zur Einführung in die Oberlappenäste und den rechten Mittelast, falls eine solche er- forderlich erscheint, habe ich Zerstäuber mit Mercier-förmiger Abbiegung herstellen lassen; für die Unterlappenäste eignen sich die geraden. Die Vorzüge des Spray bestehen darin, dass er die Auftragung der Medikamente in schonendster Weise und vor allem in respirabler Form bewirkt. Er stellt in der Tat einen Inhala- tionsapparat mit eireumscripter und intensiver Wirkungsweise vor. Bringen wir die Düse eines Zerstäubers in einen Bronchus oder in einen Bronchialast, so wird bei kräftiger Inspiration der Flüssig- keitsnebel den Weg in die kleinen Bronchien schon wegen seiner

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Kürze leicht zurücklegen; dazu kommt der positive Druck des Luftstroms, den man, ohne Schaden befürchten zu müssen, beliebig steigern kann., Wir baben so nicht nur die Möglichkeit, die kleinen, ja, wie ich glaube durch meine therapeutischen Erfahrungen dartun zu können, die kleinsten Bronchien medikamentös zu er- reichen, sondern wir sind so auch im Gegensatz zu der Inha- lation und der Injektion, die ja nur mit ganz indiflerenten Stoffen erfolgen können, in der Lage, auch ein differentes Medi- kament in voller Dosis unmittelbar auf einen bestimmten Teil des bronchialen Gebiets einwirken zu lassen.

Alle diese Maassnahmen kann man im bronchoskopischen Tubus unter Kontrolle des Auges vornehmen. Dass diese in vielen Fällen erwünscht, in manchen unerlässlich ist, braucht nicht be- sonders betont zu werden. Diesem grossen Vorzug des Tubus stehen Nachteile nur in geringem Grade gegenüber. Denn ich möchte angesichts des auf mangelhafter Information beruhenden Vorurteils, das noch gegen die Bronchoskopie besteht, bei dieser Gelegenheit nochmals ausdrücklich hervorheben, dass diese erstens ein absolut ungefährliches Verfahren darstellt. Sie ist ungefähr- licher als z. B. der Katheterismus der Tube, der ja unter Um- ständen eine Mittelohreiterung mit allen ihren Folgen hervorrufen kann. Bei der Bronchoskopie sind ähnliche Zufälle nicht nur nicbt beobachtet worden, sondern nach menschlichem Ermessen auch völlig ausgeschlossen, wenn die Untersuchung nur in sach- verständiger Weise vorgenommen wird. Die einzige Gefalırs- möglichkeit liegt in der unumgänglichen Anwendung der Lokal- anästhetica; aber auch diese lässt sich auf ein Minimum be- schränken, wenn man Cocain vermeidet und, wie ich dies seit langer Zeit tue, ausschliesslich die wenig giftigen Ersatzpräparate benutzt. Aber auch die Unbequemlichkeiten des Verfahrens lassen sich ausserordentlich verringern, so dass von meinen Patienten eigentlich nur die Anästhesierung des Kehlkopfes als unangenehm bezeichnet wird. Wenn man nämlich das Prinzip befolgt!), dass der Tubus keine Stelle berührt, die nicht vorher mittels des Spray, also in ganz inoffensiver Weise anästhesiert wurde, so geschieht die ganze Prozedur obne irgendwie erhebliche Belästigung. Ebenso- wenig stellt Secretaspiration, Einpinselung und Einstäubung von Medikamenten eine Unannehmlichkeit dar; diese Manipulationen werden anscheinend überhaupt nicht gefühlt. Dass Personen von ausnehmend grosser psychischer oder physischer Empfindlichkeit, die die Laryngoskopie als einen entsetzlichen Eingrif und die Besichtigung des Rachens durch Flachdrücken der Zunge als eine kleine Katastrophe ansehen, sich auch über die Bronchoskopie beklagen werden, ist selbstverständlich.

Um auch die geringen Unbequemlichkeiten der Bronchoskopie zu vermeiden, um ferner auch dem in ihr unbewanderten Arzt die Ausübung der endobronchialen Therapie zu erleichtern, habe

1) Vgl. meine Mitteilung: Zur Technik der oberen Bronchoskopie. Archiv f. Laryngol., Bd. 23.

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ich zur Einstäubung von Medikamenten in die Bronchien dieses Instrument konstruiert, das ich als biegsamen Bronchialspray bezeichnen möchte. Es wird mit Hilfe einer zerlegbaren metallenen Leitkanüle unter Leitung des Keblkopfspiegels durch die Glottis geführt und durch den Assistenten in die Trachea eingeschoben. Ist dies geschehen, so legt man den Spiegel weg und entfernt die Kanüle, deren längeres Verweilen im Munde den Patienten be- lästigen würde. Hat man den Spray dann bis in die ungefähre Gegend der Bifurkation geschoben, so ist es in fast allen Fällen möglich, durch geeignete Körperhaltung nach Belieben in den rechten oder linken Bronchus einzudringen. Meistens, aber nicht immer, gleitet das Instrument beim sitzenden Patienten in den rechten Bronchus; sicher geschieht das, wenn man den Kopf und die linke Schulter nach links neigen lässt. Bei entsprechender Neigung nach der rechten Seite gleitet es in den linken Bronchus, zumal wenn man es vom rechten Mundwinkel aus dirigiert und den Kopf nach rechts und hinten rotiert.

In welcher Seite sich dann nun das Instrument in Wirklich- keit befindet, kann man sehr einfach durch die Auskultation fest- stellen. Lässt man bei Atemstillstand mittelst des Doppelgebläses Luft einblasen, so hört man in der betreffenden Seite ein deut- liches Blasegeräusch, und zwar am besten in der hinteren Axillar- linie. Ganz laut ist dieses Geräusch, wenn man anstatt des Doppelgebläses Druckluft anwendet. Wie tief das Instrument ein- gedrungen ist, lässt sich an der Skala ablesen, mit der es ver- sehen ist. Hat man sich so von seiner Lage überzeugt, so füllt man den Arzneibehälter mit dem Medikament und stäubt es mittelst des Doppelgebläses oder Druckluft ein. Auf einige technische Details, die von praktischem Wert sind, möchte ich hier nicht eingehen, zumal diese in einer demnächst erscheinenden ausführlicheren Publikation angeführt sind.!)

Der Vorteil des biegsamen Bronchialspray gegenüber dem metallenen Tubus besteht darin, dass er eine legere Kopfhaltung erlaubt, keinerlei Druck ausübt, ferner darin, dass er in die Bronchien eingeführt werden kann, ohne dass diese anästhesiert zu werden brauchen. Nur in ganz vereinzelten Fällen, in denen starker Husten erfolgte, habe ich mich dazu veranlasst gesehen, etwas Novocainlösung durch das Instrament hindurch nach- zuschicken; für gewöhnlich aber tritt beim Eindringen des In- straments in die Bronchien gar kein Husten oder nur in geringem Grade auf, um bald von selbst wieder zu verschwinden. Wir benötigen also für den biegsamen Spray auch einer geringeren Menge des Anästheticums gegenüber dem bronchoskopischen Ver- fahren. Dagegen hat der erstere gegenüber dem letzteren den Mangel, dass er lediglich zur Zerstäubung von Flüssigkeit, vor allem, dass er ohne die Kontrolle des Auges anwendbar ist. Seine Anwendung ist daher auf die allerdings ziemlich

1) Das Instrument wird, ebenso wie die von mir angegebenen starren Bronchialsprays, von Hermann Haertel, Breslau, Weidenstr. 33, an- gefertigt.

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häufigen Fälle beschränkt, in denen eine genaue Lokalisation der Arzneiwirkung nicht erforderlich ist.

Auch eine direkte Einleitung von gasförmigen Sub- stanzen in die Bronchien kann vielleicht unter Umständen von Nutzen sein. Die bisher in dieser Richtung von mir angestellten Versuche haben zu einem sicheren Ergebnis nicht geführt. Ich will hier nur bemerken, dass dies am einfachsten durch einen langen Katheter mit zentraler Oeffnung geschieht, den man ebenso wie den biegsamen Spray einführt, und dass sowohl Luft als Sauerstoff unter sehr grossem Druck (bis 100 mg Hg) in die Bronchien eingeblasen werden kann, ohne dass die Patienten eine deutliche Empfindung oder Hustenreiz oder gar Schaden davon baben. Selbstverständlich ist, dass zwischen Katheter und Bronchial- wand genügend freier Raum für den Rückfluss bleiben muss.

Therapeutisches. Zunächst möchte ich Ihnen über einen Fall von Bronchiektasie

berichten, den ich endobronchial behandelt habe. Er betrifft den 23 jährigen Studenten Bruno M., der seit einer vor 6 Jahren durchgemachten Influenza an dieser Krankheit leidet. Als ich ihn am 21. Januar d. J. auf Veranlassung seines Arztes, des Herrn Prof. Rosenfeld, in Behandlung nahm, bestand ein grosser, durch starke Dämpfung und knatterndes Rasseln sowie durch deutlichen Schatten im Röntgenbilde gekennzeichneter bronchiektatischer Herd im linken Unterlappen, sehr viel Husten und fast rein eitriger Auswurf in Mengen von SO bis 100 g pro die sowie ausgesprochene Trommelschlägelfinger. Vor Beginn der Behandlung hatte ich eine bronchoskopische Untersuehung vor- genommen und hierbei gefunden, dass die Umrandungen dreier benachbarter Zweige in der Tiefe des linken Unterlappens ausser- ordentlich verdickt, intensiv gerötet und mit Eiterflocken bedeckt waren; beim Husten verengerten sich die Lumina auffallend wenig, vielleicht gar nicht. Ferner fiel auf, dass sie trotz der Verdickung ihrer Umwandung eigentlich nicht verengert, sondern durch diese nur mehr auseinandergerückt erschienen.

Mit Rücksicht auf die Erfolglosigkeit der bisherigen medi- kamentösen und Inhalationsbehandlung versuchte ich die endo- bronchiale; ich habe sie seit dem 21. Januar bisher in 21 Sitzungen vorgenommen. Die ersten drei Male stäubte ich im broncho- skopischen Tubus je 5, 6 und 10 cem einer 1Oproz. wässerigen Terpentinölemulsion in die kranke Stelle ein; schon nach diesen ersten Behandlungen trat eine deutliche Verminderung des Aus- wurfs ein. In der vierten Sitzung goss ich durch den in die Tiefe des linken Bronchus geführten Katheter eine Lösung von 1,0 Menthol, 1,0 Creosotol in 8,0 Olivenöl; darauf stieg jedoch die Menge des Sputums wieder an. Am 3. Februar nahm ich wieder eine genaue endoskopische Untersuchung vor, die den oben geschilderten Befund ziemlich unverändert ergab, und ver- band damit eine gründliche Aussaugung der Höhle. Wenn das sichtbare Secret fortgeschafft war, liess ich den Patienten stark

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husten, wodurch wieder frisches Secret aus der Tiefe emportrat, und so weiter, bis überhaupt nichts mehr davon zu Gesicht ge- bracht werden konnte. In den folgenden Sitzungen stäubte ich mit günstigem Erfolge im biegsamen Spray die von Waldenburg wegen ihrer stark secretionsbeschränkenden Wirkung gerühmte Ag. picea, und zwar in Mengen bis zu 20 ccm ein, die zwei folgenden Male 10 ccm einer 2 proz. Jodoformölemulsion bzw. 15 cem einer 1Oproz. Airolölemulsion, worauf jedoch eher eine Vermehrung der Absonderung erfolgte. Dann kehrie ich zu dem Terpentin zurück, das ich jetzt aber in 2Oproz. öliger Lösung in Mengen von 6—10 ccm einstäubte, nachdem ich inzwischen gefunden hatte, dass auch die Zerstäubung von obigen Lösungen in den Bronchial- sprays bei Verwendung von Druckluft möglich ist.

In den letzten beiden Sitzungen habe ich die Höhle mit 3 proz. Wasserstoffsuperoxyd ausgewaschen. Ich ging in der Weise vor, dass ich nach gründlicher Aussaugung 10 Tropfen H,O, einstänbte, den sich entwickelnden Schaum aussaugte, dann 2 ccm H,O, einstäubte und wiederum aussaugte. Dieser Eingriff wurde vom Patienten ohne irgendwelche Beschwerden ertragen, zumal die Schaumbildung nieht gerade hochgradig war. Danach stäubte ich eine Lösung von 1,0 Coryfin, 0,2 Eucalyptol, 1,0 Ol. tereb. in 5,0 Paraff. lig. ein.

Der Erfolg der Behaudlung besteht darin, dass die Menge des Secrets sicb von Anfang der Behandlung an sehr vermindert hat und seit 3 Monaten sehr gering ist. Betrug sie vorher die ganzen Jahre hindurch 80—100 g pro die, so hat .sie in den letzten Monaten den Betrag von 20 cem nur dreimal er- reicht. In den 39 Tagen vom 18. März bis zum 25. April betrug die Gesamtexpektoration 345, also im Durchschnitt nicht ganz 9 ccm, in den seitdem verflossenen 46 Tagen 269, also pro Tag nicht ganz 6 ccm.

Weniger Gewicht möchte ich auf die von mir beobachtete Veränderung im Befunde der physikalischen Untersuchung legen. Denn obgleich in der letzten Zeit regelmässig eine ganz erhebliche Aufhellung der Dämpfung und ein Atemgeräusch von fast normaler Beschaffenheit mit nur leicht bronchialem Beiklang festzustellen war, so möchte ich dem doch wegen des bei der Bronchiektasie oft stark wechselnden Befundes und darauf, dass ich den ambulant behandelten Patienten eben nur unregelmässig untersuchen konnte, keine besondere Bedeutung beilegen. Beweisender erscheint mir die Veränderung des bronchoskopischen Befundes, die ich bereits am 2. IV. und neuerdings wiederfand; die Schwellung und Rötung der ergriffenen Karinen hatte ganz erheblich abgenommen, auch zeigten sie sich frei von Secret.

Irgendwelche unangenehme Nachwirkungen haben die endo- bronchialen Eingriffe niemals gehabt. Waren sie auch durch die sehr grosse Empfindlichkeit der Schleimhaut, die bei allen der- artigen Prozessen besteht, aussergewöhnlich erschwert, se war doch der Patient schon unmittelbar nachher stets bei bestem Be- finden. Als Beweis hierfür möge unter anderem dienen, dass er 2 Tage nach der ersten, sehr gründlichen bronchoskopischen

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Untersuchung und Behandlung bei einer dramatischen Aufführung mitwirkte und einige Lieder öffentlich vortrug. Der Patient gibt an, das Krankheitsgefühl, das ihn früher stets bedrückt hat, völlig verloren zu haben; nur der morgendliche leichte Husten erinnere ihn daran, dass etwas mit ihm nicht in Ordnung sei.

Ueberblicken wir den Verlauf dieses Falles, so möchte ich mit Rücksicht auf seine Singularität es unterlassen, irgend weit- ausschauende Schlüsse an ihn zu knüpfen. Immerhin können wir doch als sicher feststellen, dass hier durch endobronchiales Vorgehen in kurzer Zeit eine Besserung geschaffen ist, wie sie, ausser vielleicht durch eine eingreifende Operation, bei dieser Krankheit nicht beobachtet wird. Ob und inwieweit ein weiterer Fortschritt durch die in Aussicht genommene Fortsetzung der Be- handlung noch erzielt werden kann, bleibt abzuwarten, ebenso, ob andere Medikamente bei örtlicher Applikation die hier an- gewendeten übertreffen.

Von chronischer resp. subcehronischer Bronchitis habe ich bisher 19 Fälle endobronchial behandelt. Maassgebend bierbei waren die Veränderungen, die das Bronchoskop bei dieser Krankheit erkennen lässt. Vermeidet man bei der Untersuchung die Anwendung aller anämisierenden Substanzen, also das Cocain und die Nebennierenpräparate, so findet man in vielen Fällen, dass die Lumina der Bronchialzweige nachweisen kann man das meist nur an denen der Unterlappen durch Schwellung der Schleimhaut verengt sind, ferner, dass sie sich bei der Ex- spiration noch mehr verengern und beim Husten ganz verschliessen. In der Annahme, dass hierdurch eine Retention von Secret erfolgt, die wiederum entzündungssteigernd wirken kann, wandte ich Ein- stäubungen von Suprarerinlösungen in der Konzentration von 1:10000 an, denen ich, um gleichzeitig reizmildernd zu wirken, Novocain im Verhältnis von 2:100 zusetzte. In 5 Fällen trat kein Erfolg ein; in zweien von ihnen handelte es sich um ziem- lich frische Erkrankungen, da die katarrhalischen Erscheinungen erst seit ca. 5 Wochen bestanden; im dritten bestand nebenbei chronische Siebbeineiterung und mangelhafte Herzaktion, im vierten handelte es sich um eine exquisit trockene Bronchitis bei einem jüngeren Menschen, im fünften um Komplikation mit hoch- gradigster Pharyngitis.

In den übrigen 14 Fällen war jedoch der Einfluss der ein- maligen Behandlung unverkennbar; denn in ihnen trat nach Ab- lauf von etwa 3—12 Stunden eine ausserordentlich leichte und reichliche Expektoration auf, die die Abnahme der katarrbalischen Erscheinungen einleitete. In manchen Fällen verschwanden sie überraschend schnell, so dass auch ganz dichte sibilierende Rhonchi schon nach wenigen Tagen verschwunden waren, in anderen jedoch viel allmählicher, so dass ich bei 4 Patienten die Einstäubung wiederholte. Einige Male habe ich der Binstäubung von Novocainsuprarenin eine solche von Argent. nitr. (/—!/, pCt.) und, wie ich glaube, mit guter Wirkung folgen lassen. In einigen Fällen, die ich verfolgen konnte, konnte ich nach Monaten das Andauern der Besserung noch feststellen. Auf Einzelheiten möchte

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ich bier nicht eingehen, sondern diese gelegentlich der jetzt zu besprechenden Asthmafälle anführen, bei denen wir ganz ähn- lichen Verhältnissen begegnen.

In der Tat entsprechen ja die Veränderungen, die wir, wie oben erwähnt, bei der Bronchitis an den gröberen Zweigen sehen, genau denjenigen, die wir gewöhnt sind, beim

Bronchialasthma

in den kleinen vorausszusetzen. Verengerung derselben durch Schleimhautschwellung oder durch Muskelkrampf oder beides und ein Ventilverschluss, der sich nur bei der Inspiration öffnet, das sivd ja die anatomischen Momente, durch die wir den asthma- tischen Zustand die Atemnot, die verlängerte Exspiration, die auskultatorischen Phänomene erklären. Eine Verifizierung dieser Annahme durch direkte Besichtigung ist freilich aus- geschlossen, da wir eben nur die grösseren Bronchien mit dem Auge erreichen können. Aber auch die Untersuchung der letzteren muss beim Bronchialasthma nicht obne Interesse er- scheinen, seitdem Stoerk!) eine Beteiligung der Trachea und der grossen Bronchien in Form von Kongestion beim asthma- tischen Anfall beobachtet hat, und Pieniaczek?) zu der gleichen Annahme auf Grund des bronchoskopischen Befundes in einem Fall gelangt ist, der freilich bei schärferer Kritik nicht als Bronchialasthma angesehen werden kann. Daher war es mir sehr interessant, dreimal während eines heftigen asthmatischen Anfalls die bronchoskopische Untersuchung vorzunehmen, die jedesmal wider Erwarten gut und leicht gelang. Bei der einen (42jährigen) Patientin zeigte sich eine ganz leichte Rötung der Trachea und der grossen Bronchien, wie man sie auch bei der Untersuchung unter normalen Verhältnissen öfter antrifft, jedoch keinerlei Schwellung oder sonstige Abnormität; bei der zweiten, einem 16jährigen Mädchen, war der Befund völlig normal; im dritten Fall jedoch wurde eine genaue Besichtigung durch starke Schleimsecretion verhindert; doch konnten gröbere Veränderungen ausgeschlossen werden.

Ausserhalb des Anfalls sind bei Asthmatikern schon einige Male bronchoskopische Befunde (von H. v. Schrötter®) und von Nowotny®) erhoben worden; teils wurden normale Verhältnisse, teils Rötung der Schleimhaut gefunden. Meine eigenen broncho- skopischen Untersuchungen, die ich an über 30 Asthmatikern ausserhalb eines eigentlichen Anfalls, aber während des Bestehens deutlicher asthmatischer Erscheinungen vornahm, bestätigen das; nur in der Minderzahl der Fälle zeigten sich in den grösseren Bronchien die Erscheinungen eines stärkeren Katarrhs, die viel-

1) Mitteilungen über Bronchialasthma, Stuttgart 1875, eit. nach A. Fraenkel, Realencyklopädie v. Eulenburg, 3. Aufl., S. 364.

2) Bemerkungen über das Asthma bronch. Wiener klin. Wochen- schrift, 1905, Nr. 46.

3) Klinik d. Bronchoskopie, 1906, S. 276.

4) Monatsschr. f. Ohrenheilk., 1907, Nr. 12.

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leicht auch manchmal mit Rücksicht auf eine bestehende leichte Herzinsuffizienz als Stauungssymptome anzusehen sind.

Bestätigt somit die endoskopische Untersuchung die alther- gebrachte Anschauung, dass die asthmatischen Vorgänge sich lediglich in den kleinen Bronchien abspielen, so ergibt sich aus ibr auch der Hinweis, dass deren therapeutische örtliche Beein- flussung am besten durch Binführung des Medikaments in respi- rabler Form, als welche wir die durch den Zerstäuber kennen gelernt baben, geschieht. Ich benutzte die oben angegebene Lösung von Novocainsuprarenin, der ich in einigen Fällen Terpentinölemulsion und Atropin zusetzte, ohne jedoch davon einen deutlichen Nutzen zu sehen.

Wenn ich ganz kurz über die Erscheinungen während und kurz nach der Einstäubung dieser Lösungen berichten darf, so möchte ich zunächst bemerken, dass diese vom Kranken überhaupt nicht empfunden wird. Bei der Auskultation hört man während und einige Sekunden nach derselben ein feinblasiges Rasseln; nachher ist das Atemgeräusch wieder völlig frei. Je länger die Prozedur dauert, desto leichter pflegt sich das gilt auch von jeder bronchoskopischen Untersuchung etwas Schleimrasseln einzustellen, das auch nach der Entfernung des Instruments eine gewisse Zeit, und zwar, je nachdem man den Tubus oder den biegsamen Zerstäuber angewendet hat, verschieden lange, aber wohl kaum länger als eine Viertelstunde anhält. Auffallend war mir, dass dieses Schleimrasseln nur in sehr geringem Grade und für ganz kurze Zeit eintrat, wenn ich zur Einstäubung nicht Luft, sondern Sauerstoff benützte. Dieses Rasseln verschwindet all- mählich, auch wenn der Kranke gar nicht expektoriert, um dem Gefühl einer grossen Atemerleichterung Platz zu machen. Unter- sucht man jetzt, so findet man nicht nur das erwähnte grobe Schleimrasseln, sondern auch die vorher nachweisbaren katarıha- lisehen Rhonchi, auch wenn sie in grosser Dichte bestanden hatten. entweder ganz oder bis auf einen geringen Rest geschwunden. Zugleich zeigt die spirometrische Untersuchung, dass die Atmungs- kapazität erheblich, manchmal ausserordentlich zugenommen hat. Es kann nicht zweifelhaft sein, dass diese Erscheinungen, die bei den Asthmatikern durchaus regelmässig eintreten, auf einer Er- weiterung des Lumens der kleinsten Bronchien beruhen, und dass somit auch der Beweis dafür geliefert ist, dass man auch in diese auf dem Luftwege Medikamente einbringen kann.

Indess liegt der Wert des Verfahrens nicht in dieser kupierenden Wirkung, die übrigens immer mindestens mehrere Stunden anhält, sondern in dem weiteren Verlauf, den die so behandelten Fälle mit wenigen Ausnahmen nehmen. Hierzu möchte ich zunächst bemerken dass vor kurzem, während ich schon seit langem mit meinen Versuchen beschäftigt war, von Nowotny in Krakau ein Bericht über 8 Fälle von Bronchialasthma erschienen ist, von denen bei 7 nach der Bronchoskopie, die teilweise aus anderen Gründen vorgenommen worden war, eine ganz auffallende Besse- rung resp. Beseitigung der asthmatischen Erscheinungen beobachtet

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wurde!); auch weist er daraufhin, dass Galebsky in Petersburg einen derartigen Fall publiziert und Tr&tröp gleichfalls den heil- samen Einfluss der Bronchoskopie auf das Bronchialasthma wenig- stens kurz erwähnt hat. Dass hierbei nicht die Bronchoskopie als solche, sondern lediglich die mit ihr verbundene Einbringung von Cocain und Adrenalin in die Luftwege in Betracht kommt, ist durch meine Erfahrungen bewiesen, da ich die gleichen Er- folge gesehen habe, mochte die medikamentöse Injektion durch den bronchoskopischen Tubus oder den biegsamen Spray vorge- nommen worden sein.

Meine Beobachtungen beziehen sich auf 68 Fälle von Bronchial- asthma. Die Kranken standen im Alter von S—71 Jahren und verteilten sich ziemlich gleichmässig auf beide Geschlechter. Die Mehrzahl dieser Kranken wurde mir seitens ihrer bisher behan- delnden Aerzte überwiesen, wofür ich um so dankbarer bin, als hierdurch nicht nur die Diagnose und die Erhebung der Ana- mnese, sondern auch die Feststellung des therapeutischen Erfolges erheblich erleichtert wurde, da diese Kollegen die Freundlichkeit hatten, die Kranken auch nach meiner Behandlung noch zu beobachten.

Die erste Erscheinung, die anzeigt, dass der Einfluss der endobronchialen Behandlung kein vorübergehender ist, besteht in einer starken Vermehrung und Erleichterung der Ex- pektoration. Ich habe das in fast allen Fällen es handelt sich unter etwa 130 endobronchialen Einstäubungen um höchstens 10 Ausnahmen beobachtet. Und zwar tritt diese Erscheinung 3-12 Stunden nach der Behandlung, manchmal noch später auf, um in einer Reihe von Fällen im Laufe von 2—4 Tagen all- mählich zu verschwinden, während sie in anderen für längere Zeit bestehen bleibt. Manchmal tritt sie in geringerem, meistens in ganz auffallendem, bisweilen in so hohem Grade auf, dass die Patienten sich darüber beklagen, während der ersten Nächte durch das viele Auswerfen in ihrer Nachtruhe sehr gestört worden zu sein. Dass es sich hierbei nicht, wie man vielleicht für einen Augenblick denken könnte, um eine frische, durch den endo- bronchialen Eingriff erzeugte Bronchitis handelt, geht aus dem fieberlosen Verlauf, aus der Beschaffenheit des Secrets, dem sub- jektiven Befinden ohne weiteres hervor. Nähere Angaben über etwaige Besonderheiten des Sputums, insbesondere über das Ver- halten der Krystalle, der Eosinophilie, der Spiralen ete. kann ich leider nicht machen, wie ich es überhaupt als einen grossen Mangel meiner Beobachtungen empfinde, dass sie sich eine Folge der ambulanten Behandlung der Patienten und anderer äusserer Umstände nur auf die gröberen klinischen Erscheinungen be- ziehen; nur möchte ich die dicke Konsistenz und die meist gelb- grünliche Farbe hervorheben.

Was den weiteren Verlauf der behandelten Fälle be- trifft, so ist für dessen Beurteilung in therapeutischer Beziehung

1) Przeglad lekarski, 1909, 24 u. 25; eit. nach Intern. Centralbl. f. Laryng., Okt. 1909.

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natürlich in erster Reihe die frühere Verlaufsweise der Krankheit maassgebend. In 5 von meinen Fällen nun war die Krankheit stets nur in periodischer Form und zwar in kurzen, nur 2 bis 4 Tage dauernden Attacken aufgetreten, zwischen denen meist mehrere Monate von Wohlbefinden lagen. Bei einer dieser Kranken habe ich zweimal, bei den anderen je einmal die endobronchiale Behandlung während einer Asthmaperiode vorgenommen. Obwohl diese in allen Fällen die asthmatischen Erscheinungen unmittelbar zum Verschwinden brachte und in mindestens zweien auch für später ein spärlicheres und milderes Auftreten derselben im Ge- folge hatte, so möchte ich doch mit Rücksicht darauf, dass auch ohne Behandlung die Anfälle nur kurze Dauer zu haben pflegten, und mit Rücksicht auf die im allgemeinen grosse Variabilität, die das Asthma in derartigen Fällen zeigt, hier die Frage von einem Erfolge der Behandlung offen lassen.

Anders lagen die Dinge in den anderen 63 Fällen. Hier handelte es sich durchweg um die Form, die man auch als chronisches Asthma bezeichnet hat, d.h. um Beschwerden, die dauernd bestanden, und um heftige Anfälle, die regel- mässig in ganz kurzen Pausen und zwar seit Monaten oder Jahren auftraten. Ueber einen dieser Patienten. habe ich leider nur ganz ungenaue weitere Nachrichten erhalten, bei neun anderen liegt die Behandlung erst ganz kurze Zeit zurück, so dass ich Ihnen nur über das Schicksal von 53 Kranken Bericht geben kann.

Zunächst möchte ich diejenigen anführen, bei denen nach einmaliger endobronchialer Behandlung eine langdauernde Be- freiung von Beschwerden und objektiven Erscheinungen eingetreten ist. Es sind deren 21. Mit der Wiedergabe der Krankengeschichten will ich Sie nicht langweilen, möchte aber doch diese Fälle mit einigen Worten skizzieren.

1 Paul B., 2Sjähriger Kaufmann (Dr. Kuhn). Seit vielen Jahren Atembeschwerden, seit einem halben Jahre jede Nacht mindestens ein asthmatischer Anfall von l—2stündiger Dauer, ständiges Rasseln auf der Brust. Behandelt am 16. X. 1909. Nach Bericht des Hausarztes ist Pat. seitdem von allen Beschwerden völlig frei.

2. Julius G., 39jähriger Stuckateur (Dr. Kaliski). Seit 10 Jahren Asthma, seit 11/, Jahren jede Nacht und jeden Morgen Anfälle schwerster Art, ständiges Pfeifen und Rasseln. Seit 1!/, Jahren arbeitsunfähig. Behandelt am 18. X. 1909. Nach wenigen Tagen frei von Beschwerden, nach 10 Tagen Wiederaufnahme der Arbeit, die seitdem nicht unter- brochen worden ist. Nach 5 Monaten leichtes Rezidiv, das nach einer neuerlichen endobronchialen Behandlung schnell verschwindet.

3. Frau v. L., 63 Jahre alt (Dr. Kaliski). Seit langer Zeit Morbus Basedowii, seit 6 Jahren Asthma, seit 11/, Monaten in starkem Grade; dauerndes Pfeifen, dauernde Atemnot, alle Nächte durch Anfälle gestört. Behandelt am 1. XI. 1909. Von da bis Ende Februar 1910 ganz frei von Beschwerden. Ein leichter, um diese Zeit einsetzender Bronchial- katarrh wird durch eine neuerliche endobronchiale Behandlung schnell beseitigt.

4. Frau J., 60 Jahre alt (Prof. Rosenfeld). Seit vielen Jahren dauerndes schweres Asthma. Behandelt am 9. XII. 1909. Bisher keine Beschwerden mehr aufgetreten.

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5. Erwin Kr., 3ljähriger Schriftsteller (Dr. Perls). Seit 6 Jahren Asthma, seit 2 Monaten jede Nacht mehrstündiger Anfall, auch tags regelmässig Anfälle. Behandelt am 8. I. 1910. Pat. seitdem völlig frei von Beschwerden.

6. Moritz J., 62jähriger Handlungsgehilfe (Dr. Perls). Seit 13 Jahren dauernde Atemnot, dauerndes Rasseln und sehr häufige Anfälle; seit einigen Monaten schwere allnächtliche Anfälle. Behandelt am 23. I. 1910. Seitdem kein Anfall, kein Rasseln, keine Atembeschwerden.

7. Bruno C., 113/, Jahre alt. Seit 2 Jahren dauernde Atemnot, öftere schwere Anfälle. Behandelt am 2. II. 1910. Seitdem frei von allen Beschwerden.

8. Frau Br., 41 Jahre alt (Dr. Mysliewiec). Seit 10 Jahren Asthma, seit 3 Jahren jede Nacht starker Anfall. Behandelt am 23. XI. 1909. Seitdem keine Beschwerden bis Anfang April 1910. Nach neuer- licher endobronchialer Behandlung verschwindet das leichte Rezidiv so- gleich.

9. Julius S., 63jähriger Schneidermeister. Seit einem halben Jahre dauernde Atemnot und Rasseln, häufige Anfälle. Behandelt am 28. V. 1909. Bis 28. II. 1910 ohne Beschwerden, seitdem keine Nachricht.

10. Georg L., 10 Jahre alt. Seit dem 1. Lebensjahr Rasseln, öftere Anfälle, in den letzten Jahren wöchentlich 2—3tägiger Anfall. Be- handelt 5. XII. 1909. Seitdem keinerlei Erscheinungen mehr.

11. Bertha J., 54 Jahre alt. Seit 9 Jahren asthmaleidend, seitdem keine Nacht ohne Störung; seit über einem Jahre allnächtlich mehrere Anfälle. Behandelt am 19. X. 1909. Von da bis Mai 1910 keine An- fälle, wenn auch die katarrhalischen Erscheinungen noch längere Zeit bestehen bleiben.

12. Gertrud Kl., 19 Jahre alt (Dr. Kaliski). Seit 10 Jahren regel- mässig Rasseln im Schlaf und allnächtlicher asthmatischer Anfall. Be- handelt am 9. X. 1909. Seitdem frei von Atembeschwerden bis zum 1. IV. 1910; das an diesem Tage auftretende Rezidiv schwindet nach einer weiteren endobronchialen Behandlung sogleich.

13. Theresia A., 66 Jahre alt. Seit mehreren Jahren allnächtliche Anfälle. Behandelt am 9. I. 1910. Bis zum Exitus (Mitte April an Peritonitis) keine Anfälle mehr.

14. Anton H., 80jähriger Kürschner (Dr. Creutzberger). Seit einem Jahre Asthma, seit 6 Wochen keine Nacht ohne Anfall. Be- handelt am 8. II. 1910. Bisher (4 Monate) beschwerdefrei.

15. Frau J., 50 Jahre alt. Seit 5 Jahren Asthma, seit 2 Monaten dauernde Atemnot und Rasseln, allnächtliche Anfälle. Seit der Be- handlung (11. II. 1910) bisher (4 Monate) ohne irgendwelche Be- schwerden.

16. Frau R., 59 Jahre alt. Seit 5 Jahren Asthma, seit 2 Monaten dauernde Atemnot und Rasseln, allnächtliche Anfälle. Seit der Behand- lung (4 Monate) keinerlei Beschwerden.

17. Josef R., 5öjähriger Tischler. Seit 10 Jahren dauernde Atem- beschwerden und häufige Anfälle in nicht sehr heftigem Grade. Be- handelt am 21. III. 1910. Seitdem (2 Monate) keine Beschwerden.

18. Gottlieb K., 53jähriger Schneidermeister (Dr. Mysliewiee). Seit 6—7 Jahren jede Nacht mindestens ein asthmatischer Anfall. Seit der Behandlung (10 Wochen) keine Anfälle mehr.

19. Rudolf H., 64jähriger Schuhmacher. Seit 40 Jahren Asthma, seit mehr als 10 Jahren allnächtliche Anfälle, in den letzten Monaten jede Nacht mehrere. Seit der Behandlung (8 Wochen) kein Anfall.

20. Frl. D., 49jährige Lehrerin. Seit 2 Jahren asthmatische An- fälle. Seit der Behandlung (8 Wochen) keine Anfälle mehr.

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21. Sch., 42jähriger Kaufmann. Seit 12 Jahren Asthma, in den letzten Jahren andauernde Atemnot und Rasseln. Behandelt am 15. IV. 1910. Seitdem (S Wochen) keine Beschwerden.

Ausser in diesen 21 Fällen sind die asthmatischen Er- scheinungen in 14 anderen geschwunden, allerdings erst nach wiederholter Anwendung der endobronchialen Einstäubung, und zwar erfolgte diese in S Fällen zweimal, in 5 Fällen dreimal, in 1 Fall viermal. Alle diese Kranken, bei denen gleichfalls dauernde schwere asthmatische Erscheinungen bestanden, sind von ihnen befreit und seit 4—11 Monaten ohne Rezidiv.

In diesen 35 Fällen hat sich die Besserung in der Weise vollzogen, dass bei nur ganz wenigen etwa 4 oder 5 die obenerwähnte, unmittelbar eintretende Atemerleichterung bestehen blieb. In den anderen Fällen erfolgte die Besserung all- mählicher; die erste Nacht nach der Behandlung war meistens unverändert schlecht, und erst nach Eintritt der vermehrten Ex- pektoration verloren sich die Beschwerden und die Anfälle im Laufe der nächsten Tage. Einige Patienten klagten sogar dar- über, dass ihr Zustand durch vermehrten Auswurf und Husten verschlimmert worden sei, bis nach einigen Tagen die Besserung eintrat. In den letzterwähnten 14 Fällen hielt sie in voller Stärke nur 5 Tage bis 6 Wochen an; die dann wieder auftretenden asthmatischen Beschwerden hatten durchweg eine geringere In- tensität und schwanden nach Wiederholung der Behandlung auf längere Zeit.

Bemerken möchte ich ferner, dass die Erscheinungen der fast immer vorhandenen Bronchitis in manchen Fällen gleichzeitig mit den Atembeschwerden verschwanden, öfter diese jedoch längere Zeit überdauerten. Aber auch hier führte eine weitere Wieder- holung der endobronchialen Behandlung fast immer allmählich zum Ziel. Auch blieb, wo hochgradiges Emphysem vorlag, eine gewisse, bei Anstrengungen bemerkliche Kurzatmigkeit zurück, von der die Kranken aber auffallend wenig belästigt wurden. Eine dauernde Verminderung des Lungenvolumens konnte ich durch Perkussion zweifelsfrei niemals, dagegen eine dauernde Zu- nahme der Atmungskapazität durch den Spirometer mit ganz wenigen Ausnahmen regelmässig feststellen.

Den bisher erwähnten 35 günstigen Fällen stehen 15 weniger günstige gegenüber. Zunächst 9, in denen überhaupt nur eine einzige endobronchiale Behandlung stattgefunden hat. In drei von diesen Fällen kehrten die Beschwerden nach einer Pause von 3—5 Wochen in früherer Art und Stärke wieder zurück, und in 6 Fällen geschah dies schon nach so kurzer Zeit, nämlich schon nach 1—4 Tagen, dass hier von einem völligen Misserfolg gesprochen werden muss. Dass bei diesen Patienten eine Wieder- holung des Verfahrens zu einem günstigen Ergebnis geführt haben würde, ist auf Grund des vorher Angeführten wohl möglich, aber, wie sich aus dem Folgenden ergibt, nicht mit Sicherheit anzu- geben.

Denn auch in 9 Fällen, in denen wiederholt endobronchial behandelt wurde, konnte eine völlige Heilung nicht erzielt werden.

Schlesische Gesellsch, f. vaterl. Kultur. 1910. I.

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Bei einem dieser Patienten trat sogar auch nach zweimaliger Be- handlung gar kein Erfolg ein, und bei zwei anderen kehrte nach 12, —2!/, monatiger Pause der frühere Zustand wieder zurück, um trotz wiederholter Vornahme der Behandlung zu persistieren. Bei den restierenden 7 Fällen erfolgte gleichfalls keine völlige Befreiung für längere Zeit, aber doch eine so wesentliche und bisher anhaltende Besserung, dass das Allgemeinbefinden einen günstigen Umschwung erfuhr und die Arbeitsfähigkeit wieder- hergestellt wurde. Und zwar machte sich die Besserung hier in zweifacher Weise geltend, einmal so, dass die Krankheit anstatt des chronischen Charakters einen periodischen annahm, dass also die Patienten. die seit Monaten oder noch länger keine Nacht oder fast keine Nacht ohne Anfall verbracht hatten, nun einige Wochen hindurch ungestört schliefen, und ferner dadurch, dass die dauernde Atemnot und die Heftigkeit der Anfälle sich erheblich verringerte.

Die Zusammenfassung der therapeutischen Resul- tate ergibt: Von 53 Fällen von chronischem Asthma ist durch die endobronchiale Behandlung in 35 ein langdauernder völliger Erfolg, in 6 eine erhcbliche dauernde Besserung, in 5 eine Be- seitigung der Beschwerden für mehrere Wochen, in 7 kein Erfolg erzielt worden. Man kann dieses Resultat wohl um so eher be- friedigend nennen, als in 9 der weniger günstigen bzw. un- günstigen Fälle nur eine einmalige Behandlung stattgefunden hat.

Ich müsste Ihre Geduld allzusehr in Anspruch nehmen, wollte ich auf alle Details, so die Komplikation mit Spitzentuberkulose, mit Veränderungen des Herzens, mit Nasenaffektionen, auf den Ablauf der bronchitischen Erscheinungen, auf die versuchten verschiedenen Modifikationen der Einstäubungsflüssigkeit selbst eingehen; diese Punkte finden demnächst eingehendere Besprechung. Hier möchte ich nur kurz darauf hinweisen, dass die Behandlung nicht nur niemals den geringsten Schaden, sondern zugleich mit dem Schwinden der Anfälle und der dauernden Atemnot eine bedeutende, oft überraschende Hebung des Allgemeinbefindens im Gefolge gehabt hat.

Nur über die eine Frage, wie wir uns das Zustandekommen der beobachteten Wirkungen zu erklären haben, möchte ich mir einige Bemerkungen erlauben. Zunächst müssen wir fragen, ob es sich überhaupt um Wirkungen handelt, oder ob nicht vielmehr spontane Besserungen zufällig mit den endobronchialen Eingriffen zusammengetroffen sind. Kennen wir doch die grosse Variabilität der asthmatischen Erscheinungen, und wissen wir doch, dass sie auch nach längerem Bestehen manchmal ohne bekannte Ursache unerwartet verschwinden können. Dieser Umstand war für mich die Veranlassung, mit der Bewertung der endobronchialen Be- handlung so lange zurückzuhalten, bis dieZahl meiner Beobachtungen gross genug war, um zu einer sicheren Beurteilung dieser Frage zu führen. Und ich glaube, dass ein Blick auf das Verhältnis der günstig verlaufenen Fälle zu den ungünstigen genügt, um Zufälligkeiten ausschliessen zu können. Dazu kommt, dass die den Kranken regelmässig vorgelegte Frage, ob früher ähnliche

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 99

Besserungen unvermittelt aufgetreten seien, regelmässig verneint wurde, dass ausser der endobronchialen keine weitere Behandlung und ebenso wenig eine Aenderung in der Lebensweise erfolgte sämtliche Kranken wurden ambulant behandelt —, sowie ferner der meines Erachtens besonders wichtige Umstand, dass alle Er- folge im Laufe des Winters, und zwar eines besonders feuchten Winters, gemacht wurden, dessen ungünstiger Einfluss auf das Befinden der Asthmatiker ja bekannt ist.

Müssen wir somit die ursächliche Bedeutung der endo- bronchialen Behandlung anerkennen, so erhebt sich die weitere Frage, welcher der wirksame therapeutische Faktor ist. Nun ist es ja mit der Therapie des Asthmas eine besondere Sache. Gilt die Krankheit im allgemeinen für unheilbar, so werden doch in manchen Fällen therapeutische Erfolge auf die verschiedenste Weise erzielt. Und wenn Goldschmidt!) jüngst in einer Diskussion über den Nutzen der endonasälen Behandlung des Asthmas sagte, dass beim Asthma alles bilft, folglich auch die Behandlung der Nase, so hat er, wie ich glaube, der An- schauung vieler Aerzte einen ganz treffenden Ausdruck gegeben. Indes ist dieser Standpunkt nur in einem ganz beschränkten Sinne richtig und für die therapeutische Praxis unbrauchbar. Denn mit der Feststellung, dass unter vielen Fällen von Asthma das eine Mal dies, das andere Mal jenes, meistens aber nichts geholfen hat, können wir in der Praxis nichts anfangen. Viel- mehr brauchen wir die systematische Prüfung der Heilmittel bzw. der Heilverfahren und statt der Anekdoten, aus denen sich so manche Berichte über Asthmatherapie zusammensetzen, eine lücken- lose Statistik der gewonnenen Ergebnisse. Eine derartige Statistik habe ich Ihnen bezüglich des endobronchialen Verfahrens gegeben; ist sie auch bisher nicht sehr gross, so lässt sie doch den Wert des Verfahrens ausreichend erkennen.

Sie dient auch zur Beantwortung der Frage, ob es sich bei den beobachteten Erfolgen um suggestive Wirkungen gebandelt haben mag. Der Gedanke hieran liegt nicht nur deswegen nahe, weil man ja leicht, vielleicht allzu leicht geneigt ist, alle thera- peutischen Einwirkungen unbekannter Natur ohne weiteres als suggestive anzusehen, sondern auch, weil einige Aerzte sich be- mühen allerdings meines Wissens ohne sonderlichen Erfolg das Bronchialasthma durch Suggestion zu heilen. Deshalb habe ich gerade diese Frage in ganz besonderem Maasse ernstlich geprüft; und wenn ich dazu komme, sie mit Bestimmtheit zu verneinen, so habe ich dazu folgende Gründe: Zunächst habe ich es regel- mässig und prinzipiell vermieden, die Kranken auf den Zeitpunkt und die Modalitäten der zu erwartenden Besserung irgendwie vor- zubereiten, sondern mich damit begnügt, eine solche im allge- meinen in Aussicht zu stellen. Trotzdem die grosse Ueberein- stimmung in der Verlaufsweise. Dazu kommt die Zahl der Erfolge, die ja in diesem Verhältnis bei keiner Affektion auf suggestivem Wege zu erreichen ist; die Tatsache, dass alle diese Patienten

1) Zentralbl. f. Laryngol., 1910, S. 110.

100 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

schon in vielfacher ärztlicher Behandlung gewesen waren, die weder sonst noch suggestiv gewirkt hat, obwohl von einem Teil der angewandten Mittel eine ebenso grosse und von den früheren Aerzten sicherlich eine grössere suggestive Wirkung zu erwarten war, als das bei mir der Fall ist. Vor allem kommt hinzu, dass der therapeutische Erfolg sich ja nicht allein auf die Beschwerden der Kranken, sondern auch auf die objektiv nachweisbaren organischen Anomalien bezogen hat, dass er fast niemals momentan, sondern fast immer unter allmählichem Abklingen der letzteren eingetreten ist. Auch ist hierbei vielleicht die Tatsache heran- zuziehen, dass in drei Fällen von reinem, hochgradigem Lungen- emphysem, in denen kein Katarrh und keine asthmatischen Anfälle bestanden, sowie in einem Fall von hysterischem Asthma die in gleicher Weise vorgenommene endobronchiale Behandlung vollkommen versagt hat.

In der mechanischen Reizung der Bronchialwände könnte man in zweifacher Beziehung den wirksamen Faktor ver- muten. Nowotny hat die Meinung ausgesprochen, dass die sehr starke Expektoration, die er bei seinen Patienten während der bronchoskopischen Untersuchung beobachtete, die Ursache des Erfolges gewesen sei, wie er überhaupt die Bronchoskopie als das stärkste Expektorans ansieht. Dies ist in diesem Sinne zweifellos nicht richtig, denn in der weitüberwiegenden Mehrzahl meiner Fälle, nämlich in denjenigen, in denen ich die präliminare Anästhesie anwendete, fand während der Untersuchung bzw. Be- handlung überhaupt keine Expektoration statt, zumal ich die Patienten regelmässig anweise, während der folgenden 10 Minuten den Hustenreiz, der übrigens fast niemals sehr erheblich ist, zu unterdrücken. Und gerade in einem Falle, in dem eine ganz exzessive Entleerung von Schleim bei der Untersuchung stattfand, ist der Erfolg ganz ausgeblieben.

Dagegen kann man vielleicht mit grösserem Recht der mechanischen Reizung der Bronchialwände, die in den grösseren Bronchien durch den Druck des Instruments, in den kleineren durch den Luft- und Flüssigkeitsstrom erfolgt, eine maassgebende Wirkung zuschreiben, indem man deren hemmenden Einfluss auf die Erregbarkeit der Nervenendigungen annimmt. Eine solche Ansicht erscheint sehr diskutabel; auch lijesse sich ihre Richtigkeit dadurch prüfen, dass man in einer Serie von Kontrollfällen eine indifferente Flüssigkeit zur Einstäubung benutzt. Da ich jedoch zunächst darauf Wert legte, das mir erfolgreich erscheinende Ver- fahren in einer möglichst grossen Zahl von Fällen zu erproben, habe ich einen derartigen Versuch bisher nicht ausgeführt.

Bis auf weiteres möchte ich eine rein medikamentöse Wirkung der angewendeten Novocain-Suprareninlösung annehmen. Von der anfänglichen Vorstellung, dass die Abschwellung der Schleimhaut, wie sie das Suprarenin bewirkt, eine unmittelbare Entleerung von retiniertem Secret und dadurch die Besserung herbeifübrt, bin ich deswegen zurückgekommen, weil in einigen, wenn auch ganz wenigen Fällen, eine Vermehrung des Auswurfs ohne Schmälerung des Erfolges ausgeblieben und in den anderen

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 101

Fällen erst nach Ablauf einer geraumen Zeit aufgetreten ist. Viel- mehr möchte ich glauben, dass es sich hier um eine congestive Reaktion handelt, wie man sie bei Personen mit labiler Gefäss- inneryation nach der Applikation von Nebennierenpräparaten sehr oft in stürmischer Weise findet. Vielleicht ist so die Wirksam- keit des Verfahrens bei der Bronchitis zu erklären, obgleich auch bei rein entzündlichen Erkrankungen die therapeutische Wirksam- keit der Anästhesierung sicherlich in Betracht kommt.

Beim Asthma möchte ich jedenfalls den Hauptanteil der anästhesierenden Komponente, dem Novocain, zuschreiben. Denn in 4 Fällen habe ich durch Novocain allein die asthmati- schen Erscheinungen beseitigen können; da mir aber der Erfolg der kombinierten Lösung intensiver erschien, bin ich zu dieser zurückgekehrt, zumal der Zusatz von Suprarenin die anästhesie- rende Wirkung des Novocain nicht nur verstärkt, sondern durch die fast momentane Abschwellung der Bronchialschleimhaut, die er bewirkt, ein tieferes Eindringen des Zerstäubungsnebels er- möglicht.

Demnach stelle ich mir die Wirkung der lokalen Applikation von Novocain-Suprarenin auf die Schleimhaut der kleineren Bronchien in folgender Weise vor. Wir nehmen an, dass das bronchiale Asthma auf einem Zirkel beruht, der sich so abspielt, dass katarrhalisch-vasomotorische Schwellung der Schleimhaut in den kleinen Bronchien einen Reiz auf die Endigungen des Vagus ausübt und dieser reflektorisch wieder neue vasomotorische Schwellungen und Muskelkrampf hervorruft. Beheben wir nun die Schleimhautschwellung durch lokale Anämisierung, die Rei- zung der Nerven durch lokale Anästhesierung, so mag es wohl gelingen, diesen Circulus vitiosus auch für die Dauer zu unter- brechen, weil die aufgehobenen Wirkungen zugleich ihre wechsel- seitigen Ursachen gebildet haben. Ist dies eine gewisse Zeit der Fall gewesen und der Kranke durch den wiedergewonnenen Schlaf und die Freiheit von sonstigen Beschwerden im allgemeinen ge- kräftigt und widerstandsfähig geworden, so schwindet damit die allgemeine Erregbarkeit der Nerven und damit auch die örtliche der Schleimhautnerven, die ja beim Asthma eine so grosse Rolle spielt. So wenigstens kann ich die Beobachtung erklären, die ich ebenso wie Nowotny gemacht habe, dass nämlich bei den behandelten Patienten die Rezidive, die meist im An- schluss an eine Erkältung auftraten, sich durch geringe Intensität und schnellen Ablauf auszeichneten. Der in so vielen Fällen eingetretenen Wirkung der einmaligen Anästhesierung auf lange Zeit kann man vielleicht als Analogon die Beobachtungen an die Seite stellen, nach denen bei hartnäckigen Neuralgien durch blosse einmalige Anästhesierung ein dauernder Erfolg erzielt worden ist; so hat Minkowski!) Fälle von langbestehender Ischias ge- sehen, die durch eineeinzige Lumbalanästhesie dauernd geheilt wurden.

Dass derartige Erklärungsversuche ganz hypothetischer Natur sind, ist selbstverständlich. Dagegen glaube ich auf dem festen

1) Verhandl. d. Kongr. f. innere Med., 1907.

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Boden der Tatsachen zu stehen, wenn ich unter Zusammenfassung meiner Beobachtungen die Meinung ausspreche, dass die endo- bronchiale Behandlung bei der chronischen Bronchitis, vor allem aber beim Bronchialasthma Erfolge gibt, die sich durch Häufig- keit, Unmittelbarkeit, Intensität und Dauer auszeichnen; Erfolge, die durch weitere Ausgestaltung der Methode und Kombination mit anderen Heilverfahren vermutlich noch gesteigert werden können.

Gleichzeitig möchte ich nochmals darauf hinweisen, dass die endobronchialen Methoden auch nach anderer Richtung die vollste Beachtung verdienen. Als ich vor einigen Monaten in dieser Ge- sellschaft im Anschluss an einen Vortrag über Lungenchirurgie die Meinung äusserte, dass für die Lokalisation von Lungenherden und vor allem für die Verhütung des operativen Pneumothorax das endobronchiale Verfahren von Nutzen sein könne, wurden diese Bemerkungen vom Vortragenden kurzerhand als phan- tastisch beiseite geschoben. Wenige Wochen später veröffent- lichten Meltzer und Carrel!) ibre schönen Versuche, die zeigten, dass man durch endobronchiale Luftzufuhr nicht nur curarisierte Tiere unbegrenzt lange am Leben erhalten, nicht nur die Narkose absolut gefahrlos gestalten und vergiftete Tiere ins Leben zurückrufen, sondern auch den Oollaps der Lunge während langdauernder endothorakaler Operationen verhindern kann. Dies wurde nicht nur in einer grossen Reihe von Tieroperationen, sondern auch am Menschen erprobt, und zwar unter Verwendung eines Apparats, der durch seine primitive Einfachheit, wie auch dadurch den bisherigen Verfahren überlegen ist, dass er die aller- feinste Regulierung des Lungenvolumensinjedem Augenblick gestattet.

Nach alledem glaube ich mit dem Ausdruck meiner Ueber- zeugung schliessen zu dürfen, dass die Einbeziehung der endo- bronchialen Methoden nicht nur in den Bereich unserer Diagnostik, sondern auch in den unserer Therapie einen Schritt auf einem Wege bedeutet, von dem wir annehmen dürfen, dass er uns vor- wärts bringt. Wohin und wie weit er führen wird, kann freilich erst die Zukunft entscheiden.

1) Diese Wochenschr., 1910, Nr. 15, auch Nr. 21.

XI.

Ueber die Wirkungsweise des Quarzlichtes auf die trachomatöse Bindehaut des Auges.

Von

Dr. Hegner, Assistenzarzt der Königl. Augenklinik und Dr. Baumm, Assistenzarzt der Königl. dermatologischen Klinik.

M. H.! Der Gedanke, das Trachom auf radiotherapeutischem Wege zu beeinflussen, ist nicht neu. Als die Anwendung des Radiums in steigendem Maasse Verbreitung fand, wurde seine therapeutische Wirkungsweise in mannigfachen Versuchen auch auf der trachomatösen Bindehaut erprobt. In den letzten Jabren erschienen zahlreiche Berichte über die erzielten mehr oder weniger günstigen Heilresultate: ich erinnere nur an die Arbeiten von Cohn, Selenkowski, Falta, Birch-Hirschfeld, Jakoby, Thielemann und anderen, besonders russischen Autoren. Die Follikel konnten von einzelnen Autoren glatt und sogar dauernd zum Verschwinden gebracht werden, doch fehlt es auch nicht an manchen negativen Berichten, so dass die Radiumtherapie nur in beschränktem Maasse Anwendung fand und nur mehr theoretisches Interesse zu behalten scheint.

Kurz nachdem das Quarzlicht von den Dermatologen in die Therapie eingeführt worden und sich in seiner Wirkung so günstig erwies, versuchte ich in Gemeinschaft mit Dr. Baumm von der Königl. Hautklinik der Frage näher zu treten, in welcher Weise das (uarzlicht ein frisches Trachom zu beeinflussen imstande ist. Die Quarzlampe hat bei ihrer Anwendung auf die Lidbindehaut den grossen Vorzug, dass die Gefahr unangenehmer Nebenwir- kungen im Sinne einer Netzhautläsion oder einer zu ausgedehnten Bestrahlung so gut wie ausgeschlossen ist. Mit dem Quarzstab kann man ein umschriebenes Gebiet von ca. 5mm Durchmesser bestrablen; die Lichtstrahlen gehen im Quarzstab streng parallel und verbreiten sich nicht diffus nach allen Seiten, so dass nur die Stelle der radioaktiven Wirkung unterworfen wird, welche mit dem (Quarzstab in Berührung gebracht wird. Aus diesem Grunde sind Schutzvorrichtungen, wie sie z.B. Lundsgaard bei der Anwendung des Finsenlichtes auf die Conjunctiva als notwendig bezeichnete, gänzlich zu entbehren.

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Wir gingen nun so vor, dass an die zu bestrahlende Stelle der Bindehaut der Quarzstab direkt angelegt wurde; auch die Uebergangsfalte liess sich am ektropionierten Lide, ohne dem Pat. Schmerzen zu verursachen, sehr leicht mit dem Quarzstab in Berührung bringen. Die Einträufelung von anästhetischen Mitteln war in den meisten Fällen nicht notwendig.!) Bei der Bestrah- lung der Bindehaut können wie bei der Bestrahlung von Haut- leiden zwei verschiedene Verfahren in Anwendung kommen. Das erste ist das sog. Plätteverfahren, welches darin besteht, dass die zu behandelnde Partie während einer gewissen Zeit mit dem Quarzstab hin und her bestrichen wird. Die andere Methode ge- schieht durch konstante Bestrahlung ein und derselben Stelle. Es haben sich beide Methoden als wirksam erwiesen, doch schien uns die letztere in ihrer Wirkungsweise etwas günstiger zu sein.

Die Dosierung ist keine konstante, da die Dauer der Bestrah- lung abhängig gemacht werden muss von der Beschaffenheit der Bindehaut und besonders von der jeweiligen Stärke der Lampe. Im allgemeinen erzielten wir mit einer Bestrahlungsdauer von 5 bis 10 Minuten den besten Effekt. Es eignen sich übrigens nicht alle Formen in gleicher Weise, da z. B. die papillären Wuche- rungen viel resistenter sind als die follikulären und einen gründ- lichen Erfolg in Frage stellen können.

Die Wirkung des Quarzlichtes auf die Bindehaut äussert sich in charakteristischer Weise. Bei geringer Bestrahlung zeigt sich schon nach einigen Stunden eine mehr oder weniger intensive Hyperämie. Bei längerer Einwirkung des Quarzlichtes (4 bis

1) Zur Fixierung des ektropionierten Oberlides kann man sich des Augenschlüssels von Grönholm bedienen (ef. Figur); wir fanden ihn jedoch zumeist entbehrlich.

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 105

10 Minuten) bildet sich nach ungefähr einem Tage an der be- strahlten Stelle eine graue, homogene Pseudomembran von wech- selnder Dieke und Konsistenz, die dem Bilde das Aussehen einer Conjunetivitis eruposa gibt. Wird die Dosis noch mehr verstärkt, stellt sich neben dieser pseudomembranösen Auflagerung gelegent- lich ein ausgesprochenes Oedem und entzündliche Schwellung des betreffenden Lides ein. Die Schwellung kann sich unter Um- ständen auch auf die Umgebung ausdehnen, geht aber stets auf hydrotherapeutische Umschläge wieder zurück. Nach unseren Er- fahrungen ist jene Dosierung die wirksamste, welche von einer starken Pseudomembran an der bestrahlten Stelle gefolgt ist. In der Regel stösst sich die Pseudomembran schon nach einigen Tagen ab, und man findet dann darunter glatte und von Follikeln freie Bindehaut. Narbenbildungen haben wir nie beobachtet. In den meisten Fällen genügt eine energische 1—3malige Bestrah- lung, um an einer Stelle die Follikel zum Verschwinden zu bringen.

Die Wirkung der Quarzstrahlen auf die trachomatöse Binde- haut glaube ich am besten an der Hand von zwei Fällen demon- strieren zu können. Bei dem ersten handelt es sich um ein 15 jähriges Mädchen L. R., die anfangs 1909 in Behandlung ge- nommen wurde. Die Kopjunktiven zeigten das Bild des folli- culären Trachoms; wie aus den damaligen Notizen ersichtlich, war Unter- und Öberlidbindehaut von Follikeln dicht besät, zu- mal die Uebergangsfalte. Man konnte hier sehr schön beobachten, wie unter der Anwendung des Quarzlichtes das klinische Bild sich änderte. Heute, nach vielleicht 1!/; Jahren der Entlassung, hat die Bindehaut glattes, normales Aussehen, und nur die Ueber- gangsfalte zeigt noch einzelne Verdiekungen. Pat. blieb auch während der ganzen Zeit beschwerdefrei.

Ein Pendant zu diesem ersten Fall bildet der zweite. Pat. F., der vor einigen Tagen in die Königliche Augenklinik aufgenommen wurde wegen frischer trachomatöser Erkrankung des rechten Auges. Die Konjunktiva der Lider zeigte die typischen Verände- rungen: die Unterlidbindehaut war verdickt und gerötet; in der temporalen Hälfte und auf der Uebergangsfalte fanden sich eine Anzahl breiter, wenig prominenter Follikel. Die Oberlidbindehaut bot ein ganz ausgesprochenes Bild: die ganze Fläche der Kon- junktiva war von grossen, speckigen und stark prominenten Fol- likeln übersät. Die Uebergangsfalte war von sulzigem Aussehen, die Follikel befanden sich in Reihen dicht nebeneinander, gegen den temporalen und nasalen Winkel zu bildeten sie ganze Kon- glomerate. Pat. wurde bis jetzt dreimal, und zwar jede Stelle der Öberlidbindehaut während 5 Minuten, bestrahlt. Als Resultat dieser Bestrahlungen zeigt sich eine grauweisse, homogene Mem- bran, welche die Konjunktiva überzieht, so dass man auf den ersten Anblick die Meinung haben kann, es handle sich um eine Conjunetivitis eruposa. In der Tat sieht das Bild dieser Er- krankung täuschend ähnlich. Stösst sich die Membran ab, sind die Follikel darunter ganz oder zum grossen Teil verschwunden, und es steht zu erwarten, dass nach einigen Bestrahlungen das Aussehen der Bindehaut sich dem normalen Zustande nähert.

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Es erhebt sich nun die Frage, ob diese Behandlungsweise gegenüber der sonst für gewöhnlich angewandten Ausrollung und dem ausgiebigen Touchieren mit Arg. nitr. oder Cupr. sulfur. wesentliche Vorteile bietet. Ein abschliessendes Urteil lässt sich noch nicht fällen, weil unsere Versuche nach verschiedenen Rich- tungen hin noch wesentlicher Ergänzungen bedürfen. Immerhin kann soviel gesagt werden, dass in gewissen Fällen von frischem Trachom die Quarzbestrahlung imstande ist, die Follikel zum Verschwinden zu bringen. Es mag somit nicht ohne Interesse sein, die Wirkungsweise der Quarzstrahlen nach dieser Seite hin kennen zu lernen.

XII.

Ueber pseudopulmonale Geräusche und ihre Vermeidung bei der Auscultation der Lungen- spitzen.

Von

Prof. Dr. Eduard Allard.

Die Bestrebungen zur Vervollkommnung der physikalischen Diagnostik bei beginnender Spitzentuberkulose sind bis in die jüngste Zeit hauptsächlich auf eine verfeinerte Perkussions- methode gerichtet gewesen (Krönig, Goldscheider u. a.). Speziell die leise Perkussion der Krönig’schen Schallfelder hat uns gezeigt, dass wir sehr viel geringere Gewebsveränderungen im Bereich der Lungenspitzen perkutorisch nachzuweisen imstande sind, als man früher annahm. Immerhin ist gegenüber der Gefahr der Ueberschätzung eines positiven Perkussionsbefundes zu betonen, dass uns die richtige Bewertung desselben doch erst durch die Auseultation ermöglicht wird. Die wichtige Frage nach der Aktivität oder Inaktivität einer perkutorisch gefundenen Spitzen- erkrankung ist, wenigstens physikalisch-diagnostisch, nur durch das positive oder negative Resultat der Auscultation, im wesent- lichen also durch das Vorhandensein oder Fehlen von Rassel- geräuschen zu beantworten, denn die bekannten Veränderungen der Atemgeräusche können zur Entscheidung dieser Frage in zweifelhaften Fällen ebenfalls kaum jemals herangezogen werden.

Aber gerade in diesen Initialfällen mit dem geringen aus- eultatorischen Befund, von dem doch so viel abhängt, werden wir bekanntlich in der Sicherheit unserer Gehörseindrücke oft gestört durch Nebengeräusche, Auch dem Geübtesten begegnen immer wieder Fälle, bei denen ihm Zweifel darüber aufkommen, ob er Rasselgeräusche oder akzidentelle Nebengeräuche hört. Rosen- bach!) hat sich wohl zuerst eingehender mit diesen pseudo- pulmonalen Geräuschen beschäftigt und auf ihre Bedeutung bei der Diagnose der beginnenden Spitzentuberkulose hingewiesen. Er betrachtete sie sämtlich als Muskelgeräusche, die ent- stehen durch die respiratorische Contraction der Muskeln, auf 1) Ueber pseudopulmonale und pseudopleurale Geräusche. Breslauer ärztl. Zeitschr., 1881 und Wiener klin. Rundschau, 1899.

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denen das Stethoskop aufruht. Das dürfte zweifellos für die Mehr- zahl der extrapulmonalen Spitzengeräusche zutreffen, die in der Fossa supraspinata durch den Cucullaris, seltener in der Fossa supraclavicularis von den Scaleni, nur in ausserordentlich wenigen Fällen auch unterhalb der Olavicula vom Pectoralis er- zeugt werden. Praktisch kommen fast nur die sehr häufigen Muskelgeräusche des Oueullaris in Betracht. Merkwürdigerweise findet sich in den bekannten Lehrbüchern der klinischen Unter- suchungsmethoden nichts über diese Verhältnisse, auf die doch wohl in allen Perkussionskursen hingewiesen zu werden pflegt. Nur Sahlit) beschäftigt sich in dem Kapitel über gewisse Täu- schungen bei der Lungenauscultation mit diesen Geräuschen, die er ebenfalls für Muskelgeräusche hält und in „aktive“ und „passive“ einteilt. Die „aktiven“ kommen nach ihm ausser durch die respiratorischen Contractionen des Öucullaris in ausgedehnter Weise auch dann zustande, wenn die Patienten infolge der Ent- blössung frieren und dadurch fibrilläre Kältecontractionen be- kommen, die hörbare Geräusche erzeugen, lange bevor sichtbares Schlottern vorhanden ist. Die „passiven“ entstehen dadurch, dass sich Muskelbündel durch leichte Bewegungen des Stethoskops oder auch durch die Exkursionen der Thoraxwand bei der Atmung knackend verschieben.

Aber diese pseudopulmonalen Geräusche sind nicht nur Muskelgeräusche, sondern Geräusche von dem gleichen täu- schenden Charakter können entstehen durch Verschiebungen der den Lungenspitzen benachbarten Skeletteile. Ver- schiebungen und Reibungen an Gelenken und Knochen als Ursache der Nebengeräusche finde ich in der einschlägigen Literatur nur erwähnt von Brandenburg?), sowie in einer Arbeit von Küttner®) über das Scapularkrachen. Wir haben es dabei im wesentlichen zu tun mit Geräuschen, die durch das Gleiten des Schulterblattes auf der hinteren Thoraxwand entstehen. Als eine der Ursachen des weithin hörbaren Scapularkrachens ist die Atrophie des Muskelpolsters zwischen der Vorderfläche der Scapula und den Rippen zu betrachten, und es ist auch für den inneren Kliniker nicht uninteressant, dass, wie Küttner hervorhebt, ein auffallend grosser Prozentsatz der mit Scapularkrachen behafteten Personen an Lungentuberkulose leidet. Diese Fälle kommen natürlich hier für uns nicht in Betracht; es handelt sich vielmehr um feine, nur mit dem Stethoskop hörbare Reibegeräusche, die durch die in- und exspiratorischen Verschiebungen des Schulter- blattes und der Rippen gegeneinander entstehen und hinten über den Spitzen und im Interscapularraum sich finden.

Zur Unterscheidung der Muskelgeräusche von Rassel- geräuschen gibt Rosenbach als Merkmale an: das symmetrische Auftreten der Geräusche über beiden Spitzen und ihr überall

1) Lehrbuch d. klin. Untersuchungsmethoden, 5. Aufl., 1908.

2) In Handbuch der Therapie der chronischen Lungenschwindsucht von Schröder u. Blumenfeld, Leipzig 1904.

3) Ueber das Scapularkrachen. Deutsche med. Wochenschr., 1904.

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absolut gleicher Schallcharakter, ihre ausserordentliche Konstanz im Verlaufe der Beobachtung, ihre Unveränderlichkeit durch Husten- stösse, die öftere Fortdauer bei auf der Höhe der Inspiration an- gehaltenem Atem und auch der Umstand, dass man neben ihnen normales Vesieuläratmen hört. Nur zum Teil können diese Kriterien auch für die Scapulargeräusche Anwendung finden.

Rosenbach gibt an, dass es bisweilen gelingt, durch festes Eindrücken des Stethoskops die Muskelgeräusche zum Verschwinden zu bringen; aber diese Methode ruft nicht selten neue störende Nebengeräusche hervor. In der einschlägigen Literatur finde ich sonst keine Angaben, wie man etwa die Entstehung der erwähnten pseudopulmonalen Geräusche vermeiden könnte. Aber ich glaube, dass wohl jeder bei seinen Lungenuntersuchungen in der verschiedensten Weise versucht haben mag, sie auszuschliessen. Früher habe ich zu diesem Zweck wechselnde Arm- und Schulter- stellungen einnehmen lassen, um durch die so bewirkten Aende- rungen der Geräusche ihre Herkunft sicherzustellen. Es gelingt jedoch durch einen sehr einfachen Handgriff, sowohl die Muskelgeräusche als auch die Scapulargeräusche zum Verschwinden zu bringen. Wenn man nämlich den Patienten auffordert, den im Ellbogengelenk gestreckten Arm im Schultergelenk stark einwärts zu rotieren, ihn dann nach hinten zu bringen und dabei die Schulter zu senken, so ver- schwinden die akzidentellen Nebengeräusche sofort. Diese Arm- stellung wird im wesentlichen durch die kombinierte Wirkung des Subscapularis und Latissimus dorsi erreicht. Durch das Muskelpolster des Subscapularis wird das Schulterblatt von der hinteren Thoraxwand abgedrängt, ferner der obere Teil des Cueullaris gedehnt und, da der Schultergürtel in dieser Stellung ziemlich fixiert wird, fällt die stärkere Contraetion bei tiefer In- spiration fort. Man muss natürlich den Patienten die erwähnte Stellung des Arms aktiv einnehmen lassen und nicht ihm den Arm passiv in die Lage bringen, da sonst der Effekt ausbleibt. Nebenbei sei erwähnt, dass dabei in vielen Fällen die Atem- geräusche viel lauter hörbar werden. Der einfache Handgriff hat mir in entsprechenden Fällen immer gute Dienste geleistet.

XIII.

Ueber die Bedeutung des Ehrlich’schen Arseno- benzols für die Syphilisbehandlung.

A. Neisser und E. Kuznitzky.

M. H! Ich habe im Laufe der letzten Jahre mehrfach Gelegen- heit gehabt, Ihnen über die Fortschritte, welche die Lehre von der Syphilis im letzten Lustrum gemacht hat, zu berichten. Ich konnte Ihnen ein Dreigestirn von Männern, denen wir diese Fort- schritte in der Erkenntnis der Syphilis zu verdanken hatten, nennen: Schaudinn als den Entdecker der Spirochaete pallida, Metschnikoff-Roux als diejenigen, welche uns das Tier- experiment und damit die Möglichkeit exakter Untersuchungen in die Hände gegeben hatten, und Wassermann als den Schöpfer derjenigen Methode, der wir Aerzte die allerbedeutsamsten, wie ich finde, immer noch nicht genügend gewürdigten Errungen- schaften auf diagnostischem Gebiete verdanken.

Zu diesem Triumvirat hat sich ein Vierter hinzugesellt: Paul Ehrlich, indem er uns in einem neuen Heilmittel eine wunderbar wirkende Waffe zur Behandlung der Syphilis in die Hände gegeben hat. Und das von unserem wissenschaftlichen Standpunkte Grossartige an dieser Errungenschaft ist, dass es sich dabei nicht um einen zufälligen glücklichen Griff oder Fund handelt, nicht um eine gelegentlich empirisch festgestellte Tat- sache, sondern um das Ergebnis einer Jahre, ja Jahrzehnte fort- gesetzten, planmässig Schritt für Schritt nach einem ganz be- stimmten Prinzip verfolgten Arbeit.

Es ist hier nicht der Platz, den ganzen Gedankengang Ehrlich’s, dessen Anfänge über ein Vierteljahrhundert zurück- liegen und mit seiner so wenig beachteten Arbeit über „Das Sauerstoffbedürfnis des Organismus“ beginnen, zu verfolgen. Es kann heute nur meine Aufgabe sein, über das neue Mittel selbst zu berichten. Freilich, sehr viel Neues werde ich Ihnen nicht bieten können. Selbst diejenigen, welche nicht die medizinischen Wochenschriften studiert haben sollten, werden ja aus den politischen Zeitungen schon das Wichtigste erfahren haben.

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Das neue Ehrlich’sche Mittel ist bekanntlich, wie eine Reihe anderer von Ehrlich hergestellter neuer Medikamente, ein arsen- haltiges Präparat. Nachdem man anfangs als erster wohl Uhlenhuth mit Atoxyl Heilversuche bei Syphilis gemacht hat, waresEhrlich, der dieArsenpräparate systematisch und nach einem bestimmten Prinzip bearbeitete. Ihm allein gebührt das Verdienst, die neue therapeutische Bahn gefunden und ausgebaut zu haben. Erst stellte er die wahre chemische Konstitution des Atoxyls fest und schuf damit die Basis für diese ganze Seite der Chemotherapie. Er erkannte die prinzipielle Bedeutung der scheinbar unwesent- lichsten Aenderungen der chemischen Struktur, die Differenz der drei- und der fünfwertigen Arsenpräparate; er erwies die Er- werbung der Giftfestigkeit usw.

Der erste Schritt auf der neuen Bahn war der Ersatz des Atoxyls durch das Arsacetin.

Auf Grund der reichlichen Erfahrungen die ich an Affen und Mevschen gemacht hatte, glaubte ich dieses Arsacetin als ein brauchbares Heilmittel, welches teils neben, teils an Stelle des Quecksilbers verwendet werden sollte, empfehlen zu dürfen; denn ich hatte trotz sehr reichlicher Anwendung keinen jener unglückseligen Fälle von Erblindung beobachtet, wie siebeidem ganz nahe verwandten Atoxyl nicht selten vorgekommen waren. Es hat sich aber leider herausgestellt, dass, obgleich das Arsacetin ungleich ungiftiger und ungefährlicher ist als das Atoxyl, es doch auch, wenn auch in seltenen Fällen, zu Optieusatrophie führt, und zwar auch schon bei Dosen, die man als klein bezeichnen muss. Und diese Atrophien setzen ein ohne alle Vorzeichen, welche dem Arzt nahelegen könnten, eine im Gange befindliche Arsacetinbehandlung abzubrechen. Kurz: ich selbst bin auf Grund dieser traurigen Erfahrungen vollkommen von der Anwendung des Arsacetins zurückgekommen und verwende es nie wieder in irgendwie grösseren Dosen.

Sehr bald aber fand Ehrlich ein neues Arsenpräparat, welches speziell bei der Dourine, also einer mit der Syphilis nahe verwandten Trypanosomenerkrankung, ganz eklataute Erfolge zeitigte, das „418“, das Arsenophenylglyein. Auch mit diesem haben wir bei Affen- und Menschensyphilis reichlich Versuche angestellt, und es ist gar kein Zweifel, dass es nach vieler Richtung hin ein ganz ausgezeichnetes Heilmittel ist: Affen kann man mit der grössten Leichtigkeit und Sicherheit, meistens auch schon mit einer einzigen, sehr gut vertragenen Dosis von der Syphilis heilen; und in vielen Fällen von schwerster Syphilis, auch bei Tabes, bei Leukoplakien u. dgl. haben wir mit Arseno- phenylglyein Resultate erzielt, nachdem das Quecksilber voll- ständig versagte. Alt-Uchtspringe erreichte sogar bei Para- Iytikern ein Umschlagen der positiven in eine negative Reaktion, ein, so weit ich weiss, durch Hg nicht mögliches Resultat.

Aber auch diesem Arsenophenylglycin bei weitem überlegen ist, soweit sich bis jetzt ein Urteil fällen lässt, das neue „606“ oder „Hata-Ehrlich-Mittel“ genannte Präparat, das Ohlorhydrat des Dioxydiamidoarsenobenzols. Während das Arsenophenylglyein mehr

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Affinität zu Trypanosomen hat, ist das „606“-Präparat ein wesentlich auf Spirillen und Spirochäten eingestellter chemischer Körper.

Wir haben es bis heute in 100 Fällen!) angewendet. Da unsere ältesten Fälle erst 13—14 Wochen zurückliegen, so kann ich natürlich ebensowenig wie Andere über die definitive Heil- wirkung des Präparates etwas Bestimmtes berichten, zumal wir in den ersten Zeiten der Versuche mit Dosen gearbeitet haben, von denen wir heute schon mit aller Sicherheit wissen, dass sie zu gering waren. Aber mit demselben Nachdruck ist zu betonen, dass wir auch jetzt über die wirkliche Leistungsfähigkeit des Mittels noch nichts sagen können. Wenn auch die gegenwärtig angewendeten Dosen vielleicht noch nicht ausreichen sollten, mit einem Schlage den Körper von der Syphilis zu „sterilisieren“, so werden es später vielleicht grössere Dosen oder wiederholte Injektionen tun. Denn vermutlich werden sich die Einzeldosen noch steigern lassen. Die Tatsache, dass in den etwa 2500 bisher behandelten Fällen auch noch nicht eine einzige wirklich ernsthafte Organ- störung, die mit Sicherheit auf das Mittel zurückzuführen ist, beobachtet wurde, deutet darauf hin, dass wir uns noch weit unter der toxischen Grenze bewegen. Das neue Präparat scheint eben auf Grund seiner chemischen Konstitution auffallend wenig organotrop und besonders stark spirillotrop zu wirken. Ausserdem aber höre ich von Ehrlich selbst, dass es sicher gelingen wird, noch viel ungiftigere Präparate herzustellen und damit dem idealen Ziele, wirklich mit einer einzigen Dosis alle Parasiten zu treffen, näherzukommen.

Behandelt wurden bisher:

9 Patienten im primären Stadium,

48 3 im sekundären Stadium, ©) h im tertiären Stadium, 10 H im latenten Stadium (meist in späteren

Jabren nach der Infektion), en mit Lues cerebri und spinalis, Tabiker, Paralytiker, Patienten mit Keratitis parenchymatosa, a ohne Lues, und zwar

2 mit. Psoriasis und

1 mit Leukämie.

Was die Erfolge betrifft, so lässt sich zurzeit nur folgendes sagen: In fast allen Fällen, in denen sichtbare Symptome vorlagen, sind sie in einer geradezu verblüffenden Weise zurückgegangen und verschwunden. Primäraffekte werden weich und verlieren ihre Induration; Spirochäten in Primär- affekten und breiten Condylomen sind oft schon nach 24 Stunden nicht mehr nachzuweisen; maculöse und derbpapulöse, auch die sonst so resistenten mikro-papulösen Syphilide blassen ab und sinken ein zu einfachen Pigmentflecken; Plaques muqueuses ver-

[BCHLUbE Uiforior)

1) Bemerkung während der Korrektur: Die Zahl ist in- zwischen auf 126 gestiegen.

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schwinden; grosse harte Drüsen werden weich und klein; Gummata schmelzen ein und verlieren ihre Schmerzhaftigkeit; die Geschwüre der tertiären und malignen Syphilis reinigen sich in wenigen Tagen und überbäuten sich in rapider Weise; Lähmungserschei- nungen und Schmerzen bei Hirnsyphilis schwinden in geradezu sinnfälliger Weise im Laufe von Tagen, ja, so übertrieben es manchem scheinen mag, im Laufe von Stunden. Kurz, an der eminenten Einwirkung des Arsenobenzols auf die syphilitischen Prozesse ist nicht zu zweifeln. Dieselben übertreffen alles, was man selbst an eklatantester Quecksilber- und Jodwirkung bisher gesehen hat. Und diese Wirkung erstreckt sich, wie gesagt, nicht nur auf das Ver- schwinden vorher reichlich vorhandener Spirochäten, sondern auch auf den pathologisch-anatomischen Prozess selbst. Ich muss gestehen, dass ich es bisher für theoretisch geradezu unmöglich gehalten hätte, dass entzündliche Infiltrate so schnell resorbiert werden und verschwinden können, wie wir das jetzt gesehen haben.

Einzelne Fälle aufzuführen, scheint mir an dieser Stelle zwecklos; sie könnten doch nicht mehr beweisen, als meine zu- sammenfassende Darstellung.

Es sind aber bereits Ausnahmen von uns beobachtet worden, in denen eine verspätete oder auch anscheinend gar keine Wirkung eingetreten ist. Bisweilen waren Spirochäten noch am 9. bis 10. Tage nachweisbar. Tertiäre Prozesse zeigten tagelang gar keine Heilungstendenz und heilten und überhäuteten sich schliess- lich erst langsam. Besonders hat sich in Fällen von Keratitis parenchymatosa keine sichtbare Einwirkung auf den krank- haften Prozess feststellen lassen.

Ich kann jedoch in all diesen Beobachtungen durchaus nichts Ueberraschendes finden. In erster Reihe kommt in Betracht, ob die Dosis für das betreffende Individuum nicht zu klein war; dann aber auch, ob die örtlichen Zirkulationsverhältnisse stets so lagen, dass eine so schnelle örtliche Einwirkung von dem im allgemeinen Säftestrom zirkulierenden Mittel erfolgen konnte. Auch beim Tuberkulin erleben wir es, dass typisch tuberkulöse Prozesse, wenn sie in harten fibrösen Schwarten eingeschlossen sind, schlecht oder gar nicht reagieren. Und was die Cornea bzw. die Keratitis parenchymatosa betrifft, so ist ja längst deren eigentümliche Stellung als „Sonderorgan“ im Körper bekannt. Ich erinnere nur an die bei Vaceineimmunität festgestellten Tat- sachen. Es scheint mir daher wohl erklärlich, dass gerade die Keratitis einer allgemeinen Behandlung mit Arsenobenzol schwerer zugänglich ist. Wenn ich richtig unterrichtet bin, haben ja auch (Juecksilberkuren immer eine auffallend langsame Wirkung auf diesen Hornhautprozess. Ferner ist auch in Erwägung zu ziehen, dass die verschiedenen, im Ehrlich’schen Laboratorium her- gestellten Präparate ebensowenig gleichwertig mit Bezug auf ihre heilende Wirkung ausfallen könnten, wie es mit Bezug auf die Toxieität der Fall ist.

Schliesslich aber kommt in Betracht und darauf komme ich noch einmal zu sprechen dass das schnellere oder

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langsamere Eintreten der Wirkung abhängig ist davon, ob.dıe Einverleibung des Mittels in gelöster oder ungelöster Form und in intravenöser oder intramuskulärer bzw. subeutaner Methodik erfolgt.

Wie steht es aber mit den definitiven Heilerfolgen? Ueber diese lässt sich, wie gesagt, heute noch wenig sagen.

Dass in einigen Fällen 5 an der Zahl Rezidive beob- achtet worden sind, bedeutet gar nichts, denn diese ungünstigen Fälle sind mit den kleinen, d. h. zu kleinen Dosen behandelt worden.

Maassgebender, aber auch zurzeit noch nicht voll beweisend, sind die durch die Serodiagnostik kontrollierbaren Resultate. Ich will mich hier nur an unsere eigenen Erfahrungen halten, die in einer noch nicht aufgeklärten Weise von denen mancher anderer Untersucher, und zwar nach der ungünstigen Seite hin abweichen. Während Schreiber in 80—90 pOt., Geronne in 60 pCt., Wechselmann in fast 100 pCt. ein Umschlagen der positiven in eine negative Reaktion feststellen konnten, haben wir bis jetzt nur unter den verwertbaren Fällen bei Wassermann’s Methodik in 44 pÖ©t., bei der Stern’schen Modifikation nur in 19,2 pOt. ein Umschlagen konstatiert. Der früheste Termin, an dem wir eine Umwandlung fanden, war der 13. Tag nach der Injektion; alle übrigen traten erst etwa 20—30 Tage nach der Injektion auf. Freilich betreffen alle unsere Fälle nur solche, die mit 0,3 und 0,4 behandelt worden sind; die mit 0,5 bis 0,7 behandelten liegen noch kürzere Zeit zurück.

Aber, m. H., aus den Erfahrungen der Quecksilberbehandlung wissen wir, dass ein einmaliges Auftreten einer negativen Reak- tion an Stelle einer früher positiven, ja sogar ein mehrfaches Negativbleiben durch Monate hindurch noch nichts beweist für den definitiven Heilerfolg. Gar oft belehren uns Rezidive und erneute positive Reaktion, dass wir es mit einem therapeutischen Schein- erfolg zu tun hatten. Wir werden also, wenn wir heute über- haupt schon ein Urteil abgeben sollen, nur diejenigen Patienten verwerten, die schon längere Zeit beobachtet und mehrfach sero- diaguostisch untersucht sind, und da stellt sich heraus, dass wir 3 Kranke haben, welche die Hoffnung aufkommen lassen, dass sie durch die einmalige Injektion geheilt seien.

Serumuntersuchungen. Dosen vor der Injektion nach der Injektion Rene a Als Tas 3 Datum Stern| \WESEGE- Datum Stern \UeSSeT | mann | mann | | F., Pri- | 0,3 iotra- |27.IV. + | 0) 3Yv| 0 0 märaffekt | muskulär | INA: 0) 0 L., Pri- | 0,4 intra- |10.IV.| + | + 14.VI.| 0 0 märaffekt | muskulär | 20.VIL.| 0 0 Str., Pri- | 0,3 intra- | 2. VI. 0 0 16.V1.| + = märaffekte|l venös PEHNÄLI I Sr 0 SV 0 0 11.VIL.| 0 0

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Es sind dies, wie Sie sehen, alles Fälle, welche sehr zeitig nach der Infektion in Behandlung gekommen sind. Nun, m. H., schon stets habe ich betont, dass die Chancen für eine schnelle und sichere Heilung um so günstiger sind, je zeitiger nach der Infektion die Behandlung einsetzt, und wir haben auch bei Menschen schon oft durch wirklich gute Quecksilberkuren solche Dauerheilungen erzielen können, wenn wir nur möglichst zeitig nach der Infektion begannen und energisch (mit kombinierten Asurol- und Oleum einereum-Kuren) vorgingen.

Was aber mit dem Hg nur in intensiven und lange fort- gesetzten Kuren gelang, das, so scheint es, wird mit Ehrlich’s neuem Mittel schnell und leicht zu erreichen sein. Denn erstens hat sich bei allen Arsenpräparaten eine eminent abortive Heilkraft, wenigstens in den Tierversachen, herausgestellt; eine Heilkraft, die sich für das Quecksilber nicht oder jedenfalls in viel geringerem Grade nachweisen liess, und zweitens ist eben, auch nach experimentellen Feststellungen, das Arsenobenzol durch seine spezifische Affinität zu den Spirochäten den übrigen Arseni- kalien bei weitem überlegen.

Was nun die Nebenwirkungen betrifft, so haben wir hier zu unterscheiden die rein örtlichen, an der Injektionsstelle ein- tretenden Störungen und allgemeine Nachwirkungen.

Das Mittel kanı zugeführt werden sowohl intravenös, wie intramuskulär und subcutan.

Die intravenöse Einverleibung, bei der das Mittel natürlich in entsprechender Verdünnung (wir haben zuletzt 200 ccm physiologische NaCl-Lösung verwendet) in den Blutstrom einge- lassen werden muss, hat keinerlei örtliche Störungen zur Folge, wenn man in geschickter Weise die Nadel in die Vene einführt.

Die intramuskuläre und subeutane Injektion dagegen geht ohne Schmerzhaftigkeit und Infiltrationsbildung nicht ab. Es spielt dabei freilich eine grosse Rolle, in welcher Weise das Mittel gelöst resp. suspendiert wird, und wie die Injektions- flüssigkeit reagiert. Je neutraler sie ist, desto schmerzloser ist sie. Es ist Leonor Michaelis gelungen, die ursprüngliche Vorschrift, bei der wir eine ziemlich alkalisch reagierende Flüssig- keit injizieren mussten, abzuändern derart, dass jetzt eine bei- nahe neutrale Suspension verwendet wird, die lange nicht mehr solche Infiltrate erzeugt, wie die Injektion nach der ersten Vor- schrift. Wechselmann hat noch eine kleine Modifikation hinzu- gefügt, so dass auch die Injektionsmenge verringert ist. Und so kann man heute wohl sagen, dass die Injektionen in fast jedem Falle gut vertragen werden und den Patienten verhältnismässig wenig Beschwerden machen. Michaelis lässt seine Patienten zwei Tage im Bett liegen; icb habe gefunden, dass auch das nicht einmal notwendig ist.

Wechselmann macht seine Injektionen subeutan unterhalb der Schulterblätter neben der Wirbelsäule. Ich bin stets dabei

geblieben, die 10 ccm in die Glutäen auf eine Seite oder ge- teilt auf beide zu applizieren. Aufpassen muss man nur, dass

sr

116 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

man möglichst aussen oben injiziert, um nicht in die Nähe des Ischiadiecus zu geraten, damit nicht etwa das sich bildende In- filtrat mechanisch den Nervenstamm umfasst und zu mehr oder weniger erheblichen, natürlich vorübergehenden Schmerzen im ganzen Bein oder gar neuritischen Erscheinungen Veranlassung gibt. Sehr wichtig ist, dass man die Injektionsflüssigkeit in durchaus präziser Weise herstellt, um eine möglichst neutrale und feine Suspension des Salzes zu erhalten. Da Kollege Kuz- nitzky von Anfang an, auch bei der alten Vorschrift, eine mög- lichste Neutralisierung der ganzen Flüssigkeit zu erreichen suchte, so haben wir eigentlich nie die exorbitanten Schmerzen, von welchen andere berichtet haben, erlebt. Die Schmerzen treten in 2 Etappen auf. Ein Ausbruch erfolgt bald nach der Ein- spritzung, ein zweiter, von dem sich bildenden harten Infiltrat herrührend, am dritten oder vierten Tage. Dieser hält dann ver- schieden lange an.

Wir verordnen dann warme Bäder und leichte Massage, eventuell heisse Umschläge und Spiritusverbände; sehr empfind- liche Menschen bringen wir durch Pyramidon und eventuell Mor- phium über die paar Schmerztage hinweg. Aber viele Patienten haben so wenig Belästigung, dass sie gar nicht im Zimmer, ge- schweige im Bette zu halten sind.

Aber dem Vorteil, den die neutralen Suspensionen durch Verringerung der Schmerzhaftigkeit im Vergleich zu der alten alkalischen Lösung haben, steht gegenüber die vielleicht nachteilige Tatsache, dass wir bei der neutralen Suspension ein ungelöstes Präparat injizieren, welches erst vom Organismus verarbeitet werden muss und daher langsamer und nicht mit einem Schlage in Aktion tritt. Möglicherweise aber wird dieser Nach- teil wieder aufgehoben durch die protrahierte, sich über 1 bis 2 Wochen erstreckende Wirkung. Erst die Zukunft wird lehren, wie wir am besten einerseits die akuten Wirkungen, wie sie bei alkalischen Lösungen und intravenöser Einführung sich einstellen, und andererseits die protrahierten des ungelöst zugeführten Salzes werden verwerten können.

Was weitere Nachwirkungen betrifft, so sahen wir bei den intravenösen Injektionen in der Mehrzahl der Fälle wenige Stunden nach der Injektion Schüttelfrost und Temperatursteigerungen bis 39,5 und 40,0°, meist begleitet von mehrfachen Erbrechen; aber vach wenigen Stunden war alles vorüber und die Patienten be- tonten, dass sie sich ganz wohl und frisch fühlten.

Die Untersuchung des Erbrochenen, welches einigemale ganz auffällig hellgelb gefärbt war, ergab in den 4 Fällen, die unter- sucht worden sind, das Fehlen von Arsen.

Einmal sahen wir einen ausgebreiteten Herpes labialis 24 Stunden nach der intravenösen Injektion entstehen.

Auch der intramuskulären Injektion folgen bisweilen Er- brechen und Temperatursteigerungen. Letztere treten so schnell auf, dass sie kaum auf entzündliche örtliche Reaktionserscheinungen an der Injektionsstelle bezogen werden können. Ich glaube viel- mehr, dass man sie als einen Ausdruck der direkten Einwirkung

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des Arsenobenzols auf die Spirochäten ansehen muss, gleichsam als eine „allgemeine spezifische Reaktion“, vielleicht zu erklären durch ein Freiwerden von „Endotoxinen“ durch Zerstörung einer grossen Anzahl von Spirochäten. In der Tat sind die meisten solcher Fieberattacken bei Menschen mit verhältnismässig frischer Lues aufgetreten. Bei den Nichtluetikern trat keinerlei Temperatur- steigerung ein.

Diese Deutung der Temperatursteigerung als „allgemeine Reaktion“ findet eine Stütze in den von uns und anderen mehr- fach gemachten Erfahrungen von „örtlichen Reaktionen“ an den syphilitischen Prozessen, sei es, dass eive bis dahin unsicht abre Roseola provoziert wurde, sei es, dass makulöse und papu- löse Prozesse 4—12—18—24 Stunden nach der Injektion un- gemein hyperämisch und turgeszent wurden und oft sogar einen stark entzündlichen Hof um die Effloreszenz herum aufwiesen. Es sind das also Verhältnisse, die ganz dem entsprechen, was wir hin und wieder auch bei akuter Quecksilbereinwirkung sehen und was unter dem Namen der „Jarisch- Herxheimer’schen Reaktion“ bekannt ist. Uebrigens hat man auch für diese Queck- silbereinwirkung dieselbe Deutung gegeben, die ich eben anführte: direkte Einwirkung des Quecksilbers auf die Spirochäten, Zer- störung derselben mit Freiwerden von Endotoxinen, oder Reizung der Spirochäten, so dass sie gleichsam mehr Toxine absondern.

Dreimal sahen wir erythematös-urticarielle, schnell ohne jede Folgen verschwindende Eruptionen, wahrscheinlich wohl „Arznei- exantheme“.

Sonstige unangenehme Nebenwirkungen auf Niere, Darm, Herz, Nervensystem sind von uns nicht beobachtet worden').

Es wird im Gegenteil überall dieselbe günstige Wirkung: Be- einflussung von örtlichen Symptomen, berichtet und der aus- gezeichnete Einfluss auf das subjektive Wohlbefinden der Patienten, was sich übrigens auch in den allermeisten Fällen darch eine ganz rapide Gewichtszunahme ausdrückt.

Fragen wir uns, wie wir die Wirkung des neuen Mittels zu erklären haben, so besteht meines Brachtens, wie ich ja schon mehrfach angedeutet habe, kein Zweifel darüber, dass wir es mit einer ganz eminenten direkten Einwirkung des- selben auf die Spirochäten zu tun haben, und zwar einer- seits abtötend, andererseits die Vermehrung hindernd.

Daneben scheint zu bestehen eine resorptionsbefördernde Einwirkung auf die pathologischen Gewebsmassen selbst.

Die direkt parasitizide Wirkung geht hervor:

1. Aus den zahlreichen Beobachtungen, dass die vor der Behandlung in reichlichster Weise vorhandenen Spirochäten nach der Behandlung mehr oder weniger schnell aus den Primär- affekten usw. verschwinden, und zwar geht das Verschwinden, was man fast mathematisch an den Kaninchenversuchen erweisen kann, direkt parallel der angewandten Dosis. Natürlich hat auch

1) In der Kreibich’schen Klinik sahen Bohac und Sobotka in drei Fällen eine Abschwächung der Patellarreflexe, Harnverhaltung und Mastdarmtenesmus.

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die Methode der Einverleibung eine Bedeutung: die Spirochäten- beeinflussung geht bei intravenöser Zufuhr schneller vor sich, als bei intramuskulärer.

Und bei der letzten scheint wiederum die neutrale Suspension nicht so rasch und intensiv zu wirken wie die alkalische Lösung, denn es sind in der allerletzten Zeit bei uns Fälle untersucht worden, bei welchen die Spirochäten nicht nach 24 Stunden ver- schwanden, sondern noch 3 Tage post injectionem von 0,6 wohl- erhaltene, gut bewegliche, einwandfreie Spirochaetae pallidae ge- funden werden konnten. Von der sonst immer zu konstatierenden Beeinflussung derSpirochäten durch dasMittel hinsichtlich ihrer Form und ihrer Beweglichkeit war nichts wahrzunehmen. Auch die Ein- wirkung auf die sonstigen Symptome der Syphilis scheint bei der neu- tralen Lösung nicht so prompt von statten zu gehen wie bei der früheren Technik, wenigstens traf dies bei unseren letzten Fällen zu.

2. Aus den berichteten Beobachtungen über die „örtliche“ und „allgemeine“ Reaktion, die aber nur bei Syphilitikern, nie bei Nichtsyphilitikern eintrat. Freilich ist das nur eine hypo- thetische, aber, wie ich meine, gut gestützte Erklärung.

In das Gebiet der örtlichen Reaktion gehören auch die Beobach- tungen von gesteigerten bald vorübergehenden Kopfschmerzen bei Hirnlues und von spinalen Reizerscheinungen bei einem Tabiker.

Fall 54. M., Tabes dorsalis.

Seit 3 Jahren völliges Fehlen von Libido und Erektionen; Inconti- nentia urinae.

8. VII. Injektion von 0,6 intramuskulär.

9. VII. Beseitigung der Inkontinenz, und zwar bleibend während seines Aufenthaltes in der Klinik.

14. VII. Erektion, Pollution.

Uebrigens sind auch schon Nichtluesfälle mit 606 behandelt worden: Psoriasis, Leukämie, Warzen, Neurodermitis chronica.

In unseren Fällen blieb jede Einwirkung aus, Loeb dagegen sah guten Erfolg bei Verrucae und Neurodermitis.

Bei Rekurrens hat Iversen die eklatantesten Heilerfolge auch mit einer Injektion erzielt.

3. Aus dem Einfluss auf die Seroreaktion.

Ich habe schon oben berichtet, dass wir in 44 pÜt., andere aber in einem viel höheren Grade ein Umschlagen der Reaktion beobachtet haben. Kurz möchte ich nur über einige Sera be- richten, die sich durch ein auffälliges Verhalten auszeichneten.

a) 2 Fälle von ganz frischen, kaum indurierten, durch Spirochäten- befund sichergestellten Primäraffekten, die exeidiert wurden.

Serum A: vor der Injektion. . 0 0 post injectionem erst + dann . EEE denne‘) Serum B: vor der Injektion. 0 +

dass die Injektion nieht imstande war, die durch die Spirochäten bereits in Gang gesetzten biologischen Gewebsverände- rungen ebenso schnell zu beeinflussen, wie die Spirochäten selbst, so dass diese Veränderungen sich erst langsam zurückbildeten.

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Der zweite Fall ist leider nur einmal post injectionem zur Unter- suchung gekommen.

b) Ein ähnliches Verhalten wie die beiden obigen Sera zeigen die drei folgenden insofern, als zwei Seren, welche

vor der Injektion + 0 waren,

nach derselben -+-- wurden, und ein Serum, welches

vor der Injektion negativ war,

nach derselben + + wurde. Es besteht ausserdem zwischen den drei Fällen noch eine (remeinsam- keit darin, dass zwei davon dem tertiären Stadium der Lues, der dritte der malignen Form derselben angehören. Das Verhalten dieser drei Sera nach der Injektion ist vorläufig noch unerklärlich, denn die obige Ver- mutung trifit auf diese Fälle in keiner Weise zu; es wäre jedoch daran zu denken, dass durch die Injektion vielleicht die positive Reaktion pro- voziert werden könnte, genau so, wie die Injektion imstande ist, einmal eine Roseola hervorzurufen.

4. Aus unseren Tierversuchen. Wir haben 12 syphi- litische Affen mehr oder weniger lange Zeit nach dem Abheilen des Primäraffektes mit Arsenobenzol behandelt, und zwar mit 0,025 g pro Kilogramm intramuskulär oder 0,015 g pro Kilo- gramm intravenös.

Bei drei Tieren, welche einen Monat nach der Injektion mit menschlichem Material veinokuliert waren, traten nach der gewöhnlichen Inkubationszeit typische Primäraffekte auf. Diese Tiere sind also als sicher geheilt zu betrachten.

Bei drei weiteren Tieren, welche in eben derselben Weise behandelt und reinokuliert worden waren, zeigten sich ziemlich um dieselbe Zeit wie bei den anderen, in einem Falle etwas später an der Impfstelle Infiltrate und Schuppungen, welche sich zwar nicht zu typischen Primäraffekten heranbildeten, son- dern als höchst suspekte Infiltrate eine Zeitlang bestehen blieben und dann abheilten,. Wir sind geneigt, diese Erscheinungen als syphilitische anzusprechen, um so mehr, als bei zweien dieser Tiere die Kontrolltiere einwandfrei positiv waren. Bei dem dritten jedoch blieb die Kontrolle negativ. Es sind also zwei Tiere ausserdem noch als wahrscheinlich geheilt anzu- sehen insgesamt 5 —, bei einem Tier ist die Heilung fraglich.

5 Aus den anscheinend definitiven Heilungen bei den ganz frischen Luesfällen.

Der entwicklungshemmende Einfluss scheint uns her- vorzugehen:

1. Aus einigen Beobachtungen, die Ehrlich selbst in der Diskussion, die neulich in der Berliner medizinischen Gesellschaft stattgefunden, mitgeteilt hat:

„Wenn man einem Huhn die Substanz in die Brustmuskeln ein- spritzt, so beobachtet man, dass so behandelte Tiere 30 Tage voll- kommen gegen eine Infektion mit Hühnerspirillose gefeit sind. Ja, wir haben schon Fälle beobachtet, in denen die Tiere 40 Tage immun waren. Die Ursache war sehr leicht zu eruieren. Schnitt man den Muskel ein, so sah man eine gelbe Nekrose, die allmählich resorbiert wurde, und die chemisch im Laufe der Zeit immer weniger von dem Stoff enthielt. Es handelte sich hier also um eine typische Vorbehand-

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lung bei subcutaner Einverleibung. Solche Herde entstehen auch beim Menschen, indem sich im Injektionsbereich Muskelnekrosen bilden, die den Stoff enthalten und langsam abgeben.“

2. Ebenso beweiskräftig sind einige Versuche, die wir hier selbst angestellt haben. Bei einigen Affen wurde die Syphilis- impfung erst vorgenommen am 12. Tage nach der Injektion, und es stellte sich heraus, dass diese Tiere ihre Primäraffekte 18—55 Tage später bekamen als die Kontrolltieree Die Spiro- chäten waren also unter dem Einfluss des im Körper weilenden Arsenobenzols eine Zeitlang in ihrer Ent- wicklung und Vermehrung behindert. Erst als das Arseno- benzol ausgeschieden war, begannen sie ihre Wirkung zu entfalten.

Diese Beobachtung hat, wie ich glaube, eine recht grosse Bedeutung für die Bewertung der bisher erreichten Resultate. Es ist möglich, dass da, wo wir jetzt an eine „Heilung“ glauben, uns doch nur ein Heilerfolg vorgetäuscht wird dadurch, dass etwa zurückgebliebene Spirochäten unter dem Einfluss des remanenten Arsenobenzols in ihrer Vermehrung und damit an der Erzeugung von Rezidiven gehindert werden. Diese Möglichkeit kommt in Betracht wesentlich bei den intramuskulären Injektionen, wo ein grosser Teil des injizierten, unlöslich suspendierten Präparates sehr lange an Ort und Stelle zurückbleibt, erwiesen durch den Befund bei zwei Autopsien, bei welchen 14 und 36 Tage nach der In- jektion noch erhebliche in einem Falle etwa 0,01 g Mengen Arsen in den Glutäen aufgefunden wurden.!)

Mit der von diesen remanenten Arsenmengen aus- gehenden Arsenwirkung haben wir also zu rechnen; namentlich auch, wenn wir die Frage aufwerfen, ob nicht der ersten In- jektion eine zweite und dritte eventuell nachgeschickt werden solle.

Für die Frage der wiederholten Injektion kommt auch in Betracht die Möglichkeit, dass sich eine Arsenfestigkeit der Spirochäten entwickelt haben kann, so dass die späteren Injektionen zweck- und nutzlos würden. Nach unseren freilich noch spärlichen Erfahrungen ist für die zweite Injektion diese Befürchtung grundlos. Auch bei der zweiten Injektion war eine eklatante Einwirkung zu konstatieren. Etwas Schädliches haben weder wir noch andere bei wiederholten Injektionen erlebt.

Dies, m. H., sind die bisher gesammelten Erfahrungen, und es fragt sich, was wir heute schon für unser thera- peutisches Handeln daraus für Schlüsse ziehen können.

Nach meiner Ueberzeugung ist die Sachlage bereits so weit geklärt, dass wir jedem Syphilitiker, falls nicht ganz be- sondere Kontraindikationen vorliegen, raten müssen, das neue Mittel zu versuchen. Wir können ihm natürlich keine sofortige Dauerheilung versprechen, aber zum mindesten denselben

1) Damit würden auch die Ergebnisse von Fischer und Hoppe stimmen, welche über eine unvollständige Ausscheidung von Arsen nach intramuskulärer Injektion berichten, dagegen eine fast vollkommene nach intravenöser Injektion sahen; insbesondere, wenn man die Menge As, welche im Kote ausgeschieden wird, mit in Rechnung zieht.

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Erfolg, wie ihn sonst nur eine sehr kräftige, durch viele Wochen durchgeführte und oft nur mit recht argen Störungen: Stomatitis, Enteritis usw. durchführbare Quecksilberkur mit sich bringt.

Klar liegen die Verhältnisse des 606 vor der Hand aller- dings nur bei Fällen mit manifesten Symptomen. Ueber die Einwirkung auf latente Fälle, wobei wir als einziges Sym- ptom die positive Reaktion kennen, wissen wir noch nichts. Es besteht aber vor der Hand kein Grund, anzunehmen, dass wir nicht auch bei solchen Fällen mit 606 mindestens dasselbe erreichen sollten, wie mit Quecksilberkuren. Freilich will ich daran erinnern, dass bei spät latenten Fällen auffallend häufig auch intensive Quecksilberkuren nicht zu einem Umschlage der Reaktion geführt haben.

Man wird übrigens jetzt schon ins Auge fassen können, in manchen besonders wichtigen Fällen sich nicht auf die Behand- lung mit 606 zu beschränken, sondern sie gleichzeitig oder nacheinander mit einer (Juecksilber- oder Jodkur zu kombinieren. Zur wissenschaftlichen Erforschung des Heil- mittels ist natürlich eine solche Methode wenig geeignet, und wir haben daher die Verpflichtung, überall da, wo wir es irgendwie verantworten können, die meisten Fälle nur mit 606 zu behandeln. Daneben aber gibt es eine Kategorie von Kranken, wo es weniger auf die Erforschung der Eigenschaften des Heilmittels ankommt, als auf die möglichst schnelle und sichere Heilung des einzelnen Falles (Ehemänner, Verlobte u. dergl.). In solchen Fällen würde ich an Stelle der jüngst von mir vorgeschlagenen Kombination des akut wirkenden Asurols ein lösliches Salieyl Hg-Präparat mit dem langsam wirkenden remanenten grauen Oel die Kom- bination von Arsenobenzol mit grauem Oel anwenden. Ich stelle mir dabei vor, dass das Arsenobenzol vielleicht doch nicht alle Spirochäten definitiv vernichtet haben könnte. Um aber die etwa zurückbleibenden lebensfähigen Spirochäten allmählich zu töten, setze ich den Körper unter den Einfluss einer lange und stetig wirkenden (Quecksilberbehandlung. Schliesslich aber schliesst auch diese Kombination von Arsenobenzol mit Quecksilber nicht aus, dass ich am Ende der Quecksilberkur noch einmal die 606-Injektion wiederhole.

Die auch früher schon, wie auch jetzt gemachten Erfahrungen, dass nach makroskopisch-klinischem Abheilen von papulösen Effloreszenzen, namentlich an der Schleimhaut, sich Rezidive ein- stellen und Spirochäten nachweisbar bleiben, weisen darauf hin, dass wir trotz der glänzenden Erfolge, welche man mit Bezug auf das Abheilen von Plaques muqueuses durch 606-Injektionen erzielen kann, nicht auf eine örtliche Behandlung solcher durch ihre eminente Kontagiosität ausgezeichneter Prozesse verzichten sollen, wo irgendwie die Gefahr vorliegt, dass solche residuale Spirochäten eine Ansteckung vermitteln könnten. Es ist auch darauf hingewiesen worden, dass vielleicht die in den Epithelschichten liegenden Spirochäten der Einwirkung des zirkulierenden Arsenobenzols entgehen, obgleich der patholo- gische Prozess in der Tiefe mitsamt seinen Spirochäten abheilt.

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Ganz besonders in Betracht kommt das neue Heilmittel aber bei folgenden Kategorien:

1. Beiallen ganz frisch infizierten Fällen. Hier habe ich, wie ich schon oben ausführte, den Glauben, dass wir in der Tat eine Radikalheilung mit einem Schlage erzielen können. Will man aber ganz besonders vorsichtig sein, so käme hier die Kombination mit Hg-Kuren in Betracht.

Ich möchte aber hinzufügen, dass ich mich auch ohne weiteres entschliessen würde (und schon in mehreren Fällen ent- schlossen babe), das neue Mittel anzuwenden, selbst wenn bei einer frischen Infektion die Syphilis nicht mit Sicherheit fest- gestellt ist. Es mag sein, dass dann manche Fälle überflüssiger- weise in Behandlung genommen werden würden. Aber da die Behandlung ohne jede Schädigung vor sich geht, so gibt es keinen Grund, sie einem Patienten, der jede Möglichkeit der Radikalheilung ausnützen will, zu versagen. Es widerspricht zwar dieser Vorschlag dem früher ganz besonders von mir ver- tretenen Grundsatz, eine Allgemeinbehandlung der Syphilis zwar möglichst frühzeitig, aber doch nur in denjenigen Fällen vorzu- nehmen, in denen die Syphilis mit aller Sicherheit festgestellt ist. Ich habe aber meinen Standpunkt geändert, weil wir jetzt in der Serodiagnose das Mittel in der Hand haben, den weiteren Verlauf der Fälle auch bei völliger Symptomlosigkeit zu kontrollieren. Jetzt kann uns bei fortlaufender Serumkontrolle auch eine dauernd symptomlos und latent bleibende Lues nicht mehr ent-

ehen.

= Diese Möglichkeit einer radikalen Präventiv- und Abortiv- behandlung legt übrigens den Gedanken nahe, allen Personen, die sich häufig oder gar gewerbsmässig der Infektion mit Syphilis aussetzen, von Zeit zu Zeit eine Arsenobenzolinjektion zu machen. Es ist sehr wohl denkbar, dass sie auf diese Weise dauernd von Syphilis frei bleiben. Bei Prostituierten würde man zum mindesten erreichen, dass alle manifesten Symptome im Keime erstickt oder beseitigt werden, so dass sie so gut wie ganz ihrer Infektiosität entkleidet würden.

Für solche Abortivbehandlung wird vielleicht die intravenöse Behandlung mehr in Betracht kommen, als die intramuskuläre. Denn abgesehen davon, dass die doch häufig störenden Schmerzen und Infiltrate an der Injektionsstelle vermieden werden, ist die akut abtötende Wirkung auf die Spirochäten vollkommener.

2. Ferner kommen in Betracht die zahlreichen Fälle, in denen wegen Quecksilberidiosynkrasie entweder jede An- wendung des (Juecksilbers ausgeschlossen ist oder höchstens minimalste Dosen, um den Körper allmählich an das Hg zu ge- wöhnen, gestattet sind. In vielen derartigen Fällen aber ist diese Möglichkeit, sofort energisch zu behandeln, von eminentester Bedeutung. Man denke nur an Fälle von Hirnsyphilis in den ersten Monaten nach der Infektion, von denen ich zwei gesehen habe, bei denen wegen Quecksilberidiosynkrasie eigentlich jede Behand- lung unmöglich war. In solchen Fällen wird das Arsenobenzol geradezu lebensrettend wirken.

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 123

3. Eine weitere Kategorie stellen aber die Fälle dar, die man Jahr aus Jahr ein vergeblich oft in wildester und brutalster Weise mit Quecksilber behandelt, ohne doch dem stetigen Fort- schreiten der syphilitischen Prozesse oder dem Wiederauftreten von Rezidiven Einhalt tun zu können. Ob das Versagen der Quecksilberwirkung an einer Wuecksilberfestigkeit der Spiro- chäten oder an im Organismus begründeten Eigentümlichkeiten liegt, wissen wir nicht. Tatsache ist, dass solche Fälle, nament- lich wenn sie auch auf Jod gar nicht reagierten, aller ärztlichen Kunst spotteten. Ich habe selbst bereits eine ganze Anzahl solcher Fälle mit Arsenophenylglyein definitiv geheilt. Jetzt werden wir natürlich das einerseits unschädlichere, andererseits wirksamere Arsenobenzol verwenden.

4. Ich komme schliesslich zu denjenigen Krankheiten, die eigentlich unser Hauptinteresse erregen und jedenfalls für Aerzte wie für die Kranken selbst als die traurigsten Folgen der Syphilis erscheinen: zu den parasyphilitischen Erkrankungen.

Ich will dabei auch die Leukoplakie erwähnen. Ist sie auch in leichten Fällen nur eine starke Belästigung der Kranken, wenn wir von der stets drohenden Gefahr einer Öareinon- bildung absehen —, so gibt es doch schwere Fälle von ernstester Bedeutung. Auch hier hat sich das Arsenophenylglyein, wie das Arsenobenzol glänzend bewährt. Ueber Arsenobenzol habe ich noch keine Erfahrungen betrefis des Dauererfolges; aber von Arsenophenylglyein weiss ich, dass es eine sehr schwere, seit Jahren bestehende Leukoplakie vor der Hand für 7 Monate vollkommen geheilt hat.

Was Tabes und Paralyse betrifft, so ist zu trennen die Frage der Verhütung dieser Krankheiten und die ihrer Heilung.

Wie weit es gelingen wird, Tabes und Paralyse durch Vor- behandlung mit 606 zu verhüten, ist vor der Hand ebensowenig klar, wie die Frage, wie weit eine energische Quecksilberbehandlung dazu imstande sein kann. Die Verhütung der Paralyse halte ich jedenfalls für möglich, weil die Paralyse anscheinend nur bei solchen Syphilitikern, die noch Virus in sich beherbergen, auftreten kaun; ich glaube wenigstens, dass man die Tatsache, dass alle Paralytiker eine positive Reaktion haben, so deuten muss. Beseitigung der positiven Reaktion, also Heilung der Syphilis halte ich aber bei guter Behandlung, d.h. 1. möglichst energisch, 2. genügend lange, unter steter serodiagnostischer Kon- trolle, 3. bei möglichst frühem Beginn post infecetionem für möglich. Und dieses Ziel werden wir, das scheint mir unzweifelhaft, durch Benutzung oder Mitbenutzung des Arsenobenzols viel sicherer erreichen, als bisher durch die Quecksilbertherapie.

Bei der Tabes liegen die Verhältnisse anscheinend etwas anders. Denn es gibt progrediente Tabes mit dauernd negativer Reaktion, und das lässt die Deutung zu, dass die vielleicht schon in sehr frühen Zeiten post infectionem einsetzenden degenerativen Prozesse der Tabes sich unbeeinflusst von der antisyphilitischen Therapie weiter entwickeln und, wenn auch die Lues als solche bereits geheilt ist, fortschreiten können. Die Frage, ob bei

124 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur. Tabikern und Paralytikern durch 606 ein kurativer Erfolg zu er- warten ist, ist noch ungelöst; aber die Möglichkeit, dass noch im Gange befindliche Prozesse beeinflusst werden können, kann nicht in Abrede gestellt werden und ich würde glauben, in allen Fällen, wo noch frische Symptome vorliegen, zu der Behand- lung zuraten zu sollen. Natürlich kann man keine Besserung derjenigen Symptome erwarten, welche als Folge bereits voll- kommen zerstörter Nervensubstanz aufzufassen sind.

Aber gerade die Tabes legt andererseits eine Frage nahe: ob nicht am Ende in Degeneration befindliche Nerven durch das arsenhaltige Mittel noch mehr geschädigt und noch schneller vollständiger Zerstörung zugeführt werden könnten. So günstig syphilitische Neuritis und Stauungspapille beeinflusst werden, so fraglich ist es, ob man Öpticus-Atrophien in Behandlung nehmen soll; so viel ich weiss, liegen Erfahrungen darüber noch nicht vor.

Auch sonst wird man wohl Patienten, bei denen parenchyma- töse Degenerationen am Herzen und in anderen lebenswichtigen Organen vorliegen, vor der Hand von der Behandlung aus- schliessen müssen.

Um so dringender ist also unsere Aufgabe, alle Luesfälle in möglichst frischen Stadien einer energischen Behandlung zuzu- führen; d.h. aber nach dem heutigen Stande unserer Kenntnisse in erster Reihe einer Behandlung mit dem neuen Ehr- lich’schen Mittel, da es durch seine, dem Quecksilber zweifel- los überlegene giftvernichtende Wirkung viel mehr Aussicht auf sofortige radikale Heilung bietet als das Hg; ganz abgesehen von dem äusseren Vorteil, dass die 606-Kur einige Tage, die Hg-Kur mindestens viele Wochen in Anspruch nimmt.

Freilich besteht zurzeit noch die äussere Schwierigkeit, dass das Präparat noch nicht fabrikmässig hergestellt wird, und dass seine Zubereitung zur Injektion nicht bequem und einfach ist. Es wird demgemäss wohl noch eine Zeit vergehen, ehe alle Aerzte alle ihre Patienten mit dem neuen Mittel werden behandeln können.

So sind denn, wie Sie sehen, meine Herren, noch eine grosse Menge von Unklarheiten zu lösen, ehe alle Vorteile, die Ehr- lich’s neueste Tat mit sich gebracht hat, von uns werden voll ausgenützt werden können. Aber der festen Ueberzeugung möchte ich schon heute Ausdruck geben, dass Ehrlich sich die ganze Menschheit durch diese seine neueste wissenschaftliche Errungen- schaft zu allergrösstem Dank verpflichtet hat. Wird auch die Syphilis wohl nie und nimmer ausgetilgt werden können, so wird sie doch bei richtiger Ausnützung der neuen uns in die Hand gegebenen Waffe ihre allergrössten, wenn auch vielleicht nicht alle Schrecken, die heute noch mit ihr verknüpft sind, verlieren.

XIV.

Ueber die Fortschritte in der Pathogenese und Therapie der Pancreasnekrose.

Von

Privatdozent Dr. H. Coenen.

In der Behandlung der Pancreatitis macht sich in den letzten Jahren ein ähnlicher Umschwung zugunsten eines frühzeitigen operativen Eingriffs bemerkbar, wie wir ihn in ähnlicher Weise, aber schneller und zielbewusster, in der Frage der Appendieitis erlebt haben, deren Mortalität bei den akuten Krankheitsfällen durch die Einführung der Frühoperation z.B. in Breslau nach den Feststellungen von H. Küttner von 30 pCt. auf SpÜt. ge- fallen ist. Wenn wir auch dieses Ziel bei der akuten Pancreatitis, namentlich im Hinbliek auf deren hämorrhagische Form, noch lange nicht erreicht haben, so ist doch der konservativen Therapie dieser Erkrankung durch die operativen Erfolge Hahn’s, Bunge’s, v. Mieuliez’s u. a. der Boden entzogen worden, so dass auch Körte, der von den deutschen Autoren auf diesem Gebiete die meisten Erfahrungen besitzt, seinen anfänglichen Standpunkt (1898), dass die hämorrhagische Panereatitis wegen des Collapses und der starken Prostration der Patienten für ein chirurgisches Eingreifen keine Handhabe biete, aufgegeben hat und die Frühoperation empfiehlt (1905).

Infolge dieser veränderten Indicationsstellung hat sich nun das Gebiet der chirurgischen Behandlung der akuten Entzündungen der Bauchspeicheldrüse ganz erheblich erweitert. Im Jahre 1907 konnte Ebner bereits über 36 Fälle von akuter Pavcreatitis berichten, von denen 17 47pÜt. durch die Operation geheilt waren, während von 20 nicht Operierten nur 2 10 pCt. durchkamen. Von 59 von Mayo Robson im Jahre 1908 zusammengestellten Fällen hatten 23 einen vollen operativen Erfolg. Dreesmann sammelte im vorigen Jahre (1909) schon 118 operierte Fälle akuter Pancreatitis und Pancreasnekrose mit einer Gesamtmortalität von 55 pOt. Das beste operative Resultat gaben 40 frühzeitig mit Laparotomie und Tamponade des Pancreas behandelte Fälle, von denen SO pCt. geheilt wurden.

126 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Gleichwie die Behandlung, so hat auch das Studium der Pathogenese der akuten Pancreatitis und Pankreasnekrose erheb- liche Fortschritte gemacht, an denen sich auch gerade die experi- mentelle Chirurgie in hervorragender Weise beteiligt hat. Vor allem stand der eigentümliche anatomische Befund, den uns im Jahre 1882 Balser als regelmässige anatomische Begleiterscheinung der Pancreasnekrose lehrte, nämlich die Erscheinung, dass in der Umgebung des nekrotisierenden Pancreas auch das Fettgewebe im Bauchraum abstirbt, im Vordergrund des Interesses und der expe- rimentellen Forschung.

Während der zuletzt genannte Autor, Ponfick, E. Fränkel, Langerhans, Seitz u. a. diese Fettgewebsnekrose für das Primäre und die Ursache der Pancreaserkrankung hielten, haben die Amerikaner Fitz und Whitney, gestützt auf ein sehr reiches und sorgfältig in Boston und Baltimore beobachtetes Material, gerade den entgegengesetzten Standpunkt vertreten.

Die Mitteilungen von Warren und v. Hansemann, die nach traumatischen Verletzungen des Pancreas Fettgewebsnekrose auftreten sahen, sprachen zugunsten der letzteren Auffassung und forderten ausserdem zur experimentellen Lösung dieser Frage auf.

Tatsächlich gelang es Hildebrand und Dettmer, bei Ver- suchstieren durch Eingriffe am Pancreas, die eine Secretstauung oder einen Ausfluss von Pancreassaft bewirkten, typische Fett- nekrosen hervorzurufen, für deren Zustandekommen sie das aus der geschädigten Drüse ausgetretene Fettferment verantwortlich machten, während sie die in ihren Versuchen im Bauche auf- tretenden Blutungen für eine Trypsinwirkung des Bauchspeichels hielten.

Zu ganz ähnlichen anatomischen Resultaten kam W. Körte in seinen Versuchen, in denen er künstlich die Bauchspeichel- drüse verletzte, und indem er ausgeschnittene Stücke derselben in die Bauchhöhle implantierte, sowie durch Injektion infektiöser oder entzündungserregender Substanzen in das Pancreas. Aller- dings, sagt Körte, stellen die experimentell gewonnenen Nekrose- herde im Bauchraum der Versuchstiere nur einen schwachen An- klang dar an die viel ausgedehnteren Veränderungen beim Menschen.

Mag dieses auch der Fall sein, jedenfalls geht aus diesen ersten experimentellen Arbeiten der Autoren hervor, dass die beiden wichtigsten anatomischen Veränderungen bei der akuten Pancreatitis, die Nekrose des Fettgewebes und die Hämorrhagien, durch eine Schädigung des Pancreas erzeugt werden können, dass also die Erkrankung des Pancreas primärer und die Nekrose des Fettgewebes sekundärer Natur ist.

Die nun folgenden Arbeiten beschäftigen sich mehr mit der Pathogenese der Pancreasnekrose und mit der Ursache des hierbei oft so schnell im Collaps eintretenden Todes.

Die ursprüngliche Ansicht, dass der Tod bei der akuten Pancreatitis ein durch den Druck des geschwollenen Organs auf den Plexus solaris ausgelöster Nervenschock sei, ebenso die An- nahme einer von der entzündeten Bauchspeicheldrüse eingeleiteten

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 127

bakteriellen Allgemeininfektion liess sich nicht halten. Es sprach vielmehr alles für eine Vergiftung.

Hess vertrat die Aulfassung, dass die Pancreasapoplexie so zu erklären sei, dass fettreicher Dünndarminhalt in den Ductus Wirsungianus eindringe und dort durch das Steapsin verseift würde, so dass nunmehr die Seifen und Fettsäuren schädigend auf die Zellen einwirkten. Durch Injektion von Oel oder Paraffin konnte er in der Tat ein der Pancreasapoplexie ähnliches Krank- heitsbild erzeugen, so dass der Autor nicht ansteht, den durch akute Pancreasnekrose bewirkten Tod als die Folge einer vom Pancreas ausgehenden Seifenvergiftung zu erklären.

N. Guleke hatte mit der Methode der Oelinjektion, die auch Claude Bernard schon benutzt hatte, dieselben Erfolge. Auch er sah hiernach in derselben Weise im Bauchraum der Versuchstiere ausgedehnte Fettnekrosen auftreten und nicht selten ausgedehnte Blutungen, also Erscheinungen, wie sie für die akute Pancreasnekrose charakteristisch sind. Er deutet aber seine Be- fande anders. Nach ihm ist der bei dieser Krankheit sich ab- spielende Vergiftungsprozess eine Intoxikation, die vom zerfallenden Panereas ausgeht uud im wesentlichen durch das Pancreasseeret bedingt wird. Diese Ansicht wurde dadurch erheblich gestützt, dass es Guleke und G. v. Bergmann gelang, die schädlichen Folgen der Pancreasnekrose im Experiment aufzuhalten, wenn die Tiere nach dem Vorgange von Achalme gegen Trypsin immunisiert wurden. Auch der von Guleke festgestellte Parallelismus zwischen der Schwere der experimentell gewonnenen Pancreas- erkrankung und dem Secretionszustand der Drüse im Moment der Schädigung konnte für diese Auffassung sprechen.

Doberauer bestreitet allerdings, dass das Secretionsprodukt des normalen Pancreas an dem bei der akuten Pancreatitis er- folgenden Tode am meisten beteiligt sei. Er hat im Gegenteil die Ansicht, dass nur das kranke Pancreas diese tödlich ver- giftende Substanz produziere, die ein spezifisches Zerfallsprodukt der Drüsenzellen sei; diese unterlägen dann infolge der Einwirkung des Bauchspeichels der Autodigestion. Er schliesst dies daraus, dass Emulsionen normalen Pancreasgewebes einem Tier in die Bauch- höble injiziert keinen Schaden zufügen, während die Organver- reibung eines durch Ligatur und Durchschneidung krank ge- machten Panereas nach intraabdomineller Injektion den schnellen Tod herbeiführt.

Demgegenüber konnte N. Guleke in einer neuen experimen- tellen Arbeit direkt den Nachweis erbringen, dass das durch An- legung einer inneren Fistel in die Bauchhöhle abfliessende Pancreas- seeret eine Vergiftung des Versuchstieres zur Folge hat, die unter Fettgewebsnekrosen und multiplen Blutaustritten im Bauchraum den Tod herbeiführt. Es genügt demnach nach Guleke für die tödliche Giftwirkung das Drüsensecret des gesunden Pancreas allein, ohne dass Zerfallsprodukte der Zellen dabei im Spiele zu sein brauchen. Das eigentlich giftige Agens ist aber, wie weitere, ge-

2

meinsam mit G. v. Bergmann ausgeführte Versuche ergaben, nicht

128 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

das Trypsin, ebensowenig das fettspaltende Ferment Steapsin, sondern das zerfallende Pancreasgewebe.

Die neueren physiologischer Forschungen haben die interessante Tatsache zutage gefördert, dass der Pancreassaft in der Drüse inaktiv ist und bis auf Spuren von aktivem fettspaltendem und diastatischem Ferment nur eine Vorstufe des Trypsins, das Trypsinogen, enthält. Dieses wird, wie Eppinger zeigte, erst durch Hinzutritt des die Enterokinase enthaltenden Duodenalsaftes zu Trypsin, also aktiviert. ;

Einige klinische Beobachtungen bewogen nun Seidel, auf dieser Tatsache fussend, zu der Annahme, dass der hehe Dünn- darmverschluss eine der Ursachen der Pancreatitis sei, die so zu erklären wäre, dass unter diesen Verhältnissen Darmsaft in das Pancreas eindringe und so den Pancreassaft in der Drüse aktiviere, so dass die Drüse selbst der schädlichen Einwirkung ihres Ver- dauungssecretes unterliege. Die Tierexperimente gaben Seidel recht: Wenn er nach Ausschaltung des Pylorus und Anlegung einer Gastroenterostomie das Duodenum zwischen der Gastro- enterostomose und Einmündung des Ductus pancreaticus abband, gingen die Versuchstiere unter den Erscheinungen der akuten Panecreatitis mit Blutaustritten im Bauch und Fettgewebsnekrose zugrunde.

Da das Eindringen von Duodenalinhalt in die Bauchspeichel- drüse unter normalen Verhältnissen unmöglich erscheint, und auch unter pathologischen Verhältnissen nicht häufig ist, so glaubt Pölya das ätiologische Moment der akuten Pancreaserkrankungen in den meisten Fällen in anderer Weise erklären zu müssen. Nach Delezenne sind auch die Bakterien imstande, den Pancreassaft zu aktivieren, Pölya injizierte nun stark bakterienhaltige Galle in das Pancreas und sah danach in ?/; der Fälle akute Pancreas- nekrose mit Blutungen und Fettgewebsnekrosen auftraten. Demnach wird nach Pölya die Pancreasnekrose durch eine Selbstverdauung der Drüse bewirkt, welche durch aktivierende Mikroorganismen eingeleitet wird.

Es genügt also zur Erzeugung der Pancreasfetinekrose auf Grund dieser experimentellen Ergebnisse Pölya’s, dass infektiöse Galle in den Panereasgang eindringt. Diese Bedingungen sind beim Menschen leicht gegeben; einmal ist es bekannt, dass die Galle, zumal bei Steinkranken, oft Bakterien enthält, und des weiteren hat nach Körte schon der berühmte Anatom Vater, wie die Beschreibung des Museum anatomicum in Helmstedt lehrt (1750), den Weg gezeigt, auf welchem unter gewissen Umständen Galle in den Pancereasgang eindringen kann. Wenn das nach dem alten Anatomen benannte Diverticulum Vateri eine Ampulle bildet, in deren Grunde der Bauchspeichelgang und Gallengang getrennt einmünden, so kann nach Verstopfung der Ampullenöffnung in den Darm die Galle durch die Vis a tergo rückläufig durch die Ampulle des Divertieulum Vateri in den Ductus Wirsungianus ge- trieben worden. Nach Umschnürung der Ampullenöffnung auf der Papille dringt eine vom Choledochus aus injizierte Injektions- masse in den Ductus pancreaticus ein (Vater’scher Versuch). (Fig. 1.)

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 129

Figur 1.

ESTER

=

Einmündung des Gallengangs und Bauchspeichelgangs in eine gemeinsame Ampulle (Diverticulum Vateri), Nach W. Körte, Chir. d. Gallenwege, 1905, S. 156.

Wenn also die Duodenalöffnung des Vater’schen Divertikels durch einen kleinen Stein verlegt ist, wie z. B. in der Beobachtung von Halsted, so besteht bei dem skizzierten anatomischen Ver- halten des Divertikels die Möglichkeit des Eindringens bakterien- haltiger Galle in den Bauchspeichelgang.

Damit sind für die menschliche Pathologie die Bedingungen der Versuchsanordnung von Pölya erfüllt; die Pathogenese der akuten Pancreatitis und Nekrose ist somit im wesentlichen er- klärt und zugleich der Gegensatz zwischen der mikroparasitären und Fermenttheorie, welche bei den Diskussionen über die Ent- stehung der akuten Pancreaserkrankungen sich solange gegen- überstanden, ausgeglichen.

Bei der im vorstehenden festgelegten Auffassung von der Pathogenese der Pancreasnekrose als einer durch die Aktivierung des Pancreassecretes bewirkten Autolyse, bei der die Zellgifte und fermentativen Säfte aus dem zerfallenden Organ austreten, in die Bauchhöhle sickern, hier Fettgewebsnekrosen und Hämorrhagien verursachen und schliesslich durch die Resorption vergiftend wirken, fällt also der Chirurgie die Aufgabe zu, das erkrankte Pancreas möglichst frühzeitig frei zu legen und durch allseitige Abtamponierung dafür zu sorgen, dass das Absickern der in dem Pancreas gebildeten Giftstoffe in die Bauchhöhle nicht stattfinden kann.

Nach diesem Gesichtspunkte sind folgende 5 Fälle von Pancreasnekrose in der Küttner’schen Klinik und Privatklinik behandelt.

1. Frau B. M., 65 Jahre, hatte vor 10 Jahren einen heftigen Schmerz- anfall, der als Cholelithiasis gedeutet wurde. Dann war sie wieder voll- ständig gesund. Am 3. VII. 1905 erkrankte die Frau plötzlich mit heftigen Schmerzen im Leib und Erbrechen. Der Bauch war ileusartig aufgetrieben, die Temperatur erhöht. Am 6. VII. gingen nach hohen Einläufen einige Flatus ab, die Schmerzen wurden geringer. Am 7. VII. 1905 bemerkte man eine Resistenz und stark geblähte Schlinge im linken Hypochondrium.

Da der Zustand sich nicht änderte und am 9. VII. 1905 die Temperatur, die in den letzten Tagen normal war, wieder auf 38,1 stieg, und sich das Allgemeinbefinden verschlimmerte, wurde in Aethernarkose die Operation (Prof. Küttner) gemacht. Linksseitiger Pararectalschnitt.

8 f . . < Schlesische Gosellsch. f. vaterl, Kultur. 1910. IT. I

150 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Sofort nach Eröffnung der Bauchhöhle erblickt man eine ausgedehnte Nekrose des Fettgewebes an verschiedenen Stellen. Das mesenteriale und omentale Fett war mit hanfkorngrossen Nekrosen besät. Exeision einer Nekrose im Netz zur mikroskopischen Untersuchung. Nach Er- öffnung des Netzbeutels fand sich in demselben kein Exsudat. Es folgte Tamponade und Drainage des Netzbeutels; ausserdem wurden 2 Tampons in die Umgebung des Pancreas eingelegt. Die Gallenblase war intakt. Da links eine Resistenz gefühlt war, so wurde ein Querschnitt nach links ausgeführt. Man fand aber nur stark ödematöses nekrotisches Fett am Mesocolon der Flexura lienalis. Schluss der Bauchhöhle bis auf die Tampon- und Drainöffnungen.

In den folgenden Tagen sehr schweres Krankheitsbild mit perma- mentem Erbrechen; dabei aber Flatus und Stuhl. Dauernde Schlaf- losigkeit.

7 Tage nach der Operation machte sich eine starke Secretion aus dem in den Netzbeutel eingelegten Drainrohr mit Abgang nekrotischer hämorrhagischer Massen bemerkbar. Darauf ausgebreitete Fettnekrose der Bauchdecken. Von der 3. Woche ab glatte Rekonyaleszenz.

Am 15. VIII. 1905 geheilt entlassen. Ein Jahr später stellte sich die Patientin völlig gesund und gekräftigt vor.

Die im pathologischen Institut in Marburg (Dr. Benenke) aus- geführte mikroskopische Untersuchung der excidierten Gewebsstückchen ergab, dass dieselben aus Fettgewebe bestanden, das fleckweise durch gelapptkernige Leukoeyten infiltriert war und an einer umschriebenen Stelle einen nekrotischen Herd aufwies, in dem jede Kernfärbung fehlte, und wo das noch als solches zu erkennende Fettgewebe in den Hämato- xylinpräparaten einen diffusen bläulichen Ton angenommen hatte.

Anatomische Diagnose: Fettgewebsnekrose mit starker entzündlicher Reaktion des umgebenden Fettgewebes.

2. Fräulein M. F., 56 Jahre, aufgenommen 30. IV. 1908, entlassen 6.V. 1908. Seit 3 Wochen heftige Leibschmerzen in der rechten Bauch- seite, die sich anfallsweise wiederholten. Erst vor einigen Tagen kon- sultierte die Patientin einen Arzt, der sie der Klinik überwies.

Bei der sehr fetten Frau fühlte man in der rechten Bauchseite einen Tumor von Kindskopfgrösse, der gedämpften Schall hatte. Bei der Atmung stieg der Tumor nicht auf und ab. Bei der Aufblähung vom Mastdarm aus trat der Tumor und mit ihm die perkutorische Dämpfung mehr hervor. Im Urin und Stuhlgang keine abnormen Bestandteile, ins- besondere in letzterem kein Blut.

3. IV. 1908. Laparotomie (Prof. Küttner). Nach Eröffnung der Bauchhöhle stellte sich ein Konglomerat verbackener Darnıschlingen ein. Beim Versuch, dasselbe zu lösen, quoll eine aus vielen Fetttröpfehen bestehende, deshalb wie Eiter aussehende Flüssigkeit hervor. Ein Tumor fand sich nirgends, nur die vielfache Verlötung der Darmschlingen unter- einander, die zu einem Konglomerat geführt hatte, in welchem zahlreiche Fettgewebsnekrosen sichtbar waren. Auch entfernt von dieser Stelle sah man einzelne herdförmige Fettgewebsnekrosen. Drainage, Tamponade, Ver- kleinerung der Wunde bis auf die Drainöffoungen.

5. IV. 1908. Reichlicher Stuhlgang.

Heilung ohne Störung. Entlassen.

3. Frau M.B., 61 Jahre alt. Aufgenommen 14. XII. 1908, entlassen 19. III. 1909.

Die Pat. leidet seit 2 Jahren in grösseren Zwischenräumen an kolik- artigen Schmerzen im Bauch, die meist die rechte Seite betrafen. Seit 3 Tagen Wind- und Stuhlverhaltung.

Die Pat. machte bei der Aufnahme einen schwer leidenden Eindruck,

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 131

Gesicht blass, Puls 120, Zunge blass. Der Bauch war stark aufgetrieben und druckempfindlich, besonders in der Gallenblasengegend.

Unter der Diagnose Perforationsperitonitis, von den Gallenwegen aus- gehend, wurde am 14. XII. 1908 operiert (Prof. Küttner). Nach Er- öffnung des Leibes in der Mittellinie sah man zwischen den stark ge- blähten Darmschlingen grünlich gelbes Exsudat. Da die Gallenblase als Ausgangspunkt der Erkrankung geuommen wurde, wurde mit einem Querschnitt nach rechts die Lebergegend freigelegt. Auch hier fand man dieselben grünlichen Flüssigkeitsmengen zwischen den verklebten Därmen und ausserdem Fettgewebsnekrosen. Die kleine, stark geschrumpfte Gallenblase lag fest zwischen Adhäsionen eingebettet und wurde bei der Lösung aus denselben eröffnet. Es fanden sich in derselben zwei Steine, die herausgenommen wurden. Dann wurde ein Drainrohr in die- selbe eingenäht (Cholecystostomie). Nachdem das grünliche, teils eitrige, Exsudat, das alle Darmschlingen der Bauchhöhle umgab, ausgetupft war, wurde die Bauchhöhle drainiert, tamponiert und dann geschlossen.

Der Ausgangspunkt der Peritonitis wurde also nicht gefunden, da sich eine Perforation an den Gallenwegen nicht finden liess. Die Pro- guose stellte man in Anbetracht des Operationsbefundes und des schlechten Allgemeinzustandes sehr schlecht. Wider Erwarten hielt sich die Pat. und erholte sich vom 3. Tage nach der Operation ab ziemlich gut. Aus den Drains machte sich eine starke Seeretion bemerkbar. Am 2. I. 1909 wurde das Gallenblasendrain fortgelassen.

Am 22. I. 1909 Zeichen einer Gehirnembolie mit Lähmung des linken N. facialis, Collaps und Delirien, die am 29. I. wieder verschwanden. An den Bauchdecken bemerkte man jetzt eine starke Nekrose des Fett- gewebes, so dass das subeutane Fett tiefe Löcher bekam im Bereiche der Bauchwunde. Diese Fettgewebsnekrose nahm noch bis zum 4. Il. 1909 zu, so dass auch die Haut noch teilweise nekrotisch wurde. Dann besserte sich allmählich der Zustand, so dass am 12. III. die Wunde vollständig vernarbt war und die Pat. am 19. III. 1909 geheilt entlassen werden konnte.

4. W.v.G., 33 Jahre alt. Aufgenommen 8. VII. 1909, gestorben 7. IX. 1909. h

Der Pat. litt seit Jahren an Appetitlosigkeit und Schmerzen, die er auf den Magen bezog. 4 Tage vor der Aufnahme erneute heftige Magen- schmerzen mit Uebelkeit und Erbrechen. Die Schmerzen nahmen in den nächsten Tagen zu, der Leib schwoll an, Winde und Stuhl sistierten.

Bei der Aufnahme machte der stark abgemagerte Pat. einen sehr kranken Eindruck. Der Leib war ausserordentlich stark aufgetrieben, prall gespannt, ohne besondere Resistenz oder Druckempfindlichkeit.

Bei der Operation (Prof. Küttner) am S. VII. 1909 quoll sofort nach Eröffnung des Peritoneums aus einem zwischen Magen und Zwerch- fell gelegenen Cavum 1—1'/, Liter Eiter hervor. Nach unten war diese Eiterhöle durch den Magen und das Colon transversum abgeschlossen. die Darmschlingen waren mit zablreichen fibrinösen Auflagerungen belegt. Die Abscesshöhle wurde nach gründlichem Austupfen drainiert und tam- poniert. In das stark geblähte Colon transyersum wurde ein Drain ein- genäht (Colostomie), die Bauchwunde zum grössten Teil geschlossen.

Der Pat. erholte sich zunächst nach dem Eingriff gut; aus dem Darmrohr und aus dem Rectum ging Stuhl ab, da setzte am 11. Tage nach der Operation eine lobäre Pneumonie ein. In dem durch die Drains aus der Abscesshöhle entleerten Eiter wurden Speisereste gefunden, es lag also eine Magenperforation vor. 5 Tage nach dem Einsetzen der Pneumonie komplizierte eine linksseitige Parotitis, die zu Abscedierung und Ineision führte, das Krankheitsbild.

Am 30. VII. 1909 wurde beim Verbandwechsel festgestellt, dass das

9%

132 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Wundsecret die Wundränder stark arrodierte. Die Untersuchung ergab nun, dass dies bedingt war durch Panereassaft, der aus der Wunde ent- leert wurde. Zu gleicher Zeit fiel die Cammidgeprobe positiv aus. Der sich entleerende Pancreassaft wurde in der Folgezeit immer reichlicher, so dass die Wundränder immer stärker arrodiert wurden. Urin ohne Zucker. Seit einigen Wochen starke Durchfälle. Durch diese und durch den aus der Wunde täglich fast bis zu 2 Litern erfolgenden Säfteverlust aus dem Pancreas trat eine vollständige Abzehrung und Mumifikation des Körpers auf. Die Wohlgemuth’sche Diät hatte darauf gar keinen Einfluss. In den letzten Tagen waren die Temperaturen subnormal (35,5), dann starb der Patient am 7. IX. 1909, ausgetrocknet, wie eine Mumie.

Bei der Section zeigte sich, dass die Abscesshöhle von der hinteren Magenwand begrenzt war. In dieser befand sich nahe am Pylorus eine fünfpfennigstückgrosse, leicht verklebte Perforationsöffnung mit callösen Rändern, ein Uleus callosum ventrieuli. In einer zweiten, etwas kleineren Abscesshöhle lag das ganz nekrotische, zerfallene Pancreas, dessen Kopf vollständig fehlte. Die nekrotischen Fetzen desselben liessen nur noch an einigen Stellen die Pancreasstruktur erkennen.

5. P. K., 58 Jahre alt. Aufgenommen 9. X. 1909, entlassen 16. XI. 1909.

Der Pat. war früher nie ernstlich krank. Anfang Juni 1909 bekam er plötzlich unter Erbrechen krampfartige Schmerzen im Leib. Er war 5 Wochen krank und nahm dann die Arbeit wieder auf. Ende September stellten sich dieselben Erscheinungen wieder ein, aber diesmal heftiger.

Am 10. X. 1909 wurde Pat. der medizinischen Klinik überwiesen, die ihn gleich (Privatdozent Dr. Bittorf) in die chirurgische Klinik verlegte.

Es handelte sich um einen äusserst elenden, moribund aussehenden Mann, mit kurzem, stossweisem, oberflächliichem Atem. Er konnte nur einige Worte mühsam hervorbringen. Häufiger Singultus, kleiner Puls von 100, Temperatur 37°.

Der Leib war in seiner oberen Hälfte bis in Nabelhöhe stark auf- getrieben; diese Auftreibung, die den Rippenbogen stark auseinander- drängte und das Zwerchfell hochdrückte, schloss in Nabelhöhe horizontal ab (Figur 2). Sie verlief also von einem Rippenbogen quer zum anderen. Im Bereich derselben gewahrte man hohe Tympanie. Der Traube’sche Raum reichte sehr hoch. Peristaltik oder Steifungen waren nicht zu sehen. Leberdämpfung verkleinert. Colon ascendens und descendens mässig gebläht.

Aus dem Magen wurde mit der Sonde nach Würgen nur wenig galliger Dünndarminhalt herausbefördert.

Röntgenbefund (Privatdozent Dr. Bittorf): Beide Zwerchfell- kuppeln standen hoch, besonders aber die linke. Auf dieser Seite sab man eine etwa kindskopfgrosse Luftansammlung, die die linke Zwerchfell- kuppel hoch empordrängte und sich nach rechts, etwas schmäler werdend, quer durch den ganzen oberen Bauchraum bis in die rechte Seite er- streckte. Dieser quere Luftraum wurde in Nabelhöhe begrenzt durch eine scharfe Linie, die bei Bewegungen des Patienten deutliche Wellen- bewegung zeigte, aber spontan keine peristaltischen Bewegungen er- kennen liess. Mit dem Magen konnte diese grosse, unten durch einen horizontalen Flüssigkeitsspiegel begrenzte Luftblase nicht zusammen- hängen, da die eingeführte Röntgensonde an ihr vorbeizugleiten schien und hinter ihr verschwand, ohne damit in Zusammenhang zu treten (Figur 3).

Als Sitz der starken, queren, durch Gas bedingten Vortreibung des Bauches im oberen Teil nahm man daher das Colon transversum an.

So lautete die klinische Diagnose: Stenosis flexurae lienalis careino- matosa. Dilatatio et atonia permagna coli transversi. (Dr. Bittorf.)

9. X. 1909. Laparotomie (Dr. Coenen): 10cm langer Schnitt

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 133

Figur 2.

5. Fall. Lokaler Meteorismus des oberen Bauches infolge von Pancreas nekrose mit grossem Gasabscess.

Figur 3.

Röntgenbefund im 5. Falle bei der Durchleuchtung. Grosser querer Luft- raum im Abdomen, die linke Zwerchfellkuppel empordrängend, unten durch einen Flüssigkeitsspiegel begrenzt.

134 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

in der Höhe des Nabels. Nach Eröffnung des Peritoneums wölbt sich der äusserst stark geblähte Magen vor, der die Uebersicht hindert. Alle Venen des Bauches, besonders die Netzvenen, sind äusserst stark gestaut und stark erweitert und geschlängelt; zum Teil sind sie finger- dick und bluten bei der geringsten Berührung leicht. Man muss des- halb annehmen, dass ein starker Druck auf die untere Hohlvene den Rückfluss des venösen Blutes aus dem Bauchraum verhindert. Im Netz sieht man eine handtellergrosse Stelle, die mit herdförmigen, linsen- grossen Fettnekrosen besät ist. Um mehr Uebersicht zu gewinnen, wird der Schnitt nach oben bis zum Schwertfortsatz verlängert. Einige Ver- wachsungen zwischen Leber und Magen werden leicht gelöst. Beim vorsichtigen Abheben der am stark sich vorwölbenden Magen leicht adhärenten Leber und beim weiteren Vordringen gegen das Winlow’sche Loch entströmt stinkendes Gas einer kleinen Oeffnung in den Verklebungen zwischen Leber und Magen. Das Gas strömt mehrere Minuten unter Zischen aus, dann kommen mit einem Male grosse Massen eitrig- gangränöser Massen von jauchiger Beschaffenheit hervor, die unter hohem Druck stehen und sich schnell aus der Oefinung entleeren, der anfangs das Gas entströmt war. Dieser schnell sich entleerende jauchige Eiter (nach der Schätzung ca. 1!/, 1) wird mit möglichster Schnelligkeit auf- getupft, so dass die Bauchhöhle nicht damit überschwemmt wird. Nach dem Austupfen des Eiters kommt man nun in eine hinter dem nach vorn verlagerten Magen gelegene Abscesshöhle, die offenbar dem Pancreas angehört, das zum grössten Teil der Nekrose anheimgefallen ist. In diese Höhle wird ein mit Vioformgazestreifen abtamponiertes Steigrohr eingelegt, darauf folgt Schluss der Bauchhöhle bis auf die Drainöffnung.

Der stark heruntergekommene Patient erholte sich nach dem Eingriff auffallend gut. Das Drain secernierte sehr viel Eiter.

Nach 3 Wochen wurde das Wundseeret ganz klar, wie Speichel, und zeigte auf der Löfflerplatte starke tryptische Fermentwirkung, es war also Pancreassecret. Im Darminhalt fehlte dieses Secret.

6 Wochen nach der Operation schloss sich die Pancreasfistel, und jetzt fiel die E. Müller’sche Panereasfunktionsprobe mit dem Darminhalt positiv aus. Der Patient wurde geheilt entlassen.}

Diese 5 Fälle haben, abgesehen davon, dass sie Zeugnis ab- legen für den Erfolg einer frühzeitigen chirurgischen Therapie, manches Bemerkenswerte an sich, das im folgenden näher be- leuchtet werden soll.

Der 1. Fall zunächst zeigt, dass es zweckmässig ist, bei der Ausführung der von Bunge geforderten Abtamponierung des er- krankten Pancereas grundsätzlich den Netzbeutel zu tamponieren und zu drainieren. Obwohl dieser nämlich zur Zeit der Operation bei der Patientin noch frei war, secernierte das eingelegte Drain vom 7. Tage ab doch sehr reichlich, ein Zeichen, dass sich nach- träglich nekrotisches Pancreasgewebe in die Bursa omentalis ab- stiess, das ohne Ableitung nach aussen leicht der Ausgangspunkt der allgemeinen peritonitischen Infektion und Intoxikation hätte werden können.

In Fall 2 ist der in der linken oberen Bauchgegend bemerkte kindskopfgrosse Tumor hervorzuheben, der aus einem Konglomerat verwachsener Darmschlingen bestand. Während die in den meisten Fällen von Pancreasnekrose zu konstatierende epigastrische Resistenz durch eine reflektorische Spannung der Bauchmuskeln an dieser Stelle entsteht und den hier lokalisierten Entzündungs-

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prozess verrät, handelt es sich in diesem Falle um einen richtigen entzündlichen Verwachsungstumor, der durch die Bauchdecken zu fühlen und die Folge einer lokalen adhäsiven Peritonitis war. Etwas Aehnliches sah Morian, dessen an akuter hämorrhagischer Pancreatitis leidende Patientin einen faustgrossen Tumor rechts vom Nabel hatte, der sich nach der Oefinung des Leibes eben- falls als ein Konvolut von verklebten Darmschlingen und vom Netz erwies, das mit reichlichen Fettgewebsnekrosen besät war. Auch Tietze erhob einen ähnlichen Befund bei einer subakut verlaufenden Pancreasnekrose, in deren Verlauf ein Konglomerat verwachsener Dünndarmschlingen einen Tumor vortäuschte, der Stenosenerscheinungen verursachte, so dass eine Darmanastomose indiciert war.

Der 3. Fall hat einen typischen Verlauf, da er unter der Maske der Perforationsperitonitis erschien, die so oft im Verein mit dem Bilde des paralytischen lleus mit der Pancreatitis acuta diagnostisch in Konkurrenz tritt, wie die Aufzeichnungen in den veröffentlichten Fällen der Literatur lehren. Da in unserem 3. Falle sich im Bauchraum auch ein grünliches Exsudat ange- sammelt hatte, so war die gestellte Diagnose „Peritonitis“ ge- rechtfertigt, aber die Ausgangsstelle blieb unklar, bis in der Rekonvaleszenz die starke fettverdauende Wirkung des Bauch- höhlenexsudats an dem subcutanen Bauchdeckenfett in die Augen sprang und damit das Pancreas als Ausgangspunkt der peritonealen Affektion verifiziert war. Wider Erwarten erholte sich die Pa- tientin nach der Operation schnell, ähnlich, wie der erste von Hahn durch die Laparotomie geheilte Patient mit akuter Pancreas- nekrose (1900), bei dem, wie hier, die Ablassung des peritoni- tischen Exsudats allein genügte, um die Heilung einzuleiten. In den meisten Fällen reicht allerdings diese wenig eingreifende Hahn’sche Operation bei der akuten Pancreasnekrose nicht aus, so dass man sich auf die Empfehlungen Bunge’s und Mieulicz’s u.a. hin neuerdings nicht mehr damit begnügt, das Bauchhöhlen- exsudat abzulassen, sondern die Abtamponierung der erkrankten Bauchspeicheldrüse mit eventueller Incision derselben erstrebt.

Fall 4, bei dem die Nekrose des Pancreas, wie in einem Experiment, die unmittelbare Folge eines perforierten Magen- geschwürs war, ist von Fritsch (Bruns’ Beiträge, Bd. 66) ein- gehend besprochen worden, so dass hier ein Hinweis darauf ge- nügt. Hervorgehoben mag noch werden die starke Secretion der Pancreasfistel, die in diesem Falle täglich I—1!/, I, in einem von Bardenheuer operierten Falle ca. 200 cem und in einem von W. Schmidt beobachteten anfangs 1100, später 200 cem täglich betrug. Wegen dieser reichlichen Flüssigkeitsausscheidung und der dadurch bewirkten Austrocknung des Organismus sind daher diese Fisteln gefährlich; allerdings schliessen die meisten sich bald nach Einleitung der von J. Wohlgemuth für diese Folgezustände empfohlenen Diabetesdiät.

Im 5. Fall, der eine exquisite gangränöse Pancreatitis dar- stellt, springt der grosse Gasabscess besonders in die Augen. Der grosse Luftraum, der quer durch das Abdomen ging, war im

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Röntgenschirm deutlich zu sehen, hatte die beiden Zwerchfell- kuppeln, besonders die linke, hoch emporgedrängt und war unten durch einen in Wellenbewegung zu versetzenden Flüssigkeits- spiegel begrenzt. (Dr. Bittorf.) Die klinische Diagnose: Dila- tation und Atonie des Querdarms infolge careinomatöser Striktur an der Flexura lienalis musste sich durch den operativen Be- fund ändern, als der hinter dem Magen gelegene, im Bereich des Pancreas befindliche grosse Gasabscess und die Fettgewebsnekrosen zum Vorschein kamen. Interessant ist die ausserordentliche Tension des Gases, die so heftig war, dass die Oava stark kom- primiert wurde und so die Venen des Bauchraums, besonders des Netzes, zu fingerdicken, korkzieherartig gewundenen Strängen an- gestaut waren, die bei der geringsten Berührung leicht bluteten.

Dass in der oberen Bauchgegend bei Pancreasschwellung oft ein quergestellter Tumor zu palpieren ist, ist bekannt. Seidel machte auch darauf aufmerksam, dass manchmal der Magen zwischen der palpablen Vergrösserung des Pancreaskopfes und -schwanzes eine kissenförmige tympanitische Verbindung herstellt. Solch .exzessive quere Vortreibung der oberen Bauchgegend aber, die quer von einem zum anderen Rippenbogen zieht und zunächst den Gedanken an ein stark atonisches und dilatiertes Quercolon aufkommen lassen musste, ist selten und wird in Zukunft auf das Pancreas als Ausgangspunkt der starken Vorbuchtung im oberen Bauchabschnitt hinweisen müssen.

Die pancreatitischen Abscesse können eine enorme Grösse er- reichen; unsere Abscesshöhle enthielt ausser dem Gas ca. 1!/, bis 2 Liter gangränöser Massen, eine von Fasano sogar 4 Liter. Es ist auch beobachtet, dass solch grosse Pancreasabscesse sich senken können bis in eine oder beide Lumbalgegenden, wie bei Rotter, J. Israel, Brentano, V. Schneider.

Von. unseren fünf Fällen akuter Pancreatitis starb nur ein Patient. Robson berechnet die Mortalität der akuten Pancrea- titis mit 61 p©t., die der subakuten abscendierenden mit 36 pCt., während Villar für die hämorrhagische Pancreatitis 78 pCt., für die eitrige 38 pCt., für die Pancreasnekrose 49 pCt. Mortalität angibt.

Die Prognose der akuten Pancreatitis betreffend, ist es sicher, dass die leichten Fälle heilen können; dies folgt einmal daraus, dass die Patienten oft schon ähnliche leichtere Attacken überstanden haben, andererseits ist dies auch durch Tietze, Dreesmann u. a. direkt durch die klinische Beobachtung er- wiesen. Wir sind aber auf Grund der klinischen Daten bisher nicht imstande, die schweren Fälle von den leichten zu unter- scheiden und die akute Pancreatitis mit einiger Sicherheit in ein chronisches Stadium oder in das des Abscesses überzuführen. Aus diesem Grunde müssen wir, genau wie bei der Appendiceitis, dem Patienten die Öhancen der Frühoperation geben, denn nur diese istimstande, die gefährlichen Folgen der akuten Pancreatitis, die Eiterung und die Nekrose und Fermentintoxikation abzuwenden.

Allerdings haben wir praktisch hier mit einer Schwierigkeit zu kämpfen, die bei der Appendicitis fehlt: mit der frühzeitigen

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Diagnosenstellung. Die Symptome der akuten Pancreatitis haben an sich nicht viel Charakteristisches. Meist tritt die Erkrankung, wie erwähnt, unter dem Bilde des dynamischen Ileus oder der Perforationsperitonitis auf, unterscheidet sich aber doch bei ge- nauerer Betrachtung in manchen Punkten davon, so dass man hoffen darf, dass der Symptomenkomplex dieser Krankheit in Zu- kunft sich immer mehr aus den ileusartigen Krankheitsbildern wird herausschälen lassen und so eine frühzeitige Indications- stellung ermöglicht wird.

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RYV.

Bemerkungen zur Behandlung und Diagnose der progressiven Paralyse.

K. Bonhoeffer.

M.H.! Es ist ein spezieller Grund, der mich veranlasst, einige Bemerkungen zur progressiven Paralyse zu machen. Mit der Freigabe des Ehrlich’schen Mittels 606 wird vermutlich eine Episode einsetzen, in der die progressive Paralyse. in weitem Umfang als syphilitische Erkrankung mit dem neuen Mittel be- handelt werden wird und zwar naturgemäss nicht lediglich von psychiatrisch und neurologisch geschulten Fachleuten. Das wird zur Folge haben, dass manches, wie wir es schon jetzt nicht selten an den uns zugeführten Patienten sehen, als Paralyse und auch Paralyseheilung beurteilt werden wird, was der Kritik nicht standhält. So gewiss es nun bei einer bis dahin als verloren geltenden Sache förderlich sein kann, wenn mit neuem Optimismus an sie herangegangen wird, so ist doch nicht zu verkennen, dass durch Scheinheilungen, die auf Fehldiagnosen oder auf Unkenntnis oder optimistischer Beurteilung einfacher Verlaufs- eigentümlichkeiten der Erkrankung beruhen, die Therapie auf eine falsche Bahn geführt und der wirkliche Fortschritt retardiert werden kann. Dadurch, dass Ehrlich selbst die Indication seines Mittels für die Paralyse auf die ganz im Beginn befind- lichen Fälle beschränkt hat, ist die Situation für den Praktiker erschwert worden. Denn es ist für ihn im Einzelfall gar nicht immer leicht zu sagen, was eine beginnende Paralyse ist, und gerade im Beginn sind die Fehldiagnosen naturgemäss am häufigsten und die Beurteilung der Heilerfolge am schwierigsten. Das mag mir die Berechtigung geben, einige Punkte aus Aetiologie, Diagnose und Verlauf der progressiven Paralyse zu besprechen, die bei den speziellen- Fachgenossen nicht den Anspruch auf Neuheit machen.

M. H.! Der Optimismus, der auch für die Paralyse von dem Ehrlich’schen Mittel vieles hofft, würde nicht so gross sein, wenn wir zurzeit nicht ausserdem unter dem Eindruck der Wassermann’schen Reaktion ständen.

140 Jahresbericht der Scehles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Obwohl in der Psychiatrie schon vor dieser Reaktion kaum jemand mehr an dem ätiologischen Zusammenhang zwischen Syphilis und Paralyse gezweifelt hat, so bedeutet es doch eine wesentliche Veränderung unserer Auffassung, wenn es richtig ist, bewiesen ist es bis jetzt nicht dass wir in der Wassermann’schen Reaktion den Nachweis zu erblicken haben, dass Derivate des lebenden Syphiliserregers in Blut bzw. Üerebrospinalflüssigkeit vorhanden sind. Es würde dies auf eine aktivere Tätigkeit des Syphiliserregers beim para- lytischen Prozess hinweisen, als wir sie bisher wohl bei der Paralyse angenommen hatten; es ist selbstverständlich, dass durch solche Vorstellungen die Hoffnungen auf die Wirksamkeit spezifisch antiluetischer Mittel von neuem belebt wurden, und was von Quecksilber und Jod vergeblich erwartet worden ist, hofft man nun von dem neuen Mittel.

Diesen Hoffnungen hat man, soweit sie die Paralysebehandlung selbst betreffen von psychiatrischer Seite mit wenigen Ausnahmen verhältnismässig skeptisch gegenüber gestanden. Die Gründe liegen nicht nur in den bis jetzt bekannt gewordenen Misserfolgen des Mittels bei Paralyse dazu sind die Erfahrungen wohl noch zu wenig abgeschlossen, sie liegen aber auch nicht in einem allgemeinen therapeutischen Pessimismus, der unserem Fach gerne besonders zugeschrieben wird, oder an der Unfähigkeit, sich von dem Unheilbarkeitsgedanken der Paralyse loszulösen. Im Gegenteil hat gerade die Paralysebehandlung von anderen Gesichtspunkten aus in den letzten Jahren eine erhebliche Belebung erfahren. Ich erinnere Sie an die Tuberkulin-, die Nucleinsäureinpjektionen zur Herstellung künstlicher Temperaturerböhungen und Leukocytosen. Wir sind trotz der bisherigen Erfolglosigkeit in der Paralysebe- handlung keineswegs mehr absolute Pessimisten. Der Grund hierfür liegt schon vor der Wassermann’schen Entdeckung neben gewissen klinischen Erfahrungen vor allem an unseren anatomischen Fortschritten. Der anatomische Befund, der mit seinen dichten Lymphozyten- und Plasmazellinfiltraten der Gefässwände durchaus den Charakter eines toxisch-infektiösen Prozesses trägt, lässt die therapeutische Beeinflussbarkeit sehr viel wahrscheinlicher er- scheinen, als zur Zeit, wo die Paralyse lediglich als ein endogener Degenerationsprozess der nervösen Substanz betrachtet wurde. Es sind sachliche in dem klinischen Wesen der Paralyse gelegene Gründe, die uns nötigen trotz der Wassermann’schen Reaktion der alten Unterschiede uns bewusst zu bleiben, welche die Paralyse von den eigentlich luischen Prozessen abzutrennen nötigen.

An diese Gründe Sie ganz kurz zu erinnern möge mir ge- stattet sein.

Ein wichtiger Grund liegt, wie Sie wissen, darin, dass die Inkubationszeit der progressiven Paralyse im Durchschnitt er- heblich länger ist, als die der tertiären Luesformen. Ich wüsste nicht, wie man diese unbestreitbare Erfahrung anders deuten könnte, als dass, ganz allgemein gesagt, hier besondere Vorgänge, die eine längere Vorbereitung brauchen, sich abspielen müssen, Vorgänge die wohl gewiss im Zusammenhang mit der Lues stehen,

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aber in anderer Weise als die Tertiärformen. Ob es sich dabei um Veränderungen der Reaktion des Organismus gegen die Spirochäten, oder um Wandlungsprozesse der Spirochäten selbst, oder um etwas ganz anderes handelt, kann dahingestellt bleiben.

Der zweite Punkt, der uns die Sonderstellung immer wieder vor Augen führt, ist das völlig vefraktäre Verhalten der Paralyse gegen Quecksilber und Jod. Daran ist trotz gelegentlicher Gegen- äusserungen, wo es sich um Erfolge bei Mischzuständen von Lues oder um Spontanremissionen gehandelt haben mag, festzuhalten, wenn man an die tausend und abertausend erfolglos geschmierten und gespritzten Paralytiker denkt. Wenn darauf hingewiesen wird, dass die Paralyse nicht früh genug zur Behandlung kommt, so steht dem die Erfahrung gegenüber, und jeder hat solche Er- fahrungen, dass Leute, die seit der Infektion in regelmässigen Zwischenräumen sich antiluischen Behandlungen unterzogen haben, schliesslich doch fast während der Behandlung an Paralyse er- krankten. Es ist auch nicht zutreffend, wenn gesagt wird, bei ausgesprochener Paralyse sei ein Erfolg schon deshalb aus- zuschliessen, weil man nicht erwarten könne, die ausgefallenen nervösen Zell- und Faserkomplexe in der Rinde zu ersetzen. Ab- gesehen davon, dass sich ein Erfolg auch durch einen Stillstand des Prozesses zeigen müsste, liegt dieser Anschauung eine unrichtige Auffassung des paralytischen Prozesses zugrunde, wie die Spontanremissionen zeigen. Wir sehen Remissionen bei Paralyse eintreten in Spätstadien der Erkrankung, nachdem schon ein ganz ausserordentlich weitgehender körperlicher und geistiger Verfall eingetreten ist. Es ist mir in dieser Hinsicht ein Kranker un- vergesslich, der nach einer Phase paralytisch erregten Grössen- wahns allmählich in die charakteristische Demenz mit blödsinnigen Grössenideen verfallen war. Intelligenz, Gedächtnis und Merk- fähigkeit waren aufs äusserste reduziert, hochgradige Sprach- störung, grobes Ungeschick aller Bewegungen, enormer Rückgang des Körpergewichts und der Gesamternährung, kurz der ganze Komplex eines spätparalytischen Zustands lag vor. Der Kranke bekam ohne ersichtlichen Anstoss eine Remission, die sogar er- laubte, dass die Entmündigung aufgehoben wurde. Der Kranke blieb einige Zeit geschäftsfähig und erlag erst dann einem späteren Rückfall seiner Paralyse. Dieser Kranke hatte gewiss auch in seiner Remissionszeit Faser- und Zellausfälle in seiner Rinde. Aber es ist gewiss auch in den späteren Stadien vieles noch reparabel, und man kann schliesslich auch nicht wissen, wie viel von Hirmsubstanz für eine durchsehnittliche soziale Lebensführung entbehrlich ist.

Gerade die Remissionen in Fällen ausgesprochener und fort- geschrittener Paralyse anschliessend an fieberhafte Prozesse haben Ja zu den neuen therapeutischen Versuchen mit Tuberkulin, nuclein- saurem Natron u. a. Veranlassung gegeben, und sie sind es, die uns immer wieder zeigen, dass man den Mut nicht verlieren darf. Jedenfalls ist das Vorkommen solcher Spontanremissionen aber ein Beweis dafür, dass die Unbeeinflussbarkeit des paraly- tischen Prozesses im Höhestadium durch das (Juecksilber an der

142 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Wirkungslosigkeit des Mittels und nicht an dem sgliösen Schrumpfungsprozess der Rinde gelegen ist. Das wird man sich auch dem neuen Mittel gegenüber vor Augen zu halten haben.

Ein weiterer Punkt, der uns auf die Stellung der Paralyse ausserhalb der luischen Prozesse im engeren Sinne hinweist, ist der anatomische Befund, von dem wir wissen, dass er von den verschiedenen zentralen Luesformen in charakteristischer Weise abweicht.

Der Tatsache, dass bis jetzt bei Paralyse niemals Spiro- chäten gefunden worden sind, kann eine entscheidende Be- deutung nicht zukommen, weil diese auch bei manchen eigent- lich luischen Prozessen bis jetzt fehlen.

Aber eine andere geographische oder vielleicht, wenn man will, soziologische Eigentümlichkeit der Paralyse bedarf noch der Erwähnung. Es scheint hier zu der infektiösen Aetiologie ein an- scheinend endogenes Moment hinzuzutreten, das der Lues selbst fremd ist, und das gerade in den letzten Jahren unter Kräpelin’s Einfluss eingehender studiert worden ist. Es sollen nämlich die ver- gleichenden Paralyseforschungen in verschiedenen Ländern ergeben, dass die Verbreitung von Paralyse keineswegs überall der Verbreitung der Lues in dem bei uns üblıchen Prozentverhältnis parallel geht. Als solche Länder, in denen die Paralyse bei den Eingeborenen nicht vorkommen oder doch im Verhältnis zu der Häufigkeit der Syphilis äusserst selten sein soll, gelten Bosnien, Algier, Britisch-Östafrika, Kamerun, Jaya, Island u. a. Man kann die Erfahrungen wohl dahin zusammenfassen, dass die Völker, welche als die derzeitigen Kulturträger mit ihren Schäden und Vorzügen zu gelten haben, also vor allem die Völker des europäischen Kulturkreises auch die Träger der Paralyse sind. Die Völker einfacherer Kultur haben zwar die Lues in allen ihren Formen bekommen, aber nicht die Paralyse. Ich sehe ab von den zahlreichen Versuchen, dieses Verhalten zu erklären. Es ist mir in diesem Zusammenhang nur wichtig hervorzuheben, dass wir es hier wiederum mit einem ätiologischen Moment besonderer Art zu tun haben, das die Sonderstellung der Paralyse kennzeichnet.

Wenn wir zu diesen Eigenheiten der Paralyse noch hinzu- nehmen, dass auch die klinische Erscheinungsweise des para- lytischen Prozesses nach Symptomatologie und Verlauf sich von den hirnluischen in der grossen Ueberzahl der Fälle in charakte- ristischer Weise unterscheidet, so sind damit die hauptsächlichsten Differenzpunkte und damit auch die Gründe benannt, die uns gegenüber der Hoffnung, die Paralyse mit den luetischen Hirn- prozessen in therapeutischer Beziehung gleichstellen zu können von vornherein nicht optimistisch stimmen. Dadurch wird aber an dem engen und unbedingten ätiologischen Zusammenhang zwischen Lues und Paralyse in keiner Weise gerührt.

Was wir nach unserer bisherigen Auffassung der Paralyse hoffen, ist eher das, dass die Paralyse nicht mehr in der jetzigen Häufigkeit zur Entwicklung kommen wird, wenn es mit dem neuen Mittel gelingt, die Lues frühzeitig zu heilen. Doch werden

darüber entsprechend der Inkubationszeit der Paralyse Erfahrungen erst in 10 bis 15 Jahren sich sammeln lassen. Was jetzt schon zur Förderung dieser Frage geschehen kann, sind sorgfältige Paralytikerzählungen. Insbesondere werden die katamnestischen Feststellungen der Hautärzte von Wichtigkeit sein, die den Pro- zentsatz der zu Paralytikern gewordenen Luiker aus den letzten Dezennien ihrer Behandlung feststellen.

Diese Bemerkungen zu der Sonderstellung der Paralyse unter den luischen Erkrankungen glaubte ich machen zu sollen, weil sie auch durch die neuen Fortschritte nichts an Bedeutung verloren haben.

Nun zur Diagnose der progressiven Paralyse einige Worte. Ich möchte nicht auf Einzelheiten eingehen. Doch glaube ich hervorheben zu sollen, dass die Diagnose der progressiven Para- lyse, so einfach sie in den klassischen Fällen ist, erhebliche Schwierigkeiten bieten kann, und zwar vor allem in den im letzten Jahrzehnt häufiger werdenden Fällen der einfach dementen Form der Paralyse, die den Praktiker vor allem interessiert, weil diese Kranken häufig überhaupt nicht anstaltsbedürftig werden. Hier sind Fehldiagnosen fast nach allen Seiten der Hirnpathologie möglich und geschehen auch. Es ist deshalb begreiflich, dass jede Bereiche- rung der objektiven diagnostischen Hilfsmittel mit grosser Energie aufgegriffen wird, und hier scheint es mir bei der augenblicklichen Stimmung geboten vor einer diagnostischen Ueberschätzung ein- zelner Symptome zu warnen. Ganz ähnlich wie vor einigen Jabren unter dem Binfluss der Entdeckung der Lymphocytose und der Eiweissvermehrung der Spinalflüssigkeit bei der progressiven Paralyse, wie vor einigen Jahrzehnten, als die neurologischen, spinalen und cerebralen Begleiterscheinungen der progressiven Paralyse im einzelnen bekannt und studiert wurden, eine Ueber- schätzung der einzelnen gerade neu gefundenen Symptome für die Diagnose statt hatte, so fängt es jetzt mit der Wassermann’schen Methode an. Die Neigung, wichtige neue diagnostische Hilfsmittel als pathognomonisch zu überschätzen, kehrt offenbar immer wieder.

Sehen wir zu, in welchen Punkten die Paralyse diagnostisch in den letzten Jahren eine Förderung erfahren hat, so muss ohne Zweifel in erster Linie die pathologische Anatomie genannt werden. Vor allem die Untersuchungen Nissl’s und Alzheimer’s sind es gewesen, welche die progressive Paralyse schon in dem Anfangs- stadium als anatomisch scharf charakterisierte Erkrankung gekennzeichnet und es ermöglicht haben, sie aus all dem Pseudoparalytischen, mit dem sie vermengt gewesen ist, heraus- zuheben. Ihnen ist es zum grossen Teil zu danken, dass die Diagnose der progressiven Paralyse auch klinisch viel an Präzision gewonnen hat durch die Klarlegung, dass manches, was als Paralyse klinisch diagnostiziert war, sich später histo- logisch als ein andersartiger Prozess präsentierte. So ist die Abscheidung gewisser arteriosclerotischer, alkoholischer, toxisch- infektiöser Zustandsbilder, der organischen Erkrankungen anderer Art, chronisch tuberkulöser Hirnprozesse, katatonischer Zu- stände, die Abgrenzung von Psychosen bei organischen Nerven- erkrankungen insbesondere bei Tabes, vor allem aber die Ab-

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grenzung gewisser hirnluischer Prozesse durch die Kontrolle der Anatomie auch klinisch-symptomatologisch sehr gefördert worden.

Die zweifelhaften Fälle konnten lediglich mit der psychisch neurologischen Untersuchungstechnik auf ein erheblich kleineres Gebiet eingeengt werden. Aber es sind klinisch zweifelhafte Fälle geblieben, und zwar sind es vor allem gewisse Fälle von luischer Hirnerkrankung und gelegentlich auch die Syphilisneurasthenie, endlich die Psychosen bei Tabes, die der Paralyse gegenüber nach wie vor Schwierigkeit boten.

Haben nun für die Trennung dieser differentiell diagnostisch schwierigsten Fälle die neueren Untersuchungen des Liquor cerebrospinalis und des Blutes neue Kriterien gebracht? Das muss für den ersteren unter allen Umständen bejaht werden.

Was zunächst die Veränderungen der Lumbalflüssigkeit hin- sichtlich der Lymphocytenvermehrung, des Eiweiss- und Globulin- gehaltes anlangt, so besteht ihr Hauptwert für unsere Frage ohne Zweifel zunächst in der Möglichkeit einer frühzeitigen und sicheren Abgrenzung organischer und funktioneller Erkrankungen. So sind sie obne weiteres geeignet, die Neurasthenie von der progressiven Paralyse abzutrennen, aber auch für die Differentialdiagnose der Arteriosclerose, den alkoholischen, den toxisch infektiösen Pro- zessen gegenüber leisten sie Wichtiges. Für die schwierigste Frage der Differentialdiagnose: progressive Paralyse oder luische Pseudoparalyse ist sie in vielen Fällen von grosser Bedeutung, insofern eine starke Lymphocytose und eine erhebliche Eiweiss- vermebrung bei Paralyse erheblich häufiger ist, als bei Lues. Im Einzelfalle kann das Kriterium aber nicht entscheidend sein, weil sich auch bei Hirnlues gelegentlich hochgradige Lympho- cytose und Eiweissvermehrung findet. Wir haben gerade jetzt einige Fälle einwandfrei luischer Meningealerkrankung in der Klinik, bei welcher dieses Verhalten vorgelegen hat. Dass auch Cysticerkose, Tuberkulose, Sarkomatose der Meningen starke Lymphocytose und Eiweissvermehrung zeigen können, sei nur nebenher erwähnt.

Wie steht es nun mit der Wassermann’schen Blut- und Liquorreaktion für die Paralysedifferentialdiagnose. So bedeutsam das serologische Verhalten des Blutes für die luische Aetiologie ist und damit auch für die Abgrenzung gegenüber nicht Juisch bedingten Prozessen sein kann wobei natürlich die Möglichkeit zufälliger Komplikation mit Lues nicht zu vergessen ist —, so leistet die Blutreaktion für die Differenzierung der luisch und postluisch bedingten Prozesse diagnostisch nichts. Dagegen scheint sich für diese letzteren Prozesse ein besonderes differentiell-diagno- stisches Kriterium in dem serologischen Verhalten des Liquor cerebrospinalis zu ergeben, was natürlich gerade für die Differen- zierung der schwierigsten Fälle von grösster Bedeutung wäre. Die Fälle, die wir klinisch symptomatologisch als sichere Para- Iysen diagnostizieren, geben nicht nur im Blut, sondern auch in der Öerebrospinalflüssigkeit Wassermann’sche Reaktion, während bei luischer Erkrankung des Zentralnervensystems und auch bei Tabes der Liquor bei Verwendung derselben Liquormenge meist negativ

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bleibt. Das ist wenigstens das Resultat, wie es Plaut, Wasser- mann, Sterz und Klieneberger in unserer Klinik, Nonne u. a. an nunmehr verhältnismässig grossem Material festgestellt haben.

Es muss nun aber dringend vor dem Rückschluss gewarnt werden, die Paralyse nach diesem Liquorbefund für festgestellt zu halten oder sie bei seinem Fehlen auszuschliessen. Diese Er- gebnisse der Wassermann’schen Liquorreaktion beziehen sich ganz überwiegend auf die ganz typischen Fälle, die Resultate sind aber m. E bei weitem noch nicht einheitlich genug, um ihr vor- läufig auch nur annähernd eine derartige entscheidende Bedeutung beilegen zu dürfen. Es kann nicht unbeachtet bleiben, dass Unter- suchungen, deren Technik nicht ohne weiteres zu Bedenken Anlass geben kann, wie die der Kieler Haut- und Nervenklinik in mehr als 50 pCt. der Paralytiker die Wassermann’sche Reaktion im Liquor vermissten. Auch die hiesige Hautklinik hatte in häufigen Fällen, in denen wir mit wässrigem Extrakt den Liquor positiv fanden, mit alkoholischem ein negativesResultat. Weiterhin, wenn es auch selten ist, so kommt es doch vor, dass selbst Blut und Liquor bei sicherer Paralyse negativ ist, wir haben zwei solche Fälle, ebenso wie die Kieler Klinik. Für das Negativbleiben des Liquor haben wir 3 Fälle, von denen einer obduziert ist. Es gehört zwar nicht streng hierher, aber es mag im Hinblick auf die diagnostische Bedeutung doch erwähnt werden, dass wir auch bei einem Tabiker im vergangenen Jahre bei drei- maliger Untersuchung, die auch in der Hautklinik kontrolliert wurde, im Blut und Liquor negative Reaktion bekommen haben. Erst jetzt ist sie wenigstens im Blut negativ geworden.

Auch sichere luische Meningomyelitis zeigt, wie wir eıst jetzt wieder gesehen haben, gelegentlich positive Liquorreaktion. Endlich ein Unikum. Wir haben Blut und Liquor bei einem alten Luiker positiv gefunden, ohne dass überhaupt eines von der Trias, Paralyse, Tabes oder cerebrospinale Lues vorgelegen hat, wie der pathologisch-anatomische Befund ergeben hat. Bemerkens- werterweise hatte keine Lymphocytose bestanden. Kollege Schröder wird Ihnen über diese eigenartige funiculäre Er- krankung berichten, die beweist, worauf schon Alzheimer hin- gewiesen hat, dass die Zahl der im Gefolge der Lues vor- kommenden Erkrankungen des Zentralnervensystems mit dieser Trias noch nicht abgeschlossen ist.

M. H.! Die eminente praktische Bedeutung der Wasser- mann’schen Reaktion für die ätiologische Diagnose wird durch diese Befunde nicht berührt, aber diese dürfen nicht unerwähnt bleiben, um die differentiell diagnostische Bedeutung der Wasser- mann’schen Reaktion für die Paralyse und cerebrospinale Lues an die richtige Stelle zu setzen. Hier leistet sie m. E. vorläufig sicher nieht mehr ich möchte eher glauben weniger Sicheres als die anderen Liquorveränderungen. Aber sie ist in einer Zeit, in der die psychischen Symptome noch unklar sind, zusammen mit der Lymphoeytose und Eiweissvermehrung ein wichtiges Frühkriterium, das den Verdacht der progressiven Paralyse sehr stark macht. All diese Methoden gestatten aber für sich allein

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nicht und werden dies auch wohl niemals tun, die Diagnose der progressiven Paralyse.

Diese muss nach wie vor aus der Gesamtheit der psychischen und somatischen Symptome gestellt werden.

Für die Frage, ob hirnluische Pseudoparalyse oder echte Paralyse vorliegt, scheint mir auch heute noch in der Art des psychischen Defektzustandes das wichtigste Kriterium zu liegen. Das Verhalten der Persönlichkeit gegenüber der Abnahme der psychischen Fähigkeiten, die Art der Selbstbeurteilung und des Krankheitsgefühls, die Umschriebenheit bzw. die Verbreitung des psychischen Zerfalls werden in zweifelhaften Fällen nach wie vor mit demselben Gewicht wie früher in die Wagschale fallen und ceteris paribus entscheidend sein.

Lediglich der psychische und cerebrale Befund muss auch dann die Entscheidung bringen, wenn es sich um die Entscheidung handelt: Psychose bei Tabes oder Taboparalyse. Hier geben die neueren Methoden keinen differenzierenden Anhalt, weil die Tabes für sich allein schon die entsprechende Liquorveränderung bedingen kann.

Auf diese diagnostischen Bemerkungen möchte ich mich be- schränken. Sie sollen lediglich dazu dienen, klar zu legen, dass auch die wichtigen neueren objektiven diagnostischen Hilfsmittel, die Schwierigkeiten, welche die Paralysediagnose bieten kann, nicht voll beseitigt haben.

Zum Schluss erlauben Sie mir, bitte, noch einige Worte zur Frage des Verlaufs der Paralyse. Dass die Beachtung des Verlaufs wichtig ist, um sich nicht über Heilerfolge täuschen zu lassen, haben gerade die Erfahrungen der letzten Monate gezeigt. Die grosse Mehrzahl der typischen Paralysefälle ist, wie Sie wissen, un- aufhaltsam progredient und führt durchschnittlich im Laufe von 2 bis 3 Jahren zum Exitus. Davon gibt es Ausnahmen. Ich will die seltenen und schwer zu beurteilenden stationären Formen bei Seite lassen und nur die Remissionen wegen ihrer praktischen Wichtigkeit für die Beurteilung von Heilerfolgen erwähnen. Sie treten verhältnis- mässig nicht selten spontan, insbesondere bei beginnender Paralyse, auf. Man wird ihre Häufigkeit auf ca. 15 pCt. schätzen können. In späteren Phasen sind sie seltener, sie kommen aber, wie aus der vorhin angeführten Beobachtung erhellt, auch dann vor. Es sind also im Beginn der Paralyse überhaupt häufiger Besserungen zu erwarten. Ein einzelner Fall beweist deshalb wenig, und es ist nur dann wirklich gerechtfertigt, Besserungen auf den Einfluss einer bestimmten Behandlungsart zu beziehen, wenn bei einer ganzen Serie gleichartiger Fälle bei gleichartiger Behandlung offensichtlich die Zahl der Remissionen zunimmt. Derartige Unter- suchungen sind in letzter Zeit gemacht worden anlässlich der er- wähnten Behandlung mit künstlicher Fiebererzeugung, und wenn von einzelnen Untersuchern tatsächlich dabei eine geringe Mehrung der Remission beobachtet worden ist, so haben analoge Kontroll- untersuchungen an anderen Stellen, u. a. auch an unserer Klinik, bis jetzt leider keinen überzeugenden therapeutischen Einfluss ergeben. Solche Untersuchungen werden auch mit dem neuen Mittel zu machen sein. Dabei wird darauf zu achten

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sein, dass man Fälle, die schon in der Remission sind, nicht als Heilerfolg zählt, wie es jetzt gelegentlich geschehen ist. Ein Hinweis, wenn auch kein ganz eindeutiger, ob man bei einem Kranken im Beginn einer Spontanremission ist, ist mitunter darin zu erblicken, dass das Gewicht sich zu heben beginnt.

Auch ein anderer Punkt ist bei der Behandlung ineipienter Paralysen von Bedeutung. Die pathologische Anatomie hat ge- zeigt, dass in einer Anzahl von Fällen sich echte luische Ver- änderungen neben den paralytischen an Gehirn und Rückenmark finden. Solche Kombinationen sind bei Beginn der Paralyse häufiger zu erwarten als in späteren Stadien. Es sollte deshalb auch aus diesem Grunde ein gelegentlicher Erfolg einer spezifischen Behandlung nicht ohne weiteres einer Beeinflussung des paralyti- schen Prozesses zugeschrieben werden. Es wird in jedem Falle Sache einer sorgfältigen klinischen Epikrise sein, zu erwägen, ob nicht doch eine Kombination beider Prozesse vorgelegen haben mag.

Das sind in Kürze einige der Punkte, die nicht ver- gessen werden sollten, wenn an die Behandlung der progressiven Paralyse mit dem Ehrlich’schen Mittel in weiterem Umfang herangetreten wird. Sie werden mir vielleicht sagen, es ist am Ende bei einer so aussichtslosen Erkrankung kein Unglück, wenn eine Hirnlues oder ein mit Lues komplizierter psychopathischer Zustand als Paralyse behandelt und beurteilt werden wird. Dem gegenüber muss ich aber darauf hinweisen, dass bei einer Krank- heit, die trotz ihrer eminenten Verbreitung im Laufe der Dezennien höchstens 3—4 einwandsfreie Heilungen aufzuweisen hat, besonders sorgfältige Prüfung der diagnostischen Unterlagen zu verlangen ist, ehe ein Heilerfolg behauptet wird, schon um nicht bei dem Publikum und bei den Angehörigen dieser unsere Kliniken und Anstalten füllenden Kranken verfrühte Hoffnungen zu erwecken, die wir nachher doch nicht erfüllen können. Dass es auch im Interesse der Paralyseforschung und Paralysebehandlung ist und nicht zum wenigsten auch im Interesse sachgemässer Indica- tionsstellung für das Ehrlich’sche Mittel selbst und im Sinne seines Entdeckers ist, wenn die Untersuchungen über die thera- peutische Beeinflussbarkeit der Paralyse durch das neue Arsen- präparat an klaren und einwandsfreien Unterlagen geschehen, bedarf keiner Erläuterung.

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xVl.

Ueber das chronische Duodenalgeschwür.

Dr. E. Melchior.

M. H.! Das chronische Duodenalgeschwür!) hat bis in die neueste Zeit hinein in den weiteren ärztlichen Kreisen für eine Erkrankung gegolten, die einerseits recht selten ist, andererseits klinisch entweder latent verläuft, oder doch so, dass eine exakte Diagnose speziell gegenüber dem Magengeschwür kaum möglich ist. Dieser Anschauung hat Nothnagel noch 1903 in der II. Auf- lage seines klassischen Werkes über die Darmkrankheiten deutlich genug Ausdruck verliehen; der französische Kliniker Dieulafoy bezeichnet dies in seinem epigrammartigen Stil folgendermaassen: „Les symptömes de l’ulcere du duodenum sont mal definis in- constants ou nuls.“

Dass unter diesen Voraussetzungen die notwendigsten Vor- bedingungen für eine wirksame Therapie fehlen mussten, ist leicht begreiflich. Diese Krankheit konnte demnach für das praktische Handeln nur ein negatives Interesse besitzen, das eine gewisse fatalistische Färbung allerdings dadurch erhielt, dass erfahrungs- gemäss nicht allzuselten einmal bei Sectionen von Menschen, die an Peritonitis unbekannter Ursache oder an einer inneren Blutung zugrunde gegangen sind, ein Duodenalgeschwür als Causa morbi gefunden wird!

Wenn diese soeben skizzierte Auffassung des chronischen Uleus duodeni im Begriffe steht, eine wesentliche Verschiebung zu erfahren, so verdanken wir diesen Fortschritt nicht zum mindesten den Erkenntnissen, die uns die moderne Abdominal- chirurgie gebracht hat. Es liegt ja auf der Hand, dass die Chirurgie, indem sie es ermöglicht, schon bei Lebzeiten oft in lückenlosen Serien einen anatomischen Einblick in krankhafte Prozesse zu gewinnen, sich gegenüber den anderen Disziplinen der Medizin in besonders günstiger Lage befindet. Wenn ich Namen

1) Bezüglich des Literaturverzeichnisses, sowie zahlreicher Detail- angaben verweise ich auf meinen demnächst erscheinenden Beitrag: „Das Ulcus duodeni“ in den „Ergebnissen der Chirurgie“, herausgegeben von Payr und Küttner. Bd.II. (Springer-Berlin).

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anführen soll von einigen Chirurgen, die auf diesem Gebiete führend vorangegangen sind, so möchte ich hier nur W. Mayo, den bekannten amerikanischen Chirurgen und Moynihan in Leeds nennen. Von diesen hatte der erstere bis zum Jahre 1908 bereits 261 Fälle von chronischem Ulcus duodeni operiert, Moynihan hat noch vor wenigen Monaten eine grössere Monographie über diesen Gegenstand herausgegeben, die sich auf etwa 200 eigene - operierte Fälle bezieht.

Aus diesem operierten Material, mit dem die Zahl der in den übrigen Ländern ausgeführten Operationen auch nicht im mindesten konkurrieren kann, ergibt sich nun einmal ohne weiteres, dass die Frequenz des Uleus duodeni sicherlich eine grössere sein muss, als man es bisher angenommen hat.

Es ist ja möglich, dass ein derartig häufiges Vorkommen besonders für Amerika und England charakteristisch ist; ehe jedoch darüber präzise Angaben vorliegen, muss man wohl auch annehmen, dass es in jenen Ländern mit der Diagnostik dieser

Erkrankung wegen des grösseren Interesses, das ihr allgemein entgegengebracht wird besser bestellt ist, als wie bei uns.

So hat auch Ewald darauf hingewiesen, dass sicherlich das Uleus duodeni häufiger diagnostiziert werden könnte, als es tatsächlich der Fall ist. Dass die richtige Diagnose aber im Gegensatz zu den früher verbreiteten Vorstellungen hierbei in der Regel möglich sein muss, ergibt sich schon aus der einfachen Tatsache, dass jene genannten Chirurgen in den meisten Fällen in der Lage waren, unter richtig gestellter Diagnose zu operieren.

Auch in der Küttner’schen Klinik ist noch vor wenigen Wochen ein Fall von Ulcus duodeni zur Operation gekommen, in dem die Diagnose mit völliger Präzision vorher gestellt worden war.

Damit gewinnt aber die Kenntnis des chronischen Ulcus duodeni offenbar eine viel grössere praktische Bedeutung, als man es nach der bisherigen Lehrmeinung annehmen sollte.

Gestatten Sie mir nun, zunächst über einige Tatsachen aus der Pathologie des chronischen Ulcus duodeni zu berichten, um im Anschluss daran, insbesondere auf die Therapie des Leidens einzugehen, unter Benutzung einiger in der Küttner’schen Klinik beobachteter Fälle.

Das chronische Duodenalgeschwür ist zunächst im Gegensatz zum Uleus ventrieuli ausgesprochen eine Erkrankung des männ- lichen Geschlechts; es kommt bei Männern durchschnittlich dreimal so häufig vor als bei Frauen. Worauf dieses zurück- zuführen ist, wissen wir nicht. Boas denkt zur Erklärung dieses Verhaltens an chronischen Alkoholismus; wie weit dieses zutrifft, ist aber noch recht unsicher. Einer unserer Patienten z. B. war prinzipieller Antialkoholiker.

Das Leiden gelangt meist im mittleren Mannesalter zur Be- obachtung, man erfährt jedoch häufig, dass der Beginn noch früher zurückreicht. Die englischen Chirurgen geben an, dass die ersten Symptome vielfach noch in den Beginn des 3. Jahrzehnts fallen.

Bezüglich des Sitzes des Geschwürs haben vor allem die zahlreichen Operationsbefunde ergeben, dass das Uleus sich vor-

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wiegend im obersten Abschnitt des Duodenums befindet, meist dicht unter dem Pylorus. Tiefer sitzende Geschwüre gehören zur Ausnahme; solche, die sich unterhalb der Papille befinden, sind nahezu als Raritäten zu bezeichnen. Dieses Verhalten ist ja ohne weiteres verständlich,. wenn man sich daran erinnert, dass diese Geschwüre in letzter Linie wenigstens durch die peptische Einwirkung des sauren Magensaftes zustande kommen.

Es mag übrigens mit dieser Tatsache, dass die Geschwüre sich meist direkt unterhalb des Pylorus befinden, die Möglichkeit zusammenhängen, dass man früher die wahre Natur derselben gelegentlich verkannt und sie als Magengeschwüre aufgefasst hat. Hierauf hat Mayo besonders hingewiesen. Wer öfters Magenoperationen beigewohnt hat, weiss ja, dass es mitunter nicht ganz leicht ist, genau anzugeben, wo der Pylorus sitzt, resp. das Duodenum anfängt. Mayo u. a. haben nun darauf aufmerksam gemacht, dass diese Grenze meistens durch ein kurzes vertikal zur Längsachse verlaufendes Venenstämmchen, das sie pyloriec vein nennen, charakterisiert wird. Es scheint diese Vene jedoch keinen konstanten Befund darzustellen.

Von gewisser praktischer Bedeutung ist der Umstand, dass die Geschwüre vorzugsweise an der Vorderwand gelegen sind. Es hängt hiermit wohl die Häufigkeit der Perforation des Uleus duodeni in die freie Bauchhöhle zusammen. Wissen wir doch, dass von den perforierenden Magengeschwüren nicht weniger als 80 pCt. der Vorderwand angehören, während sich diese Lokali- sation überhaupt nur in etwa 5 pCt. vorfindet.

Nicht selten finden sich multiple Geschwüre, ebenso kommen öfters gleichzeitig Geschwüre im Magen vor.

Bezüglich des anatomischen Verhaltens unterscheidet Mayo je nachdem es sich um rein muköse Geschwüre handelt, oder um solche, die mit einer Infiltration der tieferen Schichten der Darmwand einhergehen indurierte und nicht indurierte Ulcera; wahrscheinlich handelt es sich hierbei nur um zeitlich verschiedene Stadien desselben Prozesses. Damit hängt wohl zusammen, dass die nicht indurierten Geschwüre bisher nur selten bei Operationen angetroffen worden sind; Mayo z. B. fand sie unter 188 Fällen nur 7 mal. Es hat diese Frage eine gewisse praktische Bedeutung deswegen, weil es möglich ist, dass die nicht indurierten Ge- schwüre bei einer Laparotomie unbemerkt bleiben können, wenn man sich darauf beschränkt, den Darm nur von aussen her zu palpieren. Es kann daher in derartigen Fällen, wenn sonst der Verdacht auf ein Ulcus besteht, erforderlich werden, den Darm von einer eigens dazu angelegten Oeffnung aus von innen her abzutasten. Das ist eine Forderung, die neuerdings besonders Wilms erhoben hat.

Ueber die eigentlichen Entstehungsursachen des Uleus wissen wir recht wenig. Soviel darf zwar als sicher angenommen werden, dass sie nicht ohne peptische Einwirkung des Magen- saftes zustandekommen. Als ebenso feststehend muss aber auch betrachtet werden, dass hierzu noch besonders lokale Vorbe- dingungen notwendig sind.

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Für gewisse Formen des Duodenalgesehwürs kennen wir nun tatsächlich derartige lokale prädisponierende Momente.

So sehen wir z. B. gelegentlich Geschwürsbildung im Duo- denum, wenn durch thrombotische oder embolische Prozesse die Ernährung der Darmwand in einem lokalen Bezirk eine Schädi- gung erlitten hat. Ein klassisches Beispiel hierfür bieten die Duodenalgeschwüre, die gelegentlich nach Bauchoperationen beobachtet werden. Es handelt sich hierbei nach v. Eiselsberg, der zuerst auf diese Verhältnisse hingewiesen hat, fast ausschliess- lich um solche Operationen, bei denen grössere Eingriffe am Netz vorgenommen wurden. Man nimmt heute an, dass das ur- sächliche Moment hierbei in der Bildung von Thromben innerhalb der Netzvyenen zu suchen ist; diese Thromben können sodann durch retrograde Embolie in die Wand des Duodenums gelangen. Ich möchte jedoch auf diese neuerdings viel diskutierten Ver- hältnisse, die auch experimentell erfolgreich nachgeahmt worden sind, hier nicht näher eingehen, und nur daran erinnern, dass Machol bereits in dieser Gesellschaft (Sitzung vom 12. Juli 1907) über einen in der Küttner’schen Klinik beobachteten Fall be- richtet hat, wo sich im Anschluss an eine wegen Torsion vorge- nommene Resection des Netzes ein durch Blutung zum Tode führendes Uleus duodeni entwickelt hatte.

Es sei mir dagegen gestattet, einen anderen ähnlich ver- laufenen Fall, der ebenfalls im vergangenen Jahr in der Küttner- schen Klinik beobachtet wurde, hier kurz anzuführen, da er zu jenen selteneren gehört, in denen diese Komplikation nach einer Extremitätenoperation Amputation des Öberschenkels wegen verjauchten Sarkoms eingetreten war.

34 jähriger Mann, aufgenommen 6. III. 1909. Befund: Doppelt faust- grosse, an der Oberfläche eitrig jauchende Geschwulst entsprechend der oberen Hälfte des rechten Unterschenkels; dieselbe soll im Oktober 1908 14 Tage nach einem Trauma sich entwickelt haben. Uebrige Anamnese ohne Besonderheiten. Temperatur febril, erreicht während der 8 Tage vor der Operation mehrere Male 38°, Puls schwankt zwischen 112 und 124. 16. III. Amputation des rechten Oberschenkels; die Geschwulst erweist sich als Spindelzellensarkom der Fascie. 2 Tage nach der Ope- ration fiel das anämische Aussehen des Patienten auf, sowie die Klein- heit des Pulses. Erbrechen von blutigen Massen; unter zunehmender Anämie erfolgte trotz reichlicher Anwendung von Kochsalzinfusionen usw. der Exitus am 22. III., also am 6. Tage nach der Operation.

Bei der Section fand sich der Magen stark gefüllt mit flüssigem Blut, das ganze Duodenum mit einem wurstförmigen Bluteoagulum aus- gefüllt. Im oberen Drittel des Duodenums ist ein frisches Duodenal- geschwür sichtbar, in dessem Grunde die arrodierte Arteria gastro-duo- denalis erscheint.

Dieser Fall stellt nun keineswegs ein Unikum dar. Ich konnte in der Literatur 9 Fälle von Duodenalge- schwüren resp. Ekchymosen oder hämorrhagischen Ero- sionen des Duodenums finden, die als Sectionsbefund nach Amputationen erhoben wurden. Hiervon wurden eigentümlicherweise 3 nach Amputation eines Extremi- tätentumors wie in unserem Fall beobachtet.

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Fall 1. Broussais. (Sur la duodenite chronique, Paris 1825, eit. bei Krauss.) 62jähriger Mann. Amputation des Armes wegen „cancrösen Tumors“. Am 10. Tage post operationem plötz- lich Schwäche, Exitus unter den Erscheinungen einer inneren Blutung. Die Section ergibt ein bereits zum Teil in Vernarbung begriffenes Ge- schwür im Anfangsteil des Duodenums, mit Arrosion der Arteria hepatica.

Fall 2. Perry und Shaw. (Nr. 100.) 61jähriger Mann. Epi- theliom des rechten Armes. Amputation. Es trat Lappen- nekrose ein, sowie eine Phlegmone, die von der Achsel bis in das hintere Mediastinum reichte. Tod. Inı Anfangsteil des Duodenums fand sich bei der Section ein Geschwür, das nach seiner Beschaffenheit als akut entstanden aufgefasst wurde.

Fall 3. Ibidem. (Nr. 91.) 30jährige Frau. Sarkom des Armes. Amputation. Heilungsverlauf offenbar gestört. Es entwickelte sich ein tiefer Decubitus mit partieller Nekrose des Kreuzbeins und des Os ilei. Tod nach 3 Monaten. Die Section ergab Metastasen im Schädel, sowie ein in Heilung begriffenes Uleus duodeni dicht unter dem Pylorus.

Fall 4 1bidem. (Nr. 53.) 54jähriger Mann. Fraktur beider Beine. Amputation des einen. Lappennekrose; Gangrän des anderen Beines. Tod nach 10 Tagen. Ekchymosen im Anfangsteil des Duo- denums.

Fall 5. Ibidem. (Nr. 60.) 52jähriger Mann. Zerquetschung eines Fusses. Amputation nach Chopart. Nach 2 Tagen entwickelte sich eine vom Stumpf ausgehende Phlegmone. Tod nach 11 Tagen. 3 Zoll unterhalb des Pylorus eine hämorrhagische Erosion von der Grösse eines Schillings.

Fall 6. Ibidem. (Nr. 61.) 7jähriger Junge. Zermalmung beider Beine durch Ueberfahren. Doppelte Amputation. Stumpfnekrose, Albu- minurie. Tod nach 5 Wochen. Im Anfangsteil des Duodenums einige hämorrhagische Erosionen.

Fall 7. Ibidem. (Nr. 94.) Alter Mann. Amputation des Beines wegen Kniegelenkseiterung. Verlauf fieberhaft. Tod. Viel frisches Blut im Magendarmkanal, an der Hinterwand des Duodenums dicht unter dem Pylorus ein tiefes Uleus mit Arrosion der Arteria pancreatico-duo- denalis. Frische Pleuritis und Pericarditis, mässige Stenose der Mitralis.

Fall S. Ibidem. (Nr. 102.) 46 jähriger Mann. Amputation des Beines wegen eines „Geschwürs“. Stumpfgangrän, sekundäre Exartikulation im Kniegelenk, Pleuritis. Tod. Dicht unter dem Pylorus ein tiefes Ge- schwür; Eiter in beiden Schultergelenken.

Fall 9. Ibidem. (Nr. 165.) 60jähriger Mann. Zermalmung eines Beines. Amputation oberhalb des Knies. Tod nach 11 Tagen. Viel Blut im Darmkanal. Dicht unter dem Pylorus ein bereits in Vernarbung begriffenes Geschwür mit Eröffnung der Arteria pancreatica.

M. H.! Das gemeinsame Moment in allen diesen letztgenannten Fällen ist das der Infektion, indem entweder Störungen der Wund- heilung, Lappengangrän usw. eintrat, oder wie z. B. in unserem Fall, durch den verjauchten Tumor bereits vorher ein infektiöses Mo- ment gegeben war. Auch die wenigen sonstigen Beobachtungen, in denen diese Komplikation nach anderen ausserhalb der Bauch- höhle vorgenommenen Operationen beobachtet wurde, betreffen ausnahmslos Fälle, bei denen schon wegen der Natur des Leidens eine strikte Asepsis nicht durchführbar war. So verlor v. Eisels- berg einen Patienten nach Exstirpation eines Oarcinoms der Ton- sille, andere sahen diese Komplikation z.B. nach Prostatektomie usw. Dieses Verhalten spricht nun entschieden dafür, dass die Er-

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klärung, die Billroth bereits i. J. 1867 für diese Geschwüre gab, zutreffend ist. Billroth fasste sie nämlich als septische Ge- schwüre auf auf Grund der Beobachtung eines eigenen Falles, der nach Operation eines Kropfes an Sepsis und Verblutung aus einem Duodenalgeschwür zugrunde ging. Der nähere Mechanismus der Entstehung ist allerdings noch nicht ganz klar gestellt. Das Pri- märe scheinen Blutungen in der Darmwand zu sein, die später der Verdauung anheimfallen. Am wahrscheinlichsten darf man annehmen, dass diese Blutungen durch feinste arterielle Embolien NMikrokokkenembolien? zustandekommen.

Wie weit in diesen Fällen die Operation als auslösendes Mo- ment anzusehen ist, ist ebenfalls nicht sicher zu entscheiden vorausgesetzt natürlich, dass es sich nicht um vermeidbare Störungen der Wundheilung handelte da derartige Geschwüre, auch ohne dass ein operativer Eingriff vorgenommen wäre, gelegentlich bei septischen Prozessen beobachtet worden sind, z. B. nach Erysipel, Frostgangrän usw. Auch die vielgenannten Verbrennungsgeschwüre des Duodenums gehören wohl, wie eben- falls bereits Billroth vermutete, in die gleiche Kategorie. Immerhin wäre es denkbar, dass gelegentlich durch die bei einer Operation notwendigen Manipulationen Bedingungen geschaffen werden können, welche das Eindringen von embolischem Material in die Blutbahn und damit die Entstehung dieser Geschwüre be- günstigen können.

Dass aber überhaupt ein kausaler Zusammenhang mit den genannten Zuständen und derartigen Geschwüren bestehen muss, geht in unzweideutiger Weise aus der grossen Statistik von Perry und Shaw hervor. Diese Autoren fanden nämlich bei einem sehr grossen Seetionsmaterial die one des Uleus duodeni

überhaupt nee. > eG Meinfer bei septischen Prozessen Inne bei Verbrennungen n . ». ...33

M. H.! Diese soeben genannten Geschwürsformen baben aber offenbar nichts mit dem chronischen Ulcus duodeni zu tun. Sie führen entweder schnell zum Tode, oder stellen nur zufällige Seetionsbefunde dar. Es ist aber nie beobachtet worden, dass ein chronisches Uleus duodeni auf eine derartige Aetiologie zurückzuführen war.

Wir müssen uns daher für dieses Mal einstweilen mit der Annahme begnügen, dass demselben eine ge- wisse nicht näher bekannte Disposition oder Diathese zugrunde liegt, welche einhergeht mit einer Herab- setzung der vitalen Resistenz der Duodenalwand gegen- über der peptischen Einwirkung des Magensaftes.

Zugunsten einer derartigen Diathese, wenn man so sagen will, spricht nun vor allem der Umstand, dass diese Geschwüre relativ häufig multipel auftreten, ebenso wohl auch die nicht seltene Coin- eidenz mit Magengeschwüren. Vor allem aber glaube ich, hierfür die Tatsache anführen zu sollen, dass im Verlaufe des Ulcus duo-

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deni selbst zeitweise spontane Heilungen auftreten, wie man schon aus der Periodizität der klinischen Erscheinungen (s. w. u.) ver- muten kann, sowie aus dem gelegentlichen Befund von floriden Geschwüren neben älteren Narben.

Diese Betrachtungsweise darf nicht als müssig gelten, da, wie wir sehen werden, sich hieraus wichtige Rückschlüsse bezüglich der Therapie ergeben.

Unter den Symptomen des chronischen Duodenalgeschwürs treten die subjektiven am meisten in den Vordergrund. Hier ist in erster Linie der Schmerz zu nennen.

Derselbe tritt nach der Nahrungsaufnahme auf, zum Unter- schied aber gegenüber dem Verhalten bei Ulcus ventrieuli erheb- lich später, meist wohl nicht vor 1'/, Stunden. Wenn der Schmerz noch später auftritt, wie dies öfters der Fall ist, also etwa 3 bis 4 h, kommt den Kranken die Abhängigkeit von der Nahrungs- aufnahme häufig nicht zum Bewusstsein, da er in eine Zeit fällt, in der normalerweise bereits wieder ein Hungergefühl auftritt. Moynihan hat auf das Vorkommen dieses „Hungerschmerzes“ besonders hingewiesen, von anderer Seite ist es vielfach bestätigt worden. Erneute Nahrungsaufnahme auf der Höhe des Schmerzes wirkt in diesen Fällen häufig als Linderung. Moynihan gibtan, dass die Patienten diesen Zusammenhang bald merken und daher häufig die Angewohnheit haben, etwas Zwieback oder dergleichen mit sich zu führen, um sich im gegebenen Moment damit eine Erleichterung verschaffen zu können. Einer der Patienten der Küttner’schen Klinik, bei dem sich die Schmerzen in intensivster Weise oft nachts bemerkbar machten „Nachtschmerzen“ nach Moynihan hatte zu diesem Zwecke in der letzten Zeit immer einige Kakes neben seinem Bette stehen. Es sind ähnliche Beob- achtungen auch von anderer Seite mitgeteilt worden. Der Schmerz wird gewöhnlich im Epigastrium empfunden oder etwas rechts davon in der Mittellinie. Mitunter kommen auch Ausstrahlungen vor.

Ein wichtiger Unterschied gegenüber dem Uleus ventrieuli ist ferner der Umstand, dass Erbrechen beim unkomplizierten Uleus duodeni so gut wie nie beobachtet wird, während es beim Uleus ventrieuli geradezu zum Symptomenbilde gehört. Dagegen wird gelegentlich Neigung zum Aufstossen oder Salivation im Schmerzanfall beobachtet.

Ebenso pflegt, soweit keine Komplikationen vorliegen, der Appetit beim Uleus duodeni völlig erhalten zu sein, die Pa- tienten sind oft starke Esser. Eine spontane Auswahl in der Nahrung, welche die mit Uleus ventrieuli behafteten Patienten meist instinktiv von selbst treffen, in dem sie die sogenannten groben Speisen, wie Wurst, Roggenbrot usw. vermeiden, pflegt beim Ulcus duodeni nicht beobachtet zu werden.

Eine besondere Eigentümlichkeit des chronischen Ulcus duo- deni, welche ebenfalls in dieser typischen Weise beim Magen- geschwür in der Regel nicht beobachtet wird, stellt die ausge- sprochene Periodizität der Erscheinungen dar. Man findet, dass die Patienten oft Monate hindurch und noch länger, völlig frei von jeglichen Beschwerden sind, und sich gänzlich wie

er

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Gesunde fühlen. Diese Perioden wechseln mit Attacken ab, in denen die Beschwerden wie Moynihan sich ausdrückt mit einer geradezu programmartigen Exaktheit auftreten. Dadurch unterscheiden sich diese Fälle wohl auch besonders von den rein funktionellen Magenleiden, da bei diesen der Wechsel in den Erscheinungen ein mehr launischer, sprunghafter ist. Wie bereits bemerkt, wird man sich diese Periodizität kaum anders erklären können, als dadurch, dass zeitweise spontan Heilungsvorgänge des Geschwürs eintreten.

Unter den objektiven Symptomen des chronischen Uleus duodeni ist in erster Linie der Nachweis okkulter Blutungen zu nennen. Waterhouse, ein englischer Autor, hat diese okkalten Blutungen regelmässig gefunden. Nach Ewald wäre dies aller- dings nicht zutreffend. Ich glaube aber, dass man bei dauerndem Fehlen von Blutspuren im Stuhl, nach dem, was wir sonst über die Geschwüre des Magendarmkanals wissen, wohl sehr zurück- haltend mit der Diagnose auf ein Duodenalgeschwür sein muss. Grössere Erfahrungen scheinen merkwürdigerweise über dieses Verhalten noch nicht vorzuliegen.

Ueber das Vorhandensein eines Druckschmerzes lauten die Angaben verschieden, in einer Reihe von Fällen ist etwas der- artiges jedenfalls beobachtet worden. Mendel hat namentlich darauf hingewiesen, dass man regelmässig in diesen Fällen eine umschriebene ‚Zone etwas rechts von der Mittellinie zwischen Nabel und Schwertfortsatz findet, welche bei leiser Perkussion schmerzhaft ist.

Bezüglich des Verhaltens des Magensaftes gehen die An- gaben etwas auseinander. Immerhin scheint Hyperacidität das Häufigste zu sein, auch in den Fällen der Breslauer Klinik wurde sie regelmässig nachgewiesen. Es kann indessen nicht verschwiegen werden, dass gelegentlich auch in sicher gestellten Fällen von Ulcus duodeni teils Hypaeidität oder wenigstens normale Acidität ge- funden wurde. Man darf also das Verhalten des Magensaftes nicht als ausschlaggebend für die Diagnose des Uleus duodeni betrachten.

Immerhin scheint es zumal nach den von den englischen und amerikanischen Ühirurgen gemachten Erfahrungen dass das Symptomenbild: später Schmerz nach der Nahrungsaufnahme (unter dem Bilde des Hungerschmerzes) bei fehlendem Erbrechen, bei Nach- weis okkulter Blutungen und vor allem, wenn die Ana- mnese jene oben dargestellte Periodizität ergibt, aus- reichend ist, um die Diagnose auf chronisches Ulcus duodeni zu stellen.

Es soll dabei nicht bestritten werden, dass Fehldiagnosen vorkommen können. So hat Eve einen Fall mitgeteilt, wo der Schmerz typisch nach 2—3 Stunden auftrat, bei der Operation jedoch das Uleus nicht wie erwartet im Duodenum, sondern an der kleinen Kurvatur des Magens gefunden wurde. Derartige Fälle scheinen aber recht selten zu sein. Dagegen muss man von vornherein erwarten, dass, da erfahrungsgemäss in einem ge- wissen Prozentsatz Magengeschwüre gleichzeitig neben einem

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chronischen Uleus duodeni vorkommen, sich in diesen Fällen die Symptome verwischen können. Schliesslich können in seitenen Fällen Affektionen der Gallenblase, speziell solche, die mit aus- gedehnter Adhäsionsbildung einhergehen, ähnliche subjektive Er- scheinungen machen, wie ein Duodenalgeschwür. Es ist hierauf namentlich von Mayo hingewiesen worden. Es ist aber zu be- denken, dass, wenn in Fällen, wie den letztgenannten, wirklich einmal unter falscher Diagnose operiert wird, das Gallenblasen- leiden dann auch als solches in der Regel einer chirurgischen Behandlung bedarf.

Alles in allem geht aber die Ansicht der genannten Chirurgen, die doch wohl ein besonderes Anrecht darauf haben, hier gehört zu werden, darauf hin, dass das chronische Ulcus duodeni ein gut diagnostizierbares Krankheitsbild darstellt, Moynihan meint sogar, dass es wenig Krankheiten gibt, deren klinische Er- scheinungen in so typischer Weise auftreten.

Man könnte nun nach dem bisher Ausgeführten der Meinung sein, dass das Uleus duodeni ein durchaus harmloses Leiden darstellt. Dies ist auch in vielen Fällen die Ansicht leider nicht nur der Patienten, sondern auch der Aerzte, welche ihre Klienten mit der Diagnose Hyperaeidität trösten, bis eines Tages unter der Form einer Perforationsperitonitis oder einer schweren inneren Blutung der ganze Ernst des Leidens zutage tritt. Günzburg bat noch vor kurzem einen Fali mitgeteilt, der jahrelang von ersten Autoritäten als Hyperaeidität behandelt wurde, um dann an einer Darmblutung aus einem Duodenalge- schwür zugrunde zu gehen.

Es ist gerade die Häufigkeit und Gefährlichkeit jener ge- nannten Komplikation: Perforationsperitonitis und innerer Blutung, welche dem Uleus duodeni seine so überaus ernste Physiognomie verleihen. Wir dürfen nach den in der Literatur vorliegenden Angaben annehmen, dass die Perforation in etwa 50 pCt. der Fälle zum mindesten aber erschreckend häufiger als beim Magengeschwür auftritt, beträchtlichere Blutungen in etwa Y/; der Fälle. Selbst wenn es bei einer Perforation einmal nicht zu einer allgemeinen Peritonitis kommt, so stellen die in solchen Fällen nicht selten entstehenden sogenannten subphrenischen Abscesse noch immer eine überaus schwere Gefahr für den Patienten dar, ganz abgesehen von selteneren Folgezuständen wie der Duodenaliistel.

Ausser diesen eben genannten Komplikationen bildet die Duodenalstenose einen überaus häufigen Folgezustand des Duodenalgeschwürs. In den meisten Fällen handelt es sich dabei um hochgelegene Duodenalstenosen, welche klinisch das Bild der narbigen Pylorusstenose darbieten und je nach dem Grade der Verengerung, ebenso wie jene zur Inanition, mitunter auch zur Tetanie führen können. Von selteneren Komplikationen möchte ich hier nur noch den gefürchteten Narbenverschluss der Papilla duodeni nennen, welche klinisch zu dem Bilde des Ieterus gravis führt.

Gerade mit Rücksicht auf jene Komplikationen hat daher

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auch die Prognose des chronischen Uleus duodeni von jeher für eine sehr ernste gegolten; zum mindesten ist das Leiden für gefährlicher als das Magengeschwür angesehen worden. Hieran haben auch die modernen chirurgischen Erfahrungen nichts geändert. Es ist zwar neuerdings besonders von Mendel, geltend gemacht worden, dass man diese Gefahren wohl überschätzt hat; wenn man aber hört, dass z. B. von 4 nichtoperierten Fällen von zum Busch, welche weiter verfolgt werden konnten, 2 an Perforation, 1 an Blutung zu Grunde ging, während der 4. dauernd seine Beschwerden behielt, wird man kaum annehmen dürfen, dass man es hier mit einem harmlosen Leiden zu tun hat. Auch Moyni- han sah nicht weniger als 3 Fälle, denen er vergeblich die Ope- ration angeraten hatte, später durch Blutung tödlich enden.

Es ergibt sich nun die für das praktische Handeln so über- aus wichtige Frage: Sind wir imstande, durch interne Maass- nahmen den Eintritt derartiger Katastrophen zu verhüten, d.h. eine Dauerheilung des Leidens herbeizuführen ?

Wenn man hierüber die Ansichten von Chirurgen wie Moyni- han, Mayo, Robson u. A. hört, die doch wohl meistens nur Patienten operieıt haben, die vorher jahrelang ohne dauernden Erfolg in interner Behandlung gestanden haben, so ist deren Urteil eigentlich recht absprechend.

Es soll hier zwar nicht bestritten werden. dass bei ent- sprechender interner Behandlung die Patienten oft beschwerdefrei werden. Die Beurteilung derartiger Erfolge sind aber nicht ganz leicht, da, wie wir sahen, beschwerdefreie Intervalle in geradezu typischer Weise auch spontan beim chronischen Uleus duodeni auftreten. Es kommt also auf die Dauererfolge an. Ob aber derartige wirklich bei interner Therapie in einem grösseren Prozentsatz zustande kommen, lässt sich einstweilen auf Grund der Literatur nicht sagen, da ein grösseres, auf Nachuntersuchungen beruhendes Material bisher nicht vorliegt. Einstweilen muss dies daher recht zweifelhaft bleiben. Es haben sich allerdings einzelne Interne recht optimistisch über ihre Heilerfolge ausgedrückt. So teilte Mendel 1905 mit: „Ich habe viele Patienten beobachtet, welche durch diese Leiden... .. aufs äusserste reduziert... . waren, bis endlich die richtige Diagnose gestellt, und eine ent- sprechende Kur sie in einigen Wochen von ihrem Leiden be- freite“. Das klingt gewiss recht schön, wir erfahren aber aus einer jüngst gemachten Mitteilung dieses Autors, dass etwa die Hälfte der Patienten später Rezidive bekamen; die Angaben über das endgültige Schicksal sind so wenig präzis gefasst, dass sie an dieser Stelle nicht berücksichtigt werden können.

Es ist dabei immer noch zu bedenken, dass selbst im gün- stigsten Falle doch wohl nie durch interne Maassnahmen zu er- reichen ist, dass nicht wenigstens Stenosen an Stelle des Ulcus zurückbleiben.

M.H.! Ich glaube nun, dass die chirurgische Therapie des chronischen Uleus duodeni die Behandlung desselben auf eine weit höhere Stufe bezüglich der Sicherheit des Erfolges gerückt hat. Gestatten Sie mir zunächst, ehe ich auf die erzielten Er-

155 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

gebnisse eingehe, einige Worte über die Methoden, die uns hier zur Verfügung stehen.

Von vornherein sollte man annehmen, dass die quere Re- section des Duodenums, vorausgesetzt dass sie ausgiebig genug erfolgt, die gegebene Behandlung des chronischen Uleus duodeni darstellt, da sie in radikalster Weise den erkrankten bzw. dis- ponierten Darmabschnitt eliminiert. Leider stösst dies in praxi vielfach auf recht erhebliche technische Schwierigkeiten; vor allem aber ist es jene heute noch kaum zu vermeidende Gefahr der postoperativen Lungenkomplikationen, welche derartige Ein- griffe so gefährlich machen können. Herr Professor Küttner hat daher auf dem letzten Chirurgenkongress auf Grund von 2 Fällen, die bei tadellosem Wundverlauf an postoperativer Lungengangrän zu grunde gingen, vor der Anwendung dieser Methode gewarnt.

Ebensowenig kann die einfache Excision des Geschwüres als eine empfehlenswerte Methode bezeichnet werden. Wenn wir uns vergegenwärtigen, was über die Pathogenese ausgeführt wurde, so führt ja eine derartige Exeision nur zu einer Narbe, wie sie auch spontan im Verlaufe dieser Erkrankung wohl des öfteren auftritt. Es ist aber nicht einzusehen, auf welche Weise diese Operation verhindern soll, dass an der alten Stelle oder irgendwo in der Umgebung sich späterhin ein neues Geschwür entwickeln soll, da die Verhältnisse, unter denen sich dieser Darmabschnitt befindet, in keiner Weise eine Veränderung erfahren.

Ausserdem verbietet sich diese Methode schon von selbst bei multiplen oder ausgedehnteren Geschwüren wegen der Gefahr einer Stenosierung, oder bei Geschwüren der hinteren Wand aus technischen Gründen.

Die gleichen Bedenken gelten wohl auch für die von Wilms neuerdings empfohlene Methode der Einfaltung des Uleus, die in ihrem Endeffekt wohl der Exeision gleichzusetzen ist.

Ich kann Ihnen das zuletzt Gesagte in gewisser Weise illu- strieren an einem Fall der Breslauer Klinik, bei dem im Jahre 1903 eine Pyloroduodenoplastik ausgeführt wurde, d. h. die Stenose längs gespalten und quer vernäht, im übrigen aber das Duodenum unter den gleichen Bedingungen gelassen wurde.

Paul F., 30jäbriger Mann. Seit seiner Lehrzeit kränklich, leidet an Sodbrennen und Verstopfung. Seit 6 Jahren öfters Schmerzen in der Magengegend, die I—2h nach den Mahlzeiten auftreten, dazu gesellte sich in letzter Zeit Erbrechen und Appetitlosigkeit.

Befund: Blasser, abgemagerter Mann, Magen sehr stark dilatiert, bei der Aufnahme werden 2!/, 1 ausgehebert, Gesamtaeidität 110, Salz- säure positiv. Ein Tumor ist nicht palpabel.

6. X. Operation: Magen völlig frei, an der Vorderseite des Anfangs- teiles des Duodenums zwei weisse strahlenförmige Verdiekungen mit adhärenten entzündlichen Strängen. An dieser Stelle etwa 21/s cm unter- halb des Pylorus ist der Darm bis auf Bleistiftdieke stenosiert. Gastro- duodeuoplastik.

26. X. Mit geheilter Wunde entlassen, doch bestanden noch Schmerzen, Erbrechen hat sistiert.

Februar 1904. Wieder starke Schmerzen nach dem Essen, Patient wird invalidisiert.

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 159

5. X. 1907. Wiedervorstellung. Es soll in letzter Zeit angeblich wieder Erbrechen erfolgt sein,

17. VII. 1910. Zweite Wiedervorstellung. Patient ist blass, mässig genährt, das Gewicht hat indess etwas zugenommen (111 Pfund gegen 95 vor der Operation). Patient klagt noch über Druck und gelegentliche Schmerzen nach dem Essen, die ca. 1 Stunde später auftreten. Mitunter Erbrechen, einige Mal soll Blut mit dem Stuhl abgegangen sein. Nüchtern ist der Magen bei Ausheberung leer, die Ausheberung nach Probemahl- zeit ergibt bei vorhandener freier Salzsäure eine Gesamtaeidität von 124. Patient ist seit 1904 nicht mehr arbeitsfähig.

Ich glaube, dass man nach diesem eben Mitgeteilten an- nehmen muss, dass die Stenose zwar beseitigt worden, der geschwürige Prozess als solcher aber unbeeinflusst geblieben ist.

Wenn man aber von dem Gedanken ausgeht, dass dem Uleus duodeni zwar eine Disposition zugrunde liegt, dass aber in letzter Linie die Geschwürsbildung nur durch die verdauende Kraft des Magensaftes zustande kommt, dann muss die Methode als die rationellste erscheinen, welche es ermöglicht, den Kontakt des Magensaftes mit dem Duodenum dauernd aufzuheben, das heisst chirurgisch ausgedrückt das Duodenum auszuschalten.

Man kann dabei auf eine Entfernung des Uleus selbst umso eher verzichten als beim Uleus duodeni im strikten Gegensatz zum Magengeschwür, bei dem eine sekundäre Careinombildung wie namentlich neuerdings Herr Prof. Küttner hervorgehoben hat einen überaus häufigen Vorgang darstellt, beim Uleus duodeni so eminent selten ist, dass man praktisch diese Möglichkeit gänz- lich vernachlässigen darf.

Der einfachste Weg, der uns nun zur Erzielung einer der- artigen Ausschaltung zur Verfügung steht, ist die Gastroenter- ostomie. Allerdings muss man sich darüber klar werden, dass diese Operation eine dauernde Ausschaltung und damit die Be- dingungen für eine radikale Heilung nur dann garantiert, wenn der Pylorus bereits verengert ist, da im anderen Falle der Magen- inhalt die Tendenz behält. trotz der Anastomose nach wie vor den Pylorus zu passieren. Ich möchte auf diese Verhältnisse, um deren Klärung sich namentlich Kelling ein besonderes Verdienst erworben hat, und die neuerdings vielfach diskutiert worden sind, hier nicht näher eingehen, und nur erwähnen, dass z. B. Moynihan regelmässig, falls nicht bereits eine Verengerung des Pylorus besteht, diese künstlich herbeiführt, indem er das Uleus durch Uebernähung einfaltet.

Ich bin überzeugt davon, dass vereinzelte Misserfolge, die nach Anlegung der Gastroenterostomie bei der Behandlung des Uleus duodeni beobachtet worden sind, nur darauf zurückzuführen sind, dass man diese Regel, in jedem Falle eine Verenge- rung des Pylorus herbeizuführen, nicht befolgt hat.

Es sind dagegen Fälle bekannt, wo trotz des Fehlens einer Stenose durch einfache Anlegung der Gastroenterostomie volle Heilung erzielt wurde. Moynihan nimmt zur Erklärung der- artiger Beobachtungen an, dass beim floriden Ulcus häufig ein Pylorospasmus besteht, welcher, ebenso wie eine organische Stenose, dazu führen kann, dass der Mageninhalt seinen Weg

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durch die künstlich geschaffene Oeffnung nimmt. Es ist nun bei der Tendenz der Duodenalgeschwüre zur Stenosierung möglich, dass, wenn in diesen Fällen bei Eintritt der Heilung des Ulcus der Pylorospasmus sistiert, die sekundäre narbige Verengerung dafür sorgt, dass das Duodenum nicht wieder in Kontakt mit dem sauren Mageninbalt tritt.

M.H.! Für die Praxis das Entscheidende sind natürlich die Erfolge. Ich kann Ihnen nun mitteilen, dass die tatsächlich mit der Gastroenterostomie erzielten Resultate durchaus dem ent- sprechen, was nach den theoretischen Voraussetzungen zu erwarten ist. Ich möchte Ihnen zunächst mit gütiger Erlaubnis meines Chefs über 4 in der Breslauer chirurgischen Klinik mit Gastro- enterostomie behandelte Fälle berichten, welche sämtlich zur Heilung gelangt sind. Einer derselben liegt allerdings erst wenige Wochen zurück, so dass er für die Beurteilung der Dauerheilung picht in Frage kommt, ich glaube aber, dass die übrigen geeignet sind, Ihnen ein recht günstiges Bild von den Leistungen dieser Operation zu geben.

Fall1l. Ferdinand B., 53jähriger Mann, aufgenommen 2. V. 1904.

Anamnese: Vor 18 Jahren litt Pat. an gleicher Erkrankung wie jetzt. Stuhl soll damals schwarz ausgesehen haben. In der Zwischenzeit gelegentlich Schmerzen in der Oberbauchgegend, erneute Attacke vor ö Jahren, Pat. gibt an, dass die Schmerzen 11/, Stunden nach Aufnahme von festen Speisen begannen (nach Aufnahme von Flüssigkeiten meist schon nach !/s Stunde). In der letzten Zeit häufig Erbrechen, hat 10—15 Pfund abgenommen. Ueber Blutungen nichts zu eruieren.

Befund: Gut genährter Manno, 100 pCt. Hämoglobin. Magen reicht bei der Aufblähung bis nahezu zum Nabel, nüchtern enthält der Magen etwas gelbliche Flüssigkait ohne mikroskopische Bestandteile, es besteht eine ausgesprochene Hyperacidität, nach Probemahlzeit 125 Gesamtaeidität, 60 freie HCI.

Operation am 7.V.1904. Laparotomie. Der Magen erscheint nicht vergrössert, Gallenblase am Magen adhärent, das Duodenum zeigt 4 cm unterhalb des Pylorus ein altes stenosierendes Ulcus. An dieser Stelle ist es an der Leberpforte adhärent. Gastroenterostomia retrocolica post. mit Naht.

21. V. Nach glattem Wundverlauf entlassen.

Pat. teilt brieflich im Juni 1910, also nach über 6 Jahren mit, dass es ihın dauernd gut geht, er kann alles essen. Erbrechen hat sich nicht wieder eingestellt, „ab und zu finden sich Magenschmerzen wieder, aber leichterer Natur.“

Ich glaube, dass man diesen Fall wohl als geheilt betrachten darf; es ist möglich, dass die leichten gelegentlich auftretenden Schmerzen auf die ausgedehnten, bei der Operation gefundenen Adhäsionen zurückzuführen sind.

Fall 2. Robert M., 36jähriger Mann, aufgenommen 27. VII. 1906.

Anamnese: Im Alter von 27 Jahren wurde Patient eines Nachts von Unwohlsein befallen, er stand auf, brach dann ohnmächtig zusammen, gleichzeitig erfolgte reichliche schwarze Stuhlentleerung und Erbrechen von dunklen Massen. Patient erholte sich dann, es bestanden damals Schmerzen in der Oberbauchgegend, oft vor dem Essen! Es folgte ein beschwerdefreies Intervall bis 1900, damals traten wieder Schmerzen auf, 4—5 Stunden nach den Mahlzeiten, nach erneuter Nahrungs-

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 161 aufnahme liessen die Schmerzen wieder nach. Einmal bemerkte Patient, dass der Stuhl wieder schwarz gefärbt@war, kein Erbrechen. In den nächsten Jahren wieder völlig gesund, Appetit gut, Gewicht 190 Pfd. 1902 stellten sich zeitweise Erscheinungen von Stenose ein, Appetitlosig- keit, öfters Erbrechen, Gefühl von Völle, Patient kam bis auf 122 Pfd. herunter. Unter häufigen Magenspülungen besserte sich dieser Zustand, später erfolgte dann wieder eine Darmblutung mit vorübergehender Ohnmacht, die Schmerzen waren des Nachts besonders heftig. Dieses Spiel wieder- holte sich unter zeitweisen Besserungen bis zum Jahre 1906, in welchem Herr Dr. Oppler mit Rücksicht auf die seit fast 10 Jahren sich wieder- holenden, mitunter sehr bedrohlichen Blutungen den Patienten unter der Diagnose Ulcus duodeni der chirurgischen Klinik zur Operation überwies.

Befund: Grosser, kräftiger, gesund aussehender Mann. Objektiv kein abnormer Befund zu erheben, Magen nüchtern leer, Acidität gesteigert, nach Probemahlzeit Gesamtacidität 102, freie HCl SO.

Operation am 31. VII. 1906. Laparotomie. Magen nicht vergrössert, am Pylorus alte Adhäsionen und Stränge. Unmittelbar hinter dem Py- lorus an der oberen Fläche des Duodenums eine strahlige Narbe. Ver- wachsungen werden zum Teil gelöst, G. E. retroc. post.

Patient schrieb am 10. VII. 1910: „Ueber mein Befinden kann ich das Allerbeste berichten. Ich habe seit der... . Operation auch nicht mehr die geringsten Beschwerden gehabt, ich lege mir in Bezug auf Diät gar keine Beschränkung und Vorsicht auf und befinde mich gleichmässig wohl. Ich bin in den vergangenen 4 Jahren keine Stunde krank ge- wesen. Mein Körpergewicht ist auf 178 Pfd. gestiegen.“

Fall 3. Paul T., 41 Jabre, aufgenommen 16. IV. 1907.

Anamnese: Pat. hatte zuerst vor 5 Monaten Schmerzen oberhalb des Nabels, rechts von der Mittellinie, seit 10 Wochen stärkere Kolik- anfälle, dieselben traten nach der Nahrungsaufnahme auf, wie in der Krankengeschichte angegeben wird, 2 Stunden nach der Abendmahlzeit. Erbrechen ist anscheinend nicht erfolgt, in letzter Zeit hartnäckige Stuhl- verstopfung. Ich bemerke, dass Patient prinzieller Antialkoholiker ist.

Befund: Mässiger Ernährungszustand. Im Epigastrium ein rundlich beweglicher, nicht druckempfindlicher Tumor, der bei Aufblähung des Magens verschwindet. Nüchtern enthält der Magen dünne gallig ge- fürbte Flüssigkeit ohne nachweisbare mikroskopische Bestandteile. Motili- tät herabgesetzt, Acidität stark erhöht, nach Probemahlzeit 130 Ge- samtaeidität, 60 freie H CI.

Operation 1. V. 1907. Laparotomie. Stränge und Adhäsionen am Pylorus, direkt am Pylorus eine von den Magenpartien deutlich abge- setzte stenosierte Partie. Der unterhalb befindliche Duodenalteil ist ge- bläbt und geht in eine Stenose über, welche durch einen Tumor der Pars descendenz gebildet wird. Die Konsistenz desselben ist weich, wegen Fehlens von derben Lymphdrüsenschwelluugen und des ganzen Aussehens nach wird derselbe für ein Uleustumor angesprochen. G. E. post retroc. mit Naht.

14. V. beschwerdefrei entlassen.

Herr Dr. Riedel-Rengersdorf, welcher den Patienten seiner- zeit der Klinik überwiesen hatte, hatte die Freundlichkeit, jetzt im Juli 1910 den Patienten nachzuuntersuchen. Nach der Mitteilung dieses Herrn befindet sich Pat. in gutem Ernährungs- zustand, Appetit gut, Verdauung völlig ungestört. Kolikartige Beschwerden bestehen nicht mehr, auch keine anderen Schmerzen. Öperationsnarbe fest, palpatorisch nichts Abnormes, speziell kein Tumor festzustellen. Pat. (derselbe ist Baumwollfärber) hat die

Schlesische Gesellsch,. f. vaterl. Kultur, 1910. II, 11

162 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

ganze Zeit über wieder in der Fabrik gearbeitet und hat seit der Operation nicht mehr in ärZtlicher Behandlung gestanden!).

Fall 4. Franz S., 41 Jahre alt, aufgenommen am 7. X. 1910. Dieser Fall liegt erst einige Wochen zurück, ich möchte aber denselben doch-wegen der charakteristischen Anamnese kurz anführen. Pat. ist etwa seit dem 17. Lebensjahr dauernd „magenleidend“, mit Intervallen von etwa 2 bis 3 Monaten. Die Schmerzen, über die er klagt, traten jedesmal 1 bis 2 Stunden nach der Nahrungsaufnahme auf; eine Er- leichterung stellte sich erst wieder ein, wenn aufs neue eine Kleinigkeit gegessen wurde. In gleichem Sinne wirkte Natron. Pat. wachte nachts öfters vor starken Schmerzen auf; er pflegte in letzter Zeit Kakes neben seinem Bett zu haben, um sich im Anfall damit helfen zu können. Mit der Art der Speisen hatten die Schmerzen nichts zu tun. Stuhl dauernd verstopft, mehrmals Abgang von hellrotem Blut (Hämorrhoiden?). Nie Erbrechen. In letzter Zeit Zunahme der Beschwerden.

Befund: Sehr kräftiger, wohlgenährter Mann. In der Magengegend Plätschergeräusche, Druckempfindlichkeit in der Gegend des rechten oberen Rectus, Diese Partie des Muskels fühlt sich deutlich etwas ge- spannter an. Magen enthält nüchtern 40 cem gallige Flüssigkeit, mikro- skopisch darin Stärkekörner. Blutprobe negativ. Nach Probemahlzeit 50 Gesamtacidität, 60 freie HCl; bei der Aufblähung reicht derselbe bis 2 Finger unterhalb des Pylorus. Der unter den üblichen Kautelen untersuchte Stuhl enthält chemisch nachweisbares Blut. Es wird die Diagnose auf Ulcus duodeni gestellt. 11. X. Laparotomie: Magen tiefstehend, leicht vergrössert. Dicht unter dem Pylorus befindet sich an der vorderen Duodenalwand eine 21/, cm lange, narbig verdickte, stenosierte Partie und Verwachsungen. Gastroenterostomia retroc. post. mit Naht.

24. X. Nach glattem Wundyverlauf entlassen. Pat. hat seit dem Tage der Operation keine Beschwerden mehr gehabt.

Ich bemerke, dass noch ein weiterer Fall im Jahre 1904 mit Gastroduodenostomie behandelt wurde. Wundverlauf war ungestört, Pat. ist 1909 an Tuberkulose gestorben. Ueber den Verlauf des Magenleidens war es nicht möglich, nähere Angaben zu erhalten.

M. H.! Ich glaube, dass diese soeben mitgeteilten Fälle wohl geeignet sind, Ihnen ein recht günstiges Bild von den Leistungen der Gastroenterostomie beim chronischen Ulcus duodeni zu geben. Im übrigen stimmen sie völlig zu den Erfahrungen, die nament- lich die genannten amerikanischen und englischen Chirurgen ich nenne ausserdem noch Barth-Danzig und zum Busch- London sich über die Erfolge dieser Operationsmethode beim chronischen Ulcus duodeni gebildet baben. Es mag dabei ohne hier im übrigen auf die chirurgische Therapie der Kompli- kationen des Ulcus duodeni überhaupt einzugehen noch kurz erwähnt werden, dass diese Methode unter Berücksichtigung der genannten Kautelen auch zur Behandlung von Blutungen Aus- gezeichnetes geleistet hat; bei ganz foudroyant verlaufenden Blutungen ist allerdings am besten jeder operative Eingriff zu unterlassen.

1) Ich bin Herrn Geheimrat Garre, welcher die beiden letztgenannten Fälle seinerzeit in der Breslauer Klinik operiert hat, für die liebens-

würdige Ueberlassung der Krankengeschichten zu besonderem Danke verpflichtet.

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 163

Gestatten Sie mir nur noch zum Schluss einige Worte über die Indieation zur chirurgischen Behandlung beim chronischen Uleus duodeni. Ich glaube nun, dass man hier von vornherein mit der Indication zur chirurgischen Intervention viel weiter gehen kann als beim Uleus ventrieuli, da wir in der unter den ge- nannten Kautelen ausgeführten Gastroenterostomie eine Methode besitzen, die eine derartig vollkommene Ausschaltung des Duodenums gestattet, wie es bei Magengeschwüren, besonders bei denen des Magenkörpers, niemals möglich ist. Sicherlich stellt aber eine derartige Ausschaltung das wesentlichste Moment zur Geschwäürsheilung dar; daher auch die bekannte Erfahrung, dass bei Geschwüren des Magenkörpers die mit der Gastroenterostomie erreichten Erfolge nur wenig befriedigt haben. Die Gefahr der Operation selbst, die meist in kürzester Zeit ausführbar ist, ist bei dem heutigen Stande der Asepsis als recht gering anzuschlagen.

Ich glaube daher, dass man in jedem Falle die Operation empfehlen sollte, wenn es sich um starke, dauernd rezidivierende Beschwerden handelt; dass sie bei Stenosenbildung indiziert ist, braucht wohl hier nicht erst besonders betont zu werden.

Ausser in den eben genannten Fällen glaube ich aber, dass die Operation noch eine weit grössere Anwendungsweise verdient, und zwar, wenn der Ausdruck gestattet ist, aus prophylaktischer Indication. Man darf doch nicht ver- gessen, dass über jedem Patienten mit Ulcus duodeni wenn das Leiden im Einzelfalle auch noch so harmlos aussehen mag das Damoklesschwert in Gestalt einer Perforationsperitonitis oder schweren Blutung schwebt. Mir liegt selbstverständlich fern, zu behaupten, dass nicht auch mancher Patient mit Ulcus duodeni glücklich an diesen Zwischenfällen vorbeikommt. Wir können es aber niemals den Fällen von vornherein ansehen, wie sie ver- laufen werden. Ich glaube deswegen, dass man nach den vor- liegenden Erfahrungen auch in anscheinend leichten Fällen vorausgesetzt natürlich, dass die Diagnose sichergestellt ist mit gutem Gewissen die Operation empfehlen darf, da dieselbe, ohne selbst eine erhebliche Gefahr zu verursachen, mit menschen- möglicher Wahrscheinlichkeit den Patienten vor deraıtigen Zufällen dauernd bewahrt. Es ist dies ein Postulat, das der bekannte Pariser Chirurg Tuffier vor langen Jahren bereits als eine logische Forderung bezeichnet hat.

XV. Die interstitielle Eierstocksdrüse.

Von

L. Fraenkel.

M.H.! Vor 9 und S Jahren habe ich in dieser Gesellschaft eine neue Funktion des Ovariums mitgeteilt, die an das Corpus luteum gebunden ist; sie besteht darin, durch innere Secretion die vierwöchentlichen zyklischen Veränderungen im Uterus zu be- wirken, welche dem befruchteten Ri die Ansiedelung ermöglichen, und zweitens den gleichmässigen erhöhten Gewebsturgor der Geschlechtsorgane während der Generationsjahre zu unterhalten. Das Corpus luteum entsteht aus dem reifen und geplatzten Follikel durch Ausfüllung seiner Höhle mit zahlreichen Oapillaren und grossen secreterfüllten Zellen. Bezüglich der letzteren nimmt die Mehrzahl der Forscher an, dass sie von der inneren Epithel- bekleidung des Follikels, der Membrana granulosa, herstammen; darum haben die Franzosen den gelben Körper als Glande £pitheliale de l’ovaire bezeichnet, der sie die Glande interstitielle als zweite aus Bindegewebszellen zusammengesetzte Drüse gegenüberstellten.

Einzelne sogenannte Zwischenzellen waren für Eierstock und Hoden schon früher vielfach beschrieben, so auch in dieser Gesellschaft durch Plato aus der Neisser’schen Klinik demonstriert worden. Aber ein aus interstitiellen Zellen zusammengesetztes drüsenartiges Organ hat erst Limon bei Kaninchen, Meer- schweinchen, Ratte, Maus, Maulwurf, Igel, Fledermaus entdeckt.

Seine Mitteilungen erschienen um die Zeit, als ich in der entwicklungsgeschichtlichen Abteilung von Born mit physio- logischen und anatomischen Untersuchungen über das Corpus luteum des Kaninchens mich beschäftigte. Es war uns schon längst aufgefallen, dass der Eierstock des Kaninchens im wesent- lichen aus grossen Zellen zusammengesetzt ist und dadurch von dem Bilde des menschlichen Ovariums differier. Wir konnten auch sogleich die Anordnung der Zellen zu drüsenähnlichen Formationen bestätigen, und mein damaliger Mitarbeiter Franz Cohn hat an den durch das physiologische Experiment ge- wonnenen Övarien die Ontogenese der interstitiellen Drüse in allen Stadien der Entwicklung geprüft und die histologische Unterscheidung vom Corpus luteum vorgenommen. Einige Jahre später bin ich, um die grosse Kluft zwischen dem Ovarium von Mensch und Kaninchen zu überbrücken, der Phylogenese der interstitiellen Drüse nachgegangen und habe über ihre Verteilung durch die Tierreihen an der Hand von Untersuchungen an 45 Tier-

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 165 spezies berichtet. Der Aufforderung unseres Vorsitzenden, die Ergebnisse hier vorzutragen, bin ich damals nicht nachgekommen," weil die feinen histologischen Details schwer demonstrabel ge- wesen wären, auch die Funktion des Organs noch ganz und gar in Dunkel gehüllt war. Unterdessen habe ich 50 weitere Tier- spezies, anfangs allein, später mit Frl. A. Schäffer!) gemeinsam untersucht und dadurch meine Erfahrungen erweitert, die Frage nach der Funktion der interstitiellen Drüse beginnt sich zu klären, und endlich verfügt unsere Section nunmehr über ein aus- gezeichnetes Epidiaskop, so dass ich heute wagen möchte, Sie über dieses neue Organ zu informieren.

Mein Material setzt sich aus den Ovarien der käuflichen Experimentiertiere (Kaninchen, Meerschwein, Maus, Ratte, Hund, Katze), sodann aus den Nutztieren des Schlachthauses (Kind, Schaf, Schwein, Ziege, Pferd) und endlich aus den Tieren des hiesigen zoologischen Gartens zusammen. Die Exemplare, welche zur Section kommen, werden fast durchgängig dem hiesigen zoologischen Institut zugeführt, dessen Direktor, Herr Professor Kükenthal, mir die ausgezeichnet konservierten Genitalorgane in liebenswürdiger Weise überliess.

Die Eierstöcke kamen entweder frisch zur Untersuchung, wurden dann zum Teil in Gefrierschnitten unter Vermeidung von Alkohol behandelt, mittels der funktionellen Färbungsmethoden (Sudan, Ponceau, Nil- und polychromes Methylenblau, Indophenol) auf Seerettröpfehen oder in den bekannten Flüssigkeiten fixiert, mit Alkohol nachgehärtet, in Paraffinschnitten mit den gewöhn- lichen histologischen Tinktionsmethoden untersucht. Die Ovarien sind stets so zerlegt, dass parallel zum Sectionsschnitt Keim- epithel, Albuginea, Rinde und die sogenannte Markschicht, bis hinunter zum Hilus in senkrechten Etagen aufeinander folgten. Aus der Reihe der S1 Tiere (eine Anzahl von Spezies waren in der ersten und zweiten Serie identisch), welche den 9 Ordnungen Marsupialia, Ungulata, Edentata, Rodentia, Insectivora, Chiroptera, ÜUarnivora, Prosimiae und Simiae angehören, habe ich 26 als für die heutige Demonstration am geeignetsten herausgesucht.

Ich beginne mit 5 Spezies, welche von den niedrigsten Placentalia, den Beuteltieren, bis zum Menschen aufsteigend, den für alle Tiere gleichmässigen Bau des Bierstocks nur in den der Grösse der Tiere entsprechend veränderten Dimensionen zeigen. So rufe ich bei dieser Gelegenheit am besten diejenigen histo- logischen Details in Erinnnerung, welche für das Verständnis der interstitiellen Drüse notwendig sind. Wir sehen die kernarme schmale Albuginea, darunter die breitere Rindenschicht, die aus dicht verfilzten stäbehenförmigen Kernen besteht (Zelleiber lassen sich mittels der gewöhnlichen Methode nicht darstellen), und in welcher die kleinen und mittleren Follikel Platz finden, während die heranreifenden, mit Flüssigkeit gefüllten grossen Follikel sowie die Öorpora lutea und albicantia bis in die tieferen Schichten der aus locker gefügten undifferenzierten Zellen bestehenden Mark-

1) Von dieser wird die neue Untersuchungsserie in extenso mit- geteilt werden.

166 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

schicht herunterreichen; darauf folgt der Hilus mit den grossen "Gefässen. Eine interstitielle Drüse fehlte bei diesen Exemplaren von Macropus, Hund, Meerkatze, Schimpanse, Mensch vollkommen.

Es folgen sodann 3 Ovarien, welche eine typische interstitielle Drüse enthalten: Spinn- und Kapuzineraffe sowie Katze:

Es handelt sich um Haufen, Nester, Zapfen, Stränge und Säckchen, welche in den tieferen Schichten des Eierstocks liegen, aus grossen epitheloiden Zellen bestehen, z. T. mit Secrettröpfchen dicht gefüllt sind und auf den ersten Blick einen Eindruck machen, wie etwa ein maligner Tumor. Die einzelnen Haufen sind durch das gewöhnliche lockere Zellgewebe der sogenannten Markschicht getrennt, liegen ziemlich dicht, konfluieren aber im allgemeinen nicht; sie werden aufs reichlichste von Capillaren umsponnen, welche in die Alveolen eindringen und sie durch ihre Verteilung in weitere Unterfächer von je ca. 6—10 Zellen abscheiden. Das Gesamtvolumen dieser Formation schwankt zwischen 1/,—°/;, des ganzen Eierstocks. Die Herkunft dieser Zellmassen wird ohne weiteres klar, wenn man sich mit dem Prozess der Follikel- atresierung beschäftigt. Von den ca. 36000 angelegten Eiern des Weibes werden in den Fortpflanzungsjahren etwa 360 ausge- reift und ausgestossen, die übrigen 99 pCt. bleiben entweder im Primordialstadium, die Rinde dicht durchsetzend, oder sie wachsen ein wenig heran und erfüllen, wie Ihnen das vom Lemurenaffen stammende Präparat zeigt, den Eierstock. Der Liquor follieuli wird aufgesogen, die Membrana granulosa degeneriert, die Eizelle entartet schollig oder hyalin, die Theca interna verdickt sich, ihre Zellen vermehren sich stark und dringen nach dem Zentrum zu vor. Schliesslich sieht man solide, kreisrunde Zellnester von sehr ver- schiedener, mitunter erheblicher Grösse. Sie sind allseitig von der Theca externa, einer zirkulären Bindegewebsfaserschicht, ab- geschlossen. Solche atretische Follikel zeigt Ihnen sehr schön ein Eierstock vom Löwen. Im Moment nun, wo unter Durch- brechung oder Zerstörung dieser äusseren Faserhülle die Zell- nester der Theca interna konfluieren, sich zusammenschliessen und gegeneinander abplatten, ist die interstitielle Drüse fertig, wie Sie das in sehr charakteristischer Weise bei dem breitstirnigen Wombat sehen: Die Fächer des Organs nehmen fast den ganzen Eierstock ein, und in etwa der Hälfte der Säckchen, deren jedes einzelne einem atretischen Follikel entspricht, sieht man im Zentrum als Beweis seiner Herkunft deutlich die degenerierte Eizelle liegen.

Wenn man einzelne runde Nester der Drüse mit starker Vergrösserung ansieht, wird man sehr oft glauben, ein Corpus luteum vor sich zu haben, wegen ihrer grossen Zellen und reich- lichen Capillaren (z.B. bei einem Exemplar vom Felsenkänguruh urd fast jedem Kaninchen). Erst der Vergleich mit dem wirk- lichen Corpus luteum lässt die Unterschiede ins Auge springen: die Corpusluteumzellen sind durchschnittlich viermal so gross, viel heller und minder dicht liegend, jede einzelne Zelle als Secretions- einheit von Capillaren umsponnen. Wenn das Corpus luteum auf der Höhe seiner Entwicklung steht, und ein neuer Follikel

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 167 heranwächst, so nehmen diese Bildungen einen so grossen Teil des Eierstocks in Anspruch, dass die interstitielle Drüse zwischen ihnen keilförmig auf ein bescheidenes Maass unter der Rinde zusammengedrückt ist (Streifenkänguruh), während man annehmen kann, dass nach dem Verschwinden dieser passageren Organe sie in gleicher Weise das ganze Bild wieder dominieren wird, wie bei den soeben genannten Verwandten. Ebenso tritt die inter- stitielle Drüse räumlich durch Einengung bei den graviden Pluri- paren stark zurück. Sie sehen hier Eierstöcke von Maus und Ratte, welche 3 bzw. 6 Corpora lutea graviditatis enthalten; so bleibt in den tieferen Schichten, in denen die gelben Körper zusammenstossen, gar kein und in der konvexen, etwas mehr Raum bietenden Rinde nur wenig Platz für die Entwicklung der inter- stitiellen Formationen, welche sonst den ganzen EBierstock er- füllen. Bei einem dritten schwangeren Tiere, unserem Haus- schwein, dessen corpusluteumfreies Ovarium ich Ihnen zeige, sehen wir hier wiederum einen Bau, der ganz mit dem vom Menschen bekannten Bilde des Eierstockes übereinstimmt; nichts von parenchymatösen, epitheloiden Zellnestern. Ich habe Ovarien von Sus scrofa aus allen Stadien des intra- und extrauterinen Lebens in Serien zerlegt und nirgends eine Andeutung der Drüse gefunden. Ein ähnliches Bild liefert das Warzenschwein, ferner der Pavian, während sein Verwandter, der Mandrill, auf den ersten Blick bei schwacher Vergrösserung eine deutliche Glande von grosser Schönheit zu besitzen scheint. Wir sehen die scharf distinkten Herde, in dichter Folge mit vradiärer Anordnung im Innern, sehr häufig im Zentrum der Alveolen die mit Eosin leicht rosarot gefärbten Eizellen. Vergrössern wir aber stärker, so zeigt sich, dass in den Säckchen nicht eine einzige Zelle vor- handen ist, dass die centripetal hineinsteigenden bei schwacher Vergrösserung als Öapillaren imponierenden Züge nur aus einer einfachen Lage stäbehenförmiger Kerne bestehen und kein Lumen in sich schliessen, dass dort, wo die schwache Vergrösserung die zwischen Öapillaren angeordneten Säulen die interstitiellen Zellen vermuten liess, kernlose hyaline Balken liegen. Hier haben wir eine grosse Anzahl Üorpora atretica vor uns, welche mittels der gleichen Metamorphose aus den atretischen Follikeln entstehen, wie das Öorpus albicans aus dem Corpus luteum. Ich möchte dieses Organ als Scheindrüse bezeichnen. Eine andere Form der Schein- oder der ausgedienten Drüse zeigen die Eierstocksschnitte bei einigen Raubtieren: der Zibethkatze und zwei Marderarten. Dieht unter der Rinde beginnend ein den ganzen Eierstock durcbsetzendes, ganz helles und bei schwacher Vergrösserung zellig erscheinendes Gewebe, welches entweder durch senkrecht zur Rinde aufsteigende Oapillaren in parallele Säulen geschieden (Viverra, Paradoxurus javanicus) oder durch ein zierlich ver- zweigtes Trabekelsystem in zahllose Septen geteilt wird (Para- doxurus hermaphroditieus). Sieht man dieses Gewebe mit starker Vergrösserung an, so findet man nur wenige Zellen, wohl aber ein Wirrwar von feinstem Bindegewebe oder fibrinösen Strängen, die Hohlräume in Form und Grösse von Zellen umschneiden.

168 Jahresbericht der Schles, Gesellschaft für vaterl. Kultur.

In diesen Räumen liegt gelegentlich ein Kern, ausserdem krümeliger Detritus, Protoplasmareste mit schaumigen Vacuolen oder nur Luft. Wir haben es hier mit verkümmerten Ueberresten einer einst- maligen ausgedehnten Drüse zu tun. Endlich demonstriere ich noch mehrere Eierstöcke mit ganz diffuser Drüse; einmal den kleinen Eierstock der Fledermaus, der, von der schmalen Rinde abge- sehen, aus etwa deciduaähnlichen, eckigen und epitheloiden Zellen besteht, welche einzeln in nicht sehr engen Abständen liegen und von Haarröhrchen getrennt sind; hier kann man die Her- kunft vom atretischen Follikel in keiner Weise deduzieren. Endlich zwei prachtvoll schöne interstitielle Drüsen von Fuchs und Iltis, die den ganzen Eierstock bis herab zum Hilus erfüllen und die Rinde auf ein äusserst schmales Band reduzieren. Die starken Vergrösserungen zeige ich zum Schluss in Diapositiven. Von unserem klassischen Demonstrations- und Experimentiertier, dem Kaninchen, welches auch eine der schönsten Glande besitzt, sehen wir die Fächer der Glandezellen, diese dunkel durch die Fülle der Secrettröpfchen, aber auch gleichzeitig den in bezug auf Zellgrösse und Capillarversorgung enormen Unterschied gegen das Corpus luteum; dasselbe nochmals beim Felsenkänguruh, die Grenze zwischen Glande und Follikel bei der Katze, den glandelosen Eierstock eines anthropoiden Affen. An der Stelle, wo bei anderen Tieren die Drüse sich befindet, haben wir hier teils die dicht verfilzten Kerne der Rinde, teils die losen, schlecht eapillarisierten und nicht mehr differenzierten Zellen der Mark- schicht, aber keine Andeutung jenes charakteristischen Gewebes. Soweit die Demonstration und nunmehr zur Gesamtdentung der Bilder und zur Bedeutung der geschilderten Formationen.

Wenn wir als Drüse mit innerer Secretion einen scharf um- schriebenen Komplex bezeichnen, dessen einzelne zu einer Einheit zusammengefügten zelligen Elemente deutlich die Zeichen der ab- sondernden Tätigkeit an sich tragen und mit dem Blutgefässsystem in breitester Verbindung stehen, so haben wir unter den 81 Spezies 32 mal diese zusammengesetzte alveoläre Drüse gefunden. Wir fanden in dieser Gruppe von Tieren vielfach auch Exemplare, welche keine drüsigen Gebilde aufwiesen. 40 Spezies liessen bei keinem Exemplar eine wohlausgebildete interstitielle Drüse er- kennen; doch weisen einige wenige Tiere dieser Gruppe Bilder auf, die als Andeutung oder Reste des Organes angesehen werden könnten. Immerhin haben weit über 50 pÖ©t. aller unter- suchten Tiere nicht die geringsten Spuren einer Glande erkennen lassen. Die Gruppierung der Tiere war eine scheinbar ganz regellose und ohne Rücksicht auf Rasse, Spezies, Familie, Ordnung, Alter, Geschlechtsphase. So erklärt es sich auch, dass ich bei meiner Demonstration die Tierfamilien scheinbar ganz willkürlich aufeinander folgen liess. Manche Ordnung scheint die interstitielle Drüse niemals aufzuweisen (Huftiere), andere beinahe immer (wie die Nager); im allgemeinen besitzen die kleinen Tiere sie häufiger als die ganz grossen. Meine Beschreibungen gelten immer nur für das betreffende Exemplar, nicht für die Gesamt- heit der Spezies.

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 169

Bei Menschen kann man sehr viel Ovarien durchsuchen, ohne auch nur die leisesten Spuren zu finden. Seitz und Wallart haben Bilder beschrieben und abgebildet, welche an die schwächsten Grade der Drüse bei den Tieren ein wenig erinnern und histogenetisch mit ihr übereinstimmen, indem an Follikeln und Cysten die Theca interna mitunter sich verdickt, die Theca externa durchbricht und einzelne Zellen oder Zellzüge in die Um- gebung sendet. Solche Bilder wurden hauptsächlich in der Gra- vidität beschrieben, doch haben A. Schäffer und ich sehr viele Övarien Schwangerer untersucht, ohne diese Bilder zu finden. Von einer echten Glande kann jedenfalls auch für den Menschen nicht die Rede sein. Demnach haben wir es mit einer in der Tierreihe höchst fliessenden und sehr häufig fehlenden Bildung zu tun; man wird daher vielleicht fragen, ob trotz der Erfüllung der obigen Definition das Gebilde wirklich als Drüse fungiert. Solche Skepsis geht meines Erachtens zu weit. Es handelt sich um ein in vielen Fällen äusserst typisches, weit verzweigtes Organ, welches mitunter den ganzen Eierstock in Anspruch nimmt: auch die grosse morphologische und histogenetische Verwandtschaft mit dem Corpus luteum spricht für seine Bedeutung.

Welches ist nun die Funktion dieser Drüse?

Die Hauptleistung der inneren Secretion des Eierstockes, der protektive Einfluss auf die übrigen Genitalorgane, besonders den Uterus und das Ei, gehört der interstitiellen Drüse nicht zu, da ihn meine früheren und neuerdings publizierten Experimente!) als ausschliesslich an das Corpus luteum gebunden erkennen lassen. Ich erinnere daran, dass ich in dem Zeitraum zwischen Be- fruchtung des Eies und Mitte der Gravidität beim Kaninchen 52 mal den ganzen Eierstock und 112 mal sämtliche Corpora lutea isoliert entfernte (49 mal stumpf, ohne Glüheisen und 7 mal bei einseitiger Ovulation, obne das andere Ovarium zu berühren): Steis gingen die Eier zugrunde. Diesen 164 Experimenten der Totalausschaltung stellie ich 110 Kontrollversuche aller Art gegenüber mit 50 zum normalen Termin forschreitenden Gravidi- täten und mit 22 neuen Konzeptionen nach meinen Operationen.

Das sind eindeutige Zahlen von solcher Grösse, dass damit die Funktion des Corpus luteum festgelegt ist. Nun liegen aber dem Eierstock noch weitere Leistungen ob, von denen noch nicht bekannt ist, ob sie alle an das Corpus luteum gebunden sind. Ich meine die sekundären Geschlechtscharaktere (Art des Haar- wuchses, des Knochenbaues, Stimme, Ausbildung und Funktion der Brüste), geschlechtliche Libido, der Stoffwechsel besonders von Kalk und Phosphor und die Beeinflussung des Blutdruckes. Es ist noch nicht sicher, ob die Abhängigkeit der genannten Funktionen von der Geschlechtsdrüse auch an das Corpus luteum gebunden ist; sie scheinen, obne dass die Oyulation regelmässig stattfindet, zu bestehen (vor der Pubertät, nach der Klimax, in der Gravidität, Laktation und unter pathologischen Verhältnissen).

1) Archiv f. Gynäkol., Bd. 68 u. 91.

170 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Auch diese Funktionen können nicht von der interstitiellen Drüse geleistet werden, denn sie ist, wie wir gesehen haben, inkonstant, während die erwähnten Erscheinungen dauernd und bei allen Tieren zur Beobachtung kommen.

Somit können wir keine der bis jetzt bekannten EBierstocks- obliegenheiten der interstitiellen Drüse zuerkennen. Es kann sich nur um inkonstante, also. wohl untergeordnete Funktionen handeln oder um eine nebensächliche Leistung im Sinne des Antagonismus, der Synergetik, oder des Vikariierens, nach welchen drei Rich- tungen bekanntlich alle Drüsen mit innerer Secretion tätig sind?). Dass die Funktion im allgemeinen nach der Richtung des Corpus lutenm gehen wird, dürfen wir aus der schon mehrfach erwähnten Uebereinstimmung in Erscheinung, Form und Histogenese mit einiger Sicherheit folgern, aus demselben Grunde einen Antagonis- mus ablehnen, zumal meine Ausfallsversuche mit dem ganzen Eierstock, welche dasselbe Resultat haben, wie die isolierte Ent- fernung der gelben Körper, gegen einen wirksamen Antagonismus sprechen. Für die Richtigkeit der Annahme einer Synergie bzw. vikariierenden Eintretens in der Richtung der Corpora lutea- Tätigkeit spricht eine scharfsinnige Beobachtung der französischen Forscher Ancel und Bouin. Diese Autoren stellen fest, dass die Tiere bezüglich ihrer Geschlechtsfunktion in zwei Gruppen eingeteilt werden müssen, in solche, welche eine spontane Ovu- lation in zyklischen Intervallen besitzen, und jene, welche nur auf äussere Einflüsse gelegentlich, aber nicht regelmässig, ovu- lieren. Zu der ersten Gruppe gehören ausser den Menschen ge- wisse Affen, dann unsere Haustiere: Pferd, Kuh, Schaf; diese ovulieren in ca. 3—4 wöchentlichen Zwischenräumen; Schwein, Hund und andere seltener, aber gleichfalls regelmässig. Alle diese Tiere bilden ein Corpus luteum, auch ohne Eintritt der Be- fruchtung, ja ohne jede Möglichkeit einer solchen. Sie besitzen also das „Corps jaune gestatif“ und ein „Corps jaune periodique“. Diese Tiere haben sämtlich keine Glande, alle secretorische Arbeit wird vom Corpus luteum allein geleistet. Die zweite Gruppe, zu der unter anderen die Mehrzahl unserer Nager gehört, hat die Övulation nur dann, wenn ein äusserer Reiz sie veranlasst, wie Wechsel in Klima oder der Nahrung, in erster Reihe die Kopu- lation. Diese Tiere haben also im wesentlichen ein Corps jaune gestatif, welches sich nicht in regelmässigen Intervallen bildet. Das Corps jaune periodiguae fehlt ihnen, sie sind unter Um- ständen längere Zeit ohne jedes Corpus luteum. Diese Tiere haben eine interstitielle Drüse. Danach wäre die Glande inter- stitielle berufen, die fehlenden Corpora lutea zu ersetzen, an ihrer

1) Ich möchte bier darauf aufmerksam machen, dass die Blutdrüsen zum grossen Teil eine bestimmte Beziehung in ihrer Lage zeigen. Sie treten nämlich meist in der Zweizahl auf, oder eine von ihnen liegt in einer anderen Drüse mit äusserer Secretion eingeschlossen. (Vergl. vor- deren und hinteren Lappen der Hypophyse, Rinde und Mark der Neben- niere, Thyreoidea und Epithelkörperchen, Pancreas und Langerhans- sche Zellinseln, Corpus luteum und interstitielle Drüse des Eierstocks u. a. m.)

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 171

Stelle das notwendige Ovarialsecret zu bilden und ins Blut zu liefern. Es bestehen zwei verschiedene Vorgänge. 1. Reifen des Follikels;: physiologisches Platzen desselben auf der Höhe der Entwicklung, Bildung einer einfachen, kugeligen, grossen, alveolären Drüse mit intensiver, kurz dauernder Funktion. 2. Die Follikel reifen nicht, schliessen sich ab. bleiben in der Tiefe, konfluieren, bilden mit anderen, vom gleichen keschick betroffenen eine zusammengesetzte, alveoläre Drüse von ungefähr gleichem Flächenraum wie das Corpus luteum, deren Leistung mehr protrahiert und quantitativ geringer ausfällt, weil die höchste Funktion, die der Ei- produktion fehlt. Dieser von mir hier etwas mehr aus- gesponnene Gedanke hat sehr viel Plausibles und Fruchtbares in sich, kann aber so lange nicht erwiesen werden, bis wir die Sexualphysiologie aller Tiere so genau kennen, wie die Ana- tomie des Övariums, speziell die Verteilung der interstitiellen Drüse über die Tierreihe. Letztere ist uns nun einigermaassen bekannt, aber von den wenigsten Tieren, namentlich von den in der Wildheit lebenden, wissen wir Näheres über die Bedingungen der Ovulation. Bei allen Tieren aber, von denen wir einen Ein- blick hierin haben, hat das Ancel-Bouin’sche Gesetz bisher gestimmt, und darum habe ich es hier angeführt. Erweist es sich auch in der Folge als zutreffend, so ist meine aprioristische Meinung, die Glande interstitielle sei zur Stellvertretung und und Unterstützung des Corpus Juteum berufen, richtig.

Experimente über die Tätigkeit der Glande lassen sich mit unserer jetzigen Technik nicht gut anstellen. Wir können dieses Organ nicht isoliert ausschalten, speziell nicht operativ entfernen. Es hängt mit den grossen Gefässen zusammen, hat einen zentralen Sitz und wird von der Bierstocksrinde überdacht, die an ihm ihren Halt hat. Die vorgeschlagene Zerstörung der Rinde, um indirekt die Funktion der Glande zu ermitteln, ist bisher auch noch nicht sicher gelungen, weder mit Röntgenstrahlen, die, nach Untersuchungen, welche Specht im Neisser’schen und in meinem Laboratorium vornahm, auch die Glande interstitielle schädigt, noch mit der sogenannten Ektopierung des mit den Gefässen im Zusammenhang bleibenden Eierstocks (Villemin), noch mit der von mir versuchten Decortikation.

Da der letzte Schlussstein des Gebäudes fehlt, so muss ich fürchten, dass meine heutigen Ausführungen über die interstitielle Drüse keinen voll befriedigenden Eindruck hinterlassen; ihre Tätig- keit lässt sich nicht mit der fast mathematischen Genauigkeit beweisen. wie die des Corpus luteum. Es erschien indessen wünschenswert, in einer Zeit, in welcher die Lehre von den Drüsen mit innerer Seeretion und ihrem Zusammenhang so weite Kreise zieht, in Vervollständigung früherer Vorträge über die Physiologie des Ovariums, auch über diese in der Zwischenzeit entdeckte Drüse Sie möglichst genau zu informieren.

XVII.

Klinische Beobachtungen an anaphylaktischen Anfällen nach Seruminjektionen.

Prof. Dr. Ed. Allard.

Im Verhältnis zu der immer noch wachsenden Verbreitung der Serumtherapie sind die Berichte über bedrohliche Begleit- erscheinungen bisher noch spärlich geblieben. Die gewöhnlichen Symptome der Serumkrankheit, deren genauere Kenntnis wir v. Pirquet und Schick verdanken, haben wir insbesondere bei Kindern als zwar unangenehme, aber doch ziemlich harmlose Komplikationen kennen gelernt. Nur wenige Erkrankungen, die fast ausnahmslos Erwachsene betrafen und im Anschluss an eine zweite Seruminjektion sich einstellten, erinnern in der Schwere und Eigenart ihres Verlaufs an die gefahrdrohenden Sym- ptome der Anaphylaxie, die wir bei Tieren durch Vorbe- handlung mit artfremdem Serum hervorrufen können. Inner- halb weniger Monate hatte ich nun Gelegenheit, bei zwei Kollegen lebenbedrohende anaphylaktische Anfälle zu be- obachten, die beide Male nach einer prophylaktischen Serum- injektion aufgetreten waren. Ueber den eigenartigen Verlauf des Symptomenkomplexes will ich zunächst berichten.

1. Prof. S., 34 Jahre alt, vollkommen gesund, wurde durch einen unglücklichen Zufall mit virulenter Milzbrandkultur bespritzt und im Gesicht getroffen. Das sofort bestellte Milzbrandserum traf mit der Vor- schrift ein, es mehrmals intravenös anzuwenden. Da der Patient sich jedoch dazu nicht entschliessen konnte, so liess er sich 10 ccm des Milz- brandserums es war Hammelblutserum subeutan dicht unter- halb des rechten Rippenbogens zwischen vorderer Axillar- und Mammillar- linie injizieren. Etwa eine Viertelstunde später trat mitten in der Arbeit ohne Vorboten plötzlich Blutandrang zum Kopf ein mit starkem Hitzegefühl und Kopfschmerzen; das Gesicht war dunkelrot cyanotisch verfärbt und stark ödematös geschwollen. Die Atmung war frequent, der Puls gut. Temperatur 37,5. Dieser Zustand dauerte ungefähr !/ Stunde; dann verschwanden ebenso plötzlich die Kopfschmerzen, das Hitzegefühl, die Verfärbung und Gedursenheit des Gesichts, es trat viel- mehr nun neben auffallender Blässe ein starkes Kältegefühl des Gesichts

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 173

und der Extremitäten auf ohne Schweissausbruch. Erst jetzt fühlte der Patient Schmerzen an der Injektionsstelle, die auch auf Druck sehr empfindlich war. Das Wesentlichste aber war das Auftreten von Atem- not mit starkem Angstgefühl, das sich in liegender Stellung zum Er- stickungsgefühl steigerte; bei jeder Bewegung nahm die Atemnot zu. Dabei allgemeine Schwäche und Vernichtungsgefühl. Temperatur 35,5. Reeht charakteristisch ist es, dass der Kranke durch Aufstützen der Arme seine Atmung zu verbessern bestrebt war. In einem freieren Intervall fuhr der Kollege nach seiner Wohnung, bekam aber unterwegs abermals einen stärkeren Anfall von Dyspnoe, so dass er kaum sein Zimmer erreichte, wo er sich sofort unbeweglich mit aufgestützten Armen hinsetzte. Er beobachtete an sich selbst, dass er nur ganz oberflächlich atmen konnte unter heftigen Schmerzen an der Injektionsstelle in der rechten Seite, wo er das Gefühl einer starken Kompression des Thorax empfand.

Etwa zwei Stunden nach der Injektion fand ich den Patienten un- beweglich an seinem Schreibtisch sitzen; er sah blass und verfallen aus mit tiefliegenden Augen, die in weitem Umkreis dunkel zerniert waren. Die Blässe erstreckte sich über den ganzen Körper, insbesondere waren die Extremitäten intensiv blass und ebenso wie das Gesicht eis- kalt, ohne Schweisssecretion. Der Puls war sehr klein, aber regel- mässig und gleichmässig, 110 in der Minute. Die Herzgrenzen an nor- maler Stelle; die ersten Töne leise, dagegen der zweite Aortenton stark akzentuiert und klingend, wie man ihn nur bei Schrumpfniere zu finden pflegt. Die Atmung war sehr oberflächlich und frequent, 50—60 in der Minute, ungleichmässig und zeigte unregelmässige kurze Pausen. Dabei hatte der Patient das Gefühl einer starken mechanischen Be- hinderung der Atmung an der rechten Thoraxseite, wo sich an der In- jektionsstelle eine überhandtellergrosse starke Schwellung und Rötung fand mit zentraler Quaddelbildung. Selbst bei leisester Berührung wurde lebhafter Schmerz geäussert, der auf die ganze rechte Rumpfseite und in den rechten Arm irradiierte. Die Untersuchung ergab, dass der Thorax bei der Atmung sich zwar sehr wenig, aber beiderseits gleich- mässig ausdehnte; die Lungengrenzen standen an normaler Stelle, vorn rechts 6. Rippe, hinten zwischen 10. und 11. Brustwirbeldorn. Das Sensorium war vollkommen frei; der Patient nur in hin und wieder auftretenden kurzen Perioden von stärkerem Erstickungsgefühl unruhig. Erbrechen oder Uebelkeit war nicht vorhanden.

Da anderes nicht zur Hand war, liess ich dem Patienten eine grössere Menge sehr starken Kaffees geben. Nach 20 Minuten trat ein Gefühl der Erleichterung ein zugleich mit der Möglichkeit tieferer Atmung; die Atemfrequenz sank auf 36 und allmählich weniger. Die Blässe der Extremitäten und des Gesichts verschwand allmählich, die Peripherie, bis dabin ganz kalt, zeigte wieder die normale Wärme. Nach Verlauf einer Stunde, 41/, Stunden nach der Injektion, war die Atmung wieder normal, der Puls war voller, 100 in der Minute. 2 und 4 Stunden später kam nochmals je ein kurzer Anfall von Dyspnoe, die ich jedoch nicht mehr beobachtete. Der abends gelassene konzentrierte Urin war frei von Eiweiss und Zucker. Am folgenden Tage bestand gutes Allgemeinbefinden. Die Injektionsstelle zeigte noch in der Umgebung Urticariaquaddeln mit starkem Juckreiz. Am 6. Tage nach der In- jektion bekam der Patient nochmals ein fleckiges urticarielles Exanthem, das jedoch am gleichen Tage verschwand,

Aus der Anamnese dieses Kollegen ist nachzutragen, dass er vor 7 Jahren wegen Diphtherie mit Serum, also Pferdeserum, behandelt worden war und damals, soweit er sich erinnern kann, keine Beschwerden nach der Injektion hatte. Vor 5!/, Jahren bekam er wegen einer Angina

174 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

wieder eine Seruminjektion, also abermals von Pferdeserum und hatte danach neuralgische und myalgische Beschwerden und Albuminurie. Vor 11/, Jahren wurde er gegen Tollwut immunisiert mit Kaninchen- rückenmark. Er erhielt im ganzen 21 subeutane Injektionen, auf die er mit Infiltration und Quaddelbildung reagierte; nach achttägiger Be- handlung fühlte er sich damals sehr elend und nahm erheblich an Körpergewicht ab. Bei der diesmaligen Serumbehandlung handelte es sich um Hammelserum, mit dem der Patient niemals vorbe- handelt worden war.

2. Stabsarzt W. wurde wegen einer Verletzung, die er sich bei der Behandlung eines Tetanuspatienten zugezogen hatte, prophylaktisch mit Tetanusserum, also Pferdeserum behandelt, und zwar wurden ihm 10 cem des Serums subeutan in den linken Oberarm injiziert. Etwa 4—5 Stunden nach der Injektion trat bei dem Patienten ein plötzlicher Anfall von Uebelkeit und Schwindelgefühl mit starker Blässe des Gesichts auf, der bald vorüberging. Gleichzeitig bemerkte er das Auftreten von Urticariaguaddeln am linken Unterarm und Schmerzen, Rötung und Schwellung an der Injektionsstelle. In den nächsten zwei Tagen nahmen diese Reaktionserscheinungen am linken Oberarm noch weiter zu in Form von sehr starker Schwellung mit lokaler Hitze und dauerndem juckendem Schmerz, gingen aber am 3. Tage zurück; nur das Jucken blieb bestehen. Am 3. oder 4. Tage trat statt dessen plötzlich von neuem Urticaria am linken Unterarm auf, die nach einer halben Stunde verschwand. Dieser Vorgang wiederholte sich nun in den nächsten Tagen und Nächten öfters unter allmählicher Häufung der Anfälle, des Auftretens und Verschwindens der Quaddeln, die jedoch immer auf den linken Unterarm beschränkt blieben. In der Nacht vom 7. auf den 8. Tag trat nun plötzlich nach einigen vorhergehenden Urti- cariaanfällen am linken Arm, wie bisher, eine allgemeine Verbreitung der Urticaria über den ganzen Körper ein mit unerträglichem Jucken. Der Patient fühlte sofort Stuhldrang und entleerte diar- rhoischen Stuhl. Auf dem Abort wurde es ihm schwarz vor den Augen, er musste erbrechen und bekam ein Gefühl von Atemnot; zugleich hemeıkte er, dass die Urticaria verschwunden war. Er gelangte mit Mühe wieder in sein Bett, wo er sich bald erholte und wieder einschlief. Nach etwa 1!/, Stunden wiederholte sich aber der Anfall von allgemeiner Urticaria, auf deren Höhe er diesmal Schluck- beschwerden bekam mit dem Gefühl, als ob ihm der Hals zugeschnürt würde. Er hatte starken Hustenreiz mit heftigen brennenden Schmerzen hinter dem Sternum, wie bei einer akuten Tracheitis. Dazu Salivation. Auf der Höhe der Beschwerden wiederum plötzliches Verschwinden der Urticaria, kurz darauf Erbrechen und schweres Prostrationsgefühl. Dann trat wieder eine Pause ein, deren Dauer jedoch wesentlich kürzer und von einem gleichen Anfall wie vorher gefolgt war, wobei diesmal die Erschwerung der Atmung noch stärker sieh geltend machte. Das Sen- sorium war immer ganz frei; die Temperatur 36. Bald nach diesem Anfall sah ich den Patienten. Er sass unbeweglich in einem Lehnstuhl mit ängstlichem Gesichtsausdruck und sah sehr blass und verfallen aus. Die Blässe erstreckte sich auch auf den übrigen Körper, und im Einklang damit bestand subjektives und objektives Kältegefühl. Die Haut war frei von Schweiss.. Das ganze Aussehen des Patienten war auffallend verändert. Das Gesicht war stark gedunsen, ebenso zeigte sich eine erhebliche Volumszunahme der Extremitäten; die Hände und Finger hatten geradezu unförmliche Dimensionen ange- nommen.

Der Puls war zunächst nicht fühlbar, später fühlte man ihn hin und wieder fadenförmig, sehr unregelmässig und ungleichmässig. Die

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I. Abteilung. Medizinische Sektion. 175

Herztöne waren sehr leise, die Herztätigkeit 150—160 in der Minute. Während ich den Patienten beobachtete, fiel mir besonders die Atmung auf. Eine Dyspnoe bestand nicht, die Atmung erfolgte mechanisch ganz ungehindert. Aber es traten sehr oft beängstigend lange Atempausen auf, Zustände von Apnoe, die von verschieden langer Zeitdauer entweder durch eine einzige sehr tiefe, oder durch mehrere unregelmässige Respi- rationen unterbrochen wurden. Diese apnoischen Pausen konnten willkürlich unterbrochen werden; zum Atmen ermahnt, machte der Patient gewöhnlich einige Atemzüge, dann trat wieder eine Pause ein. Die Atemzüge waren frei, ein dyspnoischer oder asthmatischer Zustand bestand nicht und trat auch im weiteren Verlauf meiner Beobachtung nicht auf.

Nach subeutaner Campherinjektion liess ich nun den Kranken in die nahegelegene medizinische Klinik überführen; unterwegs trat Er- brechen ein. Als ich den Patienten etwa zehn Minuten, nachdem ich ihn verlassen hatte, wiedersah, hatte sich das Krankheitsbild sehr ge- ändert. Die Haut des ganzen Körpers war intensiv gerötet und mit zahlreichen Quaddeln bedeckt, die einzeln standen oder auch viel- fach konfluierten; dabei wurde der Patient von unerträglichem Jucken gequält. Das Gesicht war roteyanotisch und noch mehr gedunsen als vorher. Der Puls war fühlbar, sehr klein und unregelmässig, aber im ganzen etwas besser als im vorigen Stadium. Die Atmung war auch jetzt frei, von Cheyne-Stokes’schem Typus, wie vorher. Nach etwa 15 Minuten verschwand plötzlich die Urticaria und damit das Jucken vollständig; es trat eine allgemeine Blässe der ganzen Körperoberfläche ein, das gedunsene Gesicht wurde fahl; keine Schweisssecretion. Zunächst fühlte sich der Kranke nun etwas er- leiehtert durch das Aufhören des Juckens, aber bald fing er an, über Uebelkeit zu klagen, die sich immer mehr steigerte und schliesslich zum Erbrechen führte. Das Erbrochene bestand aus einer geringen Menge trüber Flüssigkeit, die nicht salzsäurehaltig war. Der Puls war in dieser ganzen Periode nur zuweilen fühlbar, fadenförmig. Ausserdem bestand subjektives und objektives Kältegefühl. Die Atmung behielt den oben beschriebenen Typus. Nach dem Erbrechen fühlte sich der Patient er- leichtert, ohne dass sich an den anderen Symptomen etwas änderte. Nach einer Pause wiederholte sich dann der ganze Vorgang mit dem Einsetzen der uuiversellen Urticaria wie vorher. Zweimal hatte der Kranke im Laufe des Vormittags plötzlichen Stuhldrang und entleerte diarrhoischen Stuhl. Die Temperatur war 36,3.

Der geschilderte Zustand dauerte bis gegen Abend an. Die Pausen zwischen den Anfällen wurden im Laufe des Nachmittags allmählich länger, die einzelnen Anfälle weniger heftig und anhaltend, bis sie schliesslich ganz aufhörten. Dann wurde auch der Puls besser und weniger frequent, sowie regelmässig, blieb aber noch sehr weich und ungleichmässig. Die Atmung war ebenfalls völlig normal. Der Patient, der noch wie zerschlagen war, verbrachte eine leidliche Nacht.

Urin war während des Änfalls nicht gelassen worden, der abends entleerte war konzentriert und frei von Eiweiss und Zucker.

Die Behandlung bestand in subcutanen Injektionen von Campher und Coffein.

Am Tage nachher war das gedunsene Aussehen des Patienten noch sehr ausgesprochen, verschwand aber im Laufe des Tages mit einer Harnflut von 3 Litern; auch dieser Urin war frei von pathologischen Bestandteilen. Bemerkenswert war an diesem ersten Nachtage das Auf- treten von heftigen Neuralgien in beiden Beinen und am zweiten auch im linken Arm mit Druckempfindlichkeit im Ischiadieus beiderseits und im Axillaris links.

176 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Kultur.

Aus der Anamnese dieses Patienten ist zu berichten, dass er 1898 mit Diphtherieserum, also Pferdeserum, behandelt wurde, und zwar bekam er eine grössere Menge, ca. 20 ccm, subeutan injiziert. Er.er- innert sich noch, dass er damals sofort eine leichte lokale Reaktion hatte, aber keine Allgemeinerscheinungen. Im Jahre 1904 erhielt er abermals wegen schwerer Diphtherie eine subcutane Injektion von Serum, also abermals Pferdeserum, und zwar vormittag. Nachmittags gegen 5 Uhr trat plötzlich eine allgemeine Urticaria am ganzen Körper auf, die nach ca. 2 Stunden wieder verschwand. Die Herztätig- keit war sehr elend und erregte grosse Besorgnis. Eingehende Beob- achtungen sind damals nicht gemacht worden, jedoch erinnert sich der Patient noch deutlich, dass er auch damals eine erschwerte Atmung hatte.

Wir sehen also, dass in zwei Fällen, auffallend kurze Zeit nach einer Seruminjektion Krankheitserscheinungen aufgetreten sind, die in ihrer Intensität und auch in Einzelheiten verschieden, doch im ganzen so ähnlich verlaufen sind, dass an ihrer Iden- tität nicht zu zweifeln ist. Da wohl täglich die gleichen anti- toxinhaltigen Sera in gleicher Weise prophylaktisch und thera- peutisch angewandt werden, ohne dass die so behandelten Patienten mit den gleichen schweren Krankheitsbildern darauf reagieren, so ist ohne weiteres klar, dass unsere beiden Kranken gegen die Einverleibung des Serums besonders empfindlich, dass sie über- empfindlich waren und nur wegen dieser ihnen eigentümlichen Ueberempfindlichkeit mit den gefahrdrohenden Symptomen auf den scheinbar so harmlosen Eingriff reagierten. Das in dem Serum enthaltene Antitoxin ist dabei ganz gleichgültig, es ist vielmehr das Serum an sich, und zwar das in dem Serum enthaltene art- fremde Eiweiss, gegen das die Ueberempfindlichkeit bestand und das die krankmachende Wirkung ausübte. Wie uns seit den ersten zielbewussten Untersuchungen von Richet, Arthus, v. Piqguet und Schick u. a. bekannt ist, kann man nun diesen Zustand der Ueberempfindlichkeit gegen artfremdes Eiweiss künst- lich erzeugen durch Vorbehandlung mit eben diesem Eiweiss selbst. Es stellte sich heraus, dass Tiere, denen man eine ge- wisse Menge artfremden Eiweisses, das für sie absolut ungiftig ist, subeutan, intravenös, intraperitoneal usw., jedenfalls aber parenteral injiziert, sie nach Verlauf einer gewissen Zeit, der Inkubationszeit, gegen dieses Eiweiss überempfindlich sind, so dass sie nunmehr bei nochmaliger Injektion des gleichen Eiweisses, selbst in geringer Menge, mit schweren Krankheitserscheinungen, ja tötlichem Ausgang reagieren. Richet, der ursprünglich noch mit giftigen Substanzen, Aktiniengiften arbeitete, und sah, dass die Tiere bei der Vorbehandlung nicht, wie er erwartete, un- empfindlich geworden waren, dass also die erste Injektion nicht prophylaktisch gewirkt hatte, nannte daher den so erzeugten Zu- stand der Ueberempfindlichkeit Anaphylaxie, ein Ausdruck, der sich leider allgemein eingebürgert hat. Auch beim Menschen tritt also nach Einverleibung von artfremdem Eiweiss, 2lso bei der Serumtherapie, ein solcher Zustand von Ueberempfindlichkeit ein. Die mannigfachen Erscheinungen, von denen ursprünglich nur das Serumexanthem besonderes Interesse erregte, haben zu-

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erst v. Pirquet und Schick!) eingehend beschrieben, sie als Anaphylaxie gedeutet und ihnen den Namen Serumkrank- heit gegeben. Bezüglich des heutigen Standes unseres Wissens von dem Wesen der Anaphylaxie verweise ich auf die jüngst er- sebienenen eingehenden Berichte von Moro2) und H. Pfeiffer), da eine Erörterung dieser Dinge über den Rahmen der vorliegen- den Arbeit hinausgeht. Es genüge hier zum Verständnis, dass es sich bei der Serumanaphylaxie ganz allgemein um eine Anti- körperreaktion handelt. Das injizierte Serum bildet nach der Erstinjektion im Organismus spezifische Antikörper, die nun mit dem reinjizierten Serum reagieren; bei dieser Reaktion ent- steht ein Gift, das die anaphylaktischen Erscheinungen auslöst. Vielleicht handelt es sich dabei um ein Eiweissabbauprodukt; wenigstens lassen sich die Versuche von Bied| und Kraus#), die durch Injektion von Wittepepton anaphylaktische Symptome er- zeugen konnten, in diesem Sinne verwerten.

In einem gewissen Prozentsatz der Fälle kommt es nun beim Menschen schon nach der Erstinjektion von Serum zu Sym- ptomen von Serumkrankheit, die jedoch erst spät zwischen dem 8. und 13. Tage nach der Injektion aufzutreten pflegen. Ganz anders verhalten sich die Reinjizierten, worauf zuerst v. Pirquet und Schliek aufmerksam machten, die nach dem zeitlichen Auf- treten der Symptome eine sofortige und eine beschleunigte Reaktion unterscheiden. Liegt zwischen der ersten und zweiten Injektion ein Intervall von wenigstens 10—12 Tagen, so kommt es zur sofortigen Reaktion am ersten Tage, die gewöhnlich stärker zu sein pflegt und in einzelnen Fällen auch zu stürmischen Er- scheinungen und Collaps geführt hat. Nach einem Zeitraum von drei Monaten seit der Erstinjektion treten die anaphylaktischen Symptome schon am 5—6 Tage auf: die beschleunigte Reaktion. Innerhalb der ersten 6 Wochen bis 6 Monate wird auch zuweilen eine Doppelreaktion, eine sofortige und beschleunigte, beobachtet.

Kehren‘ wir nun zu unseren Fällen zurück, so haben wir es bei dem zweiten Kollegen, der bereits zweimal mit Pferdeserum vorbebandelt war, mit einer richtigen experimentellen Anaphylaxie zu tun. Immerhin ist die ausserordentlich lange Dauer des anaphylaktischen Zustandes sehr bemerkenswert; seit der letzten Injektion waren sechs Jahre vergangen und ein eben- solanger Zeitraum lag zwischen der ersten und zweiten Injektion; beide Male aber reagierte der Patient sofort am ersten Tage mit schweren Erscheinungen, während die längste bisher beim Menschen beobachtete Dauer der Anaphylaxie 41/, Jahre beträgt [Curried)]. Dieser Fall ist zugleich ein prägnantes Beispiel dafür, dass der Zustand der Unempfindlichkeit, der Antianaphylaxie, der

1) Die Serumkrankbeit. 1905, Leipzig und Wien.

2) Experimentelle und klinische Ueberempfindlichkeit (Anaphylaxie). 1910, Wiesbaden.

3) Das Problem der Eiweissanapbylaxie. 1910, Jena.

4) Experimentelle Studien über Anaphylaxie. Wiener klin. Wochen- schrift, 1909.

5) eit. bei Moro.

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sich im Anschluss an den anaphylaktischen Anfall einzustellen pflegt, nur vorübergehend ist und nach unbestimmter Dauer wieder der früheren Ueberempfindlichkeit Platz macht. Es ist ferner hinzuweisen auf den ungewöhnlich protrahierten Verlauf der Krankheitserscheinungen, die wenige Stunden nach der In- jektion einsetzten, eine Woche hindurch immer neue Schübe zeigten und schliesslich am achten Tage mit dem schweren anaphylak- tischen Anfall endeten.

Die Voraussetzungen einer experimenteilen Anaphylaxie durch Vorbehandlung mit dem spezifischen Serum treffen nun aber für den Kollegen S. nicht zu. Der Patient war wohl schon mit Pferdeserum und Kaninchenrückenmark vorbehandelt worden, aber nie mit Hammelserum, und doch trat bei ihm eine sofortige schwere Reaktion ein. Diese starke Ueberempfindlichkeit gegen Hammelserum lässt ja zunächst an toxische REigenschaften des in- jizierten Serums denken, wie es ja bekannt ist, dass auch be- stimmte Fabriknummern von Diphtherieserum schwerere Er- scheinungen von Serumkrankheit erzeugen und auch in weit zahl- reicheren Fällen, als sie sonst durchschnittlich beobachtet werden. Aber diese naheliegende Erklärung ist hier durch einen Zufall experimentell widerlegt, da zugleich mit dem Kollegen eine im gleichen Institut beschäftigte Dame am selben Tage die gleiche Menge des gleichen Serums injiziert erhielt, ohne dass Krankheits- erscheinungen auftraten. So liegt es nahe, als Grund der schweren Reaktion im ersten Falle eine angeborene Ueberempfindlichkeit gegen Hammelserum, eine konstitutionelle Anaphylaxie an- zunehmen, ein Begriff, der uns ja aus der Arzneitherapie als Idio- synkrasie bekannt ist. Diese angeborene Ueberempfindlichkeit finden wir z. B. bei der Pollenkrankheit (Heufieber), bei der es sich um eine typische Anaphylaxie gegen das spezifische Pollen- eiweis handelt [Wolff-Eisnert)]. In gleicher Linie stehen die Krankheitserscheinungen, die bei manchen Menschen regelmässig im Anschluss an den Genuss von Krebsen, Muscheln, Austern, Eiereiweiss usw. auftreten und gleichfalls als Anaphylaxie zu deuten sind. Endlich haben die Untersuchungen Bruck’s2) über die Jodoformidiosynkrasie gezeigt, dass es sich auch hierbei um Anaphylaxie gegen jodierte Eiweisskörper handelt. Ein sehr lehr- reiches Beispiel einer angeborenen Anaphylaxie bietet der Fall de Besche3). Es handelte sich ebenfalls um einen Kollegen, der jedesmal, wenn er in die Nähe von Pferden oder Pferdeaus- dünstungen kam, eine Art Heuschnupfen, Niesen, Husten, Asthma- anfälle bekam. Als er nun eines Tages eine geringe Menge Diphtherieserum injiziert erhielt, erkrankte er nach wenigen Mi- nuten unter den Symptomen schwerster exspiratorischer Dyspnoe mit Schnupfen und Collapserscheinungen; dass es sich dabei um

1) Das Heufieber, sein Wesen und seine Behandlung. 1906, München.

2) Experimentelle Untersuchungen über das Wesen der Arznei- exantheme. Diese Wochenschr., 1910, No. 12.

3) Gefahrdrohende Dyspnoe mit Collaps nach der Seruminjektion. Diese Wochenschr., 1909.

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einen richtigen anaphylaktischen Anfall gehandelt hatte, ergab sich aus der Beobachtung, dass der Patient nach diesem Tage die frühere Idiosynkrasie gegen Pferdeausdünstungen verloren hatte; er war also durch den Anfall unempfindlich, antianaphylaktisch geworden, ein Zustand, der allerdings nur einige Monate anbielt. Für die Erklärung unseres Falles S. auf der Grundlage einer an- geborenen Anaphylaxie gegen Hammelserum besteht allerdings die Schwierigkeit, dass der Patient nie nach Genuss von Hammel- fleisch irgend welche Krankheitserscheinungen gezeigt hatte. Auch an die Möglichkeit einer Sensibilisierung durch Fütterung wäre zu denken; wenigstens ist es Rosenau und Anderson!) ge- lungen, bei Meerschweinchen durch Fütterung mit Pferdefleisch Anaphylaxie gegen Pferdeserum zu erzeugen, was wohl nur so zu erklären ist, dass dabei geringste Mengen von Pferdeeiweiss direkt vom Darm aus resorbiert worden sind. Im übrigen haben wir es hier mit einertypischen Doppelreaktion zu tun, einer sofortigen kurz nach der Injektion, und einer beschleunigten am 6. Tage.

Die schweren lebensbedrohenden Krankheitserscheinungen im Verlaufe der sofortigen Reaktion nach einer Seruminjektion ent- sprechen dem anaphylaktischen Schock der bei Tieren experi- mentell erzeugten Ueberemfindlichkeit, der bei diesen gewöhnlich tödlich zu verlaufen pflegt. Beim Menschen ist über solche collapsartigen Zustände bisher nur in wenigen Fällen berichtet worden. So teilen v. Pirquet und Schick in ihrer Monographie mit, dass ein Knabe 10 Minuten nach einer Reinjektion Rötung und Quaddelbildung zuerst an der Iujektionsstelle, dann auch im Gesicht und zerstreut am Körper bekam; 15—20 Minuten nach der Injektion begann der Knabe zu erbrechen, er verdrehte die Augen, die Extremitäten wurden eyanotisch, der Puls war nicht fühlbar; Speichelfluss. In einem zweiten Falle traten ca. 1 Stunde nach der Reinjektion unter Schwellung und Öyanose des Gesichts die Erscheinungen von Lungenödem auf. Eine weitere Beob- achtung v. Pirquet’s?) zeigte die gleichen Symptome wie der erste Fall. Hierher ist ferner der Fall Klemperer’s®) zu rechnen, bei dem es nach einer beschleunigten Reaktion zu bedrohlicher Herzschwäche kam, und die gleichen Erscheinungen schweren Herzcollapses wurden von Umber*) beobachtet unter gleich- zeitiger Entwicklung einer universellen Urticaria. Der Fall de Besche ist oben bereits erwähnt worden; der Patient hatte ausser der schweren asthmatischen Dyspnoe ebenfalls Cyanose, starke Unruhe und bedrohliche Herzschwäche, dazu intensives Frostgefühl. Asthma und schweres Larynxödem traten in einem Falle ein, den Wolff-BEisner°) berichtet. Ausser starker Dys-

1) A study of the cause of sudden death following the injection of horse serum. Hygienice Laboratory, 1906, bulletin 29, Washington.

2) Neue Beobachtungen über die Serumkrankheit. Jahrb. f. Kinder- heilk., 1906, Bd. 62,

3) Ueber die Gefahr der Reinjektion grösserer Mengen von Heil- serum. Therapie d. Gegenw., 1908.

4) Zur Gefahr der Reinjektion von Heilserum. Ebenda.

5) Handbuch der Serumtherapie. München 1910.

12°

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pnoe und Herzschwäche zeigte der Fall von Scheidemantel!) zahlreiche kleine Blutungen an Stirn, Hals und Brust. Auf dem letzten französischen Kongress für innere Medizin haben endlich Thaon und Labbe?2) je eine Beobachtung von schweren ana- pbylaktischen Anfällen mitgeteilt, die ebenfalls unter dem Bilde bedrohlicher Herzschwäche, allgemeiner Urticaria, Oligurie und einmal auch Diarrhöen verliefen.

Todesfälle infolge von Anaphylaxie sind bei uns bis- her noch nicht mitgeteilt worden. Doch werden solche aus Amerika berichtet, wo die Serumbehandlung in viel grösserem Umfange und bei allen möglichen Krankheiten angewandt zu werden pflegt. Bei Anderson und Rosenau?) findet sich der Bericht über zwei Todesfälle, den ich hier wiedergeben will:

Fall 1. Berichtet von Dr. Wiley (Journ. of Am. med. Ass. 1908). Mr. E. W., 34 Jahre alt, von kräftigem Körperbau und ausgezeichneter Gesundheit. Prophbylaktische Injektion von 1000 1.-E. Diphtherieserum. Injektionsstelle ea. 10 cm über dem Poupart’schen Bande. 2 Minuten später stürmische Symptome ängstlicher Gesichtsausdruck, Jucken, Brennen, erschwerte Atmung; Lippen, Gesicht und Hals geschwollen und gerötet; Lähmung und Konyulsionen. Tod innerhalb fünf Minuten nach der Injektion.

Fall 2. Berichtet von Dr. Gillette (Journ. of Am. med. Ass. 1908). Mr. B., 52 Jahre alt. Litt an Asthma und Bronchialkatarrh. Urin und Herz normal. Rheumatismus vor 15 Jahren. Hatte Husten mit reichlichem Auswurf. Injektion von 2000 1.-E. unter der linken Scapula. Prickeln in Hals und Brust, erschwerte Atmung, regelmässiger und voller Puls. Plötzlich tonische Krämpfe. Tod innerhalb fünf Minuten nach der Injektion.

Wie aus der Wiedergabe aller dieser Fälle hervorgeht, sind die Mitteilungen über die einzelnen Symptome im anaphy- laktischen Anfall beim Menschen im ganzen recht spärlich, und eine eingehende Analyse der bedrohlichen Erscheinungen ist wohl bisher in keinem der beobachteten Fälle möglich gewesen. Das ist durchaus verständlich, wenn man sieht, dass einmal der äusserst schnelle Verlauf des Anfalls zur Beobachtung keine Zeit lässt, und andererseits die stürmischen Symptome den ganzen Apparat der therapeutischen Hilfeleistung in Anspruch nimmt. Aber auch bezüglich des Ablaufs und des Wesens des anaphylak- tischen Symptomenkomplexes beim Tiere sind exakte. klinische Beobachtungen erst in neuerer Zeit in Angriff genommen worden und noch auf dem diesjährigen Mikrobiologentag haben Biedl und R. Kraus“) wieder auf den bisherigen Mangel einer ein- gehenden Analyse der Symptome des anaphylaktischen Schocks hingewiesen. Dieser zeigt zunächst anscheinend bei den Tieren immer einen ähnlichen Verlauf: hochgradige Unruhe, Kratzen,

1) Ueber Serumbehandlung und ihre Gefahren. Münchener med. Wochenschr., 1909.

2) Semaine medicale, 1910, Nr. 43.

3) Anaphylaxis. The archives of internal medicine, June 1909.

4) Verhandlungen s. Zentralbl. f. Bakteriol., I. Abt., Ref. Bd. 47, Beiheft.

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Dyspnoe, Somnolenz, Krämpfe, Lähmungen, Erbrechen sowie Harn- und Stuhlentleerungen, Tod. Es zeigte sich jedoch, dass die Symptome nicht nur bei den verschiedenen Tierarten wechseln, sondern auch bei der gleichen Tierart nieht immer dieselben zu sein brauchen. Die Dyspnoe steht im allgemeinen bei der Anaphylaxie der Meerschweinchen im Vordergrund; sie scheint nach den Untersuchungen von Auer und Lewis!) auf einer tetanischen Contraction der glatten Bronchialmuskulatur zu beruhen und peripheren Ursprungs zu sein. H. Pfeiffer betont demgegenüber, dass diese Dyspnoe und der Tod durch Er- stickung keineswegs charakteristisch für die Meerschweinchen- anaphylaxie sei; sie bleibe bei intravenöser Injektion kleiner ver- dünnter Serammengen oder bei intraperitonealer Einverleibung aus. Als typische Begleiterscheinung des anaphylaktischen Schocks betrachtet H. Pfeiffer?) vielmehr ein enormes Sinken der Körpertemperatur, den „anaphylaktischen Temperatur- sturz“. Er beobachtete auch zuerst. dass bei den Meerschwein- chen, die im anaphylaktischen Anfall keine Dyspnoe hatten, regelmässig ante exitum Cheyne-Stokes’sches Atmen auftrat. Diesen Differenzen in den Symptomen entsprechen auch die Sectionsbefunde; bei den dyspnoischen Tieren enormes akutes Lungenemphysem mit starker Verengung der grösseren und kleinen Bronchien, starke Erweiterung der Alveolarräume und collabierte Gefässe, bei den anderen normales Verhalten der Lungen. Biedl und R. Kraus?) konstatierten bei anaphylaktischen Hunden eine starke Senkung des arteriellen Blutdrucks infolge einer enormen Erweiterung der peripheren Gefässe, ins- besondere der Gefässe der Baucheingeweide. Da Adrenalin diese Vasodilatation nicht beinflusste, Chlorbaryum dagegen wohl, so schlossen sie daraus, dass es sich um eine peri- phere Vasomotorenlähmung handle. Auf diese Blutdrucksenkung bzw. die durch sie bewirkte Hirnanämie führen Biedl und Kraus alle anderen Erscheinungen, die Unruhe, das Erbrechen, die Trübung des Sensoriums usw. zurück. Hervorzuheben ist, dass eine asthmatische Dyspnoe bei den Hunden nie beobachtet wurde, während wiederum bei Meerschweinchen die primäre Blut- drucksenkung fehlt [Braun®), Biedl und Kraus°)]. Als typische anaphylaktische Reaktion wurde endlich noch eine in- tensive Herabsetzung der Gerinnungsfähigkeit des Blutes und ein fast vollkommenes Verschwinden der polynucleären Leukocyten aus dem Blut konstatiert, an deren Stelle Lympho- cyten treten, wie das von v. Pirquet und Schick auch beim Menschen schon beschrieben wurde. Die RKaninchenanaphylaxie verläuft mehr in der Art der der Meerschweinchen. Während Biedl

1) Siehe Moro.

2) lo.

3). leo.

4) Zur Frage der Serumüberempfindlichkeit. Münchener med. Wochenschr., 1909.

5) Serumanaphylaxie beim Meerschweinchen. Wiener klin. Wochen- schrift, 1910, Nr. 11.

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und Kraus u. a. die Symptome der Anaphylaxie als periphere Wirkungen des Anaphylaxiegiftes ansehen, führen Wolff- Eisner, Besredka usw. sie vielmehr auf zentrale Ursachen zurück.

Der ausserordentlich protrahierte Verlauf des anaphylakti- schen Anfalls in den beiden von mir beobachteten Fälle gestattete nun eine eingehende Beobachtung der klinischen Erscheinungen, wobei sich herausstellte, dass die Symptome des anaphylaktischen Zustandes mit den bisher beim Menschen im akuten Anfall beob- achteten keineswegs erschöpft sind. Insbesondere ist zunächst die extreme Contraction der peripheren Gefässe mit intensiver Blässe und subjektivem wie objektivem Kältegefühl bisher nicht beobachtet worden. Diese Vasokonstriktion, die in dem ersten Falle stundenlang anhielt, wurde hier durch ein kurzes Stadium der bisher allein für typisch gehaltenen Vaso- dilatation eingeleitet. Leider konnte eine Blutdruckmessung nicht vorgenommen werden, jedoch sprach der akzentuierte, paukende zweite Aortenton deutlich genug für die starke Blut- druckerhöhung in der Aorta. Eine Urticaria fehlte überhaupt; die Schleimhäute waren nicht beteiligt.

In dem zweiten Falle gab der anfänglich in immer kürzeren Intervallen auftretende plötzliche Wechsel zwischen der Vaso- dilatation mit Urticariabildung und Vasokonstriktion mit intensiver Blässe und Kältegefühl dem Krankheitsbild ein ganz besonderes Gepräge. Es ist wohl nicht angängig, diese Erscheinungen etwa als Folge der durch die Vasodilatation er- zeugten Hirnanämie zu deuten im Sinne der von Biedl und Kraus bei Hunden gemachten Beobachtungen. Dazu fehlte vor allem beide Male irgendwelche Beeinträchtigung des Sensoriums, ferner im ersten Falle das Erbrechen, endlich der bei Collaps- zuständen sonst beobachtete Schweissausbruch. Es wäre wohl auch kaum denkbar, dass die kurzdauernde Vasodilatation im Falle S. eine so viele Stunden andauernde Hirnanämie hervor- gerufen haben sollte, die ohne die sonstigen Begleiterscheinungen einer solchen langsam wieder verschwand. Eher wäre schon im zweiten Falle an diese Erklärung zu denken, wenn nicht die ausserordentliche Gesetzmässigkeit in dem Wechsel der markanten Erscheinungen, die auch bei dem allmählichen Ausklingen des Symptomenkomplexes beibehalten wurde, auch hier mehr an eine besondere Wirkung des Anaphylaxiegiftes auf die Vasomotoren hinwiese.

Auch die Beeinflussung der Atmung entspricht in beiden Fällen nicht den bisher gemachten Beobachtungen, bei denen immer nur von einer erschwerten Atmung oder Asthma die Rede ist. Eine eigentliche Dyspnoe bestand, so lange ich die Patienten sah, beide Male nicht, weder eine inspiratorische, noch exspiratorische. Beim Kollegen S. müssen allerdings, bevor ich ihn sah, anfangs dyspnoische Anfälle vorhanden gewesen sein, wenigstens ist das daraus mit Wahrscheinlichkeit zu folgern, dass er zu der Zeit seine Atmung durch Aufstützen der Arme zu bessern suchte; gesehen habe ich selbst das nicht mehr. Jedoch

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ist die eindeutige Beurteilung der Sache hier sehr erschwert, da durch die intensive Schmerzhaftigkeit der rechten Thoraxseite in- folge der Reaktion an der Injektionsstelle das Krankheitsbild getrübt wurde. Die ausstrahlenden Schmerzen zwangen den Patienten zu einer oberflächlichen und darum auch frequenten Atmung. Die Ausdehnung des Thorax war dabei gleichmässig und das Zwerchfell beweglich. Abgesehen von diesen Symptomen aber becbachtete ich auch hier Atmungspausen, die nun in sehr ausgeprägter Weise beim Falle W. in den Vordergrund traten und oft beängstigend lang waren. Dabei hatte der Patient, entsprechend dem Verhalten der Kranken mit Cheyne-Stokes- schem Atmen, subjektiv keinerlei Gefühl der Atemnot, und äusserte selbst, nachdem er auf die langen Atempausen selbst aufmerksam geworden war, wiederholt seine Verwunderung über das fehlende Atembedürfnis. Dass wir es hier mit einer zentralen Wirkung des Anaphylaxiegiftes auf das Atem- zentrum zu tun haben, kann ja nicht zweifelhaft sein, und es liegt kein Grund vor, die vasomotorischen Störungen anders als zentral bedingt anzusehen. Dass ausser dieser zentralen Atemstörung in meinen Fällen auch beim Menschen solche anderer Art vorkommen, dafür finden sich in den oben mit- geteilten Fällen Belege genug. Aber auch in meinen Fällen spielen sie eine Rolle. Ich habe schon auf die Wahrscheinlich- keit asthmatischer Dyspnoe im Anfange des Anfalles beim Kollegen S. hingewiesen; beim Kollegen W. machte sich ebenfalls im Anfange eine starke Dyspnoe bemerkbar, die mit Schluck- beschwerden, Zusammenschnürung des Halses, starkem Schnupfen und brennenden Schmerzen hinter dem Sternum einherging, also offenbar bedingt war durch eine Affektion der Schleimhaut des Rachens, des Kehlkopfes und der Trachea wohl in Form der Ausbreitung der Urticaria. Sehr typisch ist ja in dieser Hinsicht der Fall de Besche (s. o.), bei dem sich mit Schnupfen und Husten der schwere Asthmaanfall einstellte.

Recht bemerkenswert ist endlich die anaphylaktische Temperatursenkung H. Pfeffer’s, die besonders stark im ersten Falle eintrat. Andererseits ist sonst auch beim Menschen in der akuten Anaphylaxie hohes Fieber beobachtet worden. Auf die plötzlichen diarrhoischen Entleerunrgen (Fall W.) als charakteristisches Symptom der Beteiligung des Splanehnieus- gebietes und die starke allgemeine Oedembildung, auf die v. Pirquet und Schick zuerst aufmerksam gemacht haben, sowie ihr Verschwinden durch die Harnflut sei ebenfalls noch hin- gewiesen,

Wir sehen also, dass das Krankheitsbild des akuten ana- phylaktischen Anfalls, wenn es auch im grossen und ganzen ein typisches ist, doch in Einzelheiten recht starke Verschiedenheiten zeigt, wie wir das schon bei der experimentellen Anaphylaxie der Tiere sahen. Das hängt wohl von der Empfindlichkeit der Individuen ab, ferner von der Menge des injizierten Serums und endlich nicht zum mindesten wohl auch von der Applikations- weise; wenigstens verlaufen die Symptome bei Tieren nach intra-

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venöser Injektion bei weitem am stürmischsten. Darauf hinzu- weisen dürfte von Wichtigkeit sein, da neuerdings gerade die intravenöse Injektion der Heilsera beim Menschen sehr empfohlen wird, ohne dass zunächst üble Zufälle dabei aufgetreten sind. [Jocehmannt)]. Das mag vielleicht daran liegen, dass bei uns wenigstens die Seramtherapie hauptsächlich bei der Diphtherie und demgemäss überwiegend bei Kindern angewandt wird, die nach allen Erfahrungen viel weniger empfindlich sind gegen- über dem anaphylaktischen Gift als Erwachsene, bei denen äuch angesichts der noch relativ jungen Serumtherapie gerade Reinjektionen bis jetzt noch nicht so häufig in Frage gekommen sein dürften. Dass die Häufigkeit der Serumkrankheit mit dem Älter zunimmt, geht aus einer Statistik von Marphan und Oppert?) hervor. Es erkrankten von 2682 Patienten nach Diphtherieserum im 1. Lebensjahre ApCt.. im 6.—15. Jahre 13!/, pCt. und Erwachsene 40 pCt. an der Serumkrankheit.

Zur Verhütung der Anaphylaxie beim Menschen sind die verschiedensten Vorschläge gemacht worden. Da die Ueber- empfindlichkeit um so grösser wird, je grösser die injizierten Serummengen sind, so ist natürlich die moderne Herstellung hochwertiger Sera ausserordentlich wichtig. Es hat sich ferner herausgestellt, dass die Sera nicht gleichwertig sind in ihrer Eigenschaft, Serumkrankheit zu erzeugen. Ohnacker3) beob- achtete bei einer bestimmten Serumfabriknummer in 52 pCt. der behandelten Fälle Serumkrankheit. Er machte dann mit diesem Serum intracutane Injektionen und erzielte in 74 pÜt. der Fälle eine intensive Hautreaktion, die bei anderen Seren nur in 4 pCt. eintrat, und schlug daher vor, die Seren in dieser Weise zu prüfen, ehe sie in den Handel gebracht werden. Natürlich wird der individuelle Faktor nicht ausgeschaltet, und ich habe schon darauf hingewiesen, dass das Serum meines ersten Falles ohne eine Spur von Reaktion bei einem anderen Menschen zu derselben Zeit in gleicher Menge injiziert worden war. Ebenso konnten Rosenau und Anderson bei der Prüfung der Sera, ‘die die beiden obenerwähnten Todesfälle zur Folge hatten, keine be- sonderen toxischen Eigenschaften derselben entdecken. Die Herab- setzung der Toxizität des Serums durch Erwärmung auf 56—58° ist von Besredka und Fein (eit. bei Moro) empfohlen worden.

Eine Vorbehandlung der Patienten mit Chlorcaleium ist von Netter und auch von Gewin angegeben; beide haben damit eine starke Verminderung der Serumkrankheit erzielt; immerhin dürfte dieses Verfahren, da es drei Tage dauert, für die meisten Fälle nicht in Frage kommen.

Die akute Anaphylaxie der Reinjizierten ist natürlich am wirksamsten zu bekämpfen durch die Vermeidung der Re- injektion des gleichen, schon früher injizierten Serums.

1) Zufälle bei der Serumtherapie. Diese Wochenschr., 1910, Nr. 48.

2) La fröquence des aceidents serotoxiques. Ref. ebenda 1909.

3) Zur Aetiologie und Prophylaxe der Serumkrankheit. Therapie der Gegenwart, 1909.

I. Abteilung. Medizinische Sektion. 155

Ascoli und Jochmann schlagen daher vor, nicht nur Heilsera von einer Tierart herzustellen, sondern Sera verschiedener Her- kunft vorrätig zu halten.

Moro schlägt nach den Untersuchungen Neufeld’s die praktische Verwendung der Antianaphylaxie zur Ver- meidung des anaphylaktischen Schocks vor, da man schon durch die Vorinjektion minimaler, an sich unschädlicher Serum- dosen den Organismus antianaphylaktisch machen kann.

Endlich sei noch auf die experimentellen Erfahrungen Besredka’s hingewiesen, der durch tiefe Aethernarkose den tödlichen Ausgang des anaphylaktischen Anfalls bei seinen Tieren verhindern konnte. Beim Menschen liegen Erfahrungen darüber noch nicht vor; doch muss ich sagen, dass ich es in meinen Fällen nicht gewagt haben würde, eine Narkose einzuleiten. Ob die günstigen Erfabrungen von Biedl und Kraus mit Chlor- baryum bei der Anaphylaxie der Hunde vielleicht sich auf den Menschen werden ausdehnen lassen, muss die Zukunft lehren.

Wenn wir meine Fälle mit den schon vorher bekannten zu- sammenfassen, so muss man sagen, dass der doch so überwiegend günstige Ausgang in gar keinem Verhältnis zu der ausserordent- lichen Schwere des ganzen Krankheitsbildes steht. Immerhin geben die beiden oben mitgeteilten Todesfälle zu denken. Es ist wohl anzunehmen, dass mit der wachsenden Erfahrung und der grösseren Bekanntschaft mit dem eigenartigen Krankheitsbilde der akuten Anaphylaxie sich die Mitteilungen über derartige Zufälle bei der Serumtherapie vermehren werden und vielleicht auch mancher bisher unerklärliche plötzliche Tod als anaphylaktischer erkannt wird. Natürlich kommt die oft bei der Diphtherie not- wendig werdende Reinjektion von Serum in den ersten Tagen hier nicht in Frage, da ja zur Erzeugung der Anaphylaxie eine In- kubationszeit notwendig ist, die nach den Untersuchungen v. Pirquet’s mindestens 6 Tage beträgt. Innerhalb dieses Zeit- raums hat man also mit dem Auftreten schwerer Reaktions- erscheinungen nicht zu rechnen.

sthlesische besellschafl für valerländische Kulr.

m. s8. I. Abteilung. Jahresbericht. Medizin. 1910. b. Hygienische Sektion. &uc £ ee : __26

Vorträge der hygienischen Sektion im Jahre 1910.

Ueber die Fundorte der Prowazek’schen Körperchen.

Prof. Dr. Bruno Heymann in Breslau.

Auf dem internationalen medizinischen Kongress zu Budapest habe ich am 1. September vorigen Jahres mitgeteilt, dass die von v. Prowazek in den Epithelzellen trachomatöser Konjunktiv en entdeckten und von ihm und Halberstädter für die Er- reger des Trachoms angesprochenen Gebilde auch bei der gonorrhoischen Säuglingsblennorrhöe anzutreffen seien. Diese Tatsache war ein überraschendes Novum. Unter den zahl- reichen Forschern, die vor mir v. Prowazek’s Befunde nach- geprüft hatten, hat nur Stargardt und auch er nur bei einem einzigen,nichttrachomatösen Augenkrankendie Pro wazek’schen Körperchen angetroffen. Es handelte sich um einen Fall von ätio- logisch unsicherer, gonokokkenfreier Neugeborenen-Blennorrhöe, der aber von ihm nicht weiter verfolgt wurde und gänzlich der Vergessenheit anheimgefallen war.

In Divergenz mit den Kongressreferenten über die Aetiologie des Trachoms, den Herren Professoren Greeff, Herzog und Gallenga, musste ich damals mein Urteil dahin zusammenfassen, dass es nicht angängig sei, die Prowazek’schen Körperehen als spezifisch für das Trachom zu erkl: iren, solange uns Anhaltspunkte für die Verschiedenheit der beim Trachom und bei der Blennorrhöe gefundenen Gebilde fehlen, und dass sie vor- behaltlich weiterer Kontrolluntersuchungen nur dann diagnostisch verwertbar seien, wenn jeder Verdacht auf Gonorrhöe aus- geschlossen sei. Auch musste ich es als verfrüht bezeichnen, mit

Prowazek die in den Zelleinschlüssen enthaltenen feinsten Körnchen als selbständige Lebewesen („Chlamydo-Zoa“) oder gar als Krankheitserreger aufzufassen. Zur Klärung der Frage sei es u.a. ein besonders dringendes Erfordernis, auch bei anderen gonor- rhoischen Leiden nach den Prowazek’schen Körperchen zu suchen.

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Solche Nachforschungen, mit denen ich bereits vor meinem Vortrage begonnen hatte, haben alsbald auch v. Prowazek und Halberstädter ausgeführt. Nach ihrem Bericht „Ueber Chlamydozoenbefunde bei Blennorrhoeaneonatorum non gonorrhoica“ untersuchten sie bei 35 frischen und 20 älteren Männer-Gonorrhöen Epithelabstriche aus der vorderen Urethra, sowie bei 10 frischen und 15 abgelaufenen Frauen-Gonorrhöen Präparate aus Cervix und Urethra, konnten jedoch in keinem Falle die Zelleinschlüsse nachweisen. Dasselbe negative Ergebnis hatte die Untersuchung von 5 frischen und 3 älteren Augengonorrhöen bei Säuglingen. Dagegen fanden sie bei 5 Neugeborenen, bei denen die klinische Diagnose gleichfalls „Ophthalmo-Blennorrhöe“ lautete, Gono- kokken aber nicht gefunden wurden, reichlich Epithel- einschlüsse, deren Unterscheidung von den bei Trachom gefundenen „zur Zeit nicht möglich sei“. Trotzdem müssten die „Blennorrhöe- Körperchen“, wie v. Prowazek neuerdings die Gebilde entgegen meinem Vorschlage benennt, als biologisch differente, gleichfalls spezifische und für gewisse gonokokkenfreie Blennorrhöen ursäch- liche Organismen aufgefasst werden. „Es gibt“, so beschliessen v. Prowazek und Halberstädter ihre Mitteilung „eine ge- wisse Gruppe nicht gonorrhoischer Blennorrhöen der Neugeborenen, bei denen Chlamydozoen nachgewiesen werden, und die wir eben- falls als Epitheliose auffassen, wie das Trachom.“

Kurz nach ihnen berichtete auch Schmeichler über einen Fall von „nieht gonorrhoischer Blennorrhöe der Neugeborenen“ mit „Chlamydozoen“, sowie ferner Lindner über eine ansehnliche Untersuchungsreihe von 31 Säuglingsblennorrhöen. 3 von ihnen mit durchaus negativem Ergebnis wurden als alte Fälle aus- geschieden; unter den übrigen 28 befanden sich 13 mit Gono- kokken, 15 ohne sie. Von den 13 ersteren enthielt nur 1, von den 15 letzteren dagegen jede ohne Ausnahme Prowazek’sche Körperchen: unter 38 frischen Säuglings-Blennorrhöen also 12 reine Gono-Blennorrhöen, 15 „Einschluss-Blennorrhöen“, wie Lindner sie nennt, und 1 Mischblennorrhöe. Endlich haben Addario und zur Nedden bemerkenswerte Befunde über das Vorkommen der Prowazek’schen Körperchen an nicht trachomatösen Augen be- kannt gegeben: Addario fand die Gebilde nicht nur in zwei Fällen von (gonokokkenhaltiger?) Blennorrhoea neonatorum, sondern auch in drei Fällen von Diplokokken-Konjunktivitis und in zwei Fällen von akutem Bindehautkatarrh ohne bakteriellen Befund, ja schliess- lich sogar auf normalen Bindehäuten, zur Nedden bei einer mit starker Papillarschwellung einhergehenden Konjunktivitis von zehn- tägiger Dauer eines Erwachsenen und bei einer Streptokokken- Infektion eines 2jährigen Kindes!).

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1) Anm. nach Abschluss des Manuskripts: Eine soeben erschienene Arbeit von Wolfrum, der bei 8 gonokokkenfreien Säuglingsblennorrhöen 4mal, bei 20 gonokokkenhaltigen nie Prowazek’sche Körperchen fand und mit einschlusshaltigem Augenseeret Neugeborener bei 2 Er- wachsenen angeblich „echte“ Trachome erzeugte, konnte hier nur noch in den wichtigsten Schlussfolgerungen Berücksichtigung finden.

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Auch ich habe mich inzwischen bemüht, durch weitere Nach- forschungen einen besseren Einblick in die Fundorte der Prowazek’schen Körperchen zu gewinnen. Indem ich auf die ausführlichen Mitteilungen hinweise, die demnächst über mein ge- samtes Material in Axenfeld-Uhthoff’s „Klinischen Monats- blättern für Augenheilkunde“ erscheinen werden, will ich an dieser Stelle nur kurz berichten, dass ich normale und bindehaut- kranke Augen von 235 Menschen und von 25 Tieren (Pavianen, Meerkatzen, Kaninchen, Meerschweinchen, Mäusen) untersucht, die Prowazek’schenKörperchen aber lediglich bei Trachomen, bezw. klinisch trachomverdächtigen Affektionen, bei Säuglings-Konjunktivitiden und bei einer nichttrachom- verdächtigen Konjunktivitis einer Wöchnerin gefunden habe.

Von 53 Trachomen bezw. trachomverdächtigen Fällen, die ich im ganzen untersuchen konnte, waren 15 ganz frische, nur wenig oder gar nicht behandelte Fälle. Von diesen enthielten 10 Prowazek’sche Körperchen. Von den übrigen waren 15 frischere Rezidive, 23 alte Trachome: unter den ersteren wiesen noch drei Fälle, unter den letzteren keines die Zelleinschlüsse auf.

Von 43 Säuglingskonjunktivitiden waren 14 reine Gono- blennorrhöen, 10 Einschlusskonjunktivitiden ohne nachweisbare Be- teiligung von Gonokokken (oder anderen pathogenen Mikroorga- nismen), 12 Mischblennorrhöen. v. Prowazek und Halber- städter zweifeln an dem Vorkommen solcher gemischter. Gono- kokken und Zelleinschlüsse beherbergender Fälle. Wahrscheinlich liegt es nur an der geringen Zahl der von ihnen untersuchten Blennorhöen, wenn sie bislang noch keinen solchen Mischfall zu Gesicht bekamen. Allerdings will es mir auch scheinen, als wenn im allgemeinen ein gewisser Gegensatz zwischen der Heftigkeit dor gonorrhoischen Infektion und der Anzahl der Prowazek’schen Körperehen bestünde. Immerhin verfüge ich über einige Fälle, in denen sogar sehr zahlreiche, auch durch Reinkultur gesicherte Gonokokken in demselben Gesichtsfeld, ja an derselben Zelle zugleich mit Prowazek’schen Körperchen nachweisbar waren, übrigens ein Zusammentreffen, das nach unseren bisherigen Erfahrungen eine besonders ernste prognostische Beurteilung er- heischt. Aber auch dann, wenn Gonokokken nicht zu finden sind, wird man bei der bekannten Schwierigkeit ihres Nachweises in vielen, namentlich in schon behandelten Fällen, mit der siche- ren negativen Entscheidnng recht vorsichtig sein müssen. So be- finden sich unter meinen bikteriell negativen Fällen mehrere Kinder, deren Mütter an schwerer Genitalgonorrhöe litten, bei denen mithin die Annahme einer Infektion mit demselben Virus gewiss nahe liegst. Andererseits muss ich ausdrücklich hervor- heben, dass unter meinen gonokokkenfreien Fällen auch solche sind, bei denen durchaus keine anamnestischen Anhaltspunkte für eine gonorrhoische Infektion vorlagen, vielfach wiederholte mikroskopische und kulturelle Untersuchungen negative Ergeb- nisse hatten, und gleichwohl Prowazek’sche Körperchen in ausser- ordentlicher Reichlichkeit vorhanden waren. Auch bei der oben

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erwäbnten Wöchnerin, die kurz nach der Entbindung an einer schweren, stark sezernierenden, nicht trachomverdächtigen Kon- junktivitis mit Prowazek’schen Körperchen erkrankte, fand sich kein Anhalt für eine frische oder rezidivierende Gonorrhöe. An- gesichts solcher Befunde näherte ich mich der Auffassung v. Pro- wazek’s und Halberstädter’s wenigstens insofern, als auch ich mit grosser Wahrscheinlichkeit annahm, dass die Prowazek’schen Körperchen der bei Säuglingen und einer Wöchnerin beobachteten Augenaffektionen unbeschadet ihres gelegentlichen Zusammen- treffens mit Gonokokken vom gonorrhoischen Virus unabhän- gige Gebilde wären.

Aber nur mit Wahrscheinlichkeit! Denn durch die Unter- suchung von Urogenitalgonorrhöen erhielt ich, im Gegensatz zu v. Prowazek und Halberstädter, keine weitere Stütze für ihre Auffassung. Während diese Autoren, wie bei den Augen, so auch an den Genitalien nie Gonokokken und Zelleinschlüsse gleichzeitig nachweisen konnten und hierin ein wichtiges Glied in der Kette ihrer Beweisführung sahen, fand ich unter 15 Gonorrhöen von Männern und Frauen zweimal neben zahlreichen Gonokokken auch Prowazek’sche Körperchen, bei einem Manne im Urethralepithel, bei einer Frau namentlich im abgekratzten Cervixepithel. In Kontrollpräparaten von gesunden Männern und normalen, graviden, postpuerperalen und nicht gonorrhoisch affizierten Frauen, deren Untersuchung der Direktor der hiesigen Königl. Frauenklinik, Herr Geh. Rat Küstner, mir freundlichst gestattete, konnte ich niemals Prowazek’sche Körperchen entdecken. Für die Frage über ihre Natur war somit durch diese Untersuchungen nichts gewonnen. Trotzdem erweckten die zwei positiven Genitalbefunde in anderer Beziehung mein lebhaftestes Interesse: Sie betrafen nämlich die Eltern eines neugeborenen Zwillingspaares, von dem jedes Kind an schwerer, Gonokokken und Prowazek’sche Körper- chen enthaltender, Blennorrhöe litt. v. Prowazek und Halber- städter haben bereits erwähnt, dass sie „in 2 Fällen Gelegen- heit hatten, die Mütter von Neugeborenen mit nicht gonorrhoischer Blennorrhöe an den Genitalien mikroskopisch zu untersuchen und in dem einen unzweifelhaft identische Einschlüsse in den Epithel- zellen, die der Harnröhrenmündung entnommen waren, gefunden hätten.“ Sie registrieren „vorläufig nur diese vereinzelte Tat- sache“ ohne Kommentar und stellen weitere Untersuchungen in . Aussicht. War mir diese eine Beobachtung schon sehr bedeutsam erschienen, so warf nun mein positiver Befund bei beiden Eltern der Prowazek-Körperchen beherbergenden Säuglinge auf einmal ein überraschendes Licht auf die Quelle der bei den letzteren beobachteten Zelleinschlüsse und wies auf die gleichen Infektions- wege wie bei der Gonorrhöe hin. Unser Interesse an den Pro- wazek’schen Körperchen erweiterte sich damit über die Konjunk- tivitiden hinaus auf alle den gonorrhöischen Affektionen analogen Krankheitsprozesse, namentlich auf solche, bei denen der Gono- kokkennachweis nicht gelingt, und verlangte immer dringender eine unzweifelhafte Entscheidung der Frage, ob die Prowazek-

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schen Körperchen nur Begleiterscheinungen der Gonorrhöe oder die Anzeichen, ja die Erreger einer andersartigen Krankheit seien.

Die Entscheidung war nur vom Tierversuch zu erwarten. Diese Hoffnung gründete sich erstens auf die Tatsache, dass mit Ausnahme von Heller’s unbestätigt gebliebenen positiven Versuchen an der Konjunktiva junger Kaninchen an Tieren noch nie eine pathogene Wirkung lebender Gonokokken beob- achtet worden ist, und zweitens auf die Annahme, dass wenn sich in den Prowazek-Körperchen enthaltenden Sekreten ein anderes Virus befinden sollte dieses gewiss dem Trachomgift nahestehen und, wie letzteres, wenigstens bei Affen, Krankheits- erscheinungen auslösen würde. Bis auf weiteres kamen daher nur Affen als Versuchstiere in Betracht, freilich ein kostbares Material. Wenn ich gleichwohl über ausgedehnte Experimente berichten kann, so verdanke ich dies dem ausserordentlichen Entgegen- kommen von Herrn Geh.-Rat Neisser, der mir in liebenswür- digster Weise eine grössere Anzahl Meerkatzen und Paviane zur Verfügung stellte. Gleichzeitig ist es mir eine angenehme Pflicht, auch Herrn Geh.-Rat Pfeiffer und Herrn Geh.-Rat Uhthoff für ihr stetes, wohlwollendes und förderndes Interesse an meinen Untersuchungen auch an dieser Stelle meinen ergebensten Dank auszusprechen.

Die Unempfänglichkeit der Versuchstiere für Gonokokken schien mir für alles weitere Vorgehen von so ausschlaggebender Bedeutung, dass ich zunächst selbst nochmals einige Affen mit abgetöteten sowie mit lebenden Gonokokken-Reinkulturen (erster Generation) und mit gonokokkenreichen frischen Augensecreten wiederholt auf den Konjunktiven dureh Einreiben oder in kleine, mit einem scharfen Platinspatel gesetzte Scarifikationen impfte. Das Ergebnis entsprach durchaus den bisherigen Erfahrungen: Abgesehen von Rötung, geringer Secretion und anderen schnell vorübergehenden Nachwirkungen der Impfung sah auch ich keinerlei‘ blennorrhöeähnliche Erscheinungen, keine deutliche Vermehrung der Gonokokken, nie Prowazek’sche Körperchen. Um so überraschender war es, als ich einen solchen vor vielen Wochen mit Gonorrhöe vergeblich vorbehandelten Affen mit einem Prowazek-Körperchen-haltigen yonokokkenfreien Konjunktival- secret eines blennorrhoischen Säuglings auf den Augenlidern durch leichte Scarifizierung impfte und nach ca. 7 Tagen eiterige Se- eretion, erhebliche Rötung und Schwellung der Lider und mikro- skopisch zahlreiche Prowazek’sche Körperchen konstatierte. Am 14. Tage nach der Impfung hatte Herr Geheimrat Uhthoff die Güte, den Affen zu untersuchen und fasste das klinische Bild unter der Diagnose „Starke follikuläre Konjunktivitis“ zusammen. Eine zweite Meerkatze, die mit Konjunktivalseeret des erkrankten Tieres auf den Lidern des rechten Auges geimpft wurde, wies etwa in gleicher Zeit dieselben makro- und mikroskopischen Reaktionen auf. Dieses Tier hatte ich auch in die Vagina und Urethra geimpft. Während vor der Impfung in zahlreichen Kon- trollpräparaten keine Prowazek’schen Körperchen zu finden ge- wesen waren, zeigten sich am 11. Tage in Abstrichpräparaten

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aus der Vagina typische Prowazek’sche Körperchen. Klinische Erscheinungen an den Genitalien konnte ich nicht konstatieren. Bei einem dritten Affen, einem Pavian, der von dieser Meerkatze aus wiederum konjunktival und genital geimpft wurde, trat gleich- falls schon etwa am 5. Tage eine heftig sezernierende Konjunkti- vitis auf; im Konjunktivalepithel fanden sich wiederum sehr zahl- reiche Prowazek’sche Körperchen.

Ausser dem ersterwähnten Augensecret eines Neugeborenen habe ich noch drei Gonokokken- und Zelleneinschlüsse-haltige Augensecrete von Säuglingen und das Gonokokken-freie Secret der mehrfach erwähnten Wöchnerin auf Affen verimpft und stets positive Reaktionen erhalten. Zugleich mit dem Auftreten zahl- reicher Prowazek’scher Körperchen war stets auch klinisch ein deutlicher Impfeffekt zu beobachten. Allerdings schwankte dieser bei den einzelnen Tieren nicht unerheblich in seiner Intensität und erforderte eine ruhige, durch häufigen Vergleich mit normalen Augen geschärfte Beurteilung. Es verdient nämlich besonders betont zu werden, dass das gesunde Affenauge durch reichliches subkonjunktivales Fettgewebe ausgezeichnet ist, das beim Ektro- pionieren der Lider (besonders bei Meerkatzen) nicht selten als mächtiger Wulst vorspringt, dass hierbei eine stärkere Injektion des reich ausgebildeten Gefässnetzes eintreten kann, und dass endlich follikelartige Bildungen gelegentlich auch am normalen Auge zu beobachten sind, eine Trias, die an einem geimpften Auge leicht zur irrtümlichen Annahme eines im Sinne des Ver- suchs positiven pathologischen Zustandes führen kann. Diese Schwierigkeit lässt sich vermeiden, wenn man durch sorgfältige klinische Beobachtung der Tiere namentlich in den ersten zehn Tagen nach der Impfung das charakteristische, aber oft nur kurze Initialstadium nicht übersieht: Nach einer ohne Prodrome ver- laufenden Inkubation von ca. 3—5 Tagen bei Pavianen, von ca. 7—10 Tagen bei Meerkatzen tritt es manchmal ganz akut in Form einer erheblichen eitrigen Secretion, starker Rötung und Schwellung, besonders in den Uebergangsfalten, unter Lichtscheu und unter Störungen des Allgemeinbefindens (Mattigkeit, Fress- unlust) auf und stellt sich nicht selten, namentlich bei Pavianen, als ein geradezu blennorrhöeäbnliches Krankheitsbild dar. Aber dieses klingt meist überraschend schnell, schon nach 1— 3 Tagen, ab und macht alsbald einem viel weniger charakteristischen, der Follikularkonjunktivitis ähnlichen Zustande Platz. Fast stets sind die Veränderungen derart, dass sie sich vom menschlichen Trachom deutlich unterscheiden lassen. Nur selten entwickeln sich trachom- ähnliche Zustände, und ein Bild, das nach dem Urteil von Herrn Geheimrat Uhthoff eine beachtenswerte Annäherung an das menschliche Trachom darstellte, kam bis jetzt, nach einer Beob- achtungszeit von längstens 2 Monaten, nur in einem einzigen Falle zustande. Zur klareren Beurteilung der Affenkonjunktivi- tiden ist die histologische Untersuchung exzidierter Lidstück- chen von normalen und geimpften Affen erforderlich. Diese Aufgabe hat Herr Kollege Hegner, Assistent an der Königl. Augenklinik, freundlichst übernommen und wird über seine Er-

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gebnisse gleichzeitig mit meinen ausführlichen Mitteilungen in den „Klinischen Monatsblättern für Augenheilkunde“ demnächst berichten.

Dieselben Erscheinungen, wie die Augenscerete der Neu- geborenen, riefen die Prowazek körperchen-haltigen Genitalsecrete der beiden Eltern an geimpften Affen hervor. Ausser diesen zwei Genitalseereten habe ich dann aber auch ein Urethralseeret und zwei Vaginalsecrete von Eltern verimpft, bei denen ich (nur Gono- kokken) keine Prowazek’schen Körperchen fand, deren Kinder aber die Zelleinschlüsse in der Konjunktiva aufwiesen, und er- zielte mit ihnen allen positive Impfungen. Dasselbe war bei dem Vaginalseeret der mehrfach erwähnten Wöchnerin der Fall, bei der ich in Vaginalpräparaten Prowazek’sche Körperchen gleich- falls vermisste. Stets war der klinische Impferfolg von reichlichen Prowazek’schen Körperchen begleitet. Wie schon einmal an einem mit Augensecret geimpften Affenweibchen, so konnte ich auch an einem anderen, mit Urethralseeret geimpften Tier die Einschlüsse in der Vagina nachweisen.

leh kann somit die positiven Impfungen mit je einem Augen-, einem Vaginal- und ganz neuerdings mit dem Urethralseeret eines Mannes, über die Lindner in vorläufigen Mitteilungen kurz be- richtet hat, bestätigen, möchte aber betonen, dass er mir nach unseren bisherigen Erfahrungen in der Gleichstellung dieser Aflen- affektionen mit dem echten Trachom zu weit zu gehen scheint.

Fassen wir noch einmal die bisherigen Beobachtungen kurz zusammen, so ergibt sich folgendes:

1. Die Prowazek’schen Körperchen waren ausser bei Traehom auch beinicht trachomatösen Konjunktivitiden von Säuglingen und von einer Wöchnerin nachweisbar, manchmal zusammen mit Gonokokken.

2. Die Prowazek’schen Körperchen waren auch in den Genitalien der Eltern solcher konjunktivitiskranker Neugeborenen, zusammen mit Gonokokken, nachweisbar.

3. Prowazekkörperchen-haltiges Secret, gleichviel ob es von der nicht trachomatösen Konjunktiva der Kinder und der Wöchnerin oder aus dem Genitalapparat der Eltern stammte, rief bei Pavianen und Meerkatzen eine erst blennorrhöe-, dann follikularkatarrhartige Affektion hervor, die sich bei Weiterimpfungen von Affenauge zu Affenauge unter gleichen Erscheinungen wiederholte.

4. In den Konjunktivalepithelien solcher experimen- teller Affenkonjunktivitiden traten sehr‘ zahlreiche Prowazek’sche Körperchen auf.

5. Genitalsecrete, in denen zwar keine Prowazek- schen Körperchen gefunden werden konnten, die aber anamnestisch Beziehungen zu Einschlusskonjunktivi- tiden hatten, ergaben klinisch und mikroskopisch die gleichen Impfeffekte, wie die einschlusshaltigen Secrete.

6. In den Vaginalepithelien je eines mit einschluss-

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haltigem Augensecret und einschlussfreiem Vaginal- secret genital geimpften Affenweibchens fanden sich gleichfalls Prowazek’sche Körperchen.

Welche Schlüsse dürfen wir aus diesen Beobachtungen zienen ?

Als wichtigstes Resultat erscheint mir die Erkenntnis, dass die Prowazek’schen Körperchen, die bei nicht tracho- matösen Konjunktivitiden und in Genitalseereten nach- zuweisen waren, trotz öfters festgestellter gleichzeitiger An- wesenheit von Gonokokken nicht Reaktionsprodukte des gonor- rhoischen Krankheitsprozesses sein können, sondern die Anwesen- heit eines anderen, bisher unbekannten, auf Affen über- tragbaren, vermehrungsfähigen Virus dokumentieren. Be- sonders empfindlich scheint für dieses neuartige Virus die Kon- junktiva der Neugeborenen zu sein. Ob es auch auf den Augen oder im Urogenitalapparat (bezw. in anderen Organen) er- wachsener Menschen öfters Krankheitserscheinungen hervorruft, müssen weitere Untersuchungen lehren. Hier eröffnet sich für zahlreiche Spezialgebiete eine Reihe aussichtsvoller Aufgaben: So müssten um nur einiges herauszugreifen, z. B. die schweren gonokokkenfreien Wochenbettskonjunktivitiden, die Krückmann kürzlich beschrieben und auf eine Toxinfernwirkung von einer wieder aufflackernden Genitalgonorrhöe bezogen hat, auf Prowazek’sche Körperchen untersucht und eventuell im Tierversuch auf Patho- genität geprüft werden; ferner ebenso die angeborenen, ätiologisch strittigen Tränensackeiterungen von Neugeborenen, alsdann Rhini- tiden bei Säuglingen, granulöse Prozesse im Cavum narium oder naso-pharyngeale, die Kuhnt als Trachome deutet, verschiedene gynäkologische Affektionen, wie die Colpitis granulosa, manche durch besondere Hartnäckigkeit ausgezeichnete Urogenitalaffek- tionen u.a.m. An diese Feststellungen würden sich auch sehr bedeutsame praktische Folgerungen knüpfen. So liegt z. B. der Gedanke nahe, dass die noch immer beklagten vereinzelten Miss- erfolge des Cr&d&’schen Verfahrens zum grössten Teil durch die Existenz dieses neuartigen Virus verschuldet sein können, das vielleicht gegen die üblichen Credeisierungsmittel widerstands- fähiger ist als die Gonokokken. Zu dieser Annahme veranlassen mich die oben erwähnten ceredeisierten Säuglinge, bei denen nur Prowazek’sche Körperchen, aber keine Gonokokken gefunden wurden, obwohl ihre Mütter an schwerer Genitalgonorrhöe litten, und ferner die Beobachtung an gemischten, Gonokokken und Ein- schlüsse beherbergenden Fällen, dass im Verlaufe der antigonorr- hoischen Behandlung zwar die Gonokokken verschwinden, die Prowazek’schen Körperchen und die Affenpathogenität aber sich noch .monatelang halten können, selbst wenn an den Augen keinerlei Krankheitserscheinungen mehr vorhanden sind.

Von dem Ergebnis all dieser Untersuchungen wird die Ent- scheidung abhängen, ob wir es vielleicht bei den genannten Krank- heiten mit einem zusammengehörigen Kreis ätiologisch einheit- licher Affektionen zu tun haben, und wie wir sie eventuell unter

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einem gemeinsamen Gesichtspunkte zu benennen haben. Ich möchte vorläufig empfehlen, sie einfach als Einschlussaffek- tionen zu bezeichnen, also z. B. die Augenaffektion als „Ein- schlusskonjunktivitis“, im Zweifelsfall mit dem Zusatz „nicht trachomatöse“, event. Urethralaffektionen, deren Vorkommen Lindner auf Grund dreier Fälle gonokokkenfreier Urethritis mit allerdings sehr spärlichen Prowazek’schen Körperchen bereits für sicher hält, als „Einschlussuretbritiden“ usw. Mit dem Aus- druck „Blennorrhoea neonatorum non gonorrhoica“, der sich be- reits in der Literatur einzubürgern beginnt, werden wir vorsichtig sein müssen: denn das klinische Bild und der Verlauf der Affek- tion ist nicht immer blennorrhöeartig; das Verhältnis ihrer Häufig- keit beim Erwachsenen und Neugeborenen ist noch zu prüfen; das Fehlen von Gonokokken ist kein ausschliessliches Merkmal dieser Affektionen, sondern man kennt schon lange Neugeborenen- blennorrhöen, die nicht durch Gonokokken, sondern durch andere Mikroorganismen, z. B. Pneumokokken, hervorgerufen werden.

Was für eine Bedeutung die Prowazek’schen Körperchen bei den Einschlussaffektionen haben, ob sie eine ursächliche, vielleicht synergetische Rolle spielen, oder ob sie im Gegenteil nur Folgeerscheinungen durch ein unbekanntes Virus ausgelöster, krankhafter Zelltätigkeit sind, ist gegenwärtig nicht zu entscheiden. Allerdings halten v. Prowazek und Halberstädter die Ge- bilde bezw. ihre Innenkörnchen für Krankheitserreger, haben jedoch bisher noch nicht einmal für deren selbständige Lebens- fähigkeit einen Beweis erbracht. Wenn v. Prowazek diesen meinen Bedenken mit der Mahnung zu begegnen sucht, man dürfe sich bei der Diskussion dieser Frage nicht allzusehr von der Morphologie leiten lassen, so kann ich ihm nur voll zustimmen. Was ich vermisse, sind ja gerade physiologische Merkmale, die die fraglichen Gebilde untr üglich als Lebewesen, „Zoa*“, kennzeichnen, und es ist schwer zu verstehen, wenn jetzt V. Pro-

wazek und Halberstädter die bei Trachom und bei der „nicht gonorrhoischen Neugeborenenblennorrhöe“ gefundenen Gebilde, welche auch sie morphologisch nicht unterscheiden und biologisch nicht definieren können, sogar als zwei verschiedene Erreger spezifischer „Epitheliosen“ auffassen. Offenbar bestimmte sie zu diesem dualistischen Standpunkte die Verschiedenheit der klini- schen Bilder. Wie gewagt aber eine solche Beweisführung ist, ergiebt sich daraus, dass gerade aus dem Kreise der Ophthalmo- logen bereits von mehreren Seiten eine durchaus entgegengesetzte Ansicht laut geworden ist. Seit Arlt hat die Wiener Schule allen Angriffen zum Trotz an nahen Beziehungen zwischen dem Trachom und der Blennorrhöe festgehalten. Diese Lehre hat nun unter den neuen Gesichtspunkten einen eifrigen Verfechter in Lindner gefunden. Er identifiziert die beim Trachom und bei der Blennorrhöe gefundenen Körperchen, die übrigens auch für ihn die Erreger sind, und sieht in der Einschlussblennorrhöe der Neugeborenen nichts anderes als das „akute Trachom der Säuglinge“; ja in konsequenter Verfolgung dieses Identitäts- gedankens scheut er sich nicht, bereits auch von einem „Trachom

las

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der Genitalwege“ zu sprechen. Die Beweise für diese Auf- fassung sieht Lindner, abgesehen von dem Nachweis der Pro- wazek’schen Körperchen und gewisser, als deren Initialstadium gedeuteter Gebilde, in der Erzielung „echter“ Trachome bei Ver- impfung von Augen-, Urethral- und Vaginalsecret auf Affen. Den gleichen Standpunkt vertritt aber auch bereits ein Schüler Sattler’s, Wolfrum in Leipzig, namentlich auf Grund der oben kurz erwähnten zwei positiven Impfungen an Menschen mit ein- schlusshaltigem Augenseeret von Neugeborenen. Diese Frage, ob in der Tat das Trachom und die Einschlusskonjunktivitis ätio- logisch identische Krankheiten sind und zum Urogenitalapparat Beziehungen haben, muss weiter geprüft werden. Vorläufig scheinen mir folgende Bedenken dagegen zu sprechen:

Erstens der andersartige Impfeffekt mit tracho- matösem Material. Affenversuche mit trachomatösem Virus liegen bereits in ziemlicher Anzahl, jedoch mit auffällig wechseln- dem Ergebnis vor. Besonders unsicher scheinen die Impfungen bei Meerkatzen, von gleichmässigerem Erfolge bei Pavianen’ zu sein. Aber auch bei den positiven Tieren schwankt die Inkubationszeit in sehr weiten Grenzen von einigen Tagen bis mehreren Monaten. v. Prowazek und Halberstädter sahen bei niederen Affen überhaupt keine, bei Orang-Utans zwar sichere klinische Erschei- nungen, wie Rötung, Schwellung u. dergl., heben aber hervor, dass das Krankheitsbild dem des menschlichen Trachoms nicht entsprach. Ich selbst verfüge vorläufig nur über geringe Erfah- rungen in dieser Beziehung: ich habe mit Augensecret von zwei sicheren Trachomen je einen Affen geimpft. Das eine Trachom, ein sehr schwerer Fall, war zwar schon längere Zeit in Behand- lung, aber noch immer in floridem Stadium und begann auf dem einen Auge mit rasch fortschreitender Pannusbildung. Nachdem sich wochenlang Prowazek’sche Körperchen in reichlicher Menge gefunden hatten, wurden sie gerade am Tage der Ueber- impfung auf eine Meerkatze vermisst und blieben seitdem aus. Bei dem Affen erfolgte bis jetzt, zwei Monate nach der Impfung, keinerlei klinische Reaktion. Auch wurden Pro- wazek’sche Körperchen nicht gefunden. Der andere Fall war ein frisches unbehandeltes Trachom, bei dem ich zwar keine Prowazek’schen Körperchen fand, trotzdem aber die Ueberimpfung vornahm, weil solche Fälle bei uns recht selten sind und mir zur Uebertragung besonders geeignet scheinen. Der geimpfte Pavian zeigte nach 8 Tagen eine wenig charakteristische, leichte Schwellung der Konjunktiven, die allmählich unter stärkerer Secretion einen ziemlichen Grad erreichte. Jetzt fanden sich auch zum ersten Male Prowazek’sche Körperchen. Im Verlaufe von weiteren 2 Wochen gingen die Erscheinungen zurück und hinterliessen nur noch das Bild einer ganz leichten Konjunktivitis. Natürlich werde ich durch weitere Impfungen versuchen, mir ein eigenes Urteil zu bilden. Immerhin scheint mir schon nach den anderweitig ge- machten Erfahrungen bei Infektionen mit trachomatösem Material nicht die Sicherheit des Erfolges und die Gleichmässigkeit des klinischen Ablaufes zu herrschen wie bei Impfungen mit dem Virus

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der nicht trachomatösen einschlusshaltigen Secrete. Vorläufig ist es daher meines Erachtens wahrscheinlicher, dass es sich um zwei verschiedene Virusarten, mithin auch um zwei verschiedene Krankheiten handele, wenn man nicht gerade die Abschwächung des Trachomvirus durch unbekannte Momente als neue Hypothese dagegen einwenden will.

Zweitens sprechen für die Verschiedenheit auch epi- demiologische Erwägungen: Hält man das Trachom und die Einschluss-Konjunktivitis für ätiologisch identisch, so bleibt es schwer begreiflich, warum z. B. hier in Breslau nach freundlicher Mitteilung von Herrn Geh.-Rat Wolffberg unter der einheimischen Bevölkerung seit Einführung der gesetzlichen Meldepflicht (1906) durchschnittlich nur 21 Trachomfälle im Jahre gemeldet werden, trotzdem die Säuglingsaffektion häufig ist, und Erwachsene wahrscheinlich in erheblicher Zahl das Virus im Urogenitalapparat beherbergen.

Eine andere Frage ist es, ob das Trachom auch den Uro- genitalapparat befallen und von da aus zur weiteren Verbreitung gelangen kann. Diese in vieler Hinsicht hochwichtige Frage dürfte nicht allzuschwer zu lösen sein: Wenn in der Tat das Trachomvirus so leicht im Urogenitalapparat haftete, so müsste es doch vor allem bei Augentrachomkranken auch in diesen Organen zu finden sein. Meine eigenen Untersuchungen in dieser Riehtung sind bisher ergebnislos verlaufen, betreffen allerdings nur wenige und durchgehends ältere Fälle. Aber in stark ver- seuchten Ländern, wie in Russiand, Ungarn oder Italien, müsste sich bei geeigneter Auswahl der Fälle eine erhebliche Anzahl von genitalen Trachomträgern nachweisen lassen.

Wie ich soeben ausgeführt habe, kann ich mich zunächst weder dem dualistischen Standpuukte v. Prowazek-Halber- städter’s noch der Identitätstheorie Lindner-Wolfrum’s an- schliessen. Es ist jedoch neben diesen beiden noch eine dritte Auffassung möglich: Wenn wir sehen, wie inkonstant die Pro- wazek’schen Körperchen selbst bei zweifellosen Trachomen auf- treten, und wie unsicher bei ihnen der Impferfolg ist, während er uns bei den Prowazekkörperchen-haltigen Seereten nie im Stich lässt, so liegt der Gedanke nahe, dass diejenigen Trachomfälle, die Prowazek’sche Körperchen enthalten und ein positives Impf- resultat ergeben, gar nicht reine Trachome sind, sondern Misch- infektionen mit dem Virus der nicht trachomatösen Ein- schlussaffektionen, ganz ähnlich wie die Binschlusskonjunktivitis gelegentlich auch die Gonorrhöe und diese nicht selten das Trachom begleitet; es gäbe alsdann nur eine einzige Art von Prowazek’schen Körperehen, diese aber wären streng spezifisch für die nicht trachomatösen Einschlussaffektionen und hätten mit dem Trachom überhaupt nichts zu tun. Diese Unitätshypothese wird durch den Tierversuch zu prüfen sein: Wenn zahlreiche, klinisch sichere, aber Prowazekkörperchen-freie, frische Trachome keinen positiven Impfeflekt ergäben, so würde dies zugunsten der letzteren Annahme sprechen,

Welche von den drei Hypothesen zutrifft, müssen weitere

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Beobachtungen lehren. Was wir zunächst durch die bisherigen Untersuchungen gewonnen haben, ist eine gegen früher erheblich klarere Fragestellung. Nicht sowohl um die Deutung der Pro- wazek’schen Körperchen, als vielmehr um das Virus der hier in Betracht kommenden Affektionen, um seine Quellen und Ver- breitungsweise, sowie um seine biologischen Eigenschaften wird sich künftig unser Interesse ganz besonders zu bewegen haben. Dieses Programm scheint mir für alle weiteren Forschungen von so grosser Bedeutung, dass ich die Hauptfragen noch einmal kurz zusammenfassen möchte. Sie lauten:

1. Ist das Virus des Trachoms und das Virus nicht tra- chomatöser, Einschluss-haltiger Augen- und Ge- nitalsecrete identisch?

2. Ist im Falle der Identität beider Gifte das gemeinsame Virus oder im Falle ihrer Verschie- denheit jedes oder nur eines von ihnen auch vom Urogenitalapparat aus verbreitungsfähig und auch für ihn pathogen?

3. Ist Einschluss-freies Trachomvirus auf Affen über- tragbar?

Die Bearbeitung dieser Fragen ist unabhängig von der Ent- scheidung möglich, was die Prowazek’schen Körperchen ihrem eigentlichen Wesen nach bedeuten. Dieses Problem ist offenbar recht schwer und wird vielleicht noch lange dunkel bleiben. Weit aussichtsvoller und zugleich dringender als seine Ergründung scheint mir die Inangriffnahme jener soeben formulirten Aufgaben. Hoffen wir, dass sie von recht zahlreichen Seiten in ihrer Be- deutung gewürdigt und mit Hilfe ausgedehnter klinischer Beob- achtungen, epidemiologischer Erhebungen und experimenteller Untersuchungen einer baldigen Lösung entgegengeführt werden.

Druck von L. Schumacher in Berlin N, 24,

ale: Einzeihe Kchri Schriften. = Zwei Reden, gehalten von dem Bee rtiermälr: Müller und Prof. Reiche bei. ‚der ‘ersten ; * ‚des Stiftungstages der. Gesellschaft zurgBeförderung ‚der „Naturkunde und Industrie ‚Benlegimnn. Ber. am 17. Dezember 1804. 80, 48 Seiten. x “An die Mitglieder der Gesellschaft zur Beförderung der Naturkunde und Industrie Schlediens undan sämtliche Schlesier,"von Rector. Reiche, 1809. _80, 32.8, -—- x Oeffentlicher Aktus .der Schles, Gesellschaft 2 vater! Cuktur, Behalten « ‚am 10..Dezbt, 181 N ihres Stiftungsfestes. 0, S. ;

r reitisge zür Entomologie, verfasst von Frien "Milgiieiörn der entom. Sektion, mit, 17 Kpft, ‘1829. Die schles. Bibliothek der Schles. Gesellschaft"v. K. @G. 'Nowack... 80, 1835 oder. "später" ‚erschienen... Denkschrift der Schles, Gesellschaft zu ihrem 50jähr. Bestehen, enthaltend die Geschichte‘der ‚Schles Gesellschaft/und AAISPS zur Natur- und N Ei er 1853, Mit 10 lithogr. u Tafeln. 40, 2328. Dr. JA. Hoennitke, Die Minerstifgellen der Pen, Schlesien. 1857. ".. ‘186 5 gekr. Peitshrin "Dr. J. G. Galle, Grundzüge der schles. Klimatologie, 1857. 4%, 1278, 5 "Dr.'J. Kühn, "Die zweckmäßigste Ernährung des Rindviehs, 1859. 30, 242. 8, Ger. Pr Dr, H. Lebert, Klinik (des akuten, Gelenkrheumatismus ne on . 60Jjähr. Doktor- # Jubiläum: des Geh. San-Rats’Dr, Ant. Krocker, Erlangen 1860. ‘30. 2 Dr Perd. Römer; Die fossile-Faunä der silurischen Diluyialgeschiebe von Sadenitz bei Oels rn ; Schlesien, mit 6 lithogr. und 2 Kupfer-Tafelm. 1861. 40.7708, y „Lieder zum Stifiungsfeste der entomologischen NEE botanischen Sektion der: Schles. Gesellschaft, als , Manuskript gedruckt. 1867, 90, "92 5, “Verzeichnis: ‘der imden Schriften der Schles. Gesellschaft von 1804—1868 inkl: ea ‚Aufsätze 5 IN » alphab. Ordnung von Letzner, 1868, 80, : . Fortsetzung derin.den Sehriften der Schles. Gesellschaft für, vaterl: Cultur von 1864 bie 1876 inkl, enthaltenen Aufsätze, geordnet nach den Verfassern in alphab. Ordn."vonsDr. Schneider... General-Sachregister der in den Sehriften der Schles. Gesellschaft für vater) Oultur von 1804 "Dis 187 incl. enthaltenen Aufsätze, geordnet in alphäb. Folge von Dr’ Schneider. ER EEN Die Schlesische Gesellsehaft- für vaterländische Cultur. °T, Die "Hundertjahrteier es B nd. Geschichte‘ > der Gesellschaft (149 8.). "Breslau 1904. f

2, Periolische Schriften. Es

Duaninzen der. Gesellschaft f, Naturkunde u. Industrie Schlesiens. es Ba. TJ, Hft, 4, ‚218 sw u 2%, * 112 8..1806. Desgl. Bd. II, 1. Heft. 1807.

"Correspondenzblatt Ben Schlesischen Gesellschaft für vaterländische, Eultur, 2

Jahrg. I, 1810, 96 S.' > (ealıe: III, 181296 S, Jahrg. V, »° 0, 1811, do, B IV, .1813, Hft.1 u.2 je 96 & VI, 1815, Hft 1,96 8, ‚Correspondenz der :Schles; Gesellschtti £ vaterl. Cultür, -80.. ‘Bd. 362 S. mit Abbild, 1819 4 - "Desg) Bd. II. (Heft I), 80 8, mit Abbild., 1820. - ‚Bulletin ‚der naturwissenschaftl, Sektien der Schles, Gesellschaft 1—1, 1322, 85 ei . “=

do, do, 1—10, 1824. 8% Übersicht der‘ Arbeiten (Berichte sämtl, Seetion®n) u, "Veränderungen "der Schl, ‚Ges, ® at, Culkar“

a ale. 1824. 55. Seiten 40, | Jahre: 1353,.224 Sauer 40, +] Jahrg. 1886. "xt u,..397, Seiten so. © 1325. 64» 40, 1859..222., = 40, 1 n. Erg.-Heft 1218.30 7 »...1826. 65 . 40, 1 ie 71860. 202 vr 40. 2 . 1887. XLU u. 411 Seiten ‘80, .. 1827.27) 40, ._. 1861. 148» 80, nebst || 1888. XX’u .,817. Seiten I. / 73828. \97 EN, ». Abhandl. 49 Seiten.“ ...”_ 1889. xuv u. 287 Ben 21899.7.70. 122.2 a0, 20.1862 162 Seiten. 80, nebst .- 1890. VIT u. 320 Seiten’ 50. » 1830..95 - 40, 5 Abhandl. 416 Seiten, n.Er&-Heft2728eit. Bu ax 2 «183.8; » PIEEERAE “= 1863. 156 Seiten 80, 5.1891. yır u, 481 Seiten 80, S » -1892..103 4,” 40) u.» %.1864. 266”Seiten 80. "nebst - ° mn, Brg.-Heft92Seit, 1833. 106 = £0, $ = Abhandl. 266. Seiten. “= 1892: VII u, 361 Seifen. «. 1834. 143. 40, \ = , 1865. 218 Seiten. 80) nebst ° ‚n. ‚Erg.-Heft/160'8,, u 7, ‘Abhandl,:69 Seiten. _ -. ‚1895. VIL u. 392 Seiten 80 _ » 1836. 157 . 40, si - 1866. 267 Seiten 90. nebst | . 189. "VII u. 561 Seiten 8, £ » 1837. 191 7 40, > - “Abhandl. ‚90 Seiten.. ; n! Erg.-Heft, 265 8.80 i » 1838.14 - AN BEE, -- 1867..278 Seiten 80%, nebst a 1895. vu u,.566 ‚Seiten 80, £ «1839. 226. - 40, Abhandl. 19PSeiten. - * * n.Erg.-Heft578eit. 30, N » 1840. 151 . 40%, » 186% 300 -Seiten 8%, mebst |‘. . ‘1896. VIE Lars. 80n. Erg. ge 1841. 188 . 40, Abhandl.’ 447 Seiten, h Heft ‘,V,. 56 SS 3% > .. 1849. 236. = 40, ;- =. .1869. 371'-Seiten 80, nebst) = SE 4868. 800. Erg. ER =... 1843. 273 40, "nebst | Abhandll 236 Seiten. |, eft. VI, 64 Seitens80. E 41.8. ch Beob.) - „1870. 318 Seiten 8%, nebst. , = 1898. vn u..499 Seiten 30, y » 1844..232 Seiten + 40, '* Abhzhdl. 85 Seiten. » .. 1899. .VILu.3808.80n. Erg" - 1845. 165 » » 40) nebst «.....1871. 357 880, n. Abh. 252 8. » Heft VIL 85 Seiten 8% 52 S. meteorol. Beob, - 1872. 350 8.80. n. Abh, 1718. | % = 1900. VIIT u,668 Seiten 80, » 1846. 320 Seiten. 40, ‘nebst . 1873, 287 8.80.n.sAbh. 1488... + - a a 2 8. meteorol.Beob. . 1874. 294 Seiten. 80, „2% »® 4°01. IX uX.562 Seiten 80 » 1847 .404 Seiten &,' nebst a: „1875: 326 =.,4..8% * . 1902, VEII-u 564 Seiten 8% 3 44 8,.-meteorol, Beob. ©. 1976, 394 = ©=..80,.. 07.) = : 1903.VIII u. 601 Seiten 80. > » 1848, 248 Seiten 40, a, "1870488, = 30, »» 1904. X: u. 580.8. 8%n.Erg.- & » 1849. Abth.T,1808.,11,398.)2-, 1878, 3314... 89, , ! £ HeftvIu. 152 Seiten&o., Re n.448. meteorol.Beob.] - - 1879, XX. u.473 Seiten 80. |* . @ 1905. VEIT u. 730° Seiten’30, » 1850. Abth.T, 2048. I, 368, . 1880. XV u.291 ,,. - 3%° ».- 1906. VIE u.664 8.80n, Erg. =. 1851.194 Seiten A, 5:08 3881.XVI 'u,422 80. Heft‘VII, 186 Seit. 8%. "..185% 212-0. 20, I 00, ‚1882. XXIV W432» 80. = 1907. X und 600 ‘Seiten’ 80, » .,1853. 343 - 20, | O 1883. .XVIn w4ls | »,\.80. |. 1908,7XI und 650 Seitens, 3.1854. 288)... BETE » 7 1884 XLE u,402, » 8, 1909. X" und 844 Seiten 80° ö “1855. 286 Je 4% \% = 1885 NV m.444 Seiten 80.) = 1910, Bd. I; VI u, 332 80° =». 1856.42 - 40, ET N, BrEzHette: 1208. 30 Q D I: vll u. 272 80, =. Sj8hn. 317% 40; | ine = Mitglieder-Verzeichnis in 80 von ‚1805 und seits alle wei Kdahre exschienen,

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