lea A ur NN h le ae Fe re mama “ anne DISBEFSEERSPEPER ENGE m: Lipachi el a En Luna SHE N ehaebe h PEN TEN 2 auah ahnt ee Firma NIRTTER LUG M er miete N } + Ya MT, Haack : a — il 1 Ts .- a / — / x \6L: Ez- Ri e> I: ge 1 R - i A‘ BR. DR e & - i \ RI = u. m U A % u iz 'r > » r P,v eu vw W #.,0,,0 © ® © VW u 1..W ,0 ,9,,v 0, w,,M Pas ; Em 10 Dreiundneunzigster Jahres-Bericht der N) Be Gesellschaft für vaterländisch Cultur. 1915. . Band Breklanı 6. Di Aderholz’ ee 4% EL "Adresse für Sendungen: | 3 _ Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultar, Breslau IL, Matthiaskunst 45. 93 ID elne me mzieg wer Jahres-bericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Gultur. 1915. Band: LIBRARY NEW YORK BOTANICAL GARDEN Be = — Breslau. G. P. Aderholz’ Buchhandlung. 1916. LIBRARY "NEW YORK. BOTABIGAL Inhalts -Verzeichnis . des I. Bandes des 93. Jahresberichtes. Allgemeiner. Bericht Über die Verhältnisse und die Wirksamkeit der: Gesellschaft im Jahre 1915, "erstattet vom General-Sekretär Professor Dr. Neisser-. 2... 2... . Bericht; über die Biblidvthek : : ! 2 2% 2 2.2 2 INEEREIE HIizEZOWELITE Bericht über .das Herbarium der Gesellschaft . - » » » : 2 2 2 2 2 2 2 0. Kassen-Verwaltungsberieht. -- - 2. + HIIRSR .N „1870/71 ‚und. 1914/15, Deutschlands nt hartiehe eelage, ee m N beuteälvansAdlaltisWeeber sl. sesineißsacmenet aan ı NE Su ehe ce Ei “„Die.Hohenzollern und ihr Volk“ von Johannes Ziekursch. .... ..- -_ 2.2.2. Berichte über die Sektionen. li. Abteilung: Naturwissenschaften. a. Sitzungen der naturwissenschaftlichen Sektion. Lummer, ©.-und-Kohn, H.:- Beziehung -zwischen- Flächenhelligkeit und Temperatur. . Ziele und .Grenzen .der Leuchttechnik . .. -... - - -.=... — Neue Methoden zur Bestimmung der Sonnentemperatur . - -» ...... — . und Bendict, E.: Strahlungseigenschaften der Sonne erschlossen aus. ‚den logarithmischen Isochromaten unter Benutzung der Sonne als Ver- \ gleichslichtquelle BREI TRSERAT CRUR. au BES ARME NEOE OEREE NER AUCH REM Rechenberg, G.: Allgemeine Übersicht der meteorologischen Beobachtungen. . auf der. Königl. Universitäls-Sternwarte zu Breslau im Jahre 1915 Schaefer, Cl.: Bemerkungen über den Foucault’ schen Pendelversuch . : . —. Die träge Masse schnell bewegter Elektronen... . u... — und Schubert, M.: Reflexionsmessungen im Ultraroten an Sulfaten und Karbonaten -.......... NEE TEE el r I 0 - . B » b. Sitzungen der zoologisch-botanischen Sektion. ir > Dittrich, R.: Die Entstehung @er Pflanzengallen. ..... 2... .... 1 Kern, F.: Beiträge zur Moosflora der Salzburger Alpen»... - - - c5 Oberstein, V.: Krankheiten und Beschädigungen der Kullurpflanzen in Pau) Schlesien im ‚Jahre 1914 BR RAN UNE en EBENE ee > "Seite 9 ‚19 IV Inhalts-Verzeichnis. Schube, Th.: Ergebnisse der Durchforschung der schlesischen Gefäßpflanzen- a welt/umkdahre 1919. 120.9) 2 no lo Sn ae .) 2 N. 35 — Ergebnisse der phänelogischen Beobachtungen in Schlesien im Jahre NIIT ee ee ee ee TEE 45 — Nachträge zum „Waldbuch von Schlesien“ .- . -. 2... u. . 2. 46 Spribille, F.: Einige Angaben über die Brombeeren des Rummelsberges bei Strehlen.-. 2.2, Sana .re 212, 20, % Ks 12 en Er ee. 13 III. Abteilung: Geschichte und Staatswissenschaften. a. Sitzungen der historischen Sektion. Kampers: Aus der Genesis der abendländischen Kaiseridee. Religions- geschichtliche Beziehungen zwischen der 4. Ekloge Vergils und dem 12., 21. und 22. Kapitel der Apokalypse (zusammen mit der philologisch- archäologischen Sektion) - = . - „une 2 a ee 1 b. Sitzungen der Sektion für Staats- und Rechtswissenschaft. Heilborn: Der verschärfte Seekrieg und das Völkerrecht. .. ...... Fi Leonhard: Der Wert der Kriegsereignisse für die Rechtswissenschaft. . . 1 — Die deutsch-amerikanische Bewegung . . - ».» . » 2 2 2.2.2... 15 von Reibnitz: Weltkrieg und Weltbörse ... 2... BL ee 2 —- Der Weltkrieg als wirtschaftlicher und politischer Wendepunkt für die Vereinigten ;Staaten Is, FI: a il&. ne ad ae Se 12 Weber, Adolf: Das wirtschaftliche Lehe als Gegenstand des Hochseknl. ünterrichis.- Jet nen 2 on re Er EEE ERRENE 6 IV. Abteilung. a. Sitzungen der philologisch-archäologischen Sektion. Förster, R.: Platons Phaidros und Apulejus. ........ ae 2 1 Kampers: Aus der Genesis der abendländischen Kaiseridee. Religions- geschichtliche Beziehungen zwischen der 4. Ekloge Vergils und dem 12., 21. und 22. Kapitel der Apokalypse (zusammen mit der historischen Sektion) = ...2 2... 0.2.00 = wie seta 2 2 2 SEE BE 1 Prausnitz, @.: Der Wagen in der Religion, seine Würdigung in der Kunst (zusammen mit der orientalisch-sprachwissenschaftlichen Sektion) - - 1 b. Sitzungen der orientalisch-sprachwissenschaftlichen Sektion. Prausnitz, G.: Der Wagen in der Religion, seine Würdigung in der Kunst (zusammen mit der philologisch-archäologischen Sektion) .. ... . 1 Y. Abteilung. a. Sitzungen der mathematischen Sektion. Goldmann, Referat über eine Arbeit von Prof. Kokott, Neiße: Singuläre Ponceleische Polygone am Kreise . . „2... . „es 1 Steinitz; Die Theorie'des Polyeders . . . ».”. .. . .. = 27. EsnssgssrEEEgEr 1 Inhalts-Verzeichnis. V Seite b. Sitzungen der philosophisch-psychologischen Sektion. Conrad: Versuch einer metaphysischen Begründung der Religionsphilosophie 1 Mann: Neues zum Problem der Aufmerksamkeit . . .. . 2.2 22.2.0. c. Sitzungen der katholisch-theologischen Sektion. Hoffmann, H.: Beiträge zur Pastoraltheologie aus der Kriegsseelsorge . . Karge, P.: Die Bedeutung Palästinas für den Handel einst und jetzt — Die christlichen Missionsschulen in Palästina . .. .. :....... Rücker, A.: Die Vertretung der abendländischen kirchlichen Interessen in Faldsllinde Sa en Ne EAU ELSE ERDE RE RN Ziesche: Die funktionelle Behandlung der dogmatischen Theologie, ihr Wert Bdeihrelschwieniskeitennn.. nl 2 Va ee ee en 1 Bm NS — [XS] d. Sitzungen der evangelisch-theologischen Sektion. Bauer, W.: Die alte syrische Kirche und ihre Evangelien. ........ Caspary: Ein neuer Versuch über die Geschichtlichkeit des Mose. ... » Decke: Ein neues deutsch-evangelisches Gesangbuch . . . » ....... Müller, K.: Studien zur Ahasverussage . . . PARTEIEN DENE RER Schmidt: Ein neuer Hesychastenstreit auf dem Arlosinee Pu) a aA ee ee Sommer Riniesı und Christentum ua. ee ee Steuernagel: Wesen und Ursprung der alttestamentlichen Zukunftserwartung Pereprd VI. Abteilung b. en der Sektion für Kunst der Gegenwart. ce. Sitzungen der Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. Holdefleiß, G.: Das Triasvorkommen von Groß-Hartmannsdorf in Nieder- SCHIESTENN Mn DER VERLEIHEN Eon Dan LI NL BAAR LOHR) LLAEE RTL OE RNSRBER EN SH 1 d. Sitzungen der chemischen Sektion (Chemische Gesellschaft zu Breslau). Arndt, F.: Versuch einer einheitlichen theoretischen Betrachtungsweise in Benanersanischeny Chemie 1. sa 2 ana 1 Bornemann, K.: Über die elektrische Leitfähigkeit der Legierungen im ENSSISEUNZUStAndeN En een ee CHBeMleee en lenken een elle else 1 Ehrlich, F.: Über die Eiweißproduktion durch Hefe und über die Vegetation von Mikroorganismen (mit Demonstrationen) . ». - » 2... 2... 1 Gadamer, J.: Neue Untersuchungen in der Alkaloidchemie. . .». . » . 1 Röhmann, F.: Die Chemie des Getreidekorns in Beziehung zu Eiyholeeie und Bathologien al El la NE en: EEE EHEN RER 1 Stock, A.: Die Bereicherung der anorganischen Chemie durch die Radio- chemie, ae ENTE ENDEN. TSUNE DENN ES ERLBeRT STASUTIELAEN RENT RUE TA NORCED 1 Die Sektionen für Neuere Sprachen, für Obst- und Gartenbau, für Technologie haben keine Sitzung gehalten. Nekrologe auf die im Jahre 1915 verstorbenen Mitglieder ........ 1—46 Pr ante EA « Sasssı3lel PERSNDRT ER zuehesibnade PEST SAREIRT | hi _— : dsldses) ihr ad Pe ü 5 » nv», EUR N “rn ar sin SoGEE > . * + }) 5 ? a a ae nlsaun a [0 ‚ x D i [2 * f ” H in 1: d DE % 12% >E - EP Br a a Be a EEE ee u re a Ta ae ud at : rn Zonı TOiseilsaRrssiite agn eruze , eo - SeultaidA EV Y £ j © EENUS -_ $ Fast ah Sara Dans “r ee Te 33 Bauen Em DORBER 3 N ’ Sealcasel & ae) Da ee ee ee a RE S2.E8 „(Z N I > En A en EI ER f Neu Ars sera ana astra EN IE De wir SZUS-ZUIIE HEIRSEE = * - =”. = #2 “.r . 3 ne - re: Pe ee le) 2: = IE en ENT BEE ae BEE ET a AS SMELcE ae ee Pt Hay‘ er A e ., u * he ar HE ER Tun ZI SE. ESEL EN SsiaEln SG or Ab LER3EH370333 wsdsilisnig hj sa zilzingE siluzimleig A| £ nr - - “ * “ - wi - - - - r - E; 5 am . E7 eu; 6x3 IE INEb SS vario ah zerisds a BE Te 1 VE ER u 5 A TE a 0 a . 3 Pe FR | = 5/2 br Fe ui ER ESTIEN DU Zei RITLE SF23 IS Pr iin og ed hatte lrstereEw ABI arher ir un ZU, EIRTETOTEIEN vuuvs SIESLG —_ vn schlesische Gesellschaft für vaterländische Gultur. DIpyan: 93. Jahresbericht. Allgemeiner Bericht. 1915. &,c BESIERT 2,6 Allgemeiner Bericht über die Verhältnisse und die Wirksamkeit der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur im Jahre 1915, erstattet von dem General-Sekretär Herrn Geh. Medizinalrat Professor Dr. Neisser. Am Mittwoch, dem 8. Dezember 1915 wurde unter dem Vorsitze des Präses, Herrn Geh. Regierungsrat Professor Dr. Foerster, die Ordent- liche Hauptversammlung abgehalten, nachdem sie auf Grund des $ 17 der Satzungen durch einmalige Anzeige in der Schlesischen und der Breslauer Zeitung bekannt gemacht worden war. Die Versammlung erteilte dem Schatzmeister, Herrn Kommerzienrat Berve, Entlastung von der seitens des Präsidiums geprüften Rechnung des Jahres 1914. Der Präses sprach im Anschluß hieran dem Schatz- meister den Dank der Gesellschaft für die der Führung der Kassengeschäfte gewidmete Sorgfalt aus. Hierauf verlas der Generalsekretär, Herr Geh. Medizinalrat Pro- fessor Dr. Neisser den Allgemeinen Bericht über das Jahr 1915. Zunächst wurden die Verluste an Mitgliedern aufgeführt, welche die Gesellschaft teils durch den Tod, teils durch Ausscheiden erlitten hat. a. Von Ehrenmitgliedern starb: 1. Herr Geheimer Justizrat und Stadtverordneten-Vorsteher Dr. Wil- helm Freund in Breslau. b. von korrespondierenden Mitgliedern: 1, Herr Wirkl. Geheimer Rat Professor Dr. Paul Ehrlich, Exzellenz in Frankfurt a. M., 2. ,, Professor Dr. Paul Wendland in Göttingen. c. von wirklichen einheimischen Mitgliedern: ‚1. Herr Geh. Medizinalrat Professor Dr. Alois Alzheimer, 2... "DismedsBiichr Bruck, 3. ,, Königl. Oberbibliothekar und Universitäts- Professor Dr. Leopold Cohn, 1915. 1 . Herr Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl Cultur. Stadtältester und Stadtrat a. D. Wilhelm Eckhardt, Kaufmann J. Ehrlich, Geh. Sanitätsrat Dr. Carl Elias, Dr. med. Alfred Ephraim, Domkapitular Prälat Dr. theol. et phil. Augustin Herbig, Fabrikbesitzer Paul Körner, Cand. phil. Richard Rabe, Freiherr von Richthofen, Landeshauptmann der Pro- vinz Schlesien, Professor Dr. jur. C.E. Riesenfeld, Syndikus der Handels- kammer, Universitäts-Professor Dr. Gregor Sarrazin, Reichsgraf Hans Ulrich von Schaffgotsch, Oberlehrer Professor Dr. Theodor Schönborn, Pastor prin. Hermann Schwartz, Universitäts-Professor Dr. med. Ludwig Tobler, Hilfsbibliothekar Dr. Heinrich Willers. c. von wirklichen auswärtigen Mitgliedern: 1. Herr Geh. Regierungsrat Dr. Oskar Altenburg, Gymnasial- 2. ao Direktor a.D. in Glogau, Kommerzienrat Martin Boecker in Friedenshütte bei Morgenroth 0.-S., Rittergutsbesitzer Dr. Fritz Brössling in Tschanschwitz, Kreis Strehlen, Landrichter Carl Chaussy in Glogau, Dr. med. Determeyer in Bad Salzbrunn, Superintendent D. Gustav Koffmane in Koischwitz bei Liegnitz, Geh. Regierungsrat Professor Dr. Max Treu in Schlachten- see bei Berlin. Infolge von Wechsel des Wohnortes oder aus anderen Gründen schieden aus: 9 wirkliche einheimische und 6 wirkliche auswärtige Mitglieder. Dagegen sind (nach dem 1. April 1915) neu aufgenommen worden: 20 wirkliche einheimische Mitglieder, nämlich: 1. Herr Pastor Adolf Biewald, 2. 3. 4, LE) „ ’ Privatdozent Dr. theol. Felix Haase, Dr. theol. Ernst Dubowy, Regierungsrat Dr. Walter von Conta, Allgemeiner Bericht. 3 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16 17 18. 19. 20. oo nam ot Herr Universitäts-Professor Dr. theol. et phil. Rudolf Otto, ‚„„ Universitäts-Professor Dr. theol. et phil. Wilhelm Caspari, „ Dr. med. Joseph Friedländer, „ Kaufmann Ernst Everth, ‚„ Oberlandesgerichtsrat Moritz von Schickfus und Neu- dorff, „ von Busse, Landeshauptmann der Provinz Schlesien, „ Dr. phil. Willy Scheuer, „ Dr. jur. Ludwig Meyer, „ Kaufmann Hermann Schottländer, „ Bankdirektor Dr. Friedrich Milch, ‚„ Justizrat Dr. Gotthard Epstein, Frau Professor Frances Sarrazin, Herr Justizrat Max Schreiber, „„ Professor Max Schneider, ‚„ Lehrer Emil Schalow, „ Privatdozent Dr. Georg Obst; und nach dem 1. Januar (bis zum 15. Juli) 1916 folgende 28 Mitglieder: 21. 22. 23. 24. 2198 26. 27. 28. 2. - 80. 31. 32. 33. 34. 35. 36. 3% 38. 39. 40. Herr Dr. phil. Siegfried Marck, „ Privatdozent Dr. med. Fritz Heimann, „ Dr. Alfons Nehring, „ Stadtrat Hans Frömsdorf, „ Erzpriester Karl Kuhnert, Königl. Gymnasial-Oberlehrer Dr. Erdmann Hanisch, ‚„, Gartenbauingenieur Fritz Hanisch, „ von Bacmeister, stellv. kommandierender General des VI. Armee-Korps, General der Infanterie, Exzellenz, „ Architekt Wilhelm Berghauer, „ Dr. phil. Alberto Jonas, ‚„„ Oberlehrer Dr. Julius Stenzel, „ Dr. phil. Eduard Metis, Frau Stadtrat Marie Schwemer, Herr Buchdruckereibesitzer Oscar Dülfer, Frl. Dr. rer. pol. Judith Herrmann, Herr GrafCuno von Moltke, Generalleutnant z. D., Exzellenz, „ Regierungsrat Hermann Grüneisen, „. DeokrizV/Prelineer, ‚„ Ober-Postdirektor, Geheimer Ober-Postrat Hermann Mühlhan, Se. Durchlaucht Prinz Johann Georg zu Schoenaich- Carolath, 1* 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. 41. Herr Professor Dr. Otto Ruff, 42. ,, DBankdirektor Jean Bucher, 43. , Kanonikus Valentin Wojcieck, 44. ,, Kuratus Dr. Oskar Pollack, 45. Frau Professor Riesenfeld, 46. Herr Dr. phil. Max Goebel, 47. „ De Hans Honsemann,, 48. ,„, Professor Dr. Lewin Ludwig Schücking; und 1 wirkliches auswärtiges Mitglied, nämlich: Herr Dr. med. Hans Ulrich Ritter, Fürstl. Brunnenarzt in Bad Salzbrunn. Zu korrespondierenden Mitgliedern wurden ernannt: 1. Herr Universitäts-Professor Dr. phil. Rudolf Kautzsch in Frankfurt a. M., \ 2. , Universitäts-Professor Dr. Georg Wobbermin in Heidel- berg. Mithin zählt die Gesellschaft: 933 wirkliche einheimische Mitglieder, 176 wirkliche auswärtige Mitglieder, 30 Ehrenmitglieder und 154 korrespondierende Mitglieder. Außerdem zählt die Sektion für Obst- und Gartenbau neben 95 Gesellschafts-Mitgliedern noch 96 zahlende. Die chemische Sektion (Chemische Gesellschaft zu Breslau) zählt außer 65 Gesellschaftsmitgliedern noch 133 Sektionsmitglieder. In den Verwaltungs-Ausschuß sind gewählt: Herr Geh. Regierungsrat Prof. Dr. Foerster als Präses, Oberbürgermeister a. D. Dr. Bender als Vize-Präses, Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Neisser als General-Sekretär, ‚Prof. Dr. Rosenfeld als stellvertretender General-Sekretär, Kommerzienrat Berve als Schatzmeister und Handelsrichter Alfred Moeser als stellvertretender Schatz- meister. In das Präsidium sind gewählt: Herr Professor Dr. Kükenthal, Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Küstner, Stadtrat Julius Müller, Oberpräsidialrat Dr. Schimmelpfennig, ‚ Bürgermeister Dr. Trentin. Allgemeiner Bericht. Als Delegierte der einzelnen Sektionen sind in das Präsidium gewählt von der Medizinischen Sektion: Herr Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Hürthle, „ Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Küttner, „ Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Partsch, „ Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Uhthoff, ne Prof. Dr.Kietze, von der Hygienischen: Herr Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Pfeiffer, von der Naturwissenschaftlichen: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Hintze und „ Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Lummer, von der Zoologisch-Botanischen: Herr Prof. Dittrich, von der Sektion für Obst- und Gartenbau: Herr Prof. Dr. Rosen, von der Historischen: Herr Archivdirektor Geh. Archivrat Dr. Meinardäus, von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen: Herr Ober-Landesgerichts-Präsident Wirkl. Geh. Oberjustizrat Dr. Vierhaus, Exzellenz, » Geh. Justizrat Prof. Dr. Leonhard, ‚„ Mathematiker Dr. Wagner, von der Philologisch-Archäologischen: Herr Geh. Regierungs- und Provinzial-Schulrat Dr. Thalheim, von der Orientalisch-Sprachwissenschaftlichen: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Schrader, von der Sektion für Neuere Philologie: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Appel, von der Mathematischen: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Kneser, von der Philosophisch-Psychologischen: Herr Prof. Dr. Baumgartner, von der Katholisch-Theologischen: Herr Domherr Prof. Dr. Joh. Nikel, „» Domherr Dr. Anton Bergel, von der Evangelisch-Theologischen: Herr Prof. D. Dr. Hönnicke, von der Technischen: Herr Prof. Schilling, 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. von der Sektion für Kunst der Gegenwart: Herr Architekt Felix Henry, Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Koch, von der Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hütten- wesen: Herr Berghauptmann Schmeißer, „ Geh. Bergrat Prof. Dr. Frech, „ Geh. Regierungsrat Prof. Dr. Supan, von der Chemischen Sektion (Chemische Gesellschaft zu Breslau): Herr Geh. Regierungsrat Professor Dr. Schenck, „ Professor Dr. Ehrlich. Über die Tätigkeit der einzelnen Sektionen berichten die Herren Sekretäre das Folgende: Die medizinische Sektion hielt 13 Sitzungen ab, einschließlich 3 klinischer Abende. Für die Periode 1914/15 sind gewählt: als 1. Sekretär, zugleich als Vorsitzender der Sektion: Herr Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Uhthoff, als 2. Sekretär, zugleich als stellvertretender Vorsitzender: Herr Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Pohl, ferner: Herr Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Minkowski, Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Partsch, Prof. Dr. Röhmann, Prof. Dr. Rosenfeld, ». Prof. Dr: Tietze Die hygienische Sektion. Zu Sekretären sind gewählt: Herr Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Pfeiffer, „ Geh. Med.- u. Reg.-Rat Dr. Telke. Die naturwissenschaftliche Sektion hielt 2 Sitzungen. Zu Sekretären sind gewählt: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Hintze, „» Prof. Dr. Pringsheim, »„ Prob Dr.-Biltz: Allgemeiner Bericht. Die zoologisch-botanische Sektion hielt 4 Sitzungen. Zu Sekretären sind gewählt: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Pax, „ Geh.-Reg.-Rat Prof. Dr. Kükenthal. Die Sektion für Obst- und Gartenbau. Zum Sekretär ist gewählt: Herr Prof. Dr. Rosen, zum Stellvertreter: Herr Kgl. Garteninspektor Hölscher, zum Verwaltungsvorstand: Herr Verlagsbuchhändler und Handelsrichter Max Müller. Die historische Sektion hielt 1 Sitzung. Zu Sekretären sind gewählt: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Kaufmann, ‚„ Archivdirektor Geh. Archivrat Dr. Meinardus, a Broi&Dr,Schoenaich. Die Sektion für Rechts- und Staats-Wissenschaften hielt 7 Sitzungen. Zu Sekretären sind gewählt: Herr Oberlandesgerichts-Präsident Dr. Vierhaus, Exzellenz, „» Geh. Justizrat Prof. Dr. Leonhard, „ Prof. Dr. Weber. Die philologisch-archäologische Sektion hielt 3 Sitzungen. Zu Sekretären sind gewählt: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Foerster, » Geh. Reg.-Rat u. Prov.-Schulrat Dr. Thalheim. Die orientalisch-sprachwissenschaftliche Sektion hielt 1 Sitzung. Zu Sekretären sind gewählt: Herr Prof. Dr. Meissner, „ Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Schrader. 8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Die Sektion für neuere Philologie. Zu Sekretären sind gewählt: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Appel, „ Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Max Koch, . ı Bror Dr.Dieil« Die mathematische Sektion hielt 1 Sitzung. Zu Sekretären sind gewählt: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Kneser, „ Realschuldirektor Prof. Dr. Peche. Die philosophisch-psychologische Sektion hielt 2 Sitzungen. Zu Sekretären sind gewählt: Herr Prof. Dr. Hönigswald, zugleich Vorsitzender, „ Prof. Dr. Baumgartner, Prof. Dr. Kühnemann, Die katholisch-theologische Sektion hielt 3 Sitzungen. Zu Sekretären sind gewählt: Herr Domherr Prof. Dr. Joh. Nikel, „ Religions- und Oberlehrer Herm. Hoffmann. Die evangelisch-theologische Sektion hielt 7 Sitzungen. Zu Sekretären sind gewählt: Herr Prof. D. Dr. Hönnicke, „ Kircheninspektor Propst D. Decke. Die technische Sektion. Zu Sekretären sind gewählt: Herr Prof. Schilling, Brot. Divlasug. Wohl. Die Sektion für Kunst der Gegenwart hielt 2 Sitzungen. Zu Sekretären sind gewählt: Herr Architekt Felix Henry, Baurat Karl Grosser, Geh. Reg.-Rat Professor Dr. Max Koch, Privatdozent Dr. Landsberger. 2] „ ” Allgemeiner Bericht. 9 Die Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. Zu Sekretären sind gewählt: Herr Berghauptmann Schmeißer, .. Geh. Bergrat Prof. Dr. Frech, „ Privatdozent Dr. Lachmann, „„ Privatdozent Dr. Dyhrenfurth. Die Chemische Sektion (Chemische Gesellschaft zu Breslau) hielt 4 Sitzungen. Zum Vorstand der Sektion sind gewählt: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Schenck, Vorsitzender, BalPro Dr Hihrlichh, » Direktor Dr. Schultz, „ Prof. Dr. Schulze, Kassenwart, „ Prof. Dr. Herz, Schriftführer. \ Beisitzer, Allgemeine Versammlungen haben 4 stattgefunden. In ihnen wurden folgende Vorträge gehalten: 1. Am 13. Februar von Herrn Professor Dr. Clemens Schaefer: „Die Natur der Röntgenstrahlen‘“ (mit zahlreichen Experimenten). 2. Am 10. Juni von Herrn Professor Dr. Adolf Weber: „1870/71 und 1914/15‘, Die wirtschaftliche Kriegslage Deutsch- lands, damals und heute, (Der Vortrag folgt unten Seite 13.) 3. Am 20. Oktober Zum Gedächtnis der fünfhundertjährigen Herrschertätigkeit der Hohenzollern. Der Präses eröffnete die Versammlung mit einer Ansprache, in welcher er der Beziehungen gedachte, die die Hohenzollern mit der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur verknüpfen. Seine Worte klangen in ein Hoch auf Kaiser Wilhelm II aus, in das die Versammlung be- geistert einstimmte. Darauf hielt Herr Professor Dr. Ziekursch einen Vortrag über „Die Hohenzollern und ihr Volk“. (Der Vortrag folgt unten Seite 27.) 10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. 4. Am 8. Dezember (gemeinsam mit dem Verein für Geschichte der bildenden Künste) „Zur Feier des hundertjährigen Geburtstages von Adolf von Menzel“, Die Festrede hielt Herr Direktorialassistent Dr. Lindner. Präsidialsitzungen haben 3 stattgefunden. Als wesentlichste Mitteilungen und Beschlüsse aus denselben sind hervorzuheben: Dem Generalsekretär der Gesellschaft, Herrn Geheimrat Professor Dr. Neisser wurden zu seinem 60. Geburtstage die Glückwünsche der Gesellschaft durch den Präses übermittelt. Desgleichen wurden dem Mitgliede des Präsidiums, Herrn Stadtrat Müller zu seinem 75. Geburtstage, sowie Herrn Geheimrat Professor Dr. Laemmer zum 80. Geburtstage die Glückwünsche der Gesellschaft durch den Präses ausgesprochen, Dem Kustos des Herbariums der Gesellschaft, Herrn Professor Dr. Theodor Schube wurde am 2. März von Mitgliedern des Präsidiums unter der Führung des Präses eine künstlerisch ausgestaltete Adresse überreicht, in welcher Prof. Schube der Dank der Gesellschaft dafür aus- gesprochen wurde, daß er nunmehr 25 Jahre nicht nur das Herbarium der Gesellschaft verwaltet und kritisch durchgearbeitet hat, sondern auch durch eigene Funde so vervollständigt hat, daß andere Provinzen uns um dieses Herbarium der Flora unserer Heimatsprovinz ob seiner Vollständig- keit und Durcharkeiturg beneiden könnten. Desgleichen wurde dem Jubilar in der Adresse der Dank der Gesellschaft ausgesprochen für die Herstellung und Fortführung des „schlesischen Waldbuches‘“, sowie für die von Jahr zu Jahr sorgfältig fortgesetzten phänologischen Studien. Der Gesellschaft zur Erhaltung des Lessing-Museums in Berlin wurden zur Feier der zehnjährigen Wiederkehr des Tages der Begründung des Museums die Glückwünsche der Gesellschaft durch den Präses ausgesprochen. Durch die Vermittlung des Präses schenkten die Erben des Gründers der Gesellschaft, Professor Müller, der Gesellschaft eine Büste desselben. Die Schüler und Assistenten Geheimrat Neisser’s überwiesen der Ge- sellschaft anläßlich seines 60 -jährigen Geburtstages dessen von Professor v. Gosen hergestellte Medaille. Die Kinder des verstorbenen Ehrenmitgliedes Geheimen Justizrat Freund wendeten der Gesellschaft 1000 Mark zu. Die Summe soll vor der Hand für besondere Zwecke aufbewahrt werden. Die der Königlichen Universität für Vorlesungszwecke zur Verfügung gestellten Räume im Gesellschaftshause sind im Berichtsjahr nicht mehr Allgemeiner Bericht. {7 von der Universität benützt worden. Der Rektor der Universität dankte in einem Schreiben für die gastliche Aufnahme. Zum Delegierten für das Kuratorium des „Schlesischen Museums der bildenden Künste“ wurde Herr Architekt Henry und zu seinem Vertreter Herr Geheimrat Prof. Dr. Neisser wiedergewählt. Bericht über die Bibliothek. Die im Austausch eingegangenen Gesellschaftsschriften und Zeitschriften lagen in der üblichen Weise im Lesezimmer des Gesellschaftshauses mehrere Wochen zur Benutzung aus und wurden dann regelmäßig von der Königlichen und Universitäts-Bibliothek übernommen. Als Geschenkgeber seien mit Dank genannt: Der Landeshaupt- mann von Schlesien, der Magistrat hiesiger Königl. Haupt- und Residenzstadt, das Kuratorıum der Kommerzienrat Fraenkel- schen Stiftungen hierselbst, das Königl. Bulgarische Konsulat in Berlin, die Akademie für praktische Medizin in Cöln, das Carnegie Endowment for International Peace in Washington, sowie Herr Rittergutsbesitzer Gotthold Lessing in Meseberg, der den II. Band der C. R. Lessing’schen Bücher- und Handschriflen-Sammlung übersandte. Dem Schriftenaustausch sind im Jahre 1915 beigetreten: Universität La Plata-Argentinien, Mainzer Altertumsverein. Bericht über das Herbar der Gesellschaft. Obgleich ich in diesem Jahre fast gänzlich auf meine eigene Tätigkeit angewiesen war, da die jüngeren Hilfskräfte sämtlich Heeresdienste leisteten, ist doch wieder der Bestand des Herbars um mehrere Hunderte von Spann- blättern mit interessanten Belegstücken unserer Flora vermehrt worden. Herr Professor F. Spribille machte sich in gewohnter Weise um die Ausdehnung des Brombeerenanteils verdient. Breslau, den 31. Dezember 1915. Theodor Schube. 12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Kassen-Verwaltungsbericht für das Jahr 1915. Zu dem Bestand des Gesellschaftsvermögens am 51. Dezember 1914 von in bar in Wert- papieren etc. 7 295,19 Mk. 300,— Mk. traten an Einnahmen im Jahre 1915 hinzu 17 478,20 , 1008 24 773,39 Mk. 1300,— Mk. Verausgabt wurden im Jahre 1915 . . 18.679,64 „, —— ,„ mithin verbleiben: in bar 6 093,72 Mk., in Wertpapieren 1 300,— Mk. Breslau, den 31. Dezember 1915. Berve Schatzmeister. 15. Allgemeine Kasse. Allgemeine Kasse. ber 1914 von Einnahme. Ausgabe. in Wert- Bestand am 31. Dezember 1914 Gehälter und dauernde Unterstützungen . papieren etc. 9, | Zinsen von Wertpapieren und Guthaben: Heizung, Beleuchtung und Wasserverbrauch: 300 Mk. Div. für 1914 6%, von ‚46 300 Schles. Bankv.-Ant. el 18,— Te ae oo m 4M 1500,50 I 3 Zinsen von Guthaben beim Schles. Bankverein . - _» 215,45 b. Beleuchtung: ge 3, | Mitglieder-Beiträge: Blektrisch . . 345,31 1300, — Mk. a. einheimische für 1914 25) - - di Bl (erg le nero: ze 304,36 ,„ 9 = b. 5 für 1915 (924) . - : en 220, €. Wasser, Teen c. auswärtige für 1914 (10) . . - EN Re 60, — | Schreibbedarf und Miterialien FI Se nk d. n» MO) eo on m NE 10 588) — Zeitungsinserate . An 4. | Jahresbeitrag der Provinz Schlesien 3000 — Druckkosten : 5, | Jahresbeitrag der Stadt Breslau . 2000| — | Versicherungen (Feuer) Stempel, Steuergebühren, Gerichtskosten 0 Steuern. : Kleine Ausgaben . Außerordentliche Einnahmen: Verkauf von Schriften, Leihgebühren ete. . 251] 90 7, | Einnahmen aus dem Gesellschaftshause: a. durch Vermietungen . . . » 2 0 = MM 965,— Porto-Ausgaben b. Rückvergütung für Heizung . - - 071,50) Fernsprecher: e „ „ Bllandiimg ao 0 oo wa _® 132,35 No 377 0 Jr re er a BE oo 5 Sage m RE Instandhaltung des Gebäudes ii Postscheck-Konto. 6 Hypothekenzinsen und N ealon Außerordentliche Unkosten Verschiedenes . Barbestand am 31. Dezember "1915. Bestand an Wertpapieren etc.: Geheimrat Freund Schenkung lt. Rechnungsbuch Schlesischer Bankvereins- "Anterle Wer HM 300, — Rechnungsbuch betr. Geheimrat Freund Schenkung „ 1000,—|1 300 = | —T — 1300 | 24 773| 39 Breslau, den 31. Dezember 1915. Geprüft, mit den Belegen verglichen und richtig befunden. Berve, Schatzmeister. Breslau, den 4. April 1916. Leser, Rechnungsrevisor. Voranschlag der Einnahmen und Ausgaben der Allgemeinen Kasse für die Jahre 1916 und 1917, ET ea 1916 1917 r 1916 1917 Titel —— ———— | Titel Einnahmen. Mark. | Mark. Ausgaben. Mark. | Mark. 1. | Zinsen: 1.2" Gehälter-und Bensionen er. . rer eerenerenelen ne abeleteleteeekokeleter. 2580,—| 2 580, a. von Wertpapieren ...... ....- ch; 18, — 2. | Heizung, Beleuchtung und Wasser ...........--u.cr200: 2 300,—| 2 300, — b. von Guthaben. ............ Jun. 22220,0262,=5] 155280, 72280, —)173.1\FSchreibbedarte, een A ee | 100,—| 100,— | 2. | Mitglieder-Beiträge: Aa |EZeitungsinseratensg Bere er terereETTtEtr LETTER Eule ctegreete 400,—| 400, — a. Einheimische .. A 9200, — 9:21 Druckkosten ve ge 5.000,—| 5 000,—- b. Auswärtige .......- BL 00: OF 00: 102200 me rc ERortorAusga hen Re PER ER 600,— 600,— 3. | Beitrag des Provinzial-Ausschusses der Provinz Schlesien... | 3 000,—| 3 000,— 7. | Kleine Ausgaben ............ccoooceecceeenenenenne “ 350,— 350, — 8. | Hypotheken — Zinsen ........... 00 54000000000..00000 AM |VReitragt den StadtäRresl an . | 2000,—| 2. 000,— au 4975, 4275, | 9. . —ZAMOL EIS OT 5. | Außerordentliche Einnahmen: | : n R 10. inde-Gr a U DER — 00, — er dhnch Verakheg von Rinalteiteten o.. 47 NUM Gemeinde-Grundsteuer und Kanalgebühr 600, 600, b. Rückvergütung fürHeizung undBeleuchtung ‚. . 500,— 11. | Ausbesserung und Instandhaltung des Gebäudes........... | a4 kr 500,— 0, e. unvorhergesehene Einnahmen .......... „_ 250,—| 1750,—| 1750,—||| 12. 5 e m EM obiliars ya green | 13. | Versicherungsbeitrag an die Städt. Feuer-Sozietät ......... 50,— 50,— | 14. | Eernsprecher No. 3702 und IAT5.... 000 .eeeaneaenıcn 325,—| 325,— I 15. | Unvorhergesehene Ausgaben... ........nuceeeceeaeenenn 150,—| 150,— Summa der Einnahmen |17 an 230, — Summa der Ausgaben |17 230, ir 230, — Breslau, den 12. November 1915. Berve Schatzmeister. 1870/71 und 1914/15, Deutschlands wirtschaftliche Kriegslage damals und heute. Vortrag in der allgemeinen Versammlung vom 10. Juni 1915 gehalten von Professor Dr. Adolf Weber. Erst dann, wenn man den gewaltigen Krieg unserer Tage mit den großen kriegerischen Ereignissen der Vergangenheit vergleicht, bekommt man eine rechte Vorstellung von der gigantischen Größe des gegen- wärtigen Ringens der Völker. Wir nannten den Krieg von 1870/71 wohl den „großen“ Krieg, und das war er ja auch gegenüber den Kämpfen von 1864 und 1866, aber 1870/71 waren an dem Kriege un- mittelbar nur etwa 80 Millionen beteiligt — so viel Einwohner hatten damals Deutschland und Frankreich zusammengenommen —, während in den Weltkrieg der Gegenwart nicht viel weniger als 1000 Millionen Menschen direkt mithineingezogen worden sind. Rund 800 Millionen umfaßt das Menschenreservoir, aus dem unsere Feinde fortwährend neue Kräfte nehmen können, und was in der Welt noch übrig bleibt, ist, abgesehen von unseren beiden Bundesgenossen, nur zu gerne bereit, den Feinden Deutschlands Handlangerdienste zu leisten. 1870 kämpften der Norddeutsche Bund und die mit ihm durch Schutz- und Trutzbündnisse vereinigten vier süddeutschen Staaten gegen Frankreich allein. Öster- reich und auch Italiens König Victor Emanuel zeigten zwar Neigung Frankreich zu helfen, aber Rußland ließ auf der anderen Seite keinen Zweifel darüber aufkommen, daß es unter Umständen mit seiner ge- samten Macht in den Kampf einzugreifen entschlossen sei, wenn irgendein anderer europäischer Staat den Deutschen in den Rücken falle. Dankbar wurde das von uns anerkannt. Als Kaiser Wilhelm am 27. Februar 187i dem Kaiser von Rußland den Abschluß der Friedens- präliminarien anzeigte, geschah es mit der Bemerkung, daß es nur dem Zaren zu verdanken sei, „wenn der Krieg nicht die äußersten Dimensionen. angenommen habe‘. 14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Unser Deutschland, das sich heute gegen eine Weit von Feinden verteidigen muß, ist dem Umfang nach nicht größer als das siegreiche Deutschland von 1871, die deutschen Grenzen sind heute noch dieselben, wie sie im Frankfurter Frieden festgesetzt wurden, der Flächeninhalt ist nur um das winzige, aber nicht ganz unbedeutende Stückehen Land, das die Insel Helgoland darstellt, erweitert worden. Deutschland ist ja der einzige Großstaat, der in den letzten Menschenaltern sein Landesgebiet nicht wesentlich auszudehnen vermochte. Daß unsere auswärtigen Kolonien während eines Weltkrieges nicht das für uns sein können, was Indien, Kanada, Australien, Südafrika für England, was Algier und Tunis für Frankreich, was Zentralasien für Rußland bedeuten, darüber war sich jeder von uns von vornherein klar. Wenn Deutschland heute so viel gewaltiger dasteht als vor 45 Jahren, so verdankt es das ganz der Stärkung seiner inneren Kraft. Schon die Tatsache allein, daß die deutsche Volksziffer seit 1871 um rund 27 Millionen zunahm, während die Zahl der Franzosen damals und heute fast gleich ist, bedeutet mehr als die Erwerbung all’ der Kolonien, die Frankreich und England seit den 70er Jahren ihrem Imperium zufügen konnten — so lange wir das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit so lebendig in uns tragen wie in dieser großen Zeit. Dieses Bewußtsein ist der eine starke Faktor, den wir heute anders als 1870/71 in die Wagschale legen können, damals standen nicht nur die Deutschen in der Habsburgischen Monarchie der deutschen Sache fast feindselig gegenüber, auch im eigentlichen Deutsch- land stand 1870 die damals freilich erst in ihren ersten Anfängen be- findliche Sozialdemokratie abseits, und in Bayern gab es eine einfluß- reiche Partei, die anfangs an dem Kriege gegen Frankreich nicht teil- nehmen, sondern stattdessen eine bewaffnete Neutralität bewahren wollte. Wie ganz anders jetzt, wo man zum ersten Male davon sprechen kann, daß das ganze deutsche Volk in machtvoller Einheit den Kampf gegen die gemeinsamen Feinde aufgenommen hat! Und der andere gewichtige neue Faktor ist unsere wirtschaftliche Macht. Wer hätte es 1870/71 für möglich gehalten, daß das damals ver- hältnismäßig noch arme Deutschland in wenigen Jahrzehnten mehr Reichtum ansammeln werde als Frankreich, mehr sogar als das meer- beherrschende England, daß Deutschlands Handel dem Umfange nach nah und immer näher an denjenigen Englands herankommen werde! 1870 verfügten die deutschen Staaten im ganzen über 146 Seedampfer mit rund 100000 Tonnen Gehalt, vor dem Weltkriege dagegen hatten wir 2000 Dampfer, darunter die leistungsfähigsten der Welt, mit einem Tonnengehalt von insgesamt 4 Millionen! Leider haben. wir kein zu- verlässiges Zahlenmaterial, um den neuzeitlichen deutschen Außenhandel Deutschlands wirtschaftliche Kriegslage 1870/71 und 1914/15. 15 zu vergleichen mit dem deutschen Außenhandel Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre. Erst seit dem Gesetze vom 20. Juli 1879, das eine genaue Statistik unseres Außenhandels vorschreibt, sind derartige Vergleiche möglich. 1880 belief sich der Wert des gesamten deutschen Waren- handels auf rund 6,3 Milliarden Mark, 1912 dagegen auf 20,3 Milliarden Mark, so daß also selbst in dieser Spanne Zeit der Außenhandel sich um über 320°) dem Werte nach steigern konnte. Der Krieg von 1870/71 war ein verhältnismäßig billiger Krieg. Adolf Wagner hat auf Grund der amtlichen Abrechnungen die eigent- lichen Kriegskosten der Deutschen auf 517 Millionen Taler — 1551 Millionen Mark berechnet. Eine andere Schätzung kommt auf 1750 Millionen Mark, darin sind aber auch schon inbegriffen die Unter- stützungen für die Familien der aus dem Beurlaubtenstande zu den Fahnen Einberufenen. Auch dann, wenn man weiter noch hinzurecehnet die Invalidenpensionen, die Entschädigungen für Kriegsschäden und Kriegsleistungen und die sogen. Retablissementskosten, ergibt sich doch nur ein Betrag von rund 2700 Millionen Mark. Die sehr reichlich be- messene Kriegsentschädigung in Höhe von 5 Milliarden Franes machte es Deutschland nicht allein möglich, die Friedensarbeit ohne Kriegs- schulden zu beginnen, es erlangte außerdem noch Mittel, die für Schuldentilgungen, für einen Festungsbaufonds u. a. verwandt werden konnten. Für den jetzigen Krieg haben wir bis jetzt schon aus eigenen Mitteln durch unsere Anleihen über 13 Milliarden aufgebracht und sind dabei doch davon überzeugt, daß wir selbst mit dieser Riesen- summe nicht auskommen werden. Unsere Vorfahren von 1870 hätten natürlich solche enormen Beträge nie aufbringen können, aber auch im Rahmen des Möglichen waren sie doch sehr viel lauer als die gegen- wärtige Generation. Nachdem Preußen im Jahre 1870 seinen Kriegs- schatz im Betrage von 30 Millionen Taler zunächst für das Allernot- wendigste zur Verfügung gestellt hatte, wurde durch Gesetz vom 21. Juli 1870 zwecks Deckung der ersten Kriegskosten eine 5 prozentige Bundesanleihe aufgelegt im Nominalbetrage von 100 Millionen Taler. Man hoffte auf diese Weise 88 Millionen Taler zu erlangen, da der Emissionskurs auf 88° festgelegt war, während vor Kriegsausbruch die 5prozentige preußische Staatsanleihe an der Berliner Börse mit 99,25 °/ notiert wurde. Tatsächlich wurden aber nur 685 Millionen Taler gezeichnet, so daß man statt 83 nur rund 60 Millionen Taler er- hielt. An der Anleihe beteiligten sich insgesamt 50000 Personen, während bei unserer jetzigen ersten Kriegsanleihe insgesamt 1 177 000 und bei der zweiten 2691000 Zeichner festgestellt werden konnten. Erst später, als die großen Siege errungen waren, wurde es 1870/71 16 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. anders, so wurde beispielsweise eine im Dezember aufgelegte bayerische Kriegsanleihe bedeutend überzeichnet. Es ist aber immerhin doch charakteristisch, daß selbst Ende November 1870, als ein neuer Kriegs- kredit von 100 Millionen Taler seitens des Norddeutschen Bundes be- willigt war, dieser durch 5 prozentige Schatzanweisungen realisiert wurde, die man zum Teil am Londoner Markte glaubte auflegen zu müssen. Der Mißerfolg der ersten Kriegsanleihe von 1870 war nun freilich nicht nur zurückzuführen auf eine etwas zu wenig zuversichtliche Stimmung des Volkes, es waren auch bei der Emission technische Fehler . gemacht worden, insbesondere aber fehlte für eine glänzende Anleihe- operation damals in Deutschland die vortreffliche Zahlungs- und Kredit- organisation, über die wir heute verfügen können. Eine starke Zentral- notenbank gab es noch nicht, wenn auch die Preußische Bank nach Kräften bemüht war, die Lücke, so gut es ging, auszufüllen. Wie sehr das Notenbankwesen im argen lag, ergibt sich daraus, daß der Umlauf der durch Bargeld nicht gedeckten Noten von etwa 15 Millionen Mark zu Anfang der 50er Jahre (ausschließlich Bayerns) auf 342 '/z Millionen Mark im Jahre 1870 gestiegen war. Ende 1870 betrug der ungedeckte Notenumlauf einschließlich Bayerns mehr als 448 Millionen Mark. Selbst im Jahre 1873 waren im Deutschen Reiche nicht weniger als 140 Arten verschiedener papierner Wertzeichen im Umlauf, 32 Banken außer der Reichsbank hatten das Recht, Noten auszugeben, sogar Eisenbahnen, Kommunen und anderen Korporationen war in einzelnen Staaten auf Grund besonderer Konzessionen die Erlaubnis erteilt worden, Papiergeld auszugeben. Wie schon 1848 und 1866, errichtete man auch 1870/71 wiederum Darlehnskassen zwecks Erweiterung der Möglichkeit, durch Lom- bardierung von Waren oder Schuldverschreibungen Barmittel zu er- langen. Durch Gesetz war den Darlehnskassen die Möglichkeit gegeben, Darlehnskassenscheine bis zum Höchstbetrage von 90 Millionen Mark auszugeben. Die Darlehnskassen sind bekanntlich auch jetzt wieder ins Leben gerufen worden, der Höchstbetrag der Darlehnskassenscheine ist diesmal von vornherein auf 1500 Millionen Mark normiert worden, aber verhältnismäßig werden die Darlehnskassen nicht so in Anspruch ge- nommen, wie man auf Grund der Erfahrungen von 1870/71 glaubte an- nehmen zu müssen, eben deshalb, weil die in Friedenszeiten bestehende Kreditorganisation so sehr viel vollkommener geworden ist. Während des deutsch-französischen Krieges stieg der Berliner Bank- diskont von 4° am 15. Februar auf 6° am 15. Juli, auf 8° am 18. Juli, konnte dann aber nach den ersten Siegen wieder auf 5°/o er- Deutschlands wirtschaftliche Kriegslage 1870/71 und 1914/15. 1er mäßigt werden. Während dieses Krieges ging die Reichsbank nicht über 6° hinaus, obwohl die Bank von England vorübergehend ihren Diskont bis auf 10°/ erhöhte. Kurz vor Schluß des Jahres 1914 ver- mochte unsere Zentralnotenbank ihren Zinssatz sogar auf 5° zu er- mäßigen. Dagegen mußte die Reichsbank angesichts der Kompliziertheit der Verhältnisse und mit Rücksicht auf ihre ungeheuere Verantwortlich- keit einen Schritt tun, den die Preußische Bank 1870/71 nicht zu tun brauchte: die Einlösbarkeit der Noten wurde durch Gesetz vom 4. August aufgehoben. Auch wurde am gleichen Tage bestimmt, daß kurzfristige Schuldverschreibungen des Reichs im Sinne des $ 17 des Bankgesetzes mit zur Notendeckung herangezogen werden können, die Vorschriften über die Notensteuer wurden beseitigt, dagegen rüttelte man nicht an der Verpflichtung der Zentralnotenbank, für die ausgegebenen Noten mindestens */s in Bardeckung bereitzuhalten. Tatsächlich ist die Golddeckung der Noten trotz der wesentlichen gesetzlichen Erleichterungen heute wohl mindestens ebenso gut wie im Jahre 1870. Am 23. August 1870, also nach den ersten Siegen, ver- fügte die Preußische Bank über einen Metallbestand von 99'/» Millionen Taler, der Notenumlauf bezifferte sich auf 195 Millionen, so daß also metallisch gedeckt waren rund 51° — bei den zahlreichen anderen damals in Deutschland umlaufenden Noten war das Deckungsverhältnis weit weniger günstig —, dagegen konnte die Reichsbank beispielsweise am 23. November 1914 feststellen, daß damals ihre Noten zu 48,6 °Io allein durch Gold gedeckt waren; im Durchschnitt des ganzen Jahres 1914 waren von den umlaufenden Noten fast 59 °/o durch Metall, und fast 52°) durch Gold gedeckt. Die lange Dauer und die große Ausdehnung des Krieges wirkten natürlich im Laufe der Zeit ungünstig auf die Deckung. Indes war auch Mitte Juni 1915 trotz nicht unerheblicher, un- bedingt notwendiger Goldsendungen der Reichsbank ins Ausland noch eine Golddeckung in Höhe von 45,4°/o vorhanden. Es spricht für sich selbst, wenn man feststellt, daß um diese Zeit der Goldvorrat der Bank von Frankreich kaum ein Drittel der Notenemission ausmachte, gegen- über 62°/; am 31. Juli 1914. Daß unter den gegebenen Verhältnissen der Status unserer Zentral- notenbank so sehr günstig ist, muß bewundernswert genannt werden, es ist zum Teil das Verdienst der Bankleitung, zu einem anderen Teil all’ der wirtschaftlichen, politischen und militärischen Kräfte, die dazu bei- getragen haben, daß unsere Volkswirtschaft auch während des Krieges allen Stürmen trotzen konnte. In der Hauptsache aber verdanken wir die relativ so günstigen Ziffern in den Ausweisen unserer Reichsbank dem patriotischen Eifer der Bevölkerung, die über tausend Millionen 1915. Kia 13 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Mark zur Reichsbank trug und sich dafür Papiergeld geben ließ, obwohl es nicht verborgen blieb, auch nicht verborgen bleiben konnte, dab unsere Valuta im Auslande erheblich im Werte gesunken ist. Bei der Betrachtung der Valuta ergibt sich ein ganz auffallender Unterschied zwischen 1870/71 und der Gegenwart: Während man Anfang Juli 1870 noch 142'/s Taler für 250 Hfl. bezahlen mußte, konnte man sie Ende Juli bereits für 138" Taler haben, bis Oktober stieg dann der Preis allmählich wieder auf die normale Höhe von etwa 142 Talern. 1914/15 zahlte man dagegen in Amsterdam nach den Berichten des Londoner ‚Economist“ für 100 Mark zahlbar in Berlin am 1. Juli 59,11 Fl., am 20. August 58,50 Fl., am 6. Januar 54,10 Fl. und am 6. März nur noch 51,15 Fl. Auf dieser Höhe blieb der Kurs mit kleinen Schwankungen nach oben und nach unten bis Mitte Juni. Schon die Tatsache, daß 1870 die Geldkurse für uns am günstigsten waren, als die Kriegssituation am kritischsten war — vor ‘den großen Siegen — zeigt, daß man sich wohl hüten muß, aus der Gestaltung der inter- nationalen Zahlungsbilanz zu voreilige Schlüsse zu ziehen. Der Rück- gang der Wechselkurse zu unseren Ungunsten ist die Folge davon, daß es uns aus rein äußeren Gründen nicht leicht ist, die Passivität unserer Handelsbilanz durch realisierbare Aktiva der Zahlungsbilanz aus- zugleichen. Im internationalen Verkehr erfolgen die Zahlungsausgleiche bekanntlich normalerweise nicht durch Geld wie im Inlandsverkehr, sondern durch leicht realisierbare Zahlungsanweisungen in Form von Wechseln, Schecks, brieflichen und telegraphischen Anweisungen. Der- artige Zahlungsanweisungen verdanken nun ihre Entstehung dem Um- stande, daß wir dem Auslande Waren liefern, oder Dienste leisten, oder Kapital borgen, oder endlich das Ausland anregen, uns Kapital leihweise zu überlassen. Nach allen diesen Richtungen hin bringt der Krieg große Hemmnisse: Die Menge der Waren, die wir zu liefern imstande sind, ist dadurch, daß wir fast von allen Seiten von Feinden umgeben sind, aber auch durch Ausfuhrverbote und Ausfuhrbeschränkungen, die die Re- gierung im Interesse der Kriegführung erlassen mußte, wesentlich be- schränkt. Das gilt noch in größerem Maße von den Diensten, die das Ausland jetzt von uns in Anspruch nimmt, zumal der weitaus größte Teil unserer Handelsflotte untätig in den Häfen liegen muß. Das in neu- tralen Ländern angelegte langfristige Kapital ist meist nur mit erheb- lichen Kurseinbußen zu realisieren, und kurzfristig haben wir im Ver- gleich etwa zu England sowieso relativ wenig angelegt. Das, was wir aber vom Auslande auf Grund unserer Leistungen vor dem Kriege zu - fordern haben, ist während des Krieges zum größten Teile nicht realisierbar, weil England, Frankreich, Rußland, Kanada, Australien in- Deutschlands wirtschaftliche Kriegslage 1870/71 und 1914/15. 19 folge der Zahlungsverbote, andere Staaten infolge von Moratorien ihre Schuldverpflichtungen nicht erfüllen. Aktien von Unternehmungen in England und in englischen Kolonien, die im Besitze von Deutschen sich befinden, z. B. die südafrikanischen Goldshares, können an neutralen Börsen z. B. in Holland deshalb nicht verkauft werden, weil in England das System der Namensaktien im Gegensatz zu Deutschland üblich ist, so daß England leicht in der Lage ist, zu verhindern, daß die auf den Namen eines Deutschen eingetragenen Aktien veräußert werden. Das, was unsere Feinde demgegenüber von uns und unseren Bundesgenossen durch Realisierung nicht einzuziehen vermögen, steht in keinem Ver- hältnis zu dem, was sie ohne Schwierigkeiten flüssig machen können. Die Folge wird freilich sein, daß sie nach dem Kriege für den inter- nationalen Zahlungsverkehr weniger Reserven haben als wir, ein Um- stand, der vorläufig aber für unsere Zahlungsorganisation nicht in Be- tracht kommt. Die offenkundige Entwertung unserer Valuta im Auslande würde im Frieden unzweifelhaft sehr bedenklich sein, namentlich deshalb, weil sie eine Verdrängung des Metallgeldes, eine Verteuerung des Imports sowie eine künstliche und daher in der Regel bedenkliche Erleichterung des Exports bewirkt. Eine allgemeine starke Preissteigerung in Verbindung mit erheblichen Preisschwankungen wären die weitere Folge. All’ diese Wirkungen haben nun aber während des Krieges bei weitem nicht die Bedeutung, die ihnen in Friedenszeiten zukommt. Durch Gesetz und durch die vaterländische Gesinnung der Bevölkerung ist eine von der Zentralinstanz nicht gewollte Ausfuhr von Gold fast zur Unmöglichkeit geworden, wie ja das starke Anwachsen des Goldbestandes der Reichs- bank zeigt. Die Verteuerung des Imports verliert einen großen Teil ihrer Bedenken, weil einmal der Import sowieso schon stark reduziert ist, dann aber auch deshalb, weil der Preis der wichtigsten Inlandsgüter, namentlich für die Nahrung, durch Preistaxen reguliert ist. Ebenso er- scheint eine Förderung des Exports durch das Disagio nicht bedenklich, sondern sogar erwünscht zu sein. Mit Recht meinte jüngst Julius Wolf, daß das Disagio wenigstens zum Teil die Mehrkosten aufhebt, die dem Ex- port der Industrie aus der Notwendigkeit der Benutzung anderer Wege, Häfen und Beziehungen — von anderen Schwierigkeiten zu schweigen — erwachsen. Aus dem Gesagten ergibt sich schon, daß heute die Verhältnisse für uns sehr viel ungünstiger liegen gegenüber 1870/71 in bezug auf relativen Rückgang unseres auswärtigen Handels. Der Schiffsverkehr sämtlicher Häfen des Deutschen Reiches wurde 1869 auf rund 7 Millionen Tonnen, 1870 auf 6,3 Millionen Tonnen berechnet. „Die französischen Ge- 9# 20 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. schwader‘“ — so schrieben die Ältesten der Kaufmannschaft von Berlin — „irrten planlos und die Küsten sorglich vermeidend, ja ohne an den meisten Häfen auch nur eine effektive Blockade zu ermöglichen, in den deutschen Meeren umher, hier und da eine Rekognoszierung versuchend.“ Dabei war aber nun auch noch der größte Teil des Landverkehrs für die Ausfuhrmöglichkeit nach Rußland, nach Österreich-Ungarn, nach den nordischen Staaten, über die Schweiz und Italien offen geblieben. Heute dagegen, wo wir von drei Seiten von Feinden umgeben sind, und England in der denkbar rücksichtslosesten Weise seine Seeherrschaft zur Geltung zu bringen sucht, ist natürlich ein viel größerer Teil unseres Außen- handels gelähmt. Ziffern über unseren Import und Export sind nach Ausbruch des Krieges nicht mehr veröffentlicht worden, aber wenn wir hören, daß beispielsweise der österreichische Export in den Kriegs- monaten Juli bis Dezember um mehr als 60 °% gegenüber dem Vorjahre zurückgegangen ist, und erfahren, daß die bei dem amerikanischen Generalkonsulat gemeldete Ausfuhr Hamburgs im ersten Quartal 1915 nur noch 855 000 Dollar betrug gegenüber 7350000 Dollar im Jahre 1913, dann vermögen wir uns doch ein ungefähres Bild zu machen von dem enormen Rückgang unseres Außenhandels. Versuche, den Export zu beleben, verdienen schon im Hinblick auf unsere Zahlungsbilanz ernste Aufmerksamkeit, aber zweierlei geht unbedingt voran: wir dürfen nichts exportieren, was wir nachher selbst entbehren, und wir müssen Obacht geben, daß wir nicht durch unseren Export dem Gegner nützen. Unter diesen Gesichtspunkten ist insbesondere die Kohlen-, Kali- und Zucker- ausfuhr zu betrachten. In diesen drei Artikeln exportierten wir 1913 845 Millionen Mark (einschließlich der Koksausfuhr 992 Millionen Mark). Die Ausfuhr von Kali und Zucker ist gegenwärtig ganz verboten, und auch der Kohlen- und Koksabsatz ist seit Mitte März unter staatliche Regelung gebracht worden, es ist eine staatliche Stelle geschaffen worden, deren Aufgabe eine entsprechende Verteilung von Kohle und Koks unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der neutralen Länder sein soll. Wichtiger als die Sorge für die Ausfuhr muß die Sorge sein für die Beschaffung der Nahrungsmittel und Rohstoffe, die für die Ernährung und für den Kriegsbedarf unerläßlich sind. 1870/71 brauchte man sich wegen der Abschneidung der Rohstoffe und Nahrungsmittel keine Sorgen zu machen. Das, was an baumwollenen Gespinsten und Baumwoll- geweben, an Maschinen und Eisenwaren, an Papier weniger eingeführt wurde im Jahre 1870 gegenüber 1869, war kaum der Rede wert, die Ein- fuhr von Rohbaumwolle stieg sogar von 712000 Zentnern im ersten Halb- jahr 1870 auf 775000 Zentner in der zweiten Hälfte desselben Jahres, die Kohleneinfuhr war 1870 nur 2!/2°h geringer als 1869. Glänzend Deutschlands wirtschaftliche Kriegslage 1870/71 und 1914/15. 21 waren damals die Vorbedingungen für die Volksernährung; Deutschland hatte anfangs der 70er Jahre für seine damalige Bevölkerung an Weizen zum Beispiel aus der Eigenproduktion so viel, daß es nicht unerhebliche Mengen an das Ausland abzugeben vermochte. Dazu kam, daß die Ernte 1870 besser war als im Vorjahr, der Körnerertrag war bei Weizen um 13° höher als 1869. Ohne Schwierigkeiten konnte man auch aus dem Auslande Getreide und Hülsenfrüchte einführen. Weil sich damals wie heute herausstellte, daß während des Krieges, namentlich auch wegen des Schadhaftwerdens eines größeren Teils der Nahrungsmittel, mehr ge- braucht wurde als in Friedenszeiten, hatte man trotz der besseren Ernte doch das Ausland in größerem Maße notwendig als in Friedenszeiten. So wurden 1870 reichlich 7 Millionen Zentner mehr Getreide und Hülsen- früchte eingeführt als 1869. Die Versorgung mit Fleisch war so reichlich, daß bereits am 21. September das Viehausfuhrverbot aufgehoben wurde. Freilich ganz ohne Schwierigkeiten ging es auch damals nicht ab; so berichtete die „Frankfurter Zeitung“ unter dem 25. Juli 1870: Unter der hiesigen Einwohnerschaft gibt sich eine große Ent- rüstung kund über den plötzlichen und unverhältnismäßig hohen Aufschlag aller Lebensbedürfnisse. Ohne allen Grund wurde z. B. das Salz stellenweise zu 4 und 5 Kreuzer verkauft, Reis, Sago, Grieß- mehl, Mehl, Butter erfuhren enorme Preissteigerungen; der Stein- kohlen, die allerdings eben schwierig zu beziehen sind, nicht zu ge- denken. Auch über den Mangel geeigneter Wirtschaftslokalitäten in der Nähe der Bahnhöfe wurde mit Recht geklagt. Hoffentlich wird der Verein, der zum Zweck hat, die durchziehenden Krieger zu laben, sofort seine Tätigkeit beginnen. Übrigens dürften die Preise für die Lebensmittel sich nicht lange auf dieser Höhe halten; es dürfte von dem Publikum selbst abhängen, wie z. B. bei der Butter auf den Preis zu wirken. Da man sich am Samstag zurückhielt, zu den enormen Preisen zu kaufen, so gingen die Händler am Schluß des Samstagsmarktes von selbst herunter, und man konnte das Pfund zu 32 Kreuzer noch bekommen. In einer weiteren Notiz heißt es: Die Metzger werden morgen mit dem Ochsenfleisch um zwei Kreuzer aufschlagen, und nur noch gegen bare Zahlung Fleisch verabfolgen. Dabei mag im Vorbeigehen erwähnt werden, daß es über die wirt- schaftliche Kriegslage von 1870/71 irgendeine Literatur nicht gibt, während zurzeit eine unübersehbare Flut von Kriegsschriften, ins- besondere auch wirtschaftlicher Art erscheint. Auch das mag als Beweis 22 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. dafür dienen, daß es 1870/71 keine schwierigeren wirtschaftlichen Pro- bleme zu lösen gab. Trotz der erhöhten Ernteerträge und der erhöhten Einfuhr, die aus den benachbarten Ländern Ungarn, Galizien, Polen leicht war, ist eine durchgängige Preissteigerung der landwirtschaftlichen Er- zeugnisse gegenüber den Preisen des Jahres 1869 im Jahre 1870 zu ver- zeichnen. Nach den Feststellungen des Königlich Preußischen Sta- tistischen Bureaus wurde als durchschnittlicher Preis für 81 preußische Märkte festgestellt für einen Scheffel Weizen im November 1869 77 S. 9 P., im November 1870 93 S. 1 P., die Steigerung betrug also 15 S.A P. oder = ca. 20°. Erbsen stiegen von 74 S. auf 83 S. Ein Zentner Heu, der im November 1869 für 32 S. 2 P. zu haben war, mußte Mitte 1870 mit 86 S. 10 P. bezahlt werden. Stärkere Preiserhöhungen ergaben sich ferner für Reis und die geringeren Sorten Kaffee, Petroleum da- gegen wurde in Hamburg und Berlin Ende des Jahres 1870 nicht teuerer, als es Anfang des Jahres war, auch ein deutlicher Beweis dafür, daß die Zufuhr von außen ohne Schwierigkeiten vonstatten ging. Der Preis für Kupfer fiel während des ganzen Krieges ständig, die Versorgung war 1870 reichlicher als im vorhergehenden Jahre. Soweit sich hier und da eine Kohlennot bemerkbar machte, war sie nicht verschuldet durch einen tatsächlichen Mangel, sondern durch die Unfähigkeit der Bahnen, neben den militärischen auch Handelstransporte in ausreichendem Maße zu be- wältigen, wobei berücksichtigt werden muß, daß das Eisenbahnnetz in Deutschland — auch von den Kleinbahnen abgesehen — heute dreimal so dicht ist als 1870/71. Waren schon 1870/71 gelegentlich Stockungen in der Zufuhr und Preissteigerungen notwendige Folgen des Krieges, dann sollte man prima facie annehmen, daß die Lösung des Volksernährungsproblems und der Rohstofffrage in dem gegenwärtigen Kriege ein unlösbares Problem sein müßte. Vergegenwärtigen wir uns die Sachlage! Auf demselben Boden ist eine Bevölkerung zu ernähren, die um 27 Millionen Köpfe zu- genommen hat. Die Ansprüche dieser stark vermehrten Bevölkerung an die Ernährung sind rasch sehr erheblich gestiegen; das sieht man am besten aus den Zahlen, die für den Fleischkonsum angegeben werden können: der Fleischverbrauch hat sich seit 1870/71 pro Kopf mindestens verdoppelt. Die stark vermehrte und viel anspruchsvoller gewordene Bevölkerung mußte dazu übergehen, durch Handel und Industrie Aus- tauschwerte zu schaffen, um so aus der Ferne billigere und reichlichere Nahrungsmittel zu beschaffen, als sie das eigene Land bot. Das, was wir so an Nahrungsmitteln aus dem Auslande bezogen, war vor dem Kriege auf reichlich 1600 Millionen Mark angewachsen. Die Verteilung Deutschlands wirtschaftliche Kriegslage 1870/71 und 1914/15. 33 genügender Mengen von Nahrungsmitteln auf die einzelnen Köpfe und Landesteile ist heute gegenüber früher wesentlich dadurch erschwert, daß die Zusammendrängung der Bevölkerung an einzelnen wenigen Punkten sehr zugenommen hat: während die Zahl derer, die in Dörfern auf dem Lande wohnen, sich seit 1871 nicht nur relativ, sondern auch absolut vermindert hat, nahm die Zahl der in den Großstädten Lebenden um 484°) zu. Kurz vor dem Kriege erschien ein Büchlein: „Hungersnot nach der Mobilmachung‘“. In dieser Schrift wurde unter Beibringung reichlichen Zahlenmaterials die Prophezeiung ausgesprochen, daß „mit der Sicherheit eines Naturereignisses“ drei Tage nach der Mobilmachung in allen Groß- städten Hungersnot ausbrechen müsse. Der Verfasser ging allerdings in- sofern bei seinen Befürchtungen von einem richtigen Gedanken aus, weil die Nahrungsmittelversorgung und -Verteilung während eines Krieges im Frieden so gut wie gar nicht vorbereitet war, so daß also in der Tat nach dem Kriegsausbruch infolge der fast völligen Abschneidung unserer Zufuhr wir vor Schwierigkeiten standen, die riesengroß waren. Daß bei der Lösung zunächst Fehler gemacht wurden, ist dabei fast selbstverständlich. Schließlich sind wir aber doch zu einer befriedigenden Lösung gekommen, ich will nur zwei Tat- sachen mitteilen: wir können unzweifelhaft während des Krieges unsere Soldaten im Felde reichlich, die zurückgebliebene Bevölkerung genügend mit Nahrungsmitteln versorgen, und zwar zu Preisen, die weniger ge- stiegen sind, als in irgendeinem anderen der großen Kulturländer; und im vierten Quartal 1914 — also während des Krieges — war der Fleisch- verbrauch in Deutschland um mindestens 15°/o höher als im ersten Quartal 1914 während des Friedens. Ganz unverhältnismäßig größer sind diesmal auch die Schwierig- keiten am nationalen Arbeitsmarkt. Von einer Gesamtbevölkerung des Zoll- gebietes von rund 39 Millionen waren bis zum Januar 1871 gegen Frank- reich 734000 Mann mobil gemacht und 131000 Mann als Besatzungs- truppen verwandt worden. 1870/71 standen sicher weniger als 3 °/o unter den Fahnen, heute sind sicher wesentlich mehr als 10° der Bevölkerung in Reih und Glied zum Schutze des Vaterlandes eingereiht. Und doch waren in der deutschen Volkswirtschaft vor 45 Jahren viel leichter Menschen zu entbehren als in der neuen Zeit. Im Durchschnitt der Jahre 1866 bis 1870 verließen jährlich weit über 100 000 Deutsche die Heimat, um sich jenseits des großen Meeres neu anzusiedeln. In den letzten Jahren ist dagegen die deutsche Auswanderung verhältnismäßig ganz un- bedeutend, die Klagen der Landwirte über Leutenot und die Tatsache, daß wir in Friedenszeiten ein Heer von über 1000000 ausländischer 24 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Arbeitskräfte heranziehen, sind weitere Beweise dafür, daß wir alles in allem schon im Frieden nicht zu viel, sondern zu wenig Arbeitskräfte haben. Aber auch über die Schwierigkeiten am Arbeitsmarkte sind wir hinweggekommen, und wir werden sie auch in Zukunft meistern können, eher jedenfalls als England, das doch einen so viel geringeren Prozent- satz seiner arbeitsfähigen Bevölkerung ins Feld geschickt hat, und dem außerdem seine Kolonien und die Vereinigten Staaten Hilfsdienste leisten, die wir entbehren müssen. Eigentümlicherweise gab es beim Be- ginne des Krieges viele unter uns, die eine rasch zunehmende Arbeits- losigkeit befürchteten; soweit tatsächlich die notwendig werdende Arbeitsverschiebung vorübergehende Arbeitslosigkeit mit sich brachte, konnte sie — von einigen Ausnahmen abgesehen — rasch beseitigt werden. Je länger der Krieg dauert, je mehr Männer von der wirt- schaftlichen Arbeit weggenommen werden, um so deutlicher wird nicht Arbeitslosigkeit, sondern Arbeitermangel das Problem unseres Arbeits- marktes. Zum Glück stehen uns einige Hilfsquellen zur Verfügung, die 1870/71 nicht in dem Maße vorhanden waren: Das sind zunächst die stillen Reserven an Arbeitskraft, die wir unserer sozialen Gesetzgebung und den Errungenschaften der Gewerkschaften verdanken. In den 70er Jahren war 12- bis 14stündige Arbeitszeit nicht selten, Frauen- und Kinderarbeit traf man ungemein häufig da an, wo unmittelbar vor dem jetzigen Kriege fast nur Männer beschäftigt wurden. Die Arbeiter waren weniger gesund und leistungsfähig als die moderne Arbeiterschaft. Die sozialen Errungenschaften des letzten Menschenalters lassen jetzt in den Tagen der Not von einer Anspannung der nationalen Arbeitskraft viel mehr Erfolge erhoffen als 1870/71. Ein anderes Plus an verfügbarer Arbeits- kraft gegenüber damals bietet uns das Heer unserer Gefangenen. Im Februar 1871 betrug deren Zahl etwa 360 000, jetzt nähern wir uns der Million, darunter sehr viele kräftige Russen, die mehr als die Franzosen an Disziplin gewöhnt sind, und denen man Feld- und Bergarbeiten eher zumuten darf als diesen. Bis jetzt war nur die Rede von den wirtschaftlich ungünstigen Folgen der Kriege und von der Art, wie sie überwunden wurden. Es fehlt indessen auch nicht ganz an wirtschaftlichen Vorteilen, die der Krieg mit sich brachte. Auch da allerdings wieder ein großer Unter- schied zwischen dem deutsch-französischen Krieg und dem Weltkriege! 1870/71 machten wir zunächst einen guten Schritt vorwärts zur Er- oberung eines Anteils am Welthandel, jetzt handelt es sich darum, für unseren heimischen Markt die praktischen Folgerungen daraus zu ziehen, daß wir in größerem Umfange als bisher vom Auslande unabhängig sein Deutschlands wirtschaftliche Kriegslage 1870/71 und 1914/15. 35 müssen und sein können. Das Daniederliegen der französischen In- dustrie und Manufaktur bot 1870 Deutschland willkommene Gelegenheit zu zeigen, daß es auch wirtschaftlich ein beachtenswerter Konkurrent geworden sei. In den Krefelder Samt- und Seidenfabriken übertraf in den letzten Monaten 1870 die Tätigkeit „alles früher Erreichte“, weil England und Amerika Krefelder Waren an Stelle der fehlenden fran- zösischen nahmen. Der Export an Hut- und Brotzucker stieg aus ähn- lichen Gründen von rund 114000 Zentnern im Jahre 1869 auf 293 000 Zentner im Jahre 1870. Nach einem Berichte der Ältesten der Berliner Kaufmannschaft waren sonst noch durch den Wegfall der französischen Konkurrenz am Weltmarkt begünstigt: Lokomotiven- und Wagenbau, Möbel-, Kurzwaren- und Teppichindustrie, Konfektion, Herstellung künstlicher Blumen. Auch die deutsche Spielwarenindustrie konnte 1870/71 zeigen, daß sie wohl fähig war, an die Stelle der „französischen Spezialitäten“ zu treten. In unseren Tagen können solche wirtschaftliche Eroberungen am Weltmarkte natürlich nicht in Betracht kommen, wir müssen schon froh und zufrieden sein, wenn die Sperrung unserer Grenzen den Konkurrenz- kampf am Weltmarkte nicht dauernd zu unseren Ungunsten verschiebt. Aber wir sind jetzt gezwungen, unsere lächerliche Ehrfurcht vor Auslandsprodukten einer Revision zu unterziehen. Es braucht nicht er- funden zu sein, was die Zeitungen berichteten, daß ein Lieferant von Stahlwaren seinem Kunden nach Kriegsausbruch mitteilte, er könne die Artikel nicht mehr mit englischem Stempel liefern, das sei aber auch richt nötig, denn Waren wie Stempel seien Solinger Produkt. In dem Falle blieb es bei einem moralischen Passivum, in zahlreichen anderen Fällen kam der wirtschaftliche Schaden dazu. Wenn wir jetzt deutsche Stahlfedern, deutsche Schreibmaschinen, deutsche Marmelade, deutsche Modellkleider, deutsche Trikotagen und zahlreiche andere deutsche Ar- tikel kaufen, die bis jetzt durch Auslandsartikel ohne Grund zurück- gedrängt wurden, so ist das zwar eine Eroberung in der Heimat, aber eine wirtschaftlich nicht unwichtige Eroberung, umsomehr, weil wir in Diensten dieser Eroberungspolitik neue technische Errungenschaften ver- werten können, die uns Ersatz für Chilisalpeter, für Jute, für Benzin, vielleicht auch in nicht zu ferner Zeit für Kautschuk bieten. Übrigens wurde auch 1870 der Erfindungsgeist mit Erfolg in den Dienst des wirtschaftlichen Fortschritts gestellt. Als 1870 der von den französischen Feldern kommende Krapp ausblieb, erfanden Greve und Liebermann das Alizarin, wodurch die Krappzufuhr überflüssig wurde. Auch in der Textilindustrie wurden damals, um französischer Industrie 36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. möglichst viel und dauernd zu schaden, wichtige technische Neuerungen eingeführt. Ein in seinen praktischen Folgen besonders wichtiger Unterschied zwischen 1870 und heute ergibt sich daraus, daß diesmal in ganz ge- waltigem Umfange seitens der Regierung Bestellungen für Kriegszwecke an die Industrie abgegeben wurden. In den Zeitungen und in den Be- richten der Unternehmungen findet man 1870 nur selten Hinweise auf Kriegsaufträge. Wie ganz anders jetzt! Kaum ein Industriezweig, der nicht bedacht wird! Viele müssen mit Überstunden, manche auch an Sonntagen arbeiten, neue Maschinen einstellen, Erweiterungen vor- nehmen, die Löhne sind stellenweise erheblich gestiegen, was wieder die Nachfrage nach Waren z. B. im Bekleidungsgewerbe anregt. Es bietet sich das Bild einer Hochkonjunktur im Kriege. Aber diese Hoch- konjunktur wird mit dem Frieden ein Ende finden. Und wenn wir nun wieder an die 70er Jahre zurückdenken, dann steht uns das furchtbare Elend vor Augen, das nach dem Kriege kam, angeregt durch den Milliardensegen, der, unrichtig verwandt, zum Un- segen wurde. 100 Zentner Steinkohlen kosteten in Westfalen vor dem Kriege 1869 32 Mark, nach dem Kriege stieg der Preis auf 75 Mark (1873), wenige Jahre später sank er auf 25 Mark. Andere Preise, auch die Löhne machten ähnliche unheilvolle Schwankungen durch. Die Kriegskonjunktur wird diesmal schon bald nach dem Kriege ein Ende finden, auf eine reichlich bemessene Kriegskostenentschädigung in Geld können wir nicht rechnen, dagegen müssen wir daran denken, daß der mit allen Mitteln aufgepeitschte Haß der Völker gegen uns mit dem Frieden nicht weggescheucht ist, sondern wirtschaftlich noch lange nachwirken muß — zu einer Zeit, wo die Milliardensubventionen, die jetzt die Regierung der Industrie für Rüstungszwecke zuweist, aufhören, wo es sich aber auch empfindlich bemerkbar machen wird, daß wir in der Kriegszeit unser Kapital nicht vermehren konnten. Gleichzeitig erscheint ein halbes Dutzend Millionen Menschen, die bis dahin dem Kriegshandwerk oblagen, um die unterbrochene Friedensarbeit fortzusetzen. Daraus werden sich Schwierigkeiten ergeben, die größer sind als die organisatorischen Schwierigkeiten, die mit der wirtschaftlichen Mobilmachung verbunden waren. Aber wir werden auch diese neuen wirtschaftlichen und sozialen Aufgaben, die eine hoffentlich nahe Zukunft uns stellen wird — gestützt namentlich auf unseren starken inneren Markt — lösen, wenn es uns nur gelingt, den wirtschaftlichen Egoismus auch fernerhin zurückzudrängen, wenn die Erinnerung daran, daß wir während des Kampfes gegen die Feinde ringsum ein Herz und eine Seele waren, stark genug bleiben wird, damit wir nach dem Kriege mit Einsicht und Eintracht, aber auch mit Die Hohenzollern und ihr Volk. 97 Geduld und unter Verzicht auf manche Vorurteile der Vergangenheit das sichere Fundament legen für die neue große Friedenskultur, für das goldene Zeitalter des deutschen Volkes. Die Hohenzollern und ihr Volk. Vortrag zum Gedächtnis der fünfhundertjährigen Herrschertätigkeit der Hohenzollern in der Mark Brandenburg gehalten am 20. Oktober 1915 in der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. von Universitätsprofessor Dr. Johannes Ziekursch. Am 21. Oktober 1915 ist ein halbes Jahrtausend vergangen, seitdem die märkischen Stände zum ersten Male einem Hohenzollern als ihrem Landesherrn huldigten. Der Treueid galt dem Herrn des Ansbacher Landes, dem Burggrafen Friedrich VI. von Nürnberg; ein Bund ward damals geschlossen, der für Deutschlands Zukunft die gewaltigste Be- deutung erlangen sollte; bei der Huldigung dachte freilich der neue Kur- fürst an nichts weniger als an eine restlose Hingabe an die schweren Aufgaben eines märkischen Landesherrn oder gar an ein Wurzelschlagen seines Hauses im märkischen Sande. Ein Zufall hatte ihn, den Franken, den Süddeutschen, nach dem Nordosten, aus dem Herzen des Reiches in das weit abgelegene Hinter- land an der polnischen Grenze geführt. Weil seine eigenen Mittel nicht einmal für einen fürstlichen Haushalt ausreichten, war er in den Dienst der Habsburger, der Wittelsbacher und auch des Luxemburgers, des Kaisers Sigismund, getreten; für seine trefflichen Leistungen hatte dieser ihm erst Schlösser und Herrschaften an der Donau in Ungarn verpfändet, schließlich die gerade freigewordene Mark Brandenburg gegeben. Am 30. April 1415 übertrug der Kaiser auf dem Konstanzer Konzil dem Burggrafen die Kurwürde; nur 3 Tage später verpflichtete sich aber Friedrich zum Verzicht auf diese Würde und das Land, falls er mit Hilfe Sisismunds zum Römischen König, also zum Nachfolger des söhnelosen Kaisers, erwählt würde. Nicht um ihrer selbst willen hieß also Friedrich den Besitz der Mark willkommen, sondern als Staffel zu weiterem Empor- steigen, weil mit der Mark ihm, dem bisher machtlosen Reichsfürsten, der Kurhut zufiel, das Recht, bei den künftigen Kaiserwahlen ein ge- wichtiges Wort mitzusprechen; darauf baute er die Hoffnung, sich über die Mark hinweg den Weg zur höchsten Würde im christlichen Abend- lande zu bahnen. Für sich begehrte Friedrich die Kaiserkrone, für seinen ältesten Sohn, Johann, den Alchimisten, die Kurwürde von Sachsen-Wittenberg, 28 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. für den zweiten Sohn Friedrich die polnische Königskrone; deshalb wurde dieser spätere Kurfürst von Brandenburg als Knabe mit der Tochter des Polenkönigs Jagiello-Wladislaw, des Siegers über den deutschen Orden bei Tannenberg, verlobt und am polnischen Königshofe in Krakau erzogen. Als diese Pläne zerronnen waren, als Friedrich sein Spiel ver- loren geben mußte, übertrug er im Januar 1426 die Verwaltung der Mark auf seinen ältesten Sohn, verließ das Land und betrat seinen Boden nie mehr, obwohl ihn sein Schicksal in den ihm dann noch verbliebenen vier- zehn Lebensjahren mehr als einmal bis hart an die Grenze dieses Landes führte. Ihm genügte eben die Kurwürde und die damit gegebene be- deutsame Stellung in der Reichspolitik; das Land galt dem ersten Hohen- zollern nicht viel und er nicht viel dem Lande. Wenn die Nachricht von seinem Tode im Jahre 1440 überhaupt nach der Mark gekommen ist, so hielt sie hier niemand der Aufzeichnung für wert. Seine 4 Söhne, Johann, Friedrich II., Friedrich der Fette und Albrecht Achill, regierten seit 1426 neben- und nacheinander in der Mark; sie waren sehr verschieden geartete Naturen und ebenso der Erfolg ihrer Tätigkeit, aber darin glichen sie ihrem Vater, sie waren Süddeutsche, und ihr Herz hing an ihrer schönen Heimat und deren romantischen Ritterkultur. Auf den jeder höfischen Sitte baren, des Turniergebrauchs unkundigen, in Jahrzehnten zügelloser Anarchie verwilderten märkischen Adel bliekten sie mit oft nur schlecht verhehlter Geringschätzung, die ihnen und ihrer stolzen fränkischen Gefolgschaft ein verbissener Fremdenhaß der Märker vergalt. Erst in der dritten Generation, gegen Ende des 15. Jahrhunderts, nach der Trennung der alten Stammlande vom neuen Besitz, wurde die Dynastie der Hohenzollern in der Mark heimisch, verwandelte aber auch damit ihre Eigenart. Die fieberhafte Teilnahme des ersten Friedrich oder Albrechts Achilles an allen Wirren der Reichspolitik und die phantastischen Träume von Glanz und Größe, Macht und Herrlichkeit des Hauses verschwanden jetzt schnell hinter der kleinstaatlichen Idylle, dem Verlangen nach einem ruhigen, beschaulichen Dasein ohne große Kämpfe und arge Aufregungen. Die Herrscherrechte dienten fortan vornehmlich zur Beschaffung der Mittel zum Unterhalt des kurfürstlichen Hofes und zur standesgemäßen Ver- sorgung aller Söhne und Töchter; die Regierungsgewalt galt als Privat- besitz der Dynastie. Als die märkischen Stände Joachim II. vorwarfen, daß er über seiner Jagdleidenschaft das Wohl des Landes versäume, ließ dieser erwidern: „So Ihr Kurfürstlichen Gnaden über die große Mühe und Sorg’ der Regierung solche Ergetzlichkeit nit haben solt, wolt Ihr Kur- fürstliche Gnaden aüch viel lieber eine geringere Person oder in anderm Beruf sein.“ Der Jagd halber war er also Kurfürst. Neben dem Landes- Die Hohenzollern und ihr Volk. 29 herrn standen als gleichberechtigter Faktor die eben erwähnten Stände, vornehmlich die Vertretung des Adels. Immer wieder mußten sich die Landesherren infolge ihrer unzureichenden Einnahmen an diese Stände mit der Bitte wenden, sie von ihrer wachsenden Schuldenlast zu be- freien; nach längeren Verhandlungen und mancherlei Zugeständnissen übernahmen dann die Stände einen Teil der Schulden auf ihre Rechnung, wohlgemerkt nur einen Teil, um auch weiterhin die Dynastie in Ab- hängigkeit von sich zu halten. Zur Tilgung der übernommenen Schulden bewilligten die Stände irgendwelche Steuern, aber die Auswahl der Steuern, ihre Verteilung, Erhebung und Verwendung erledigten die Stände und deren Beamte ohne Mitwirkung des Landesherrn. Der Landes- herr wie die Stände besaßen also scharf von einander geschiedene Wir- kungskreise, und auf einem so bedeutsamen Gebiete wie dem der Be- steuerung des Landes hatte der Kurfürst nicht mitzureden. Die Städte regierten sich selber und waren dadurch dem Einfluß des Landesherrn so gut wie völlig entzogen. Über die Bauern herrschte der Adel; immer schärfer bildete sich damals die Hörigkeit der märkischen Bauern aus. Ein stehendes Heer gab es noch nicht; das Lehnsaufgebot hatte jeden militärischen Wert längst verloren. Ohne Soldaten und ohne Dukaten blieb dem Kurfürsten nur ein bescheidener Wirkungskreis hauptsächlich innerhalb des mittelalterlichen Ideals des gerechten Richters und des Schutzherrn der Kirche, auch nach dem Übertritt der Hohenzollern zum Luthertum. Für die große Masse der Bevölkerung besaß also der Landes- herr keine beträchtliche Bedeutung. Seit dem Ende des 15. Jahrhunderts waren die Hohenzollern zu Märkern geworden, aber damit auch vielfach territorialer Selbstgenüg- samkeit verfallen; allmählich wurde das anders. Da ihre Macht nicht in die Tiefe ging, strebte sie in die Breite; da die Hohenzollern von den Erträgen der Mark kaum leben konnten, verlangten sie nach weiterem Landbesitz und schlossen deshalb aus jener vorhin erwähnten privat- rechtlichen Auffassung der Fürstenmacht heraus eine Fülle von Erb- verträgen ab. So erwarben sie schließlich Ansprüche auf halb Deutsch- land, falls die in Frage kommenden Gebiete durch das Aussterben ihrer Herrscherhäuser herrenloses Gut werden sollten, wie andererseits jene Fürstengeschlechter im entsprechenden Falle Teile oder das gesamte märkische Land fordern durften. Nur daß sie ausstarben und die Hohen- zollern sich fortpflanzten. So gewannen diese im Beginne des 17. Jahr- hunderts rheinisch-westfälische Gebiete und Ostpreußen und Ansprüche auf ganz Pommern wie auf Teile Schlesiens; in dem Schrecken des Dreißig- jährigen Krieges mußten sie aber erkennen, daß sie bei ihrer bisherigen militärischen und finanziellen Ohnmacht kaum ihren Besitz wahren und schwerlich ihn vermehren konnten. Und doch lockte jetzt die Aussicht 30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. auf so großen Gewinn zur Anspannung aller Kräfte. Dazu kam, daß in das Herrscherhaus ein neuer Geist eingekehrt war. Johann Sigismund war 1613 zum Kalvinismus übergetreten, nicht aus politischen Gründen, wie man früher meinte, sondern aus langsam er- rungener innerer Überzeugung. Dadurch erschwerte sich zunächst arg die Stellung der Dynastie zu ihren Untertanen; in wilden Tumulten ent- lud sich in der Mark und in Ostpreußen der wütende Haß und Arg- wohn des geistig völlig verarmten Luthertums gegen die Kalvinisten. Seine Untertanen zur neuen Lehre zu zwingen, wozu der Kurfürst reichs- rechtlich befugt gewesen wäre, daran durfte er in seiner Ohnmacht gar nicht denken; vielmehr mußte er für sich und seine neuen Glaubens- genossen dem Volke die Duldung abtrotzen. Unter diesem Zwang wurden die Hohenzollern zum Träger des Toleranzgedankens, eine der wichtigsten Voraussetzungen für den nationalen Zusammenschluß des deutschen Volkes. Ferner kamen die Hohenzollern durch ihren Glaubenswechsel in enge Fühlung mit den Pfälzern und Oraniern; die aus diesen Häusern stammenden Frauen trugen viel Bildung und Gesittung in die Hofgesell- schaft und von dort in den märkischen und preußischen Adel, der zu einem guten Teil noch nach dem berüchtigten polnischen Vorbild lebte. Von entscheidender Bedeutung war aber: mit dem Kalvinismus übertrug sich allmählich auf die Hohenzollern jener Geist der Selbstzucht und des daraus entspringenden Schaffensdranges, der Glaube an sich und sein Werk und dessen göttliche Mission, kurz jene Geistesverfassung, die damals die holländischen und englischen Kalvinisten zu Herren der Welt machte. Nicht bei Johann Sigismund und seinem Sohn, wohl aber bei dem Enkel, dem Großen Kurfürsten, dem Sohn der Pfälzerin, der seine Jünglingsjahre in Berührung mit den Oraniern in Holland ver- lebte, stoßen wir auf diese neue geistige Lebensluft. Keine Verschwommen- heit und Weichheit, keine Lässigkeit und Fahrigkeit wie bei seinen Vorfahren ist an diesem Manne, sondern alles Muskel und Nerv; er wußte stets, was er wollte, so oft er auch sein Ziel wechselte, war immer zum Handeln, nie zum Dulden bereit und mutig oder wagehalsig genug, um gelegentlich alles aufs Spiel zu setzen. Er war der bedeutendste deutsche Fürst des 17. Jahrhunderts. Sein Verhältnis zum Staat glich aber noch völlig dem seiner Vor- fahren; sein Staat und sein Volk besaßen für ihn noch keine eigene Persönlichkeit, deren Rechte sich denen der Dynastie überordneten; im Gegenteil, vom dynastischen Standpunkt aus behandelte er die staat- lichen Probleme. Das verrieten in den ersten Jahren seiner Regierung seine Verhandlungen über eine Ehe mit der Tochter Gustav Adolfs; wären sie geglückt, so wären die Hohenzollern Schwedenkönige und ihr Land Be Die Hohenzollern und ihr Volk. 31 ein Anhängsel jener Monarchie geworden. In den fünfziger Jahren spielte Friedrich Wilhelm mit dem Gedanken, Hinterpommern und Preußen an Schweden abzutreten, falls ihm mit schwedischer Hilfe die Herrschaft in Polen zufiele, und 1661 war er um der gleichen Krone willen bereit, die soeben schwer errungene Souveränität in Ostpreußen den Polen wieder preiszugeben. Die Souveränität, Pommern und Preußen, das Land und die Leute, waren ihm feil, nur nicht sein und seiner Familie Seelenheil; das persönliche Opfer, das August der Starke für die polnische Krone lachend brachte, stand Friedrich Wilhelm zu hoch. Für das starke Über- wiegen rein dynastischer Rücksichten beim Großen Kurfürsten spricht endlich die Tatsache aufs deutlichste, daß er in den letzten 22 Re- gierungsjahren mehr als ein halbes Dutzend Testamente verfaßte, die wohl in den Einzelheiten unter sich abwichen, die aber alle den gleichen Zweck verfolgten, auf Kosten der Staatseinheit die jüngeren Söhne mit Land und Leuten auszustatten. Friedrich Wilhelm trieb also dynastische Politik wie seine Vorfahren; wie ihnen, galt auch ihm noch Rechtsprechung und Kirchenregiment als die vornehmsten Aufgaben des Herrschers, weshalb er im Gegensatz zu König Friedrich Wilhelm I. und Friedrich dem Großen in seinem politi- schen Testament, der für seinen Nachfolger bestimmten Zusammen- stellung seiner Regierungsgrundsätze, von diesen Pflichten an wichtigster, d. h. an erster Stelle redete. Was Friedrich Wilhelm von seinen Vor- fahren schied, war die Kraft seines glühenden Verlangens, sich und sein Haus vorwärts zu bringen. Daher konnte er häufig, im Widerspruch mit anderen Stunden, einen unheimlichen Länderhunger entwickeln; im Laufe seiner Regierung begehrte er Pommern, Littauen, Westpreußen, das Flußgebiet der Warthe, etwa das spätere Südpreußen, Teile von Schlesien, Jülich und Berg, Teile von Belgien und den Niederlanden. Möglichst viele Länderfetzen zusammenzuraffen, war sein Ziel; dadurch wurde für ihn die Mark immer mehr nur ein Besitzstück neben zahlreichen anderen; so hörten im Laufe des 17. Jahrhunderts die Hohenzollern auf, Märker schlechtweg zu sein und sich als solche zu fühlen. Um möglichst viele neue Länder für sich und seine Erben einzuheimsen, um seine Macht zu erweitern, setzte sich Friedrich Wilhelm rücksichtslos über die von ihm beschworenen ständischen Rechte hinweg, denn es galt, ein stehendes Heer zu errichten und dessen Unterhalt durch staatliche Steuererhebung halb- wegs sicherzustellen. Die in sich gegebene Einheit des neuen Heeres be- dang nun eine gewisse Einheit der Länderverwaltung. Indem Friedrich Wilhelm die brandenburgische Armee schuf, wurde er damit auch der Vater des preußischen Einheitsstaatsgedankens und wies dadurch seinen Nachfolgern den Weg, der von der dynastischen Politik zur Staatspolitik führte. 32 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. So wurde Friedrich Wilhelm der Begründer des brandenburgisch- preußischen Militär- und Beamtenstaates, aber dieses sein Lebenswerk entsprach keineswegs dem Ideal seines Herzens und seiner Jugend, dem Ideal, das er aus Holland in die Heimat mitgebracht hatte: einen See- staat mit großer Flotte, mit Kolonien und ausgebreitetem überseeischen Handel, mit blühenden Gewerben und lebhafter Industrie hatte er schaffen wollen. Und dabei spielten um seine Füße nicht die Wogen des leben- spendenden Meeres, sondern der märkische Sand, dessen unermeßliche Fülle für Friedrich den Großen ein Argument gegen die Güte und Weis- heit der Weltenschöpfung war. In: einem durch den Dreißigjährigen Krieg ausgemergelten, an Menschen und Gütern armen und unfrucht- baren Binnenstaat, dessen Städte der Feind mehr als einmal erobert, ausgeplündert und ausgebrannt hatte, in einem ausgesprochenen Agrar- staat, dessen Bevölkerung zum großen Teil aus fronpflichtigen Bauern bestand, solch ein Traum. Die Verwirklichung dieses Traumes erheischte als notwendige Voraussetzung sozialpolitische Reformen wie die Beseiti- gung der ständischen Gliederung, die Milderung und Aufhebung der Hörigkeit; dieser Gedanke fehlte aber noch völlig bei Friedrich Wilhelm. Wahrlich, solche Widersprüche waren nur möglich bei einem Mann, in dem die Gedankenwelt verschiedener Zeitalter und verschiedener Staats- formen gärte und zu keiner harmonischen Einheit gelangen konnte, bei einem Mann, der einer Übergangszeit angehörte, der keineswegs vor- -. behaltlos als der erste moderne Herrscher in Brandenburg bezeichnet werden darf, der aber der erste Hohenzoller war, der mit aller Leiden- schaft seiner starken Seele seinem Volke zu blühendem Wohlstand ver- helfen wollte. Auf den von ihm gelegten Grundmauern erhob sich unter Friedrich Wilhelms Nachfolgern der stolze Bau des friderizianischen Staates. Friedrich Wilhelm I. vernichtete die letzten Reste ständischer Macht und zwang den trotzigen, widerspenstigen Adel in seinen Dienst. Bis dahin waren die Junker die ärgsten Feinde der Hohenzollern gewesen, von den Tagen der Quitzows und den gegen Joachim I. ausgestoßenen Drohungen an über das 16. Jahrhundert hinweg, da der Adel den Landes- herrn in steter Geldklemme schmachten ließ und sich rühmte, daß er und nicht der Kurfürst den Strick in den Händen halte, bis zu den schweren Kämpfen des Großen Kurfürsten und Friedrich Wilhelms I. mit ihren Ständen. Da sich aber fortan dem Tatendrang der Junker im Heeres- und Staatsdienst die Möglichkeit zu ehrenvoller Betätigung bot, ver- zichteten sie sehr bald auf weiteren, doch nutzlosen Widerstand gegen die Macht der Krone und ordneten sich ihr willig unter. So wurde noch in den Tagen Friedrich Wilhelms I. der erste Bund zwischen der Dynastie und einer sozialen Schicht, einem Teile des Volkes, geschlossen, Die Hohenzollern und ihr Volk. 33 und im Schlachtendonner der drei Schlesischen Kriege bewährte sich die freie, innere Hingabe des Adels an den Staat und seine; Dynastie. Die Dynastie und der Adel hatten sich gefunden; der preußische Edelmann diente fortan seinem Landesherrn als Offizier; deshalb sorgte nunmehr der Staat dafür, daß dem Adel der Besitz aller Rittergüter und die Herrschaft über die Bauern gesichert blieb, weil der Offiziersersatz gefährdet war, wenn die Adelsfamilien verarmten und untergingen. Der Adel stellte die Offiziere, das hörige Landvolk einen Teil der Gemeinen. In diesem Augenblick erwachte aber auch das Interesse der Hohenzollern an dem Schicksal dieser Massen. Im 16. und 17. Jahrhundert hatten die Hohenzollern der Verknechtung des Landvolkes und dem massen- haften Bauernlegen ruhig zugesehen und waren auf ihren Domänen ähnlich wie die Junker auf ihren Rittergütern verfahren. Seitdem das Landvolk einen großen Teil der Rekruten stellte, mußte der Staat darauf achten, daß sich die Zahl der Bauernhöfe nicht allzu sehr minderte, daß nicht eine allzu starke Inanspruchnahme der Frondienste das Landvolk zur Flucht über die nahe Grenze trieb, daß der Landmann die zum Unterhalt des Heeres nötigen Steuern zu zahlen die Kraft behielt. Die Städte ver- wandelten sich nunmehr in Kasernen und in Geldquellen für einen rasch wachsenden Teil der Heeresausgaben. Bisher hatten sich die Hohen- zollern nur ausnahmsweise in städtische Angelegenheiten eingemischt; jetzt legte sich Friedrich Wilhelms I. schwere Hand auf die Stadtver- waltungen, verstaatlichte sie, stellte die Zünfte unter staatliche Aufsicht und griff in alle Angelegenheiten des städtischen Wirtschaftslebens und die empfindsamsten Tagesgewohnheiten hinein, damit die steigenden Akziseerträge immer neue Mittel für das Heer abwarfen. Wohl erfolgten vielerlei Mißgriffe in den Einzelheiten; soviel man aber auch an ihnen aussetzen mag, dem friderizianischen Staat bleibt das Verdienst des ersten Versuches, alle Kräfte des Volkes, des Adels, der Bürger und Bauern, bis zum niedersten Handwerker und letzten Pferdeknecht, in den Dienst staatlicher Machtpolitik zu stellen. Wie bescheiden war bisher die Bedeutung des Landesherrn und damit der Staatsgewalt für die Massen gewesen, wie locker infolgedessen der Zusammenhang zwischen Volk und Dynastie, noch in den Tagen des Großen Kurfürsten. Jetzt trieb der Staat seine Wurzeln tief in das Erd: reich der alten ständischen Gliederung, legte jedem der drei Stände be- sondere Pflichten und Rechte auf und gewann gerade durch diese An- passung an die bestehenden sozialen Verhältnisse die Festigkeit und 'Leistungsfähigkeit, die es ihm ermöglichten, den Kampf gegen halb Europa in sieben langen Jahren trotz aller Wechselfälle des Kriegsglückes sieg- reich zu bestehen. Dieser gewaltige Krieg erweckte im preußischen Adel und in manchen Volkskreisen die ersten Regungen eines preußischen 1915. 3 34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Nationalgefühls, zum mindesten starken Stolz auf ihren Heldenkönig und sein schlachtenfrohes Heer. So glänzende Erfolge hatten aber nur errungen werden können, weil auch die Dynastie ihre Stellung zum Staat geändert hatte. Sie sah in ihm nicht mehr die bequeme Versorgungs- anstalt für ihre Familienmitglieder, sondern den Träger des Ruhmes der Hohenzollern, dem darum auch alle Glieder zu dienen und sich, wenn es not tat, aufzuopfern hatten. Staat und Dynastie deckten sich noch insofern, als der König den Staat in allen Stücken beherrschte, alle großen und kleinen Fragen entschied. Mit gutem Grund ist behauptet worden, daß Friedrich der Große das Wort Ludwigs XIV.: „L’Etat e’est moi‘ hätte wiederholen können, und mit höherem Recht als der Sonnenkönig, aber jener alle staatliche Macht in seinen Händen haltende Selbstherrscher war zugleich auch der erste Diener seines Staates, verwandte die Macht des Staates nur zu dessen Nutzen. Der strahlende Ruhmesglanz des friderizianischen Staates darf uns nun aber die Erkenntnis nicht rauben, daß dieser Machtstaat mit seinen Anforderungen überaus hart auf seine Untertanen drückte, unendlich viel forderte und bei seiner Armut nur bescheidene Gegendienste zu leisten vermochte. Hinter den militärischen und finanziellen Gesichts- punkten mußten die kulturellen arg zurückstehen; zum Kultur- und Rechts- staat fehlte im Preußen des 18. Jahrhunderts noch vielerlei. Für den Städter und Bauern blieb Ruhe die erste Bürgerpflicht, man verlangte von ihnen im Gegensatz zum Adel nur blinden Gehorsam, nichts mehr. Da es gleichgültig erschien, wie sich die Massen zum Staate stellten, hatte sich allmählich die religiöse Toleranz in volle Gedankenfreiheit ver- wandelt, und nun fluteten von außen her Ideen über das Land, die die Eigenart dieses Staates schwer bedrohten. Schillers Worte: „Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, und wär’ er in Ketten geboren“, verkündeten in einem Staat, dessen Untertanen in der Mehrzahl Hörige waren, eine revo- lutionäre Botschaft. Je weiter das 18. Jahrhundert zur Neige ging, desto schärfer liefen die Träger der neuen Ideen Sturm gegen das alte Preußen. Zu gleicher Zeit entwickelte sich in Deutschland aus dem Stolz auf die geistige Blüte des deutschen Volkes, aus weltbürgerlichen Ideen heraus, der nationale Gedanke; im Westen und Süden Deutschlands knüpfte er an die Erinnerungen an, die dort aus den Tagen der Salier und Staufer von des Reiches Glanzzeit lebendig waren. In dem Augenblick des Unter- ganges des alten Reiches erwachte die Sehnsucht der Deutschen nach nationalem Zusammenschluß. Die von Friedrich dem Großen geweckte Todfeindschaft zwischen Österreich und Preußen hatte den: Niedergang des Reiches beschleunigt und verschuldete das Aufkommen der franzö- sischen Fremdherrschaft an der Schwelle des 19. Jahrhunderts; schon des- halb war es möglich, daß der nationale Gedanke zum Feinde von Preußens Die Hohenzollern und ihr Volk. 35 Unabhängigkeit wurde. Welche ungeheuren Kräfte lebendiges National- gefühl im Bunde mit sozialer Gleichheit und wirtschaftlicher Bewegungs- freiheit in einem Volke entfesseln konnte, bekam Preußen im Kampfe mit Frankreich 1806/7 zur Genüge zu fühlen. Wer nach dem Tilsiter Frieden an der Zukunft Preußens nicht ver- zweifeln wollte, mußte daher die Kräfte, über die der Sieger verfügte, auch im preußischen Volke zu wecken versuchen; deshalb mußten die für das alte Preußen charakteristische, verschiedenartige Behandlung der Volks- schichten und die staatliche Bevormundung bis in die kleinsten Kleinig- keiten des täglichen Lebens hinein, die den Staat bei seinen Untertanen verhaßt gemacht hatte, fallen. Nicht bloß wie bisher der Adel, sondern alle Klassen des Volkes sollten fortan bei der Lösung staatlicher Auf- gaben helfen, damit die dumpfe Unterordnung der Massen unter den Staat, ihre Gleichgültigkeit und offene Feindseligkeit verschwände und sich in freiwillige, begeisterte Hingabe an ihn wandele. Volk und Staat, bisher als Obrigkeit und Untertan von einander scharf geschieden, sollten einander durchdringen und sich zu einer unlösbaren Einheit verschmelzen. Die dem alten Staat so abgünstigen neuen Ideen mußten den Neubau be- herrschen; nicht mehr durch die Vernachlässigung kultureller Aufgaben durfte man Kräfte zu gewinnen suchen, sondern neue mußten durch Kulturpflege, besonders im Unterrichtswesen, geweckt werden, und mit dem neugeborenen nationalen Gedanken hatte sich der preußische Sonder- staat auszusöhnen und abzufinden. In allen Wandlungen, die der Staat der Hohenzollern bisher durchlebt hatte, in guten wie in bösen Tagen, hatte die Dynastie die Führung be- sessen; die nach dem Tilsiter Frieden notwendigen Reformen vermochte aber Friedrich Wilhelm III. von sich aus nicht durchzuführen. Ihm fehlte jede geniale Ader; freilich wurde die Aufgabe auch dadurch sehr er- schwert, daß das preußische Volk für die durch den furchtbaren Druck der äußeren Lage erzwungenen Neuerungen noch nicht völlig reif war. Nicht bloß der Adel setzte sich gegen die seinen Privilegien feindlichen Reformen zur Wehr; mit gleichem Eifer bekämpfte das Kleinbürgertum, das damals die preußischen Städte füllte, die von Hardenberg gewährte Gewerbefreiheit; aber auch unter den Gebildeten stieß man vielfach auf Widerspruch. Daß Steffens’ Aufruf der Studenten zu den Waffen im Februar 1813 von vielen seiner Kollegen mißbilligt wurde, ist bekannt; aber noch nach dem Freiheitskrieg erklärten Rektor und Senat der Breslauer Universität, daß die allgemeine Wehrpflicht zur allgemeinen geistigen Mittelmäßiskeit führen müsse. So kam es, daß nicht der Herrscher, auch nicht das Volk, sondern eine kleine Gruppe zumeist nichtpreußischer Männer, der Nassauer Stein, die Hannoveraner Hardenberg und Scharnhorst, der Süddeutsche Gneisenau, 36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Culiur. der Holste Niebuhr, der Ansbacher Altenstein, ein jeder nach eigenen Ideen, unter sich daher oft im Widerspruch, die Reformarbeit begannen, ruck- und stoßweise, wann es ihnen gelang, den zaudernden und zweifeln- den König mitsich fortzureißen. Aus der Fremde, aus England, Frankreich und dem Westen Deutschlands geholte politische Ideale suchten sie auf das preußische Erdreich zu verpflanzen, das bisher so ganz anders ge- artete Früchte getragen hatte. Von Anfang an entwickelte sich also ein scharfer Gegensatz zwischen dem alten friderizianischen Staat und den in ihn hineingetragenen neuen Institutionen; die Entwicklung des zu- künftigen Preußens hing davon ab, ob das Neue restlos das Alte ver- drängen, oder umgekehrt, das Alte das Neue wieder ausscheiden, oder ob ein Ausgleich zwischen beiden gefunden würde. Die BReformer rüttelten nun durch ihre Maßnahmen das Volk aus seinem politi- schen Schlummer; ihre Reformarbeit und das wirtschaftliche Elend der Franzosenzeit lehrten dem Volke täglich und stündlich die Bedeutung des Staates, in Guten wie im Bösen, für den ein- zelnen und die Notwendigkeit staatlicher Freiheit und Unabhängigkeit. Die Reformer schmiedeten die Waffen für den Befreiungskampf; die Reform des Behördenorganismus erhöhte die Leistungsfähigkeit der Ver- waltung für die Kriegstage; bei der Bildung der Landwehr im Früh- jahr 1813 trat die erzieherische Wirkung der Selbstverwaltung in den Städten zutage. Ohne die Aufhebung der Erbuntertäniskeit hätten die Bauern vielleicht nicht losgeschlagen. So ist der Befreiungskrieg ohne die vorhergegangenen Reformen nicht denkbar. Aber es war doch nicht die Begeisterung für die Ideen der Reform, die die Massen im Frühjahr 1813 in Bewegung setzte, sondern der durch die Demütigung des Staates und die jahrelangen wirtschaftlichen Leiden erregte Fran- zosenhaß, der durch Friedrich den Großen geweckte und durch die Niederlagen bei Jena und Auerstädt schwer verletzte Preußenstolz, dann auch die Anhänglichkeit an die Dynastie. Darin besteht das Verdienst Friedrich Wilhelms IIL und seiner Gemahlin, daß er durch die bürger- liche Schliehtheit seines Auftretens und sie durch ihre edle Weiblichkeit, ihre tiefe Teilnahme am Unglück des Vaterlandes und ihren frühen Tod die Liebe zur Dynastie und damit den monarchischen Gedanken trotz des schmählichen Zusammenbruchs des absoluten Staates im Volke lebendig erhielten. Man hat öfters gestritten, ob es Freiheits- oder Be- freiungskrieg heißen soll; der alte Kaiser wollte niemals vom Freiheits- kriege reden hören, und einer der ersten parlamentarischen Zusammen- stöße, die Bismarck im Vereinigten Landtage erlebte, behandelte tat- sächlich das gleiche Problem. Man wird die besser klingende Wort- bildung: Freiheitskrieg in Zukunft ruhig beibehalten können, aber daran kann kein Zweifel bestehen, daß die große Masse des preußischen Die Hohenzollern und ihr Volk. 3 Volkes für die Freiheit des Staates, die Befreiung vom Franzosenjoch, nicht für politische Freiheit im Innern zu Felde zog, wenn auch in den höheren Schichten an manchen Stellen die Hoffnung auf eine Fortsetzung und Vollendung der Reformarbeit nach dem Kriege und gelegentlich auch schon auf eine Befriedigung der nationalen Einheitsträume aufflackerte. Daß aber wenige Jahre nach dem Kriege die kleine, eines starken Rückhaltes im Volke entbehrende Reformpartei gestürzt und die ersten liberalen und nationalen Regungen in den Kreisen der Professoren, Studenten, Literaten und Beamten, also das Übergreifen der Reformideen auf die studierten Kreise, durch die Demagogenverfolgungen mit Leichtig- keit unterdrückt werden konnten, ohne daß die starke Verehrung, die Friedrich Wilhelm bei seinem Volke genoß, irgendwie beeinträchtigt wurde, kann wohl als bester Beweis dafür gelten, wie wenig die neuen Ideen in die Tiefen gedrungen waren. So ward das Reformwerk durch den Sieg der Reaktion im Jahre 1819 zum Torso und stand im scharfen Widerspruch mit seiner Grundlage, dem alten, absoluten Militär- und Beamtenstaat. ; Nun wandelte sich aber in den auf den Freiheitskrieg folgenden Jahrzehnten allmählich das preußische Bürgertum. Unter der Einwirkung der von Stein und Hardenberg den Preußen verliehenen Freizügigkeit und Gewerbefreiheit und der aus Rücksicht auf die neuen westlichen Pro- vinzen vollzogenen Umbildung Preußens in ein einheitliches Zollgebiet, vor allem durch den Ausbau eines geschlossenen deutschen Wirtschafts- gebietes im preußischen Zollverein entstand neben und über dem alten Kleinbürgertum, getragen von dem sich entwickelnden kapitalistischen Wirtschaftsleben, ein neues Großbürgertum, eine Bourgeoisie; die Zahl der Großkaufleute, der Industriellen, der Bankiers, der Leiter von Aktien- gesellschaften, vornehmlich von Eisenbahngesellschaften, mehrte sich rasch; zu ihnen gesellte sich in ihren Angestellten ein neuer Mittelstand. Diese Schichten übernahmen in den dreißiger und vierziger Jahren die politischen Ideale der Reformzeit, die bisher vornehmlich von den studierten Kreisen vertreten worden waren. Zum Teil aus ihren wirt- schaftlichen Bedürfnissen heraus forderten sie die Bildung eines großen Nationalstaates, die Einheit von Maß und Gewicht, Münze und Post, Handel- und Wechselrecht, Gerichtsverfassung und Prozeßordnung. Je weniger der preußische Staat sich ihren Gedanken geneigt zeigte, um so mehr wandten sie diesem Militär- und Beamtenstaat den Rücken und be- geisterten sich, traditionslos wie neue soziale Schichten sind, für die Auf- lösung der Einzelstaaten zugunsten der Reichseinheit, für parlamen- tarisches Regiment gegen Krongewalt und Beamtentum, für Volks- bewaffnung an Stelle der stehenden Heere. Aber es waren immer noch nicht diese politischen Strömungen, sondern die von den Westprovinzen 38 Jahresbericht der Schles, Gesellschaft für vaterl. Cultur. ausgehende klerikale Bewegung, die erste große politische Massen- bewegung in Preußen, die im Kölner Kirchenstreit die Widerstandskraft des absolutistisch-bürokratischen Staates zum ersten Male überwand. Damit war dieser Staatsreform das Todesurteil gesprochen. In diesem Augenblick bestieg den preußischen Königsthron ein Herrscher von einer genialen Vielseitigkeit, wie sie bis dahin unter den Hohenzollern nur Friedrich dem Großen zu eigen war. Friedrich Wilhelm IV. war in den Tagen der Reform und des Freiheitskrieges jung gewesen; seine für alle Einwirkungen so überaus empfängliche Natur hatte den Ideen jener großen Zeit bereitwilligst die Brust geöffnet und das Herz mit ihren Idealen erfüllt. Die eigenartige romantisch-phantastische Aus- prägung seiner Gedankenwelt darf uns die Erkenntnis des innigen geistigen Zusammenhanges zwischen Friedrich Wilhelm IV. und dem Freiherrn vom Stein nicht verwehren. Wie der stolze Reichsfreiherr haßte auch Friedrich Wilhelm die Vielgeschäftigkeit der alles bevormundenden Bürokratie, wie jener begeisterte auch er sich für den Segen der Selbst- verwaltung, nicht bloß im Staate, sondern auch in der Kirche; beide for- derten eine Reform des preußischen Adels; beide waren dem altpreußi- schen Absolutismus gram und verlangten für Preußens Volk unter Be- rücksichtigung seiner ständischen Gliederung eine Teilnahme an der Gesetzgebung; endlich erfüllte beide eine lebendige Begeisterung für Deutschlands nationale Einheit, für den Zusammenschluß aller deutschen Staaten unter Führung der Habsburger. Das Unglück wollte, daß Friedrich Wilhelm kein nüchterner Staatsmann, sondern ein verträumter Idealist war, eine echte, von Gott begnadete Künstlernatur, die aber eben deshalb nur nach Künstlerart schaffen konnte, nur nach dem Gesetz in der eigenen Brust. Er wollte die politischen Verhältnisse nach kühnen Plänen wie eine formlose Masse neu gestalten. Das hieß den historischen Werdegang vergewaltigen. Darüber mußte er Schiffbruch leiden, aber mit ihm auch das preußische und deutsche Volk bei dem großen Versuch, in Preußen und Deutschland die Ideen der Reformzeit restlos zu verwirklichen und einen großen Nationalstaat auf dem Boden der Volksfreiheit aufzubauen. So erlebte Preußen durch seinen Herrscher, dem man mit den höchsten Erwartungen entgegengekommen war, eine schwere Enttäuschung trotz der Verleihung einer Verfassung im Jahre 1850, besonders da diese dem König aufsedrungene und abgenötigte Verfassung in den fünfziger Jahren sich nicht einleben konnte. Das deutsche Volk, das sich in schweren inneren Kämpfen von der Unmöglichkeit der österreichischen Führung in Deutschland überzeugt hatte, erfuhr das in der Weltgeschichte Unerhörte: die ihm gebotene Kaiserkrone stieß der Hohenzoller zurück. Seit den Tagen des großen Friedrich hatten die Hohenzollern die politische Entwicklung nicht mehr meistern können. Die preußische Die Hohenzollern und ihr Volk. 39 Reform war Stückwerk geblieben; die liberalen und nationalen Ge- danken wurden seit 1819 viele Jahre hindurch verfolgt und unterdrückt, und nun nach der überschäumenden Begeisterung des Frühjahrs 1848 als Ende die Schmach von Olmütz. Daß man daraufhin in den fünfziger Jahren häufig an der Leistungsfähigkeit der Monarchie in der Gegen- wart irre wurde, erscheint ebenso begreiflich wie der Versuch, den die preußischen Liberalen in den sechziger Jahren wagten, im Kampf um die Militärvorlage die parlamentarische Herrschaft in Preußen aufzu- richten, damit die allmächtige Volksvertretung die nationalen und inner- staatlichen Probleme löse, deren die Krone nicht Herr zu werden schien. Im September 1862 hatten die Liberalen scheinbar den Sieg errungen. Der 65jährige König Wilhelm war durch den Streit zermürbt und zur Ab- dankung entschlossen; sein Nachfolger lebte in der politischen Gedanken- welt der siegreichen liberalen Opposition; er, der Gemahl einer englischen Prinzessin, scheute nicht vor der parlamentarischen Regierungsform zurück; er träumte von einem künftigen deutschen Reich, in dem die Einzelstaaten, also auch Preußen, jede Bedeutung verlieren und in dem über Schattenkönigen und Schattenherzögen ein machtvoller Reichstag und er, der Hohenzoller, als Kaiser thronen sollten. Hätte er sich die ihm vom Vater dargebotene Krone damals, im Herbst 1862, aufs Haupt gesetzt, so wäre nach menschlicher Berechnung aus Deutschland ein unitarisch ge- einter, parlamentarisch regierter Bourgeoisstaat nach westeuropäischem Muster geworden. Statt seiner griff Bismarck in die Entwicklung ein. In hartem Kampf rettete er dem preußischen Staat seine im 18. Jahrhundert erwachsene Individualität als Militär- und Beamtenstaat, der einer Volksvertretung nur einen bescheidenen Spielraum ließ. Diesem Staat gab Bismarck die Führung in dem auf föderativer Grundlage geeinten Deutschland. Nicht das aus den Ideen der Reformzeit erwachsene Ideal der Frankfurter Pauls- kirche wurde zur Wirklichkeit, sondern eine Verbindung aus Altem und Neuem; bei der Reiehsgründung standen neben Stein und Hardenberg auch Friedrich Wilhelm I. und Friedrich der Große Pate. Die nationale Begeisterung der Jahre 1870/71, die liberale Ära und die wirtschaftliche Entwicklung der Jahre nach der Reiehsgründung er- leichterten dem Bürgertum den Verzicht auf die Ideen von 1848 und das Einleben in die von Bismarck geschaffene Verfassung. Vor allem ver- mochte der alte Kaiser das Werk von Vater und Mutter wieder aufzu- nehmen und durch seine schlichte und doch stolze Persönliehikeit, durch seine Sachlichkeit und seinen Gerechtigkeitssinn, durch die Wahrung der königlichen Würde auch gegenüber den genialen Geistern, die ihm zur Seite standen, den Schaden mehr als wettzumachen, den die Regierung seines unglücklichen Bruders dem monarchischen Gedanken im Bürger- 40 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Culiur. tum geschlagen hatte; die von Kaiser Wilhelm 1881 inaugurierte Sozial- politik sollte endlich dem vierten Stand die Fürsorge der Monarchie für alle Untertanen beweisen. Unser Kaiser, der sich an die Spitze der Regierung stellte, wie es die Hohenzollern seit den Tagen des großen Friedrich nicht mehr getan hatten, bewies die Notwendigkeit einer starken monarchischen Führung durch die rechtzeitige Erwerbung von Helgoland, den recht- zeitigen Bau der deutschen Flotte und das rechtzeitige Einlenken in die Bahnen der Weltpolitik. Trotz allem konnte man immer noch fragen, ob die von Bismarck vollzogene Verschmelzung der Traditionen des friderizianischen Staates mit den Idealen der Reformzeit auf die Dauer sich bewähren, ob nicht der Kampf zwischen diesen Elementen, der vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die sechziger Jahre bestanden hatte, wieder ausbrechen würde, besonders da doch die radikalen Ideen von 1848, die Begeisterung für die Republik, die Demokratie, das parlamen- tarische Regiment und die Abneigung gegen die stehenden Heere auf den an Kopfzahl und politischer Macht rasch wachsenden vierten Stand über- gegangen waren. Man durfte ferner fragen, ob ein so kompliziertes Ge- bilde wie ein Bundesstaat, in dem jeder Einzelstaat und jede Dynastie leicht ein wenig mitzureden versuchen würden, ob bei der mit dem Bundes- staat gegebenen Fülle von Parlamenten, dem Nebeneinander und ge- legentlich auch Gegeneinander von Reichstag und Landtagen, bei der bescheidenen Mitwirkung, die dem Volk gerade infolge jener Fülle von Parlamenten im allgemeinen und besonders auf dem Gebiet der äußeren Politik gewährt war, man durfte fragen, ob unter diesen Verhältnissen es in schweren Sturmzeiten möglich sein würde, das Volk bis zum letzten Mann in Bewegung zu setzen und zu den höchsten Opfern zu begeistern, ob es möglich sein würde, Dynastien und Einzelstaaten, die verschiedenen Volksschichten und Stämme zu einem stahlharten Block zusammen- zuschmieden. Die Probe auf Bismarcks Werk ist glänzend bestanden in den heroischen Kämpfen im’ Felde wie in dem stillen Heldentum, mit dem die Frauen und Kinder der Krieger klaglos Entbehrungen und Opfer er- tragen. Weder die französische Republik, noch das parlamentarisch regierte England, noch der russische Einheitsstaat haben den Aufgaben der Kriegszeiten so gerecht werden, solche Leistungen wie Deutschland aufweisen können. Der köstlichste Gewinn fiel uns gleich zu Beginn zu, als die Worte des Kaisers: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“, jubelnden Widerhall von der Memel bis zum Boden- see in allen Schichten des deutschen Volkes, auch im Arbeiterstande, weckten. Die Dynastie der Hohenzollern, die noch in den Tagen des Großen Kurfürsten recht wurzellocker war und nach der polnischen und schwedi- Die Hohenzollern und ihr Volk. 41 schen Königskrone Ausschau hielt, ist heute mit dem deutschen Volk auf Gedeih und Verderb verwachsen. Im 18. Jahrhundert vermochte sie ihr Volk in den Dienst des staatlichen Machtgedankens zu stellen und im 19. Jahrhundert den Machttrieb des Staates mit dem Freiheits- verlangen des Volkes auszusöhnen, dem Staate die höchste Macht- entfaltung zu lassen und doch Volk und Staat derart zu verschmelzen, daß das Ideal des Freiherrn vom Stein, das höchste politische Ideal, das wir kennen, das Ideal von der vollen Harmonie zwischen Volk, Staat und Dynastie gegenwärtig kein Ideal mehr, sondern leibhaftige Wahrheit ist. ee ud ed: 1915. & ta an Aid } u x takt x Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur. ISCH er va 93. | I. Abteilung. Jahresbericht. Naturwissenschafiten. 1915. | a. Naturwissenschaftliche Sektion. Us are 2,9 Sitzungen der naturwissenschaftlichen Sektion im Jahre 19135. I. Sitzung am 28. Juni. Bemerkungen über den Foucault’schen Pendelversuch. Von Professor Dr. Clemens Schaefer. Die träge Masse schnell bewegter Elektronen. Von Professor Dr. @lemens Schaefer. Reflexisnsmessungen im Ultraroten an Sulfaten und Karbonaten. Von Professor Dr. Clemens Schaefer und Dr. Martha Schubert. 1915. l 9 Jahresbericht der Schles. Geseilschaft für vaterl. Cultur. I. Sitzung am 29. Juli. Beziehung zwischen Flächenhelligkeit und Temperatur.‘ Ziele und Grenzen der Leuchttechnik. Von Geheimer Regierungsrat Professor Dr. O0. Lummer und Dr. H. Kohn. Die Entwickelung neuer Methoden der Temperaturbestimmung fester Glühkörper, die Festlegung eines Temperaturfixpunktes bei hohen Tempe- raturen durch die Temperatur des positiven Kraters der in freier Luft brennenden Bogenlampe und schließlich die Verwirklichung bisher bei festen Körpern noch nicht erreichter hoher Temperaturen in denjenigen der unter Druck brennenden Bogenlampe ?) veranlaßte uns zu den im folgen- den dargelegten Untersuchungen der Beziehung zwischen Flächenhelliskeit und Temperatur. Diese Beziehung haben wir zunächst für den schwarzen Körper, für welchen sie wohl zuerst von H. Eisler°) und E. Rasch‘) theoretisch hergeleitet wurde, in dem uns heute interessierenden weiten Temperaturintervall noch einmal berechnet; in zweiter Linie wurde sie auf Grund der Aschkinaß’schen Theorie?) neu entwickelt für das blanke Platin als Repräsentanten der Metallstrahlung, deren Eigenschaften infolge der Verwendung der Metalle in den modernen Metallfadenlampen besonderes Interesse bieten. Die rechnerisch gewonnenen Beziehungen wurden einer experimentellen Prüfung an verschiedenen zur Klasse schwarzer Körper — blankes Platin gehörigen Strahlern unterworfen und neuen Methoden zur Temperaturbestimmung fester irdischer Glühkörper und der Sonne zugrunde gelegt. Schließlich gab uns der Zusammenhang zwischen Flächenhelligkeit und Temperatur Aufschluß über die Leistungsfähigkeit unserer gebräuch- lichen Lichtquellen und gestattete uns die Aufstellung der Ziele und Grenzen der Leuchttechnik. 1) Über die Herleitung der Beziehung zwischen Flächenhelligkeit und Tem- peratur der schwarzen Strahlung und die experimentelle Prüfung derselben wurde bereits in der Sitzung vom 28. Oktober 1914 berichtet. ?) O. Lummer, „Verflüssigung der Kohle und Herstellung der Sonnen- temperatur,‘ Braunschweig 1914. 3) H. Eisler, E.T.Z. 188/90, 1904. 4) E. Rasch, Annalen d. Phys. (4) 14, 193/203, 1904. 5) E. Aschkinaß, Annalen d. Phys. 17, 960/976, 19095. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 3 Unter der gesamten Flächenhelligkeit oder auch photometrischen Flächen- helligkeit eines Körpers verstehen wir die Lichtempfindung, die die von der Flächeneinheit des glühenden Körpers ausgehende Strahlung in unserm Auge hervorruft; um sie zu berechnen muß die Wirkung jeder einzelnen von der Lichtquelle ausgehenden Farbe oder Wellenlänge bekannt sein, ferner das Gesetz, nach dem diese Einzelwirkungen sich im Auge zu- sammensetzen. Ist ex die Helligkeitsempfindlichkeit der Netzhautzapfen, Sıdı\ die Strahlungsintensität der Lichtquelle, so ist die Wirkung für diesen Wellenlängenbezirk durch die Gleichung Had=a: dA 1) gegeben. Macht man mit Eisler die Annahme, daß die Einzelwirkungen sich zu der Gesamtwirkung einfach addieren, so wird die gesamte Flächenhelligkeit durch die Bildung des Integrals A rot A rot He Ha= ei IX dA 2) A viol A viol über das ganze sichtbare Spektrum gewonnen. Die Werte für ex ent- nehmen wir der Bender’schen!) Helligkeitsempfindlichkeitskurve für die Zapfen (Zapfenkurve) des farbentüchtigen Auges (ex = 100 im Maximum). Die Energiewerte Si werden für den schwarzen Körper nach der Erg Planck’schen Spektralgleichung [e: — aD le = 1,45] cm?.sec berechnet, für das blanke Platin nach der Aschkinaß’schen Spektral- gleichung in der Form 1 = Snm. ee Se er \ Se 3) wo für den spezifischen Widerstand des Platins (bei 0° Celsius) der Wert so, = 0,108 eingesetzt ist. Die Integration erfolgt graphisch (Genauigkeit — 2%). Als Grenzen sind diejenigen Wellenlängen anzusehen, bei welchen die zugehörige monochromatische Flächenhelligkeit ex - Si dA merklich gleich O0 ist. In dieser Weise wurde für die schwarze Strahlung die Flächenhellig- keit als Funktion der Temperatur im Intervall von 800 bis 8000 Grad abs. berechnet, für das blanke Platin im Intervall von 800 bis 7000 Grad abs. Die den Berechnungen für das blanke Platin zugrunde liegendeAschkinaß’sche Theorie ist experimentell selbstredend nur bis zum Schmelzpunkt des Platins geprüft?) und die Verwendung bei den hohen Temperaturen daher 1) H. Bender, Diss. Breslau 1913, s. a. Ann. d. Phys. (4) 45, 105/132, 1914. 2) O. Lummer, |. c. 1914, dort auch weitere Literaturang. 1* 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. als eine starke Extrapolation zu betrachten. Im übrigen würden die für diese hohen Temperaturen erhaltenen Werte auch überhaupt nur dann praktisches Interesse gewinnen, falls sie allgemeine Gültigkeit für alle Metalle besäßen und ein so hoch zu erhitzendes Metall existierte. Tabelle 2. Blankes Platin Tabelle 1. Schwarzer Körper Absolute Flächenhelligkeit Absolute | Flächenhelligkeit Temperatur H Temperatur H il | m 300° 2,748 3000 0,718 1000 9,850 x 102 1000 2,878 x 102 1500 2,946 x 108 1500 1,098 x 108 2000 1,856 x 108 2000 | 7,925 x 107 2500 | 2,330 x 10° 2500 1,133 x 10° 3000 ' 1,291 x 1010 3000 6,829 x 10° 4000 | 1,135 x 104 4000 6,851 x 1010 5000 | 4,245 x 10!1 5000 2,940 x 1011 6000 | 1,016 x 1022 6000 7,735 x 101 7000 | 1,948 x 1012 7000 1,562 x 1012 8000 | 3,2333 x 1012 In den Tabellen 1 und 2 sind die für die schwarze bezw. Platin- strahlung erhaltenen Werte der Flächenhelligkeit verzeichnet. Um den Helligkeitsanstieg für die beiden Strahlungen vergleichen zu können, haben wir in Tab. 3 die Helligkeitswerte für den schwarzen Körper und für das Tabelle 3. Apanlite Flächenhelligkeit Flächenhelligkeit Tenneraun des blanken Platins | Ra Su (Aschkinaß) | (Hagen-Rubens) rn 300° ve 1 ei 1000 | 4,008 x 102 0,354 10? | 3,584 x 102 1500 1,529%x 10° | 1,135x10° | 1,072 x 106 2000 1,104x 10° | 7,331x10° | 6,754x 107 2500 1,578x 10° | 9,210 x 108 8,440 x 108 3000 9,511Xx10° | 5,016%x 10° 4,698 x 10° 4000 9,542 x 1010 | 4,130 > 1010 5000 4,094 x 1011 | 1,545 x 1011 6000 1,083 x 1012 3,697 x 101! 7000 2,175 x 1012 7,089 x 1011 II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 5 blanke Platin zusammengestellt und schließlich in der dritten Kolumne der- Tabelle einige Werte angegeben, die man für die Flächenhelligkeit des blanken Platins erhält, wenn man in Gleichung 2) die Platinenergie 3 dA nach dem Kirchhoff’schen Gesetz unter Einführung der von Hagen- Rubens!) gemessenen Werte für das Absorptions- bezw. Reflexionsvermögen des Platins berechnet. Bei 800° sind willkürlich alle Werte gleich 1 gesetzt. Nach der Aschkinaß’schen Theorie ist der Anstieg beim blanken Platin wesentlich, nach der Berechnung auf Grund des Kirchhoff’schen Gesetzes in geringerem Maße von dem Anstieg der Flächenhelligkeit beim schwarzen Körper unterschieden. Die Darstellung der Beziehung zwischen Flächenhelligkeit und Tempe- ratur beim schwarzen Körper in Form eines Potenzgesetzes?) E _ (in 2 4) El, Ir, wo H, und H, die den Temperaturen T, und T, entsprechenden Hellig- keiten sind, und der Exponent x also angibt, mit welcher Potenz der Temperatur die Flächenhelligkeit fortschreitet, führte zu den in Tab, 4 und Fig. 1 verzeichneten Resultaten, in welcher wir zunächst auf die in der Kurve durch Punkte verzeichneten Werte hinweisen. Auf die übrigen experimentell erhaltenen Werte soll alsbald eingegangen werden. Die Kurve zeigt anschaulich die Abhängigkeit der Potenz x von der Temperatur. Bei tieferen Temperaturen steigt die Helligkeit mit einer sehr hohen Potenz der Temperatur, bei 800° etwa mit der 30., an, während bei den jetzt Tabelle 4. Tabelle 5. Schwarzer Körper Blankes Platin Absolute | potenz Absolute | Potenz Temperatur x. T Temperatur al! N x T x 804° 29,9 24 043 804° 30,4 24 400 1005 25,1 25 276 1005 25,3 25 383 1508 17,0 25 684 1508 17,2 25 942 2010 12,6 25 437 2010 12,8 25 702 2513 10,5 26 329 2512 10,6 26 616 4000 6,57 26 280 3015 8,78 26 472 5000 5,34 26 700 4020 6,83 27 433 6000 4,48 26 880 5025 5,99 28 080 7000 3,84 26 880 6030 4,88 29 410 7960 3,45 27 465 6965 4,03 23 036 1) E. Hagen u. H. Rubens, Ann. d. Phys. 1, 352/375, 1900. 2) O.Lummer und F.Kurlbaum, Verh. d. Deutsch. Phys. Ges. 2, 89/92, 1900. 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. erreichten hohen Temperaturen der Anstieg nur noch mit der vierten Potenz und darunter erfolgt. Die Bildung des Produktes x-T, dessen Werte für den schwarzen Körper in der Kolumne 3 der Tab. 4 verzeichnet sind, für das blanke Platin in Tab, 5, führte zu einem im wesentlichen mit den von Rasch!) bei niedrigen Temperaturen erhaltenen Resultaten in Einklang stehendem Ergebnis. Innerhalb gewisser Grenzen ist das Produkt als konstant anzusehen; doch scheint der kleine Anstieg seines Wertes mit Fe "r LT EBENE BESPESSESERESBSSIESEIESFEN = BEBSRRRSBEBEBESRN- 3 Fee SrBenuan WARE : JBEEEURER se EHens BBRPSEFUEPAHFARRERNM RANGE ENBIWARENT a asfum} SER Ban an r [321 d nn INDEIE SSSERSRERGEN Bei IE Pre esus Bar . jet ai je SSBESEBEEHE EEEEFFR PEBSERSEGEEE umm! EEH HHBENSESES EHEN SSERERESSEEEEE: BE Hr =} | 0: MEN EEFEER [1 44 BESBEgBELTE EEHFESERFEEE nenn = SBERSESSENuEN.S age EEE ESEBSESSSEBBESER Be ERS BE BE3S SESEES = is SBENRERE Er SR GESBESaEN 000 SSSZBEBEESE- fee hen res ut Figur 1. wachsender Temperatur nicht mehr innerhalb der Fehlergrenzen zu liegen. Von einer graphischen Darstellung der für das Platin erhaltenen x-Werte können wir absehen, da sie bei tiefen Temperaturen gar nicht, bei hohen nur wenig von den für den schwarzen Körper geltenden abweichen. Bei der experimentellen Prüfung des Zusammenhanges zwischen Flächenhelligkeit und Temperatur gehen wir von der Überlegung aus, daß der Anstieg der Flächenhelligkeit mit der Temperatur für alle Strahler der gleiche sein muß, für welche die Energieverteilung und das Ver- hältnis der Energiebeträge bei allen Temperaturen gleich sind. Insofern die Glühlampen- und Bogenlampenkohle, zum mindesten im Sichtbaren, wie ein grauer Körper strahlt?), muß der Anstieg für sie der gleiche sein wie beim schwarzen Körper, während der auf Grund der Aschkinaß’schen t) E. Rasch, 1. c. 1904. 2) O. Lummer, l. c, 1914, UI. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 7 Theorie für das blanke Platin erhaltene Anstieg innerhalb der Grenzen der Gültigkeit dieser Theorie gleichmäßig für alle Metalle Geltung hat. Die im Jahre 1900 von Lummer-Kurlbaum!) mit dem Lummer- Kurlbaum’schen Platinkasten bei verschiedenen Temperaturen erhaltenen Flächenhelligkeiten ergaben die Potenzwerte, welche durch Kreise in der Fig. 1 verzeichnet sind und sich der Kurve gut anschmiegen. Die durch ®®® verzeichneten Werte sind von Lummer-Pringsheim?) am schwarzen Körper erhalten. Neue eingehende Helligkeits - Temperaturmessungen wurden durch- geführt an der Glühlampenkohle und vor allem am positiven Krater der Druckbogenlampe zur Prüfung der Beziehung bei hohen Temperaturen. In den Glühlampen wurden U-förmig gebogene, sogen. unpräparierte Fäden verwendet, deren ‚Temperaturen nach der von Lummer angegebenen Methode°), aus der der Lampe zu- geführten Energie (in Watts) bei genauer Bestimmung der Faden- ta oberfläche und unter Benutzung der Lummer’schen Kohlekonstante (lt) bestimmt wurden. Die Helligkeiten in den verschiedenen Glühzuständen wurden mit dem Lummer’schen ee Interferenzwürfel*)gemessen. Tab.7 ‚I und Fig. 2 zeigen die zusammen- SA RT : = gehörigen Temperatur- und Hellig- 20 keitswerte bei 2 Lampen’). Die BR. Ä Ä nach der Kurve in Fig. 2 berech- RN ıln 6 260° neten NONE eind in gar Lelumme? der Tab. 6 verzeichnet, in welcher Figur 2. außerdem die für das blanke Platin experimentell erhaltenen Werte und die für den schwarzen Körper berechneten angegeben sind, und durch +++ in die Fig. 1 eingetragen. Die Anpassung an die Kurve ist vorzüglich. Eine Auswertung der mittleren horizontalen Lichtstärke der Lampen in Hefner- kerzen, die mit dem Lummer-Brodhun’schen Kontrastphotometer erfolgte, gestattete bei den verschiedenen Temperaturen die Berechnung der von Watt der Lampe pro HK verbrauchten Watts. Die Beziehung zwischen HK und Temperatur wird in Tab. 8 gegeben. 1) ©. Lummer u. F. Kurlbaum, |. c. 1900. 2)0O. Lummer u. E. Pringsheim, Tätigkeitsber. d. phys. techn. Reichsanst. 1900. 3) OÖ. Lummer, Jahresber. d. Schles. Ges. f. vaterl. Cultur 1913 s. a. 1. e. 1914, 4 O0. Lummer, Verh. d. Deutsch. Phys. Ges. 3, 131/147, 1901. 5) Bei 20870 ist die Helligkeit willkürlich gleich 100 gesetzt. 8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Tabelle 6. Tabelle 7 RR x x o3 | Be = Z gemessen |berechnet = = ‚ Hellig- = E Hellig- 82 | ren | ee ae | Kohle | Platin | Körper ses oe 900° | 30 | 275 1311° | 0,10 1000 | 25 3:350 1401 0,31 1100 | ı 2 23,3 1494 0,88 | 1492 0,73 1200 19 21,2 1570 2,11 | 1554 1,55 1400 | 17,8 18 18,0 1646 4,33 | 1638 3,78 1500 | 16,7 16,8 1717 7,91 | 1720 7,60 1600 15,6 15 15,7 1787 | 13,37 || 1798 15,31 1700 14,8 14,8 1849 | 21,77 | 1873 26,08 1800 14,1 Be 1911 | 33,92 | 1949 42,26 Ne EEE 13,4 1972 | 50,38 | 2021 66,00 2000 | 13,7 | | 12,6 2030 72,55 | 2087 100,0 2100 | 123 | 12,2 2084 | 99,00 | 2154 | 143,6 2200 | 11,6 117 2139 |135,4 | 2217 | 208,4 2300 | 114 112 2190 |177,1 | 2282 | 282,9 2400 | 10,9 10,9 9241 |231,0 | 2345 384,6 2500 | 10,4 1: 1055 2283 |292,9 | 2408 499,0 2600 | 10,1 Wet 2338 |365,3 | 2469 684,3 2529 | 887,1 ı 2588 |1105,4 2644 |1371,8 Tabelle 8. Absolute Bi | Watt | Watt Absolute | HK Watt Watt Temperatur | ' HK | Temperatur HK | 14920 | 0,07 | 13,7 | 188,2 2154° | 12,17 | 59,6 | 4,9 1554 | 0,15 | 16,1 | 108,2 2217 | 16,97 | 66,9 | 3,9 1638 | 0,34 | 19,9 | 595 2282 93,121] 75,2] 3,2 1720 | 0,67 | 24,2 | 36,2 2345 | 31,84 | 83,7 | 3,6 1798 1,30 | 28,9 | 22,3 2408 | 42,88| 931| 21 18737 | 3,16 | 341 8 15,3 2469 | 56,65 |102,8 | 1,8 1949 | 3,50 | 39,9 | 114 9529 | 73,44 11132 | 15 2021 | 5,46 | 462 8,5 3588 | 91,51 ]1241| 14 2087 8,28 | 52,5 | 6,3 2644 113,56 |135,3 | 1,2 II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 9 Die Helligkeitsmessungen des positiven Kraters der unter verschiedenen Drucken brennenden Bogenlampe wurden ebenfalls mit dem Interferenz- würfel ausgeführt!). Die Kraterhelligkeit wurde durch stark vergrößerte Abbildung des Kraters auf einen Gipsschirm so herabgemindert, daß eine Halbwattlampe als Vergleichslichtquelle benutzt werden konnte. Die Temperaturbestimmung geschah in folgender Weise: Die Tem- peratur des unter Atmosphärendruck stehenden, in festem Zustand ver- dampfenden Kraters kann durch keinerlei Energiesteigerung erhöht werden und ist daher, wie eingangs erwähnt wurde, als ein Temperaturfixpunkt anzusehen, den wir der Temperaturbestimmung bei höheren Drucken zu- srunde legen können. Zunächst wurden zwecks dieser Untersuchungen die schwarzen Normaltemperaturen für verschiedene Wellenlängen durch Messungen mit dem optischen Pyrometer neu ermittelt?). Hierzu diente die in Fig. 3 skizzierte Anordnung. Der Krater K wird scharf und stark Figur 3. vergrößert am Ort des Kohlefadenbügels der Glühlampe G abgebildet, nach- dem seine Strahlung. durch dreimalige Reflexion an den Grundflächen der im übrigen geschwärzten Prismen P,, P,, P, genügend geschwächt worden ist. Der Strom der zuvor mit dem schwarzen Körper geeichten Glühlampe wird solange variiert, bis der Lampenbügel, durch die Linse L, und den Farbfilter F hindurch betrachtet, auf der Kraterfläche verschwindet. In dieser Weise wird zunächst die schwarze Temperatur der geschwächten Kraterstrahlung, alsdann mit Hilfe der zuvor bestimmten Lichtschwächung durch die Reflexion an den Prismen, die schwarze Kratertemperatur Ts für die wirksame Wellenlänge des benutzten Farb- filters ermittelt. Aus den schwarzen Temperaturen Ts wird die wahre Tw nach der Gleichung 1 ST ce, Ige 1 le ı = = e h) A Tw ) 1) Genauere Angaben über d. Versuchsanordnung s. OÖ. Lummer, ]. c. 1914 p- 116. 2) Eine Zusammenstellung früher ausgef. Bestimmungen d. schwarzen Krater temperaturen mit dem optischen Pyrometer findet sich z.B. bei Reich, Phys. Ztschr.7 74, 1906. 10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. (Wien’sches Gesetz) berechnet. Hierin bedeutet Ax das Absorptionsvermögen der Kohle, welches, insofern sie im Sichtbaren grau strahlt, für alle beob- achteten Wellenlängen konstant ist. Sein Wert ergibt sich aus der Strahlungskonstante der Kohle und der Konstante des Stefan-Boltzmann- schen Gesetzes zu A = 0,5481). Tabelle 9. Wirksame Schwarze Wahre Filter Wellenlänge Temperatur | Temperatur F 4512 (Schott u. Gen.) 644 qm 3828 abs. 42750 & (Wratten u. Wainwright) 570 3882 4282 € = z - 534 3909 4287 Die Tab. 9 zeigt die gemessenen schwarzen und die berechneten wahren Temperaturen. In der ersten Kolumne sind die verschiedenen benützten Farbfilter angegeben. Die Übereinstimmung der wahren Tempe- raturen, die sich für die verschiedenen Wellenlängen ergeben, zeigt wiederum, daß die Kohle auch bei diesen hohen Temperaturen in der Tat grau strahlt, und daß der Wert, der für Ax eingeführt wurde, jedenfalls innerhalb der Fehlergrenzen richtig ist. Von der monochromatischen (A = 0,534 ıı) Flächenhelligkeit des unter Normaldruck brennenden Kraters ausgehend, wurde weiterhin mit dem Interferenzwürfel durch den Grünfilter (e) hindurch der Anstieg der Flächen- helligkeit bei zunehmendem Druck ermittelt. Mit Hilfe dieses Anstiegs und der schwarzen Temperatur bei Atmosphärendruck ist die schwarze Temperatur bei dem betreffenden höheren Druck der logarithmischen Iso- chromate für die Wellenlänge des Filters (A — 0,534 u) zu entnehmen. Aus der schwarzen Temperatur wird die wahre wieder wie oben gewonnen (Gleichung 5). Einer Druckänderung von 1—9 Atmosphären entsprechen die in der Tab.10 angegebenen gesamten Flächenhelligkeiten und Temperaturen. Fig. 4 zeigt den Helligkeitsanstieg mit der Temperatur. Die aus ihr be- rechneten Potenzwerte sind durch *& & x» in Fig. 1 verzeichnet und schließen sich der Kurve, vor allem wenn man in Betracht zieht, wie erschwert die Helligkeitsmessungen bei der Drucklampe sind, ganz vorzüglich an. 1) Daß die Kraterkohle im Sichtbaren grau strahlt, ist durch die Aufnahme der grauen logarithmischen Isochromaten mit dem positiven Krater als Vergleichs- lichtquelle erwiesen. O. Lummer, ]l. c, 1914; E. Benedict, Diss. Breslau 1915. Für die Strahlungskonstante der Kohle konnte bisher nur der an der Glühlampen- kohle, also bei tieferen Temperaturen, gewonnene Wert eingesetzt werden. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 11 Tabelle 10. Flächen- | Krater- helligkeit temperatur 100 4287 ° abs. 167 4749 272 5143 585 6009 924 6654 Diese guten Resultate, welche die experimentelle Prüfung der be- rechneten Beziehung zwischen Flächenhelligkeit und Temperatur zeitigte, veranlaßten uns dazu, die Beziehung einer neuen Methode der Temperatur- bestimmung zugrunde zu legen, welche vor allem dazu benutzt werden soll, die Temperatur der in den Metallfaderlampen glühenden Drähte zu erhalten, wobei uns am meisten die bei Normalbelastung erreichten Tempe- raturen interessieren. Kennt man bei einer Temperatur T, die Helligkeit H, des Metalles, und bestimmt man in einem zweiten Glühzustand die Helligkeit H,, so kann die zugehörige Temperatur T, aus der Helligkeits- Temperaturkurve der Metalle entnommen werden. Auf diese Weise haben wir zunächst die wahre Temperatur der Wolframlampe ermittelt. Da nach der Aschkinaß’schen Theorie alle Metalle bei gleicher Temperatur, wenn auch nicht gleiche Flächenhelliskeit, so doch gleiche Energieverteilung, d. h. gleiche Färbung haben, so gewinnen wir die Aussangstemperatur T, für die Wolframlampe, indem wir auf der Photometerbank bei einer geringen Helligkeit der Lampe auf gleiche Färbung mit dem Lummer-Kurlbaum’schen Platinkasten einstellen. Das Thermoelement im Platinkasten zeigt sowohl die Temperatur des Kastens, wie die der Metallfadenlampe an. Die Ge- nauigkeit dieser Methode soll erst einer eingehenden Prüfung unterzogen werden. Die für die Wolframlampe erhaltenen Resultate sind in Tabelle 11 gegeben. Die mittlere horizontale Lichtstärke der Lampe wurde wiederum in HK ausgewertet und die in den verschiedenen Glühzuständen zugeführte Energie in Watts gemessen, so daß wir die wahren Temperaturen den Watt HK Temperatur von ca. 2400° abs. erreicht. Wat: nes -Werten zuordnen konnten. Bei Normalbelastung (1 a wird eine Weiterhin wollen wir die für die schwarze und die Platinstrahlung geltende Beziehung zwischen Flächenhelligkeit und Temperatur einer neuen 12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Culiur. Methode der Bestimmung der Sonnentemperatur Tabelle 11. zugrunde legen. Aus der für den schwarzen = Körper und das blanke Platin geltenden Hellig- Watt | Temperatur keits-Temperaturbeziehung erhalten wir die pro HK I pliram- schwarze bezw. Platintemperatur der Sonne, zur wenn wir feststellen, wie sich die Flächen- n 18460 helligkeit der Sonne zu der des schwarzen Be | Er Körpers bezw. des blanken Platins bestimmter %: Temperatur verhält. Eine orientierende Mes- an nn sung ergab für die schwarze Temperatur der . f 1970 im Zenith stehenden Sonne 5150° abs., für die 0 | 1997 Platintemperatur 5750°%). Der Einfluß der > 2023 Absorption durch die Erdatmosphäre wurde 218 3053 gemäß = Angaben von Abbot und Fowle 9,79 2087 eliminiert ?). 5: An die zewonnenen Zusammenhänge nn | ae | 8 mens > 2,30 2144 zwischen Flächenhelliskeit und Temperaiur 2.13 9164 wollen wir einige Betrachtungen über die on 5 9197 Leistungsfähigkeit unserer Lichtquellen an- ee 9235 schließen. Maßgebend für die Leistungsfähiz- = 9351 keit oder Wirtschaftlichkeit einer Lichtquelle 145 =, ist einmal ihre Helligkeit oder Lichtstärke, _ | 3300 zweitens die Energie, durch welche sie auf den 11 9340 dieser Helligkeit entsprechenden Glühzustand 1.07 3377 gebracht wird. Die Helligkeit ist durch die in das sichtbare Gebiet fallende Strahlung der Lichtquelle, aber auch durch die Art der Umsetzung dieser Energie im Auge bedingt. Die der Lichtquelle zuzuführende Energie hängt einmal davon ab, welche Gesamtstrahlung mit der sichtbaren Strahlung verknüpft ist, zweitens von der mehr oder weniger vollkommenen Umsetzung der zugeführten in ausgestrahlie Energie. Dement- sprechend wollen wir zunächst für die zur Klasse schwarzer Körper — blankes Platin gehörenden Temperaturstrahler die folgenden 3 Ökonomien definieren: 1. Die energetische Ökonomie; hierunter verstehen wir den Quotienten aus der sichtbaren zur Gesamtstrahlung eines Körpers. 0,8% Sı dA : = - 0,4: Energetische Ökonomie — — 6) [® ©) Sı di 0 !) Diese Untersuchungen, ebenso wie die Messungen an den Metallfadenlampen bilden den Gegenstand einer im Breslauer Phys. Inst. z. Zt. von Frl. cand. phil. C. Stern in Angriff genommenen Dissertation. 2) Ann, of Astrophys. Observ. of ihe Smithonian Institution Vol. III. Washington 1913. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 13 Der Nenner, die Gesamtstrahlung, wird nach dem Stefan-Boltz- mann’schen Gesetz für den schwarzen Körper, für das blanke Platin nach dem für dieses geltenden Gesamtstrahlungsgesetz gewonnen, der Zähler durch graphische Integration über das sichtbare Wellenlängengebiet erhalten. Die Energiewerte werden der Planck’schen bezw. Aschkinaß’schen Spektralgleichung entnommen. a a FH FERELERETT WME ENZEBER FRENSRAT | -> Inergelischu One EGESEBERHEEBER=E®: FEHESe IuNENGBUNBLEREESNANG Bl WIE ein wi ECKE zi mE ERLE ELF i m u { h r 3 1dıt PR 3000 1000 5000 6000 000 9000” ——— 1 „luolme Jerymadr Figur 5. 2. Die photometrische Ökonomie; unter dieser wollen wir das Ver- hältnis von Flächenhelligkeit zur Gesamtstrahlung verstehen. Nach Gleichung 2): ist sie daher durch den Quotienten A roi er Sı dA ARNO ©o N 1 dı 0 gegeben, dessen Zäbler wir für den schwarzen Körper und das blanke Platin bereits berechnet haben. Behalten wir für das Maximum der Helligkeitsempfindlichkeit den Wert 100 bei, so nimmt auch das abs. Maximum der photometrischen Ökonomie den Wert 100 an. 3, Die technische Ökonomie; unter dieser verstehen wir das Ver- hältnis der in HK gemessenen Lichtstärke einer Lichtquelle zu der ihr zu- geführten Energie in Watts. Aus dem für den schwarzen Körper bezw. das blanke Platin gelten- den Verschiebungsgesetz Am - T = 2940 bezw. Am + T = 2650 können wir unmittelbar ersehen, daß die Ökonomie eines zur Klasse schwarzer 7): Körper — blankes Platin gehörenden Temperaturstrahlers ein Maximum be- sitzen wird. Um die Temperatur, bei der es gelegen ist, und seinen Wert genau feststellen zu können, wurden die definierten Ökonomien in einem 14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. weiten Temperaturintervall berechnet. Die Resultate dieser Bereehnungen werden durch die Figuren 5—8 wiedergegeben, in welchen die energetische bezw. photometrische Ökonomie des schwarzen (grauen) Körpers bezw. des blanken Platins (Metalls) in ihrer Abhängigkeit von der Temperatur dargestellt werden. Die Kurven zeigen folgendes: Die energetische wie die photometrische Ökonomie erreichen ein Maximum, welches für den schwarzen Körper bei h elle rm 1 un he W) hemomse > A, ‚00 E00 0 5000 <000 2000 Facı“ AlAuie Ieruarakur Figur 6. 6750° abs., für das blanke Platin bei 5900°abs. gelegen ist. Für den schwarzen Körper beträgt die energetische Ökonomie im Maximum 45 °/,. Die photo- metrische Ökonomie erreicht den Wert 15,05. Für das blanke Platin sind die entsprechenden Werte 46°, bezw. 15,55. Diese Werte sind von einem absoluten Maximum noch weit entfernt. Bei den Temperaturen, die in unsern gebräuchlichen Lichtquellen (Glühlampen, Nernstfäden usw.) erreicht werden — 2000 bis 2500° — sind die Werte der Ökonomie im Verhältnis zu den erreichbaren Werten äußerst gering. Bei einer bestimmten Tempe- ratur sind sie beim Metall größer als beim schwarzen Körper; als Licht- quelle ist also, bei geringer Temperatur, das Metall dem schwarzen Körper vorzuziehen. Allgemein aber ist das anzustrebende Ziel die Er- reichung einer möglichst hohen Temperatur und daher ist derjenigen Sub- stanz der Vorzug zu geben, welche sich am höchsten erhitzen läßt. In den in der Drucklampe verwirklichten Temperaturen sind die Maximalwerte der Ökonomie erreicht. Da nach Erreichung der Maximalwerte die Öko- nomie wieder abnimmt, so wäre es nicht nur zwecklos, sondern unwirt- schaftlich, eine höhere Temperatur als die dem Maximum entsprechende (6750° bezw. 5900°) anstreben zu wollen. SEELEN 1I. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 15 In den Tab. 12 und 13 sind für den Kohle- und Wolframfaden, als Reprä- sentanten der gebräuchlichen Glühlampen, zusammengestellt die gemessenen Werte der Temperatur und technischen Ökonomie mit den aus den Kurven in Fig. 5 und 6 bezw. 7 und 8 entnommenen Werten der photometrischen und energetischen Ökonomie. zu den Horizontalstrichen. Die experimentell gewonnenen Daten reichen bis Hier erkennen wir z. B. deutlich, daß die 21] 1 tr | Te 7 ED | BE SL ae: | E Eis: = : eh : H 5 B, TE I Aanasangazzar: FEEREHHEHH = +44 + ++] 14 + am m + | 444 EFF = + ’ ! n Im a; some: 1 De | Al ZERSBSERR: MRGERSENETEIREIENGEN MEURDUREEBZENESSESEESERREREN, Ü Ake 2u, _ Shoe Ad) 5000 aru uw Ka ——. abeldo Jonpmatun Figur 7. Tabelle 12. Tabelle 13. Kohlefadenlampe. Wolframlampe. - a {eb} FR = © Wake) ale era Walts SHke Sr Eau 2a lese ER |E5 25 pEespro il 5 2, 3 5 0 5 Pros a pro Ko el eo ae Do | Bean HK | Watt <= 288 5? HK |Watt| < 3 2 5 | 59 au & 16 0,062) 1870°| 0,12 1,1% 8 0,1251 1833%| 0,21| 1,6% 8 0,125 2033 0,24| 1,9 4 0,25 | 1993 0,42| 2,8 4 10,25 | 2210 | 0,47| 3,3 2 0,50 | 2182 | 0,84| 4,9 2 [0,50 | 2430 | 0,94 | 5,6 1,1 0,90 | 2375 | 1,40| 7,6 ie 018007 2:250212.1588 9,9 l 1,00.7,0 2450 1,68 8,7 0,50 |2,00 | 3180 | 3,76 |15,2 0,50 12,0 2825 | 3,36 | 14,7 0,25 |4,00 | 3920 | 7,52 | 26,2 0,25 |4,0 3385 | 6,72 24,6 0,205 14,85 | 4200 | 9,10 30,2 0,146 |6,8 | 4200 | 11,45 | 36,7 0,125 | 8,00 | 6750 | 15,05 | 45,0 0,108 | 9,2 5900 | 15,55 | 46,2 0,130 | 7,70 | 8000 | 14,60 42,5 0,114 | 8,6 7000 | 14,50 | 43,3 16 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. größere Ökonomie, die die Wolframlampe der Kohlenfadenlampe gegenüber ö Watt Watt bei Normalbelastung 4 HK bezw. 1 HK höhere Temperatur der Wolframlampe zu erklären ist (2450° gegenüber 2210°%. Erhitzen wir aber die Kohlenfadenlampe auf die Temperatur 2430°, so erreicht sie doch nur die Hälfte der Ökonomie der Wolfram- besitzt, zum Teil durch die \ holomnohmse u Üfanomıe 9 \ > > Abselce Jemperaiur Figur 8. lampe; dieser Unterschied ist der Selektivität der Wolframlampe zuzu- schreiben. Da die gemessene technische Ökonomie einen Anstieg mit der Temperatur zeigt, welcher dem der berechneten photometrischen Ökonomie unbedingt proportional ist, so haben wir mit Hilfe der Werte für die photometrische Ökonomie der Kohle bezw. des Metalls für die bisher noch nicht untersuchten hohen Temperaturen die entsprechende technische Ökonomie extrapoliert (in den Tabellen unterhalb der Horizontalstriche verzeichnet). Wir erkennen hier z. B., daß mit der Kohle, deren Schmelz- punkt bei 4200° abs., also höher als der des Wolframs (3400°) gelegen ist, im Prinzip eine höhere technische Ökonomie, 4,85 = gegenüber 4,0 —. als beim Wolframfaden zu erreichen ist. Könnten wir beide auf die Temperatur der maximalen photometrischen Ökonomie bringen, so wäre, wie dies den für die schwarze bezw. Platinstrahlung erhaltenen Maximal- werten entspricht, auch die technische Ökonomie annähernd gleich. Dem ersten Ziel der Leuchttechnik, Anstrebung möglichst hoher Temperatur bei den zur Klasse schwarzer Körper — blankes Platin ge- hörigen Temperaturstrahlern, gesellt sich ein zweites und drittes Ziel hinzu, II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 17 wenn wir uns von dieser Art von Lichtquellen entfernen und solche, die eine andere Energieverteilung aufweisen, heranziehen. Eine weit größere Ökonomie wie bei der Erreichung der Grenze des ersten Ziels können wir dann erlangen, wenn wir einen Strahler als Lichtquelle benutzen, der nur sichtbare, also zwischen 0,4 und 0,8 . ge- legene Strahlen emittiert, dessen Absorptionsvermögen für alle anderen Wellenlängen also gleich O ist. Diesen Strahler wollen wir als idealen Strahler bezeichnen; seine energetische Ökonomie ist jedenfalls gleich 1. Die Größe seiner photometrischen Ökonomie hängt wiederum davon ab, welche Energieverteilung er innerhalb des sichtbaren Spektralgebiets auf- weist. Wir unterscheiden drei Fälle. Im ersten Falle soll er die Energie- verteilung des schwarzen Körpers oder des blanken Platins im Sichtbaren haben. Dann hängt die Größe seiner photometrischen Ökonomie wiederum noch von der Temperatur ab, erreicht bei einer gewissen Temperatur wieder ein Maximum, um dann wieder abzunehmen. In den Tabellen 14 und 15 sind die für diesen Fall berechneten Werte der photometrischen und technischen Ökonomie angegeben. Wie man sieht, ist die hier erreichte Tabelle 14. Arsolute Gewöhnlicher Strahler Idealer Strahler Temperatur Photometrische HK Photometrische HK Ökonomie pro Watt Ökonomie pro Watt 2200° 0,47 0,25 14,2 7,8 2500 1,10 0,58 17052 9a: 4200 9,10 4,85 30,1 16,0 6750 15,05 8,00 33,4 17,7 8000 14,60 7,70 34,3 18,1 Tabelle 15. Absolute Gewöhnlicher Strahler Idealer Strahler Temperatur Photometrische HK Photometrische HK Ökonomie pro Watt Ökonomie pro Watt 21800 0,84 0,5 17,15 10,20 2450 1,68 1,0 19,30 11,45 3385 6,72 4,0 27,40 16,25 4200 11,45 6,8 31,30 18,50 5900 15,55 9,2 33,60 19,90 7000 14,50 8,6 33,00 19,60 1915. 2 18 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. maximale Ökonomie 18,1 — bezw. 19,9 = — etwa doppelt so groß als diejenige, die bei der Verwirklichung des ersten Ziels erlangt wird. Beim Metall ist bei der Temperatur von 7000° bereits wieder ein Abfall zu beobachten. In dem zweiten der zu betrachtenden Fälle soll der Strahler ganz unabhängig von der Temperatur für alle Wellenlängen gleich große Energie besitzen. Dann nimmt seine photometrische Ökonomie den Wert 34,5 an, welchem eine technische Ökonomie von 23 E entspricht. In dem dritten Fall, der sich als der günstigste erweist, denken wir uns die Energiekurve des idealen Strahlers von der gleichen Form, wie sie die Zapfenkurve des Auges aufweist. Für die PholemeR ee Ökonomie er- halten wir nun den Wert 70, dementsprechend 46,5 — Auch die Erreichung des zweiten Ziels, d. h. die Verwirklichung des idealen Strahlers würde, wie wir sehen, noch nicht zu dem absoluten Maximum der photometrischen Ökonomie, dem Wert 100, führen. Um diesen zu erhalten, müßten wir darauf verzichten, ‚weißes‘ Licht zu ge- winnen, wie dies bei den bisher betrachteten Lichtquellen mehr oder weniger der Fall ist, sondern müßten uns einen Strahler konstruieren, der nur gelb-grüne, also im Gebiet der maximalen Empfindlichkeit der Zapfen gelegene Wellen aussendet. Diesen Strahler wollen wir als maximalen idealen Strahler bezeichnen. Mit seiner Verwirklichung würde das dritte Ziel der Leuchttechnik und zugleich ihre absolute Grenze erreicht sein. Erstreckt sich dasStrahlungsgebiet des maximalen Strahlers von 0,544—0,558 u), und hat die Strahlung innerhalb desselben die gleiche Energieverteilung wie beim schwar- zen Körper, so besitzt die photometrische Ökonomie des ınaximalen Strahlers bei verschiedenen Temperaturen die in Tab. 16 verzeichneten Werte. Das Tabelle 16, Absolute | Protometrische Ökonomie | se - s = : teigerun Temperstar | ne | ee 1000° | 75,5 - 1,82x105| 41x 105 1500 97,8 0,011 89 x 102 2000 | 101,0 0,215 470 3000 100,2 2,956 34 4000 100,0 8,024 12,4 5000 101,8 12,578 8,1 6000 100,0 14,49 6,9 7000 100,0 15,02 6,6 8000 102,5 14,63 7,0 !) Innerhalb dieses zunächst willkürlich gewählten Intervalls sinkt die Hellig- keitsempfindlichkeit um 1P/,. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 19 absolute Maximum 100 wird bereits bei 2000° abs. erreicht!), ihm ent- HK Watt‘ maximalen Strahlers nicht mehr steigern. Ist auch für den maximalen Strahler die Energie für alle zwischen 0,544 und 0,558 1 gelegenen Wellen gleich groß, so besitzt er unabhängig von der Temperatur die photometrische Ökonomie 100 und die technische Ökonomie von HK 53 Watt In welcher Weise der ideale oder maximale Strahler praktisch her- zustellen wäre, ob auf Grund von Temperaturstrahlung oder Lumineszenz, ob unter Verwendung fester Körper oder leuchtender Gase, und inwieweit wenigstens der ideale Strahler in bereits existierenden Lichtquellen ver- wirklicht ist, darauf soll andern Ortes näher eingegangen werden. Es sei hier nur darauf hingewiesen, daß es für die Konstruktion des idealen oder maximalen idealen Strahlers ganz gleichgültig ist, ob der verwendete Strahler ein Temperaturstrahler ist oder infolge von Lumineszenz leuchtet. Die Aufgabe des Leuchttechnikers ist lediglich, vollkommene Umsetzung der zugeführten in sichtbare Strahlung und die geeignete Energieverteilung innerhalb derselben herzustellen. sprechend 53 Eine höhere Temperatur kann die Ökonomie des Neue Methoden zur Bestimmung der Sonnentemperatur. Von Geheimer Regierungsrat Professor Dr. O0. Lummer und Dr. Hedwig Kohn. Strahlungseigenschaften der Sonne erschlossen aus den logarithmischen Isochromaten unter Benutzung der Sonne als Vergleichslichtquelle. Von Geheimer Regierungsrat Professor Dr. O.Lummer und Dr. Elisabeth Benedict. 2) Die kleinen Schwankungen um den Wert 100 herum entsprechen der für die graphische Integration angegebenen Fehlergrenze. 20 Allgemeine Übersicht der meteorologischen Beobachtungen auf der Königl. Universitäts- Sternwarte zu Breslau im Jahre 1915. Mitgeteilt von Dr. G. Rechenberg. Höhe des Barometers über Normal-Null — 147,03 m. Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. I. Barometerstand, II. Temperatur der Luft — reduziert auf 0° Celsius in Graden nach Celsius in Millimetern | ; | ME 2 | ® 5 7 5 Pr 7 © Monat EI m = 2 5 Es ge | > 5) Selen =} = a N 3 re] = Bu ES = © = Zee = © = So Ela see E Januar ..... | 20. 761,0. | 16. |726,6 [739,23 | 8. | 95| 21. — 75] 0,64 Februar ....! 26. | 593 | a1. | 2411 45,63 | 12. |ı 99| 2. -1236| 1,38 März ....... | 23. | 562 | 19. | 3142| 4513| 24. | 150| 11. |-15,1|- 0,03 Aare. ı 98. | 581] 7.| 326 | A843 | 36. | 2005| 1.|-ı17| sus Mair. 5. | 593 | 18. | 403 | 4917 | 27. | 869| ı1.| 1,5] 14,60 Juni... 7. 5422| 30. | 203 | a8s2| 11. | 3285| 35. | 53] 19.09 TREE 19. | 5321 14. | 395 | 4747 | 28. | 294 | 20.| 9,6| 18,22 August ..... 23. | 55, | 30. | 39,9 | 47,51 | 29. | 26,5 bo.s1l 9,5| 16,17 September..| 22. | 633 26. 325 | ass8s | 12. | 2283| 83.| 15| 1246 Oktober . 21.5601 1.! 4342| 5081 18 | ıs1l a8 —-a5| 7% November ..| 21. el 30,7 | 46,12 10 10. | ı1,0 | a8. -11,2] 2,02 Dezember...| 14. | 58,2 323 | 4445 L 22 | 3231 4445| 5_| 150] 8. |—126| 3,42 Jahr | "97° |770, [Febr] 734.1 [726,53 | ei | 305 [az sı] 863 Be |746, 84 Im le 5 [| 4951| 863 III. Feuchtigkeit der = 2» 1]. I Weuchtigkei der mE IV. Wolken- 1915 a. absolute | b. relative bildung und in Millimetern | in Prozenten Niederschläge | vaS et © 85; | E | 2| ,„[5|3|2 58:3 ın © un © = = us Monat Base E 5 El 2|5|8|58 = >28 2 bh 8.82] bEu || E58. Er Seele 8 |®© u gs | ae Sen Eh, = | Ei &E Sy la Kerle Tage 22= ei | I | BE Januar ..... 15. | 6,4 21.30.2,4| 4,19|| öfter 100 8. 58855] — | 13 | 18| 45,05 Februar 12.13. 62| 2. 1.6) 4.24 21.22.100 24. 5582,1| 1 | 13 | 14) 27,70 März ....... 25. | 7,1| 10. 1,4) 3,73) öfter100, 29. |3678,6| 3 | 12 | 16| 72,40 oe kei 24. | 99, 1. 3,3] 5,92] öfter]100 26. 29724] 7 | 11 | 12] 72,30 EEE 18. 12,4| 10. 2,9) 7,11| 8. | 92 24. 2457,0| 12 | 16 | 3, 12,60 Jan. 3 27. 114,8 114.19.4,6| 8,64 31. | 97) 13. 23538] 9 | 18 | 3] 88,55 Jul 8 7. 116,5| 31. |7,0110,49|| 17. 100 21. 39682] 3 | 19 | 9130,95 August.... | 29. 113,9| 31. [7,410,63|| öfter 100 2. |39,78,1| 2 | 16 | 13]1134,55 September..| 16. 111,4) 23. 5,0] 8,21 öfter|10012.,24 39 76,0] 7 | 13 | 10 61,65 Oktober ....| 7. 110,01 28. |25| 6,87 öfter 100 98. 37 87,1] 2 | 10 | 19) 91,80 November ..| 4 | 80| 29. |1,6| 4,58 | öfter]100 29. 160832] — | 9 | 21] 39,10 Dezember ..| 11. |10,0| 22. |1,8] 4,93|| 18. 100 öfter56.80,7| 1 | 10 | 20) 42,90 Jahr en 16,5 5 or |i# 6,63 öfter 100 un 23752] 47 160 1581819,55 II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 931 V. Herrschende Winde. Januar. Die Winde, die wiederholt stärker als gewöhnlich auftraten, verteilten sich ziemlich gleichmäßig auf die Windrose. Februar. Die Winde wehten durchweg nur in mittlerer Stärke und kamen ganz überwiegend aus Südost, demnächst auch häufig aus Süd und West. März. Die Winde wehten vorherrschend aus West und Nordwest, auch Östwinde wurden häufig notiert. April. Die Winde kamen überwiegend aus Nord, eine Richtung, die sonst im April sehr zurücktritt; demnächst wurden oft beobachtet West-, Nordwest- und Südostwinde. Mai. Die Winde, die wiederholt stärker als gewöhnlich auftraten, wehten auch in diesem Monat oft aus Nord, verteilten sich aber sonst ziemlich gleichmäßig auf alle Richtungen der Windrose. Juni. Die Windrichtungen verteilten sich mit Ausnahme von Südwest, welche Richtung gar nicht beobachtet wurde, gleichmäßig. Juli. Die Winde, die wiederholt stärker als gewöhnlich auftraten, wehten am häufigsten aus West und Nordwest, demnächst auch häufig aus Süd und Südwest; Nord- und Nordostwinde traten ganz zurück. August. Die Winde wehten ganz überwiegend aus West und Nordwest. September. Die Winde traten wiederholt stärker als gewöhnlich auf und wehten überwiegend aus Nordwest, West und Südost. Oktober. Die Winde wehten vorherrschend aus Ost, Nordost und Nord, Westwinde traten sehr zurück. November. Die Winde, die wiederholt stärker als gewöhnlich auftraten, wehten überwiegend aus West und Nordwest, demnächst auch häufig aus südlichen Richtungen, während Nord- und Nordost- winde nur selten notiert wurden. Dezember. Die Winde wehten vorherrschend aus West und Süd, auch häufig aus Südwest und Südost; Nordostwinde waren selten; Nordwinde wurden gar nicht beobachtet. VI. Witterungs-Charakter. Januar. Das Wetter war überwiegend trübe und zu Niederschlägen neigend. Der Luftdruck war nur an zwei Tagen, am 19. und am 20. über Normal, sonst aber beständig und zwar sehr oft um mehr als 10 mm darunter. Die Temperatur war nur an wenigen Tagen unter dem Durchschnittswerte, sonst darüber, so daß der Mittel- wert sich um 31/, Grad zu hoch stellte. Die Feuchtigkeit der Luft war zu groß, ebenso die Himmelsbedeckung, und infolgedessen erreichte die Sonnenscheindauer nur etwa ?/, des normalen Wertes. 32 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Niederschläge, die etwa zu gleichen Teilen aus Regen und Schnee bestanden, waren zahlreich; ihre Summe überstieg den Durch- schnittswert um das 1!/, fache, Eine dauernde Schneedecke konnte sich erst in den letzten Tagen des Monats bilden, erreichte aber im Maximum, am 31., nur 6 cm Höhe. Februar. Auch in diesem Monat war der Luftdruck, der sich in sehr starken Schwankungen bewegte, überwiegend unter Normal, die Temperatur überwiegend darüber. Die Feuchtigkeit der Luft, die Himmelsbedeckung und die Dauer des Sonnenscheins entsprachen annähernd den normalen Werten. Die Niederschläge, die eben- falls wieder wie im Vormonat zu gleichen Teilen aus Regen und Schnee bestanden, waren nicht sehr zahlreich und ihre Summe blieb daher etwas unter dem Mittelwerte. Die vom Januar über- nommene Schneedecke hielt sich in wechselnder Stärke bis zum 9. März, Die Schwankungen des Luftdrucks, der sich vorherrschend unter dem Mittelwerte bewegte, waren wiederum sehr beträchtlich. Die Temperatur war überwiegend unter Normal und erreichte am 11. mit —15,1° den tiefsten Stand des ganzen Jahres. Die Feuchtigkeit der Luft war normal, die Himmelsbedeckung etwas zu groß, und daher wurde die durchschnittliche Sonnenscheindauer nicht erreicht. Die Niederschläge, die bei den meist niederen Temperaturen zu- meist aus Schnee bestanden, waren besonders in der ersten Monatshälfte zahlreich; ihre Summe überstieg den Mittelwert um mehr als das Doppelte. Eine zusammenhängende Schneedecke bildete sich am 1., stieg am 7. bis auf 25 cm an und hielt sich in abnehmender Stärke bis zum 15. Am 1. wurde das erste Gewitter des Jahres notiert. April. Der Luftdruck war zwar auch wie in den Vormonaten starken Schwankungen unterworfen, bewegte sich aber zum ersten Male in diesem Jahre vorwiegend über dem Durchschnittswerte. Die Temperatur bewegte sich unter Vermeidung von extremen Werten in geringen Schwankungen um den Mittelwert. Die Feuchtigkeit der Luft war annähernd normal, die Himmelsbedeckung zu gering und infolgedessen die Summe des Sonnenscheins zu hoch. Nieder- schläge waren trotzdem sehr zahlreich und fielen auch oft in beträchtlichen Mengen; sie bestanden nur noch an einem einzigen Tage, am 13., aus Schnee, und ihre Summe überstieg den Durch- schnittswert um mehr als das Doppelte. Mai. Der Luftdruck war wieder im Mittel etwas zu hoch. Die Schwan- kungen der Temperatur waren sehr zahlreich und traten auch oft recht plötzlich auf; so wurden zum Beispiel vom 2. zum 3. und ebenso vom 14. zum 15. Temperaturstürze von 20° beobachtet; Juni. II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 93 ähnlich vom 5. zum 6., vom 12. zum 13., vom 17. zum 18. und vom 29. zum 30. Temperaturerhöhungen von etwa 20°. Die Feuchtigkeit der Luft war zu gering, ebenso auch ganz auf- fallend die Himmelsbedeckung; infolgedessen überstieg die Summe des Sonnenscheins den normalen Wert um mehr als das 11/, fache. Regenfälle waren selten und traten auch nie in beträchtlichen Mengen auf, so daß ihre Summe nur den vierten Teil des Mittel- wertes ergab. Elektrische Erscheinungen waren häufig; es wurden notiert 6 Gewitter und 2 mal Wetterleuchten. Der Luftdruck bewegte sich in meist nur geringen Schwankungen um den Mittelwert. Auch die Schwankungen der Temperatur, die sich vorwiegend über dem Mittelwerte bewegte, waren nicht annähernd so bedeutend wie im Vormonat. Die Feuchtigkeit der Luft und die Himmelsbedeckung waren wiederum zu gering und daher die Dauer des Sonnenscheins zu hoch. Regen fiel bis zum 25. in nur ganz unerheblichen Mengen, von da ab bis zum 30. so ergiebig, daß der Mittelwert des Monats um den dritten Teil überstiegen : wurde. Von elektrischen Erscheinungen wurden notiert 5 Gewitter und 2 mal Wetterleuchten. Juli. Der Luftdruck hielt sich überwiegend unter dem Durchschnitts- August. werte; seine Schwankungen waren um die Mitte des Monats herum wiederholt recht beträchtlich. Die Temperatur war im Durch- schnitt normal, extreme Werte wurden nicht beobachtet. Die Feuchtigkeit der Luft war etwas zu groß, die Himmelsbedeckung und damit auch die Sonnenscheindauer nahezu normal. Regen- fälle waren sehr zahlreich und traten auch oft in beträchtlichen Mengen auf, so daß ihre Summe den Durchschnittswert um ?/, überstieg. An 7 Tagen wurde Gewitter, an 2 Tagen Wetter- leuchten beobachtet. Der Luftdruck bewegte sich in meist nur mäßigen Schwankungen vorherrschend unter dem Durchschnittswerte. Auch die Schwan- kungen der Temperatur, die sich zumeist unter dem normalen Werte hielt, waren nicht bedeutend. Die Feuchtigkeit der Luft war zu groß, ebenso auch die Himmelsbedeckung, und infolge- dessen erreichte die Sonnenscheindauer nur °/, des Mittelwertes. Regenfälle waren wiederum sehr zahlreich und oft, besonders am 3. und 4., sehr beträchtlich, so daß ihre Summe die des Vor- monats noch überstieg. Von elektrischen Erscheinungen wurden notiert 4 Gewitter und 1 mal Wetterleuchten, September. Der Luftdruck war im Durchschnitt normal; die Schwan- kungen waren aber wiederholt recht beträchtlich. So betrug z. B. der Anstieg des Barometers vom 5. bis zum 8. 20 mm, 94 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. der Abfall vom 22. bis zum 26. 30 mm. Weniger auffallend waren die Schwankungen der Temperatur, die sich wie im Vor- monat meist unter dem Mittelwerte bewegte. Die Feuchtigkeit der Luft war nahezu normal, ebenso auch die Bedeckung des Himmels und die Dauer des Sonnenscheins. Regenfälle waren in der ersten und in der dritten Woche des Monats zahlreich und auch ergiebig; ihre Summe war um !/, zu hoch. Von elektrischen Erscheinungen wurde nur noch 1 mal Wetterleuchten notiert. Oktober. Der Luftdruck bewegte sich in nur geringen Schwankungen zumeist über dem Durchschnitt. Auch die Schwankungen der Temperatur, die sich im Mittel um 11/, Grad unter Normal stellte, waren nicht bedeutend. Die Feuchtigkeit der Luft war zu groß, ebenfalls auch die Himmelsbedeckung, und infolgedessen erreichte die Summe des Sonnenscheins nur wenig mehr als die Hälfte. des Durchschnittswertes. Ganz abnorm hoch war wiederum die Summe der Niederschläge; sie fielen zum weitaus größten Teil in der ersten Hälfte des Monats, und ihre Summe war um das 2!/, fache zu hoch. 1 mal wurde Wetterleuchten beobachtet. November. .Im Gegensatz zum Vormonat waren die Schwankungen des Luftdrucks wieder sehr beträchtlich; er bewegte sich zumeist unter dem Mittelwerte. Die Temperatur war in der ersten Monatshälfte zu hoch, in der zweiten um ein Beträchtliches zu niedrig; an 12 Tagen sank das Thermometer unter Null, am 29. bis —11,2°. Die Feuchtigkeit der Luft war nahezu normal, die Himmels- bedeckung zu groß und die Sonnenscheindauer zu gering. Nieder- schläge, die in der ersten Hälfte des Monats aus Regen, in der zweiten vorwiegend aus Schnee bestanden, waren zwar zahlreich, fielen aber meist in nur geringen Mengen, so daß ihre Summe den normalen Wert nur wenig überstieg. " Dezember. Der Luftdruck war nur an 3 Tagen, am 14., 15. und am 31. über dem Mittelwerte, sonst aber stets und oft auch recht beträchtlich darunter, so daß sich das Monatsmittel um beinahe 6mm zu niedrig ergab. Die Temperatur war vom 21. bis zum 23. unter Normal, sonst aber, und zwar oft um 10° und mehr, darüber, und ihr Mittelwert stellte sich um 4Y, Grad zu hoch. Die Feuchtigkeit der Luft war normal, die Himmelsbedeckung zu groß; da aber die Eintrübung meist während der Nachtstunden erfolgte, entsprach die Sonnenscheindauer genau dem langjährigen Durch- schnitt. Niederschläge waren zahlreich; sie bestanden überwiegend aus Regen und ihre Summe war um 1); zu groß. —— a — schlesische Gesellschaft für vaterländische Gultur, 93, | II. Abteilung. Jahresbericht. Naturwissenschaften. 1915. | b. Zoologisch-botanische Sektion. ur are 249 Sitzungen der zoologisch-botanischen Sektion im Jahre 1915. l. Sitzung am 14. Januar. Herr R. Dittrich spricht über die Entstehung der Pflanzengailen im Anschluß an das kürzlich erschienene Werk von W. Magnus. Hierauf legt Herr F. Pax vor = Eine neue chinesische Primel. In der schönen Sammlung chinesischer Pflanzen, die Dr. Wolfgang Limpricht dem Botan. Museum in Breslau geschenkweise überwiesen hat, befinden sich auch mehrere neue Arten. Unter diesen beansprucht ein besonderes Interesse eine kleine, einjährige Spezies, die auf den ersten Blick den Habitus eines Erodium macht. Primula cicutarüfolia Pax n. sp. — Annua, debilis, pilis arachnoideis et glanduliferis vestita, mox glabrescens et glabrata, non farinosa. Folia infima + rotundata, 5—6 mm diametientia, dentata, longe petiolata, se- quentia petiolo 4—15 mm longo suffulta, profunde pinnatisecta, quasi pinnata, 21/,—3 cm longa, ad 2 cm lata; lobi crenato-dentati, oblique ovali, margine anteriore subintegri vel parcius dentati; folia omnia eximie mem- branacea, flaccida, viridia. Scapus 2—3 cm longus, debilis, folia haud vel paulo superans, umbellam 2—3-floram gerens; bracteae parvae, lineares, 2 mm longae; pedicelli 10—12 mm longi, filiformes, flaceidi. Calyx sub anthesi 3—4 mm longus, campanulatus, ad medium vel ultra partitus, post anthesin vix accrescens, glaber, margine minutissime ciliatus. Corollae pallide roseae (vel lilacinae) tubus cylindricus, gracilis, calycem paulo superans, A mm longus, limbus paulo concavus, 8 mm fere diametiens, faux ochracea, lobi oblongo-obovati, truncato-rotundati. Ovula circ. 20. China: Tschekiang, Hangtschou, beim Tempel Ling ying am Hsi “hu, auf Kalkfelsen (Limpricht n. 822! — 7. April 1913, blühend). Die Art gehört in die Sektion Monocarpicae und in die Nähe von Pr. malacoides Franch., weicht aber durch den schlaffen Aufbau, die Blatt- form und Blüte von den bekannten Arten der Gruppe wesentlich ab._ 1915. 1 2 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. 2. Sitzung am 11. Februar. Herr ©. Oberstein berichtet über Krankheiten und Beschädigungen der Kulturpflanzen in Schlesien im Jahre 1914. (Der Abschnitt über den Einfluß der Witterungsverhältnisse findet sich im Jahresbericht 1914/15 der agrikultur-botanischen Versuchs- und Samen- kontrollstation der Landwirtschaftskammer für die Provinz Schlesien.) 1. Getreide. a) Pflanzliche Schädiger. Ganz auffallend zeitig, z. T. schon von Ende März, allgemein vom April ab befiel im Berichtsjahre die Weizen- schläge der Gelbrost (Puccinia glumarum). Vereinzelt soll diese Rost- art auch schon im Herbst 1913 auf der jungen Saat beobachtet worden sein. Zunächst wurde die Krankheit im Frühling vorzugsweise bei früh- gesätem Weizen bemerkt, dann trat sie aber auch auf anderen Schlägen in die Erscheinung, so daß einige Monate später von einer Gelbrost- epidemie, die über die ganze Provinz verbreitet war, gesprochen werden konnte. Stellenweise waren Rustikalfelder, die ‚wohl keinen Chilesalpeter bekommen“ hatten, so außerordentlich stark befallen, daß sie von weitem „wie blühende Rapsfelder‘ aussahen. Durch die Kaiserliche Biologische Anstalt Dahlem darauf aufmerksam gemacht, daß Puccinia glumarum auch im übrigen Deutschland stellen- weise so heftig aufgetreten war, daß in einem Fall sogar Umpflügungen befallener Schläge stattgefunden hätten, veranstaltete die Station eine allge- meine Umfrage, welche weiteren Aufschluß bezüglich des Befallszusammen- hangs mit der Sorten- und Düngungs- (vor allem der Stickstoffdüngungs-) frage u.s. f. bringen sollte. Über stattgehabte Umpflügungen von Weizen aus Anlaß des Gelbrostbefalls wurde aus der Provinz Schlesien in den Antworten hierauf von keiner Stelle berichtet. In der Mehrzahl der Fälle wurde vielmehr berichtet, daß nach dem Ausschossen selbst überaus starker Befall — z. T. wohl infolge Eintritts fruchtbarerer Witterung — schließlich wieder zurückgegangen sei; ‚die ehedem gelbgrünen Weizenfelder wären wieder blaugrün geworden“. Immerhin aber wurde doch über Kornertrags- minderungen mitunter geklagt (2—3 Zitr., ausnahmsweise wohl auch die doppelte Menge je Morgen). Recht interessante Ergebnisse zeitigte die Rundfrage bezüglich der Sortenempfänglichkeit. In nicht wenigen Berichten wurde übereinstimmend betont, daß der aus einer Landsorte gezüchtete Criewener Weizen No. 104 sehr wenig, ja fast gar nicht anfällig sei. Wenig Neigung zu Gelbrostbefall sollte auch nach wiederholten Beobach- tungen der lockerährige Bielers Edel-Epp-Weizen gezeigt haben. Zu solchen immunen Sorten gehörten ferner, nach dem Ergebnis der Umfrage, der Sibirische Winterweizen, ferner von Cimbalschen Kreuzungen der Groß- herzog von Sachsen-Weizen, Fürst Hatzfeldtweizen, Cimbals Gelbweizen, II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 3 Cimbals Kreuzung No. 25. In der Regel waren in den die Sortenfrage überhaupt berücksichtigenden Antwortschreiben die Dickkopf- (Squarehead-) Weizen als am alleranfälligsten für Puccinia glumarum gekennzeichnet (Strubes Schlanstedter, Lohnauer begrannter, Steigers Leutewitzer Dick- kopfweizen). Bei Sommerweizensorten soll sich der Gelbrost allgemein weniger bemerkbar gemacht haben. Dem Einfluß der Vorfrucht schien man die geringste Prädispositionswirkung für Gelbrostbefall beizumessen. Über die Frage des Zusammenhangs der Befallsstärke mit der Stickstoff- düngung schien eher Klarheit vorhanden. Zwar fehlte es nicht an Gegen- behauptungen, die eine „heilende“, weiterem Umsichgreifen vorbeugende Wirkung einer Stickstoff-Kopfdüngung nicht zugeben zu können glaubten, doch betonten viele Berichte auch ausdrücklich die gute Wirkung einer Chilesalpetergabe von 50 Pfd. bis 1 Ztr., wobei der Gelbrostbefall auf Stücken mit 50 Pfd. sich stärker gezeigt habe als auf denen mit 100 Pfd. Andere Berichterstatter wieder rühmten die „heilende‘“ Wirkung einer 1 Ztr. starken Ammoniakgabe (Anfang März gestreut), nach der sich der Befall verloren haben soll bezw. gar nicht erst aufgetreten sei. Ziemliche Übereinstimmung bestand bei allen Beobachtern bezüglich der Auffassung, daß das epidemische Massenauftreten des Gelbrostpilzes in erster Linie auf Witterungseinflüsse (Trockenheit und Kälte, schroffe Temperaturwechsel) des Frühjahrs und Vorsommers zurückzuführen sei. Auffallend oft, freilich in größerem Umfange erst nach dem Abblühen, trat der Gelbrost (Puccinia glumarum f. Secalis) im Berichtsjahre auch auf Roggen auf und zwar sowohl an den ährentragenden Halmen als auf den Spelzen-Innenseiten, den befallenen Ähren ein eigentümlich bunt- scheckiges Aussehen verleihend. Ein Bericht bezeichnete auch den Befall bei Roggen allgemein in den gut oder frisch gedüngten, üppigeren Roggen- schlägen als geringer. Unter den Roggensorten wurde namentlich der Petkuser (und zwar der nachgebaute in geringerem Maße) Roggen als be- sonders gelbrostanfällig erwähnt. Über Kornertragsminderungen wurde, was die Qualität anlangt, bei Roggen öfter als bei Weizen geklagt; in Zusammenhang damit steht wohl ohne Frage die Tatsache, daß Kümmer- oder Schrumpfkorn verursachender Gelbrostbefall an den Spelzen bei Weizen nur verhältnismäßig selten beobachtet bezw. eingeschickt wurde, ganz im Gegensatz zum Roggen. Im Vergleich zu der Gelbrostepidemie traten alle andern Rostarten im Berichtsjahre in den Hintergrund, am verbreitetsten von diesen war noch der Braunrost des Roggens und des Weizens; Schwarz- rost an Weizen und Gerstenzwergrost wurden nur aus vereinzelten Kreisen (Sagan, Breslau, Steinau) eingesandt. Die Mehrzahl der im Laufe des Juli eingegangenen Fälle erkranken Weizens betraf Fußkrankheit und Schwärzebefall; der Gelbrostbefall war um diese Zeit überwunden, wenn auch immer noch an den. vertrock- 1* 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. neten Blättern nachweisbar. Fußkranker Roggen kam vereinzelt auch schon im letzten Junidrittel vor, wurde aber nur aus relativ wenigen Kreisen der Provinz gemeldet. Auch im Berichtsjahr dürfte die Vorbe- dingung für das umfangreichere Auftreten der Fußkrankheit vorzugsweise durch den Frühjahrsfrost geschaffen worden sein. Der plötzliche Schwärze- befall namentlich der Weizenähren und Halme wiederum (von der Praxis nicht selten mit „Brand‘‘ verwechselt) hing offenbar mit örtlich nieder- gegangenen, starken Gewittergüssen zusammen. In Verbindung mit der Fußkrankheit des Weizens trat an der vermorschten Basis der Halme be- sonders häufig Ophiobolus herpotrichus auf. Ohne wesentliche Bedeutung für die Minderung des Ernteertrages waren, im Gegensatz zu den vorgenannten Erkrankungen, der Getreide- mehltau des Weizens und Roggens sowie die Weizenblattpilze (Sep- toria graminum u. a.), die in einer ganzen Anzahl von Kreisen festgestellt werden konnten. Vereinzelt kam die Sklerotienkrankheit des Rog- gens (Typhula graminum) aus dem Groß Wartenberger Kreise zur Kenntnis der Station. Öfter dagegen litt Gerste auch im Berichtsjahre wieder unter der Streifenkrankheit (Helminthosporium gramineum). Sie wurde, auf Grund vorgelegten Materials, in den Kreisen Frankenstein, Neumarkt, Ohlau, Steinau, Trebnitz; Jauer, Glogau, Landeshut, Löwen- berg; Grottkau, Leobschütz, Lublinitz, Rybnik und Hinden- burg festgestellt. Unter den uns zur Kenntnis gekommenen Fällen von Helminthosporiumerkrankungen wurde wiederum öfter Winter- gerste betroffen, wobei der Befall nicht selten 5°), betrug. Leider wird auch diese Krankheit noch vielfach in der Praxis mit „Brand“ oder „Rost‘* verwechselt, Viel seltener war der Helminthosporiumbefall bei Hafer, ungleicl: häufiger die wohl auf anorganische Einflüsse zurückzuführende Dörr- leckenkrankheit, welche aus den Kreisen Cosel, Lublinitz, Lüben Oels, Rybnik und Steinau zur Einsendung gelangte. Brandkrankheiten waren, wie im Vorjahr, im allgemeinen von geringerer Bedeutung, Über die öftere Verwechselung von Schwärzebefall der Ähren mit „Brand“ wurde oben berichtet. Vereinzelt gingen Flug- brandfälle an Hafer-, Weizen- und Gerstenähren ein, desgl. Stein- brand. Gerstenhartbrand wurde einmal aus dem Kreise Breslau übersandt, Schädigend trat der Roggenstengelbrand (Urocystis occulta) in größerem Umfange im Landeshuter Kreise auf. Die übrigen zur Kenntnis gelangten Schädigungen der Halmfrüchte durch pflanzliche Organismen betrafen Vorkommnisse von untergeordneter Bedeutung. b) Tierische Schädiger. Von diesen ist als für das Berichtsjahr in erster Linie bemerkenswert das für Schlesien erstmalige Massenauftreten ‘ I. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 5 der Getreidemilbe (Pediculoides graminum) zu erwähnen. Seit dem letzten Drittel des Mai, durch den ganzen Juni hindurch, gelangte diese Milbenkrankheit des Roggens aus den Kreisen Glogau, Goldberg, Jauer, Liegnitz, Lüben; Breslau, Reichenbach, Schweidnitz zur Einsendung an die Station. An Ort und Stelle beobachtet wurde das Krankheitsbild, bei gleichzeitigem Nachweis des Schädigers, vom Bericht- erstatter auf dem Versuchsfeld der Kgl. Ldw. Universitätsinstitute. Von den Roggenhalmen schoßten oft nur auffallend wenige, so z. B. kamen in einem solchen Fall, wie angegeben, auf rund 18 Halme nur 1 bis 2 ährentragende, Die übrigen waren im Längenwachstum zurückgeblieben, aber nur in ihren unteren Teilen grün. Die das ährentragende Halmstück umschließende Scheide war, wie die noch zusammengerollte Spreite des jüngsten Blattes bleich-gelblichweiß verfärbt. Die eingeschlossene Ähre war vollständig verkümmert. Nur das oberste Zwischenknotenstück, später auch noch das zweitoberste war so erkrankt und wies an der Blattscheide jenes fleckenweise beginnende Bleichwerden auf. Seitens. der landwirtschaftlichen Praxis wurde die Erkrankung in der Regel auf Frostschädigung zurück- geführt, doch tauchten auch vereinzelt Zweifel auf. Der Umfang des Schadens betrug 5—50°/,, meist, soweit bekannt, 20—30°%,. Am stärksten schienen oft zeitige Saaten und diese wiederum vorzugsweise an den Bei- stengeln und vom Schlagrande her befallen. Durch den Nachweis u. a. der befruchteten Weibchen der Milbe wurde die Bestimmung gesichert. Die Getreidemilbe trat im Berichtsjahr, ähnlich wie dies s. Zt. ja auch aus Bayern gemeldet wurde, meist in Gemeinschaft mit anderen, durch die Trockenheit begünstigten Schädigern (Gelbrost) auf. Ihr plötzliches Massen- auftreten scheint somit ebenfalls wohl in erster Linie durch die abnormen Witterungsverhältnisse des Frühjahrs und Vorsommers begünstigt worden zu sein. Dasselbe gilt von den allenthalben aus der Provinz zur Kenntnis gelangten Blasenfußschädigungen namentlich wiederum des Roggens, aber auch anderer Getreidearten. Von Erdungeziefer fanden Beschädigungen durch Drahtwürmer namentlich bei junger Sommerung vielfach statt (Kreise Breslau, Jauer, Lauban, Lüben, Namslau, Strehlen), auch wohl durch Garten- haarmücken- (Bibio-) und Schnaken- (Tipula-) Larven (Kreise Kreuz- burg, Habelschwerdt, Wohlau). Fast ausnahmslos litt der Hafer stellenweise erheblich unter Nema- todenbefall (Heterodera Schachtü), so in den Kreisen Breslau, Gold- berg, Jauer, Lublinitz, Lüben, Neumarkt, Trebnitz, Steinau, vereinzelt auch der Weizen (Kreis Reichenbach). Stockälchen (Tylenchus dipsaci) wurde an Roggen in den Kreisen Militsch, Trachen- berg, Tost-Gleiwitz, Gr. Wartenberg, Wohlau, vereinzelt in einigen Kreisen auch an anderen Getreidearten festgestellt. 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Wie im Vorjahr, so fehlten auch im Berichtsjahre umfangreichere Beschädigungen durch die berüchtigte Weizenhalmfliege (Chlorops taeniopus) so gut wie ganz. Dagegen traten die blutroten Larven der Sattelmücke (Ülinodiplosis equestris), im äußeren Krankheitsbild stark an die durch COhlorops hervorgerufene „Gicht“ („Podagra‘) des Weizens erinnernd, öfter in den Kreisen Cosel, Jauer, Trebnitz, Schweidnitz an dieser Halmfrucht auf. Die Larve der Getreideblumenfliege (Hylemyia coarctata) wurde an Weizensendungen aus den Kreisen Namslau und Goldberg-Haynau, an Roggenpflänzchen aus den Kreisen Hoyerswerda, Rothenburg, Sagan nachgewiesen. Haupt- sächlich an Hafer (Kreise Bunzlau, Lublinitz, Rybnik) und Roggen (Kreise Grünberg, Oels) trat auch die Fritfliege lokal schädigend auf. Auf Weizen in vereinzeltem Vorkommen beschränkt blieb die Hessen- mücke (Mayetiola destructor) (Kreise Breslau, Militsch-Trachenberg, Trebnitz, Wohlau). Von sonstigen erwähnenswerten tierischen Schädlingen sei noch die Larve des Getreidehähnchens (Ürioceris cyanella) hervorgehoben, die in geringem Umfang an Weizen (Kreise Jauer, Strehlen), Roggen (Kreis Tarnowitz) und Gerste (Kreis Neumarkt) die Spreiten streifen- förmig benagte. Getreideblattläuse traten ebenfalls hie und da in die Erscheinung, vereinzelt auch Weizengallmücken-Larven (Contarinia tritiei). Wie alljährlich, wurde auch im Berichtsjahre im Inneren vorzeitig gebleichter Halme wiederum die Larve der Getreidehalmwespe (Cephus pygmaeus) namentlich an Weizen (Kreise Breslau, Bolkenhain, Bunzlau, Guhrau, Hindenburg, Lauban, Liegnitz, Lüben, Militsch - Trachenberg, Tost - Gleiwitz, Trebnitz, Sagan, Schweidnitz, Strehlen, Striegau, Gr. Wartenberg, Wohlau) öfter nachgewiesen. Von größeren Schädigern machten sich in Teilen der Provinz die Kaninchen als Feinde der jungen Saat recht unliebsam bemerkbar (Kreis Guhrau u. a.), am Ende des Berichtsjahres gingen ferner vielenorts die massenhaft entwickelten Mäuse auch bereits die Winterung an. Aus zahlreichen Kreisen der Provinz eingehende Anfragen über Ver- tlgung der Speicherschädlinge ließen vermuten, daß namentlich der „Kornkrebs‘ (Calandra granaria) leider recht verbreitet war. Seine energische Vertilgung mittels Schwefelkohlenstoff und Anilinöl-Kalkmilch erscheint im Hinblick auf die Kriegslage besonders geboten. Schädigungen von Roggen- und Hafersaat durch Schwefligsäure- anhydrid kamen nur vereinzelt zur Kenntnis der Station. Sie betrafen lokale Erscheinungen in den Kreisen Breslau und Tarnowitz. II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 7 2. Rüben. Auch in diesem Jahre war der hauptsächlichste tierische Schädling der Rüben die Made der Runkelfliege (Anthomyia conformis). Über die Biologie der Made herrschten ebenfalls noch mitunter recht abenteuerliche Ansichten. Dem Schädling wird deshalb in Zukunft seitens der Praxis besondere Aufmerksamkeit zugewandt werden müssen, Die Made der Runkelfliege trat seit Ende Mai in den Kreisen Bolkenhain, Breslau, Bunzlau, Falkenberg, Goldberg - Haynau, Görlitz, Guhrau, Jauer, Kreuzburg, Namslau, Neumarkt, Pleß, Ratibor, Reichen- bach, Schönau, Schweidnitz, Sprottau, Strehlen, Gr. Strehlitz, Tarnowitz, Trebnitz schädigend auf; öfter wurden von den Zucker- und Futterrübenpflanzen 50—60 °/, betroffen, so in den Kreisen Falken- berg, Neumarkt, Gr. Strehlitz, Tarnowitz. Wo in der Praxis die jungen Rüben rechtzeitig abgeblattet wurden (die gesammelten befallenen Blätter müssen dabei unschädlich gemacht werden), ist die Bekämpfung dieses seit einer Reihe von Jahren nunmehr schon regelmäßig wieder- kehrenden Schädlings von Erfolg gewesen. Der den Rübenschlägen Schlesiens in früheren Jahren öfter zum Verhängnis gewordene Aaskäfer (Silpha opaca) wurde wiederum nur aus einem Kreise (Reichenbach) als häufiger auftretend eingesandt. Wenig von sich reden machte auch die Rüben- wanze (Piesma capitata), deren Schädigungen einmal aus dem Kreise Steinau eingingen. Dagegen wurden Ende Juni öfter Klagen laut über stellenweise Massenverbreitung der schwarzen Rübenblattläuse (Aphis papaveris), sei es auf infolge des Befalls kräuselkranken Blattrüben, sei es auf Samenrüben. Weiter in der Entwickelung fortgeschrittene Schläge litten aber trotzdem nicht besonders stark; nach stattgehabten Gewitter- güssen im Juli verschwand dann diese Plage wieder vielfach von selbst. Blattlausbefall der Rüben wurde festgestellt in den Kreisen Bolken- hain, Breslau, Falkenberg, Grottkau, Jauer, Kreuzburg, Münsterberg, Neumarkt, Neustadt, Oels, Ohlau, Reichenbach, Schweidnitz, Strehlen, Gr. Strehlitz, Tost-Gleiwitz, Trebnitz. Die diesjährigen Eingänge von Erdungezieferschädigungen be- trafen die Kreise Guhrau, Hirschberg, Namslau, Schweidnitz, Reichenbach (Kohlerdschnakenlarven /Tipula], im erstgenannten Kreise in Gemeinschaft mit Engerlingen, im letzten mit Garten- haarmückenlarven /Bibio] schadend), ferner den Kreis Steinau, aus dem Drahtwürmer als Rübenschädlinge eingesandt wurden. Sicherlich ist ein Teil der gemeldeten Drahtwurmschädigungen auf das Schuldkonto solcher verschiedener Erdungezieferarten mit zu setzen. Nur vereinzelt kamen von Nematoden (Heterodera Schachtii) befallene Rüben zur Unter- suchung (Kreis Goldberg-Haynau). Von sonstigen Krankheiten der Rüben ist vor allem das Vorkommen des Wurzelbrands in den Kreisen Cosel, Frankenstein, Guhrau, 8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Kreuzburg, Münsterberg, Pleß, Schweidnitz und Steinau zu erwähnen, Blattfleckenkrankheit, Cercospora betieola, (Kreise Jauer, Ratibor, Schweidnitz) und Sporidesmium putrefaciens, Blattbräune (Kreise Jauer, Ratibor) wurden ebenso wie Herzfäule (Kreise Militsch- Trachenberg, Ratibor, Reichenbach, Tost-Gleiwitz) nicht gerade häufig eingesandt. Wie in früheren Jahren, erregten zerstreut vorkom- mende panaschierte Blätter der Rübenpflanzen stellenweise das Inter- esse der Besitzer (Kreis Tost-Gleiwitz). 3. Kartoffeln. Die veranstalteten Umfragen betreffs etwaigen Auftretens des Colorado- käfers (Leptinotarsa decemlineata) und des Kartoffelkrebses (Chryso- phlyctis endobiotica) ergaben zum Glück für beide Schädiger innerhalb des Bezirks nur Fehlanzeigen. Was von verschiedenen Orten als „Kartoffel- käfer“ gemeldet oder eingesandt wurde, stellte sich stets als Verwechselung heraus. In Zusammenhang mit der Kartoffelkäferumfrage standen ferner vereinzelte Einsendungen von Eulenschmetterlingspuppen (Kreis Hindenburg) und Totienkopf-Schmetterlingspuppen (Kreis Leob- schütz). Als kartoffelkrebsverdächtig wurden in vereinzelten Fällen schwarzbeinige Stauden bezw. auch stark schorfige Kartofielknollen zur Untersuchung gegeben. Schwarzbeinigkeit war im übrigen auch im Berichtsjahr wiederum recht häufig (Kreise Belkenhain, Breslau, Falkenberg, Görlitz, Goldberg, Haynau, Grünberg, Landeshut, Leobschütz, Lublinitz, Neiße, Neumarkt, Pleß, Ratibor, Schweidnitz, Sprottau, Steinau, Gr. Strehlitz, Wohlau), des- gleichen der Schori (Kreise Breslau, Brieg, Goldberg-Haynau, Glogau, Grottkau, Landeshut, Liegnitz, Sagan, Trebnitz, Gr. Wartenberg). Blattrollkrankheit (Kreise Breslau, Goldberz- Haynau, Liegnitz, Lüben, Neumarkt, Nimptsch, Rothenburg, Schönau) wurde häufiger festgestellt als echte Kräuselkrankheit (Kreis Breslau). Viel seltener als im Vorjahr war Phytophthora- Krautfäule (Kreise Glogau, Kattowitz, Liegnitz), wie denn über haupt bei der Kartoffel im allgemeinen die durch pilzliche und tierische Krankheitserreger verursachten Schädigungen in den Hintergrund gegen- über direkten Schäden durch Witterungseinflüsse traten. Von tieri- schen Schädigern machten sich am Knollenwerk stellenweise übel bemerkbar Engerlinge (Kreis Kreuzburg) und Erdraupe (Kreise Breslau, Guhrau), an den Blättern hie und da Blattläuse (Kreise Kattowitz, Tost-Gleiwitz). Über Panaschüre des Laubwerks (Kreis Pleß) gilt das bei Besprechung der Rübenkrankheiten Gesagte. Ätz- flecken (durch SO,-Abgase hervorgerufen) kamen auch an Kartofiel- laub aus dem Kreise Breslau einmal zur Begutachtung. Öfter geforderte Knollenuntersuchungen führten zur Feststellung von Rhizoctoniapocken II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 9 an Material aus den Kreisen Goldberg-Haynau und Neumarkt, von Eisenfleckigkeit (Kreise Glogau und Liegnitz), bakterieller Naß- fäule (Rotz) (Kreise Guhrau, Nimptsch, Rothenburg, Trebnitz), Sciaralarvenbefall (Kreis Nimptsch), Fusariumfäule (Kreis Nimptsch), Bakterienringkrankheit (Kreise Glogau, Görlitz, Rothenburg, Trebnitz) und sog. Kindelbildung (Kreis Breslau) der Kartoffeln. 4. Hülsenfrüchte, Futter- und Wiesenpflanzen. a) Pfanzliche Schädiger, Feststellungen stattgehabten Klee- krebsbefalls (Sclerotinia Trifoliorum) waren in den Monaten März/April zuzeiten eine tägliche Erscheinung (Kreise Cosel, Glogau, Guhrau, Kattowitz, Landeshut, Liegnitz, Neiße, Neustadt, Sprottau, Strehlen), auch Blattfleckenkrankheit (Psendopeziza Trifolü) wurde mehrfach beobachtet (Kreise Grottkau, Lauban, Trebnitz), ohne freilich auch nur annähernd mit der Schadenwirkung wie der erstgenannte Pilz aufzutreten. Man wird dem Kleekrebsbefall bis zu einem gewissen Grade vorbeugen können durch sorgfältigere Vermeidung der Aussaat atlantisch- mediterraner Rotkleeherkünfte. Öftere Anfragen über Seidevertilgung (aus den Kreisen Bunzlau, Landeshut, Neiße) lassen die Vermutung nicht ungerechtfertigt erscheinen, daß auch dieser Schmarotzer der Klee- pflanze stellenweise verbreitet war. Fusarium-Stengelfäule bei Lupinen wurde aus dem Kreise Wohlau, eine Sklerotienerkrankung aus dem Kreise Bunzlau be- kannt. Vielfach litten wieder die Bohnen unter der Fleckenkrankheit der Bohnenhülsen (Gloeosporium Lindemuthianum), so in den Kreisen Schönau und Schweidnitz. Der Vollständigkeit halber sei noch des Beulenbrandes des Maises (Kreise Grünberg, Münsterberg, Gr. Wartenberg) sowie einer auch nur lokal auftretenden Topinambur- Sklerotienkrankheit Erwähnung getan. b) Tierische Schädiger. Wie in früheren Jahren, hausten auch heuer die Blattrandkäfer (Graurüßler), Sitona lineata, wieder arg in den jungen Erbsen- und Pferdebohnensaaten (Kreise Bolkenhain, Bunzlau, Goldberg-Haynau, Neumarkt, Gr. Wartenberg). Merk- würdigerweise wird der Käfer, trotzdem sein Fraßbild so charakteristisch ist, noch vielfach mit dem „Erdfloh‘“ verwechselt. Von viel geringerer Bedeutung war ein örtlich begrenztes Auftreten des Kleewurzelkäfers (Hylastes Trifolü) in den Kreisen Grottkau und Trebnitz. Rüben- blattläuse (Aphis papaveris) traten Anfang Juli sehr stark auf Pferde- bohnen auf (Kreise Breslau, Münsterberg, Pleß, Reichenbach), welche infolge des Befalles an Samenansatz zu wünschen übrig ließen. Ein stellenweis beobachtetes Auftreten von Anthomyidenmaden in auf- gehendem Mais- und Gartenbohnensamen konnte leider, was die 10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Artzugehörigkeit der Fliegen anlangte, nicht weiter verfolgt werden, da die Tiere in sehr schlechter Verfassung eingingen. Trotz allen Entgegen- kommens seitens der Station sind gerade die Verpackungsmodi tierischer Schädlinge oft noch sehr mangelhaft. Aus dem Kreise Tost-Gleiwitz ist von ferneren Anthomyiden die Lupinenfliege (Chortophila funesta) als lokales Vorkommnis zu er- wähnen. Stockkrankheit des Klees fand sich in den Kreisen Falken- berg, Glogau, Grottkau, Neustadt, Trebnitz, Wohlau. Ganz enormen Schaden aber machten in der Provinz, namentlich gegen den Herbst hin die Feldmäuse, welche die Kleefelder im Bezirk vielfach völlig vernichteten. Leider wurde, namentlich von kleineren Be- sitzern, oft nichts gegen diese Landplage getan, obwohl Phosphorsirup und Schwefelkohlenstoff neben anderen Mitteln wiederholt eindringlichst an- empfohlen wurde. Vielenorts machte sich auch eine starke Zunahme der Hamster bemerkbar. | 5. Handel-, Öl- und Gemüsepflanzen. In Zusammenhang mit ungünstigen Witterungsverhältnissen trat wie- derum Schwärzebefall bei Lein stellenweise häufiger auf (Kreise Grottkau, Namslau, Ratibor, Steinau), desgleichen bei Raps (Spori- desmium exitiosum) (Kreise Falkenberg, Namslau, Steinau). Von tierischen Schädigern des letzteren gelangte auch im Berichtsjahre wieder der Rapsglanzkäfer (Meligethes aeneus) zur Einsendung, ferner der Mauszahnrüßler (Baridius). Unter den Kohlkrankheiten seien her- vorgehoben das Auftreten der Kohlfliege in den Kreisen Franken- stein, Glogau, Kattowitz, Gr. Strehlitz, der Kohlerdschnake (Tipula) in den Kreisen Ratibor, Reichenbach und Waldenburg, das des Kohlkropfs in den Bezirken Görlitz, Namslau, Neiße, Rothenburg, Gr. Strehlitz, Tost-Gleiwitz, Trebnitz. Stellen- weise machte an Kraut fernerhin die Kohlschabe (Plutella cruciferarum) Schaden (Kreis Liegnitz); aus demselben Kreise wurde auch über stär- keres Auftreten der Ohrwürmer im Kraut geklagt. Zu erwähnen wäre des weiteren noch Erdflohschädigung von Kohlrüben im Kreise Lublinitz, sowie Baridius-Larvenfraß in Kohlstengeln (Kreis Glogau). Interessant ist für das Berichtsjahr ein schädigendes Auftreten des Wurzel- älchens (Heterodera radicicola) an Möhren aus dem Kreise Rothen- burg gewesen, ungleich häufiger konnte Möhrenfliege (Psila rosae) an Eingängen aus den Kreisen Kreuzburg, Lublinitz, Münsterberg, Rybnik festgestellt werden. Speziell Möhren schadete ferner auch die Gartenhaarmücke (Bibio hortulanus) im Kreise Guhrau, Unter Blatt- lausbefall hatte stellenweise (Kreis Frankenstein) selbst der Gurken- dill zu leiden. Aus demselben Kreise gingen Zwiebelschädigungen durch falschen Mehltau (Peronospora Schleideni) und Rost (Puceinia II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. at Porri) ein, während die Zwiebelfliege an Material aus dem Oelser Kreis festgestellt werden konnte. Umfangreicher Schaden (80 °,) entstand allerdings in örtlicher Be- grenzung im Kreise Steinau an Gurkenkeimpflanzen im freien Feld- bestande durch den Larvenfraß der Gurkenfliege (Chortophila tricho- dactyla), deren Heranzucht Berichterstatter auch diesmal gelang, leider aber wieder nur im weiblichen Geschlecht, so daß die Bestimmung selbst von seiten eines Anthomyiden- Spezialisten nicht mit absoluter Sicherheit durchgeführt werden konnte. An der Basis des Hypokotyls der Keimlinge fand sich ein etwa 1 mm im Durchmesser fassendes Loch, an das sich längs des Stengelchens in dessen Innerem ein Hohlkanal schloß, in welchem, wie in einem Glasröhrchen, die Made saß und nagte. Die Folge des Befalls war ein Welken des Hypokotyls und schließliches Eingehen der ganzen Pflanze, deren Samenlappen auch bei bereits umgesunkenen Keimlingen im übrigen zunächst noch eine Zeitlang frisch grün erschienen. Verpuppung Ende Mai in der Erde. Imago um den 10. Juni. Mit dem Befall in Zusammenhang schien die dem Gurkenfelde It. Bericht gegebene starke Stallmistgabe zu stehen. Da die Anthomyiden ganz allgemein starke Gerüche lieben, dürfte zur Vorbeuge auch gegen Gurkenfliegenbefall Ver- meiden einer Düngung mit frischem Stallmist geraten erscheinen. — Im Gegensatz zu dem eben genannten tierischen Schädling der Gurke blieb die Blattfleckenkrankheit (der Blattbrand) der Gurken (Üorynespora Melonis) auch im Berichtsjahre auf Gewächshäuser beschränkt (Kreis Görlitz). Von Schädigungen größeren Umfangs, welche namentlich Gemüse- (und Obst-) Kulturen durch Abgase industrieller Werke im Berichts- jahre erlitten, sind nur die bereits seit einer Reihe von Jahren beobachteten Beschädigungen der Umgegend von Ratibor bekannt geworden. Die in diesen Fällen in die Atmosphäre abgeleiteten giftigen Dämpfe sind Teer- destillationsprodukte, besonders Karbolsäure. 6. Obstgehölze einschl. Weinstock. Auch die Obstgehölze hatten unter mannigfachen Krankheitserregern zu leiden, von denen die einen bald hier, bald da als häufiger in den Vordergrund traten. So wurde festgestellt der Schorf (Fusicladium) an Apfel und Birne für die Kreise Lublinitz, Ohlau, Steinau; Monilia- fäule an Aprikosen (Kreis Landeshut), die mit Schorf noch öfter verwechselte Pockenkrankheit der Birnblätter (Eriophyes piri) an Material aus den Kreisen Breslau, Frankenstein, Glogau. Birn- und Apfelsauger (Psylla) richteten in den Kreisen Frankenstein, Pleß, Striegau Schaden an, die Apfeltriebmotte (Blastodacna putri- pennella) in den Kreisen Frankenstein, Tarnowitz, Coleophora- und Lyonetiaräupchen in den Kreisen Frankenstein, Oels. Frost- 12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. spanner- (Cheimatobia brumata-) Raupenschaden wurde bekannt aus den Kreisen Breslau, Frankenstein, Neustadt, Oels; von Interesse hervorzuheben ist ferner das Absterben eines Apfelbaumes im Kreise Grünberginfolge Hydnum Schiedermayeri. Kommaschildlaus (Mytilaspis pomorum) ist aus dem Frankensteiner Kreise zu erwähnen, Sphaerella sentina auf Birnen aus dem Kreise Pleß, Birnenrost (Gymnosporangium Sabinae) aus dem Kreise Lüben. Stachel- und Johannisbeeren litten unter Spinnmilben (Tetranychus) in den Kreisen Glogau und Schweidnitz, unter Stachelbeermilbenbefall (Bryobia ribis) im Kreise Görlitz, im Kreis Breslau auch hie und da unter Polyporus Ribis. Stachelbeerblattwespe (Nematus) kam als Schädiger aus dem Kreise Neurode zur Kenntnis der Station; Erdbeeren litten im Kreise Bunzlau besonders unter Tausendfüßerfraß, im Kreise Reichen- bach unter Befall mit echtem Mehltau. Echter Mehltau (Äscherig) des Weinstocks, Oidium Tuckeri, wurde aus den Kreisen Breslau, Ratibor, Wohlau, falscher Mehltau (Plasmopara viticola) aus den Bezirken Grünberg, Liegnitz, Neiße eingesandt. Speziell im Kreise Grünberg zeigte sich der falsche Mehltau Mitte Juni an den Blättern. Die Krankheit machte auch bis Ende Juli Fortschritte, ging aber im August wieder zurück und verschwand im Herbst ganz. Ein Schaden war nur in schlecht gepflegten Gärten eingetreten. Vom echten Mehltau und dem roten Brenner zeigten sich dort nur vereinzelte Spuren. Der Heu- wurm konnte an den Gescheinen infolge der so rasch und glatt ver- laufenden Blüte keinen großen Schaden machen und sich nicht stark vermehren. Dadurch war auch der sog. Sauerwurmschaden unbe- deutend. Springwurm sowie die Rebenschildlaus fanden sich nur ganz vereinzelt vor. Einer weit ausgedehnten Verbreitung schien sich wieder die Blutlaus (Schizoneura lanigera) zu erfreuen. Anfragen betreffs ihrer Bekämpfung gingen aus den Kreisen Breslau, Brieg, Jauer, Kreuzburg, Leobschütz, Liegnitz,Militsch-Trachenberg, Neiße, Neumarkt, Oels, Ohlau, Ratibor, Sagan, Tost-Gleiwitz ein. Auch Blattlausbefall wurde an Apfel- (Kreise Frankenstein, Lüben, Münsterberg, Steinau, Striegau, Trebnitz), Birn- (Kreise Hindenburg, Pleß), Pflaumen- (Kreise Glogau, Löwenberg, Neu- rode) und Pfirsichbäumen (Kreis Hindenburg) vielfach festgestellt. Überall in der Provinz verbreitet war wieder der Stachelbeermehltau {Sphaerotheca mors wvae), der aus den Kreisen Bolkenhain, Bunzlau, Fr .nkenstein, Glogau, Görlitz, Hirschberg, Lublinitz, Lüben, Münsterberg, Nams au, Neumarkt und Tarnowitz zur Ein- sendung kam. Nach dem Urteil eines namhaften Praktikers schwindet gleichwohl der lästige Schmarotzer selbst nach starkem Auftreten bei Verwendung von „Uva‘‘, einer Eisenoxydulverbindung, und auch der Schwefelkalkbrühe. II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 13: Auch ständiges Abschneiden und Verbrennen der pilzigen Spitzen im Winter und Sommer bezwingt ihn. — Nur vereinzelt wurde Apfelmehl- tau (Oidium farinosum) als Schädling von Bedeutung vorgelegt. Wie die Feldmaus im Landwirtschaftsbetriebe, so vermehrte sich die Wühlmaus (Arvicola amphibius v. terrestris), wenn auch lange nicht in dem epidemischen: Maß wie jene, in Gartenbetrieben (Kreise Cosel, Hirschberg, Neumarkt, Pleß). Auch unter Kaninchen- (Kreise Oppeln, Trebnitz) und Hasenfraß (Kreis Brieg) hatten stellenweise Spalier- und Zwergobst- anlagen stark zu leiden. 7. Forstgehölze. Die Mehrzahl der beobachteten Krankheitsiälle beschränkte sich auf Gallenbildungen, von denen die durch das häufigere Auftreten der Eschen- wolllaus (Pemphigus) hervorgerufenen Blattnester an Eschenzweigen im Berichtsjahre besonders auffielen (Kreise Breslau, Guhrau, Neiße, Rybnik, Tarnowitz). Von pflanzlichen Schädigern ist erwähnenswert. Coleosporium senecionis (Kreis Wohlau) an Kiefern, von tierischen ein Massenauftreten vonBlattkäferlarven(Phyllodecta vitellinae und Chrysomela melasoma) in den Rieselfelder-Weidenanlagen von Oswitz und Ransern bei Breslau. Festgestellt wurden ferner Spinnmilben an Linde aus. dem Kreise Frankenstein, sStenopsocus stigmaticus -Eigelege auf den Unterseiten von Spitzahornblättern aus dem Kreise Frankenstein,. Eariasfraß an Weide aus dem Liegnitzer Bezirk, Flußsäure- ätzung an Fichte aus der Gegend um Glatz u.a. m. 8. Zierpflanzen. Von Rosenschädigern wurden festgestellt Blattläuse (Kreis Münsterberg), Strahlenpilz (Actinonema KRosae) in der Landes- huter Gegend, Blattfraß durch Eriocampoides aethiops (Kreise Neu- markt und Trebnitz). An Rhododendron schädlich trat Pestalozzia Guepini im Kreise Falkenberg auf, an Oleander verschiedentlich Aspidiotus hederae. Schaden von mehreren hundert Mark richtete in Primula obconica-Kulturen einer Breslauer Gärtnerei wiederum die Larve des Rüsselkäfers Otiorrhynchus sulcatus an. 3. Sitzung am 18. November. Herr F. Spribille macht Einige Angaben über die Brombeeren des Rummelsberges bei Strehlen. Der Rummelsberg (393 m) ist die höchste "Srhebung der Gebirgs-- gruppe, die sich als einer der östlichen Ausläufer des Eulengebirges im. Süden der Stadt Strehlen zwischen der Ohle im Westen und dem Kryhn-- wasser im Osten in einer Ausdehnung von 1!/, M. hinzieht. Er besteht. vor allem aus Gneis. An seinem Fuße bei Crummendorf befindet sich ein. 14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Lager des sonst nirgends vorkommenden Dattel- oder Mandelquarzes. Der Berg ist bis zum Gipfel bewaldet. Die Pflanzendecke der Strehlener Berge scheint schon früh untersucht worden zu sein. Schon im Jahre 1600 erwähnt Caspar Schwenckfelt (Catal. Stirp. foss. Siles. I 60) den freilich bisher noch nicht enträtselten Daucus montanus Boiemicus!), der apud Poidebradum in monticulo-amoe- nissimo?) gefunden worden ist und in dem Krocker (Flor. Siles. I p. 420) ‚Seseli Libanotis vermutet, das er ebenfalls bei Podiebrad gefunden haben will. Diese Vermutung wird aber durch Beisetzung eines Fragezeichens als unsicher bezeichnet. Sichere Nachrichten über die Flora des Rummels- berges finden wir erst in der 1824 erschienenen Enum. stirp. phaner. in Siles. sponte proven. von Günther, Grabowski und Wimmer, die schon eine ganze Anzahl Pflanzen vom Rummelsberge anführt; darunter findet sich aber keine Brombeere. Zwar wird der Rubus saxatilis, die Steinbeere, von Strehlen erwähnt, und es ist möglich, daß unter Strehlen der Rummelsberg zu verstehen ist, aber sicher ist das nicht. Erst in der Flora Silesiae von Wimmer und Grabowski vom Jahre 1829 wird für R. saxatilis ausdrücklich der Rummelsberg als Standort genannt, es ist aber auch die einzige Brombeere, die sie von dort erwähnen. Auch die beiden ersten Bearbeitungen der Wimmerschen Flora von Schlesien (1832, 1840, 2. Ausgabe 1844) führen nur R. saxatilis vom Rummelsberge an. Merkwürdigerweise besitzt das Herbarium silesiacum keinen Belag für diesen Fund, und ich selbst erinnere mich wenigstens nicht, der Art dort begegnet zu sein. Wahrscheinlich war das fragliche Exemplar des Uechtritz- schen Herbars bereits von Insekten vernichtet, als ein Teil dieses Herbars dem Herbarium silesiacum einverleibt wurde. Obwohl Sadebeck 1847 in einer Mitteilung über die Vegetation des Rummelsberges und 1850 auch in seiner Monographie der Strehlener Berge neben R. saxatilis auch den R. Bellardii vom Rummelsberge angibt, er- wähnt Wimmer in der 1857 herausgegebenen dritten Bearbeitung seiner Flora von Schlesien diesen Standort für R. Bellardii nicht, dagegen nennt er außer R. saxitilis den Rubus nemorosus Hayne var. montanus von unserem Berge und bezeichnet als Entdecker dieses Standortes Sadebeck. Es kann wohl kein Zweifel darüber obwalten, daß damit Moritz Sadebeck gemeint ist, und doch erwähnt dieser selbst den Fund weder in seiner Mitteilung noch in der Monographie. Merkwürdig ist es auch, daß Wimmer gerade die seltenste der 6 dort vorkommenden Formen, die zu R. montanus hätten können gezogen werden, von Sadebeck erhalten hat?). 1) Vgl. Schube, Zur Geschichte der schlesischen Florenerforschung bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts, S. 4. 2) Damit dürfte der Ziegenberg gemeint sein, der Podiebrad zunächst liegt. 8) Vgl. meinen Aufsatz über Rubus orthacanthus Wimmer etc. in den Alt- handlungen des Bot..Ver. der Prov. Brndb., 55. Jahrg. (1913). S. 144. Il. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 15 Daß Wimmer die überall in Schlesien vorkommenden Formen Rubus idaeus, plicatus, suberectus, villicaulis, caesius und dumetorum vom Rummels- berge nicht erwähnt, kann nicht auffallen. Gewiß sind diese dort von ihm oder seinen Mitarbeitern beobachtet worden, und so darf man annehmen, daß im Jahre 1857 im ganzen 9 Brombeerarten vom Rummelsberge be- kannt waren. Die Exkursionsflora von Schlesien, die erst nach dem Tode Wimmers (1868) veröffentlicht worden ist, geht über die Wimmerschen Angaben nicht hinaus, und das Gleiche gilt von Fieks Flora (1881). In den letzten Jahrzehnten haben mehrere schlesische Floristen den Brombeeren ganz besondere Beachtung geschenkt, und so ist es gekommen, daß auch die Zahl der vom Rummelsberge bekannten Brombeeren erheblich gewachsen ist. Schon Schubes Flora von Schlesien (1904) erwähnt zwei weitere Formen von dort, nämlich R. amygdalanthoides!) und R. chaerophylloides, und seitdem sind nicht weniger als 23 Formen hinzugekommen, nämlich: Rubus sulcatus Vest, thyrsoideus Wimm. Sbsp. R. candicans Wh., rhom- bifolius Wh. var. pyramidiformis Sprib., Wimmeri Wh. (non Koehl. nec Sprib.), oboranus Sprib.?), Schummebiü Wh., Radula Wh., Koehleri W.N., apricus Wimm., pribornicus Sprib. nebst f. umbrosus, rummelimontanus Sprib., Guentheri W.N.??), dollnensis Sprib., Sadebeckü Sprib.*), orthacanthus F.t), habendorfensis Sprib., Paxianus Sprib., polycarpiformis Sprib.*), oreogeton F. var. erystallimontanus Sprib., commixtus Frd. u. Gel., Wahlbergüi Arrh.?), multispinus Sprib. ad int., ciliatus Lindeb. Wir kennen also gegenwärtig 34 Brombeerformen vom Rummelsberge. Die seit 1904 von dort bekannt gewordenen Formen hat Schube bis auf einige wenige in den Ergebnissen der Durchforschung der schlesischen Gefäßpflanzenwelt mitgeteilt, die letzteren sollen heute beschrieben werden. Vorher aber noch einige Worte über die Verbreitung der Formen auf dem Rummelsberge und eine längere Bemerkung über den Rubus Wimmeri Wh. Auf den Rummelsberg beschränkt sich nach meiner gegenwärtigen Kenntnis das Vorkommen von R. pribornicus, Sadebeckii, oreogeton v. 1) Diese Form ist dort meiner Bestimmung gemäß zu R. amygdalanthus F. gestellt, sie wurde aber später von mir als verschieden von dieser Art erkannt und im J. 1907 in den Abhandlungen des Bot. Vr. d. Prov. Brandb. 49. Jhrg. S. 191 als neue Art beschrieben. Sudre stellt sie in seiner Monogr. Rub. Eur. p. 44 als Microgenus zu R. silesiacus Wh. 2) Nach Sudre in Mon.R.E.p. 126 R. hebecaulis Sud. subsp. R. podophylloides Sud. var. oboranus (Sprib.) Sudre. 3) Diese Deutung der Form ist unsicher, wahrscheinlich nur R. hirtus W.K. 4) Vgl. meinen Aufsatz über orthacanthus Wimin. etc. in den Abhandl. des Bot. Vr. d. Pr. Brndb. 55. Jhrg. (1913). Der R. orthacanthus ist auf dem Rummels- berge erst 1915 von Schalow beobachtet worden. 5) Eine Form mit schwachen Stacheln, f. debilispinus. 16 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. crystallimontanus, habendorfensis und Paxianus; die übrigen Formen kommen auch an anderen Orten Schlesiens vor. Von einer dieser letzteren, nämlich von Rubus Schummelü, findet sich auf dem Rummelsberge nur ein einziger Busch, während sie an manchem ihrer sonstigen Standorte, wie an ihrem ersten und lange Zeit einzigen Standorte im Walde zwischen Oberglauche und Skarsine, oder im Walde zwischen Namslau uud Windisch-Marchwitz, in großer Menge auftritt. Dieser Strauch wächst an dem Wege, der sich in der Nähe der Sammel- birke vom Strehlen—Pogarther Wege abzweigt und über den Rummelsberg nach Habendorf führt. Nur etwa zwei Büsche sind von R. Sadebeckii auf dem Rummelsberge beobachtet worden, und zwar an dem Wege, der vom Gipfel des Berges nach Crummendorf führt. An diesem Wege finden sich auch die auf dem Berge ziemlich seltenen Formen Rubus Wahlbergii, commixtus und ciliatus. R. chaerophylloides steht an beiden Seiten des Habendorfer Weges nicht gerade weit von dem Strehlener Wege, und zwar überaus reichlich. Er ist auch außerhalb unseres Gebietes am Waldrande an der Chaussee zwischen Geppersdorf und Pogarth beobachtet worden. R. amygdalanthoides findet sich öfter an dem Habenderfer Wege, selten dagegen an dem Crummendorfer. Rubus oboranus ist auf dem Berge bisher nur an zwei Stellen bemerkt worden, nämlich am Pogarth-Strehlener Wege gegenüber der Sammelbirke und am Crummendorfer Wege, an beiden Stellen reichlich. Er ist in Mittelschlesien bisher nur hier gefunden worden, während er in Oberschlesien ziemlich häufig vorkommt. Die häufigsten Formen des Rummelsberges sind R. dollnensis und R. poly- carpiformis, die übrigen kommen dort, soweit nicht in der Beschreibung etwas anderes angegeben wird, mehr oder minder zerstreut vor. Was man bei uns Rubus macrophyllus W.N. zu nennen pflegt, stellt nicht die Pflanze dar, die Weihe und Nees 1825 in ihren Rubi germaniei mit diesem Namen belegt haben, sondern diejenige, die Weihe 1829 in Wimmer und Grabowski Flor. Siles. II Vol. I p. (53) als R. Wimmeri beschrieben hat und die identisch ist mit der Brombeere, die Godron 1843 in seiner „Monographie des Rubus qui croissent naturellement aux environs de Nancy‘ als var. 8 glandulosus Godr. zu R. vulgaris W.N. ge- stellt, 1848 aber in der Flore de France als eigene Art unter dem Namen R. piletostachys beschrieben hat. Godron hielt seinen R. piletostachys für spezifisch verschieden von R. macrophyllus W. N. ex p., wenn er ihn auch mit R. silvaticus verwechselt hat!). Auch Müller?) und Genevier?) unterschieden die beiden Formen als Arten. Boulay*) unterscheidet die 1) Focke, Spec. Rub. III und Sudre Monogr. Rub. Eur. unter R. macro- phyllus W.N., Müller, Flora 1858 S. 194. 2) Vgl. Flora 1858 S. 184 u. 138 sowie Pollichia 1859 S. 112. °) Vgl. Essai monographique p. 165. 4) Rouy et Camus Flore de France VI p, 49. I. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 17 Formen, aber nicht als Arten, sondern als gleichberechtigte Abänderungen des Rubus macrophyllus W.N. Auch Focke und Sudre hielten die beiden Formen auseinander, Focke in seiner Synopsis Ruborum Germaniae, wo er freilich den R. Wimmeri zum Typus zieht, aber den R, peletostachys davon trennt, und gewissermaßen auch noch bei Asch. u. Gr., Sudre dagegen in seinen Schriften vor 1907, in der letzten Zeit aber sind beide anderen Sinnes geworden. Während Focke den R. piletostachys noch 1902 bei Asch. u. Grb. Syn. VI S. 522 als eine der beschriebenen Formen des R. macrophyllus für erwähnenswert hält, sagt er 1914 in seinen Species Rubrum Ill p. 396: ‚Huius speciei formas glanduliferas olim Godronis nomine: R. piletostachys salutavi. Sed illo signo levissimo neglecto planta autoris gallici nullo modo a R. macrophylio guestphalico differt, varietas igitur non est,“ Gegen diese Ansicht Fockes ließe sich nichts einwenden, wenn sich die Hauptform wirklich nur durch das Fehlen der Stieldrüsen von R. Wimmeri Wh. (= R. pilelostachys Godr.) unterschiede. Das ist aber nicht der Fall; denn ihr Schößling ist viel dünner behaart, ihre Stacheln sind zahlreicher und nicht gerade, sondern etwas gebogen, ihre End- blättchen sind länger und allmählicher gespitzt -und am Grunde meist tiefer ausgerandet, die Unterseite ihrer Blättchen zeigt eine andere Behaarung, indem sie mit einem dünnen Filz bekleidet ist, der sich an sonnigen Standorten weiß färbt, und die Blüten sind nicht rosa, sondern weiß. Noch merkwürdiger verfährt Sudre mit diesen beiden Formen. Er gibt den Unterschied zwischen R. macrophyllus W.N. und R. Wimmeri Wh. — R. piletostachys zu, indem er in der Begleitschrift zu seiner Batotheca p. 73 von der ersteren sagt: Les aiguillons du rameau sont en eflet plus forts que d’habitude, et la plante est un peu discolore, und er findet auch die Beschreibung der Rubi germanici zutreffend, aber er macht den R, püetostachys Godr.!) unter dem Namen R. macrophyllus W.N. zum Typus und den typischen R. macrophyllus W. N. unter dem von Müller ganz ohne Not geänderten Namen megaphyllus?) zu einer Varietät seines neuen R. macrophyllus. Dieses Verfahren halte ich nur insofern nicht für zu- lässig, als der R. piletostachys zum Typus gemacht wird, was er doch nun einmal nicht ist. Wenn er unter seinem eigenen Namen zur Hauptform erhoben würde, weil er viel verbreiteter ist als der Typus, und der Typus ebenfalls unter seinem ursprünglichen Namen ihm als Varietät unter- geordnet, so könnte man kaum etwas dagegen einwenden. Warum Sudre den Typus nicht als solchen anerkennen will, ist mir nicht recht ver- ständlich. Die Gründe, die er dafür angibt, scheinen mir nicht stichhaltig zu sein, 1) Es kann wohl sein, daß bei Minden auch der R. püetostachys vorkommt, ich selbst habe dort nur die typische Form, und zwar auch an feuchteren Stellen, beobachtet. 2) Vgl. Flora 1859 S.72. 1915. 2 18 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Culiur. Wenn Sudre den Rubus quadicus Sabransky, der von Focke bei Asch. u. Grb. Syn. VI als Subspecies und in seinen Species Ro». III als Varietät von R. macrophyllus W. N. aufgeführt wird, mit R. piletostachys vereinigt, so ist er wahrscheinlich im Recht, dagegen dürfte er sich im Irrtum befinden, wenn er den von Halacsy in Österreichische Brombeeren S. 236 beschriebenen R. macrophyllus als R. piletostachys anspricht. Diese Brom- beere scheint mir nach der Beschreibung nichts anderes zu sein als mein R.Wimmerianus, den Sudre in seiner Monographie meines Erachtens mit Unrecht als Kleinari zu R. rhombifolius Wh. stellt. Die Pflanze wird schon 1329 von Wimmer und Grabowski in der Flora Silesiae Pars II Vol. I p. (28) als R. villicaulis Koehl. a) viridis &) minor aus dem Teschnischen erwähnt. Ich habe diese Form sowohl aus dem Teschnischen wie auch aus Mähren (Brünn) als Rubus macrophyllus erhalten, im Tesch- nischen, wo sie sehr verbreitet ist, habe ich sie auch selbst gesammelt. Die Pflanze ist auch in Oberschlesien nicht selten. Dadurch, daß man in Österreich diese Form irrtümlich für R. macrophyllus hielt, wurde wohl Sabransky veranlaßt, den echten R. macrephyllus — Rubus quadicus zu benennen. Was die Auffassung der beiden Formen anlangt, so kann man sie nach meiner Änsicht mit Weihe, Godron, Müller und Genervier als selb- ständige Arten ansehen, oder ähnlich wie Boulay unter dem Namen R. mocrophyllus zusammenfassen und als Unterarten oder Abänderungen @) typieus, 8) Wimmeri — piletostachys unterscheiden, oder auch nach dem Beispiele Sudres den Rubus Wimmeri zur Hauptform und den AR. macrophyllus zu deren Varietät machen. Ich selbst ziehe die erste Auf- fassung der beiden Formen vor und nenne die schlesische Pflanze Rubus Wimmeri Wh. (non Koehl. nee Sprib.) = R. pileiostachys Godron — R. quadicus Sabr. (2) Das kann man umso eher tun, als die typische Form in Schlesien nicht vorkommt, Rubus pribornicus m. ad int. Schößling niedrigbogig, mittelstark, stumpfkantig, an der Sonne hellbraun, sehr wenig behaart, mit ziemlich zahlreichen kleinen, am Grunde verbreiterten, rückwärts geneigten, zum Teil sichelförmigen Stacheln und dazwischen mit mehr oder minder zahlreichen Nadeln und meist nur zerstreuten Stieldrüsen besetzt. Neben- blätter lineal. Blätter meist 3zählig, zum Teil 4#- und 5zählig. Blait- stiel nur im oberen Teile und nur seicht rinnig, gleich den Blätichen- stielen ähnlich wie der Schößling bekleidet und bewehrt, aber stärker behaart, und auch durchweg mit zahlreichen Nadeln und Stieldrüsen be- standen, Blätichen oberseits ziemlich reichlich mit anliegenden schimmernden Haaren bedeckt, unterseits kurz, dicht, fast sammetartig behaart. End- blättchen elliptisch bis verkehrt-eiförmig, lang und breit gespitzt, am Rande im unteren Teile einfach, weiterhin grob doppelt gesägt, seicht gebuchtet, am Grunde ausgerandet. — Blütenzweig ähnlich wie der Schößling be- Ir Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 19 kleidet und bewehrt, aber die sehr kurze Behaarung ist dichter, am dichtesten im Blütenstande, wo sie in Filz übergeht. Blätter 3zählig, Endblättchen etwa ebenso beschaffen wie das der Schößlingsblätter. Blüten- stand mäßig lang, nach oben etwas verschmälert. Ästchen aufrecht ab- stehend, teils in den Achseln der oberen Blätter entspringend, teils von Deckblättern gestützt, die unteren 3- bis 7blütig, die mittleren 3- und 2blütig, die oberen 2- und 1blütig. Kelch außen grünlichgrau mit vielen Stieldrüsen und einzelnen Nadeln besetzt, an der Blüte zurückgeschlagen, an der Frucht teils ebenfalls zurückgeschlagen, teils abstehend. Kron- blätter verkehrt-eiförmig-weiß, Staubgefäße länger als die Griffel. Frucht- knoten dicht behaart. Frucht schwarz. Blüht im Juli. Bisher nur auf dem Rummelsberge beobachtet an verschiedenen Stellen. Die forma umbrosus ist in allen Teilen erheblich schwächer und dadurch so verändert, daß man eine andere Art vor sich zu haben glaubt. Rubus rummelimontanus m. ad int. Schößling niedrigbogig, höchstens mittelstark, rundlich oder stumpfkantig, an der Sonne dunkelbraun, dicht kurz abstehend behaart, mit ziemlich zahlreichen ungleichen aber kurzen, dünnen, rückwärts geneigten Stacheln und mit ebenfalls ungleichen aber kurzen, die Behaarung nur wenig oder ger nicht überragenden Nadeln und Stieldrüsen besetzt. Blätter meist 5zählig. Nebenblätter lineal. Blattstiel seicht gefurcht, gleich den Blättchenstielen ähnlich bekleidet wie der Schöß- ling, nur sind die feinen Stacheln etwas zahlreicher und länger. Blättchen alle lang gestielt, oberseits reichlich mit angedrückten schimmernden Haaren bedeckt, unterseits auf den Adern dicht mit gleichen Haaren be- setzt. Endblättchen verkehrt-eiförmig, ziemlich plötzlich und ziemlich lang gespitzt, am Rande im unteren Teile einfach, im oberen doppelt gesägt. Zähne mit aufgesetzten Spitzchen. Am Grunde ist das Endblättchen aus- gerandet. Blütenzweig ähnlich bekleidet wie der Schößling, doch dürften ım Blütenstande Nadeln und Stieldrüsen die Behaarung meist überragen. Blätter 3zählig, die Blättchen wie die der Schößlingsblätter geformt, be- haart und gesägt, aber am Grunde nicht ausgerandet. Blütenstand meist mäßig entwickelt. Ästchen aufrecht-abstehend, die drei unteren aus den obersten Blattwinkeln entspringend, die übrigen von schmalen dreispaltigen Deckblättern gestützt, die unteren 3—5blütig, die mittleren 3- und 2blütig die obersten lblütig. Nicht selten ist der Blütenstand kräftig entwickelt, dann pflegt er lang zu sein und die oberen Ästchen sind alle 3- oder 2blütig. Blüten ziemlich groß. Kelchzipfel außen grünlichgraufilzig‘, mit kurzen Stiel- drüsen und Nadeln bestanden, an der Blüte zurückgeschlagen, später aufrecht. Kronblätter weiß, länglich verkehrt-eiförmig. Staubgefäße länger als die Grifiel. Fruchtknoten dicht behaart. Frucht mittelgroß, schwarz. Blüht im Juli. Auf dem Rummelsberge an vielen Stellen; ferner in den Wäldern zwischen Dobrischau und Heinzendorf und zwischen Dobrischau und Pol- nisch-Neudorf im Kreise Münsterberg. 9* 20 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Culiur. Die beiden ersten Formen gehören zu den Glandulosi Müll. und werden wohl zu R. serpens zu stellen sein; ich habe sie indes bisher nur an den angegebenen Stellen beobachtet und sie scheinen mir so charakteristisch, daß ich sie für wert hielt, wern auch nur ad interim, mit eigenen Namen belegt zu werden. Die drei folgenden gehören zu den Corylifolii F. Rubus habendorfensis m. ad int. (Series Sub-Glandulosi F.) Schößling niedrigbogig und niederliegend, mittelstark, kantig, an der Sonne hellbraun, dicht mit abstehenden Haaren bedeckt. Stacheln ziemlich zahlreich, kurz, ziemlich dünn, am Grunde wenig verbreitert, wenig rückwärts geneigt. Dazwischen siehen zahlreiche ungleiche Stieldrüsen, Nadeln und Borsten. Blätter meist 5zählig, aber auch 3- und 4zählig. Nebenblätter lanzettlich. Blatt- und Blättchenstiele wie der Schößling bekleidet und bewehrt. Blättehen ober- seits reichlich anliegend behaart, unterseits mit dichter, fast sammet- artiger Behaarung versehen. Äußere Seitenblättchen meist kurz gestielt:. Endblättchen eiförmig, am Rande scharf, fast eingeschnitten doppelt gesägt, am Grunde meist tief ausgerandet. Blütenzweig etwas hin- und hergebogen, ähnlich wie der Schößling bekleidet und bewehrt. Die dünnen Stacheln besonders im Blütenstande zahlreich und hier auch länger als weiter unten. Blätter 3zählig. Blättchen wie die der Schöß- lingsblätter behaart, die Endblättchen sind aber mehr elliptisch und am Grunde wenig oder gar nicht ausgerandet. Blütenstand meist kurz. Äst- chen kurz, mehr abstehend als aufrecht, 3, 2 und 1blütig. Kelchzipfel außen graufilzig, mit zahlreichen Nadeln und Stieldrüsen bestanden. Kron- blätter breit eiförmig, kurz genagelt. Staubgefäße länger als die grünlichen Griffel. Fruchtknoten kahl. Frucht ziemlich groß, schwarz. Blüht im Juni. Bisher nur auf dem Rummelsberge an 3 Stellen, von denen 2 an dem Habendorfer Wege liegen, die dritte aber an der Verbindung des Habendorfer und des Crummendorfer Weges. Die Form kommt dem R. orthacanthus F. am nächsten, unterscheidet sich aber davon durch die stärkere Behaarung des Schößlings, des Blüten- zweiges und der Blättchen und durch die eiförmigen, kurz genagelten Kronblätter. Rubus Paxianus m. ad int, (Series Sub-Glandulosi F.) Schößling nieder- liegend, ziemlich schwach, rundlich, dicht abstehend behaart und mit un- gleichen und verschieden schwachen, etwas rückwärts geneigten, braunen Stackeln, Stacheldrüsen, Nadeln und zahlreichen, ebenfalls braunen, zarten, meist die Behaarung nicht überragenden Stieldrüsen besetzt. Blätter 3zählig mit gespaltenen Seitenblättchen, viel seltener vollkommen 5zählig mit sitzenden äußeren Seitenblättchen. Nebenblätter lineal oder lineal-lanzettlich. Blatt- und Blättchenstiele ähnlich bekleidet wie der Schößling. Blättchen oberseits reichlich anliegend, unterseits mehr oder weniger dicht weich behaart. Endblättchen eiförmig, rhombisch bis verkehrt-eiförmig, allmählich gespitzt, am Rande doppelt, zum Teil etwas eingeschnitten gesägt, am Grunde II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 91 schwach ausgerandet oder abgerundet. — Blütenzweig ähnlich bekleidet wie der Schößling, aber die braunen Stacheln und Stieldrüsen sind im Blütenstande verlängert, die Behaarung ist dort dagegen kürzer, fast filzig. Blätter außer den 2 bis 3 obersten 3zählig, wie die der Schößlings- blätter behaart, meist rhombisch, aber auch eiförmig, am Rande doppelt fast eingeschnitten gesägt, am Grunde wenig ausgerandet. Blütenstand meist ziemlich lang. Die untersten 3 Ästchen entspringen in den Achseln der Blätter und tragen 3 bis 5 Blüten, die weiteren kürzeren 3 bis 1, Kelchzipfel außen grünlichgraufilzig, mit zahlreichen braunen Stieldrüsen bestanden, an der Blüte wohl zurückgeschlagen, an der Frucht aber auf- recht. Kronblätter mäßig groß, verkehrt eiförmig, weiß. Staubgefäße länger als die Griffel. Frucht schwarz. Blüht im Juni und am Anfang des Juli. An sonnigen Stellen macht diese Form den Eindruck eines Glandulosus, ist aber jedenfalls ein Corylifolier. Bisher nur auf und an dem Rummelsberge, und zwar nicht selten. R. oreogeton F. var. erystallimontanus m. ad int. Schößling nieder- liegend, höchstens mittelstark, stumpfkantig, wenig behaart mit zahlreichen ungleichen pfriemlichen, rückwärts geneigten Stacheln, mit Nadeln und Stieldrüsen besetzt. Blätter 3- und 5zählig. Nebenblätter lanzettlich oder lineal-lanzettlich. Stiele der Blätter und Blättchen wie der Schößling be- kleidet, aber stärker behaart. Blattstiele sehr seicht gefurcht. Blättchen oberseits ziemlich reichlich mit anliegenden schimmernden Haaren bedeckt, unterseits auf den Nerven kurz behaart; äußere Seitenblättchen deutlich gestielt (ob immer?), Endblättchen herz-eiförmig, am Rande ziemlich fein doppelt gesägt. — Blütenzweig wie der Schößling mit Stacheln, Nadeln und Stieldrüsen bekleidet, aber mit graugrünem Filze bedeckt, der desto dichter wird, je höher er hinaufreicht. Blütenstand lang. Die Ästchen aufrecht abstehend, die 3 bis 4 untersten aus den Blattachseln entspringend, die weiteren von Deckblättern gestützt, die jedoch oft alle blattartig ge- staltet sind. Kelchzipfel außen graufilzig, mit vielen Stieldrüsen, feinen Stacheln und Nadeln bestanden. Kronblätter ziemlich groß, verkehrt- eiförmig, weiß. Staubgefäße länger als die grünlichen Griffel. Frucht- knoten behaart. Frucht schwarz. Blüht im Juni und am Anfang des Juli. Bisher mit Sicherheit nur am Wege zum Steinbruch bei Crummendorf, kurz vor dem Steinbruch, mit R. dollnensis vergesellschaftet. Ich habe es für nötig gehalten, die Form ganz zu beschreiben, anstatt nur diejenigen ihrer Merkmale anzugeben, durch die sie sich vom Typus unterscheidet, weil der Typus dieser Art nicht sicher festgestellt ist. Focke wollte nur den Wimmerschen (R. nemorosus Hayne var.) mon- tanus zur Art erheben, und da es schon einen R. montanus Wirtg. gab, so nannte er die Form R. oreogeton. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat Focke keine authentischen Exemplare der Wimmerschen Form ge- sehen. Der R. montanus Wimmer besteht, wie ich in den Abhandlungen 23 Jahresbericht der Schles. Gesellsehaft für vaterl. Cultur. des Bot. Ver. d. Prov. Brandenburg Jahrg. 55 (1913) S. 193 ff auseinander- gesetzt habe, aus zwei ganz verschiedenen Formen. Von diesen kann man nur die ältere als Typus ansehen, die 1830 von Grabowski bei Cudowa in der Grafschaft Glatz gesammelt worden ist. Von dieser ist die vorliegende dadurch verschieden, daß ihr Schößling nicht so dicht mit Stieldrüsen und langen Borsten besetzt ist, daß ihre Endblättchen breiter und kürzer eiförmig, auf der Oberseite der Blättchen nicht kahl sind und wahrschein- lich auch dadurch, daß ihre Fruchtknoten deutliche Behaarung besitzen. Wie Focke in der Synopsis Rub. Germ. S. 404 angibt, hat er seinen R. oreogeton aus Samen gezogen. Diese kann er nur von Schwarzer erhalten haben, den er ebenda S. 5 als vorzüglichen Kenner der schle- sischen Brombeeren erwähnt und dessen reichhaltige Sammlung in Fockes Besitz ist. Bei der Seltenheit der beiden Wimmerschen Formen hat Schwarzer die genauen Standorte aller Wahrscheinlichkeit nach nicht gekannt und Focke deshalb die Samen einer anderen Form gesandt, die er für R. montanus Wimmer ansalı. Im hiesigen Herbarium silesiacum liegen 2 von Schwarzer auf dem Streitberge bei Striegau gesammelte Exemplare einer Form, deren Schößlinge reich an Stacheln, aber arm an Stieldrüsen und deren Blütenstände sehr stachelig sind. Schwarzer nennt sie irrtümlich R. fusco-ater (sec. OÖ. Kuntze) = R. montanus Wimmer (nec Wirtgen) = R. fruticosus X hybridus var. 1. ©. Kuntze!). Als Focke meinen R. polycarpiformis bestimmte, schrieb er mir (24. 9. 95): „Die typischen Formen von Wimmers R. montanus (d. i. mein oreogeton) haben einen sehr stachlichen Blütenstand, doch ist diese Eigentümlichkeit nicht als ein spezifisches Merkmal zu betrachten. Es ist mir nicht zweifelhaft, daß Ihre Pfianze zu der Wimmerschen Art gehört und eine der best- charakterisierten Arten unter den Corylifoliern darstellt.“ K. Friderichsen hat 1901 bei der von ihm vorgenommenen Revision des Herbar.-silesiacum zu dem einen Exemplar bemerkt: ‚Wohl ein anormaler R. oreogeton — polycarpus G. Braun‘‘ und zu dem anderen: „Dem R. oreogeion verwandte oder nur zufällig abweichende Form desselben mit drüsenarmem Turio‘‘?). Als ich diese Exemplare sah, erinnerte ich mich sogleich an die Äußerung Fockes in dem Schreiben vom 24. 9. 95, und seitdem bin ich der Ansicht, daß diese Form den typischen R. oreogeton Focke darstellt. Focke hat allerdings geglaubt, daß er von Schwarzer, einem so erfahrenen Bato- logen und Zeitgenossen Wimmers, Samen des iypischen R. montanus Wimm, erhalten habe. Von der Schwarzerschen Form, dem Typus des Fockeschen R. oreogeton, weicht die vorliegende Form durch schwächeren Wuchs, viel zahlreichere ‘) Vgl. OÖ. Kuntze, Reform deutscher Brombeeren S. 98f. 2) Alsich Friderichsen ein von mir selbst auf dem Streitberge gesammeltes Exemplar dieser Pflanze sandte, wollte er sie nicht als R. oreogeton anerkennen. II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 93 Stieldrüsen des Schößlings, schwächere Bestachelung und längere Stiel- drüsen des Blütenstandes sowie durch behaarte Frucktknoten ab. Rubus multispinus m. ad int. (Series Sub-Silvatiei F.). Schößling meist ziemlich schwach, kantig, auf den Flächen oft gefurcht, kahl, mit zahlreichen fast gleichen, kleinen, rückwärts geneigten Stacheln besetzt. Blätter meist 5 zählig. Nebenblätter lineal-lanzettlich. Stiele der Blätter und Blättchen rinnig, mit kleinen, sichelförmigen Stacheln versehen. DieBlättcehen oberseits schwach behaart, unterseits grünlichgraufilzig. Endblättchen auffallend breit, fast so breit wie lang, eiförmig-rundlich mit kurzer, breiter Spitze, am Rande ziemlich srob doppelt gesägt, am Grunde ziemlich seicht ausgerandet. Auch die inneren Seitenblättchen auffallend breit, rund. — Blütenzweig kurz hehaart, mit vielen kleinen sichelförmigen Stacheln besetzt. Blätter 3zählig, Blätt- chen bezüglich der Behaarung mit denen der Schößlingsblätter überein- stimmend, aber Endblättchen meist kurz verkehrt-eiförmig. Blütenstand meist lang, reichblütig, ziemlich gleich breit. Die Ästchen aufrecht abstehend, wie die Spindel bewehrt. Kelchzipfel außen graufilzig, an der Frucht wohl aufgeriehtet (?). Staubgefäße länger als die grünlichen Griffel. Fruchtknoten kahl. Frucht jedenfalls schwarz. Blüht im Juni. Wächst am Wege von Crummendorf nach dem Rummelsberg. 1915 fand ich dieselbe Form im Walde bei den Kalköfen unweit Geppersdorf. Zum ersten Male beobachtete ich die Form im Schön-Ellguther Walde un- weit des Heidekretschams im Kreise Trebnitz, wo sie in Menge als kleine Schattenform wächst. Anhängen möchte ich noch die Berichtigung einer Angabe, die ich in meiner Mitteilung vom Jahre 1913 gemacht habe. Ich gab dort auf 8. 5 an, daß der R. silesiacus Wh. var. abundiflorus Barber in der schlesischen Oberlausitz früher beobachtet worden sei als in der sächsischen. Dem ist indes nicht so; denn es liegt im Herbar des hiesigen Königl. bot. Museums ein Exemplar dieser Form, das Bulnheim in den Bergen bei Bautzen als R. pubescens gesammelt hat. Der Zettel bietet zwar kein Datum, da aber Bulnheim im März des Jahres 1865 gestorben ist, so kann die Pflanze nicht später als 1864 aufgenommen sein, während das schlesische Exemplar erst 1591 gesammelt worden ist. Noch älter dürfte ein Exemplar dieser Form sein, das in demselben Herbar liegt und schon 1851 von Karl im nördlichen Böhmen als R. carpinifolius Wh. aufgenommen worden ist. Sodann liefert F. Kern Beiträge zur Moosfiora der Salzburger Alpen. Die Salzburger Alpen sind seit alter Zeit bryologisch gut erforscht worden. Sie waren in früherer Zeit geradezu die Domäne des Salzburger Bryologen Sauter, der sicher auch das meiste zur Kenntnis der Moos- welt dieses Gebietes beigetragen hat. Die östlichen Teile, besonders den 34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Lungau, hat der unermüdliche Erforscher der Alpenmoose, Architekt Breidler, durch viele Jahre hindurch genau durchsucht, und viele andere Botaniker haben seit dieser Zeit auch dort gearbeitet. Aber bei genauer Durchsicht der Standortsangaben aus diesem Gebiete in den Moosfloren stellte es sich doch heraus, daß es noch Gegenden gab; die für die Moos- kunde ganz oder fast ganz unbekannt waren. Es waren dies besonders die Gegend um Unken mit ihrem 1700 m hohen Sonntaghorne, ferner die wildzerrissenen Loferer und Leoganger Steinberge, dann der nördlich der Salzach, der eigentlichen Tauernkette gegenüberliegende Gebirgskamm, dessen touristisch bekanntester Teil die weltberühmte Schmittenhöhe ist. Da dieses Jahr infolge des Krieges die Salzburger Alpen zu den wenigen Alpengebieten gehörten, die nicht militärisch gesperrt waren, so beschloß ich, die Lücken in der bryologischen Kenntnis dieses Gebietes soweit wie möglich auszufüllen. Die Gegend von Unken gehört den nörd- lichen Kalkalpen an, und da die Moose ganz von ihrem Untergrunde ab- hängen, so gab es außer den Rindenmoosen nur Kalkmoose. Ferner ist dies auch die Gegend der Klammen, die wohl für das Studium der Phane- rogamen von wenig Interesse sind, die aber gerade für das Leben der Moose, soweit sie nicht gar zu dunkel sind, äußerst günstige Standorte darbieten. Ich besuchte die Schwarzberg-, die Mairberg- und die Seisen- bergklamm. Die großartige Vorderkaserklamm war von der Sektion Passau wegen des voraussichtlich geringen Besuches dieses Jahr nicht zugänglich gemacht worden. In den Klammen findet man starke Anklänge an die Formation des Mooswaldes der tropischen Gebirge. Wegen der beständigen Feuchtigkeit und der geschützten Lage bilden hier ebenfalls viele Moose jene eigentümlichen Hängeformen aus, die der Formation des Mooswaldes eigen sind. Besonders war dies bei Hylocomium loreum und splendens, sowie bei Neckera crispa und Plagiochila der Fall. Die höheren Regionen der Loferer Steinberge waren leider schwer zugänglich, da die in der dortigen Hochalpenregion gelegene Schmidt-Zabirowhütte wegen geringen Besuches geschlossen war. Ich glaube mich darüber trösten zu müssen, denn eine Exkursion in die dortige Hochregion bot für mich nur wenig Bedeutendes. Desto interessanter war ein kolossales Blockchaos auf der Loferer Hochalpe. Solche Blockchaoten, natürlich wenn sie schattig und feucht liegen, gehören zu den besten Moosstandorten. Dort lagen in tiefen Spalten unter den Riesenblöcken noch Lagen von Winterschnee bei nur 800 m Seehöhe, die für die starke Kondensation sowie für Herstellung verschiedener Klimate sorgten. Die Blöcke waren ganz unter fußhohen Moospolstern vergraben und zwischen den häufigeren Kalkmoosen zeigten sich Seltenheiten in üppiger Entwicklung. Eurhynchium eirrosum (Brachy- thecium Funcki) bildete hohe, aufrechte Rasen, die dem Mooskenner, der diese Art nur aus den flachen Decken kennt, wie sie besonders in den Dolomiten wächst, ganz fremd vorkommen. Sehr auffällig waren auch die II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 35 kupferrot glänzenden Prachtrasen von Orthothecium rufescens. Besonders waren aber die Lebermoose entwickelt, die mehr Feuchtigkeit beanspruchen als die Laubmoose. Hier gelang es mir, einen neuen Standort von dem arktischen Odontoschisma Macouni zu entdecken; Lophozia obtusa bildete ausnahmsweise reine Rasen; in besonderer Üppigkeit war aber Anastrepta orcadensis zu finden, welche viele Felsblöcke geradezu überwucherte. — Auf die in meinem Plane liegenden Leoganger Steinberge mußte ich auch verzichten, da die oben liegenden Alpenhütten ebenfalls geschlossen waren. Dafür wurde mir versichert, daß das Riemannhaus auf dem berühmten Steinernen Meere bewirtschaftet sei, und beschloß ich deswegen, mir dieses merkwürdige Gebirge für meine Zwecke näher anzusehen. Das Steinerne Meer gehört zu den ödesten Landstrichen der Welt; es ist eine Wüste von ganz verkarsteten und zerrissenen Kalkfelsen. Keine Spur von Vegetation ist zu sehen; überall nur die sehr rauhen, grauen Felszacken. Erst wenn man in die tiefen Spalten sieht, findet man vereinzelte Phane- “ . rogamen, eine Saxifrage oder eine Aurikel, denen man ansieht, daß ihnen das Leben hier gar schwer gemacht wird. Auf dem Grunde dieser Spalten gibt es auch Moose; aber nur hin und wieder und nur in dürftigen Exemplaren; dabei aber vielfach alpine Seltenheiten. So fand sich hier die schneeliebende Carinataform von Webera gracilis, Olevea hyalina mit Früchten, Timmia norvegica, Alicularia Breidleri; auch das hochalpine Orthothecium chryseum, wenn auch nur in kleinen Räschen. Auch gelang es mir, hier den zweiten Standort von Pseudoleskea illyrica Glow. zu finden; leider war dieses Moos nur in sehr spärlichen Exemplaren vor- handen. Auch der berühmten Schmittenhöhe beschloß ich meine Auf- merksamkeit zuzuwenden. Die Schmittenhöhe ist einer der vielen Gipfel einer Kette, die nördlich der Salzach den Hohen Tauern gegenüber liegt. Auf den Felsgruppen dieser Kette herrschte eine ganz andere Mooswelt als wie an den bisher besuchten Orten. Das Reich des Kalkes ist zu Ende; hier herrscht überall der Glimmerschiefer. Die Schmittenhöhe selbst ist eine breite, grasbewachsene Kuppe; solche Graskämme bieten wenig von Moosen. Aber schon eine kleine Felsgruppe des benachbarten Schrann- kogels war ganz mit Cynodontium gracilescens bewachsen, indem sich Rhabdoweisia fugax var. subdenticulata und die echte Rhab. denticulata ein- genistet hatten, Viel interessanter war aber der westlich liegende Maurer- kogel. Hier gelang es mir, das nordische Mnium Blyttii aufzufinden, das überhaupt aus den Alpen noch nicht bekannt war; außerdem eine neue, hochalpine Form des Hymenostomum tortile. Prachtrasen von Dicra- nodontium circinnatum waren vorhanden, ebenso Scapamia paludicola und Encalypta apophysata. In den Hohen Tauern selbst waren alle höher ge- legenen Unterkunftsorte entweder militärisch gesperrt oder wegen man- gelnden Besuches geschlossen. So konnte ich nur dem 2700 m hohen Schwarzkopf im Fuschertale auf den Leib rücken, vom hochgelegenen 36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Bade Fusch aus. Auch hier brachten es die Umstände, besonders das viele schlechte Wetter mit sich, daß ich nur eine einzige Exkursion nach dem Embachkar unternehmen konnte. Diese brachte allerdings hochinter- essante Ausbeute, Arnellia fennica, ‚eine der größten Seltenheiten Mittel- europas‘‘ (Rbh. Kryp. Fl. VI 503) saß in ziemlicher Menge auf den Glimmer- schieferfelsen und fiel gleich durch ihre blaugrüne Farbe auf. In den feuchten Felsspalten wuchs Didymodon ruber und das für Salzburg neue, zierliche Mnium hymenophylloides. Dieramoweisia compacta fruchtete in üppigster Weise und in den obersten Teilen des Kares deuteten die stick- stoffliebenden Rasen von Dissodon Fröhlichianus und Tetraplodon mnioides die Lagerplätze der Alpenrinder an. — Das Kapruner Tal war ganz ge- sperrt, nur zu der am Anfange gelegenen Thunklamm konnte man wenigstens bis zum Eingange gehen. Die sehr schattigen und feuchten, kalkhaltigen Glimmerschieferfelsen daselbst beherbergten aber hochinter- essante Moose; so z. B. Didymodon alpigenus Vent. in einer Form, bei welcher manche Blätter bis zu 15 Zähne an einer Seite zeigten. Wie mir Herr Loeske in Berlin mitteilte, hat Kaalaas diese Pflanze als be- sondere Art aufgestellt. Neben der seltenen Dieranella Grevilleana wuchs hier in üppigen Rasen Scapania cuspiduligera, zwischen welcher Dr. Müller in Augustenberg, dem ich diese Pflanze vorlegte, noch die neue, seltene Scap. calcicola auffand (in den österreichischen Alpen der zweite Standort). Verzeichnis der von mir 1915 gesammelten Laub- und Leber- moose der Salzburger Alpen. Bem. Da die Laubmoosflora des Gebietes gut bekannt ist, so sind hier die allgemein verbreiteten Arten der Kürze halber meist weg- gelassen worden. Bei den Lebermoosen sind aber alle Funde auf- geführt worden, da die Verbreitung dieser Pflanzen lange nicht so genau bekannt ist als die der Laubmoose, Bryales. Sphagnum auriculatum. Mit $. medium auf den Sumpfwiesen der Schneider- alm am Sonntaghorn, 960 m. Hymenostylium curvirostre. In den Klammen allgemein in der Var. scabrum verbreitet. Es scheint also hier, als ob die ständige Feuchtigkeit die Papillosität sehr befördere. Anoectangium compactum. Schrannbachkogel, östlich der Sehmittenhöhe 1950 m. Hymenstomum tortile, var. alpinum nov. var. (Caespites densissimi; folia rigida, vix tortilia, superne involuta, apice calyptriformia, marginibus semper planis, nunquam spiraliter involutis). Glimmerschieferfelsen des Maurerkogels westlich der Schmittenhöhe, 2020 m. Schon in Il. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 97 [rüheren Jahren habe ich dieselbe Pflanze an folgenden Standorten gefunden: Brentadolomiten, Passo del Grosse, 2450 m; 1913. — Gipfel des Choc in den Liptauer Karpathen, 1700 m; 1885. — Gipfel des Kony in der Hohen Tatra, 1700 m; G. VII. 1885. — Ein steriles Hochgebirgsmoos, was zu keiner Art so recht passen will; es scheint mir doch noch die meiste Verwandtschaft mit dieser Spezies zu haben. Hymenostomum tortile, das bisher als südliche Kalkpflanze galt, lebt in dieser Form nur in der alpinen Region und steigt bis 2450 m. Die oberen Zellen der Blätter sind blaugrün, die unteren ockergelb und die Rippe rot; diese Dreifarbigkeit kommt aber auch bei der südlichen Hauptform vor. Dicranoweisia compacta. Üppig fruchtend mit Scap. helwetica auf Glimmer- schiefer im Embachkar am Schwarzkopf im Fuschertal, 2100 m. Eucladium verticillatum. Triefende Kalkfelsen im Unkentale, 800 m. Rhabdoweisia fugax v. subdenticulata. Glimmerschieferfelsen des Schrann- bachkogels, 1950 m. R. denticulata. Mit voriger, aber scharf abgesondert und an der Kapsel- gestalt sofort erkennbar. Cynodontium gracilescens. Üppig fruchtend in Menge auf den Glimmer- schieferfelsen des Schrannbachkogels östl. der Schmittenhöhe; 1950 m, Dieranella Grevilleana. Feuchte Felsen am Eingang zur Thunklamm im Kapruner Tale, 800 m. Dicranum Starkei. Auf Glimmerschiefer am Maurerkogel westl. der Schmitten- höhe, 2020 m. D. elongatum. Mit voriger auf dem Maurerkogel. Felschaos auf dem Loferer Hochtale; einer der niedrigsten Standorte, nur 800 m. D. viride. Auf Buchen in den Bergwäldern am Hohen Zinken, 1400 m. D. albicans. Schrannbach- und Maurerkogel bei der Schmittenhöhe, bei 2000 m. Campylopus Schwarzü. Ein schwellender Rasen am untersten Felsen der Krimmler Wasserfälle, mit fruchtender Barb. icmadophila; wahr- scheinlich durch die Wasserstürze aus der alpinen Region herab- befördert. Dieranodontium circinnatum. In prachtvollen Rasen auf feuchtem Glimmer- schiefer des Maurerkogels, 1950 m. Seligeria pusilla. Eingang zur Thunklamm, 800 m. In einer durch Pfriemenspitze zu S. acutifolia hinneigenden Form in der Schwarz- bergklamm. S. tristicha. An den feuchten, dunklen Kalkfelsen der Klammen sehr häufig das einzige Moos, Die schwache Humusdecke der feuchten Felsen in den dunklen Teilen der Klammen scheint ausschließlich 28 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. durch die absterbenden Rasen dieser kleinen Pflanze entstanden zu sein. Ditrichum vaginans. Plateau der Schmittenhöhe, 1970 m. Breithorn auf dem Steinernen Meere. — In den höheren Lagen meist steril. D. flexicaule v. densum. Felschaos auf dem Loferer Hochtale, vom Habitus eines Campylopus, 800 m. Distichium capillaceum v. brevifolium. Abhang des Breithorns auf dem Steinernen Meere, 2150 m. Didymodon alpigenus. Feuchte Felsen am Eingang zur Thunklamm im Kapruner Tale, 800 m. Sehr ausgeprägt; bei manchen Blättern das ganze obere Viertel gezähnt, bis 15 Zähne an einer Seite. D. ruber. Feuchte Glimmerschieferfelsen im Embachkar am Schwarzkopf im Fuschertal, 2000 m. D. giganteus. Sehr hohe Rasen an Kalkfelsen im Unkentale bei 800 m, Aufstieg zum Reifhorn der Loferer Steinberge, 1800 m. Tortella tortuosa (mit Zentralstrang — das neu aufgestellte Trichostomum Fleischerv Bauer). Zwischen Didymodon giganteus am Aufstiege zum Reifhorn in den Loferer Steinbergen, 1800 m. Auch Herr Loeske meint (in litt.), daß diese Pflanze in den Formenkreis der T. tortuosa gehöre. Barbula icmadophila, DBreithorn auf dem Steinernen Meere, 2150 m. Auf Glimmerschiefer des Schwarzkopfes, 2000 m. An beiden Orten steril. B. paludosa. Hohe, fruchtende Rasen in der Schwarzbergklamm, 800 m. B. reflexa. In Spalten verkarsteter Felsen auf dem Sonntaghorn, 1700 m. — Kalkfelsen bei Lofer, 600 m. Tortula aciphylla. Sehr häufig nahe der Schneegrenze. — Embachkar des Schwarzkopfes. Breithorn auf dem Steinernen Meere. Sonntaghorn. var. mucronata. Maurerkogel westl. der Schmittenhöhe. Schistidium alpicola. Maurerkogel, 2000 m. Grimmia subsulcata. Mit vorigem, c. fr. G. andreaeoides. Feuchte Kalkfelsen in der Mairbergklamm bei Lofer, 700 m. Nach dem Urteile mehrerer Bryologen ist @. andreaeoides nur eine Kümmerform von Didymodon oder Grimmia torquata. Nach Herrn Loeske, dem besten Kenner unserer Grimmiaceen, ist die fragliche Pflanze aus der Mairbergklamm überhaupt keine Grimmia. Die Klammfelsen schimmern stellenweise ganz goldbraun von diesem kleinen Moose. Zygodon viridissimus. Auf Ahorn am Eingang in die Seisenbergklamm, 700 m. Orthotrichum cupulatum. Auf Kalkfelsen bei Unken. II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 99 Encalypta commutata. Mit Früchten auf Kalkfelsen in der Nähe des Riemannhauses auf dem Steinernen Meere, 2150 m. Auf Glimmer- schiefer des Schwarzkopfes, 2000 m. E. rhabdocarpa var. pihifera. Embachkar am Schwarzkopf, 2200 m. E. apophysata. Auf Felsen des Maurerkogels, c. fr., 2100 m. Dissodon Fröhlichianus. In Menge auf von Rinderurin durchtränktem Humus im höchsten Teile des Embachkars am Schwarzkopf bei 2200 m, Felsritzen am Abhange des Breithorns auf dem Steinernen Meere, 2300 m. Woher hier der zum Leben dieses Mooses nötige Stick- stoffgehalt des Bodens kommt, ist unklar, da in diesem Teile des Steinernen Meeres jedes Tierleben fehlt; auch Haustiere fehlen. Tetraplodon mmioides. Embachkar, in Felsspalten. Anomobryum filiforme c. fr. Krimmler Wasserfälle. Hier schon in alter Zeit von Sauter entdeckt. Merkwürdigerweise wächst das Moos hier auf Zweigen und Stämmen, auf welche der Wasserstaub der Fälle eine dünne Schicht Gletscherschlamm abgesetzt hat. Webera polymorpha var. brrachycarpa. Maurerkogel; auch hier nur auf einseitig beleuchteten Felshängen, W. acuminata. Mit voriger. Die Blätter mit ausgeprägt wurmförmigen Zellen. W. carinata. Breithorn auf dem Steinernen Meere bei 2200 m; auf Erde, wo eben der Firnschnee weggeschmolzen. Nach Herrn Loeske Carinataform von W. gracilis. Bryum archangelicum, e. fr. Ziemlich spärlich auf dem Maurerkogel. B. elegans. An den feuchten Kalkwänden der Mairbergklamm, 700 m. Mnium hornum. Seisenbergklamm, 750 m. Einer der wenigen Standorte in Salzburg. M, Blytti. Dieses bisher nur im hohen Norden und einem Standorte in den schlesischen Gebirgen bekannte Moos habe ich in einem sterilen Rasen von den feuchten Glimmerschieferfelsen des Maurerkogels west- lich der Schmittenhöhe bei 2000 m Seehöhe aufgenommen. Bei den nordischen Exemplaren reichen die schmalen Saumzellen bis auf den Blattgrund, was bei der vorliegenden Pflanze nicht der Fall ist. Dafür stehen bei ihr an den Stellen, wo der wulstige, rötliche Blatt- saum besonders ausgeprägt ist, die Zähne sogar in zwei Reihen. Die Blätter färben sich auch beim Liegen im Wasser dunkel blaugrün. — Neu für das gesamte Alpengebiet. M. undulatum. In den feuchten Klammen in sehr üppiger Entwicklung. M. hymenophylloidess. Auf feuchtem, kalkhaltigem Glimmerschiefer mit Arnellia fennica im Embachkar am Schwarzkopf, 2100 m. — Neu für Salzburg. 30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Philonotis alpicola. Schwarzkopf. Nähe des Riemannhauses auf dem Steinernen Meere, 2200 m. Timmia norvegica. Am Grunde von Felsspalten im Steinernen Meere. T. bavarica c. fr. Auf beschatteten Felsen am Schwarzkopfe. T. austriaca. In einem Felschaos auf dem Loferer Hochtale, 800 m. Neckera crispa. Dieses Moos bildet in den Klammen sehr lange Hänge- formen aus. Myurella julacea. Felschaoten auf dem Loferer Hochtale. Leskea catenulata. Unken, 800 m. — Staubbachfall, 960 m. — Loferer Hochtal, | Die aufgenommenen Pflanzen weichen von der typischen Form ziemlich stark ab. Bei vielen Blättern ist die Spitze völlig gerade, besonders aber ist die Rippe sehr kurz, oft nur angedeutet; solche Pflanzen bilden dann einen Übergang zu L. tectorum. Anomodon longifolius. Auf Buchen in den Bergwäldern am Hohen Zinken, 1400 m. Einer der höchsten Standorte. Lescuraea striata. Maurerkogel, 2100 m. Reifhorn in den Loferer Stein- bergen, 1800 m. An beiden Orten ausnahmsweise auf Felsen, sonst aber typisch ausgebildet. Wohl die höchsten Standorte dieser Art. Ptychodium plicatum. Noch in Felsritzen des Breithorns auf dem Steinernen Meere bei 2300 w. Pseudoleskea illyrica. Sehr spärlich zwischen Hypnum Sauteri auf dem Steinernen Meere. Die Pflanzen stimmen genau überein mit solchen vom Laaser Schneeberge in Krain, welche mir der Autor (Glowacki) freundlich übersandte. Pterigynandr um heteropterum. Schrannkogel, 1914 m. Bei diesen Exem- plaren reicht die Rippe meist über die Blattmitte. Orthothecium rufescens. In der Berg- und Alpenregion an feuchten Kalk- felsen; in besonders großen Prachtrasen im Felsschaos auf dem Loferer Hochtale bei 800 m. In den Klammen in grünen Schattenformen. O. intricatum. Loferer Hochtal. Maurerkogel. Embachkar. Sonntaghorn. Eine grüne Schattenform in der Schwarzbergklamm. O. chryseum. Auf dem Grunde von Felsspalten auf dem Steinernen Meere in der Nähe des Riemannhauses, 2150 m; auch hier nur steril. Homalothecium Philippeanum. Felschaos auf dem Loferer Hochtale. Eurhynchium eirrhosum var. Funckiüi (Brachyth. Funckü). Im Loferer Hoch- tale in sehr hohen, aufrechten Rasen, die zum Teil in die Var. Breidleri übergehen. Breithorn, 2150 m. Maurerkogel, 2020 m. E. piliferum. Merkwürdigerweise auf feuchten Kalkfelsen im Loferer Hoch- tale. Ebenfalls auf Kalkfelsen am Abhange des Reifhorns in den Loferer Steinbergen bei 1900 m. Höchster Standort! II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 31 E. praelongum. DBildet auf den feuchten Kalkfelsen der Klammen sehr zarte, weitgedehnte Schleierrasen. Rhynchostegium murale var. julaceum. Embachkar am Schwarzkopf, 2200 m. In so hohen Lagen erinnern die einzelnen, kriechenden Stengel habituell stark an Seleropodium Ornellanum. Plagiothecium denticulatum var. subundulatum. Loferer Hochtal, 800 m. f. propagulifera. Eingang zur Thunklamm, 800 m. P. pulchellum. Reifhorn, c. ft. — Embachkar am Schwarzkopf. f. propagulifera (am Blattgrunde mit Büscheln von bleichen Brut- körpern). Kalkfelsen des Steinernen Meeres, 2200 m. P. depressum. DBekleidet alle dunklen, feuchten Felsen am Eingange der Höhle des Lamprechtofenloches, 650 m. Amblystegium confervoides. Zwischen Eurhynch. cirrosum Funcki in dem Felschaos auf dem Loferer Hochtal. A. subtile, ec. ff. Am Abhange des Reifhorns, 1900 m. — Höchster Standort. A. serpens var. depauperatum, ec. ff. Am Eingang zur Thunklamm. A. curvicaule. In Klüften auf dem Steinernen Meere bei 2200 m, meist in Formen mit breiten Blättern und dementsprechend kürzeren Zellen. Hypnum pwrpurascens. In einem kleinen Sumpfe am Maurerkogel, 2000 m. H. falcatum. Mit vorigem; einer der höchsten Standorte. H. sulcatum. Im Flußbette des Fischbaches am Sonntaghorn, 950 m, — Unkental bei 800 m. H. irrigatum. An Steinen flutend im Bache auf dem Loferer Hochtale. Gollinger Wasserfall, 550 m. H. fastigiatum. Mit Früchten im Embachkar. H. Sauteri. In der Karstwüste des Steinernen Meeres sehr verbreitet. H,. palustre var. hamulosum. Am Sonntaghorn das ganze Flußbett des Fischbaches auskleidend, 950 m. — Seisenbergklamm. Thunklamm. — Gollinger Wasserfall. H. stramineum. Kleiner Teich auf der Schmittenhöhe, noch bei 1960 m. Hylocomium loreum. In den Klammen in Riesenformen. H. subpinnatum. Unter Farnbüschen an den Hängen des Schwarzkopfes, bei 1800 m. Hepauticue. Clevea hyalina. Glimmerschieferfelsen am Schwarzkopf, 2100 m. — Breit- horn auf dem Steinernen Meere, 2000 m. — Überall ce. fr. Neu für Salzburg. Reboulia hemisphaerica. Glimmerschiefer des Maurerkogels, 2020 m. — Kalkfelsen an der Ramseider Scharte des Steinernen Meeres, 2000 m. Wahrscheinlich neu für Salzburg. 332 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Fegatella conica. Noch am Maurerkogel bei 2020 m. Höchster Stand- ort! Preissia commutata. Mit sehr langen Fruchtträgern (bis 10 cm) an den feuchten Kalkfelsen der Thunklamm im Kapruner Tale. Aneura pinguis. Gollinger Wasserfall. A. multifida. Kriechend zwischen Hapl. sphaerocarpa oberhalb Bad Fusch, 1500 m. — Zwischen Loph. quwinquedentata am Aufstieg nach dem Reifhorn in den Loferer Steinbergen, 1800 m. Höchster Standort! Metzgeria conjugata. Bergwälder am Hohen Zinken, 1400 m. M. pubescens. Mit Scap. aspera in der Mairbergklamm, 700 m. Pellia Fabbroniana. Mit Alic. geoscypha an der Bilinskibrücke im Kapruner Tal, 800 m. Schwarzbergklamm, 8300 m. Gymnomitrium coneinnatum. In Menge auf Glimmerschieferfelsen westl. der Schmittenhöhe, 1950 m. Marsupella commutata. Mit voriger. M. Funckii. Am Mauerkogel, Arnellia fennica. Im ziemlicher Menge auf feuchten Glimmerschieferfelsen im Embachkar des Schwarzkopfes im Fuschertale, bei 2100 m. Höchster Standort des für die Alpen sehr seltnen Mooses. Neu für Salzburg. Alicularia scalaris. Maurerkogel. A. geoscypha. Auf nackter Erde bei der Bilinskibrücke im Kapruner Tale, 800 m. A. Breidleri (teste C. Müller). Mit Anth. Juratzkana auf Erde in den Firnmulden des Steinernen Meeres; 2200 m. Haplozia sphaerocarpa. Glimmerschiefer westl. der Schmittenhöhe. — Bad Fusch. — Gollinger Wasserfall. — Krimmler Fälle. var. nana. Auf Kalkerde am Abhang des Sonntaghornes, 1100 m. var. amplexicaulis. In einem Felschaos auf dem Loferer Hochtale; c. 800 m. H. riparia. Gollinger Wasserfall. — Staubbachfall am Sonntaghorn. — H. lanceolata. Kalkfelsen am Staubbachfall, 960 m. — Schwarzbergklamm. Jamesoniella autumnalis. Bergwälder am Sonntaghorn bei 1200 m. Auf morschem Holze im Unkentale, 800 m. Sphenolobus Michauxü, c. fr. Auf feuchten Kalkfelsen auf dem Loferer Hochtale. S. exsectus. Fußweg oberhalb Bad Fusch, 1800 m. Den Blättern fehlt durchweg der Zahn des Oberlappens und die Zellen stehen in Längs- reihen. Lophozia quinquedentata. Auf Kalkfelsen bei Lofer. L. barbata und L. gracilis. Mit vorigem. L. Floerkü. Glimmerschiefer des Maurerkogels, 2000 m. II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 33 L. obtusa. In reinen Rasen im Felschaos des Loferer Hochtales, 800 m. Kriechend zwischen Hyloc. subpinnatum am Aufstieg zum Schwarzkopf an der obern Waldgrenze. L. Kunzeana. Breithorn auf dem Steinernen Meere, 2300 m. Neu für Salzburg! L. longidens. Auf Rinde am Aufstieg zum Reifhorn in den Loferer Stein- bergen. Neu für Salzburg. L, guttulata. Auf faulem Holze im Unkentale. Neu für Salzburg. L. Wenzelii. Überrieselte Glimmerschieferfelsen westl. der Schmittenhöhe. Blätter mit starken Trigonen. L. Hornschuchiana. Mit Scap. subalpina an den Krimmler Wasserfällen bei 1100 m. Neu für Salzburg. L. hetero colpos. Zwischen Brachyth. Funckii ım Felschaos des Loferer Hochtales.. — Krimmler Wasserfällee. Neu für Salzburg. Anastrepta orcadensis. In kolossalen Rasen Massenvegetation bildend auf feuchten Kalkfelsen des Loferer Hochtales, 800 m. Plagiochila asplenoides var. humilis, Loferer Hochtal. — Schrannbachkogel. Pedinophyllum interruptum. Auf den Felsen der Klammen in Riesenformen. Sehr zwergig aber in den Felsspalten des Steinernen Meeres, 2200 m. Höchster Standort. Leptoscyphus Taylori. Maurerkegel. — Reifhorn, 1800 m. — Im Fels- chaos des Loferer Hochtales in sehr schwammigen Rasen.. Lophocolea heterophylla. Auf faulem Holze im Unkentale, 800 m. Chiloscyphus pallescens. Bergwälder am Hohen Zinken. Cephalozia bicuspidata. Noch auf dem Glimmerschiefer des Maurerkogels bei 2020 m. C. catenulata. Auf moorigen Fußwegen in den Bergwäldern am Hohen Zinken, 1400 m. O. reclusa. C. per. auf altem Holze am Abhange des Schwarzkopfes, 1500 m. Nowellia curvifolia. Auf faulen Baumstämmen in der Mairbergklamm, ebenso in der Schwarzbergklamm. Odontoschisma denudatum. Faule Baumstämme in dunklen Wäldern ober- Unken, 600 m. Alle Stengel tragen ein hellgrünes Gemmenköpfchen. O. Macouni (teste C. Müller). In einem Chaos übereinandergestürzter Kalkblöcke auf dem Loferer Hochtale bei nur 800 m Seehöhe. — Dieses arktisch-alpine Moos wächst dort in kalten Felsspalten, auf deren Grunde im Sommer noch Winterschnee liegt, auf dünnen Humus- schichten, die von den Stolonen ganz durchflochten sind. Zweiter Standort in den österreichischen Alpen. Calypogeia suecica. Auf faulen Baumstämmen in den Bergwäldern am Sonntaghorn, 1200 m. Neu für Salzburg. 1915. 3 34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. C. Neesiana. Am Grunde von Felsen oberhalb Bad Fusch, 1500 m. Pleuroschisma trilobatum. Kalkfelsen im Loferer Hochtale. — Faule Baum- stämme bei Unken. Bergwälder des Sonntaghorns. P. trierenatum. Glimmerschieferfelsen westl. Schmittenhöhe. — Maurerkogel in kleinen Formen mit 1—2zähnigen Blättern. Lepidozia reptans. Auf faulem Holze überall in den Bergwäldern. L. setacea. Auf Felsen westl, Schmittenhöhe. Zwergformen mit kopf- förmigen Stengelenden (wahrsch. durch Nematoden verursacht). L. trichoclados. Felschaos auf dem Loferer Hochtale; hier Sphagnumrasen völlig durehspinnend. Blepharostoma trichophyllum. Noch in dichten Rasen im Embachkar am Sckwarzkopf, 2000 m. Anthelia Juratzkana. In Firnmulden auf dem Steinernen Meere, 2300 m. Embachkar, 2100 m. Piilidium pulcherrimum, e. fr. Auf morschen Zweigen bei Lofer. Trichocolea tomentella. Seisenbersklamm. Hoher Zinken. Diplophyllum albicans. Felsen westl. der Schmittenhöhe; Blätter mit sehr schwachem Mittelstreifen. Krimmler Wasserfälle, D. taxifolium. Glimmerschieferfelsen des Schrannbachkogels, 1950 m. Scapania umbrosa. C. per. auf Fußwegen oberhalb Bad Fusch, 1500 m. Loferer Hochtal. S. helvetica. In Felsspalten im Embachkar, 2100 m. S. irrigua. Sumpfige Stellen am Maurerkogel bei 2100 m. Höchster Standort. . paludicola. Überrieselte Felsen am Maurerkogel. Neu für Salzburg. . subalpina. Feuchte Felsen an den Krimmler Wasserfällen, . cuspiduligera. Sehr reichlich an den feuchten Felsen am Eingange in die Thunklamm im Kapruner Tal; c. 800 m. mn mn S. caleieola (teste C. Müller). Spärlich zwischen den Rasen der vorigen Art. Neu für Salzburg. S. aequiloba. Sehr verbreitet. Maurerkogel. Hoher Zinken. Reifhorn. Leferer Hochtal. S. aspera. Sehr häufig. Sonntaghorn, Mairbergklamm. — Loferer Stein- berge. Hoher Zinken. Embachkar., S. nemorosa. Krimmler Wasserfälle. Radula complanata. Unken. Thunklamm. Embachkar, 2200 m in einer kleinen gedrängten Hochgebirzsform. Madotheca Baueri. C. caps. in den Bergwäldern am Hohen Zinken, bei 1400 m. Neu für Salzburg, M. platyphylla. Thunklamm. Frullania Tamarisei. Felsen der Schwarzbergklamm,. Mit flachen Unter- blättern an Buchen, Kalte Quelle bei Unken. II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 35 F. dilatata. Alte Ahorne bei Lofer. F. Jackiüi. Feuchte Felsen an den Krimmler Fällen. Lejeunia cavifolia. Mairbergklamm. — Schwarzbergklamm. L. calcarea. Nasse Kalkfelsen der Mairbergklamm, 800 m. Felswände der Schwarzbergklamm. Auf abgestorbenen Moosen am Aufstieg nach dem Reifhorn, 1700 m. Überall mit Perianthien.. 4. Sitzung am 9. Dezember. Herr Theodor Schube spricht über die Ergebnisse der Durchforschung der schlesischen Gefäßpflanzenwelt im Jahre 1915. Das abgelaufene Jahr war der Floristik wenig günstig; abgesehen davon, daß mehrere Sammler, die in den letzten Jahren reichlich Bei- träge geliefert hatten (z.B. Herr Lehrer Werner und die beiden Brüder Malende), zum Heer einberufen oder freiwillig ins Feld gezogen waren, ließ auch die Witterung viel zu wünschen übrig: die außerordentliche Hitze und Trockenheit des Juni und die fast ununterbrochene Regen- stimmung des Spätsommers und des Herbstes verhinderten ausgedehntere Ausflüge. Immerhin sind zahlreiche Neuheiten, wenigstens für einzelne Bezirke, festgestellt worden. Mehrere Angaben entstammen einem alten Herbar, das mir aus Gnadenfrei von einem Unbekannten zugeschickt wurde und von dem ein großer Teil der Begleitzettel die Handschrift von Nucchte, einem Freunde des in Fiek’s Flora öfters genannten Dr. Schumann (Reichen- bach) trägt, so daß die Annahme berechtigt erscheint, das ganze Material rühre aus seinem Nachlasse her. Die große Mehrzahl der Pflanzen ent- stammt dem Kreise Nimptsch, so daß er dort ansäßig gewesen zu sein scheint; Sicheres habe ich darüber bisher durch schriftliche Anfrage nicht feststellen können. Außer einigen für den Kreis N. und sein Nachbar- gebiet neuen Arten enthielt das Herbar auch Belegstücke von Standorten, die Nuchte bereits um’s Jahr 1850 festgestellt hat, die aber erst viel später wiederaufgefunden und veröffentlicht worden sind, z. B. aus dem Moschwitzer Buchenwalde Hypericum hirsutum (1895) und Dentaria ennea- phyllos (1909). — Von auswärtigen Beobachtern ist Herr Geh. Bergrat Zimmermann-Berlin zu nennen, der bei seinen geologischen Aufnahmen in Niederschlesien, gleichwie schon früher, auch der Pflanzenwelt seine Aufmerksamkeit widmete, sowie Herr Dr. Thellung-Zürich. Allen Mit- arbeitern sei auch hier bestens gedankt! Aspidium Phegopteris. Militsch? Pomorske (Schalow)!; Strehlen: Louisdorfer Wald; Ottmachau: Bischofswald (ders.). 3* 36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cuitur. Blechnum Spicant. Rybnik: vor Boguschowitz (Schmattorsch)! Asplenium Trichomanes. Camenz: Schlosspark (Buchs). Equisetum pratense. Lüben: Wasserforst bei Kaltwasser (Knappe). Lycopodium inundatum. Rybnik: vor Boguschowitz; in derselben Gegend auch L. chamecyparissus, für den Kreis neu (Schmaitorsch)! Triglochin palustris. Schönau: südlich von Konradswaldau (Zimmer- mann). Calamagrostis arundinacea. Herrnstadt: Bartschdorf!; Grottkau; Ro- sauer Wald (Schalow)! Trisetum favescens. — Militsch: unweit des Reitplatzes (Schalow). — Strehlen: Spanwiesen bei Lorenzberg (ders.)! Avena pratensis. Strehlen: Striege (Schalow). Arrhenatherum elatius f. biaristatum. Rybnik: vor Spendelmühle (Schmattorsch)! — Poa Chaixi. Militsch: Schloßpark (Schalow)! Glyceria nemorelis. Wartha: Mühlgrundweg (Buchs)! Festuca myurus. Militsc®& beim Dampfsägewerk, auch zwischen Kabelke und Duchawe (Schalow)! F. gigantea v. triflora. Rybnik: vor Spendelmühle (Schmattorsch)! — Bromus erectus. Militsch: vor Zwornogoschütz (Schalow)! Hordeum europaeum. Silberberg: Herzogswalde (Buchs)! Cyperus fuscus.. Nimptsch: in der Mersine bei Kl.-Johnsdorf (Walter)! Seirpus ovatus. Reichenbach: Girlachsdorfer Schwarzteich; Nimptsch: Strachauer Busch (Herb. Nuchte)! S. maritimus f. monostachys. Breslau: am Gondelteiche beim Kinder- zobten (Schmattorsch)! S. silvaticus f. compactus. Breslau: Muckerauer Wald!; Rybnik: Ruda- teich (Schmattorsch)! Rhynchospora alba. Naumburg a. B.: Weißes Lug! Carex brizoides v. curvata. Wansen: Ohlewiesen gegen die Weich- mühle (Schalow)! C. paradoxa. Militsch: Gontkowitz (Schalow)!; Freiburg: Teilwiesen (Walter)! C. montana. Militsch: Zwornogoschütz (Schalow) ! Calla palustris. Militsch: Gontkowitz (Schalow)! Juncus tenuis. Zobten: im Walde vor K].-Silsterwitz; Camenz: im Schloßparke (Buchs)!; Rudzinitz: gegen Klüschau (Spribille)! J. supinus f. flnitans. Rybnik: Paruschowitz (Schmattorsch)! J. lamprocarpus f. stolonifer. Frankenstein: Gondelteich (Buchs)! Luzula nemorosa. + Militsch: vor Zwornogoschütz (Schalow)! — Strehlen: Olbendorf (ders.). Anthericum ramosum. Grünberg: Poln.-Kessel (H. Schmidt)!; f. fallax Frankenstein: Harteberg (Buchs)! II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 37 Gagea minima. Militsch: Schloßpark (Schalow)! Allium wrsinum. Lähn: Ob.-Langenau; Schönau: Hohenliebental (Zimmermann); Neumarkt: Meesendorfer Wäldehen gegen Poln.-Baudis!; Rybnik: Erlenbruch bei Waldheim (Schmattorsch)! Allium angulosum. Primkenau: im Sprottebruche gegen Reuthau! (Klopfer); Nimptsch: Gollschau (Walter)! A. oleraceum f. complanatum. Frankenstein: Briesnitz (Buchs)! A. vineale f. capsuliferum. Frankenstein: Schodelwitz (Buchs)! Lilium Martagon. Nimptsch: Woislowitz! Ornithogalum umbellatum. Wohlau: Buschen, Mondschütz, Praukau!; Militsch: Gugelwitz (Schalow)!, an der Promenade u. a. (ders.). O0. tenuifolium. Striegau: zwischen Stanowitz und dem Erlicht (Walter)! —+ 0. nutans. Breslau: Schlanz! Polygonatum offieinale. Militsch: vor Altenau (Schalow)! Galanthus. nivalis. Militsch: zwischen Zwornogoschütz und Schwiebe- dawe (Schalow)! Coeloglossum viride. Schönau: Berbisdorf (Kruber). Cephalanthera xiphophyllum. Strehlen: Lorenzberger Wald (Schalow) ! Epipactis palustris. Schönau: Hohenliebental gegen den Hohen Wald (Zimmermann); Reinerz: Forst Nesselgrund (Sommerlad)! Neottia Nidus avis. Militsch: Wallkawe (Schalow)! Populus alba X tremula.. Neumarkt: bei Regnitz mehrere starke Bäume! Salix bicolor (vielleicht S. bie. X silesiaca). Bei dem obersten Haus im Riesengrund ein Sträuchlein (Kruber)! S. purpurea > repens. Zobten: Kl.-Silsterwitz (Buchs)! — Castanea sativaa Nimptsch: unterhalb des Spitzbergs, etwa 30 Bäume, auch mit jungem Nachwuchs! (v. Oheimb.) Ulmus montana. Ottmachau: Oberwald (Buchs). Utica urens f. microphylia Murr (mit kaum 1 cm langen Blättern). Grünberg: zahlreich beim Ruhschacht (H. Schmidt)! Viscum album auf Fichte. Frankenstein: Rocksdorf; Heinrichau: Moschwitzer Wald, an der Schneise nördlich vom „Buchenkönig‘‘ (Buchs)! (4?) Rumex alpinus. Eulengebirge: Eulenburg (Buchs)! — Polygonum cuspidatum. Frankenstein: Protzan (Buchs)!; Eulengebirge: am Neubielauer Dorfbach (ders.) —+ P. sachalinense. Krummhübel (Buchs)!; Neisse: Damm bei der Breslauer Brücke (ders.). COhenopodium opulifolium. Goldberg (Knappe). —- Atriplex hortense. Breslau: unweit des Kinderzobtens (Schmattorsch)! Portulaca olerace«. Nimptsch: Mellendorf (Herb. Nuchte)! — Silene Armeria. Frankenstein: als Unkraut auf Gartenland (Buchs), 38 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. S. Otites. Grünberg: Deutsch-Kessel (H. Schmidt); Militsch: vor Melochwitz (Schalow). Melandryum rubrum. Guhrau: Triebusch (Droth)! M. album, rotblühend. Silberberg (Buchs)! Cucubalus baecifer. Militsch: Wallkawe (Schalow)! + Gypsophila panniculata. Grünberg: mehrfach auf Schuttplätzen (H. Schmidt)! Tunica prolifera. Frankenstein: Frankenberg (Nuchte)!; Jauernig: an der Straße von Johannisberg nach Landeck (Herb. N.)! Dianthus superbus. Primkenau: Waltersdorf gegen Ottendorf (Klopfer)!; Oels: zwischen Sibyllenort und Lossen (Schmattorsch)!; Franken- stein: Grünharta (Buchs); Reichenbach: Girlachsdorf; Nimptseh: Woislowitz (Nuchte)!; Ottmachau: Bischofswald bei Schützendorf (Schalow)! — Vaccaria parviflora f. grandiflora. Freiburg: Polsnitz (Walter)! Stellaria pallida. Militsch: vor Wallkawe (Schalow)! Trollius europaeus. Leobschütz: „Zbytki“ bei Hochkretscham (Wunschik)! — Helleborus viridis. Nimptsch: Grasgärten in Vogelgesang und Gaumitz (Nuchte)! Isopyrum thalictroides. Neumarkt: Rackschützer und Meesendorfer Wäldchen!; Nimptsch: gegen Guhlau (Hugo Ulbrich)!, Höllengrund; Silber- berg: Raschgrund (Buchs). Actaea spicata. Nimptsch: Woislowitz!, Gr.-Wilkau! —- Clematis Vitalba. Neumarkt: Berggloschkau in Menge!; Eulen- gebirge: Steinkunzendorf (Buchs). Ranunculus Ficaria f. micraster Beck, sehr kleinblütig. Grünberg: Rohrbusch an einer Stelle in Menge (H. Schmidt)! R. sceleratus. Schönau: vor Hohenliebental, Ob.-Röversdorf (Zimmer- mann), R. auricomus v. fallax. Militsch: zwischen Wallkawe und Wirschko- witz (Schalow)!; Ottmachau: Oberwald bei Friedrichseck (Herb. Nuchte) ! R. Lingua. Jauer: zwischen Pombsen und Mochau (Zimmermann); Strehlen: Spanwiesen bei Eisenberg (Schalow). R. Flammula f. graeilis. Rummelsberg: gegen Riegersdorf (Schalow)! Berberis vulgaris. Neumarkt: Wäldchen bei Gossendorf, anscheinend ursprünglich ! Papaver Argemone v. glabrum Koch. Militsch;: vor den Fisch- hältern (Schalow)! Die Varietät mit völlig kahler Frucht scheint recht selten aufzutreten, im Herb. siles. liegt sie nur noch von Oppeln: Tarnau (Fiek) ! Corydalis intermedia. Militsch: gegen Kabelke (Schalow)!, hinter Karlstadt (ders.); Neurode: oberes Köpprichtal (Buchs)! II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 3: -—+ Nasturtium offieinale. Militsch: unweit Forsthaus Schwentro- schine (Schalow)! — N. Armoracia. Strehlen: an der Kryhne bei Crummendorf, wie eingebürgert (Schalow)! N. amphibium f. auriculatum. Grünberg: gegenüber „Bethesda‘“ (H. Schmidt)! Arabis hirsuta. Neurode; Bahnhof Volpersdorf; Silberberg: Kleine Strohhaube (Buchs)! A. arenosa. Primkenau: an der Kleinen Sprotte unweit der Eisenbahn! + Sisymbrium orientale. Grünberg: Ziegeleiausstiche am „Grünen Weg“ (H. Schmidt)! — 8. Loeseli. Grünberg: zwischen Schillerhöhe und der Lawaldauer Straße, auch am Erlbusch (H. Schmidt)! Lunaria rediviva. Schönau: am Steinbach bei seinem Eintritt in den Stauweiher (Zimmermann); Eulengebirge: im „Hull‘ bei Neubielau (Buchs); Bad Langenau: unweit der „Mandelfichte‘‘ ! — Lepidium Draba. Neumarkt: westlich von Belkau!; Breslau: vor Pirscham!; Freiburg: Feldweg bei Polsnitz (Walter)! — L. virginicum. Primkenau: gegen den Park (Klopfer) ! — L. densiflorum. Grünberg: zwischen Krampe und Tschicherzig (H. Schmidt)!; Liegnitz: Katzbachdamm (Knappe). — Reseda lutea. Grünberg: Erlbusch (H. Schmidt)!; Reichtal: beim Sgorsellitzer Zollhause (Burda)! + Astrocarpus Clusii Gay. Naumburg a. B.: am Rande des „Weissen Lugs‘“, mehrere sehr ausgedehnte Rasen! Ein rätselhaftes Auf- treten, das durch Anfrage an zuständiger Stelle nicht geklärt werden konnte. + Sedum spurium. Frankenstein: Kobelau (Buchs). — Sempervivum tectorum. Heinrichau: in Moschwitz (Buchs). S. soboliferum. Eulengebirge: Köpprichtal (Buchs). Chrysosplenium oppositifolium. Kupferberg: Bolzenschloss; Hirschberg: Boberröhrsdorf (Kruber). Ribes Grossularia. Militsch: zwischen Nesselwitz und Tschotschwitz (Schalow) ! R. nigrum, Naumburg a. B.: zwischen Neu-Kleppen und Zedels- dorf!; Nimptsch: Rotneudorf (Herb. Nuchte)!; Strehlen: Louisdorf (Scha- low); var. apiifolium Köhme, mit fast fingerförmig geteilten Blättern, Nimptsch: in einem Erlicht bei Woislowitz! + Spiraea salicifolia. Militsch: an der Bartsch vor Schwentro- schine (Schalow)! Aruncus silvester. Liebental: Märzdorf (Zimmermann); Nimptsch: um Woislowitz mehrfach! (Buchs), Mersine bei Kl.-Johnsdorf! (Walter). Ulmaria Filipendula. Militsch: mehrfach, z.B. vor Altenau (Schalow)! 40 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Culiur. Rubus!) sulcatus. Trebnitz: Schön-Ellzut; Rudzinitz: bei Klüschau und an der Bahnstrecke gegen Tatischau. R. nitidus. Gr.-Waritenberg: zwischen Kl.-Tabor und Bralin, zwischen Märzdorf und Tschermin. R. vulgaris v. rhamnifolioides. Liegnitz: zwischen Spittelndorf und Jeschkendorf; Brieg: bei Pechhütte mehrfach. R. ihyrsoideus (thyrsanthus). Gr. Wartenberg: zwischen Märzdorf und Tschermin; Brieg: bei Pechhütte mehrfach, zwischen Neusorge und Bukowegrund; Kl.-Strehlitz: gegen Przyscheiz; ssp. candicans Rudzinitz: Bahnstrecke gegen Tatischau, zugleich mit ssp. incisiserratus. — R. macrostemon. Proskau: beim Pomologischen Institut. R,. macrophyllus. Gr. Wartenberg: zw. Kl. Tabor und Bralin. R. rhombifolius v. pyramidiformis. Gr.-Wartenberg: wie vor., auch um Märzdorf mehrfach; Brieg: bei Pechhütte mehrfach, zwischen Neusorge und Bukowegrund; Strehlen: an der Straße von Geppersdorf nach Pozarth; Kl.-Strehlitz: gegen Przyschetz; Gleiwitz: an der Heerstraße nach Kiefer- städtel, bei Rudzinitz mehrfach; Tost: Stadtwald. R. oboranus. KI,-Strehlitz: gegen Przyscheiz; Gleiwitz: zwischen Rudzinitz und Klüschau, Bitschin, R. Schummeli. Brieg: zwischen Pechhütte und Mangschütz. R. siemianicensis. Brieg: um Pechhütte mehrfach, zwischen Bukowe- grund und Neusorge; bei Rudzinitz mehrfach. R. chaerophylloides. Gr.-Wartenberg: an der Heerstrasse zwischen Märzdorf und Perschau. R. Sprengeli. Kieferstädtel: am Fußwege nach Rachowitz. R. rudis. Gleiwitz: Heerstraße nach Kieferstädtel. R. radula. Liegnitz: Möttig; Gr.-Wartenberg: um Märzdorf mehrfach, zwischen Bralin und Kl. Tabor; Brieg: zwischen Pechhütte und Mang- schütz; Gleiwitz: bei der Försterei Ciochowitz. R. posnaniensis. Brieg: zwischen Bukowegrund und Neusorge, um Pechhütte mehrfach; Tosi: Stadtwald. R. Koehleri. Liegnitz: Wald bei Möttig. R. Bellardii. Gr. Wartenberg: Heerstrasse zwischen Perschau und Märzdorf; Gleiwitz: gegen Kieferstädtel und Fussweg von hier nach Rachowitz, Bitschin. R. hirtus ssp. nigricatus v. fallaciosus. Kieferstädtel: gegen Racho- witz; Gleiwitz: Ciochowitz, Bitschin; Tost: Stadtwald. R. pruinosus. Gr.-Wartenberg: zwischen Märzdorf und Perschau. R. dollnensis. Rudzinitz: gegen Klüschau, zugleich mit R. polycarpi- formis. 1) Sämtliche Angaben über Brombeeren rühren von H. Prof. Spribille her, der auch die Zusammenstellung in dankenswerter Weise besorgt hat. II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 41 R. fabrimontanus. Liegnitz: Mötlig (nicht ganz sicher, vielleicht echter R. polycarpus). R. oreogeton v. strelinensis. Strehlen: Geppersdorfer Kalkofen. R. Spribillei. Gr.-Wartenberg: zwischen Perschau u. Märzdorf. R. Aschersoni. Bralin: gegen Kl.-Tabor. R. commisctus. Liegnitz: am Südende von Spittelndorf, Wald bei Möttig. R. Wahlbergi. Liegnitz: zwischen Bahnhof Spittelndorf und Möttig, Nach Sudre wäre die Form als R. caesius X thyrsanthus aufzufassen. R. nemorosus. Liegnitz: bei Möttig mehrfach; Gr.-Wartenberg: zwischen Märzdorf und Perschau; ARudzinitz; gegen Tatischau; Kiefer- städtel: gegen Rachowitz; Tost: Stadtwald. Letztere Form wäre nach Sudre als R. caesius > candicans zu deuten. R. ciliatus. Gr.-Wartenberg;: zwischen Märzdorf und Perschau; Strehlen: Wald beim Geppersdorfer Kalkofen. [R. Zuschkei Sprib., mehrfach bei Gr.-Wartenberg beobachtet, ist vielleicht gleichwie R. Gerhardti Figert als Varietät mit R. explanatus Figert zu vereinigen. Von R. saxicolus Müll., mit dem Kinscher diesen anscheinend identifiziert, scheint er hinlänglich verschieden. ] Potentilla supina. Nimptsch: Vogelgesang (Herb. Nuchte)!; Strehlen Prieborn (Schalow). °P. norvegica. Reichenbach: Girlachsdorfer Schwarzteich (Nuchte)! P. Wiemanniana. Militsch: Kiesgrube vor Wallkawe (Schalow)l; Nimptsch: Langenöls (Herb. Nuchte)! P. procumbens. Kl.-Strehlitz: gegen Przyschetz (Spribille)! R. canina f. selerophylla. Lähn: Tschischdorfer Kalkberg (Kruber)! R. glauca. Grottkau: Gührau (Schalow). R, dumetorum v. pubescens. Hirschberg: DBoberullersdorf (Kruber)! Diejenige von Grünharta (vgl. vor. Ber.) gehört wohl eher zur folgenden. R. corüfolia. Bolkenhain: Alt-Röhrsdorf; Kupferberg: Waltersdorf; Hirschberg: Sattlerschlucht (Kruber)!; Grottkau: Gührau (Schalow). R. agrestis. Lähn: Tschischdorf; Bolkenhain: Feldschlößchen, Gr. Hau; Kupferberg: Popelberg bei Jannowitz (Kruber)!; Silberberg: Philosophensteig; Wartha: Langer Weg (Buchs)! R. tomentosa. Warmbrunn: Giersdorfer Teiche; Roter Grund bei Seidorf (Kruber)! R. pomifera. Liegnitz: Jeschkendorf (Spribille) ! —+ R. cinnamomea. Militsch: bei Kasawe (Schalow). — .R. gallica. Brieg: in Rogelwitz (Spribille)! — Prunus insiticia. Militsch: völlig verwildert im Gehölz zwischen Zwornogoschütz und Wallkawe! P. avium. Strehlen: Louisdorfer Wald (Schalow). —- P. Mahaleb. Freyhan: gegen Altenau (Schalow)! 42 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. — (Cytisus Laburnum. Silberberg: Feldweg am Klosenberg (Buchs)! ©. capitatus. Grottkau: mehrfach, z.B. Gührau (Schalow)! C. ratisbonensis. Rybnik: zwischen Seibersdorf und ÖOrzupowitz (Schmattorsch)! Medicago falcata >< sativa. Militsch: zwischen Altenau und den Birkhäusern (Schalow) ! Vicia silvatica. Ottmachau: Bischofswald unweit Schützendorf (Schalow)! V. dumetorum. Strehlen: Eisenberg, hier erst neuerdings aufgetreten (Schalow)!; Fürstenstein (Walter)! Lathyrus tuberosus. Striegau: Taubnitz (Walter)! L. silvester v. platyphyllos. Breslau: zwischen Pleischwitz und Alt- hofnaß! L. niger. Gnadenfrei: Kl.-Ellguter Tal; Camenz: Schloßpark; Eulen- gebirge: Steinhäuser (Buchs); f. heterophyllus Strehlen: Järischheide hinter Lorenzberg (Szhalow)! Geranium phaeum. Schweidnitz: Domanze!; Strehlen: an der Kryhne bei Crummendorf (Schalow). + @. pyrenaicum. Primkenau: unweit des Stadtbahnhofes!; Trebnitz: Jeschütz!; Nimptsch: Prauss (Walter)!; Strehlen: vor Olbendorf (Schalow)! Oxalis corniculata. Rotenburg O. L. (Knappe). Radiola linoides. Nimptsch: Langenölser Berge (Herb. Nuchte)! —+ Dietamnus albus. Reichtal: auf Sehutt (Burda)! Euphorbia duleis. Nimptsch: Woislowitz! Eu. palustris. Nimptsch: Gollschau (Nuchte)! Elatine hexandra f. callitrichoides. Rybniker Hammerteich (Schmat- torsch)! (+?) Acer campestre. Eulengebirge: im ‚Hull‘ bei Neubielau (Buchs)! Impatiens parviflora. Jauer: Bahnhof (Knappe). — Ampelopsis : quinquefolia. Militsch: Kiesgrube vor Wallkawe (Schalow)! — Malva moschata. Grünberg: hinter dem alten Alexanderschacht (H. Schmidt)! — M. mauritiana. Grünberg: Dorfanger in Lansitz (H. Schmidt)! Hypericum montanum. Nimptsch: Siegroth (Walter)! A. hirsutum. Liegnitz: Pohlschildern (Knappe); Ottmachau: Bischofs- wald bei Schützendorf (Schalow)! Viola hirta. Militsch: nur bei Postel (Schalow). V. arenaria. Militsch: Hedwigstal, Altenau u. a. (Schalow). V. mirabilis. Wohlau: Mönchmotschelnitz! Epilobium adnatum. Nimptsch: z. B. Teichvorwerk (Walter)!; Ott- machau: z.B. oberhalb des Neissewehrs (Buchs)!, Bischofswald (Schalow)! II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 43 E. collinum >< obscurum. Riesengebirge: oberh. Krummhübel (Thellung). Falcaria vulgaris. Hohenfriedeberg: Siegeshöhe (Knappe). Anthriscus vulgaris. Militsch: unweit des Bahnhofs (Schalow)!; Nimptsch: Prauß (Walter)! —+ 4. Cerefolium. Militsch: Sulauer Straße (Schalow) ! Oenanthe fistulosa. Primkenau: mehrfach im Bruch! (Klopfer). Peucedanum palustre. Strehlen: Spanwiese bei Lorenzberg (Schalow). Pirola uniflora. Rybnik: Belauf Lerchenberg (Schmattorsch)! Ledum palustre. Namslau: Erdmannsdorf (Burda)! Primula officinalis. Militsch: mehrfach, z. B. zwischen Zwornogoschütz und Hedwigstal (Schalow)! Trientalis europaea. Lähn: Kleppelsdorf; Löwenberg: Hartliebsdorf (Zimmermann); Strehlen: Louisdorf (Schalow)! Armeria vulgaris, mit doldenähnlich aufgelöstem Blütenstand bei Grünberg: Naumburger Straße (Schmidt)!, daselbst alljährlich in dieser Form. Gentiana Pneumonanthe. Primkenau: Waltersdorf, gegen ÖOttendorf (Klopfer)!; Grünberg: Droseheydau (Frl. Wulle t. Schmidt)! Menyanthes trifoliata. Schönau: zwischen Vorder-Mochau und Georgen- dorf; Jauer: östlich von den Pombsener Teichwiesen (Zimmermann); Nimptsch: Gr.-Kniegnitz (Herb. Nuchte)!; Silberberg: südwestlich vom Bahn- hof gegen Nicklasdorf (Buchs)! Vinca minor. Bunzlau: nördlich von Neu-Bienitz!; Camenz: im hinteren Teil des Parkes, ursprünglich (Buchs)! ; Ottmachau: Bischofswald (Schalow). Lappula Myosotis. Nimptsch: Gollschau (Walter)! Symphytum tuberosum. Ottmachau: Oberwald (Herb. Nuchte)! —+ Teuerium Scorodonia. Camenz: Schlosspark (Buchs)! Melittis Melissophyllum. Nimptsch: Woislowitz, gegen den Spitzberg! Galeopsis speciosa. Grünberg: Schuttplatz vor der Wilhelmshöhe (H. Schmidt)! Stachys germanica. Nimptsch: Prauß (Walter)! S. palustris, auffällig abstehend behaart. Strehlen : Lorenzberg gegen Jäschkittel (Schalow)! Salvia pratensis. Grünberg: vor dem Erlbusch (H. Schmidt)!; Münster- berg: Schildberg! —- 8. verticillate. Grünberg: vor der Wilhelmshöhe (H. Schmidt)! - Mentha longifolia > rotundifolia (M. villosa). Strehlen: Prie- borner Marmorbruch (Schalow)! Atropa Belladonna. Wartha: Neuer Kammweg (Buchs). Verbascum Lychnitis >X thapsiforme. Militsch: vor der Bartschbrücke gegen Schwentroschine (Schalow)! 44 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Linaria Elatine Nimptsch: Schlaupitz (Herb. Nuchte)! Serofularia alata. Um Militsch mehrfach (Schalow); Trebnitz: Maß- lischhammer!; Namslau: Wallendorf (Burda)! Veronica montana. Rybnik: zw. Zwonowitz und Summin (Schmattorsch) ! V. longifolia. Nimptsch: Poseritz (Herb. Nuchte)! Lathraea Squamaria. Neumarkt: Meesendorf, Rackschütz! — Galium silvestre. Wansen: Wiese bei Höckricht gegen Krause- nau (Schalow)! Sambucus racemosa. Militsch: Zwischen Kraschnitz und Gr.-Persch- nitz (Schalow)!, Gontkowitz (ders.); Nimptsch: Dürr-Brockuth (Nuchte)! —+- Lonicera tatarica. Strehlen: Prieborn, an der Arnsdorfer Heer- straße (Schalow)! Valerianella carinata. Militsch: Kiesgrube gegen Wallkawe (Scha- low)! V. dentata f. lasiocarpa. Militsch: Schwiebedawe (Schalow)! V. rimosa. Militsch: zwischen Zwornogoschütz und Wallkawe (Schalow)!, Duchawe (ders.). Valeriana officinalis f. angustifolia. Namslau: Steinersdorfer Wald (Burda)! Knautia arvensis f. integrifolia. Rybnik: Gatschwald, auch zwischen Golleow und Ochojetz (Schmattorsch)! Scabiosa Columbaria. Jauer: bei Pombsen (Zimmermann). Campanula latifolia. Eulengebirge: am Friedrichsweg, nördlich vom Hohen Stein (Buchs)! ©. glomerata. Guhrau: Triebusch (Droth)!; Militsch: Zwornogoschütz (Schalow)! Solidago serotina. Neiße: oberhalb des Wehrs (Buchs)! Erigeron annuus. Primkenau: massenhaft am Eisenbahndamme! (Klopfer). Filago germanica. Nimptsch: Langenöls (Herb. Nuchte)! Inula salicina. Militsch: vor Wallkawe (Schalow). — Helianthus tuberosus. Grünberg: Schuttplatz hinter Klopsch’ Ziegelei (H. Schmidt)! Rudbeckia laciniata. Naumburg a. B.: bei Poydritz mehrfach!; Strehlen: hinter Olbendorf; Grottkau: Gläsendorf (Schalow). —+ R. hirta. Reichtal: an der Bahnstrecke (Burda)!; Franken- stein: Seminarbleichplatz (Buchs)! —+ Galinsoga quadriradiata Ruiz et P. (= @. brachystephana Regel t. Thellung). Neuerdings auch in Militsch: Gartenland der Städt. Mittel- schule und in ihrer Nähe (Schalow)! Anthemis tinctoria. Grünberg: gegenüber „Bethesda‘‘ (H. Schmidt)!; Namslau: zwischen Skorischau und Glausche (Burda)!; Neurode: auf dem U. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 45 Preßberge bei Volpersdorf (Buchs)!; wohl an allen diesen Stellen nur vorübergehend. Achillea Millefolium f. contracta. Rybnik: Rudateich (Schmattorsch) ! Matricaria discoidea. Schönau: Reichwaldau, Hohenliebental u. a.; Flinsberg: Kesselschloßbaude u. a. (Zimmermann)! Chrysanthemum corymbosum. Bummelsberg: auch an der Heerstraße von Geppersdorf nach Pogarth (Spribille)! Senecio nemorensis. Reichtal: Schutzbezirk Schadegur (Burda)! S. crispatus. Militsch: nahe dem Gollitzeteiche bei Grabofnitze (Schalow) ! — Echinops sphaerocephalus. Grünberg: Wiese im Erlbusch (H. Schmidt)!; Deutsch-Lissa: Lehmlöcher vor Sarawenze!; Schlesiertal (Buchs)! Cirsium heterophyllum. Fürstenstein: zwischen dem Waldwärterhaus Teilwiesen und dem Teehäuschen (Walter)! C. oleraceum >< palustre. Primkenau: im Sprottebruch! Serratula tinctoria. Militsch: mehrfach, z. B. Duchawe, Wallkawe (Schalow)! Centaurea Jacea v. pratensis. Militsch: zwischen Duchawe und Wail- kawe (Schalow)! C. Pseudophrygia. Nimptsch: Woislowitz (Nuchte)! ©. Scabiosa, weißblühend. Grünberg: vor dem Hirschberge bei La- waldau (H. Schmidt)! Tragopogon pratensis, mit dunkelbraunrot gefärbten Randblüten, Grünberg: Blümelfeld (H. Schmidt)! T. orientalis. Strehlen: Warkotsch (Schalow). Taraxacum paludosum v. Scorzonera. Militsch: zwischen Gontkowitz und den Dreihäusern (Schalow)! Lactuca Scariola. Nimptsch: Schmidtsdorfer Basaltbruch (Walter)!; f. augustana Breslau: Kleinburg (Schmattorsch) Orepis succisifolia. Breslau: Wiese im Muckerauer Walde!; Fürsten- stein: Teilwiesen (Walter)! Hieracium aurantiacum. Bei Kupferberg schon 1851 beobachtet (Dr. Schumann in Herb. Nuchte!; vgl. Jahresber. für 1913). Sodann berichtet Theodor Schube über Ergebnisse der phaenologischen Beobachtungen in Schlesien im Jahre 1915. Berichte haben, wie bisher, eingesandt die Herren Höhn -Hoyerswerda, Rakete-Rotwasser, Liersch-Haynau, Rühle- Wigandstal, Kruber-Hirsch- berg, Pfeiffer-Steinau, Nitschke-Rawitsch, Kiekheben-Breslau, Rös- ner-Langenau, Elsner-Reinerz, Kotschy-Belschnitz, Heimann -Deutsch- 46 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Krawarn und Tischbierek-Beuthen; für den im Felde stehenden Herrn Hoppe-Liebental trat Seminarist G. Niering in die Bresche, so daß sämtliche Stationen des Vorjahrs wieder belegt sind. Hoffentlich halten die Herren wenigstens noch bis zum Ablaufe der 20 Jahre durch, mit deren übersichtlicher Darstellung ich diese Arbeit zum vorläufigen Ab- schlusse bringen möchte. Der Witterungsverlauf war einer gleichmäßigen Entwickelung der Pflanzenwelt wenig günstig. Januar und Februar zeigten gegenüber dem Durchschnitt deutlich eine Erhöhung der Temperatur; glücklicherweise war diese nicht allzu beträchtlich, das Aufspringen der Knospen wurde daher so weit zurückgehalten, daß die in Verbindung mit starken Schnee- fällen einsetzende Kälte der 1. Märzhälfte keinen wesentlichen Schaden anrichten konnte. Das kühle Wetter hielt fast den ganzen März hindurch vor und behauptete sich bis tief in den April hinein, in dessen ersten drei Wochen fast ununterbrochen Regenstimmung vorherrschte. Da jedoch seine letzte Woche gleich der ersten des Mais klar und (abgesehen von den Nächten) warm war, ergab die Frühlingshauptphase auf den meisten Stationen nur unbedeutende Abweichungen von dem früher festgestellten zehnjährigen Durchschnitt. — Den ersten Gewittergüssen im Maibeginn folgten sehr vereinzelte auch im weiteren Verlaufe dieses Monats und des Juni, sie waren aber gegenüber der Hitze und Trockenheit so wenig von Belang, daß der Pflanzenwuchs aufs empfindlichste beeinträchtigt wurde und man in der 2. Junihälfte dem Ernteausfalle mit größter Besorgnis entgegensehen mußte. Die Dürre war so groß, daß vielfach das Heu am Abend desselben Tages, an dem der Schnitt erfolgt war, eingefahren werden konnte; nach Angabe von Schülern, die H. Rakete zur Aufzeich- nung ihrer eigenen Beobachtungen veranlaßt hatte, war es oft schon 8 Stunden nach dem Mähen völlig trocken, während sonst in jener Ge- gend selbst bei anhaltend schönem Wetter 2—3 Tage dazu erforderlich sind. Dabei brachten die Nächte zuweilen so beträchtliche Abkühlung, daß es hie und da selbst im Juni zum Erfrieren des Kartoffelkrautes kam. Nachdem dann endlich die letzte Juniwoche das lang ersehnte Naß gebracht, gab es den Rest des Sommers und den Herbst hindurch über- wiegend trübes und regnerisches Wetter. Es verteilte sich daher die Ernte (der Getreideschnitt hatte vielfach schon um den 20. Juni herum begonnen!) auf einen recht langen Zeitraum, ähnlich wie im Jahre 1913. Auch darin zeigte das verflossene Jahr mit diesem eine gewisse Überein- stimmung, daß die Laubverfärbung sehr ungleichmäßig erfolgte. Endlich gibt Theodor Schube Nachträge zum „Waldbuch von Schlesien.‘ Das Interesse an den „Naturdenkmälern‘ unserer Heimat war, wie leicht erklärlich, in diesem Jahre noch mehr als im vorangegangenen II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 47 in den Hintergrund getreten; neue Meldungen sind infolgedessen fast gänzlich ausgeblieben. Nur aus der Gegend von Militsch lieferte Herr Schalow eine Reihe von Mitteilungen, die ich in seiner Begleitung be- stätigen konnte. Da aber aus früheren Jahren noch eine größere Anzahl bisher ungeprüft gebliebener Nachrichten vorlag, habe ich mehrere Aus- flüge zur Besichtigung der angegebenen Stücke unternommen und dabei, wie gewöhnlich, durch Umfrage auch manches andere auftreiben können. Und es bleibt noch allerlei übrig, da die Ungunst der Witterung in den Herbstmonaten jede Ausflugtätigkeit unmöglich machte. Leider mußte ich wieder mehrfach feststellen, daß hervorragende Objekte, auch solche, deren Kenntnis ich in meinen Schriften durch Abbildungen weiteren Kreisen zu vermitteln bestrebt war, arg beschädigt oder gänzlich vernichtet sind. So ist z. B. die Göpperteiche bei Praukau jetzt völlig weggeräumt, auch die Armleuchterbirke bei Dyhernfurt und die große Pappel bei Glumbowitz sind beseitigt worden, ferner ist mein Bild der Schäferkiefern bei Groß- Sürchen nicht mehr zutreffend, da zwei der schönsten, darunter diejenige von fiehtenähnlichem Wuchse, verschwunden sind. Auch die Buchen von Mönchmotschelnitz haben schwer gelitten; die von unserer städtischen Gartendirektion zugesagte Hilfeleistung zur Ausbesserung der Schäden konnte bisher bedauerlicherweise wegen des Mangels an abkömmlichem Per- sonal nicht erfolgen, S. 13. Tinz. Zu den 1908 kurz angegebenen *Weißdornbäumen gelangt man auf dem Feldwege, der beim Stein 12,7 südostwärts abgeht. Sie stehen am Südrande des Gehölzes; der eine hat in Brusthöhe 1,30 m U., der andere in !/, m Höhe (wenig höher beginnt seine Verästelung!) 1,50 m Umfang. Im Gutsparke, vom Neudorfer Weg aus sichtbar, eine prächtig von Efeu umkleidete *Pappel von 4!/, m U.; am Wege nach Neudorf eine *Birke mit zahlreichen ungewöhnlich großen Hexenbesen. S. 17. Eisersdorf. Im Gutsparke stattliche Fichten u. a.; außer- halb des Zaunes, an der Biele, nahe dem Eiskeller, eine *Weide von 4,60 m U., stark beschädigt, doch noch mit ansehnlicher Krone. S. 21. Ullersdorf. Auf der Überschar große Lärchen, die stärkste von 2,60 m U.,; am Südrande des Waldes an der Fischerkoppe ein hübscher Buchenschlag, in dem am Fußsteig eine scheinbar ‚zweibeinige‘ Buche steht, scheinbar, da nicht die Stämme in einen verschmolzen sind, sondern derjenige der einen, nachdem einer ihrer Äste von dem Stamm der andern aufgenommen worden, eingegangen ist. S. 21. Bartschdorf. Die im „Waldbuch‘“ genannte *Eiche steht etwa 100 m südlich von der Hutung und 80 m östlich vom Gestell 12/13. Sie hat oberhalb der ihren Fuß ziemlich gleichmäßig umfassenden Maser 3,30 m, dicht über dem Boden 8"), m Umfang. Am Westrande des Waldes, Jagen 13, etwa 150 m südöstlich vom südlichsten Gehöft von Königs- 48 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. bruch, die „Trauereiche“, ein Baum von 41, m U., mit z. T. stark ab- wärts gekrümmten Ästen. S. 25. Lauterbach. Unmittelbar nördlich vom Gutshofe (auf einem dem Gastwirt Walter gehörigen Grundstück) eine *Bergrüster von 3,95 m Umfang. S. 29. Verlorenwasser. Südlich vom Orte, in der Höhe der Kirche, die *Kaiserbuche; den Umfang (etwa 4 m) konnte ich nicht genau fest- stellen, da die bei der Jahrhundertfeier 1913 vor ihr aufgebaute Pyramide den Stamm teilweise unzugänglich macht. Meiner Anregung gemäß ist durch Vermittelang des H, Amtsvorsteher Mader beschlossen worden, diese Pyramide etwas seitwärts zu verlegen, so daß die Schönheit des Baumes besser zur Geltung kommen wird. S. 33. Lubel. Am Nordrande des Gehölzes südwestlich vom Ort einige starke Kiefern (bis zu 2,80 m U.); ein *Zwieselbaum hat 3Y/, mU., ein anderer trägt in dem Winkel zwischen den beiden Stammteilen ein Wachholdersträuchlein als Ueberpflanze. Ss. 33. Militsch, Am Wege vom Kreishause nach Garuschke, bei der Brücke über den Graben, ein * Wacholder von 0,65 m U. des 2 m hohen astreinen Stammes und von fast 7 m Gesamthöhe. S. 33. Nesigode, Unmittelbar beim Jagdschlosse mehrere stattliche *Buchen von reichlich 3 m Umfang. S, 37. Trachenberg. Vor dem Schloß eine *Eiche (U. 31/, m) mit außergewöhnlich schöner Krone. Im südwestlichen Parkteil eine *Esche, deren Stamm sich seitwärts geneigt hat, in 11, m Höhe über dem Boden sich, schlangenförmig gewunden, mehrere m weit fast wagerecht hinzieht und schließlich wieder senkrecht aufgerichtet erscheint. 15 m südlich der Straße nach Radziunz, etwa 30 m vor der gemauerten Brücke, eine auffällige Ineinanderklemmung einer Buche und einer Eiche; auch sonst in dem Waldteile zwischen R. und dem Parke mehrfach sonderbare Ver- wachsungserscheinungen. Ss. 37. Wirschkowitz. Am Pfarrhaus eine Pyramidenpappel mit starker Efeuumkleidung. Bei der Fischhälterei, an dem nordwärts ge- richteten Damme, große Eichen (bis zu 5), m U.); in dem östlich davon gelegenen Gehölze (gegen Tschotschwitz), unweit des Dammes, einige starke Kiefern, die * größte mit 3,05 m Umfang. Von der Heerstraße nach der Haltestelle östlich (bei Stein 1,6) ein Wäldchen, an dessen Südrand, etwa 200 m von der Straße entfernt, eine *Hainbuchengruppe mit eigentüm- lichen Astverwachsungen. Ss. 37. Zwornogoschütz. Westlich von dem im vor. Berichte genannten Wäldchen einige starke Eichen; die * größte (bei ihr aus Findlingsteinen erbaut Tisch und Bank!) hat 5,60 m Umfang. II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 49 S. 38. Schönjohnsdorf (vgl. vor. Ber.). Eine besonders starke Buche (U. 4), m) am „Großherzoglichen Weg‘ unweit des Schloßbergs. S. 40. Gloschkau. Vor dem Inspektorhaus eine Winterlinde von reichlich 5 m U.; in der Richtung nach Belkau eine fast 1 km lange - Lindenstraße mit z. T, recht ansehnlichen Bäumen, S. 40. Kobelnik. 50 m südlich vom Oderdeiche, mitten im Felde (reichlich 1 km östlich vom Forsthause Kl.-Pogul) eine — auf dem Meß- tischblatt eingezeichnete — Hainbuche von reichlich 2 m U., mit schöner Krone. Ss. 40. D.-Lissa. Folgt man dem Fahrweg, der vom Beginne des Fußwegs zum Kirschberge gegen den Quarkberg hinführt, so erblickt man nach etwa 1 km (250 m vor dem Großteichdamm) zur Rechten — etwa 100 m vom Weg entfernt — 2 alte * Kiefern, nach denen der Forstort „Samenkiefern‘“ heißt; die stärkere, deren unterer Teil aus fast wage- rechter Lage aufwärts gekrümmt ist, hat 21, m Umfang. S. 43. Regnitz. Im Ueberschwemmungsgelände, neben dem Oder- damme, eine Gruppe Bastardpappeln (Populus alba >< tremula); die stärkste, anscheinend ein Zwieselbaum, hat reichlich 4 m Umfang. S. 43. Schlaupe. Die im Waldbuch genannte *Eiche (U. 5,10 m) steht gegenüber der Försterei; ihre schöne Krone beginnt leider zurück- zugehen. S. 47. Sibyllenort. Zwischen den Steinen 3,3 und 3,4 der Heer- straße (gegen Dobrischau) geht südwärts ein — zeitweilig verbotener — Weg ab; man kommt auf ihm nach reichlich 100 m zu einer * Kiefer, deren Stamm unverletzt mehr als 4 m U. gehabt haben muß: über die halb ausgeflickte Höhlung hinweg gemessen beträgt er 3,70 m. S. 64. Machnitz. Schöner Naturpark mit zahlreichen großen Buchen und Eichen, unter ersteren *eine mit 3,52 m U. am Wege vom Gutshofe zur Försterei, unter den Eichen * eine auffallend hochschäftige (etwa 16 m astrein) am Fußwege gegen Hochkirch. Am Südrande des Teiches eine * Tanne von 3,63 m U., leider schon stark vom Pilz ange- griffen, so daß sie wohl in wenigen Jahren das Schicksal einer andern, noch stärkeren, die in ihrer unmittelbaren Nähe stand, teilen wird. Am Ostrande des Gutsbezirks, an der Grenze gegen Bruckotschine und Kl.-Totschen, eine prächtige *Eiche von etwa 61, m U. (bei meinem 1. Besuche wegen ungünstiger Stellung nicht genau feststellbar). S. 81. Schöndorf. Der im Jahresbericht für 1908 genannte Buch- berg wird wohl richtiger zu Prinzdorf gerechnet, jedenfalls erreicht man ihn am leichtesten von dem am weitesten nordwärts vorgeschobenen Ge- höfte dieses Dorfes, von dem aus man schon die früher genannte Buche erblickt. Der prächtige Baum ist mit 5,75 m U. jetzt wohl der stärkste gesunde seiner Art in Schlesien; leider fand ich ihn erst nach längerem 1915. 4 50 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Suchen so spät am Abend auf, daß es mir nicht möglich war, ihn freihändig zu photographieren, weshalb ich ihm später nochmals einen Besuch ab- statten muß. S. 81. Wehrau. An der Straße gegen Thommendorf große Linden, die stärkste unweit des Straßensteins 9,4. S. 83. Gurkau. Von der Torstensonlinde führt südwärts (nach Tauer) ein Feldweg; 20 m östlich von ihm, etwa 200 m nördlich von der fünf- fachen Wegteilung in der Höhe von Sieglitz, steht ein Spindelbaum mit 1 m Stammumfang. S. 84. Florsdorf. Außer der großen Rüster (vgl. vor. Ber., übrigens anscheinend zu Ulmus montana gehörig,) sind aus dem südlichen Teile des Parkes stattliche Eichen (über 4", m U.) zu erwähnen. S. 117. Neuwaldau, Die Angabe von 1911 ist zu verbessern. Es handelt sich nicht um 2 Linden, sondern nur um *eine, deren Stamm sich in geringer Höhe in 2 Aeste von der früher angegebenen Länge ge- teilt hat. Sie befindet sich nahe dem rechten Ufer der Briesnitz, etwa 500 m abwärts von der Brücke (die Besitzung gehört jetzt Frau Riedel). S. 117. Gr.-Reichenau. Die *größte der Eichen (vgl. Waldbuch), mit außerordentlich schöner Krone, hat einen U. von 51), m. S. 130. Endersdorf. Schöne Eichen; die * größte, an dem Damm am Westrande des Gehölzes, hat reichlich 5 m Umfang. S. 117. Halbendorf. Auf einem Grundstück östlich von dem Knie der Heerstraße ein lebensbaumähnlicher *Wachholder von Y, m U. und reichlich 6 m Höhe. S. 117. Kühschmalz. Zu der großen * Buche (U, 3,25 m) gelangt man auf dem Pfade, der bei deın Stein 13,0 gegenK. von der Heerstraße abgeht und dann entlang dem Bächlein hinführt. sehlesische Gesellschait für valerländische Cultır. VSyaT — 93. III. Abteilung. Jahresbericht. Geschichte u. Staatswissenschaften a. Historische Sektion, 1915. ET NETTE R Sitzungen der historischen Sektion im Jahre 1915. Sitzung am 24. Juli. Es fand eine Sitzung gemeinsam mit der philologisch-archäologischen statt. Den Vortrag hielt Herr Professor Dr. Kampers über das Thema: „Aus der Genesis der abendländischen Kaiseridee. Religionsgeschichtliche Beziehungen zwischen der 4. Ekloge Vergils und dem 12., 21. und 22. Kapitel der Apokalypse.“ 1915. Schlesische Gesellschaft für vaterländische Gultur. NET er TB” 93. III. Abteilung. Jahresbericht. Geschichte u. Staatswissenschaften 1915. | b. Staats- u, Rechtswissenschaftliche Sektion. DA EHE RI 29 Sitzungen der Sektion für Staats- und Rechtswissenschaft im Jahre 1915. 1. Sitzung vom 22. Februar. Vortrag des Herrn Geheimen Justizrats Professor Dr. Leonhard: Der Wert der Kriegsereignisse für die Rechtswissenschaft. Der Vortragende faßte wegen der Überfülle des Stoffes lediglich die römische Rechtsgeschichte ins Auge und führte aus: Vom Privatrecht, dem die Staatsmacht zur Geltung verhilft, unter- scheidet sich das Völkerrecht auch dadurch, daß keine Instanz für dessen Durchsetzung vorhanden ist. Deshalb ist auch das Haager Schiedsgericht fast bedeutungslos, weil keine Macht vorhanden ist, die die Durchführung seiner Beschlüsse erzwingen könnte. Dieser Zustand zwischen den Staaten ähnelt dem Urzustande bei den Privatleuten. Es gab Zeiten, in denen jeder in seinem Hause König war, aber noch kein Staat, keine Obrigkeit bestand und sich dennoch durch das Zusammenleben und den Verkehr der Menschen schon ein Recht entwickelt hatte. Im Verhältnis der Staaten zu einander ist es dasselbe: ihre inneren Verhältnisse sind geregelt, aber über sich haben sie niemanden, sie leben also in einem Urzustande, und deshalb hoffen die Idealisten, daß sich auch bei den Staaten einmal eine Macht entwickeln wird, die einem Völkerrecht unbedingte Geltung zu schaffen vermag. Dem steht allerdings die Erfahrung entgegen, daß der Faktor, der ein Volk zusammenschmiedet und seinen Herrscher so stark macht, daß er den inneren Frieden aufrechterhalten kann, fast immer der Druck von außen, die auswärtige Gefahr ist. Woher aber sollte für die Gesamtheit der Völker ein auswärtiger Feind kommen? Höchstens könnte die Scheu vor den Greueln des Krieges die Menschen dazu erziehen, zu ähnlichen Einrichtungen überzugehen, aber die Scheu ist ein sehr mäßiger Zwang. Der Nutzen dieser Erkenntnis besteht darin, daß wir auf Grund der Kriegsereignisse die allgemeinen Grundsätze des Völkerzusammen- lebens feststellen und uns danach die alten Zeiten rekonstruieren können, indem wir sagen: damals müssen unter den Privatleuten ähnliche Zustände 1915. 1 ») Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. geherrscht haben, wie sie noch jetzt zwischen den Staaten bestehen. In- dem wir uns auf diesem Umwege ein Bild der Verhältnisse verschaffen, die uns sonst verschlossen wären, weil sie keine schriftlichen Urkunden hinterlassen haben, blicken wir in die Zustände hinein, die der Gründung eines Staates vorausgingen, und das hat praktische Bedeutung insofern, als kein Gesetz verstanden werden kann, wenn man nicht weiß, welche Rechtszustände unmittelbar vorausgingen. So verhelfen uns die Kriegs- ereignisse mittelbar zu einem besseren Verständnisse des alten römischen Rechts, und was uns davon in der Gegenwart noch angeht, sind die Rechtsbegriffe, die bei uns zum großen Teil noch aus jener Zeit stammen. Der Vortragende gab nun eine kleine Blütenlese dieser Methode, gestützt auf Kriegsbeispiele.. So beleuchtete er u. a. im Hinblick auf das Verhältnis Belgiens zu Englands und Serbiens zu Rußland die uralten Ver- hältnisse der Vormundschaft und der rechtlichen Bedeutung und moralischen Kraft der Bündnisverträge und erörterte ferner die Entwickelung des Begriffs der juristischen Person, des wesentlichen Bestandteils, der Selbsthilfe, der Kaution und der Geisel und des Unterschiedes zwischen Besitz und Eigen-- tum, indem er gleichzeitig untersuchte, welche dieser Begriffe bereits das Bestehen eines Staates voraussetzen. Er schloß mit einem Hinweise darauf, wie der Krieg also auch für die römische Rechtsgeschichte Vorteile bringe. Eine Besprechung fand nicht statt. 2. Sitzung vom 26. April. Vortrag des Herrn Landrats Dr. Freiherr von Reibnitz aus Falken- berg O/S. über: Weltkrieg und Weltbörse. Der Vortragende gab ein umfassendes Bild der mit dem Wirtschafts- leben und der Politik zusammenhängenden internationalen Kapitalbewegungen in Effektenform und deren ursächliche Verknüpfung mit dem Weltkriege. Einleitend wies er darauf hin, wie die vier großen kosmopolitischen Machtfaktoren, von denen die Pazifizisten glaubten, daß sie einen Weltkrieg unmöglich machten, sämtlich versagt hätten: die Religion, die internationale Arbeiterbewegung, die Kultur, und selbst der Kapitalismus, auf den sogar die Realpolitiker unter den Pazifizisten gebaut hatten, weil doch bei der vielfachen Verkettung der kapitalistischen Interessen der Großmächte ein Krieg unabsehbare wirtschaftliche Schädigungen dieser Mächte bringen mußte. Aber das Kapital trage einen Januskopf: es verkörpere ein Stück nationalen Lebens, nationaler Arbeit, und dabei kenne es keine Landes- grenzen und kein patriotisches Gefühl. Das beste Beispiel dafür ist, daß von den Aktien der amerikanischen Bethlehem Steel Corporation, die jetzt am meisten an Kriegslieferungeu für unsere Feinde verdient, II. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 3 schätzungsweise 25 Prozent sich in den Händen von Berliner Speku- lanten befinden. Man unterscheidet drei Epochen des internationalen Effektenkapi- talismus. Ungefähr 1694, mit der Zeit der Gründung der Bank von Eng- land, begann die internationale Kapitalwanderung in Effektenform, das Suchen des Kapitals in anderen Ländern nach möglichst hohen, sicheren Renten. Die zweite Epoche, die 1830 begann, zeigt eine intensive Ver- quickung zwischen Exportindustrie und Kapitalexport. England z. B. führte Riesenmengen von Schienen und Lokomotiven aus, und die Lieferanten ließen sich mit Eisenbahn-Obligationen und -Aktien bezahlen, die sie an der Börse verkauften. 1891, nach Eintritt Deutschlands in die Reihe der Weltmächte und mit dem Besuch des französischen Geschwaders in Kronstadt, begann die dritte Epoche, gekennzeichnet durch eine innige Verquickung zwischen Kapital und auswärtiger Politik. Das Feld des internationalen Effektenkapitalismus sind die Länder der Kapitalausfuhr (England, Frankreich, Holland, Deutschland, Belgien, die Schweiz und Österreich-Ungarn), die Länder der Kapitaleinfuhr (Rußland, Spanien, Italien, Portugal, die nordischen Staaten, die Balkanländer, Mittel- und Südamerika, Ostasien) und die Vereinigten Staaten, die mit ihrer Kapitalein- und Aus- fuhr das typische Land des internationalen Effektenkapitalismus bilden. Das Vermögen der zivilisierten Welt wird auf 1700 Milliarden Mark, ihr Gesamtbetrag an Effekten auf 625 Milliarden Mark geschätzt. Die Ver- einigten Staaten besitzen insgesamt 163 Milliarden Mark Effekten, da- runter vier Milliarden ausländische, Deutschland 60 Milliarden, darunter 16 Milliarden ausländische, England 110 Milliarden, darunter 64 Milliarden ausländische, Frankreich 118 Milliarden, darunter 65 Milliarden aus- Jändische. Der Weltkrieg hat schon gezeigt, welche Konsequenzen diese Ver- flechtungen und Verpflichtungen haben. England hat enorme Summen in seinen Kolonien angelegt, in Effekten allein 34 Milliarden Mark, und falls die Kolonien sich von ihm lösen, bedeutet das Riesenverluste. Frankreich hat 10 Milliarden in russischer Staatsanleihe und 5 Milliarden in russischen industriellen Unternehmungen stecken; es besitzt ferner 58 Prozent der italienischen Staatsschuld und ungefähr eine halbe Milliarde in türkischen Eisenbahnen und industriellen Unternehmungen. Auch Deutschland ist mit mehreren Milliarden in Rußland interessiert. Der Vortragende besprach kurz die Eigenarten der sechs großen Börsen, ‚an denen sich der internationale Effektenverkehr hauptsächlich vollzieht — London, Paris, Amsterdam, Brüssel, Berlin, New York — und ging dann auf die Ursachen und Wirkungen des internationalen Effekten- kapitalismus ein. Hauptursache ist das Anlagebedürfnis für Kapitalien; weiter kommen auch der Handel, die Auswanderung, ja sogar die Gold- 1% 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Culiur. währung in Betracht. Je näher das 19. Jahrhundert seinem Ende kam, desto mehr spielten auch politische Erwägungen mit hinein und leiteten Kapitalien in fremde Länder. Das Jahr 1843 leitete französische Spar- kapitalien nach Spanien, Italien und Mexiko. Italien und Japan hätten sich nicht zu Großmächten entwickeln können, wenn ihnen nicht alte Groß- mächte die Gelder für ihre wirtschaftlichen und Rüstungszwecke geliehen hätten. Deutschland hat nicht nur Rumänien, sondern auch Serbien, Griechenland und Bulgarien mit großen Kapitalien gespeist, und in der Türkei das französische und englische Kapital zu entsetzen gesucht. Nicht nur dank dem Schutze des Dreibundes, sondern auch mit Hilfe des deutschen Kapitals hat Italien sich wirtschaftlich entwickeln können, Frankreich hat in Rußland 15 Milliarden auf eine Karte gesetzt, und da jeder Franzose in irgend einer Weise an der Börse beteiligt ist, so würde der endgültige Verlust der russischen Engagements die erste kapitalistische Revo- lution der Welt und damit den Sturz der französischen Regierung zur Folge haben. In Rußland hat ein circulus vitiosus zum Kriege geführt, Mit Geldern aller Staaten suchte der frühere Finanzminister Witte Rußland zu einer Autarkie zu entwickeln, einem wirtschaftlich in sich geschlossenen und dadurch unabhängigen Reiche. Aber die Industrie hatte keinen Ab- satz, weil die russischen Bauern nichts kaufen. Um die Industrie zu be- schäftigen, wurden Eisenbahnen gebaut, Diese aber hatten keinen Verkehr, und deshalb baute man nun strategische Bahnen, um dereniwillen Frankreich, auf das man zuletzt allein angewiesen war, seiner Revanche- idee zuliebe immer neue Milliarden nach Rußland gab. In Frankreich hat die Hochfinanz die Presse in der Hand; diese mußte dem Volke immer wieder sagen, daß ihm Rußland zur Revanche verhelfen werde, und so für die russischen Anleihen werben, die große Provisionen brachten. Deshalb wurden von der Hochfinanz auch Deputierte gekauft, und deshalb wurde Jaur&s, der dem ganzen Treiben Widerstand leistete, am Tage vor der Kriegserklärung ermordet. Außer auf das Wirtschaftsleben und die Politik wirkt der internationale Effektenkapitalismus auch auf den Geldmarkt. England müßte bei seiner passiven Handelsbilanz auch eine passive Zahlungsbilanz haben, wenn es nicht sehr große Kapitalien hätte, und die Änleihezinsen einen Ausgleich bildeten. Andererseits hat Amerika wegen seiner Verschuldung in Europa eine passive Zahlungsbilanz und gleicht sie aus durch einen großen Export. Durch solehen Ausgleich wird eine Störung der Wechselkurse und die Ausfuhr von Gold vermieden. Große Finanzkrisen werden jetzt schneller beseitigt als früher, weil durch den internationalen Effektenkapitalismus das Geld jetzt schneller zusammenströmt, wo es gebraucht wird, und er kurzfristige Anleihepapiere rasch aufnimmt. Was die Rolle des internationalen Effektenkapitalismus im Kriege anlangt, so hat der Glaube, daß der Besitz ausländischer Effekten eine II. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 5 große wirtschaftliche Reserve bilde, in den ersten Kriegsmonaten vollkommen Schiffbruch gelitten; es war unmöglich, unsere ausländischen Effekten an den neutralen Börsen zu realisieren. Die großen Börsen machten Ende Juli zu. Jetzt ist die im Dezember wiedereröffnete New- Yorker Börse fähig, große Mengen europäischer Wertpapiere aufzunehmen, und Deutsche wie Engländer haben davon reichlich Gebrauch gemacht. Für England, wo die Londoner Börse am 4. Januar unter großen Kautelen wiedereröffnet wurde, wird es verhängnisvoll werden, daß die Regierung verbot, irgendwelche Anleihen an die Börse zu bringen, die sie nicht aus- drücklich erlaubt habe. Damit war es den neutralen Staaten unmöglich gemacht, in London Kredite aufzunehmen, und besonders Ostasien und Südamerika gingen infolgedessen nach New-York, und das wird auch nach dem Kriege so bleiben. Ferner hat England fremde Wechsel auf London nicht mehr diskontiert und damit den bisher unerschütterlichen Glauben an die internationale Zahlungskraft des Sterlingwechsels auf London ver- nichtet. Als Mittelpunkt des Geld- und Kapitalmarktes der Welt wird England jetzt von Amerika aus dem Sattel gehoben werden. Auch Deutschland muß sich von England freimachen, und der Vortragende schlug vor, daß das Reich eine Akzeptbank in Hamburg gründe und Hand in Hand mit unseren großen Überseebanken die Finan- zierung unseres Außenhandels selbst übernehme. Infolge des Krieges würden voraussichtlich drei große Zonen des internationnlen Effekten- kapitalismus entstehen. England und seine Kolonien mit dem Mittelpunkt London, der europäische Kontinent und Kleinasien mit dem Mittelpunkt Berlin, und die Vereinigten Staaten, Mittel- und Südamerika sowie Ostasien mit dem Mittelpunkt New-York. Hinsichtlich der Zukunft Deutschlands hob der Redner auch hervor, wie man uns vor den Kriegsanleihen für arm gehalten habe, nur weil es bei uns nicht gelungen war, das Wert- papier zu popularisieren. Das habe sich jetzt geändert, und hoffent- lich werde in Zukunft das deutsche Kapital energischer auch in fremde Länder gehen als Schrittmacher unserer politischen und wirtschaftlichen Expansion. Diese aber bedinge auch eine innige Fühlungnahme mit der Presse, und ferner müßten wir in allen größeren Ländern, die viel Geld ein- und ausführen, bei den Botschaften Finanzattache6s haben, Männer mit spekulativem Sinn, wirtschaftlichen Kenntnissen und völkerpsycholo- gischem Verständnis. Weiter wünschte der Vortragende die Errichtung eines Reichshandelsamtes mit einer Abteilung für Handelsverträge, einer für die Exportindustrie und einer effektenkapitalistischen Abteilung, die die Ströme deutschen Kapitals in die richtigen Kanäle zu leiten hätte. Der internationale Effektenkapitalismus müsse zum Mitarbeiter auch an unserem wirtschaftlichen Fortschritt gemacht werden. Eine Besprechung fand nicht statt. 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. 3. Sitzung vom 17. Mai. Vortrag des Herrn Professor Dr. Adolf Weber über Das wirtschaftliche Leben als Gegenstand des Hochschulunterrichts. Professor Dr. Weber führte in der Hauptsache folgendes aus: Nach dem Kriege werden wir vor unendlich großen und schwierigen wirtschaft- lichen Organisationsaufgaben stehen, und bei der Schulung der Kräfte hierfür können unsere Hochschulen, vor allem unsere Universi- täten, sehr wertvolle Mitarbeit leisten. Wenn sie dabei im Rahmen der Wissenschaft bleiben wollen, werden sie sich beschränken müssen auf die Untersuchung der wirtschaftlichen Zusammenhänge, des wirtschaftlichen Seins. Das Ziel darf nur sein, die Wahrheit zu suchen und zu sagen- Wenn wir außerdem den Studierenden klare Begriffe vermitteln, ihnen Verständnis beibringen für den Zusammenhang der wirtschaftlichen Er- scheinungen im Leben, sie Wesentliches von Unwesentlichem unterscheiden und auch abweichende Meinungen verstehen lehren, dann wäre das wohl ein genügendes Fundament für die Wirtschaftslehre als Wissenschaft. Auf diesem Fundament muß das Gebäude errichtet werden, das dem Um- stande Rechnung trägt, daß die Universitäten die höchsten Fachschulen ‚sind für diejenigen, die später als Juristen Recht und Wirtschaft in Ein- klang zu bringen haben, die als Verwaltungsbeamte meist mit wirtschaft- lichen Maßnahmen zu tun haben. Und dieses Gebäude fehlt eigentlich ganz. Soweit der Universitätsunterricht in den Wirtschaftswissenschaften regelmäßig und systematisch dargeboten wird, beschränkt er sich auf die Volkswirtschaftslehre und die Finanzwissenschaft. Die Universität Berlin widmet dem Kommunalrecht, der Sozialversicherung und dem Privat- versicherungswesen kein einziges spezielles Kolleg, nur ein Privatdozent behandelt alle diese Dinge in wenigen Abendvorlesungen. Die Privatwirt- schaft wird in Berlin weder in einer Vorlesung, noch einer Übung be- handelt. Dabei ist es für Juristen und Volkswirte eine unbedingte Not- wendigkeit, daß sie sich mit diesen Dingen beschäftigen. Bei uns in Breslau sind sowohl das Arbeiterrecht, sowie die Sozialversicherung in den letzten Jahren schon immer behandelt worden. Zur Ausfüllung der allseitig anerkannten Lücken in der Ausbildung sind drei Mittel vorgeschlagen und schon praktisch erprobt worden. Die Betätigung in der Praxis zur Ergänzung des Universitätsunterrichts hat sich nicht bewährt. In der Regel wird in dieser Praxis der Blick für die volkswirtschaftlichenZusammenhänge nur wenig geschärft werden können, und außerdem bietet sich nicht allen Juristen die Möglichkeit, in einen Betrieb zu kommen, in dem sie etwas lernen. Aus diesen Erwägungen heraus haben in den letzten Jahren mehrere Stadiverwaltungen rechts- und staatswissenschaftliche Fortbildungskurse eingerichtet. Diese III. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 7 können aber mit ihrem bunten Durcheinander nicht eine Lücke im Uni- versitätsunterricht ausfüllen, und eine praktischere Gestaltung verhindert die Finanzfrage und der Wunsch nach recht zahlreichem Besuch aus vielen Kreisen. Der dritte Vorschlag lautet auf ein Nachstudium, Wo soll aber dieses erfolgen? Die Technischen Hochschulen kommen nicht in Betracht, weil dort die rechtswissenschaftliche Ausbildung fehlt; bei den Handelshochschulen ist die Vorbildung des hauptsächlichen Hörerkreises eine ganz andere, und zudem besitzt der deutsche Osten keine solche Anstalt. Der Vortragende entschied sich dafür, daß man an der Univer- sität selbst die alten Formen beibehalte und mit neuem, reicherem Inhalt erfülle, daß man den Unterricht der rechts- und staatswissenschaftlichen Fakultät ergänze durch Praktiker, die auf wissenschaftlichem Fundament zu unterrichten verständen. Die theoretische Grundlage müßte vom haupt- amtlichen Dozenten gegeben werden, daneben träte dann der Praktiker als Lehrer für das, was er genauer kenne, als der Professor, An den Vortrag schloß sich eine umfangreiche Besprechung, an der außer dem Vorsitzenden, Öberlandesgerichtspräsident Dr, Vierhaus die Herren Professor Schott, Landtagsabgeordneter Dr. Wagner, Landrat Dr. Freiherr von Reibnitz, Dr. Kurt von Eichborn, Privatdozent Dr. Obst, Justizrat Dr. Heilberg, Dr. Hönig, Köster und Professor Leonhard sich beteiligten. 4. Sitzung vom 31. Mai. Vortrag des Herrn Professor Dr. Heilborn über den verschärften Seekrieg und das Völkerrecht. Der Vortragende führte aus, unter dem verschärften Seekriege ver- stehen wir die vom Chef des Admiralstabes der Marine durch die Be- kanntmachung vom 4. Februar 1915 angekündigten Maßregeln. Die Bekanntmachung enthält zweierlei: Die Ankündigung der Zerstörung aller feindlichen Handelsschiffe, die vom 18. Februar ab in einem näher bezeichneten Kriegsgebiet angetroffen werden würden, und eine Warnung an die Neutralen vor den wegen des englischen Flaggen- mißbrauchs und der Zufälligkeiten des Seekrieges daraus auch für ihre Schiffahrt entstehenden Gefahren. Sind nun diese Maßregeln 1. dem Gegner und 2. den Neutralen gegenüber zulässig? Die Regierung hat sie als Vergeltungsmaßregeln gegen England bezeichnet, und zur Vergeltung können wir Maßregeln ergreifen, die an sich verboten und nur im einzelnen Falle dadurch gerechtfertigt sind, daß sie durch eine andere Rechtswidrigkeit herausgefordert waren. Aber die Maßregel war 8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. auch ohne Berufung auf den Repressaliencharakter zulässig. Das Kriegs- recht als Teil des Völkerrechts hat sich vorwiegend im Wege der Gewohn- heit entwickelt, und diese Entwickelung steht unter dem Einflusse der Neuerungen in der Kriegstechnik, der Erfindung der Luftschiffe, der Unter- seeboote und der Minen. Der kriegerischen Gewalt, der die feindlichen Angriffs- und Verteidigungsmittel — mögen sie aus Personen oder aus Sachen bestehen — ausgesetzt sind, sollen nicht unterworfen werden die friedliche Bevölkerung des feindlichen Landes und das Privat- eigentum, soweit es nicht zum Angriff oder zur Verteidigung benutzt wird. Aber dasist nur ein Rechtsgrundsatz, der sich nicht konsequent durchführen läßt — denn z. B. beim Bombardement einer Festung läßt sich nicht vermeiden, daß auch Zivilpersonen getroffen werden —, und dieser Rechtsgrundsatz erleidet eine weitgehende prinzipielle Ausnahme im Seekriege. Hier ist das feindliche Privateigentum grundsätzlich Gegen- stand des Beuterechts, weil der Seekrieg auch die Unterbindung des feindlichen Handels bezweckt. Gegen Neutrale aber ist kriegerische Gewalt nur zulässig, wenn sie den Gegner durch Blockadebruch, Zuführung von Konterbande oder neutralitätswidrige Dienstleistungen unterstützen. Die regelmäßige Form des Vorgehens gegen feindliche und neutrale Kauf- fahrteischiffe ist die Anhaltung, Durchsuchung, Aufbringung, und schließlich das prisengerichtliche Verfahren, bei dem das Schiff je nach Umständen in das Eigentum des Staates übergeht, der es gekapert hat. Die deutsche Bekanntmachung aber kündigt an: erstens die sofortige Zerstörung aller feindlichen Schiffe, und zweitens — durch die Ver- weisung der neutralen Schiffahrt auf eine ungefährdete Strecke, also in- direkt — eine Minensperre. Die Zerstörung der Handelsschiffe soll nach englischer und amerikanischer Auffassung unzulässig sein. Aber nicht nur Frankreich und Rußland, sondern auch Amerika selbst haben früher Zerstörungen feindlicher Handelsschiffe vorgenommen. Die deutsche Prisenordnung vom 30. September 1909 ermächtigt in $ 112 den Kommandanten eines Kriegsschiffes, ein feindliches aufgebrachtes Schiff zu zerstören, wenn dessen Einbringung ihm unzweckmäßig oder unsicher erscheint. Die englische Prisenordnung selbst gestattet die Zerstörung des feindlichen Handelsschiffes in zwei Fällen: 1. Wenn der Zustand der Prise die Aufbringung nicht gestattet, 2. wenn der Kaperer die erforder- liche Besatzung nicht abgeben kann. Das ist nun der eigentliche Fall des Unterseebootes. Auch die amerikanische Prisenordnung er- kennt beide Fälle an und außerdem einen dritten: Drohende Gefahr der Wiederwegnahme der Prise, überhaupt ist in den meisten Prisenord- nungen das Recht der Prisenzerstörung eine Zweckmäßigkeitsfrage. Im Völkerrecht aber besteht kein Rechtssatz, der befiehlt, eine Prise fahren zu lassen, wenn man sie nieht aufbringen kann; feindliche Schiffe, bei denen das nicht möglich ist, darf man eben zerstören. Die Behauptung III. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 9 englischer Rechtsbücher, daß eine Vernichtung fremder Schiffe vor Eigen- tumsübergang durch Spruch eines Prisengerichts unzulässig sei, kommt hier nicht in Betracht, denn kriegerische Gewalt wendet man selbstver- ständlich nur gegen fremdes Eigentum an. Das prisengerichtliche Ver- fahren findet nur statt, um die Verletzung neutraler Rechte zu vermeiden. Wo solche nicht bestehen, wird durch die Zerstörung weder ein Neutraler noch der Feind rechtlich verletzt. Die Pariser Seerechtsdeklaration von 1856 erklärt allerdings: ‚Neutrales Gut unter feindlicher Flagge, mit Ausnahme der Kriegskonterbande, darf nicht mit Beschlag belegt werden.“ Aber diese Bestimmung verbietet nur die Aneignung der Ware durch den Feind; dieser soll sich nicht daran bereichern; dagegen hat sie die an sich erlaubte Kriegshandlung gegen den Feind nicht einschränken und vor allem den feindlichen Schiffen die Sache nicht so bequem machen wollen, daß sie nur etwas neutrale Ware aufzuladen brauchen, um nun fordern zu können, daß man sie nicht zerstöre. Wenn ein Neutraler Waren auf einem feindlichen Schiffe verfrachtet, weiß er, daß er damit Gefahr läuft, und hat sie zu versichern, er darf aber nicht dem Krieg- führenden in den Arm fallen und behaupten, dieser dürfe nun dem Schiffe nichts zuleide tun. Demgemäß haben auch 1871, als „Desaix‘ drei deutsche Handelsschiffe zerstört hatte, die französischen Prisengerichte die gefor- derten Entschädigungen verweigert; die Ware sei nicht fortgenommen worden, und es habe nur eine rechtmäßige Kriegshandlung vorgelegen. Aus Gründen des Eigentums kann also gegen die Zerstörung eines feindlichen Handelsschiffes nichts eingewendet werden. Muß nun etwa diese Zerstörung zum Schutze der Menschen auf diesen Schiffen unterbleiben? Gegen friedliche Personen ist allerdings ein Angriff nicht zulässig. Aber ein Unterseeboot ist außerstande, gleich einem großen Schiffe Dutzende von Personen von fremden Handelsschiffen aufzunehmen. Es hat nur die Möglichkeit, sie auf ein zufällig anwesendes drittes Schiff umladen zu lassen oder ihnen Zeit zu gewähren, in die Rettungsboote zu steigen. Die amerikanische Note vom 17. Mai über den Lusitania-Fall vertritt den Standpunkt, daß ein amerikanischer Bürger das Recht habe, auf Handelsschiffen der Kriegführenden zu reisen, Wenn ein Kriegsschiff ein Handelnschiff zerstöre, müsse es die darauf be. findlichen Menschen übernehmen und dürfe sie nicht auf die unsicheren Rettungsboote verweisen, und da dies den Unterseebooten unmöglich sei, dürften sie nicht gegen feindliche Handelsschiffe verwendet werden. Die Vereinigten Staaten stellen also einfach eine bestimmte Formel auf und erklären jede Zuwiderhandlung gegen diese für rechtswidrig. Nun ist aber die Zerstörung eines feindlichen Handelsschiffes an sich keine Rechts- widrigkeit, und die Frage der Rettung der Menschen ist eine Tatsachen- frage des einzelnen Falles. Die Rettungspflicht schließt regelmäßig nur 10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. die sofortige Torpedierung aus — mit einer Ausnahme. Der Standpunkt der Vereinigten Staaten, die Zumutung des Verzichtes auf die Verwendung von Unterseebooten widerspricht dem Geiste und der Entwickelung des Kriegsrechts, denn noch niemals hat ein Staat auf Kriegsmittel verzichtet, die für ihn wirklich wesentlich waren, und die Rücksicht auf die friedliche Bevölkerung kann immer erst da einsetzen, wo die militärische Notwendigkeit aufhört. Wenn wir auf die U-Boote verzichten wollten, weil durch sie auch friedliche Personen zu Schaden kommen, dann dürften wir auch keine Städte beschießen, keine Bomben aus Luftschiffen werfen, keine Minen verwenden. So war das Kriegsrecht niemals; es erstrebte immer nur die Vermeidung unnötiger Schädigungen. Ein feindlichegs Schiff aber ist Feindesland, wer es betritt, muß die Nachteile mit in Kauf nehmen, und diese Nachteile waren hier vorher angekündigt worden. Bei der „Lusitania‘ lag der die sofortige Torpedierung recht- fertigende, die vorherige Rettungspflicht des Angreifers ausschließende Ausnahmefall vor, daß man es in ihr nicht mit einem friedlichen Handelsschiff, sondern, da die Mannschaft Waffen führte — mit einem Franktireurschiff zu tun hatte. Nach englischer Anschauung allerdings sind Handelsschiffe zu bewaffnetem Widerstand berechtigt, sie gehören „potentiell“ zu den Seestreitkräften ihres Staates. Aber sie sollen trotzdem nicht angegriffen werden dürfen. Soll nun etwa das U-Boot einen Angriff abwarten? Das braucht es nicht, zumal die englische Regierung die Handelsschiffe ausdrücklich aufgefordert hat, unsere U-Boote zu rammen oder zu beschießen. Dieser Umstand berechtigt die U-Boote zu sofortiger Torpedierung der englischen Handelsschiffe, und damit ist den darauf fahrenden Menschen, auch neutralen, jeder Anspruch auf Schutz entzogen. Weiter besprach der Vortragende den Gebrauch falscher Flaggen, den er als eine erlaubte Kriegslist ansah. Der neutrale Staat, dessen Flagge mißbraucht wird, kann nicht dafür verantwortlich gemacht werden, indem man etwa gegen alle seine Schiffe vorgeht. Die irrtümliche Zer- störung eines neutralen Schiffes ist an sich eine rechtswidrige Schädigung und macht den Staat verantwortlich, dessen U-Boot dabei ein Verschulden trifft. Da aber die britischen Schiffe angewiesen sind, neutrale Abzeichen zu führen und die deutschen Boote zu rammen, so befinden sich die Kapitäne der U-Boote in einer Zwangslage, wegen deren man ihnen kein Verschulden wird beimessen können. Die deutsche Regierung hat in solchen Fällen ihr Bedauern — keine Entschuldigung! — ausgesprochen und Schadenersatz zugesagt. Die Warnung der Neutralen befreit nicht von dieser Haftung. Die zweite Form des verschärften Seekrieges ist die Ausstreuung von Minen. Das Recht dazu ist nicht zweifelhaft. Bezüglich der Frage, wo lII. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 14 sie gelegt werden dürfen, vertritt England den Standpunkt, daß dies nur in den Gewässern der kriegführenden Staaten, aber nicht auf offenem Meere geschehen dürfe. Aber unzweifelhaft sind auch die offenen Meere Kriegsschauplatz, und im Kriegsrecht ist Alles erlaubt, was nicht ver- boten ist. Die sich aus der Minenlegung für die neutrale Schiffahrt er- gebende Härte hat die deutsche Regierung bei verschiedenen Gelegenheiten zu mildern gesucht, zuletzt in der Bekanntmachung vom 4. Februer durch die Angabe einer minenfreien Zone für die neutrale Schiffahrt. Ein Schutz der Menschen ist natürlich bei Minen ausgeschlossen, und daraus, daß sie trotzdem erlaubt sind, ergibt sich die Verkehrtheit der Forderung, U-Boote nicht zu verwenden, weil sie keine Sicherung der Menschen gestatten. Ich bin deshalb der Meinung — so schloß der Vortragende — daß die Bestimmungen der Bekanntmachung vom 4. Februar im Einklang mit dem Völkerrecht sind. Die deutsche Regierung hat sie ausdrück- lich als Vergeltungsmaßregel bezeichnet. Das war das Motiv, aber nicht der Rechtsgrund; der Rechtsgrund ist die Zulässigkeit auch ohne den Vergeltungszweck. Das ist für uns wichtig, weil die Maßregel auch Neutrale trifft, und wir nicht zugleich an diesen Vergeltung üben können für das, was England uns getan. Aber darüber hinaus ist es auch für unser Gewissen nicht gleichgültig, wie wir uns die Frage beantworten müssen, ob Deutschland hier rechtswidrig vorgegangen ist, oder ob es sich auch in dieser schweren Zeit im Rahmen dessen gehalten hat, was das Recht ihm gestattete. Ich bin der Meinung, daß es sich in diesem Rahmen gehalten hat. An den Vortrag schloß sich eine Besprechung unter Beteiligung der Herren Oberlandesgerichtspräsident Dr. Vierhaus, Oberregierungsrat Dr. von Conta, Senatspräsident Kloer, Prof. Dr. Weber. d. Sitzung vom 1. November, Den Inhalt der Verhandlungen bildete eine Besprechung über die Verordnungen des Bundesrats vom 9. September und 7. Oktober 1915 zur Entlastung der Gerichte. Die Besprechung wurde eingeleitet durch Bemerkungen des ÖOberlandesgerichtspräsidenten Dr. Vierhaus; an der Besprechung beteiligten sich die Herren Landgerichtspräsident Dr. Fels- mann, Justizräte Dr. Heilberg, Dr. Lemberg und Dr. Bielschowsky, Herr Geheimer Justizrat Fraenkel, Herr Professor Dr. Fischer, Herr Polizeipräsident von Oppen und der Vortragende. Auf eine Wiedergabe der erörterten Fragen kann verzichtet werden, da sie nur Einzelheiten betreffen. 12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. 6. Sitzung vom 14. November. Vortrag des Herrn Landrats Dr. Freiherrn von Reibnitz aus Falkenberg O/S. über Den Weltkrieg als wirtschaftlichen und politischen Wendepunkt für die Vereinigten Staaten. Der Vortragende führte aus: Der Weltkrieg hat einen großen Wandel in weltpolitischer und weltwirtschaftlicher Beziehung eingeleitet. Während die Völker Europas einander zerfleischen, entstehen jenseits des Meeres zwei neue große Welten: Nord- und Südamerika, und die große asiatische Welt mit Japan an der Spitze. Europa, das bisher glaubte, der politische und wirtschaftliche Mittelpunkt der Welt zu sein, wird sich daran gewöhnen müssen, daß diese neuen Welten ihm einen vielleicht erdrückenden Wettbewerb bereiten. Niemals hat das Bild unseres Kaisers: „Völker Europas, wahret eure heiligsten Güter‘ eine so tiefe Bedeutung bekommen wie jetzt, wo Japan immer kühner das Haupt erhebt. Amerika aber ist das Land, das weniger in politischer als in kapitalistischer Ausbreitung seinen Vorteil aus der Zerfleischung Europas zieht und einer wirtschaftlichen und politischen Neuorientierung entgegensieht. Der Vortragende kennzeichnete den wirtschaftlichen Aufschwung der Vereinigten Staaten vor dem Weltkriege. Während in der Zeit von 1860 bis 1910 das Nationalvermögen Englands sich verdreifacht, das Frankreichs sich verdoppelt hat, hat sich das der Vereinigten Staaten ver- achtfacht. Obgleich Amerika nur fünf Prozent der Gesamtbevölkerung der Erde umfaßt, beträgt sein Anteil an der Gesamterzeugung der Welt in Weizen 20 v. H., in Gold 28, in Silber 33, in Baumwolle 55 und in Petroleum 70 v. H. Amerika ist wirtschaftlich eine Autarkie; vermöge seiner verschiedenen Klimate werden Mißernten in einem Teile des Landes durch gute Ernten in anderen Teilen ausgeglichen. Es hat die wilden Kämpfe nicht gehabt, die uns immer wieder um Jahrhunderte zurück- brachten. es hatte keine Heereslasten und keine sozialen Lasten. Die anderen Komponenten dieses wirtschaftlichen Aufschwunges kamen vom Mutterlande Europa: von 1821 bis 1911 wanderten 29 Millionen Menschen ein, darunter 154, Millionen Engländer, Deutsche und Skandinavier, und ebenso war Amerika das typische Land der Kapitaleinfuhr. Vor dem Welt- kriege waren für 5252 Millionen Dollar amerikanische Effekten im Besitze europäischer Kapitalisten, und dazu kamen noch laufende Guthaben euro- päischer Bankiers in New-York, während Amerika nur eine Milliarde Dollar in ausländischen Effekten angelegt hatte. Wie änderten sich nun diese wirtschaftlichen Zustände durch den Weltkrieg? Anfänglich strömten infolge der Börsenpanik Riesenmengen III. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 13 amerikanischer Fffekten aus Europa an die New-Yorker Börse zurück. Dann aber begannen die großen Waffen-, Munitions- und Getreidelieferungen an die Ententemächte, wodurch Amerika soviel verdient hat, daß es jetzt auch finanziell unabhängig wird. In früheren Jahren war der Über- schuß der Ausfuhr über die Einfuhr aufgezehrt worden durch die Effekten- zinsen, die großen Ausgaben der amerikanischen Touristen in Europa, die großen Frachtkosten, die Amerika mangels einer eigenen Handelsflotte an englische und deutsche Schiffe zahlte, und die Sendungen an amerikanische Angehörige in Deutschland. Jetzt fiel ein großer Teil dieser Ausgaben weg, und Amerika hatte nun solche Überschüsse, daß es Gelder ausleihen konnte, nicht nur an kriegführende, sondern auch an neutrale Staaten. England aber hat durch seine Maßnahmen während des Krieges seinen Ruhm als unerschöpfliche Kapitalsquelle eingebüßt, und Südamerika und andere Länder, die bisher dort ihren Kapitalsbedarf befriedigt hatten, wandten sich nun mit ihren Anleihen nach New-York. Doch außer dem europäischen Kriege wirkten auch innere Vorgänge an dem industriellen und kapitalistischen Aufschwung Amerikas mit: die Eröffnung des Panama- kanals, der die Frachten zur Westküste und nach Ostasien verbilligt, die Intensivierung des landwirtschaftlichen Betriebes und die auf dem Bankgesetz vom November vorigen Jahres beruhende Bankreform, die die Währung elastisch gestaltet und die internationale Ausdehnung des amerikanischen Bankwesens ermöglicht hat. Diesen Wandel der Verhält- nisse benutzten nun die Vereinigten Staaten, um in Südamerika und Ost- asien der europäischen Waren- und Kapitaleinfuhr das Wasser abzugraben und die Finanzierung des südamerikanischen -Handels an sich zu reißen, der bisher in London finanziert war. Es wird eine der Hauptaufgaben Amerikas sein, den Sterlingwechsel durch den Dollarwechsel zu ersetzen und die Finanzierung der Auslandsakzepte selbst zu übernehmen, und eine der schwierigsten Aufgaben für uns Deutsche, die wir immer den Außen- handel von London finanzieren ließen, uns ebenfalls unabhängig zu machen und eine deutsche Remburs- oder Ausgleichs-Bank zu gründen, die in engster Anlehnung an die Reichsbank entstehen müßte. Ferner hat England die Dummheit begangen, den neutralen Staaten seinen Kapital- markt zu verschließen, aber außerdem ist auch sein Zinsfuß zu hoch gestiegen; Südamerika bekommt das Geld jetzt billiger in New-York. Auch wird England im Gegensatz zu früher nur gerade genug haben, um seine Kolonien durch weitere Kapitalshergabe an sich zu ketten. Es entstehen also zwei Effektenkapitalswelten: England mit seinen Kolonien, und Nord- und Südamerika und Ostasien mit dem Mittelpunkt New-York. Der Mittelpunkt einer dritten werden hoffentlich wir sein, denn der neue Weg Hamburg—Bagdad weist natürlich auch auf das Ziel, die uns verbündeten Staaten durch Effektenkapital wirtschaftlich zu be- 14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. fruehten und dadurch zugleich unserer Industrie einen neuen Absatzmarkt zu gewinnen. Der Vortragende erörterte sodann das ostasiatische Problem, das in den Verhältnissen Japans und Chinas liegt. Er kam zu dem Schlusse, daß Japan trotz seines Expansionsbedürfnisses in China, wo es vor allem das Reisland findet, das ihm für seinen starken Bevölkerungszuwachs fehlt, vorläufig nicht mit Amerika zusammenstoßen werde, weil es auf dessen Kapital angewiesen sei. Einstweilen würden Japan und Amerika gemein- sam ihre wirtschaftliche Expansion in China betreiben und vielleicht auch militärisch in Mexiko zusammengehen. Aber auch die Spannung zwischen Japan und England besteht weiter, weil Japan in China das Prinzip der offenen Tür verletzt hat, und wegen Japans Absichten auf Indien und dessen Hinneigung zu Japan. Es ist also wahrscheinlich, daß England und Amerika einmal zusammen gegen Japan und Indien gehen werden. Das läßt auch die Stimmung in Amerika besser verstehen. Eine energische Opposition der dortigen Deutschen zu unseren Gunsten würde sie wirtschaftlich ruinieren, da die Engländer, schon weil sie das älteste eingesessene Volk sind, in jeder Beziehung die ührende Rolle spielen. Das Bild der wirtschaftlichen Zukunft der Vereinigten Staaten. zeigt also deren finanzielle Unabhängigkeit von Europa, ihre effekten- kapitalistische Herrschaft im Stillen Ozean und die wirtschaftliche Durch- dringung von Südamerika. Was haben wir nun von Amerika nach dem Frieden zu erwarten? Auf Kapital ist nicht zu rechnen. Auch wenn wir durch weitere Popularisierung des Wertpapieres alles Geld in Effekten verwandeln können, wird das für den ungeheuren Kapitalbedarf nicht genügen. Deshalb wäre es wünschenswert, wenn wir ausländisches Kapital zu uns leiten könnten. Aber für die Deutschamerikaner gibt es nach Ansicht des Vortragenden nur zwei Möglichkeiten: Amerikaner zu sein oder Deutsche. Es sei zu hoffen, daß ein Teil als Rückwanderer wieder zu uns komme und in manchen Industrien uns das lehre, was wir immer von Amerika lernen können: Intensivierung der Industrie, und darin liege die Zukunft, denn nur in Qualitätsware seien wir noch auf dem Welt- markte konkurrenzfähig. Wir könnten die Eigenschaften von Amerika lernen, die dieses Land so schnell wirtschaftlich und weltpolitisch groß gemacht haben: Arbeitsenergie, Arbeitsintensität, Wagemut und Optimismus. Es folgte eine kurze Auseinandersetzung zwischen dem Vortragenden und Herrn Professor Dr. Leonhard. III Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 15 7. Sitzung vom 6. Dezember 1915). Vortrag des Herrn Geheimen Justizrats Professor Dr, Rudolf Leonhard: Die deutsch-amerikanische Bewegung. Schon einmal in diesem Jahre habe ich das Wort ergriffen, um meine Eindrücke aus der Presse Nordamerikas und aus einem eifrigen Brief- wechsel mit einflußreichen Männern der Vereinigten Staaten meinem Vater- lande dienstbar zu machen, Es geschah dies im Januar, als noch fast jedermann in Deutschland Onkel Sam als unsern liebevollsten Freund verherrlichte.e. Damals sollte mein Vortrag gewissermaßen den öffentlichen Ausruf tuen: „Nimm Dich in Acht!‘“?) Dies hat damals, wie man mir sagte, die amerikanischen Kreise Berlins beunruhigt. Es war dies freilich durch- aus nicht meine Absicht. Inzwischen hat sich aber das Blatt gewendet und ich habe mit meiner Warnung leider nur allzu sehr Recht behalten. Die deutsche Stimmung gegenüber Amerika schlug seitdem so sehr in ihr Gegenteil um, daß ich mich bereits genötigt sah, öffentlich vor den Gefahren zu warnen, die dieser Umschlag uns zu bringen drohte. Freilich hat neuerdings Amerikas Note an England die Stimmung des deutschen Volkes einem Mittelwege zwischen Vertrauensseligkeit und unvorsichtiger Feind- seligkeit angenähert, auf dem sie sich hoffentlich während des Krieges erhalten wird. Die Gefahr, daß sie nach der einen wie nach der andern Seite ausarten könnte, bleibt aber bestehen. Namentlich gibt die schroffe Haltung, die man drüben neuerdings gegenüber unseren deutsch-amerika- nischen Freunden beobachtet, einen gefährlichen Anlaß zu bedenklichen Äußerungen entweder allzu schroffer oder allzu nachgiebiger Art. Ich halte es daher für meine Pflicht, auf Grund meines langjährigen Studiums der deutsch-amerikanischen Bewegung zum Besten meines Vater- lands nochmals öffentlich das Wort zu ergreifen. Ich gedenke dabei der vortrefflichen Schrift des bekannten Psychologen Hugo Münsterberg: Amerika und der Weltkrieg, Leipzig 1915. Dieses Buch sollte jeder lesen und schon aus diesem Grunde berühre ich nicht seinen vollen Inhalt, sondern nur einiges, was darin zum Verständnisse der deutsch-amerikanischen Bewegung dargeboten wird. Zur Beurteilung meines Standpunktes hebe ich hervor, daß ich bei meiner Sendung in die Vereinigten Staaten keinerlei Auftrag hatte, mich 1) Spätere Nachrichten sind nicht berücksichtigt. 2) „Amerika während des Weltkrieges.‘ Deutsche Reden in schwerer Zeit. Heymann, Berlin II 155 (auch als besonderes Heft erschienen). 16 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. um die Deutsch-Amerikaner zu kümmern. Ich habe sie auch nicht auf- gesucht, sondern sie sind zu mir gekommen. Es war nicht ein politisches Interesse, das mich an sie fesselle, sondern ihre treuherzige Liebe zu dem gemeinsamen Kulturkreise, dem sie, so wie ich, ihre Geistesnahrung ent- nommen hatten. Erst viel später billigte und förderte unser damaliger Botschafter Freiherr Speck von Sternburg meine Anteilnahme an der deutsch-amerikanischen Bewegung im Interesse des Vaterlandes und ich würde mich freuen, wenn er damit keinen Mißgriff tat. Drei Dinge sind es, die mir heute als Hauptziele meiner Betrachtung vorschweben: der Einfluß dieser Bewegung, ihre Gegner und ihre Zukunft. Alle diese Fragen hängen mit der Unklarheit des Verhältnisses zwischen Staat und Sprache zusammen. Ist ja doch sogar ernstlich in Frage gezogen worden, ob nicht die Begriffe ‚deutsch‘ und „amerikanisch“ völlig un- vereinbar seien, wie Feuer und Wasser. Vor allem aber müssen wir uns darüber klar werden, was wir unter einem Deutsch-Amerikaner verstehen. Es hängt dies von den Fragen ab: Welches sind die Merkmale der Zuge- hörigkeit zu einem Volk? Gibt es eine doppelte Volksangehörigkeit? Im allgemeinen wird jedenfalls eine doppelte Staatsangehörigkeit als möglich anerkannt. Spricht man aber von Deutsch-Amerikanern, so denkt man nicht an den kleinen Kreis der Besitzer einer solchen mehrfachen Staatsangehörigkeit, sondern lediglich an einen Regelfall. Auch auf die Blutmischung deutet man dabei nicht hin, also nicht etwa auf die Kinder von Eltern, von denen der Vater amerikanischen und die Mutter deutschen Ursprungs ist oder umgekehrt. In der Regel denkt man vielmehr, wenn man von Deutsch-Amerikanern redet, nicht an den Staat, noch an das Blut, sondern an den eigenartigen Gedächtnisschatz, aus dem der Mensch seine Gedanken und Erinnerungen formt. Es gibt innere Selbstgespräche, die uns auf Schritt und Tritt begleiten. In der Regel, wenn auch nicht immer, geschehen sie in derSprache derMutter. Diese Gedankensprache kennzeichnet die Zugehörigkeit zu einem Volke als einer besondern Kulturgruppe weit mehr, als das Blut und die Staatszugehörigkeit. Als Amphibien des Geistes- lebens kann man die Deutsch-Amerikaner bezeichnen. Sie sind Leute mit gemischtem Seeleninhalte. Die Mischung ist aber bei den Einzelnen ver- schieden. Zunächst überwiegt das Deutsche bei den aus unserer Heimat Eingewanderten, vielfach auch noch bei den Kindern, dann mehrt sich allmählich der fremdländische Zusatz in ihrem Geistesinhalte, schließlich mindert sich mehr und mehr das vom deutschen Vaterlande Mitgebrachte und der Deutsch-Amerikaner wird zum Träger einer rein amerikanischen Seele. So lange sich aber die Mischung noch bemerkbar macht, bleibt er ein geistiger Mischling und kann durch einen bloßen Willensakt dies nicht auf einmal ändern, sondern höchstens seinen Umwandlungsprozeß entweder durch einen lebhaften geistigen Verkehr mit deutschen Menschen und Schriften verlangsamen oder durch eine Abwendung von derartigen Ein- III. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 17 flüssen beschleunigen. Freilich gibt es viele Leute dieser Art, die etwas anderes scheinen wollen, als sie sind und sich als waschechte Angel- sachsen aufspielen. Doch hilft ihnen dies nicht allzu viel. Sie verlieren dadurch an Achtung, nicht aber an ihrer unabänderlichen Beschaffenheit. Im allgemeinen denkt man freilich dann, wenn man von Deutsch- Amerikanern spricht, nur an solche, die durch ihr „großes Heimweh“ zum offenen Bekenntnisse ihres Seelenzustandes getrieben werden. Aber auch solche deutsche Staatsangehörige möchte ich dazu rechnen, die, wie Hugo Münsterberg, sich einfach als Deutsche bekennen, aber das Geistes- leben ihres Berufsorts völlig beherrschen, insbesondere dann, wenn sie so, wie er, die offen hervortretende Gemeinschaft der Deutsch-Amerikaner gewohnheitsmäßig fördern. Alles in allem erscheint es mir hiernach nicht als Nachteil, kein reiner Amerikaner, sondern ein Deutsch-Amerikaner zu sein, denn ein bekanntes Wort sagt: „So viel Sprachen man redet, so viel mal ist man Mensch.“ Dies bezieht sich natürlich nur auf solche Sprachen, ‘in denen man freiwillig zu denken pflegt, und deren Literatur man be- herrscht. Der vorzüglichen Beanlagung der Deutsch-Amerikaner hat auch ihre Wirksamkeit im Weltkriege durchaus entsprochen, wenigstens insoweit als sie zugleich deutschfreundliche Amerikaner waren. Die Verdienste, die diese Gruppe sich um die Wahrheit der Zeitungsberichte erworben hat, kann nur dann ermessen werden, wenn man den Inhalt der amerikanischen Tagespresse während des Krieges verfolgt hat. Man muß es staunend beobachtet haben, in welchem niemals vorher erreichten Umfange offenbare Entstellungen der Tatsachen durch tausende von Zeitungskanälen in die Seelen des nordamerikanischen Volks und anderer Völker über die Grenze hinüber eingeflößt wurden. Wir alle, auch solche die Amerika kannten, bildeten uns zunächst ein, dies sei nur das Werk englischer Einflüsse und werde schließlich in das Gegenteil umschlagen. Nunmehr dürfen wir aber als sicher annehmen, daß die Abneigung unserer nordamerikanischen Gegner nicht bloß aus England und nicht erst aus der Kriegszeit stammt. Es liegen hier tiefere Quellen amerikanischer Feind- seligkeit vor, ohne die ein solches andauerndes Maß übelwollender Ge- sinnungen nicht denkbar sein würde. Nur wer den Ausbruch dieser Denkart in seinem vollen Umfange kennt, der, wie Münsterberg bemerkt, nicht bloß uns, sondern auch alle, die mitten im amerikanischen Leben standen, überrascht hat, vermag zu schätzen, was es für unsere Freunde bedeutete, gegen eine mehr als zehn- fache Übermacht zu streiten. Zunächst geschah es in deutscher Sprache, der Hermann Ridder in der Staatszeitung englische Berichte hinzufügte. Sodann durch Anschluß an die umfangreiche Presse des Zeitungskönigs Hearst, der stolz darauf ist, als echter Amerikaner für das ihm fremde deutsche Volk ritterlich zu streiten. Weiterhin wurden Zeitungen in eng- 1915. 2 18 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. lischer Sprache zum Dienste der guten Sache gegründet. Irländer. und einige vornehme Amerikaner, deren Stammbaum meist über die Anglisierungs- periode hinaufragt, wie John W.Burgeß, standen diesen Bestrebungen tapfer zur Seite. Zahlreiche Versammlungen, in denen namentlich auch unser Kühnemann mit glänzendem Erfolge wirkte, traten ergänzend neben die deutschfreundliche Presse. Man hat sich mit Recht darüber gewundert, warum dies alles nicht besser und schneller gewirkt hat. Wären es nur englische falsche Be- richte gewesen, denen der Kampf galt, so würde man freilich eher zum Ziele gelangt sein. Leider wurzelten aber die feindseligen Verdächtigungen des Deutschen Kaisers und des deutschen Volkes, namentlich des deutschen Adels und des Offizierstandes, zum Teil in amerikanischen Geistes- strömungen. Schließlich ist aber doch der Krieg Amerikas gegen Deutschland zu- nächst vermieden worden. Es ist sogar eine uns günstige Note an Eng- land ergangen, deren einziger Vorteil für uns freilich nur darin besteht, daß ihre Nichtbeachtung durch England einige amerikanische Vaterlands- freunde gegen unseren Hauptfeind erbittert hat. Daß wir über die Kriegs- gefahr wenigstens vorläufig hinübergekommen sind, verdanken wir vor- nehmlich unserm vortrefflichen Botschafter. Aber wir dürfen nicht glauben, daß ihm dies gelungen sein würde, wenn nicht die Deutsch- Amerikaner endlich nach unsäglichen Fehlschlägen auch anglo-amerikanischen Kreisen die Überzeugung aufgedrängt hätten, daß England und Englands Freunde die Vereinigten Staaten dazu mißbrauchen wollten, für fremde Interessen Kastanien: aus dem Feuer zu holen. Daß dieser Kampf nicht ungefährlich war, beweisen z. B. die Erleb- nisse Münsterbergs, den man dadurch aus seiner Stellung herausdrängen wollte, daß man seiner Universität als Gegenleistung für seine Entlassung eine große Geldsumme versprach. Hierbei zeigten nun seine englischen Kollegen ein großes Anstandsgefühl, und dies scheint auf ihn einen tiefen Eindruck gemacht zu haben. Wenigstens urteilt er, ungeachtet seines Kampfes für Deutschlands gutes Recht, über England viel milder, als wir es zu tun pflegen, sogar über Sir Edward Grey und über Charles W. Eliot, dessen verächtliche Aussprüche über den mangelnden Freiheitssinn der Deutschen uns sehr befremdet haben. Die Milde Münsterbergs wird durch die gelehrte Gewohnheit vermehrt, den eigenen Tiefsinn seinen Mitmenschen unterzuschieben und da einen Streit um Weltanschauungen zu sehen, wo in Wahrheit nur menschliche Habgier und Machtgier um eine Beute kämpfen. Was er über den Gegensatz zwischen der englischen und der deutschen, zwischen der russisch-asiatischen und der westeuropäischen Denkweise auseinandersetzt, enthält freilich höchst wertvolle Beiträge zur Völkerpsychologie. Ich glaube aber doch, daß die Sache viel einfacher liest und eines Professors der Psychologie zu ihrer Klärung überhaupt III. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 19 nicht bedarf. Überall zeigen sich heutzutage Eroberungsgelüste. Die Übervölkerung wird zuweilen geradezu als Rechtstitel auf das Land des Nachbarn und der Landhunger als zureichender Kriegsgrund angesehen. Unsere Anschauungen über das Recht zu Eroberungen stammen noch aus der Zeit, als die Träger der christlichen Kultur heidnischen Nachbarn gegenüberstanden, deren Grundsätze so unmenschlich zu sein schienen, daß ihre Unterjochung als ein verdienstliches Werk für die ganze Menschheit gelten durfte. So gewöhnte man sich daran, in jedem Mehrer des Reichs einen Mehrer der Gesittung zu sehen, einen Vorkämpfer des Menschheits- wohls. Der Trieb zur Grfenzerweiterung erschien sittlich gerechtfertigt. Man verbreitete mit dem Lande die Religion. Nun ist allmählich an ihre Stelle das Nationalvermögen getreten. Daß man in diesem Sinne in England, Frankreich und Rußland verfahren ist, beweist eine Vergleichung der älteren Landkarten dieser Reiche und ihrer Kolonien mit den neueren. In den letzten Zeiten standen Deutschland und Amerika hierin zurück und schienen gesättigt zu sein. Da regte sich drüben der Imperialismus, und auch bei uns riefen die Alldeutschen vor dem Kriege den Nachbarn zu: „Wie Du mir, so ich Dir.“ Sie antworteten auf fremde Drohungen in der gleichen Tonart. Münsterberg behauptet, daß diese Partei nicht ernst genommen werden durfte. Man hat sie aber in Amerika und Eng- land sehr ernst genommen, und das Maß der immerhin nicht unbedeutenden geistigen Kraft, das einem Teil ihrer Schriften eigen ist, mag dies recht- fertigen. Daß unser Herrscher den in ihnen geäußerten Eroberungsplänen ganz fern stand, wissen wir alle, und die überwältigende Mehrheit des Volkes stand auf des Kaisers Standpunkt, im Ausland fanden aber unsere Feinde in solchen Schriften deutscher Eroberungsfreunde ein wertvolles Mittel zur Volksaufreizung. Man hat sie in das Englische übersetzt und überallhin verbreitet. Noch in den letzten Tagen erhielt ich aus Amerika von an- gesehener Stelle eine Zuschrift, die sich an solche ältere Äußerungen klammert, um uns als Friedensstörer hinzustellen und sich mit Zähigkeit den Tatsachen, daß unser Kaiser in anderem Sinne regiert hat und die genannten Schriften vom Auslande her provoziert waren, blind gegenüber- stellt. In Wahrheit ist es aber keine deutsche Sondermeinung, sondern geradezu der Grundgedanke der Politik unserer Gegner, daß jedes Staats- oberhaupt zum Mehrer des Reichs berufen und berechtigt sei, zu diesem Zwecke Nachbarn anzugreifen, lediglich um das eigene Volk besser zu verbreiten und zu versorgen. Völkern, die zu solchem heiligen Egoismus erzogen sind, ihre Gesinnungen auszutreiben, werden die Greuel des Krieges kaum ausreichen. Mit Recht verwirft daher Münsterberg den Gedanken der vereinigten Staaten Europas. Auch den viel besseren Ge- danken vereinigter Staaten des ganzen Erdkreises hält er nur unter völlig unerreichbaren Bedingungen für möglich. Statt dessen sieht er rosenrote 9* 30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Zukunftsbilder der allgemeinen Versöhnung nach dem Frieden. 1871 kam es freilich anders. Aber man begreift, daß gerade ein Deutsch-Amerikaner, in dessen Seele sich Deutschlands und Englands Geistesleben versöhnen, zu einer Mittlerrolle unter Deutschen und Engländern ganz anders auf- gelegt ist, als seine deutschfeindlichen amerikanischen Landsleute. Dies führt uns zu den Feinden der Deutsch-Amerikaner. Es sind im allgemeinen die Feinde der deutschen Sache. Wilson, Eliot und Roosevelt gehören hierher, neben den Geldmenschen, die von unserer Niederlage Vorteile erwarten. Dem Präsidenten Wilson zollt Münsterberg eine ganz außerordentlich große Anerkennung. Er kennt*ihn von früher her genau und rühmt seine Kenntnis europäischer Verhältnisse. Daß Wilson vom rein moralischen Standpunkte aus als ein tadelloser Charakter erscheint, wird auch von dem Theologen Thomas C. Hall, einem warmen Freunde Deutschlands, bestätigt. Für mich steht es damit außer Zweifel. Der etwas doktrinäre Inhalt einiger Wilsonschen Noten darf an seiner poli- tischen Begabung nicht ohne weiteres irre machen. Der Amerikaner ver- steht es, mit den Formeln der herrschenden Wissenschaft Fühlung zu halten, dagegen widerstrebt seinem Wesen eine unpolitische Abhängigkeit von unpraktischen Lehrsätzen, Aus ihnen wird man somit Wilsons Politik nicht erklären müssen. Wenn also auch Wilsons Charakter und Tüchtigkeit zweifellos sind, so scheint es mir doch nach seiner bekannten Haltung ebenso zweifellos, daß er die deutsche Art nicht liebt und — mild ausgedrückt — die deutschen Erfolge nicht gern sieht. Die scharfe Note an England hat er sicherlich nur der Pflicht gehorchend, nicht dem eigenen Triebe, abgesandt. Seine anfänglich streng neutrale Politik, die Münsterberg lobt, weil sie jede Unterstützung einer Kriegspartei ablehnte, hat er nicht festgehalten, als es unmöglich geworden war, der einen Kampfesgruppe Wohlwollen zu zeigen, ohne die andere zu schädigen. Daß die englische Abstammung das Gefühl des Präsidenten beeinflußt, mache ich ihm nicht zum Vorwurf. Für die Seele der aus England Ein- gewanderten gilt schließlich genau dasselbe, wie für den Deutsch-Amerikaner. England und Amerika sind nichts weniger als identisch. Nur verdeckt hier die Gemeinschaft der Sprache, die doch überall nur eine Hülle der inneren Gesinnungen ist, den Unterschied der Denkarten und verwischt den Einfluß ausländischer Interessen bis zur Unkenntlichkeit. Den Namen ‚Neu Eng- land‘ trägt der einflußreichste Teil Nordamerikas nicht mit Unrecht. Zu dem englischen Empfindungsleben der herrschenden Männer tritt freilich noch eine echt amerikanische Abneigung gegen die Deutsche Art hinzu. Sie beruht auf der republikanischen Staatsauffassung, die drüben als höchste Weisheit gilt. Man wird dies um so besser verstehen, als früher ähnliche Gedanken lange genug weite Kreise Europas und nament- lich auch Deutschlands beherrschten. Man muß, um dies zu wissen, alt genug sein, um noch die Konfliktszeit erlebt zu haben. Nur dann ver- II. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 91 steht man die Achtundvierziger, die ihr politisches Glaubensbekenntnis über den Ozean hinübertrieb. Jetzt sind sie nahezu ausgestorben, aber ihre Gedankenwelt, die zum großen Teile von der französischen Revolution beeinflußt war, hat sich vielfach auf die folgenden Geschlechter vererbt. Zu den nächsten Freunden von Karl Schurz gehörte die Familie Villard. Sein Grab liegt neben ihrem Landsitze. Ein Sproß dieses Hauses, Harold Garrison Villard, ist der Redakteur der sehr angesehenen ‚Evening Post“. Ich nenne seine vollen Vornamen, um ihn von seinem Bruder zu unter- scheiden. Er steht, wie die Zeitungen melden, Wilson als Ratgeber zur Seite, bestimmt also jedenfalls des Präsidenten Ansichten über Deutschland. Villards Meinungen sind vorsintflutlich, wobei ich unter der Sintflut das Jahr 1866 verstehe. Nach seiner Behauptung zerfällt Deutschlands Volk in zwei Teile: auf der einen Seite stehen Fürsten, Adel, Offiziere und Beamten, auf der anderen alle übrigen als geknechtete Masse. So haben einstmals auch bei uns Volksverhetzer tatsächlich vorhandene Gegensätze übertrieben. Jetzt hat dies gar keinen Sinn mehr. Aber so etwas zündet drüben. Es gibt keinen größeren Widerspruch zwischen Theorie und Praxis, als auf dem Gebiete des amerikanischen Fürstenhasses. Einerseits gehört er zum guten Ton, andererseits drängen sich diese angeblichen Adelsfeinde förmlich an die Höfe. In ihrer Seele schlummert, wie eine versunkene Glocke, eine Nachwirkung der Zeit, in der auch ihre Vor- fahren Fürstendiener waren. Sie wissen, daß sie ihnen nicht wieder tönen kann. Darum plagt sie unbewußt ein Neidgefühl gegen uns. Bis- marck hat uns vor dem Verluste der altbewährten Treuverhältnisse zwischen Fürsten und Volk errettet. Daß dies für uns ein Segen war, werden die Amerikaner niemals zugestehen. Aber ein Stachel in ihrer Seele treibt sie zu gehässigen Entstellungen der in Wahrheit beneideten deutschen Zustände. Nach ihren Zeitungsartikeln ist bei uns der schlichte Mann vor Despotismus und Hochmut der herrschenden Klasse seines Lebens nicht sicher. Nebenbei schieben die Kapitalisten gern die Schuld an einem Blutvergießen, das ihren Welthandelswünschen dient, auf einen unschuldigen Sündenbock. Dazu muß namentlich die Potsdamer Garnison herhalten. Man nimmt an, daß sie aus wilder Kampfeslust ihren Helden- tod gar nicht habe erwarten können und darum den Krieg angestiftet habe. Mit Vergnügen liest dies der amerikanische Philister und erfreut sich des Gedankens, daß in seinem demokratischen Lande ein solcher junkerhafter Militarismus nicht vorkommen könne. Der nach Amerika hin- übergebrachte englische Haß gegen unsere vortrefflichen Generäle, für den drüben Schriftsteller, die sie nicht kennen, förmlich Schule machen, beruht übrigens nach meiner festen Ueberzeugung darauf, daß diese Er- retter unseres Vaterlandes sich über die feindlichen Gedanken der eng- lischen Regierung längst klar waren, während wir andern in Deutschland in unserer Vertrauensseliskeit uns alle täuschen ließen und in einer 23 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. förmlichen Verehrung Englands schwelgten. Die Hauptschuld am Kriege wird aber von amerikanischen Geistesgrößen den deutschen Fürsten zugeschrie- ben, da ihresgleichen drüben nicht besteht. Sehr kennzeichnend ist der neuerdings erfolgte amerikanische Widerspruch gegen die Errichtung des chinesischen Kaisertums. Man sollte meinen, daß dies die Amerikaner nichts angehe. Aber ihr Selbstbewußtsein kann es nicht ertragen, daß man irgendwo eine andere Verfassung für besser hält, als die ihrige. Zu den englischen und fürstenfeindlichen Tendenzen, die in die Seele des Präsidenten hineinreichen, tritt noch eine charakteristische Eigentüm- lichkeit seines Gemütes. Er scheint sehr empfindlich zu sein; denn er äußerte gegen Münsterberg, daß es viel härter sei, verhöhnt zu werden, als von Feinden beschossen. Nicht jeder würde diesen Ausspruch tun. Man kann sich aber vorstellen, welchen Eindruck unsere Witzblätter auf ihn machen. Es handelt sich leider auch hier um eine Nationaleigentüm- lichkeit. Wie Wilson, so ist der Durchschnittsamerikaner nach außen still und kalt, im Innern aber leicht verletzbar. Man vergesse nicht, daß das amerikanische Kind das lauteste auf der Welt ist, verzogen und anspruchsvoll, wie kein anderes, aber doch liebenswürdig. Ist es erwachsen, so legt ihm die Sitte ein Papageno-Schloß auf den Mund. Vorher war es heilig und unantastbar. Es war daher zwar nicht wahr, aber sehr geschickt erfunden, daß unsere Soldaten Kindern die Hände abgeschnitten haben sollen. Diese Verleumdung war vorzüglich dem Zwecke angepaßt, das amerikanische Volk zum Kriege gegen Deutschland zu hetzen. Etwas Besseres konnte nicht ausgedacht werden. Nun ist der erwachsene, schweigsame Amerikaner sehr häufig im Innern das verzogene, anspruchs- volle Kind geblieben. Der Deutsche fühlt es nicht und tut ihm leicht wehe, ohne es nur zu ahnen. Einer der vortrefflichsten Deutsch-Amerikaner, ein angesehener Arzt in New York, Dr. Leonhard Weber, nannte in einem Vortrage die beiden Hauptfehler, die man den Deutschen drüben vorwirft. Sie sollen pessimistisch und zynisch sein. Zunächst möchte man das gerade Gegenteil annehmen. Aber in der amerikanischen Sprache haben diese Worte eine ganz besondere Bedeutung. Pessimistisch heißt hier nicht etwa mutlos, sondern kritisch oder tadelsüchtig, namentlich auf sozialem und politischem Gebiete. Zynisch heißt nicht etwa unanständig, sondern aufrichtig, wie es der Zyniker Diogenes gegen Alexander war. Offenherzige Kritiker machen sich drüben leicht verhaßt. Es gibt zwar keinen Menschen, der in technischen Dingen ein solcher Fortschrittsmann ist, wie der Amerikaner, aber in gesellschaftlichen Fragen so ultra-konservativ wie er. Ihm ist das auserwählte Volk das amerikanische und er steinigt jeden,der daran zweifeln und dessen Verfassung verbessern will. Aufrichtigkeit ist ihm insoweit ein Laster, keine Tugend. Wahr ist nach der Lehre des berühmten Pragmatikers Professor James das, was zweckmäßig und gemein- nützig ist. Die Verletzung fremder Empfindlichkeit durch Betonung unlieb- III. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 23 samer Tatsachen hält man aber für verletzend und unberechtigt und daher auch nicht einmal im Sinne der pragmatischen Lehre für wahr. Uns ist es schwer, dies auch nur zu begreifen. Es ist eben nicht richtig, daß man in das eigene Herz schauen muß, um andere zu verstehen. Andere Leute haben oft ganz andere Herzen. Die Sittlichkeitsanschauungen und die Sittlichkeitsgefühle sind, wie die Rechtssätze, Geschichtsprodukte, die sich aus besonderen Bedingungen erläutern lassen. Ein kraftvoller preußischer Herrscher konnte eine Schmähschrift niedriger hängen lassen. Ein amerika- nischer Präsident kann es nicht. Eine scharfe Kritik hat drüben viel schlimmere Folgen als bei uns; man fürchtet sie nicht ohne Grund. Darum ist man nicht dazu geneigt, in ernsten Dingen Spaß zu verstehen, Wie die vielen deutschen Witze über Amerikas Neutralität auf die Gemüter unserer Gegner wirken, das kann man aus des Präsidenten Ausspruch über Verhöhnungen folgern. Vielleicht würde ein erbitterter Racheschrei weniger verletzend sein. Hier, wie sonst, schadet uns unsere Aufrichtigkeit. Nicht mit Unrecht rief Wilhelm Busch seinen Landsleuten zu: „Mein Kind, du hast zu viel Natur! Das sagt man nicht, das denkt man nur.“ Und trotzdem wollen wir uns in unserer Eigenart nicht irremachen lassen; denn „den Aufrichtigen läßt es der Herr gelingen“. Das zeigt der Weltkrieg. Aber gerade dies erbittert den erfolgsüchtigen Amerikaner am meisten, weil er die siegreiche Tugend der rücksichtslosen Aufrichtigkeit uns nicht nachmachen kann oder richtiger nach seinen Empfindungen nieht einmal nachahmen darf. Sein Sittenkodex verbietet es ihm, wenigstens gegenüber den eigenen Landsleuten. Darum hält er unsere besten Geistes- waffen für ‚pessimistisch und zynisch‘“. Überhaupt ist der Engländer und der in englischem Empfinden ver- harrende Amerikaner von allen andern Menschen dadurch unterschieden, daß er die Mannigfaltigkeit der Sitten und Lebensanschauungen zwar kennt, aber ihre Ergebnisse grundsätzlich nicht für gleichberechtigt hält. So großzügig der Engländer in neuen Unternehmungen ist, so engherzig ist er im Festhalten altgewöhnter Förmlichkeiten und im Glauben an die Unfehlbarkeit seiner heimatlichen Sittengebote. Das Englische ist ihm das allein Richtige, das allein Achtbare. Natürlich ist dann jeder Ausländer ein Barbar, der sich nicht bemüht, nach seinem Benehmen mit einem Engländer verwechselt zu werden. Der Glaube, daß der Engländer ein besserer Mensch ist, als jeder Angehörige eines andern Volkes, ist für ihn das Allerheiligste seiner Seele. Wenn man ihn einen Krämer nennt, so übersieht man dies völlig. Ein gewöhnlicher Krämer kennt solche Ge- fühle nicht. Man mag Englands Reichtum zerstören, man mag seine Weltmacht zertrümmern, jenen Glauben wird man dem letzten Engländer 34 Jahresbericht der Sehles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. nicht aus dem Herzen reißen. Dies ist die Facon, in der er allein selig werden kann. Dafür hat seine Erziehung gesorgt. So erklärt sich, wie ein immerhin bedeutender, wenn auch drüben erheblich überschätzter Mann, Charles W. Eliot, behaupten konnte, daß nur die englische Geschichte Freiheitsbestrebungen zeige, die deutsche aber das Gegenteil. Es ist nicht Unkenntnis geschichtlicher Tatsachen, die aus ihm spricht, sondern eine völlige Blindheit für den Umstand, daß auch die politische Freiheit sehr verschiedene Formen hat und die eng- lische Form durchaus nicht die allein wertvolle ist. Wenn man drüben das Wort ‚Potsdam‘ mit einem Abscheu ausspricht, den wir nicht ver- stehen, so will man damit den Urquell der preußischen Zucht treffen, die strenge Unterordnung unter das geschriebene Wort. Die in England herrschende ungeschriebene Sitte kämpft gegen das aufgezeichnete Regle- ment, wenn London gegen Potsdam streitet. Wir könnten aber sehr wohl den Spieß umkehren und in dem englischen Haften an überlebten und . unverständlichen Förmlichkeiten einen Mangel an Freiheit erblicken. Sicherlich wird als solcher die angelsächsische Temperenzlerei von vielen Deutsch-Amerikanern empfunden, vielleicht mit Unrecht; denn ein Land, das Fremde und Ungebildete in Massen aufnimmt, muß ihnen eine viel strengere Zucht auferlegen, als sie bei Völkern herrscht, die sich nicht aus solchen Elementen rekrutieren. Selbstachtung ist gewiß ein Vorzug, sie darf aber nicht in eine Unter- schätzung fremder Eigenschaften ausarten. Dies tut sie aber gerade bei Angelsachsen sehr häufig und leider gerade bei solchen, die sich in einer bevorzugten Lage befinden. Man hat oft das Gefühl, als ob sie das Gebot der Gegenseitigkeit, ohne das Anstandsregeln und Völkerrechtsgrundsätze nicht bestehen können, für eine innere Angelegenheit ihrer Rasse ansehen und dem Ausländer gegenüber verweigern. Was dem Engländer dem Fremden gegenüber selbstverständlich erscheint, wie Aushungerung und Verwendung wilder Truppen, das erscheint ihm als unverzeihliches Ver- brechen, wenn es gegen England geschieht. Ihm gegenüber darf es kein Vergeltungsrecht geben. Darum unterwirft er sich auch nicht dem Ver- bote der Verletzung fremder Empfindlichkeit gegenüber dem Feinde. Kein Deutscher würde in goldenen Rücksichtslosigkeiten gegen frühere Freunde das leisten, was Charles W. Eliot und viele seiner Gesinnungsgenossen, namentlich aber auch Theodor Roosevelt sich gestatten. Für letzteren muß freilich geltend gemacht werden, daß sein Hang zu deutlichen Äuße- rungen sich auch im eigenen Vaterlande betätigt hat, In Berkeley hielt er Vorträge mit der Überschrift: „Das Gebot: Du sollst nicht stehlen und das Beamtentum‘“, ferner: „Das Gebot: Du sollst nicht falsch Zeugnis reden und die Presse.“ Nach meiner Meinung hat er sich seine Laufbahn in erster Linie durch solche Verletzungen fremder Empfindlichkeit ver- dorben. Welche Töne er aber nunmehr gegen unser Vaterland und dessen Ad III. Abteilung. Staats- und reehtswissenschaftliche Sektion. 25 deutschamerikanischen Freunde anschlägt, spottet jeder Beschreibung. Namentlich ist er in der belgischen Frage allen Aufklärungen unzugäng- lich und kommt in dieser Hinsicht von erbitterten Anschuldigungen der deutschen Politik nicht los. Man wundert sich darüber deshalb, weil er in Berlin wie ein Fürst aufgenommen wurde. Aber gerade solche über- triebene Huldigungen erwecken bei selbstbewußten Leuten keine freund- schaftlichen Gefühle, sondern nur Übermut und Menschenverachtung. Beides bekommt Deutschland jetzt als Quittung für das, was es ihm er- wiesen hat. Die holländisch-französisch-englische Abkunft wirkt instinktiv in diesem leidenschaftlichen Manne und eine Durchkreuzung seiner impe- rialistischen Zukunftsgedanken durch Deutschland ist ihm unerträglich. Er ist es, der das Scheltwort: „Bindestrich-Amerikaner“ für die deutschen Landsleute schon früher erfunden hatte und er möchte sie jetzt am liebsten als Vaterlandsfeinde behandeln. Bis jetzt hat Roosevelt sein allzu feuriges Temperament geschadet, aber nicht genützt. Wir wollen hoffen, daß es dabei bleibe, aber die Gefahr nicht unterschätzen, die er für uns bedeutet. Vor allem dürfen wir ihm nicht mehr in der früheren Tonart huldigen, während er uns schmäht, denn dafür würde er uns verachten und zwar mit vollstem Recht. Roosevelt ist leider klug genug, sich trotz erfahrener, unfreundlicher Behandlung Wilson anzunähern. Als Hauptgrund für einen Krieg mit Deutschland gibt er an, daß er ohnedies einen gleichzeitigen Einfall von Deutschen und Japanern in die Vereinigten Staaten befürchtet. Uns mutet dies seltsam an, weil die Vorliebe für die gelbe Rasse hierzulande gering und die Verehrung für die Helden von Tsingtau sehr groß ist, Auch leiden wir nicht sehr an Rachsucht. Roosevelt aber vermutet seine vollblütige Leidenschaftlichkeit unwillkürlich auch bei andern. Es ist bekannt, daß er vor jedem Deutschen das Nibelungenlied hoch pries; auch mir gegen- über tat er es. Er scheint in diesem Gedichte ein Abbild der deutschen Empfindungsweise gesehen zu haben. Wie Kriemhild sich mit Etzel verband, um sich zu rächen, so scheint er jetzt auch einen Bund zwischen Berlin und Tokio zu fürchten, bei dem er die Rolle des Hagen von Tronje spielen müßte. An Deutlichkeit gegenüber seinen Feinden liegt ja in der Tat eine gewisse Ähnlichkeit zwischen Hagen und ihm vor, nur muß man Roosevelt zugeben, daß er niemals aus dem Hinterhalte schießt, sondern als Kraft- mensch Stiere bei den Hörnern zu fassen pflegt. Vielleicht hat ihn deshalb die Friedlichkeit der Deutschen, als er herüberkam, enttäuscht. Sonst würde er nicht in Berlin die seltsame Rede gehalten haben, in der er die Deutschen aufforderte, nicht aus Friedensliebe ihren kriegerischen Sinn zu vernachlässigen. Nun auf einmal, da sie neben ihrer Nibelungentreue auch Nibelungenmut gezeigt haben, scheint er zu seiner früheren Ansicht zurück- gekehrt zu sein. Jetzt sieht er in uns die Gesinnungsgenossen der Kriemhild, 26 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. nicht mehr die der Ismene, die geschaffen war mitzulieben, aber nicht mitzuhassen. Darum ruft er mit der Wildheit des Hagen zu den Waffen. Möge sein Ruf ungehört verhallen. Roosevelt wünscht die allgemeine Wehrpflicht gleich einem Römer. Unsere schlimmsten Feinde drüben aber sind die Karthager, die großen Handelsherren, die fremde Krieger kaufen, aber nicht selbst bluten wollen. Herr Landrat Freiherr von Reibnitz hat einen tiefen Blick in ihre Seele getan. Er belehrte uns darüber, daß die weitgehenden Pläne der reichsten Männer der Welt ein späteres Bündnis mit einem unbesiegten England herbeiwünschen. Auch ich glaube, daß die Munitionsverkäufe nicht bloß Selbstzweck, sondern vor allem Mittel zu unserer Niederwerfung sein sollen. Diese Feinde bilden freilich drüben nur dann die Mehrheit, wenn man die Stimmen nicht zählt, sondern wägt, nämlich nach dem Geldsacke ihrer Inhaber. Nun beurteilt man diese Männer, die mit ihrem Gelde gegen uns kämpfen, darum ganz falsch, weil Leute von der Art des angelsächsischen Puritaners bei uns überhaupt gar nicht vorkommen. Auch bei uns gibt es Krämerseelen, die imstande sind, unschuldige Opfer für ihren Vorteil umkommen zu lassen. Ich weiß, daß viele unter uns die amerikanischen Feinde zu deren größter Erbitterung so beurteilen. Die Erbitterung ist nicht ganz unberechtigt; denn so sind sie nicht. Zunächst verlangen sie unter allen Umständen den äußeren Schein der Ehrbarkeit und Tugend. Ein Unrecht einzugestehen halten sie für schamlos. Sie verlangen aber auch unter allen Umständen ein gutes Gewissen. Sie wollen also keine Scheinheiligen sein. Daß ein solches Gewissen unmöglich ist, wenn man um des Geldes willen Menschen umbringt, wird Keiner von ihnen bezweifeln, Nun ist, wie so vieles andere, auch ein gutes Gewissen für den, der es begehrt, nicht unerreichbar. Man braucht nur Männer zu finden, die für das, was man tun will, zwingende moralische Gründe beibringen. Sie haben diese Männer gefunden, nicht bloß Einzelne, sondern eine wohl- disziplirierte Schar, die mit der Genauigkeit einer amerikanischen Maschine arbeitet. Es ist die amerikanische Börsenpresse mit allen ihren Traban- ten. Drei Dogmen sind es, die ihre Organe predigen und unerbittlich festhalten: 1. Deutschland hat einen Angriffskrieg begonnen, 2. es führt ihn völkerrechtswidrig, 3. seine Niederlage ist für das Menschheits- wohl nötig. Aus diesen drei Dogmen, an denen drüben in ihren Kreisen nicht gezweifelt werden darf, folgt dann sonnenklar, daß die Geldgewaltigen, ohne die der Krieg längst beendigt sein würde, nicht etwa bloß erwerbs- lustige Krämer sind. Nein, sie fühlen sich als Hohepriester der Mensch- lichkeit und Kultur. Daß sie nebenbei auch etwas verdienen, erscheint ihnen nur als zufälliger Nebenumstand. Das wollen die Geldfürsten glauben, sonst würden sie sich vor sich selbst schämen, und würden III. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 37 nicht die Kraft haben gegenüber ihren Opfern, die sich nicht gegen sie wehren können, auch noch den Ton sittlicher Entrüstung anzuschlagen. Nur so kann man es verstehen, warum die immer wieder erneuten Berichte über deutsche Grausamkeiten drüben nicht aufhören dürfen. Sie müssen vor allem die Gewissensbedenken der Kriegsfortsetzer beruhigen und die Anklagen ihrer Gegner übertäuben. Leider muß ich befürchten, daß Sie meine Erklärung dieses ver- zwickten Seelenzustandes unserer mächtigsten Feinde für gesucht halten. Es liegt ja so sehr viel näher, bei ihnen einfach eine mit Scheinheiligkeit verbundene rücksichtslose Geldgier anzunehmen. Es ist aber meine ehr- liche Überzeugung, daß jene seltsame Denkart, die ich schilderte, bei der Mehrheit überwiegt und das Ergebnis besonderer geschichtlicher Einflüsse ist, die bei uns in Deutschland nicht vorlagen. Einerseits bedurfte, wie ich hervorhob, der Strom ungesitteter Einwanderer eines übertriebenen äußeren Zwanges, der ihnen den Stempel der Ehrbarkeit aufprägte. Andererseits bäumte sich die unüberwindliche Schwäche der Menschen- natur gegen diese Tyrannei auf. So mußte denn die schwere Kunst er- funden werden, sich gegenüber unerschwinglichen Anforderungen ein gutes Gewissen und ein ungetrübtes Selbstbewußtsein verschaffen zu können. Die Ergebnisse sehen wir vor uns. Wir müssen sie zu verstehen suchen, weil sie uns verletzen und weil die erste Vorbedingung eines siegreichen Kampfes ist, daß man sich nicht über die wahre Beschaffenheit seiner Gegner irrt. Nur unter diesen Bedingungen kann man ihnen gegenüber die durch die Sachlage gebotene Haltung einnehmen. Ich sprach von deutschfeindlichen Dogmen. In der Tat ist der Deutschenhaß bei unseren Feinden bereits zu einer Religion geworden, bei der die Verfolgung der Andersgläubigen, also auch der Deutsch- Amerikaner, genau dieselbe Rolle spielt, die sie einstmals in den ge- hässigen Religionskriegen besaß. Die Priester dieser Religion haben wir aber zum Teil auf amerikanischen Universitäten zu suchen. Bei den innigen Beziehungen, die ihre Hauptgrößen zu Englands Hochschulen haben, ist es kein Wunder, daß man schon vor dem Kriege die in Groß- britannien so oft vertretene Ansicht über eine preußische Eroberungs- sucht und Machterweiterungsabsicht amerikanischen Geistern eingepflanzt hat. Sie hängen mit erstaunlicher Zähigkeit an dieser Ansicht und lassen sich höchstens von unsern Erfolgen überzeugen, niemals aber davon, daß wir einen bloßen Abwehrkrieg führen. Man bedenke, daß ihre Umstim- mung nicht nur ihren Ruf gefährden würde, weil sie öffentlich für eine ihrem Vaterland nicht ungefährliche Ansicht eingetreten sind, sondern daß die Gefahr einer solchen Meinungsänderung auch ihrem Gewissen das Gefühl der unbedingten Wahrheitsliebe zu rauben droht, ohne die ein Diener der Wissenschaft jeden inneren Halt verliert. Hier kann man auf kein Entgegenkommen rechnen. Wo das Zugeständnis eines Irrtums 28 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaierl. Cultur. nahezu zum Selbstmord wird, da wird es kaum zu erreichen sein, und man muß zufrieden sein, wenn die Priester der Irrlehre nicht die Ver- treter abweichender Meinungen geradezu als Mörder ihres Seelenfriedens verfolgen. Daß nun der von der Presse geschürte Haß sich mit doppelter Er- bitterung gegen unsere amerikanischen Freunde kehrt, die in der Lage sind, einen wirksamen Kampf — wenn auch nur mit Worten — zu führen, während wir an die Gegner nicht herankommen können, ist sonnenklar. Dies bringt uns zu der Frage nach der Zukunft der deutsch-amerika- nischen Bewegung. Man will den Deutsch-Amerikanern verwehren, sich als solche zu bekennen und zu einer Partei zusammenzuschließen. Das ist aber nach der Verfassung der Vereinigten Staaten ganz unmöglich. Der Gedanke erinnert gar zu sehr an die russische Knute, aus deren Gebiet er stammt. Er hängt mit einem Äberglauben zusammen, von dem auch Münsterberg nicht frei ist, dem ich aber niemals gehuldigt habe, nicht einmal damals, als ich mich von seiner Unrichtigkeit noch nicht persönlich überzeugen konnte, Es ist dies die Lehre von der menschenverwandelnden Kraft des Eintritts in die Vereinigten Staaten. Das große Reich soll angeblich jeden Einwanderer im Innersten erfassen, und sein früheres Zugehörigkeitsgefühl zu einer anderen Bluts-, Staats- oder Sprachgemeinde wie ein Lethetrank in kurzer Zeit wegwischen. Gleichsam als ob Circe ein Menschenkind in ein anderes Wesen verwandle, werde der Ankömmling in seinem Seelen- inhalte durch eine Zauberkraft völlig verändert. Das Richtige daran ist nur, daß äußerlich solche Veränderungen unter dem Zwange der Sitte allerdings schnell eintreten. Der alte Schnurrbart fällt, der Haarschnitt wird umgeändert, die ausländischen Moden und Stiefel sind verpönt. Jeder sucht dem andern zu gleichen und sich auf der Straße nicht durch sein Benehmen von ihm zu unterscheiden. Das alles liegt aber auf der Oberfläche. Wie wäre denn sonst wohl die deutsch-amerikanische Bewegung überhaupt möglich gewesen? Daß drüben auch innerlich durchgreifende Verwandlungen bald eintreten, ist freilich wahr, aber so etwas kann nur ganz, ganz langsam zu seinem Abschlusse kommen, in der Regel erst im nächsten Glied. Je langsamer es geschieht, desto mehr bleibt dem neuen Vaterlande von der Mitgift erhalten, die jeder aus seinem Heimatsland mitbringt, desto reicher wird der Gedankeninhalt, der schließlich das Geistesleben des amerikanischen Volkes erfüllt. Dafür sollte man dankbar sein und nicht es schelten. Will man aber die Leute zwingen, ihre Gedankenfreiheit zu verleugnen und ihr Inneres zu verdecken, so würde dies eine unwürdige Begünstigung der Heuchelei sein. Will man aber gar verlangen, daß ein Mensch auf Befehl sich innerlich in einen anderen verwandeln soll, so wäre dies eine Ill. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 99 sinnlose Brutalität. Es ist dies beinahe so, als wollte man einen Hund durch Peitschenschläge in eine Katze verwandeln. Einen Sinn hätte es ja, nur englische Vereinsbildungen zuzulassen, nicht solche, die sich aus früheren Mitgliedern fremder Sprachgemeinden zusammensetzen, Man versuche aber nur einmal, dies auszusprechen, so wird man eine feindliche Mehrheit sich gegenüber sehen; die nicht eng- lischen Schicksalsgenossen der Deutschen würden sich zur Verteidigung der alten Freiheit zusammenschließen. Ich habe im Westen starke Strö- mungen beobachtet, die sich gegen die Tyrannei des englischen Nordostens auflehnen. Man braucht die Parole eines Widerstandes nur auszugeben, so kann sich die deutsch-amerikanische Bewegung leicht in eine anti- englische verwandeln, Man vergleicht die Deutsch-Amerikaner mit den Polen in Deutschland. Nun gut; Deutschland hat den Polen soeben eine eigene Universität ver- schafft, es will ihr selbständiges Volksleben nicht nur schützen, sondern gegenüber russischer Unterdrückung herstellen. Ich mache kein Hehl daraus, daß ich dies mit höchster Freude begrüßt habe. Mir hat es immer einen Stich in das Herz gegeben, wenn man jemanden deshalb verfolgte, weil er nicht die unmögliche Aufgabe löst, sich in einen anderen Menschen zu verwandeln, als er nun einmal unabänderlicherweise ist. Handlungen und Unterlassungen kann man erzwingen, Seeleneigenschaften nicht. Versucht man dies, so überbietet man die Greuel der Inquisition. Man bedenke, daß die Deutschen drüben in das Land zugelassen wurden, nicht um Engländer zu werden, sondern sich einer aus mehreren gleich- berechtigten, europäischen Völkern zusammengesetzten Gemeinde einzu- gliedern. Solche Vertragsbedingungen lassen sich nicht ungestraft einseitig abändern. Man überschätze überhaupt die Macht der Sprache nicht. Der Halb- gebildete glaubt, daß Wort und Gedanke dasselbe sei, der Gebildete sieht in dem Worte nur ein mehr oder minder willkürliches Symbol für einen Gedanken. Darum kann man in der fremden Sprache seine völkische Eigenart betätigen und sie in der eigenen verleugnen. Freilich zieht jede Sprachkenntnis eine Literaturkenntnis nach sich. Man kann aber die Literatur, die man liest, ebensogut als Grundlage eines inneren Wider- spruchs verarbeiten, wie von ihr beherrscht werden. Die Sprache ist also. kein untrüglicher Beweis der entsprechenden völkischen Eigenart. Der Irländer ist, als man ihm die englische Sprache aufzwang, kein Engländer geworden, sondern ein viel gefährlicherer Feind Englands, als er es vorher war. Würde man also die deutsche Sprache in Amerika unterdrücken, sc würden Englands Agenten nicht allzu viel gewinnen. Vielleicht würden die Bestrebungen der Feinde Englands nur um so wirksamer werden, 30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. wenn man sie von den übrigen Amerikanern nicht mehr unterscheiden kann. Sollten die Deutschamerikaner es vorziehen, in das Land ihrer Väter heim- zukehren, so würden sie dort willkommen sein. Nur dürfen sie nicht mit der Miene des betrübten Lohgerbers kommen, dem die Felle weggeschwommen sind. Was sollen unsere Feldgrauen zu Leuten sagen, die sich vor Wilson und Roosevelt mehr gefürchtet haben, als sie vor Kitchener und Nikolajewitsch ? Kämpfe sind dazu da, durchgefochten zu werden. Man darf sie nicht im Stich lassen. Und das tun ja auch unsere wackeren deutsch-ameri- kanischen Kämpfer durchaus nicht. Wohl werden aber sie selbst von einem Teile der Ihrigen im Stich gelassen. Sie erscheinen gegenüber der Masse, die von einem Wilson, einem Roosevelt und einem Eliot geführt wird, wie der kleine David gegenüber dem großen Goliath. Aber doch zeigen sie sich als echte Tapferkeitsgenossen der Männer, die in Polens Laufgräben gegen eine oft zwanzigfache Übermacht Stand gehalten haben. Sehr schwierig ist unsere eigene Stellung zu den Deutsch-Ameri- kanern. Wollten wir ihnen die Hand zum Bunde reichen, um mit ihnen zusammen zu wirken, so würden wir ihnen ebenso schaden wie uns. Ihnen, weil wir ihren Verfolgern den Vorwand geben würden, sie wegen Neutralitätsverletzung anzugreifen, uns selbst, weil unsere Feinde darin einen ganz besonderen Anlaß sehen würden, den Haß gegen Deutschland wegen einer Einmischung in die Angelegenheiten der Vereinigten Staaten zu schüren. Unser Botschafter hat dies ganz richtig beurteilt. Amerikas Regierung kann allerdings verlangen, daß wir in die Fragen ihres Staats- lebens nicht hineinreden und das dürfen wir auch nicht tun. Wir dürfen aber auch nicht die, die Freunde in der Not waren, verleugnen, um uns nicht die Ungnade unserer mächtigen Feinde zuzuziehen. Ich sage dies nicht aus Sentimentalität, sondern aus Zweckmäßigkeitserwägungen. Nichts würde unsere Feinde so ermutigen, wie eine solche Haltung, die zweifel- los als Zeichen bleicher Furcht dargestellt werden würde. Wir dürfen nicht vergessen, daß schließlich doch nicht Eigennutz, sondern Treue die Deutsch-Amerikaner vereinigt. Würden .sie niederfallen und den eng- lischen Götzen anbeten, so würde man sie mit offenen Armen aufnehmen, Das beweisen die Ausnahmen, die dieses schlechtere Teil erwählt haben. Jedenfalls dürfen wir unsern Freunden einen guten Rat geben. Zum Er- folge fehlen ihnen zwei Dinge, die aber gelernt werden können: Unter- ordnung unter eine feste und einheitliche Führung und Vorsicht. Die Unterordnung brauchen sie nicht von uns zu lernen. Die Iren sind gute Lehrmeister dafür, wie man Schritt für Schritt an Einfluß gewinnen kann. Die Vorsicht aber paßt freilich schlecht zu der deutschen Anlage. Und doch ist sie nötig. Man kann es sich recht wohl denken, daß den Feinden Deutsch- lands in Amerika nichts erwünschter sein würde, als ein Vorwand für III. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 31 einen Belagerungszustand, der der Kritik der sehr anfechtbaren Regierungs- politik den Mund stopfen würde. Obwohl eine solche Maßregel zurzeit nicht zu befürchten ist, so ist doch große Vorsicht am Platze, Das warnende Beispiel Gorkis zeigt, wie leicht es ist, die Stimme der Vernunft mit Gewalt zu unterdrücken. Auch gegenüber den üblichen Scheltworten dürfen die Deutsch- Amerikaner nicht allzu empfindlich sein. Wenn man uns zugleich mit ihnen als ein Volk von Sklavenseelen und herzlosen Wilden schilt, so wissen wir ja, daß dies nur zu praktischen Kriegszwecken geschieht. Darum antworten wir am besten auf derartige Fiktionen nicht mit Ent- rüstung, sondern mit einem spöttischen Lächeln. Wir wissen, daß wir keine Sklaven sind. Wir sehen freilich nicht die Freiheit in einer rück- sichtslosen Unterdrückung der Minderheit durch eine große Masse. Wir haben aber unsere besondere Art von Volksfreundschaft, die im Christen- tume verankert ist, das nach Goethe die Ehrfurcht nach unten predigt, d. h. die Achtung vor den Mühseligen und Beladenen, vor der Menschenwürde des Schwachen und Geringen. Nicht das schafft die Volkstümlichkeit eines deutschen Staatslenkers, daß eine Mehrheit ihn einer widerstrebenden Minderheit aufzwingt, sondern sein Zusammenhang mit dem Volke, den unser Kaiser als Einheit bezeichnet, umfaßt die gesamte Masse in gleicher Weise. Da gibt es keine Minderheit, noch eine Mehrheit, nur ein ganzes einmütiges Volk. Wir dürfen uns ferner dessen rühmen, daß unser engeres Vaterland Preußen durch die befreiende Macht der Volksschule andern vorangegangen ist, daß in ihm eine volkstümliche Gesetzgebung und Rechtspflege dem kleinen Mann zur Hebung seines Selbstbewußtseins verhalf. Wir dürfen uns auch der deutschen Arbeitergesetzgebung rühmen, die für die ganze Welt bahnbrechend und vorbildlich war. So können wir es gut ertragen, daß man uns ein Volk von Sklaven schilt. Es ist kein Zufall, daß die reichen Deutsch-Amerikaner sich zum großen Teil an die Angelsachsen herandrängen, während gerade die Mühseligen und Beladenen sich gern dessen erinnern, wie hoch man auch den letzten unter ihnen in ihrem alten Vaterlande zu bewerten gewohnt war. Ob die Bestrebungen der Deutsch-Amerikaner Erfolg haben werden, kann man nicht wissen. Das aber haben wir im Weltkriege gelernt, daß der Auswanderer, der sein „großes Heimweh‘ bewahrt, ein bedeutender Schatz für Deutschland ist, dessen Wert sich in den Stunden der Not zeigt. Die deutsch-amerikanische Bewegung hat ihn uns gezeigt. An ihrem Erfolge während des Krieges verzagen, heißt die Büchse in das Korn werfen. Schon lesen wir, wie sich ihr Einfluß bei den Wahlen geltend macht. Sie kämpfen gegen eine Duldung der englischen Blockade, die zu Amerikas Schaden uns mit Hungersnot bedrängt, sie kämpfen für ein Waffenausfuhrverbot, sie kämpfen gegen die Darlehen, die die Kriegs- 32 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. kassen unserer Feinde füllen. Wir dürfen zwar nicht an ihrer Seite kämpfen, aber wenn wir nicht mehr wagen würden, uns über sie von Herzen zu freuen, so würde uns dies nicht einmal in den Augen unserer Feinde zum Vorteile gereichen. Vergessen wir nicht, daß dadurch, daß sie siegen, auch uns ein baldiger Sieg gewiß sein würde. Das Eine muß man den Feinden zugeben, daß, so wie die Dinge liegen, eine Neutralität in dem Sinne, in dem sie der Präsident Wilson ursprünglich wollte, nicht mehr möglich ist. Unsere Feinde sind auf das amerikanische Geld und die amerikanischen Waffen angewiesen. Somit liegt eine neue Erscheinung vor: die feindselige oder fingierte Neutralität. Fiktionen sind Gedankenformen, ohne die der Politiker ebenso wenig aus- kommt, wie der Jurist. Auch Deutschlands Staatsmänner sind klug genug, diese unbefriedigende Neutralitätsform einem offenen Bruch vorzuziehen, der ja sogar Italien gegenüber vermieden wird. So würden wir auch Wilsons Wiederwahl für ein kleineres Übel halten als Roosevelts Präsident- schaft, der als seine Absicht ankündigt, die allgemeine Wehrpflicht ein- zuführen und uns sodann mit einem Heere zu überfallen. Sobald Amerika aufhört England zu unterstützen, hilft es uns. So steht die Sache mit den Munitionslieferungen. Wir fügen uns dieser Lage, dürfen aber nicht vergessen, daß jede Fiktion nur eine vereinbarte Komödie ist. Sie regelt unser Verhalten, nicht aber unsere innere Überzeugung. Sonst würde sie verdummend wirken. Dies mag ja sicher sein, daß ein Erfolg der Deutsch-Amerikaner zu unsern Gunsten undenkbar ist, sobald es ihnen nicht gelingt, aus der un- geheueren Mehrheit der völlig Gleichgültigen heraus sich zu einer aus- schlaggebenden Macht zu verstärken. Hier kann nur eines helfen: der Kriegsüberdruß der Massen, die unter dem furchtbaren Zwist der Völker mitleiden, Diese gegen die Kriegsverlängerer aufzuregen, ist schwer, aber nicht unmöglich. Von dieser Seite erscheint ein Erfolg zwar nicht sicher, aber auch nicht aussichtslos. Mindestens wird es so gelingen, den offenen Bruch hinzuhalten und schon dies halte ich für erwünscht. Was freilich nach dem Kriege aus der Gruppe der Deutsch-Amerikaner werden wird, ist eine andere Frage. Leider kann es sich immer nur um die Schnelligkeit des Absterbens dieser Erscheinung handeln; denn der Untergang ist ihr gewiß. Der Nachschub wird ausbleiben und so werden sie einfach zu Amerikanern werden, aber nicht zu Engländern. Ihre Wiederauferstehung in anderer Form ist aber ebenso gewiß. Sie werden voraussichtlich den Kern einer westamerikanischen Unabhängigkeitsgemeinde bilden, die es verhindern wird, daß das Werk Washingtons vernichtet werde. Den Geist der Begründer der Union werden die Freunde Englands nicht ertöten, Er führte ein frommes und bescheidenes Volk gegen herzlose und machtgierige Tyrannen. Er ist nicht tot, er schläft nur. u II. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 33 Und so bleibt denn als das weltgeschichtliche Verdienst der deutsch- amerikanischen Bewegung übrig, daß sie den Krieg der Vereinigten Staaten und die Rückbildung der Union in eine englische Kolonie mindestens ver- zögert hat. Sollte es ihr gelingen, beides sogar gänzlich zu- verhindern, so würden wir mit besonderer Dankbarkeit auf diese bedeutsame, welt- geschichtliche Erscheinung hinzublicken haben. Daß Amerika nicht wieder zu einer englischen Provinz wird, ist aber auch nach dem Kriege von großer Bedeutung für die ganze Welt, namentlich für uns. Ein späteres Bündnis Amerikas mit unserm rachsüchtigsten Feinde würde für uns sehr unerwünscht sein. Einem solchen sich entgegen- gestemmt zu haben, als man darauf hinarbeitete, bleibt für alle Zeiten das Verdienst der Deutsch-Amerikaner. Es bleibt es auch dann, wenn ihre Bewegung absterben sollte, nachdem sie ihren wichtigsten Zweck erfüllt hat. Zu irgend welchen Prophezeiungen fühle ich mich nicht befähigt. Das eine ist aber sicher, daß die Dauer des Krieges von dem Verlaufe der amerikanischen inneren Kämpfe mit abhängt. Drei Fehler müssen wir dabei vermeiden: Vertrauensseligkeit gegenüber unsern Feinden, unvor- sichtige Einmischung in Amerikas Verhältnisse und Hoffnungslosigkeit gegenüber den Bemühungen unserer Freunde. Der letzte Mißgriff würde der größeste unter ihnen sein. Mut verloren, Alles verloren! Unter den vielen Vorzügen unseres Kaisers ist einer der edelsten, daß er unerwarteten Glücksfällen mit Dankbarkeit begegnet. Ein solcher Glücksfall war für uns die deutsch-amerikanische Bewegung. Möge das Gefühl des deutschen Volkes auch in dem Bedürfnisse, sich dankbar zu zeigen, mit der Empfindungsweise des Kaisers eins sein. Es folgte eine Aussprache des Vortragenden mit Herrn Landrat Dr, Freiherrn von Reibnitz. 1915. 3 x ai Be EP FIIR AI IR Fir u: E EL 2° sehlesische Gesellschaft für vaierländische Gultur, ZEIT 93. | IV. Abteilung. Jahresbericht. | a. Philologisch-archäciogische 1915. | Sektion. &,c 92 %.2R 68 Sitzungen der philologisch-archäologischen Sektion im Jahre 1915. Sitzung am 23. Februar (gemeinsam mit der orientalisch-sprachwissenschaftlichen Sektion). Herr Dr. Gotthold Prausnitz sprach über: „Den Wagen in der Religion, seine Würdigung in der Kunst.“ Der Vortrag, welcher durch zahlreiche Lichtbilder erläutert wurde, erscheint in den ‚Studien zur Deutschen Kunstgeschichte“ im Verlage von Heitz und Muendel, Straßburg i. Els, Sitzung am 30. April. Herr Geheimrat Professor Dr. Foerster sprach über: „Platons Phaidros und Apulejus.‘“ Sitzung am 24. Juli (gemeinsam mit der historischen Sektion). Herr Professor Dr. Kampers hielt einen Vortrag: „Aus der Genesis der abendländischen Kaiseridee. Beligionsgeschichtliche Beziehungen zwischen der 4. Ekloge Vergils und dem 12., 21. und 22. Kapitel der Apokalypse.‘ An den Vortrag knüpfte sich eine Diskussion, die von den Herren Geheimrat Foerster, Professor Hönnicke und dem Vortragenden be- züglich Ecl. IV 50—52 und Apokal. c. 12., 21. und 22. geführt wurde, 1915. fl pe uf! inathunde 5° ‚34 as; Saal, 2 schlesischt Gesellschaft für vaterländische Cultır. ZEIGTE 93. IV. Abteilung. Jahresbericht. bh. Orientalisch-sprachwissen- 1915. | schaftliche Sektion. Sa 2 FENSTER : ee Ey: Sitzungen der orientalisch-sprachwissenschaftlichen Sektion im Jahre 1915. Sitzung am 23. Februar (gemeinsam mit der philologisch-archäologischen Sektion). Herr Dr. Gotthold Prausnitz hielt einen durch viele Lichtbilder erläuterten Vortrag über „Den Wagen in der Religion, seine Würdigung in der Kunst.“ Der Vortrag erscheint in den ‚Studien zur Deutschen Kunstgeschichte“ im Verlage von Heitz und Muendel, Straßburg ı. Els. 1915. er » nn en Re WERE Pue Pe Een ; R nen a 2 nn es nen ED GEREENEEEN Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur 98. | V. Abteilung. Jah bericht. i i a an er a. Mathematische Sektion. RS I a 3 un Rn le En un Si a BIC) Sitzungen der mathematischen Sektion im Jahre ı9135. Sitzung am 20. Januar. In dieser Sitzung wurden die bisherigen Sekretäre Realschuldirektor Prof. Dr. Peche und Geheimrat Prof. Dr. Kneser wiedergewählt, letzterer zugleich auch als Delegierter für das Präsidium. Hierauf hielt Herr Prof. Dr. Steinitz einen Vortrag über „Die Theorie des Polyeders.‘“ Alsdann hielt Fräulein Dr. Goldmann ein Referat über eine Arbeit von Prof. Kokott (Neiße) über Singuläre Ponceletsche Polygone am Kreise. Bei der großen Literatur- über Ponceletsche Polygone sollte man meinen, ließe sich nichts neues mehr über den Gegenstand bringen. Und doch ist dies nicht der Fall. Die Untersuchungen beschäftigen sich haupt- sächlich mit Kreisen, von denen der eine den andern umschließt, während die andern Fälle, nämlich, wo die beiden Kreise getrennt liegen oder sich schneiden, entweder gar nicht oder nur flüchtig behandelt worden sind. Aber gerade diese Fälle müssen den Analytiker reizen einmal wegen der Mannigfaltigkeit der geometrischen Gestalten, dann aber auch, weil auf rein synthetischem Wege solche Polygone gefunden worden sind, die den Mathematikern bei Benutzung der elliptischen Funktionen entweder ganz oder teilweise entgangen sind. Ich erwähne besonders die Arbeiten von Prof. Sturm, Lehre von den geometrischen Verwandtschaften, und die Dissertation des Frl. Dr. Goldmann (Breslau, 1909), die auf Grund der Cayleyschen Schließungsbedingungen rein geometrisch eine Reihe sogenannter Polygone erster Art bringt, die man vergeblich in den einschlägigen Werken sucht. Die vorliegende Arbeit soll diese Lücke ausfüllen. Sie beschäftigt sich im ersten Teile mit den Polygonen bei einander um- schließenden Kreisen, indem sie, wie ich glaube, in einfacherer Art, als es bisher geschehen, die Relationen zwischen den Radien und ihrer Mittel- punktsdistanz gibt. Die gefundenen Resultate bieten die Basis für den zweiten und dritten Teil, welche getrennt liegende und einander schneidende Kreise behandeln. Die Untersuchung wird so geführt, daß die dabei auf- tretenden Moduln der elliptischen Funktionen reell und kleiner als 1 bleiben. 1915, 1 5) Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Hab Man bezeichne in Fig. 1X _AMS mit 29, AMS’ mit 29, MA mit R, mF mit r, Mm mit ö; dann ist, wenn MD | SS’ und ME || $$’ ist, MD = R cos (p’ —y), ME =Ö cos (+9), also R cos (P—Yy)=r— 8 cos (P-+Y) oder Bi Rep cosyp copy — RE sinp smgp— £ Figur 1. Wälzt sich die Tangente SS’ am Kreise m, so sieht man, daß o mit o wächst. Vergleicht man die Beziehung zwischen p’ und » mit der Formel enu'cnu -- dn (u — u) snu'snu = en (W — u), so erkennt man sofort, daß « — u = h — konst. ist. Hierbei ist 0) BR e 4 Rö F (R— 8)’—r? = .am (W); der Modul k — (R-+5:— ri k 2 = R-+9:r Es sei nun Üx die Linie der gleichen Tangenten beider und damit unendlich vieler Kreise; dann ist MC? — R? = mc? — r? oder MC = = ‚ also ee AW— _— 7 und wegen AB=2R MR = k?— BC V. Abteilung. Mathematische Sektion. 3 Liegt Sin A, so ist = 0, also u—= 0. Wandert $ auf dem oberen Halbkreise nach B, so nimmt @ zu bis “, also u bis Ko wor RK — 27 Tı 7 EEE ist. Geht $ auf dem unteren Halbkreise von B bis A, N 1 — k° sin’9 so nimmt u zu von K bis 2K. Zwei symmetrisch zum Durchmesser gelegene Punkte haben die Koordinaten v und 2K— u. Für alle Kreise des Systems ist %k? unveränderlich, also auch für den Grenzkres r = 0; dort ist 4R\ (RN? trifft jede Sekante SL den entgegengesetzten Halbkreis in XK-+ u; errichtet man in Z auf der Centrale das Lot, so st 2K—u=K-.u, also — k?, wenn A ML bedeutet und Z den Nullkreis darstellte. Dann K 3 = 7 resp. 5E- Zieht man von $’ aus die zweite Tangente, so ist W — uw —=h, bei der dritten «’ — u" —=h u.s.f. Soll sich das Polygon bei einmaligem Umlauf schließen, so muß u® = u 2K sein, bei mehrmaligem Um- £ ! 2n kreisen ist also h = — K. Y Für die Aufstellung der Schließungsbedingungen ist es von Wichtig- keit zu wissen, wo 2u, 3u u.s.f. liegt, wenn u gegeben ist. Es sei C 2 u); d hat a wo s= sn (u), d — dn (u) = cn(2u); dann ha mn ag — — „= ; c= cn (u) bedeuten. Ist also © = cos ®, so entsteht , DISS ee a s' bedeutet sn (K-+ u) = =; ebenso im folgenden € = cn (K- u) k » Ser — — — $(2) = sn (2u), $'(2) = sn (K-- 2u) u.s.f. Berücksichtigt man D—( 22 1 — $ @ 2 . 5 RE ‘bh: a ee d noch die Gleichung D=6 ge 50 erhält man es zz um daraus tg = = a Hier ist ® der Winkel nach dem Punkte K + 2u. e-+c Es gelten also für die Verdoppelung folgende Formeln: r DIES ö De ae LITT a om oe ae oe a2 2 cc’ er ge A Jahresbericht der Schles. Geselischaft für vaterl. Cultur. Für 3»: 1—C() _1—e/Kk?+2Kc- 2%’ + er 1268) 17 e\K? — 26. —2r a Er Der Zähler des großen Bruches ergibt durch Hinzufügung von k?c? 4 ke? — c?— 0 nach einigen leichten Umformungen (1 -- c)?4? — c?, ebenso der Nenner (1 — c)?d?—c?. Also hat man Na 5 Des os?— (140? _ „ser rmee m a ge "2( +10) (" —1-+o) daraus weitere Formen für $(3), C (3), S’(3) und C’ (3). Im Gymnasialprogramm Sagan 1903 sind diese Transformationen und noch andere für 4u, 5u u. s. f. angegeben, allerdings unter Benutzung der imaginären Periode. Zieht man die Tangente von A aus, so ist X AmT, — ABS, oder : 2 7 nr: : os —=cnh= ——— und sıh — ! 1 die Tangente von Reh @+59%® | B aus trifft den Kress Min h-K, d.h.im Punkte, der mit Z und S$, n gerader Linie liegt. Es ist ao oh =s — a er 2 > 2 &(3 Beim Dreieck it h = Er also tg = Nenner verschwinden, d.h. s —c=1, der andere Faktor kommt, zu- nächst wenigstens, nicht in Betracht, da bei der angenommenen Lage der Kreise s und ec positiv sind, also nicht ° —c = — 1 sein kann. = 00; demnach muß der Die Dreiecksrelation entsteht auch folgendermaßen: Der 2. Punkt hat - > 4K 2 1 : die Koordinate a 2K— _ also liegt er symmetrisch zu — an- EN. 2 ne derseits ist == das Doppelte von Sr folglich it ®@)+po=r oder 3 ’ 2 sin X cotg ? &©(2) © ABER © h ir — — =, d.h. - = _ — SE 377 cotg ER d.h = cotg 5 oder 1 er: rn. f Te &©(2) r Beim Viereck ist ®(2) = —; tg = l oder s—=s; demnach 2 „2 V. Abteilung. Mathematische Sektion. 5 Beim Zweieck sth=K, nk =0 = also r = 0, wie es r . R--58’ sein muß. Beim Fünfeck ist h = -_ die zweite Koordinate =. die dritte 4 ! = —=2K— =. der zweite und dritte Eckpunkt liegen also symmetrisch zum Durchmesser; also ®(2) + ®(3) = d.h. cotg =e) ze 2) In 2 2 Funktion von s’ und c heißt also die Fünfecksrelation SR A- HN) H+A-I—-ULN =. Man kann ihr auch leicht die Form geben "+H-c—-)@ —c—-—)(—c+1 = As. Dieselbe Gleichung entsteht, wenn sich das Polygon nach zweimaligem Umlauf schließt. Beim Siebeneck hat man ®(3) + ®(4)=nr, so daß unter Benutzung der Formeln für die Verdreifachung und Vervierfachung zunächst oe ee Dee 29755 Ge do) el 08. - (09) und daraus wird. So geht die Entwickelung weiter; man braucht zunächst nur die un- geraden Polygone zu berechnen, trägt dann die Verdoppelungsformen ent- sprechend ein und macht alles rational. Wie man diese Relationen durch einfache Vertauschung von s’ mit s, und ec’ mit — c erhält, gibt das er- wähnte Programm an. Ich mußte bei der ersten Kreislage etwas länger verweilen, um mir die Grundlage für die schwieriger zu behandelnden Fälle in meinem Sinne zu verschaffen. 82. Kreise mit 4 reellen Tangenten 6 >R;ö6 — R>r) In Figur Ila. (Seite 6) sei X AMS = 20; AMS’ = 20; dann ist MD = Reos (‘—0o). Wegen EMm = rn — (9 4 0). hat man Sr, 0 EBEN: V Sara eo sın 0 = PER. Setzt man jetzt ebenso wie in $ 1. cnu für cos o, so ist C0OSG C0SO — enu cnu — dn (u 4 u) snusnu = en (uw + u); 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. ı das ist unpraktisch; man muß sehen, äußere Kreise ebenso zu behandeln, wie einander umschließende, d. bh. man muß die Gleichung # — u—=h zu erreichen suchen, die die Voraussetzung in sich schließt, daß mit wach- sendem x auch = zunimmt. Figur IIa. 1-42. ABö 1—e? (BHO) r® wegen (R — 6)? = (R — ö)? —4R5 und ö —nh > 1; ist LE? < 1. Man Zunächst eine Bemerkung über k®, Es ist k?— überzeugt sich leicht, daß A? = = wo durch (€ die Linie der gleichen AQ” Tangenten geht. Also ist #° auch hier für alle Kreise des Systems kon- stant und < 1. Wir verstehen nun unter © den Winkel ABS, also 9—=o; dagegen unter @ den Winkel -- = — do’, d.h. wir lassen in Gedanken $’ bis B und dann wieder bis $’ zurückwandern; dabei soll die rückläufige Bewegung den Winkel vergrößern. Verschiebt man dann SS’ so, daß der Punkt T sich nach rechts bewegt, so bemerkt man, daß mit wachsendem 9 auch 9° wächst. Die Beziehung zwischen 0’ und o erhält dann die Form: a SEE r n ne: cosp cosyp — in B -G m je) -G | 'V. Abteilung. Mathematische Sektion. 7 Sie behält nun beim weiteren Ziehen der Tangenten ihre Form bei, wenn oo” richtig gemessen wird. Der leitende Gedanke muß immer bleiben, daß mit wachsendem 9’ auch p” zunimmt. Wälzt sich die zweite Tangente gegen die gemeinsame innere hin, so bewegt sich 8” gegen B zu. Würde man also p” ebenso zählen wie 9’, so würde p” fallen. Lassen wir aber 8” (hier handelt es sich nur um den Punkt 5” losgelöst von der Tangente $'S”) über B auf dem unteren Halbkreise in seine alte Lage übergehen, und verfolgen wir stets den begleitenden Leitstrahl BS”, so sielt man, daß 9’ =0o" + ist, wo 0’ den Winkel ABS” seiner absoluten Größe nach bezeichnet, / Es ist dann MD’’=R cos (" — o0)=Öcos("— rn — 20) — r=—5dcos (" 4+0)—r; nun ist "=o"--IM, !=er—y; daher Res’ +p)=—Öcos(’—p)—r oder cosp' cosp — SER sinp sn —= — Ep > ARE & < x et Ei oo [ A Fr nn: > \ 7 477 m Figur IIb. Fig. Ib. Eine Vergrößerung von 9’ muß eine solche von $” hervor. rufen, Läßt man $” ein wenig nach B rücken, so verschiebt sich $”” ihm entgegen. Also ist o”’ von oben her zu messen. Die Relation zwischen 0” und 0” ist folgende: Su 'MS” ee ö cos (MmE') — r. R eos Es ist & $”’MS’ = S’"MB- S’MB= 2 — 20" +n—2 [o X MmE" — s’MD" Or sS’"MB Ben T DEREN: (&“ ne co) SR 7 En Io = (ei Kal eo) 8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Man führe nun $” zunächst in die Lage von B; in diesem Augenblicke „ 3 [24 . hat 9 den Wert >; dann dreht man 5 zurück über seine alte Lage schließlich zu 8”. Der sich um B drehende Leitstrahl beschreibt dann den Winkel "—=2r-+0”. Es ist also "=y’— rn; d"=g"--27; daher wiederum ZZ 2 °©— R . m. „ un Na, a a nr: So geht die Überlegung weiter; zählt man die Winkel p wie auge geben, so hat man stets u—u=h v—u=h ’ v“—uW—h um) — ur -) — ur) — u — nh. Soll sich das Polygon also schließen, so ist v® =u+ 2mK, d.h. 2 \ { N — K. Es ist ohne weiteres klar, daß n eine gerade Zahl sein muß. Denn es muß sich u® ebenso vergrößern wie u, also durch eine Veränderung des Winkels $ in der Richtung von unten nach oben. Diese Eigenschaft zeigen aber nur die geraden Indices. Da cn = — SE ist, so ist natürlich > K. Die Zahl m hat hier also eine ganz andere Bedeutung wie in der Arbeit der Herren Rosanes und Pasch. Beispiel fürn =6, m = 4. 8 4 ? NER Es ist enh nh= —1: El u für cnh — a ee en ur cH Bu, un N Vs ER ve ee 1. (Sechseck erster Art). Natürlich muß diese Gleichung auch aus der Verdreifachungsformel herzuleiten sein. Von den beiden Faktoren des Zählers kann nur ®-+c+1 verschwinden, da sowohl c als auch s’ negativ sind. BEN 6. Esser N — - K; die Verfünffachung liefert 6 K oder 3r; also muß in der Formel für tg —— = ) der Nenner verschwinden. Der betreffende Faktor % Abteilung. Mathematische Sektion. 9 ist genau derselbe wie beim Fünfeck, wenn der eine Kreis den andern um- schließt. Jedoch haben s’ und c eine durch Vorzeichen abgeänderte Be- deutung. Man erhält (276 — (R? — 82)) (Ar?R? — (R? — 82)2) = — 4 r!(R? — 32)? als Zehneck erster Art. Die Gleichung stimmt völlig mit der von Frl. Dr. Goldmann pag. 69 gefundenen überein, wenn man den dort vorhandenen überflüssigen Faktor 82 — R? — 2Ör beseitigt. Analog für m=8, n = 10 (2r8 — (R? — 8?°)) (4 r?R? — (R? — 8?)?) = Ar? (R? — 8°)?. So entspricht jedem (2?n + 1)-Eck bei Kreisen, von denen der eine ganz im Innern des andern liegt, ein (4n + 2)-Eck getrennt liegender Kreise. Jedoch können Polygone von der Form 4n hier nicht vorkommen; solche existieren nur bei Kreisen, die einander schneiden. S 3. Wir gelangen nun zu dem interessantesten Fall, wo die beiden Kreise einander schneiden. Fig. Illa. Figur Illa. Es ist Reos(! —o)=r—Ö cos(o + o) oder cos 0° .. are Sina sing; a mung TIRae ; 4 Rö ‘ (R — 8)? — r? a a ins Tal ee : also u Bel = (R 5,’ Zn ey 1915. 2 10 Jahresbericht der Schles..Geseilschaft für vaterl. Cultur. da aber r> R— ist, so ist k? negativ, d.h. k?> 1. Deshalb muß man auf den reziproken Modul transformieren. Wir vergleichen zu diesem Zwecke die Beziehung zwischen 0’ und o mit dnu'dnu +- enh k?snu'snu — dnh. Es ist dann k sing =sino, wenn p = am(u) ist, coso—= Ay, und da 1—d?, (R +8)? — r? 2 — Pr EEE 15 k Ts ist, hat man k I R8 — Die geometrische Bedeutung des Moduls k ist leicht zu erkennen. Man hat nämlich YMG?— mG?—= MC’—mO? oder R®—r?—=(MC-+mÜ) 5; daraus folgt k? — — Auch die Winkel haben eine einfache geometrische Bedeutung. Ich lege hier die Behandlung zugrunde, die Greenhill in seinen Fonctions elliptiques pag. 178ff. gegeben hat, und die hier des physikalischen Gewandes entkleidet ist. Figur IIlb. Fig. Ib. Man zeichne über AU als Durchmesser den Kreis O und projiziere durch Herablassen der Senkrechten den beweglichen Punkt S auf den Kreis O0; der Bildpunkt sei P. Es ist dann sin APC AP... xAQ: 45 _ 4Q. Es 4A = nom a]20 sin AQP— TE a ferner ist sin o = V, Abteilung. Mathematische Sektion. 11 also sin?o — nn daraus folgt sin AOP=k sino. Zieht man ferner in B die Tangente Bx, so kann sie als Linie gleicher Tangenten zu einer ganzen Schar von Kreisen, zu der auch der Kreis O gehört, angesehen werden. Jedem dieser Kreise ist eine ganz bestimmte Differenz der Argumente zugeordnet. Der Grenzkreis des Systems ist ein Punkt Z, dem die Differenz K zukommt. Der Modul ist für alle Kreise nach 8. 1. ebenfalls — Läßt man P von A bis © wandern, so nimmt u alle Werte an von O0 bis X; der abgebildete Punkt $ wandert dann von A bis @. Geht P auf den unteren Halbkreis über bis A, so macht $ eine rückläufige Bewegung bis 4, der dann natürlich die Koordinate 2 K hat. Bei einem zweiten Umlaufe von P geht $ auf dem untern Bogen bis H und zurück. Jedem Polygon, welches sich im Kreise O um einen Kreis des Systems nach zweimaliger Umdrehung schließt, entspricht also ein Polygon, welches im Kreise M liegt und einen andern Kreis durch GEH berührt. Ent- scheidend für die Lage der Kreise beider Systeme, nämlich der sich in@ H schneidenden Kreise mit GH als Linie gleicher Tangenten und der sich umschließenden Kreise mit Bx als solcher Linie, ist die Wahl von A. 270, Dann kann man im Kreise O nicht von einem der Differenz h zuge- ordneten Kreise reden; der Spiegelpunkt P’ hat die Differenz 2 K; die Linien gehen alle einander parallel und senkrecht zum Durchmesser; ebenso die Verbindungslinien der Bildpunkte 88”, In allen Lagen berühren SS’ einen durch GH gehenden, zur geraden Linie degenerierten Kreis, Zu 2 Im Kreise O erhalten wir Zweiecke, die dem Punkte Z umschrieben sind. Sei PP” eine durch Z gehende Gerade, so berührt SS” einen Kreis des andern Systems. Be Die durch Z gehende Senkrechte berührt ebenfalls den Kreis 5, der also durch Z gehen muß. Die Tangente in 8” berührt B, ist also die Weil enK — 0 ist, so hat man —10,83ls0, 00 IR. 7 gemeinsame Tangente. Sie hat die Koordinate 5: Ganz allgemein ist die äußere gemeinsame Tangente bestimmt durch 2K — 2u = h, also h a ” AK Sa, — 5“ Für alle Kreise des Systems M, die den Durchmesser zwischen Z und O schneiden, sth> K<2K, also cnh negativ, wie auch eine Herleitung der Relation zwischen 0’ und o ergibt; jetzt ist 6 > R. 12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. enh an — cnh = —1 ist, so erhalten wir das Dreieck dnh ” 2 hi De ee. BES RE Aa — 5° Im Kreise O erhalten wir Vierecke, also in M Achtecke. Der berührte Kreis durch @H schneidet AC links von L und zwar berührt er den zu O gehörigen durch k = = bestimmten Kreis in dem A zugewandten Scheitel. enh i Wegen Yes snh haben wir ne r= (R + 5)? (R? — 8°)? — 4 Rör? (Achteck erster Art). 6) {3} =] oder Dieselbe Formel gilt für h = = .. Die gemeinsame Tangente hat die Koordinate == resp. 24 Ihre Berührungstellen sind also die Eckpunkte = der im Kreise O liegenden symmetrischen Achtecke. DE h= ——. en Im Kreise O haben wir Dreiecke, in M Sechsecke. Es ist cnh dh =i7 cnh = 1; also, da jetzt enh positiv ist, R>Ö. Daraus folgt R—Ö R—:ö ei — RTE =. oder R—-=2r. K 4K 6. h = 3 DD EC% R—Ö R—Ö N n .. -, m = .. ’ os “ Man erhält durch Einsetzen von s für Ss und RrE für e in die gewöhnliche Sechsecksrelation (RB? — 8°)? — 4r?Rd)? — r’(R + 8)?(4r?Rd — (R? — 82)? + (R — Ö)%) ein Zwölfeck erster Art. Natürlich entstehen auch Vielecke zweiter Art, jedoch müssen die- selben einen zweimaligen Umlauf machen. Wie diese Betrachtungen sich auf Kegelschnitte ausdehnen lassen, beabsichtige ich in einer späteren Arbeit darzulegen, a T —— a Schlesische Gesellschaft für vaterländische Gultur. ZEy os I® 93. V. Abteilung. Jahresbericht. b. Philosophisch -psychologische 1915. Sektion. On 2 re 32, KR ByG) Sitzungen der Pbilosophisch-psychologischen Sektion im Jahre 1915. Sitzung am 29. Januar. 1. Vortrag des Herrn Dr. phil. Mann: Neues zum Problem der Aufmerksamkeit. 9. Diskussion. Sitzung am 10. März. 1. Vortrag des Herrn Pastor Dr. phil. Conrad: Versuch einer metaphysischen Begründung der Religionsphilosophie. 2. Diskussion, 1915. schlesische Gesellschaft für vaterländische Gultur. Ver En RE TERAN TE 0 93. | V. Abteilung, Jahresbericht. c. Sektion für katholische 1915. | Theologie. LEEREN EN en us) Sitzungen der Sektion für katholische Theologie im Jahre 1913. Am 11. Februar sprach Herr Privatdozent Pfarrer Dr. Ziesche& über Die funktionelle Behandlung der dogmatischen Theologie, ihren Wert und ihre Schwierigkeiten. Stellen wie Matth. 5,8; Joh. 7,17 und viele andere legen nahe, daß: aus der Übung des Glaubens sich seine nähere Erkenntnis ergibt. Es fragt sich, ob aus der gesetzmäßigen Auswirkung der Offenbarung in allen Seelen, die in Analogie mit anderen Wissenschaften ihre Funktion genannt werden dürfte, sich methodische Rückschlüsse auf den Glaubens- inhalt ermöglichen lassen. Die dogmatische Theologie erstrebt fort- schreitende Aufklärung der autoritativ gegebenen Glaubensbegriffe. Nicht auf subjektive Erfahrung aber, sondern auf autoritative Mitteilungen über Wirkungen des Glaubens, wie sie u. a. Schrift, Väter und Geschichts- verlauf bieten, müßte jener Versuch sich aufbauen. Die logische Natur des Begriffes widerstrebt dabei nicht, da er gemeinhin in letzter- Linie Konstatierung von erfahrenen Wirkungen ist. — Methodische Ansätze nach dieser Richtung liegen aus allen Zeiten der Theologie vor, Schrift- auslegung, Konvenienztheologie, Mystik sind einige Beispiele. Die Jetzt- zeit, die im Kampfe um das Übernatürliche steht und es gern aus seinen Wirkungen nachweisen möchte, treibt zu wissenschaftlicher Unter- suchung und Ausbau dieser Methode besonders an. Sie würde die Dogmatik zur organischen Verwertung der Schriftkunde und Kirchen- geschichte erneut anregen und ihr selbst die Anknüpfungspunkte für die- übernatürliche Ethik und für die Pastoral in brauchbarer Form heraus- arbeiten. Alles, was die sachgemäße encyklopädische Stellung der: Offenbarungskunde organisch verstärken könnte, wäre bei der heutigen Lage der Gesamttheologie vorteilhaft. In der Sitzung am 30. April hielt Herr Divisionspfarrer und Ober- lehrer am Matthiasgymnasium H, Hoffmann einen Vortrag über das Thema: Beiträge zur Pastoraltheologie aus der Kriegsseelsorge. 1915. 9) Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Am 13. Juli hielt die Sektion eine Wanderversammlung in Neiße ab. Nach Besichtigung der beachtenswertesten Baudenkmäler von Neiße versammelten sich die erschienenen Mitglieder und zahlreiche Gäste aus Neiße und Umgegend im Stadthaussaale. Hier hielt Herr Privatdozent Dr. P. Karge einen Vortrag über Die Bedeutung Palästinas für den Handel einst und jetzt. Es handelte sich um die Frage: welche Bedeutung hatte Palästina einst im Altertum für den Welthandel, welche hat es heute und welche kann es in Zukunft nach dem Kriege gewinnen? Der Vortragende schloß mit der Erwartung, daß Syrien—Palästina unter deutscher Mitwirkung nach dem Kriege einen großen wirtschaftlichen Aufschwung nehmen und einer neuen Blütezeit entgegengeführt werde. — Der Vortrag ist abgedruckt im „Sehlesischen Pastoralblatt‘“ 1915, Augustnummer, S. 113—122. In der Sitzung am 20. Dezember fand in Gegenwart zahlreicher Mit- glieder und Gäste, darunter auch des Hochwürdigsten Herrn Fürtbischofs Dr. Bertram und des Weihbischofs Dr. Augustin ein Doppelvortrag statt. Zuerst gab Herr Privatdozent Dr. A. Rücker einen Überblick über Die Vertretung der abendländischen kirchlichen Interessen in Palästina. Er zeigte, wie, angefangen von den Franziskanern, immer weitere abendländische Kreise in Palästina Vertretung und Einfluß erstrebten und erhielten. An der Spitze der christlichen Mächte stand lange Zeit Frankreich, das sich aber infolge seiner christentumsfeindlichen Politik zuletzt als ein Hemmschuh der christlichen Interessen erwies. Die deutschen Katholiken wandten dem hl. Lande von jeher ihre Liebe zu. Viele Millionen von Mark sind im 19. Jahrhundert ohne Rücksicht auf die Nationalität den katholischen Anstalten im hl. Lande aus Deutschland "zugeflossen, namentlich auch den französischen. Aber niemand erfuhr in Palästina, was die deutschen Katholiken für das Land taten. Daher schritt man Ende der 70er Jahre unter Anführung unseres Landmannes, des Franziskanerpaters Ladislaus Schneider, zur Gründung eigener katholischer deutscher Anstalten, Hospize, Krankenhäuser und Schulen, ‚deren Entwicklung zu den schönsten Hoffnungen berechtigt und die nach dem Kriege den Grundstock bilden sollen für die kulturelle Betätigung des katholischen deutschen Volksteils im hl. Lande. — Der Vortrag ist abgedruckt in der Sonntagsbeilage der „Schles. Volkszeitung‘ vom 9. Januar 1916. Darauf behandelte Herr Privatdozent Dr. P. Karge ‚das spezielle Thema: Die christlichen Missionsschulen in Palästina. Nach einem Überblick über Ziel, Art und Organisation der Missions- schulen Palästinas im allgemeinen sprach er über die russisch-orthodoxen, V. Abteilung. Sektion für katholische Theologie. B3 protestantischen und katholischen Missionsschulen, ihre Methoden und Erfolge. Der Eintritt der Türkei in den Weltkrieg hat zu einer fast katastrophalen Verödung der katholischen Missionsschulen durch Ver- treibung der Missionare mit Ausnahme der deutschen geführt. Den deutschen Missionsschulen erwächst dadurch eine große Aufgabe für die Gegenwart und Zukunft, eine Aufgabe nicht nur von religiöser, sondern namentlich auch von nationaler Bedeutung. — Der Vortrag ist abgedruckt im „Schlesischen Pastoralblatt‘“ 1916, Januarnummer, 8.1 ff. Zum Schluß zeigten die Vortragenden nacheinander eine große Zahl vorzüglicher Lichtbilder, meist nach eigenen Aufnahmen von Dr. Rücker. Sclesische Gslschaf ir vterländisch Gltur By 2 V. Abteilung. Jahresbericht. Ä Koh 1915. | d. Evangelische Theologie, So —e te 2.8 Sitzungen der evangelisch-theologischen Sektion im Jahre 1915. Sitzung am 29. Januar. Vortrag des Herrn Oberlehrer Dr. Schmidt: Ein neuer Hesychastenstreit auf dem Athos. Sitzung am 5. März. Vortrag des Herrn Pastor Lic. K. Müller: Studien zur Ahasverussage. (Veröffentlicht in den Theol. Studien u. Kritiken). Sitzung am 4. Mai. Vortrag des Herrn Pastor Lic. Sommer: Krieg und Christentum. Sitzung am 16. Juni. Vortrag des Herrn Kircheninspektor D. Decke: Ein neues deutsch-evangelisches Gesangbuch. Sitzung am 14. Juli. Vortrag des Herrn Professor Dr. Steuernagel: Wesen und Ursprung der alttestamentlichen Zukunftserwartung. Im Gegensatz gegen die herrschende Auffassung, nach der die Pro- pheten die im Volke lebendige Hoffnung auf ein Strafgericht Gottes über die Feinde Israels übernommen, aber in die Ankündigung eines in erster Linie über Israel selbst hereinbrechenden, durch Israels Sünde motivierten und durch die Assyrer und Babylonier sich vollziehenden Gerichtes um- gebogen haben, hat Gressmann die These aufgestellt, daß die Unheils- erwartung im letzten Grunde auf einer uralten mythologischen Idee vom 1915. 92 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Untergang dieser Welt durch eine Naturkatastrophe ruht. Entsprechend soll die Heilsverkündigung nicht psychologisch aus der Spannung von Wirklichkeit und Ideal erklärt werden, sondern aus der Idee einer Neu- erschaffung der Welt nach ihrer Vernichtung, wobei der einstige Paradies- zustand und der halbgöttliche Urkönig der Paradieszeit als Messias wieder- kehrt. Der Vortragende erkannte an, daß Gressmanns Methode der stofflichen Analyse der Zukunftsvorstellungen an sich eine dankenswerte Förderung bedeutet, daß auch im einzelnen in stärkerem Maße als bisher mit dem Hineinspielen mythologischer Elemente gerechnet werden muß, lehnte aber für die ältere Zeit die Idee einer Weltvernichtung und Welt- erneuerung ab, weil sie nicht genügend zu begründen ist und unlösbare Schwierigkeiten schafft, sofern das Heil eben denen zu teil wird, die durch das Gericht hindurchgegangen sind, und sofern von der Idee eines Welt- unterganges aus die volkstümliche Erwartung eines nur die Heiden treffenden Gerichtes nicht zu gewinnen ist, und da Gressmann über- haupt die naturhaften Züge in der Zukunftsschilderung zu sehr in den Mittelpunkt stellt, während sie tatsächlich nur die Bedeutung von Begleit- erscheinungen beanspruchen können. Noch entschiedener lehnte der Vortragende die These Sellins ab, daß die Zentralidee und der Ausgangspunkt der Zukunftserwartung das eschatologische Kommen Jahves als König der Welt sei, woraus die drei Ideen des Gerichtes, des Niederwerfens der Feinde und des Heilspendens für die Seinen abgeleitet seien. Weder setzen diese drei Ideen jene Zentralidee als ihre Wurzel voraus, noch kann die versuchte exegetische Begründung anerkannt werden. Beide neuen Theorien leiden überdies daran, daß sie zeitlich zu weit auseinanderliegende Vorstellungen fälschlich kombinieren und litterarisch nur als spät bezeugte Ideen in die älteste Zeit zurückdatieren, ohne die Berechtigung dazu erweisen zu können. Sitzung am 9. November. Vortrag des Herrn Professor Dr. Caspari: Ein neuer Versuch über die Geschichtlichkeit des Mose. Ein Bericht und eine, wo es angeht, zustimmende Beurteilung von Gressmann, Mose und seine Zeit. Dieser neue Versuch, für Mose und sein Werk Geschichtlichkeit zu gewinnen, wurde in seinen haupt- sächlichsten Errungenschaften gewürdigt, so bezüglich der zehn Gebote, des Vorgangs am Schilfmeer und seiner religiösen Bedeutung, der geschicht- lichen Beziehungen zu den Erzvätern und zu der arabischen Landschaft und Bevölkerung, sowie zur Frage nach dem durch Mose herbeigeführten Fortschritte. Das Buch wurde zwar als Glied einer rückläufigen Strömung ee LE ee V. Abteilung. Evangelisch-theologische Sektion. 3 in der Wissenschaft beurteilt, aber besonders auf fortbildungsfähige An- sätze hin angesehen. Sitzung am 7. Dezember. Vortrag des Herrn Professor Lie. W. Bauer: Die alte syrische Kirche und ihre Evangelien. Nach einer kurzen Schilderung der Geschicke Mesopotamiens in den ersten christlichen Jahrhunderten ging der Vortrag zur Darstellung der Entstehung der wichtigsten Kirche dieses Gebietes, der von Edessa, über. Sie empfing ihr Evangelium von Tatian, der ihr das Diatessaron gab. Das Verhältnis dieser Schrift zu dem alten Evangelium der Getrennten, das sich in syr. sin. und cur. erhalten hat, wurde untersucht und dahin fest- gelegt, daß die Übersetzung des vierfältigen Evangeliums unter maßgebendem Einfluß des Diatessarons zu Stande gekommen ist. Sie verdankt ihre Ent- stehung nicht dem Wunsch, die Evangelienharmonie zu verdrängen. Dieses Ziel hat sich erst Rabulas von Edessa gesetzt und, um es zu erreichen, die nt. Peschittha geschaffen. Sie ist die eigentliche syrische Kirchenbibel geworden, deren Ansehen auch spätere Ausgaben des nt. Textes nicht haben schädigen können. al sehlesische Gesellschaft für valerländische Cultur. veya— Fi Be ; > I | VI. Abteilung. a a EN | b. Sektion für Kunst der Gegenwart. ©,xc RRIE 2,9 Sitzungen der Sektion für Kunst der Gegenwart im Jahre 1015. Das Kriegsjahr 1915 hat die Arbeiten der Sektion sehr eingeschränkt. Die Abteilung ‚Musik“ ist unbesetzt geblieben. Die Herren Geheimrat Professor Dr. Max Koch und Herr Privatdozent Dr. Landsberger sind beim Heere. Es fanden nur 2 Sitzungen statt: die erste am 22. Februar als Be- sprechungsabend: I. Die Lichtreklame in Breslau. II. Ist jetzt die Zeit Denkmäler zu errichten? Berichterstatter zu beiden Architekt Henry. Die Versammlung war einig mit dem Vortragenden, daß die Licht- reklame in Breslau in den Ausschreitungen und Ausartungen bekämpft werden müsse und erklärte sich einverstanden mit den Maßnahmen, die die Königliche Regierung und die städtische Baupolizei auf Antrag des Ausschusses Alt- und Neu-Breslau getroffen hat. Zu dem zweiten Punkt der Besprechung diente der Aufruf des Deutschen Architekten- und Ingenieur-Vereins zu Bromherg als Unterlage. Der Vortragende trat dafür ein in der jetzigen Zeit nicht Denkmäler sondern Dankmale: Kriegerheimstätten, Genesungs- und Erholungsheime zu schaffen. Bei etwaiger Ausschreibung von Kriegserinnerungen und Denk- mälern ist mit Vorsicht und künstlerischem Besinnen vorzugehen, um die Fehler früherer Tage zu vermeiden. Sonnabend den 27. November fand die zweite Sitzung statt, die zu einer eingehenden Besprechung über die Weiterarbeit der Sektion führte. Dabei wurden Gegenwartsfragen der Stadt Breslau berührt, in- sonderheit die Schaffung eines Kriegssmuseums, was im Sinne der späteren endgültigen Entscheidung durch die Stadtverordneten-Versammlung auch in diesem kleineren Kreise entschieden wurde: Angliederung an ein be- stehendes Museum. Der Vorsitzende, Architekt Henry, konnte mitteilen, daß dem Sekretär der Sektion, Herrn Geheimrat Professor Dr. Koch, auch das Eiserne Kreuz I. Klasse zu den anderen Kriegsauszeichnungen verliehen worden ist. Henry. 1915. m a ie) nr 1, ? schlesische Gesellschaft für valerländische Gultur. VI. Abteilung. 93. Jahresbericht. c. Sektion für Geologie, Geographie, 1915. | Berg- und Hüttenwesen. @&uc ARE ei ze Sitzungen der Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. Naehtrag aus dem Jahre 1914. Sitzung vom 24. November 1914. Nach einem Vortrag von Herrn Geh. Bergrat Prof. Dr. Frech über Kleinasien wurde die folgende wertvolle Mitteilung vorgelegt, die als eine vorläufige anzusehen ist, da sich der Verfasser zurzeit im Felde befindet: Das Triasvorkommen von Groß-Hartmannsdorf in Niederschlesien. Von Günther Holdefleiß, Bergreferendar. Im Gegensatz zu den Triasvorkommen Oberschlesiens, von denen be- sonders die des Muschelkalkes weit verbreitet, in Steinbrüchen und Gruben ausgezeichnet aufgeschlossen und daher in größtem Maße bearbeitet sind, haben die niederschlesischen wenig Beachtung gefunden. Dies liegt einmal daran, daß die Triasschichten nur in einem schmalen Gürtel längs des Schiefergebirges anstehen und dann meist unter ziemlich mächtigem Diluvium liegen. Ferner wird der Buntsandstein wegen seiner geringen Festigkeit garnicht, der Muschelkalk, der bis vor kurzem fehlenden Transportmittel wegen, erst in neuerer Zeit in größerem Umfange abgebaut. Keuper findet sich in dieser Gegend nicht. Nur westlich des Gröditzberges, im südlichen Zipfel des Bunzlauer Kreises, hat von Alters her größerer Abbau des Muschelkalkes stattge- funden, und so sind diese Schichten am besten aufgeschlossen. Über die Vorkommen in dieser Gegend ist bisher nur die einzige Arbeit von Noetling erschienen, die jedoch, aus dem Jahre 1879 stammend, eine ganze Anzahl der neueren Aufschlüsse nicht berücksichtigt. Auch läßt sie besonders bei der Beschreibung wichtiger tektonischer Verhältnisse ein genaueres Eingehen vermissen und bedarf daher der Ergänzung. Die in vorliegendem Gebiete anstehenden Schichten bilden in der Hauptsache eine nach Westen hin offene Mulde, deren Achse nordwest- liche Richtung hat. Das Einfallen der Schichten habe ich an folgenden Punkten gemessen: 1. In Bruch XVI bei Alt Warthau. Streichen 350°, Einfallen 5° gegen SW. 2. Im Aufschluß d. Streichen 330°, Einfallen 16° gegen SW. 3. Im Aufschluß c. Streichen 355°, Einfallen 17° gegen W. 4. In Bruch I. Streichen 326°, Einfallen 11° gegen SW. 1915. ) 2 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. 5. In Bruch III. Streichen 323°, Einfallen 13° gegen SW. 6. In Bruch IV. Streichen 350°, Einfallen 16° gegen SW. 7. In Bruch VII. Streichen 330°, Einfallen 10° gegen W. 8. In Bruch VIII. Streichen 305°, Einfallen 10% gegen SW. 9. In Bruch IX. Streichen 286°, Einfallen 12° gegen NO. 10. In Bruch X. Streichen 290°, Einfallen 9° gegen N. il. Bei Punkt k. Streichen 300°, Einfallen 35° gegen NO. 12. Bei Punkt m. Streichen 319°, Einfallen 46° gegen O. 13. Bei Punkt n. Streichen 70°, Einfallen 26° gegen NW. 14. Bei Punkt r. Streichen 271°, Einfallen 45° gegen N. 15. Bei Punkt s. Streichen 304°, Einfallen 21° gegen N. 16. In Bruch XI. Streichen 290°, Einfallen 29° gegen N. 17. Bei Punkt 0. Sireichen 281°, Einfallen 13° gegen N. 18. Bei Punkt p. Streichen 297°, Einfallen 22° gegen N. 19. In Bruch XIII. Streichen 307°, Einfallen 24° gegen N. 20. In Bruch XVI. Streichen 295°, Einfallen 30° gegen NO. 21. In Bruch XV. Streichen 309°, Einfallen 16° gegen NO. Der nördlichste Punkt dieser Mulde, an welchem Triasschichten zu beobachten sind, liegt zwischen den Dörfern Nieschwitz und Thomaswaldau, wo Muschelkalk in den alten, jetzt völlig verschütteten Brüchen an der sog. Goldmühle gebrochen wurde. Buntseindstein findet sich nordöstlich davon. Augenscheinlich bildet dieses Vorkommen einen Horst. Die südlich hiervon liegende Gegend ist vom Diluvium verdeckt, sodaß keine Beob- achtungen über die Lagerung gemacht werden konnten. Nach Aussage der Grundbesitzer stehen jedoch alle Brunnen des Dorfes Nieschwitz im Sandstein. Östlich Thomaswaldau steht keine Trias mehr an. Einige am Vorwerk Liebichau, bei Punkt a der Karte, auf Wasser gestoßene Bohr- löcher trafen nach Durchteufen von Kies- und Lehmschichten in 40 m Teufe schon den Schiefer an. Ein Profil der hier anstehenden Schichten ergibt sich aus den angeführten Tabellen }). An der Tagesoberfläche finden sich Triasschichten südlich des Dorfes Alt-Warthau bis zum cenomanen Sandsteinzuge der Worfen, folgen dann auf der östlichen Talseite des kleinen Bober dem Dorfe Groß-Hartmanns- dorf in geringer streichender Ausdehnung und stehen südlich bis zum Cenomansandstein des Geiersberges an. Das Liegende bilden permische Schichten, die auf dem Schiefer- gebirge auflagern. Rotliegendes soll in dem hier beschriebenen Gebiete westlich des Dorfes Ober-Gröditz anstehen, worauf später zurückgekommen wird. Über diesem folgt in schmaler, nordsüdlich streichender Zone unterer Zechstein. Zechsteinkalk stand in dem Bruch bei Ober-Gröditz an. Dieser ist jedoch in die Parkanlagen-des Schlosses einbezogen und 1) Die Bohr-Tabellen sind, um diese vorläufige Mitteilung zu kürzen, im Druck weggelassen, ebenso fehlt. noch die zugehörige Karte.’ VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 3 der herabkommenden Steine wegen größtenteils vermauert worden. Früher sind hier Productus horridus und andere Fossilien gefunden worden. Am Fuße des Gröditzberges ist ferner eine Scholle roten Gesteins vorhanden, das auf der alten Karte von Roth und der von Gürich als Rotliegendes bezeichnet ist. Es ist nur an einer Rotfärbung des Bodens zu erkennen. Ob es vielleicht unterer Buntsandstein ist, wie man auf Grund seiner Lage zum Zechstein annehmen könnte, konnte ich nicht anachweisen, da keinerlei Bruchstücke des Gesteins zu finden waren. Zu beobachten ist erst wieder mittlerer Buntsandstein und Röt. Diesem lagern sich dann die Schichten des unteren Muschelkalkes auf, auf dem dann der Sandstein der Kreide folgt. Alle diese Formationen sind von Diluvium bedeckt, das an sehr vielen Stellen durch seine Mächtig- keit die älteren Schichten unzugänglich macht, so daß ich die Grenzen dieser Ablagerungen nur durch Bohrungen feststellen konnte. Die oben erwähnte Mulde ist jedoch nicht gleichmäßig in ihrer Lagerung, sondern durch zahlreiche Verwerfungen und Faltungen gestört. Besonders wichtig ist eine Verwerfung, die etwa in der Mitte des Dorfes ‘Groß-Hartmannsdorf zwischen den Brüchen V und VI hindurchgeht und ein Streichen von 320° hat. Sie fällt nach SW hin ein und verwirft den südlichen Teil der Mulde um etwa 40 m gegen den nördlichen. (Weiter nordwestlich verwirft sie nach Prof. Skupin-Halle die Turonmergel gegen den Cenomanquader der Worfen.) Aufgeschlossen ist diese Verwerfungszone in einem Hohlweg, der von NÖ in den Bruch VI führt. Außer dieser Hauptstörung tritt noch eine ganze Anzahl von Faltungen ‚auf, so daß eine genauere Feststellung der Mächtigkeit einzelner Schichten- gruppen nicht möglich war, zumal da die unmittelbaren Messungen durch das bedeckende Diluvium verhindert werden. Einzelne dieser Faltungen sind aufgeschlossen in den Brüchen I, III (Streichen 3389), V (Streichen 321°), IX (Streichen 301%), X (Streichen 330%, XII (Streichen 300°). Sie sind also im großen und ganzen der Hauptstörung parallel. Da die ‚Sättel meist nach SW überkippt sind, schließe ich, daß der Schub von NO ‚gekommen ist. Vielleicht ist er durch den Basalt des Gröditzberges verursacht. Ferner ist als Grenze gegen das Cenoman des Geiersberges im Osten des südlichen Muldenflügels noch eine Verwerfung anzunehmen. Auch ‚diese konnte ich unmittelbar nicht beobachten, da die Diluviumdecke ‚südlich Bohrloch 60 zu mächtig war. Nördlich von diesem Bohrloch liegt die Grenze unter dem Sand des kleinen alluvialen Tälchens und noch weiter nördlich unter diluvialen Schottern. Auf Grund der durch die Bohrlöcher 47—56, 61, 62, 64 sich ergebenden, trotz der Niveauunter- ‚schiede der Oberfläche gradlinigen Abgrenzung der Trias gegen die Kreide, kann ich eine Verwerfung als erwiesen betrachten. Diese muß also ebenso wie die Hauptstörung postcretazeisches Alter haben. Ihr Streichen beträgt etwa 330°, ihr Einfallen ist ebenfalls südwestlich. 1* Gr Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Der Buntsandstein. Unterer Buntsandstein ist, wie oben erwähnt, nicht mit Sicherheit nachweisbar. Dagegen steht mittlerer und oberer an. Der mittlere Buntsandstein. Der mittlere Buntsandstein besteht aus ziemlich grobkörnigem, in der Hauptsache rotgefärbtem Sandstein, der, da ein Bindemittel fehlt, meist. wenig Festigkeit hat. Er findet sich längs des Dorfes Alt-Warthau in ge- ringer Teufe. Aufgeschlossen ist er hier nur in dem kleinen Bruch, der- auf der Karte mit B bezeichnet ist, in Form lockerer roter Sande, und im Dorfe Nieder-Groß-Hartmannsdorf in der sog. roten Gasse (Punkt f). Hier wurde er vor einigen Jahren noch zum Bau des Postgebäudes in Bunzlau gebrochen. Dieser Bruch, sowie die beiden von Nötling ange- führten Fundstellen sind jetzt zugeschüttet und der Beobachtung nicht. mehr zugänglich. Auf dem Südflügel der Mulde liest der rote Sandstein meist dicht: unter der Ackerkrume und nimmt die Fläche zwischen Ober-Groß -Hart- mannsdorf im Norden, der Verwerfung im Westen und dem kleinen Bach im Osten ein. Nach oben sind die Sandsteine heller, gelblich oder weiß. Diese treten auf dem Südflügel nur an der rechtwinkligen Biegung der- Dorfstraße bei Punkt r und dicht hinter dem Barthelschen Gehöft (s) zu- tage, an beiden Orten als weiße, gelbgeflammte, sehr zerreibliche Sand- steine. Größere Gerölle sind nicht gefunden worden. Karneolknollen fand Prof. Skupin, wie er mir gelegentlich einer Besprechung mitteilte, in der- Gegend des Geiersberges auf dem südlichen Flügel. Ich fand sie auf dem. nördlichen in der Gegend des kleinen Bruches b. Oberer Buntsandstein. Gesteine des Röts sind in Gestalt fester und mergeliger Kalke zu: finden. Sie sind etwa 25 m mächtig. Die untersten Lagen bestehen aus. Kalken, die meist sehr verwittert und zu weißgelben sandigen Mergeln. umgewandelt sind. Eine deutliche Schichtung lassen sie nicht mehr er-. kennen. Sie sind im Aufschluß q und n zu finden. Im Aufschluß q fand. ich noch unverwitterte Lagen, die aus sehr festem, oolithischen, dunkel- braunrotem Kalk bestanden und im noch weniger verwitterten Inneren dunkelblau gefärbt waren. Sie enthielten an Fossilien Myophoria costata und Reste von Sauriern. Ihre Zusammensetzung war; Feuchtigkeit 2", %. Br PR In’HCl'ünlöshich . ) PUR lösliche 810, °°1 7,072 „79 az Io Aare Fe&,O, 79, SUNTEATRIE Bun CaCO, ETeN MIR TO MS BUSTAER MECO, EN PATE ER 100,01 %. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 5 Genau orientiert konnte diese Bank nicht werden, da sie in der Störungszone der Verwerfung gelegen, kein deutliches Fallen und Streichen aufwies. Sie liegt etwa 5 m über dem Buntsandstein. Infolge der starken Bedeckung mit Schutt konnte sie nur wenig verfolgt werden und lieferte ‚daher nur wenig Fossilien, Ebenso wurden im Aufschluß n auf der rechten Talseite gleichartige Mergel 1. in 1—5 cm mächtigen Lagen aufgedeckt, denen in etwa 6 m Entfernung vom Sandstein eine feste Bank 2. dicht unter der Ackerkrume auflagerte. Sie bestand aus sehr festem grauem Kalk mit Myophoria costata, ‚der durch Auslaugung löcherig geworden war. Eine Analyse ergab folgende Zusammensetzung: Beuehtiskeit ... 2 .....20,2508, Inekl@launlöslich 2.7... 22484,, losliehe Sı0, 2 00. 2. 2.056795, Besos NEON 2202. 2010,50,9,, Gar. en nn a I 00AUN, MO RR SEN). 100,15 %. Ferner ‚habe ich den alten Bruch XV aufgedeckt, in dem sich etwa % m über dem Buntsandstein folgendes Profil findet (von unten nach oben): 3. 0,50 m dünnbankige Lagen eines festen, graubraunen oolithischen Kalkes, bestehend aus kleinen Bruchstücken von Fossilien, 0,07 = feste Lage derselben Art. 0,08 = 1—2 cm starke Lagen wie oben. 0,20 = ‚feste, gelbbraune, kristalline Bänke, die einzelne Gerölle 0,10 = eines gelblichen, tonigen Kalkes enthalten, zahlreich 8...0,09 - Myophoria costata und Gervilleia socialis. Nach Norden sind die Schichten in einer Mächtigkeit von etwa 20 m durch Diluvium verdeckt, werden aber anscheinend von gleichen Bänken wie die Schichten 6—8 gebildet, wie Lesestücke vom Acker und kleine, durch die Bohrlöcher 60, 61, 14, 63 heraufgebrachte Brocken zeigen. Myophoria costata ist auch hier zahlreich vorhanden. Wie weit sie ver- breitet sind, konnte ich nicht genau feststellen, doch nehme ich etwa 25m Mächtigkeit für das Röt an. Dieses Vorkommen ist, ähnlich wie das in Oberschlesien, durch das Fehlen von roten Mergeln und Gyps ausge- zeichnet, ferner durch den geringen Gehalt an MgC0O,. Auf dem Nordflügel, wo Nötling Röt fand, habe ich diese Schichten nicht beobachtet, da sie unter bestelltem Acker oder Wald lagen. Lese- stücke von der Art, wie Schicht 3, sind hier zahlreich zu finden. Der von Nötling erwähnte Bruch von Gierschner ist zugeschüttet. Ob Röt auf der rechten Talseite oberhalb der roten Gasse ansteht, konnte ich nicht nach- weisen; auch der Bohrer brachte keine Belegstücke herauf. en» 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Organische Einschlüsse. Velopecten Albertii Goldf. in Schicht 9 undeutliche Stücke. Gervilleia socialis Schlot. in Schicht 8 zahlreich in großen Exemplaren. Myophoria costata, Zenk. sehr häufig in allen Schichten von 1—9. Myacites sp. Schicht 3. Gyrolepisschuppen im Aufschluß q. Wirbel und Knochen in Schicht 8. Der Muschelkaik. Vom Muschelkalk ist nur der untere vorhanden. Man kann hier drei Schichtengruppen unterscheiden: 1. ebenflächiger Kalkschiefer, 2. eigentlicher Wellenkalk, 3. Oolithbänke führende Abteilung (Schaumkalk). 1. Die ebenflächigen Kalkschiefer. (Etwa 25 m mächtig.) Über den Schichten mit Myophoria costata folgen völlig konkordant Schichten feinkörniger Mergel und dichter, toniger Kalke mit muscheligem Bruch. Sie sind sehr zersetzt und ich habe keine Fossilien darin gefunden. Sie bilden den Übergang zum Muschelkalk. Wegen des Fehlens der Myo- phoria costata zähle ich sie jedoch schon zu diesem. Im Bruch XVI auf dem südlichen Muldenflügel habe ich folgende Schichten aufgedeckt (von unten nach oben): Schicht 10. 0,50 m dünnplattiger grauer, sandig-mergeliger Kalk. - 11. 0,07 m festere Schicht derselben Art. - 12. 0,02 m toniger, grauer Mergel. = 13. 0,05 m fester, grauer, splittriger Kalk. - 14. 0,03 m toniger, grauer, ziemlich fester Mergel. = 15. 0,05 m fester, grauer, kristallinischer Kalk. = 16. 0,10 m toniger, grauer Mergel. - 17. 0,15 m feinkörnige feste, hellgraue, tonige Bank mit Lingula Zenkeri. - 18. 0,20 m grauer, toniger Mergel. = 19. 0,40 m gelber, durch Auslaugen löcheriger Mergel. = 20. 5,00 m weißgelbe, dünnbänkige, sandige, durch Ver- witterung stark zersetzte Mergel. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 7 Schicht 21. 2,28: Zu 99: Die folgenden 10 m sind durch eine alte Halde verdeckt. Erst die darauf folgenden Schichten konnten wieder auf- geschlossen werden. 0,70 m sehr feste, kristallinische Bank. 0,30 m 6 cm starke, graue feste Schichten und graue 0,40 0,80 > m ENESESERESEEEEgE BB 5 m m m Mergel. feste, graue, tonige, 5 cm starke Bänke mit Myophoria vulgaris. grauer, härterer Mergel. feste graue, kristallinische Bank. grauer, bröckliger Mergel. fester, grauer Mergel. bröckliger, grauer Mergel. fester, grauer, splittriger Kalk. dünnbankige graue Mergel. dünnbankige gelbe Mergel. fester, dunkelgelber, teilweise in Zellenkalk um- gewandelter Kalk. fester, dichter, grauer, toniger Kalk. bröckeliger Mergel. fester, grauer, dichter Kalk. grauer Mergel. wellenkalkartiger, wulstiger Kalk. grauer Mergel. grauer, fester Kalk in 5 cm starken Bänken mit gleichstarken Mergellagen abwechselnd. sehr fester unverwittert blauer, außen dunkel- brauner Kalk. dichter, brauner, fester Kalk. kristallinische, 3—5 cm starke Bänke. innen blaue, außen braune, dichte feste Schicht mit Myophoria vulgaris. gelbe Mergel mit konkretionären Teilen. feste kristallinische Bank mit zahlreichen Dado- erinus-Stielgliedern und Myophoria vulgaris. Für gleichaltrig mit diesen Lagen halte ich die Schichten, die in dem kleinen Bruche m oberhalb des Rötigschen Gehöftes auf der rechten Tal- Hier findet sich folgendes Profil: Dünnplattige, graue Bänke von weniger als 1 cm Stärke. 0,03 m feste graue Bank, auf der Oberfläche mit kleinen undeutlichen Fossilien bedeckt. 0,60 m feste, durch Verwitterung gelblich-weiß gefärbte Bank. 0,08 m graue, feste, kristallinische Bank. seite anstehen, Schicht «. iR = Y- 0: 8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vateri. Cultur. Schicht 22. 0,14 m graue, feinkörnige tonige Bank. - 23. 0,50 m feste, hellgraue, tonige Bank. 0,15 m brauner Mergel. 0,21 m graubrauner, fester Kalk. - 24. 0,25 m graue, kristallinische, feste Kalkbank mit Myo- phoria vulgaris. - 25/32. 0,30 m graubrauner Mergel. - 33. 0,07 m fester, graubrauner, kristalliner Kalk. - 34/40. 0,50 m grauer Mergel. = 41. 0,05 m fester, kristallinischer Kalk. - 42. 0,06 m brauner Mergel. - 43. 0,05 m fester, grauer Mergel. 0,15 m bröckliger, grauer Mergel. - 44. 0,07 m graubrauner fester Kalk. = 45. 0,75 m gelber Mergel. - 46. 0,80 m feste kristallinische Bank mit zahllosen Dado- crinusstielgliedern, Gervilleia socialis, Myophoria vulgaris. Die Schicht 44 zeigt unverwittert eine dunkelblaugraue Farbe, ver- wittert dagegen ist sie braun und zeigt, daß sie völlig aus den Schalen der Myophoria vulgaris besteht. Die Schichten 24, 33, 44 bis 46 halte ich unbedenklich in beiden Profilen für identisch, besonders die drei letzten. Häufig keilen die mergeligen wie die festen Schichten völlig aus oder ersetzen einander, sodaß man die sonstigen Abweichungen der beiden Profile auf diese Weise erklären kann. Auf der Südseite der Mulde sind diese Schichten nicht weiter aufge- schlossen, dagegen befinden sich auf dem Nordflügel bei Punkt d einige verlassene Brüche, in denen ich die Fortsetzung der Schichten fand. Die gegenseitige Lage der drei hier gemachten Aufschlüsse ist aus der Skizze 1!) zu ersehen. Schicht 43. Graugelber Mergel. = 44. 0,15 m sehr fester, dichter, blauer Kalk mit tiefreichen- der, rostbrauner Verwitterungsrinde. =» 45. 0,35 m gelber Mergel mit Konkretionen. = 46. 0,90 m fester, grauer, kristalliner Kalk mit Dadocrinus- stielgliedern, Gervilleia socialis, Myophoria vul- garis u. a, - 47. 1,00 m graue, dünne, mergelige Schichten. m : 43. 0,08 m grauer, fester, kristallinischer Kalk. - 49. 0,34 m dünnbänkiger mergeliger Kalk. - 50. 0,06 m braungelber, fester, dichter Kalk mit muscheligem Bruch. 1) Ist ebenfalls nicht mit abgedruckt. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 9 Schicht 51. 0,04 m mit Schicht 50 fest verbundener, grauer, kristal- linischer Kalk mit splittrigem Bruch und Dado- crinusstielgliedern in Menge. = 52. 0,65 m gelber Mergel. - 53. 0,75 m dunkelgelber, harter, dichter Kalk in Bänken von 10—15 cm Stärke, beim Zerschlagen stark bituminös riechend. - 54. 0,35 m derselbe Kalk in 3—4 cm starken Lagen. - 55. 0,15 m feste, bituminöse, graue Bank. - 56. 0,13 m wie Schicht 54. - 57. 0,72 m bröckeliger, dunkelgelber, bituminöser Kalk. - 58. 0,10 m grauer, bröckliger Kalk. - 59. 0,15 m feucht orangegelbe, zerreibliche Schicht, be- stehend aus kleinen Bruchstücken von Schalen, - aber ohne deutliche Fossilien. = 60. 0,40 m hellgelber, harter Zellenkalk. = 61. 0,17 m grauer Mergel. = 62. 0,40 m gelber, sandiger, ausgelaugter Mergel. Die Schichten 53 bis 62 fand ich auch in dem verlassenen Bruch XVI am Kalkofen von Alt-Warthau. Bis hierher zähle ich die Schichten zu den ebenen Kalkschiefern. Sie bestehen aus ebenflächigen tonigen Kalken und Mergeln von grauer oder gelber Farbe; das hauptsächlich vorkommende Fossil ist Myophoria vulgaris, gegen welches die übrigen sehr zurücktreten, Meist sind die Bänke überhaupt fossilfrei. Eine Probe von Schicht 52 zeigte folgende Zusammensetzung: Iiroekenverluse 2. 20202.001.22.0,700% unlosiich in HEIE 22.0.2 22°. 21607220, löslichen 5705 020 .000238..2.2.0,40008 eos Ro, En une None CabOS a an. 1 2.U8,0420 75, MEEOSTTA IPEDIA N NOEE E132:D19219/ 5 100,01 9. Eine Probe von Schicht 57 ergab: rrockenverlüustit u.,,0% 2 naıls2120n, unlosliche mn. Holy 77225 2.7728:356.4, losliehe3s105, 20 0....2.202.23 0,389, Be,0.,1. ALO,0 2 202002.07221,909,, VENUNN RS EEE EEE OL EINE MECO, we un 200,20 BO ae 100,25 %, 10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur, In etwa 18 m Höhe über dem Röt liegt Schicht 33. Sie ist teilweise von einer großen Zahl kleiner vertikaler Klüfte durchsetzt, welche zuweilen die einzelnen Teile der Schicht um wenige Millimeter gegeneinander ver- werfen und mit Kalkspat ausgefüllt sind. An einigen Stellen hat nun eine Auslaugung unter Stehenbleiben der Kluftausfüllungen stattgefunden, sodaß ein Zellenkalk entstand. - Allerdings nur dort, wo Tagewässer Zutritt. hatten — und nicht tief in das Gebirge hinein. Die darüber folgenden Schichten sind durch verhältnismäßigen Fossilreichtum gegenüber den unter dieser Schicht liegenden ausgezeichnet. 8 m über dieser Zellenkalkschicht folgt eine zweite, besser ausge- bildete (60), welche die Grenzschicht gegen den Wellenkalk bildet und wohl die von Nötling als „kavernöser Kalk“ bezeichnete Schicht bildet, über deren Mächtigkeit er keine Angaben macht. 2. Der eigentliche Wellenkalk. (Etwa 100 m mächtig.) Die folgenden Schichten bestehen aus abwechselnden Lagen eines harten kristallinen Kalkes von je 5—40 cm Mächtigkeit und ebenso mächtigen dazwischen liegenden Schichten, die knollig, grau, mergelig und etwa 2—3 cm stark sind, und den Namen Wellenkalk im eigentlichen Sinne verdienen. Diese Schichten sind meist durch ganz dünne, leitige, an Glimmerschüppchen reiche Zwischenlagen getrennt. Fossilien fand ich im Gegensatz zu Nötling ausschließlich in den festen Bänken. Daß nach oben hin die spätigen Kalke die wulstigen verdrängen, habe ich nicht. gefunden. Obgleich die obersten Schichten des Wellenkalks dunkelblau gefärbt sind, wie in Bruch X, kann ich doch der Nötlingschen Einteilung in untere und obere Groß-Hartmannsdorfer Schichten, die nur auf der Farbe beruht, nicht beipflichten. Tiefblaue Lagen kommen schon in tieferen Schichten (70): vor und hellgraue in oberen (97). Der von ihm angeführte Bruch von Kloster (jetzt Dämisch Ill), welcher die Ammoniten liefert, liegt in der oberen Hälfte des Wellenkalkes, der Bruch an der Kirche sogar schon in der Schaumkalkzone. Spiriferina fragilis kommt dagegen nur in einer Bank des unteren Wellenkalkes vor. Die untersten Schichten des Wellenkalkes finden sich schon im Auf- schluß d. Nämlich: Schicht 63. 0,25 m fester, grauer, toniger Mergel. = 64. 0,12 m grauer, kristallinischer Kalk. - 65. 0,25 m graugrüne, bituminöse, 2—3 cm starke Mergel- lagen. = 66. 0,10 m grauer, kristallinischer Kalk. = 67. 0,42 m graugrüner, bituminöser Mergel. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 11 Schicht 68. 0,35 m kristallinischer, grauer, sehr harter Kalk, aus- schließlich aus Steinkernen undeutlicher Fossilien bestehend. Zu bestimmen ist nur Cypricardia Escheri. Die hangenden Schichten sind leider durch Wald verdeckt, erst am Rande dieses bei Punkt ce gelang es mir, durch Nachgraben eine feste Bank zu finden, Ich konnte sie jedoch des bedeckenden Schuttes wegen nur in geringer Ausdehnung verfolgen. Der hier anstehende Kalk, der etwa 20—30 m über der Schicht 68 liegt, ist fest, kristallinisch und besteht aus zahllosen Schalen von Myophoria vulgaris, Velopecten Albertii usw. Auch Enantiostreon und Modiola hirundiniformis sind häufig. Ungefähr 20 m darüber liegen die Schichten, die ich in dem sehr alten verschütteten Bruch e fand. Sie sind bis tief hinein völlig verwittert, zeigen keine Fossilreste mehr, lassen jedoch noch abwechselnde feste und mergelige Schichten er- kennen. Da die Brüche südlich des Dorfes Alt-Warthau ebenso lange verlassen und durch Schutt fast ausgefüllt sind, konnte ich sie nicht auf- graben. Auf der rechten Talseite, bei der roten Gasse, liegen etwa 20 m über der obersten Sandsteinschicht, ein gleichmäßiges Einfallen von etwa 11° vorausgesetzt, schon typische Wellenkalke (69) hinter dem Lehngut Kirsch. Leider konnte ich diese nicht aufdecken, da die Kleinbahn dureh den alten Bruch führt. Mit demselben Einfallen gerechnet, das im Geislerschen Bruch (I) gemessen wurde, liegt etwa 37 m über obigen Bänken das in diesem Bruch beobachlete Profil: Schicht 70. Dunkelblaue Wellenkalke. = 71. 0,08 m kristallinische Gastropodenbank mit Worthenia Hausmanni Goldfuß, Omphaloptycha gregaria Schl. - 72. 3,00 m Wellenkalke. - 73. 0,04 m bis 0,1 m feste Bank mit Gervilleia socialıs. = 74. 1,54 m Wellenkalke. - 75. 0,12 m bis 0,15 m Gastropodenbank wie oben. = 716. 2,78 m feste, ebenflächigere Wellenkalke. Während die Schichten 71 bis 76 sich bei der Verwitterung grau färben, zeigen die folgenden gelbe und weißgelbe Farbe. Schicht 77. 1,37 m dünnbänkige, ebenflächige Kalke. - 78. 0,04 m Gastropodenbank. -e 79. 0,51 m Wellenkalke. - 80. 0,06 m Gervilleienbank. - 81. 0,26 m Wellenkalke. - 82. 0,20 m bis 0,40 m Trochitenbank. - 83. 3,00 m stark verwitterte Wellenkalke. - 84. 0,13 m feste Kalkbank, unten zahlreich Entalis laeve Schl., oben mehr Gastropoden führend. 12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Die gleichen Schichten fand ich im Bruch IV: Schicht 72. 0,85 m Wellenkalk. - 73. 0,15 m Gastropodenbank. - 74. 0,22 m Wellenkalk. - 75. 0,07 m Gastropodenbank. - 76. 2,25 m fester Wellenkalk. - 76a. 0,04 m feste Gervilleienbank. - 77. 1,00 m dünnbankige, ebenflächige Schichten. = 73. 0,05 m Gastropodenbank. - 79. 0,77 m Wellenkalk. - 80. 0,05 m feste kristallinische Bank ohne dentliche Fossilien. - 81. 0,30 m Wellenkalk. - 82. 0,21 m Trochitenbank. - 83. 2,00 m Wellenkalk. Unter diesen Schichten tritt besonders 32 hervor. Sie besteht größten- teils aus Stielgliedern von Encrinus liliiformis, enthält außerdem eine Menge bis zu 20 cm große, knollige, dunkelblaue Kalkgerölle, die von zahlreichen kleinen Röhrchen mit gelber Verwitterungsrinde durchzogen sind und sich scharf von der sonst weißgefärbten Bank abheben. Ferner ist das zahl- reiche Vorkommen von Spiriferina fragilis Schl. charakteristisch, welches auf diese eine Bank beschränkt ist. Ich halte diese Bank für gleichwertig mit der in Thüringen beobachteten Spiriferinabank, die dort 7 m unter der unteren Terebratulabank liegt. Sie zeigt genau dasselbe Aussehen, und auch der Fossilinhalt stimmt in beiden überein. Ich fand außer den oben erwähnten Fossilien unter anderem auch Philippiella ef. Noetlingi. Frech und Thamnastraea silesiaca Beyr. —, das erste Stück, das in diesem Gebiet gefunden worden ist. Im Hangenden dieser Schichten sind wieder etwa 10 m nicht auf- geschlossen (Schicht 84). Im Bruch II treten zwar Kalkbänke hervor, sie sind jedoch derartig gefaltet, daß man ihre Lage nicht bestimmen kann. Fossilien fanden sich hier nicht außer einigen Gastropodensteinkernen. Innerhalb dieser Bänke könnten wohl die Terebratulabänke liegen, leider besteht wenig Aussicht, daß in absehbarer Zeit hier weitere Brüche auf- geschlossen werden. Es folgen dann in, wie oben erwähnt, in 10 m Abstand Schichten, die im Bruch von Dämisch III folgendes Profil zeigen: Schicht 85. 0,05 m feste Bank mit Gervilleia socialis und Myophoria vulgaris, = 86. 0,50 m Wellenkalk. = 87. 0,20 m Gastropodenbank. . - 88. 1,85 m Wellenkalk mit eingelagerten festen Bänken. = 89. 0,05 m Linse mit Gastropoden. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 13 Schicht 90. 1,65 m Wellenkalk mit festen Bänken. =» 91. 0,06 m Bank mit vereinzelten kleinen grauen Geröllen. = 92. 0,30 m Wellenkalk. = 93. 0,30 m Gastropodenbank, bisweilen Cephalopoden führend. = 94. 2,00 m Wellenkalk mit festen Bänken. - 95. 0,20 m bis 0,50 m Wellenkalk mit großen brotförmigen Konkretionen. - 96. 2,00 m Wellenkalk mit festen Bänken. Diese Bänke besitzen mit Ausnahme einiger weniger (wie z. B. 93) keine große streichende Ausdehnung, sondern keilen oft aus oder gehen aus dem festen Zustand in knolligen Wellenkalk über. In der Ostwand des alten Bruches, der südlich von Bruch IlI auf der anderen Seite des Haspelberges liegt, zeigt sich die Bank 93 in besonderer Art ausgebildet. Man kann in ihr drei Lagen unterscheiden; das oberste Drittel ist fossilarm, das mittlere führt teilweise kleine Fossilien, in der Hauptsache Entalis laeve, Myophoria sp., Nucula Goldfussi v. Alb., das unterste zahlreiche Gastropoden, Unicardium Schmidii Gein., Beneckeia Buchi v. Alb., Balatonites Ottonis. Buch. An einer Stelle fand ich unmittelbar unter dieser Bank eine Linse von etwa !/; m Durchmesser, die völlig aus zusammengebackenen Exem- plaren von Lima lineata, Balatonites beneckeia und Unicardium bestand. Die in Bruch V anstehenden Bänke liegen wohl 30—40 m über Schicht 96. Hier fand ich eine Platte mit mehreren kleinen Uphiuroideen, die wohl zu Aspidura Ludeni Hag. gehören und ein Stielglied von Entrochus cf. dubius Goldf. Die darüber lagernden hellgrauen massigen Bänke sind augenschein- lich die von Nötling beschriebenen obersten Lagen der unteren Groß-Hart- mannsdorfer Schichten. Ich glaube jedoch, sie schon zur schaumkalk- führenden Abteilung rechnen zu müssen. Eine nähere Untersuchung war nicht möglich, da der sehr steil abfallende Bruch voll Wasser steht. Südlich dieses Bruches (V) läuft die große Verwerfung hindurch. Auf dem Südflügel der Mulde findet sich Wellenkalk westlich des kleinen Bobers in den alten Brüchen XII, XIII und XIV. Ein mittleres Einfallen von 30° angenommen, entsprechen diese Schichten ungefähr den mit 84 bezeichneten. Fossilien oder charakteristische Bänke konnte ich hier nicht finden. Auf der rechten östlichen Talseite treten im Hangenden des Auf- schlusses erst bei k wieder Muschelkalkschichten unter der Diluviumdecke hervor. Dies ist wohl der Punkt, den Nötling mit „An der Bockwind- mühle‘“ bezeichnet hat, die bei Punkt 1 gestanden hat. Weiter nördlich folgt dann der große Bruch X mit tiefblauen Wellenkalken und einge- lagerten festen Bänken. 14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Eine Analyse der festen Bänke des eigentlichen Wellenkalkes ergab folgende Zusammensetzung: Trockenverlust . unlöslich lösliche Kieselsäure Fe,0, + ALO,. CaCO, . MsCO, . 0:07.07, 1,98%: 0,24 %,, 0,60 9, 96,00 9, 7 Aa, 100,09 9/,. in HCl Eine Analyse der Wellenkalke ergab: 5) oO. sind sie meist noch wellig. Trockenverlust 0,28 5; unlöslich in HCl 11,49 %,, lösliche SiO,. 0,42 9; Fe&,0, 4 Al,O,. 0,20 %,; CaCo, . 86,50 % MsCO, = 1,29 re 100,18 %,. Die schaumkalkführende Abteilung. (Ungefähr 43 m mächtig.) Über den dunkelblauen Wellenkalken liegen im Bruch X mit scharfer Grenze weiße massige Bänke, welche deutliche oolitische Struktur zeigen und oft zu porösem Schaumkalk umgewandelt sind. An ihrer Oberfläche Sie enthalten zahlreich Stylolithen. Die unterste, aus !, bis über 1 m mächtigen Bänken bestehende Schicht 98 ist etwa 8 m mächtig. ändert, liefert sie nur wenig Fossilien. folgende Lagen: Schicht 99. W 100. 2,00 m Wenig durch Atmosphärilien ver- Darüber folgen im Bruch IX 5—10 cm starke, ebenflächige, graue Platten- kalke mit Gervilleia socialis und Pecten discites. oolithischeBank mit Gervilleia socialis, zahlreichen Stylolithen und einem Exemplar einer kleinen stark gerippten Pectenart. mächtige, graue, oolithische Bank, dünne Plattenkalke. mächtige, oolıthische, graue Bank, zuweilen in der Nähe von Klüften stark zersetzt und dort zahlreiche Fossilien liefernd, Plattenkalke, Oolithbänke, etwa 1 m mächtig. vollständig aus verkitteten Schalen von Coeno- thyris vulgaris bestehende Schichten. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 15 Diese letztgenannte Schicht halte ich für ein Aufbereitungsprodukt einer verwitterten, bedeutend mächtigeren Schicht. Terebrateln kommen zerstreut im ganzen Schaumkalk vor und sind infolge ihrer aus Kalkspat bestehenden Schalen weniger leicht der Verwitterung unterworfen, als der sie einhüllende, poröse Schaumkalk. Diese Schicht ist dünn und liegt, soweit man aus der nur geringen streichenden Erstreckung ersehen kann, etwas diskordant über den übrigen Bänken. Ferner folgt sie, dicht unter der Ackerkrume gelegen, der infolge Auswaschung nicht ganz ebenen Oberfläche des Kalkes. Die Schicht strich auf der einen Seite an der Oberfläche aus, auf der anderen Seite wurde sie nach wenigen Metern durch eine alte Schutthalde verdeckt, so daß sie nur wenig zu untersuchen war, und ich mich bei dem geringen Einfallen der Schichten gerade an dieser Stelle für die Richtigkeit meiner Ansicht nicht verbürgen kann. Eine Analyse von Schicht 101 ergab folgende Zusammensetzung: Msockenverluse 2 02.9 ,2720.010, unloshiehsin Ho 2207227777095, löslichensiO5 2. re .2.431..20,309)55 Besosr EN OE 00,00 BIC el rlellag 920, MOON un. 1,00 I 100,02 %. Wie mächtig diese untere Schaumkalkzone ist, konnte ich nicht genau ermitteln, da nach Norden hin die Schichten einen Sattel bilden, der der Abrasion zum Opfer gefallen ist. Ihre Mächtigkeit beträgt etwa 25 m. Schaumkalkbänke dieser Art treten auch westlich des Tales am Gras- berge auf in Bruch XI und bei den Punkten o und p. Besonders zahl- reich ist hier Pecten discites. Die nächst höheren Schichten folgen dann im Bruch VII. Zu unterst liegen hier mächtige oolithische Bänke (107), die an ihrer mächtigsten Stelle 7 m betragen, sehr gleichmäßig ausgebildet sind und als identisch mit den obersten Schichten in Bruch IX gelten können. Coenothyris vulgaris kommt hier ebenfalls vereinzelt vor. Dieser Schicht folgen dann: | Schicht 108. 3,00 m Wellenkalke mit festen Bänken., = 109. 0,380 m oolithische Bank ohne Fossilien. - 110. 2,00 m Wellenkalke mit festen Bänken. - 111. ff. 2,00 m oolithische Bank mit Trochiten. Nach Norden lagern die Bänke fast söhlig und sind im Bruch VII wieder zu beobachten. Hier zeigt sich folgendes Profil: Schicht 107. 2,60 m mächtige oolithische Bänke. - 108—110. z. T. etwa 5,80 m, die in der Bruchsohle ver- schüttet sind. Unterer Muschelkalk 16 Jahresbericht Schicht 110 . 0,24 0,80 an "rl 00,80 - 112. 0,10 - 113. 0,20 2939743739008 > spe 2’ 146,% 0,80 > #7 0,20 >18. 35 2344 191950107 .18903° 0,90 299127 008 =..,.122...,2;50 : 1230,15 2, 194,390 der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. m Gervilleienbank. m Wellenkalke. m Oolithbank ohne Fossilien. m Wellenkalk. m fossilarme, oolithische Bank. m dünne oolithische Lagen. m oolithische Bank mit Trochiten. m fossilarme, oolithische Bank. m Oolithbank mit Coenothyris vulgaris. m fossilarme Oolithbank. m Wellenkalk. m\ feste, kristallinische Bänke mit Entalis laeve, er Lima lineata, Myophoria elegans usw. m Wellenkalk. m Lage brotförmiger Konkretionen. m Wellenkalk mit festen Bänken. Die Schichten mit Myophoria orbicularis habe ich nicht gefunden. In Bruch VII beginnt auch schon die Zone der Verwerfung, so daß sich die Schichten nicht weiter verfolgen lassen. Aus der Zusammenstellung aller dieser hier beobachteten Schichten ergibt sich die folgende Gliederung des niederschlesischen Muschelkalkes, deren Ähnlichkeit mit derjenigen von Thüringen aus folgender Tabelle ersichtlich ist. Diese Tabelle ist von Frech in „Schlesische Landeskunde, Naturwissenschaftliche Abteilung‘ 1913, S. 147, auf Grund meiner Mit- teilung bereits veröffentlicht: Ebenplattige Kalke, oberer Schaumkalk 2,57 m Oberstufe Niederschlesien Thüringen Oolithbank 0,80 m Untere Zwischenmittel 3 m Oberer Schaumkalk Obere Zwischenmittel 2,00 m Obere Zwischenmittel Mittlerer Schaumkalk Untere Zwischenmiltel Unterer Schaumkalk etwa 25 m Unterer Schaumkalk V1. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 17 Niederschlesien | Thüringen Oberer Wellenkalk mit Terebratelbank Oberer Wellenkalk mit Ceratiten Spiriferinabank Oolithbänke Unterer Wellenkalk 55—65 zueler Welle : Unterer Wellenkalk 50—60 m Spiriferinabank 20—40 cm Zellenkalk 0,40 m Ebenflächiger Kalkschiefer mit | Myophoria vulgaris 21 m Unterer Muschelkalk Unterstufe Übergangsschicht Oberes Röt Mittleres und unteres Röt Gelbe Kalke und Mergel, teilweise oolithisch, Myophoria costata 25m Weiße und rote Sandsteine a leslkastien Weiße und rote Sandsteine Fossilien des Muschelkalkes. (Nur die persönlich von mir gefundenen; vergl. die Zusammenstellung bei Nötling.) Spongiae. Rhizocorallium jenense Zenk. im ganzen Gebiet verbreitet. Coelenterata, Thamnastraea silesiaca Beyr. _ ein Stück in Schicht 82. Pelmatozoa. Dadoerinus cf. gracilis Buch. Stielglieder zahlreich in Schicht 46, 51, 86, 115, selten in Schicht 103. Enerinus cf. liliiformis Lam, Stielglieder zahlreich in Schicht 82, 115. Enerinus cf. Carnalli Stielglieder in Schicht 82. Entrochus dubius Golf. 1 Stielglied in Schicht 97. Ophiuroidea. Aspidura Ludeni Hag. in Schicht 97. 1915. 18 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Vermes. Spirorbis sp. auf einer Schale von Astarte, Schicht 105. Brachiopoda. Spiriferina fragilis Schl. nur in Schicht 82, hier zahlreich. Coenothyris vulgaris Schl. in Schicht 103, 105, 106, 115, 117. Lingula Zenkeri v. Alb. in Schicht 17. Lamellibranchiata. Enantiostreon complicatum Goldf. im Aufschluß e und in Schicht 103. Enantiostreon difforme var. decemcostata Goldf. im Aufschluß e und in Schicht 107, Ostrea sp. ein Bruchstück eines großen Exemplars in Schicht 78. Philippiella cf. Noetlingi Frech. in Schicht 82 und 105. Gervilleia socialis Schl. sehr zahlreich in Schicht 17, 46, 89, 93, 99, 101, 103, 110. _ Gervilleia mytiloides Schl. in Schicht 46, 90, 93, 97; im Aufschluß s, Schicht « und ß. Lima striata v. Alb. in Schicht 44, 82, 98, 103 und im Aufschluß c. Lima lineata Goldf. in Schicht 46, 93, 105, häufig im eigentlichen Wellenkalk. Pecten discites Bron. große und kleine Exemplare in Schicht 44, 46, 93, 101, 103, 105. Exemplare mit kleinen Ohren, wie var. microtis, fand ich nicht darunter, Pecten laevigatus Schl. in Schicht 103, 110. Pectien sp. sehr stark gerippte Art, nur in einem Exemplar auf Schicht 100, Velopecten Albertii Goldf. zahlreich nur im Aufschluß ce, hier in zwei Arten: 1. kleine hochgewölbte Form, 2. etwas größere Form mit flacherem Wirbel, in Schicht 89, 105. Enantiostreon ostracinum. Schl. in Schicht 99 und 107. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 19 Modiola hirundiniformis in Aufschluß s, Schicht &; Auschluß c, Schicht 65. Nucula Goldfussi v. Alb. in Schicht 89 und 93. Arca triasina Giebl. mit deutlich erhaltenen Schloßzähnen in Schicht 103. Myophoria vulgaris Bron. sehr häufig Schicht 24, 44, 46, 67, 97, 103 und im Aufschluß c. Myophoria elegans Dunk. in Schieht 82, 103, 105, 107, 120, 121, Myophoria curvirostris Schl. in Schicht 89, 103. Myophoria laevigata Schl. in Schicht 93, 103, 105. Myophoria cf. orbicularis Bron. in Schicht 93, 103. Astarte triasina Roem. in Schicht 98, 103. Astarte Antoni Gieb. in Schicht 103. Unicardium Schmidii Gein. in Schicht 89, 93. Cypricardia Escheri Gieb. in Schicht 68 und Aufschluß k. Scaphopoda. Entalis laeve Schl. in®Schicht 89, 97, 103, 1095. Gastropoda. Worthenia elatior Pic. in Schicht 103. Worthenia Leysseri in Schicht 89, Worthenia Hausmanni Goldf. in Schicht 93, 105. Euomphalus arietinus Schl. in Schicht 105. Naticella Bergeri Pic. in Schicht 103. Hologyra cognata Giebl. in Schicht 103, 105. 20 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Hologyra sp., Spindel mehr erhaben wie bei Hologyra cognata, in Schicht 103, 105. Loxonema sp. in Schicht 103. Coelostylina conica Münst. in Schicht 103. Omphaloptycha gregaria Schl. ın Schicht 89, 93. Rhabdoconcha Fritschi Pic. in Schicht 93. Protorcula sp. in Schicht 103. Undularia scalata Schrö. in Schicht 115. Cephalopoda. Gruppe des Nautilus bidorsatus Schl. Gewindegänge in Schicht 93, 105, 115. Beneckeia Buchi v. Alb. in Schicht 93. Ein Stück von 8 em Durchmesser, nur die Wohn- kammer ist gut erhalten, die Kammerwände sind fast völlig zerstört. Kleinere Exemplare sind dort häufiger, eins von ihnen zeigt ausge- zeichnete Lobenlinien. Hungarites Strombecki Griepenk. in Schicht 93. Bei dem einzigen von mir gefundenen Bruchstücke erreicht, wie bei dem von Griepenkerl beschriebenen Stück, die Wölbung ihre größte Stärke etwa in der Mitte des Umgangs. Die Abnahme nach dem Rücken hin ist auch hier ganz allmählich und gleichmäßig. Dorsalkanten sind nicht vorhanden, was wohl an der starken Abreibung der Schale liegt. Der Nabeldurchmesser ist eben- falls entsprechend. Die Lobenlinie ist zwar stark zerfressen, so daß die Zähnelung der Loben meist verschwunden ist; nur an zwei Stellen glaube ich Zähnchen unterscheiden zu können. In ihrer sonstigen Gestaltung stimmt sie mit der von Griepenkerl gezeichneten aufs Ge- naueste überein. Der Dorsallobus ist nur an einer Stelle erhalten, er ist durch einen Sattel geteilt, abweichend von dem Nötlingschen Stück. Windungszunahme: Höhe des größten Umgangs 32 mm. Höhe des nächstälteren Umgangs 14 mm. Windungszunahme 2,285 (2,277 bei Griep.) Scheibenzunahme ist nicht zu messen. Nabelweite etwa 15 mm. VI. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 21 Maße der Lobenlinie: Beaallele > 2 una. 0... Höhe 3,5, » Breite 9" mm. Beerallobusı. 7.0 m. a la er > Latssallailelin ea ae 2.040, - 4,5 mm. Brerallohuse: m. a N, ZERO 222mm 2 Langer lea Pe lila ker 25,2 mme SENSE PDITR Ns a a Ze 10); - 4,0 mm. Balatonites Ottonis Buch. in Schicht 93. Bei den beiden größten Stücken fehlen in der Nähe der Mündung die Zwischenrippen. Balatonites ef. Ottonis Buch. sp. 1. in Schicht 93. Teil der Wohnkammer. Zwischen je 2 mit zwei starken Knoten versehenen Rippen liegen je zwei Zwischenrippen. Die auf allen Rippen vorhandenen Dorsalknoten bilden einen Kiel. Balatonites cf. Ottonis Buch. sp. U. in Schicht 93. Der einzige vorhandene Abdruck dieser Spezies zeigt immer erst jede fünfte Rippe mit zwei starken Stacheln versehen. Balatonites Jovis v. Arth. mehrere Exemplare in Schicht 93. Schlussfolgerungen. Wie schon aus der Nötlingschen Arbeit hervorgeht, bildet das nieder- schlesische Vorkommen ein Mittelglied zwischen dem Öberschlesiens, dem Thüringens und dem von Rüdersdorf. Ausgezeichnet ist es besonders durch das sehr zahlreiche Vorkommen von Ceratiten im Wellenkalk, während der Schaumkalk frei davon ist. Im Gegensatz zu Oberschlesien treten Brachiopoden verhältnismäßig selten auf. Von dem Vorkommen Thüringens unterscheidet sich das niederschlesische durch größere Mächtig- keit, besonders der Schaumkalkschichten. In petrographischer Hin- sicht stimmt es am meisten mit Thüringen überein. (Vgl. die tabellarische Übersicht.) Was die Arbeit Nötlings betrifft, so bin ich also in folgenden Punkten zu anderen Ergebnissen gekommen. Das Röth zeichnet sich in diesem Gebiete durch den geringen Gehalt von MgCO, aus, ist immer deutlich oolithisch und führt zahlreiche ‚Ver- steinerungen, wenn auch nur wenigen Arten angehörig und schlecht er- halten. Die teils mergeligen, teils festen Schichten mit Lingula Zenkeri gehören ihrer petrographischen Beschaffenheit nach schon zum Muschel- 22 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. kalk und bilden mit den darüber liegenden Schichten die etwa 21m mächtigen ebenflächigen Kalkschiefer. In dieser Gruppe sowie an ihrer oberen Grenze liegen zwei Zellenkalkschichten, die obere, sehr gut ausgebildete, ist 40 em mächtig. Eine Teilung des Wellenkalkes in Untere und Obere Groß-Hart- mannsdorfer Schichten halte ich nicht für berechtigt. Das Vorkommen von Ceratiten in augenscheinlich nur einer Bank fällt in die obere Hälfte des eigentlichen Wellenkalkes, nicht in die untere, Spiriferina fragilis dagegen findet sich nur in einer Bank unter der Ceratitenschicht. Diese Bank teilt den Wellenkalk in zwei etwa gleiche Hälften und ist augen- scheinlich niveaubeständig. Der Schaumkalk besteht aus mehreren deutlich von einander getrennten Schichtengruppen. Die Wehrauer Schichten habe ich an der angegebenen Stelle nicht gefunden, möglicherweise entsprechen sie aber der Schicht 106 und dem oberen Schaumkalk. (Schicht 111 u. fi.). Bei Alt-Warthau habe ich ebenfalls keinen Schaumkalk gefunden. Die Gesamtmächtigkeit der technisch verwertbaren Schichten des Muschelkalkes beträgt etwa 165 m. Literaturverzeichnis. 1851. Dunker, Über die im Muschelkalk Oberschlesiens bisher sefundenen Mollusken. — Palaeontographica. I, 1858. Beyrich, Über Ammoniten des unteren Muschelkalkes. Zeitschr. d. deutsch. geol. Ges. Bd. X, 1860. Griepenkerl, Eine neue Ceratitenform aus dem untersten Wellenkalk. Zeitschr. d. deutsch. geol. Ges. Bd. XI, 1872. Eck, Rüdersdorf und Umgegend. Abhandl. der geol. Spezialkarte von Preußen und Thüringen. Bd. 1. H. 1. 1879. Proescholdt, Beitrag zur näheren Kenntnis des Muschelkalkes in Franken und Thüringen. 1879. Eck, Über einige Triasversteinerungen. Zeitschr. d. deutsch. geol. Ges. Bd. XXXL 1879. Eck, Bemerkungen zu Pohligs Aspiduren. Zeitschr. d. deutsch. geol. Ges. Bd. XXXI 1880. Eck, Beitrag zur Kenninis des süddeutschen Muschelkalkes. Zeitschr. d. deutsch. geol. Ges. Bd. XXXI. 1880. Noetling, Entwicklung der Trias in Niederschlesien. Zeitschr. d. deutsch. geol. Ges. Bd. XXXIH. 1881. Frantzen, Terebratula Ecki ete. Jahrb. d. Kgl. preuß. geol. Landesanstalt. Ss. 157. 1881. E.E.Schmid, Der Röt im östlichen Thüringen. Jahrb. d. Kgl. preuß. geol. Landesanstalt. S. 92 ff. 1887, Wagner, Die Formationen des Buntsandsteins und des Muschelkalks bei Jena. 1888. Wagner, Cephalopoden aus dem Röi und unteren Muschelkalk bei Jena. Zeitschr. d. deutsch geol. Ges. Bd. XXXX. 18839. Picard, Über einige seltene Petrefakten aus dem Muschelkalk. Zeitschr. d. deutsch. geol. Ges. Bd. XXXXI VI. 1889. 1891. 1894. 1897. 1899. 1903. 1903. 1904. 1905. 1910. Abteilung. Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. 93 Frantzen und Koenen, Über die Gliederung des Wellenkalkes im mitt- leren und nordwestlichen Deutschland. Jahrb. d. Kgl. preuß. geol. Landesanstalt. Passarge, Der Röt im östlichen Thüringen. Inaug.-Diss. Jena. Gürich, Erläuterungen zur geol. Karte von Sclılesien. Wagner, Beitrag zur genaueren Kenntnis des Muschelkalks bei Jena. Abhandl. d. Kgl. preuß. geol. Landesanstalt. N. F. Heft 97. Bittner, Versteinerungen aus den Triasablagerungen des Süd-Ussuri- gebietes. Frech, Lethaea geognostica. Il. Teil Heft 1. Frech, Neue Cephalopoden aus den Buchensteiner Schichten des südlichen Bakony. Plattensee-Werk, Budapest. Wysogorsky, Die Trias in Oberschlesien. Zeitschr. d. deutsch. geol. Ges. Prot. S. 260 ff. Frech, Nachträge zu den Cephalopoden und Zweischalern der Bakohyer Trias. ‘Frech, Leitfossilien der Werfener Schichten. Plattensee-Werk, Budapest. Scupin, Über sudetische, prätertiäre junge Krustenbewegungen usw. in der Umgebung der Sudeten und des Erzgebirges. Ferner das Werk über die Löwenberger Kreide von Professor Skupin in Palaeontolog. Suppl.-Bd. VI. 1912/13. Li { K \ . ur ; ER BIH U’ IE Matin RR A an 2 SURRTERINERN Ali Ka ee er N ee BR zansıfaR ur ha Ark N: ML sehlesische Gesellschaft für vaterländische Gultur, SR SF en 98. | VI. Abteilung. Jahresbericht. | d. Chemische Sektion 1915. | (Chemische Gesellschaft zu Breslau). ORT are nr 2,8 Sitzungen der Chemischen Sektion (Chemische Gesellschaft zu Breslau) im Jahre 1915. # Sitzung am 15. Januar. Über die elektrische Leitfähigkeit der Legierungen im flüssigen Zustande. Von K. Bornemann. Sitzung am 7. Mai. Neue Untersuchungen in der Alkaloidehemie. Von J. Gadamer. Uber die Eiweissproduktion durch Hefe und über die Vegetation von Mikroorganismen (mit Demonstrationen). Von F. Ehrlich. Sitzung am 11. Juni. Versuch einer einheitlichen theoretischen Betrachtungsweise in der anorganischen Chemie. Von F. Arndt. Sitzung am 9. Juli. Die Bereicherung der anorganischen Chemie durch die Radiochemie. Von A. Stock. Sitzung am 3. Dezember. Die Chemie des Getreidekorns in Beziehung zu Physiologie und Pathologie. Von F. Röhmann., 1915. N P BR Se re \ a ER « ee u ee, SchinB $: EN a EB Pu ‘ rt Schlesische Gesellschaft ‚für Yaterländische Gultur. 93. Jahresbericht. Nekrologe. 1915. SEE ee bo Nachrichten über die im Jahre ı915 verstorbenen Mitglieder der Schlesischen Gesellschaft für vaterl. Cuitur. Alphabetisch geordnet. Geheimer Regierungsrat Gymnasialdirektor a. D. Dr. Oskar Altenburg. Oskar Altenburg wurde am 6. August 1843 in Schleusingen als Sohn des Konrektors am dortigen Gymnasium geboren. Mit froher Dankbarkeit gedachte er stets seiner schönen Jugendzeit im elterlichen Hause und der freundlichen Gebirgslandschaft seiner Thüringer Heimat, wo er als Schüler seine griechischen und lateinischen Diehter mit Vorliebe im Waldesschatten studierte. Von hier stammte seine Liebe zur Natur und das Interesse auch für das Einzelne in ihr, das er bis ins hohe Alter als unermüdlicher Spaziergänger betätigte. Mit seiner Heimat blieb er in engen Beziehungen, die noch inniger wurden, als er sich auch die Lebensgefährtin aus Schleusingen holte. Aber mit gleicher Wärme schloß er seine neue Heimat, Schlesien, in sein Herz, als nach den Hallenser Studienjahren den jungen klassischen Philologen das Schicksal hierher verschlug. Es war für immer. Er wirkte als Kan- didat und ordentlicher Lehrer von 1865 bis 1872 am Gymnasium in Schweidnitz, in gleicher Eigenschaft in Ratibor bis 1873, in Ohlau als erster Oberlehrer bis 1884, von da an bis 1888 als Direktor. Von 1888 bis 1899 leitete er das Königliche Gymnasium in Wohlau, von da bis zu seinem Übertritt in den Ruhestand zu Ostern 1913 das Evangelische Gymnasium in Glogau. Am 18. September 1911 wurde ihm der Charakter als Geheimer Regierungsrat verliehen. Er sarb am 16. Oktober 1915 in Glogau. Altenburg war ein seinem Berufe mit seltener, heißer Leiden- schaft ergebener Gelehrter und Schulmann. Für die Aufgaben seines Berufs in weitestem Umfange lebte und wirkte er mit der rastlosen Un- ermüdlichkeit, die den Grundzug seines Wesens bildete. Klein von Gestalt, von zarter Gesundheit, in den letzten Jahrzehnten von schmerz- haftem nervösem Leiden gequält, bewies er eine wunderbare Elastizität, 1915. 1 2 Jahresbsricht der Schles. Gesellschaft für vaierl. Cultur. die ihn nach den schwersten Niederlagen in kürzester Frist wieder auf- richtete. Kein körperliches Leiden konnte der Lebhaftigkeit seines Geistes etwas anhaben. Für sich kannte er keine Schonung. Seine Arbeitsfreudigkeit ließ ihn jede Aufgabe übernehmen, ja fast an sich reißen, die in seinen Gesichtskreis trat. Mit der größten Zähigkeit ver- focht er die Interessen der ihm anvertrauten Schulen. Doch wohl seinen Bemühungen war es zu verdanken, daß der schon gefaßte Beschluß des. Ministeriums, das damals an Schülerzahl stark zurückgegangene Gym- nasium in Wohlau aufzuheben, wieder rückgängig gemacht wurde. Der herrliche Neubau des Evangelischen Gymnasiums in Glogau wäre sicher nicht so schnell zustandegekommen ohne seine unablässigen, trotz vieler Mißerfolge immer wieder aufgenommenen Anregungen. Hier kam ihm die Leichtigkeit zustatten, mit der Denkschriften und Anträge aus seiner unermüdlichen Feder flossen, oft in so überreicher Fülle, daß bei den beteiligten amtlichen Stellen der Anblick der zahlreichen mit seiner winzig-kleinen Schrift bedeckten Aktenseiten nicht immer ungeteilte Freude .erweckt haben wird. Dieselbe copia verborum war ihm im mündlichen Verkehre und auch im Unterrichte eigen, und seine Schüler blieben daher manchmal etwas gar zu sehr nur der empfangende Teil. Aber jedenfalls haben die zahlreichen Primaner-Generationen, die durch die Schule des freundlichen Mannes gegangen sind, von dem kenntnis- reichen und geistvollen Lehrer vielseitige Anregung und durch seine im Gemüt wurzelnde Frömmigkeit und seinen vorbildlichen Idealismus für ihre Charakterbildung die Richtung empfangen. Für die Wichtigkeit auch der körperlichen Ausbildung an den höheren Schulen bewies er volles Verständnis schon zu einer Zeit. wo diese Erkenntnis noch nicht Gemein- zut geworden war. Aus den Anregungen, die seine praktische Lehrtätigkeit ihm gab, erwuchs seine umfangreiche schriftstellerische Produktion. Die Zahl seiner Schriften ist sehr groß, ihre vollständige Aufzählung verbietet hier die Rücksicht auf den Raum. Die Arbeiten pädagogischen Inhalts nehmen an Zahl und Wichtigkeit die erste Stelle ein. Im Mittelpunkt seines pädagogischen Strebens stand der Gedanke der Konzentration. Für die Verbindung der verschiedenen Teile des Gymnasiallehrplans unter einander zu einer organischen Einheit suchte er Mittel und Wege zu weisen und durch den weiteren Nachweis, in wie vielfache Beziehungen sich dieser Lehrplan zu dem modernen Kulturleben bringen läßt, den segen das humanistische Gymnasium erhobenen Vorwurf der Weltfremd- heit zu bekämpfen. Hierher gehören viele seiner Programmabhandlungen und seiner Beiträge zu den „Lehrproben und Lehrgängen“. Der psycho- lögischen Vertiefung der erzieherischen Arbeit dienen zwei selbständige Schriften: „Die Kunst des psychologischen Beobachtens“; 1898, und Nekrologe. 3 „Etwas vom moralischen Schwachsinn der Schüler höherer Schulen“ 1905. Die Quintessenz seines geistigen Wesens aber legte er in dem Buche „Die Arbeit im Dienste der Gemeinschaft“, 1901, nieder. Eine Reihe von Artikeln in Reins enzyklopädischem Handbuche der Päda- gogik entstammen seiner Feder. Im letzten Jahrzehnte gab er kom- mentierte Schulausgaben von Euripides‘ Medea und Hippolyt und von Tazitus‘ Germania und Agrikola sowie ein deutsch-lateinisches Übungs- buch für die oberen Klassen heraus. Mit besonderem Eifer verfolgte er den Fortgang des Nationalitätenkampfes in Schlesien. Durch die Pflege des Stammesbewußtseins und der Heimatliebe hier eine Stärkung des Deutschiums zu erzielen, war sein Gedanke bei der Herausgabe eines Anhangs für Schlesien zu R. Lehmanns Lesebuch für höhere Schulen in 3 Heften. Hier streift seine literarische Produktion an seine Tätigkeit im Öffentlichen Leben. Sein geistiger Horizont wurde nicht durch die ‘Wände der Schule begrenzt. In der Öffentlichkeit wirkte er besonders durch seine hervorragende Rednergabe. Er sprach gern und oft, nicht bloß vor der versammelten Schulgemeinde, sondern auch vor weiteren Kreisen, als Mitglied des Gemeindekirchenrats und der Kreissynode, als ‘Vorsitzender des Bürgervereins und als Festredner bei vaterländischen Feiern. Für alle gemeinnützigen, kirchlichen, patriotischen Bestrebun- gen hatte er ein warmes Herz. Alles in allem, es war ein reiches Leben nutzbringender Arbeit. Muth (Nakel). Martin Boecker. Am 30. August 1915 starb das Mitglied des Vor- standes der Oberschlesischen Eisenbahnbedarfs-Aktien-Gesellschaft Ge- neraldirektor Kommerzienrat Martin Boecker zu Friedens- hütte O/S. Er war am 24. Juli 1854 zu Krefeld geboren, wo er die Realschule ‘besuchte. Auf dem Polytechnikum zu Aachen machte er seine technischen ‚Studien sowie an der Bergakademie zu Berlin. Von 1878—81 war er ‚bei den Lothringer Eisenwerken in Ars an der Mosel erst im Konstruk- tionsbüro, dann als Vorsteher der Gießerei tätig. 1881—84 leitete ‘er die Hochofenanlage der Societe metallurgique de Gorcy. Von 1884 hat er sich erst ein Jahr an der Eisenhütte in Oberhausen, dann an der Hochofenanlage der Zoptau-Stefanauer Gewerkschaft betätigt. Bald darauf wandte er seine Tätigkeit der Oberschlesischen Eisenbahnbedarfs- Aktien-Gesellschaft, sowie den Friedenshütter Hochofenwerken zu, wo ‚er eine höchst segensreiche Tätigkeit entfaltete. In den Jahren 1899—1904 war er der Generaldirektor der Donetz-Iugewka-Werke, die schon. ihre Hochofenanlagen nach seinen Plänen gebaut hatten. 1904 18 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. kehrte er als Vorstandsmitglied der Oberschlesischen Eisenbahnbedarfs- Aktien-Gesellschaft zu Friedenshütte zurück, und hier hat er die An- lagen zur höchsten Leistungsfähigkeit gehoben. Zugleich hat er gemein- nützigen Vereinigungen: dem Verein Deutscher Eisenhüttenleute, der Oberschlesischen Eisenstahlwerksgesellschaft, sowie der Stadt Beuthen, zu deren Stadtverordneten er ein Jahrzehnt gehörte, seine hervorragende Arbeitskraft gewidmet. Er war ein treuer Helfer vieler Notleidenden und starb 1915 tief betrauert von seinen Kollegen, Untergebenen und Mitbürgern. Dr. Fritz Brößling, geb. d. 28. März 1875 in Breslau, gestorben ebenda am 15. August 1915. Brößling, Sohn des um das kommunale und künstlerische Leben unserer Stadt sehr verdienten Stadtrats Brößling (f 1914), besuchte zuerst die höhere Knabenschule von Dr. Mittelhaus, dann das Johannes- Gymnasium in Breslau, an dem er Ostern 1894 die Abiturientenprüfung bestand, studierte darauf in seiner Vaterstadt Rechts- und Staatswissen- schaften, um sich nachher der praktischen Landwirtschaft zu widmen. Zur Universität zurückgekehrt, beschäftigte er sich besonders unter Prof. Dr. Julius Wolf mit Nationalökonomie und promovierte, nachdem er das. Studium der Landwirtschaft, Physik und Philosophie wieder aufgenom- men hatte, im Jahre 1900 zum Dr. phil. In den Jahren 1900—1902 war er in Königsberg Mitarbeiter an einer Arbeiterenquete, wozu er durch seinen unbestechlichen Wahrheitssinn und seinen in alle, auch die klein- sten Einzelheiten eindringenden Fleiß besonders geeignet war. Von 1904 an war er Besitzer des Ritterguts Tschanschwitz, Kr. Strehlen. Er ver- öffentlichte: Die Lage der landwirtschaftlichen Arbeiter in Schlesien am Ende des 19. Jahrhunderts; Sozialismus und Landwirtschaft; Bodenpreis, Bodenrente und Betriebsintensität; mehrere Aufsätze national- ökonomischen Inhalts in verschiedenen Zeitschriften. Brößling war von wohlwollendster Gesinnung gegen seine Beamten und Arbeiter, brachte sein Gut zur hohen Blüte, beherrschte die in die Landwirt- schaft schlagenden Fragen auch infolge seiner theoretischen und all- gemeinen Bildung, wurde aber leider, erst 40 Jahre alt, seinem Wir- kungskreise und der Schlesischen Landwirtschaft zu früh entrissen. m. Deich e. Dr. med. Erich Bruck ist am 5. April 1830 in Waldenburg i. Schl. als Sohn eines Arztes geboren. Er besuchte in seiner Vaterstadt das. Gymnasium und widmete sich dann auf verschiedenen Universitäten dem. Studium der Medizin; er bestand im Jahre 1903 in Breslau das medi- Nekrologe. 5 zinische Staatsexamen und promovierte im gleichen Jahre auf Grund einer experimentellen Arbeit „Experimentelle Untersuchungen über die Wirkung des Urotropins und Neu-Urotropins“. Seine weitere medizinische Ausbildung erhielt er in den Jahren 1904—1910 als Assistent von Prof. von Romberg in Marburg und Tübingen und weiland Prof. Richard Stern in Breslau. Sodann ließ er sich in Breslau als Arzt für innere Krank- heiten und Röntgendiagnostik und -behandlung nieder. Infolge seines gediegenen Wissens, seines liebenswürdigen Wesens und seiner Ver- trauen einflößenden Persönlichkeit gelang es ihm in kurzer Zeit einen ansehnlichen Patientenkreis zu gewinnen. Trotzdem trieb ihn sein Eifer noch zu weiterer Betätigung. Als Fürsorgearzt des Breslauer Vereins zur Fürsorge für unbemittelte Lungenkranke hatte er Gelegenheit, sich mit der Tuberkulosebekämpfung zu beschäftigen. Wie allem, was er an- faßte, widmete er auch diesem Gebiete die vollste Hingabe. Seine Eigen- schaft, peinlich jedes nur schematische Arbeiten zu vermeiden, zeigte sich auch hier in hellem Lichte; er war unermüdlich bestrebt, neue Ge- sichtspunkte zu finden und diese in die Praxis umzusetzen und seine Erfahrungen in Wort und Schrift zu verbreiten. So verdankt ihm die Breslauer Organisation der Tuberkulosebekämpfung manche wertvolle Anregung und Neugestaltung, die dann auch anderen Ortes dankbar auf- genommen und nachgeahmt wurde. Sein großes Interesse an der Tuber- kulose veranlaßte ihn auch eine Assistentenstelle an der Tuberkulose- abteilung des Krankenhauses der Landesversicherungs-Anstalt Schlesien zu übernehmen. Seine Tüchtigkeit fand auch dort vollste Anerkennung und führte dazu, daß ihm später die Leitung des Röntgeninstituts und der übrigen physikalisch-diagnostischen Abteilung übertragen wurde. So hatte Erich Bruck einen reichverzweigten Schaffenskreis, in dem zu wirken ihm eine wahrhaft innere Befriedigung gewährte. Aber ohne Bedauern verließ er die Stätten der ihm liebgewordenen Tätigkeit, als bei Kriegsausbruch der Ruf des Vaterlands an ihn erging. Als Stabsarzt d. R. wurde er mit der Stelle eines Bataillonsarztes bei einem Infanterie-Regiment betraut; als solcher hat er auf dem westlichen Kriegsschauplatz eine große Reihe schwerster Kämpfe an der Front mit- gemacht und nach übereinstimmenden Berichten seiner Kame- raden in geradezu vorbildliicher Weise — vorbildlich als Arzt und als Offizier — gewirkt. Ihn schreckte keine Gefahr und keine Anstrengung, wenn er Gelegenheit hatte, helfend einzu- greifen. Schon nach wenigen Wochen wurde ihm das Eiserne Kreuz verliehen. Nachdem er fast S Monate in heißen Kämpfen gestanden hatte, wollte er sich eine kleine Erholung gönnen, aber nicht in Gestalt eines Urlaubs, sondern dadurch, daß er für einige Wochen die Tätigkeit bei der Truppe mit der ruhigeren Arbeit in einem Feldlazarett 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. vertauschte. Und gerade dort sollte ihn sein Schicksal ereilen! Am 20. April 1915 stürzte er bei einem Spazierritt mit dem Pferde und ver- letzte sich an einem herabhängenden Telegraphendraht; die Wunde er- hielt sofort sachgemäße Behandlung und schien glatt zu heilen. Da trat plötzlich am Morgen des 28. April eine Wendung zum Schlechten ein; an der Wunde zeigten sich Zeichen einer schweren Infektion, alle aufgewendete Mühe war vergeblich, schon nach wenigen Stunden setzte eine unaufhaltsam fortschreitende Herzschwäche dem Leben Erich Brucks ein Ziel. Außer seiner Gattin, die mit ihm den liebevollsten Gefährten und sorglichsten Berater ihrer Kinder verloren hat, betrauern ihn aufrichtig und tief seine zahlreichen Freunde. Ein unseliger Zufall hat hier ein wahrhaft edles und wertvolises Leben zerstört. Steinberg. Am 29. Juli 1915 fiel vor der russischen Feste Iwangorod der Land- richter Hauptmann der Reserve Carl Chaussy. Unter den vielen Lücken, die der Krieg in die Reihen unserer Gesellschaft gerissen hat, ist der Tod dieses hochbegabten vielversprechenden Richters besonders schmerzlich. Geboren am 29. März 1876 in Kupferberg, wissenschaftlich vor- bereitet auf dem Gymnasium in Hirschberg und den Universitäten in Tübingen und Breslau, legte er am 3. November 1898 die erste juristische Prüfung und am 26. Mai 1904 die große Staatsprüfung ab. Als Gerichtsassessor war er bei den Gerichten in Hirschberg, Greiffenberg und Görlitz tätig. Vom 1. Juni 1907 ab war er Amtsrichter in Sohrau (Oberschlesien). Er verstand es, in dem kleinen weltentlegenen Städtchen sich Spannkraft und Frische zu wahren und segensreich in der stark mit polnischem Einschlag durch- setzten Bevölkerung zu wirken. Das ungewöhnliche Lob, das Chaussy überall erntete, wurde An- laß, ihn im Januar 1912 als Hilfsrichter an das Oberlandesgericht zu berufen, wo er mit kurzen Unterbrechungen bis zum 15. Juni 1914 verblieb und seine Eignung zum Richter höherer Instanz glänzend be- währte. Als die von ihm verwaltete Hilfsrichterstelle Mitte Juni 1914 einging, wurde Chaussy zum Landrichter in Glogau ernannt. Wenige Wochen später zog er ins Feld und erwarb sich das Eiserne Kreuz; zu- rückzukehren war ihm nicht vergönnt. Während Chaussys Tätigkeit am Oberlandesgericht wurde er Mitglied unserer Gesellschaft und fehlte selten in einer Sitzung der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Sektion. Chaussy gehörte zu den theoretisch durchgebildeten Juristen, die auch in der Praxis die Wissenschaft nicht aus dem Auge lassen. Der Nekrologe. T untrügliche Prüfstein des guten Richters, die Klarheit der Darstellung, war ihm in seltenem Maße eigen. Er verfügte über ein nicht gewöhn- liches Maß von Kenntnissen und eine nie ermüdende Arbeitsfreudigkeit. Rechnet man hierzu noch die gewinnende gesellige Frische, gepaart mit männlichem Ernst, dann darf ich nochmals den Ausdruck der Trauer wiederholen, Chaussy uns entrissen zu schen. Dr V rer hans Am 18. November 1915 starb nach kurzer Krankheit Professor Dr. Leopold Cohn, Ober-Bibliothekar an der Kgl. und Universitäts- Bibliothek und Privatdozent der klassischen Philologie an der Univer- sität zu Breslau. Am 14. Januar 1856 in Zempelburg in Westpreußen geboren, be- suchte er das Gymnasium zu Culm in Westpreußen und studierte dann an der Universität Breslau klassische Philologie und Geschichte. Ge- zwungen, sich seinen Unterhalt, den ihm die in beschränkten Verhält- nissen lebenden Eltern nicht zu gewähren vermochten, durch Privat- unterricht zu verschaffen, machte er es durch eisernen Fleiß doch mög- lich, sich schon in der Studienzeit ein wissenschaftliches Können anzu- einen, das den künftigen Forscher deutlich verriet und ihm die Auf- merksamkeit seiner Lehrer, insbesondere der von ihm hoch verehrten Philologen Reifferscheid und Hertz zuwandte. Auf Anregung Reiffer- scheidts bearbeitete er die im Jahre 1876 gestellte Preisaufgabe der philosophischen Fakultät „Auctores ab Eustathio in scholiis Homerieis adhibiti indagentur‘“ mit glücklichstem Erfolge und promovierte auf Grund seiner Arbeit im Jahre 1878. Im nächsten Jahre legte er auch das Staatsexamen ab, hatte indessen als sein eigentliches Ziel die aka- demische Lehrtätigkeit vor Augen. Im Jahre 1884 habilitierte er sich an der Universität Breslau, unterbrach jedoch schon im Jahre 1886 seine Lehrtätigkeit, um auf einer mehr als einjährigen Reise nach Paris und Italien handschriftliches Material für seine Studien zu sammeln. Im Auftrage des preußischen Kultusministeriums revidierte er im Sommer 1888 den Staender’schen Handschriften-Katalog in Münster, im Sommer 1889 den Studemund’schen Katalog der griechischen Codices Meer- manniani in Berlin. Inzwischen waren die Hoffnungen, mit denen er in die akademische Laufbahn eingetreten war, schmerzlich enttäuscht wor- den. Trotzdem seine wissenschaftlichen Leistungen ungeteilte Anerken- nung gefunden hatten, waren die Bemühungen seiner Lehrer sowie des an Reifferscheid’s Stelle nach Breslau gekommenen, ihm bald in herz- lichstem Wohlwoillen zugetanen Studemund, ihm eine Professur zu ver- schaffen, erfolglos geblieben. Die Widerstände, die sich seinen akademischen Hoffnungen entgegenstellten, zu brechen, war seiner in 8 Jahresberieht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. sich zurückgezogenen Natur nicht gegeben. So entschloß er sich, den Beruf des Bibliothekars zu ergreifen, und wurde im Oktober 1889 an der Universitäts-Bibliothek zu Breslau angestellt, an der er bis zu seinem Tode gewirkt hat. Imstande, jetzt einen Hausstand zu gründen, ver- heiratete er sich am 15. März 1893 mit Bona Lazarus, der Tochter des verstorbenen Direktors des jüdisch-theologischen Seminars in Breslau, mit der er bis zu seinem Tode in glücklichster Ehe gelebt hat. Dem Beruf, zu dem ihn zunächst äußere Rücksichten hingeführt hatten, widmete er sich nicht nur mit der ihm eigenen Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit; mit voller Berufsfreudigkeit hat er sich den Auf- gaben seiner amtlichen Tätigkeit hingegeben, immer enger mit seiner Arbeit verwachsend, von seinen Kollegen und seinen Vorgesetzten rück- haltlos anerkannt und freundschaftlich wertgeschätzt. Nach wie vor aber gehörte seine innerste Liebe der Wissenschaft. Seine Lehrtätigkeit mußte er freilich auf einen geringen Umfang be- schränken. Mit bewundernswerter Arbeitskraft aber hat er neben seiner Berufsarbeit eine umfassende literarische Produktion entfaltet. Alle seine wissenschaftlichen Leistungen sind durch musterhafte Akribie, sichere methodische Schulung und klares eindringendes Urteil aus- gezeichnet. Ein ausgebreitetes Wissen und eine genaue Kenntnis des Materials wird von der Umsicht und dem Scharfblick des echten For- schers beherrscht. Schon seine Dissertation läßt auch den, der ihrem speziellen Gebiet fernsteht, diese Vorzüge deutlich erkennen und fand durch sie eine bei solchen Erstlingsarbeiten nicht häufige Beachtung. Dem Arbeitsgebiet, das er hier mit so schönem Erfolge in Angriff genommen hatte, blieb Cohn lange Zeit treu. Auch seine weiteren Arbeiten beschäftigen sich zunächst mit den griechischen Lexikographen und Grammatikern oder stehen doch, wie seine Schrift „Zu den Paroemiographen“ (1887), in vielfältigem Zusammenhange mit diesen Studien. Die wichtigsten hierher gehörigen Veröffentlichungen sind „Untersuchungen über die Quellen der Plato-Scholien“ und „De Heraclide Milesio grammatico*“ (beide 1884). Auf seiner großen Forschungsreise sammelte er reiches Material für die Fortsetzung dieser Studien. Dessen Verwertung ist ihm indessen nur zu geringem Teile möglich gewesen. Ein anderes Arbeitsgebiet, dem er sich inzwischen zugewandt hatte, nahm ihn so ganz in Anspruch, daß es zu der Erfüllung seiner stets gehegten Hoffnung, zu den grie- chischen Lexikographen zurückzukehren, nicht gekommen ist. Nur eine kurze Übersicht über die griechische Lexikographie im Handbuch der klassischen Altertumswissenschaft (Band UI, 1), die ihm, als einem der besten Kenner dieses Gebietes, übertragen wurde, gibt eine Zusammen- fassung seiner diesem Gegenstande gewidmeten Arbeiten. 5 Ze Nekrologe. 9 Der äußere Anlaß, der seine Studien einem ganz anderen Gebiet zuführte, war wiederum eine Preisaufgabe. Auf Veranlassung von Diels stellte die Berliner Akademie der Wissenschaften, um zu einer kritischen Ausgabe der Werke des jüdisch-alexandrinischen Philosophen Philo an- zuregen, im Jahre 1887 als Preisaufgabe die kritische Edition der Philonischen Schrift „De opificio mundi“. Seit der Philo-Ausgabe des Engländers Mangey (1742), die, für ihre Zeit eine hervorragende Leistung, inzwischen längst veraltet war, war für den Philonischen Text so gut wie nichts geschehen. Die späteren Ausgaben waren im wesent- lichen bei Mangey stehen geblieben. Versuche zur Herstellung eines kritischen Textes waren, mit unzulänglichen Kräften unternommen, nicht über die Vorbereitungen hinausgelangt. So bestand ein dringendes Be- dürfnis nach einer kritischen Ausgabe des für die Geschichte der grie- chischen Philosophie und für die Entwickelung der altchristlichen Literatur gleich wichtigen Denkers. Cohn bearbeitete die Berliner Preisaufgabe und erwies sich durch seine von der Berliner Akademie preisgekrönte Herausgabe der Philonischen Schrift als der berufene Her- ausgeber Philos. Die nicht leicht zu vereinigenden Vorbedingungen, die dieses Werk voraussetzt, fanden sich in ihm, wie ein Kritiker seiner Freisschrift feststellte, auf das glücklichste zusammen. Mit umfassender Kenntnis der griechischen Philosophie, der attieistischen Prosa der Raiserzeit und der Kirchenväter, welche Philo so viel benutzt haben, verband er die erforderliche Vertrautheit mit der jüdischen Literatur und bewährte zugleich den sicheren Takt des Herausgebers in der Ent- scheidung über richtige und falsche Überlieferung. So ausgerüstet, ver- einigte er sich mit Wendland, dessen Bearbeitung der Berliner Preis- aufgabe ebenfalls preisgekrönt worden war, zu dem großen Werk einer Philo-Ausgabe, durch die sein Name dauernd. mit dem des alexandrinischen Fhilosophen verbunden bleiben wird. In engster Arbeitsgemeinschaft schufen die beiden Forscher eine Philo-Ausgabe, die auch den strengsten Anforderungen der Wissenschaft genügt und von der Kritik einmütig als eine grundlegende Leistung begrüßt worden ist. In der Einleitung zu dem von ihm herausgegebenen ersten Philo-Bande (1896) hat Cohn die verwickelte Geschichte des Philo-Textes aufgehellt und damit die ‘Grundlagen für eine kritische Textbehandlung geschaffen. Weiterhin sind noch der 4. Band (1902), der 5. 1906), der 6. (1913) von ihm herausgegeben. Auch an den von Wendland herausgegebenen Bänden aber hat er, ebenso wie Wendland an den von ihm edierten, ständig mitgearbeite. In Anbetracht der Schwierigkeit der Aufgabe ist die Arbeit schnell vorgeschritten. Nur noch ein Band stand aus, als die beiden Herausgeber kurz vor der Vollendung ihres Werkes schnell hintereinander vom Tode abberufen wurden. Es steht zu hoffen, daß 10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. das so kurz vor seinem Abschluß verwaiste Werk einen Bearbeiter finden wird, der es im Sinne und in der Arbeitsweise seiner Schöpfer zu Ende führt. Neben der Herausgabe des Philo-Textes ging eine deutsche Philo- Übersetzung einher, die, von dem Petersburger Orientalisten Chwolson angeregt, von Cohn geleitet wurde. Den Theologen und Philosophen, für die Philo von vielfältigstem Interesse ist, und für die sein Text, auch nachdem er durch die neue Ausgabe lesbar geworden ist, noch immer eine harte Aufgabe bedeutet, ist durch diese Übersetzung, die Treue mit Gewandtheit und Geschmack verbindet, der Zugang zu der Gedanken- welt Philos außerordentlich erleichtert. Nur zwei Bände freilich sind: unter Mitarbeit und Leitung Cohn'‘s bisher erschienen, ein dritter zu großem Teile von ihm zum Druck vorbereitet. Doch darf, nachdem: einmal die Anlage der Übersetzung feststeht, auf eine Fortsetzung im: gleichen Sinne gerechnet werden. Ganz seiner Arbeit hingegeben, hat Cohn sich doch auch der öffentlichen Wirksamkeit nicht entzogen, wo seine Mitarbeit gefordert wurde. In engem Zusammenhange mit seinen wissenschaftlichen Inter- essen steht seine Tätigkeit in der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums in Berlin und in dem hiesigen Verein für jüdische Geschichte und Literatur. Daneben hat der seinem Glauben. mit Treue und Innigkeit anhängende Mann auch in der Verwaltung der hiesigen Synagogengemeinde erfolgreich mitgewirkt und durch sein an. reicher Kenntnis des jüdisch-religiösen Schrifttums gebildetes religiöses Verständnis und sein besonnenes und reifes Urteil eine einflußreiche Stellung gewonnen. In schlichter Anspruchslosigkeit hat Leopold Cohn auf den verschiedensten Gebieten eine erfolgreiche und eingreifende Tätigkeit von bleibender Wirkung entfaltet. Seinem Freundeskreise wird der treue, geradsinnige, lautere Mann unvergeßlich bleiben. Julius Guttmann. Sanitätsrat Dr. Heinrich Determeyer wurde am 5. August 1863 als Sohn des Sparkassen-Rendanten Josef Determeyer zu Ibben- büren in Westfalen geboren. Er besuchte dortselbst zunächst die Rectoratsschule und kam dann auf das Gymnasium „Carolinum“ zu Osnabrück, woselbst er 1881 das Abiturium bestand. Auf Wunsch seines. Vaters arbeitete er zunächst vier Jahre im Verwaltungswesen, dann stu- dierte er Medizin in Greifswald, Kiel und Leipzig. Nach bestandenem Staatsexamen genügte er seiner Militärdienstpflicht und kam dann als Assistenzarzt an das kath. Hedwig-Krankenhaus in Berlin, woselbst er Nekrologe. 11 zwei Jahre tätig war. Im Mai 1893 wurde er als Fürstlich-Plessischer Brunnenarzt nach Bad Salzbrunn i. Schl. berufen. Im August 1913 wurde ihm der Titel als Sanitätsrat verliehen. 1914 folgte er seiner Einberufung als Stabsarzt an das Reserve- Lazarett Frankenstein, wo er sich bei der Wundbehandlung eine Infektion zuzog, der er am 12. Januar 1915 im Festungslazarett Breslau zum Opfer fiel. Über 20 Jahre hat er seine reichen wissenschaftlichen Kenntnisse, sowie seine große Arbeitskraft in den Dienst des Bades Salzbrunn und der Gemeinde Ober-Salzbrunn gestellt, und den Aufschwung, den das Bad in den letzten beiden Dekaden genommen hat, verdankt es zu einem guten Teile auch seiner regen Mitarbeit. Seine ärztlichen wissenschaftlichen Arbeiten bewegten sich zumeist auf dem Gebiete der Stoffwechsel-Erkrankungen, wobei er den Einfluß der Salzbrunner Quellen auf den Stoffwechsel zum besonderen Gegen- stand seiner Untersuchungen machte. Seine weitverzweigte ärztliche Praxis und die Anerkennung seiner Patienten sichern ihm ein ehrendes Andenken auch über seine engere Heimat hinaus. \ De Rıtker Am 10. Januar des Berichtsjahres starb der Stadtälteste Wilheim Eckhardt im 81. Lebensjahre. Der Verstorbene hat einen großen Teil seiner Lebensarbeit Einrichtungen gewidmet, die dem Wohle der All- gemeinheit dienen. Er wurde geboren am 28. Mai 1834 und war als Kaufmann in Bres- lau ansässig. Nachdem er 12 Jahre lang Stadtverordneter gewesen war, wurde er im Jahre 1891 zum unbesoldeten Stadtrat gewählt und ver- waltete dieses Amt bis 1905. Mit all der Sorgfalt und Gewissenhaftig- keit, die ihm eigen war, widmete er sich den ihm zugeteilten Dezernaten: Kinderhospitäler „zum heiligen Grabe‘, „zur Ehrenpforte“, Knaben- hospital „zur Neustadt“, und Bürgerversorgungsanstalt; ferner war er Mitglied der Promenaden-Deputation. Letztere Tätigkeit war ihm wohl besonders ans Herz gewachsen; denn er war ein großer Freund der Natur, besonders des Pflanzen- und Tierlebens. Diese Vorliebe zu be- tätigen, bot sich ihm noch manche andere Gelegenheit. E. war 2. Vor- sitzender des Breslauer Verschönerungsvereins seit seiner Gründung und Vorstand der „Sektion Osten‘ bis 1913. Da er selbst bis zum Jahre 1901 im Osten (Scheitnig) wohnte, so konnte er sich dieser Sektion persönlich besonders intensiv widmen. Ein bleibendes Zeichen seiner Tätigkeit und Anregung ist die Bepflanzung des Oderdeiches bis Wilhelmshafen mit Bäumen. Daß man „im Schatten dieser Bäume bis 12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Wilhelmshafen würde wandern können“, wie er sich das dachte, das hat er nun freilich nicht mehr erlebt. — Besonders große und höheren Orts anerkannte Verdienste hat sich der Verstorbene um die Entwickelung des Breslauer Zoologischen Gar- tens erworben. Seit 1880 war er Mitglied des Direktoriums, von 1884 bis 1909 Vorsitzender desselben; bei seinem Ausscheiden wurde er zum Ehrenmitgliede des Direktoriums gewählt. Seinen Vorschlägen (Ein führung von billigem Abonnement, Ausgestaltung des Wirtschafts- betriebes usw.) und seiner unermüdlichen Tätigkeit ist es zu verdanken, daß der Garten finanziell auf eine sichere Grundlage gestellt werden konnte. Dann wurden schöne, große und zweckmäßig eingerichtete Tierhäuser gebaut, es wurde eifrig auch an der gärtnerischen Aus- gestaltung des Gartens gearbeitet, und so entstand das jetzige Bild, das den Zoologischen Garten zu einer Zierde von Breslau macht. — Diese Verdienste E.'s wurden am Tage seiner 25 jährigen Mitgliedschaft, am 9, Juli 1905, durch Direktorium, Aufsichtsrat und Angestellte des Gartens mit Worten und Widmungen herzlich anerkannt, und ferner erhielt er an diesem Tage den Roten Adlerorden 4. Kl., „in Anerkennung seiner Verdienste um den Zoclogischen Garten“. Es sei noch erwähnt, daß der Verstorbene u. a. noch jahrelang 1. Vorsitzender des Vereins für verarmte Kaufleute war (bis 1913), ferner war er im Aufsichtsrat der Aktiengeselischaft Breslauer Hallenschwimm- bad seit ihrer Gründung, und jahrelang 2. Vorsitzender der Breslauer Straßen-Eisenbahn-Gesellschaft. Isaac Ehriich wurde am 1. Juni 1848 in Medzua, Kreis Pleß ge- boren, besuchte das Gymnasium in Gleiwitz und hat als Einjährig-Frei- williger seiner Militärpflicht daselbst genügt. Bald darauf trat er in das Bankgeschäft von Schreyer in Breslau ein, wo er bis Ausbruch des 1870 er Krieges tätig war, den er als Feldwebel mitmachte. Er focht in mehreren Schlachten u.a. bei Le Bourget mit. Nach dem Feldzug begrün- dete er in Kattowitz ein Kohlen-Engros-Geschäft, das er bald zu hoher Blüte brachte, und dem er fast bis zu seiner letzten Lebensstunde mit der ganzen Fülle seines kaufmännischen Wissens und einer nie versagen- den Energie und Regsamkeit oblag. Seine durch nichts zu beugende kaufmännische Rechtlichkeit war auch die Grundlage seiner vornehmen Gesinnung in seinem geschäftlichen Verkehr. Im Jahre 1876 verheiratete er sich mit Frau Hulda, geb. Kann und verlegte 1892 seinen Wohnsitz nach Breslau. Im Verein mit seiner geistig hochstehenden Frau bildete er seine Häuslichkeit zu einer Pilege- stätte innigsten Familienlebens und geistiger Kultur aus. — Diesem Nekrologe. 13 glücklichen Bunde entsprossen 4 Töchter und 2 Söhne, von denen der jüngste als Vizewachtmeister im Felde steht. 1908 starb seine treue Lebensgefährtin. Das Familienglück seiner Kinder, von denen 5 verheiratet sind und die aufblühenden Enkel ließen ihn diese schwerste Prüfung überwinden. Seine letzten Jahre waren durch ein Blasenleiden getrübt; einer Operation, die ihn davon befreien sollte l E rel „as er Adolf Freund. So sehr auch in dieser großen Zeit, wo unser deutsches Volk um die Erhaltung seiner Machtstellung, seiner Kultur, ja seines Daseins ringt, . und wo fast jede Familie den Verlust irgend eines Mitglieds, der den Heldentod fürs Vaterland starb, beklagt, das Schicksal Einzelner hinter diesem, das ganze Land treffenden Leid zurücktritt, so war es doch ein Tag allgemeiner Trauer, und zwar nicht nur der wissenschaftlichen Welt, und nicht nur Deutschlands, sondern aller Schichten aller Nationen, als. die Kunde kam, daß am 20. August 1915 Paul Ehrlich in Frank- furt am Main gestorben war. Und in der Tat mit Recht! Denn mit Paul Ehrlich ist nieht nur einer der größten medi- zinischen Gelehrten und Forscher, sondernauchein wahner: Wohltäter der Menschheit dahin .ge- gangen! — Geboren am 14. März 1854 in Strehlen in Schlesien, besuchte er das Breslauer Gymnasium zu Maria Magdalena, studierte von Ostern 1872 an auf den Universitäten Breslau, Straßburg, Freiburg und Leipzig, um 1878 als Assistent in die Frerichs‘sche medizinische Klinik an der Charite in Berlin einzutreten. Schon in diesen ersten Jahren seines Studiums und seiner Assistentenzeit begannen die ganz originellen und selbstän- digen Arbeiten, die den bahnbrechenden Forscher, als den ihn allmählich die Mitwelt feierte, ahnen ließen. Verdankt er auch seinen Lehrern: Waldeyer, Heidenhain, Cohnheim, Karl Weigert viele Anregungen, so ging er tatsächlich doch vom Beginn seiner wissenschaft- lichen Tätigkeit an ganz eigene Wege, wesentlich gekennzeichnet durch die innige Verschmelzung und Verquickung seiner chemischen und medizinisch-biologischen Denk- und Arbeitsweise. Er war ein Beobachter und Experimentator allerersten Ranges, ein großzügiger Organisator der Arbeit, ein bewundernswerter Kenner der Literatur. All’ das aber, so bewundernswert es war, und ihn schon be- fähigt hätte, ein überragender Forscher zu sein und alle möglichen wert- vollen Einzelbefunde zu machen, war nicht dasjenige, was Ehrlich‘s eigentliche Größe ausmachte und ihn zu den Schöpfungen befähigte, die wir ihm verdanken: er war ein Genie, ein künstlerisch- 14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. schöpferisches ‘Genie, ein ‚Schöpfer Panne uer Arbeitsgebiete mit ganz neuen originellen Gedan- kenundZielen;ein Genie,aber zusleiehesn Arbeiter mitreichstem Wissen und Können, mit nie versagen- der Energie; ein Genie, aber zugleich ein klarer, nüchterner, vonjederPhantastereifreier Forscher. Und das wunderbare ist, daß er schon in den allerersten Anfängen seiner Tätigkeit in geradezu prophetischer Erleuchtung den Grund- gedanken erfaßte, der seine ganze Lebensarbeit durchzog, und der auf den verschiedensten Gebieten: in der Histologie und Biologie der Zellen und Gewebe, insbesondere des Blutes, in der Bakteriologie und Immunitätsforschung (Toxin- und Antitoxin-Lehre, Serum-Therapie), in der Geschwulstforschung und schließlich in der Schaffung der Chemo- therapie, in so überaus fruchtbringender Weise zum Ausdruck kam. Und dieser Gedanke war: Es bestehen spezifische Be- ziehungen zwischen der chemischen Konstitution von auf die Zellen und Gewebe einwirkenden Sub- stanzen einerseits und dem lebenden Protoplasma andererseits;esmußdaher gelingen, indie Geheim- nisse des’Lebens der Zelle "und des Protopl=smas einzudringendurchdieFeststellungderchemischen Reaktionsfähigkeit des Zellprotoplasmas und sei- ner einzelnen Tertle ge genchemische, In ah reraReon- stitution wohlbekannte Körper; es muß eine spezifisch elektive Verwandtschaft einer chemischen Substanz zu bestimmten Or- ganen bestehen, und man muß daher aus der Verteilung dieser Substanzen im Körper, je nach der Affinität zu den Organen oder der Avidität seitens der Gewebe, die naturgemäß nur von der chemischen Konstitution der lebendigen Zelle abhängt, einen Schluß auf die Funktionen der einzelnen Zellen, Gewebe, Organe etc. ziehen können. Der von ihm aufgestellte Satz: „corpora non agunt, nisi fixata“ klärte aber nicht nur die Gesetze zwischen chemischer Konstitution und Verteilung auf, sondern auch zwischen Konstitution und Wirkung. Daraus aber ergab sich auch die Möglichkeit, durch eine bestimmte Konstitution einer chemischen Sub- stanz eine bestimmte therapeutische Wirkung zu erzielen, also eine derartige Konstitution der als Heilmittel gedachten Substanz ab- sichtlich herzustellen, daß sie nur von derjenigen Zelle (Körperzelle oder ‚Bakterienleib) fixiert werden konnte, auf die zu beeinflussen es ankam. Und so schuf Ehrlich die Chemotherapie. Die Chemie, die bisher den Therapeuten ein Arsenal, gefüllt mit den mannigfaltigsten Substanzen, zur Verfügung gestellt hatte, aus der sich der Mediziner mit mehr oder weniger Glück eine mehr oder weniger brauchbare Waffe herausholen Nekrologe. 15 konnte, sie wurde jetzt die Dienerin des Therapeuten, der „zielen“ ge- lernt hatte und sich die Waffen nach von ihm festgesteliten Grundsätzen und Endzielen herstellen ließ. Es ist natürlich ganz unmöglich, auf dem knappen Raum, der hier zur Verfügung steht, auch nur die Namen, geschweige den Inhalt seiner Arbeiten, wiederzugeben, so groß ist die Fülle seiner wissenschaftlichen Leistung. Wir besitzen aber darüber ein Beweisdokument, wie es kein Zweiter aufzuweisen hat: die von Schülern und Freunden zu seinem 60. Geburtstag geschaffene „Festschrift“. Nicht eine gewöhnliche Fest- schrift, in der jeder ein beliebiges Thema behandelt und als Beitrag liefert. Nein, hier haben sich 37 Männer — und es sind darunter Czerny, Gaffky, Waldeyer, Wassermann, Willstädter usw. — zusammengetan, richtiger zusammentun müssen, um in einem Bande von 668 Seiten „eine Darstellung seines wissenschaftlichen Wir- kens‘ so heißt es auf dem Titelblatt — zu geben; in der Tat ein Wirken, so reich und vielseitig, daß kein Einzelner es richtig und voll hätte würdigen können. Die in der Festschrift befindliche Zusammenstellung der Arbeiten Ehrlich’s enthält nicht weniger als 152 Nummern, die der gemeinschaftlich mit Mitarbeitern oder aus seinem Institute ver- öffentlichten 460. Zu diesem treten noch 6 Monographien. Der Schlußstein seines Lebenswerkes war, wie gesagt, die Schöpfung der Chemotherapie. „Es mußte eine spezifische Therapie dadurch erstrebt werden, daß „wir für jeden Parasiten bestimmte verankernde und ihm gewissermaßen eigenartige Nebengruppierungen ausfindig ınachen, die bestimmte Reste packen und so eine spezifische Verankerung ermöglichen.“ Solchen vom Atoxyl ausgehenden Forschungen entsprang schließ- lich 1910 die Herstellung des Dioxydiamidoarseno- benzols, des als Syphilis-Heilmittel bekannten Salvarsans. Es ist wohl beispiellos, daß ein Heilmittel in so kurzer Frist sich die Welt erobert hat, wie das mit dem Salvarsan der Fall war. -. Und in der Tat, wer sich nicht absichtlich den aus der ganzen Welt zusammen- gebrachten Beobachtungs-Tatsachen und Erfolgen verschließt, muß an- erkennen, daß Paul Ehrlich mit dem Salvarsan für die Syphilisbehandlung und für die Syphilis-Bekämp- funsim allgemeinen einen ungeheuren, heute noch garnichtinseiner Tragweite zu übersehenden Fort- schritt angebahnt hat. - Mit Paul Ehrlich ist der Menschheit einer ihrer größten Wohltäter, der Wissenschaft einer der hervorragendsten Forscher und Förderer entrissen worden. Alle aber, die ihm menschlich näher 16 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Culiur. treten konnten, beklagen den Tod eines einfachen und herzlichen Men- schen, den man lieben mußte. — Seinen äußeren Lebenslauf mögen nachstehende Angaben kurz wiedergeben: 1878 Oberarzt an der I. Medizinischen Klinik von Frerichs in Berlin. — 1883 Verheiratung mit Frau Hedwig, geb. Pincus. — 1884 Ernennung zum Titularprofessor. — 1887 Habilitation als Privatdozent in Berlin. — 1888/1889 Aufenthalt im Süden, Ägypten usw. wegen einer im Labora- torium erworbenen Tuberkulose. Sodann Arbeiten im Privatlaboratorium in Berlin. — 1890 Arbeiten im Koch’schen Institut für Infektionskrank- heiten. — 1890 Ernennung zum Professor extraordinarius in Berlin. — 1896 Übernahme des von Althoff geschaffenen Instituts für Serumprüfung und Serumforschung in Steglitz. — 1897 Ernennung zum Geheimen Medizinalrat. — 1899 Übernahme des Königlichen Instituts für experimen- telle Therapie in Frankfurt a. M. — 1903 große goldene Medaille für Wissenschaft. — 1904 Ernennung zum ordentlichen Honorarprofessor an der Universität Göttingen. — 1906 Errichtung und Übernahme des Georg Speyer-Hauses. — 1907 Ernennung zum Geheimen Obermedizinalrat. — 1908 Verleihung des Nobelpreises. — 1911 Ernennung zum Wirklichen Geheimen Rat mit dem Prädikat Exzellenz. — 1914 14. März große Feier des 60. Geburtstages. NN Alired Ephraim, Wiederum hat die Breslauer medizinische Welt einen schmerzlichen Verlust erlitten: Am 20. August 1915 ist Alfred Ephraim, einer der bekanntesten Ärzte und gesuchtesten Laryngologen Breslaus nach kurzer Krankheit gestorben. Am 19. Mai 1863 in Birn- baum (Prov. Posen) geboren, erhielt er 1880 das Reifezeugnis am Elisabeth-Gymnasium zu Breslau. studierte in Breslau und Berlin und beendete 1885 sein Staatsexamen. In demselben Jahre promovierte er mit einer unter Rosenfelds Leitung verfaßten Dissertation über die „physiologische Acetonurie“, worin in grundlegenden Experimenten der Nachweis erbracht wurde, daß Ausschluß der Kohlehydrate beim: gesunden Menschen von starker Acetonurie gefolgt ist. Ephraim war ursprünglich praktischer Arzt und hat sich erst später dem Spezialfach der Oto-Laryngologie zugewendet, und es ist unverkenn- bar, daß die reichen Erfahrungen, die er als Allgemeinarzt gesammelt hat, ihm bei der späteren Ausübung der laryngologischen Tätigkeit von. unschätzbarem Werte gewesen sind und auch sein wissenschaftliches. Arbeiten beeinflußt und befruchtet haben. Trotz einer großen durch die Praxis ihm erwachsenden Arbeitslast hat Ephraim immer Zeit ge- funden, wissenschaftlich tätig zu sein, und es ist dies um so be- Nekrologe. 17 wunderungswürdiger, als ihm niemals die Hilfsmittel einer Abteilung oder eines Krankenhauses zur Verfügung standen. Eine Reihe vortrefflicher Arbeiten ist seiner Feder entflossen, und namentlich haben seine Studien über die Bronchoskopie, die Arbeit der letzten 5 Jahre seines Lebens, die vollste Anerkennung seiner Fachge- nossen gefunden und ihm einen ehrenvollen Namen in der Laryngologie gesichert. Insbesondere hat er durch die Erweiterung, die er der thera- peutischen Anwendung der Bronchoskopie durch zahlreiche Arbeiten geschaffen hat, — ich erinnere hier bloß an seine endobronchiale Be- handlung des Asthmas — der Wissenschaft und der leidenden Mensch- heit unvergeßliche Dienste erwiesen. Fast alle hierher gehörigen Unter- suchungen hat er in der „Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur‘“ in interessanten Vorträgen seinen Breslauer Kollegen vorgeführt. Bei all dieser Arbeit fand er stets Zeit, sich auch den sozialen Fragen und Nöten der Ärzteschaft zu widmen, und das Vertrauen, das die Kollegen ihm auch auf diesem Gebiete entgegenbrachten, fand seinen äußeren beredten Ausdruck in seiner Ernennung zum Obmann der wirtsehaflichen Vereinigung der Breslauer Oto-Laryngologen. So wird sein Andenken in der Wissenschaft wie bei den Breslauer Ärzten nie erlöschen. Goerke. Am 26. August 1915 starb zu Breslau Geheimer Justizrat Wilhelm Salomon Freund, Ehrenbürger der Stadt Breslau, Dr. juris honoris causa der Königlichen Universität Breslau, Ehrenmitglied unserer Gesellschaft, Mitglied seit 1865. Ziemlich bald nach der Geburt des Sohnes, am 28. September 1831, siedelten seine Eltern von Schmiegel, Provinz Posen, nach Breslau über. Hier, auf dem Königlichen Friedrichs-Gymnasium, genoß er seine Schulaus- bildung, hier besuchte er die Universität. Sein scharfer Verstand, seine logische Denkweise, verbunden mit dem Sinne für praktische Fragen, die ihm in dem geachteten Kaufmannshause seines Vaters entgegentraten, führten ihn dem Beruf des Juristen zu, in jener Zeit — 1848 — noch ein Wagnis für einen Preußen jüdischen Glaubens. Sein anwaltlicher Lehrmeister und späterer Freund, Justizrat Simon, der Abgeordnete Breslaus, erkannte bald seine Bedeutung, und der junge Jurist erkannte die Bedeutung der anwaltlichen Schulung, zu der im Simon’schen Hause die Einführung in die Fragen der hohen, wie der kommunalen Politik hinzutraten. Hier wurde der Keim gelegt zu der Richtung und Bedeutung seiner beruflichen Tätigkeit, wie für sein Wirken im öffentlichen Leben. Politisch dem damals verpönten Fortschritt huldigend — aber jenem Fortschrittstum, dessen „Herzen dort schlagen, wo Preußens Fahnen 1915. 2 N Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. wehen“, — war es für ihn ein Gegenstand stolzer Erinnerung, daß er im Hause Simon hatte mitwirken dürfen an jener historischen Breslauer Adresse vom 15. Mai 1866, die unsern König Wilhelm I. der Treue des da- mals bedrohten Schlesiens in patriotischer Begeisterung versicherte. Er war für das kommunale Leben getragen von dem Gedanken, daß die Bürger der Städte, wie des flachen Landes, in freier Entwickelung ihrer Kräfte, selbstverwaltend im Rahmen des Gesetzes, den Boden schaffen, erhalten und fördern müßten, auf dem auch im monarchischen Staate die Be- rechtigung der mitschaffenden Tätigkeit des Volkes für fortschreitende Entwicklung des Staates beruht. Ein feines religiöses Empfinden, eine wahre Frömmigkeit, bildete dabei den Unterton seines Wesens. Geheimrat Freund war Jude, und wenn er mitgekämpft hat für die Rechte seiner Glaubensgenossen, wenn er es schwer empfunden hat, daß das Vorurteil hier immer neue Schwie- rigkeiten in praxi schuf zu einer Zeit, zu welcher nach dem Buchstaben des Gesetzes alle Schranken beseitigt erschienen: so blieb in ihm doch, zur Frömmigkeit, und zur Treue an den Glauben, die Toleranz und der Glaube an die Zukunft wach, die die Bitterkeit verscheuchten. Liberal im wahren Sinne des Wortes, treu gegen sich, treu, vorurteils- los und milde gegen andere — mit diesen Grundzügen seines Wesens trat er in das Berufs- und öffentliche Leben ein, und diese Grundzüge blieben leitend für sein langes Leben, wurden für ihn die Grundlagen für den reichen Segen, den seine Tätigkeit brachte für die Erfolge, die seine Laufbahn begleiteten. | Was er in seinem Berufe als Anwalt geleistet hat, ist von seinen Kollegen ebenso als vorbildlich anerkannt worden, wie vun seinen Klienten. Hoch und niedrig: — wer seinen Rat suchte, ihm trat er nicht nur mit der Summe seiner Kenntnisse, den Gaben seines Verstandes, mit der nie ermüdenden Arbeitskraft, mit der Pflichttreue in des Wortes weitester Bedeutung zur Seite, sondern auch das menschliche Interesse betätigte er für seine Schutzbefohlenen; und er konnte dies stets tun, weil er eine Sache nicht führte, die seines Interesses nicht würdig war. Hatten ihn seine Kollegen schon vor der Justizorganisation von 1879 in den Ehrenrat des Bezirks des Appellationsgerichts Breslau gewählt, so gehörte er seitdem dem Vorstande der Schlesischen Anwaltskammer an, deren Vorsitz er im Jahre 1884 übernahm und dreißig Jahre hin- durch führte — ein einzig dastehender Vorgang in der Geschichte der Deutschen Rechtsanwaltschaft. Und im kommunalen und politischen Leben erkannte man nicht minder die Bedeutung seiner Persönlichkeit. Im Jahre 1870 zum Stadt- verordneten gewählt, in der Zeit von 1876 bis 1881 Vertreter Breslaus Be... Nekrologe. 19 im Preußischen Abgeordnetenhause, wie im Deutschen Reichstage, endete die parlamentarische Tätigkeit mit dem politischen Wandel der Zeiten. In der Kommune blieb er dauernd ebenso tätig, wie in dem Reprä- sentanten-Kollegium der Synagogen-Gemeinde Breslaus; auch hier, wie dort erblickte man in ihm den geborenen Vorsitzenden, geschaffen wie Keiner, um mit Klugheit und Erfahrung, Wohlwollen und Besonnenheit die Geschäfte der Versammlung zu leiten, über den oft kleinen Streit- fragen des großen Tages die großen Ziele nicht aus dem Auge zu ver- lieren, die Gegensätze auszugleichen, die Kräfte zusammenzufassen. Seit dem 4. Januar 18837 führte er 28 Jahre hindurch den Vorsitz in der Stadtverordneten-Versammlung, eine Zeit, während deren Breslau von der großen Kleinstadt zur Großstadt sich entwickelte: — den treuen „Weggenossen und Schrittmacher“ seines Freundes des Oberbürger- meisters Georg Bender nannte ihn —, das „strahlende Zweigestirn am Himmel der Selbstverwaltung“ nannte sie beide Oberbürgermeister Matting in seiner Gedächtnisrede — 16. September 1915. Trauerfeier im ‚Stadtverordneten-Sitzungssaal —. Und wie Geheimrat Freund würdevoll die Verhandlungen leitete, sc vertrat er würdig und aufrecht die ihm heiligen Rechte der Körper- schaften, die ihn zum Primus inter pares erkoren hatten; und die Voll- endung in der Form, die ihm eigen war, verschaffte ihm das Ohr jeder behördlichen Stelle, mit der er in Berührung trat, und Anerkennung und Achtung seines Standpunktes, auch wenn Gegensätze prinzipieller Natur oder Verschiedenheit in der Auffassung über taktische und praktische Fragen sich nicht in seinem Sinne erledigten. Wie seine Mitbürger durch die Wahl in den Provinzial-Landtag, durch die Ernennung zum Ehrenbürger ihm die höchsten Ehrenstellun- gen gaben, die eine Stadtgemeinde zu vergeben hat, so zeigten ihm auch die berufenen Vertreter der Juristischen Wissenschaft ebenso die hohe Wertschätzung seiner Leistungen durch die Ernennung zum Ehrendoktor der Juristischen Fakultät der Universität Breslau -— 1901 —, wie unsere Gesellschaft die hohe Achtung vor seiner Persönlichkeit und seiner uni- versellen Bildung durch Ernennung zum Ehrenmitgliede — 1903 —. Wo Geheimrat Freund allerdings die Zeit hernahm, um neben der beruflichen Tätigkeit und dem vielseitigen Schaffen im öffentlichen Leben noch den Wissenschaften zu huldigen, blieb manchem ein Rätsel, das zum Teil durch die eiserne Selbstzucht und das phänomenale Ge- ‚dächtnis des Verstorbenen erklärt werden kann. Die hebräische Sprache, die er als Knabe gelernt hatte, vergaß er nicht, und Freude machte es ihm, wenn er aus seiner Kenntnis altjüdischer Schriften einem Univer- sitätslehrer dieses Faches Erklärungen geben konnte, die diesem fremd 9* 30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. waren. Und Freude machte es ihm, wenn er im hohen Alter jungen Leuten zeigen konnte, daß er Horazische Oden oder ganze Abschnitte aus dem Homer besser wortgetreu hersagen konnte, wie sie. Und wie die alten Sprachen, so pflegte er in eifriger Lektüre die französische Sprache, die er elegant meisterte, ebenso, wie er unsere Klassiker be- herrschte, und an den Erzeugnissen moderner Literatur teilnahm. Für alles hatte er Zeit, obwohl er die zeitraubende Erfüllung der Repräsen- tationspflichten, die seine Ämter mit sich brachten, nie vernachlässigte, und, wie im offiziellen, so noch lieber im gemütlichen Verkehr, gern Gäste in seinem Hause sah. in seinem Hause: — hier lag wohl der beste Teil von des Rätsels. Lösung. Seine Gattin, eine Tochter der Breslauer Familie Immerwahr, mit der er seit dem Jahre 1866 in glücklichster Ehe verbunden war, - und die ihm ein Jahr im Tode vorangegangen, war ihm die treueste Begleiterin, die ihm Alles ebnete, was nicht des Mannes Mitwirkung, des Hausherrn Entscheidung unbedingt benötigte, die, ihm ebenbürtig in Klugheit, Charakter und Gesinnung, gleich- gestimmt für Bestrebungen wohltätiger Nächstenliebe, mit den Kindern das Haus zu der Erholungsstätte machte, in der er die wahrste innere Befriedigung und Freude fand. Wem es vergönnt war, das Haus zu betreten, wird den Eindruck nicht vergessen — bürgerlich vornehm, so wirkte schon die äußere Gestalt des Freund’schen Ehe- paares, ungezwungen patriarchalisch, von Bildung und Wohlwollen be- stimmt war der Ton, der Alle umfing. Stürme und Sorgen des Lebens blieben auch ihm natürlich nicht: erspart. Nimmt man aber Alles nur in Allem, — es war ein voll- erfülltes Leben, von den erfrischenden Erfolgen des Mannes bis zur Zeit. der abgeklärten weisen Ruhe des Alters; die Treue, die er gewahrt hat seinem Glauben, seinem Kaiser und dem Vaterlande, wie seiner engeren Breslauer Heimat, seiner Familie und seinen Freunden, wie denen, die ihm beruflich nahetraten — sie wurde ihm gedankt, sie wurde zum Segen. Friedenthal. Domkapitular Prälat Dr. theol. et phil. Augustin Herbig im: Breslau, gestorben den 30. Dezember 1915. August Ignaz Herbig wurde den 10. November 1846 zu: Stephansdorf bei Neiße geboren, woselbst sein Vater Lehrer war. Vom: Jahre 1856 ab besuchte er das Gymnasium zu Neiße, weiches er Michaelis. 1864 mit dem Zeugnisse der Reife verließ. Er bezog nunmehr die Univer- sität Breslau, woselbst er durch zwei Semester Theologie studierte. Auf fürstbischöfliche Empfehlung konnte er am 26. Oktober 1865 in das im. 16. Jahrhundert für Theologen deutscher Herkunft begründete Collegium. Nekrologe. 31 Germanicum in Rom eintreten. Nach dreijährigem Studium an der gregorianischen Universität zu Rom promovierte er zum Doktor der Philosophie, nach weiteren vier Jahren (im Juli 1872) zum Doktor der Theologie. Am 20. September 1870 erlebte er die Einnahme Roms durch die Piemontesen. Die norddeutsche Fahne über dem Tore des Ger- manicums schützte die Anstalt vor der Plünderung. Am 8. April 1871 empiüng Herbig die Priesterweihe. Am 18. Juli 1872 verließ er Rom und kehrte in die Heimat zurück. Zunächst wurde er als Kaplan in Liebenthal angestellt, woselbst er bis 1883 wirkte. In diesem Jahre wurde er nach Jauer zur Aushilfe für den schwer erkrankten Pfarrer geschickt. Nach dem Tode des letzteren erhielt Herbig (im Septem- ber 1887) die Pfarrei Jauer. Im folgenden Jahre wurde er zum Erz- priester und Kreisschulinspektor ernannt. Im Jahre 1894 wurde er residierender Domherr an der Kathedralkirche zu Breslau Er wurde alspald Konsistorialrat und defensor matrimonii. 1895 wurde er Rat der fürstbischöflichen Geheimen Kanzlei und des Generalvikariatsamts, Domprediger und Prosynodalexaminator. Im Oktober desselben Jahres übernahm er die Leitung des fürstbischöflichen Theologischen Konvikts. Nachdem er demselben neun Jahre vorgestanden hatte, wurde er Rektor des Alumnats. Am 29. Dezember 1909 wurde er zum Offizial und Präses des Konsistoriums erster Instanz ernannt. Im Herbst 1915 wurde er vom Papst mit der Würde eines apostolischen Protonotars und infulierten Prälaten ausgezeichnet. Ein langwieriges Leiden, zu welchem sich in der letzten Zeit noch eine hochgradige Herzschwäche gesellte, machte dem arbeitsreichen und gesegneten Wirken Herbigs am 30. De- zember 1915 ein Ende. Herbig erfreute sich einer außerordentlichen geistigen Begabung. Bis zu seinem Lebensende hat er die Entwickelung der Theologie, be- sonders der systematischen fleißig verfolgt. Die zahlreichen Ämter in der kirchlichen Verwaltung veranlaßten ihn, sich auch gründliche kanonistische Kenntnisse anzueignen. Seine im Dome gehaltenen Predigten wurden gern gehört und galten sowohl dem Inhalte als auch der Form nach als mustergültig. Als Erzieher der Theologiestudierenden, welche die Universität besuchten, und der Alumnen des Klerikalseminars ver- kand Herbig mit großer Herzensgüte einen vorbildlichen Ernst und eine echte Frömmigkeit. Seinen Zöglingen brachte er sowohl während der Zeit ihrer Ausbildung als auch noch später außerordentliches Wohl- wollen entgegen. Seine Entscheidungen in der kirchlichen Verwaltung zeichneten sich durch juristische Präzision und Klarheit aus. Wo es sich um Fragen der Disziplin handelte, neigte er zur Milde. Das persön- liche Glück des Einzelnen war ein Moment, welches er gern berück- sichtigte, wo immer es möglich war. 293 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Das gastfreie Haus Herbigs war der Mittelpunkt eines zahl- reichen Freundeskreises. Gern pflegte er die alten Beziehungen zu den theologischen Erziehungs- und Unterrichtsanstalten der ewigen Stadt. Ein großer Kreis dankbarer Zöglinge und treuer Freunde umstand am 3. Januar 1916 in der Totenkapelle des Domes die Stätte, welche die sterbliche Hülle des Verewigten aufnehmen sollte. Das Andenken des ausgezeichneten Priesters wird in der Breslauer Diözese ein gesegnetes sein. JSNIkel Superintendent D. Koffmane, geb. am 22. Juli 1852 in Bernstadt, gest. d. 29. März 1915 in Koischwitz. Mit Koffmäne ist einer der bekanntesten und bedeutendsten schlesischen Pastoren der letzten Jahrzehnte, dessen Name aber auch weit über sie hinaus einen guten Klang hatte, dahingegangen, ein Mann, der auf dem Gebiet des praktisch kirchlichen Lebens ebenso wie auf dem der theologischen Wissenschaft in gleicher Weise sich große Ver- dienste erworben hat, ein Mann, dessen Charakter lauter und vornehm, dessen Fleiß unermüdlich, dessen Begabung nicht gewöhnlich war. Ge- boren war er in Bernstadt als Sproß eines schlichten, frommen, bürger- lichen Hauses, seine Schulzeit verbrachte er zuerst in seiner Vaterstadt, dann in Oels als Zögling des dortigen Gymnasiums, an dem er 1873 die Reifeprüfung mit Ehren bestand. Schon als Gymnasiast beschäftigte er sich mit den lateinischen und griechischen Klassikern weit über das geforderte und übliche Maß hinaus: er kamnte Juvenal und Martial, Katull und Plautus, Gailius und Seneca und verschaffte sich dadurch das Rüstzeug für seine späteren wissenschaftlichen Arbeiten. Daher konnte er schon im 3. Semester Forschungen zur lateinischen Sprache veröffentlichen (Lexikon lat. Wortformen, 1874, 207 S.), aus denen seine hervorragende Bekanntschaft auch mit den lateinischen Kirchenlehrern und Kirchenvätern hervorleuchtete.. Unter des berühmten Kirchen- historikers D. Reuter Leitung schritt er auf der betretenen Bahn weiter, die dicken Folianten waren seine treuen Begleiter auch auf der soldatischen Wachstube. (Ostern 1875—76.) Seine Begabung wies ihn auf die akademische Laufbahn; er schlug sie ein, machte 1879 das Lizenrtiatenexamen und hielt Vorlesungen von 1881 ab als Privatdozent. Im Jahre 1884 sah er sich gezwungen, diese Tätigkeit aufzugeben; er nahm ein Pfarramt an, zuerst in Kunitz, dann in Koischwitz, wo er von 1902 an als Superintendent die Verwaltung der Diözese Liegnitz bis zu seinem Tode führte. Aber dies praktische Amt, das er in allen seinen vielen Beziehungen als Prediger und Seelsorger auszufüllen bestrebt war, hat ihn nicht gehindert, seiner Liebe zur wissenschaftlichen Arbeit Nekrologe. 23 treu zu bleiben. Dem oben erwähnten Lexikon folgte eine längere Ab- handlung über die Geschichte des Kirchenlateins,. Die Thesen seiner ersten Vorlesung stellten über die Gnosis Grundsätze auf, die gegenüber der Baur’sehen Schule Anerkennung fanden; das Muratorische Fragment suchte er aufzuklären; die ihm übertragene Neubearbheitung des großen Herzog’schen Geschiehtswerkes führte er durch. Dann aber wandte er sein Auge auf seine Heimatprovinz und ihre reich bewegte Kirchen- geschichte. Er hielt über dies Gebiet Vorlesungen, beschrieb die reli- giösen Bewegungen in der evangelischen Kirche Schlesiens, veranstaltete Einzelforschungen über interessante Ereignisse und Personen und be- gründete mit anderen einheimischen Historikern den Verein der schle- sischen Kirchengeschichte, der ein Mittelpunkt vieler Forscher und in seinem Korrespondenzblatt ein Sammelpunkt bedeutender Arbeiten wurde, so daß bisher ganz dunkle Partien in der Entwicklung unserer Provinz seitdem in helles Licht getreten sind. In weiteren Kreisen be- kannt wurde aber Koffmane durch seine seit 1883 begonnenen Ar- beiten auf dem Gebiete der Lutherforschung. Die berühmte Rhediger’sche Bibliothek in Breslau birgt reiche Schätze von Handschriften aus jener großen Zeit; Koffmane veröffentlichte einige als Ergänzung zu Luthers Briefen und Tischreden, worauf er zu den Herausgebern der (noch nicht abgeschlossenen) großen kritischen Lutherausgabe von Weimar als Mitarbeiter hinzugezogen wurde. Diese Tätigkeit nahm seine Kraft ganz besonders in Anspruch. Durch Erlaß des Kultus- ministerss im Jahre 1900 wurde er zum theologischen Beirat und Mit- leiter ernannt, eine wohlverdiente Auszeichnung, zu der als zweite im Jahre 1903 der theologische Doktorhut von Königsberg trat. Er wies der Lutherforschung dadurch ein neues, bisher nicht genügend ins Auge gefaßtes Ziel, daß er eine kritische Sichtung der @nellen und des ge- samten Handschriftenmaterials verlangte und an seinem Teil mit durch- führte. Wissenschaft und Praxis — beides verband sich im innigen Bunde in seiner Persönlichkeit. Im Pfarrerverein, zu dessen Mitbegründern und Vorstandsmitgliedern er gehörte, wirkte er stets in diesem Sinne; daher wurde er auch von der Provinzialsynode, in der er seit 1896 saß, im Jahre 1905 in die Prüfungskommission gewählt. Am neuen Schlesischen Provinzialgesangbuch mitzuarbeiten, war er, der Kenner unserer schönen Provinz, in hervorragendem Maße berufen. Sie hat in Koffmane einen ihrer tüchtigsten Geistlichen verloren, der in stiller Bescheidenheit einherwandelnd seine Taten für sich reden ließ. Er war eine pia anima. D: Decke. . BA Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Der am 15. August 19i5 verstorbene Fabrikbesitzer Paul Koerner wurde am 15. September 1840 als Sohn des Rittergutsbesitzers Friedrich Koerner in Konstadt geboren. Nachdem sein Vater das Gut verkauft hatte, siedelte er mit der Familie im Jahre 1850 nach Breslau über, wo er bis zu seinem 15. Lebensjahre die Zwinger-Realschule besuchte, und da sein Vater sich wieder angekauft hatte, das Rittergut Hartmannsdorf bei Landeshut, von da ab die Realschule in Landeshut, welche er mit dem Abiturium verließ. —. Er wählte sich den Kauf- mannsstand zum Beruf, machte seine Lehrzeit bei den Brüdern Staats in deren Zuckergeschäft durch, nahm dann eine Stellung im Hüttenbezirk, in Lipine in Oberschlesien an, wo er sich Kennt- nisse erwärb, welche ihm für seine spätere selbständige Unternehmung von großem Wert waren. Im Jahre 1870 erwarb Paul Koerner die Spritzen- und Pumpenfabrik von F. J. Stumpf. Durch seine große Tätig- keit, Geschäftskenntnis und schnellen Blick und Anpassungsvermögen brachte er die Fabrik auf große Höhe und erweiterte dieselbe durch Unternehmung von großen Wasserleitungsanlagen, so in der Strafanstalt in Wronke, in der Festung Gr.-Glogau, fast in allen Bädern Schlesiens, so daß die Fabrik weithin großen Ruf erhielt. Seinen Beamten und Ar- beitern war er stets ein gütiger und wohlwollender Prinzipal. — Trotz der großen Anforderungen, welche sein Geschäft an seine Tätigkeit stellte, hatte Paul Koerner bei seiner großen Arbeitskraft und Arbeitslust noch Zeit, sich viel dem öffentlichen Wohl zu widmen: bei der Berufsgenossenschaft, dem Handelsgericht, der Standesvertretung der Kaufmannsschaft, in der Förderung der Kunst, in der Konzerthaus- gesellschaft, bei christlichen Liebeswerken, überall wurde seine Mit- arbeit begehrt und geschätzt. Sein angenehmes, frisches Wesen, der Geselligkeit zugeneigt, hatte ihm einen großen Freundeskreis erworben. — Der Erfolg durch seine gesegnete Tätigkeit setzte ihn in den Stand, seinem guten Herzen Folge leistend, vielfach ‘ Wohltaten zu erweisen, besonders unterstützte er Witwen und Waisen. Ein großer Freund der Alpenwelt, suchte er Er- holung von seiner anstrengenden Tätigkeit alljährlich durch längere Reisen mit seiner Frau, besonders in den Tiroler Alpen. Zuletzt in Abazzia zog er sich leider beim Bergsteigen eine starke Erkältung zu, die in Lungenentzündung ausartete. Nach Genesung nach Breslau zu- rückgekehrt, erkältete er sich dort von neuem, wurde lange Zeit hin- durch von quälendem Husten und Schlaflosigkeit geplagt. — Nach Besserung wurde er vom Arzte nach Altheide zur Genesung gesendet, die er dort leider nicht fand, und es befreite ihn am 15. August 1915 der Tod von qualvollen Leiden, von seinen An- gehörigen, Freunden, seinem Fabrik-Personal und allen, denen er Wohl- taten erwiesen hatte, tief betrauert. Friedrieh Koerner EEE Nekrologe. y5 Richard Rabe ist am 22. Februar 1890 in Breslau geboren. Er besuchte von 1896—1900 die hiesige Volksschule und alsdann die Ober- realschule, wo er mit ernstem Streben und zähem Fleiße allen Anfor- derungen gerecht zu werden bemüht war. 1910 verließ er die Anstalt, wo er durch sein stilles bescheidenes Wesen, seinen unermüdlichen Fleiß, seine Treue und Zuverlässigkeit die Achtung seiner Lehrer und die Zuneigung seiner Mitschüler erworben hatte, mit dem Zeugnis der Reife, um sich der Neuphilologie zu widmen. Er studierte in Breslau. Als der Krieg ihn ins Feld führte, ging er als Grenadier im 4. Garde- regiment zu Fuß mit und fiel am 19. März 1915 in seinem ersten Gefecht beim Sturmangriff, tief beklagt von den Eltern, denen ein liebevoller Sohn, und den Geschwistern, denen ein treuer Bruder dahinging, in seinem 26. Lebensjahre. Karl Hermann Freiherr von Richthoien ist geboren am 19. 1. 60 in Barzdorf, Kreis Striegau, als fünfter und jüngster Sohn des Kgl. Kreisrichters a. D. und Rittergutsbesitzers Freiherrn Ulrich von Richthofen auf Barzdorf, Mittel- und Nieder-Gutschdorf, Thomaswaldau, Ober-Faulbrück und Bärsdorf und seiner Ehefrau Sophie, geborenen von Grolman. Nach vorbereitendem Unterricht im Elternhause besuchte er das Gymnasium zu Jauer und studierte in Leipzig, Freiburg und Berlin Rechts- und Staatswissenschaften. Nach bestandenem Referendar- examen und zweijährigem gerichtlichen Vorbereitungsdienst widmete er sich, nachdem er unterdessen seiner Militärpflicht beim 1. Garde- Dragoner-Regiment genügt hatte, welchem Regiment er zuletzt als Ober- leutnant d. R. angehörte, der Verwaltung. Als Regierungsassessor war er zuletzt bei der Regierung in Oppeln beschäftigt und wurde am 23.2. 91 zum Landrat des Kreises Grottkau ernannt. Auf seinen Wunsch wurde ihm im Oktober 1897 die kommissarische Verwaltung des Kreises Reichenbach, in welchem er als Besitzer des von seinem Vater ererbten Rittergutes Ober-Faulbrück ansässig war, übertragen. Am 14. 3. 1898 wurde er zum Landrat in Reichenbach ernannt. Nach kaum dreijähriger Tätigkeit in Reichenbach wurde er vom XLI. Provinziallandtag zum Landeshauptmann von Schlesien gewählt und am 5. 12. 1900 durch den damaligen Oberpräsidenten, Herzog zu Trachenberg, in sein Amt eingeführt. Vor Ablauf der 10 jährigen Periode wurde er am 19. 3. 09 durch den XLVII. Provinziallandtag wieder- gewählt. Während seiner fast 15 jährigen Amtszeit als Landeshauptmann hat sich die Aufgabe der Provinzialverwaltung ungemein vermehrt. Ihm 36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. lag es ob, das Hochwasserschutzgesetz durch Ausbau der gefahrbringen- den Gebirgsflüsse und Anlegung der Talsperren durchzuführen. Mit dem’ gleichen Scharfblick, der ihm eigenen Pflichttreue und dem unermüd- lichen Fleiß, mit dem er seine vielseitigen Dienstgeschäfte erledigte, widmete er sich auch dieser ganz neuen Aufgabe. Die Ausnutzung der Talsperren zur Erzeugung elektrischer Kraft, mit welcher weite Gebiete Schlesiens versorgt werden konnten, ist sein Werk. Sein Name wird allein hierdurch für alle Zeiten ruhmvoll mit der Geschichte Schlesiens verbunden sein. { Ein aufrichtiger, überzeugter Christ widmete er sein Interesse in hervorragendem Maße den Werken der Nächstenliebe Kurz nach Über- nahme der Amtsgeschäfte als Landeshauptmann trat er an die Spitze des neugegründeten „Volksheilstättenvereins für die Provinz Schlesien‘“ (des jetzigen „‚Provinzialvereins zur Bekämpfung der Lungentuber- kulose‘‘), der sich die Errichtung von Heilstätten für weibliche Lungen- kranke zur Aufgabe gestellt hatte, und der unter seiner Leitung seine- segensreichen Absichten zur Durchführung bringen konnte. Im Jahre 1904 wurde die Kaiser-Wilhelm-Viktoria-Volksheilstätte für weibliche Lungenkranke in Landeshut eröffnet, und im Jahre 1913 mit dem Bau der Kaiser-Wilhelm-Kinderheilstätte begonnen, deren durch den Kriegs- ausbruch verzögerte Fertigstellung Landeshauptmann Freiherr von Richthofen nicht mehr erleben sollte. Seit dem 1. 1. 03 hatte Landeshauptmann Freiherr von Richt- hofen neben seinen sonstigen Amtsgeschäften auch die Leitung der Landesversicherungsanstalt Schlesien übernommen, und auch hier die großen den Landesversicherungsanstalten obliegenden Aufgaben zum Segen der arbeitenden Bevölkerung Schlesiens erfolgreich durchgeführt. Auch hier durfte er die Fertigstellnug eines großen, von ihm begonnenen Wer- kes, des Genesungsheims Buchwald, nicht mehr erleben. Unumschränkte Dankbarkeit und aufrichtige Verehrung der Schle- sier aller Stände lohnte dem Verstorbenen seine treue Pflichterfüllung. Er war einer der wenigen Männer, von dem man sagen kann, daß er keinen Feind hatte, sondern allerwärts die wohlverdiente Anerkennung fand. Sein König zeichnete ihn durch Verleihung des Kronenordens IH. Klasse und des Roten Adlerordens III. Klasse aus. Außerdem war er Rechtsritter des Johanniterordens. | Vorbildlich war sein Familienleben. Seit dem 17. 10. 1893 war er vermählt mit Hedwig Freiin von Rotenhan a. d. H. Rentweinsdorf in Bayern, geboren am 14. 5. 1375. Der Ehe sind 4 Söhne und 2 Töchter entsprossen. Die drei ältesten Söhne folgten bei Kriegsbeginn dem Rufe des Königs. Der Heldentod seines dritten Sohnes war der letzte Nekrologe. 27 Schmerz des Verstorbenen. Der älteste Sohn, der gleichfalls sein Leben für das Vaterland gelassen hat, folgte seinem Vater in die Ewigkeit nach. Trotz seiner großen dienstlichen Arbeitslast und seiner reichen Be- tätigung in Werken der Nächstenliebe — meist an leitender Stelle — fand Freiherr von Richthofen Zeit, sich der Bewirtschaftung der heimatlichen Scholle zu widmen, an der er mit großer Liebe hing, und die er verbesserte und durch Zukauf vergrößerte. Neben dem von seinem Vater im Jahre 1878 ererbten Rittergut Ober-Faulbrück, Kreis Reichen- bach, erwarb er im Jahre 1882 von einem Bruder das Rittergut Thomas- waldau, Kreis Striegau, und im Jahre 1912 das Rittergut Striegelmühle, Kreis Schweidnitz. Freiherr von Richthofen ist ein Opfer seiner Pflichttreue ge- worden. Da seine amtlichen Pflichten ihm es nicht gestatteten, ins Feld zu ziehen, widmete er sich mit der gleichen Pflichttreue, mit der er alles anfaßte, der Sorge für die Daheimgebliebenen und für die Kriegsver- letzten. Schon schwer krank trat er an die Spitze des in Schlesien ge- gründeten Ausschusses für Kriegsverletztenfürsorge. In der schweren Kriegszeit, in der es ‘auf die Arbeitskraft jedes einzelnen Mannes an- kommt, konnte er sich nicht entschließen, seine dienstlichen und die vielseitigen freiwillig übernommenen Pflichten auch nur zeitweise zu- rückzustellen und auswärts Heilung zu suchen für ein chronisches Leiden, mit dem er schon längere Zeit zu kämpfen hatte. Das Leiden verschlimmerte sich plötzlich in bedrohlicher Weise und nach nur kurzem Krankenlager entschlief Freiherr von Richthofen am Abend des 13. 4. 1915. Nachdem am 16. 4. 1915 an der Stätte seiner langjährigen Arbeit, im Landeshause zu Breslau eine Trauerfeierlichkeit stattgefunden hatte, erfolgte die Beisetzung am Tage darauf in der Familiengruft in Faulbrück. v. Busse. Am 11. Oktober 1915 ist der juristische Syndikus der Breslauer _ Handelskammer, Prof. Dr. Riesenfeld im Alter von 47 Jahren verstorben. Conrad-Ernst Riesenfeld wurde am 19. August 1868 in Münsterberg als Sohn eines Arztes geboren; er besuchte von 1874 bis Michaelis 1886 das Johannes-Gymnasium in Breslau, studierte nach Er- langung des Zeugnisses der Reife an den Universitäten Berlin, Breslau und Heidelberg Rechts- und Staatswissenschaften, bestand am 24. Mai 1890 das Referendarexamen, war im juristischen Vorbereitungsdienst in Breslau und Zobten tätig und legte am 6. März 1895 die zweite juristische Staats- 2383 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. prüfung ab; während seiner Referendarzeit wurde er am 15. November 1890 von der juristischen Fakultät der Universität Breslau zum Doktor promoviert. Als Assessor versah er bis Ende 1896 Hilfsrichterstellen in Breslau und Liegnitz und trat am 3. Januar 1897 in die Verwaltung der Breslauer Handelskammer über, in der er bis zu seinem Lebensende als juristischer Syndikus und Börsensyndikus tätig war. Nebenamtlich bekleidete er vom 31. August 1903 ab das Amt eines Lektors für „Land- wirtschaftliche Handelskunde“ an der Universität Breslau; unmittelbar vor Kriegsausbruch trat er infolge seines geschwächten Gesundheits- zustandes von diesem Amte zurück. Am 21. März 1908 erhielt er den Professor-Titel. Jedem, der Riesenfeld in der Zeit seiner Vollkraft kennen lernte, traten besonders drei Eigenschaften entgegen: ein scharfer, juristischer Verstand, eine unversiegbar erscheinende Arbeitsfreudigkeit und ein aus- geprägtes Pflichtgefühl. Je schwieriger ihm eine Frage erschien, um- somehr fesselte sie ihn, und er konnte sich nicht genug daran tun, den ganzen Stoff bis in alle Einzelheiten auf das eingehendste durchzu- arbeiten und seine Ergebnisse in logischen Gedankengängen zu ent- wickeln. Diese Eigenschaften drängten ihn frühzeitig zur selbständigen wissenschaftlichen Tätigkeit auf dem Gebiete der Rechtswissenschaft hin. Seine Erstlingsarbeit, die von der Juristischen Fakultät preisgekrönt und als Doktorarbeit angenommen wurde, behandelte die „Verschollenheit und Todeserklärung“ (Breslau 1891 Wilhelm Köbner). Von seinen sonstigen Arbeiten aus der Zeit seiner Tätigkeit im Gerichtsdienst sind besonders folgende hervorzuheben: Der Zivilmäkler (Berlin 1892/93. Aus Gruchots „Beiträgen zur Erläuterung des deutschen Rechts“, heraus- gegeben von Rassow-Küntzel-Eceius, 36. und 37. Jahrgang Seite 210). Das besondere Haftpflichtrecht der deutschen Arbeiterversicherungs- gesetze (Berlin 1894 Siemenroth & Worms). Der Kollektiv-Vorstand (Berlin 1895. Aus ,„Monatsschrift für Handelsrecht und Bankwesen“ herausgegeben von Dr. Holdheim. IV. Jahrgang Nr. 7-9). Der Gruben-Kollektiv-Vorstand (Berlin 1895. Aus Gruchots „Beiträgen zur Erläuterung des deutschen Rechts“, herausgegeben von Rassow - Küntzel - Eceius. 39. Jahrgang Seite 40). Reichsunfall- versicherung und Individualhaftung (Leipzig 1895. Aus „Zeitschrift für Versicherungsrecht und -Wissenschaft“ Band D. Die Über- tretung des S 61 Abs. I der Betriebsordnung für die Haupteisenbahnen Deutschlands (Bresiau 1896. In „Eisenbahnrechtliche Entscheidungen und Abhandlungen, Zeitschrift für Eisenbahnrecht‘“, herausgegeben von Dr. Georg Eger, XII. Band). Zum Rückgriff der Berufsgenossenschaften gegen Haftpflichtschuldner (Berlin 1896. In „Die Arbeiterversorgung‘“, herausgegeben von Dr. P. Honigmann, XIII. Jahrgang Nr. 19/20). Das Nekrologe., 29 neue Schwedische Aktiengesetz von 1895 (Berlin 1896. Aus „Monats- schrift für Aktienrecht und Bankwesen‘“, herausgegeben von Dr. Hold- heim, V. Jahrgang Nr. 9—12). Die Versicherungsaktiengesellschaft im Lichte der modernen Gesetzgebung unter besonderer Rücksicht auf Schweden und Norwegen (Straßburg 1897. E. Baumgartner). Die neue Dänisch-Norwegische Verjährungs-Gesetzgebung (Berlin 1897. Aus „Monatsschrift für Handelsrecht und Bankwesen‘“, herausgegeben von Dr. Holdheim. VI. Jahrgang Nr. 7—9). Entwurf zu einem Gesetze über Versicherungsgesellschaften für das Königreich Norwegen (Straßburg i. E. 1897. E. Baumgartner). Die eingehende Beschäftigung mit handels- und gewerberechtlichen Fragen gaben zu seinem Übertritt in die Verwaltung der Handelskammer Anlaß. Hier fand er ein fruchtbares Feld für seine Neigungen und Ar- beiten. Fast noch mehr als die Begutachtung von Gesetzentwürfen, die einen Hauptteil der Tätigkeit einer Handelskammer von der Bedeutung der Breslauer ausmacht, fesseite ihn die Beschäftigung mit Einzelfragen aus dem Gebiete des Handels- und Gewerberechts, die ihm bei seiner amtlichen Tätigkeit aufstießen und einer weiteren Klärung zu bedürfen schienen. Fast unübersehbar ist die Zahl der Berichte, die er zur Klärung solcher Fragen im Auftrage der Handelskammer ausarbeitete, und eine große Reihe seiner Untersuchungen wurden in größeren selb- ständigen Veröffentlichungen niedergelegt. Hiervon sind folgende zu erwähnen: Die Registerpflicht der Kursmakler. (Berlin 1898. Aus „Monatsschrift für Handelsrecht und Bankwesen‘“, herausgegeben von Dr. Holdheim, VII. Jahrgang Nr. 1). Die Mitwirkung der Handelsvor- stände bei der Gründungsprüfung von Aktiengesellschaften nach dem neuen Handelsgesetzbuche. (Leipzig 1898. Aus „Zeitschrift für Aktien- gesellschaften‘“‘, herausgegeben von Syndikus Bauer, V. Jahrgang Nr. 6). Die Mitwirkung des Gerichts bei der Prüfung des Gründungshergangs von Aktiengesellschaften nach künftigem Rechte. (Leipzig 1898. Aus „Zeitschrift für das gesamte Aktienwesen“, VII. Jahrgang Nr. 4). Stimmrechtsverschiedenheit bei Stamm- und Vorzugsaktien. (Leipzig 1898. Aus „Zeitschrift für das gesamte Aktienwesen“, VIII. Jahrgang Nr. 10 und 11). Begriff der „Ersten Jahresbilanz“. (Berlin 1898. Aus „Beiträge zur Erläuterung des deutschen Rechts‘ herausgegeben von Rassow-Küntzel-Eceius, Band 42). Zum Entwurfe eines Obligations- gesetzes. (Frankfurt a. M. 1898. Im Frankfurter „Aktionär“. 45. Jahr- gang Nr. 2571—2574). Der Entwurf eines Reichs-Hypothekenbank- gesetzes (Frankfurt a. M. 1898. Im Frankfurter „Aktionär“, 45. Jahr- gang Nr. 2577—2579). Kaufmannseigenschaft und Eintragungspflicht der Kommunalverbände (Berlin 1898, Aus „Preußisches Verwaltungs- blatt“ XX. Jahrgang Nr. 11). Firmenschutz und Eingemeindung (Berlin 30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. 1898. Aus „Gewerblicher Rechtsschutz und Urheberrecht“, IH. Jahr- gang Nr. 11). Der Einfluß des neuen Aktienrechts auf die Statuten der bestehenden Gesellschaften (Berlin 1899. Weidmannscher Verlag). Der Begriff „offener Laden“ (Berlin 1900. Aus „Preußisches Verwaltungs- blatt“, XXI. Jahrgang Nr. 33). Die Anstellung von Handels- und Schiff- fahrts-Sachverständigen (Berlin 1902. Weidmannscher Verlag). Am be- kanntesten von seinen wissenschaftlichen Arbeiten auf diesem Gebiete ist aber wohl die Sammlung der von der Handelskammer auf Anfragen von Gerichten festgestellten „Breslauer Handelsgebräuche“, die zum ersten Male im Jahre 1900 anläßlich des fünfzigjährigen Bestehens der Handelskammer herausgegeben und später durch zwei Nachträge vom Jahre 1906 und 1911 ergänzt worden ist (Breslau, J. U. Kerns Verlag). Diese Sammlung hat sich nicht nur für die Angehörigen des Handels- und Gewerbestandes, sondern auch für die Gerichte und Rechtsanwälte als ein äußerst nützliches und brauchbares Hilfsmittel erwiesen und auch den Forschern auf den Gebieten der Rechts- und Handelswissenschaften, sowie der Wirtschaftslehre sehr erwünschte Aufklärungen gegeben und auf allen Seiten die verdiente Anerkennung gefunden. Von seiner sonstigen amtlichen Tätigkeit auf dem weitverzweigten Arbeitsgebiete der Handelskammer sind besonders drei Gebiete hervor- zuheben: die innere Verwaltung der Handelskammer, die Börsenverwal- tung und das kaufmännische Bildungswesen. Auf dem Gebiete der inneren Verwaltung ist als das Werk Riesenfelds, welches mit der Geschichte der Bresiauer Handels- kammer untrennbar verbunden sein wird, die Erweiterung des Verwal- tungsbezirkes der Handelskammer zu erwähnen. Bis zum Amtsantritt Riesenfelds umfaßte die Breslauer Handelskammer, entsprechend dem damals überwiegenden Charakter Breslaus als Großhandelsplatz, lediglich den Stadtkreis Breslau. Das Wachstum der Stadt führte in Verbindung mit der zunehmenden Industriealisierung zu der Verpflan- zung einer Reihe gewerblicher Betriebsstätten in das Weichbild der Stadt und schuf zwischen dem Landkreise Breslau und der Provinzial-Haupt- stadt immer engere wirtschaftliche Beziehungen. Alsbald nach seinem Dienstantritt setzte sich Riesenfeld die Aufgabe, entsprechend den veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen den Landkreis dem Verwal- tungsbezirk der Handelskammer anzugliedern. Erst im Jahre 1903 ge- lang ihm die Ausführung dieses Werkes. Im Anschluß daran setzte er sich eine weitergehende Erweiterung des Bezirkes auf den ganzen Re- gierungsbezirk Breslau, soweit er das Flachland umfaßt, zum Ziel. Im Jahre 1911 wurde der Bezirk der Handelskammer auf 13 weitere Kreise, darunter den Stadtkreis Brieg, ausgedehnt. Dieser Erfolg war haupt- sächlich das Verdienst Riesenfelds, und der Tag, an dem die Be- Nekrologe, öl zirkserweiterung festlich begangen wurde, bedeutete wohl den Höhe- punkt seines amtlichen Schaffens. Ein weiteres Sondergebiet seiner Tätigkeit war die Börsenverwal- tung, die ihm in seiner Eigenschaft als Syndikus der Börse und ihrer Organe oblag; eine weitere Vertiefung seiner Erfahrungen auf diesem Gebiete wurde ihm durch sein Nebenamt als Justitiar der „Breslauer Bankier-Vereinigung“, durch besondere Aufträge der Handelskammer, insbesondere bei der Revision des Gründungshergangs von Aktiengesell- schaften, schließlich auch durch seine wiederholte Berufung zu dem Amte eines Schriftführers des Deutschen Bankiertages ermöglicht. Die Orga- nisation der Breslauer Börse in ihrer gegenwärtigen Form ist sein Werk. Weiter interessierte sich Riesenfeld in seiner amtlichen Tätig- keit besonders für die Ausgestaltung des kaufmännischen Bildungs- wesens, mit dem er in seiner Eigenschaft als Mitglied der Schulvorstände verschiedener Fortbildungsschulen in enger Verbindung stand. Vor allem setzte er sich die Schaffung von Bildungsgelegenheiten zum Zwecke einer vertieften wissenschaftlichen Ausbildung der in höherer Stellung befindlichen Kaufleute auf dem Gebiete der Wirtschafts- und Handels- wissenschaften zur Aufgabe. Die Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts gesicherte Begründung der Technischen Hochschule in Breslau drängte darauf hin, zugleich mit dieser Aufgabe die Lösung von zwei anderen wiehtigen Aufgaben anzustreben, der wirtschaftlichen Düurchbildung der die Technische Hochschule besuchenden Studenten und der Heranbildung von Handelslehrern. Riesenfeld gelangte zu dem Vorschlage, von der Errichtung einer selbständigen Handelshochschule abzusehen und handels- und gewerbewissenschaftliche Kurse an der Technischen Hoch- schule ins Leben zu rufen, die in gleicher Weise auf die Bedürfnisse der Kaufleute, wie der Techniker und der angehenden Handelslehrer zu- geschnitten sein sollten. Für diesen Vorschlag gelang es ihm, nicht nur die Handelskammer, sondern auch weitere andere Kreise zu interessieren. Es war für ihn eine schwere Enttäuschung, daß er die Ausführung dieses Projektes trotz aller Arbeit nicht mehr erleben konnte. Mit um so grö- ßerer Befriedigung erfüllte es Riesenfeld, daß er infolge seiner Be- rufiung zum Lektor für „Landwirtschaftliche Handelskunde“ an der Universität Breslau Gelegenheit erhielt, seine reichen Erfahrungen auch dem Nachwuchs dienstbar zu machen und kaufmännisches Wissen in landwirtschaftlichen Kreisen zu verbreiten, damit gleichzeitig eine engere Verbindung zwischen der Landwirtschaft und dem Handel herbeizu- führen. Über die für seine Lehrtätigkeit maßgebenden Gesichtspunkte hat er sich besonders in zwei Schriften ausgelassen: Grundzüge einer „Landwirtschaftlichen Handelskunde“, mit Ausblicken auf ihre Ent- wickelung zu einer allgemeinen „Gewerbelehre des Landbaues“ (Berlin 32 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Culiur 1904. Paul Parey) und „Was muß der Landwirt von dem geschäftlichen Verkehr mit den Banken wissen?‘ (Berlin 1906. Paul Parey). Neben seinen amtlichen Aufgaben wandte Riesenfeld seine ständige Aufmerksamkeit der Entwickelung der juristischen Wissen- schaft zu. Zeugnis von dem Eifer, mit dem er die literarische Fort- entwickelung verfolgte, legen u. a. seine zahlreichen Besprechungen juristischer Werke, die für den Kaufmann irgendwie von Interesse sein können, in den amtlichen „Mitteilungen der Handelskammer“ ab. Im kräftigsten Mannesalter ist Riesenfeld aus seinem umfang- reichen Wirkungskreise durch ein schweres Leiden herausgerissen wor- den, das seine Schatten schon mehrere Jahre vorher geworfen und Riesenfeld in seiner Arbeitsfähigkeit und -freudigkeit geschwächt hatte. Ein Leben, das in der Hauptsache der Arbeit gewidmet war, für den Genuß wenig Zeit fand und Erholung außer durch Reisen vornehm- lich im Schoße der Familie suchte, ist damit zu Ende gegangen. So manche Arbeit von ihm wird aber für die Zukunft fortbestehen, und so manche der von ihm gegebenen Anregungen wird erst in der Zukunft Früchte tragen. Seine Lebensarbeit war der Handelskammer gewidmet. Was er auf diesem Gebiete geschaffen hat, ist von dem Präsidenten der Handelskammer, Geheimrat von Eichborn in einer Ansprache in der Handelskammer gewürdigt worden, welche in der Versicherung gipfelte, daß die Handelskammer diesem treuen gewissenhaften Mitarbeiter und Förderer jederzeit ein treues und dankbares Andenken bewahren werde. Und nicht minder kommt sein Wirken und die Wertschätzung seiner Persönlichkeit in dem Nachruf der „Breslauer Bankier-Vereinigung“ zum Ausdruck, in dem es heißt: „Wie in allen seinen Ehrenämtern, hat der Verstorbene auch für die Förderung der Interessen unserer Vereinigung seine besten Kräfte eingesetzt und sich in Treue als ein wahrer Freund unserer Bestrebungen erwiesen. Sein Gerechtigkeitsgefühl und die Lauterkeit und Vornehmheit seiner Gesinnung, welche die Grundzüge seines Wesens bildeten, haben ihm das Vertrauen und die Verehrung aller rworben, die ihn kannten.“ Z. erworben, die ihn kannte Dr. Freymark. Am 2. November 1915 verschied Prof. Dr. Gregor Sarrazin, der unserer Gesellschaft seit dem Jahre 1900 angehörte und seit der Be- gründung der neuphilologischen Sektion deren Sekretär für die anglistische Abteilung gewesen ist. Er wurde am 13. Mai 1857 zu Grätz in der Provinz Posen geboren. Sein Vater war Gutsbesitzer, und er entstammte einem Geschlecht, das aus Westfalen im Anfang des vorigen Jahrhunderts eingewandert, dort schnell zu umfangreichem Besitz an Grund und Boden gelangte. Auch Nekrologe. 33 Gregor Sarrazin hing mit leidenschaftlicher Liebe am vater- ländischen Boden. Sein fortdauerndes Interesse für den Landbau zeigte noch in den letzten Jahren der anziehende Vortrag über „Shakespeare als Landmann‘ den er in der Versammlung der Shakespearegesellschaft in Weimar im Jahre 1912 hielt. Seine wissenschaftlichen Anlagen aber zogen ihn von der praktischen Tätigkeit des Vaters hinweg. Nach kurzem Rasten wendete er sich dem Studium der Philologie zu. Er studierte in Leipzig, Breslau, Tübingen und vor allem in Berlin, wo Müllenhoff und Scherer seine besonderen Lehrer wurden, und pro- movierte im Jahre 1879 mit einer Abhandlung über das mittelhoch- deutsche Gedicht Wigamer. Schon diese Arbeit zeigte die Art der Pro- bleme, die ihn vor allem anzog, und die Methode stilistischer Unter- suchung, welche er auch in der Folge mit besonderer Liebe pflegte. Die Studienjahre Sarrazins fielen in die Zeit, in welcher sich aus der Germanistik die englische Philologie als eigene ‚Wissenschaft losrang. Sein Interesse gehörte schon frühzeitig der englischen Dichtung. Jetzt betrieb er unter Kölbings Leitung eingehende anglistische Studien, die ihn im Jahre 1882 zur Habilitation als Privatdozent der englischen Philologie an der Universität Marburg führten. Im Jahre 1884 siedelte er nach Kiel über, wurde dort 1889 Extraordinarius, 1899 Ordinarius. 1900 wurde er an unsere Breslauer Universität vesetzt. Die erste größere Frucht seiner anglistischen Tätigkeit war die Ver- öffentlichung des mittelenglischen Gedichtes Octavian im Jahre 1885. Bald darauf betrat er die beiden Gebiete, welche er bis in die letzten Jahre als sein spezielles Arbeitsfeld betrachtet hat und auf denen er Autorität in Deutschland geworden ist: Keiner, der sich wissenschaftlich mit angelsächsischer Epik oder mit Shakespeare beschäftigt, kann bei Sarrazins Arbeiten auf diesen beiden Gebieten vorübergehen. Seine Beowulfstudien, 1888, und sein letztes größeres Buch: Von Kädmon bis Kynewulf, 1913, bezeichnen eine fünfundzwanzigjährige tiefeindringende Beschäftigung auf dem erstgenannten Felde. Die zusammenfassende Ge- schichte der angelsächsischen Dichtung, die das Werk seines Lebens werden sollte, ist leider nicht mehr zur Ausführung gelangt. Die Ergebnisse seiner Shakespearestudien hat er vor Allem in seinen beiden ausgezeichneten Büchern: Shakespeares Lehrjahre, 1897, und: Aus Shakespeares Meisterwerkstatt, 1906, niedergelegt. Aber schon seine Arbeit über den älteren Zeitgenossen des Dichters: Über Thomas Kyd und seinen Kreis, 1892, gehörte hierher. Seizıe eindringende Kenntnis der Werke Shakespeares machte ihn zum gegebenen Neuarbeiter des altberühmten Schmidtschen Shakespeare- 1915. 3 34 Jahresbericht der Schles, Gesellschaft für vaterl. Cultur. lexikons. Die 3. Auflage erschien 1902 mit einem umfangreichen Supple-- ment von seiner Hand. Doch nicht nur die Vergangenheit Englands und seiner Literatur fesselte ihn. Fast alljährlicher Aufenthalt in Großbritannien und engste persönliche Verbindung mit England hatte ihn zu einem vorzüglichen Kenner von Land und Leuten jenseit des Kanals gemacht. Eine Anzahl wertvoller und fesselnd geschriebener kleinerer Aufsätze: Keltische Renaissance in der neuesten englischen Literatur (Internationale Monats- schrift 1913), der Imperialismus in der neueren englischen Literatur (ebenda 1915) u. a., zeigen seine Vertrautheit mit den verschiedensten Seiten englischer nationaler Entwickelung. Als besonders anziehend und für das Interesse Sarrazins auch an deutscher Literatur bezeichnend sei aus den kleineren Aufsätzen noch die Frucht einer wallischen Reise hervorgehoben: Ein englisches Urbild für Goethes Faust, 1911. Sarrazin weist dort in überzeugender “Art nach, daß Goethe das landschaftliche Vorbild für das großartige Finale des Faust, das von Faust geschaffene Neuland (letzter Akt des I. Teils) in den landgewinnenden Arbeiten W. A. Madocks’ im nördlichen Wales fand, Arbeiten, die Goethe durch die „Briefe eines Verstorbenen“ des Fürsten Pückler kennen gelernt hatte. Sarrazin besaß ein warmes Verständnis für Alles, was an der englischen Kultur als trefflich und groß anzuerkennen ist. Aber er war auch nicht blind gegen ihre Einseitigkeiten und gegen englische Selbst- sucht, und er sah die Gefahren wohl, welche uns aus Englands steigern- der Eifersucht erwuchsen. Der ausbrechende Krieg mit allem Lug und Trug, den gerade England gegen das von Sarrazin mit mannhafter Leidenschaft geliebte Vaterland über die Welt ausgoß, hat ihn aufs Tiefste erschüttert. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn man dem Krieg eine Beschleunigung seines so frühen Todes zur Last legt. Als Lehrer hat er sich durch seine höchst anregenden und außer- ordentlich gewissenhaften, auch in der Form vollendeten Vorlesungen und Übungen, wie durch sein warmherziges Eingehen auf alle Interessen seiner Hörer und Hörerinnnen, deren innige Liebe und Verehrung ge- wonnen, die bei seinem Tode vielfachen, bewegenden Ausdruck ge- funden hat. Seine Persönlichkeit kann nicht besser gezeichnet werden als durch den Nachruf, den ihm Rektor und Senat unserer Universität widmeten: „Die hohe Lauterkeit seiner Gesinnung, die stille Vornehmheit seines Charakters, die schlichte Liebenswürdigkeit seiner Umgangsformen, die gewinnende Bescheidenheit seines Wesens sichern ihm über das Grab hinaus das liebevolle dauernde Andenken seiner Kollegen, sowie die freundschaftliche Hochachtung aller, die ihm näher standen! C. Appel. Nekrologe. 35 Oskar Emil Paul Theodor Schönborn wurde am 25. August 1836 in Glogau geboren, wo sein Vater als Handwerker und Hausbesitzer an- sässig war. Den Gymnasialunterricht genoß er in seiner Vaterstadt. Ostern 1857 bezog er nach bestandener Reifeprüfung die Universität Breslau, um katholische Theologie, Germanistik und Geschichte zu studieren. Nach der Priesterweihe wirkte er eine Zeitlang als Haus- lehrer und war auch als Weltgeistlicher in der Seelsorge tätig. Im Herbst 1861 wandte er sich nach Münster und setzte an der dortigen Akademie seine philologisch-historischen Studien fort. Zum Abschluß brachte er sie durch die Erwerbung der philosophischen Doktorwürde am 17, Juli 1866 auf Grund der Schrift: „De causa et lite decumana inter Thuringos et archiepiscopos Mongontinos“ und durch die Ablegung des Examen pro facultate docendi am 4. Dezember 1867. Nun kehrte er in die Heimatprovinz zurück und leistete von Neujahr bis Michaelis 1868 am Gymnasium in Oppeln sein Probejahr ab. Die nächsten 2!’ Jahre sehörte er dem Kgl. Matthiasgymnasium zu Breslau als wissenschaft- licher Hilfslehrer an, wobei er anfangs zugleich ordentliches Mitglied des staatlichen Pädagogischen Seminars für gelehrte Schulen war. Um Ostern 1871 trat Schönborn zum evangelischen Bekennt- nis über. Seine dienstliche Wirksamkeit verlegte er gleichzeitig an die städtische Realschule erster Ordnung (das jetzige Gymnasium und Real- gymnasium) 'zum heiligen Geist in Breslau. Hier hat er zunächst als wissenschaftlicher Hilfslehrer, dann von Michaelis 1871 an als ordent- licher Lehrer, später als Oberlehrer und Professor 31 Jahre lang gewirkt. In dem Lehrkörper der Anstalt war er mit seiner Milde und Herzens- güte stets ein die Gegensätze versöhnendes Element. Neben seiner schulamtlichen Tätigkeit beschäftigte er sich gern auch wissenschaftlich, bis ihn im Alter die zunehmende Schwäche seiner Augen die Freude eigenen literarischen Schaffens raubte. Seiner Schule lieferte er im Jahre 1873 eine Programmbeilage ‚Über den Ursprung der Naturpoesie“ und im Jahre 1899 einen Beitrag für die Festschrift zum 50jährigen Bestehen der Anstalt: „Humanismus und Realismus im höheren Unterrichtswesen.‘“ „Das höhere Unterrichtswesen in der Gegen- wart‘ behandelte er 1885 in Holzendorffs „Deutschen Zeit- und Streit- fragen“ Heft 216. Seine übrigen Arbeiten liegen teils auf dem Gebiete der schlesischen Geschichte, teils auf dem der Volkswirtschaftslehre. Er- wähnt seien unter anderem die „Chronik Michael Steinbergs“, heraus- gegeben 1878 für den Verein für Geschichte und Altertum Schlesiens (in Seriptores rerum Silesiacarum XI.), „Schlesiens Kriesskosten in den Türkenkriegen von 1661 bis 1664“ und ‚Die Standesherrschaft Warten- berg im Besitz des Herzogs Biron von Kurland und des Feldmarschalls Münnich 1741—64“ in der „Zeitschrift des Vereins für Geschichte und 36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Altertum Schlesiens‘“ 1878 und 1879, „Ursprung und geschichtliche Ent- wiekelung des Sparkassenwesens in Europa“ in Schmollers „Jahrbuch für Gesetzgebung“ Bd. VII, „Die Wirtschaftspolitik Österreichs in Schlesien im 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts“ in Conrads „Jahr- büchern für Nationalökonomie“ 1884, „Der Deutsche Handel in seiner Entwickelung und Organisation“ in Hirth und Seidels „Annalen des Deutschen Reiches“ 1886, sowie eine Anzahl Abhandlungen in der „Bayerischen Handelszeitung‘ 1882—87. Am 1. April 1902 trat Schönborn in den Ruhestand. Über 13 Jahre war es ihm noch vergönnt, sich der Muße des Alters zu er- freuen, stets in freundlichen Beziehungen zu dem Lehrkörper seiner alten Schule, deren Geschicke er mit aufrichtiger Anteilnahme begleitete. Jahrzehntelange Freundschaft verband ihn auch mit den schlesischen Geschichtsforschern Grünhagen und Markgraf. Mit seiner Gattin, der Tochter eines seiner Kollegen, des am 24. April 1873 gestorbenen Prorektors und Universitätsprofessors Dr. Marbach, machte er noch schöne Reisen. So konnte er z. B. Italien viermal besuchen und sich den lange gehegten Wunsch erfüllen, Paris zu sehen. Am 27. August 1915, bald nach seinem Eintritt in das achtzigste Lebensjahr, wurde er nach kurzer Krankheit heimberufen. ß : Reißert. Am 11. März starb Pastor prim. Herrmann Schwartz. Er war ein Breslauer Kind. Geboren den 11. Oktober 1841 besuchte er das Gymnasium von St. Maria Magdalena bis 1863, studierte an der hiesigen Universität Theologie und wurde am 30. Oktober 1872 in der Kirche ordiniert, der er fast während seiner ganzen Amtszeit dienen sollte, in St. Maria Magdalena. Eine kurze Zeit war er Pfarrvikar in Neustadt O/S., wo er die evangelische Diaspora kennen lernte, deren Interessen und Nöten er sein Leben lang eine liebevolle Aufmerksamkeit widmete. Es folgt dann eine zweijährige Wirksamkeit als Lektor (Hilfsprediger) bei St. Elisabeth vom 1. Januar 1873 bis 1. April 1875. Dann wurde er vom Magistrat zum Diakonus der Haupt- und Pfarrkirche von St. Maria Magdalena gewählt und durchlief hier in fast 40 jähriger Amts- tätigkeit alle Stufen bis zum Pastor primarius 1909. Die treue, fleißige Arbeit, die er allezeit seiner Gemeinde widmete, die biedere, echt mensch- liche Art, die ihn auszeichnete, die fern von jeder Überhebung sich immer anspruchslos gab, dazu ein gesunder Humor in allen Lebenslagen gewannen ihm ungezählte Freunde in den Gemeinden der Stadt, bei Hoch und Niedrig, Arm und Reich. An seiner Seite stand ihm seine treue Gattin, gleichfalls eine Breslauerin. Im Juni 1909 wurde er ins Primariat als Nachfolger von Heinrich Klüm gewählt und leitete die Nekrologe. 37 Gemeinde bis zu seinem Tode. Außer der großen Arbeit an derselben widmete er sich noch dem Erziehungsverein für hilflose Kinder und an- deren Vereinen, vor allem aber gehörte seine Liebe dem Gustav-Adolf- Verein. Den Breslauer Zweigverein leitete er mehr als 3 Jahrzehnte. Den Frauen- und Jungfrauen-Verein dieser Stiftung, dessen Seele er war, brachte er zu hoher Blüte. Bei den Tagungen des Schlesischen Hauptvereins war er der gegebene Berichterstatter für die Bestimmung der großen Liebesgabe; er kannte die Diaspora-Gemeinden zum größten Teil aus eigener Anschauung; seine Referate galten wegen der Sachlich- keit und wegen seines prächtigen in sie hineingeflochtenen gesunden Humors als die Höhepunkte der Tagungen. Die Errichtung eines Johann-Heß-Denkmals lag ihm sehr am Herzen; war es ihm doch stets ein erhebender Gedanke, auf derselben Kanzel zu stehen, auf der Bres- laus Reformator gestanden hatte. Sein Wunsch, mitten in der Arbeit abberufen zu werden, ist ihm erfüllt worden. Er starb nach kurzem Krankenlager im 74. Lebensjahre. Er war ein Mann des Friedens und der praktischen Arbeit; nicht Kampf der verschiedenen Geistesströmun- gen und Richtungen, sondern Wetteifer derselben um das Wohl der Kirche war seine Losung; sein Name und sein Wirken bleiben mit der Geschichte des kirchlichen Lebens seiner Vatrstadt eng verflochten. Pastor F. Müller. In der Nacht vom 1. zum 2. Juni 1915 ist Dr. Ludwig Tobler, ordentl. Mitglied der medizinischen Fakultät und Direktor der Kgl. Universitätskinderklinik in Breslau, plötzlich verschieden. Fine heimtückische Krankheit raffte ihn dahin. Prof. Tobler hatte seit langer Zeit eine Neigung zu Furunkulose, die aber meines Wissens nur einmal — im Herbst vergangenen Jahres — Grund zu Be- sorgnis gegeben hat. Die 'Infektion, die ihm das Leben kosten sollte, führte in überraschend kurzer Frist durch allgemeine Bakterienüber- schwemmung zum Tode. Die ärztliche Kunst, operative Eingriffe und alle sonstigen Maßnahmen erwiesen sich völlig unfähig, diesen kräftigen, durch Sport gestählten Körper in seinem Kampf wirksam zu unter- stützen. Fin solches Geschick muß tiefste Teilnahme erwecken. Brach doch ein Leben ab, das nicht zu den gewöhnlichen zählt. Wir wollen dieses Leben kurz an uns vorübergehen lassen. Ludwig Tobler wurde geboren am 2. Mai 1877 als Sohn des Germanisten Ludwig Tobler, Professors an der Universität Zürich. Er entstammte einer altzüricherischen protestantischen Familie, deren Häupter durch mehrere Generationen dem geistlichen Stande angehörten. 38 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Nachdem er 1896 in seiner Vaterstadt das Reifezeugnis erworben hatte, studierte er Medizin in Zürich, Kiel, Berlin, Zürich und legte hier im Herbst 1901 das ärztliche Staatsexamen ab. Er übernahm zunächst eine große Landpraxis in Uster bei Zürich, allerdings nur auf kurze Zeit, er- warb auf Grund einer vergleichend-anatomischen Arbeit über den Achsel- bogen des Menschen im Herbst 1902 die Doktorwürde und trat noch im selben Jahre in die Heidelberger Universitätskinderklinik bei O. Vierordt ein. Nun begann ein steiler Aufstieg. Schon im Jahre 1905 wurde ihm auf Grund wissenschaftlicher Leistungen ohne Prüfung die Approbation für das Deutsche Reich zuerkannt und hierdurch die Möglichkeit gegeben, sich noch im Herbst desselben Jahres mit Erfolg um die venia legendi für Kinderheilkunde zu bewerben. Seine Habilitationsschrift handelte über: „Die Eiweißverdauung im Magen“, seine Antrittsvorlesung über „Die neueren Methoden der Diphtheriebehandlung‘“ (unveröffentlicht). Als im folgenden Jahre sein Lehrer Vierordt plötzlich starb, wurde ihm ver- tretungsweise die Leitung der Klinik übertragen. Unter Vierordts Nach- folgern, den Professoren Feer und Moro, war er weiterhin als erster Assistent und Oberarzt der Klinik tätig. Im Juli 1911 erhielt er den Titel eines außerordentlichen Professors und bald darauf einen Ruf als Extraordinarius an die Universität Bonn. Noch während hierüber Ver- handlungen schwebten, wurde er für das Breslauer Ordinariat vorge- schlagen und im November 1911 hierhin berufen. Was die wissenschaftlichen Leistungen Toblers anbetrifft, so sei an dieser Stelle nur seiner großen Verdienste um die Physiologie und Pathologie der Magenverdauung und seiner bedeutsamen Forschungen auf dem Gebiete des Mineralstoffwechsels gedacht. Als seine wertvollste Arbeit aus neuerer Zeit betrachtete er selbst seine monographisch dar- gestellten Studien aus: „Allgemeine pathologische Physiologie der Er- nährung und des Stoffwechsels im Kindesalter“. Leider durfte er die Früchte dieser umfassend angelegten Arbeit nicht mehr ernten. Es ist charakteristisch für ihn, daß er mit besonderer Liebe klinischen Studien oblag. Seine therapeutischen Aufsätze, die er zum Teil in der Medizinischen Sektion der Schlesischen Gesellschaft für vater- ländische Cultur vorgetragen hat und deren Reihe nun leider durch seinen Tod abgebrochen wird, sprechen in einer Weise für sein ärztliches Denken und Können, daß jedes weitere Votum überflüssig ist. Er liebte die ärztliche Kunst, betrachtete sie als Kunst, verschmähte auch nicht die gerade von manchen wissenschaftlich arbeitenden Ärzten stief- mütterlich behandelte ärztliche Kleinarbeit. Nichts war ihm gering oder bedeutungslos. Mit liebevollster Sorgfalt widmete er sich der Behand- lung seiner kleinen Patienten, und er hat hier vielen und aufrichtig empfundenen Dank hinterlassen. Nekrologe. 39 Mit seiner hervorragenden Eigenschaft als Arzt verband er ein nicht gewöhnliches Lehrtalent. Seinen Vorträgen zuzuhören, war ein Genuß; alles war geordnet und alles klang leicht und mühelos. Aber hinter der fließenden Form steckte viel ehrliche Arbeit. Vor allem aber war Tobler eine in sich geschlossene Persönlich- keit. In seiner Klinik hat er vorbildlich gewirkt, er hat sein Haus nicht nur geleitet, sondern mit seinem Wesen durchdrungen. Niemand, der mit ihm in nähere Berührung kam, konnte sich seiner Persönlichkeit entziehen. Auch die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Oultur beklagt einen schmerzlichen Verlust, und sie wird nicht nur seine Mit- arbeit, sondern auch seine Persönlichkeit noch lange vermissen. Merzeichnis der Arbeiten von Professor Dr. Tobler. 1902. Der Achselbogen des Menschen, ein Rudiment des Panniculus carnosus der Mammalier. (Morpholog. Jahrb., Bd. XXX, 1902.) 1904. Disseminierte Hauttuberkulose nach akuten infektiösen Exan- themen. (Jahrb. f. Kinderheilk., Bd. LIX, 1904.) Über Pseudoaszites als Folgezustand chronischer Enteritis. (Deutsches Arch. f. klin. Med., Bd. LXXX, 1904.) Phosphaturie und Kalkariurie. (Arch. f. exper. Pathol. und Pharmakol., Bd. LXXII, 1904.) 1905. Über funktionelle Muskelhypertrophie infolge exzessiver Mastur- bation. (Monatsschr. f. Kinderheilk., Bd. III, 1905.) Über die Eiweißverdauung im Magen. Zeitschr. f. physiol. Chem., Bd. XLV, 1905.) | Die therapeutische Bedeutung der Lumbalpunktion im Kindesalter. (Korrespondenzbl. f. Schweizer Ärzte, 1905.) 1906. Über Lymphozytose der Zerebrospinalflüssigkeit bei kongenitaler Syphilis und ihre diagnostische Bedeutung. (Jahrb. f. Kinder- heilk., Bd. LXIV, 1906.) Über Kongenitale Muskelatonie (Myatonia congenita Oppen- heim). (Jahrb. f. Kinderheilk., Bd. LXVI, 1906.) Über Magenverdauung der Milch. (Verhandl. d. Ges. f. Kinder- heilk., Stuttgart 1906.) 1907. Spasmus nutans. (Krankenvorstellung im Naturhist.-med. Verein Heidelberg, Sitzung vom 22. Januar 1907.) Beobachtungen über die Zusammensetzung des Mageninhaltes bei kongenitaler Pylorusstenose. (Verhandl. d. Ges. f. Kinderheilk., Dresden 1907.) 40 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. 1908. Tobler und Bogen, Über die Dauer der Magenverdauung der Milch und ihre Beeinflussung durch verschiedene Faktoren. (Monatsschr. f. Kinderheilk., Bd. VII, 1908.) Über die Verdauung der Milch im Magen. (Ergebn. d. inn. Med. u. Kinderheilk., Bd. I, 1908.) 1909. Über die Schwefelausscheidung im Harn bei Säuglingen. (Verhandl. d. Ges. f. Kinderheilk., Salzburg 1909.) 1910. Zur Kenntnis des Chemismus akuter Gewichtsstürze. (Arch. {. exper. Pathol. und Pharmakol., Bd. LXI, 1910.) 1911. Tobler und Noli, Zur Kenntnis des Mineralstoffwechsels beim gesunden Brustkind. (Monatsschr. f. Kinderheilk., Bd. IX, 1911.) Über das Verhalten von Wasser und Kochsalz bei akuten Gewichts- verlusten. (Verhandl. d. Ges. f. Kinderheilk., Karlsruhe 1911.) Über Spätrachitis. (Verhandl. d. Ges. f. Kinderheilk., Karlsruhe 1919) Über Veränderungen im Mineralstoffbestand des Säuglingskörpers bei akuten und chronischen Gewichtsverlusten. (Jahrb. £. Kinderheilk., Bd. LXXIII, 1911.) Die Krankheiten der Urogenitalorgane (In Feers Lehrb. d. Kinderheilk.) 1912. In Gemeinschaft mit Cohnheim, Kreylinger und Weber, Zur Physiologie des Wassers und des Kochsalzes. (Zeitschr. f£. physiol. Chem., Bd. LXXVII, 1912.) 1913, Beziehungen zwischen Wasser und Salzen im Organismus. (Vortrag i. d. Schles. Ges. f. vaterländ. Cultur, Wintersemester 1912/13.) Zum Chemismus des Säuglingsmagens. (Zeitschr. f. Kinderheilk., Bd V, 1913) 1914. Tobler und Bessau, Allgemeine pathologische Physiologie der Ernährung und des Stoffwechsels im Kindesalter. (J. FE. Bergmann, 1914.) Zur Breslauer Epidemie von Erythema infeetiosum. (Vortrag i. d. Schles. Ges. f. vaterländ. Cultur u. Berliner klin. Wochenschr., 1914, Nr. 12.) Zur Behandlung der bedrohlichen Nahrungsverweigerung und Anorexie der Säuglinge. (Deutsche med. Wochenschr., 1914, Nr. 7%) Zur Behandlung des akuten Brechdurchfalls der Säuglinge. Deutsche med. Wochenschr., 1914, Nr. 10.) Die Behandlung des Erbrechens im Kindesalter. (Deutsche med. Wochenschr., 1914, Nr. 21.) Die Behandlung des akuten Infektionszustandes im Kindesalter. (Deutsche med. Wochenschr., 1914, Nr. 26.) Nekrologe. 41 1915. Zur Technik der diagnostischen Blutentnahme und der intra- venösen Injektion beim Säugling. (Monatsschr. f. Kinderheilk., Bd. XII, 1915.) Im Druck befindlich: Erythema infeetiosum. (Erscheint in den Ergebn. d. inn. Med. u. Kinderheilk.) Die Behandlung der Krämpfe im Kindesalter. (Erscheint in der Deutschen med. Wochenschr.) Bie/sesratt: Am 29. Juli verschied der Geheime Regierungsrat, Professor Dr. phil. hon. c. der Berliner Universität Max Treu, früherer Gymnasial- Direktor in Ohlau, Breslau und Potsdam in seinem 74. Lebensjahre. Schlachtensee, den 1. August 1915. So lautete schlicht und inhaltsreich, dem Wesen des Heimgegangenen entsprechend, die Anzeige der Hinter- bliebenen. Die wichtigeren Daten seines Lebens bis zu seinem Amtsantritt in Potsdam gebe ich am besten mit seinen eignen Worten (Progr. Vikt.- Gymn. Potsdam 94): Im Jahre 1842 zu Stendal in der Altmark geboren, studierte er nach dem Besuche des Gymnasiums seiner Vaterstadt in Berlin bis Ostern 1864, vollendete im November 1864 seine Staatsprüfung und war M. 64 bis M. 65 Probekandidat und Hilfslehrer zu Pyritz. M. 65 wurde er ordentlicher Lehrer, 1869 Oberlehrer. Er war angestellt M. 65 bis ©. 71 am Gymnasium zu Jauer, O. 71 bis ©. 72 am Kgl. Friedrichs- Gymnasium zu Breslau, ©. 72 bis M. 77 als Prorektor am Gymnasium zu Waldenburg. Er war Direktor des Gymnasiums zu Ohlau M. 77 bis M. 83, Direktor und 1. Professor des Kgl. Friedrichs-Gymnasiums zu Breslau M. 83 bis O0. 9. Als Treu am 1. Oktober 1907 in den Ruhestand trat und die Leitung des Viktoria-Gymnasiums zu Potsdam, die er am 1. April 1893 übernommen hatte, niederlegte, wünschte er, daß im Osterprogramm 1908 nur die Tatsache erwähnt werde; dem bestimmt geäußerten Wunsche fügte sich sein Nachfolger. So sind auch diesem Nachrufe bestimmte Grenzen gezogen. Treus eiserne Arbeitskraft hat auf wissenschaftlichem Gebiete außerordentlich viel geschaffen. Die Mußestunden der Schulzeit und die Ferien widmete er ganz der Wissenschaft. Auf weiten Reisen sammelte er reiches hand- schriftliches Material und machte manchen glücklichen Fund. Er war in Griechenland, wiederholt in Frankreich und England, sehr häufig in Italien, besonders in Florenz. Sein starker Körper schien Ermüdung nicht zu kennen und der Erholung nie zu bedürfen. Mit glücklicher 49 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Hand führte er schnell die gestellten Aufgaben zum Ziel. Sprödigkeit und Trockenheit des Stoffes überwand er mühelos, die schwierigsten Texte entzifferte er leicht und sicher. Seine Verdienste um die byzan- tinische Philologie ehrte die Universität Berlin durch die Verleihung der höchsten akademischen Würde. Seine Studien nahmen ihren Ausgang von Plutarch. Er veröffent- lichte 3 Schulprogramme: Zur Geschichte der Überlieferung von Plutarchs Moralia. I. Waldenburg 77. II. Ohlau 81. IH. Breslau Fr. G. 84. Sonst seien von den Abhandlungen aus früherer Zeit noch folgende an- geführt: De codieibus nonnullis Parisinis. Plutarchi Moralium narratio. Jauer 71. Der sogenannte Lampriascatalog der Plutarchschriften. Walden- burg. 73. Maximi Planudis comparatio hiemis et veris. Ohlau 78. Anonymi byzantini excerpta ex codice parisino suppl. gr. 607. A. Ohlau. 80. Sein Hauptwerk, die Ausgabe der Briefe des Planudes, erschien in 5 Programmen des Friedrichs-Gymnasiums, Breslau 86—90, auch als Buch, Breslau, 90. Ferner verfaßte er folgende wissenschaftliche Beilagen zu Schul- programmen: in Breslau: Nicephori Crysobergae ad Angelos orationes tres. 92. Eustathii Macrembolitae quae feruntur aenigmata. 93, eine wert- volle Abhandlung, die nach sachkundigem Urteil weit mehr ent- hält, als der Titel verspricht, vergl. Byzant. Ztschr. III. 172. in Potsdam: Dichtungen des Groß-Logotheten Theodoros Metochites. 95. (siehe Byz. Ztschr. IV. 630.) Theodori Pediasimi eiusque amicorum quae exstant. 9. Matthios, Metropolit von Ephesos. 01. Joannes Zacharias, der letzte Aktuarios. 02. Manuelis Holoboli ad Michaelem (VIII) Palaeologum orationes. „1. TE 06.07. Aus der großen Zahl seiner Arbeiten in Zeitschriften, wie Berl. philol. Wochenschrift, Deutsche Lit. Zeitung, Philologus u. a., will ich bier nur erwähnen: Philol. N. F. I 2. Sammlung alter Sprichwörter im cod. Pal. gı. 129 von Treu aufgefunden und mit Crusius gemeinsam besprochen. — Nekrologe. 43 Philologus 49 (1890), Besprechung des Codex Baroce, 68. — AeAtiov ang loropıxs nal Edvoroyinfis Erauplas is "EAdaxöos. 5. (1897), S. 197 bis 218: Ilept Eödupiov Newv Ilarpwv tod MaAaun, vergl. Byz. Ztschr. VI. 446. — Jahrb. für class. Philol. Suppl. Bd. XXVI. 1: Die Gesandtschafts- reise des Rhetors Theodulos Magistros, auch Sonderabdruck, Festschrift C. F. W. Müller, besprochen von Krumbacher, Lpz. 1900, S. 1—30. Byz. Ztschr. X 317. — Mit emsigem Fleiße beteiligte er sich durch Besprechungen und umfangreiche Arbeiten als Mitherausgeber an dem Werke der Byzan- tinischen Zeitschrift Krumbachers. Hier erschienen folgende längere Artikel: Band I. Mazaris und Holobolos. S. 86—97. Ein Kritiker des Timarion. S. 361—365. 55 II. Ein byzantinisches Schulgespräch. S. 96—105. 2 IV. Michael Italikos. S. 1—22. & V. Manuel Holobolos. S. 538—560. „ VIH. Der Philosoph Joseph. S. 1—64. „ XVII. Athanasios Chatzikes. S. 481—489. Schlachtensee. 1909. „ XIX. Eine Ansprache Tamerlans. S. 15—28. 1910. XX. Demetrios Crysoloras und seine hundert Briefe. S. 106—128. Shlele So ist Treu bis in ein hohes Alter für die Förderung der byzan- tinischen Literatur unermüdlich tätig gewesen. Wenn bei Beginn des Krieges nicht das Erscheinen der Zeitschrift eingestellt worden wäre, hätte er wohl auch noch in seinen letzten Jahren Arbeiten veröffentlicht, ehe seinem Fleiß das Ende gesetzt wurde. Manches begonnene Werk mag so unvollendet geblieben sein, wie die Herausgabe der 200 Briefe des Gregor von Cypern, die man von diesem ihrem besten Kenner er- wartete. Noch eine Seite seiner wissenschaftlichen Tätigkeit verdient besondere Hervorhebung. Seine große Fertigkeit in der Entzifferung von Handschriften stellte er mit größter Bereitwilligkeit in den Dienst der Allgemeinheit. Erwähnt seien als Beispiel die Collationen, die er zu Palaephatus machte: vergleiche G. Vitelli, I Manoscritti di Palefato, Firenze-Roma, 1893 und N. Festa, Palaephatus, Lipsiae, 1902. An der Herausgabe des Catalogus codicum Graecorum der Stadtbibliothek Breslau 1889 hatte er einen Hauptanteil. Betrachten wir nach dem Gelehrten Treu ihn nun noch als Lehrer, Beamten und Freund, so springt vor allem die Tatsache ins Auge, daß jeder sich in seiner Nähe wohl fühlte und sein Scheiden stets lebhaft bedauert wurde. Schon bei seiner Berufung von Jauer als Oberlehrer ” 44 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. nach Breslau wurde der Weggang des tüchtigen Lehrers und lieben Freundes als ein schwerer Verlust empfunden. Als er Ohlau verließ, klagte man um den verdienstvollen Leiter der jungen Anstalt, der als rechter Erzieher der Jugend auch darum sich bemüht hatte, beim Turnen und dem damals noch nicht durch den Staat geförderten Rudern in echt deutscher Art den Frohsinn zu wecken, der ein Grundzug seines eignen Wesens war. Schwer wurde uns in Breslau sein Scheiden. Im Schulbetrieb hatte er mit fester Disziplin die beste Ordnung geschaffen. Sein reiches Innenleben, das sich zuweilen in raschem Aufwallen kund gab, führte ihn schnell zu offener, versöhnender Aussprache, die jedes Mißverständnis, jede Verstimmung leicht beseitigte. Niemand zuliebe, niemand zuleide tat er unbeugsam seine Pflicht und mochte so dem einen oder andern hart erscheinen, erwarb sich damit aber den Dank der Mehrzahl. So war auch der kollegiale Zusammenhang, wie es am Friedrichs-Gymnasium bezeugt werden kann, durch ihn ein außerordent- lich harmonischer. Sein gütiges, edles Wesen zeigte sich besonders, wenn es zu helfen galt, mochte er jüngeren tüchtigen Berufsgenossen, wenn er sah, daß sie der Leitung bedurften, mit fester Hand durch Rat und Tat zum Ab- schluß ihrer Studien behilflich sein, mochte er Naturen, denen es an der rechten Willensstärke fehlte, die Wege zur sicheren Lebensstellung bahnen, oder bei schwerer Trauer mit zartem Empfinden wie ein Vater Trost spenden und zum Versenken in ernste Geistesarbeit als dem nie den Erfolg versagenden Heilmittel durch Beispiel und Antrieb hinleiten. Für die hohe Auffassung, die er von seinem Berufe hatte, zeugt am besten die Freude, mit der er sich zu den schönen Worten bekennt, die ihm kein geringerer als Wiese bei seinem Amtsantritt in Potsdam zur Begrüßung widmete: siehe Programm des Viktoria-Gymnasiums 1894. Arbeit und Erfolg, das sind die beiden Sterne, die über dem Leben dieses Verewigten leuchten. BiAel te tu xajıvovr: ouomzudeıy Yedg, dieses schöne Wort des Aeschylus, frg. 882, ein Wandschmuck der Aula des Friedrichs-Gymnasiums, hat sich auch an dem Lebenswerke dieses früheren Direktors der Anstalt bewahrheitet. Viel bewährt hat der treue Mann Vertrauen in reichstem Maße erworben und großen Segen gestiftet. Aus dankerfülltem Herzen wird ihm dieser letzte Abschiedsgruß nach- © = . Paul Wendland wurde am 17. August 1864 zu Hohenstein in Ost- preußen .als Sohn eines Geistlichen geboren und siedelte später mit seinen Eltern nach Berlin über, wo er Ostern 1882 am Sophien- gymnasium die Reifeprüfung bestand. Er studierte in Berlin und Bonn Nekrologe. 45 klassische Philologie und erhielt durch Diels und Usener die An- regungen, die für seine wissenschaftliche Arbeit maßgebend wurden. Nachdem er im Jahre 1886 in Berlin mit den Quastiones Musonianae promoviert hatte, bestand er das Staatsexamen, legte sein Probejahr ab und weilte ein Jahr zu Handschriftenstudien in Italien. Im Jahre 1891 wurde er als Oberlehrer am Köllnischen Gymnasium in Berlin angestellt, von hier Ostern 1902 als ordentlicher Professor nach Kiel und vier Jahre später nach Breslau berufen; im Jahre 1909 folgte er einem Rufe mach Göttingen und erlag am 10. September 1915 einem tückischen Leiden. Wendlands wissenschaftliche Arbeit war so einheitlich und innerlich abgerundet, wie selten die eines Gelehrten. Das aus dem Vater- hause mitgebrachte Interesse für religionsgeschichtliche Probleme war die eine, die auf der Universität empfangene Anregung zur Beschäftigung mit der hellenistischen Philosophie die andere Komponente, aus denen sich seine Arbeiten mit einer gewissen Notwendigkeit ergaben. Hatte seine Dissertation die populäre Philosophie und ihren Einfluß auf Clemens von Alexandria zum Gegenstande gehabt, so veranlaßte ihn eine Preisaufgabe der Berliner Akademie zur Beschäftigung mit Philon, den er nicht nur in Gemeinschaft mit L. Cohn, der bald nach ihm sterben sollte, herausgab, sondern auch nach den verschiedensten Seiten erläu- terte, literarhistorisch (Philon und die Diatribe. 1895), quellenkritisch (Philons Schrift über die Vorsehung. 1892) und kulturgeschichtlich (Die Therapeuten. 1896). Er beherrschte nach diesen Arbeiten die Kenntnis des jüdischen Hellenismus, und das setzte ihn in den Stand, den Aristeasbrief herauszugeben und nach den verschiedensten Seiten zu würdigen (1900). Die Verbindung philosophischer Interessen mit sicherer sprachlicher Schulung führte ihn auch zur Herausgabe dreier Bände der Commentaria in Aristotelem graeca, unter denen der 1901 veröffentlichte Kommentar des Alexander zu de sensu der wichtigste ist. Seine Haupt- arbeit auf diesem Gebiete ist das klassische Buch: Die hellenistisch- römische Kultur in ihren Beziehungen zu Judentum und Christentum (1907, 2. Aufl. 1912 erweitert durch „Die urchristlichen Literaturformen‘‘), das als die reife Frucht seiner früheren Studien bezeichnet werden darf und wohl die eigentliche Veranlassung dazu wurde, daß ihm die Theo- logische Fakultät der Universität Gießen die Würde eines Dr. theol. h. ce. verlieh. In der Tat gibt es kaum ein zweites Buch, das die Resultate der Forschungen über den Hellenismus den Theologen in ähnlicher Weise nahe brächte: völlige Beherrschung des Stoffes vereint sich hier mit der goldigen Klarheit, die alle seine Arbeiten auszeichnet. Die akademische Lehrtätigkeit führte Wendland auf ein neues Gebiet, die Literatur des 4. Jahrhunderts. Hier mußte ihn in erster 46 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Linie Platon anziehen, über den er ein abschließendes Buch zu schreiben vorhatte; erschienen ist nur ein Aufsatz über die Aufgaben der pla- tonischen Forschung (1910), der die Nichtausführung jener Absicht doppelt bedauern läßt. Daneben beschäftigte ihn die Rhetorik jener Zeit, der er in „Anaximenes von Lampsakos“ eine mustergültige Studie widmete; sie wies dem merkwürdigen Manne seinen festen Platz in der Literatur jener Zeit an und zeigte, daß man ihm die sogen. Rhetorik an Alexander mit Recht zuzuschreiben pflegt. Von hier kam er auf Isokrates und Demosthenes und begann damit, zu einer historischen Würdigung ihrer Tätigkeit und politischen Schriftstellerei den Grund zu legen. Aus der Zeit seiner Beschäftigung an der Schule hatte er sich ein lebhaftes Interesse für Fragen der Schulpraxis (z. B. den Kanon der griechischen Lektüre) bewahrt und als Vorsitzender der Hamburger Philologenversammlung im Jahre 1905 eine Aussprache über die Vorbil- dung der Lehramtskandidaten angeregt, die im Jahre 1907 in Basel statt- fand. Und noch manche andere Fäden hatte er angesponnen, als die grausame Parze seinen Lebensfaden zerschnitt. Seine Arbeiten aber, an denen nichts halbes und unfertiges ist, die stets den Nagel auf den Kopf treffen, werden fortleben, und auch das Bild des lauteren und vornehmen Menschen, dessen ganzes Leben im Dienste der Wissenschaft stand, wird bei denen, die ihn gekannt, nicht untergehen. W. Kroll. Druck von Grass, Barth & Comp. (W. Friedrich) in Breslau. re BR ” [OHREN INNLIRSN an nn ! Ask & % * h Ne we . AM x N R N ‘ ' 4 Y } N j , " AN va R " N L f R \ i \ M 5 . } hi : t j t i { rt, f x x < . 3 x 5 { FR ® f } ”. } R 3,03 nR / 5 Rabe 3 | R 3 ) N 2 s Fe v 5 a e A ' » An ) Re | f \ NA R ' 2 5 ? hi Se \ Hi i N j \ SA BEUH 1 RR EREN, \ 3, ® a ii 1.08 N i 3 run USER } x sämtlicher m uk Schles Gele für vaterl DK Einzelne Schriften. Zwei Beden, gehalten von dem Reg.-Quartiermstr. Müller und P > des Stiftungstages der Gesellschaft zur Beförderung der ie am 17. Dezember 1804. 8%. 48 Seiten, An die Mitglieder der Gesellschaft zur- Beförderung der Naturkunde un sämtliche Schlesier, von Rector Reiche, 1809. 8. 328. x Oeffentlicher Aktus der Schles. Gesellschaft 2 vaterl. er | ihres ee ar 80, 40 S. 3 Denkschrift der Schles. Gesellschaft zu ihrem 50Jähr. Bestehen; enfhal Gesellschaft und Beiträge zur Natur- und Geschichtekunde j Tafeln. 4%, 282 8. RE Dr. J. A. Hoennicke, Die inersigvellen der Provinz Schlesien, 18. FE x Dr. J. G. Galle, Grundzüge der schles, Klimatologie, 1857. 4. 127 8. Ba Dr. J. Kühn, Die zweckmäßigste Ernährung des Rindviehs, 1859. 3 212 Ss Dr. H. Lebert, Klinik des akuten Gelenkrheumatismus, Gratulationsschrift Jubiläum des Geh. San.-Rats Dr. Ant. Krocker, Erlangen 1860, 8%. 1998. Dr. Ferd. Römer, Die fossile Fauna der silurischen ee von Sadewitz | Schlesien, mit 6 lithogr. und 2 Kupfer-Tafeln. 1861. 4%. 708. ; ‘ Lieder zum Stiftungsfeste der entomologischen und botanischen Se B Manuskript gedruckt. 1867. 8%, 9328. Verzeichnis der in den Schriften der Schles, ‚Gesellschaft von 1001-1868 alphab. Oränung von Letzner. 1868, 80, 3 Fortsetzung der in den Schriften der Schles. Gesellschaft für ee Calle on 1 enthaltenen Aufsätze, geordnet nach den Verfassern in alphab. Ordn. Dr. General-Sachregister der in den Schriften der Schles. Gesellschaft = : inel. enthaltenen Aufsätze zeordnet in alphab. Folge von ‚Dr. ch Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur. L. Die Hundertja rfeieı (135 8). der Gesellschaft (149 8.). Breslau 1904. ; 06 2. Periodische Schritten. ? 5 Jahrg. III, 1812, 6 S. - IV, 1813, Hft.1 u.2 je Corres Duden der Schles, Gesellschaft f. vaterl. Cultur. 80, esgl, Bd. II (Heft I), 30 S. mit Abbild., 1320. Bulletin der naturwissenschaftl. Sektion der Schles. Gesellschaft BE 22, 80, do, do. do. 110, 1824. 30, Übersicht der Arbeiten (Berichte sämtl, Sectionen) u, Veränderungen der Se Jahrg. na 55 Seiten 40, | Jahrg. 1860. 202 Seiten 42, 64 40, . 1861. 183 8%. n. Abh. 4928. | se 63 PEERT I - 1862. 162 S. 80,n.Abh, 4168. 1827. 79 - 40, - 1863. 156 Seiten 380, 188. 1°... | =. 1864. 2668.80. n.Abh. 2668.| - 1829. 2 = 2, s 1865..2188.80%. n. Abh, 698.| 1830. 95 5 40, - 1866. 267 8. 80, ae ARE 1831, 96 . 40, a =» 1832. 103 D 40, . 1858, 300 S. . 133.106 « 40, . 1869. 371 8. =» 1834, 143 — 40, - 1870. 318 8. =» 1835. 146 ” 40, - 1871. 3578. 80, = 1836. 157 « 40, ze 1872. 3508. 80, » 1837. 191 . 40, . . =» 1838, 184 . 40, = 1874. 29 Seiten, = 1839, 226 . 49, . 1875. 326 . 140.151 » 40, . 1876. 39 » 1841. 188 GB 40, „ 1877. 428 = 1842.2236 _ 49, . 1378. 331 ». 1343. 273° 40%, nebst z 1879. XXL. 415. a Beob.| = : 1880.XVI =» 1344, 232 Seiten 40, Pr 1881. XVI . » 1845. 165 - 40, nebst . 1882, XXiV W122 » 52 S. meteorol. Beob. .. 1863, XVI mA ss » 1846. 320 Seiten 40, nebst Pr 4884. ZLU W402 02 a 74 S. meteorol.Beob. 8, XV u 444 Seiten 90, h » 1847 404 Seiten 4°, nebst 44 S. meteorol. Beob. | . 1848. 248 Seiten 40, 1849, Abth.I, 180 8., IL, 398. n.448, meteorol. eob. 1850. Abth. I, 2048. II, SoB- 1851. 194 Seiten 4°, ' .n. Erg. -Heft 1218. N re 1887. XLH u, 411Seiten &| 18853. XX u. 317 Seiten 8,| .„ 191 1889. xLıvi u. 287 Seiten 8.) 1890. VII u. 329 Seiten 80, “ .... « „1852, 212... % 40, n.Erg.-Heft272Seit., | 5 1853. 345 . 40, . 1891. VIl. u. 481 Seiten E 5% .» 1854.28 » .4, '. n.Erg,-Heft928eit. 8%, “= 1855. 286 — 40, » 1892. VII u. 361 Seiten 80. e 1856. 242 _ 49, n. Erg.-Heft 1608. 8°. = 1857. 347 - 40, « 1893. VII u. 392 Seiten 8°, F .' 1858.24 » 40, . 189. VII u. 561 Seiten 8%, | . r 1859, 222 40, n. Erg.-Heft 265 8. 80, Mitglieder-Verzeichnig in 8° von 1805 und seit 1810 alle zwei Jahre, v 2 Breslau. ‚Aderholz’ Buchhandlung. Schle Gesellschaft für vaterländische Cultur, "Brest I, Masthiaskunst 45. RESSEN KEIERTR K 2 £ y d 4 E N 73 Di eiımdwmeumzıgster Jahres-Bericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur. 1913. II. Band. LIBRA Breslau. G. P. Aderholz’ Buchhandlunse. 1916. 3 } ) IIBEPARY Inhalts -Verzeichnis des II. Bandes des 93. Jahresberichtes. Berichte über die Sektionen. I. Abteilung: Medizin. Die römischen Zahlen zeigen den Teil, die arabischen die Seitenzahlen an.) Alzheimer: Demonstrationen: I. Über psychogene Geistes- und Nervenstörungen im Kriege. . I II. Eigenartige Gedächtnisstörungen nach Hirnherdverletzungen . I Am Vortrasen(B 17S7831) yonBränkel, ee I Bergengrün: Demonstrationen; I. Federnde Unterlagen zum Transport Verwundeter. ..... I Ishnlckenstütze,..n. aaa u ea. NA NN | ITaubmatratzenhund. Rissen) an. Sn N BeSsam-nChronische, Streptokokkeneystitis, .. . 2» cc. mono I — Chronische Verdauungsinsufficienz jenzeie des Säuglingsalters . . . I eRıpodystrophialprosgessivau.. 2 ans ea ee I Bossert: Demonstrationen; I. Hirndruckerscheinungen ohne Herdsymptome . ». .. 2... ] II. Milztumor, Lebervergrößerung und Glykosurie. .. .».... I Er-2les 7 um Vortrage (1,11 8466), yon! Uhthoft . . 2. 2. nee. I Cohn: Der Blinde als Berater des Blinden und in der Blindenfürsorge. . II Förster, O.: Die Schußverletzungen der peripheren Nerven und ihre Be- handle ee 1 OEL ER N BOHRER ES EN AN I nz umEVortrager «EI TS. 18)avon Manni. 2.2. rear I eDESeliSchlußwort.. Se 2 ae Da ea a le are uebenge an Forschbach: 19 Fälle von Typhus abdominalis . . ..... Eee aWverätiimothoraxtälle 223 2 BR a Seal ER Bl IN LES I — Demonstration: Persistenz des Ductus Botalli N NE eh l a ZumVorkrager(t E12), Schlupwantg 2. va I Frank, E.: Die Behandlung der Pneumonie mit Optochin. . ...... I — Die essentielle Thrombopenie . .. . » SE 3 ANNE Re Wer al — Über die Behandlung der Serumexantheme (bei Injektionen) duch Nakenellin a ayosche Are naln.dno son EB A AR Seite 28 D DS mE W8 Hn IV Inhalts-Verzeichnis. Seite Fränkel, L.: Beziehungen zwischen Geistes- und Frauenkrankheiten. .. I 31 2 Ann, Vorlrage (T. I 31):Schlußwort - » „7. nr er 3 Freund, C. S.: Subdural gelegenes Aneurysma der Carotis interna als Ursache der Kompression eines Tractus optieus (homonyme Hemi- ANOpSIe) 7-0. rei 0 “eva as ee 1.3 Groenouw: Zum Vortrage (T. I S. 6) von Uhthoff. -.. . - REN Er, 1-58 Hamburger: Zum Vortrage (T. I S. 15) von Tobler -.- --...... 1743 Honigmann: Zum Vortrage (T. IS. 17) von Mam.- --.--..... 1:37 Klauer: Zum Vortrage (T. II S. 66) von Uhthoff. -.--.-..-... = Köbisch: Über eine Verbesserung der Verwundetenfürsorge in der Front. II 35 Kunert: Zum Vorlrage (T. I S.78) von Röhmann . -...-...... 138 Küstner: Zum Vortrage (T. I S. 31) von Fränkel ...- - =»... .. 1031 Kutner: Zum Vortrage (T. IS. 17) von Mann. --„- --.-. zn. 2. 14 Kütiner: Bericht über die Tätigkeit als beratender Chirurg im Bereich des V. und VE Armeekorps .. .-. - 2. zes ee T 3 — Demonstration über operative Mobilisierung des Kniegelenkes ... 1 3 — Photographien von schweren Schußverletzungen. -.-...2..-.- ER — "Zum. Vorlrage (T. 1 S. 30) von Rierner- 2a Sr Le I 30 Kuznitzky: Demonstrationen: L Boeeksches Sarenid::.-. = 2». Tee EEE a In II. Schwere Hauf-Aktimnomykose: 2. 5 m Er EL Be vol IIL Zwei Fälle von Mycosis fungoides.- - --.. . . „2.2... I 14 Levy: Beobachtungen von Hämothorax- -. - -- »»-- 2... 2 22... — Zum Vorirage (T. I S. & von Frank. 2 2 Vor N Mann: Demonstration einer Anzahl von kriegsneurologischen Fällen... I 17 Melchior: Demonstration eines Falles von Verletzung durch Explosion von. Schießbaumwolle ‘:. 2.2 2-2 22 WE 2 Mer ee 1 | — Zum Vorirage (T. I S. 17) von Mann... 722 Zee 13 Neisser, A.: Zur Erinnerung an Paul Ehrlich. - -- » ». . „2... I 3 Neisser-Bunzlau: Zum Vortrage (T. 1 S. 31) von Fränkel. ....... 1,34 Oppler, B.: Zum Vorirage (T. I S. 11) von Rosenfeld -. --.-..- .. I 14 Partisch: Zum Vortrage (T. TS. 17) von Mau 22 27 ve 1238 Pohl: Zum Vorlrage (FT: 1'S. 15) von-Tobler- ZEE Ze ee | a: 15, Riegner, H.: Die Therapie der Kieferschußverletzungen - -..»- .... Ir Roehmann, F.: Zur Frage nach dem Nährwert des Vollkornbrotes -. . -. II 78 — ' Zum Vortrage (T. IS: 78) Schlußwort . 2 SU Fi Pe 14 Rollet, L.: Demonstration zweier Kinder mit malignem Tumor ..... 1:5) Rosenfeld, G.: Das Problem ausreichender Ernährung bei bescheidensten Geldämitteln. - - 2.2: 2 2.00 2 m ea 2 Be I ı — Zum Vortrage (T. IS. 11) Schlußwort . -.-... . BR ER I 14 _ - _ (T.#S:49) von Bessau- 72 2 ee 15 — 0: - (T.4 S. 2) von Forschbach, SEIT Eee Eh = - - (T. 3 S. 78) von Röhmann. „u Er re I 4 — - E (F.T S. 15) von Tobler . .; 27. We: I 15 — Zur‘ Psychologie des Wirtschafislebens . . - - „ DAR UI 23 Schwenke, Frl.: Demonstration eines Falles von Möller-Barlowscher Er- Kranke LE la re ee Are. Fe 2 RE I 5 Inhalts -Verzeichnis. V Seite Stoecker: Demonstration eines Falles von erworbener atrophischer VUN een. eo ae len e no I) .u8) — Zum Vortrage (T. IS. 17) von Mann. .......... LE Tobler: Neuere Wege in der Behandlung der Kinderkrämpfe ... . - . 219 —rimVortrage (T. IS. 15) Schlußwort » . „2 2. are 16 Hoepkitzsen.. Zum Vortrage (T. 1'S. 15) von Tobler ... „N. ..... I 16 Uhthoff: Demonstrationen: 1Ouerschußldureh das Hinterhaupt >. 22 Sie on na 12026 Meakisremmusverletzung 2 na... IA 6 — Kriegs-ophthalmologische Erfahrungen und Betrachtungen . . . . . I 44 — Nachrufe für Bondy, Jeger, Salzmann und Bauer . ........ ea IN IHloDleran ne em a old. BRENNEN So il® — Über Kriegsblinde und Kriegsblinden-Fürsorge . . » =... ... II 66 ee ZumeVortrager WET S. SvonsErank. . oo... 0.0. IN.) Sekmetäswahl.......0.2. 0... SE ae ONE IHR LAN A ol Se 1 23 Die Hygienische Sektion hat keine Sitzung gehalten. ’»* N RR N EN I 5 | ide Areliiee Dee AV er ET RABEN ER HE a er er Sehlesische Gesellschalt für vaterländische ul ITS 2 93. I. Abteilung. Jahresbericht. Medizin. 1915. a. Medizinische Sektion. &,x aa 24® Sitzungen der medizinischen Sektion im Jahre 1915. Sitzung vom 29. Januar 1915. Vorsitzender: Herr Uhthoff. Schriftführer: Herr Röhmann. Vor der Tagesordnung gedenkt der Vorsitzende, Herr Uhthoff, des Hinscheidens des Mitgliedes der Sektion Dr. Oscar Magen, der schon mit dem Keim des Todes in sich ins Feld eilte, dann zurück- kehren musste und trotz aller ärztlicher Maassnahmen seinem Leiden erlag. Die Ophthalmologie verlor in ihm eine ausgezeichnete Kraft, viel mehr aber verlor in ihm die gesamte Aerzteschaft. Sein eigent- liches Schaffensfeld und sein Kampfplatz war das Gebiet der sozialen Fürsorge und der ärztlichen Standesinteressen. Ausgestattet mit einem scharfen kritischen Geist und einer unermüdlichen Schaffenskraft hat er gerade auf diesem Gebiete sein ganzes Können eingesetzt. Er verfügte über eine Sachkenntnis und eine Redegabe, wie kein zweiter. Der Verlust ist ein grosser und die Lücke wird schwerlich ausgefüllt werden. In dankbarer Erinnerung gedenken wir seiner ausgezeichneten Verdienste und bezeugen das durch Erheben von den Sitzen. Tagesordnung. Hr. Rosenfeld: Zur Psychologie des Wirtschaftslebens. (Physiologische Betrachtungen.) (Siehe Teil II.) An der Diskussion beteiligen sich die Herren Partsch, Dyhren- furth, Neisser, Kayser, Rosenfeld. Kriegsmedizinischer Abend vom 12. Februar 1915. Vorsitzender: Herr Forschbach. Vor der Tagesordnung. Hr. Melchior: Demonstration eines Falles von Verletzung durch Explosion von Schiess- baumwolle. Der vorgestellte Patient und noch ein anderer, der inzwischen ge- storben ist, wurde der Küttner’schen Klinik vor 4 Tagen, wenige Stunden nach einer Explosion in einer Sprengstofffabrik, zugeführt. Bei beiden bestand die noch jetzt sichtbare intensive Dunkelgelbtärbung an den frei getragenen Hautpartien — Gesicht, Händen, Unterschenkeln und Füssen — mit zahlreichen Brandblasen. Dabei intensive Atemnot. Einer derselben entleerte reichlich blutig-schaumiges Sputum; die Schlesische Gesellsch. f. vaterl. Cultur. 1915. I. 1 2 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. dyspnoischen Erscheinungen nahmen trotz Anwendung von Sauerstoff- atmung und Exeitantien unaufhaltsam zu, so dass nicht lange darauf der Tod eintrat. Die Sektion ergab die Anwesenheit einer mächtigen Kongestion der Lunge mit einzelnen Blutungen und Oedem. Der andere Patient erholte sich dagegen; es besteht jetzt noch ein mässiger Grad von Bronchitis. — Bei der intensiven Gelbfärbung, die sich auch sofort allen mit der Körperhaut in Berührung kommenden Gegenständen mit- teilte, dachten wir zunächst an Pikrinsäure; es handelt sich aber um die zur Darstellung der Schiessbaumwolle verwandte Salpetersäure. Durch die Dämpfe derselben bzw. ihrer Reduktionsprodukte sind auch die erheblichen Reizerscheinungen der Luftwege hervorgerufen, die im anderen Falle den rapide eintretenden Erstickungstod herbeiführten. Die Hautveränderungen entsprechen also — abgesehen von den Brand- wirkungen — der bekannten Xantho-Proteinreaktion. Nierenreizung wurde in unserem Falle nicht beobachtet, obwohl der ad exitum ge- kommene Patient eine lebhafte Kongestion dieses Organs aufwies. Tagesordnung. Hr. Forschbach: a) Referat über 19 Fälle von Typhus abdominalis. Betonung des diagnostischen Wertes der Diazoreaktion, die durch die Weiss’sche Urochromogenreaktion ersetztwerden kann.— Auffallend häufig warSchwäche des Herzens vorhanden, die wohl auf Schädigungen durch die Anstrengungen des Feldzuges zu beziehen ist. Von selteneren Er- eignissen waren Aryknorpelnekrose, Peritonitis non perfora- tiva und Komplikation mit echter eroupöser Pneumonie erwähnens- wert. In drei obduzierten Fällen bestand vorwiegend Colotyphus. — Beispiel eines guten Erfolges der Behandlung mit verteilter Tagesdosis von 0,8—1,0 g Pyramidon. Bei Kreislaufschwäche gute Wirkung des Adrenalins und des Strophantins beobachtet. Bei Darmblutungen Coagulen zu empfehlen. b) Vier Hämothoraxfälle mit mittelgrossem Exsudat heilten bei conservativer Behandlung mit sehr gutem Resultat. Pleuratrübungen resorbieren sich, wie Röntgenbilder zeigen. Dagegen in einem Fall von Hämopneumothorax mit grossem Erguss schwere Schrumpfung der ganzen Seite. Dieser Ausgang ist auf die komplizierenden Entzündungen der Pleura zurückzuführen, die durch die reizende Wirkung grosser Blutungen hervorgerufen wird. c) Demonstration eines Falles von Persistenz des Ductus Botalli. 17jähriges, in der Entwicklung zurückgebliebenes, mit Bronchiektasen (kongenital?) behaftetes, nicht eyanotisch aussehendes Mädchen. Typische bandförmige Dämpfung im 1. und 2. Intercostalraum längs des linken Sternalrandes. Dort eirkumskript und nach den grossen Gefässen fort- geleitetes blasendes systolisches Geräusch. Im Röntgenbilde erhebliche Erweiterung des Mittelbogens, der beim Valsalva’schen Versuch sich in der von Bittorf angegebenen Weise verhält. In diesem Falle auf- fallende Abnahme des Geräusches bei der Inspiration, die vielleicht durch inspiratorische Abschnürung des Ductus zu erklären ist. Symptom von Sokolow fehlt. Diskussion. Hr. Rosenfeld: Die Bemerkungen des Vortr. über den Typhus wirkten deshalb so sympathisch, weil sie genau dem Standpunkt von vor 25 Jahren entsprachen. Damals begründete Redner seine Wert- schätzung der Diazoreaktion damit, dass sie in 94 pCt. der Typhen am 6. oder 7. Tage auftrat — wenn nicht die damaligen Antifebrilia, be- sonders Antipyrin, gegeben waren. Damals wurde die Frage, Vollkost oder geminderte Kost (wie sie Benedict und Schwarz [Pest] aufwarfen) von den meisten Klinikern im Sinne der knappen Kost entschieden. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 3 Damals scheute man die Verabfolgung von Fleisch, weil man gerade in der ersten fieberfreien Woche durch eine Fleischmahlzeit Fieber auftreten sah. Interessant war die damals hervortretende Beobachtung Biermer’s und des Redners, dass gerade das 21. Lebensjahr und ähnlich die Zeit von 19—21 Jahren für die Typhuserkrankung eine besonders ungünstige Prognose abgab. Damals entstand die vom heutigen Vortragenden empfohlene Lehre, die Antifebrilia im Sinne von Nervina zu geben, um weniger grosse Temperaturabfälle, als vielmehr besseres Behagen des Pat. zu erzielen. Zur Behandlung der Verziehungen des Thorax nach Hämothorax könnte man das Thiosinamin verwenden und ev. den Gedanken erwägen, durch peptische Injektionen die Schwarten zu lösen. Hr. Forschbach (Schlusswort): Unter Pyramidon behielt die Diazo- reaktion die gleiche Stärke. — Die Verwendung des Thiosinamins fürchten wir wegen seiner unberechenbaren giftigen Eigenschaften. Hr. Levy berichtet über einige Beobachtungen von Hämothorax. Hr. €. S. Freund: Subdural gelegenes Aneurysma der Carotis interna als Ursache der Kompression eines Traetus optieus (homonyme Hemianopsie). 70jährige Insassin des Claassen’schen Siechenhauses hatte seit18 Jahren gelegentlich lancinierende Schmerzen in den Beinen, seit 9 Jahren solche in der Lendengegend und gastrische Krisen, seit 8 Jahren Blasenschwäche und ohne vorangegangenen Insult eine Hemianopsie (kollidierte leicht mit von rechts kommenden Passanten). Kniescheiben- und Achilles- sehnenreflexe nicht auslösbar, Hypotonie und Ataxie der Beine, leichte Beeinträchtigung des Gelenkgefühls; Romberg’sches Symptom. Dabei ‘ normale Pupillenreaktion, normaler Augenhintergrund. 1908 Gesichtsfeldaufnahme durch Herrn Prof. Lenz (rechtsseitige homonyme Hemianopsie; von den unteren Quadranten der rechten Ge- sichtsfeldhälften ist der dem vertikalen Meridian anliegende Sector nahezu ausgespaart). Seit 1911 im Siechenhaus. Hierselbst keine nachweisliche Aenderung im Befund, auch nicht im Augenbefund. Im Juni 1913 stellte Vortr. die Kranke in der Breslauer psychiatrisch- neurologischen Vereinigung vor als „Tabes mit homonymer Hemianopsie“, erklärte die Hemianopsie als nicht tabisches Symptom, sondern bedingt durch eine cerebrale oder basale Komplikation. Wassermannreaktion im Blut und Lumbalpunktat 4, Nonne-Appelt +, Lymphocytose, 5 Kinder starben im ersten Lebensjahre. Vortr. sprach die Vermutung aus, dass ein basal gelegener luetischer Prozess den linken Tractus opticus in Mitleidenschaft gezogen haben könnte. Tod im November 1914 an Bronchopneumonie. Die Sektion (durch Herrn Privatdozent Dr. Justi) ergab gewöhnliche Altersarteriosklerose, auch an den Meningen nirgends luetische Ver- änderungen. Von den Gehirnarterien war die Art. basilaris allgemein aneurysmatisch erweitert und seitlich nach rechts verdrängt, die linke Art. communicans posterior verödet. Ein überhaselnussgrosses spindelförmiges Aneurysma der linken Carotis interna un- mittelbar vor der Abgangsstelle ihrer Hauptäste drückte auf den linken Tractus opticus; es waren nicht Thromben zu finden, auch nicht in unmittelbarer Nachbarschaft des Aneurysma und nirgends eine Spur einer Berstung. Vortr. betont, dass im vorliegenden Falle die Diagnose „Aneurysma“ nicht möglich gewesen ist; Pat. hatte nie über Kopfschmerzen, subjektive Kopfgeräusche oder ähnliches geklagt, das zeitweise anfallsweise Er- brechen musste als gastrische Krise angesehen werden. — 1* 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Von kriegsmedizinischer Bedeutung sind die Fälle, in denen das Aneurysma der Carotis interna zu Lebzeiten diagnostizierbar war und mit der Ligatur der Art. carotis communis behandelt wurde. In diesen Fällen war das Aneurysma im Sinuscavernosus (Fälle von Jeaffreson und von Loeser) oder zugleich im Canalis caroticus unmittelbar vor Eintritt in den Sinus cavernosus (Fall Karplus) gelegen. Bei diesem — intraduralen — Sitz führt das Aneurysma durch Kompression zu Lähmungssymptomen von Seiten der im Sinus cavernosus gelegenen Augenmuskelnerven, vor allem des N. abducens, sowie zu Störungen der venösen Blutabfuhr aus der Orbita und dem Bulbus (Exophthalmus, Neuritis optica, Chemosis). — Unbeachtet blieb bisher, dass die starken subjektiven Kopf- geräusche bei vielen Fällen von Aneurysma der Carotis interna in einem ursächlichen Zusammenhang zu bestimmten topographischen Ver- hältnissen stehen können, denn bekanntlich verläuft die Carotis interna im Canalis caroticus — also in ihrem extraduralen Verlauf — in unmittelbarer Nachbarschaft der Ohrschnecke. Von kriegsmedizinischer Bedeutung sind ferner einige erst im letzten Jahrzehnt erforschten Symptome zur klinischen Diagnose der er- folgten Berstung eines Hirnaneurysma. Sie werden hergeleitet aus der Erfahrung, dass bei dem Bersten der fast stets basal gelegenen Hirnaneurysmen gewöhnlich eine intrameningeale Blutung erfolgt und dass bei der grossen Neigung zur Gerinnselbildung fast niemals die erst- malige Berstung zum Tode führt. Wichern!) hebt als charakteristische Symptome hervor „das plötzliche Auftreten schwerer cerebraler Erschei- nungen, das Zurückbleiben starker Kopfschmerzen mit ausgesprochener Nackenstarre, die Wiederholurg dieser Zustände nach verschiedenen Zeiträumen und endlich der jedesmal typische Befund von zum Teil ver- änderten roten Blutkörperchen, von sogenannter Xantochromie und einer sekundären Lymphocytose (infolge meningealer Reizung) im Liquor cerebrospinalis“. Wichern verspricht sich einen gewissen Erfolg von systematisch fortgesetzten subcutanen Gelatineinjektionen. Er hält die Unterbindung der Carotis für einen recht gewagten Eingriff. Bei arteriosklerotisch bedingtem Hirnaneurysma mag die Prognose sehr trübe sein, doch ist zu hofien, dass bei nach Schussverletzung auf- tretendem Hirnaneurysma ein jugendfrisches Gehirn besser den chirur- gischen Eingriff überwindet. — Hr. E. Frank: Ueber die Behandlung der Serumexantheme (bei Injektionen) durch Adrenalin. Hr. E. Frank: Die Behandlung der Pnenmonie mit Optochin. Bei 3 Fällen von croupöser Pneumonie wurde Optochin verabreicht in Dosen von etwa 6 stündlich 0,5 g bis zu einem Gesamtverbrauch von 3,9—4g. Bei Fall I wurde die Behandlung im Laufe des zweiten, bei Fall II im Laufe des dritten Krankheitstages eingeleitet; Fall III kam am Tage nach einem Schüttelfrost feberfrei unter wenig ausgesprochenen Lungenerscheinungen ins Krankerhaus und bekam Optochin erst 2 Tage später, nachdem die Temperatur wieder angestiegen war und ein deut- licher Lungenbefund sich ausgebildet hatte. In allen 3 Fällen wurde während der Optochindarreichung jedesmal eine Ausbreitung des anato- mischen Prozesses beobachtet. Die Krisis trat in Fall II und III am 6. bzw. 7. Tage ein, während Fall I bei fortdauerndem hohen Fieber, obwohl er von Anfang an gar nicht besonders schwer aussah, am 9. Tage 1) D. Zschr. f. Nervhlk., 1912. « I. Abteilung. Medizinische Sektion. b) zum Exitus kam, lediglich infolge toxisch bedingter Kreislaufschwäche. Am 5. Tage trat nach Verbrauch von im ganzen 3,5 g Optochin ganz plötzlich eine absolute Amaurose auf, die in den nächsten Tagen sich als hochgradige Amblyopie mit besonderer Schädigung des centralen Sehens darstellte und 4 Tage später, als Pat. starb, noch keineswegs zur völligen Restitution des Sehvermögens geführt hatte. Die Schädigung der Netzthaut ist bei 3g pro Tag von Stähelin in jedem Fall beobachtet worden. Unser Fall zeigt, dass auch 2 g, in regelmässigen Intervallen gereicht, schwerste Schädigung nicht verhindern können. Man wird daber auch bei der neuerdings von Morgenroth empfohlenen Dosierung von 6 mal 0,25 sehr genau auf die Augen achten müssen und vielleicht doch Sehstörungen nicht ganz vermeiden können; schon dadurch allein erscheint das Mittel für die allgemeine Praxis noch nicht reif. Aber auch die Frage, ob wir es wirklich auch beim Menschen mit einem spezifisch chemotherapeutisch wirkenden Mittel zu tun haben, ist unseres Erachtens noch nicht entschieden. Zwar wirken die insge- samt 16 Fälle von Weintraud und Vetlesen, in welchen die Ent- fieberung 5 mal am 2. Tage, 5mal am 2.—3. Tage und 6 mal am 3. bis 4. Tage eintrat, recht überzeugend, sind aber vom statistischen Stand- punkt aus doch ein zu kleines Material, um ganz gegen den Einwand eines zufällig raschen natürlichen Ablaufes der Krankheit gesichert zu sein. Unsere Fälle zeigen jedenfalls, dass am 2. und 3. Tage das Mittel auch ganz erfolglos sein kann. Als feststehend erachten wir regelmässig eintretende starke Senkungen der Temperatur, welche die Fieberkurve stark entstellen, von denen wir aber nicht wissen, ob sie einfach anti- pyretische Wirkungen des Chininderivats sind, oder ob sie wirklich auf einer vorübergehenden Hemmung des Pneumokokkenwachstums beruhen. Immerhin ist das Mittel experimentell so gut fundiert!), dass weitere Versuche, besonders bei ausgesprochenen Frühfällen der Pneumonie, wohl am Platze sind. Diskussion. Hr. Uhthoff geht noch kurz auf die Form der Amaurose ein, wie sie bei dem erwähnten Falle von Optochinbehandlung bei Pneumonie eintrat. Der ophthalmoskopische Befund war negativ, eine Verengerung der Netzhautgefässe war nicht zu konstatieren. Ueber’ die Pupillar- reaktion während der völligen Erblindung keine Notiz in der Kranken- geschichte. Pat. war anfangs ganz blind, und erst nach einiger Zeit (1 Tag) restituierte sich das Gesichtsfeld teilweise in der Peripherie, während es central defekt blieb (centrale Scotome) und die Sehschärfe nur Fingerzählen in rechts 4 m, links 2 m Entfernung betrug. Die Pupillenreaktion war zu dieser Zeit erhalten. Es war in diesem Falle also das Bild einer peripher (Retina bzw. peripherer Opticusstamm) bedingten Sehstörung und nicht das einer central bedingten Amaurose. Auch kann man nicht sagen, dass die Sehstörung dem Bilde der Chinin- Amblyopie bzw. Amaurose glich, von hochgradiger Gefässverengerung und ischämischen Erscheinungen der Netzhaut war nichts zu konstatieren. Ob es hier eventuell doch noch zur Restitution des Sehens ge- kommen wäre, lässt sich nicht sagen, da Patient schon nach weiteren 2 Tagen der Krankheit erlag. Jedenfalls hatte er bis zum Tode eine hochgradige Sehstörung, trotzdem das Mittel sofort ausgesetzt worden war, nachdem die Sehstörung sich geltend machte. Hr. Levy bespricht die bisher vorliegenden Erfahrungen von Pneu- moniebehandlung mit Optochin. 1) C£. Morgenroth, B.kl.W., 1914, Nr. 47 u. 48. 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Sitzung vom 26. Februar 1915 (in der psychiatrischen Klinik). Vorsitzender: Herr Alzheimer. Hr. Uhthoff stellt zunächst 1. einen Fall von Trigeminusverletzung (I. und II. Ast) durch einen kleiren Granatsplitter vor, wie mit aller Sicherheit auf den Röntgenplatten zu sehen. Der Granatsplitter sitzt unmittelbar am Ganglion Gasseri und hat den austretenden I. und II. Ast betroffen. Es bestehen die typischen Sensibilitätsstörungen mit Ein- schluss der rechten Cornea. Oft sich wiederholende leichte entzündliche Erscheinungen und Epithelerosionen im unteren Abschnitt der Hornhaut brachten den Patienten in den Verdacht, dass er künstlich die Läsionen hervorriefe, bis die Röntgenaufnahmen die Aufklärung brachten. Be- merkenswert war noch fehlendes Weinen auf dem betroffenen rechten Auge und deutliche Geschmacksstörung auf der rechten Zungenhälfte. Im übrigen gutes Allgemeinbefinden. 2. zeigt derselbe einen Fall von Querschuss durch das Hinter- haupt mit Verletzung beider Oceipitallappen und doppelseitigen homonym- hemianopischen Störungen. Anfangs war Patient fast vollständig erblindet, dann bestand noch vollständige rechtsseitige Hemianopsie und partielle linksseitige (Finger 1m). Allmählich weitere Restitution beiderseits (auch teilweise der rechten homonymen Gesichtsfeldhälften). Keine sonstigen Lähmungserscheinungen, die optischen Erinnerungsbilder haben etwas gelitten, ebenso die Erinnerung an die Vorgänge unmittelbar vor der Verwundung. Quälend sind noch für den Patienten neuralgische Be- schwerden im rechten Nervus oceipitalis, besonders auf Druck, so dass er auf dem Bauche liegend schlafen muss. Vortr. schliesst hieran noch weitere Gesichtsfelddemonstrationen bei Oceipitalschüssen und weist auf einige Besonderheiten derselben hin. Diskussion. Hr. Groenouw legt die Gesichtsfelder zweier Kranken mit doppelseitiger Hemianopsie infolge Schussverletzung des Hinterkopfes vor. Bei dem einen fehlen die beiden rechten Gesichtsfeldhälften und ein angrenzenzer Sektor der linken unteren, bei dem anderen fehlt der rechte untere Quadrant des Gesichtsfeldes beiderseits und die Farben- empfindung in beiden linken Gesichtsfeldhälften. Hr. Bergengrün demonstriert 1. seine federnden Unterlager zum Transport Verwundeter mit Fraktur der Extremitäten, sowie Kopf- und Halsschüssen: Die harten Rüttelstösse beim Fahren in Feldwagen, Auto oder Eisenbahn werden durch Spiralfedern aufgefangen und in sanfte Gleitbewegung verwandelt; dadurch Vermeidung der sonst so starken Schmerzen und bei Kopfschüssen frühere Transportmöglichkeit ohne die verhängnisvollen Folgen der Bewegung. Bauart: Unteres stabiles Brett durch Spiralfedern mit oberem, die geschiente Extremität (oder Kopf und Hals) tragendem, zwecks Hochlagerung mit schräg geneigtem Brett beweglich verbunden. Die Federn biegen sich nach allen Richtungen, im Sinne des Kugelgelenkes. Haltschnüre verhindern seitliches Um- kippen. Die Extremität ist an das Unterlager festgebunden und hängt ausserdem mit lockerem Band an der Oberdecke. 2. Rückenstütze: Eine flach mit breitem Rückteil gebogene Holz- spange in der Kreuzbeinhöhlung liegend, mit nach hinten sehenden Haken. In letzteren liegen die Oberarme, während die Hände in den Aermellöchern, Rockbund oder Gürtel stecken. Der Arm drückt die Spange einfach durch seine Schwere in den Rücken und sie wirkt als sich selbst haltende Stuhllehne. Zweck: Durch Ausrollung der Schultern nach hinten Vertiefung der thorakalen Atmung, besonders der Lungen- spitzen. Geradhaltung des Rumpfes bei Neigung zu krummer, schlechter I. Abteilung. Medizinische Sektion. 7 Haltung; bei Anämie, latenter und beginnender Tuberkulose und schlechter Körperhaltung für Kinder und Erwachsene in verschiedenen Grössen. 3. Laubmatratzen und Kissen als gutes Lagerurgsmaterial für Lazaretie fürs Feld usw. Füllung: Eichen- und Buchenlaub; Be- deckung: unzerreissbares und schwer durchnässbares Papier; sehr sauber, sterilisierbar, bequem; enorm billig! Matratze ca. 80 Pfg., Kissen ca. 20 Pfg. Bettdecken: Mehrere Lagen Zeitungspapier auf- einandergesteppt in billigen Kattunüberzügen. (Adresse: Hoffräulein v. Abeken, Dresden, Christianstr. 26.) Hr. Küttner zeigt Photographien von einer Reihe schwerer Schuss- verletzungen durch granatenartig wirkende Gewehrgeschosse der Russen. Hr. Alzheimer: I. Ueber psychogene 6eistes- und Nervenstörungen im Kriege. (Kranken- demonstrationen.) 1. Verhältnismässig häufig begegnen uns unter den Soldaten depressive Zustände, die nicht dem manisch-depressiven Irresein zuzurechnen sind, sondern als psychogen ausgelöst betrachtet werden müssen. Nicht selten zeigt dabei das Krankheitsbild eine reichliche Beimischung rein hysterischer Symptome. Feldwebel, 41 Jahre. Immer sehr peinlich und ängstlich im Dienst, hat schon früher einmal einen ähnlichen, aber kurzen Depressionszustand durchgemacht, als ein Kapitulant auf seine Anzeige entlassen worden war. Glaubte sich von diesem verfolgt, weinte, zitterte, sah ihn nachts im Zimmer, glaubte, er wolle ihn umbringen. Oktober 1914 unter den Ueberanstrengungen der Mobilmachung und dienstlichen Schwierigkeiten wieder erkrankt. Erklärt sich für einen schlechten Menschen, glaubt der Spionage verdächtig, erschossen zu werden, ist schuld am Kriege. Macht einen ängstlich verstörten Ein- druck, weint viel. Allgemeine Hypalgesie. 25.X. Weint und jammert viel, tief deprimierter Gesichtsausdruck. Fängt, wenn der Arzt kommt, zu zittern an, das Zittern geht schliesslich in die extensivsten Zitterbewegungen des ganzen Körpers über. 7. XI. Andauernd ängstlich ‘deprimiert, äussert fast gar nichts. Wackelt wie ein Bär mit dem Kopfe, wenn er im Bett liegt, besonders während der Visite. Geht so torkelnd, dass man fürchten muss, er fällt, weiss sich aber immer wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Wird von einem anderen Kranken mit psychogener Depression bis in alle Einzel- heiten imitiert. 15. XI. Psyehisch unverändert. Zeigt einen hysterischen Strabismus. 5.11. 1915. Lässt die beiden oberen Augenlider hängen, wie bei schwerster Ptosis, und bemüht sich, durch starke Rückwärtsbewegung des Kopfes durch den untersten nieht bedeckten Teil der Pupille zu sehen. Weint sehr viel, geht oft aus dem Bett. Gibt fast keine sprachlichen Aeusserungen von sich. Imitiert einen Katatoniker, der neben ihm liegt und fortwährend ausspuckt. Die Auslösung der beiden Krankheitsanfälle durch äussere Einwir- kungen, die starke Beeinflussbarkeit der Symptome durch äussere Um- stände, das starke Hervortreten offenbar hysterischer Erscheinungen sprechen für die psychogene Bedingtheit des ganzen Krankheitsbildes. 2. Unter den psychogenen Ursachen psychischer und nervöser Stö- rungen scheint wohl keine von grösserer Bedeutung als die Schreck- wirkung explodierender Granaten. Eine mechanische Erschütterung des Nervensystems mag für die Entstehung der Störungen nicht ganz ohne Bedeutung sein; wir hören, dass die Kranken meist zu Boden geworfen, 8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. mit Erde überschüttet, sofort bewusstlos gewesen sind. Doch haben sich in keinem der vorgestellten Fälle organische Läsionen von Seiten des Nervensystems nachweisen lassen. Die psychische Schreckwirkung muss als die eigentliche Ursache der Störung angesehen werden. Die Bilder selbst sind sehr verschiedenartig. _ a) Hysterische Taubstummheit. Unteroffizier, wird durch den Luftdruck zweier neben ihm einschlagender Granaten in die Höhe ge- sehleudert. Angeblich erst nach 2 Tagen Rückkehr des Bewusstseins. Dann 1 Tag vollständige Astasie und Abasie. 14 Tage lang taubstumm. Keinerlei organische Symptome. Nach 14 Tagen Wiederkehr des Gehörs, dann der Sprache, stottert noch nach 9 Wochen. Ein hypochondrisch- neurasthenisches Symptomenbild besteht noch weiter. Nach 3 Monaten ein kurzer hysterischer Dämmerzustand. b) Halbseitige hysterische Lähmung. Hysterische An- fälle. Unteroffizier, von einer Mine in die Höhe geworfen, ganz leichte Verletzung an der linken Hand. Unfähigkeit, den linken Arm und das linke Bein zu gebrauchen, da er bei jeder Bewegung die Antagonisten kontrahiert. Halbseitige Analgesie. Nach dem Anfall 3 Monate lang alle S—14 Tage sehr langdauernde hysterische Anfälle, danach Verlust der Sprache für einige Stunden. Klagen über Kopfschmerz, Schreck- haftigkeit, ängstliche Träume, schlechtes Gedächtnis. ec) Hysterische Lähmung beider Beine. Reservist. Nach Explosion der Granate 12 Stunden bewusstlos, äusserlich nicht verletzt. Kann nicht stehen und gehen. 8 Wochen lang unfähig, sich fortzube- wegen, kann die Notdurft nur im Bett verrichten. Beim Versuch, die Beine von der Unterlage zu heben, spannen sich alle Muskeln. Es tritt starkes Zittern der Beine ein. Keine Sensibilitätsstörung. d) Hysterische Anfälle. Reservist. Durch Explosion einer Gra- nate über eine Strasse hinübergeschleudert. Kurze Zeit bewusstlos. Am nächsten Tage grosser hysterischer Anfall. Noch einige Anfälle im La- zarett. Nach 2 Monaten dienstfähig entlassen. e) Hysterische Beschwerden. Landwehrmann. Von einer Gra- nate weggeschleudert; in der Kreuzgegend Quetschung. Spricht viel im Sehlaf, träumt immer von Russen und Fliegern. Stiche in der linken Brustseite. Im Kopf dumpf, das Denken geht schwer, schwach in den Beinen. Schwindelanfälle, müder, schleppender Gang. f) Hysterische Dämmerzustände. Sanitätsunteroffizier. Von einer Granate verschüttet. Weiss nicht, wie er aus dem Unterstand herauskam. Keine äussere Verletzung. Seit dem Unfall täglich Zeit- räume von 1/—!/, Stunde, für die ihm die Erinnerung fehlt, oft durch heftige krampfartige Kopfsehmerzen links eingeleitet. In den Anfällen ist er nicht orientiert, geht aus dem Bett, drängt fort, fragt, wo er sei, macht sonderbare Hantierungen, weiss von dem Krieg nichts, gibt aber über sein früheres Leben mit einer gewissen Schwerbesinnlichkeit Aus- kunft. Nachher weiss er nicht, was man während des Anfalls mit ihm verhandelt hat. Nach 4 Wochen verschwinden diese Dämmerzustände; der kramptartige Kopfschmerz kehrt aber noch alle paar Tage wieder. II. Eigenartige Gedächtnisstörungen nach Hirnherdverletzungen. l. Dr. phil. Gewehrschuss über dem rechten Ohr hinein, oberhalb und etwas hinter dem linken Ohr heraus. 7 Tage bewusstlos, rechts- seitige Hemianopsie. Nach Wiederkehr des Bewusstseins völliger Verlust des Gedächtnisses, wusste nicht mehr seinen Namen, bei welchem Regi- ment er war. Langsam kam im Laufe der Wochen das Gedächtnis wieder. Gedichte, die er früher auswendig konnte, hatte er vergessen. Nach 6 Wochen nach der Verwundung fiel ihm auf, dass das kleine Einmaleins nicht mehr sitzt, musste sich mühsam es wieder konstruieren. 1. Abteilung. Medizinische Sektion. 9 Jetzt, 7 Wochen nach der Verletzung, ist das Gedächtnis wieder völlig zurückgekehrt, weiss alles wieder, was er früher gewusst hat. 2. Lehrer. Schrapnellschuss auf der rechten Scheitelhöhe. Schwere Knochenverletzung. 7 Stunden bewusstlos, linksseitige Hemianopsie. - Vollkommener Gedächtnisschwund. Verlust aller Erinnerungen an den Feldzug. Allmähliche Rückkehr einzelner besonderer Erlebnisse, dabei noch Unmöglichkeit, die Lücken auszufüllen. Sonderbare Verschiebungen der zeitlichen Lokalisation und der Lebhaftigkeit der Erinnerungen. Die einige Wochen zurückliegenden Erinnerungen scheinen wenigstens 10 Jahre zurückzuliegen. Erlebnisse aus der Kindheit dagegen waren so deutlich, als wären sie erst vor wenigen Tagen passiert. „Grosse Schwierigkeit, alles richtig einzuordnen.“ Nach 4 Wochen wieder vollständige, klare, geordnete Erinnerungen. Es dürfte wohl damit zusammenhängen, dass ein im übrigen voll- ständig gesundes Gehirn von einem schweren Trauma betroffen worden ist, dass wir bei den kriegsverwundeten Soldaten genauere Schilderungen über seelische Störungen bekommen als von Tumorkranken, Arterioskle- rotikern. Dazu kommt wohl auch noch, dass es sich in beiden Fällen um sehr intelligente Kranke handelt, welche innere Vorgänge genau dar- zustellen vermögen. Hr. Stöcker demonstriert alsdann 1. einen Fall von erworbener atrophischer Myotonie. A.P., 48 Jahre alt, Hausdiener. Familienanamnese 0.B. Machte vor 20 Jahren Typhus durch. Vor 4 Jahren Gürtelrose. Sonst früher nie krank. Vor 3 Jahren fiel ihm auf, dass er so schwer in Gang komme; dauere immer einen Moment, bis er aufstehen könne. Zunächst gehe es dann noch langsam und steif; allmählich werde es dann besser. So wie es mit den Füssen sei, sei es auch mit den Händen. Bringe die Hand für einen Moment nicht zu und nicht auf. Manchmal ziehe es ihm den Mund zusammen, dass er ihn nicht aufbringe. In Armen und Beinen habe er bei Witterungswechsel so ein Ziehen, keine eigentlichen Schmerzen. In der letzten Zeit habe sich auch seine Sprache ver- schlechtert. Die Spatia interossea an den Händen erscheinen etwas eingesunken; die Finger etwas dünn und atrophisch, die Haut darüber etwas dünn, ebenso verhält es sich an den Füssen. Der Deltamuskel erscheint etwas flach beiderseits; der Sternocleidomastoideus beiderseits deutlich atrophisch. Sonst ist die Körpermuskulatur gut entwiekelt. Der Gesichtsausdruck hat etwas Starres, Maskenhaftes; es fehlt die Mimik, der Lidschlag erfolgt selten. Die ganze Haltung hat etwas Starres; Pat. steht etwas vornüber- gebeugt da. Die Sprache ist langsam, undeutlich, klingt etwas nasal. Bei der Funktionsprüfung finden sich deutliche myotonische Erscheinungen in allen Muskeln des Körpers; auch in den Kaumuskeln. Facialisgebiet und Augenmuskeln sind beteiligt; am deutlichsten treten sie hier bei Lidschluss und Lidöffnung, dann beim Blick nach unten zutage. Alle Bewegungen, z. B. Zielbewegungen mit den Händen, erfolgen langsam, ruckweise, dabei tritt ein eigenartiger, an den Wackeltremor bei multipler Sklerose erinnernder Tremor auf, ebeuso an den Beinen. Die Kraftleistung ist am Schluss einer Bewegung stets eine gute, ist anfangs schwach, schwillt erst allmählich an. In allen Körpermuskeln, auch den atrophischen, findet sich die myotonische Reaktion für mechanische Reize und elektrische Reize in klassischer Weise ausgeprägt. Sogenannte myastenische Reaktion fehlt. Es besteht eine dauernde allgemeine Steifigkeit nach Art der Wilson’schen Rigidität in den Armen, Beinen und in den Halsmukeln. Die Patellarreflexe sind gut auslösbar; die Achillesreflexe schwach, beider- seits besteht ausgesprochener Babinski. Die Pupillen reagieren gut; der 10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Augenhintergrund zeigt keine Veränderungen; die Sensibilität ist objektiv nicht gestört; die Blutuntersuchung und Liquoruntersuchung ergab normale Verhältnisse. A. wurde seit Juni vorigen Jahres mehrfach nervenärztlich unter- sucht; aus diesen Befunden geht hervor, dass der Zustand von geringen Erscheinungen bis zu den ausgeprägten Symptomen jetzt rasch progredient verlaufen sein muss. Der Vorstellende weist zunächst darauf hin, dass dieser Fall sich im wesentlichen deckt mit den von Steinert und Curschmann beschriebenen Fällen der Myotonia atrophica; von diesen unterscheidet er sich dadurch, dass die gesamte Körpermuskulatur von der Myotonie betroffen ist. Es fällt also für diesen Fall ein von Curschmann zwischen echter Myotonie und Myotonia atrophica ge- machte Unterscheidung weg; nämlich, dass bei letzterer nur bestimmte Muskelgruppen betroffen werden. Eine weitere Eigenart dieses Falles ist die dauernd bestehende Muskelsteifigkeit und das Babinski’sche Phänomen. Vortr. weist darauf hin, dass, wenn man die Myotonie dem Fall nähme, das Bild einer Wilson’schen Erkrankung übrig bliebe. Er schliesst daraus, dass die myotonische Störung, ebenso wie so viele andere Bewegungsstörungen, wohl centralen Ursprungs sei und in den supranucleären Ganglien zu suchen sei. Dementsprechend fasst Vortragender die Sprachstörung nicht als ine Lähmungserscheinung, sondern als durch die Steifigkeit bedingt, auf, ähnlich wie bei der Wilson’schen Krankheit. (Ausführliche Ver- öffentlichung ist in Aussicht genommen.) 2. K. P., 27 Jahre alt, Unteroffizier der Reserve. Am 10. X. 1914 mit Infanteriegeschoss Schuss in den Kopf; Kugel ging hinter dem linken Ohr herein, blieb stecken. Sofort mit dem Schuss fiel er, an Armen und Beinen gelähmt, um, war nicht bewusstlos; keine besonderen Schmerzen. Zunächst totale Lähmung, hat auch kein Wasser lassen können; konnte auch nicht zu Stuhle gehen. 4—5 Tage später bekam er ziehende Schmerzen in Armen und Beinen. Lähmung ging allmählich etwas zurück. Links mehr als rechts, bis zu dem jetzigen Zustande. Auf dem Röntgenbilde liegt das Geschoss in der rechten Hinter- kopfhälfte in der Gegend des Kleinhirns. Einschussnarbe hinter dem linken Ohr. Wasserlassen ist noch gestört, kann Harndrang nicht lange unterdrücken. Rechte Pupille > links; beim Blick nach den Seiten grobschlägiger Nystagmus; nach rechts > nach links. Rechter Facialis eine Spur < links; gesteigerte Armrefiexe. Rechter Arm in toto- von der Schulter abwärts atrophisch, nur leichte Fingerbewegungen möglich; linker Arm ebenso atrophisch, doch weniger; hier alle Bewegungen schwach möglich. Beide oberen Bauchdeckenreflexe sind vorhanden rechts > links; die unteren fehlen. Rechtes Bein hypertonisch; links in geringem Grade. Beiderseits sehr lebhafte Patellarreflexe, rechts An- deutung von Clonus. Rechts deutlicher Babinski und Oppenheim; links fraglicher Babinski. Pyramidentyp der Parese rechts, links keine eigent- liche Parese nachzuweisen. Leichte Ataxie des linken Beines; hoch- gradige Ataxie des linken Armes. In den atrophischen Armmuskeln partielle Entartungsreaktion. Links vom Processus xiphoideus abwärts Hypalgesie und Thermhypästhesie; rechte Seite etwas hyperalgetisch. Rechts gestörte Lageempfindung in den Zehen. Es handelt sich hier um einen ausgedehnten Halsmarkprozess von Brown-Sequard’schem Typ, der nach der ganzen Art und Entstehung als centrale Hämatomyelie des Halsmarkes aufzufassen ist; daneben be- stehen Kleinhirnsymptome, in Gestalt der ausgesprochenen Ataxie und des Nystagmus. 3. H.A. Am 31. VIII. 1914 Kopfstreifschuss rechts; angeblich 4 Stunden bewusstlos. Konnte sofort beim Erwachen den linken Fuss I. Abteilung. Medizinische Sektion. 11 nicht bewegen. Im linken Fuss und Unterschenkel, bis über die Knie herauf, fühle er gar nichts, im Oberschenkel dumpfes Gefühl. Bis jetzt keine Besserung. Streifschuss an der rechten Parietalseite, darunter leicht rinnenartige Vertiefung des Knochens. Linkes Bein wird beim Gehen steif gehalten; Fussspitze schleift über den Boden weg. Beim Hinlegen hebt Pat. das linke Bein mit der Hand aufs Sofa. Patellar- und Achilles- reflexe beiderseits gleich lebhaft. Gelenktonus 4 funktionelle Schwäche des ganzen linken Beines. Fussbewegung und Streckung fehlt ganz. Sonst bei Widerstandbewegungen schlechte Kraftleistung, dabei An- spannen der Antagonisten, Mitbewegungen im Gesicht und Körper. Manschettenförmige Anästhesie am linken Fuss und Unterschenkel, etwas handbreit oberhalb des Knies abschneidend. Weiter nach oben, bis dreifingerbreit unterhalb der Leisten, ebenfalls manschettenförmig abschneidend, Hypalgesie. Was jetzt vorliegt, muss als hysterische Lähmung aufgefasst werden, doch glaubt Vortragender, dass nach der Art der Entstehung, besonders mit Rücksicht auf die Kreuzung (Kopfschuss rechts, Lähmung links), eventuell doch eine leichte organische Läsion der Rinde vorgelegen hat, auf die sich das hysterische Bild aufpfropfte. 4.G. F., Kriegsfreiwilliger, 27 Jahre alt, aufgenommen am 29. XII. 1914. 1910 Lues; letzte Kur Frühjahr 1914, litt in der Pubertätszeit an leichten Schwindelerscheinungen; sonst keine Störung. Am 25.X. erlitt er einen Streifschuss, der den Knochen nicht verletzte, an der rechten Stirn- seite, hat angeblich dabei viel Blut verloren; war nicht bewusstlos.. Am 6. XI. 1914 plötzlich epileptiformen Anfall, an demselben Tage noch einen Anfall. Das Bewusstsein für den ganzen Tag fehlt ihm. Einige Tage nachher noch müde und abgespannt; leide seitdem an Gedächtnis- schwäche; kurz vor der Aufnahme nochmals epileptiformen Anfall. Hat auch einmal vor ein paar Tagen doppelt gesehen. Psychisch nicht auf- fällig; Nystagmus beim Blick nach den Seiten, kongenitaler Star rechts; rechte Pupille etwas weiter als linke. Sehr lebhafte Patellarreflexe von funktionellem Typus. Achillesreflexe +; rechts suspekter Babinski. Sonst objektiv nihil. Die Blut- und Liquoruntersuchung ergab Wasser- mann’sche Reaktion in beiden positiv; starke Lymphocytose und Eiweiss- vermehrung. Pat. hat hier eine kombinierte Quecksilbersalvarsankur durchgemacht; dadurch wurde Wassermann im Blut negativ; im Liquor ist er noch positiv; Lymphocytose beträgt noch 37 Zellen; Eiweiss noch die gleiche Vermehrung. Bis jetzt kein Anfall mehr vorgekommen. Es handelt sich hierbei zweifellos um epileptische Anfälle, die be- dingt sind durch eine luetische Gehirnerkrankung (Meningitis). Doch wird man dem Streifschuss eine mithelfende Rolle bei der Ausführung nicht ganz absprechen können. Sitzung vom 12. März 1915. Vorsitzender: Herr Uhthoff. Schriftführer: Herr Partsch. Hr. E. Frank: ‘ Ueber konstitutionelle Parpura (Psendohämophilie) nebst Bemerkungen über die neuen Mittel zur Stillung von Blutungen. (Siehe Teil II.) Hr. 6. Rosenfeld: ‚Das Problem ausreichender Ernährung bei bescheidensten Geldmitteln. Die Probleme der Forschung unterscheiden sich auch in der Weise, dass die einen aus dem Drange des Forschens an sich geboren, von innen heraus entstanden sind, während die anderen durch die Not des Augenblicks geboten, von aussen aufgedrängte, sind. Das heutige 12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Thema ist ein solches notgeborenes. Denn die Mitarbeit bei der Unter- stützung bedürftiger Familien, besonders der Krieger, durch den Natio- nalen Frauendienst, zwang dazu eine Berechnung aufzustellen, mit welcher Geldsumme die ausreichende Beköstigung solcher Familien möglich sei. An sieh unterscheidet sich schen dieses Problem von dem, eine Familie von 5 oder 7 Köpfen zu erhalten, wie es öfter bearbeitet worden ist. Denn hier ist der Hauptverzehrer — weil an Körpermasse und an Energieanspruch bedeutendste Teil —, der Mann, nicht mit- zurechnen. Auch entfallen die meisten älteren männlichen Nachkommen. Während man sonst eine 5—7 köpfige Familie auf durchschnittlich 50 kg schwer rechnen würde, erscheint hier dieser Mittelwert erheblich zu hoch. Mutter und 4 oder 5 Kinder unter 14 Jahren stellen ein be- deutend geringeres Menschengewicht dar. Und doch geht es nicht ohne weiteres an das Gewicht der Berechnung in dem Sinne Kilo = Kilo zugrunde zu legen, denn ein Säuglingskilo erfordert z. B. soviel (zirka 100 Calorien), dass man rechnen muss 1 kg Säugling = ca. 3 kg Frau. Auch bei jungen Kindern bis. zu 12 und 14 Jahren ist der Calorien- bedarf grösser als beim Erwachsenen. Man wird darum der Wahrheit näher kommen, wenn man einen dem 50 kg Mittelwert nicht allzufernen annimmt und sich zu einer Annahme von 40 kg Durchschnitt für die Be- rechnung entschliesst. Denn wenn auch eine Frau mit 4 Kindern von 11, 9, 6 und 2 Jahren ein Gewicht 60 + 24 + 22 +18 + 10 = 134kg und einen Durchschnitt von 27 kg darbietet, so repräsentieren die 27 kg gewiss soviel an Ernährungsansprüchen, wie 40 kg im Durchschnitt. Die Calorienzahl von 35—40 kg angenommen, bekommen wir also die Aufgabe, für jedes Familienmitglied 1400—1600 Calorien pro Tag zu beschaffen. Und zwar wird es immer gut sein sich an die oberen Grenzen zu halten, damit eine Unterernährung möglichst vermieden wird. Als Grundlage, wieviel nun von diesen ca. 1600 Calorien durch Eiweiss gedeckt werden muss, würden die Ergebnisse eigener Bilanz- versuche eine Basis abgeben dürfen. In meinen Stoffwechselversuchen, die meist an Menschen im Anfang der 20er Jahre oder darunter angestellt worden sind, gelang es, ein Gleichgewicht herzustellen, wenn die Versuchspersonen pro Kilogramm erhielten: an Eiweiss 1,0—1,2g (d.h. für den 70 kg schweren Menschen 70—84 g), an Fett ebenfalls 1 g und an Kohlenhydraten 7 g und somit an Calorien 42 pro Kilogramm. Mit dieser Norm dürfen wir wohl auch an unser Problem heran- treten. Und so stellen sich denn als die Angelpunkte unserer Aufgabe heraus pro Person in den Kriegerfamilien 42 Calorien bei 1—1,2 g Eiweiss pro Kilogramm zu beschaffen. Dabei sind die Besonderheiten der jetzigen Kriegslage nicht ausser acht zu lassen. Denn wenn es sonst galt, die obige Aufgabe zu lösen, so genügte es ja, wenn die Einfachheit des Menus nicht störte, zirka 500—600 g Brot mit 50—60g E. und 1490—1600 Calorien zu geben und im Notfall noch durch 25 g Fett um 200 Calorien zu erhöhen, wo- bei die Gesamtkosten auf ca. 20—22 Pf. zu stehen kamen. Jetzt aber sind so grosse Brotmengen für den einzelnen nicht disponibel, und so muss das Menu in Rücksicht darauf, sowie im Hinblick auf die grosse Preissteigerung, wesentlich anders zusammengesetzt sein. Nehmen wir z.B. die jetzige zulässige Brotmenge mit 290 g Brot voll, so geben wir darin bei 6 pCt. Eiweiss und 53 pCt. Kohlenhydraten 17,4g Eiweiss and 153,7 g Fett und 705 Calorien zum Preise von. ca. 10 Pf. (dem analytischen Befunde des K.-Brotes nach). Legen wir noch 500 g Kartoffeln hinzu mit 400 Calorien und 5g Eiweiss (Preis 6 Pf.), sowie !/, 1 Magermilch mit 20 g Eiweiss, 220 Calorien (5 Pf.), so haben wir schon nn I. Abteilung. Medizinische Sektion. 13 Calorien Eiweiss Preis 701 17,4 10 Pf. 400 5 ne _ 220 20 5 1321. 42,4 "21 Pf. Pr. Fügen wir noch an Fett 20 g und Zucker 20 g hinzu, so erhöhen sich die Calorien Eiweiss "Preis 186 0 3 Bf 82 0 1Ar% auf 1589 42,4 DSNEN So ist eine Grundlage gewonnen, mit der wir dem Preise nach, sowie dem Eiweiss als Caloriengehalt nach auskommen können. Also ein Modus vivendi wäre gewonnen. Nun heisst es nur noch das kulinarische Programm auszugestalten. Wir können das nun sogleich selbst in die Hand nehmen, können aber auch auf dem Wege der Nachfrage bei den Kriegerfamilien sehen, in welcher Weise die Ernährungsfrage praktisch gelöst wird. Freilich hat von den mir durch die Patroninnen der von mir z. Z. geleiteten Nationalen Frauendienst-Gruppe freundlichst beigebrachten Familien- Wochenzetteln nur einer so weit eine Lösung der Aufgabe gebracht, dass wenigstens 1 g Eiweiss bei 37 Calorien pro Kilogramm, allerdings für 50 M. pro Monat, erreicht wurde. Wir können also aus der Empirie heraus kein ideales Essprogramm finden, denn jene 40 g Eiweiss sind, da es sich ja um Einfuhreiweiss und nicht um nutzbares Eiweiss handelt, sehr knapp und 37 Roh- kalorien pro Kilogramm desgleichen. So müssen wir selber den Vorratszettel entwerfen. Aus der Liste der übrigen Nahrungsmittel, die hier den Eiweiss- gehalt und den Caloriengehalt eines für 10 Pf. zu erhaltenden Quantums von Nahrungsmitteln darstellt, müssen wir die übrigen Nahrungssub- stanzen aussuchen. ‘Dabei brauchen wir uns keinerlei Schwierigkeiten daraus zu entnehmen, dass die enormen Fleischpreise eine nur seltene und spärliche Verabreichung von Fleisch gestatten, denn wir haben ja die Gleichwertigkeit des tierischen und pflanzlichen Eiweisses fast aus- nahmslos erkannt. Das Landtierfleisch ist für solche Börsen nur als seltene Delikatesse zu benutzen. Dagegen ist im Fischfleisch, besonders im Stockfisch, ein sehr billiger Eiweissträger gegeben. Auch die billige Magermilch bietet so viel Eiweiss als einen grossen calorischen Wert. Für 10 Pf. erhältlich, nach Cal. Für 10 Pf. erhältlich, nach Eiweiss geordnet. - geordnet. Eiw. Cal. iw. Cal. ZU Zuckerne 22077820 1712578 Stocktisch 92 400 ZEN BroL ER). 2 107602 1 1 Magermilch 40 400 858, Kartofeln . . .. 37668 80 g Magerkäse . 28 130 65, Margarine . . . O0 500 160, Seelachs 25 112 bis 160, Hering 2. . 2... 24 2924 60050 Yoolimilchgesır 7 716270 160%. Graupe „u. 27%,.1677448° 280, Brot (K.K.) 17 652 1 1 Magermilch . . 40 400 160, Graupe. . 16 448 125 g Stockfisch . . . 92 400 130 , Haferflocken (A). 13 364 130 „ Haferflocken (A). 15 364 835, Kartotteln 2 22072.7852668 490 Vollmilch” 2 202.22 18:5 270 40 „ Rindfleisch . 8 40 160), Hering. 7.01. 247,224 Bi. % 6 80 80 „ Magerkäse . . . 28 130 .205g Zucker 0 820 160/57 Seelachs .. 2... 25.112 65 „ Margarine 072500 ISENRENT 605‘ bis 40g Rindfleisch. . . 8 40 600 14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Von vielen Stoffen kann man heute für diese Zwecke wenig Ge- brauch machen, wie von Linsen, Bohnen, Erbsen, weil sie nicht reich- lieh vorhanden und teuer sind. Auch über Kartoffeln kann man nicht ins Ungemessene gehen, obwohl sie reichliche Calorienmengen nicht ohne Eiweiss einführen, denn auch ihre Menge ist begrenzt — freilich steht wohl von ihnen so viel, wie wirklich nötig ist, zur Verfügung. Versuchen wir also zu dem Höchstpreise von 50 M. pro Monat, wie ihn der Frauen- dienst als Norm setzte, eine Familie nach dem gegenwärtigen Preis- stande zu versorgen, so können wir die obigen heute — aber nur für kurze Frist — geltenden Zehnpfennigwerte zugrundelegen und kommen zu folgendem Menu: Frau mit 4 Kindern pro Woche: Menge Nahrung Eiweiss Cal. Preis Pf. 5500... - Broi.(K.K) 510 20400 306 24500 Kartofieln...... 245 19600 294 1000 Margarine... -... 9000 160 560 Magerkäse..... 168 910 70 7000 Magermilch ....... 230 2800 To 1000 Imker z:::,. ds: 4000 = 500 Stockfisch .......- 368 1600 40 230%. ‚Mehkeci: Knaur #B8 25 700 12 100 Granpe ı 2! 2r 10 280 S 230.1 Fleiseh.. 54 24 30 300 60 250 Sir. 2# HS 24 400 15 125 Marmelade. .... 200 9 Gewürze: „I. 15 Summa: 1656 60190 1103 Pro Tag und Kilogramm: 1,18 g Eiweiss 43 Cal. — Pro Monat: Mark 47,25 Hiermit ist also die erforderliche Zufuhr zum vorgesetzten Preise erreicht. Wenn in der Zukunft allerdings z. B. die Magermilch noch knapper wird — leider werden die Schweine, die Hauptmagermilchver- zehrer, noch viel zu wenig vermindert —, so muss sich das Menu na- türlich ändern. Diskussion. Hr. B. Oppler: Bei dem Speisezettel des Herrn Vortragenden spielt Magermilch und Magerkäse eine grosse Rolle. Ich möchte nun darauf hinweisen, dass Magermilch, speziell hier in Breslau, kaum zu beschaffen ist, keinesfalls aber in ausreichenden Mengen, das gilt zum Teil auch vom Magerkäse. Der Grund ist, dass bei der Teuerung der Futtermittel die Landwirte die Magermilch zum grössten Teil verfüttern. Wollte man darauf hinwirken, dass das nicht geschieht, so wird der Preis für beide Nahrungsmittel erheblich gesteigert werden müssen. Margarine, Graupen, Reis usw. sind schon heute etwas teurer, als sie Herr Rosen- feld eingesetzt hat und werden zweifellos bald noch erheblich teurer werden. Hr. Rosenfeld pfiichtet dem Vorredner darin bei, dass je nach der Preislage und dem Vorrat der Nahrungsmittel eine Aenderung nieht zu umgehen ist. Sitzung vom 26. März 1915. Vorsitzender: Herr Uhthoff£. Schriftführer: Herr Partsch. Hr. Kuznitzky stellt vor: 1. Zwei Fälle von Myeosis fungoides: der eine psoriasiform, der andere mit charakteristischen Hauttumoren. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 15 2. Boeck’sches Sarcoid. klein - papulöse Form. Differentialdia- gnostische Bemerkungen zum Lupus. 3. Schwere Haut-Aktinomykose. Nachweis der Pilze im Schnitt und durch den Kulturversuch. Starke lokale Reaktion jedesmal nach Salvarsanbehandlung; sonst Jod und Röntgen. Hr. Tobler: Neuere Wege in der Behandlung der Kinderkrämpfe. Der Vortragende bespricht die diagnostische Abgrenzung der Spasmo- philie von Krampfzuständen anderer Art, um sich sodann speziell der Behandlung spasmophiler Krämpfe zuzuwenden. Die diätetische Be- handlung wird in kritischem Referat besprochen. Hauptgegenstand des Vortrages ist die medikamentöse Behandlung der Tetanie: Vorstellungen, die wir uns über das Wesen und die Pathogenese dieser Krankheit ge- bildet haben, haben zu neuen therapeutischen Versuchen geführt, die Erfolge gezeitigt haben, obschon das erstrebte Ziel einer ätiologischen Therapie dabei unerreicht blieb. Die Caleciumbehandlung mit den von Göppert und Blühdorn eingeführten sehr grossen Dosen hat sich dem Vortragenden sehr gut bewährt. Mit ihrer Hilfe gelingt es, die Krampfmaniiestationen so lange hintanzuhalten, bis der langsamer wirkende Phosphorlebertran und die entsprechende Diät ihre Wirkung entfalten konnten. Das Bromcalecium in kleineren Dosen eignet sich unter be- stimmten Umständen besonders zur Behandlung des Stimmritzenkrampfes. Die subkutane Magnesiumbehandlung nach Berend ist gegen den eklamptischen Anfall in vielen Fällen rasch wirksam, beim Stimmritzen- krampf versagt sie häufig, verhilft dagegen bei den tonischen Dauer- spasmen bisweilen zu überraschenden Erfolgen. Der Einfluss des Caleiums und Magnesiums auf die elektrische Erregbarkeit ist ein deutlicher, aber rasch abklingender. Das Wesen der Salztherapie ist noch unklar; wahrscheinlich aber für Calcium und Magnesium grundsätzlich verschieden. Zum Schluss bespricht der Vortragende die Vorstellungen, die man sich über die Wirkungsweise des Phosphorlebertrans machen kann, und er- wähnt Möglichkeiten weiterer Entwicklung dieser Therapie nach neueren Gesichtspunkten. (Zwei klinische Vorträge ähnlichen Inhalts erscheinen gleichzeitig an anderer Stelle.) Diskussion. Hr. Hamburger erinnert angesichts der hohen, nach dem Beispiel von Göppert und Blühdorn, auch von dem Vortragenden angewandten Ca-Dosen an die Erfolge, die Kehrer mit weit kleineren Dosen bei Tetania neonatorum erzielte. Ihre Wirksamkeit könne doch nicht durch die verhältnismässig geringe Verschiedenheit des Lebensalters erklärt werden. Hr. Pohl: In Ergänzung des vom Herrn Vortragenden gebrachten . pharmakologischen Materials sei erwähnt, dass noch eine Steigerung der Erregbarkeit des Nervus vagus durch Kalkentziehung (mittels Natrium- oxalat) nachgewiesen worden ist. — Während Caleiumsalze quoad eurare- artiger Wirkung der Magnesiumsalze Antagonisten sind, gibt es noch Giftwirkungen, wo sie gleichsinnig wirken, z. B. bezüglich Aufhebung der peripher ausgelösten, fiibrillären Muskelzuckungen nach Guanidin. Hr. Rosenfeld: Ohne auf die komplizierten Ca-Resorptions- und Ansatzverhältnisse einzugehen, möche ich hier eine Gruppe von Tetanien — bei Erwachsenen — von anderer Aetiologie, nämlich die durch Wasserentziehung bzw. Blutverdickung bewirkten, erwähnen. Ein sehr charakteristischer Fall war der einer — bes. carpalen — Tetanie bei einem fast vollständigen Pylorusverschluss durch Uleus. Hier hob sich die Tetanie durch Tropfeinläufe in den Darm mit 5 pCt. Traubenzucker- 16 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. lösung. Als nun zur Vorbereitung für die Operation durch eine intra- venöse Infusion mit 11/, Liter physiologiseher Kochsalzlösung eine Sicherung dieser Besserung erzielt werden sollte, wurden irrtümlich auch hier 50 g Traubenzucker noch zugesetzt. Noch während der Infusion stellte sich die Tetanie wieder ein, lediglieh als Folge der Eindiekung des Blutes. Durch weitere Einläufe in Darm und Vene und schliesslich Operation wurde völlige Heilung erreicht. Ebenfalls als eine der Tetanie nahestehende Erscheinung bin ich geneigt eine andere Erkrankung aufzufassen: Das ist die Stenocardie. Durch ihre enorme Schmerzhaftigkeit sowie die Nutzlosigkeit der medi- kamentösen Therapie hat sie mich so an die Muskelkrämpfe erinnert, dass ieh sie schon mehrfach als einen „Wadenkrampf des Herzens“ bezeichnet habe. Die dabei bestwirksame Behandlung mit Dehnung und Massage ist ja beim Herzen leider nur sehr indirekt möglich. Am ehesten scheint noch dazu die Abschnürung von Gliedmaassen durch pneumatische Binden — wie bei der Blutdruckmessung — nach Lilien- steins Vorschlag nützlich zu sein: wenigstens hört man die Angabe, dass hierdurch der Herzschmerz sich beruhige. Ausserdem ist vielleicht die eilige Infusion von physiologischer Kochsalzlösung zum Zwecke der Dehnung des Herzmuskels in Betracht zu ziehen, wobei man noch eine Zufügung von Magnes. sulf. (subeutane Injektion?) erwägen dürfte. Hr. Toeplitz sen. bestätigt aus langjähriger Erfahrung die Beob- achtungen des Vortragenden über den vorzüglichen Einfluss des Phosphor- lebertrans bei den nervösen Erscheinungen der Kinder, insbesondere bei Glottiskrampf. Er weist sodann hin auf die alte, jetzt fast ganz ver- lassene Kalktherapie der Rachitis, die einen Erfolg nieht haben konnte, da der eingeführte Kalk fast vollständig wieder ausgeschieden wurde, und fragt den Vortragenden, ob nicht auch bei der Kalkbehandlung der Kinderkrämpfe dieselben Beobachtungen gemacht worden seien. Hr. Tobler (Schlusswort): Echte Spasmophilie bei Neugeborenen habe ich bisher niemals gesehen, die Zugehörigkeit der von Kehrer mitgeteilten Fälle zur echten Tetanie erscheint zweifelhaft. — Die Ver- schiedenartigkeit der Wirkungsweise von Ca und Mg ist deshalb wahr- scheinlich, weil sie pharmakologisch geradezu als Antagonisten wirken können. Die innere Verabreichung von Magnesiumsalzen ist mehrfach versucht worden, vor grossen Dosen hat man sich aber stets gescheut, weil man die Magnesiumsalze für stark giftig hielt. — Herrn Rosen- feld möchte ich darauf aufmerksam machen, dass Erscheinungen von Herztetanie in der pädiatrischen Literatur vielfach erwähnt und diskutiert wurden. Sitzung vom 7. Mai 1915. Vorsitzender: Herr Uhthoff. Schriftführer: Herr Partsch. Hr. 0. Förster: ö Die Schussverletzungen der peripheren Nerven und ihre Behandlung. (Mit Demonstration zahlreicher Patienten.) (Siehe Teil II.) Sitzung vom 11. Juni 1915. Vorsitzender: Herr Uhthoftf. Schriftführer: Herr Partsch. Vor der Tagesordnung. Der Vorsitzende Herr Uhthoff gedenkt zunächst des Heimganges von Herrn Prof. Dr. Ludwig Tobler. Vor 8 Tagen habe der Zeitpunkt I. Abteilung. Medizinische Sektion. 7 der Sitzung der medizinischen Sektion dieselbe ganz unerwartet an der Bahre des Verewigten zu einer tiefergreifenden Abschiedsfeier vereinigt. In 3 Tagen war er gesund und tot, eine rapide verlaufende Sepsis hat ihn dahingerafft. Redner gedenkt sodann der grossen wissenschaftlichen Verdienste Tobler’s und seiner hervorragenden Lehrbefähigung. Seine Arbeiten liegen hauptsächlich auf dem Gebiete der Stoffwechselerkran- kungen des Säuglingsalters, aber sein Können auch auf anderen medi- zinischen Gebieten hat er noch in der letzten Zeit durch Vorträge ge- rade hier in der medizinischen Sektion bewiesen. Die Hoffnungen, welche man auf seine Berufung vor 4 Jahren an die hiesige Universität setzte, hat er in ausgezeichneter Weise gerechtfertigt. Tobler war nicht nur ein ausgezeichneter Lehrer und Gelehrter, sondern auch ein trefflicher Institutsdirektor. Er hat es in seltener Weise verstanden, durch sein Beispiel und seine rastlose Tätigkeit auch seine Schüler mit sich fortzureissen. Der Verlust, den sein Tod der Universität und uns allen zugefügt hat, ist ein sehr grosser, und schwer wird es sein, ihn zu ersetzen. Ehre seinem Andenken. Hr. Mann demonstriert eine Anzahl von kriegsneurologischen Fällen. Fall1. Gewehrdurchschuss am linken Oberarm in der Gegend des Radialis. Partielle Radialislähmung, motorisch nur der Supinator longus und die Daumenextensoren gelähmt, sensibel der Hand- ast des Radialis betroffen. Bemerkenswert sind in diesem Falle die ausserordentlich heftigen Schmerzen, die in das Versorgungsgebiet des Radialis (Daumen, Zeigefinger) ausstrahlen und nicht nur bei Druck auf die Umschlagstelle des Radialis, sondern bei jedem beliebigen Reiz, der an irgendeiner anderen Körperstelle gesetzt wird, z. B. lebhaftem Druck in das Hypochondrium od. dgl., ausgelöst werden. Auch psychische Er- regung, ein kleiner Schreck, eine plötzliche Schalleinwirkung u. dgl. ruft schiessende Schmerzen von ausserordentlich heftiger Art im Radialis- gebiet hervor. Diese Schmerzen werden in so ausserordentlich lebhafter, ja grotesker Weise geäussert, dass man versucht sein kann, an Hysterie zu denken. Diese Auffassung wäre jedoch durchaus nicht berechtigt, vielmehr liegt offenbar eine Ueberempfindlichkeit eines durch organische Läsion gereizten Nerven vor, derart, dass jeglicher Reiz, an welcher Stelle er auch das Nervensystem treffen oder ob er auch rein psychisch bedingt sein mag, immer gerade in dieses Nervengebiet ausstrahlt. Es sind diese Fälle sicher nicht selten, ein ganz ähnlicher Fall ist kürzlich von Weygandt in Hamburg demonstriert worden, auch ein in meiner Beobachtung befindlicher Fall von Amputation des ÖOberarmes, der ständig heftige Schmerzen in der amputierten Hand empfindet, zeigt ähnliche Erscheinungen, indem auch hier alle Erregungen psychischer Art in die nicht vorhandene Hand lokalisiert werden. Fall 2. Ein Fall von hysterischer Halsmuskelkontraktur. Patient hat im September einen Schrapnellschuss in den Nacken er- halten, bemerkte sofort nach Abnahme des Verbandes vollständig steifen Hals. Es wurde eine organische Läsion angenommen, Fibrolysinein- spritzungen ohne Erfolg, seine Entlassung als dienstunfähig wurde in Aussicht genommen. Bei der Untersuchung in meiner Lazarettabteilung fand sich eine vollständig versteifte Halswirbelsäule. Aktiv war der Kopf nach keiner Seite beweglich, allen passiven Bewegungsversuchen setzte sich ein unüberwindlicher Widerstand gegenüber. Die Sterno- cleidomastoidei waren dabei nicht angespannt, sondern schlaff. Röntgen- bild normal, Sensibilitätsstörung in der Halsgegend mit horizontal ver- laufenden Grenzen nach oben in der Höhe des Kinns, nach unten etwa in der Höhe der 3. Rippe abgegrenzt. Leichte Gesichtsfeldeinengung, Schlesische Gesellsch. £. vaterl. Cultur. 1915. I. 2 18 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. allgemein nervöser Habitus. Durch kräftige Faradisation der Sterno- cleidomastoidei liessen sich ausgiebige Bewegungen erzielen und dadurch nachweisen, dass die Wirbelsäule nicht versteift war. Demnach konnte es sich nur um einen in den tiefen Halsmuskeln sitzenden tonischen Krampf von ungewöhnlicher Ausdauer und Stärke handeln. Die Be- handlung, die wesentlich suggestiv mittels des faradischen Stromes und passiver Bewegungen vorgenommen wurden, bestätigte diese Ansicht. Die Halsdrehung ist jetzt vollkommen wieder hergestellt, der Patient soll demnächst entlassen werden. Es werden nun mehrere Fälle von hysterischen Störungen, insbesondere Sensibilitätsstörung demonstriert und dabei besonders auf das häufige Vorkommen einer Kombination von organischen und hysterischen Störungen bei Schussverletzungen aufmerksam gemacht. Der Krieg gibt uns wieder ausreichende Gelegerheit, wie auch kürzlich von Nonne u.a. hervorgehoben worden ist, zu beobachten, dass es bei lokalen Verletzungen ganz ausgesprochene hysterische Sensibilitäts- störungen gibt, die nicht eiwa, wie vielfach angenommen wird, suggestiv durch die Untersuchung des Arztes hervorgerufen worden sind. Vortr. erinnert hier daran, dass schon im Jahre 1871, lange bevor die Lehre von der traumatischen Hysterie bekannt war, von Berger halbseitige Sensibilitätsstörungen nach Schussverletzungen im deutsch-französischen Kriege beschrieben worden sind. Neuerdings ist ja die Bedeutung dieser Sensibilitätsstörungen vielfach unterschätzt worden, indem sie für ein Kunstprodukt, welches teils durch ärztliche Untersuchung, teils durch die sogenannten Rentenbegehrungsvorstellungen ausgelöst wird, ange- sehen werden. Dass diese Aufassung nicht allgemein zutrifft, dafür bietet unser kriegsneurologisches Material mancherlei Hinweise. Fall3. Schussverletzung in der rechten Schläfengegend, grosser Knochendefekt, Pulsation des Gehirnes sicht- und fühlbar. Patient hat an dem rechten Auge eine Sehstörung, die sich bei augen- ärztlicher Untersuchung mit Simulationsproben als hysterische Amblyopie erweist, gleichzeitig eine Sensibilitätsstörung von exquisit hysterischem Charakter, die um das Auge herum gelagert ist. Patient bietet auch im übrigen einen hysterischen Habitus. Also hier eine Kombination ganz schwerer organischer Läsion mit begleitenden hysterischen Sym- ptomen. Fall4. Neuritis des linken Plexus brachialis im Anschluss an Typhus, organische Lähmung des Delteideus, Biceps, Brachialis internus mit kompletter Entartungsreaktion. Gleichzeitig funktionelle Parese der gesamten übrigen Arm- und Handmuskeln ohne Veränderung der elektrischen Erregbarkeit und eine Sensibilitätsstörung von typisch hysterischer Ausbreitung, die den Arm, die linke Halsseite und die an- stossenden linken Rumpfpartien umfasst. Im übrigen keine hysterischen Stigmata. Fall 5. Läsion des Nervus peroneus durch Schuss- verletzung mit typischer Sensibilitätsstörung in dem Ausbreitungs- gebiet des Nerven, dazu eine hysterische Parese des Fusses, die durch suggestive Faradisation rasch beseitigt werden konnte. Fall 6 und 7. Fälle von hysterischer Astasie-Abasie, von denen der eine ausgelöst wurde durch einen unbedeutenden Streifschuss in der Mitte des Schulterblattes, der andere durch ein im Schützen- graben erlittenes Trauma. Beiden Traumen folgte langdauernde Be- wusstlosigkeit, in dem einen Fall auch Krämpfe. Das anfangs vollständig aufgehobene Geh- und Stehvermögen wurde sehr bald durch suggestive Behandlung günstig beeinflusst, bis fast zur völligen Wiederherstellung. FallS. Tonischer Krampf im Gebiet des rechten Ulnaris, der im Anschluss an schweren Rheumatismus entstanden ist. Der Krampf I. Abteilung. Medizinische Sektion. 19 betrifft die Interossei und den Adduktor des Daumens, es findet sich ausserdem eine Sensibilitätsstörung im Gebiet des Ulnaris, im übrigen finden sich Zeichen leichter Parese an mehreren Muskeln derselben Extremität, besonders des Deltoideus, verbunden mit „Myokymie“ und eigentümlicher Veränderung der elektrischen Erregbarkeit, die besonders darin besteht, dass während und nach kräftiger Faradisation ein un- regelmässiges Wogen und Zittern der Muskulatur und auch ein Nach- lassen der Kontraktionsgrösse auftritt. Ferner finden sich andeutungs- weise myotonische Erscheinungen, insbesondere beim Augenschluss. Es scheint sich hier um neuritische Erscheinungen im Zusammen- hang mit Rheumatismus zu handeln, mit den eigentümlichen Verände- rungen elektrischer Erregbarkeit, welche besonders von Bittorf be- schrieben worden sind. Fall 9. Ein ätiologisch unklarer Fall von Lähmung im Gebiet des 9., 10., 11. und’ 12. Gehirnnerven, angeblich nach Typhusimpfung entstanden, eine Aetiologie, die jedoch nicht anerkannt werden kann. Es findet sich Lähmung und Atrophie der linken Zungen- hälfte, linksseitige Gaumenlähmung und Stimmbandlähmung, ferner totale Atrophie des Cucularis und Sternocleidomastoideus, dazu wieder eine Sensibilitätsstörung, die den linken Arm und die anstossenden Brustpartien umgreift, Wassermann ist negativ. Also jedenfalls ein Prozess, der in der Gegend der Medulla oblongata im Bereiche der ge- nannten vier Gehirnnerven lokalisiert ist, dessen Natur sich aber vor- läufig nicht bestimmen lässt. Vor der Diskussion stellt Herr 0. Förster einige Thesen auf. Hr. O0. Foerster fasst seine Erfahrungen, die er an 600 Schuss- verletzunden peripherer Nerven bisher gemacht hat, zusammen. Die Häufigkeit der Schussverletzungen peripherer Nerven ist eine sehr be- trächtliche, jedoch ist eine prozentuelle Abschätzung zurzeit noch nicht möglich. Totale Durchtrennungen des Nerven sind erheblich häufiger, als nach früheren Erfahrungen vermutet werden konnte, doch kommen andererseits auch Fälle vor, in denen anhaltende schwere Lähmungen bestehen mit schwerer Entartungsreaktion, bei denen der Nerv äusserlich so gut wie intakt befunden wird und nicht einmal mit der Umgebung verwachsen ist. Die innere Neurolyse (Aufbündlung des Nerven nach Spaltung seiner Scheide in seine Fascikel) deckt in solchen Fällen schwere Verletzungen im Inneren auf, indem die einzelnen Faseikel durch narbige Stränge eingeschnürt, stark verdünnt und zum Teil total durch- trennt sind. Dieser Befund der partiellen Durchtrennung einzelner Bündel im Inneren des Nerven, die manchmal sogar mit einem kleinen Neurom enden, stellt überhaupt einen häufigen Betund dar. 1. Aus dem Gebiete der motorischen Symptome ist besonders hervorzuheben die Häufigkeit der dissociierten motorischen Lähmungen, das heisst, dass von einem bestimmten Nerven nur einzelne Muskeln ge- lähmt sind, während andere so gut wie intakt befunden werden können. Zum Teil hängt diese partielle motorische Lähmung zusammen mit der Differenz, die in der Vulnerabiltät der verschiedenen Nervenfasern für die einzelnen Muskeln eines Nerven besteht. In der Hauptsache aber beruht sie auf dem eben mitgeteilten anatomischen Befunde, dass nur einzelne Fasern im Inneren des Nerven durchtrennt sind, während der Rest erhalten sein kann. Wiederholt konnte Vortragender nach der Aufbündlung des Nerven mit der Elektrode nachweisen, dass die erhal- tenen Faseikel den nicht gelähmten Muskeln entsprechen, während dem durchtrennten Fascikel der gelähmte Muskel zugehörte. Interesstant ist ferner aus dem Gebiete der motorischen Symptome die Beziehungen zwischen Lähmung und elektrischer Erregbarkeit. Im allgemeinen zeigt I* 20 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. die schwere Lähmung totale Entartungsreaktion, indessen existieren nach beiden Richtungen hin Abweichungen von dem Parallelismus zwischen Lähmung und Schwere der Störung der elektrischen Erregbarkeit. Ein- mal existieren Fälle, in denen Muskeln, die totale Entartungsreaktion zeigen, doch funktionell nur sehr wenig paretisch sind, und andererseits bleiben im Verlaufe der Restitution gar nicht selten Muskeln oder auch unter Umständen ein ganzes Nervengebiet in ihrer Funktion gelähmt, während die elektrische Erregbarkeit so gut wie normal geworden ist. Man kann in solehen Fällen geradezu von einer funktionellen Lähmung von peripherem Typus sprechen. Bei der Restitution der Funktion nach erfolgter Operation, speziell auch nach erfolgter Nervennaht haben sich hinsichtlich der Wiederkehr der elektrischen Erregbarkeit und der willkürliehen Erregbarkeit keine konstanten Beziehungen ergeben. In manchen Fällen kehrt zuerst deutlich die willkürliche Erregbarkeit wieder, während Nerv und Muskel faradisch noch nicht erregbar sind, in anderen Fällen ist es gerade umgekehrt. Monate lang kann ein Muskel- oder Nervengebiet bereits faradisch erregbar sein, ohne dass die geringsten Spuren einer willkürlichen Erregbarkeit vorhanden sind. Der letztere Typus scheint nach den bisherigen Erfahrungen des Vortragenden bei sehr hochsitzenden Lähmungen z. B. bei hochsitzenden Ischiadieusläh- mungen und Plexuslähmungen aufzutreten. Eine Regel existiert aber sicher in dieser Beziehung auch nicht. Häufig ist die motorische Läh- mung, soweit sie aus der Nervenläsion entspringt, noch kompliziert durch direkte Muskelläsionen und besonders durch ausgebreitete Verwachsungen und Verletzungen der Sehnen durah die Narbe. Gelegentlich kommt auch eine Reizung motorischer Nerven zustande, so dass sich die von den Nerven innervierten Muskeln in dauernder tonischer Kontraktion befinden und dabei auch interessanterweise eine mechanische Ueber- erregbarkeit aufweisen. Die sensiblen Erscheinungen spielen unter der Symptomato- logie der Schussverletzungen der peripheren Nerven in dem Material des Vortragenden eine hervorragende Rolle. Zunächst sind Ver- letzungen rein sensibler Nerven etwas sehr häufiges. Dieselben führen oft zu heftigsten und hartnäckigsten Neuralgien. In vielen dieser Fälle wurde bei der Operation eine ausgesprochene Verwachsung und Neurombildung aufgedeckt. Die Folgen solcher Läsionen sensibler Nerven sind nicht nur heftige Schmerzen und Parästhesien, sondern es bestehen auch in vielen dieser Fälle ausgesprochene und hartnäckige Kontrak- turen, die durch den centripetalen Reiz bedingt sind und sofort auf- hören, wenn dieser letztere beseitigt ist. Die Kontrakturstellung ist für jeden einzelnen sensiblen Nerven eine typische. Bezüglich der Einzel- heiten muss auf den Originalvortrag verwiesen werden. Ausser der Kon- traktur und der mit ihr in engem Zusammenhang stehenden Bewegungs- behinderung gesellt sich in einer Reihe von Fällen ein ausgesprochener Tremor des betreffenden Gliedes hinzu. Es handelt sich in diesen Fällen stets um neuropathisch veranlagte Individuen, deren Nervensystem auf den andauernden sensiblen Reiz in der genannten Weise reagiert. Aber auch bei den Verletzungen der gemischten peripheren Nerven spielen die sensiblen Symptome eine wichtige Rolle. Schmerzen von ganz un- erhörter Stärke und eigentümlichster Färbung, Parästhesien, Hyperästhe- sien beherrschen das Bild besonders zu Anfang, aber auch in der wei- teren Folge. Ihre Erklärung finden sie in dem anatomischen Be- fund ohne weiteres, in der Verziehung des Nerven, in den zähen und festen Adhäsionen desselben, in der inneren Vernarbung und in der Neurombildung. Auch bei totaler Kontinuitätstrennung des Nerven kommen die heftigsten Schmerzen bei totaler Anästhesie des peripheren Versorgungsgebietes vor, in dem der centrale Stumpf durch seine Ad- I. Abteilung. Medizinische Sektion. 21 häsionen und den inneren Narbenprozess fortgesetzt gereizt wird. Neben den Schmerzen bestehen, wie schon oben gesagt, oft die lästigsten Par- ästhesien. Unter ihnen überwiegt besonders das Gefühl eines heftigen Brennens und das Gefühl einer sehr lästigen Tröckenheit in Haut, so dass sehr viele dieser Kranken spontan zu dem Mittel greifen, das be- fallene Glied dauernd mit feuchten Lappen zu umhüllen. Die Reizung eines peripheren sensiblen Nervengebietes gibt sich interessanterweise oft nicht nur im spontanen Schmerz, sondern besonders auch dadurch zu erkennen, dass irgendeine sensible oder sensorische Erregung, die das Nervensystem überhaupt trifft, zu einem heftigen Schmerzanfall in dem betroffenen Nervengebiet führt. Kranke mit sensibler Medianusreizung oder Radialisreizung oder Ischiadicusreizung haben z. B. beim Hören der Musik, beim Anblick eines grellen Lichtes, beim Anfassen einer ganz gesunden Körperstelle sofort einen Schmerz oder eine lästige Empfindung in dem Versorgungsgebiet des lädierten Nerven. Jeder normale centripetale Erregungsvorgang irradiiert also sozusagen in die Peripherie des erkrankten Nervengebietes.. Ebenso häufig wie die Schmerzen und die anderen sensiblen Reizerscheinungen sind die Anästhesien. Oft besteht totale Anästhesie, oft nur Aufhebung des Gefühls auf leiseste Berührung. Genau wie bei den motorischen Symptomen die Häufigkeit der partiellen Lähmung einzelner Muskeln betont wurde, gilt für die sensiblen Ausfallserscheinungen die Häufig- keit partieller Anästhesien einzelner sensibler Nerven- gebiete, so z. B. bei Ischiadicusverletzungen Anästhesie nur im Gebiet des N. plantaris lateralis oder medialis, besonders häufig nur im Ge- biete des Suralis oder auch im Gebiete der Rami calcanei. Gar nicht selten sind übrigens auch Schussverletzungen gemischter Nerven, die nur zu sensiblen Symptomen (Schmerzen und Anästhesie) führen, ohne dass motorische Lähmung oder Parese bestände. Besonders gilt dies für den N. ischiadieus, aber auch für den Ulnaris, Medianus u.a. Drittens machen einen wesentlichen Teil der Symptomatologie die sekretorischen, vasomotorischen und trophischen Symptome aus. Profuse Schweisssekretionen einerseits, vollkommene Trockenheit der Haut mit starker Schuppenbildung derselben andererseits, Rötung, besonders aber blaurote livide Verfärbung, seltener anomale Blässe, hochgradige Kühle, abnorme Haarbildung, Brüchigkeit der Nägel usw. gehören hierher. Die Therapie der Schussverletzungen der peripheren Nerven muss grundsätzlich der Tatsache Rechnung tragen, dass ein sehr erheblicher Teil selbst schwerer Lähmungen mit totaler Entartungsreaktion bei einer konservativen Behandlung selbst nach vielen Monaten vollständig zurückgehen kann. Es ist hier der Platz hervorzuheben, dass totale Lähmung eines peripheren Nervengebietes mit schwerster Entartungs- reaktion durchaus nicht beweist, dass der Nerv durchtrennt ist oder sonst irreparable Störungen erlitten hat; dies ist auch dann noch nicht bewiesen, wenn Lähmung und Entartungsreaktion monatelang fortbestehen.. Deshalb ist prinzipiell jede Schussverletzung zunächst konservativ zu behandeln, wenigstens soweit die moto- rischen Symptome in Frage stehen. Konsequente elektrische Behandlung, wobei besonders die Anwendung der Galvanofaradisation zu empfehlen ist, Massage, passive Bewegungen und vor allem auch Lagerung der gelähmten Glieder durch Schienen und Verbände in der Weise, dass die Insertionspunkte der gelähmten Muskeln maximal genähert sind, sind das therapeutische Rüstzeug. Bessert sich nach 5—6 monatlicher Behandlung die Lähmung absolut nicht oder sinkt bereits vorher unter gewissenhaft geführter elektrischer Behandlung die galvanische Erregbarkeit mehr und mehr (starke Herabsetzung der galvanischen Erregbarkeit selbst bis auf Werte von 30—40 M.-A. z.B. im 22 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Gebiete des N. peroneus oder tibialis oder radialis ist nichts Seltenes bei totaler Durchtrennung), so hat an die Stelle der konservativen Be- handlung die chirurgische Behandlung zu treten. Wird der Nerv durchtrennt befunden, so kommt die Nervennaht an erster Stelle in Betracht. Dass diese den Gesetzen der inneren Topographie des Nerven Rechnung tragen muss, ist selbstverständlich. Wenn infolge zu grossen Substanzdefektes die Vernähung der beiden Stümpfe nicht möglich ist, so greift man zur Plastik. Vortr. gibt der freien Nervenplastik den Vorzug. Er schaltet freie Stücke eines sensiblen Nerven (Cut. ant. med., ant. lat., Radialis superficialis, Suralis usw.) zwischen centralen und peripheren Stumpf, und zwar nebeneinander 2—4 Stücke, so dass die Dicke des lädierten Nerven erreicht wird. Diese Methode gibt sicher praktisch gute funktionelle Resultate. An Stelle der freien Plastik kann man auch die bekannte Ueber- pflanzungsplastik machen, jedoch muss man hierbei beachten, nur entbehrliche motorische Fasern in die motorischen Fascikel des ge- lähmten Nerven einzuschalten. Für die Fälle, wo motorische Fasern an ihrer Eintrittsstelle in den Muskel abgeschossen sind und ein peripheres Ende nicht mehr aufzufinden ist, kommt die freie Implantation des centralen Endes direkt in die Muskelsubstanz nach Heinicke in Betracht. Diese Methode gibt nach den bisherigen Erfahrungen des Vortragenden vorzügliche Resultate. Ist der Nerv in seiner Kontinuität nicht total durehtrennt, so ist zunächst die Neurolyse zu machen. Erweist er sich, nachdem diese erfolgt ist, total vernarbt und verhärtet oder von einem harten Neurom durchsetzt, so muss das verhärtete Stück reseziert und danach die Nervennaht ausgeführt werden. Aber auch da, wo die Verhärtung bei Palpation keine so sehr hochgradige zu sein scheint, darf man sich nicht ein- fach mit der Neurolyse und der Bettung des Nerven in weiche Teile begnügen, sondern muss unbedingt die Scheide des Nerven spalten und die irnere Neurolyse vornehmen, d. h. den Nerven in seine Fascikel aufbündeln. Es ist dieses zwar eine sehr zeitraubende und äusserst mühsame Operation, die aber in ihren Resultaten sehr lohnend ist. Man hat die Verwachsungen und Ver- narbungen im Innern zu lösen und durchtrennte Fascikel wieder zu vereinigen, oft unter Resektion eines oder mehrerer kleiner Neurome, die sich im Innern des Nerven finden. Die innere Neurolyse muss auch in allen den Fällen ausgeführt werden, in denen äusserlich am Nerven nichts zu sehen oder durch Palpation zu fühlen ist. Sie deckt im Innern oft schwere Veränderungen auf (s. o.). Dass nach erfolgter Operation eine sorgfältige Nachbehand- Jung, die der konservativen Vorbehandlung durchaus gleicht, einzu- setzen hat, kann nicht genug betont werden. Sehr oft geben die sensiblen Reizerscheinungen und Schmerzen eine Indikation zum operativen Vorgehen ab. Hartnäckige Neuralgien, die auf schweren Veränderungen rein sensibler Nerven beruhen und die der Massage und der Injektion von Novocain oder Alkohol oder der Heissluftbehandlung und Diathermie trotzen, die mit Kontrakturen und schwerem Schütteltremor kompliziert sind, geben nicht selten eine Indikation zum operativen Vorgehen. Die Exzision eines Neuroms, am besten mit nachfolgender Neurexhairese führt mit einem Schlage zur Beseitigung der sensiblen und motorischen Folge- symptome. Diese Fälle bilden ein äusserst dankbares Gebiet der modernen Nervenchirurgie. Aber gelegentlich wird man auch bei Läsionen gemischter Nerven durch die besonders heftigen sensiblen Reiz- erscheinungen zu einer Operation veranlasst, selbst dann, wenn die motorischen Symptome noch keine Indikation zur Intervention abgeben. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 23 Auch in diesen Fällen zeitigt die Neurolyse, besonders wieder die innere Neurolyse, sehr erfreuliche Resultate. Die Resultate der operativen Behandlung der Schussverletzungen der Nerven sind in einer grossen Anzahl von Fällen bisher sehr be- friedigend. Allerdings ist die Behandlung mühsam und langwierig. Eine grosse Anzahl von operierten Fällen, auch von solchen, bei denen die Nervennaht ausgeführt werden musste, sind be- reits wieder kriegsverwendungsfähig entlassen worden. Diskussion. Hr. Melchior: M. H.! Im Auftrages meines Chefs, des Herrn Küttner, der durch Lazarettreisen verhindert ist, der Sitzung bei- zuwohnen, berichte ich kurz über einige der an der Königlichen Klinik hinsichtlich der Kriegsverletzungen des peripheren Nervensystems ge- wonnenen Erfahrungen. Auch hier ist zunächst die überraschende Häufigkeit der Beteiligung der Nervenstämme an den Schussverletzungen der Extremitäten hervorzuheben. Trotzdem ist die Zahl der operativ behandelten Fälle nur gering — bisher 29 —, da in der Mehrzahl des Materials konservative Maassnahmen sich als erfolgversprechend erwiesen. Niemals wurde vor Ablauf von 2—3 Monaten operiert, und in der Regel nur bei totaler Entartungsreaktion, d.h. auch bei Fehlen der direkten faradischen Erregbarkeit und bei völliger Funktionslosigkeit des zu- gehörigen Muskelgebietes. In minder schweren Fällen entschlossen wir uns zur Operation, wenn trotz monatelang fortgesetzter, intensiver kon- servativer Therapie jede Besserung ausblieb oder sogar ein Absinken der galvanischen Erregbarkeit eintrat. Herrn Stöcker (Königl. Nerven- klinik), dessen neurologische Befunde für unser Handeln bestimmend waren, sind wir für seine freundliche Mitarbeit zu besonderem Dank ver- pflichtet. — In einem Falle gab eine hartnäckige Neuralgie in einem Endaste des N. peroneus profundus die Indikation zur Neurexairese, in einem anderen Falle von partieller Läsion des N. ischiadicus wurde wegen unerträglicher neuralgischer Anfälle eingegriffen, doch blieb auch hier die Neurolyse erfolglos. Entsprechend dieser weitgehenden Zurückhaltung entsprach der anatomische Befund der freigelegten Nerven meist schweren Verände- rungen; eine völlige Quertrennung bestand 22 mal, also in 76 pOt. der Fälle. Es ist dies eine Häufigkeit, wie sie sonst meines Wissens unter diesen Umständen noch nicht angetroffen worden ist. Allerdings schliesst hier der Begriff der Quertrennung nicht ein, dass nun auch jegliche Verbindung der Stümpfe aufgehört hat. Man kann nämlich vielmehr mit grosser Regelmässigkeit feststellen — zumal wenn man unter Anwendung grösserer Ineisionen die Freilegung central und peripher vom Gesunden aus vornimmt — dass selbst in den Fällen, wo die kolbig aufgetriebenen Stümpfe auf 6 bis 3 und mehr Centimeter auseinander gerissen sind, deutlich erkennbare Bindegewebszüge eine offenbar provisorische Kommunikation dazwischen herstellen. Man wird wohl nicht fehlgehen, hierin die Vorläufer der eigentlichen nervösen Regeneration zu erblicken. Daneben fehlen aber auch unter unserem Materiale nicht solche Fälle, in denen der angetroffene anatomische Befund durch seine Gering- fügigkeit zunächst enttäuschte. Doch sahen wir gelegentlich die unter diesen Umständen angewandte Neurolyse von so promptem Erfolg be- gleitet, dass die Wirksamkeit der Operation nicht zu bestreiten war. Zur Verhütung von Reeidiven gilt es heute wohl allgemein als not- wendig, den ausgehülsten Nerven in gesundes Gewebe einzubetten. Ge- stielte Muskellappen, frei transplantierte Fascien — und namentlich Fettgewebsstücke dienten zu diesem Zwecke. 24 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Auch bei der Nervennaht wurde meist eine derartige Einscheidung der Nahtstelle vorgenommen. Technisch steht hier sonst die Frage des Aneinanderbringens der Stümpfe an erster Stelle. Mitunter lassen sich zwar die Enden durch vorsichtigen Zug ganz überraschend mobilisieren, bei ausgedehnten Verwachsungen misslingt dies jedoch. Es bleibt dann bei grösseren Defekten — von der stets unsicheren Plastik abgesehen — oft nichts anderes übrig, als durch entsprechende Winkelstellung der zugehörigen Gelenke eine Annäherung der Enden zu bewirken. Diese mitunter allerdings unvermeidliche Methode birgt jedoch leider ent- schiedene Gefahren für die spätere Gelenkfunktion in sich, da man bei starker Spannung für mindestens 10—14 Tage fixieren muss, und der spätere Ausgleich mit Rücksicht auf die Naht nur ganz allmählich er- folgen kann. Kontrakturen, die sich nur langsam, eventuell über- haupt nur teilweise wieder beseitigen lassen, bilden allzuleicht die Folgen dieses Vorgehens, zumal die Beteiligung der Weichteile schon von vornherein oft recht ausgedehnt ist. Dabei lässt diese Methode überhaupt im Stich, wenn es sich um die kombinierte Durchtrennung solcher Nerven handelt, die sich in ihren Spannungsverhältnissen bei den einzelnen Gelenkstellungen entgegengesetzt verhalten. Wir sahen dies bei gleichzeitiger Verletzung des Ulnaris und Medianus in Höhe des Ellenbogengelenkes. Mit Rücksicht auf diese Verhältnisse erscheint es mir nun von Wichtigkeit, darauf hinzuweisen, dass die vielfach erhobene Forderung, die Nervenenden unbedingt im Gesunden anzu- frischen, offenbar zu weit geht. Schon a priori lässt sich dem ja entgegenhalten, dass auch bei der „idealen“ Nervennaht zunächst stets nur eine bindegewebige Narbe zustande kommt. Interessant in dieser Beziehung erscheint ein von mir operierter Fall von Quertrennung des Medianus, wo es zu einer seitlichen Parallelverschiebung der Stümpfe (gleichzeitige Radiusfraktur!) gekommen war; ich liess diese Verschiebung bestehen, löste den Nerv aus und erzielte prompte Wiederherstellung der Funktion. Es heilen ja auch sicher spontan nicht wenige Fälle von totaler Nervenquertrennung. Wir verfügen nun über 2 Fälle, wo mit Rücksicht auf die sonst zu erwartende starke Spannung bewusst nicht im Gesunden angefrischt wurde (eine hohe Durchtrennung des Radialis in der Achsel, eine Ulnarisläsion oberhalb der Ellenbeuge), in beiden Fällen kam es trotzdem prompt zur Wiederkehr der Funktion. Ich glaube daher, dass, wenn die Anfrischung im Gesunden eine Plastik oder die Gefahr der Kontraktur nach sich ziehen würde, es besser ist, eine sparsame Anfrischung im Bereiche der bekannten glasig-homogenen Substanz vorzunehmen. Natürlich müssen die eigentlichen callösen Schwielen unbedingt exzidiert werden. Ueber endgültige Resultate heute schon zu berichten, ist nicht möglich, die verstrichene Zeit ist noch zu kurz; immerhin haben wir den Eindruck gewonnen, dass hier mancher Nutzen auf operativem Wege zu stiften ist. Wie vorsichtig man aber mit der Bewertung der auf diesem Wege gewonnenen Erfolge sein muss, lehren nicht wenige Fälle der Küttner’schen Klinik, wo auf Grund des neurologischen Befundes die Indikation zur Operation gestellt werden musste, wo auch operiert worden wäre, wenn nicht bestehende Fisteln, Frakturen usw. einen Auf- schub erheischt hätten; als aber schliesslich die lokalen Verhältnisse den Eingriff gestatteten, war er unnötig geworden, weil inzwischen der scheinbar irreparabel geschädigte Nerv seine Funktion wieder auf- genommen hatte. Hr. Kutner: Ich möchte mir erlauben, mit einigen Worten die Erfahrungen mitzuteilen, die wir mit der Behandlung von Nerven- verletzungen an der Heilanstalt für Unfallverletzte, die seit dem Beginn I. Abteilung. Medizinische Sektion. 25 des Krieges eine Abteilung des Festungslazaretts bildet, gemacht haben. Es war für uns besonders interessant, das uns jetzt zugehende Material mit dem reichen Material an Nervenverletzungen zu vergleichen, das wir seit Jahren in Behandlung bekommen. Es sind bisher etwa 120 Soldaten mit Nervenverletzungen stationär und ambulant von uns behandelt worden. Im Vordergrunge stand natürlich immer die Frage eines notwendigen chirurgischen Eingriffs. Theoretisch ist die Indikation für einen solchen Eingriff leicht gegeben. Wir sind berechtigt oder gezwungen, einen solehen vorzunehmen, wenn es wahrscheinlich ist, dass solche Störungen am Nerven vorliegen, die spontan oder durch andere Behandlung einer Restitution nicht zugänglich sind, und die einen erheblichen Funktions- ausfall oder eine wesentliche Störung des Allgemeinbefindens bedingen. Leider gibt es aber nicht eindeutige klinische Merkmale für das Vor- handensein einer solchen Störung. Bei den rein sensiblen Nerven wird der Ausfall an Hautempfindung wohl kaum eine Indikation abgeben, dagegen kann es vorkommen, dass Reizerscheinungen, Schmerzen, die durch kein anderes Mittel zu beseitigen sind, ein chirurgisches Eingehen erfordern, 2. B. Schmerzen im Gebiete des Trigeminus. Uns selbst sind solche Fälle bisher noch nicht vorgekommen. Wir haben zwar wiederholt auch sensible Reizerscheinungen bei Nervenverletzungen beobachtet, sie waren aber immer noch erträglich, besserten sich auch im Laufe der Behandlung. Bei den wesentlich in Betracht kommenden gemischt- faserigen Nerven haben wir in den Störungen der Sensibilität keine sicheren Merkmale für die Schwere der Verletzung finden können. Bei schweren Verletzungen ist allerdings die Sensibilität gewöhnlich in der bekannten Ausdehnung erheblich gestört. Wir fanden aber auch Ver- letzungen, die sich als leichte herausstellten, mit ausgedehnten Sensi- bilitätsstörungen, andererseits sahen wir gelegentlich auch schwere Verletzungen mit verhältnismässig geringer Ausbreitung der sensiblen Störungen, Es ist in letzter Zeit angegeben worden, dass eine Druck- empfindlichkeit an und distal von der Verletzungsstelle, besonders kom- biniert mit ausstrahlenden Schmerzen, auf eine minder schwere Störung hindeuten soll. Wir haben uns nicht davon überzeugen können, wir haben eine solche Druckempfindlichkeit auch in einem Falle erlebt, bei dem sich nachher bei der Operation eine vollkommene Durchtrennung des Nerven und Neurombildung am centralen Ende zeigte. Auch der Umfang der Lähmung ist kein sicherer Hinweis auf die Schwere der Verletzung. In den meisten Fällen sind allerdings partielle Lähmungen für eine minder schwere Verletzung zu verwerten. Wir sahen indes Fälle gar nicht so selten, wo eine Lähmung von vornherein partiell bleibt und sich spontan nicht zurückbildet. Fälle, bei denen es sich nicht um eine komplette Lähmung von Muskeln, sondern um eine Schwäche handelte, weisen durchweg auf eine leichte Nervenverletzung hin. : Als sicherster Maassstab für die Schwere einer Lähmung hat sich uns das elektrische Verhalten der gelähmten Muskeln gezeigt. Lähmungen, bei denen die faradische Erregbarkeit der gelähmten Muskeln erhalten bleibt, haben sich fast immer spontan meist in wenigen Wochen zurückgebildet. Auf der anderen Seite stehen Lähmungen, die das Phänomen der sogenannten totalen Entartungsreaktion zeigen, bei denen also die faradische Erregbarkeit erloschen ist und Veränderungen der galvanischen Erregbarkeit vorliegen. Bei diesen sind zu unter- scheiden die Fälle, bei denen bei Reizung mit dem galvanischen Strom die Zuckung ausgesprochen träge, wurmförmig ist, und bei denen die Erregbarkeit gesunken ist bzw. innerhalb einiger Wochen rasch, oft in erheblichem Grade, sinkt und gesunken bleibt. Diese Lähmungen haben sich uns fast durchweg als sehr schwere, einer spontanen Restitution nicht zugängliche, erwiesen. Ich habe im Laufe 26 Jahresberieht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Culiur. der Jahre nach meinen Aufzeichnungen im ganzen nur 2 Fälle gesehen, bei denen ich nach Jahren eine spontan eingeiretene weitgehende Besserung der Lähmung wahrnahm. Die häufigste Form der Lähmung war bei unseren Fällen die, bei denen die faradische Erregbarkeit er- loschen, die galvanische Erregbarkeit aber leicht gesteigert oder nur wenig herabgesetzt war und die Zuckung zwar laf&samer als normal verlief, aber doch nur selten den ausgesprochenen trägen, wurmförmigen Charakter annahm. Wir haben in solchen Fällen, wenn sie kurz, d.h. einige Wochen nach der Verletzung zu uns kamen, zunächst immer zu- gewartet und erst, wenn wenigstens 3 Monate nach der Verletzung ver- gangen waren, ohne dass bei gleichbleibender Lähmung eine Besserung in dem elektrischen Verhalten der gelähmten Muskeln eintrat, chir- urgisch eingegriffen. Die Operationen wurden von Herrn Heintze ausgeführt. Wir haben in diesen Fällen auch fast stets ziemlich schwere Veränderungen am Nerven gefunden und haben in den meisten Fällen den Eindruck gewonnen — präziser möchte ich mich nicht ausdrücken —, dass eine Bestitution ohne chirurgiseken Eingriff wohl nicht eingetreten wäre. Ich kann aber nicht umhin, zu bemerken, dass wir in einigen klinisch ganz ähnlich liegenden Fällen, bei denen auch monatelang keine Besserung sich zeigte, und bei denen wir einen ehirurgischen Eingriff für notwendig hielten, der aber wegen der Weigerung der Patienten unterbleiben musste, schliesslich, manchmal erst nach über einem Jahre, eine deutliche spontane Zurückbildung der Lähmung erlebt haben. Erst neuerdings haben wir dies an zwei Soldaten mit Schussverletzung des Oberarmes und folgender Lähmung des Badialis gesehen. Sie waren im September verletzt worden, noch im Dezember fand sich bei ihnen totale Entartungsreaktion mit leicht herabgesetzter galvanischer Erregbarkeit. In Anbetracht der langen Dauer der Störung rieten wir dringend zu einer Operation. Die Soldaten verweigerten sie, und bei beiden ist spontan bis jetzt schon eine wesentliche Besserung eingetreten. Es gibt also nach meiner Erfahrung unter den Verletzungen der peripheren Nerven eine ganz erhebliche Anzahl von Fällen, bei denen die Indikation zu einem chirurgischen Eingriff nach dem klinischen Bilde der Lähmung schwankend bleibt. Da bei dem vorzesechrittenen Stande der chirurgischen Technik und Asepsis eine Operation am Nerven wohl kaum als besonders gefährlich gelten kann, ist es meines Erachtens auch gestattet, schliesslich einmal ohne besonders strenge In- dikation einen Eingriff zu machen. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass die Restitution in Fällen, die sich nach dem klinischen Befunde vielleicht auch spontan zurückgebildet hätten, die Bückbildung nach einem chirurgisehen Eingriff, z. B. nach einer Abmeisselung eines kom- primierenden Knochenbruchendes oder nach Ausschälung aus derbem Narbengewebe, wesentlich schneller vor sieh ging. Nach den vorgetragenen Grundsätzen haben wir bei unseren 120 nervenverletzten Soldaten 10 mal operiert, und zwar nur Fälle, die klinisch auf eine schwere Nervenschädigung hindeuteten, was sich bei 9 Fällen auch bei der Operation bestätigt fand. Ven diesen Operierten (die Operationen liegen 1—6 Monate zurück) hat bisher erst bei einem eine Bestitution der Funktion begonnen. Dies Reultat kam uns nicht überraschend, wir wissen nach unseren früheren Erfahrungen, dass mit gelegentlichen Auszahmen die Funktion nach der Operation bei den ge- schilderten schweren Veränderungen erst nach vielen Monaten, manehmal nach über einem Jahre wiederkehrt. Bei einer Anzahl von Fällen, bei denen uns ein operativer Eingriff gleichfalls notwendig erschien, musste dieser wegen Weigerung der Patienten unterbleiben. Die klinische Behandlung und die Nachbehandlung der operierten Fälle erfolgt bei uns in der bekannten Weise mit Massage, Heissluft- b' I. Abteilung. Medizinische Sektion. 27 bädern und vor allem mit Anwendung des faradischen und galvanischen Stromes. Die alte Streitfrage, ob die Wiederkehr der Funktion durch diese Behandlung, besonders durch die elektrotherapeutischen Maass- nahmen, beschleunigt wird, möchte ich wenigstens für viele Fälle nach meinen Erfahrungen in bejahendem Sinne beantworten. Besonders wichtig scheint es mir auch zu sein, dass darauf geachtet wird, dass die Extremitäten stets eine solche Stellung einnehmen, dass die gelähmten Muskeln möglichst verkürzt werden. Zu diesem Zwecke sind bei uns in der Anstalt schon seit vielen Jahren von Herrn Bogatsch konstruierte Bandagen in Verwendung. Durch diese werden besonders auch die un- angerehmen Empfindungen und die Cirkulationsstörungen in den ge- lähmten Gliedern nach unseren Erfahrungen günstig beeinflusst. Hr. Honigmann: Bei der Indikationsstellung zur Operation ist das Ergebnis der fortgesetzten neurologischen Beobachtung nach den von Herrn Förster vorgetragenen Gesichtspunkten von ausschlaggebender Bedeutung. Wie lange man mit der konservativen Behandlung fort- fahren soll, ehe man sich zur Operation entschliesst, lässt sich nicht durch schematische Festlegung einer bestimmten Frist bestimmen, sonderm muss von Fall zu Fall entschieden werden. Der Zeitpunkt des Eingriffs hängt ferner auch von chirurgischen Momenten ab. In den meisten Fällen sind ja nicht nur die Nerven, sondern an der gleichen Oertlichkeit auch andere Weichteile (Haut, Muskeln, Sehnen, Blutgefässe) oder der Knochen verletzt. Es muss nun als Regel gelten, dass man nicht eher zur operativen Freilegung der Nerven schreiten darf, bis alle äusseren Wunden und Fisteln völlig vernarbt und Schussfrakturen kon- solidiert sind. Denn eine Nervenoperation kann nur Erfolg versprechen, wenn sie unter völlig aseptischen Verhältnissen vorgenommen wird. Muskel- und Sehnenverletzungen oder -verwachsungen, sowie trauma- tische Aneurysmen können dagegen meist gleichzeitig mit der Nerven- läsion angegangen werden. Es ist den Vorrednern zuzustimmen, dass man so lange konservativ behandeln soll, als die neurologische Beobachtung irgendeine begründete Aussicht auf Besserung zulässt. Andererseits ist nicht zu verkennen, dass die Verhältnisse für die Operation und die Bedingungen für die operative Heilung um so ungünstiger liegen, je älter die Schussnarben sind. Von grosser Bedeutung für die Indikationsstellung ist die Pro- gnose der Operation. Jeder Verletzte, dem der Eingriff vorgeschlagen wird, fragt: „Ist die Operation gefährlich? Kann sich der Zustand etwa dadurch verschlimmern?* Die unmittelbare Operationsgefahr ist recht ‚gering zu bewerten. Unter etwa 110 bisher operierten Fällen des Lazaretts ist kein Todesfall. Auch der postoperative Verlauf gestaltete sich meist sehr befriedigend. Ernste und dauernde Gesundheitsschädi- gungen wurden nie beobachtet; leichtere Wundinfektionen, Aether- bronchitiden und ähnliche Störungen vorübergehender Art waren in etwa 10 pCt. der Fälle zu verzeichnen und gingen immer rasch und ohne Folgen vorüber. Wiewohl es sich oft um recht eingreifende, lang- dauernde und schwierige Operationen handelte, trat die Erholung ge- wöhnlich auffallend schnell eine. Eine weitere Frage ist: „Können die Nerven, die den Angriffspunkt der Operation bilden, durch sie eine Schädigung erfahren?* Diese Befürchtung scheint auch in Aerztekreisen vielfach gehegt zu werden. Hat sich doch Rothmann sogar zu der Aeusserung verstiegen, dass „bei einer Legion von Fällen die im Gang befindliche Restitution des Nerven durch den Eingriff aufs schwerste ge- schädigt und vielleicht sogar unmöglich gemacht wird“. Demgegenüber muss betont werden, dass eine Schädigung der Nerven durch die Ope- ration bisher in keinem Falle beobachtet werden konnte. Auch war die 28 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Zahl der Fälle verschwindend klein, in denen der anatomische Befund nicht die Freilegung des Nerven gerechtfertigt hätte. Die spezielle Prognose des einzelnen Falles ist von der Schwere und vielleicht auch vom Sitze der Nervenläsion abhängig. Möglicherweise restituieren sich auch manche Nerven leichter als andere, wie ja auch die Vulnerabilität der einzelnen Nerven eine verschiedene zu sein scheint. Das technische Vorgehen bei der Operation, die Art und Intensität der Vor- und Nachbehandlung sind weiterhin für das schliessliche Ergebnis von grosser Wichtigkeit. Eine zahlenmässige Aufstellung der definitiven Operationsresultate kann zurzeit noch nicht gegeben werden. Immerhin sind schon eine bemerkenswerte Zahl von Heilungen zu verzeichnen. Hr. Partsch demonstriert das Präparat einer Schussverletzung des linken Ischiadicus, das bei der relativ geringfügigen anatomisehen Läsion und dem totalen Ausfall der Funktion das Missverhältnis zwischen der örtlichen Schädigung und dem schweren klinischen Bilde recht illustriert und daher doch noch Aufschluss gibt über den Grund der umfangreichen Störung. Es entstammt einem Wehrmann, der auf dem östlichen Kriegs- schauplatz einen Schuss durchs Becken erhalten hatte, der vom linken Gesäss aus eindringend über dem linken Schambeinast ausgetreten war. Gleich im Augenblick der Verletzung hatte der Verletzte sein linkes Bein kraftlos werden sehen und war nicht mehr imstande gewesen, es irgendwie zu bewegen. Mit einem Lazarettzug überbracht, in schwer- krankem Zustande, wurde er eingeliefert mit einem ungefähr zehn- pfennigstückgrossen Einschuss, der mit blutigen Gerinnseln bedeckt war und keine auffällige Schwellung der Umgebung aufwies. Der Ausschuss, nicht grösser als der Einschuss, blutete nur mässig. Der Leib war leicht aufgetrieben, nicht sehr druckempfindlich. Das linke Bein lag voll- kommen schlaff in leichte Auswärtsrollung und konnte gar nicht bewegt werden. Die Empfindungsfähigkeit war in dem Bereich des Unter- schenkels ganz erloschen und nur an der Vorderfläche des Oberschenkels herabgesetzt erhalten. Eine eingehendere Untersuchung des Nerven- status verbot sich durch die schwere Störung des Allgemeinbefindens. Es bestand im linken Unterlappen eine Pneumonie, der der Verletzte in der folgenden Nacht erlag. Die Obduktion zeigte, dass es sich um einen das Sitzbein zertrümmernden Beckenschuss ohne Eröffnung der Leibeshöhle, aber verbreitetem subperitonealen Extravasat handelte. In der Umgebung des Ischiadieus fand sich nur ein geringfügiger Blut- austritt, der Nerv war weiss und glänzend. An seinem äusseren Rande fand sich ein bogenförmiger, die Grösse eines grossen Schrotkorns nicht überschreitender Defekt, der kaum 4 mm tief in die Substanz des Nerven. hineinging. Dagegen erwies sich der ganze Querschnitt des Nerven im Innern blutig infiltriert, so dass der ganze Querschnitt braunrötlich ver- färbt war. So lag nur an ganz umschriebener Stelle eine Trennung des Zusammenhanges vor; aber die Störung der Funktion beschränkte sich nicht auf die der Stelle entsprechenden Nervenfasern in ihrer Ausbreitung, die nach der Stoffel’schen Topographie hauptsächlich dem Peroneus- gebiet entsprachen, sondern die blutige Infiltration des Nerven in seinem ganzen Querschnitt bewirkte die verbreitete Funktionsstörung. Hr. Stöcker befürwortet die konservative Therapie. Störungen im N. ulnaris zeigen geringe, im N. radialis und medianus bessere Neigung zur Heilung. Hr. O0. Foerster (Schlusswort): Was zunächst die Frage der totalen Kontinuitätstrennung anlangt, so hat Vortr. dabei doch in einer grossen Anzahl von Fällen beobachtet, dass überhaupt keine Verbindungs- brücke, auch nicht eine bindegewebige zwischen centralem und peri- pherem Stumpf bestand. Gar nicht selten besteht neben der Kontinuitäts- I. Abteilung. Medizinische Sektion. 29 trennung auch eine hochgradige Verlagerung der beiden Enden, indem das eine Ende oder beide vom Projektil mitgeführt wurden und im Knochen inserieren oder in die Ausschussöffnung mit hineingeführt wurden und in der Haut festgewachsen sind. Ich betone nochmals, dass aus dem Vorhandensein selbst totaler motorischer Lähmungen mit schwerer Entartungsreaktion und totaler Anästhesie im Gebiete des betroffenen Nerven zunächst nicht auf eine totale Trennung geschlossen werden darf. Andererseits darf aus dem Vorhandensein heftiger Schmerzen bei totaler Lähmung und Anästhesie nicht auf ein Erhaltensein der Kontinuität geschlossen werden. Dass gerade Plexuslähmungen eine besondere Neigung zur spontanen Restitution zeigen, wie Herr Stöcker meint, hat sich bei unserem Material nicht erwiesen. Wir haben eine ganze Anzahl von Fällen von Plexuslähmung operiert, in denen sich die Plexusäste total durchtrennt zeigten und genäht werden mussten. Interessant ist mir die Mitteilung Herrn Kutner’s, dass er bei seinem Material die sensiblen Symptome nicht so besonders häufig vorfand. In dieser Hinsicht ist bereits in der Literatur eine Divergenz der bisher vorliegenden Erfahrungen zutage getreten. Oppenheim betont die be- sondere Häufigkeit der sensiblen Symptome, Nonne hingegen findet eher das Gegenteil. Es scheint also, dass in dieser Hinsicht tatsächlich Verschiedenheiten des Materials bestehen. Die Frage der Indikation zum operativen Vorgehen ist nach Ansicht des Vortragenden bisher viel zu kompliziert aufgefasst worden. Fast jeder Autor sucht auf Grund von teils theoretischen, teils bisher ungenügenden praktischen Erfahrungen das Pro und Contra zu erörtern. In praxi dürfte die Frage jedoch einfacher liegen. Es wird eben jeder Fall zu- nächst konservativ behandelt, und zwar monatelang. Treten die ge- ringsten Zeichen der Besserung auf, so wird die konservative Behandlung unbedingt fortgesetzt, sinkt dagegen die galvanische Erregbarkeit immer tiefer und tiefer, so wird operiert. Was im Einzelfall vorzunehmen ist, ergibt sich aus dem jeweiligen Befunde. Die von Herrn Melchior be- fürchtete Schlingenbildung erhaltener Nervenbündel bei Durchtrennung anderer und Naht derselben kommt tatsächlich vor, bildet aber keinen Uebelstand. Die erhaltenen Bündel werden central und peripherwärts möglichst weit ausgelöst und zwischen sie und die genähten Bündel wird freies Fett gelagert. Der von Herrn Melchior betonte Uebel- stand, dass bei grossen Defekten nach erfolgter Nervennaht die Glieder lange in ungünstiger Stellung fixiert gehalten werden müssen, ist tat- sächlich vorhanden, aber es ist uns bisher immer gelungen, selbst bei Defekten von 6 cm und mehr nachträglich eine allmähliche Lösung und Rückführung der Glieder zu guter Stellung und Beweglichkeit zu bringen. Selbst wenn geringe Beugekontraktur im Ellbogen oder eine etwas ein- geschränkte Abduktionsmöglichkeit im Schultergelenk übrig bleibt, be- deuten diese doch nur eine Störung, die gegenüber der vorherigen, mehr oder weniger ausgesprochenen Lähmung ruhig mit in Kauf genommen werden können. Bei der Anfrischung vor der Nervennaht gehe man, um zu sparen, möglichst schichtweise, richtiger gesagt scheibenweise, vor, indem man zunächst nur den sicher total vernarbten Teil und dann 1—2 mm dicke Scheiben abträgt; sobald der Querschnitt glasige homo- gene Beschaffenheit zeigt, warte man einige Minuten, sehr oft treten danach die einzelnen Fascikel hervor, von denen zunächst nichts zu sehen war; sie erscheinen etwas gequollen und verfliessen auch zum Teil, dennoch kann bei dieser Beschaffenheit des Nerven die Naht mit Erfolg ausgeführt werden. Wollte man so viel abtragen, bis ganz normale Bündel zutage treten, so würde oft zu viel Substanz geopfert werden müssen. 30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Sitzung vom 9. Juli 1915. Vorsitzender: Herr Uhthoff. Schriftführer: Herr Partsch. Hr. H. Riegner: Die Therapie der Kieferschussverletzungen. (Mit Krankendemon- strationen.) Vortr. betonte, dass die oft sehr komplizierte Behandlung der Kieferschussverletzungen sich desto einfacher gestalte, je früher die Patienten in spezialistische Behandlung kämen. Gebot sei die richtige Eiustellung der Knochen vor der Behandlung der Weichteilwunden. Der Mundpflege sei grosse Sorgfalt zuzuwenden und in weitgehendstem Maasse konservierend vorzugehen. An der Hand einer Anzahl sehr inter- essanter Serien von Röntgenaufnahmen demonstrierte Vortr. die Regene- rationsfähigkeit der Knochen in den verschiedenen Stadien. Besondere Schwierigkeit böten die Verletzungen des Unterkiefers wegen der Dis- lokation der Fragmente. Das Kapitel der Physiologie und Pathologie der Kieferbewegungen werde durch die grosse Anzahl atypischer Fälle, welche während des Krieges zur Beobachtung kämen, ungemein be- reichert und -verspreche eine weitgehende Friedensarbeit. Vortr. ver- breitete sich über den Mangel einer rationellen Zahnpflege beim Volk und weist auf den Wert der Schulzahnkliniken als einen bedeutsamen erzieherischen Faktor hin, bespricht den Wert der vorhandenen Zähne für die Befestigung der anzuwendenden Apparate und wendet sich mit Entschiedenheit gegen die Knochennaht, welche nach modernen chir- urgischen Grundsätzen zu verwerfen sei. Er bevorzugt in erster Reihe die Drahtverbände als die vom hygienischen Standpunkte einwand- freiesten, gibt jedoch zu, dass auch Schienenverbände aus Zinn oder Kautschuk in gewissen Fällen nicht auszuschalten seien. Gerade bei der Behandlung der Kieferschussverletzungen soll man nicht schemati- sieren, sondern individualisieren. Er bespricht an der Hand von Licht- bildern die einzelnen Typen der gebräuchlichen Apparate und erwähnt besonders die von Schröder angegebene Gleitschiene als eine der genialsten Erfindungen auf zahnärztlich-chirurgischem Gebiet. In der durch das freundliche Entgegenkommen des Herrn Generaloberarztes Dr. Scholz, der dieser Disziplin der Chirurgie sein ganz besonderes Interesse zugewandt habe, eingerichteten Station für Kieferverletzungen am Breslauer Garnisonlazarett seien bis jetzt über 450 Kieferschuss- verletzungen behandelt worden. Vortr. stellt eine Anzahl von Patienten, darunter Verletzungen schwerster Art, sowie Kieferersatz vor und be- schreibt den Werdegang der Behandlung. Am Schluss seiner Demon- stration führte Vortr. eine Anzahl kinematographischer Aufnahmen von Kieferbewegungen vor und erläuterte das Zustandekommen derselben. Er schloss mit den Worten, dass die deutschen Zahnärzte mit Stolz und Genugtuung auf diese Resultate wissenschaftlicher und praktischer Arbeit zurückblicken könnten, zumal in diesem Feldzug der Beweis er- bracht sei, dass bei der Behandlung der Kieferschussverletzungen nach modernen chirurgischen Grundsätzen zahnärztliche Hilfe nicht mehr zu entbehren sei. Hr. Küttner, Generalarzt und beratender Chirurg der Lazarette Posens und Schlesiens, spricht sich in anerkennendster Weise über die Leistungen des Herrn Riegner aus. Hr. Köbisch: Ueber eine Verbesserung der Verwundetenfürsorge, (Siehe Teil II.) I. Abteilung. Medizinische Sektion. 3l Sitzung vom 23. Juli 1915. Vorsitzender: Herr Uhthoff. Schriftführer: Herr Partsch. Hr. L. Fraenkel: Beziehungen zwischen Geistes- und Frauenkrankheiten. Der Vortragende hat an den Irren der Provinzialanstalt in Lublinitz Untersuchungen angestellt und die in den letzten Jahren besonders von italienischer Seite betonten Beziehungen zwischen Geistes- und Frauen- krankheiten nachgeprüft. Die erworbenen Frauenkrankheiten waren auf ein geringes Maass beschränkt, infektiöse Katarrhe fehlten fast ganz, ebenso krankhafte Geburtenfolgen, sowie die ernsteren Frauenkrankheiten Pyosalpinx, Carcinom, Myom. Die Masturbation spielte keine grössere Rolle wie bei den geistig Gesunden; unter den Ledigen hatten mehr als die Hälfte einen intakten Hymen. Dagegen war der Prozentsatz von Entwicklungshemmungen sehr gross. Hauptsächlich unter den jugendlichen Irren fanden sich sehr schwere Fälle von Infantilismus genitalium (unter 37 Fällen 30 mal), aber auch bei epileptischem Irresein, Imbeecillität und anderen Erkran- krankungen, nämlich solchen, die in den Entwicklungsjahren häufig auf- treten. Da bei einer grossen Anzahl der Individuen auch allgemein- somatisch deutliche Zeichen des Infantilismus vorlagen, so muss man in ihm eine der wesentlichen Grundlagen für das Zurückbleiben des Ge- hirnes auf kindlicher oder präpuberaler Stufe sehen. Die Ursache des Infantilismus genitalium liegt in der ungenügenden Produktion des Eierstockhormons, welches aus dem Kinde nicht bloss in den sexuellen, sondern auch in den übrigen Körperfunktionen das Weib heranreifen lässt. — Operationen am kindlich-hyperplastischen, stenotischen, ver- lagerten Uterus haben wenig Zweck oder erreichen ihn nur auf dem Umwege, den Eierstock zu vermehrter Tätigkeit anzuregen. Thera- peutisch käme vielmehr in Frage, die kranken durch gesunde Ovarien zu ersetzen (dazu wird kaum je ärztlich oder ethisch die Berechtigung gegeben sein) oder die allerdings unvollkommene Behandlung mit Eier- stockextrakten, speziell Lutein. Von der gynäkologischen Therapie ist demnach nicht viel zu erwarten. Der Schwerpunkt der Untersuchungen liegt auf ätiologischem Gebiet. Wenn ein gynäkologischer Befund be- steht, so sind Geistes- und Frauenkrankheiten aus gleicher Ursache entstanden oder wenigstens beeinflusst, nämlich durch den Infantilismus, der auf Störung der inneren Sekretion, speziell der Eierstöcke beruht. Diskussion. Hr. Alzheimer wendet sich gegen die Auffassung Bossi’s, dass die Dementia praecox ein Infantilismus des Gehirns sei. Die Verände- rungen der Geschlechtsorgane sind degenerativer Art. Hr. Küstner kann einem extremen Standpunkt, dass viele Psycho- pathien der Frauen auf genitale Erkrankungen ätiologisch zurückzuführen seien, nicht beitreten, obwohl er als Schultze’scher Schüler schon früh auf die Möglichkeit derartiger Beziehungen hingewiesen wurde. Am wenigsten kann er sich dem Standpunkt Bossi’s anschliessen, der am weitesten geht. Andererseits aber kann er sich dem nicht verschliessen, dass die Psychiater, welche sich zu dieser Frage bisher geäussert haben, eben- falls einen extremen Standpunkt einnehmen, so z. B. Siemerling, welche die von den Gynäkologen gegebenen Anregungen als haltlos rundweg ablehnen. Die Konzession, welche seitens der Psychiater den Gynäkologen gemacht werden, lautet im allgemeinen dahin, dass bei 32 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. vorhandener Disposition die genitale Erkrankung höchstens als Agent provocateur wirke. Meiner Ansicht nach lautet die Fragestellung so: Ist es möglich, dass durch die genitale Erkrankungen und ihre Folgen Zustände geschaffen werden, welche für die Entstehung psychischer Erkrankungen die gleiche Bedeutung haben, wie vorhandene Disposition. In Betracht kommen genitale Leiden, welche zu konsumierenden Blutungen führen, ferner schwere Infektionen. Doch kann nicht übersehen werden, dass auch Leiden anscheinend harmloseren Charakters bedeutungsvoll sein können. So z. B. die typische Lageabweichung des Uterus, der ptotische Zustand, die Retroversio-flexio. Sie geht stets einher mit Torsion des Meso- metriums, Folge Cirkulationsstörung in den daselbst verlaufenden Ge- fässen, Folge davon Funktionstörung nicht nur im Uterus, sondern auch in den Keimdrüsen. Diese könnten schon ein schwer wiegendes Moment sein. Wenn von den Psychiatern die genannte Möglichkeit gegeben wird, dann würde ich mich mit ihnen in voller Uebereinstimmung befinden. Durch die Beobachtungen des Herrn Fraenkel ist in dem Infan- tilismus eine Genitalanomalie erkannt worden, welcher Beziehungen zu psychischen Erkrankungen zukommt. Das bedarf der Nachprüfung. Hr. Cl. Neisser-Bunzlau: Da die Psychosen der Frauen in der Hauptsache sich nicht viel anders zeigen wie die der Männer, so ist es von vornherein nicht sehr wahrscheinlich, dass gerade von der Gynäko- logie das psychiatrische Heil kommen werde und es ist kaum zu ver- stehen, dass ein Arzt von der Bedeutung B. S. Schultze’s sich noch 1912 zu der Behauptung versteigen konnte, dass ein als Operateur be- währter Gynäkologe als Direktor eines grossen Weiber-Irrenhauses allen Indikationen gerecht werden würde, sofern er psychiatrisch gebildete Assistenten zur Seite hätte. Es ist erfreulich, dass in der Ablehnung solch einseitiger Uebertreibungen sich hier volle Uebereinstimmung ge- zeigt hat. Von Vertretern fast aller medizinischen Spezialitäten ist gelegentlich schon der Anspruch erhoben worden, dass den betreffenden Organerkankungen für Entstehung und Heilung von Psychosen eine ganz besondere Rolle zukomme, von Magenärzten, von Ohrenärzten, ganz be- sonders auch von Nasenärzten usw. Darin möchte ich aber Herrn Küstner zustimmen, dass dem Geschlechtsleben, namentlich der Frau, eine so gewaltige, nicht nur physiologische, sondern auch psychologische Bedeutung zukommt, dass der seelische Einfluss gynäkologischer Leiden ganz gewiss nicht gering zu veranschlagen und eine sachgemässe Unter- suchung und Behandlung in vielen Fällen von besonderer praktischer Wichtigkeit ist. Von den Untersuchungsergebnissen des Herrn Vortragenden scheint mir die angeblich enorme Häufigkeit eines genitalen Iofantilismus bei Dementia praecox-Kranken das Hauptinteresse beanspruchen zu dürfen; in diesem Ausmaasse ist dies meines Wissens bisher nicht bekannt gewesen. Allerdings wird es, wie schon Herr Alzheimer betont hat, zur Klärung notwendig sein, die psychiatrischen Bilder etwas schärfer zu fassen, als dies hier geschehen ist. Sollten die Ergebnisse bei fortgesetzten Unter- suchungen sich bestätigen, so möchte es sich vielleicht um diejenigen Gruppen von Fällen handeln, wo auf einem angeborenen Schwachsinns- zustande sich später eine Psychose vom Typus der Dementia praecox aufgepfropft hat. So würden die Befunde allenfalls verständlich sein. Hr. L. Fraenkel (Schlusswort): Wenn ein zuerst gutlernendes Kind plötzlich in der Schule nicht mehr mitkann, wie das als charakteristisch für jugendlichen Schwachsinn betont wurde, so sehen wir den gleichen Vorgang auf dem Gebiet des Genitalinfantilismus: Hier wachsen ebenso I. Abteilung. Medizinische Sektion. 33 die Organe bis zu einem gewissen Grade heran und bleiben dann stehen. Den Jugendschwachsinn habe ich nicht als Infantilismus per se erklärt, sondern betont, dass trotz des hauptsächlich infantilen Krankheitsbildes andere krankmachende Ursachen vorliegen müssen; andererseits ist auch bei den übrigen Geisteskrankheiten die Entwicklungshemmung ein wichtiger ätiologischer Faktor. Operativen Eingriffen habe ich gewiss nicht das Wort geredet; die Frauenärzte lehnen im allgemeinen jede Polypragmasie ab, dagegen legt ein Teil der Psychiater viel zu wenig Wert auf die gynä- kologische Untersuchung aus unberechtigter Scheu oder Unkenntnis auf diesem Gebiete. Die verschiedenen Formen des Jugendschwachsinns konnte ich in bezug auf die infantilistischen Störungen nicht auseinander- halten, vielleicht beschränken sich die Befunde auf die eine oder andere Krankheitsgruppe; doch ist ihr Vorhandensein zweifellos. (Die ausführliche Mitteilung erscheint in der Medizinischen Klinik.) Hr. Küttner gibt einen Bericht über seine Tätigkeit als beratender Chirurg im Bereich des V. und VI. Armeekorps. Eingehender, von zahlreichen Demonstrationen begleiteter Bericht . über eine Riesentätigkeit, welche an der grossen Einfallspforte für die Verwundeten des östlichen Kriegsschauplatzes die Lazarette in 121 Ort- schaften mit einer Belegziffer von über 50000 Betten umfasst. Gleich- zeitig Bericht über die grosse operative kriegschirurgische Tätigkeit in der Breslauer chirurgischen Universitätsklinik, in welche dank dem Ent- gegenkommen der Sanitätsämter des V. und VI. Armeekorps Schwer- verwundete aus dem Gesamtbereich der Beratungtätigkeit K.’s verlegt werden können. Zu kurzem Referat ungeeignet. Sitzung vom 5. November 1915. Vorsitzender: Herr Uhthoff. Schriftführer: Herr Rosenfeld. Vorsitzender: M. H.!' Nach längerer Ferienpause habe ich die Ehre, Sie wieder hier an dieser Stätte zu neuer wissenschaftlicher Heimarbeit zu begrüssen. Mit ehernen Schritten haben die gewaltigen Ereignisse ihren Lauf genommen, und viele junge und ältere Männer sind dahinge- gangen in dem erschütternden und heiligen Kampf fürs Vaterland. Auch in unseren Reihen hat der Tod Lücken gerissen, wie nie in einem Kriege zuvor und wahrlich, mit unsere Besten haben wir hergeben müssen. Auf Stumpf, Magen und Bruck sind weitere gefolgt, nicht weniger als vier junge hoffnungsvolle Kollegen sind uns entrissen und besonders hart sind dieses Mal unsere Kliniken betroffen worden. Oscar Bondy, Ernst Jeger, Max Salzmann, und zuletzt Albert Bauer sind die- jenigen, deren Namen mit ehernen Lettern in die Geschichte unseres Vaterlandes eingetragen sind. — In der Blüte der Jahre, am Beginn einer hoffnungsvollen und vielversprechenden Laufbahn hat der Tod sie abberufen. Dozent Dr. Oscar Bondy war der erste, den der Tod uns entriss, aber spät erst wurde uns die sichere Kunde von dem Heimgang dieses ausgezeichneten jungen Kollegen. Sie kannten ihn alle den jungen, lebensfrischen, freundlichen und liebenswürdigen Kollegen, dessen äussere Erscheinung kaum den tiefgründigen ernsten wissenschaftlichen Forscher und Arbeiter ahnen liess. Und doch war dem so! Im Jahre 1910 trat er an der hiesigen Universitätsfrauenklinik als Assistent ein, nach einer wissenschaftlichen Vorbereitung auf breiter umfassender Basis. Wir ver- danken ihm eine Reihe wertvoller wissenschaftlicher klinischer Arbeiten, sein eigentliches Arbeitsfeld aber lag auf bakteriologischem und klinisch Schlesische Gesellsch. f. vaterl. Cultur. 1915. 1. 3 34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. experimentell bakteriologischem Gebiet, seine Abhandlung über Sepsis ist mustergültig. Noch viel war von ihm in wissenschaftlicher Beziehung zu erwarten. Aber es sollte anders kommen, sein Tod in Przemysl vernichtete alle diese Hoffnungen. Dr. Ernst Jeger war der zweite, den wir verloren, der Fall von Przemysl führte ihn in russische Gefangenschaft und in den Tod. So jung Dr. Jeger noch war, so bekannt war er schon im In- und Auslande durch seine ausgezeichneten experimentellen Arbeiten, besonders auf dem Gebiete der Blutgefässchirurgie. Sie alle werden sich noch seines glänzenden Vortrages und seiner Demonstrationen auf diesem Gebiete hier im Schosse unserer Gesellschaft erinnern. Er war ein gedanken- reicher, vielversprechender, origineller Forscher, von dem die Chirurgie noch viel Förderung zu erwarten hatte. Die Chirurgische Universitäts- klinik verlor in ihm einen ihrer besten, begabtesten und liebenswürdigsten Assistenten. Dr. Max Salzmann war Assistent an der Dermatologischen Uni- versitätsklinik. Gleich zu Anfang des Krieges zog er als Leutnant eines württembergischen Dragonerregimentes ins Feld und hat viel mitgekämpft in dem grossen Ringen. Das erste Mal wurde er leicht verwundet und zog von neuem zum Kampf hinaus, das zweite Mal, am 22. März 1915, hat ihn eine einschlagende Granate dahingerafft. Auch er arbeitete vornehmlich auf bakteriologisch klinischem Gebiete. („Trachom und Gonorrhoe“, Diplococcus erassus als Erreger von Urethritis und Epididy- mitis“ u. a). Der Tod fürs Vaterland hat einen ganzen, tapferen Mann in ihm gefordert und schöne Hoffnungen für die Zukunft zu Grabe getragen. Und nun die letzte Trauerkunde von dem Heldentode unseres lieben Kollegen Dr. Albert Bauer, eines Sohnes unserer Vaterstadt, eines ausge- zeichneten Menschen von grosser persönlicher Liebenswürdigkeit und sonni- gem Humor. Wer seinen letzten kleinen Artikel in der Schlesischen Zeitung über seinen letzten Urlaub in der alten Heimat las, nachdem gerade die Todesbotschaft eingetroffen war, der konnte sich einer tiefen Ergriffenheit nicht erwehren. Diese feine humorvolle Schilderung von Heimweh, un- getrübter Lebensfreude und abermals einziehender Sehnsucht nach seinen Musketieren zurück ins Feld hat uns seltsam und tief gerührt. Und bald nach seiner Rückkehr ins Feld fiel er in treuester Pflichterfüllung mit seinen Musketieren. Seine Persönlichkeit ist Ihnen allen in frischer Erinnerung, Humor und ernstes wissenschaftliches Streben in schönster Vereinigung. Er war ein Lebenskünstler und ein Held im Sterben. Der chirurgischen Uni- versitätsklinik hat er lange Jahre die ausgezeichnetsten Dienste geleistet. Er war ein erfinderischer Geist, und Sie alle werden noch seine schöne Demonstration über die Röntgendurchleuchtung im Gedächtnis haben. Eine Reihe wertvoller Arbeiten dankt ihm die Chirurgie (über „Schiefhals“, „Einwachsen transplantierter Knochen“, prothetische Behandlung des Rectum prolapsus“ u. a.). Sie sehen, meine verehrten Herren Kollegen, wir haben mit unsere Besten hergeben müssen, und blühendes Leben und viel berechtigte wissenschaftliche Hoffnungen sind zu Grabe getragen. Aber wir wollen es nie vergessen, was sie dem Vaterlande, der Menschheit und der Wissenschaft geleistet haben. Ihr Andenken in hohen Ehren und in dankbarer Erinnerung für immer! Ich bitte, sich zur Ehrung der tapferen Toten von den Sitzen zu erheben. 1. Hr. A. Neisser: Zur Erinnerung an Paul Ehrlich. 2. Hr. Röhmann: Ueber den Nährwert des Vollkornbrotes. (Siehe Teil II.) I. Abteilung. Medizinische Sektion. 35 Sitzung vom 19. November 1915. Vorsitzender: Herr Uhthoff. Schriftführer: Herr Rosenfeld. 1. Diskussion zum Vortrage des Herrn Röhmann: Ueber den Nähr- wert des Vollkornbrotes. Hr. Kunert: M.H.! Die Ausführungen Herrn Röhmann’s gipfelten in den Sätzen: „Es kann als feststehende Tatsache gelten, dass bei ein- seitiger Ernährung mit Feinmehlprodukten Tier und Mensch von Krank- heiten — Beri-Beri, Pellagra, Skorbut — befallen werden und schliesslich zu grunde gehen, während bei Hinzunahme der betreffenden Kleie selbst bei sonst einseitiger Ernährung Mensch und Tier gut gedeihen. Zur Erklärung dieser Erscheinung bedarf es aber nicht der Annahme des Funk’sehen Vitamins!), es genügt vielmehr, auf die schon seit langem bekannte Tatsache hinzuweisen, dass die in den Feinmehlprodukten ent- haltene Promaline (beim Weizen als Gliadin und Glutenin bezeichnet) als unvollständige Eiweissstoffe allein zur Unterhaltung des Stoffwechsels nicht genügen, sondern der Ergänzung duıch andere bisher unbekannte „Ergänzungsstoffe* bedürfen, die in der Kleie enthalten seien. Es ist aber nicht nötig, dass diese Ergänzung der „unvollständigen“ Eiweiss- gruppen durch Kleie erfolgt; sie kann ebenso gut aus dem Fleisch, aus Gemüse oder Obst vor sich gehen; der wohlhabende Mann kann also durchaus Feinmehlprodukte geniessen, wenn er daneben für das nötige Fleisch, Obst oder Gemüse sorgt; wichtig wäre es dagegen, der Er- nährung der breiten Massen die Kleie dienstbar zu machen. Dass uns mit der Kleie die Mineralstoffe grösstenteils verloren gehen, ist bedeu- tungslos, da wir diese aus anderen Nahrungsmitteln in ausreichender Menge aufnehmen.“ Wir werden zu prüfen haben, ob sich diese Auffassung Herrn Röh- mann’s halten lässt. In der Eiweissfrage will mir seine Anschauung richtiger erscheinen als die Funk’s; sie erklärt besser, weshalb das Innere des Getreidekorns, sei es als Weissbrot, sei es in Form sonstiger Nahrungsmittel genossen, so unbefriedigt lässt, so wenig sättigt, trotzdem doch der Eiweissgehalt nur ganz unerheblich geringer ist als im ganzen Korn; sie erklärt gut, weshalb mit der Einführung immer weisserer Gebäcksorten die Frage der Zukost dringender wurde, warum letztere notwendigerweise mehr tierische Eiweissprodukte, Fleisch und Wurstwaren, Eier, Käse sein mussten. In der Mineralsalzfrage werde ich auf die Ergebnisse einiger Arbeiten hinweisen können, die auf Grund von Tierexperimenten andere Anschauungen nahe legen, als sie Herr Röhmann vertritt. Die Ablehnung des Funk’schen Vitamins scheint mir nur wissen- schaftliches Interesse zu haben; für die Praxis ist sie gleichgültig. Denn sowohl die Funk’sche, wie dieRöhmann’sche Auffassung ergibt die Wichtigkeit der Kleie und die Ueberlegenheit des Vollkornbrotes über das Weissbrot. Wertvoll war mir, dass auch Herr Röhmann das Voit-Rubner’sche Eiweissdogma durch die Untersuchungen Hindhede’s?) als überholt ansieht. Hindhede fand als Eiweissminimum bei seinen 12tägigen Versuchen 50 g. Aber auch dieses Resultat ist inzwischen durch Arbeiten 1) Funk, Diät und diätetische Behandlung vom Standpunkt der Vitaminlehre. M.m.W., 1913. Nr. 47. 2) Hindhede, Das Eiweissminimum bei Brotkost, Skandinav. Arch. . f. Physiol., 1914. 3* 36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. verschiedener Forscher noch wieder überholt worden. Röse!) konnte sich und seinen Sohn durch 3 Monate lange fortgesetzte Stoffwechsel- versuche mit unglaublich geringen Mengen von Eiweiss und zwar mit 20—30 g im Stickstoffgleichgewicht erhalten. Den Röse’schen Ver- suchen kommt dadurch eine besondere Bedeutung zu, weil sie im Gegen- satz zu den nur tageweise durchgeführten Voit’schen Versuchen sich über einen so langen Zeitraum erstreckten. Röse hatte direkt Schwierig- keiten, eine Nahrung zusammenzustellen, die so eiweissarm war, dass er das Eiweissminimum erreichen konnte. Röse sagt, dass es vollkommen unmöglich sei, überhaupt jemals in Eiweissunterernährung zu gelangen, ganz gleichgültig, welcher Lebensweise man huldigt. Auch Zuntz vertritt die Ansicht, dass wir eine ziemlich weit gehende Verminderung des Eiweissgehaltes der Volksnahrung ohne Be- denken ertragen könnten. Die Behandlung der Eiweissfrage in dem von Eltzbacher herausgegebenen Buch bezeichnet Zuntz selbst als ein Kompromiss zwischen seiner und Rubner’s Auffassung, da Rubner trotz all der neuesten entgegengesetzten Forschungsergebnisse nach wie vor nur von der Sorge beherrscht wird, die ärmeren Volksschichten könnten in Eiweissunterernährung geraten. Nun hat Hindhede aber auch noch mit einem anderen Irrtum auf- geräumt. In einer neueren Arbeit?) gibt er seine längere Zeit fortge- setzten Stoffwechselversuche mit Kleie bekannt. Während Rubner bisher auf Grund der Plagge-Lebbin’schen Versuche den Standpunkt vertrat, dass der Mensch die Kleie nur halb so gut ausnützt, wie die Wiederkäuer, die sie etwa zu 80 pCt. verwerten, hat Hindhede bewiesen, dass die Kleie von Menschen, selbst bei grober Vermahlung, zu etwa 70 pCt. ausgenützt wird, dass sie also annähernd so verwertet wird, wie vom Hammel, und nur 10 pCt. schlechter als von den Wiederkäuern. Diese 10 pCt. Verlust gegenüber den Wiederkäuern sind aber nach Hindhede volkswirtschaftlich völlig bedeutungslos; ja, es ist nach Hindhede geradezu irrationell, die Kleie an das Vieh zu verfüttern. da man etwa 8 Pfd. Pflanzeneiweiss und etwa 50 Pfd. Stärkewert braucht, um ein Pfd. Fleischeiweiss zu erzeugen. Hindhede sagt: „Besonders bei den jetzigen schwierigen Verhältnissen, wo Europas grosse Korn- kammer für uns verschlossen ist, muss es als unverantwortlich betrachtet werden, die Kleie nicht zur menschlichen Nahrung zu verwenden“. Auch die Anschauung hat Hindhede als irrig nachgewiesen, dass das Pflanzeneiweiss beträchtlich schwerer verdaulich sei als Fleischeiweiss, und dass der Städter eine andere, mehr fleischreiche Nahrung haben müsse als der Landbewohner®). Hindhede meint, es sei hohe Zeit, dass der auf Grund der Plagge-Lebbin’schen Arbeit in den Lehr- büchern verbreitete Satz: Der angeblich hohe Nährwert der Kleie ist eine Fabel, die aus der Ernährungslehre verschwinden muss, dahin ab- geändert wird, dass er lautet: „Der angeblich geringe Nährwert der Kleie ist eine Fabel, die aus der Ernährungslehre verschwinden muss.“ Die Verdaulichkeit der Kleie lässt sich durch feine Vermahlung, wie Hindhede’s Versuche beweisen, so steigern, dass ihre Ausnützung der durch das Tier gleichkommt. Trotzdem tritt auch Hindhede 1) Röse, Eiweissüberfütterung und Basenunterernährung, Oest. Ung. Vrtljschr. f. Zahnhlk., 1914, H.3. 2) Hindhede, Die Verdaulichkeit der Kleie, Skandinav. Arch. f. Physiol., 1915. 3) 1. e. 1914. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 37 für ein Brot aus grob geschrotetem Getreide ein!)?2. Warum dies? Die feinste Vermahlung der Kleie lässt sich nur durch engste Stellung der Walzen erreichen. Dabei wird ein enormer Druck ausgeübt und — abgesehen von dem Finkler’schen Nassverfahren, das heute noch wenig befolgt wird — gleichzeitig eine Erhitzung des Mahlgutes bis auf 600° und darüber erzeugt. Diese Einflüsse, Druck plus Hitze führen zu einer Veränderung der Kleie, die die Fachleute als „Totmahlen“* des Getreides bezeichnen. Es hat sich bisher chemisch nicht recht fest- stellen lassen, worin das Totmahlen besteht. Die Praxis lehrt jedenfalls, dass ein ganz anderes, total entwertetes Brot resultiert. Das Mehl will ohne künstlichen Zusatz bei der Teigbereitung nicht recht binden. Das fertige Brot hat an Geschmack und Aroma, vor allem an Bekömmlichkeit und Sättigungsvermögen ganz beträchtlich verloren. Ein solches Brot sättigt nicht viel besser als das übliche Weissbrot. Das habe ich nicht einmal, sondern sehr oft in meiner eigenen Familie bestätigt gefunden, solange ich das Vollkornbrot von auswärts bezog. Traf es einmal nicht rechtzeitig ein, so kaufte ich ein Vollkornbrot aus dem Konsum-Verein, der das Dr. Klopfer’sche Verfahrnn eingeführt hat, bei dem feinste Kleievermahlung durch Centrifugalkraft erzielt wird. Von diesem bekannt traurigen, schwammigen Vollkornbrot des Konsum-Vereins brauchte meine Familie immer mindestens doppelt so grosse Quantitäten, um satt zu werden, als von einem richtigen Vollkornbrot aus grob geschrotetem Getreide. Was über die Einbusse an Aroma, Geschmack, Bekömmlichkeit und Sättigungsvermögen gesagt wurde, trifft für jedes Brot aus Mehl mit fein vermahlener Kleie zu, selbst wenn das Mehl nicht geradezu „tot gemahlen“ wurde. Dazu kommt ein weiterer Gesichtspunkt. Die Beobachtungen von Professor Blunschli®) an Affen und Menschen beweisen zur Evidenz, dass die ganze Frage der Zahncaries steht und fällt mit der grösseren oder geringeren mechanischen Bearbeitung des Gebisses durch die Nahrungsmittel. Blunschli konnte nach- weisen, dass es überhaupt keine Zahncaries gibt, solange eine ausschliesslich rohe oder doch grobe, harte Nahrung verzehrt wird, dass dagegen selbst das prachtvollste Gebiss des in der Freiheit aufgewachsenen Tieres schon nach relativ kurzer Zeit von Zahnfäule heimgesucht wird, sobald ihm in der Gefangenschaft gekochte oder auch rohe, weiche Nahrung ver- abfolgt wird. Nun wirkt das Kauen eines richtigen, d.h. im Backstein- ofen mit dieker, harter Rinde ausgebackenen und nicht frisch, sondern 8—14 Tage alt genossenen Brotes noch mindestens ebenso gut scheuernd und reinigend auf das Gebiss, als es das Kauen roher Getreidekörner tun würde. Ja die Beanspruchung speziell der Kiefer beim Kauen einer dieken Stulle eines solchen Brotes ist vielleicht noch beträchtlich grösser, als sie beim Kauen von rohen Körnern sein würde. Und auch das ist nicht unwichtig, weil das Wachstum der Kiefer natürlich auch von ihrer Arbeitsleistung mit abhängt. Die heute so verbreitete Kieferenge, die . wieder behinderte Nasenatmung im Gefolge hat, ist im wesentlichen eine Folge des Genusses unserer weichen, breiigen Kost von frühester Jugend an. Wir müssen unbedingt wieder zu den Gewohnheiten ver- gangener Zeiten zurückkehren, in denen schon dem kleinen Kinde gleich nach dem Absetzen ein Stück hartes Brot in die Hand gedrückt wurde, wenn nicht Kieferanomalien, Platzmangel für die Zähne, behinderte 1) Hindhede, Untersuchungen über die Verdaulichkeit einiger Brotsorten. Skandinav. Arch. f. Pbysiol., 1913. 2) Hindhede, Das Ganzkornbrot. Zschr. f. physik. diät. Ther., 1914. 3) Blunschli, Zur Frage nach den Ursachen der Zahncaries. Vrtljschr. f. Zahnhlk., 1914. 38 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Nasenatmung immer mehr Verbreitung finden sollen. Die Brotfrage lässt sich deshalb nicht lediglich von dem Gesichtspunkt der Eiweissfrage aus abtun. Auch der wohlhabende Mann und vor allem seine Kinder können eines richtigen Vollkornbrotes nicht entbehren. Und ist der Verlust der Mineralsalze, den wir beim Genuss von Weissgebäck und sonstigen Nahrungsmitteln aus Feinmehl (Klössen, feinstem Gries, feinen Graupen, Sago, Mondamin, also feinstem Maismehl, geschältem Reis) erleiden, wirklich so bedeutungslos? Mit der Kleie vergeuden wir !/;—®/,; der Mineralstoffe des Getreidekorns. Fleisch ist arm daran, Zucker ist ganz frei davon, Obst und Gemüse sind nicht zu allen Jahreszeiten erhältlich und nicht für alle Bevölkerungsschichten erschwinglich; letzteres gilt auch von der Milch, die wohl reich an Kalk, aber arm an Eisen ist, die Kartoffel wieder ist wohl sehr reich an Kali, aber arm an Kalk und anderen Mineralstoffen. Es kann gar kein Zweifel sein: Das ganze unverfeinerte Getreidekorn ist das zuver- lässigste, der Hauptlieferant all der verschiedenen Mineral- stoffe, einmal, weil es sehr reich daran ist, zweitens, weil Getreide- produkte einen sehr wesentlichen Bestandteil unserer täglichen Nahrung ausmachen. Herr Röhmann sagt: „Mineralstoffe, Kali, Natron, nehmen wir immer noch genug in anderen Nahrungsmitteln auf“. Das trifft gewiss zu, soweit es sich um Kali, Natron handelt. Es trifft aber ganz gewiss nicht zu, so weit es sich um eine ganze Reihs anderer, mindestens für die Entwickelung des Gebisses unentbehrlicher Mineralstoffe handelt. Es sei nur an Rodan, an Fluor und Silicium erinnert, die für die Schmelzentwicklung ganz gewiss ihre Bedeutung haben, wenn sie auch noch nicht genügend erforscht ist. Und wer vermöchte zu leugnen, dass diese Mineralsalze auch für die Gesamt- entwickelung ihre Bedeutung haben können? Ich erinnere an die traurige Ernährung unserer Säuglinge nach dem Absetzen, vor allem aber der vom ersten Tage an künstlich aufgezogenen Kinder. Sie werden ausschliesslich mit der eisenarmen Milch und mit Breien aus feinen Getreideprodukten ernährt, die weder Eisen, Rhodan, Fluor noch Kiesel enthalten. Ist es da ein Wunder, wenn wir -heut so viel rachitische Zähne, soviel Zähne mit schlecht entwickeltem Schmelz, die bald wieder der Zahnfäule anheimfallen, antreffen, wenn Rhachitis, Anämie, Skrofulose, exsudative Diathese unter den Kindern so verbreitet sind? Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass wir bei der heutigen Er- nährung mit ihrem fast gänzlichen Mangel lebenswichtiger Mineralstoffe Tausende und Abertausende von Kindern unnütz verlieren, dass die Rachitis, die Anämie, die Skrofulose, exsudative Diathese, die Kinder- krämpfe auf ein Minimum reduziert werden würden, wenn wir den Kindern wieder vollwertige Nahrungsmittel aus dem grob zerkleinerten, ganzen Getreidekorn verabfolgen würden. Auch die heute so verbreiteten Kinder- mehle bestehen ja meist aus feinstem, gehaltlosem Weissmehl! Man erkannte, dass der Rhodangehalt des Speichels bei der Zahn- fäule eine grosse Rolle spielt und ging dazu über, die Rhodansalze aus der Kleie zu isolieren und die Kinder damit zu füttern. Meine Herren, das ist so recht typisch für unsere heutige Denkweise, für unsere so oft nur symptomatische, nicht kausale Therapie. Eins wissen wir aus der praktischen Beobachtung und statistischen Erhebungen jedenfalls ganz gewiss, dass in Gegenden, in denen ein Brot aus dem geschroteten ganzen Getreidekorn genossen wird, prachtvolle, bis ins hohe Alter vorhaltende Gebisse die Regel sind, und dass das Umgekehrte für Gegenden mit Feingebäck gilt. Es ist gewiss auch kein Zufall, dass gerade in diesen Schwarzbrotgegenden sich die Menschen durch besonders kraftvolle, kernige Gesamtentwicklung auszeichnen. Gewiss spielen noch andere I. Abteilung. Medizinische Sektion. 39 Momente, wie die Wasserfrage, die Rassenfrage, mit hinein. Aber in grossen Zügen gilt das, was ich eben sagte. Aber nicht nur die kleinsten Kinder, auch ältere Kinder und die Erwachsenen, die für die vergeudete Kleie schon mehr in dem kalk- armen Fleisch Ersatz suchen, kommen hinsichtlich der Mineralsalze namentlich auch hinsichtlich ausreichender Kalkzufuhr nicht auf die Reehnung. Beweisen doch Emmerich und Loew!), dass die Kalk- zufuhr selbst bei der noch gröberen Soldatenkost nur halb so gross ist, als sie eigentlich sein müsste, trotzdem diese Kost durch häufigeren Genuss von Hülsenfrüchten und das Kommissbrot, aus dem nur 18 pCt. der Kleie ausgesondert sind, immer noch relativ reich an Kalk und anderen Mineralstoffen ist. Die Wichtigkeit reichlicher Kalkzufuhr konnten diese beiden Forscher andererseits durch allerlei Beobachtungen an Mensch und Tier beweisen. Sie konnten feststellen, dass reichliche Kalkzufuhr die Gesundheit, die ganze Spannkraft und Leistungsfähigkeit beim Menschen günstig beeinflusst, dass sie die Widerstandskraft des ganzen Körpers gegen verschiedene Infektionskrankheiten hebt, dass sich das Fortpflanuzungsvermögen der Tiere ausserordentlich steigern und auch die Milchproduktion bei Kühen erhöhen liess, woraus wir wieder umgekehrt schliessen können, wie die heutige kalkarme Ernährung auf die Still- fähigkeit unserer Frauen — vielleicht auch auf die Geburtenzahl — un- günstig zurückwirken muss, wie wir unsere Volkskraft und Volksgesundheit mit der heute allgemein üblichen mineralsalzarmen Lebensweise schädigen! Die Emmerich-Loew’schen Arbeiten erklären auch, weshalb der Osten, speziell das industriell entwickelte Oberschlesien mit seinem harten Wasser und meist noch selbst gebackenen, gröberen Brot trotz seiner dürftigeren sozialhygienischen Verhältnisse (grössere Bevölkerungsdichte, Wohnungselend, Alkoholmissbrauch) eine so erheblich geringere Tuber- kulosesterblichkeit hat als der reiche Westen mit seinem seit langem üblichen Weissbrot und weicheren Wässern. Wie erbärmlich die Ernährung weiter Kreise der weiblichen arbeitenden Bevölkerung, besouders der Heimarbeiterin, ist, die oft nur von Weiss- brot und Milchkaftee lebt, darauf macht v. Bunge?) aufmerksam, der durch Fütterungsversuche an Ratten festgestellt hat, dass diese Tiere bei Ernährung mit Weizenkleiebrot weit mehr Hämoglobin bilden, als bei Ernährung mit Weissbrot: v. Bunge sagt: „Mit Aufbietung unseres ganzen chemischen Wissens haben wir den Versuchstieren, die wir anämisch machen wollten, keine eisenärmere Nahrung verabreichen können, als sie Weissbrot und Milchkaffee abgeben.“ Dass die Frage einer richtigen Ernährung nicht damit gelöst ist, dass wir die nur im Feinmehl vorhandenen Eiweissgruppen durch die Eiweissstoffe anderer Nahrungsmittel komplettieren, geht auch zur Evidenz aus den Versuchen Goldie’s mit jungen Hunden hervor. Goldie fütterte zwei drei Wochen alte Hunde aus demselben Wurf acht Wochen lang, den einen mit Weissbrot, etwas Milch und Wasser, den andern mit Schrotbrot, etwas Milch und Wasser. Das Gewicht der beiden Tiere wurde von Woche zu Woche genau kontrolliert, und es wurde dabei festgestellt, dass das eine mit Weissbrot ernährte Tier nach ca. 4 Wochen fast die Hälfte seines Gewichtes eingebüsst hatte und unzweideutige Zeichen von Rachitis aufwies, sich nur langsam bewegte und bleichsüchtig war, dass Gaumen und Zahnfleisch blutleer, Krallen und Zähne dünn und spröde waren, dass das andere mit Schwarzbrot gefütterte Tier 1) Emmerich u. Loew, Ueber die Wirkung der Kalksalze bei Gesunden und Kranken. München 1913, Verlag der ärztl. Rundschau, Otto Gmelin, Pfadfinder-Verlag. 2) v. Bunge, Lehrbuch der Physiologie, Bd. 2. 40 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. dagegen äusserst lebhaft war, funkelnde Augen, feste Knochen hatte, dass Zahnfleisch und Schleimhäute des Mundes eine gesunde Farbe be- sassen und sein Gewicht sich fast verdoppelt hatte. Es ist doch wohl anzunehmen, dass die Milch ebenso wie das Fleisch oder Obst oder Gemüse die Gruppen von Eiweissstoffen enthält, die als komplementäre zu dem Weissbrot hinzugefügt, für ausreichende Eiweiss- zufuhr gesorgt haben, und doch sehen wir, wie das Tier allmählich zu- grunde geht. Und ist die Ernährung unserer künstlich aufgezogenen Säuglinge und auch der gestillten Kinder in der ersten Zeit nach dem Absetzen nicht eine ganz ähnliche, leben sie nicht auch ausschliesslich von Milch, Wasser und Weissmehl? Denn ob letzteres in Form von Brot oder von Gries, Mondamin oder Kindermehlbreien genossen wird, ist doch natürlich ganz gleichgültig. Und ist es da zu viel gesagt, wenn ich die Behauptung aufstelle, dass die heutige Art der Ernährung un- gezählte Kinderscharen geradezu langsam hinmordet und, da sie oft genug auch bei ärmeren Erwachsenen üblich ist, unsere Volkskraft und Volksgesundheit auf das schwerste schädigt? Wenn die nordischen Länder eine so geringe Kindersterblichkeit haben, so liegt das meiner Ueber- zeugung nach ausser an den erheblich besseren Stillverhältnissen vor allem daran, dass die Verfeinerung der Getreideprodukte noch nicht den Grad erreicht hat, wie bei uns. Die Entwicklung der raffinierten neuzeitlichen Mühlenindustrie, die erst eine so scharfe Trennung der Kleie von den inneren Mehlschichten ermög- lichte, und damit die heutige Mineralsalzarmut der cerealen Nahrungsmittel verschuldet, ist die Hauptquelle neuzeit- licher Degeneration. Welche Bedeutung ihr zukommt, dafür bringt auch Funk Belege. In Gegenden, wo das Maiskorn noch in primitiver Weise in Mörsern oder einfachen Mühlen bearbeitet und damit der Kleie nicht so gründlich beraubt wird, tritt die Pellagra mehr in chronisch verlaufender Form mit 3—4 pCt. letalen Fällen auf, in Amerika dagegen, wo der Mais in modernen Grossmühlen der Kleie gänzlich beraubt wird, verläuft die Pellagra mehr akut mit einer Steigerung der letalen Fälle bis auf 25 pCt. Welch ein Gewinn an Volkskraft und Volksgesundheit würden wir zu verzeichnen haben, wenn wir die Kleie wieder der direkten menschlichen Ernährung zuführen könnten! Dass den Mineralsalzen in unserer Ernährung eine vielleicht mindestens ebenso grosse Bedeutung zukommt wie den Eiweissstoffen, das geht auch daraus hervor, dass Röse bei seinen dreimonatlichen Stoffwechsel- versuchen eine absichtliche Eiweissunterernährung längere Zeit ohne alle Beschwerden vertrug, dass er dagegen schon nach kürzester Zeit bedroh- liche Erscheinungen bekam, als er mehrere Tage ausschliesslich von Fleischkost, die arm an Mineralsalzen ist, zu leben versuchte. Und darum kommt m.E. der Brot-, überhaupt der. Kleiefrage eine so grosse Be- deutung zu. Auch Zuntz!), aus dessen Laboratorium die Moskowski’sche Beri-Beriarbeit hervorgegangen ist, ist von der Wichtigkeit einer richtigen Mischung der Mineralsalze in unserer Nahrung voll überzeugt und tritt gleichfalls für die Weiterverwertung der Kleie für die menschliche Er- nährung, besonders auch für Vollkornbrot ein. Eins steht jedenfalls fest: der Gedanke, an die Brotfrage immer nur von dem Gesichtspunkt der besseren oder schlechteren Ausnützung heranzugehen, war der denkbar unheilvollste. Die bessere oder schlech- tere Ausnützung ist ja in letzter Linie lediglich eine Frage von wirtschaft- licher Bedeutung, und man könnte den Standpunkt vertreten: warum 1) Zuntz, Ueber die Mineralversorgung der Haustiere, Jahrbuch der deutschen Landwirtschaftsgesellschaft, 1912. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 41 plötzlich beim Brot so sparsam sein wollen, wo es sich vielleicht um Millionen handelt, während wir noch Milliarden in Alkohol anlegen? Aber bei näherem Zusehen bedeutet die bessere Ansnützung des Eiweisses im Weissbrot nicht einmal eine Ersparnis. Schon Hindhede führt den rechnerischen Nachweis, dass wir das Gramm verdauliches Eiweiss in dem viel teuereren Weissbrot ganz beträchtlich höher bezahlen als in dem billigeren, wenn auch etwas weniger gut ausnützbaren Vollkornbrot, und sagt, dass den Völkern dadurch viele Millionen unnütz aus der Tasche gezogen werden. Und Rubner hat berechnet, dass dem deutschen Volk alljährlich 750 Millionen erspart werden könnten, wenn die Kleie der menschlichen Nahrung direkt dienstbar gemacht würde. Wir haben gesehen, dass selbst ein Vollkornbrot aus fein vermah- lener Kleie schon entfernt nicht mehr so sättigt als ein Vollkornbrot aus grob geschrotetem Getreide. Dasselbe gilt natürlich erst recht vom Weissbrot. Wir brauchen davon ganz andere Quantitäten, um satt zu werden. Nun rechne man zu dem Mehr an Brot zunächst einmal nur das Mehr an Fett oder Butter, das dieses grössere Quantum Brot erfordert! Aber es kommt noch ein weiterer Gesichtspunkt hinzu. Nach Herrn Röhmann erfordert Weissbrot unbedingt die komplementären Eiweiss- gruppen aus anderen Nahrungsmitteln. Die Praxis bestätigt, dass Weiss- brot, allein genossen, weder recht sättigt, noch unseren Geschmack be- friedigt. Wir müssen unbedingt eine andere eiweissreichere Beikost dazu geniessen; und so hat sich durch den Beigenuss von Eiern, Fleisch- oder Wurstwaren unsere Lebenshaltung weiter ganz ausserordentlich verteuert. Ein richtiges Vollkornbrot aus grober Kleie erfordert vom ernährungsphysiologischen Standpunkt überhaupt keine Beikost, und unser Geschmacksbedürfnis wird allein schon durch das herrliche Aroma des Brotes, wenn nur etwas reichlich Butter oder Fett aufgestrichen ist, vollkommen befriedigt. Jedenfalls genügen ein paar Radieschen oder irgend ein Salat oder doch mindestens eine reiz- losere Hiweiss-Beikost, wie etwas Weisskäse, ein Glas Milch usw. voll- kommen. Dass diese Kost wegen der geringeren Harnsäurebildung auch gesünder ist, dass ein solch richtiges Vollkornbrot auch die Darm- muskulatur zu ausgiebiger Tätigkeit anregt und damit die heute so überhandnehmenden Blinddarmentzündungen wieder ganz wesentlich einschränken würde, das sei nur nebenbei bemerkt. Wie würde uns das Durchhalten in dem jetzigen Völkerkriege er- leichtert worden sein, wenn es gelungen wäre, noch vor dem Kriege die Kleie der menschlichen Ernährung wieder dienstbar zu machen! Dann wären kaum Klagen über zu geringe Brotrationen laut geworden! Bei Bäckermeister Schmidt, Breslau, Weidenstr. 26, ist ein richtiges Voll- kornbrot zu haben; es sollte aber erst 6—8, besser 10—12 Tage alt und anfangs nur zu dem gewohnten Brot zugenossen werden. Es wäre gewiss eine dankenswerte Aufgabe, einmal die oben er- wähnten Tierexperimente nachzuprüfen, weil eine Bestätigung derselben nicht nur die Brotfrage, sondern überhaupt die Frage der zweckmässigen oder unzweckmässigen Ernährung unseres Volkes einer definitiven Klärung entgegenführen müsste. Hr. Rosenfeld: Man kann für die Frage des Vollkornbrotes eine Betrachtung vom Friedens-, sowie auch vom Kriegsstandtpunkt haben. Vom ersteren aus sind jene Probleme, die schon aus dem Gesichtspunkt der schlechten Ausnützung des Kleienbrotes entschieden schienen, neu “durchzudenken. Es ist ein Verdienst des Herrn Röhmann, anstelle der phantastischen Vitamine die These von der unvollständigen Zufuhr der Eiweissbausteine gesetzt zu haben. Ich möchte sogar in diesem Sinne die einförmige und vielleicht nicht alle Eiweisssprengstücke bietende Gefängnis- 42 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. kost als verdächtig für die Erscheinung des Abgegessenseins ansehen. Aber es müsste natürlich durch mehr als die Versuche an Tauben und durch den Hund Magendie’s die Vervollständigung der Iysinarmen Phyto- vitelline durch die Zufügung der Kleie bewiesen sein. Jedenfalls können wir darauf rechnen, dass wir mit Kartoffeln neben dem Brot die wolle Ernährung unseres Volkes gesichert haben, auch ohne die Zufügung von Kleie zum Brot. Vom Kriegsstandpunkt aus brauchen wir die Kleie als Viehfutter; sie ist bei dem Mangel an Futtermitteln als Milchfutter unentbehrlich. Wenn wir annehmen, dass wir auch nur 8 Millionen Tonnen Roggen und 2 Millionen Tonnen Weizen, also insgesamt 10 Millionen Tonnen Getreide zur Verfügung haben, so würden schon immerhin 21/, Millionen Tonnen Kleie als Kraftfutter für das Vieh zur Verfügung sein. Wenn sich das deutsche Volk nun entschliessen würde, endlich einmal die Brennerei und Brauerei für die Kriegszeit aufzugeben, so würden 1,7 Millionen Tonnen Gerste und von den 2,7 Millionen Tonnen Kartoffeln mindestens die Hälfte für Viehfutter bereit sein. Wir würden also 31/, Millionen Tonnen des vorzüglichsten Viehfutters zur Verfügung haben. Hätten wir sogar das riesenhafte Terrain, das sonst mit Gerste be- pfianzt wird, mit Kartoffeln bepfianzt, so würden wir ungefähr 9I—10 Millionen Tonnen Kartoffeln anstelle der Gerste zu Futterzwecken beschafft haben. Wenn also aus wirtschaftlichen Gründen die Kleie unbedingt dem Vieh zuzusprechen ist, so ist es auch aus hygienischen Gründen wünschenswert; denn sehr viele Personen haben das kleiehaltige Kriegsbrot nicht ohne Beschwerden genossen, und man hörte von recht viel Patienten, dass sie das Brot absolut nicht vertrügen und nicht essen könnten. Betrachtungen ob das Kleienbrot ein besseres Festbeissen der Zähne oder gar einen günstigen Einfiuss auf den Kalkstoffwechsel gestatte, kommen für diese Zeiten überhaupt nicht in Frage. Die Tatsache des erhöhten Kalkgehaltes gibt absolut noch keinen Beweis für eine erhöhte Kalkaufsaugung oder gar für eine erhöhte Kalkanlagerung. Hr. Röhmann: Wenn ich mich auch darüber freue, dass Herr Kunert mit soleher Begeisterung für das Vollkornbrot eintritt, kann ich doch seine Ausführungen nicht ganz unwidersprochen lassen. Was zunächst das Totmahlen des Mehles betrifft, so wird ein solches Mehl nicht beim normalen Mahlprozess erhalten, sondern nur infolge gemachter Fehler im Betriebe. Tot heisst das Mehl, weil es seine Backfähigkeit verloren hat. Ein solches Mehl würde ein Bäcker nicht kaufen. Es kann also gar keine Rede davon sein, dass totgemahlenes Mehl, wie es nach den Ausführungen von Herrn Kunert scheinen könnte, im täglichen Leben für die Herstellung von Brot und Semmeln Verwendung findet. Herr Kunert legt weiter aus Rücksicht auf die Kieferentwicklung einen sehr grossen Wert auf die Härte des Brotes, besonders der Rinde. Eine harte Rinde haben aber auch schon jetzt unser Brot und unsere Semmel. Und ist die Rinde des Brotes gar zu stark, so hat das Publikum nicht mit Unrecht die Empfindung, dass eine derartige Rinde „schwerer ver- daulich“ ist, d.h. schlechter im Darm ansgenutzt wird. Geht ferner die Kauarbeit über ein gewisses Maass hinaus, so wird das Publikum den Aufwand an Zeit und Arbeit als einen wesentlichen Nachteil empfinden. Die Anschauung, dass eine derartige Kauarbeit für die Entwicklung und Erhaltung des Gebisses notwendig sei, sucht Kerr Kunert in einer Ursache zu begründen, die ich auch nicht für zwingend halte. Wenn ein Affe in der Gefangenschaft Caries bekommt, so kann das doch auch auf anderen Ursachen beruhen, als nur darauf, dass er in der Wildnis eine harte, in der Gefangenschaft eine weiche Nahrung aufnahm. Auch die schädliche Wirkung des Zuckers kann ich nicht zugeben, es sei denn, dass man kristallinischen Zucker kaut. Nach meiner Meinung ist der Bohrzucker I. Abteilung. Medizinische Sektion. 43 ein so wichtiges Nahrungsmittel für das Volk, dass man seiner Verwendung möglichst Vorschub leisten sollte. Die Bedeutung des Mineralstoffgehaltes der Kleie wird meines Er- achtens von Herrn Kunert überschätzt. Experimentelle Beweise dafür, dass der Einfluss, den ja auch nach meinen Ausführungen die Kleie für die Ernährung hat, auf ihrem Salzgehalt beruhe, liegen daher nicht vor. Fluor und Silieium sind entgegen älteren Angaben keine Bestandteile der Zähne, und Rhodan ist ein Stoffwechselprodukt, von dem ich mir nicht vorstellen kann, dass es irgend etwas mit der Zahnbildung zu tun hat. 2. Hr. Uhthof: Kriegsophthalmologische Erfahrungen und Betrachtungen. (Siehe Teil II.) Sitzung vom 3. Dezember 1915. Vorsitzender: Herr Uhthoff. Schriftführer Herr Rosenfeld. Vor der Tagesordnung. Hr. Küttner stellt einen Offizier vor, bei dem die operative Mo- bilisierung des Kniegelenkes ein sehr gutes Resultat ergeben hat. Verwundung am 22. August 1914 durch Infanteriegeschoss, schwere Ver- eiterung des Kniegelenkes, welche zu knöcherner Ankylose in Streck- stellung führte. Operation 10 Monate nach der Verletzung: Freilegung des Gelenkes von grossem, innerem Längsschnitt, Abtragung aller knöchernen Brücken und narbigen Kapselteile, Einpflanzung eines grossen freien Fettlappens vom Oberschenkel. Jetzt ist beim Gehen nicht mehr zu erkennen, welches die kranke Seite ist. Der Leutnant, welcher bei der Nachbehandlung grosse Energie entfaltet hat, wird wieder felddienst- fähig (vgl. die Abbildungen auf Seite 44 und 45). Tagesordnung. 1. Vorstandswahl. Als 1. Vorsitzender wird Herr J. Pohl ge- wählt, als 2. Vorsitzender Herr Uhthoff. Als Sekretäre die Herren Minkowski, Partsch, Röhmann, Rosenfeld und Tietze. 2. Hr. Dr. phil. Cohn: Der Blinde als Berater des Blinden und in der Blindenfürsorge. (Siehe Teil II.) Der Vorsitzende dankt dem Vortragenden und hält anschliessend seinen angekündigten Vortrag: Ueber Kriegsblinde und Kriegsblinden- fürsorge. (Siehe Teil II.) Diskussion. Hr. Generaloberarzt Dr. Klauer: Die Fürsorge der Heeresverwaltung für die Kriegserblindeten erstreckt sich auf die ärztliche Behandlung und auf die Abfindung mit Rente. Wie anderen Kriegsverletzten eine ausgedehnte Nachbehandlung mit allen Mitteln der Wissenschaft, Uebungsbehandlung und Werkstätten- unterricht von der Militärverwaltung gewährt wird, um ihnen die Rück- kehr in das bürgerliche Berufs- und Erwerbsleben nach Möglichkeit zu erleichtern, so sollen auch die Kriegserblindeten nach Abschluss des Heilverfahrens nicht hilfios in ihre Heimat und Familie zurückkehren, sondern zunächst solange als möglich die Wohltaten des Blindenunter- richts geniessen, um wieder zu arbeitsfähigen und -freudigen, nützlichen und zufriedenen Mitgliedern der menschlichen Gesellschaft erzogen zu werden. 44 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Abbildung 1. In diesem Sinne arbeiten der Ausschuss für Kriegsverletztenfürsorge für die Provinz Schlesien und das stellvertretende Generalkommando Hand in Hand. Alle in Schlesien beheimateten Kriegserblindeten werden zunächst sobald als möglich dem Festungslazarett Breslau überwiesen, von dem aus sie in die Blindenunterrichtsanstalt überführt werden, bevor ihre Entlassung aus dem Heeresdienste erfolgt. Die Erfahrung hat gelehrt, dass mancher Kriegsblinde nicht geneigt ist, in eine Blindenunterrichtsanstalt zu gehen, sondern lieber seine ver- hältnismässig hohe Rente im Kreise seiner Familie in süssem Nichtstun verzehren will. Andere, die wohl gern in die Anstalt gingen, aber nicht charakterfest genug sind, erliegen den Einwirkungen der Familie, die in eigennütziger Weise den Mitgenuss der Rente begehrt. Diesen Widerständen und Strömungen glaubt die Heeresverwaltung im eigensten Interesse der Kriegserblindeten, die nicht zu missvergnügten, faulen Rentnern herabsinken, sondern zu arbeitenden und durch den Trost der Arbeit über ihren schweren Defekt emporgehobenen Menschen erzogen werden sollen, mit allen Kräften entgegenarbeiten zu müssen. Zu diesem Zwecke werden unsere Kriegserblindeten in die Blindenunter- I. Abteilung. Medizinische Sektion. 45 Abbildung 2. richtsanstalt verbracht, solange sie noch bei der Truppe sind, und die Heeresverwaltung ein Bestimmungsrecht über sie hat. Sind die Blinden erst einige Monate in der Anstalt, so werden die meisten den grossen Nutzen des Blindenunterrichts eingesehen haben und auch dort verbleiben, wenn der militärische Zwang fortfällt und die Fürsorgetätigkeit des Ausschusses für Kriegsverletztenfürsorge einsetzt. Nach einer jüngst ergangenen Verfügung des stellvertretenden Generalkommandos darf das Entlassungsverfahren frühestens 3 Monate nach der Ueberführung in die Blindenunterrichtsanstalt eingeleitet werden. Auf diese Weise kommen die Kriegserblindeten erst etwa 4—5 Monate nach ihrer Ueberweisung in den Blindenunterricht zur Entlassung aus dem Heeresdienst. Mit dem Tage des Ausscheidens setzt die Fürsorge des Ausschusses für Kriegsverletzte ein, dem die Namen der in der Blindenunterrichts- anstalt untergebrachten Kriegserblindeten frühzeitig, d.h. am Tage der Ueberführung, mitgeteilt werden. Hr. Landeshauptmann von Busse: Als Vorsitzender des Arbeits- ausschusses für die Kriegsverletztenfürsorge in der Provinz Schlesien 46 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. kann ich mich mit den Ausführungen des Herrn Vortragenden im wesentlichen nur einverstanden erklären. Auch wir sind der Meinung, dass das herzliche Mitleid für die Kriegsblinden und die Dankbarkeit, die wir ihnen zollen müssen, nicht dazu führen darf, sie nur zu bemitleiden und ihnen Geschenke zu machen, sondern dass wir ihnen helfen müssen, eine geregelte Tätigkeit zu er- greifen, damit sie sich wieder als nützliche MIgledin def menschlichen Gesellschaft fühlen. Bei allen Kriegsbeschädigten besteht die Gefahr, dass sie nur schwer der von uns eingerichteten Berufsausbildung — bzw. -Umbildung zuzu- führen sind, wenn sie bereits aus dem Militärverhältnis entlassen worden sind und in ihrer Heimat einige Zeit im Besitz ihrer Rente gelebt haben. Die Furcht, dass infolge etwaiger Arbeitsleistung ihre Rente gekürzt werden könnte, wächst und wird leider vielfach von ihren Angehörigen bestärkt. — Es ist daher zu befürchten, dass diese Kriegsbeschädigten ein tatenloses, unbefriedigendes Leben führen, wodurch nieht nur der wirtschaftliche Wert ihrer Arbeitskraft der Allgemeinheit verloren gehen würde, sondern sie selbst auch unzufriedene Existenzen werden würden. Wir wünschen unseren tapferen Kriegern, die ihre Haut fär uns alle zu Markte getragen haben, aber wahrlich etwas besseres, als dass sie der Rentenpsychose verfallen, und sind der Meinung, dass der erklärliche Widerstand gegen eine Berufsausbildung zu ihrem eigenen Besten, nötigenfalls unter sanftem Druck, bekämpft werden muss. Wir haben es daher mit der allergrössten Freude begrüsst, dass die Militärverwaltung sich bereit erklärt hat, alle Kriegsverletzten, die einer Berufsausbildung oder -Umbildung bedürfen, noch vor ihrer Entlassung aus dem Militärdienst in die betreffenden Werkstattlazarette zu komman- dieren, und hoffen, dass, wenn sie erst unter militärischem Zwange Arbeitsversuche gemacht und dadurch erfahren haben, dass sie das, was von ihnen verlangt wird, tatsächlich leisten können, auch die wohltätige Wirkung der Arbeit an sich selbst verspürt haben, sie sich auch nach ihrer militärischen Entlassung freiwillig der von uns eingerichteten weiteren Ausbildung unterziehen werden. Was ich hier von den Kriegsverletzten im allgemeinen ausgeführt habe, gilt unserer Meinung nach von den Kriegsblinden in erhöhtem Maasse. Bei ihnen ist die Gefahr besonders gross, dass sie sich daheim einem untätigen, unglücklichen Leben ergeben, einmal weil ihre Schaffens- freudigkeit durch die Erblindung selbstverständlich zunächst eine enorme Einbusse erlitten hat, ferner aber auch, weil ihre Rente — wenigstens für die Angehörigen der arbeitenden Stände — eine verhättnismässig hohe ist, so dass sie von ihren Anverwandten in der Abneigung, sich in eine Blindenunterrichtsanstalt zu begeben, häufig wesentlich bestärkt werden, um sie als hilflose Menschen in ihrem Haushalt zu behalten und aus ihren Rentenbezügen selbst Nutzen zu ziehen. — Es ist daher hin- sichtlich der Kriegsblinden mit allergrösster Freude zu begrüssen, dass sie jetzt nach ihrer klinischen Heilung noch vor Entlassung aus dem Militärdienst der hiesigen Blindenunterrichtsanstalt zugewiesen werden, wo sie noch mehrere Monate als Soldaten, also unter militärischem Zwange, verbleiben. Unseres Erachtens wird die hiesige Blindenunterrichtsanstalt — zu- nächst wenigstens — hierfür ausreichen. Es stehen zur Zeit 30 Plätze für Kriegsblinde zur Verfügung, deren Zahl aber auf 50 erhöht werden kann. Für eine grössere Anzahl Kriegsblinder aus der Provinz Posen würde allerdings kaum Platz sein. In der Blindenunterrichtsanstalt setzt aueh die Berufsberatung für die Kriegsblinden ein; denn während hinsichtlich sonstiger Kriegsver- letzten die Berufsberatung durch die Vertrauensmänner und Ortsaus- I. Abteilung. Medizinische Sektion. 47 schüsse des Wohnortes bzw. des Lazaretts erfolgt und nur für schwierige Fälle eine zentralisierte Spezialberufsberatung in Breslau vorgesehen ist, muss die Berufsberatung für Kriegsblinde natürlich in sachverständige Hand gelegt werden, und wir haben das Anerbieten der Blindenunter- richtsanstalt, diese Berufsberatung zu übernehmen, mit herzlichem Dank angenommen. Es war mir nun heute interessant, aus dem Vortrage die vielerlei Möglichkeiten zu erfahren, durch welche Blinde aller Stände zu sel- bständiger Berufstätigkeit gelangen können. Für die — wenigstens in der Mehrzahl wohl — dem Arbeiterstande angehörenden Kriegsblinden wird vielleicht neben den bisher üblichen Blindenhandwerken auch die Zigarrenmacherei in Betracht kommen können. Die Kriegsblinden sollen nach Erlernung ihres Berufs möglichst wieder in das Leben hinaustreten. Wir sind grundsätzlich Gegner, die Kriegsblinden etwa in Blindenheime zu kasernisieren, da wir hiervon be- fürchten, dass sie sich dort unglücklich fühlen und durch gegenseitiges Besprechen ihrer Verwundung und ihrer Renten niemals zur Zufriedenheit gelangen, sondern der Rentenpsychose verfallen. Ich kann daher in einem Punkte — von meinem Standpunkt aus — den Ausführungen des Herrn Vortragenden nicht ganz beipflichten, wenn er empfiehlt, den Mangel des Augenlichts dadurch auszugleichen, dass ein an anderen Gliedmassen geschädigter Kriegsverletzter sich mit einem Kriegsblinden zusammentun möchte. Hierin würde ich mehr Nachteile als Vorteile sehen. Ich halte eine solche Vereinigung gerade auf Grund der Ausführungen des Herrn Vortragenden aber auch nicht für nötig, da diese in überzeugender Weise erwiesen haben, dass die Blinden auch auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt — natürlich unter Berücksichtigung ihrer besonderen Verhältnisse — konkurrenzfähig werden können. Ausser im Handwerke hoffen wir Kriegsblinde auch durch Ansiede- lung in Kleinsiedelungen einen befriedigenden Lebensberuf verschaffen zu können, worin wir durch die Erfahrungen der Blindenunterrichtsanstalt bestärkt werden, die schon mit gutem Erfolge Blinde auf dem Lande angesiedelt hat. Hinsichtlich der Aufbringung der für die Ausbildung der Kriegs- blinden erforderlicheu Geldmittel sehe ich keine Schwierigkeiten. Die Kriegsblindensammlungen haben ein derartig erfreuliches Ergebnis gezeigt, dass behördlicherseits die Einstellung dieser Sammlungen verfügt worden ist. Allerdings sind die bei weitem meisten Sammlungen direkt der Zentrale in Berlin zugeführt worden, während dem Provinzialausschuss als Kriegsverletztenfürsorge verhältnismässig bescheidene Mittel mit der ausdrücklichen Bestimmung, sie für Kriegsblinde zu verwenden, zuge- gangen sind. Es wird daher unsere Aufgabe sein müssen, zunächst die in Berlin zusammengeflossenen Mittel auch für Schlesien flüssig zu machen, zumal da ein grosser Prozentsatz davon aus Schlesien stammt. Unsere hiesigen Mittel werden dann erst in zweiter Linie in Betracht kommen, was wir für um so empfehlenswerter halten, als wir den Wunsch haben, aus den hiesigen Mitteln eine angemessene Summe für spätere Fürsorge für die Kriegsblinden zu sichern, um auch in späterer Zeit helfen zu können, wenn vielleicht einer oder der andere der Kriegsblinden einen unverschuldeten Verlust erleidet, so dass seine Existenzmöglichkeit gefährdet wird. — So leicht wie es jetzt bei der allgemeinen Opfer- freudigkeit, namentlich für Kriegsblinde, ist, Mittel für diesen Zweck zu sammeln, so dass es unseres Erachtens sogar möglich wäre, die bisher gesammelten Beträge, wenn erforderlich noch wesentlich zu steigern, so . schwer wird es vielleicht in 10 bis 20 Jahren sein, hierfür Mittel im Wege einer Sammlung zusammenzubringen, so dass unseres Erachtens 48 Jahresberieht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. eine gewisse Vorsorge in dieser Hinsicht unbedingt erforderlich ist, um das dauernde Wohlergehen unserer Kriegsblinden zu sichern. Als Verwendungszweck der gesammelten Gelder haben wir die Tragung der Ausbildungskosten sowie Beihilfen zur Gründung einer selbständigen Existenz in Aussicht genommen, — nicht aber beabsichtigen wir, wie es leider anderwärts geschehen ist, wovon wir ja auch heute hörten, den Kriegsblinden grössere bare Geschenke zu machen, lediglich um ihnen eine Freude zu bereiten und Vergnügungen zu verschaffen. Ich weiss mich wirklich von wahrem Mitleid für unsere Kriegsblinden erfüllt, halte es aber für einen grundfalschen Ausfiuss dieses Mitleids, wenn man die Kriegsblinden als Almosenempfänger behandelt. Hierdurch wird man bei ihnen die Neigung, nach einer selbständigen Existenz zu streben, zweifellos nicht wecken oder bestärken. — Aus diesem Grunde verlangen wir auch von den militärentlassenen Kriegsblinden — im Gegensatz zu einem auch heute erwähnten Blindenheim in Berlin — einen bescheidenen Beitrag zu ihren Unterhaltungskosten in der Blinden- unterrichtsanstalt für die Dauer ihrer hiesigen Ausbildung, während die Ausbildungskosten selbst natürlich vom Provinzialausschuss für Kriegs- verletztenfürsorge ohne Beteiligung der Blinden bestritten werden. Die Kriegsblinden sind unseres Erachtens in den meisten Fällen durchaus in der Lage, von ihrer Rente einen Teil der Unterhaltungskosten selbst zu bestreiten, während wir selbstverständlich weitgehendstes Entgegen- kommen üben und die Unterhaltskosten unter Umständen ganz er- lassen werden, wenn ein Kriegsblinder von seiner Bente eine grössere Familie zu unterhalten hat. Wir sind uns” bewusst, dass auch wir noch manches im Laufe der Zeit aus den gesammelten Erfahrungen lernen werden, hoffen aber, mit den in Aussicht genommenen Maassnahmen im wesentlichen auf dem rechten Wege zu sein, um den Kriegsblinden nach Möglichkeit wieder das zu verschaffen, was für das Wohlbefinden und das Glück eines Menschen meines Erachtens das wichtigste ist, nämlich das Bewus fsein, ein nützliches Mitglied der menschliehen Gesellschaft und niet ein Almosenempfänger zu sein, und das Bewusstsein erfüllter Pflicht nach geleisteter nützlieher Arbeit. Hr. Oberlandesgerichtsrat Grützner spricht von Seiten der Blinden- anstalt. Auch hier wird versucht, den Blinden mögliehst selbständig zu machen. Die Kategorie der Kriegsverletzten stellt eine besondere Gruppe dar, die einer besonderen Behandlung bedarf. Ein Teil derselben ist bereits von Mitleid angekränkelt; diesem Nachteil kann nur durch eine gewisse Strenge und Entschiedenheit entgegengewirkt werden. Die Ausbildung muss sich anschliessen an das, was der einzelne schon leistet. Die Frage der Verheiratung hat ihr Bedenken in der Gefahr der Aus- nutzung. Materielle Unterstützung zur Gründung eines festen Heims ist oft erforderlich. Die Mittel auch dafür vorrätig zu halten, wird eine Aufgabe der Verteilung des gesammelten Fonds sein. Dem Grundsatz, den Verletzten möglichst noch im Militärverhältnis der Anstalt zuzuführen, stimmt Redner nach den Erfahrungen der Ansialt bei. Hr. Schualrat Schibke dankt für das Bemühen um das Los ‚der Blinden im Namen der von ihm geleiteten Anstalt. Er hält für die Äus- bildung die gesetzliche Schulpflicht für ein wesentliches Mittel. Er tritt für die Arbeitsschule ein, gegenüber der Lernsehule. Die Fürsorge für den zu entlassenden Zögling muss von der Anstalt geleistet werden. Der Typus „blind“ wird bleiben müssen. Die Anstalt hat für das Gros der Blinden zu sorgen. Die typischen Berufe werden auch weiter die Versorgungsstelle für die Blinden bieten. Die Massage ist noch kein I. Abteilung. Medizinische Sektion. 49 Gebiet, das sich der Unterstützung der Oeffentlichkeit erfreut. Die Er- fahrungen sind nicht ermutigend. Die Kriegsblinden will die Anstalt mit aller Mühe zu fördern suchen. — Der Vorsitzende dankt den Nichtmitgliedern für ihre rege Anteilnahme an der Aussprache. Klinischer Abend vom 10. Dezember 1915. Vorsitzender: Herr Bessau. Hr. Bessau: Chronische Verdauungsinsuffieienz jenseits des Sänglingsalters. Fall 1. Kind U.S., 2'/; Jahre alter Knabe. Länge 72,5 cm (= Länge eines 10 Monate alten Kindes), Gewicht 7300 g (= Gewicht eines 6 Monate alten Säuglings). Das Kind ist sehr zart, blass, leicht anämisch und äusserst schlaff, lernte mit 1 Jahr sitzen, mit 2 Jahren stehen und läuft erst seit kurzem an der Hand; es hat aber nur geringe Rachitis. Seine geistige Entwickelung ist der körperlichen voraus. Die inneren Organe sind normal, das Abdomen ist aufgetrieben und trägt die Charaktere des von Tobler unter dem Namen des „Pseudoaseites“ beschriebenen Symptomenkomplexes. Der Pseudoascites weist bereits auf die Ursache für die mangelhafte körperliche Entwickelung hin, näm- lich auf eine chronische Verdauungsstörung. Das Kind war 14 Tage an der Brust, gedieh dabei gut, wurde wegen Mastitis abgesetzt. Mit kondensierter Buttermilch ernährt, bekam es sehr bald einen Durchfall. Es wurde dann — auf die Einzelheiten kann sich die Mutter nicht mehr genau besinnen — sehr häufig mit der Diät gewechselt, eben weil immer wieder Verdauungsstörungen auftraten. Das Kind litt nebenher schon frühzeitig an konstitutionellen Hautausschlägen, die sich bei den Gewichtsstürzen stets besserten. Im ganzen soll die Entwicklung während des ersten Lebensjahres noch leidlich zufrieden- stellend gewesen sein. Gegen Ende des ersten Lebensjahres trat unver- mittelt, ‘ach Angabe der Mutter ohne jede äussere Veränderung, ein Durchfall mit katastrophalem Gewichtssturz ein. Seit dieser Zeit soll sich das Kind nicht mehr recht erholt haben. Vor etwa 10 Monaten wurde es wegen Kopfekzems in die Klinik aufgenommen. Die Stühle waren damals normal, wegen der anamnestischen Angaben wurde mit einer vorsichtigen, leicht antidyspeptischen Diät begonnen: zweimal Eichel- kakao mit 1/, Milch, GriesbreiÄ, Mondaminbrei, Kartoffelbrei mit etwas geschabtem rohen Fleisch. Appetit über Erwarten gut, Stuhl fest, gute Gewichtszunahme. Nach kaum einer Woche plötzlich ohne jede Nah- rungsänderung und ohne jede sonstige ersichtliche Ursache dünne schlei- mige Stühle, Temperaturanstieg bis 39,9, Gewichtssturz von 6400 auf 5500 g (an einem Tage um 700 g!). Langsame Reparation unter Eiweiss- milchdiät. Anfangs zufriedenstellender Gewichtsanstieg, dabei leichte Erscheinungen von Morbus Möller-Barlow (Zahnfleischblutungen, aber keine periostalen Blutergüsse, keine roten Blutkörperchen im Urin), die auf 10 g frischen Apfelsinensaft pro die in wenigen Tagen schwanden. Obwohl die Eiweissmilch in mannigfacher Weise mit verschiedenen Kohble- hyäraten angereichert wurde, daneben auch Breie verabfolgt wurden, und obwohl die Stühle in jeder Hinsicht befriedigten, war kein dauerndes Gedeihen zu erzielen. Es wurde deshalb zur Ernährung mit Frauenmilch in Form des Allaitement mixte übergegangen; neben Frauenmilch wurden ganz geringe Mengen Kuhmilch und verschiedene Breie gegeben. Das Gedeihen war hierbei keineswegs glänzend, Perioden befriedigender Ge- wichtszunahme folgten stets wieder solche wochenlangen Stillstandes, auch traten gelegentlich immer wieder akute Verdauungsstörungen (dünne, Schlesische Gesellseh. f. vaterl. Cultur. 1915. 1. 4 50 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. auffallend massige Stühle) ein, die aber niemals mehr jenen katastro- phalen Charakter annahmen, sondern mit mässigen Gewichtsabnahmen und nur leichten Temperaturerhöhungen einhergingen. Vor allem besserte sich aber das psychische Verhalten: das vorher verdriessliche, in seiner Stimmung sehr labile Kind wurde ruhiger und heiterer. Das Allaitement mixte wurde bei dem über 2 Jahre alten Patienten 6 Monate lang durch- geführt, das Gewicht stieg während dieser Zeit von 6200 auf 7100 g. Das Kind wurde dann abgesetzt auf Eiweissmilch mit 4 pCt. Soxhlets- Nährzucker, Mileh mit Eichelkakao und Buttermilch-Mondaminbrei. Da die Stühle gut blieben und die Gewichtskurve sich befriedigend hob, wurde das Kind entlassen. Die Mutter erhielt genaue Anweisung, die Ernährung zu Hause ohne Aenderung fortzuführen, bei geringster Stö- rung sich sofort zu melden; die notwendigen Nährmischungen (Eiweiss- milch, Buttermilch) erhielt sie von der Klinik geliefert. 7 Tage nach der Entlassung brachte die Mutter das Kind in erbärmlichem, fast kol- labiertem Zustande zurück; es war wieder ganz unvermittelt ein schwerer Durchfall mit ganz dünnen, wässerigen, stark stinkenden Stühlen und einem Gewichtssturz von 500 g eingetreten. Sofortiger Uebergang zu Frauenmilch und dann Allaitement mixte brachte diesmal eine über- raschend schnelle Reparation. Nach 51/, wöchigem Aufenthalt in der Klinik, an dessen Abschluss wir bis auf 1 Frauenmilchmahlzeit zurück- gegangen waren, daneben Milch mit Eichelkakao, einen Zwiebackbrei und eine Rotweinsuppe reichten, wurde das Kind abermals nach Hause entlassen, die eine Frauenmilchmahlzeit aber auch weiterhin von der Klinik aus dem Kinde zur Verfügung gestellt. Hierbei scheint das Kind auch zu Hause einigermaassen befriedigend zu gedeihen, bis jetzt hat es keinen schwereren Zwischenfall wieder durchgemacht. Meines Erachtens handelt es sich um einen ganz typischen Fall der von Heubner beschriebenen und so treffend eharakterisierten „chroni- schen Verdauungsinsufficienz“. Wir finden als Ursache für die äusserst mangelhafte körperliche Entwickelung eine schwere chronische Ernährungs- störung, die sich dokumentiert 1. in unvermittelten, meist nicht durch eingreifendere Diätänderung veranlassten Durchfällen mit mehr oder minder schwerer Beteiligung des Allgemeinbefindens und häufig über- raschend grossen Gewiehtsstürzen; 2. in einem chronischen Nichtgedeihen oder mangelhaftem Gedeihen auch bei ausreichender Nahrungszufuhr und bei Abwesenheit von Symptomen einer Verdauungsstörung. Es würde an dieser Stelle zu weit führen, auf die Pathogenese des Leidens näher einzugehen, sie ist auch noch lebhaft umstritten. Soviel dürfte heute feststehen, dass das Leiden im wesentlichen in einer konstitutionellen Minderwertigkeit des Patienten begründet ist, dass — wie Heubner sagt — „von aussen kommende Schädigungen als primäre Veranlasser der geschilderten Zustände mit der grössten Wahrscheinlichkeit durchweg ausser Betracht zu bleiben haben, sondern dass „eine ursprünglich man- gelhafte oder schwache Veranlagung der gesamten Verdauungsweıkzeuge“ vorliegt. Unser Patient erweist sich auch sonst als konstitutionell min- derwertig durch Zeichen der exsudativen Diathese, vor allem aber ist das Kind ein ausgesprochener Neuropath, stammt auch von einer hoch- gradig nervösen Mutter ab. Bemerkenswert ist auch in unserem Fall das, Alter der Eltern: der Vater war bei der Geburt des Kindes 50, die Mutter 38 Jahre alt. Worin nun die funktionelle Darmschwäche im einzelnen besteht, darüber herrscht noch keine Klarheit. Die Neigung zu einem pathologi- schen Ablauf des Verdauungsvorganges scheint mir weniger in einer Toleranzschwäche gegenüber bestimmten Komponenten der Nahrung, als in einer Empfindlichkeit gegenüber Nahrungsstoffkorrelationen zu bestehen. Meines Erachtens liegt hier eine ähnliche Schwierigkeit vor, wie sie sich I. Abteilung. Medizinische Sektion. p2 1 bei der Ernährung sehr junger, empfindlicher oder geschwächter Säug- linge entgegenstellt. Hier wie dort ist es wohl das schwierigste Problem, eine Ernährungsstörung ex correlatione!) zu vermeiden. Gibt man mehr oder minder einseitige Kuhmilchkost, so besteht‘ besondere Neigung zur Entstehung des Krankheitsbildes des Czerny-Keller’schen Milchnähr- schadens, der mir ein Faulnährschaden zu sein scheint; korrigiert man diese Ernährungsstörung durch Kohlehydratzufuhr, so erzeugt man bei diesen Kindern keine normalen bakteriochemischen Verhältnisse, sondern sofort die Gefahr einer neuen Störung, des Gärschadens und somit des Durchfalls. Das mangelnde Vermögen, die bakteriellen Prozesse im Magendarmkanal zu regulieren, scheint mir ein wesentlicher Bestandteil der funktionellen Darmschwäche zu sein. Da wir uns nun in praxi stets — nur mehr oder minder weit — vom Optimum der Korrelation ent- fernt befinden, so besteht dauernd die Gefahr eines pathologischen Ab- laufs; derselbe braucht sich nicht immer sofort in klinischen Krankheits- erscheinungen auszudrücken, erst bei einer gewissen Summation patho- logischer Reize erfolgt die krankhafte Reaktion, die dann bei diesen abnorm empfindlichen Kindern Maass und Ziel überschreitet. Die funktionelle Darmschwäche bei Kindern mit chronischer Ver- dauungsinsufficienz hat zweifellos viele gemeinsame Züge mit derjenigen ganz junger, empfindlicher oder geschädigter Säuglinge, und in diesem Sinne könnte man von „Infantilismus“ sprechen. Auf die Herter’sche Theorie des Infantilismus kann ich an dieser Stelle nicht näher ein- gehen; ich möchte nur bemerken, dass die Ernährung mit Frauenmilch, obwohl sie gerade die von Herter gefürchtete physiologische Säuglings- flora hervorruft, das überragende und in schweren Fällen, wie dem unsrigen, das einzige Heilmittel darstellt. Ihr Wert liegt wohl zum guten Teil darin, dass sie wie keine andere Nahrung Ernährungsstörungen ex correlatione vermeidet: sie verhindert die Darmfäulnis ganz oder fast ganz und ruft eine Gärung hervor, welche aus Gründen, die wir noch längst nicht übersehen, viel schwerer als bei jeder anderen Ernährungs- form ihren physiologischen Charakter verliert. Wesentlich schwerer noch als die pathologischen Geschehnisse im Ablauf des Verdauungsvorganges ist das mangelhafte Gedeihen zur Zeit normaler Verhältnisse im Magendarmkanal und selbst bei Frauen- bezw. Zwiemilchernährung zu erklären. Die akuten Zwischenfälle scheinen das Assimilationsvermögen dieser konstitutionell belasteten Kinder in eigen- tümlich schwerer und nachhaltiger Weise zu schädigen. Uebrigens ist die Zeitdauer der einzelnen Reparationsperioden, namentlich wenn man die Gewichtskurve der Beurteilung zu Grunde legt, überraschend wechselnd, ein Verhalten, das auch für die Bedeutung der Neuropathie in der Patho- genese des Leidens spricht. Fall 2. G. R,, 4 Jahre alter Knabe, das einzige Kind wohlhaben- der Eltern. Körperlänge 99 cm (normal), Gewicht 13,3 kg (= Gewicht eines 21/,jährigen Kindes). Das Kind ist ebenfalls äusserst zart und blass, seine Muskulatur auffallend schlaf. Im Kontrast zu dem zier- lichen Körper steht der grosse Kopf des Kindes, der doliehocephal, nicht etwa hydrocephalisch geformt ist; auch sonst besteht kein Verdacht auf Hydrocephalus, die Intelligenz des Kindes ist die eines 5—6jährigen. Der Knabe ist ein schwerer Neuropath mit interessanten Eigenheiten, Neigungen und Charakterzügen; er steht völlig unter dem Einfluss seines Kindermädchens, das allein ihn zu lenken und erzieherisch zu beein- flussen vermag. Seine nervöse Belastung stammt von väterlicher Seite; seine Mutter ist völlig gesund, sie dürfte sich bemerkenswerterweise Anfang der 40er Jahre befinden. 1) Siehe Mschr. f. Kindhlk., Orig., 1915, Bd. 13, S. 431. 4# 52 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Der Knabe gedieh als Säugling bei einer Amme gut; bald nach dem . Absetzen, das mit ca. dem 9. Monat erfolgte, erkrankte er unvermittelt an einem schweren Durchfall. Prof. Tobler und ich selbst haben da- mals das Kind während seiner Reparation, die ungewöhnlich lange Zeit in Anspruch nahm, beobachtet; es machte sich eine grosse Neigung zum Auftreten schleimiger, auch schleimig-eitriger, gelegentlich direkt dysen- terieartiger Stühle bemerkbar. Nach wochenlanger, äusserst vorsichtiger diätetischer Behandlung konnte das Kind in leidlichem Gedeihen ent- lassen werden. Derartige Zustände haben sich bei ihm, allerdings in minder schwerer Form, noch einigemale wiederholt. Nach längerer Pause trat wieder im Juni 1915 eine schwere, zweifellos von sehr starkem Ge- wichtssturz gefolgte Verdauungsstörung ein, die wie die früheren ausge- sprochen dysenterischen Charakter trug. Bemerkt sei, dass in dieser Periode wie auch in den früheren trotz häufiger Untersuchung nie pathogene Keime in den blutig-schleimigen Stuhlbeimengungen gefunden werden konnten. Die Mutter war geneigt, die Katastrophe auf den Ge- . nuss von Kriegsbrot zurückzuführen, das dem Kinde seit kurzer Zeit verabfolgt worden war. Auf vorsichtige antidyspeptische und adstrin- gierende Diät (zunächst zweimal täglich Graupenschleim mit Larosan, Arrot-routbrei mit Rotwein zubereitet, Weisskäse, Brühreis oder -gries mit etwas gekochter Taube, Eichelkaffee) trat eine schnelle Reparation ein; das Gewicht stieg vom 9. Juli bis 20. August in gleichmässiger Kurve von 12,3 auf 13,3 kg. Die Stühle waren während dieser Zeit meist recht gut, nur gelegentlich etwas massig; periodenweise boten sie das Bild der Enteritis membranacea. Am 22. VIII. erkrankte das Kind, infieiert durch die Mutter, an einer Angina, die in 2 Tagen abklang. Seit diesem Termin hat das Kind trotz völlig ausreichender und auch in mässigen Grenzen abwechselnder Ernährung, trotz guten Appetits und guter Stühle, die eher gleichmässiger waren als in der Vorperiode und auch nicht etwa den Charakter des Seifenstuhls trugen, bis jetzt nieht mehr an Gewicht zugenommen. Die an sich harmlose und schnell über- wundene parenterale Infektion war offenbar imstande gewesen, das Ge- deihen des Kindes über Monate zu hemmen. Bei Betrachtung der Krankengeschichte könnte man zunächst ge- neigt sein, die Diagnose auf chronische bezw. recidivierende Colitis zu stellen. Diese Diagnose wäre wohl auch nicht unrichtig, aber meines Erachtens nicht erschöpfend. Denn sie berücksichtigt nur die akuten Zwischenfälle, nicht aber die langen Perioden des Nichtgedeihens, die auch zu Zeiten normalen Ablaufs des Verdauungsvorganges die körper- liche Entwickelung des Kindes hemmen.. Interessant ist, durch wie ge- ringfügige Ursachen dieses Nichtgedeihen ausgelöst werden kann. Meines Erachtens handelt es sich auch hier wieder um die bereits charakteristi- schen Stigmata der chronischen Verdauungsinsufficienz. Der Unterschied besteht nur darin, dass in dem ersten Fall die Katastrophen klinisch den Charakter der Dünndarmreizung, in letzterem Falle denjenigen der Diekdarmreizung‘ tragen. Schon Heubner hat gleiche Beobachtungen gemacht und in seiner Abhandlung hervorgehoben. Man könnte von einem Dünndarmtyp und Dickdarmtyp der chronischen Verdauungs- insufficienz sprechen, ohne selbstverständlich einen prinzipiellen Gegensatz zwischen beiden Erscheinungsformen konstruieren zu wollen; dürfte es doch viele Mischformen geben, bei denen Dünn- und Dickdarm gleich- zeitig oder in verschiedenen Perioden in wechselnder Weise beteiligt sind. Bemerken möchte ich nur noch, dass bei Fall 2 hinsichtlich der Entstehung der akuten Zwischenfälle ausser der Nahrungsstoffkorrelation noch ein bestimmter Nahrungsstoff von besonderer Bedeutung zu sein schien, nämlich die Cellulose. Ich konnte beobachten, dass während einer langen Zeitperiode kleinste Gaben von cellulosehaltigen Nahrungs- I. Abteilung. Medizinische Sektion. 53 mitteln (2 Teelöffel Spinat oder Apfelmuss) prompt das Auftreten schleimig- eitriger Beimengungen im Stuhl veranlassten. Lipodystrophia progressiva. Vorstellung eines typischen Falles bei einem Mädchen. Eine eingehende Schilderung soll in der Monatsschrift für Kinderheilkunde erfolgen. Diskussion. Hr. Rosenfeld: Es ist von Interesse sich vorzustellen, wie solche Fälle von Lipodystrophie entstehen, und wie sie schliesslich enden. Ihre Entstehung kann kaum begreiflicher werden, wenn man sich die Beob- achtung, die ich schon früher mitgeteilt!) und vielfach in der weiteren Erfahrung bestätigt gefunden habe, dass die Fette verschiedener Herkunft gewisse Unterschiede in ihren Ablagerungsarten darbieten. So findet sich bei der Fettleibigkeit der durch Kohlehydratüberschuss Korpulenten eine Feistheit des Gesichts, der Arme, Beine, auch des Bauches, kurzum eine gleichmässige Polsterung; der Fettvielesser deponiert dieses Fett zumeist am Bauch und Gesäss, während das Gesicht nicht gerade fett zu sein braucht, freilich bei stärkerer Adipositas finden sich Hängebacken und Fettnacken; den durch Alkoholismus fettleibig Gewordenen kenn- zeichnet das rote, volle Gesicht, der dieke Bauch und die mageren Beine. Es ist wohl nicht ein Nahrungseinfluss für die eigentümliche Lokalisation des Fettes bei der Lipodystrophie anzunehmen. Dagegen scheinen jene Fälle gewissermaassen das Endstadium der Lipodystrophie darzustellen, die ich als Fettbeinigkeit beschrieben habe), die sich durch einen schlanken Oberkörper und fast elephan- tiatisch dicke Beine kennzeichnen. In wie weit Drüsenhormone dem Fettstrom bestimmte Ablagerungs- befehle zugehen lassen, oder wie weit Nerveneinflüsse eine Rolle spielen, ist ein Feld schwieriger, aber erfolgversprechender Untersuchungen. Hr. Bessau: Chronische Streptokokkeneystitis. 10 Jahre altes Mädchen, das vor 5 Jahren mit hohem Fieber, trübem Urin und geringen Schmerzen beim Wasserlassen erkrankte. Die akuten Erscheinungen klangen ab, der Urin blieb seitdem ohne Remissionen trüb. Die Schmerzen beim Urinieren sollen allmählich eher zugenommen haben, im Winter lebhafter als im Sommer sein. Gefiebert hat das Kind nicht mehr; Appetit sehr gut, nie Erbrechen, Stuhlgang in Ordnung. Der Urin enthält auch heute noch geradezu enorme Eitermengen, das Sediment besteht aus Leukocyten und wenig Epithelien, während rote Blutkörperchen und Cylinder stets gefehlt haben. Der Urin reagiert sauer und enthält nicht mehr Eiweiss, als der Eiterbeimengung entspricht. Trotz des schweren Krankheitsprozesses in den Harnwegen ist der All- gemeinzustand des Kindes nicht beeinträchtigt, es macht einen durchaus gesunden Eindruck. Auch die Lokalerscheinungen sind bemerkenswert gering, sie bestehen im wesentlichen in vermehrtem Harndrang. Ein schwererer anatomischer Prozess (Pyonephrose, Blasensteine usw.) als Grundlage für das chronische Bestehen konnte auf Grund sorgfältiger Untersuchung ausgeschlossen werden; die Cystoskopie (Dr. Renner) ergab einen einfachen chronischen Blasenkatarrh. Als Erreger der Affektion wurde ein kurzer Streptococcus nachgewiesen, der bei allen Untersuchungen mikroskopisch und kulturell als alleiniger Mikroorganis- mus gefunden wurde. Die Behandlung (intern-reichliche Flüssigkeits- zufuhr, Natr. citricum + Salol, Spülungen, -Borsäure, Argent. nitric., Collargol-, Vaccinetherapie mit einem aus den gewonnenen Kulturen selbst hergestellten Vacein) hat bisher wenig Erfolg gehabt. 1) B.kl.W., 1912, Nr. 26, Diskussion Bittorf. 2) D.m.Kl., 1907, Nr. 7. 54 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Frl. Schwenke: 1. Kurze Demonstration eines schweren Falles von Möller-Barlow’scher Erkrankung, der unter der Diagnose einer Nephritis zur Aufnahme gesandt wurde. Veranlassung zur Fehldiagnose hatte das blasse Aussehen des Kindes gegeben, der reichliche Befund von Blut und Bluteylindern im Urin und die hochgradige cylindrische Anschwellung der unteren Extremitäten. Alle diese Symptome sind aber der Ausdruck der für Barlow’sche Erkrankung charakteristischen hämorrhagischen Dia- these, sowohl die Nierenblutung als die durch subperiostale Blutungen hervorgerufene Anschwellungen der unteren Extremitäten; auch die typischen Zahnfleischblutungen sind in ausgesprochenem Maasse vorhanden. Die Schmerzhaftigkeit bei leisester Berührung ist sehr demonstrabel. Die Ernährungstherapie findet eine kurze Besprechung. 2. Ein Fall von schwerer Anämie im ersten Kindesalter. (Eine eingehendere Besprechung dieses Falles zusammen mit mehreren gleich- artigen Fällen ist beabsichtigt.) - Es handelt sich um einen in der ganzen Entwicklung stark zurück- gebliebenen 3 Jahre alten Knaben, dem man sofort ansieht, dass er an einer schweren Anämie leidet. Diese ist charakterisiert vor allem durch eine hochgradige Herabsetzung des Hämoglobingehaltes (15 pCt.) und eine weniger hochgradige Oligocythämie (2500000). Die Zahl der weissen Blutelemente ist normal. Es besteht eine relative, etwas die Norm überschreitende Lymphocytose, vereinzelte Reizformen finden sich unter den weissen Blutkörperchen; auf 100 Leukocyten zählt man 1—2 kernhaltige rote Blutkörperchen vom Typus der Normoblasten; Blutplättehen sind zahlreich vorhanden. Das Krankheitsbild erinnert am meisten an das von den Franzosen unter „Anaemie ä type chloro- tique“ beschriebene, für welches Finkelstein den Namen Oligo- siderämie eingeführt wissen möchte. In unserem Falle handelt es sich wie dort um ein zu früh geborenes Kind. Die Anämie ist aber so hochgradig und so nachhaltend, dass sie nicht lediglich auf zu frühe Geburt bezogen werden kann, sondern dass an eine fortdauernde Schädigung, z. B. fortdauernden Eisenmangel infolge einseitiger Milch- ernährung, also eine Anämie auf alimentärer Basis, gedacht werden muss. Das Kind wurde bis zur Aufnahme in die Klinik fast ausschliesslich mit Milch ernährt, erhielt also eine Kost, die sehr ge- eignet ist, eine Anämie hervorzurufen. Da aber die monatelang durch- geführte Ernährungstherapie ohne günstigen Einfluss auf die Anämie blieb, so müssen Zweifel an der rein alimentären Ursache der Anämie aufkommen und nach einem andern schädigenden Agens gesucht werden. Tuberkulose und Lues konnten durch den negativen Ausfall der be- treffenden biologischen Reaktionen ausgeschaltet werden. Gegen leuk- ämische oder pseudoleukämische Erkrankung spricht der chronische Ver- lauf und der Blutbefund. So muss angenommen werden, dass irgendein unbekanntes Agens das Fortbestehen der Anämie verursacht. Dass das blutbildende Organ bei dem Kinde aber unter dem Bilde einer Oligo- siderämie reagiert, dürfte in einer konstitutionellen Komponente, einer funktionellen Schwäche des blutbildenden Apparates, begründet sein. 3. Ein Fall von hämolytischer Anämie mit Megalosplenie. Sjähriges Mädchen, dessen blassgelbliches Aussehen sofort wieder an eine schwere Bluterkrankung denken lässt. Das Kind stammt aus einer mit Tuberkulose belasteten Familie (Mutter starb vor 2 Jahren an Lungentuberkulose), es soll von frühester Kindheit an blass aus- gesehen haben. Vor 4 Jahren wurde nach Erkrankung an Masern eine Milzvergrösserung festgestellt. Der klinische Befund ist im wesentlichen jetzt folgender: für sein Alter etwas kleines Kind in mässigem Er- nährungszustande, enorme Blässe der Haut und Schleimhäute, sub- I. Abteilung. Medizinische Sektion. 55 ikterische Färbung, hochgradige Hypertrophie und Dilatation des Herzens, grosser derber Milztumor, der bis zur Spina iliaca herabreicht und mit seinem unteren Teile die Mittellinie nach rechts überschreitet, ebenfalls vergrösserte Leber, die 5 cm den Rippenbogen überragt. Im Urin kein Eiweiss, kein Zucker, kein Gallenfarbstoffl, aber Urobilin und Urobilinogen. Blutbefund: Der Hämoglobingehalt ist im Verlauf von 7 Wochen von 25 pCt. auf 20 pCt., die Zahl der roten Blutkörperchen von 1800000 auf 1200000 gesunken; die weissen blieben konstant um 9—10000, davon waren Polynucleäre 69 pCt., Uebergangsformen und grusse Mononucleäre 7 pCt., Eosinophile 3pCt., Reizformen 1 pCt., Lymphocyten 20 pCt. Auf 100 Leukocyten kamen 1 Normoblast. Unter den roten Blutkörperchen fanden sich viele Mikrocyten, weniger Makro- cyten, ferner Polychromasie und Poikilocytose. Das Blutserum zeigte eine gelblich-grünliche Färbung, in ihm war Gallenfarbstoff nachweisbar. Gegen hypotonische Kochsalzlösung bestand eine deutliche, wenn auch nicht hochgradige Besistenzverminderung. Es handelt sich also um eine schwere fortschreitende hämolytische Anämie mit Megalosplenie und sekundärer Herzhypertrophie und -dilatation. Differential-diagnostische Erwägungen lassen aus der Gruppe der schweren Anämien die essentielle perniciöse Anämie ebenso wie die Jaksch-Hayem’sche Anämie, letztere hauptsächlich wegen des vor- geschrittenen Alters der Patientin, der geringen Zahl kernhaltiger roter Blutkörperchen und der fehlenden Leukocytose, ausschliessen. Die Gruppe der Leukämien und Pseudoleukämien kommen infolge des chronischen Verlaufes der Erkrankung nicht in Betracht, höchstens ist an die Granulomatose Sternberg mit dem Hauptsitz der Erkrankung in der Milz zu denken. Tuberkulose als Ursache der Erkrankung bzw. isolierte grossknotige Milztuberkulose wird in Erwägung gezogen, da Anamnese belastend und Patient gegen Tuberkulin stark empfindlich ist. Lues lässt sich auf Grund wiederholter negativer Wassermann’scher Reaktion ausschliessen. Das klinische Krankheitsbild könnte dem zweiten Stadium der Banti’schen Erkrankung entsprechen, der Blutbefund weicht aber von dem hierfür typischen ab. Das Blutbild entspricht vielmehr dem bei erworbenem hämolytischen Ieterus beschriebenen. Ein leichter Icterus ist bei der Patientin vorhanden, doch lässt die Anamnese die für diese Erkrankung charakteristischen periodisch wiederkehrenden An- fälle von Icterus, Fieber und Dyspepsie vermissen. Bei der sonst grossen Aehnlichkeit mit diesem Krankheitsbilde kam therapeutisch die Milz- exstirpation in Frage; sie wurde leider von den Angehörigen abgelehnt. Eine vorsichtige Röntgenbestrahlung und Arsenmedikation blieb ohne Erfolg. Die Prognose dürfte pessima sein. Hr. Bossert stellt ein 31/, Monate altes Brustkind mit Milz- tumor, Lebervergrösserung und Glykosurie vor. Bei dem Fehlen luetischer Stigmata, negativem Wassermann bei Mutter und Kind und normalem Blutbild denkt Vortr. an qualitative anatomische Ver- änderungen in Milz und Leber bzw. auch in Pankreas und Nieren. Ausführliche Bearbeitung des Falles erscheint später in einer pädiatrischen Fachzeitschrift. Ausserdem Vorstellung eines 2 Jahre alten Knaben, der im An- . schluss an ein Trauma Hirndruckerscheinungen ohne Herdsymptome aufweist. Das Lumbalpunktat, das unter hohem Druck steht, ist bakterienfrei, obne Zell- ‘und Eiweissvermehrung, daher Deutung des Falles als traumatischer Hydrocephalus. Erscheint gleichfalls später in einer pädiatrischen Fachzeitschrift. Fräulein L. Rollett demonstrierte 2 Kinder von 2 bzw. 1!/, Jahren mit malignem Tumor. 56 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Bei dem älteren Kinde handelt ts sich um eine derbe, langsam wachsende Geschwulst der hinteren Rachenwand, deren histologische Untersuchung ein bösartiges Sarkom mit vacuolenreichen polygonalen Zellen ergab. Röntgenbestrahlung und Radiumbehandlung erwies sich als erfolglos, auch nach Thoriuminjektion in den Tumor nur vorübergehende Besserung, aber doch so, dass bereits bestehende Paresen der Extremitäten zurück- gegangen sind. Der 2. Fall betrifft ein linksseitiges Becken-Spindelzellensarkom bei einem 11/sjährigen Mädchen. Von Trauma ist nichts bekannt. Das erste Symptom war eine schwere Cystitis, die sich allmählich bessert, während der Tumor an Ausdehnung gewinnt. Ausgangspunkt der Geschwulst nicht sicher festzustellen, wahr- scheinlich ein Beckenknochen. sellesische besellschaft für valerländische sulr AR: "IST Ben 93. 1. Abkeilune Jahresbericht. Medizin. 1915. a. Medizinische Sektion. os. En II NER TREE ZH) Vorträge der medizinischen Sektion im Jahre 1915. IL Die essentielle Thrombopenie. (Konstitutionelle Purpura -—- Pseudo-Hämophilie.) Von B. Frank. I. Klinisehes Bild. Diejenigen Krankheitsformen, die als Purpura haemorrhagica oder Morbus maculosus bezeichnet werden, haben seit dem Tage, an welchem vor 140 Jahren der Göttinger Kliniker Werlhof sie mit vorahnendem Blick als Krankheitseinheit aus einer grossen Zahl hämorrhagischer Erkrankungen heraushob, an Rätselhafiig- keit nichts eingebüsst. Wie wenig man über das grob gezimmerte klinische Bild hinausgelangt ist, zeigt schon der Umstand, dass man die Purpura haemorrhagica immer noch mit dem Skorbut und der Hämophilie in dem Kapitel „Hämorrhagische Diathesen“ zusammenfasst, ja sogar Uebergänge zwischen diesen wesens- verschiedenen Krankheitsbildern, die rein äusserlich in der Neigung zu Blutextravasationen übereinstimmen, glaubt erkennen zu können. Diese Uebergänge halten aber einer näheren Betrachtung in keiner Weise Stich. Gewiss sind Zahnfleischblutungen bei der Purpura häufig, aber darum liegt doch noch keine skorbutische Gingivitis vor, selbst wenn — was aber fast niemals der Fall ist — die Zahnfleischränder sich entzünden sollten. Gewiss kommen bei Purpura abundante, langdauernde Blutungen vor, die gelegentlich den Tod nach sich ziehen können; aber dadurch lässt sich doch eine Verwandtschaft mit der Hämophilie noch nicht begründen, höchstens eine klinische Verwechslung begehen, wenn man die modernen, differential-diagnostischen Hilfsmittel, die in jedem Falle die Unterscheidung gestatten, nicht kennt oder nicht in An- wendung zieht. Der Skorbut, schon lange auf einen Defekt in der Nahrung zurückgeführt, ist uns nicht mehr so unverständlich, seitdem wir jene Imponderabilien im wahren Sinne des Wortes, die Vitamine, kennen gelernt haben, die ausser den Kalorienträgern in jeder physiologischen Nahrung enthalten sein müssen. Eine künftige Klassifikation wird den Skorbut zur Gruppe der Avitaminosen Schlesische Gesellsch. f. vaterl. Cultur. 1915. I. 2 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. stellen, als deren beststudiertes Beispiel!) er neben der Beriberi- Krankheit gelten kann, und ihm dadurch jede Beziehung zu den von der Art der Ernährung völlig unabhängigen Krankheitsformen der Hämophilie und der Purpura nehmen. Die Hämophilie ist eine exgquisit erbliche Erkrankung; die Purpura befällt wohl stets nur ein einzelnes Individuum; sonst aber können die Symptome beider Krankheiten weitgehende Aehnlichkeit besitzen. In beiden Fällen kann eine geringe Kon- tusion zu einer erheblichen Sugillation oder Blutbeule führen. Eine kleine Verletzung, eine unmerkliche Läsion der Schleimhaut kann Veranlassung zu erschöpfendem Blutverlust geben. Die Aehnlichkeit der beiden Leiden kann so gross sein, dass ohne die neuerdings festgestellten Eigentümlichkeiten des Gerinnungs- vorganges und des morphologischen Blutbildes die Unterscheidung auf Schwierigkeiten stösst; und sicherlich sind viele Fälle von sporadischer Hämophilie, die in der Literatur beschrieben sind, in Wirklichkeit Purpuraformen: bei einigen gut untersuchten lässt sich noch nachträglich der Beweis für diese Behauptung erbringen. Man könnte mit vollem Recht eine Reihe dieser schweren Purpurafälle, bei denen Schleimhautblutungen ganz im Vordergrunde stehen, als Pseudohämophilie bezeichnen. Rein klinisch ist ein Unterschied darin gegeben, dass ein universelles, aus Ecchymosen und Petechien sich zusammensetzendes Exanthem doch wohl bei der echten Hämophilie kaum vorkommt, während andererseits die Gelenkaffektion, die für die Bluterkrankheit so charakteristisch ist, beim echten Morbus maculosus keine Rolle spielt. Die Blutfleckenkrankheit selbst umfasst nun noch eine ganze Reihe ätiologisch sehr verschiedenartiger Zustände, und es hat sich hier, wie auf vielen anderen Gebieten der Pathologie mit dem Fortschreiten unserer Kenntnis immer mehr das Bestreben geltend gemacht, diese Krankheitsgruppe abzubauen und aus dem Geröll der „symptomatischen“ Formen den „idiopathischen“ Kern herauszuschälen. Diejenigen Purpuraexantheme und inneren Blu- tungen, die auf dem Boden einer Sepsis, einer akuten oder chro- nischen Leukämie oder Aleukämie, einer aplastischen Anämie, einer Benzolvergiftung, einer Leber- oder Nierenerkrankung auf- treten, sind unzweifelhaft zunächst von dem eigentlichen Bilde ab- zutrennen, wenn auch die Pathogenese der Blutungen bei mehreren dieser Zustände, wie wir noch sehen werden, ähnlich ist wie bei dem Morbus maculosus sensu strictiori. Die Werlhof’sche Krankheit wird von vielen Autoren nur als eine Steigerung der sog. Purpura simplex und rheumatica aufgefasst, und besonders Litten?) hat sich für diese Be- trachtungsweise eingesetzt. Es würde sich also nur um graduelle Unterschiede handeln: werden die cutanen und subeutanen Blut- 1) Siehe Holst und Fröhlich, Ueber experimentellen Skorbut. Zschr. f. Hyg., 1912, Bd. 72, H. 1. 2) Nothnagel’s Handb. d. spec. Path. u. Ther., 1898, Bd. VIII, TeilIIi. — Deutsche Klin., 1903, Bd. III. [SD] I. Abteilung. Medizinische Sektion. austritte umfänglicher, treten vor allem Blutungen aus Mund, Nase usw. hinzu, zieht sich die Krankheit unter immer neuen Schüben längere Zeit hin, dann hat man das Bild der Purpura haemorrhagica. Auf Grund der klinischen Erfahrungen glaubt ‚Litten die alte Lehre Schönlein’s, dass die harmlose Purpura rbeumatica — also die meist mit Fieber, Gliederschmerzen und Gelenkschwellungen einhergehende Eruption hirsekorngrosser Blut- fleeken — durchaus von der Werlhof’schen Krankheit zu trennen sei, strikte leugnen zu dürfen. Und doch wird wohl der alte Kliniker recht behalten: die Purpura rheumatica, die häufig von Urticaria und Öödematösen Schwellungen begleitet ist, gehört wahrscheinlich ins Gebiet der anaphylaktoiden Erkrankungen und hat jedenfalls, wie sich herausstellen wird, mit den essentiellen Fällen von Purpura, mit denen sich diese Arbeit beschäftigt, kaum Berührungspunkte. Es ist schon erwähnt worden, dass Gelenkerkrankungen nicht zum Bilde der Purpura haemorrhagica gehören (sie wurden in vier eigenen und sämtlichen aus der Literatur herangezogenen Fällen, die meiner Studie zu grunde liegen, stets vermisst), und auch Litten gibt zu, dass sie bei den schwereren Formen des Morbus maculosus selten seien. Die Purpura haemorrhagica wird in der Literatur im allge- meinen als eine erworbene transitorische Krankheit bezeichnet. Es wird wohl erwähnt, dass sie in mehreren Schüben verlaufen und dadurch über Monate sich hinziehen könne: aber dass sie von einem bestimmten Zeitpunkte ab den Befallenen, wie etwa ein Diabetes melitus, durch sein ganzes ferneres Leben begleiten kann, nicht selten diesem Leben schliesslich das Ziel setzend, das wird in der älteren und neueren deutschen Literatur fast ganz ignoriert und selbst in der neuesten Darstellung von Morawitz!) nur flüchtig gestreift und als recht selten be- zeichnet. Henoch freilich, der auf diesem Gebiet besonders Erfahrene, beschreibt in seinem Lehrbuch der Kinderkrankheiten bereits typische Fälle; das Verdienst aber, die chronische Form der Purpura, die gewiss nicht alltäglich ist, aber auch nichts geradezu Singulärcs darstellt, in ihrer Bedeutung ge- würdigt, das klinische Bild .ınd den Krankheitsverlauf festgestellt zu haben, gebührt dem bekannten französischen Kliniker Hayem?) und seinen Schülern Bensaude und Rivet:). Die Lektüre der Originalarbeiten zeigt, wie wichtig es ist, zu den Quellen zu steigen; wer die klassische Schilderung in Hayem’s Vorlesungen über Blutkrankheiten und die sechs sorgfältig beschriebenen per- sönlichen Beobachtungen der beiden letzgenannten Autoren liest, denen sie noch acht eigene kürzer gefasste und 20 Fälle aus der Literatur hinzugesellen, wird sich des Eindrucks nicht er- wehren, dass wir es hier mit einem ausserordentlich gut charak- terisierten Krankheitsbilde zu tun haben, und ein wenig ver- wundert sein, dass, trotzdem diese Arbeiten aus den Jahren 1900 1) Handb. d. inn. Med. v. Mohr-Staehelin, Bd. IV. 2) Lecons sur les maladies du sang, Paris 1900, Masson & Cie. 3) Archives generales de medeecine, 1905, 195, T. 1. 1 23 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. und 1905 stammen, das Krankheitsbild in Deutschland so gut wie unbekannt geblieben ist. Ich selbst habe in den letzten drei Jahren vier Fälle dieser Krankheit, welche zweifellos den Morbus maculosus za’ 2&oyn» darstellt, genau verfolgen können. Ferner sind bei Türkt), Fonio°), Gaisböck®) und Duke“) neuerdings , hierher gehörige Fälle beschrieben. Einen Fall von Purpura haemorrhagica, der nach Abklingen der Krankheitserscheinungen in dauernde Heilung ausgegangen wäre, habe ich in der gleichen Zeit überhaupt nicht zu Gesicht bekommen. Ich habe den Ein- druck, dass viele solcher Fälle eine nur einmal beobachtete Attacke im Verlauf der chronischen Krankheit darstellen, die, wie wir sehen werden, mit langen Intervallen von scheinbarer Genesung verlaufen kann. Man hatte vielleicht Gelegenheit, den ersten Anfall zu beobachten, hat aber dann den Kranken aus dem Auge verloren, oder man hat zu wenig auf frühere Neigungen zu Kontusionshämorrhagien, Nasenblutungen, übermässige Men- struationen u. dergl. gefahndet. Mitunter tritt auch die Krank- heit von vornherein ausserordentlich schwer auf: die ständig sich wiederholenden Blutungen, die gleichzeitig aus Nase, Magendarm- kanal, Nieren und Genitale erfolgen können, rufen im Verlaufe weniger Wochen, höchstens Monate, extremste Grade von Anämie hervor, so dass durch den tödlichen Ausgang die chronisch inter- mittierende Natur des Leidens verborgen bleibt. Ich möchte vor- läufig nicht behaupten, dass alle nicht als konstitutionell zu er- weisenden Formen der Purpura haemorrbagica nur Symptom einer anderen Grundkrankbheit seien, aber daran, dass die chronische Form die Mehrzahl der Fälle umfasst, ist mir bereits heute kein Zweifel. Die Krankengeschichten der von mir selbst beobachteten Fälle sind folgende: € I. Guido Sch., 12 Jahre alt, tritt am 27. 1I. 1914 zum ersten Male in die Klinik ein. Eltern und Geschwister sind gesund. Pat. selbst hat ausser Masern keine Krankheit durchgemacht. Er litt öfter an Nasenbluten. 14 Tage vor Eintritt in die Klinik zeigten sich erst kleine, dann grössere Blutaustritte an den Beinen und am Unterleib bei etwas erhöhter Körpertemperatur. Gleichzeitig trat leichtes Nasen- bluten ein, das sich allmählich zum Blutsturz steigerte, so dass im Laufe weniger Tage mehrfach starke Blutverluste eintraten. In der Klinik wurde das Nasenbluten durch Tamponade gestillt. Das Exanthem bestand noch. Man fand an der Brust und den unteren Extremitäten mehrere fünfmarkstück- bis handtellergrosse Hautblutungen. Temperatur 37,0°. Hämoglobingehalt 50 pCt. Sch. wird am 6. III. geheilt entlassen. Bis zum 10.1. 1915 soll Pat. völlig wohl gewesen sein. An diesem Tage erkrankte er mit so heftigem Nasenbluten, dass er schleunigst in die Klinik verbracht wurde. Die diffuse Blutung aus Muscheln und Septum wird durch Coagulenspray und Tamponade zum Stehen gebracht. Etwa gleichzeitig mit der Blutung entwickelt sich ein diffases Purpura- exantbem über dem ganzen Körper: zum Teil dicht beieinander liegende, linsengrosse Blutfieckchen, am stärksten an der Brust, nahe den Achsel- 1) Vorlesungen über klinische Hämatologie, Bd. 2, H. 2, S. 910f. 2) Mitt. Grenzgeb., Bd. 27 u. 28. 3) D. Arch. f. klin. Med., Bd. 110. 4) American Journal of the Medical Association, 1910, Vol. 55. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 5) falten, spärlicher an den Armen, vereinzelt auch an der Wangen-. und Gaumenschleimhaut; zum Teil grössere flächenhafte Blutextravasate, z. B. im Gesicht unter einem Augenlide. Ferner blutete es aus den Zahnfleischrändern und aus dem Lippenrot. Im Harn finden sich ver- einzelte rote Blutkörperchen. Am 17.1. klagt Pat. gegen Abend über heftige Leibschmerzen, die nach einer halben Stunde wieder nachlassen. Bereits vorher hatte er etwas geronnenes Blut erbrochen. Während der Nacht erbricht er noch mehrmals dunkelrote, zum Teil geronnene Blutmassen und ist am anderen Morgen sehr blass (der Hämoglobingehalt, bei der Aufnahme 85 pCt., ist plötzlich auf 40 pCt. herabgesunken). Durch Coagulen-Kochsalzinfusion, intravenöse Injektion von 5 cem 10 proz. Kochsalzlösung wird die Magenblutung zum Stillstand gebracht. Pat: scheint sich zunächst zu erholen, doch wird nach etwa 6 Tagen der immer frequente Puls sehr klein und der Pat. verfällt. Er stirbt am 25.1. Der Hämoglobingehalt war noch weiter bis auf 16 pCt. herabge- sunken (offenbar durch Auffüllung des Gefässsystems mit Gewebs- flüssigkeit). Bis zum Eintritt der Magenblutung war die Körpertemperatur leicht erhöht, zwischen 37,5 und 38; dann stieg sie höher und erreichte zwei- mal 39,5. Blutbefund: 15.1. Zahl der roten Blutkörperchen 3 230 000, Hä- moglobingehalt 85 pCt. (korrigiert), Zahl der weissen Blutkörperchen 18 200, ganz vorwiegend polynucleäre Formen. In einem kurz vor dem Tode angefertigten Blutpräparat ist die Zahl der weissen Blutkörperchen ganz enorm angestiegen, schätzungsweise auf etwa 40 000. (Auch hier sind fast alle Zellen polynucleäre: maximale posthämorrhagische Leuko- cytose.) Bei der Autopsie fanden sich in der Magenschleimhaut an 5 bis 6 Stellen kleine Hämorrhagien. Spezielle Untersuchung des Blutes. 1. Bestimmung der Gerinnungszeit des aus der Vene entnommenen Blutes (Methode Sahli-Fonio)!). 20 Tropfen des mit kleiner Luer’scher Spritze entnommenen Blutes werden in ein mit Alkohol und Aether gereinigtes, stäubchen- freies Uhrschälchen gebracht, und nun wird in einer feuchten Kammer der Verlauf des Gerinnungsvorganges beobachtet. Als Beginn der Gerinnung wird der Moment bezeichnet, an welchem ein durch das Blut hindurchgeführter, am Ende mit einem Knöpfchen versehener Glasfaden ein feinstes Fibrinfädchen nach sich zieht, als Ende der Gerinnuug derjenige Augenblick, in welchem man das Uhrschälchen um 90° drehen kann, ohne dass noch Blut herunterfliesst. Beginn der Gerinnung nach wenigen Minuten, Ende der Gerinnung nach 12 Minuten. Auch nach 24 Stunden ist in dem Schälchen kein Serum ausgepresst: der Blutkuchen retrahiert sich also nicht. 2. Salzplasmaversuch nach Wooldridge-Nolf. Gleiche Teile Venenblutes und 1Oproz. Kochsalzlösung werden gemischt, dann wird zentrifugiert, das Plasma mit dem vierfachen 1) 1. c., Bd. 28, S. 322. 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Volumen destillierten Wassers verdünnt und auf je 5 ccm dieses verdünnten Salzplasmas aus einer Pipette mit weiter Oeffnung ein Tropfen Eidotter zugesetzt. Normalerweise pflegt dann innerhalb kurzer Zeit, höchstens nach Ablauf von 2 Stunden, das Plasma geronnen zu sein. Im vorliegenden Falle gerann das Plasma etwas verspätet, doch war die Gerinnung nach 3 Stunden beendet. 3. Magnesiumsulfat-Blutpräparat nach Fonio!) zur Zäh- lung der Blutplättchen. Man bringt einen Tropfen einer 14 proz. Magnesiumsulfatlösung auf die sorgsam gereinigte Haut der Fıngerbeere und sticht durch diesen Tropfen hindurch, mischt mit dem Objektträger rasch Blut und Magnesiumsulfatlösung und streicht in gewohnter Weise aus. Man färbt nach Giemsa, lässt die Präparate 11/,; Stunden oder länger in der Farblösung liegen. Die Blutplättchen sind dann ausnahmslos gut conserviert, tadellos gefärbt und bei gelungenen Präparaten gleichmässig verteilt, nicht, wie oft im gewöhnlichen Blutpräparat, zu Häufchen verbacken oder am Rande des Aus- striehs. Man zählt mit quadratischer Okularblende nach Ehrlich 1000—8000 Erythrocyten und die darauf entfallende Zahl von Blutplättchen. Durch gleichzeitige Feststellung der Zahl der roten Blutkörperchen in der Zählkammer lässt sich dann leicht berechnen, wieviel Blutplättchen im Kubikmillimeter ent- halten sind. Im vorliegenden Falle fanden sich bei genauester Durchmusterung des Präparates höchstens 1—2 auf- fallend grosse Blutplättchen, so dass man von einem fast völligen Fehlen dieser Formelemente sprechen kann. II. Ida G., 15 Jahre alt. Patientin soll bis zu ihrem 11. Lebens- jahre gesund gewesen sein. Weder ihre Eltern, noch ihre Geschwister bieten ähnliche Krankheitserscheinungen dar wie die Patientin. Seit dem 12. Lebensjahre treten bei dem Mädchen 3—4mal im Jahre kleine linsenförmige Blutflecken in grosser Zahl, hauptsächlich an den beiden Unterschenkeln, auf. Das erste Mal sollen sich grosse, dunkelblaue Beulen an den Knöcheln gebildet haben, die dann auf- gingen und aus denen sich dunkles Blut entleerte. Solche Beulen sind nicht wieder aufgetreten. Ganz geschwunden sind die kleinen Blut- flecken eigentlich nie, einige waren stets vorhanden. Bei geringen Schlägen auf Arme oder Beine traten regelmässig grosse dunkelblaue Flecke auf. Seit 2 Jahren ist die Menstruation aufgetreten, die von Anfang an ausserordentlich stark war und mehr als 8 Tage anzuhalten pflegte. Sie suchte wegen dieser jedesmal so erheblichen Menstrualblutung die Frauenklinik auf. Dort wurde rechterseits ein Adnextumor von Hühnerei- grösse festgestellt (Hämatosalpinx?). Bei der Untersuchung fanden sich an beiden Beinen dicht aneinander- gereihte, linsenförmige Blutflecken, besonders um die Haarfollikel, sonst nur vereinzelte, kleine Blutaustritte am Hals und an der Brustapertur. Aus dem Zahnfleisch blutet es fast stets ein wenig, ebenso ist um die 1) D. Zschr. f. Chir., Bd. 117, S. 176. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 7 Mundwinkel oft etwas verschmiertes Blut. Der Zahnfleischrand ist nicht entzündet. Die in der Klinik beobachtete Menstruation dauert 9 Tage; die dabei verlorene Blutmenge beträgt etwa 175 ccm. Nach Angabe der Pat. war der Blutverlust bei etwa gleicher Dauer früber oft viel stärker. Etwa 3—4 mal tritt während der Beobachtung in der Klinik spontanes Nasenbluten auf, das niemals grössere Dimensionen annimmt. Eines Tages wird unterhalb des rechten Leistenbandes eine bläulich- rote Sugillation von fast 10 cm Durchmesser festgestellt. Schon der Schlag mit dem Perkussionshammer auf die Haut über dem Vorderarmknochen ruft blaue Flecke hervor. Durch Anlegung der Abbildung 1. Artefizielles Purpuraexanthem nach Anlegen der elastischen Binde (und Erzeugung arterieller Hyperäwie im Heissluftkasten). . Stauungsbinde für etwa 10 Minuten am linken Oberarm wird unter- halb der Abklemmungsstelle ein aus zahlreichen linsenförmigen Blutflecken bestehendes Exanthem erzeugt. Bei längerer Dauer der Stauung und gleichzeitiger aktiver Hyperämie im Heissluftapparat werden die Blutaustritte so zahlreich, dass zwischen den massenhaften runden und länglichen Blutflecken kaum mehr kleine, weisse Inselchen zu sehen sind. Vereinzelte Blutpünktchen werden selbst an den Fingern festgestellt (confer. die beigegebene Abbildung 1). Dieser Stauungs- versuch lässt sich jedesmal mit dem gleichen Effekt wiederholen. Nach Einstich in den Finger tritt zunächst ein kleines Bluttröpfehen aus, allmählich vergrössert sich dann der Tropfen, und es blutet sehr lange nach. So wurde einmal nach 7 Minuten, während grosse Tropfen 8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. aus dem Finger hervorquollen, die Blutung unterbrochen. Trotzdem es nämlich spontan so lange blutet, wird durch Aufpressen eines Watte- bausches oder wenn man nur eine Anzahl von Wattefasern an der Ein- stichstelle hängen lässt, die Blutung fast momentan gestillt. Blutbefund: Bei der Aufnahme Zahl der roten Blutkörperchen 4000000, Hämoglobingehalt korrigiert 60 °/,, Färbeindex 0,75. Im ge- färbten Präparat besteht Anisocytose, aber keine Makrocytose, kern- haltige rote Blutkörperchen werden nicht gefunden. Bei der Entlassung Zahl der roten Blutkörperchen 3800000, Hämo- globingehalt korrigiert 57°/,. Zahl der weissen Blutkörperchen 5100, daruter 63°/, Polynueleäre, 29°/, Lymphoeythen, 7°/, grosse Mono- nucleäre, 1°/, Eosinophile. Spezielle Untersuchung des Blutes. 1. Bestimmung der Gerinnungszeit. 22.II. 1915: Beginn der Gerinnung nach 9 Minuten, Ende der Gerinnung nach 15 Minuten. 12. III. Beginn der Gerinnung nach 9 Minuten, Ende der Gerinnung nach 27 Minuten. Der Blutkuchen presst auch nach 24 Stunden kein Serum aus. 2. Salzplasmaversuch. Die Geriunung des Plasmas tritt im Verlauf einer Stunde ein. 3. Im gewöhnlichen Giemsa-Präparat und im Magnesiumsulfat- präparat wurden auch nach längerem Suchen höchstens 2—4 Riesenblut- plättehen gefunden. Ihr Innenkörper erschien so kompakt, dass sie wie oval gestaltete freie Kerne aussahen, Dieser Befund wurde zu wieder- holten Malen bestätigt. Auch im Plasmatropfen auf Paraffinblock nach Bürker konnten Blutplättehen mit Sicherheit nicht festgestellt werden. II. Hans S., 18 Jahre alt. Pat. ist das einzige Mitglied seiner Familie, das an Purpura und Blutungen leidet. Erste Attaque vor 6 Jahren: Blutfiecken an beiden Extremitäten, Nasenbluten, Blutungen ins Auge. Nach 3 Wochen wurde Pat. geheilt entlassen. Vor 5 Jahren ähnliche Attaque von 4 Wochen Dauer. Vor 4 Jahren 3. Anfall. Damals traten Blutungen in beiden Augen auf: eins musste enucleiert werden, an dem anderen wurde eine Iridektomie vorgenommen. Vor 3 Jahren 4. Anfall: Beginn mit heftigem Nasenbluten. Sehr bald ist die Haut des ganzen Körpers mit petechialen Blutungen besät. Ferner treten Blutungen am Zahnfleisch und aus dem äusseren Gehör- gange auf. Der Stuhl ist von pechschwarzer Farbe und enthält reichlich Blut. Im Harn kein Blut. Nach 14 Tagen sind alle Erscheinungen abgeklungen. Vor 1 Jahre wurde Pat. von einer 5. Attaque befallen, die milde verlief (Nasenbluten, Zahnfleischblutungen, kleinfieckiges Exanthem, ver- einzelte flächenhafte Hautblutungen). Zurzeit ist er beschwerdefrei. Spezielle Untersuchung des Blutes am 5. III. 1915: Zahl der Erythrocyten 5050000, Hämoglobingehalt 66 pCt, Zahl der Leuko- eyten 6300. 1. Bestimmung der Gerinnungszeit: Beginn der Gerinnung nach 16 Minuten, Ende der Gerinnung nach 30 Minuten (Zimmertempe- ratur 21,59). Der Blutkuchen retrahiert sich ziemlich rasch und presst reichlich Serum aus. 2. Salzplasmaversuch: Das Plasma gerinnt im Verlauf von 11/,—2 Stunden. 3. Zahl der Blutplättchen: Im frischen Plasmatropfen nach Bürker sieht man eine Anzahl von Blutplättehen; doch scheinen sie I. Abteilung. Medizinische Sektion. 9 nicht so reichlich zu sein wie im normalen Kontrollpräparate. Im Magnesiumsulfatpräparat werden auf 3000 Erythrocyten 72 Blutplättchen gezählt, d. h. bei einer Zahl von roten Blutkörperchen von 5000 000 findet man im Kubikmillimeter 120000 Blutplättchen. Durch Anlegung der Stauungsbinde lassen sich am Ober- und Unter- arm flohstichartige Blutpunkte erzeugen. Konstruieren wir nun mit Hilfe dieser 3 lehrreichen Fälle!) die Erscheinungsweisen der Krankheit: sie tritt nicht erblich oder bei mehreren Familienmitgliedern auf. Unsere 3 Patienten stehen sämtlich beim Ausbruch der Erkrankung im 12. Lebensjahre; die Krankheit scheint denn auch mit Vorliebe beim älteren Kinde einzusetzen, doch kann sie auch viel später, selbst im höheren Alter beginnen. Sie verläuft entweder in einzelnen mehrwöchigen Attaguen, die durch lange Zwischenräume scheinbar völliger Ge- nesung getrennt sind (in unseren Fällen etwa 1 Jahr, doch sind Pausen von 7—18 Jahren beobachtet) oder in einer mehr konti- nuierlichen Form mit dauernder Neigung zu Blutungen, die nur zeitweilig sich stärker manifestiert. Ganz gewöhnlich sind von Anfang an Epistaxis, Blutungen aus Zahnfleisch und Lippen- rhagaden vorhanden. Bei weiblichen Kranken treten überaus starke und langdauernde Menorrhagien in den Vordergrund. Nicht selten sind endlich Blutungen aus dem Magendarmkanal (Blutbrechen, Teerstühle) und Hämaturien. Die Schleimhaut- blutungen beherrschen meist durch ihre Heftigkeit und häufige Wiederholung so sehr das Bild, dass das kleinfleckige, vielfach nur an den unteren Extremitäten deutlich ausgeprägte, ge- legentlich wohl gar auch in einer kritischen Zeitperiode fehlende Purpuraexanthem fast wie ein Anhängsel erscheint. Nicht zu den Blutflecken auf der Haut gesellen sich, wie die Beschreibung meist lautet, noch Blutungen aus der Schleimhaut, sondern neben den starken Blutverlusten aus Nase, Magen, Genitalien usw. blutet es auch ins cutane und subcutane Gewebe. Bei der kontinuierlichen Form findet man fast ständig hier und da Petechien oder auch grosse Blutunterlaufungen. Schon die geringste Kontusion, etwa das Beklopfen mit dem Perkussions- hammer, ruft blaue Flecke hervor, ein heftigerer Stoss grössere, flächenhafte Sugillationen. Zahnfleischrand und Mundwinkel zeigen dauernd kleine Blutkrüstchen. Sehr interessant ist, dass man jederzeit durch venöse Stauung ein Purpuraexanthem beliebigen Grades hervorrufen kann. Nach Einstich in den Finger oder bei der Venenpunktion blutet es stark und sehr lange, wenn man die kleine Wunde sich selbst überlässt, aber — merkwürdig — schon ein paar Wattefäserchen können genügen, um das eben noch 1) Einen vierten sehr schweren Fall wird Herr Pyszkowski in seiner Dissertation beschreiben; hier sei nur erwähnt, dass die aus voller Gesundheit mit unaufhörlichem Nasenbluten erkrankende 26jährige Frau auf Befragen angab, schon seit 3 Jahren seien nach dem geringsten Stoss blaue Flecke in der Haut aufgetreten. Die Gerinnungszeit in vitro war auch in diesem Falle normal, Blutplättchen konnten bei fast täglich vorgenommener Untersuchung im gefärbten Präparat niemals entdeckt werden. 10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. reichlich quellende Blut fast momentan versiegen zu lassen. Die abgebildete Bluttropfenreihe, die bei Fall II so gewonnen ist, dass immer nach einer halben Minute das Blut aus einem kleinen Einstich in Filtrierpapier aufgesogen wurde, zeigt, dass in einem solchen Falle die kleine Blutung nicht, wie gewöhnlich, in 1 bis 3 Minuten steht, sondern (und dabei noch durch das Betupfen sicherlich beschleunigt) erst nach 131/, Minute. Würde man es spontan weiterbluten lassen, so können, wie Duke gezeigt hat, 60—90 Minuten bis zum endgültigen Stillstand vergehen. Bei der intermittierenden Form fehlt im Intervall diese Neigung zur Nachblutung, doch kann man auch hier mit Hilfe der Stauungs- binde schon rein klinisch nachweisen, dass eine latente Dis- position zu Blutungen dauernd vorhanden ist. Freilich lassen sieh nur feine fiohstichartige Pünktchen, nicht jenes grossartige Exanthem wie bei den Dauerformen erzeugen. Abbildung 2. SZ | : 1‘ ee BB 8 8, Hg BL 8 8 80 2 ar def un Ar «u I 90009 ° +: Eine Rückwirkung auf den Gesamtorganismus kommt bei diesen Zuständen in mehrfacher Weise zustande. Die Blutung kann einmal während einer Attacke so abundant sein, dass der Organismus an den Folgen des akuten Blutverlustes zugrunde geht. Bei den kontinuierlichen Formen bildet sich meist eine chron'sche Blutarmut vom Typus der Chloroanämien aus (Färbe- index 0,75—0,5). Endlich kann die Blutung in funktionell hoch- wertige Organe erfolgen (Verlust des Augenlichtes bei Fall III.) Gelangt aus den Extravasaten eine grössere Menge Blutes zur Resorption, so tritt Fieber auf, im allgemeinen unter 38°. Es ist naturgemäss bei den akuten Zuständen häufiger als bei den Dauerformen. Wahrscheinlich unter dem Einfluss hochgradiger Anämie kann die Temperatur gelegentlich auch erheblich an- steigen. Der Verlauf des einzelnen Falles gestaltet sich recht ver- schieden; eine Prognose ist daher schwer zu stellen. Mitunter treten schon bei der ersten oder zweiten Attacke erschöpiende Blutverluste auf. Der an erster Stelle beschriebene Fall kann als Beispiel dienen. Auch eine Beobachtung Gaisböck’s!), die dieser merkwürdigerweise wegen der verminderten osmotischen # I) Le I. Abteilung. Medizinische Sektion. 11 Resistenz der roten Blutkörperchen als hämolytische Anämie rubriziert, während es sich nach der ausführlichen Beschreibung und dem eine Blutkrankheit ausschliessenden Sektionsbefunde um nichts anderes handelt als eine schwere konstitutionelle Purpura, zeigt, wie durch gehäuftes Nasenbluten im Laufe eines Monats eine schwerste, vom Organismus nicht mehr zu überwindende Anämie eintreten kann. Die verminderte Resistenz der roten Blutkörperchen erscheint in diesem Falle als nebensächliches Symptom, jedenfalls siokt nicht dadurch, sondern durch die hoch- gradigen Blutverluste der Blutfarbstoffgehalt auf 10 pCt., und der Patient erliegt schliesslich dieser schwersten posthämorrhagischen Anämie. Auf die herabgesetzte osmotische Resistenz, die ja auch zum Bilde der Krankheit gehören könnte, wird in Zukunft zu achten sein. Bei unserem zweiten Falle wurde sie untersucht und normal befunden. (Beginn der Hämolyse bei 0,46 pCt., kom- plette Hämolyse bei 0,28 pCt.) Die einzelnen Attacken können aber viel milder verlaufen als in den eben besprochenen Fällen. Der Patient kann Jahr für Jahr einen neuen Anfall erleben, ohne wesentlich geschwächt daraus hervorzugehen. Es lässt sich aber nie vorhersagen, ob es nicht doch einmal bei einem dieser Anfälle zu heftigsten, schwer anämisierenden Blutungen kommen kann. Die Fälle mit kontinuierlicher Purpura scheinen, wie erwähnt, von den besonders schweren Blutverlusten meist verschont zu bleiben; doch sind diese Menschen, wenn auch die brüske Verkürzung des Lebens fehlt, infolge der chronischen Blutarmut dauernd schwächlich und wenig leistungsfähig; manche gehen wohl auch unter dem Bilde der sog. „aplastischen“ Anämie zugrunde. Il. Pathogenese. Im Jahre 1887 hat der belgische Forscher Denys!) bemerkt, dass in einem Falle von recidivierender Purpura die Blutplättchen, das von Hayem und Bizzozero in den Jahren zuvor genauer beschriebene 3. Formelement des Blutes, fast vollständig fehlten. Er hat damit den Schlüssel zu dem Verständnis dieser inter- essanten Krankheit aufgefunden. Obwohl er nur über einen Fall verfügte, hat er doch seinen Fund für recht bedeutsam gehalten. Denn gestützt auf die Untersuchungen jener Forscher über die wichtige Rolle der Blutplättchen bei der Thrombusbildung und Hämostase führt er das reichliche Ausströmen des Blutes auch nach unbedeutender Verletzung kleinster Gefässe auf die Spär- lichkeit der Plättchen zurück. Er glaubt sich dazu um so mehr berechtigt, als er die Coagulationszeit in vitro nicht verlängert fand. Auf dieser fast vollständig vergessenen Vorstellung von Denys wird, wie ich fest überzeugt bin, ein jeder Erklärungs- versuch basieren müssen. Hayem und seine Schüler haben in einer Reihe von Fällen die Entdeckung von Denys bestätigen können. Hayem konnte weiter zeigen, dass der Blutkuchen in diesen Fällen kein Serum 1) La Cellule, t. III, fasc. 3. 12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. auspresst (Irrötractilitt du caillot) und führt diese Erscheinung — wie wir sehen werden, mit Recht — auf den Mangel an Plätt- chen in dem Gerinnsel zurück. Die Gerinnungszeit des Blutes in vitro erwies sich auch in seinen Beobachtungen normal. Sämt- liche neueren Untersucher [Coe!), Duke, Steiger?), Fonio, Gaisböck] haben sich immer wieder von der Spärlichkeit der Blutplättchen bei diesen Purpuraformen überzeugen können; und auch unsere Fälle zeigen, dass man bei der continuierlichen Form “ dauernd, bei der intermittierenden mindestens auf der Höhe der Krise sehr wohl von einem fast absoluten Plättehenmangel reden darf. Es ist wirklich kaum nötig, eine Zahl zu nennen, wenn auf 10000 rote 1—3 (meist riesenhafte) Plättchen gefunden werden, doch sei erwähnt, dass Duke in einem Falle auf der Höhe der Attaque bei fast täglicher Zählung Werte von 0, 3000, 6000, 1500 im Kubikmillimeter ermittelte. Diese Erscheinung ist so gesetzmässig, dass in der Literatur» beschriebene Fälle von sporadischer Hämophilie ohne weiteres als Purpura reklamiert werden dürfen, wenn das Fehlen der Plättchen constatiert wurde. Eine Verwechselung in diesem Sinne läuft z. B. Türk in seinem Lehrbuch der Hämatologie bei der Beschreibung eines Falles von typischer Pseudohämophilie unter. In leichteren Fällen ist die Zahl der Plättchen nur erheb- lich vermindert [Fall Pratt?) 105000], ebenso steigt nach Ab- lauf der einzelnen Attaque bei den intermittierenden Formen die Menge der Blutplättchen wieder an (Coe), bleibt aber wohl doch auch in Intervallen meist weit unter der Norm. Die Zahl der Blutplättchen im Kubikmillimeter unter physiologischen Verhält- nissen darf man auf etwa 300000—350000 beziffern. Bensaude und Rivet konnten direkt beobachten, wie mit Ablauf der kri- tischen Zeit die Zahl der Plättchen von dem niedrigsten Werte 40000 im Kubikmillimeter auf 161000 stieg. Duke sah mit Beginn der Heilung ein Anwachsen von 1500 auf 84000. In unserem dritten Falle wurden im Intervall 120000 gezählt®). So enthüllt die Minderzahl der Plättchen die Scheingenesung dieser Kranken, ganz ähnlich wie rein klinisch die Stauungsbinde durch Erzeugung der Flohstichblutungen. Wie schon Hayem hervorhebt, haben die Fälle von Purpura simplex normale Plättchenzahlen. Duke bestätigt das für zwei Fälle von Parpura simplex und zwei von Henoch’scher Purpura. Ich selbst habe bei zwei Kindern, von denen das eine lediglich Hautblutungen, das andere zu Anfang noch blutige Stühle und ausserdem flüchtige Oedeme aufwies (Henoch’s Form), im Magnesiumsulfat-Giemsapräparat ebenfalls sehr reichlich Blut- plättchen gesehen. Unsere weiteren Auseinandersetzungen dürften zeigen, dass dieser Unterschied fundamental genug ist, um die 1) Cit. bei Duke, |. c. 2) W. kl. W., 1913, Nr. 43. 3) Diskussionsbemerkung zu Duke, |. c. 4) Ueber die „Blutplättchenkrise“* in unserem 4. Faile: Plötzliches Auftreten sehr zahlreicher Plättchen mit gleichzeitigem Aufhören der Blutungen, wird Pyszkowski berichten. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 13 Schranke zwischen der Schönlein’schen Purpura rheumatica und der Werlhof’schen Purpura haemorrhagica, die Litten niedergerissen hatte, wieder aufzurichten. Bei der echten hereditären Hämophilie sind die Blutplättchen ebenfalls in mindestens normaler Menge, ja nach Sahli!) und Fonio sogar in überreichem Maasse vorhanden, während ander- seits die Gerinnungszeit des Venenblutes ausserhalb des Körpers fast stets erheblich verlängert ist. In einem eigenen Falle, den ich zum Vergleich mit den Purpuraformen heranzog, fand ich im Magnesiumsulfatpräparat sehr zahlreiche Plättchen und konsta- tierte eine starke Verzögerung der Coagulation (Beginn der Ge- rinnung nach 1 Stunde 30 Minuten, Ende nach 2 Stunden 22 Mi- nuten). Trotzdem blutete es weder aus dem Punktionskanal, noch aus dem Fingereinstich nach. In unseren sämtlichen Pur- purafällen war hingegen die Gerinnungszeit noch als durchaus normal zu bezeichnen. Wie Fonio an 4 Beispielen gezeigt hat, kann der Beginn der Gerinnungszeit des der Vene entnommenen Blutes zwischen 7 und 14 Minuten schwanken, während die voll- ständige Gerinnung in seinen Fällen zwischen 21 und 23 Minuten erreicht war. Danach weist gerade der erste unserer Fälle, bei dem die tödliche Blutung eintrat, die kürzeste Gerinnungszeit auf, da schon nach 12 Minuten der Gerinnungsvorgang als beendet anzusehen war, während in Fall 3, bei dem klinisch eine Ano- malie des Blutungsvorganges zurzeit nicht nachzuweisen war, die Gerinnung eher eine kleine Verzögerung aufwies (Beginn nach 16, Ende nach 30 Minuten). Bei dem Falle von continuierlicher Pur- pura endlich zeigt die zweimal vorgenommene Untersuchung kaum Abweichungen von der Norm (9—15 Minuten; 9—27 Minuten). Bei stark verlangsamter Gerinnung (Hämophilie) kann also die Blutung rasch zum Stehen kommen (offenbar infolge der Anpassung der Gefässwände); trotz normaler Gerinnungszeit (Purpura) kann ander- seits die spontane Blutung sehr lange dauern. Das Studium dieser Fälle lehrt also, dass man die Dauer der spontanen Blutung aus einer Wunde, die „Blutungszeit“, streng zu trennen hat von der Gerinnungszeit in vitro. Das Charakte- risticum der konstitutionellen Purpura ist eben die ausserordentlich verlängerte Blutungszeit bei normaler Gerinnungszeit. Die Differentialdiagnose zwischen einer Hämophilie und einer Purpura, welche klinisch eine Hämophilie nachahmt, ist also stets eindeutig zu stellen?2). Die Zählung der Blutplättchen und 1) D. Arch. f. klin. M., Bd. 99. 2) Ich hatte auch Gelegerheit, einen echten Scorbut nach den dar- gelegten Gesichtspunkten zu untersuchen. Es handelte sich um einen Mann mit einer Magenfistel, der seit Jahr und Tag nur von Mehlsuppen und Kakao gelebt hatte. Seit einigen Wochen war bei ihm eine Gingi- vitis mit Zahnlockerung und Foetor ex ore entstanden, dazu hatten sich punktförmige Hämorrhagien und flächenhafte Blutungen an den Unter- schenkeln nebst schmerzhafter Schwellung der Wadenmuskulatur gesellt: Die Zahl der Blutplättchen, die Gerinnungszeit in vitro, die Blutungsdauer nach Stichverletzung war durchaus normal. 14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. die Bestimmung der Gerinnungszeit des Venenblutes entscheidet. Sehr wertvoll ist dabei die Feststellung der Gerinnungszeit des Salzplasmas unter dem Einfluss thromboplastischer Substanzen, wie Eidotter (cf. die Technik unter Krankengeschichte 1). Das an sich stabile Salzplasma lässt sich durch Eidotter normaler- weise in kurzer Zeit zur Coagulation bringen, während bei rich- tiger Einhaltung der Zahl der Dottertropfen das Blut des Hämo- philen ganz flüssig bleibt oder höchstens Anfänge der Gerinnung zeigt. Auch das Plasma des von mir untersuchten Bluters war nach 24 Stunden noch nicht geronnen, während bei den Purpurafällen die Gerinnung nach 2 Stunden beendet war; nur bei dem ersten Falle war eine geringe Verzögerung vorhanden. Würden die Ergebnisse der eingehenden „Blutuntersuchung“ lediglich gestatten, zwischen Hämophilie und konstitutioneller Purpura sicher zu unterscheiden, so wäre das entschieden ein hübscher diagnostischer Fortschritt, seine Bedeutung bei der Seltenheit dieser Erkrankungen jedoch keine übertrieben grosse. Aber Plättchenmangel und verlängerte Blutungszeit bei normaler Gerinnungszeit des Gesamtblutes und des Plasmas sind nicht nur stumme descriptive Merkmale einer seltenen und merkwürdigen Krankheit, sondern erhellen mit einem Schlage das Dunkel, das über den Morbus Werlhof seit seiner Entdeckung gebreitet war. Sie lassen auch die symptomatischen hämorrhagischen Diathesen bei einer Anzahl von Krankheiten, wie der aplastischen Anämie, der weit vorgeschrittenen perniciösen Anämie, der akuten Leukämie und Aleukämie verstehen. Um für diese Behauptung Beifall zu gewinnen, wird es not- wendig sein, die Histogenese und Physiologie der Blutplättchen, sowie ihre Bedeutung für den intra- und extravasculären Ge- rinnungsvorgang im tierischen Körper (Thrombose und Hämostase) zu betrachten. Die Blutplättchen sind 2—3 x grosse, stark lichtbrechende, farblose Scheibehen!), die im strömenden Blute isoliert kreisen, vermöge ihres geringen spezifischen Gewichts aber schon bei geringer Stromverlangsamung an die Wand des Gefässes ge- schleudert werden und vermöge ihrer Klebrigkeit untereinander und an den feinsten Rauhigkeiten ausserordentlich fest haften. Lässt man nach Bürker?) einen Blutstropfen zur Verhütung der Gerinnung auf einen Paraffinblock fallen und schützt ihn in der feuchten Kammer vor Austrocknung, so senken sich in einer halben Stunde rote und weisse Blutkörperchen, und das die Kuppe bildende Plasmatröpfchen zeigt unter dem Mikroskop grosse Mengen von Plättchen. Nach Giemsa lassen sie sich gut färben und zeigen dann einen mattblauen Randsaum, während im Innern eine Anzahl von rotvioletten, mit dem Azur der Lösung gefärbten Körnchen sichtbar sind. Diese können ge- 1) Im Kubikmillimeter findet Fonio 300 000—350.000, Port und Akiyama (D. Arch. f. klin. M., Bd. 106) 200 000—300 000. 2) M.m.W., 1904. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 15 legentlich so dicht im Kreise stehen, dass ein Kern vorgetäuscht wird. In Wirklichkeit fehlt aber den Plättchen der Säugetiere der Kern, während die ihnen funktionell gleichwertigen Thrombo- cyten des Blutes der auderen Wirbeltiere kernhaltige Zellen sind. Trotz der Kernlosigkeit weisen die Plättchen eine Reihe von Lebenserscheinungen auf: sie sind amöboider Bewegungen fähig Deetjen!)], zeigen einen lebhaften respiratorischen Stoffwechsel Morawitz und Löber?)] und enthalten peptid-spaltende Fermente Abderhalden und Deetjen®)]. Ihre Abstammung, früher viel umstritten und doch von keinem richtig gedeutet, ist nach meiner Meinung durch die originellen Feststellungen von I. H. Wright#), welche von Ogata°) unter Aschoff und Schridde bestätigt worden sind, endgültig aufgeklärt worden. Nach diesen Autoren kann man beobachten, wie die Megakaryocyten des Knochen- marks pseudopodienartige Fortsätze aussenden, welche zum Teil durch Lücken in der Wand in das Lumen von Knochenmarks- kapillaren hineinragen. Diese Pseudopodien weisen eine eigen- tümliche Felderung auf, welche dadurch zustande kommt, dass sich die im Protoplasma dieser grossen Zellen reichlich vor- handenen azurophilen Körnchen zu Gruppen ordnen, welche von einem homogenen, granulafreien Plasma umgeben sind. Ab- geschnürt stellt eine Körnchengruppe mit dem umgebenden Plasmasaum das Blutplättchen dar. Die Riesen des Gewebes sind die Väter der Zwerge des Blutes. Die Ergebnisse der Pathologie passen ausgezeichnet zu dieser Darstellung, indem diejenigen Krankheiten, bei welchen es zu einem Schwunde der spezifischen Elemente des Knochen- marks, also auch der Riesenzellen, durch Erschöpfung oder Gifte (aplastischoe Anämie) oder durch Ueberwuchern unreifer Elemente (akute Leukämie) kommt, im Blute Plättchenmangel herrscht. Durch chronische Benzolvergiftung kann man, wie Selling‘) gezeigt hat, das Knochenmark fast ganz zur Verödung bringen, und Duke wies nach, dass der bereits von Selling bei seinen klinischen Fällen bemerkte Plättchenschwund sich experi- . mentell bei Hund und Kaninchen durch die Benzolvergiftung ebenfalls hervorbringen lässt. Die Megakaryocyten dürften sogar besonders empfindlich gegen das Gift sein, denn die Plättchen- zahl stürzt schon sehr stark ab, wenn die charakteristische Benzolleukopenie noch gar nicht eingesetzt hat. Dass die Plättchen für die Bildung des Thrombus von aus- schlaggebender Bedeutung sind, steht seit den grundlegenden Studien von Bizzozero, Hayem, Eberth und Schimmel- 1) Zschr. f. physiol. Chem., Bd. 63. — Handb. d. biochem. Arbeitsmeth. v. Abderhalden, Bd. 6. 2) Pflüg. Arch., Bd. 140. 3) Zschr. f. physiol. Chem., Bd. 53. 4) Virch. Arch., Bd. 186. — Publ. Mass. Gen. Hosp., 1910, Vol. 3. 5) Beitr. z. path. Anat., Bd. 52. 6) Beitr. z. path. Anat., Bd. 51. 16 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. busch!) ausser Zweifel. Ein jeder weisse Thrombus ist zu- nächst nichts anderes als ein Plättchenaggregat, an welches sich sekundär Fibrinfäden, weisse und rote Blutkörperchen ansetzen. Gerade diejenigen Bedingungen, unter denen es zur Thrombus- bildung kommt — Verlangsamung des Blutstromes und Unebenheit der entzündeten, entarteten oder verletzten Gefässwand —, führen zur Anlagerung untereinander verbackener Plättchenhaufen; Bizzozero hat das Spiel der sich bildenden und wieder los- reissenden kleinsten Plättchenthromben am Mesenterium des lebenden Kaninchens und Meerschweinchens anschaulich be- schrieben. Die Agzlutination der Plättchen wird besonders be- zünstigt, wenn man einem Tiere ein primär-toxisches artfremdes Serum [Hayem?)] oder Pepton [Pratt®)] intravenös injiziert oder wenn man durch Reinjektion eines sensibilisierenden Ei- weisses oder Serums den anaphylaktischen Shock hervorruft [v. Behring“)]. Dabei entstehen infolge der Verstopfung kleiner Gefässe durch die Plättchenthromben leicht hämorrbagische Infarkte, besonders in der Darmwand und in den Lungen, und Hayem?) hat diesen Befund zur Erklärung des Purpuraexanthems verwerten wollen: unter dem Einflusse eines den Serumgiften nahestehenden Körpers käme es bei der Purpura zur Zusammen- ballung der Plätichen und durch Verstopfung kleiner Gefässe, z. B. der Hautgefässe, zu den Blutfiecken, während das Blut selbst dadurch seiner Plättehen beraubt wird, wodurch, wie Denys schon annahm, heftige Schleimhauthämorrhagien herbeigeführt werden können. Der erste Teil der Hayem’schen Lehre ist schon deswegen nicht haltbar, weil die genannten Vergiftungen mit ana- pbylaktischen Symptomen einhergehen, die bei der chronischen Purpura des Menschen durchaus fehlen. v. Behring hat neuer- dings geradezu den anaphylaktischen Shock auf die Verstopfung zahlreicher kleiner Hirngefässe durch die agzlutinierenden Plättehen zurückzuführen gesucht. Gegen Hayem’s Vorstellung spricht auch die Tatsache, dass man durch venöse Stauung rasch massenhaft Blutflecken erzeugen kann und dies doch gerade mit einem Blut, das seiner Plättchen beraubt ist. Nach Hayem’s Meinung ist es schwierig, die spontan ent- stehenden Blutfiecken und die Blutergüsse auf innere Oberflächen des Körpers aus einem einheitlichen Gesichtspunkte zu erklären. Ich kann eine besondere Schwierigkeit hier nicht sehen, im 1) Bei den oviparen Wirbeltieren übernehmen Zellen mit grossem Kern, die Thrombocyten, die vor Bizzozero wohl nicht selten mit Leukoeyten verwechselt worden sind, die Rolle der Plättchen bei der Thrombusbildung; bei den meisten Wirbellosen fehlt das Fibrinogen in der Blutflüssigkeit und bei ihnen wird die Blutstillung nach L. Loeb lediglich durch Agglutination der amöboiden Zellen des Blutes bewirkt. Es wäre sehr interessant, über die Verwandtschaft dieser zwei Zelltypen mit den amöbenähnlichen Knochenmarksriesenzellen der Säugetiere etwas zu wissen. 2) 1. e., S. 587 3) Arch. f. exper. Path. u. Pharm., Bd. 49. 4) D.m.W., 1914. ER I. Abteilung. Medizinische Sektion. 17 Gegenteil, die kleinen Hauthämorrhagien lassen sich in sehr einfacher Weise zu der Blutplättchenarmut in Beziehung setzen. Das Stauungsexperiment zeigt, dass bei genügender Sirom- verlangsamung im Gebiete der Capillaren und kleinen Venen in den Fällen von konstitutioneller Purpura rote Blutkörperchen sehr leicht die Blutbahn verlassen. Daher finden sich wohl auch die spontanen Blutflecken so häufig zuerst an den unteren Extremitäten. Stromverlangsamungen kommen aber sicherlich auch sonst im Bereich des Integuments häufig genug vor. Bei vielen Menschen ist gelegentlich und bei manchen Menschen häufig die Haut schlecht durchblutet; besonders bei der Einwirkung leichter Kältereize oder auch ohne diese bei abnormen Erregbar- keitsverhältnissen der Gefässnerven, wie sie vielleicht den Purpura- kranken eigentümlich sind, kommt es zu Erschlaffungen der Capillaren und der Wände der kleinen Venen, in denen dann das Blut sehr langsam fliesst. Es ist das Bild der kühlen Cyanose und marmorierten Haut, wie es bei Menschen mit Neigung zu Frösteln, mit dauernd kalten Händen und Füssen angetroffen wird), Würde man ein solches Hautgefässchen unter dem Mikroskop be- trachten, so würde man an der Wand sehr zahlreiche Blutplättchen entdecken, eine Mauer, durch welche ein rotes Blutkörperchen höchstens hier und da hindurchschlüpfen kann, um eine Gefäss- wandlücke zum Verlassen der Blutbahn zu benutzen. Gerade bei Stromverlangsamungen sammeln sich ja, wie früher erwähnt wurde, die Blutplättchen alsbald massenhaft in der Randzone und bleiben an der Gefässwand haften. Fehlen die Plättchen, dann ist dem Austritt roter Blutkörperchen in Gebieten mit verlangsamter Blut- durchströmung kein Hindernis mehr entgegengestellt, und es kann die Zahl der durch feinste Gefässlücken — etwa dort, wo vorher ein weisses Blutkörperchen sich hindurchgezwängt hatte — aus- tretenden roten so erheblich werden, dass mit blossem Auge Blutflecken sichtbar sind. Durch Zusammenfliessen vieler an sich kleiner Blutpunkte kann schliesslich eine grössere Ekchymose entstehen. Häufig werden aber die grossen Blutunterlaufungen auch auf stumpfe Traumen zurückzuführen sein, bei denen eine grosse Anzahl kleiner Gefässe zerreissen; hier kann, ebenso wie bei einer Blutung aus einer Wunde, eine grössere Blutmenge sich ins umliegende Gewebe ergiessen, ehe die Blutung steht. Der springende Punkt in der ganzen Frage bleibt eben doch, ob die Ansicht von Denys, dass die Schleimhautblutungen dem Fehlen der Blutplättchen ihre Intensität verdanken, sich aus- reichend begründen lässt. Die Tatsachen und Vorstellungen der modernen Gerinnungsphysiologie, wie sie vor allem von Nolf2) entwickelt worden sind, sind nun meiner Ansicht nach durchaus imstande, diese Lehre befriedigend zu stützen. Zwei principielle Punkte sind es, die dieser Forscher besonders betont; einmal: 1) Man vergleiche auch die Vorstellungen von Ricker und Natus über Stase und Blutkörperchenaustritt. (Virch. Arch., Bd. 199, und Volkmann’s Vortr., Nr. 645—647, Gynäkologie, Nr. 236—238.) 2) Erg. d. inn. Med., Bd. 10. Schlesische Gesellsch. f. vater]. Cultur. 1915. II. 2 18 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. das zellfreie Plasma enthält jederzeit in der Gefässbahn bereits sämtliche an der Bildung des Fıbrins beteiligten Komponenten, und zweitens: die Gerinnung ist als eine colloid-chemische Fällungs- reaktion zu betrachten, nicht als ein fermentativer Process. Den Gerinnungsvorgang hat man sich so vorzustellen, dass das (von Endothelien, Leukocyten und Blutplättchen) dauernd in die Blut- flüssigkeit secernierte Thrombozym (Cytozym) unter dem Einfluss eines Elektrolyten (der Kaleiumsalze) mit dem im Serum gelösten Thrombogen (Serozym) zusammentritt und dass dieses Additions- produkt (früher Thrombin oder Fibrinferment genannt) sich nun seinerseits an das Fibrinogen anlagert, wobei gleichzeitig die Ausfällung des Reaktionsproduktes, des Fibrins, eintritt. Un- spezifische, die Gerinnung befördernde Stoffe, wie sie in allen Organzellen vorhanden sind, spielen als thromboplastische Sub- stanzen beim Gerinnungsprocess mit; das (ebenso wie Fibrinogen und Thrombogen) der Leber entstammende Antithrombosin ist als ein die colloidale Lösung stabilisierendes Schutzeolloid, das je nach Bedarf in feinster Abstufung von der Leber sezerniert wird, für den flüssigen Zustand des Blutes in den Gefässen von erheb- licher Bedeutung. Die thromboplastische Wirkung kann schon durch rein physikalisch wirkende Mittel ausgeübt werden, das ist wohl einer der stärksten Beweise für die colloid-chemische Natur des Gerinnungsprocesses. Gewinnt man z. B. in sehr vor- sichtiger Weise ein zellfreies Säugetierplasma, so genügt schon der Kontakt mit der Wand eines Glasgefässes, um die Gerinnung alsbald auszulösen. Die Plasmata der eierlegenden Wirbeltiere sind viel stabiler, sie können leicht durch Centrifugieren ge- wonnen werden und halten sich in Glasgefässen flüssig. Das Fischplasma z. B. kann in einem Glasröhrchen lange aufbewahrt werden, ohne dass es Neigung zeigt, zu gerinnen. Schüttet man aber feinstes Glaspulver in dieses so stabile Plasma, so kann man es leicht zur Gerinnung bringen. Wenn man sie also in Kontakt mit einer genügend grossen Oberfläche bringt, erfolgt auch in diesen schwer gerinnenden Plasmata, die demnach alle Kompo- nenten der Gerinnung in sich bergen müssen, die Bildung und Ausfällung des Fibrins. Ein solches feinstes Pulver nun, das beim Austritt des Blutes aus einer Gefässwunde sozusagen in die Blutflüssigkeit hinein- geschüttet wird, stellen die Blutplättchen dar. Die „Zerkleinerung der Substanz farbloser Zellen in winzigste Körnchen“, sagt Nolf, „bat auf die Geschwindigkeit der Blutgerinnung einen ähnlichen Einfluss wie die kleinen Dimensionen der roten Blutkörperchen auf die Schnelligkeit des Gaswechsels. Und es ist bemerkenswert, dass diese beiden günstigen Dispositionen, die durch eine stärkere Lebensintensität gefordert würden, auf der gleichen Stufe der Reihe der Lebewesen, nämlich bei den Säugetieren, verwirklicht sind“. (Nicht mehr grosse kernhaltige Thrombocyten und Erythro- eyten, sondern kleine kerniose Formen.) Das Blutplasma der Pseudohämophilen enthält, wie vor allem der Salzplasmaversuch zeigt, alle chemischen Konstitutentien der Gerinnung (Fibrinogen, Thrombogen und Thrombozym). Ganz I. Abteilung. Medizinische Sektion. 19 ähnlich wie ein absolut zellfreies Säugetierplasma wird also das Blut dieser Menschen beim Kontakt mit einer Glaswand rasch anfangen zu gerinnen, auch wenn es von Blutplättchen absolut frei ist, Anders dagegen wird sich ein solches plättchenarmes Blut in einer Stich- oder Schnittwunde verhalten. Wie kommt denn hier normalerweise die Blutstillung zustande? Das Aus- strömen des Blutes nach der Eröffnung einer kleinen Vene oder Capillare ist, wie Hayem mit Recht sagt, dem Schlagen des Blutes in einem Schälchen vergleichbar. Wie sich hier an dem schlagenden Stabe vor der Ausscheidung des Fibrins zunächst eine Schicht von Blutplättehen ansetzt, so werden auch beim Vorbeiströmen die Plättchen an den Rändern der kleinen Gefäss- wunde abgelagert und verengen durch Apposition allmählich die Oeffaung. I. H. Wright hat Gefässe mit einer Nadel angestochen und gezeigt, dass die kleinen Verschlusspfröpfe hauptsächlich aus Blutplättchen bestanden und dass ein Fehlen der Plättchen zu Abnormitäten in der Bildung des Pfröpfchens führte und eine Ursache verlängerter Hämorrhagie sein konnte. Gleichzeitig be- wirken im Innern des ins Gewebe ergossenen und hier langsam fliessenden oder stagnierenden Blutes die Plättchen rein physi- kalisch, vermöge ihrer grossen Oberfläche, wie das eben ausein- andergesetzt wurde, die Einleitung der Gerinnung, welche, einmal ins Werk gesetzt, nun explosionsartig weiter verläuft. Dazu kommt endlich, dass die in den Knoten des Fibrinnetzes sitzenden Plättchenhaufen durch Schrumpfung das Gerinnsel zur Retraktion bringen!) und dadurch nach Art einer Naht Gefäss- und Gewebs- wunde noch enger schliessen. Gerade dieses letztere Moment ist wohl für die überraschend lange Nachdauer der Blutungen bei dem Pseudohämophilen von nicht geringer Bedeutung. Die Rolle der Blutplättchen bei dem Gerinnungsvorgang ist also die des Glasstaubes oder sonst einer indifferenten, feinsten Suspension. Einzig und allein durch ihre Anwesenheit sind sie der Agent provocateur der Gerinnung unter physiologischen Ver- hältnissen. Dass sie ausserdem noch mit die wichtigsten Liefe- ranten des Thrombozyms sind, welches sie zunächst secernieren, weiterhin bei ihrem Zerfall frei werden lassen, könnte ausser Betracht gelassen werden, da, wie wir sahen, das Plasma auch ohne diesen Zuschuss bereits genug davon enthält; wahrscheinlich wäre aber doch für den Pseudohämophilen die starke Be- schleunigung und Verfestigung der Gerinnsel, welche durch Ver- mehrung des Thrombozymgebaltes hervorgerufen wird, sehr er- wünscht, da auf diese Weise der Mangel des Gerinnungs- pulvers doch wohl bis zu einem gewissen Grade ausgeglichen werden könnte. Dass diese Ueberlegungen das Richtige treffen, scheint mir auch aus den Erfahrungen bei der chronischen Benzolvergiftung 1) Das Fibrin selbst, obwohl elastisch, retrahiert sich nicht, wie daraus hervorgeht, dass plättchenfreies Plasma, welches im Glase gerinnt, kein Serum auspresst. Ix P4 20 - Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. sowie aus den Erfolgen von Bluttransfusionen bei diesen Kranken hervorzugehen. Bei der Benzolvergiftung des Menschen, die unter dem Bilde einer schwersten Anämie verläuft, gehört eine Purpura haemor- rhagica mit psendohämophiler Diathese zum klinischen Bilde. Dabei fällt die Spärlichkeit der Blutplättchen im Deckglas- präparat auf. Das Benzol ist nach den Untersuchungen von Selling?) ein Gift, das zur Zellverarmung in Knochenmark und Milz fübrt und dadurch eine aplastische Anämie hervorruft. Mit dem Verbalten der Blutplättchen bei der experimentellen Benzol- vergiftung hat sich Duke beschäftigt und gezeigt, dass auch beim Tier die hämorrhagische Diathese hervortritt, wenn die Zahl der Plättchen abnorm niedrig wird, unter 30000 im Kubik- millimeter beträgt. Das tritt schon zu einer Zeit ein, zu der die Zahl der Blutleukocyten, die hier ein guter Index für die Hoch- zradigkeit der Kuochenmarkszerstörung ist, noch nicht vermindert zu sein braucht. Die Gerinnungszeit des Blutes in vitro ist dabei nicht verändert und der Fibrinogengehalt des Plasmas normal. Anderseits konnte Duke zeigen, dass bei Purpurakranken mit heftigen Blutungen die Symptome sich besserten, wenn ihnen durch Transfusion von Vene zu Vene das Blut eines gesunden Spenders zugeführt wurde. Dabei stieg in einem Falle die Zahl der Blutplättchen im Verlaufe von 6 Stunden von 3—6000 auf 123000. Gleichzeitig wurde die Blutungszeit auf 3 Minuten reduziert (vorher hatte sie 90 Minuten betragen), das Nasenbluten hörte auf, Harn und Stuhl wurden frei von Blutbeimengungen. Nach 36 Stunden war die Zahl der Blutplättehen bereits wieder stark vermindert, die Blutungszeit verlängerte sich, es begann von neuem aus der Nase zu bluten und im Stahl und Harn erschien frisches Blut. Dass die Blutungsdauer eine Funktion der Blutplättchenzahl ist, lässt endlich auch das Stanungsexperiment erkennen. Bei 120000 Blutplättehen im Kubikzentimeter, wie sie mein 3. Fall im Intervall zeigt, gelingt es durch Stauung, kombiniert mit aktiver Hyperämie, an Ober- und Unterarmen nur noch feine Blutpunkte zu erzeugen. Wie kommt es nun zur Verminderung der Blutpläitchen? Am einfachsten zu verstehen sind die symptomatischen hämorrha- gischen Diathesen, wie sie am ausgeprägtesten bei derjenigen seltenen Form der schweren Anämie vorkommen, die auf Zell- verödung des Knochenmarks beruht (aplastische Anämie; die chronische Benzolverziftung ist ein spezieller Fall dieser Form). Auch bei der akuten Leukämie und Aleukämie ist diese sym- ptomatische Purpura häufig, sie wird anch bei manchen Fällen von chronischer Leukämie angetroffen. Dass in solchen Fällen die Blutplättchen sehr spärlich sein können, zeigt ein Fall von Gaisböck, den der Autor merkwürdigerweise wiederum als hämolytische Anämie beschreibt, während es sich nach dem klinischen Bilde und dem Blutbefunde um eine subakute gross- DL°e, I. Abteilung. Medizinische Sektion. 21 zellige Leukämie handelt. Der schweren hämorrhagischen Diathese (Hautblutungen, Zahnfleischblutungen, Nasenbluten, Netzhaut- blutungen) entsprach hier die Spärlichkeit der Blutplättchen im gefärbten Präparat. Man wird in Zukunft bei den symptomatischen härmorrhagischen Diathesen noch genauer auf die Zahl der Blut- plättchen achten müssen. Wenn es richtig ist, dass die Plättchen den Megakaryocyten des Knochenmarks entstammen, dann ist die Spärlichkeit der Plättchen im Blute darauf zu beziehen, dass die Knochenmark- riesenzellen am Schwunde der Zellelemente teilnehmen, oder dass sie durch die Wucherung unreifer Zellen (Myelo- oder Lymphoblasten) verdrängt werden, bzw. sich aus den Stammzellen nicht mehr differenzieren. Viel schwieriger lässt sich eine Vorstellung davon gewinnen, in welcher Weise die Megakaryocyten bei der konstitutionellen Purpura beteiligt sind. Das morphologische Blutbild ist normal, und es weist sonst nichts auf eine gröbere Erkrankung der blut- bereitenden Organe hin. Entweder findet also eine mangelhafte Bildung nur dieser Zellen im Knochenmark statt oder die Ab- schnürung der Blutplättchen unterbleibt. Auch der Gedanke, dass es sich um eine rapide Zerstörung der Plättchen im Organismus handelt, ist nicht ganz von der Hand zu weisen: die Transfusions- versuche zeigen, dass die neu eingeführten Plättchen sehr rasch aus dem Blute verschwinden; eine pathologisch gesteigerte Zer- störung der eigenen Plättchen wäre also denkbar. Aufschluss darf man sich von der histologischen Untersuchung des Knochen- marks versprechen. Die Plättchenarmut des Blutes steht, solange wir ihre Ur- sache höchstens vermuten können, im Mittelpunkt des Krank- heitsbildes; bis zu diesem Gliede aber können wir von den klinischen Symptomen her rückwärts die Pathogenese gut ver- folgen. Es erscheint daher gerechtfertigt, die Krankheit, die ich bisher als konstitutionelle Purpura oder Pseudohämophilie be- zeichnet habe, nach diesem Phänomen zu benennen. Im Gegen- satze zu den „symptomatischen“ Formen haben wir es nach ge- läufiger Nomenklatur mit einer „essentiellen“ zu tun; das Fehlen der Thrombocyten mag — zugleich klingt dabei auch das Aus- bleiben der Bildung des Plättchenthrombus an — als Thrombopenie bezeichnet werden (in Analogie zu Leukopenie). Die „essentielle Thrombopenie“ (Blutplättchenmangelkrankheit), die als inter- mittierende oder kontinuierliche auftreten kann, gehört zu den- jenigen biologisch höchst interessanten Zuständen, bei denen eine „Bedingung“ weggelassen ist, deren unter physiologischen Verhält- nissen schwer entwirrbare Rolle nun plötzlich klar hervortritt. Diese Krankheit ist gewissermaassen die Probe auf das Exempel, dass die Blutplättchen für den Gerinnungsvorgang in vivo von ausschlaggebender Bedeutung sind. 3. Bemerkungen zur Therapie. Zur Besserung der sekundären Anämie, die in diesen Fällen ja meist besteht, wird häufig Arsen verabreicht werden, vielleicht 22 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. wird aber damit auch ätiologische Therapie getrieben, indem etwa die Bildung der Megakaryocyten oder die Abschnürung der Plättchen aus diesen angeregt wird. Das Arsen würde dann einen speziellen Torpor des Knochenmarks zu überwinden haben. Auch von einem längeren Aufenthalt an der See oder im Hochgebirge könnte man sich Nützliches versprechen. Für die lokale Stillung einer Blutung an zugänglicher Stelle kommt in erster Reihe das Coagulen in Betracht. Das Coagulen ist ein von Fonio hergestelltes Extrakt aus Blutplättchen, das sehr viel Thrombozym enthält und dadurch die Gerinnung stark beschleunigt. Seine trübe Lösung vermag aber vielleicht auch als feinste Suspension rein physikalisch dem Mangel an Blut- plättchen abzuhelfen. Man spritzt am besten das in 1Oproc. Lösung für 1 Minute aufgekochte, aber nicht filtrierte Coagulen mit Hilfe eines Sprays auf die blutende Stelle, z. B. auf die Nasen- oder Uterusschleimhaut, und tamponiert. Gleichzeitig wird man noch eine Gerinnungsbeschleunigung der gesamten Blutmasse zu erzielen suchen, ein Vorgehen, das ja bei schwer zugänglicher Quelle der Blutung allein in Betracht kommt. Zu diesem Zwecke injiziert man entweder nach v.d. Velden 5—10 cem 10proc. Kochsalz- lösung intravenös, eines der besten Verfahren zur Stillung innerer Blutungen, oder man bedient sich des Coagulens zur intravenösen Injektion in einer Menge von 20 ccm einer 5—10proc. Lösung. Derartige Injektionen wird man je nach der Schwere des Falles öfters wiederholen müssen, ohne stets auf einen Erfolg rechnen zu dürfen. Eine ideale Therapie, die aber immer nur für wenige Tage wirksam sein dürfte, besteht in der intravenösen Injektion grosser Mengen normalen plättchenreichen menschlichen Plasmas. Man fängt das Blut des Spenders (400—500 ccm) steril in einer mit soviel Hirudin beschickten Schale auf, dass gerade die Ge- rinnung verhindert wird (10 mg Hirudin auf 75 cem Blut). Man lässt dann spontan auf Eis oder bei geringer Umdrehungs- geschwindigkeit in einer Üentrifuge absetzen, hebt das Plasma mitsamt einer geringen Oberschicht der roten Blutkörperchen ab und infundiert langsam in die Vene. Ist der Spender nicht bluts- verwandt, so hat man sich zur Vermeidung von Schüttelfrost oder Collaps zuvor zu überzeugen, dass sein Plasma die Körperchen des Kranken nicht löst. Eine intravenöse Nachinjektion von Coagulen kann die (aber kaum hoch zu bewertende) gerinnungs- hemmende Wirkung des mitinjizierten Hirudins paralysieren. I. Zur Psychologie des Wirtschaftslebens. Physiologische Betrachtungen. Von Prof. Georg Rosenfeld -Breslau. Alle Vorträge der letzten Zeit in unserer Sektion haben sich auf den Krieg bezogen, und auch der heutige hat zum Teil die gleiche Beziehung; denn schliesslich wird auch dieser Krieg einmal ein Ende nehmen, und dann wird es die Aufgabe unseres Vaterlandes sein, alle Schäden unseres Wirtschaftslebens mit ver- doppelter Kraft auszubessern. Dafür dürfte sich eine Schwierig- . keit darin finden, dass eine nicht kleine Zahl arbeitskräftiger Bürger ausgeschaltet sein wird. Und um diesen Mangel auszu- gleichen, dazu ist es nötig, das Wirtschaftsleben etwa nach den psychologischen Gesichtspunkten zu regeln, wie sie uns die Wissenschaft der Psychotechnik oder das Scientific menagement Amerikas gelehrt hat. Diese neue Wissenschaft der Psycho- technik, welche in Deutschland entstanden, nunmehr amerika- nische Ingenieure in erster Reihe ausgebildet haben, beschäftigt sich mit der Aufgabe, die Kraft des einzelnen Menschen möglichst wirkungsvoll zu verwerten. Man kann es als ein Charakteristicum des Altertums bezeichnen, dass, wenn es galt, mit Menschenkraft eine möglichst grosse Leistung zu vollbringen, es einzig den Weg einschlug, so viele Menschen in einer Richtung zu beschäftigen, bis die Aufgabe gelöst war. Wenn die Aufgabe war, einen Stein- koloss zu bewegen, den 100 Menschen nicht von der Stelle brachten, so spannte man 500 vor, und wenn das nicht genügte, so nahm man eben 1000. Es war dasselbe Prinzip, nach dem die Alten einzig die Beleuchtung eines Raumes verbessern konnten: Wenn 5 Oellämpchen nicht genügten, so nahmen sie 10, oder 50 oder 100, ohne dass je der Versuch gemacht wurde, statt der Lämpcheneinheit eine stärker leuchtende Lampe zu konstruieren. Die Psychotechnik dagegen lehrt aber die Kraft des Einzel- individuums so zu regeln, dass sehr erhebliche Mehrleistungen des Einzelnen möglich werden. Die Kraftleistung, die dem Menschen möglich ist, ist eine sehr hohe. Während die normale Arbeit eines schwer arbeitenden Mannes 100 oder 200 000 mkg beträgt, hat man tageweise Leistungen gesehen, welche für 24 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. 24 Stunden sich auf 1,5 Millionen mkg erhoben (Dauermarsch Dresden— Berlin Karl Mann), während Miller bei einem 6 Tage- rennen am ersten Tage 2 100 090 mkg leistete, während Tissier in 24 Stunden 620 km per Rad zurücklegte, was einer Arbeits- leistung von 3 169 000 mkg entsprechen dürfte. Diese Riesenleistungen sind nur während kürzester Zeit- perioden möglich. Was aber die Regelung der Arbeitstätigkeit durch die Psychotechnik erreicht, kann ich Ihnen nur dann schildern und kritisieren, wenn ich Ihnen das ganze Wesen der Psychotechnik in den Hauptzügen vorführe. Die zunächst gegebene Regelung der Kraftanwendung war durch das Ermüdungsgefühl gegeben. Wenn die Arbeit zu grosser Ermüdung geführt hatte, musste sie natürlich ihr Ende finden. Und schon mit diesem einzigen Kriterium fand rohe Empirie einige Regeln, wie z.B.: die nicht übermässige Beschleunigung beim Beginn des Bergsteigens oder der italienische Spruch: chi va piano, va sano, chi va sano, va lontano, ein Spruch, den allerdings in neuester Zeit die Hindenburg’schen Gewaltmärsche zuschanden gemacht haben. Allmählich aber wurde an Stelle der reinen Empirie die experimentelle Darchforschung des Problems gesetzt, und zwar zunächst auf geistigem Gebiet, wobei es sofort allerlei Ueberraschungen gab. Kraepelin mit seinem Schüler Amberg machte Studien über den Einfiuss von Pausen auf geistige Arbeit. Sie liessen eine Stunde lang rechnen und machten dann eine Pause von 5 Minuten, bei anderen Versuchen von 15 Minuten — ebenso verfuhren sie _nach Rechenexperimenten von ununterbrochener zweistündiger Dauer. Es zeigte sich, dass nach einer Leistung von 1 Stande die Pause von 5 Minuten vorteilhaft, die von 1/, Stunde von Nachteil war — nach 2 Stunden Rechenarbeit aber war die !/,stündige Pause das Richtige. Die 1/,stündige Unterbrechung nach 1 Stunde Arbeit war nämlich mehr, als zur Erfrischung nötig war, und brachte den Rechner aus dem Trott des Rechnens heraus, — er bedurfte eines neuen Äntriebes — während sie nach 2 Stunden Arbeit gerade die nötige Erholungs- zeit darstellte und der Trott so lange geübt war, dass er durch die Pause nicht litt. Von dieser ersten psychologischen Untersuchung der Arbeit können wir zunächst lernen, dass alle aprioristischen Kon- struktionen täuschen: Wer hätte nicht angenommen, dass 1/, Stunde Pause nach 1stündigem Rechnen noch besser wirken würde als die knappen 5 Minuten? Ausserdem zeigte sich das Ermüdungsgefühl nicht als der souveräne Dirigent — denn die Versuchspersonen waren sich einer Ermüdung gar nicht bewusst. Von diesen Untersuchungen Kraepelin’s und seiner Schule an hat sich die Psychologie der Technik des geistigen Arbeitens, des Lernens bzw. des Unterrichtes angenommen und viele wichtige Grundregeln gefunden. Hier sei z. B. nur eine Tatsache hervor- gehoben. Es wurde das Auswendiglernen untersucht. Wenn ein Schüler von Montag zu Dienstag ein Gedicht lernen musste, so bedurfte er, sagen wir 150 Wiederholungen. Wenn er aber schon I. Abteilung. Medizinische Sektion. 25 Freitag anfing und das Gedicht 30 mal wiederholte, Sonnabend nichts tat, Sonntag 10 mal und Montag 10 mal wiederholte, so hatte er es mit ca. 50 Wiederholungen ebenso intus, wie mit 150 Wiederholungen an einem Lerntage (schematisch!) Ebenso unerwartet ist das Ergebnis, das man zum Erlernen eines 5strophigen Gedichtes weniger Mühe braucht, wenz man alle ‘5 Strophen auf einmal wiederholt, als wenn man immer nur 1 Strophe auf einmal sich einprägt. So zeigte die Psychologie den Weg, wie die Geisteskräfte beim Auswendiglernen gespart werden konnten. Darauf beschränkt sie aber ihre Tätigkeit keineswegs, sondern auch jede andere geistige sowie körperliche Arbeit wurde in das Bereich ihrer Betrachtungen gezogen. Es waren dies Forderungen, welche das Leben, die praktische Forderung des realen Lebens an diese Wissenschaft stellten. Abgesehen von den Erziehungs- fragen, welche besonders von Amerika mit grosser Rasanz durchgearbeitet wurden und erhebliche Umgestaltungen der pädagogischen Methoden zur Folge hatten, abgesehen von den psychologischen Forschungen, welche die Juristerei und die Medizin betrafen, sind es in hervorragendem Maasse die industriellen Betriebe, welche der Psychologie, die bisher sich ins Laboratorium verkrochen hatte, neue Probleme als Lock- mittel vorhielten, und welche es erreichten, dass die Psychologie aus dem Dämmer der Studierstube ins grelle Licht des Werk- tages hinaustreten musste. Hier auf den Gebieten der Industrie und Technik entfaltete sie ein wahrhaft grosssartiges Leben, eine Wirkungsfähigkeit, die etwas Hinreissendes hatte. Es waren zunächst ausschliesslich amerikanische Fabriken, welche sich die „wissenschaftliche Führung“, Scientifie management, zu eigen machten. Sie stellten Psychologen an mit einem Stabe von Hilfskräften, welche die Psychologie ihrer Betriebe untersuchen und nach ihren Beob- achtungen umformen mussten. Am schnellsten unterrichtet Sie über diese Vorgänge der Bericht über einige Tatsachen. F. W. Taylor, einer dieser psychologischen Fabrik-Beiräte untersuchte das Schaufeln, gewiss eine der einfachsten Tätigkeiten, von der man nicht von vorn- herein begreifen kann, was ein Psychologe an ihr lehren sollte: man nimmt eben soviel auf die Schaufel als einem passt, und wiederholt das, so oft esnötig ist. Taylor hatte genug Gelegenheit, das Schaufeln zu studieren, denn an dem grossen Bethlehem Stahl- werke, an dem er seine Untersuchung machte, waren 500 Personen mit dem Schaufeln teils von leichter Krümelkohle, teils von schweren Erzmassen beschäftigt. Wenn sie nach Wahl arbeiteten, nahmen sie die Schaufel bald so voll, dass sie schnell ermüdeten, oder so wenig voll, dass ihre Arbeit nichts Rechtes förderte. Taylor untersuchte nun, bei welcher Schaufellast eine Maximal- leistung ohne Uebermüdung durchgeführt werden könnte. Eins seiner Resultate war, dass dazu nötig war, dass die Schaufellast 9,5kg war. So wurden verschiedene Schaufelformen für die verschiedenen Stoffe hergestellt und die Schaufler auf die neue 26 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Methode eingeübt, wobei ihnen die Schnelligkeit der Hantierung, die geeignete Schaufelbewegung, die richtigen Pausen beigebracht wurden — alles Dinge, die die exakte psychologische Messung gefördert hatte. Nun sind Sie hoffentlich auf das Resultat recht gespannt: es ist aber auch ungemein interessant und wichtig! Während nach dem alten Verfahren 500 Personen die Arbeit des Schaufelns in den verschiedenen Abteilungen besorgten, wurden jetzt nur 140 Schaufler verwendet. Früher war die Leistung 16 Tonnen, jetzt stieg die Norm auf 59 Tonnen pro Tag ohne grössere Ermüdung. Der Durchschnittslohn stieg von 4,80 M. auf 7,90M. Für die Fabrik sank der Lobn für 1 Tonne Material- bewegung von 29 Pfg. auf 14 Pfg., so dass jährlich !/, Million Mark gespart wurde, obwohl dabei alle Werkzeugreformen sowie die Kosten für die wissenschaftlichen Betriebsleiter und der höhere Arbeitslohn eingerechnet waren. In der Tat ein gar nicht zu ahnender Erfolg! Es kann kaum etwas mehr überraschen, als diese Wirkung psychologischer Beob- achtung. Und überall setzen sie an. In einer Fabrik hatte sich der wissenschaftliche Betriebsleiter überzeugt, dass die Arbeiterinnen bei der Hantierung ihres Apparates eine psychologisch ungünstige Armstellung einnahmen. Da sich die Frauen gegen die Einführung höherer Sitze sträubten, liess der Betriebsleiter jeden Abend, sobald niemand in der Werkstatt war, die Sessel um einige Milli- meter erhöhen bis nach ein paar Wochen die richtige Erhöhung unmerklich erreicht war. Der Erfolg war eine überraschende Steigerung der Leistung. Gilbreth wandte sein Interesse der Maurerarbeit zu, indem er jede Muskelbewegung, die er beobachtete, nach Erfolg und Zeit genau maass, dann reformierte er die Bewegungen so, wie sie wahr- haft zweckmässig waren, z. B. indem möglichst viel Bewegungen in der Richtung der Schwerkraft ausgeführt wurden, weil sie dann am wenigsten ermüden: es wurden nun kombinierte Be- wegungen eingelernt, und das Resultat war, dass 30 Maurer nach der neuen Methode das Werk von früheren 100 ausführten, wo- durch die Gesamtproduktionskosten für den Bau um mehr als 50 pCt. sanken! Wie sich der Blick für die Unzweckmässigkeit der beob- achteten Bewegung schärft, illustriert sehr hübsch ein Erlebnis, das Gantt, einer der Führer der neuen Bewegung, hatte (2. S. 110). Als Gantt in London war, wurde er darauf hingewiesen, dass in der japanisch-britischen Ausstellung ein junges Mädchen so sehnell arbeitete, dass er dort endlich einen Bewegungsrhytbmus sehen könnte, an dem nichts mehr zu verbessern wäre. Es handelte sich um eine Frau, die mit pbänomenaler Geschwindig- keit in einer gewerblichen Ausstellungshalle Reklamezettel auf kleine Kasten befestigte, und die durch die Geschwindigkeit ihrer Finger allgemeines Staunen erregte. Er sah ihr eine kleine Weile zu und stellte fest, dass sie 24 Kasten in 40 Sekunden erledigen konnte. Dann sagte er dem jungen Mädchen, dass sie es ganz falsch mache, und dass sie es auf die und die Art versuchen solle. Die Arbeiterin, deren Fingerschnelligkeit so viel bewundert I. Abteilung. Medizinische Sektion. 27 wurde, wies es stolz und ärgerlich ab; liebenswürdig aber bat er sie, doch einmal zu versuchen, und schon beim ersten Versuch erledigte sie die 24 Kasten in 26 Sekunden, beim zweiten Ver- such in 20 Sekunden. Sie hatte sich dabei nicht mehr anzu- strengen, sondern nur weniger Bewegungen zu machen. Wieder eine Studie von Taylor über Ermüdung und deren Vermeidung durch richtige Pausen und Aktionszeiten: In einem grossen Eisenwerk waren 80 000 Tonnen Gusseisen zu verladen. Jeder der 75 Mann trug Stücken von 42 kg ein schräges Brett hinauf. Dabei war die Gesamtleistung des Mannes pro Tag 121/, Tonnen. Die Fabrikanten glaubten, dass diese Leistung höchstens auf 18 Tonnen pro Tag gesteigert werden könnte. Taylor fand nun als Verhältnis für Ruhe und Arbeit, dass der Mann nur 43pCt. der Zeit arbeiten und 57pCt. ruhen müsste. Nach dieser Norm wurde die Tätigkeit mit der Stoppuhr in der Hand eingerichtet, und der Erfolg war, dass jeder Mann ohne mehr ermüdet zu sein, statt 121/, Tonne — 47!/, Tonne, also fast das Afache befördern konnte. Ueberall also das grosse Prinzip: Wenn du vernünftig arbeitest, so sparst du für deine Arbeit grosse Mengen an Kraft, d.h. du brauchst nicht 4 Tage, sondern nur einen Tag für eine so oder so bezahlte Arbeit. Dabei ist es nun auch nötig, alle möglichen störenden Ein- flüsse abzuhalten, z. B. Einflüsse, welche die Aufmerksamkeit ab- lenken. Wenn es auch heisst: „Wenn gute Reden sie begleiten, so fliesst die Arbeit munter fort“, so hat sich doch in manchen Betrieben der Rat Taylor’s, die Sitze so zu arrangieren, dass Gespräche unmöglich oder erschwert werden, durch eine deutliche Steigerung der Leistungsfähigkeit als richtig erwiesen. Die Ab- lenkung der Aufmerksamkeit durch das Gespräch hatte die Leistung geschädigt. In einer grossen Druckerei sass eine Reihe von fein arbeitenden Frauen (2.8. 126) so, dass alle paar Sekunden ein beladener kleiner Wagen automatisch an ihnen vorüberfuhr. Unwillkürlich blickten sie auf, wenn der Wagen in ihren Gesichtskreis kam. Sie empfanden das selbst natürlich nicht mehr als Störung, da sie ganz daran gewöhnt waren. Der wissenschaftliche Betriebs- leiter bestand trotzdem darauf, dass die Plätze so verändert wurden, dass der Wagen nicht in das Gesichtsfeld der Arbeitenden eintreten konnte, da er deutlich erkannte, dass jedesmal eine Ablenkung der Aufmerksamkeit vorliege, welche die Leistung schädigen musste. Die Arbeit der Angestellten erfuhr darauf ein Anwachsen um ein Viertel. Es müssen wie diese Störungen natürlich auch alle anderen ferngehalten werden, um das Ergebnis nicht zu trüben, so in der ganzen Körperhaltung und Ernährung. So muss auch der Al- koholgenuss hierbei in Fortfall kommen. Es kann bier kurz darauf hingewiesen werden, dass der Al- kohol nach der Mehrzahl der experimentellen Untersuchungen die Muskelleistungen herabsetzt und die Herztätigkeit ungünstig be- einflusst. Dem entspricht auch, dass die alkoholkonsumierenden 28 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Arbeiter weniger Arbeit leisten als die abstinenten. Das lässt sich in solchen Betrieben, wo eine Vergleichung zwischen beiden Produktionen möglich ist, auch in der Praxis des Lebens klar erkennen. So leistete in einer Ziegelei in Uxbridge, wo eine Ab- teilung der Arbeiter abstinent war, die andere mässig Bier trank, die Biertrinkerabteilung pro Kopf und Jahr 760000 Ziegel, wäh- rend die Abstinenten es auf 795400 Ziegel brachten — also pro Kopf und Tag 100 Stück mehr produzierten. Ebenso bewirkte in der Kupfermine von Knock Mahon die Einführung der Abstinenz bei */;s der Arbeiter eine sogleich einiretende Erhöhung der jähr- lichen Produktion um 100000M. In grosser Zahl liegen Beob- achtungen vor, welche die Schädigung der Marschleistungen von Heeren durch Alkohol klarstellen. Für alle anderen sei hier nur das Experiment des Generaloberarztes Leitenstorfer aufgeführt: In einem bayrischen Regiment wurden von 3 einen Marsch an- tretenden Kompagnien zweien während der Rast alkoholische Ge- tränke gegeben, während die 3. alkoholfrei blieb. Das Ergebnis war, dass die beiden ersten 20 resp. 22 Marschunfähige hatten, die 3. aber nur einen. Leitenstorfer nennt deshalb die auf alkoholischem Wege erzeugte Muskelenergie geradezu verderblich für Dauerleistungen. Er ist davon überzeugt, dass eine Armee, die keinen Alkohol konsumiert, einer solchen, die Alkohol nach Belieben vertilgt — ceteris paribus natürlich! — an Willens- kraft und Ausdauer und moralischem Werte überlegen ist. Für die Beurteilung des Alkohols auf, dem Gebiete der Psychotechnik kommt noch hinzu seine Herabsetzung der geistigen Fähigkeiten in den verschiedensten Richtungen, wie die Krae- pelin’sche Schule vor allem sie experimentell bewiesen hat. Dementsprechend haben ja auch gewerbliche Tätigkeiten, wie die der Setzer, der Schreibmaschinenschreiber durch Alkohol deutlich erkennbare Schädigungen erkennen lassen. Ganz besonders schlimm für die wirtschaftlichen Erfolge sind jene Erhöhungen der Un- fälle in den Alkoholbetrieben, wie sie die für 1905 von Hirsch- feld aufgeführten Vergleichszahlen darstellen. Bei 5364 ver- sicherten Personen des Braugewerbes wurden 2208 Unfälle ge- meldet, während in der Holzindustrie etwa dieselbe Zahl von Unfällen, nämlich 2009, erst auf eine mehr als 5mal so grosse Zahl von Versicherten entfielen. Solche übrigens nicht regel- mässig auftretenden Unterschiede könnten natürlich alle Vorteile des Scientific management gänzlich annullieren. Was können alle Verbesserungen der Arbeitsleistung erreichen, wenn die Zahl der Unfälle allein sich auf das Vielfache erhöhte. So ist es be- greiflich, wenn die Psychotechnik mit einer nicht durch Alkohol in ihrer Muskel-, Herz- und Geisteskraft geschädigten Arbeiter- schaft rechnen kann. | Wer nun die Leistungen des Scientific management sich be- trachtet, der wird leicht zu einer Üeberlegung in verstärktem Maasse kommen, die sich so wie so schon dem Beobachter jeder Maschinenarbeit häufig aufdrängt. Die Rolle des Menschen er- scheint ihm nämlich gar zu sehr zum Handlanger der Maschine herabgewürdigt, die ganze Tätigkeit des Menschen selbst viel zu I. Abteilung. Medizinische Sektion. 29 sehr maschinisiert, und zumal bei dem Taylorsystem wird der Gedanke: L’homme machine bis zum äussersten empfunden und zu der bangen Frage verdichtet werden, ob diese schier unerträg- liche Monotonie in der Arbeit auf die Dauer auszuhalten sei. Da haben denn psychologische Untersuchungen von Münster- berg auch in dieses Gebiet einige Aufklärung gebracht. Erstens betont er mit Recht, dass dem Aussenstehenden eine Arbeit als tödlich monoton erscheint, die dem Arbeitenden selbst das Inter- essanteste ist, und umgekehrt: z. B., wenn sie sich vorstellen, welch ein hohes Ziel es sein muss, das Salvarsan zu entdecken, so denkt sich jeder Unbeteiligte das ungemein interessant: die 606 Präparate, die dazu nötig waren darzustellen, und immer wieder in derselben Art auszuprobieren, offenbart doch gewiss eine grauenvolle Monotonie! Und doch ist sie dem wissenschaft- lichen Arbeiter nicht uninteressant. Ein Gegenstück dazu ist die Charakteristik eines Arbeiters, der mit dem Niederdrücken einer Maschine Löcher in Metallstreifen zu machen und diese Metall- streifen mit in summa 34000 Bewegungen am Tage langsam vorzuschieben hat. Dieser Mann erklärte seine Arbeit für sehr interessant, obwohl er immer mit seinen Gedanken dabei sein musste, um seinen Tageslohn nicht unter 14 Mark sinken zu lassen. Es gibt Menschen, denen alle sich wiederholende Tätigkeit monoton erscheint, Lehrer, Richter, Aerzte, während andere die- selbe Aufgabe sebr interessant finden. Da hat nun Münster- berg mit folgender Versuchsanordnung etwas Klares geschaffen. Er liess z. B. Leute zwei getrennte Reihen von Worten lesen, von denen die zweite Worte der ersten Reihe wiederholte, und nun musste geschätzt werden, ob die wiederholten gleichen Worte die Mehrheit hätten oder nicht. Als er viele Individuen so ver- glich, fand sich, dass die meisten die Wiederholungen unter- schätzten, etwa !/, aber schätzten sie höher. Nun zeigte sich aber ausserdem, dass diejenigen, die die Wiederholungen gar nicht gut merkten, gerade die Leute waren, die alles Mögliche monoton fanden, während diejenigen die Wiederholung ganz und gar nicht _ hassten, welche sie besonders deutlich wahrnahmen! Das heisst: Es gibt wohl Personen, die, wenn sie einen Ein- druck empfangen haben, z. B. vom Worte „Mehi“, für diesen selben Ausdruck in rascher Wiederholung unempfindlich werden, die Wiederholung also nicht merken — die also von dem wieder- holten Worte keinen Eindruck empfangen, vielmehr dort ein Loch, eine Leere in ihrem Bewusstsein haben — was eben das Gefühl der Langeweile, der Monotonie auslöst. Die anderen da- gegen empfangen vom wiederholten Worte einen Eindruck, den sie mit dem ersten vergleichen können usw., der sie somit be- schäftigt. . Davon wird eine „wissenschaftlich geleitete‘ Fabrik profitieren und für die monotonen Arbeiten nur Menschen der letzten Kate- gorie aussuchen. Auf solche Weise wird die Arbeitsfreudigkeit beiden Gruppen von Arbeitern gewahrt werden können. Es muss auch in anderer Richtung als unbedingtes Erforder- nis erscheinen, für das Scientific management die sorgfältige Aus- 30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. wahl der Geeigneten zu den verschiedensten Berufen und Han- tierupgen zu treffen, und Münsterberg hat sich auch dieser Aufgabe nicht nur nicht versehlossen, sondern sie im Gegenteil in grossem Umfange und mit geistreichsten Mitteln schon zu lösen unternommen — was wir in seinem Buche nachzulesen bitten müssen. Somit darf die psychologische Sorge auch als beseitigt oder - als überwindbar angesehen werden. Was uns aber wichtig bleibt, ist die stoffwechselökonomische und die nationalökonomische Seite der Frage. Ich darf dabei auf die Erwägungen zurückkommen, die ich in der Umschau 1914, Nr. 45, ausgehend vom Standpunkt der Stoffwechselphysiologie, angestellt habe. „Die Ingenieure des Scientifie management behaupten, dass die fast vierfache Leistung ohne Ermüdungserhöhung geliefert werden kann. Das mag sein: der Arbeiter sei nicht mehr er- müdet als vorher. Wollte man aber behaupten, er habe nur denselben Verbrauch an Kräften wie vorher, so entstehen grosse Bedenken. Nehmen wir einen einfachen Fall von Arbeit, z. B. die am Ergostaten. Die Versuchsperson mache in einer Stunde 1200 Um- drehungen an diesem Apparate & 16,67 m/kg, d. h. der Arbei- tende leiste eine Arbeit von 20000 m/kg. Die Untersuchung seines Stoffwechsels ergäbe nun einen Umsatz von 388 Kalorien in dieser Stunde. Mit 388 Kalorien könnten, da jede Kalorie — 425 m/kg ist, rund 165 000 m/kg geleistet werden. Die Versuchsperson hat also, da sie nur 20000 m/kg geleistet hat, mit einem Nutzeffekt von nur 12 pCt. gearbeitet. Da aber der Mensch mit einem Nutz- effekt bis ca. 30 pCt. arbeiten kann, so wäre es möglich, die Ar- beit der Versuchsperson bei demselben Kalorienverbrauch auf ca. 45000 m/kg durch Uebung und Unterweisung in die Höhe zu treiben. Nehmen wir an, dass die Technikingenieure das zuwege bringen, so würde ohne Mehrbelastung der arbeitenden Person eine mehr als doppelte Leistung in der Tat denkbar sein. Hier hätten wir den Fall, dass Uebung und Belehrung ohne Kraft- vermehrung die doppelte Leistung schuf, hier ist also durch Vermeidung von unnützer Kraftvergeudung bei gleichem Verbrauche lediglich durch geschickte Unterweisung die Leistung verdoppelt worden. Anders liegen die Dinge bei den Fällen, die oben aufgeführt wurden, wo Arbeiter, die sonst 121/, Tonnen Eisen trugen, nach Taylors Anweisung 471/, Tonnen bewältigen konnten. Nehmen wir an, dass die Arbeiter die Lasten (zuerst 12500 kg, dann 47400 kg) nur horizontal ohne Steigung 10 m weit zu tragen hatten, so ist die Arbeit von 125000 m/kg auf 475000 m/kg gesteigert worden. Nun sind für 124000 m/kg bei 30—33 pÜt. Nutzeffekt der verbrauchten Energie 882 Kalorien nötig, d. h. ein Arbeiter, der sonst bei 75 kg Gewicht und 30 Kalorien pro Kilo Ruhewert 2250 Kalorien verbraucht hat, muss zu dieser Arbeit 3132 Kalorien pro Tag m.“ I. Abteilung. Medizinische Sektion. öl aufwenden. Trägt er jetzt aber 471/, Tonnen Eisen, so leistet er 475000 m/kg Arbeit, zu deren Bestreitung er 3351 Kalorien be- nötigt. Sein Gesamtumsatz (Ruheverbrauch und Arbeitsverbrauch) erhöht sich also auf 5601 Kalorien. Der Mann musste seiner Normalration früher 95 g Fett zulegen. bedarf aber jetzt einer Zulage von 360 g Fett, um seine Arbeit ohne Eınbusse an Körper- gewicht leisten zu können. Diese Forderung ist erfüllbar, stellt aber an den Geldbeutel hohe Ansprüche und ebenso an die Ver- dauungsorgane, denn 360 g Fett oder deren Aequivalent, ca. 820 g Zucker oder ähnliches — und teureres — sind immerhin Sub- stanzen, welche den Mehrbetrag von 60°/, des Lohnes in einem nicht gar so kleinen Prozentsatz in Kontribution setzen. So ver- ringert sich der Verdienst des Arbeiters wiederum um einen Bruchteil. Und seine Verdauungsorgane werden . ebenfalls in Anspruch genommen, und zwar in recht hobem Maasse. Voit fand be- kanntlich als Norm bei einem 75 kg schweren Arbeiter einen Konsum von 118 g Eiweiss — 484 Kalorien 56 g Fett — 35 500 g Kohlenhydrate — 2050 4 Summa 3055 Kalorıen. Der Bedarf unseres Arbeiters wäre aber 118 g Eiweiss — 484 Kalorien 339 g Fett — 8069 500 g Kohlenhydrate — 2050 5 Summa 5603 Kalorien. Diese Kost zu bewältigen ist eine grosse Forderung, welche die Verdauungsorgane voraussichtlich bis zu ihrem äussersten Vermögen anstrengt. Und das muss uns stutzig machen: Wenn also Münster- berg gerade auf diesen Fall sagt: „ein solch triviales Beispiel zeist am einfachsten den ungeheuren Unterschied zwischen einer wirtschaftlichen Leistungssteigerung durch wissenschaftliche Ex- perimentaluntersuchung und einem blossen Forcieren der Arbeit durch künstlichen Ansporn und Aufpeitschen mittels ausserordent- licher Lohnversprechungen“, so werden wir doch dazu manches Fragezeichen machen müssen. Gewiss wird das Scientific manage- ment verhüten, dass in törichter Weise, zum Teil effektlos, die Kräfte vergeudet werden — aber auch der Scientifie manager kann Energien nicht aus der Erde stampfen, in letzter Linie kosten seine Kraftverwertungen auch die entsprechenden Kalorien.“ In der Tat liegen hier noch viele Probleme. Auch in bezug auf diese Schaffung von Energien. Es sieht nämlich den Scien- tifie managers wirklich so aus, als ob sie Energien aus dem Nichts schaffen könnten, und zwar ist der sie bestechende Zug die anscheinend überall zutage tretende Erscheinung, dass die 4fache Leistung geboten wurde ohne wesentliche Er- müdung. Dass dieses Ausbleiben der Ermüdung nicht gleich- 32 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. bedeutend ist mit Schaffung neuer Energien, sondern dass diese Energien durch neue kalorische Zufubren gedeckt werden müssen, haben wir eben darzulegen unternommen. Aber jener auffallenden Tatsache, dem Ausbleiben grösserer Ermüdung trotz gewaltiger Steigerung der Arbeit, muss doch eine eingehendere Betrachtung gewidmet werden. Ohne etwa auf die Theorien der Kenotoxine oder Antikeno- toxine einzugehen, möchte ich meine Betrachtungen an jene neuen elektrischen Entfettungsapparate anschliessen, wie sie von Bergoni& eingeführt worden sind. Ich habe Ihnen ja schon früher meine Erfahrungen mitgeteilt, die sich immer wieder bestätigen, dass sie zu einer Entfettungswirkung völlig ungeeignet sind. Aber sie bieten in anderer Beziehung ein Interesse. Man kann sie bei sonst muskelfaulen Individuen so anwenden, dass man den Apparat bei einer Reizung in jeder Sekunde zwei Stunden und mehr hintereinander gehen lassen kann, ohne dass die exerzierten Personen nachher im geringsten eine Er- müdung zeigen. Würde man aber diese Personen auffordern, aus eigner Willenskraft auch nur den Biceps eine halbe Stunde in gleichem Rhythmus zusammenzuziehen, so würden sie ein schweres Ermüdungsgefühl empfinden. Dieser Apparat zeigt also ganz deutlich, welch grosser Anteil am Zustandekommen des Ermüdungsgefühls der Kraftanstrengung, die im Willensimpuls liegt, zuzuschreiben ist. Es sind gewiss von diesem Standpunkt aus eine Reihe von Maassnahmen zu beurteilen: so die Schritt- macher beim Radrennen, die Erleichterung des Marschierens durch den Rhythmus in der Musik, eine Erscheinung, die sowohl beim Menschen als bei gewissen Tieren — z. B. sehr auffallend sich beim Kamel zeigt, das durch Pfeifen sofort zu grösserer Energie veranlasst wird — auftritt. Auf die gleiche Ausschaltung der Willensenergie wirkt auch das Voranschreiten des Führers beim Marsche. Und so ist es sehr wohl möglich, dass bei den ameri- kanischen Arbeitskommandos teils durch Tonzeichen, teils durch Lichtsignale, teils durch Vorarbeit die Anstrengung des Willens so vermindert wird, dass dadurch allein schon eine gewaltige Arbeitserleichterung stattfindet. Auch die Erleichterung der Leistung durch Uebung zeigt — neben anderen — dieselbe Komponente. Durch Uebung wird jedesfalls auch die Willensleistung leichter, weil automatisch, maschinenmässig — und damit fällt eben jener Teil von An- strengung weg, der in der Willensinnervation liegt. Vielleicht ist hier auch die Bereitschaft der Menschen zur gewollten Arbeit im Gegensatz zur erzwungenen Arbeit zum Teil erklärbar. Bei der gewollten Arbeit kommt es leicht zum Entschluss (vergl. das Sprichwort: Was man aus Liebe tut, das geht noch mal so gut!) — die Innervationsarbeit ist leichter, die ganze Handlung weniger ermüdend und wird damit wieder eher projektiert. Nun darf man wohl das Ausbleiben der Ermüdung trotz vermehrter Leistung beim Taylorsystem auf solche Momente zurückführen, wie die Erleichterung des Willensimpulses durch den Vorarbeiter oder durch die Kommandozeichen, durch die 1. Abteilung. Medizinische Sektion. 33 vorausgegangene Einübung, vielleicht auch auf das Hervorrufen eines gewissen Interesses an dem Resultat dieses ganzen Riesen- experimentes. Aber wenn wir auch so den Ermüdungsmangel verstehen lernen, so sind damit die verschiedentlichen sonstigen Bedenken noch keineswegs beseitigt. Zunächst bleibt die bis zur Grenze des Möglichen gehende Hernahme des Verdauungsapparates. Das ist eine keineswegs ein Uebersehen gestattende Tatsache. Nun aber eine weitere Erwägung: Wird eiu solcher Körper, der täglich etwa 500000 m/kg leisten muss, diesen Strapazen lange Zeit gewachsen bleiben? Die Statistik der schwer arbei- tenden Berufe ist nicht ohne weiteres dabei zur Auskunft ver- wendbar, da ja allerlei sonstige, z. B. chemische Schädlichkeiten eine zu grosse Rolle bei der Mortalität nach Gewerben sprechen. Man kann doch nicht sagen, dass manche sehr schwer arbeitenden Gewerbe etwa eine grosse Invalidität haben — so ist die Sterb- lichkeit der Schmiede kleiner als die der Schneider und Friseure — aber diese bisherigen Zahlen der Schmiede müssten erst mit denen der Schmiede nach dem Taylorsystem verglichen werden können. Nur diese Angaben würden eine Beurteilung der Ver- brauchsquote im Taylorsystem ermöglichen. Vorläufig dürfte ein gewisses Misstrauen berechtigt sein. Nun aber vor allem: Wo liegt denn das Interesse an der Einführung des Taylorsystems? Liegt es auf seiten des Arbeiters, des Arbeitgebers, der Allgemeinheit oder aller dieser Faktoren? Das Interesse des Arbeiters kann nur bedingt sein durch eine Aufbesserung seiner Lebensführung. Das könnte zunächst die Lohnerhöhung sein. Sie wird ihm auch durch das Taylor- system geboten, denn sein Lohn stieg von 4,8 M. auf 7,9 M., d.h. im Verhältnis von 1:1,65. Seine Leistung war allerdings die Afache geworden, und die Fabrik hatte statt 0,29 M. nur 0,14 M. für die Bewegung einer Tonne Material aufzuwenden. Die doch nicht nach Erwartung hohe Lohnsteigerung ist ein recht fraglicher Vorteil für den Arbeiter. Denn wie wir oben berechnet haben, steigen seine Ausgaben für Ernährung um die Stoffe, welche etwa 3000 Kalorien spenden müssen. Da er sie in einer nicht nur dem Futterbedürfnis genügenden, sondern auch kulinarisch einigermaassen befriedigenden Form sich zuzuführen bestrebt sein wird — und dies mit Recht — so wird der Preis dieser 3000 Kalorien einen nicht gar so kleinen Teil seines Mehr- verdienstes beanspruchen. So sinkt das Interesse des Arbeiters an der Mehrleistung, besonders da sie ihm ja keineswegs voll bezahlt wird. Kommt nun noch etwa eine früher einsetzende Invalidität durch die hohen Anforderungen an Darm- und Herz- sowie Muskelsystem dazu, so würde das ganze Taylorprinzip nur ein Raubsystem an der Leistungs- und Lebensdauer des Arbeiters darstellen. Das Interesse des Arbeitgebers würde sofort Null werden, wenn er dem Arbeiter seine vierfache Leistung nicht mit 65 pCt. Lohnerhöhung, sondern mit 150 pCt. Lohnzuschlag bezahlen müsste. Dann würde der Nutzen in der erzeugten Ware fast Null werden, Schlesische Gesellsch. f. vaterl, Cultur. 1915. TI. 3 34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. und der Arbeitgeber hätte nur für die vierfache Menge Fabrikat Absatz zu suchen, was ihm gewiss nicht als erstrebenswertes Ziel erscheinen würde. Und die Allgemeinheit könnte ein Interesse an reichlicher auf den Markt gebrachten Fabrikaten haben, weil sie dann wohl billiger sein würden — aber das hinge doch alles von dem Be- dürfnis, der Kaufkraft u. a. m. ab und würde zurückwirken auf die Produktion. Also wenn Herr Kent schreibt: „Eines Tages wird eine intelligente Nation die Tatsache einsehen, dass sie durch ein wirklich wissenschaftliches Studium der Bewegungsvorgänge im Wirtschaftsleben die industrielle Beherrschung der Welt erlangen wird“, so ist das mehr überschwenglich als richtig. Aber immerhin kann das Taylorsystem in einem Ausblick auf die Zukunft uns eines erwarten lassen, dass nämlich die Arbeitszeit der Arbeiter wesentlich vermindert werden kann. Wenn der heutige Arbeiter in 10 Stunden Arbeit ein Quantum A ver- arbeitet, so ist es sehr wahrscheinlich, dass er mit dem Taylor- system bei nur 6stündiger Arbeit etwa 2 A erzielen kann; dann kann sein Lohn über das bisher für 10 Stunden gezahlte Maass gut um 50 pCt. erhöht werden und auch der Arbeitgeber seinen Vorteil davon haben. . Auch ist hier keine Not um eine zu grosse Maschinisierung der Arbeit: bei einer so verkürzten Arbeitszeit wäre der individuellen Lebensführung sowieso °/,; des Tages ge- rettet, und die Methoden trefisicherer Auswahl plazieren den Ar- beiter an eine für seine Eigenart angepasste Aufgabe. Wenn Englands Arbeiter für week’s end, abgekürzte Arbeitszeit usw. gegen uns kämpfen, so würden sie, wenn diese Parole nicht mit Trägheit identisch wäre, besser sich dem Auswege zuwenden, mit Hilfe concentrierter Arbeit nach Taylor’s System ihre Schuldig- keit zu tun und doch reichlich freie Zeit zu schaffen. Auch um dieses Zukunftsausblickes willen köunen wir ein sorgfältiges Studium des Systems nur wünschen, ganz besonders aber auch deswegen, weil die Durcharbeitung des ganzen geistigen, tech- nischen, gewerblichen und nicht zuletzt militärischen Wesens in Rücksicht auf das Scientific management grosse Vorteile verheisst. Literatur. 1. Münsterberg, Psychotechnik. — 2. Münsterberg, Psychologie und Wirtschaftsleben, Leipzig 1913. — 3. Frederick W. Taylor, Die Grundsätze wissenschaftlicher Betriebsführung, München u.Berlin 1913. IL. Ueber eine Verbesserung der Verwundeten- fürsorge in der Front. Von Dr. Köbisch, Stabsarzt d. R. und Bataillonsarzt im Felde. Die Aufgaben, die unserer medizinischen Wissenschaft durch den Weltkrieg gestellt sind, sind so überaus mannigfache und gewaltige, dass jede medizinische Einzeldisziplin ihre besten Kräfte daran setzen muss, um allen Anforderungen gerecht zu werden. Ganz besonders schwer zu lösen ist für die Hygiene die Frage der Seuchenbekämpfung, die sowohl in Feindesland, wie auch in der Heimat, in grosszügiger Organisation durchgetührt werden muss. Aber auch die ärztliche Fürsorge für die Krieger in der Front und unmittelbar hinter der Front stellt sehr grosse Aufgaben an die militärärztliche Organi- sation, die um so schwieriger werden, je mehr wir uns der kämpfenden Truppe nähern. Die 3 Einzelfaktoren militärärztlicher Organisation, die für die erste Verwundetenfürsorge und unmittelbar hinter der Front in Frage kommen, sind die Truppenärzte mit ihren Sanitätsmannschaften und Krankenträgern, die Sanitätskompagnien und die Feldlazarette; alle 3 Formationen müssen mit leicht beweglichen Sanitätseinrichtungen versehen sein, da sie sie stets in unmittelbarster Nähe der kämpfenden und marschierenden Truppe finden müssen. Die Truppenärzte befinden sich unmittelbar bei den marschierenden und kämpfenden Truppen selbst, sind also der am weitesten vorgeschobene militärärztliche Posten, denen die Obhut und Bergung der verwundeten und erkrankten Soldaten anvertraut ist. Einige Kilometer weiter hinter der Front liegt das Arbeitsgebiet der Sanitätskompagnie mit ihren Aerzten, Krankenträgern und einem grösseren Fuhrpark, der in erster Linie dem Transport der Verwundeten dient; noch einige Kilometer hinter der Sanitätskompagnie ist der Wirkungsbereich der Feldlazarette gelegen, die ebenfalls zum Verwundetentransport eine grössere Anzahl von Krankenwagen zu ihrer Verfügung haben. Von allen militärärztlichen Einzelaufgaben, die bei der ersten Verwundetenfürsorge in Betracht kommen, bereitet besonders bei den Bewegungskämpfen die Hauptschwierigkeit die Bergung der Verwundeten in der Front und der rasche Abtransport nach den weiter rückwärts gelegenen Sanitätsformationen, zu den Sanitätskompagnien oder zu den Feldlazaretten. Bei den wochen- und monatelangen Stellungskämpfen, wie wir sie auf dem westlichen Kriegsschauplatz besonders ausgeprägt finden, ist der Transport der Verwundeten bei weitem nicht so schwierig, da die Wege und Strassen, auf denen er sich abspielt, immer dieselben sind, 3% 36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. und zu diesem Zwecke gut ausgewählt werden können, wobei noch sehr vorteilhaft die gute Beschaffenheit der Wege und Kunststrassen in Frankreich besonders ins Gewicht fällt. Ganz gewaltig aber wachsen die Schwierigkeiten für den Abtransport der Verwundeten aus der Front an, wenn bei täglichem Wechsel des Ortes in wochenlangen Bewegungs- kämpfen die Stellungen der Truppen fortwährend wechseln und die Truppenärzte unter diesen schwierigen Umständen die zahlreichen Ver- wundeten möglichst bequem und schnell aus der Front herausholen Abbildung 1. Schema der ersten Verwundetenfürsorge _auf dem Gefechisfelde. Bisher: Jn Zukunft: 5 | Ir Scülzenlinien (Gräben.) Sdüfzenlinien (Gräben) (Astropscpober 2 B. ae E (Astrohsgaber. Sana B.r @ des Truppen- E 2 \ ne 2 Verbandst. des 1 ı Verbandsl- ITruppen-Arztes. nel Rüätranspor- | | Rüwktransport-, „E Üüktranspa h aM linien a ssenat linien Verbandst, ' 419100 mittelst derneuen für Krankenlragen. ı = \ San.Karren. ı | L l Ss | N Alter Mi San.Wagen \ \ __ Y i _Wagen d sum GEB E a 5 a und nach rückwärts in Sicherheit bringen sollen. Wir sehen also auch, dass in der ärztlichen Versorgung der Verwundeten bei der marschierenden und fechtenden Truppe das Problem der schnellen Ueberwindung des Raumes in den meisten Fällen die Hauptschwierigkeit darstellt, die um so grösser ist, je schlechter die Wege sind und ganz besonders schwierig und verantwortungsvoll ist, wenn der Kampf mit einem länger andauernden Rückzuge endet. Wenn wir dabei die Mittel betrachten, die dem Truppen- arzte eines Bataillons zur Erfüllung seiner Aufgaben und insbesondere zum Abtransport der Verwundeten zur Verfügung stehen, so ist in erster 1. Abteilung. Medizinische Sektion. 37 Linie der bei jedem Bataillon befindliche Sanitätswagen mit seinen 4 Krankentragen zu nennen, die von 16 Krankenträgern bedient werden. Dieser vierräderige, schwerfällige, huochgebaute Sanitätswagen, der hinter den 4 Munitionswagen des Bataillons mitgeht, ist das einzige Gefährt, Abbildung 2. dass dem Truppenarzte zur Verfügung steht. In ihm sind in einzelnen Schubladen und Fächern die Medikamente, Verbandmittel, Decken usw., sowie die ärztlichen Instrumente und Hilfsgeräte und ein Trinkwasser- fässchen zur Labung der Verwundeten untergebracht. Der Kutschersitz 38 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. bietet ausser für den Kutscher des Wagens noch Raum für einen Leicht- verwundeten oder marschkranken Soldaten. Er ist aber vor allen Dingen nicht für den Transport von Schwerverwundeten eingerichtet. Es müssen also bei einem Gefecht die nicht marschfähigen Ver- wundeten aus der Schützenlinie (A) mittels Krankentragen, die von je 4 Krankenträgern sehr mühsam und langsam befördert werden, über das ganze Kampffeld hinweg (A—B—C) bis zum Wagenhalteplatz der Sanitätskompagnie gebracht werden (siehe Abbildung 1). In günstigsten Fällen, wie es in Skizze 1 dargestellt ist, beträgt die Strecke, die die Krankenträger mit den Verwundeten auf den Krankentragen im feind- lichen Feuer zurücklegen müssen, mindestens 1500 m; nämlich 500 m von der Schützenlinie (A) bis zum Truppenverbandplatz des Bataillons- arztes (B) und von dort nach dem Wagenhalteplatz, auf dem die Krankentransportwagen der Sanitätskompagnie steben (C), etwa 1000 m; ‚in vielen Fällen sind ‘aber die eben genannten Entfernungen erheblich grösser, vor allem ist die Strecke (B—C) vom Truppenverbandplatz des Bataillons nach dem Wagenhalteplatz der Sanitätskompagnie meist eine viel längere und beträgt oft 2 und mehr Kilometer. Wenn ein Gefecht erhebliche Verluste an Verwundeten bringt, so wird bei weitem der grösste Teil der 16 dem Bataillonsarzt zur Verfügung stehenden Krankenträger wegen der weiten Entfernung der Strecke (B—C) ständig hinter dem Truppenverbandplatz des Bataillonsarztes beschäftigt sein, so dass vorn in der Schützenlinie ein grosser Teil der Verwundeten erheblich auf ihre Beförderung zum Truppenverbandplatz wird warten müssen, und es gehen dabei naturgemäss ein grosser Teil der Ver- wundeten verloren oder sterben, weil ihnen nicht rechtzeitig Hilfe zuteil werden kann. Dieser schwere Uebelstand wird sich noch um so verhängnisvoller bemerkbar machen, wenn das Gefecht mit einer Rückwärtsbewegung endigt; in diesem Falle können die vorn in der Front zurückbleibenden Verwundeten nicht geborgen werden, sie bleiben meist unversorgt mitten im Gefechtsfelde liegen oder fallen — und das ist meist noch ein glücklicher Umstand — bald in die Gewalt des Feindes. Wenn es gelänge, den Rücktransport der Verwundeten vom Truppen- verbandplatz (B) in grösserer Anzahl schnell nach hinten nach dem Wagenhalteplatz (C) zu schaffen, ohne dass hierbei die Mehrzahl der dem -Bataillonsarzt zur Verfügung stehenden Krankenträger in Anspruch genommen werden müsste, so wäre dadurch die wichtigste Lücke und der grösste Uebelstand in dem ersten Abtransport der Verwundeten be- seitigt. Dadurch würden die Krankenträger des Bataillons zum grössten Segen der in der Front liegenden Verwundeten frei geworden sein zur Verwendung auf der Strecke A—B; es könnte also die grösste Mehrzahl der Krankenträger vom Bataillonsarzt dazu bestimmt werden, die zahl- reichen Verwundeten aus der Schützenlinie nach dem Truppenverband- platz zu befördern, und da diese Strecke nur eine verhältnismässig kurze ist, so würden sie sehr oft diese Strecke durchmessen können, und damit die grösste Anzahl der verwundeten Soldaten aus der Front zum Truppenverbandplatz bringen. Dadurch würde auch der Mut und die Moral der im scharfen feindlichen Feuer liegenden Soldaten wesent- lich gestärkt werden, wenn sie sehen, dass ihre verwundeten Kameraden fast ausnahmslos schnell den ersten Stätten der ärztlichen Hilfe zu- geführt werden. Weiterhin wäre es leicht möglich, auch den grössten Teil der Ge- wehre der Verwundeten und Gefallenen, ihre Tornister und Ausrüstungs- gegenstände zu bergen, da ja eben der grösste Teil der Krankenträger in der Strecke A—B verwendet werden kann. Um dieses wichtige Ziel, eine grundlegende Verbesserung des Ab- I. Abteilung. Medizinische Sektion. 39 transportes der Verwundeten vom Schlachtfelde zu erreichen, habe ich nach den vielen Erfahrungen, die ich besonders bei den Kämpfen auf dem östlichen Kriegsschauplatze als Truppenarzt gemacht habe, einen leichten zweiräderigen Sanitätskarren!) gebaut, der vor allem ausser- ordentlich leicht und rasch zu einem sehr zweckmässigen Verwundeten- transportwagen während des Gefechtes umgewandelt werden kann. Der zweiräderige Karren besitzt ein sehr kräftig gebautes Untergestell. Die zwei Räder sind hoch und ausserordentlich stark und entsprechend den Rädern der Munitionswagen, so dass im Notfalle eins der mitgeführten Hilfsräder der Munitionswagen für die Karren sofort verwendbar ist. Die Achse ist eine kräftige Stahlachse und entspricht ebenfalls der Achse des Munitionswagens. Auf diesem Radgestell ist auf zwei kräftigen Längsfedern der Wagenkasten aufgebaut, der in seinem Inneren dieselben Schubladen und Fächer besitzt, wie sie der vierräderige Infanterie- Sanitätswagen hat. Auf dem Dache des Wagens sind je zwei zusammen- klappbare Armeekrankentragen untergebracht (s. Abbildung 2, 3 und 6). Die Hinterwand des Karrens kann tischartig heruntergeklappt werden (Abbildung 3), und gestattet dadurch einen leichten Zugang zu den Schubladen und zu dem Wasserfass des Karrens. Die Vorderwand ge- stattet durch Herabklappen die bequeme Herausnahme' der in dem Vorderfach untergebrachten Verbandmittel und Decken. Da der Karren nur 1,45 m bis zur Mitte des Daches hoch ist (gegenüber der Höhe des vierräderigen Infanterie-Sanitätswagens von 2,20 m), so kann er besonders auf Grund seiner leichten Beweglichkeit auch auf schwierigem Gelände bis auf den Truppenverbandplatz der fechtenden Truppe, gegen Sicht gedeckt, in Stellung gebracht werden, während der vierräderige schwere Infanterie-Sanitätswagen der bisherigen Konstruktion meist weit hinter den Truppenverbandplätzen auf einer Strasse stehen bleiben musste. Bei einem Gefecht werden nun die zu einem Bataillon gehörenden zwei Sanitätskarren an den Truppenverbandplätzen durch Herausnahme der Schubladen und Verbandmittel entleert, und dadurch frei gemacht für die Beladung mit Verwundeten (Abbildurg 4 und 5). Die Niederlegung der Medikamente und Verbandmittel direkt am Truppenverbandplatze gestattet auch eine bessere ärztliche Versorgung der auf den Verband- plätzen zusammengebrachten Verwundeten, da dadurch das ganze medi- zinische Rüstzeug stets in voller Bereitschaft sich befindet, während bei der bisherigen Lage immer erst neue Vorräte aus den weiter entfernt hinten aufgestellten Infanterie-Sanitätswagen herbeigeholt werden mussten. Jetzt können die zum Truppenverbandplatz herbeigetragenen Verwundeten nach der ersten ärztlichen Versorgung und Anlegung der Verbände — und zwar auf jeden Karren zwei nicht marschfähige Verwundete — auf ihren Tragen untergebracht werden, einer im Innern des Wagenkastens und einer auf dem Dache desselben (Abbildung 7). Die Tragen sind auf den Karren durch Riemen befestigt und auf Schienen vollkommen fest verstaut, so dass die Verwundeten vom Truppenverbandplatz (B) nach dem Wagenhalteplatz der Sanitätskompagnie (C) infolge der guten Federung des Wagenkastens rasch und in humaner Weise abtransportiert werden können. Zur Begleitung des einspännigen Karrens ist ausser dem Kutscher nur ein Krankenträger notwendig, die beide die Ver- wundeten am Wagenhalteplatz aus den Karren herausnehmen und dort niederlegen, um in schneller Gangart sofort wieder zum Truppenverband- platz zurückzukehren. Es werden also, wenn beide Karren sich auf der Strecke B und C in ständiger Bewegung befinden, bei 4 Verwundeten nur 2 Krankenträger benötigt. Die übrigen 14 Krankenträger können also ständig auf der Strecke A und B und Al und BI zur Heraus- holung der Verwundeten aus der Schützenlinie Verwendung finden. 1) D.R.G.M. Nr. 626196. 40 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Der Bataillonsarzt hat also ein sehr bequemes und gutes Beförde- rungsmittel zum Rücktransport seiner Verwundeten vom Truppenver- bandplatz mit diesem Sanitätskarren zur Verfügung und kann selbst im verlustreichen Gefecht rasch alle Verwundeten aus der Front holen und Abbildung 4. ENTE 3 y, f 4 < en nach rückwärts transportieren lassen. Dass dies mit der bisherigen Me- thode in vielen Fällen nicht möglich war, das ist auch in einem Aufruf des Verbandes der Vaterländischen Frauenvereine der Provinz Branden- burg mit folgenden Worten gekennzeichnet. In diesem Aufruf heisst es am Anfang: I. Abteilung. Medizinische Sektion. 41 Abbildung 6. 42 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. „Da gilt es vor allem der Verwundeten selbst zu gedenken und dafür zu sorgen, dass unsere todesmutigen Streiter im Kampf für die Ehre und den Ruhm unseres Vaterlandes von der festen Gewissheit er- füllt sein dürfen, im Falle ihrer Verwundung auf jede nur erdenkliche Rettung und Hilfe rechnen zu können. Dazu bedarf es sachgemässer und schneller Beförderung der Verwundeten vom Kampfplatz zu den Stätten ärztlicher Hilfe. Für die Weiterschaffang sorgen Lazarettzüge, mit denen die Heeresverwaltung nach Auskunft des Kriegsministeriums nunmehr völlig ausreichend versorgt ist. Dagegen bedürfen die Ein- richtungen zur Aufsammlung und Heranschaffung der Verwun- deten unmittelbar vom Schlachtfelde noch dringend der Er- gÄNZUNG...... = Auch auf dem Marsche bieten die leichtbeweglichen Sznitätskarren über den schwerfälligen Infanterie-Sanitätswagen erhebliche Vorteile. Die hochgebauten vierräderigen Sanitätswagen haben sehr oft auf schlechten Wegen, besonders bei Nachtmärschen, die Marschkolonne der Truppen zerrissen, dadurch, dass sie entweder stecken blieben, oder in Löchern des Weges umfielen. Die in der Dunkelheit hinter dem Wagen marschierende Truppe, die die Ursache des Aufenthaltes des Marsches nicht kannte, blieb in vielen Fällen ebenfalls stehen, und so entstanden auf der Marschstrasse oft kilometerweite Lücken, die die Sicherheit der Truppe ausserordentlich gefährdeten. Solche Störungen würden durch die erheblich leichteren Sanitätskarren völlig vermieden werden, da ein leichter Sanitätskarren viel besser und schneller über die Schwierig- keiten des Geländes hinweggebracht werden kann und die Gefahr des Umkippens wegen der Niedrigkeit der Karren eine sehr geringe ist. Im allgemeinen wird es sich empfehlen, die Karren einzeln für sich einspännig zu fahren; es ist aber auch die Möglichkeit vorhanden, die Karren durch eine Kuppeiung fest miteinander zu verbinden und durch Vorspannen #eider Pferde vor den vorderen Karren beide Karren in einen Wagen — zum zweispännig fahren — zu verwandeln, was sich allerdings nur bei guten Strassen zweckmässig erweist. Ein Bataillon würde demnach nach Einführung der von mir konstruierten Sanitäts- karren zwei leichtbewegliche Gefährte erhalten, die auch in ein einziges zusammengestellt werden können. Die Zerlegung des alten Infanterie-Sanitätswagens in zwei zwei- räderige Karren hat für das Bataillon, wenn es aus taktischen Gründen in einzelne Kompagnien in verschiedenen Dörfern auseinander gezogen ist, wie dies zum Beispiel bei der Aufgabe des Bahnschutzes und Siche- rung bestimmter Geländeabschnitte sehr häufig der Fall war, einen weiteren Vorteil. Der Bataillonsarzt kann je zwei Kompagnien einen der beiden Karren mitgeben und seinen Unterarzt bei den detachierten Karren mit einigen Sanitäts-Unteroffizieren mitgehen lassen; dadurch wird die truppenärztliche Versorgung der getrennt liegenden Kompagnien wesentlich erleichtert und verbessert, da nicht mehr täglich ein- bis zweimal viele Kilometer Entfernungen zur Abhaltung der truppenärzt- lichen Sprechstunden zurückgelegt zu werden brauchen. Es fällt dabei auch das beschwerliche Mitnehmen von Medikamenten und Verband- stoffen zu den weit auseinandergezogenen Kompagnien weg, da ja in den beiden Sanitätskarren alles Notwendige für die in ihrer Nähe liegenden Kompagnien zur Verfügung steht. Die räumlichen Ausmaasse des Wagenkastens jedes einzelnen Sani- tätskarrens sind sehr günstige ‘für die Unterbringung der Schubladen und der Verbandmittel. Besonders der Rauminhalt der Fächer an der Stirnseite der Sanitätskarren ist nicht unwesentlich grösser als der bei den vierräderigen Infanterie-Sanitätswagen der jetzigen Modelle, und zwar beträgt er 0,591 cbm gegen etwa 0,478 cbm. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 43 Es ist daher leicht möglich, jedem Sanitätskarren noch ein sehr praktisches Gerät mitzugeben, dass für die gesunde Haltung der Truppe in Feindesland von grösster Bedeutung werden kann: nämlich ein Armee- filter nach Berkefeld, mit einem Reservecylinder in einer Umhänge- tasche verpackt. Dieser kleine, sehr handliche Filtrierapparat (Berke- feld, Modell A. F.2) gestattet bei geringer Arbeitsleistung eine Ver- sorgung der einzelnen Kompagnien mit einwandfreiem Trinkwasser und es kann ein grösserer Vorrat davon. stets in dem im Sanitätskarren be- findlichen Wasserfass, das etwa 40—50 | Inhalt hat, für die Truppe auf dem Marsche mitgeführt werden. Bei einer längeren Marschpause können die Sanitätskarren mit den beiden Wasserfässern an den Kompagnien vorbeifahren und den Soldaten aus diesen Vorratsfässchen in kurzer Zeit eine genügende Menge Wasser verabfolgen; es wird dadurch vermieden, dass die Soldaten aus schlechten Tümpeln und Teichen im Vorbeiziehen sich Trinkwasser schöpfen. Die baldige Einführung der geschilderten Sanitätskarren würde dem- nach nach meiner Ueberzeugung und auch nach der Ansicht der vielen Truppenführer und Militärärzte, die den Nachteil des alten Infanterie- Sanitätswagens auf dem Marsche und im Gefecht sehr schmerzlich kennen gelernt haben, eine sehr wesentliche Verbesserung bei der Erfüllung der truppenärztlichen Pflichten bedeuten, und es würden wohl ohne Zweifel viele Hunderte unserer verwundeten, tapferen Krieger gerettet werden können, und dadurch würde so manche schwere Sorge von den Familien der Daheimgebliebenen genommen werden, die unter dem Gram um teure Vermisste leiden, und sich oft lange Monate hindurch nicht das schwere Geschick des Todes ihrer Angehörigen denken können. Die taktische Durchführung der Neuerung ist aber auch noch in diesem Kriege sehr leicht möglich, wenn man bedenkt, dass zur Her- stellung selbst vieler Hunderte solcher Sanitätskarren bei richtiger Arbeitseinteilung nur wenige Wochen erforderlich sind. Bisher konnten 6 Karren auf Grund einer Privatsammlung fertiggestellt werden. Die praktischen Uebungen und Versuche, die mit den bisher fertig- gestellten Sanitätskarren selbst im schwierigen Gebirgsgelände bisher vorgenommen worden sind, haben alle Erwartungen glänzend erfüllt, die an die Leistungsfähigkeit des Karrens geknüpft sind, und ich wünschte nur, dass mir von wohlhabenden deutschen Mitbürgern und deutschen Verbänden grössere Mittel zur Verfügung ständen, um eine grosse An- zahl solcher Sanitätskarren dem deutschen Heere geschenkweise über- lassen zu können, damit bald an eine allgemeine Einführung der Karren in den Sanitätsbetrieb des Heeres gedacht werden kann. Zum Schluss erfülle ich die angenehme Dankespflicht, allen den Kameraden und Kollegen herzlich zu danken, die mich bei der Kon- struktion und Einführung des Sanitätskarrens mit grösster Bereitwillig- keit mit Rat und Tat unterstützt haben; insbesondere gebührt dieser Dank meinem hochverehrten früheren Bataillonsführer und Regiments- kommandeur Freiherrn v. Zedlitz-Neukirch. IV, Kriegs - ophthalmologische Erfahrungen und Betrachtungen. Von W. Uhthoff- Breslau. M. H.! Ich darf vielleicht voraussetzen, dass es Sie inter- essieren wird, über meine augenärztlichen Erfahrungen als be- ratender Ophthalmologe der Reserve-Festungslazarette des VI. Ar- meekorps an unseren aus dem Felde zurückgekehrten Kriegern in kurzer, zusammenfassender Weise etwas zu hören. Dabei will ich nur die stationär aufgenommenen und genau beobachteten Kranken berücksichtigen und diejenigen aus der Poliklinik in der Ambu- lanz ausser Betracht lassen. An Arbeit hat es uns auch hier wahrlich nicht gefehlt, und die Zahl der ambulant beobachteten Soldaten war naturgemäss erheblich grösser als die der stationär aufgenommenen. Unseren Rekord haben wir in dieser Hinsicht erreicht, als eines Tages 110 Landsturmleute mit Klagen über Sehstörungen anrückten. Wir hatten auf eine Anfrage vom Sani- tätsamt uns bereit erklärt, die Untersuchung an einem Tage zu erledigen, aber nur auf 40—50 Patienten gerechnet. Wir haben dann vom Mittag bis zum Abend zu dritt 8 Stunden gearbeitet und konnten ca. 70 Kranke von auswärts abfertigen, den Rest aus Breslau und Umgegend mussten wir uns für den folgenden Tag wiederbestellen. Das stationäre Krankenmaterial, über das ich Ihnen heute kurz berichten will, beläuft sich auf ca. 600. Es liegt auch nicht in meiner Absicht, Sie mit allen Einzelheiten zu behelligen, sondern ich will einzelne Daten von allgemeinerem Interesse herausgreifen. Was zunächst das Verhältnis der nicht traumatischen Augen- erkrankungen zu den durch Trauma bedingten Läsionen und Seh- störungen anbetrifit, so war das Verhältnis 1: 1,7. I. Ich will hier nicht, auch nicht einmal statistisch, die ver- schiedenen nicht traumatischen Augenerkrankungen aufzählen, sondern nur einzelne Krankheitsgruppen kurz herausgreifen. Unter den entzündlichen Hornhauterkrankungen (verschiedene Keratitisformen) steht mit an erster Stelle (25 pCt.) die Keratitis I. Abteilung. Medizinische Sektion. 45 dendritica, diese durchweg herpetische Erkrankung der Cornea. Sie kommt zweifellos unter dem Einfluss der Kriegsstrapazen er- heblich häufiger vor als in Friedenszeiten. Wenn der Endausgang auch durchweg günstig war, so war doch der schleppende und langsame Ablauf ofi sehr störend und entzog den Kranken für längere Zeit dem Kriegsdienst. Ich halte es für gerechtfertigt, neben der üblichen Behandlung hier gelegentlich, besonders wenn der Krankheitsherd exentrisch liegt, energischer durch ober- flächliche Kaustik der erkrankten Hornhautstellen einzugreifen. Man kann hierdurch den Ablauf des Prozesses entschieden in einem Teil der Fälle beschleunigen. Das Uleus serpens war nur relativ selten unter den Horn- hauterkrankungen vertreten (ca. 1 pOt.), es beruhte durchweg auf Pneumokokkeninfektion und Trauma. Für dieses relativ seltene Auftreten der Erkrankung glaube ich namentlich in dem Fehlen der Tränenleiden, in dem relativ jugendlichen Alter der Patienten und ihrer sonst gesunden Körperbeschaffenheit einen Grund sehen zu dürfen. An Verletzungen hat es natürlich unter den Fährlich- keiten und Sprapazen des Feldzuges nicht gefehlt. Bei der Kera- titis dendritica war nur in ganz vereinzelten Fällen eine Verletzung als Ursache angegeben. j Bei den entzündlichen Erkrankungen der Conjunc- tiva, die in verschiedener Form auftreten (Copjunctivitis acuta und chronica, Schwellungskatarrh, phlyktaenulosa, Diplobacillen- infektion, gonorrhoica usw.), war das Trachom nur mit 5 pCt. vertreten, und in den meisten dieser Fälle handelte es sich schon um altes Narbentrachom, das unter den Feldzugsstrapazen recidi- viert war. Diese Kranken waren offenbar schon vor dem Kriege mit Trachom behaftet gewesen. Das Auftreten des frischen Tra- choms beschränkte sich auf ganz vereinzelte Fälle (2 von 9 Fällen). Von diesen beiden Patienten war der eine auch schon vor seiner Einziehung erkrankt (Trachom in der Familie) und der letzte Kranke kam wohl mit seiner frischen Erkrankung aus dem Felde, jedoch war die Affektion eine leichte und die Diagnose der Trachom wurde mit einem Fragezeichen versehen. Der Ablauf war schnell und günstig. Es blieb also die Zahl der Trachomerkrankungen glücklicherweise bei weitem hinter den anfänglich gehegten Be- fürchtungen zurück, da unsere Krieger durchweg in trachomver- seuchten Territorien (Russland, Galizien) gekämpft hatten. Mir erscheint diese Tatsache sehr bemerkenswert, zumal wenn wir an die geschichtlichen Daten über Trackom zurückdenken und zwar besonders an das massenhafte Auftreten des Trachoms in den Armeen der Freiheitskriege vor 100 Jahren, gar nicht einmal zu rechnen die erschreckenden Daten über die furchtbaren Epidemien der „ägyptischen“ Augenentzündung bei den Napoleonischen Ar- meen in Aegypten Ende des 18. Jahrhunderts. Freilich hat es sich hierbei damals ja offenbar um Mischinfektionen (Koch-Week- sche Bacillen, Gonokokken usw.) gehandelt, die unter den klima- tischen und sonstigen Verhältnissen (Hitze, Staub, Uebertragung durch Fliegen usw.) ganz besonders zu einem perniciösen Verlauf disponierten. Die realative Seltenheit des Trachoms im gegen- 46 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. wärtigen Kriege scheint auch anderen Beobachtern schon aufge- fallen zu sein; so bekam ich vor kurzem eine Anfrage vom Kol- legen Peters aus Rostock, aus der ebenfalls die grosse Selten- heit des Trachoms bei den aus dem Felde heimkehrenden Kriegern sich ergab. Ich halte mich also zu der Hoffnung berechtigt, dass die Trachomübertragung im Felde in diesem Kriege keine grosse Rolle spielen wird. Der Grund liegt ja zweifellos mit darin, dass dank der sanitären Fürsorge unser Militär durchweg trachom- frei ins Feld rückt, und dass auch im Felde die Berührung mit der trachomdurchseuchten Bevölkerung keine sehr enge gewesen ist und sein kann. Auch die Kontagiosität des Trachoms hat sich hierbei zweifellos geringer gezeigt, als man glaubte, anfangs fürchten zu müssen. Die Conjunctivitis gonorrhoica haben wir nur in einem Fall bei unseren 600 stationären Kriegern der Klinik gesehen, das Auge war durch Zerfall der Hornhaut schon bei der Auf- nahme verloren. Auch diese Seltenheit der Erkrankung erscheint mir bemerkenswert bei dem immerhin häufigen Vorkommen der Gonorrhoe, zumal wenn wir bedenken, dass die Klinik für Ge- schlechtskranke sich in unserer unmittelbaren Nähe befindet, deren Insassen beim Ausbruch einer Conjunetivitis gonorrhoica sicher unserer Klinik überwiesen worden wären. Die Iritis machte ca. 8 pCt. der nicht traumatischen Augen- erkrankuugen aus, davon war ein Drittel unbekannter Aetiologie, ein Drittel syphilitischer und ein Drittel rheumatischer Natur. Bei unserem Friedensmaterial können wir fast 50 pCt. auf Syphilis und Gonorrhoe zurückführen, also die rheumatische Form ist bei den Feldzugsstrapazen und Schädlichkeiten etwas häufiger zu ver- zeichnen. Die Hemeralopie war nicht sehr häufig, ca. 3 pCt. der nicht traumatischen Erkrankungen: ein Drittel hereditär, ein Drittel in- folge von organischen Erkrankungen der Netzhaut und ein Drittel idiopathisch. Das letztere ist geradezu auffallend selten bei unseren Kranken, und in anderen Lazarettberichten, z. B. von Augstein (Bromberg), wird das Vorkommen als erheblich häufiger angegeben, und ich muss unseren Prozentsatz von idiopathischer Hemeralopie als auffallend gering bezeichnen, wenn wir die nicht zu vermei- dende zeitweise Unterernährung der kämpfenden Truppen im Be- wegungskriege bedenken. Ein Soldat mit ausgesprochener Hemera- lopie bei auch sonst guter Sehschärfe kann besonders im Winter nicht als felddienstfähig angesehen werden. Der Nystagmus war mit 3,5 pÜt. bei den nicht trauma- tischen Augenleiden der Krieger vertreten, und.die Hälfte dieser Fälle betraf nach bestehendem rudimentären Nystagmus der Bergleute, der sich in erster Linie beim Blick nach oben und bei herabgesetzter Beleuchtung bemerkbar machte. Die Betref- fenden schilderten zum Teil sehr anschaulich, wie sie beim Schiessen und Zielen im Liegen mit gehobener Blickrichtung durch den eintretenden Nystagmus und die Scheinbewegungen der gesehenen Objekte gestört wurden. Gelegentlich war dieser Nystagmus mit Hemeralopie kompliziert. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 47 Die typische reflektorische Pupillenstarre auf Licht mit erhaltener Konvergenzreaktion wurde in etwa 2 pCt. dieser Krankheitsgruppe mehr zufällig angetroffen. Jedesmal konnte ein ätiologisches Moment in Lues, Tabes und progressiver Paralyse nachgewiesen werden. Die enorme diagnostische Bedeutung dieses Phänomens bewährte sich also auch hier. Gewöhnlich werden derartige Patienten als felddienstunfähig zu betrachten sein, gele- gentlich aber ist es gerechtfertigt, z. B. bei sehr geringen und chronischen Erscheinungen der beginnenden Tabes, sie noch als kriegsverwendungsfähig anzusehen. Dass auf hunderte von Fällen dieser Krankheitsgruppe gele- gentlich der maligne Tumor angetroffen wird, ist erklärlich, wir hatten in dieser Hinsicht ein Chorioidalsarkom und Careinom des Tränensackes zu verzeichnen. Ein Zusammenhang des Lei- dens mit den Feldzugsstrapazen ist hier durchweg nicht anzu- nehmen, wenn in unseren beiden Fällen auch nicht zu erkennen war, dass das Verweilen der Patienten im Felde die Diagnose und die zweckmässige Therapie verzögert hatte. Il. Die direkten Verletzungen des Augapfels selbst betrafen von den 600 Kriegern 252 Fälle Von diesen Augen erblindeten 46 pCt. total, 10 pÜt. behielten eine Sehschärfe ge- rirger S—!/,n und somit 44 pCt. ein leidliches und besseres Sehvermögen. 35 pCt. dieser Augen musste enukleiert, resp. exenteriert werden. Eine sympathische Ophthalmie kam nicht zur Beobachtung. Auf eine Weigerung des Patienten sich das Auge rechtzeitig beseitigen zu lassen, bin ich nie gestossen. Alle enukleierten Augen wurden auch anatomisch und mikroskopisch untersucht und die anatomischen Daten kurz in die Kranken- geschichten eingetragen. War ein Fremdkörper ın die Tiefe des Auges einge- drungen, so war das Auge meistens verloren. In einigen Fällen waren es Eisensplitter, deren Extraktion mit dem Magneten ge- lang, und so wurden vereinzelte Augen erhalten. Aber auch nach erfolgreicher Magnetextraktion gingen einige dieser Augen noch nachträglich an Wundinfektion zugrunde und mussten entfernt werden. Erheblich häufiger handelte es sich um nicht magne- tische Fremdkörper (Kupfer, Blei und andere Fremdkörper). Hier ist es nur ganz vereinzelt gelungen, den Fremdkörper zu extra- hieren und das Auge zu erhalten unter starker Schädigung der Sehkraft. Die Röntgendiagnose unter Anwendung der Wessely- schen Prothesen und das Sideroskop leisteten vortreffliche Dienste, letzteres auch bei negativem Ausfall, indem dadurch die nicht magnetische Natur des Fremdkörpers (kein Eisen) nachgewiesen wurde. Eine besondere Erwähnung verdienen die Bleispritzerver- letzungen durch aufschlagende und explodierende Infanterie- geschosse, beim Auftreffen auf den Gewehrlauf, Schutzschilde, Steine, besonders im Stellungskrieg. Einige Patienten ver- sicherten auch bestimmt, dass es sich um sogenannte Explosiv- geschosse gehandelt hätte. Gewöhnlich ist es jedenfalls so, wie 48 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Handmann!) es jüngst sehr treffend geschildert hat: „Beim Auf- schlagen des Geschosses zerreisst der Mantel desselben, der Blei- kern schmilzt und zerstäubt in Bestandteile der verschiedensten Grösse bis herab zum feinsten Bleinebel unter lautem explosiv- artigem Knall und starker Erhitzung.“ Es ist dies ein Krank- heitsbild, wie wir es in Friedenszeiten fast gar nicht zur Beob- achtusg bekommen. Ich stelle Ihnen hier einen derartigen Kranken vor, der durch ein solches explodierendes Infanteriegeschoss an beiden Augen verletzt wurde. Das linke Auge ist bis auf unsicheren Lichtschein erblindet, der Glaskörper völlig getrübt, kein roter Reflex. Kleine Fremdkörper sind in die Tiefe des Auges einge- drungen und die Hornhaut zeigt zahlreiche kleine weissliche Fremdkörper, die zum Teil ziemlich tief in der Hornhaut sitzen und zum Teil bei oberflächlicherem Sitz früher entfernt werden konnten. Die Iris ist verfärbt, jedoch ohne hintere Synechien, der Bulbus ist jetzt reizlos und richt schmerzhaft. Die Lider waren in der Gegend des Canthus externus zerrissen, in ihrer Form aber auf dem Wege der plastischen Operation wieder- hergestellt. Besonders bemerkenswert aber ist nun der Befund auf dem rechten Auge. Dasselbe ist reizlos, hat volle Sehschärfe und keine wesentliche Gesichtsfeldbeschränkung. Am äusseren Teil des Limbus der Hornhaut findet sich eine feine Narbe mit einigen kleinen grauen Partikelchen in der anliegenden Hornhautsubstanz. Der Hornhautnarbe entsprechend findet sich ein kleiner loch- förmiger Defekt in der Irisperipherie und ophthalmoskopisch sieht man dieser Stelle entsprechend eine herdförmige Chorioidalver- änderung mit Pigmentanhäufung. Die Papille ist klar sichtbar, keine wesentlichen Glaskörpertrübungen, nur am äusseren Ab- schnitt desselben sieht man einige kleine metallisch glänzende frei schwebende Partikeichen, ähnlich wie bei Synchysis seintillans. Es erscheint mir nicht zweifelhaft, dass es sich hier um feinste kleine Bleiteilchen handelt, welche keine wesentlichen Reaktionen hervorgerufen haben. Es ist jedenfalls anzunehmen, dass sie vollständig aseptisch eingedrungen sind. Der Kranke kann als garnisondienstfähig entlassen werden. Vier derartige Bulbi mit Bleispritzerverletzungen mussten enukleiert werden, und die Präparate sind ausgestellt. Aus den- selben können Sie ersehen, dass bei derartigen Verletzungen, wie in dem einen Fall, naturgemäss auch eine Infektion durch die Eingangswunde stattfinden kann. Dieselbe hat hier zu Iridoeyelitis und Netzhautablösung geführt. In zwei anderen Bulbi sind um die Fremdkörper herum mehr circumscripte Abscesse entstanden, die nicht den Eindruck einer bakteriellen Entzündung, sondern den einer durch chemische Reizung entstandenen machten, im übrigen aber auch zu deletären intraocularen Veränderungen 1) Handmann, Ueber Augenverletzungen durch Bleispritzer von aufschlagenden Infanteriegeschossen. Zschr. f. Aughlk., 1915, Bd. 34, #. 190.2,8..8% I. Abteilung. Medizinische Sektion. 49 führten. Der vierte Bulbus zeigt die ausserordentlich feine Ver- teilung der Bleispritzer sowohl im vorderen als hinteren Bulbus- abschnitt. Bemerkenswert war, dass auch die grösseren bleiernen Fremdkörper dem Mikrotommesser keinen wesentlichen Widerstand entgegensetzten und glatt mit durchschnitten wurden, ohne die Schneide des Messers wesentlich zu schädigen. In einem Falle von ÜOataracta traumatica ist es mir gelungen, einen runden, etwa l mm im Durchmesser haltenden bleiernen Fremdkörper mit der Extraktion der Linse zutage zu fördern und einen Teil des Seh- vermögens zu erhalten. Ich bin überzeugt, dass, besonders auch im Hinblick auf die Leber’schen Experimente, diese Bleispritzer-Verletzungen weniger geeignet sind, eine sympathische Ophthalmie hervor- zurufen, und dass wir unter Umständen berechtigt sind, unter diesem Gesichtspunkte die Enukleation als weniger dringend an- zusehen. Ist aber das Auge für das Sehen so wie so verloren, und haben sich die Zeichen einer erheblichen inneren Entzündung eingestellt, so dürfen wir auch in diesen Fällen die Enukleation nicht unterlassen. Ill. Von Orbitalverletzungen (durchweg Schüsse) hatten wir bei unsern 600 stationären Kranken rund 63 Fälle (also 11 pCt.) zu verzeichnen. Es handelte sich durchweg um perforierende Schussverletzungen, sei es von der Seite her durch die Wandungen der Orbita oder auch in der Richtung von vorn nach hinten. Hier überwog bei Weitem die Verletzung durch das Infanteriegeschoss, seltener waren die Verwundungen durch Schrapnellkugeln und Granatsptitter. In 83 pCt. dieser Fälle kam es zum Verlust des Auges, und oft musste enukleiert oder exenteriert werden. Bei dem retro- bulbären Eindringen des Projektils von der Seite her in und durch die Orbita fanden sich meistens schwere intraokulare Ver- änderungen (Hämorrhagien, exsudative Prozesse, Zerreissung der Aderhaut und Netzhaut, auch der Sklera usw.). Wiederholt haben wir vollständige Durchreissung des Sehnerven dicht hinter dem Bulbus gesehen, und in diesen Fällen waren die intraocularen Veränderungen besonders stark. Mehrfach war vom Sehnerven- Eintritt gar nichts zu sehen und die Netzhautgefässe ganz ver- schwunden, offenbar infolge von Durchreissung auch der Retinal- gefässe dicht hinter dem Bulbus. Mächtige weisse Exsudationen, Blutungen usw. bedeckten die Gegend des hinteren Augenpoles. Beim Eindringen des Geschosses im hinteren Abschnitt der Orbita konnten trotz Erblindung des Auges die intraocularen Veränderungen relativ gering sein, aber das war selten, und sie fehlten eigentlich niemals ganz. Das Bild der Chorioidalrupturen war ausserordentlich mannigfach, sowohl nach Verlauf als Lokalisation. Die typische konzentrische Ruptur der Chorioidea nm die Pupille herum, wie bei der Oontusio bulbi von vorn her, war selten, dieselben sassen sehr häufig auch in der Peripherie und entsprachen zum Teil direkt der Einwirkung des an der Stelle den Bulbus an der Aussenfläche streifenden Geschosses. Ja, gelegentlich fand diese Schlesische Gesellsch. f. vaterl. Cultur. 1915. IT. 50 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Culiur. Wirkung des Geschosses in einer langen bahnartigen Zerreissung der Chorioidea ihren Ausdruck, entsprechend der Flugrichtung des Geschosses. Aber sicher ist nicht immer eine direkte tan- gentiale Berührung des Geschosses mit der Sklera nötig, um Chorioidalrupturen hervorzubringen. Auch weiter retrobulbär eindringende Geschosse können durch ihre raumbeengende Wir- kung in die Orbita mit gleichsam explosiver Wirkung Chorioidal- und auch Netzhautrupturen hervorrufen. Das Bild wird dadurch ausserordentlich vielgestaltig, so wie wir es in Friedenszeiten eigentlich niemals zu Gesicht bekommen. .; Dass Augenmuskelstörungen hierbei sehr häufig sind, ist verständlich. Nur in vereinzeiten Fällen dieser Krankheitsgruppe müsste die Läsion des Opticus und der Augenbewegungsnerven auf eine Orbitalfraktur speziell auch Fissur des Canalis opticus zurück- geführt werden. Was nun die Frage von der Extraection von Fremd- körpern aus der Orbita anbetrifft, so bin ich der Ansicht, dass Infanteriegeschosse, Schrapnellkugeln und grössere Granat- splitter auf alle Fälle entfernt werden müssen, sie werden auf die Dauer von dem Patienten nicht vertragen werden. Kleinere Fremdkörper, Granatsplitter infolge von Minenexplosionen usw. kann oder muss man sogar häufig in der Orbita lassen, wenn sie relativ reizlos einheilen. Es steht hier die Grösse des Eingriffs, besonders bei tief in der Orbita sitzenden Fremdkörpern nicht in Einklang mit dem Nutzen, den man dem Verwundeten eventuell schaffen kann. Ich habe Fälle gesehen, wo Projektile wie Tesching- kugeln, ja selbst Revolvergeschosse kleinen Kalibers reizlos und ohne wesentliche Beschwerden für den Kranken eingeheilt sind, von den Schrotschussverletzungen gar nicht zu reden, wo es geradezu unklug wäre, tief in der Orbita sitzende Schrotkörner entfernen zu wollen. Die letzteren Verletzungen gehören ja eigentlich nicht za den Kriegsverwundungen, und doch habe ich 2 Schrotschussverletzungen im Kriege unter unseren Verwundeten gesehen, das eine Mal auf der Hasenjagd hinter der Front und das zweite Mal bei unvorsichtigem Hantieren mit einem Tesching. In einer ganzen Reihe von Fällen wurden grössere Fremd- körper (Infanteriegeschosse, Schrapnellkugeln und Granatsplitter) z. T. von mir, z. T. in anderen Kliniken (chirurgische, Ohren- klinik) bei unsern Verwundeten aus der Orbita oder deren Um- gebung entfernt nach genauer Feststellung durch die Röntgen- aufnahme. Ich bin hierbei ohne die Kraenlein’sche Resektion ausgekommen und direkt in die ÖOrbita eingegangen. Hierbei hatte einmal die Schrapnellkugel den Bulbus von vorn doppelt perforiert und war im hintern Teil der Orbita stecken geblieben. In einem andern Falle wurde nach seitlichem Eindringen der Schrapnellkugel in die Orbita von Kollegen Küttner der Schuss- kanal selbst erweitert unter Schonung des Orbitalrandes und das Geschoss extrahiert. Zweimal war die Entfernung von Infanterie- geschossen sehr leicht, nachdem sie durch die Orbitalwand von hinten her bis unter die Conjunetiva vorgedrungen. Mehrfach I. Abteilung. Medizinische Sektion. 51 wurden Infanteriegeschosse, welche die Orbita durchschlagen hatten und in der Nachbarschaft (Schläfengegend, Nase, Ober- kieferhöhle) stecken geblieben waren (das Letztere war 2 mal der Fall) entfernt. Im ganzen tut man gut, starke entzündliche Reaktionen, sei es der Orbita oder deren Umgebung, wie sie durch Wundinfektion hervorgerufen werden, erst bis zu einem gewissen Grade abklingen zu lassen, bevor man operiert; es sei denn, wie bei uns in 'einem Fall, dass eine starke Orbitalphlegmone in ganzer Ausdehnung zum sofortigen Eingriff zwingt. Im ganzen war der Steckschuss in die Orbita nicht häufig. Eine Sammlung von extrahierten Geschossen und grösseren Fremdkörpern haben wir nicht anlegen können, da die Verwun- deten den grössten Wert auf deren Besitz legten, den wir ihnen auch nie streitig machten. Sie sind den Kriegern wertvolle An- denken, zumal wenn die Sache noch gut abgelaufen war. Auch unsern Einwand, dass diese Geschosse doch eigentlich Staats- eigentum seien, wollten sie nicht gelten lassen, und ein Patient, dem ich heute noch eine Schrapnellkugel aus der Oberkieferhöhle entfernte, erwiderte: „Aber es ist doch eine russische Kugel.“ Nun, diesem Einwand gegenüber liess ich jeden Widerspruch fallen. Ein anderer Kranker liess sich aus einem grossen Granatsplitter, der ihm in der Ohrenklinik aus der Nase entfernt wurde, eine Broche für seine Mutter fertigen und einen kleineren, den wir aus der Orbita entfernten, fand er gleichfalls nach seiner Vergoldung für einen Schmuckgegenstand geeignet. IV. Ein bemerkenswertes Kapitel waren die Hinterhaupts- schüsse gewöhnlich mit hemianopischen Gesichtsfeld- störungen, von denen ich vor kurzem in dem Klin. Monatsbl. für Augenheilk., 1915, Bd. 55, S. 104 Genaueres mitgeteilt habe. Im ganzen sind es bis jetzt 15 Fälle. Sie finden, m. H., die Gesichtsfelder und die Photographien der Kopfschüsse zum Teil auch Röntgenaufnahmen hier zusammenhängend ausgestellt. Das Bild und die klinischen Erscheinungen dieser Hemianop- sien sind vielfach ganz abweichend von dem, was wir für ge- wöhnlich auf dem Gebiete der thrombotischen Hirnerweichung und der Hirnblutung zu Gesichte bekommen. Von diesen 15 Fällen war die hemianopische Gesichtsfeldanomalie 10mal doppelseitig, aber durchweg nur ®artiell, so dass wir eine dauernde totale Er- blindung glücklicherweise nicht zu verzeichnen haben. Ganz ab- weichend von dem Bilde der Hemianopsie bei Hirnerweichungen und Hirnblutungen ist z. B. das nicht seltene Auftreten der dop- pelseitigen Hemianopsia inferior in verschiedenen Variationen, so wie wir sie für gewöhnlich fast niemals sehen. Bei den Schussverletzungen (gewöhnlich Infanteriegeschosse), welche in der Regel in mehr oder weniger querer Richtung das Hinterhaupt mit Verletzung des Knochens und des Gehirns treffen, ist eben alles möglich, weil hier die Läsion den ÖOccipitallappen mehr zufällig und partiell zerstört und der Ausfall nicht abhängig ist von der Ausbreitung der die Sehsphäre versorgenden Gefäss- gebiete. Viel häufiger wird hierbei die obere Lefze der Fis- sura calcarina getroffen mit den entsprechenden hemianopischen 4” 52 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Gesichtsfelddefekten nach unten, als die untere Lefze mit Ge- sichtsfeldausfall nach oben. Der unterste Teil des Oceipitallap- pens liegt offenbar mehr geschützt vor derartigen Läsionen. Auch restierende kleine Gesichtsfeldreste in Form einer vorspringenden Zacke excentrisch nach oben und unten von der vertikalen Tren- nungslinie der homogenen Defekte, wie bei unseren Beobachtungen in zwei Fällen, sehen wir bei der Hirnerweichung und -Blutung fast niemals, eine Tatsache, die sich aus der zufällig durch das Projektil eingetretenen Läsion der Hirnsubstanz erklärt. Es handelte sich meistens um Querschüsse durch die oberfläch- lichen Teile der Oceipitallappen mit Läsion des Knochens, indem beide Hemisphären betroffen wurden, während die einseitige Hemi- anopsie bei einseitiger Läsion des Ocecipitallappens bezw. der Seh- strahlung viel seltener war (3mal bei unseren 15 Beobachtungen). Die meisten Verwundeten mit doppelseitiger Läsion der Oceci- pitallappen waren anfangs nach der Schussverletzung ganz oder fast ganz blind (von Stunden bis zu einer Reihe von Tagen). Glücklicherweise aber erfolgte in unseren Fällen immer wieder eine gewisse Restitution der Gesichtsfelddefekte, ja in zwei Fällen sind die doppelseitigen hemianopischen Störungen vollständig zurückgegangen und einige dieser Kranken sind wieder dienstfähig geworden, einer sogar wieder felddienstfähig. Die Erklärung für die anfänglich auftretende völlige, aber dann teilweise wieder zurückgehende Erblindung liegt offenbar in gewissen Veränderungen der Oceipitallappen, welche der Rück- bildung zugänglich sind, ohne dass es zu einer dauernden Zer- störung der Hirnsubstanz kommt (Blutung, Quetschung, Erschütte- rung usw.). Die Gesichtsfelddefekte sind in der Regel streng sym- metrisch, nur gelegentlich kann infolge von Ermüdungserschei- nungen eine Asymmetrie insofern vorkommen, als die Sym- metrie in der Ausdehnung der erkrankten Gesichtsfeldpartie wohl gewahrt bleibt, aber die Intensität der Funktionsstörung auf beiden Augen verschieden ist (absolut und relativ). So zeigte sich in einem Fall der streng symmetrische Gesichtsfelddefekt auf dem zuerst geprüften Auge relativ und dem zu zweit (also nach län- gerer Untersuchungsdauer) geprüften absolut. In einigen Beobachtungen kam es auck zu einer leichten konzentrischen Einenguug der weniger betroffenen Ge- sichtsfeldhälften, die aber zum Teil wohl nur als funktionell bedingt anzusehen war und bald wieder verschwand. Der ophthalmoskopische Befund war ungefähr in der Hälfte der Fälle negativ und blieb es auch während der Dauer der Beobachtung. In den anderen Fällen waren neuritische Erschei- nungen an den Papillen wahrnehmbar, welche zum Teil zurück- gingen, zum Teil aber auch Anzeichen gefährlicher Komplikationen (Hiruabscess) waren. Ja in zwei Fällen trat erst im späteren Stadium Neuritis optica bzw. Stauungspapille ein. Beide sind an Gehirnabscess trotz operativer Entleerung des Eiters zugrunde gegangen. Eine Autopsie wurde nicht gestattet. Bemerkenswert waren sodann noch in einigen Fällen gewisse I. Abteilung. Medizinische Sektion. 55 transcorticale Störungen (Verlust oder Schädigung der optischen Erinnerungsbilder, Störung in der Orientierung, halbseitige Hallu- einationen, Erinnerungsdefekte für die Ereignisse kurz vor, wäh- rend und nach der Verwundung, Hallucinationen bei geschlossenen Augen usw.). Nur einmal bestanden bei einem Hinterhauptsschuss dop- pelseitige centrale Skotome, also das Bild der peripheren Gesichtsfeldstörung. Dieselben fanden in diesem Falle aber auch ihre Erklärung in centralen Retinalveränderungen mit Blutungen. Die Hinterhauptsschüsse ohne Sehstörung waren bei unserem Material selten, sobald eben der Knochen mitverletzt war (drei Fälle), zum Teil fand dieses Fehlen der Sehstörung darin seine Erklärung, dass der Schuss zu weit nach unten den Schädel ge- troffen hatte, unter der Prominentia ocecipitalis, wo die Oceci- pitallappen ihrer Lage nach nicht mehr direkt beteiligt werden konnten. Bei ausgedehnter Verletzung der Schädeldecke und des Oceci- pitalhirns mit hemianopischen Störungen ist, selbst, wenn die Sehstörungen sich bessern, nach längerer Zeit grösste Vorsicht ' geboten, da auch spät eventuell noch schwere Komplikationen nachfolgen können. Gewöhnlich werden die Kranken dauernd dienstunfähig sein, - zwei konnten jedoch als garnisondienstfähig und einer sogar als felddienstfähig entlassen werden. V. Von funktionellen nervösen Sehstörungen wurden 13 Fälle (etwa 2 pCt.) beobachtet. Am häufigsten war der hysterische Blepharospasmus (fünfmal) gewöhnlich im An- schluss an geringfügige Verletzungen des Auges, welche an und für sich infolge der unbedeutenden hervorgerufenen entzündlichen Erscheinungen eine dauernd krampfhafte Kontraktion des Muscul. orbicularis nicht rechtfertigten. In einem dieser Fälle ging der Blepharospasmus später auch auf das andere Auge über und ver- gesellschaftete sich mit hysterischer Amblyopie, Sensibilitätsstö- rungen usw. unter gleichzeitigem Vorhandensein ausgesprochener hysterischer Stigmata. Die geringfügigen Verletzungen waren durch platzende Granaten, hineinfliegende kleine Fremdkörper, chronische Conjunctivitis usw. hervorgerufen. Eine eigentliche hysterische Amblyopie mit konzen- trischer Gesichtsfeldbeschränkung fand sich noch in zwei weiteren Fällen. Neurasthenie mit neryösen Augenbeschwerden (Emp- findlichkeit, Blendung, leichte Ermüdbarkeit usw.) fand sich in 3 Fällen, einmal mit Hemeralopie. Direkte Verletzungen des Augen waren bei diesen Patienten nicht voraufgegangen. Migraene ophthalmigue fand sich einmal. In 3 Fällen (also 1/, pCt.) handelte es sich um Simulation, wo alle Ermahnungen, Hinweis auf eventuelle schwere Bestrafung usw. nichts fruchteten. Wir haben dabei so recht gesehen, wie gefährlich es ist, in Gegenwart des Kranken sein Leiden zu er- örtern und ihm etwa vorhandene geringfügige Veränderungen zu nennen, zumal wenn, wie in zwei von unseren Fällen, die Dia- 54 Jahresberieht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. gnose von anderer Seite nicht richtig gestellt war. Nur 1/, pCt. Simulation ist wenig; und ich kann zur Ehre unserer Verwun- deten und Kranken nur hervorheben, dass der Geist und Mut durchweg ein ausgezeichneter war, und dass mancher den drin- genden Wunsch hatte, wieder ins Feld zu ziehen, wo sein Leiden das unmöglich machte und aus ärztlicher Ueberzeugung ihm die Befürwortung versagt werden musste. VI. Drei schwere Sehstörungen mit einer Erblin- dung durch Methylalkoholgenuss befinden sich unter un- seren 600 stationär aufgenommenen Kriegern. Die Zahl der leichteren und vorübergehenden Sehstörungen bei ambulanter Un- tersuchung war erheblich grösser. Doch will ich auf diese Fälle nicht zurückkommen, da ich seinerzeit in den Klin. Mbl. f. Aughik., Januar 1915, B. 54, S. 48, darüber berichtet habe. VI. Eine Sympathicuslähmung durch Verletzung des Halsstranges mit Beteiligung der Augenzweige infolge von Hals- schuss (Infanteriegeschoss) habe ich einmal gesehen. VIIL Verletzungen des Trigeminus kamen in einer ganzen Anzahl von Fällen, besonders bei den Orbitalschüssen zur Beobachtung. Drei Beobachtungen waren dadurch besonders bemerkenswert, dass einzelne Aeste des V. Nerven betroffen wur- den (einmal der I. Ast, einmal der II. Ast und einmal der II. Ast beiderseits). Der bemerkenswerteste Fall ist unter ihnen, das Eindringen eines kleinen Granatsplitters in das rechte Ganglion Gasseri (Röntgendiagnose) mit Anästhesie im Bereich des I. Trige- minusastes und Gefühllosigkeit der Hornhaut mit sekundären tropischen Störungen derselben, welche den Patienten zeitweise in den Verdacht des Simulanten und der willkürlichen Hervor- rufung oberfächlicher Hornhautläsionen brachten. Ich will auf diese Fälle hier nicht näher eingehen, da ich dieselben schon in einer früheren Mitteilung in den Klin. Mbl. f. Aughlk., 1915, Bd. 54, S. 391, berücksichtigt habe. IX. An plastischen Lid- und Gonjunctivaloperatio- nen hat uns der Krieg ein reiches Material zugeführt. Ich kann hier naturgemäss auf die einzelnen Fälle nicht eingehen, sondern habe es vorgezogen, ihnen im Bilde ein Kollektivausstellung un- serer Fälle zu veranstalten. Sie finden nebeneinander Photo- graphien des Patienten vor und nach der Öperation. Die Fricke’sche Plastik mit gestieltem Lappen beherrscht in erster Linie dies Öperationsgebiet. Ich kann zu meiner Freude berichten, dass es mir in allen Fällen gelungen ist, trotz oft grosser Zerreissungen und Zer- trämmerungen der Lider und benachbarter Teile des Auges dem Patienten das Tragen eines künstlichen Auges zu ermöglichen. Freilich hat in einem Teil der Fälle der Kosmetik nicht vollauf Genüge geschehen können und der Augenkünstler hat zum Teil sein Bestes tun müssen, um bei starker Verengerung und Ent- stellung des Conjunetivalsackes das Einsetzen einer Prothese zu ermöglichen, aber es ist doch bei allen gelungen, dies zu be- werkstelligen. Aber selbst bei völliger Zerstörung des Conjunctivalsackes I. Abteilung. Medizinische Sektion. 55 und der Lider sind wir nicht ganz ohnmächtig. Es gelingt in derartigen Fällen eventuell auch noch durch Herstellung einer Moulage, welche an einem Brillengestell befestigt wird, die Ent- stellung wenigstens leidlich zu verdecken. Ich kann in dieser Hinsicht nur auf die wirklich künstlerische Herstellung solcher Moulagen von Müller- Wiesbaden verweisen. Die Militärverwaltung hat in dieser Hinsicht bei der Be- schaffung von künstlichen Augen und Prothesen für die Verwun- .deten immer das grösste Entgegenkommen gezeigt. | X. Von den bisher behandelten 600 stationären Kriegs- Augen- kranken oder Verwundeten haben wir 6 durch den Tod verloren (also 1 pCt.), 2 durch aceidentelle Krankheiten (Typhus, Nephritis) und 4 durch die Verwundungsfolgen (Kopfschüsse mit anschliessen- dem Hirnabscess, resp. Meningitis). Der Krieg hat uns sowohl auf klinischem als operativem Gebiet Vieles gelehrt, und ich gebe mich der Hoffnung hin, dass Manches von dem unseren Verwundeten und auch nichtverwun- deten Augenkranken für die Zukunft zugute kommen wird. Jeden- falls soll es unser Bestreben sein, in diesem Sinne mit Aufbietung aller Kräfte weiter zu arbeiten. XI. Und nun, m. H., komme ich zum Schluss zu unserm schmerzlichsten und ergreifendsten Kapitel der Kriegsaugenver- letzungen, es sind das die doppelseitigen und dauernden Erblindungen. Ich schätze das Verhältnis derselben zu den einseitigen Erblindungen ungefähr auf 1:10 nach meinen Erfah- rungen. Im ganzen habe ich bisher 32 derartige Fälle in meiner Beobachtung gehabt. Am häufigsten (18 mal, also in über der Hälfte der Fälle) ist es die direkte Zerstörung beider Augen und zwar in ca. 50 pÜt. der Fälle durch Infanteriegeschosse, die übrigen infolge von Ver- letzungen durch Granatsplitter, Handgranaten, Minenexplosionen usw. Da unser Material zumeist aus dem Bewegungskriege vom östlichen Kriegsschauplatze stammte, so möchte ich glauben, dass z. B. auf dem westlichen Kriegsschauplatze mit seinem Stellungs- kriege, Artillerie-, Handgranaten- und Minenkämpfen das Verhältnis der verletzenden Ursachen ein anderes ist und die Verwundung durch Infanteriegeschosse mehr zurücktritt. In 20 pCt. waren es die ominösen Querschüsse durch beide Orbitae (meistens Gewehrschüsse, welche unter mehr oder weniger starken orbitalen Zerstörungen und Sehnervenverletzungen zur Erblindung führten. Einmal führte ein Hinterhauptsschuss zur doppelseitigen Amaurose auf dem Wege der sekundären Meningitis mit neu- ritischer Opticus-Atrophie.e Wir haben gesehen, wıe die Hinter- hauptsschüsse mit ihren direkten Hirnläsionen wohl meistens zu Sehstörungen, auch vorübergehenden Erblindungen, aber sonst nie zu dauernden totalen Amaurosen führten. Die Methylalkohol-Vergiftung ist unter diesen 32 Fällen einmal als Ursache der doppelseitigen dauernden Erblindung ver- treten. Meistens waren diese Sehstörungen leichterer Natur und gingen oft vollständig zurück. 56 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. In einem Fall war es eine intracranielle Erkrankung (Tumor) mit sekundärer Stauungspapille und Opticus Atrophie, welche das Sehen des Kranken vernichtete. Es drängt sich uns immer wieder die Frage auf, und sie wird oft von dritter Seite an uns gestellt: Wieviel Kriegsblinde werden wir am Ende des Krieges haben? Die Frage ist zurzeit noch nicht sicher zu beantworten. Aber, wenn ich die bisherigen eigenen Beobachtungen von 32 Fällen in meiner Eigenschaft als beratender Ophthalmologe der Reserve- und Festungslazarette des 6. Armeekorps in Betracht ziehe, ferner den Umstand, dass auch in andern schlesischen Lazaretten eine ganze Anzahl von Kriegs- blinden vorhanden ist, die mir nicht zu Gesicht kommen und dass bisher schon ungefähr 50 kriegsblinde Schlesier gemeldet sind, so glaube ich, dass wir auf mindestens 1000 Kriegsblinde rechnen müssen, und ich fürchte, es werden mehr werden. Unser ärztliches Können ist ja leider auf diesem Gebiete oft nur ein sehr beschränktes. Wir können wohl die Wunden heilen, den Kranken tunlichst von seinen Schmerzen und Beschwerden befreien, die Entstellungen nach Möglichkeit bessern durch plasti- sche Operationen und Einsetzen von Prothesen, aber leider das Sehen nicht mehr retten. Es hat wohl etwas Tiefergreifendes, wenn wir gelegentlich sehen, wie auch der Totalblinde oft noch dankbar und erfreut ist, wenn es uns gelingt, ihm die Möglich- keit zu schaffen, 2 künstliche Augen zu tragen. Aber schliesslich müssen wir Aerzte unser Rüstzeug zur Seite legen und den Platz dem Blindenunterrichte und der Blinden- fürsorge räumen, es hat jetzt die Blindenfürsorge im weitesten Sinne des Wortes einzusetzen. Doch das ist ein wichtiges Kapitel für sich, ich kann bei der beschränkten Zeit nur darauf bindenten. Es wird uns in einer der nächsten Sitzungen eingehender be- schäftigen. V. Der Blinde als Berater des Blinden und in der Blindenfürsorge. Von Dr. phil. Ludwig Cohn. Wenn ich die grosse Ehre habe, bei Ihnen hier gewissermaassen als der Ratgeber für Blinde und Blivdenfürsorge zu sprechen, müssen Sie mir bitte gestatten, Sie über meinen Werdegang zu orientieren, damit Sie ersehen können, dass meine Wünsche und Vorschläge nicht auf Theorien, sondern auf aus der Praxis hervor- gehenden Erfahrungen beruhen. Ich erblindete im siebenten Jahre an doppelseitiger Netzhaut- ablösung wahrscheinlich erblich. Es ist vielleicht medizinisch von Interesse, wie die Blindheit in unserer Familie verbreitet ist. An doppelseitiger Netzhautablösung waren erblindet: Ein Onkel meiner Grossmutter väterlicherseits, zwei ihrer Töchter, ein Neffe, der Sohn einer Cousine, fünf Enkeisöhne, davon drei in einer Familie; an einseitiger Netzhautablösung leidend: meine Grossmutter selbst, zwei Söhne, zwei Enkelsöbne (darunter der Bruder der drei blinden Enkelsöhne), zwei Enkeltöchter. Ich genoss in der Blindenanstalt zu Leipzig meine Ausbildung. Diese war nicht nur schulmässig, sondern erstreckte sich auch auf gewerbliche und technische Unterweisungen. Mein Direktor, der den Standpunkt vertrat, dass Geistesbildung für den Blinden etwas Nebensächliches, zum mindesten nichts Wichtiges sei, legte auf die Ausgestaltung des Schulunterrichts nur wenig Wert, weit mehr indes pflegte er die gewerbliche und technische Unterweisung. Es war eine richtige Erwägung von ihm, dass auf der manuellen Ausbildung in aller erster Linie der Fortschritt beruhe, den das blinde Kind auf allen weiteren Gebieten machen kann. Deswegen liess er, was jetzt allerdings längst nicht mehr der Fall ist, neben dem Schulunterricht gleichzeitig die gewerbliche Ausbildung her- gehen. Während wir am Vormittag im Unterricht sassen, ver- brachten wir den Nachmittag in der Werkstätte, und als ich im Alter von 12 Jahren das Institut verliess, war ich in die dort gelehrten Gewerbe soweit eingedrungen, dass ich sie hätte berufs- mässig betreiben können. 58 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Daneben aber wurde grosser Wert darauf gelegt, dass wir zu allen häuslichen Verrichtungen herangezogen und mit allem vertraut gemacht wurden, was zur Hauswirtschaft im weitesten Sinne mit Hof und Garten gehört. Wir deckten den Tisch, wuschen und trockneten das Geschirr ab, stellten es an seinen Platz, hatten Oefen zu heizen, Metallbeschläge, Fenster zu putzen, Treppen und Fussböden zu säubern, den Garten in Ordnung zu halten, Kohlen zu schippen und Holz zu spalten, unsere eigenen Sachen in Ordnung zu bringen, kurz und gut es gab nichts, was wir nicht hätten tun müssen. Das alles aber erlernte ich von meinem siebenten bis zwölften Jahre. Auf den Wert dieser Ausbildungszeit komme ich noch zurück. Eine eigentliche Blindenausbildung kennen wir erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Sie kam von Oesterreich und setzte in Deutschland mit der Gründung zahreicher Blindenanstalten lebhaft ein. Von Anfang an nahm der Blinde infolge seiner ganz spezifischen Ausbildung eine Sonderstellung ein, man sprach eben von dem Typus „der Blinde“. Nachdem seine schulmässige und gewerbliche Ausbildung im Institut erfolgt war, wollte man ihn nicht hinaus ins Leben schicken, weil man meinte, er werde sich nicht behaupten können, und so liess man ihn entweder weiter in der Anstalt oder in einem mit der Anstalt verbundenen Asyle arbeiten. Erst ganz allmählich schickte man diesen oder jenen Handwerker hinaus und zwar vorzugsweise aufs platte Land, wo er aber immer noch der Obhut seiner Anstalt unterstellt blieb. Um ihn zweckmässig und auch mit einigem pekuniären Erfolg beschäftigen zu können, bildete man den Blinden in ganz be- stimmten Berufen aus, Stuhlflechterei, Korbmacherei, Seilerei, Bürstenbinderei, später trat Klavierstimmerei und Musik und neuerdings die Massage hinzu. So ist es bis in die neueste Zeit geblieben. Der Typus „blind“ kann äusserlich dadurch am besten bekämpft werden, dass man den Blinden in seinen Bewegungen exakt und sicher macht. Darauf zielte die Ausbildung ab, die ich eingangs aus meiner Schulzeit erwähnte. Der Blinde darf nicht unsicher tappen, nicht die Hände tastend ausstrecken, er muss lernen, Hindernisse zu fühlen, kurz bevor er anstossen würde, und das lässt sich leicht anerziehen. Als ich mit einem ebenfalls blinden Freunde eine Wanderung durch den Berliner Tiergarten machte, merkten wir zu gleicher Zeit, als wir uns einer Stange näherten, die in einer Höhe von etwa einem halben Meter quer über den Weg ragte, ohne dass wir angestossen wären. Wenn ich Blinde zur Ausbildung übernehme, so ist stets meine erste Sorge, sie an Sicherheit und Bestimmtheit in ihrem Auftreten zu gewöhnen. Nur so kann der Blinde vollwertig unter Sehenden sein. Es ist eine unbedingte Notwendigkeit, auf das Seelenleben später Erblindeter dadurch heilend einzuwirken, dass man sie so rasch wie nur möglich einer Beschäftigung oder Vorbereitung dafür zuführt. Ganz be- sonders gilt das von den Kriegsblinden, die ihre Lage zunächst als ganz ausserordentlich schlimm empfinden und leicht geneigt sind, sich untätig nutzlosen Grübeleien oder dem Gedanken hin- I. Abteilung. Medizinische Sektion. 59 zugeben, von ihrer Rente leben zu wollen. Da ist es denn ganz falsch, ja schädlich, wie das leider geschieht, die Blinden in Heime zu stecken, die, ad hoc gegründet, mit einem unverhältnismässig hohen Aufwand ihren Insassen ein Leben in Freude und Wonne bieten, dessen springender Punkt die Behaglichkeit und Wohligkeit ist, die sie für alles, was sie gelitten und erduldet haben, ent- schädigen soll. So wohlgemeint das auch sein mag, und so sehr die private Liebestätigkeit mithelfen soll, muss doch vor solchen In- stituten gewarnt werden. Der Blinde wird hier verzärtelt, ver- wöhnt und dem Leben entrückt. Wenn er auch in diesem und jenem Handwerk unterwiesen wird, es ist in der ganzen Sache kein Ernst, kein kräftiger Unterton, der für die Wirklichkeit des rauhen Erwerbslebens vorbereitet. Der Blinde darf kein Objekt zur Befriedigung einer Eitelkeit werden, die „im Machen in Wohl- tätigkeit“ einen durch den Krieg geschaffenen neuen Lebenszweck erblickt. Wie für den sehenden Kriegsverletzten behördliche Lazarettschulen zur beruflichen Ausbildung bestehen, so sollten auch für die Kriegsblinden nur die Blindeninstitute in Betracht kommen, in denen sie, allerdings in einem modifizierten Lehr- gange, am besten ausgebildet werden können. Selbstverständlich darf das alte System, das für die jugendlichen Blinden in Geltung steht, bei Erlernen der Schrift und eines Handwerkes nicht in Anwendung kommen, weil sie dann sehr rasch die Lust an der Sache verlieren würden. Es muss schnell und von einer höheren Warte aus gelehrt und jedem die Möglichkeit gegeben werden, so rasch, wie es nur sein kann, grössere Fortschritte zu sehen. Ich bin deshalb durchaus dafür, um einen solchen Lehrgang für alle Fälle einzurichten, und jeden Kriegsblinden dazu bringen zu können, die Ueberführung in ein Blindeninstitut nach erfolgter medizinischer Ausheilung sofort eintreten und den Aufenthalt im Institute als weiteren Lazarettaufenthalt gelten zu lassen. Dem- entsprechend müsste die Einleitung des Rentenverfahrens erst dann einsetzen, wenn der Blinde etwa 3 Monate in der Ausbildung steckt, so dass es etwa nach fünfmonatlicher Ausbildung abge- sehlossen wäre. Damit wäre der unschätzbare Vorteil erreicht, dass der Blinde schon so viel gelernt hätte, dass er Lust hat, nun zu Ende zu lernen, während, wenn das Rentenverfahren noch in der Klinik seinen Abschluss findet, er sofort heimgeht, und es besteht dann die Gefahr, dass er einer Ausbildung ganz verloren geht, wie wir es jetzt schon oft gehabt haben. Aber da muss unbedingt gefordert werden, dass die gesamte Ausbildung eine rasche und unentgeltliche ist, während jetzt da und dort die Ein- richtung besteht, dass der Kriegsblinde einen Beitrag zu geben hat, in Schlesien 10—30 Mk. monatlich. Das darf nicht sein. Dieses kleine pekuniäre Opfer sind wir denen schuldig, die dem Vaterlande ihre gesunden Augen geopfert haben. Diejenigen, für die ein in der Blindenanstalt gelehrtes Handwerk nicht in Betracht kommt, sollten nach kurzer Ausbildung in der Schrift, soweit diese nicht schon während der Lazarettbehandlung gelehrt werden kann, ihrem neuen Berufe ebenfalls unverzüglich zugeführt werden. 60 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Für eine weitere oder neue Ausbildung in geistigen Berufen em- pfiehlt es sich, die Auskunftsstelle des Reichsdeutschen Blinden- verbandes bei Herrn Vogel in Hamburg, Hufenerstr. Nr. 122, und die Beratungsstelle der neu gegründeten Schlesischen Blinden- bücherei bei mir selbst in Breslau, Charlotterstr. 1, in Anspruch zu nehmen. Für den Aufenthalt im Blindeninstitut sei noch ge- sagt, dass, wenn es der Raum gestattet, eine eigene Militärabtei- lung unter Leitung eines Feldwebels einzurichten ist, damit die blinden Soldaten nicht der Schulleitung, sondern weiter einer militärischen Leitung unterstehen. Wenn das auch alles neue, gänzlich ungewohnte Gedanken sind, so werden wir ihrer Ver- wirklichung doch näher treten müssen, um vorwärts zu kommen. Die selbständigen Handwerker werden in dankenswerter Weise von Blindenanstalten und Fürsorgevereinen durch Vermittlung des Rohmaterials und des Absatzgebietes (häufig sind die Anstalten selbst die - Kunden) unterstützt. Doch in den meisten Fällen reicht dieser Erwerb nicht recht aus, und es tritt noch ven irgend einer Seite eine Barunterstützung hinzu. Von den 34000 Blinden, die es im Deutschen Reiche gibt, sind rund 28000 älter als 18 Jahre, könnten also im Erwerbsleben stehen. Von diesen 28000 sind rund 6000 erwerbstätig. Ein steuerfähiges Einkommen aber hat nur ein ganz verschwindend kleiner Teil. Die meisten werden von einem Fürsorgeverein oder von einer Ortsbehörde unterstützt. Nun drängt sich die Frage auf, befinden wir uns für die Gegen- wart und Zukunft auf dem richtigen Wege, wenn nicht, gibt es denn eine Möglichkeit, einen anderen zweckmässigeren Weg ein- zuschlagen? Ich verneine die erste und bejahe die zweite Frage. Nach meinem Gefühl ist im Blindenwesen ein Fehler gemacht worden. Man hat allzulange mit dem Typus „der Blinde“ ge- arbeitet. Man hat sich von der früher zutreffenden Erwägung zu lange leiten lassen, der Blinde muss im ganzen Leben, vor allem im Erwerbsleben, eine Sonderstellung einnehmen, die ihm nur dadurch erhalten werden kann, dass er in den alten Bahnen lebt und unter dem Schutze der Fürsorge steht. Ich gebe unbedenk- lich zu, dass diese Erwägung heute noch für einen grossen Kreis zutrifft, dass es zahlreiche Blinde gibt, die wirtschaftlich schwach sind und deren Kräfte und Fähigkeiten für einen höheren Flug nicht ausreichen. Demgegenüber aber gibt es wieder zahlreiche Blinde, die unter dieser Unfreiheit dadurch leiden, dass Fähig- keiten und Kräfte, die in ihnen ruhen, nicht entwickelt werden und dadurch nicht zur Entfaltung gelangen können. Es ist selbst- verständlich ungemein schwer, und ich selbst kenne die Schwierig- keiten vielleicht am besten, dass sich der Blinde mit Vorteil für sein Leben individuell entwickelt, dass er, von der alten Bahn ab- gehend, sich zu einem Berufe vorbildet, der seinen Fähigkeiten und Neigungen entspricht. Und doch drängt die Entwicklung dazu. Gerade dadurch, dass wir die Gebundenheit des Typus hatten, kamen wir zu keinen höheren Leistungen. Der Blınde bat gelernt sich frei zu bewegen. Die Ausbildung in meinem Institute, wie ich sie eingangs skizzierte, war durchaus geeignet, den Blinden selbständig und sicher zu machen I. Abteilung. Medizinische Sektion. 61 und ihn so zu emanzipieren, dass das Gefühl in ihm aufleben konnte, er ist ein gleichwertiges und nützliches Mitglied der Gesellschaft, wenn ihm nur die Gelegenheit zur Entfaltung ge- geben würde. Ich halte es für richtig und wichtig, dem Blinden das wirtschaftliche Risiko nicht bedingungslos abzunehmen, wie es bisher fast durchgehends der Fall war, sondern ihn auch, sagen wir unter denselben Bedingungen, wie den Sehenden, in das Wirtschaftsleben zu stellen, wenn er nur annähernd die Gewähr bietet, vorwärts. zu kommen. Allerdings bietet dabei die Berufswahl eine grosse Schwierigkeit, denn die alten Blinden- berufe sind heute nicht mehr konkurrenzfähig, und neue kennt man kaum. Da heisst es die Oeffentlichkeit mobil machen und alle die, die sei es im Handel oder in der Industrie und sonst irgendwo führende Stellungen einnehmen, zu veranlassen, darüber nachzudenken, wo und wie Blinde beschäftigt worden können, dass sie entweder ganz ohne Hilfe oder ohne erhebliche Hilfe eines Sehenden ihre Posten ausfüllen können. Ich selbst habe mich nach dieser Richtung hin verschiedentlich bemüht und bin zu folgendem Resultat gelangt: In selbständiger leitender Stellung kaon sich der Blinde genau so bewähren, wie der Sehende. So habe ich, unterstützt durch eine Sekretärin, das Centralbureau von 56 Fürsorgevereinen selbständig geleitet, ohne dass Fehler oder Irrtümer vorgekommen waren. In abhängiger Stellung oder in Stellung des Arbeiters kann der Blinde mit geringer Hılfe eines andern durchaus gleichwertiges leisten wie der S«hende. So habe ich z. B. in einer hiesigen Fabrik das Anfertigen von Zigarrenwickeln gelernt, in einer andern verschiedene Verrichtungen auf dem Gebiete der Metallverarbeitung, und gesehen, dass ausser für das Zurechtlegen des Materials kaum eine weitere Hilfe in Betracht kommt. Warum sollte der Blinde in der Hausindustrie und in der Werkstatt neben sehenden Arbeitskollegen nicht beschäftigt werden können, ohne dass der Betrieb oder der sehende Kollege in irgend einer Weise belästigt würde? Ich bin überzeugt, dass es viele Berufe gibt, die für eine vollwertige Beschäftigung des blinden Arbeiters in Betracht kämen. So kenne ich selbständige blinde Kaufleute, einen blinden Vertreter für Bindfaden und Packpapier, einen blinden Agenten in der Baumwollbranche und im Versicherungsgewerbe. Ist es nicht ganz gleichgültig, ob der sehende Vertreter seine Preise und Musterlisten mit den Augen oder ob sie der blinde Vertreter mit den Fingern liest? Ist es nicht einerlei, ob jener sich mit Tinte und Bleistift, dieser mit Blindenschrift Aufträge notiert? Auch ein blinder Eisendreher ist mir bekannt, und ausserdem hörte ich, dass die Heeresverwaltung 20 blinde Arbeiter in der Munitions- fabrik in Spandau eingestellt hat, die dort als Revisoren in der Patronenfabrikation Verwendung finden. Ich bin fest davon über- zeugt, dass es eine grosse Anzahl von Berufen gibt, in denen der Blinde genau so gut wie der sehende Arbeiter sein Brot finden könnte, obne dabei jemandem zur Last zu fallen. Ich denke an alle Gewerbe, bei denen z. B. die Verpackungsarbeiten oder das 62 Jahresberieht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Sortieren eine grosse Rolle spielt; wobei vielfach nur der Tastsinn und nicht das Auge in Betracht kommt. Nicht einer fernen, sondern der allernächsten Zukunft fällt die Aufgabe zu, hier Licht zu schaffen. Denn es ist unbedingt nötig, dass die im späteren Lebensalter Erblindeten, ich denke jetzt im besonderen an die Kriegsblinden, nicht als unfreie Menschen in die alte Kategorie „blind“ hineinkommen und zu weit von ihrer Sphäre abgedrängt werden. Ihre psychische Depression ist ohnehin schon sehr gross, und sie wird, wie ich aus zahlreichen -Unterredungen feststellen kann, dadurch noch grösser, dass sie das unbehagliche Gefühl haben, sie können nichts oder wenigstens nichts Nennenswertes leisten, und werden, wie sie immer sagen, zu einer unwürdigen Tätigkeit, die sie nicht befriedigt, herabgedrückt. Diesem Empfinden muss die Blindenfürsorge unbedingt Rechnung tragen, wenn sie Glück in das Leben ihrer Schützlinge bringen will. Wir haben in Breslau auch schon mit guten Erfolgen diesen Weg beschritten, lassen z. B. bisherige Kaufleute als Maschinen- schreiber ausbilden und suchen selbständige Gewerbetreibende durch zweckmässige Unterweisung und Zustellung von Hilfsmitteln ihrem Wirkungskreise zu erhalten. Dasselbe gilt auch von den geistigen Berufen, die mit wenig Ausnahmen von den Blinden in genau derselben Weise gepflegt und gehandhabt werden können, wie von Sehenden. Gymnasial- und Universitätsausbildung oder Seminarbesuch bietet keine erheblichen Schwierigkeiten, mit Fleiss und Energie ist da alles zu machen, und die späteren beruflichen Leistungen stehen ebenfalls denen Sehender nicht nach. Ich selbst habe z.B. schon auf zahlreichen Kongressen als Berichterstatter für verschiedene Blätter fungiert, habe mit Hilfe der Blindenkurz- schrift die Vorträge und Verhandlungen so aufgenommen, dass die Uebertragung mit der Schreibmaschine schnell und vollständig erfolgen konnte. Welchem Studium aber der blinde Akademiker sich auch widmet, bisher scheiterte alles an der Möglichkeit, später angestellt oder seinen Kenntnissen entsprechend beschäftigt zu werden. Einer unserer grössten Chefredakteure sagte mir vor etwa 15 Jahren, als ich ihn fragte, ob er mich nicht beschäftigen könnte: „Wir haben doch soviel sehende Journalisten, die wir in erster Linie berücksichtigen müssen!“ Diese Antwort ist typisch. Auch auf allen andern Gebieten, auf denen sich der Blinde be- schäftigen könnte, steht ihm das Vorurteil der öffentlichen Meinung und die ablehnende Haltung aller derer, die in erster Linie für seine Beschäftigung in Betracht kämen, hemmend im Wege. Ich selbst habe nach dieser Richtung hin die traurigsten Erfahrungen gemacht, die mich, wenn ich nicht ein unverwüstlicher Optimist wäre, schon oft niedergedrückt und missmutig gestimmt hätten. Wenn man anklopft, wird man an der Tür sehr freundlich empfangen, muss dann aber doch unverrichteter Sache draussen stehen bleiben. Man glaubt nicht so recht an die Vollwertigkeit der Leistungen Blinder, und man hat nicht den Mut, sich einmal versuchsweise zu überzeugen. Alle Theorien, alle Vorschläge und alle Wünsche sind müssig, wenn hier kein Wandel geschaffen werden kann. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 63 Wenn mit einem Blinden nur einmal an maassgebender Stelle ein solcher Versuch gemacht und ein positives Resultat erzielt würde, das von hier aus nach aussen hin bekannt werden könnte, dann wäre sichtlich mit Erfolg Bresche geschlagen. So versteht z. B. der blinde Lehrer Disziplin und Ordnung zu halten wie der Sehende, und die Neigung des Schülers, den Lehrer zu hinter- gehen, hat beim blinden Lehrer vielleicht noch weniger Erfolg als beim sehenden. So haben mir Eltern meiner Schüler schon oft gesagt, die Kinder haben voller Staunen daheim erzählt, dass ich im Augenblick, als der Junge ablesen wollte, obgleich ich entfernt von ihm stand, ihm das untersagte. Während der letzten zwei Jahre habe ich einen tauben (aber sehenden) Knaben unter- richtet, dem ich alles, was zur Volksschulbildung gehört, nebst Französisch beigebracht habe. Ich habe einen Schüler, der erst nach vielen Wochen meine Blindheit bemerkt hat, mich nur für kurzsichtig hielt. Solche Beispiele könnte ich von mir und andern häufen. Eins aber muss unbedingt gesagt werden, wenn wir das Prinzip, das Individuelle im Blinden auszubilden, verfolgen wollen, dann ist es von unbedingter Wichtigkeit, dass sich der Blinde selbst über seine Grenzen klar ist und nicht mehr erstreben oder erzwingen will, als er leisten kann. Dass er im Leben einen schweren Kampf zu kämpfen hat, gilt mir nicht als Hinderungs- grund, denn ich vertrete den schon ausgesprochenen Standpunkt, dass der Blinde keineswegs aus der Reihe der wirtschaftlich produk- tiven Menschen treten solle. Gerade das Kämpfen und sich bewähren müssen stählt ihn und veranlasst ihn, die Kräfte, die er hat, zu heben und zu fördern. Wohl sehe ich ein, dass z. B. für den blinden Arbeiter oder Angestellten der Verlust seiner Tätigkeit eine grössere Gefahr bildet als für den sehenden Arbeiter, und deshalb halte ich es für richtig, dass die Blindenfürsorge in dieser Weise erweitert wird, dass in letzter Linie jeder Blinde im Falle der Erwerbslosigkeit einen gewissen Rückhalt findet. Ich komme hiermit nicht auf den ursprünglichen Zustand der Fürsorge zurück, sondern ich meine damit nichts anderes, als das Genossenschafts- oder Versicherungswesen, das ja auch für den sehenden Arbeiter oder Angestellten einen Rückhalt in ähnlicher Weise bietet. Endlich halte ich es wenn auch nicht für ein Erfordernis, so doch für eine grosse Wichtigkeit, dass der Blinde, wenn irgend möglich verheiratet ist, selbstverständlich mit einer Sehenden. Seine wirtschaftliche Leistungsfähigkeit wird dadurch ganz be- deutend erhöht, sein Verantwortlichkeitsgefühl macht ihn tüchtiger und strebsamer, und das Bewusstsein, verständnisvoll geleitet zu sein und für seine fehlenden Augen einen Ersatz zu haben, durch den ihm die Aussenwelt näher gebracht wird, bringen eine Freude und eine Harmonie in sein Leben, die geeignet sind, ihn in Verbindung mit den Erwerbserfolgen glücklich und zufrieden zu machen. Das muss das erste und letzte Ziel einer verständnis- vollen Blindenfürsorge sein, glückliche und zufriedene Menschen zu schaffen, und das ist nur möglich, wenn, um es noch einmal zusammenzufassen, bei der Ausbildung der eigentlichen Kräfte und Fähigkeiten die Möglichkeit geboten wird, an die Stelle des 64 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Erwerbslebens zu treten, für die der einzelne befähigt und berufen ist; und wenn er das Bewusstsein hat, dass die Blindheit in den Kreisen der Sehenden nicht als Hinderungs- oder als Ablehnungs- grund angesehen wird, dann wird der Blinde nicht mehr die Belastungsziffer der Volkswirtschaft erhöhen, sondern er wird, indem er Lebenswerte schafft, eine werbende Kraft in der Zahl der volkswirtschaftlich produktiven Personen darstellen. Es ist meine unumstössliche Ueberzeugung, dass Blindheit weder das grösste Gebrechen, noch überhaupt wirklich ein Unglück zu nennen ist. Das fehlende Auge lässt sich durch eine gute Schulung des Tastsinnes, des Gehörs und des Orientierungs- vermögens fast vollständig ersetzen, so dass der Blinde nur in der vollen Bewegungsfreiheit auf Strassen oder unbekannten Orten ein wenig gehemmt ist. Im übrigen aber darf ihm die Blindheit keine weitere Unbequemlichkeit bieten, geschweige denn, dass sie unerträglich oder schwer erträglich wäre. Der Blinde hat nicht nur die Möglichkeit, sondern, ich betone es, er hat die Pflicht, sich zu einer harmonischen Persönlichkeit zu entwickeln. Er darf nicht mit dem Geschick hadern, sondern er muss für das, was ihm geblieben ist, und für die Möglichkeit, wie er dies alles ausgestalten und nutzbar machen kann, dankbar sein und in sich ein zufriedenes glückliches Empfinden grossziehen. Noch einmal, der Blinde ist kein unglücklicher Mensch, er darf vom Publikum nicht bedauert und bemitleidet, sondern er muss seinem Können entsprechend bewertet und dorthin gestellt werden, wo er sich bewähren kann. Mag für Tausende das ursprüngliche Blindengewerbe, von dem ich oben sprach, auch heute noch in Betracht kommen, für andere Tausende aber, die sich anderweitig besser betätigen und bewähren könnten, muss freie Bahn ge- schaffen werden. Die Tatsache der Erblindung darf kein Hin- derungsgrund sein, z. B. den Beruf weiterzuführen, den, wenn das Auge dabei nicht eine unerlässliche Forderung ist, der Betreffende vor seiner Erblindung betrieben hat. Ich denke an Journalisten, Lehrer, Kaufleute, Industrieangestellte und Arbeiter u. dgl. Wir werden aber hier nie zu positiven Resultaten kommen, so lange die Oeffentlichkeit im Blinden eben nur den „Blinden“ sieht und nicht den vollwertigen Menschen, der nebenbei kein Augenlicht besitzt. Mein Junge hat im Alter von fünf Jahren eine drollige, aber durchaus zutreffende Bemerkung gemacht. Als er einen blinden Leiermann auf der Strasse sah, der sehr unsicher seines Weges ging, sagte er: „Vater, nicht wahr, der arme Mann ist blind, aber Du siehst doch nur nicht.“ Diese Kinderworte könnten das Leitmotiv darstellen für alle die, die gewillt sind, den Blinden zur Lebensfreude und zum Lebensglück zu verhelfen. Mag die Fürsorge in der Form der Vereins- oder Versicherungstätigkeit insofern schützend über den Blinden stehen, als, wie es immer geschah und noch geschieht, dem selbständigen Handwerker den Bezug des Rohmaterials erleichtert, verbilligt und durch Verein oder Blindeninstitut ein gesichertes Absatz- gebiet geschaffen wird, und dass sie weiter all denen, die nicht I. Abteilung. Medizinische Sektion. 65 in dieser Weise sich betätigen, sondern frei im Wirtschaftsleben den Kampf ums tägliche Brot mitmachen wollen, für den Fall der Erwerbslosigkeit einen Rückhalt bietet. Doch sprecht nicht weiter von dem „armen Blinden“, gebt ihm nicht den gebrech- lichen Stab des Bedauerns in die Hand, lasst ihm nicht das Mitleid eine trügerische Führerin sein, begegnet ihm mit Wertung und Wertschätzung, helft ihm alle Kräfte und Fähigkeiten fördern, die geeignet sind, ihn wirtschaftlich vorwärts zu bringen, vor allem aber gebt ihm Gelegenheit sich zu bewähren. Der Erfolg wird sein, dass wir sehen, wie der Blinde Sonne im Herzen und Sonne auf seinem Lebenspfade gleichwertig neben dem sehenden Berufskollegen steht. Schlesische Gesellsch. f. vaterl. Cultur. 1915. I. 5 VI. Ueber Kriegsblinde und Kriegsblinden-Fürsorge. Von W. Uhthoff-Breslau, Berat. Ophthalmologe der Fest.- u. Reserve-Lazarette d. VI. Armee-Korps. M.H.! Als ich Ihnen vor 14 Tagen hier in dieser Gesell- schaft unter dem Titel „Kriegsophthalmologische Erfahrungen und Betrachtungen“ hier über meine Erfahrungen bei unseren 600: stationären augenverletzten und augenerkrankten Kriegern in kurzer summarischer Form berichtete, konnte ich bei der vor- geschrittenen Zeit das letzte, ergreifendste Kapitel von den totalen doppelseitigen Erblindungen unserer tapferen Soldaten nur noch kurz streifen, und doch schliessen sich an die Tatsache der doppelseitigen Erblindung im Kriege so dringende Fragen von fundamentaler Bedeutung an, dass ich auch diese noch in das Bereich meiner Erörterungen ziehen muss. Die Kriegsblinden- fürsorge ist eine so brennende und aktuelle Frage, dass jeder, der an der Hand seiner Erfahrungen in der Lage ist, zu diesem Gegenstande beizusteuern, auch die Pflicht hat, es zu tun. — Die Zahl der Kriegsblinden unserer Klinik hat sich seit meinem letzten Bericht noch vermehrt. In Bezug auf die statistischen Daten verweise ich auf meine früheren Ausführungen. Ich will bei den Einzelheiten der Krankheitsbilder dieser schwer Betroffenen auch heute nicht verweilen; schliesslich müssen wir zurücktreten und dem Blindenlehrer das Feld räumen, nachdem wir nach Möglichkeit die Beschwerden gelindert und die Wunden geheilt haben. Es erfolgt dann die Erklärung von unserer Seite, dass der Blinde der ärztlichen Behandlung nicht mehr bedarf, und sein Rentenverfahren wird eingeleitet. So lange wir glauben, dem Schwerverwundeten ärztlich noch nützen zu können, ist natürlich die Behandlung durchzuführen, und doch werden gelegentlich auch nach der Entlassung aus der ärztlichen Behandlung die Spätfolgen der Verwundung dem Kranken noch verderblich werden können, wie wir es einmal bei einem Quer- schuss durch beide Orbitae mit völliger Erblindung erlebt haben. Die Verwundung lag schon über 1 Jahr zurück, Pat. war frei von sonstigen wesentlichen Beschwerden, er war lange in Ge- I. Abteilung. Medizinische Sektion. 67 fangenschaft gewesen, ausgetauscht worden, nach längerer klinischer Beobachtung der Blindenunterrichts- Anstalt überwiesen und Monate lang dort mit gutem Erfolg unterrichtet worden, als plötzlich eines Tages sich unter heftigen Beschwerden das Bild der ein- seitigen Orbitalphlegmone entwickelte, die unter Eintritt cerebraler Komplikationen in wenigen Tagen wohl auf dem Wege der Venen- thrombose (?) zum Tode führte. Eine Autopsie konnte nicht gemacht werden. Die Kriegsblinden unserer Klinik gehörten den ver- schiedensten Berufsklassen an. Einzelne Berufe wiesen mehrere Vertreter auf (Berufsoffiziere, Landwirte, Arbeiter, Schlosser, Bergleute), aber eine grosse Anzahl anderer Berufe waren auch nur in einzelnen Kriegsblinden vertreten (Oberlehrer, Werkmeister, Fuhrwerksbesitzer, Rechtsanwalt, Holzverlader, Fleischer, Heizer, Kellner, Bureauarbeiter, Konditor, Klempner, Kutscher, Bäcker, Tischler, Böttcher, Schuhmacher, Maurer, Speditionsgehilfe, Schorn- steinfeger). * Von der unbedingten Notwendigkeit der Ausbildung der Kriegsblinden auf dem Wege eines systematischen Blindenunterrichtes sind wir alle überzeugt, und auch der Kriegsblinde selbst verschliesst sich dieser Ueberzeugung fast niemals für die Dauer. Er sieht es selbst ein nach längerer ruhiger Ueberlegung, dass er neue Mittel und Wege finden muss, um seinem Leben einen Inhalt zu geben und an seiner ferneren Existenz selbst für die Zukunft mitzuarbeiten. Wir müssen die psychische Alteration des Patienten infolge seines Unglücks in eingehender und verständnisvoller Weise berücksichtigen und seiner Stimmung Rechnung tragen. Man darf sich nicht darüber wundern, wenn der frisch Erblindete zunächst am Leben verzagt und alle gut gemeinten Ratschläge zurückweist, oder wenn der Blinde, der über ein Jahr in feindlicher Gefangenschaft gewesen ist und nun als Austauschverwundeter in seine Heimat zurückkehrt (4 unserer Fälle), zunächst keinen andern Wunsch bat, als zu den Seinigen zurückzukehren. Und doch wäre es falsch, auch in diesen Fällen dem Wunsche des Blinden sofort nachzugeben. Gerade der erste klinische Aufenthalt des Kranken ist ausserordentlich geeignet, während noch eine ärztliche Behandlung und Beobachtung statt- findet, ihn durch verständnisvolles Entgegenkommen und Zureden mit seinem Schicksal einigermaassen auszusöhnen und allmählich an den Gedanken zu gewöhnen, dass eine Blindenausbildung absolut nötig ist. Wir sind in dieser Beziehung in aufopferungs- vollster und verständnisvoller Weise von Männern unterstützt worden, die nicht nur volles Verständnis und weitgehende Sach- kenntnis für die Bedürfnisse des Kriegsblinden hatten, sondern auch mit ganzem Herzen und tiefem Mitgefühl die Sache förderten. Ich gedenke hier besonders der Bemühungen des Direktors unserer Blindenunterrichts Anstalt, Herrn Schulrat Schottke und des Herrn Dr. phil. Cohn, dessen bedeutungsvollen und hochinteressanten Vortrag Sie soeben gehört haben. Ersterer hat den weiten Weg von der Anstalt bis zu unserer Klinik nicht gescheut und den noch in der Klinik befindlichen Kriegsblinden seine Unterweisungen 5* 68 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. zuteil werden lassen trotz einer enormen Ueberlastung mit Amtsgeschäften. Es ist ihm bei vielen unserer Blinden gelungen, ihnen die Ueberzeugung von der absoluten Notwendigkeit einer Blindenausbildung beizubringen. Ebenso kann ich den Bemü- hungen des Herrn Dr. Cohn nur in grösster Dankbarkeit gedenken, der, selbst im 6. Lebensjahr erblindet, den ganzen Werdegang des Blindenunterrichtes an sich selbst erfahren und sich durch eigne Kraft und Intelligenz eine vollständig selbständige Lebens- stellung und unabhängige Existenz errungen hat. Sie werden seibst, m. H., seinen Ausführungen mit Staunen und Bewunderung gefolgt sein, in denen er uns gezeigt hat, wie weit es ein Blinder aus eigner Kraft und dem Schicksal trotzend mit unbeugsamer Zuversicht bringen kann. Ein solches Beispiel muss auf den Blinden ermutigend und erhebend wirken, und seine Unterredungen und Ratschläge bei unsern Kriegsblinden haben Segen gestiftet. Freilich verfügt nicht jeder Kriegsblinde über ein derartiges Maass von Intelligenz, Selbstverleugnung und Energie wie mein Vor- redner, und auch der im späteren Leben Erblindete findet sich naturgemäss schwerer in sein Schicksal und in die Nengestaltung seines Lebens als der früh Erblindete. Auf eine völlige Ablehnung jeder Beteiligung am Blinden- unterricht bin ich eigentlich nur einmal gestossen, bei einem jungen Krieger in den 20er Lebensjahren. Er erklärte kategorisch, dass es ihm nicht einfiele, sich einem derartigen Unterricht zu unterwerfen und sich noch einmal auf die Schulbank zu setzen. Nun ich gebe auch in diesem Falle die Hoffnung noch nicht auf, unter freundlicher Mitwirkung unserer treuen Helfer den Kranken zu bekehren, nur noch etwas Zeit und Geduld. In einzelnen Fällen haben wir Gelegenheit gehabt, zu sehen, wie zu schneller Abschluss des Rentenverfahrens und Entlassung in die Familie nicht gut auf die Kriegsblinden eingewirkt haben, sie haben sich nicht wieder für den Blindenunterricht gestellt, ich hoffe aber, auch sie werden es später noch tun. Sie werden die Erfahrung machen, dass ein Zuwachs an Können für ihre eigene Existenz unbedingt nötig ist, dass das anfängliche grosse Interesse und Mitleid für ihr Schicksal erlahmt, und dass sie doch wieder mehr auf sich selbst und eigenes Können angewiesen bleiben. Ja, wer bürgt ihnen dafür, dass ihre Hilflosigkeit in vieler Beziehung nicht von andern missbraucht wird, nur die Er- höbung der eigenen Leistungsfähigkeit kann ihnen hier helfen. ‚Auch sind wir Zeugen gewesen, wie der zu den Seinigen zurück- gekehrte Blinde, wenn er aus Mangel an neuen Methoden der Arbeit zur Untätigkeit verdammt war, nicht nur selbst ein un- glückliches und unzufriedenes Dasein führt, sondern auch die Seinigen damit quält. Die selbständige Arbeit und neue Wege des Erwerbs sind hier die einzigen Mittel, um zu helfen. Das gilt auch für den Kriegsblinden, der vielleicht in dem Genuss seiner Rente und bei seinen sonstigen pekuniären Verhältnissen für seine Existenz nicht direkt auf die Arbeit angewiesen ist; aber die Arbeit bleibt auch für ihn ein unbedingtes Erfordernis, wenn er nicht dem Müssiggang mit seinen verderblichen Folgen I. Abteilung. Medizinische Sektion. 69 und der Unzufriedenheit verfallen soll. Darüber darf sich auch der bemittelte Kriegsblinde nicht täuschen. Wir sind in dieser Hinsicht nicht nur berechigt, sondern auch verpflichtet, einen leichten Zwang auf den Kriegsblinden auszu- üben und seinem Drängen nach der Heimat und Entlassung aus der Klinik nicht zu früh nachzugeben, bevor er Gelegenheit ge- habt hat, die Segnungen des Blindenunterrichtes an sich selbst kennen zu lernen. Die Fürsorge für die Kriegsblinden spez. für ihre Ausbildung muss von den Blinden- und Blindenunter- richtsanstalten der verschiedenen Provinzen Preussens bzw. der anderen Staaten Deutschlands übernommen werden. Jede Provinz und jedes Land verfügt schliesslich über eine derartige Anstalt. Jede Provinz muss ihre Landsleute über- nehmen. So wird eine gleichmässige Verteilung gewährleistet, und so verteilen sich auch die Lasten, die jede Provinz und jedes Land für seine Kriegsblinden aufzubringen hat, in gerechter Weise. Der Kriegsblinde wird nach seiner Entlassung auch durchweg in seiner Heimatprovinz ansässig gemacht werden und bleibt mit seiner Blindenunterrichtsanstalt in Verbindung, was von grosser Bedeutung für seine spätere Existenz ist. Soweit ich übersehe, werden unsere provinziellen Anstalten, durchweg auch ohne sehr kostspielige Neubauten imstande sein, Unterricht und Fürsorge zu übernehmen, und selbst, wenn hier und da Erweiterungsbauten nötig würden, so müssten sie eben geleistet werden. Es ist das immer noch der billigste und praktischste Weg, für unsere Kriegs- blinden zu sorgen. Auch halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass grosse Anstalten, wie z. B. unsere für die Provinz Schlesien, poch imstande sein werden, Kriegsblinde der Nachbarprovinzen (z. B. Posen) mitzuübernehmen, wenn sich die Anstalt in Bromberg nicht als ausreichend erweist. Ich habe vor Kurzem Gelegenheit gehabt, mich über die Verhältnisse der Landesblindenanstalt meines Heimatlandes zu informieren, die über den ganzen Blinden- unterrichtsapparat in mustergültiger Weise verfügt. Es wurde nur ein einziger Kriegsblinder bisher in dieser Anstalt unterrichtet, und auch dieser wohnte nicht in der Anstalt, sondern im Orte, da er verheiratet war. Es zeigt dieses Beispiel, wie hier noch reiche Unterrichtsmittel und Gelegenheit zum Lernen unbenutzt lagen. Das opferfreudige Geben weiter Schichten unseres Vaterlandes (es sind Millionen aufgebracht worden) legt uns auch die strenge Verpflichtung auf, möglichst ökonomisch und zweckent- sprechend mit diesen Mitteln umzugehen. Am besten wird das Bestimmungsrecht über die zur Verfügung stehenden Mittel, den obersten provinziellen Behörden und den Vorständen der Invalidenfürsorge der betreffenden Provinz übergeben. So wird eine möglichst gleichmässige und zweckentsprechende Ver- wendung der Mittel gewährleistet. Ich möchte es auch für durchaus angängig und angebracht halten, dass verheiratete Kriegsblinde, die am Orte der Anstalt 70 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. ihren Wohnsitz haben, ausserhalb der Anstalt wohnen und sich nur zum Unterricht in die Anstalt begeben. Die Neueinrichtung von sog. Kriegsblindenheimen, wenn sie nicht unter fachmännischer Aufsicht und Für- sorge stehen, sind tunlichst zu vermeiden. Sie verschlingen ungebührlich grosse Summen, die viel nutzbringender für die Ausbildung und die Zukunft der Kriegsblinden angelegt werden können. Wir dürfen nicht vergessen, dass die gesammelten Mil- lionen von der Allgemeinheit aufgebracht sind, dass sie für die Kriegsblinden bestimmt sind und nicht planlos und unzweck- mässig augelegt werden dürfen. Soweit ein einzelner Wohltäter aus seinen eigenen Mitteln derartige Einrichtungen schafft, ist das gewiss sehr dankbar anzuerkennen und niemand hat ihm hinein- zureden. Sobald es sich aber um die Verwendung in der Oeffent- lichkeit für die Kriegsblinden gesammelter Gelder handelt, liegt die Sache ganz anders. Es hat hier eine gewisse Zentralisierung der Kriegsblindenfürsorge einzutreten, und ich würde es nur für gerecht halten, wenn die in der Oeffentlichkeit gesammelten Fonds an die verschiedenen Provinzen und Länder, je nach der Zahl ihrer Kriegsblinden verteilt würden zu einer sachgemässen und richtigen Verwendung. Die dilettantisch geleiteten Kriegsblindenheime ohne systematische Unterrichtsvorrichtungen, Lehr- personal und ärztliche Aufsicht sind ausserdem geeignet, den Kriegsblinden zu verwöhnen und ihn den Ernst seiner Lage für die Zukunft nicht rechtzeitig begreifen zu lassen. Was nützt es ihm, wenn er in der ersten Zeit seines Unglücks auf alle mögliche Weise unterhalten und amüsiert wird, wenn ihm Fest- essen gegeben werden, womöglich tägliche musikalische Auf- führungen und Vorträge stattfinden? Er wird dadurch dem ernsten Streben, an seiner Zukunft selbst mitzuarbeiten, mehr und mehr entfremdet und bekommt ganz falsche Begriffe vonseinemzukünftigen Dasein. Wenn der Krieg vorüber ist, erlischt naturgemäss mehr oder weniger das Interesse der Kriegsblindenheime für ihre In- sassen; sie werden geschlossen werden und die Fürsorge für die Zukunft des Blinden erlahmt. Ich bin gewiss der Letzte, der den Kriegsblinden nicht alles Gute wünscht und es dankbar empfindet, wenn mitleidige Wohltäter sich seines Uuglücks teil- nahmsvoll annehmen, aber wir dürfen bei aller Teilnahme nicht vergessen, wie in ökonomischer und praktischer Weise die auf- gebrachten Mittel am besten verwendet werden. Das Interesse um die Zukunft des Kriegsblinden wird durch eine zu frühzeitige und unzweckmässige Verausgabung der aufgebrachten Mittel direkt geschädigt. Besser schon steht es mit den neugegründetenKriegs- blindenheimen, die sich bemühen, durch Schaffung von Unterrichtsmitteln, Werkstätten, Anstellung von Lehr- personal einen systematischen Blindenunterricht zu gewähren. Aber wird ihnen das möglich sein in dem Grade wie den grossen bestehenden Blindenunterrichts-Anstalten mit allen vorhandenen Einrichtungen, geschultem Personal und langjährigen I. Abteilung. Medizinische Sektion. 71 Erfahrungen? Ich glaube nicht, und überdies bleibt doch zu berücksichtigen, dass derartige Neueinrichtungen unverhältnis- mässig viel kostspieliger sind als die Angliederung des Unter- - richtes für die Kriegsblinden an schon bestehende grosse Anstalten. Durchaus aber möchte ich mich gegen die Neugründungen von Augenkliniken und Krankenhäusern für Kriegsaugenverletzte aussprechen. . Es liegt hierfür, meines Erachtens, gar kein Be- dürfniss vor, unsere bestehenden Anstalten und Abteilungen an den Krankenhäusern reichen dazu völlig aus. Es ist auch nicht richtig, wenn man annehmen wolite, dass die Behandlung der Kriegsaugenverletzten, bis vielleicht auf wenige Ausnahmen, noch längere Zeit über die Dauer des Krieges hinaus währen würde. Und was wird dann aus diesen neugegründeten und aus öffentlichen Sammlungen erbauten Anstalten? Sie werden für den Zweck, für den sie geschaffen worden sind, überflüssig werden, und die auf dem Wege der Sammlung aufgebrachten Mittel könnten für die Zukunft der Kriegsaugenverletzten und Blinden viel nutz- bringender verwendet werden. Hier in Schlesien ist dank der Fürsorge der Militär- behörde dieSache folgendermaassen geregelt. Die Kriegs- blinden werden, sobald sie nach ärztlichem Gutachten der Behand- lung nicht mehr bedürfen, noch als Soldaten in die grosse Schlesische Blindenunterrichtsanstalt (Dir.: Schulrat Dr. Schottke) gleichsam als eine Reserve-Lazarett-Abteilung verlegt und zum Preise von 500 M. proJahr aufgenommen, die die Militär- Verwaltung für den Blinden bezahlt, so lange sein Rentenverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Der Abschluss dieses Verfahrens erfolgt aber nicht sogleich, sondern nach einiger Zeit, so dass der Blinde auf Staatskosten die Blindenausbildung beginnt und wenigstens einige Monate fortsetzt. Er lernt auf die Weise die Segnungen und die Methoden des Blindenunterrichtes kennen, überwindet die ersten Schwierigkeiten der Ausbildung und wird später im Besitz seiner Rente viel leichter bereit sein, seine Ausbildung fortzusetzen. Die Blindenunterrichtsanstalt verfügt nach ihrer Angabe über etwa 50 Plätze für Kriegsblinde, ohne dass Erweiterungsbauten nötig sind. Die Kriegsblinden werden tunlichst von den anderen Blinden getrennt gehalten und verkehren mehr unter sich. Ich habe es oft von ihnen gehört, dass sie sich dort wohl fühlen und bald von der Wichtigkeit des Unterrichtes für ihre Zukunft überzeugt wurden. Wenn das Rentenverfahren abgeschlossen und dem Blinden die Rente von etwa 1300 Mk. zuerkannt ist, hat er den Betrag von 500 Mk. von seiner Rente zu zablen. Nun hat schon in dankenswerter Weise die Provinz beschlossen, den Blinden nur pro Tag 1 Mk. (was niedrig gerechnet ihm seine Verpflegung etwa ausserhalb kosten würde) zahlen zu lassen und den Rest von 135 Mk. pro Jahr für ihn zu zahlen in der Annahme, dass es richtig sei, dem Blinden wenigstens einen Teil der 500 Mk. selbst zahlen zu lassen, was ihn veranlassen werde, die Wohltat des Blindenunterrichtes mehr zu würdigen. Ich kann mich dieser letzteren Ueberlegung nicht ganz an- 72 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. schliessen, sondern möchte auf das Wärmste dafür eintreten, dass dem Blinden, auch wenn er aufgehört hat, Soldat zu sein, die 500 Mk. jährlich für seinen Aufenthalt und Unterricht in der Anstalt voll ersetzt werden. Ich halte das einfach für eine un- abweisbare nationale Pflicht, dem gegenüber, der in der Vertei- digung des Vaterlandes sein Augenlicht verloren hat. Das Geld ist da, und wenn wir 50 kriegsblinde Schlesier in der Anstalt rechnen, so würde das die Summe von 25000 Mk. pro Jahr aus- machen und 50000 Mk. für 2 Jahre, und länger braucht m. E. die Ausbildungszeit nicht angesetzt zu werden, ja bei einer ganzen Anzahl von Fällen dürfte 1 Jahr, gelegentlich sogar noch weniger genügen. Es muss durch Gewährung dieses freien Aufenthalts gleichsam eine Prämie gesetzt werden auf den guten Willen und das Streben des Blinden zu lernen und später selbständig an seiner Zukunft und seiner wirtschaftlichen Existenz mitzuarbeiten. Ich bin der Ueberzeugung, dass der Blinde später, wenn sein Rentenverfahren abgeschlossen, und er freie Verfügung über sich hat, sich dort hinwenden wird, wo ihm freie Aufnahme gewährt wird, wie das an andern Orten der Fall ist. Ich bin aber auch ebenso überzeugt, dass ein solcher Wechsel mit der Anstalt nicht gut für den Blinden sein würde, zumal wir nicht sicher sind, dass in den auswärtigen Anstalten mit freier Aufnahme der Unter- richt immer in systematischer und sachgemässer Weise durch- geführt wird. Auch besteht die Gefahr einer Ueberfüllung der- artiger Anstalten mit freier Aufnahme, während die Zahl der Kriegsblinden in den Anstalten mit Zahlung sich vermindern wird. Es würde also eine ungleichmässige Verteilung stattfinden, was nicht im Interesse der Kriegsblinden selbst liegen würde. Wird dem Blinden aber auch hier die freie Aufnahme gewährt, so wird er gern in der Anstalt bleiben und den Ueberschuss seiner Rente für die Zukunft bei Seite legen. Das Abströmen der Kriegsblinden aber aus den grossen gut eingerichteten pro- vinziellen Anstalten in private Kriegsblindenheime und Anstalten wäre aber auch deshalb schon nicht gut, weil der Kriegsblinde den Connex mit der Anstalt für die Zukunft verliert, und die privaten neügegründeten Kriegsanstalten werden einen solchen Anhalt dem Blinden für die Zukunft nicht gewähren können, da sie nach Beendigung des Krieges wieder geschlossen werden. Man soll auch nicht sagen, dass der Kriegsblinde durch Ge- währung einer solchen freien Aufnahme und Ausbildung eine nicht gerechtfertigte Bevorzugung den übrigen Kategorien der Kriegsverletzten gegenüber geniesse, der Kriegsblinde ist nun ein- mal der am schwersten Betroffene. Auch darf nicht vergessen werden, dass dem Kriegsblinden, selbst wenn ihm der freie Auf- enthalt in der Anstalt gewährt wird, doch noch gewisse Kosten für Wäsche usw. erwachsen. Es ist auch nicht richtig, dem Kriegsblinden direkt grössere Geldbeträge aus den gesammelten Fonds jetzt zur Verfügung zu stellen, wir haben damit einige betrübende Erfahrungen gemacht. Ein Teil der Kranken hat gewiss in weiser Voraussicht auf seine Zukunft und seine Familie das Geld zu- I. Abteilung. Medizinische Sektion. 13 rückgelegt, andere aber haben es auch verschwendet, und wir haben einige Male Exzesse (Trunkenheit, Urlaubsüberschreitung usw.) zu beklagen gehabt. Auch andere Privatwohltäter haben mir gelegentlich über solche Fälle berichtet. Eine gewisse Curatel ist in dieser Hinsicht nur zu raten. Ich habe es auch nicht als ein gerade angenehmes Gefühl empfunden, wenn wir in Schlesien für unsere Kriegsblinden um Gewährung von Geldgaben nach ausserhalb petitionieren müssen, aus Fonds, die von der Allgemeinheit gesammelt sind, und zu denen auch Schlesien sehr erheblich beigetragen hat, so sehr ich dankbar anerkenne, dass in vielen Fällen solche Geldbeträge ge- währt worden sind. Ich hatte vor längerer Zeit einen Aufruf speziell für kriegsblinde Schlesier vorbereitet, habe aber später von dessen Veröffentlichung Abstand genommen trotz dringender Auf- forderung hiesiger Zeitungen, da mir Bedenken entgegengehalten wurden, dass es nicht gut sei, diese Sammlungen zu sehr zu decen- tralisieren. Ich habe mich diesen Bedenken nicht verschliessen können, und so ist der Aufruf unterblieben, aber wir Schlesier haben dadurch jedenfalls die freie Verfügung über eine grössere Geldsumme zum Wohl unserer kriegsblinden Landsleute eingebüsst. Um so mehr aber erscheint mir eine möglichst gleichmässige Verteilung der gesammelten Geldmittel über die verschiedenen Provinzen und Länder unseres Vaterlandes wünschenswert. Ein kleiner Fond ist ohne öffentlichen Aufruf für die Kriegs- blinden von privaten Wohltätern bei der hiesigen Blindenunter- richts-Anstalt gegründet worden. Eine Modifikation des Blindenunterrichtes für die Kriegsblinden gegenüber der Erziehung blinder Kinder ist selbstverständlich erforderlich. Wir dürfen nicht ver- gessen, dass wir es hier mit kräftigen jungen Männern zu tun haben, die die vollständige Schulausbildung genossen haben, und die schon z. T. lange Jahre in ihrem Beruf tätig waren. Sie verfügen über eine Summe von Kenntnissen, die einer Abkürzung ihrer Ausbildungszeit im Blindenunterricht günstig sind. Auch wird auf die Wünsche und speziellen Interessen für ihre Aus- bildungszeit Rücksicht genommen werden müssen. Je nach ihrem Bildungsgrad, ihrer Intelligenz und ihren schon früher erworbenen Kenntnissen wird der Unterricht in verschiedener Weise geführt und in mancher Beziehung abgekürzt werden müssen. Ich will mir kein maassgebendes Urteil über die technische Seite dieser Frage erlauben, aber nach meinem Dafürhalten müsste eine Ausbildungszeit von 2 Jahren das Aeusserste sein, meistens aber geringer bis zu einem Jahr und gelegentlich darunter. Ich halte es auch nicht für gut, dem Kriegsblinden von vornherein etwa eine Ausbildungszeit von 2 Jahren als unbedingt erforderlich hinzustellen. Manch einem erscheint das als eine gar zu lange Zeit, und die Eröffnung wirkt entmutigend auf ihn. Auch sollte man den mutlosen Kriegsblinden darauf hinweisen, dass ja ein absoluter Zwang nicht bestehe, und dass er schliesslich nach Abschluss seines Rentenverfahrens frei in seinen Entschliessungen sei. Ich verspreche mir gerade bei derartig verzagten und 74 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. weniger energischen Naturen von Gewährung freier Aufnahme und freien Unterrichtes besonders gute Wirkungen. Auch sollte man nie unterlassen, dem Kriegsblinden klar zu machen, dass, was er auch auf dem Wege des Blindenunterrichtes neu erlernt, nicht geeignet ist, seine Rente für die Zukunft herabzusetzen. Seine Rente bezieht er für die Blindheit, die eben unheilbar ist, und was er sich durch neuerlernte Fähigkeiten dazu verdient, das bleibt ihm ungeschmälert. Eine Frage von grosser Bedeutung ist es, wie weit es möglich sein wird, die bisher von den Blinden er- lernten Berufe tunlichst noch zu vermehren. Die Zahl der bisher dem Blinden schon zugänglichen Berufe sind wahrlich nicht gering. Ich folge hier den Ausführungen von Herrn Schul- rat Schottke, der sie aufzählt: 1. Musikalische Berufe (Organist, Klavierspieler, Geiger, Klavierstimmer usw.), 2. Geistige Berufe (Lehrer, Sprachunterricht, Privatlehrer, Rezitator, Lehrer in Volksschulen, Oberlehrer in Blindenlyceen, Mathematik, Ge- schichte, Geographie, Vortragsredner, Mitarbeiter an wissenschaft- lichen Enkyelopädien usw.), 3. Sonstige Berufe (Massage, Maschinenschreiben, Korrespondent mit Verwendung des Dietaphons [als Ersatz des Stenogramms], in kaufmännischen, wie in Rechts- anwalts-, sowie in anderen Bureaus), 4. Handwerkerberufe (Bürstenbinder, Korb-, Stuhl- und Mattenflechterei, Seilerei, Strickmaschine usw.). Ich will mir auch hier kein maassgebendes Urteil zutrauen, doch möchte ich glauben, dass die Versorgung der Kriegsblinden mit einer Berufstätigkeit unter Berücksichtigung ihrer früher erworbenen Kenntnisse, ihrer früheren Stellungen und Berufe, noch wesentlich gefördert werden kann, und mit grossem Interesse bin ich den Ausführungen des Herrn Dr. Cohn gefolgt, wie er berichtete, wie es ihm in den einzelnen Fällen gelungen ist, Blinde unterzubringen (als Agenten, Zigarren- arbeiter, Schuster usw.). Es wird dabei ja gewiss auf das Interesse, Mitgefühl und den guten Willen der Mitmenschen in maass- gebender Weise ankommen, aber ich bin überzeugt, dass der Kriegsblinde in dankbarer Erinnerung an seine dem Vaterlande geleisteten Dienste hier auf ein besonderes Entgegenkommen rechnen kann, speziell auch bei staatlichen und öffentlichen Behörden und Einrichtungen. Auch wird ja die persönliche Vermittlang Dritter hier manches durchzusetzen wissen, was bei andern Blinden nicht gelingt. Ich möchte die Einrichtung von Auskunfts- und Berufsberatungsstellen nur dringend befürworten, und dass hierbei gerade der Blinde dem Blinden oft wertvolle Ratschläge erteilen kann, ist verständlich, und gerade der Vortrag des Herrn Dr. Cohn hat Ihnen, m.H., das in überzeugender Weise gezeigt. Eine weitere Frage von zweifellos grosser Be- deutung ist die, wie weit es angängig ist, den Blinden mit dem Sehenden zu gemeinsamer Arbeit zu asso- eiieren? Der idealste Ausweg wäre naturgemäss die Verbeira- tung des Blinden mit einer guten und einsichtsvollen Frau. Medizinische Bedenken bestehen dagegen nicht, denn es handelt I. Abteilung. Medizinische Sektion. 75 sich durchweg um sonst gesunde, kräftige, junge Männer und von einer Vererbung des Augenleidens auf die Nachkommenschaft steht bei derartigen im späteren Leben erworbenen Augenleiden nichts zu befürchten, wie das hinreichend überzeugend nachge- wiesen ist. Welcher Segen aber eine glückliche Ehe für den Blinden ist, das haben wir bei einer ganzen Anzahl unserer ver- heirateten Kriegsblinden gesehen. Beim Fehlen des Gesichts- sinnes wird auch der Blinde über manche Dinge (Mangel an Schönheit, Jugend usw.) sich eher hinwegsetzen können, wenn ihm nur Liebe und Verständnis für seinen hilflosen Zustand ent- gegengebracht wird. Ich verkenne die Schwierigkeiten und die Verantwortlichkeit des ganzen Problems durchaus nicht, kann mir aber doch denken, dass auf dem Wege der Auskunftsstellen und Vermittelung dritter Personen manches zuwege gebracht wer- den kann, zumal der Blinde im Besitz seiner Kriegsrente und mit Kenntnissen durch den Blindenunterricht ausgerüstet, sehr wohl in den Stand gesetzt wird, die Kosten für die Begründung eines bescheidenen Hausstandes und eine Familie aufzubringen. Ich kenne, speziell in gebildeten Kreisen, eine Reihe derartiger Bei- spiele, wo durch die Ehe der Blinde nicht nur zwei treu über ihn wachende und mit ihm arbeitende Augen gewonnen, sondern wo er mit dem Heranwachsen eigener gesunder Kinder sein Lebensglück wiedergefunden hat. Eine weitere Möglichkeit der Förderung des Blinden bietet seine Association zur Arbeitsgemeinschaft mit dem Sehenden. Es ist ja die Frage, ob es zweckmässig ist, in dieser Hinsicht Ar- beitsgemeinschaften von sehenden und nicht sehenden Kriegsver- letzten zu bilden oder besser den Kriegsblinden in einem Be- triebe von gesunden Sehenden zu einer Arbeitsgemeinschaft unter- zubringen. Diese Frage wird ja sicher in den einzelnen Fällen individuell behandelt werden müssen, und vieles wird dabei auf die Bildung und die Intelligenz des Blinden ankommen. Es lassen sich hierfür nicht a priori Normen konstruieren, aber ich denke mir, dass auch in dieser Hinsicht durch Auskunftsstellen Gutes gestiftet werden kann. Es sind hierbei auch sicher manche Fragen zu lösen, die nur der technische Sachverständige beur- teilen kann. Eine schwierige Frage ist noch die der Ausbildung blinder Offiziere. Es wird durchweg nicht angängig sein, sie in einer Blindenunterrichtsanstalt gemeinsam mit dem blinden Soldaten auszubilden. Aus dem verschiedenen Bildungsniveau und der verschiedenen gesellschaftlichen Stellung werden sich Schwierigkeiten ergeben, und auch der fernere Bildungsgang der blinden Offiziere wird sich auf Grund ihrer höheren Vorbildung anders und mannigfaltiger gestalten können, zumal wenn ein Studium nach absolviertem Abiturium möglich wird. Nun ich glaube, dass man es dem blinden Offizier im Genuss seiner höheren Rente (3—4000 M.) viel eher selbst überlassen kann, sich seinen Lebensweg entsprechend seiner Bildung und seinen Fähigkeiten zu bahnen, und besonders wird ihm das Studium auf der Universität hierzu ein wichtiges Hilfsmittel bieten. Freilich 76 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für ae Cultur. kenne ich auch ganz blinde junge Offiziere, die nach ihrer Ent- lassung aus der Kadettenanstalt und ihrer ganz kürzlich erfolgten Beförderung zum Offizier, dem Leben noch ziemlich weltfremd gegenüberstanden, als sie das Unglück traf. Es war dann ge- legentlich furchtbar schwer, sie an den Gedanken zu gewöhnen, dass eine militärische Laufbahn fernerhin nicht mehr möglich sei und andere Wege eingeschlagen werden müssten. „Was gibt es denn anderes als Diplomatie und Generalstab?“ hielt mir einer entgegen. Es wird ihnen so entsetzlich schwer, sich in den Ge- danken zu finden, dass es mit der militärischen Laufbahn zu Ende ist, in der sie so ihren ganzen Stolz und ihre Genugtuung fanden. Ich kenne aber auch andere Offiziere, die sich mit grosser Resignation und Energie einem neuen Beruf zuwendeten (Studium der Jurisprudenz, Sprachen, höheres Lehramt, National- ökonomie usw.) und die, wie ich überzeugt bin, ihren Weg machen werden. Ein wichtiger Faktor aber für die Ausbildung des Blinden und speziell dieser geistig höherstehenden Kriegsblinden ist die Schaffung einer umfangreichen Blindenbibliothek (in Blindenschrift). Besonders aber kommen hierbei Bücher in Betracht, welche geeignet sind, den Kriegsblinden in seinem Fachstudium zu fördern: praktische und wissenschaftliche Werke aus den verschiedenen Disziplinen, denen sich der Kriegsblinde zuwenden kann (Bürgerliches Gesetzbuch, Bücher nationalökonomischen Inhalts, Literaturwerke usw.). Die Herstellung einer derartigen Bibliothek auf dem Wege der Blinden- schrift ist natürlich ein mühsamer und sehr zeitraubender; aber an dieser Herstellung kann sich auch der Blinde beteiligen und darin eine lohnende Beschäftigung finden. Auch hierfür werden sich Mittel aus den schon gesammelten Geldern bei richtiger Ver- teilung derselben zur Verfügung stellen lassen. Freilich darf über dieses gesammelte Geld nicht unzweckmässig verfügt werden. Ich bin z. B. überzeugt, dass verhältnismässig zu viel Geld für die Beschaffung von Musikinstrumenten aufgewendet worden ist. Hier liegt die Gefahr nahe, durch Erteilung des Musikunterrichts an nicht hinreichend musikalisch veranlagte Blinde, dieselben von ihren für die Existenz dringend nötigen anderen Ausbildungs- gebieten abzulenken. Nur wirklich musikalische Blinde, die auch einmal Aussicht haben, im musikalischen Beruf eine Versorgung zu finden, sollten hier in erster Linie berücksichtigt werden. Die Vorliebe des Blinden für Musik ist erklärlich, und sie darf ihnen auch nicht vorenthalten werden, aber die verfügbare Zeit darf bei den weniger musikalisch Begabten doch nur in geringem Maasse dafür aufgewendet werden. Auch die Gefahr liegt nahe, blinde Musikanten niederer Ordnung zu schaffen, für die gerade dieser Beruf eine Reihe von Gefahren in sich schliesst. Hier in Breslau hat sich Dr. phil. Ludwig Cohn mit ganzer Hingabe der Gründung einer Blindenbibliothek angenommen und am 10. Dezember 1915 hat sich unter seinem Vorsitz ein Komitee zu diesem Zwecke konstituiert, auch gewisse Mittel sind diesem Unternehmen schon zur Verfügung gestellt worden, ohne dass I. Abteilung. Medizinische Sektion. 77 etwa ein öffentlicher Aufruf erlassen wäre. Ebenso verfügt die hiesige Blindenunterrichtsanstalt über eine abnsehnliche Bibliothek in Blindenschrift und die Vorrichtungen zur Herstellung derartiger Bücher, Aber gerade für diesen eminent wichtigen Zweck sollten aus dem grossen Öffentlich gesammelten Fond reichliche Mittel zur Verfügung gestellt werden, und ich hoffe, dass es auch gelingen wird, das zu erreichen unter Vermittlung unseres ausgezeichneten und weitblickenden Vorstandes der Kriegsverletzten-Fürsorge für die Provinz Schlesien. Auch für uns Mediziner, m. H., bildet die Kriegsblinden- fürsorge ein hochbedeutsames Kapitel, sie gehört zur Therapie im weiteren Sinne des Wortes, und ich würde mich freuen, wenn der heutige Abend dazu beigetragen hätte, auch in unseren Kreisen die Frage der Kriegsblindenfürsorge zu fördern. VII. Zur Frage nach dem Nährwert des Vollkorn- brotes. Von F. Röhmann - Breslau. Die Frage, ob das Getreidekorn in seiner Gesamtheit der menschlichen Ernährung zugeführt werden soll, oder ob von den Mahlprodukten nur 65—70 pÜt. des durch die feineren Siebe hindurchgehenden Mehles für die Brotbereitung, der Rest aber als Kleie für die Viehfütterung zu verwenden sei, wurde bisher fast ausschliesslich unter dem Gesichtspunkt der Stickstoffausnutzung betrachtet. Seitdem, den ersten Anregungen J. v. Liebig’s fol- gend, im Laboratorium von Voit durch G. Meyer am Menschen die Verwertung des Brotstickstoffs untersucht wurde, hat man auch in allen späteren Versuchen stets feststellen können, dass schon bei Genuss der gewöhnlichen Brotarten ein auffallend grosser Anteil des in der Nahrung zugeführten Stickstoffs den Körper mit den Fäces ungenutzt verlässt, und dass die Ausnutzung noch erheblich schlechter wird, wenn man das Brot aus Mehl mit einem grösseren Kleiegehalt oder aus dem ganzen Korn herstellt. Bei dem üblichen hellen Roggenbrot beträgt der Ausnutzungs- verlust im Mittel etwa 8 pCt. Trockensubstanz und 20 pCt. Ei- weiss und steigt beim Vollkornbrot bis 20 pCt. Verlust an Trockensubstanz und 45 pCt. an Eiweissstoffen. Diese schlechte Ausnutzung hat ihre Ursache vor allem darin, dass die Kleie die unter der äusseren Zellulosehaut des Getreidekorns liegende Aleuron- oder Wabenschicht enthält, deren Zellen verhältnismässig dicke, aus Zellulose und Hemizellulosen bestehende Hüllen be- sitzen, welche der mechanischen Zerkleinerung beim Mahlen wie der chemischen Wirkung der Verdauungssäfte einen nur schwer zu überwindenden Widerstand entgegensetzen, so dass aus beiden Gründen die in diesen Zellen eingeschlossenen Eiweissstoffe der Verdauung im menschlichen Darmkanal entgehen. Schon Donders hat in den Fäces der Menschen die unverdauten Aleuronzellen nachgewiesen, während sie im Kot der grossen Pflanzenfresser fehlten. Ueber den Verlust, der der Volksernährung dadurch erwächst, I. Abteilung. Medizinische Sektion. 79 dass 25 pCt. der im Getreidekorn enthaltenen Nahrungsstoffe und besonders Eiweissstoffe an das Vieh verfüttert werden, sind sich auch die bisherigen Gegner des Vollkornbrotes vollkommen im Klaren. Die Bestrebungen, die Kleie in entsprechender Weise aufzuschliessen, hatten bis vor kurzem zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt. In neuester Zeit scheint aber in dem Klopfer- schen Verfahren ein Weg gefunden zu sein, auf dem man zu einem Vollkornbrot gelangen kann, das allen vom Standpunkt einer rationellen Ernährung zu stellenden Forderungen gerecht wird. Ich verweise besonders auf die Versuche von N. Zuntz!) und M. Hindhede?2). Den Fortschritt, den das mit Klopfermehl ge- machte Vollkornbrot darstellt, zeigen die folgenden Zahlen. Nach M. Hindhede werden bei Genuss von 100 g Brot und 12—15 g Margarine durch den Kot ungenutzt ausgeschieden von Trocken- Bineiss Kohlen- substanz hydrate Roggenschrotbrot . . En 13,1 34,7 9,6 Halbgesiebtes Roggenbrot 7,1 28,3 9,6 Vollkornbrot, a an 1,3 24,2 5,2 Graubrot . I ENE 4,4 13,7 2,5 Der Verlust ist immerhin noch ein sehr erheblicher. Nach M. Hindhede ist jedoch diese „Verdauungsdepression“ hier wie in anderen Versuchen, wo die Nahrung reichliche Menge von Kohlehydraten und unverdaulichen, stickstofffreien Substanzen ent- ‚ hält, in gewissem Sinne nur eine scheinbare, und beruht darauf, dass die voluminösere Nahrung zu einer stärkeren Absonderung von Verdauungssäften führe. Vergleiche man unter Berücksichti- gung dieses Umstandes die Verdaulichkeit der Kleie bei einem Menschen und einem Hammel, so verdaue letzterer zwar die Kleie etwas besser als der Mensch, der Unterschied sei aber lange nicht so gross, als man bisher geglaubt habe. Ersetzt man das Wieder- kauen durch Feinmahlen, so „scheinen die Verdauungssäfte des Menschen vollständig imstande zu sein, die Konkurrenz mit dem Hammel aufnehmen zu können“. Die Verwendung der Kleie für die menschliche Ernährung ist aber noch unter einem anderen Gesichtspunkte als dem der Ausnutzung zu betrachten. Schon Versuche von Magendie haben gezeigt, dass ein Hund, der mit Weissbrot gefüttert wurde, nach einiger Zeit zu- grunde ging, während ein Hund, der schwarzes Soldatenbrot er- hielt, sich dauernd wohl befand. Aehnliche Unterschiede, welche die Bedeutung eines Kleiezusatzes zum Mehl beweisen, sind auch 1) N. Zuntz, Ueber die Ausnutzbarkeit eines neuartigen Vollkorn- brotes. Diese Wochenschr., 1915, Nr. 4. 2) M. Hindhede, Die Verdaulichkeit der Kleie. Skand. Arch. f. Physiol., 1915, Bd. 33, S. 59. 80 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. bei Versuchen mit anderen Tieren, in jüngster Zeit bei Versuchen mit Mäusen in F. Hofmeister’s Laboratorium festgestellt worden. Wir wissen ferner, dass Beri-Beri durch Genuss von ge- schältem Reis entsteht, und dass Reiskleie Beri-Beri verhütet bzw. heilt, dass bei Genuss von kleiefreiem Maismehl ein als Zeismus bezeichnetes Krankheitsbild entsteht, dass Skorbut die Folge eines andauernden einseitigen Genusses von Brot oder nach einer persönlichen Mitteilung von E. Frank auch von Hafermehl sein kann. Den Einfluss der Kleie erklärt C. Funk durch die An- nahme, dass die Kleie „Vitamine“ enthält, und F. Hofmeister durch die Annahme von „accessorischen“ Nahrungsstoffen, die ebenso wie die Vitamine unter allen Umständen neben Eiweiss, Fetten, Kohlenhydraten und Salzen in unserer Nahrung enthalten sein müssten. Ich halte die „Lebre von den Vitaminen“ nicht für richtig.!) Die Bedeutung, welche die Kleie bei der einseitigen Ernährung mit Öerealien unzweifelhaft hat, beruht nach meiner Ansicht darauf, dass die Eiweissstoffe, welche sich im Endosperm der Cerealien, im Mehlkörper, finden, „unvollständige“ Eiweiss- stoffe sind, d. h. Eiweissstoffe, denen bestimmte für das Leben der Tiere unentbehrliche Atomgruppen fehlen. Das Endosperm der Oerealien enthält neben den Glutelinen die in 70 proz. Alkohol löslichen Gliadine, von denen wir seit den Untersuchungen von A. Kossel und F. Kutscher wissen, dass sie bei der hydro- Iytischen Spaltung kein oder nur sehr wenig Lysin liefern. Auch die Menge des bei ihrer Hydrolyse entstehenden Arginins ist ge- ringer als bei anderen Eiweissstoffen; gewissen Gliadinen fehlt auch die Tryptophangruppe. Ich nehme nun an, dass die feh- lenden Atomgruppen sich als „Ergänzungsstoffe“ in der Aleuron- oder Wabenschicht der Kleie finden, und schliesse dies aus folgenden Tatsachen. Wenn ein Getreidekorn keimt, so bildet der Embryo neues Protoplasma, also „vollständiges“ Eiweiss; die hierzu erforderlichen Atomgruppen, die dem Eiweiss des Endo- sperms fehlen, können nur aus der Kleie stammen. Ferner deuten die Beobachtungen von C. Funk, welche das Vorhandensein von Vitaminen in der Kleie beweisen sollten, darauf hin, dass die Kleie organische Basen enthält. Die Methode, die C. Funk zur Isolierung der Vitamine anwendete, ist dieselbe, nach der von A. Kossel und F. Kutscher aus den hydrolytischen Spaltungs- produkten des Eiweisses Arginin und Lysin abgeschieden werden. Weiter wissen wir durch die Versuche von F. Gowland Hopkins, Henriques und besonders durch die schönen neuen Unter- suchungen von Th.B. Osborne und L.B. Mendel, dass eine Nahrung, die als Eiweiss nur Gliadine enthält, nicht genügt, um bei jungen Ratten Wachstum zu erzeugen, dass aber Wachstum eintritt, wenn man der Nahrung Lysin und Tryptophan hinzusetzt 1) Näheres s. F. Röhmann, Ueber künstliche Ernährung und Vitamine. Die Biochemie in Einzeldarstellungen, herausgegeben von A. Kanitz. Berlin 1916, Verlag von Gebr. Bornträger. I. Abteilung. Medizinische Sektion. Sl oder eine bestimmte Menge von Eiweissstoffen, welche diese Atom- gruppen enthalten. In denjenigen Fällen, in denen ein Mensch sich einseitig mit Cerealien ernährt, müssen also in der Nahrung die Bestandteile der Kleie enthalten sein, oder man muss neben dem Brot noch Nahrungsmittel zu sich nehmen, welche die fehlenden Atom- gruppen liefern, das sind die animalischen Nahrungsmittel Fleisch, Eier, Käse. Wir sehen denn auch, dass in unserem Volke mit dem steigenden Genuss des aus „feinerem“, also kleiefreien bzw. kleie- armen Mehle gebackenen Brotes der Genuss von Fleisch zu- genommen hat. Das ist vom wirtschaftlichen Standpunkte schon in einer Zeit steigenden Wohlstandes nicht ohne Bedenken. In den Zeiten eines Mangels an Nahrungsmitteln, wie er in gewissem Umfange jetzt herrscht, oder eines verminderten Wohlstandes, wie er voraussichtlich nach dem Kriege herrschen wird, bedeutet eine solche Ernährung eine Verschwendung. Denn das in Form von Fleisch zugeführte Eiweiss ist um das vielfache teurer als das Eiweiss, welches uns die Pflanzen liefern, also vor Allem das Eiweiss der Oerealien und Kartoffeln. Genuss von Weissbrot und Fleisch führt aber auch zu einem über das notwendige Maass gesteigerten Verbrauch von Eiweiss. Wir wissen heutzutage, dass der Mensch sich auf die Dauer mit viel geringeren Eiweissmengen wohlbefinden kann, als man noch bis vor kurzem ganz allgemein annahm. Und es ge- nügt durchaus, wie die Versuche Hindhede’s zeigen, auch für den Menschen die stickstoffhaltigen Substanzen in Form von Brot, aber in Form ven Brot, das auch die Bestandteile der Kleie ent- hält, zuzuführen, um ihn in vollem Umfange leistungsfähig zu erhalten. Mehr und mehr hat sich auch die Ueberzeugung durchge- rungen, dass ein überflüssiger Eiweissgenuss, wie er meist in den „besser situierten“ Ständen herrscht, besonders im Kindesalter zu Störungen der Gesundheit führt. Zum Beweise braucht nur auf die Erfolge, welche Laien mit der „vegetarianischen Er- nährungsweise“ erzielt haben, hingewiesen zu werden !). Die Rückkehr zu einem geeigneten Vollkornbrote würde von selbst dem übermässigen Fleischgenuss entgegenwirken. Die breiten Schichten des Volkes würden bald erkennen, dass eine Nahrung, die aus Vollkornbrot, Kartoffeln und Fett unter Zugabe von Obst und Gemüsen besteht, also tatsächlich eine vege- tarianische Lebensweise, billiger und mindestens ebenso gesund ist, wie eine Ernährung mit weissem Brot und dem teuren Fleisch. Ob das nach Klopfer’schem Verfahren hergestellte Voll- kornbrot allen Ansprüchen entspricht, will ich nicht entscheiden. Es weicht von den älteren Vollkornbroten, die sich in der Volks- 1) Vergl. M. Hindhede, Moderne Ernährung. W. Vobach & Co., Berlin. Schlesische Gesellsch. f. vaterl. Cultur. 1915. II. 6 852 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. ernährung bewährt haben, in Bezug auf Geschmack und Kon- sistenz sehr wesentlich ab. Besonders auf die letztere wird von Zahnärzten ein grosser Wert gelegt, welche unser „Zahnelend“ auf die unzweckmässige Ernährung und besonders auf die Er- nährung mit zu weichen Nahrungsmitteln im jugendlichen Alter zurückführen. Sie geben dem älteren Vollkornbrot den Vorzug. Die Rückkehr zu einem Vollkornbrote hat aber neben der sozialen Bedeutung, welche die Versorgung des Volkes mit guten und billigen Nahrungsmitteln besitzt, für Deutschland noch die be- sondere Bedeutung, dass das Vollkornbrot den Verbrauch an dem bei uns in mehr als ausreichender Menge gewonnenen Roggen steigern und die Einfuhr von Weizen aus dem Auslande zurück- drängen würde. er - Verzeichnis ‚sämtlicher von der Schles, Gesellschaft für vaterl. Caltır era EB 1. Einzelne Schriften. : Zwei Reden, gehalten am dem Reg.-Quartiermstr. Müller und Prof. Reiche bei des Stiftungstages der Gesellschaft zur BEIEERUNE der Naturkunde und I am 17. Dezember 1804 $%, 48 Seiten. An die Mitelieder der Gesellschaft zur Beförderung der Naturkunde und Industrie Schlesiens und an sämtliche Schlesier, von Reetor Reiche, 1809. 3%. 328. Oeffentlicher Aktus der r Schles. Gesellsehaft f. vaterl. Culiur, gehalten am 19, Desbr. 110. zur Feier ihres Stiftungsfes 8. 208, Joh. George Thomas, an der Literaturgesch. v. Schles., 1824, 8%, 3728, gekrönte Preisschrift, Beiträge zur Entomologje, verfasst von den Mitgliedern der entom. 'Sektion, mit 17 Kpft. 1829. 80.5 Die schles. Bibliothsk der Schles, Gesellschaft v.K. G. Nowack, 8%, 18355 oder später erschienen. Denkschrift der Schles, Gesellschaft zu ihrem 50jähr. Bestehen, enthaltend die Geschichte der Schl Gesellschaft und Beiträge zur Natur- und Geschichtskunde Schlesiens, 1853, Mit 10 litho Tafeln. 2, 282 S, Dr. J. A. Hoennicke, Die Mineralquellen der Provinz Schlesien. 1857. 8. 166 > gekr. Preisschrift. Dr. J. G. Galle, Grundzüge der schles, Klimatologie, 1857. 4. 1278, = Dr. J. Kühn, Die zweekmäßigste Ernährung des Rindviehs, 1859. 8, 2925, 73 Preisschrift. 4 Dr. H. Lebert, Klinik des akuten Gelenkrheumafismus, Gratulationsschrift zum ‚sojähr. Doktor. Jubiläum des Geh. San.-Rats Dr. Ant. Krocker, Erlangen 1860. ®. 198. Dr. Ferd. Römer, Die fossile Fauna der silurischen Diluvialgeschiebe von Sadewitz bei Oels in. Schlesien, mit 6 lithogr. und 2 Kupfer-Tafeln. 1861. 2. 708. Lieder zum Stiftungsfeste der enftomologischen und botanischen Sektion der Schles. Gesellschaft, als, Manuskript gedruckt. 1867. 8%, 328. Verzeichnis der in den Schriften der Schles, Gesellschaft von 1804—1863 inkl, enthaltenen Aufsätze i in. alphab. Ordnung von Letzner. 1368. 3, Fortsetzung der in den Schriften der Schles. Gesellschaft für vaterL Cultur von 1864 bis 1876 inkl, enthaltenen Aufsätze, geordnet nach den Verfassern in alphab. Ordn, von Dr. Schneider: 5. General-Sachregister der in den Schriften der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur von 1804 bis 1876 " inel. enthaltenen Aufsätze zeordnet in alphab. Folge von Dr. Schneider. ' Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur. E Die Nr 25 S.1 IL. Geschichte # der Gesellschaft (149 8.), Breslau 1%%# 2. Periodische Schriften. Verhandlungen der Gesellschaft f. Naturkunde u. Industrie Schlesiens. 80, Ba. L un, 1, 218 Ss, Hits 112 S. 1806. Desgl Bd. I, 1. Heft, 1807. Correspondenzblatt es Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur, 40, Pr. Jahrg. I, 1810, % S. ‚ Jahrg. LIL, 1812. 96 S. et unıns je 6 IT. ıst1, do. IV, 1513, Hft. 1 u.2je%S$, va 3 Correspondenz der Schles, Gesellschaft £. vaterl. Cultur. 8. Bd. L 3628. ai Bild, Ds u. 1820 Desgl. Bd. II (Heft I), 80 S. mit Abbild, 1820, Bulletin der naturwissenschaftl, Sektion der ne Gesellschaft 1—11. 1822, in do, 1824. Übersicht der Arbeiten Bee sämtl, Seetionen) u, Ve Scht Ges, £ wat. Cultur: Jahrg. 18%4. 55 Seiten 40, | Jahrg, 1860. 202 Seiten 49, Jahrg. 1895. > u. 560 Seiten s 1825. e . 4, | =. ..1861. 1485 8% n. Abh. 438; \ =...1826. 65 _ 40, ) - 1862, 162S.&.n. Abh, 4168. ” .. 1829.79 0, = 1863. 156 Seiten 8, ..188 4 » 4, "® 1864. 2668.8%.n Abh. %68. - 521825 298°, 8 40, =. 1865. 218 8.30% n. Abh. 698. . 1830. 5 - 40, j z 1866. 267 S.80. n.Abh. WS. - 18, 6. 2. 2 1867.2758.80 n. Abh. 1918. | = . 1832.108 - 4, I 25.1868. 3008. 8%. n. Abh. 478, z > 183.106 - 40, -. 1869.3718.8%.n.Abh. 25658.| -» :» 183.153 - 40, | = 18970. 3188. 9°. n.Abh. 858. SE = 1835. 146 _ 40, P 1871. 357 S.8%,n. Abh. 3528. « » 1836. 157 - 49, = 1372. 3508.8%.n.Abh. 1718. |- - s 187.191 =-- 4, - 1873. 287 S.80.n. Abh.148S. ” = 1838. 184 a 40, g .- 13574. 234 Seiten, 80, \ - T: =» 1839, 236 . 40, | ” 1875. 326 - 8, - iF= :» 180. 151 _ 40, i . 1876. 34 _ 80, -.- » 1841. 183 . 2, | = 1877. 428 e 80, 5 . 142.26 - I = 131 em er =. 1843. 272 4. nebst! . 1879. XL u.473 Seiten 80. . 415. shölänrdi: Beob. | . 1850.XVI ©2311 - 89, . :» 1834£ 232 Seiten 40, 12% 18831..XVI a.424 =. 8% = . 18345. 165 — 4, nebst' „ 1882. XXıV 432 =» 8, - 52 8. meteoroL Beob. E 1853, XVI n413 =» 8, «. 1846. 320 Seiten 40, nebst| » 1584. XLI w.402 = 8, . 74 8. meteoroLBeob.‘ . 18835. XVI w.444 Seiten &, ». 1847 404 Seiten 4°. nebst n. Erg.-Heft, 121 S; 30, . 44 S. meteorol. Beob. | N :» 188. XL u. 327 Seiten 8°. » 1848. 248 Seiten 40, n. Erg.-Heft 121 8. 80, - s» 1849. Abth.L,1808,T - | - 1887. XL u, 411 Seiten 80, n.44S. meteorol. bi.» 188. XX u, 317 Seiten 80, - 1 » 1850. Abth.I, 2048. II, 368. ! = 1889. XLIV u. 237 Seiten 8°, « 1851. 1% Seiten 49, =. 18%. VII u. 329 Seiten 8°, - . 1852.22 - 40, i n. Erg.-Heft 272Seit. 8%. > , 13.35 « 40, j :» 1891. VIl. u. 481 Seiten 80, . 1851.28 « 40, j n. Erg.-Heft 92Seit. 80. »..1855.2565 » 40, Er 1892. VII u. 351 Seiten 8 . 1856. 242 - 40, j n. Erg.-Heft 1608. 80. -» 187.347 - 4, I. =. 189. VII u 392 Seiten 8%. ; - 1858. 224 - 40, i -» . 18%. VII u. 561 Seiten 8%, «» 1859. 222 4, j n. Erg.-Heft 265 8. 8, Mitglieder-Verzeichnig in 8° von 1805 und seit 1810 alle zwei Jahre erschienen, eunzigst ! h esellse chhandlung. Ir. R Breslau R Matthi kunst bh Vierundneunzigster Jahres-bericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Gultur. 1916. I. Band. LIBRARY NEW YORK BOTANICAL TANDEN Er Breslau. G. P. Aderholz’ Buchhandlung. 1917. KARDEN Inhalts -Verzeichnis des I. Bandes des 94. Jahresberichtes. Allgemeiner Bericht Über die Verhältnisse und die Wirksamkeit der Gesellschaft im Jahre 1916, er- stattet vom stellvertretenden General-Sekretär Professor Dr. Rosenfeld Bericht über die Bibliothek . .. .. . SUR RNNEEN aa FÜGE ANDERS DRIN SET Bericht über das Herbarium der Gesellschaft . ». 2». ze... 2 2 2... Kasseir Verwallunesbericht44 u ara „va ane Alla aa lee. ae Gedächtnisrede auf Albert Neisser von Professor Dr. Jadassohn, Bern Gedächtnisfeier für Hermann Klaatsch. . ........ RE RT Berichte über die Sektionen. II. Abteilung: Naturwissenschaften. a. Sitzungen der naturwissenschaftlichen Sektion. Beutell, A.: Über Speiskobalt und seine Entstehung . .. .. -.... Pringsheim, Ernst: Über das Absorptionsvermögen der Metalle, insbe- SOnderer des® V/oHTamSsyE N HM. I Sn EN N Re MER SL Rechenbers, G.: Allgemeine Übersicht der meteorologischen Beobachtungen auf der Königl. Universitäts-Sternwarte zu Breslau im Jahre 1916. . Schaefer, Clemens: Zum optischen Verhalten des Kristallwassers . . — Zur Methode der logarithmischen Isochromaten . - ». - » » 2... ee Vienktelatiyitätstheorter., m. nur A. NIT I Mara u Sen Schiff, Julius: Zur Geschichte der konstanten galvanischen Elemente. . . Schubert, Martha: Zum optischen Verhalten des Kristallwassers. . . . . b. Sitzungen der zoologisch-botanischen Sektion. Lingelsheim, A.: Teratologische Beobachtungen. . . . .... — Über die Erhaltung der schlesischen Moore . . . .-... 2... —- Bericht über einen Besuch des Hochmoores ‚‚die Seefelder“ bei Reinerz — Ein neuer Fundort des Veilchensteines in Schlesien . . —Eyronema;laelissimnum. Scheoter.) “Lu. lese we ua la ol. — Neue Gallen an Pflanzen des Königl. Botan. Gartens in Breslau. . . u u u u > IV Inhalts-Verzeichnis. TLinselsheim,-A., Teratologisches . ..... ».. "u © Eee ee — #Auftrelen von Panaschüre .- = „22.2 » Asa zes - Oberstein, O.: Krankheiten und Beschädigungen der Kulaupflaneen‘ in Seblesien imıJahre 3915 .-... - =. 12.2 2202 0 ee re, Pax: Über Vegetationslinien in den Westkarpathen EN ae — Systematische Stellung der Gattung Aextoxion. . -» .. . Schube, Th.: Ergebnisse der Durchforschung der schlesischen Gefäßpflanzen- welt am lahre A916 2 0.2 22. er Se RE 1". — Ergebnisse der phänologischen Beobachtungen in Scheen im Jahre 1II6 oa le ee TR a — Nachiträge zum „Waldbuch von Schlesien“ . .. . 2.2... .2.. ec. Sitzungen der Sektion für Obst- und Gartenbau. Dannenberg, Paul: Kriegerrräber ım Osten. 2 Ep Dittrich, Gustav: Mittel und Wege zur Pilzkenntnis -.-....... Hölscher, Jelto: Bericht über die Tätigkeit der Sektion im Jahre 1916. Rosen, Felix: Bericht über die Tätigkeit der Sektion im Jahre 1916 . . . — Vegetationsbilder aus den Alpen. „1. v nr. A En I an Schütze, Julius: Die Lage der Orchideengärtnerei in der Kriegszeit . . . 4 42 crwmrm mon III. Abteilung: Geschichte und Staatswissenschaften. a. Sitzungen der historischen Sektion. Foerster, R.: Der 200 jährige Geburtstag von Johann Jacob Reiske Schott: Der Kampf des Staates gexen das Sinken der Geburtenziffern im alten dhom-. 2.2.0. = Susi a en b. Sitzungen der Staats- und Rechtswissenschaftlichen Sektion. Bitta: Schätzungsämter und Stadtschaften und ihre Beziehungen zum Real- kredit und zur Wohnungsreform . .....:. Eu Re ME Bry: Das Recht des Kriegs- (Belagerungs-)zustandes mit besonderer Beräck- sichtigung der Rechtsprechung des Reichsgerichts . - - » -... - Fränkel: Maßnahmen zur Bekämpfung der Verwahrlosung der Jugend - Milch: Schätzungsämter und Stadtschaften und ihre Beziehungen zum Real- kredit und zur Wohnungsreiorm .. .'.-. - an a er Obst, Georg: Prüfungsstellen für Lebensmittelpreise. ...». -.-.2.»- Schäffer, Hans: Über den Einfluß des Krieges auf kaufmännische Lieferungs- geschäfle „ie 2.0 0. 2% RA A > - . Z Schott: Der Kampf des Staates gegen das Sinken der ohne im alten’ Rom... m: =. a ne 2 ee Steinitz, R.: Eröterung über die Kleinwohnungsfrage, Grundlagen und Richt- Ihnen. 22 12002. Be re AR Er En sehlre Thalheim: Die neuen alexandrinischen Rechtsurkunden. .. .. - Weber, Adolf: Erörterung über die Kleinwohnungsfrage, umakesb mil Richtlinien . . » .2...%°. 22.2 Aal eade 12 a Würzburger: Unsere Bevölkerung. Rückblick und Ausblick. . - Inhalts-Verzeichnis. IV. Abteilung. a. Sitzungen der philologisch-archäologischen Sektion. Foerster, Richard: Der 200 jährige Geburtstag von Johann Jakob Reiske Stenzel, Julius: Literarische Form und philosophischer Gehalt des pla- tonischen Dialoges. . ....... Ei N at ae a Thalheim: Die neuen alexandrinischen Rechtsurkunden. . .. ..... b. Sitzungen der orientalisch-sprachwissenschaftlichen Sektion. Stern: Kindersprache und Sprachpsychologie . .. . 2: 2 2 2 2.2... c. Sitzungen der Sektion für neuere Philologie. Diels, P.: Die tschechische Orthographie des Mittelalters und ihre Entstehung Hilka, A.: Über einige italienische Prophezeihungen des 14. und 15. Jahr- hunderts, vornehmlich über einen deutschen Friedenskaiser. . . . . Schücking, Lewin, L.: Wann entstand der Beowulf? . . . 2.2. .2.. V. Abteilung. b. Sitzungen der philosophisch-psychologischen Sektion. Cohn, Ludwig: Beiträge zur Blinden -Psychologie nach persönlichen Beobachtungen re Ay. ee en. na en Honigmann, Hans: Methoden zur Erforschung von Licht- und Farbensinn deuglieneg ee ee Siehtaleter:Die Relativitätstheorie - . ......:.....22le. Stenzel: Literarische Form und philosophischer Gehalt des nlalonischen Dieiloees. "erg Bea RN REIT EN CE Stern: Kindersprache und Sprachpsychologie . . » » . 2 2222 20.2. c. Sitzungen der katholisch-theologischen Sektion. Haase, Felix: Die katholische Kirche in Polen unter russischer Herrschaft Wagner: Die Gründe sittlich ungünstiger Kunstwirkungen . ....... d. Sitzungen der evangelisch-theologischen Sektion. Bederke: Der Anteil Schlesiens an dem Kirchenliederbestand unseres Gesang- Fiebig: Die evangelische Kirche nach dem Kriege . . .... 2.2... Konrad: Die Protokolle des Breslauer Domkapitels aus der Heformationszeit VI. Abteilung. b. Sitzungen der Sektion für Kunst der Gegenwart. Hanisch: Schlesische Heimstätten in der Gegenwart und in der Zukunft EHiortöha Branz, Ludwig: ModernerResie ©» 2.2... .. 20: Landsberger, Franz: Die Farbengebung der italienischen Renaissance . Prelinger, Fritz: Über die Symphonie der Gegenwart...» ..... Seite 12 39 [S>) Pa N Me be c. Sitzungen der Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen. Gedächtnisteier für Hermann KRlaatsch. ...... 2 22 2 2 2 22... KedschtinisteierzfürsRicharde Bachmann. Er VI Inhalts-V erzeichnis. d. Sitzungen der chemischen Sektion (Chemische Gesellschaft zu Breslan). Ehrlich, F.:, Einiges aus der chemischen Technik des Zuckers. .... . Gadamer, J.: Über die Konstitution des Kantharidins. ... ...... Ruff, O.: Einige organische und anorganische Ideen, ihre Entwickelung und Verwirkhchune ee 4. Sa Erin ER TRE Schaefer, Cl.: Untersuchungen über Reflexion im Ultrarot (a a schwingung) im Zusammenhang mit der chemischen Konstitution krystallisierter Verbindungen. . -- .. 2 2- se ee Stock, A.: Untersuchungen über die Siliziumwasserstoffe. Der Unterschied zwischen Silizium- und Kohlenstofichemie. . . . . - irre Nekrologe auf die im Jahre 1916 verstorbenen Mitglieder ........ Seite 1 1 1 Sehlesischt Gesellschaft für vaterländische Gultur. Ey 94. | Jahresbericht. | Allgemeiner Bericht. 1916. @&,t ARTE By0) Allgemeiner Bericht über die Verhältnisse und die Wirksamkeit der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur im Jahre 1916, erstattet von dem stellvertretenden General-Sekretär Herrn Professor Dr. Rosenfeld. Am Dienstag, dem 12. Dezember 1916 wurde unter dem Vorsitze des Präses, Herrn Geh. Regierungsrat Professor Dr. Foerster, die Ordent- liche Hauptversammlung abgehalten, nachdem sie auf Grund des $ 17 der Satzungen durch einmalige Anzeige in der Schlesischen und der Breslauer Zeitung bekannt gemacht worden war. Zunächst erteilte die Versammlung dem Schatzmeister, Herrn Kom- merzienrat Berve, Entlastung von der seitens des Präsidiums geprüften Rechnung des Jahres 1915. Im Anschluß hieran sprach der Präses dem Schatzmeister den Dank der Gesellschaft für die der Führung der Kassen- geschäfte gewidmete Sorgfalt und Umsicht aus. Hierauf verlas der stellvertretende Generalsekretär, Herr Professor Dr. Rosenfeld den Allgemeinen Bericht über das Jahr 1916. Zunächst wurden die Verluste an Mitgliedern aufgeführt, welche die Gesellschaft während des bezeichneten Zeitraumes teils durch Tod, teils durch Aus- scheiden erlitten hat. Die Anwesenden ehrten auf Ersuchen des Vor- sitzenden das Andenken der Verstorbenen, indem sie sich von ihren Plätzen erhoben. a. Von Ehrenmitgliedern starben: 1. Herr Oberstleutnant und Professor Dr. phil. h. c. Paul Poch- hammer in Berlin-Lichterfelde, 2. , Professor und Minister a. D. Dr. Guido Bacelli, Direktor der medizinischen Klinik und des Poliklinikums in Rom, b. von korrespondierenden Mitgliedern: 1. Herr Geh. Regierungsrat Prof. Dr. phil. Kny in Berlin-Wil- mersdorf, 1916. 1 D) Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. 2. Herr Hofrat Prof. Dr.-Sng. h.c. Hermann Krone in Dresden,, 3. ,„ Professor Dr. phil. Sohrauer in Berlin, 4. ,, Hofrat Prof. Dr. Julius v. Wiesner in Wien. c. von wirklichen einheimischen Mitgliedern: i. Herr Rentier Hermann Auerbach, 2. ,, Apotheker Waldemar Beckmann, 3 ,„ Landeshauptmann der Provinz Schlesien von Busse, 4 „„ Konsul Fritz Ehrlich, 9. ,„ Dr. med. Max Friedländer, 6. ,, Astronom und Meteorologe Otto Fröhlich, 7 „ Professor Dr. med. Ernst Gaupp, 8 „ Geh. Regierungsrat Prof. Dr. Carl Hintze, 9. ,, Sanitätsrat Dr. Max Kamm, 10. ,, Rittergutsbesitzer Fritz Katz, 11. ,, Professor Dr. med. Hermann Klaatsch, 12. ,, Domherr und Fürstbischöfl. Generalvikar Dr. Josef Klose, 13. ,, Privatdozent Dr. Richard Lachmann, 14. ,, Professor Dr. phil. Richard Leonhard, 15. ,, Geh. Medizinalrat Dr. Hans Matthes, 16. ,, Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Albert Neisser, 17. , Kaufmann Theodor Nitschke, 18. ,, Professor Dr. theol. Franz Renz, 19. ,, Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Emil Richter, 20. ,, Rittergutsbesitzer Emil Sachs, 21. ,, Professor Dr. phil. Eduard Scheer, 22. ,, Badearzt Dr. Max Stern, 23. ,, Dr. med. Max Trappe, 24. ,, Generaloberarzt a. D. Dr. Georg Weber, 25. ,, Sanitätsrat Dr. August Wolff. c. von wirklichen auswärtigen Mitgliedern: 1. Herr Dr. Reichsgraf von Oppversdorff auf Alt-Waltersdorf, Kr. Habelschwerdt, ‚„„ Sanitätsrat Dr. Josef Pohl in Bad Salzbrunn, 3. ,„ Dr. Voltz, Sekretär des Berg- und Hüttenmännischen Vereins in Kattowitz O/S. Infolge von Wechsel des Wohnortes oder aus anderen Gründen schieden aus: 23 wirkliche einheimische und 6 wirkliche auswärtige Mitglieder. Allgemeiner Bericht. 3 Aufgenommen worden sind nach dem 15. Juli 1916: 22 wirkliche einheimische Mitglieder, nämlich: 1. Herr Ingenieur und Landmesser Kurd Slawik, 2. ,„ Domvikar Paul Lukaszczyk, Assessor des Fürstbischöfl, Ordinariats, 3. ,„ Fürstbischöfl. Konsistorialrat Heinrich Dittrich, 4. ,, Professor Dr. med. Ernst Gaupp, 5. ,„ Professor Dr. med. Oswald Bumke, 6. ,, Geh. Regierungs- und Provinzial-Schulrat Dr. Otto Miller, 7. ,„ Geh. Regierungs- und Provinzial-Schulrat Josef Klau, 8 „ Professor Dr. Walter Otto, 9. „ Dr. phil. Josef Kroll, 10. ,, Professor Dr. med. Johannes Biberfeld, 1l. ,, Professor Lic. Rudolf Bultmann, 12. ., Dr. phil. Hans Pototzky, 13. ,, Pastor Paul Viebig, 14. ,, Professor Dr. phil. Alexander Wilkens, 15. Frl. Dr. med. Alida Janecke, 16. ,„ Margarete Spohr, 17. Herr Professor Dr. med. Joseph Forschbach, 18. ,, Privatdozent Dr. med. Erich Frank, 19. ,, Privatdozent Dr. med. Josef Severin, 20. ,, Professor Dr. phil. Robert Holtzmann, 21. ,, Rittmeister d,L. a. D. Moritz Matthias, 22. ,„ Frau Dr. Hedwig Lachmann; und nach dem 1. Januar (bis zum 1. April) 1917 folgende 16 Mitglieder: 23. Herr Dr. med. Salo Lewin, 24. ,, Medizinalrat u. Königl. Kreisarzt Dr. Ludwig Israel, 25. .„, Dr. polit. Dr. jur. Klaus Wagner-Roemmich, 26. ,, Architekt u. Maurermeister Eugen Halfpaap, 27. ,, Professor Dr. Karl Bornemann, 28. ,, Oberarzt Dr. med. Erich Kuznitzky, 29. ,, Bankprokurist Franz Heymann, 30. ,, Professor Dr. med. Karl Stolte, 31. Frau Professor Lina Abegs, 32. Herr Professor Dr. med. Lothar Dreyer, 33. ,, Privatdozent Dr. med. Eduard Melchior, 34. , Dr. phil. Bruno Prehn, 35. ,, Oberingenieur Henry Koch, 36. Frau Oberlehrer Hedwig Stietz, 1* 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. 37. Herr Leutnant a. D. Erich v. Nesgelein, 38. ,, Kaufmann Aron Kober und 5 wirkliche auswärtige Mitglieder, nämlich: 1. Herr Sanitätsrat Dr. Mende in Gottesberg, Frl. Schulvorsteherin Helene Zolondek in Münsterbers ı. Schl. . Herr Rechtsanwalt Dr. Dobermann, Emmagrube O.-S., „ Direktor Max Bröske in Hindenburg O.-S., „ Kuratus Curt George in Gr. Mahlendorf O.-S. a ee u Zu korrespondierenden Mitgliedern wurden ernannt: 1. Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Conrad Cichorius in Bonn, 2. , Geh. Regierungsrat Prof. Dr. phil. Rudolf Schenck in Münster i. W., 3. „ Professor Dr. phil. William Stern in Hamburg. Mithin zählt die Gesellschaft: 925 wirkliche einheimische Mitglieder, 173 wirkliche auswärtige Mitglieder, 23 Ehrenmitglieder und 152 korrespondierende Mitglieder. Außerdem zählt die Sektion für Obst- und Gartenbau neben 94 Gesellschafts-Mitgliedern noch 95 zahlende. Die chemische Sektion (Chemische Gesellschaft zu Breslau) zählt außer 66 Gesellschaftsmitgliedern noch 69 Sektionsmitglieder. In den Verwaltungs-Ausschuß wurden gewählt: Herr Geh. Regierungsrat Prof. Dr. Foerster als Präses, Herr Ober-Landesgerichts-Präsident Wirkl. Geheimrat Dr. Vierhaus, Exzellenz als Vize-Präses, ‚„„ Geh. Regierungsrat Prof. Dr. Pax als General-Sekretär, „ Prof. Dr. Rosenfeld als stellvertretender General-Sekretär, „ Kommerzienrat Berve als Schatzmeister und „ Handelsrichter Alfred Moeser als stellvertretender Schatz- meister. In das Präsidium wurden wiedergewählt: Herr Geh. Regierungsrat Professor Dr. Kükenthal, Magnifizenz, „ Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Küstner, „ Stadtrat Julius Müller, „ Oberpräsidialrat Dr. Schimmelpfennig, „» Bürgermeister Dr. Trentin. Allgemeiner Bericht. b) Als Delegierte der einzelnen Sektionen wurden in das Präsidium gewählt von der Medizinischen Sektion: Herr Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Hürthle, » Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Küttner, Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Partsch, » Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Uhthoff, „ Professor Dr. Tietze, von der Hygienischen: Herr Regierungs- u. Geh. Med.-Rat Dr. Telke, von der Naturwissenschaftlichen: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Hintze und „ Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Lummer, von der Zoologisch-Botanischen: Herr Professor Rudolf Dittrich, von der Sektion für Obst- und Gartenbau: Herr Professor Dr. Rosen, von der Historischen: Herr Archivdirektor Geh. Archivrat Dr. Meinardus, von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen: Herr Geh. Justizrat Prof. Dr. Leonhard, ‚„ Professor Dr. Weber, ‚„ Mathematiker Dr. Wagner, von der Philologisch-Archäologischen: Herr Geh. Regierungs- und Provinzial-Schulrat Dr. Miller, von der Sektion für Neuere Philologie: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Appel, von der Mathematischen: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Kneser, von der Philosophisch -Psychologischen: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Baumgartner, von der Katholisch-Theologischen: Herr Domherr Prof. Dr. Joh. Nikel, „ Domherr Dr. Anton Bergel, von der Evangelisch-Theologischen: Herr Professor D. Dr. Hönnicke, von der Technischen: Herr Professor Dipl.‘sug. Wohl, von der Sektion für Kunst der Gegenwart: Herr Architekt Felix Henry, Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Max Koch, Dr) Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. von der Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hütten- wesen: Herr Berghauptmann Wirkl. Geh. Ober-Bergrat Dr. “Ing. Schmeißer, „ Geh. Bergrat Prof. Dr. Frech, „ Geh. Regierungsrat Prof. Dr. Supan, von der Chemischen Sektion (Chemische Gesellschaft zu Breslau): Herr Professor Dr. Röhmann, „ Professor Dr. Bornemann. Die orientalisch-sprachwissenschaftliche Sektion hat keine Wahl vollzogen. Über die Tätigkeit der einzelnen Sektionen berichten die Herren Sekretäre das Folgende: Die medizinische Sektion hielt 23 Sitzungen ab, einschließlich 3 klinischer Abende. Für die Periode 1916/17 sind gewählt: als 1. Sekretär, zugleich als Vorsitzender der Sektion: Herr Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Pohl, als 2. Sekretär, zugleich als stellvertretender Vorsitzender: Herr Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Uhthoff, ferner: Herr Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Minkowski, „ Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Partsch, „ Prof. Dr. Röhmann, „ Prof. Dr. Rosenfeld, „.. Prof. Dr. Dietze: Die hygienische Sektion hielt 1 Sitzung. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Geh. Med.-Rat Prof. Dr. Pfeiffer, „ Geh. Med.- u. Reg.-Rat Dr. Telke. Die naturwissenschaftliche Sektion hielt 4 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Hintze, „ Prof. Dr. Pringsheim, Prof. Dr. Biltz, Prof. Dr. Schaefer. u Allgemeiner Bericht. 7 Die zoolegisch-botanische Sektion hielt 4 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Pax, „ Geh.-Reg.-Rat Prof. Dr. Kükenthal, Magnif. Die Sektion für Obst- und Gartenbau hielt 3 Sitzungen. Zum Sekretär wurde gewählt: Herr Prof. Dr. Rosen, zum Stellvertreter: Herr Kgl. Garteninspektor Hölscher, zum Verwaltungsvorstand: Herr Verlagsbuchhändler und Handelsrichter Max Müller. Die historische Sektion hielt 2 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Kaufmann, „ Archivdirektor Geh. Archivrat Dr. Meinardus, „ Prof. Dr. Schoenaich. Die Sektion für Rechts- und Staats-Wissenschaften hielt 9 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Oberlandesgerichts-Präsident Wirklicher Geheimrat Dr. Vier- haus, Exzellenz, „ Geh. Justizrat Prof. Dr. Leonhard, „ Prof. Dr. Weber. Die philologisch-archäologische Sektion hielt 3 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Foerster, „ Geh. Reg.-Rat u. Prov.-Schulrat Dr. Miller. Die orientalisch-sprachwissenschaftliche Sektion hielt 2 Sitzungen. Eine Sekretärwahl hat nicht te funden! 8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Die Sektion für neuere Philologie hielt 3 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Appel, „ Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Max Koch, „ Prof. Dr. Diels, „» Prof. Dr. Schücking. Die mathematische Sektion. Zu Sekretären werden gewählt: Herr Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Kneser, „ Realschuldirektor Prof. Dr. Peche. Die philosophisch-psychologische Sektion hielt 6 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Privatdozent Dr. Guttmann, zugleich Vorsitzender, » Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Baumgartner, » Prof. Dr. Kühnemann, „ Prof. Dr. Hönigswald. Die katholisch-theologische Sektion hielt 2 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Domherr Prof. Dr. Joh. Nikel, „» Privatdozent Prof. Dr. Rücker. Die evangelisch-theologische Sektion hielt 3 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Prof. D. Dr. Hönnicke, » Kircheninspektor Propst D. Decke. Die technische Sektion hielt 1 Sitzung. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Prof. Dipl.-Sng. Wohl, „». bror. Schillme: Allgemeiner Bericht. 9 Die Sektion für Kunst der Gegenwart hielt 5 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Architekt Felix Henry, „ Baurat Karl Grosser, »„ Geh. Reg.-Rat Professor Dr. Max Koch, „„ Privatdozent Dr. Landsberger, „ Professor Max Schneider. Die Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen hielt 2 Sitzungen. Zu Sekretären wurden gewählt: Herr Berghauptmann Wirkl. Geh. Oberbergrat Dr.-Sng.Schmeißer, ‚„„ Geh. Bergrat Prof. Dr. Frech, „„ Geh. Reg.-Rat Prof. Dr. Supan., Zum Schriftführer wurde gewählt Herr Cand. d. höh. Lehramts Köster, Die Chemische Sektion (Chemische Gesellschaft zu Breslau) hielt 5 Sitzungen. Zum Vorstand der Sektion wurden gewählt: Herr Professor Dr. Röhmann, Vorsitzender, » Prof. Dr. Bornemann, | „ Direktor Dr. Schultz, JS „ Prof. Dr. Glatzel, Kassenwart, „ Prof. Dr. Herz, Schriftführer. Beisitzer, Allgemeine Versammlungen haben 5 stattgefunden. In ihnen wurden folgende Vorträge gehalten: 1. Am 29. Januar: von Herrn Geh. Regierungsrat Professor Dr. Aereboe: „Die Agrarzustände Rußlands und seiner Fremdvölker“ | (mit Lichtbildern). 2. Am 17. März: von Herrn Professor D. Dr. Rudolf Otto: „Indiens Religionsparteien und der Krieg‘ (mit Lichtbildern). 10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. . Am 13. Juli: [s»} von Herrn Geh. Regierungsrat Professor Dr. Kaufmann: „Zum Gedächtnis Gustav Freytags an seinem 100. Geburtstage.‘ 4. Am 12. Dezember: von Herrn Geh. Regierungsrat Professor Dr. R. Foerster: „Ein Schlesischer Architekt (Eduard Schaubert) im Lande der Hellenen‘“ (mit Lichtbildern). 5. Am 27. Oktober fand eine „Gedächtnisfeier für den verstorbenen Generalsekretär der Ge- sellschaft, Geh. Medizinalrat Professor Dr. Albert Neisser‘“, statt im großen Saale des Gesellschaftshauses, welcher in sinniger Weise von der Stadt Breslau mit Gewächsen geschmückt worden war, ebenso wie das von Fritz Erler gemalte Bildnis des Verewigten mit Lorbeer umkränzt war. Eine stimmungsvolle Eröffnung der Feier bildete ein Streichquartett, das die Herren Behr, Hermann, Melzer und Mundry spielten. In vollendeter Weise, tief zu Herzen gehend, erklang die wunderbar empfin- dungsvolle Kavatine aus dem B-dur-Konzert von Beethoven, ein Lieblings- stück Neissers, von dem er einmal gewünscht hatte, daß es an seinem Sterbebette gespielt werden möchte. Das erwähnte in der nachfolgenden Ansprache der Präses der Gesellschaft, Geheimrat Professor Dr. Foerster, der in seinen dem dahingeschiedenen Mitgliede gewidmeten herzlichen Worten zunächst auf die Besonderheit der Persönlichkeit Neissers einging, daß sich in ihr die wissenschaftliche und die künstlerische Begabung das Gleichgewicht zu halten schienen. Er schilderte Neissers begeisterte Kunst- liebe, seine hohe Kennerschaft auf dem Gebiete der Musik wie der bilden- den Künste, sein ungewöhnliches musikalisches Talent, das ihn in seiner Jugend sogar schwanken ließ, ob er nicht die musikalische Laufbahn ein- schlagen solle, und sein vornehmes Mäzenatentum, das auch ein Segen für die Allgemeinheit war. Neissers Drang, der Allgemeinheit zu dienen, be- stimmte ihn auch, sich bald nach seiner Übersiedelung von Leipzig nach Breslau der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur anzuschließen. Schon 1894 war er einer der Sekretäre der Medizinischen Sektion ge- worden und gehörte zu deren Delegierten im Präsidium, und dreimal wurde er zum Vorsitzenden der Sektion gewählt. Alle seine Beobachtungen und Entdeckungen hat er zuerst der Medizinischen Sektion vorgelegt. Als dann 1913 Geheimrat Ponfick von hinnen schied, wurde Neisser zum General- sekretär der Gesellschaft gewählt. „Und so schuldet,“ so schloß der Redner, „die Gesellschaft ihm tiefsten Dank und den rufe ich ihm nach als der Präses der Gesellschaft — zugleich mit einem persönlichen Dank Allgemeiner Bericht. 11 für die stete Anhänglichkeit, die er mir von den Tagen, da er auf dem Maria-Magdalenen-Gymnasium mein Schüler war, bis in seine letzten Tage hinein gewidmet hat‘, Die Gedächtnisrede hielt Herr Professor Dr. Jadassohn aus Bern, ein Schüler, einer der vertrautesten Freunde und Mitarbeiter Neissers. (Die Rede folgt unten Seite 15.) e Am 17. März wurde eine außerordentliche Haupt- \ersarım ag abgehalten mit der Tagesordnung: „Ersatzwahl für den Stellvertreter des Präses bezw. ein Mitglied des Verwaltungs-Ausschusses‘‘. Herr Oberbürgermeister Dr. Bender hatte ersucht, für sich als Vize-Präses einen Nachfolger zu wählen, da er wegen zunehmender Alters- beschwerden gezwungen sei, das Amt niederzulegen. Nachdem der Vorsitzende Geh. Regierungsrat Professor Dr. Foerster . die schriftlich eingegangene Erklärung dieser Amtsniederlegung mitgeteilt hatte, erinnerte er daran, daß die Gesellschaft ihrem bisherigen Vizepräses sroßen Dank schuldig sei. Oberbürgermeister Dr. Bender habe das Amt fast vierundzwanzig Jahre lang in segensreicher Tätigkeit verwaltet, und darunter seien manche recht schwierigen Jahre gewesen. Als nach Heidenhains Abscheiden zwei kurzdauernden Präsidien ein Interregnum folgte, habe Dr. Bender das Schiff der Gesellschaft sicher durch die Klippen gesteuert. Weiter führte er an, wie der ehemalige Oberbürger- meister von vornherein richtig erkannte, welchen Wert eine solche wissen- schaftlich forschende Gesellschaft für Stadt und Provinz besitze, welche wertvolle Dienste er der Gesellschaft in den Zeiten der Vorbereitung für die Feier ihres 100jährigen Bestehens geleistet hat, wie er freudig half das schöne Heim zu errichten und wie er sich als Mitglied der Bau- kommission in unvergeßlicher Weise betätigt hat. Da sei der Gesellschaft ın der Tat sein Scheiden aus dem Amte schmerzlich, aber erfreulicher- weise bleibe er durch das Band der Ehrenmitgliedschaft mit ihr zu- sammengeschlossen, und die Gesellschaft hoffe, ihn noch recht oft in ihrem Kreise begrüßen zu können. — Zum Ausdruck des verehrungsvollen Dankes für Oberbürgermeister Dr. Bender erhob sich die Versammlung von den Plätzen. Bei der hierauf vorgenommenen Ersatzwahl für den Rest der Ende 1916 ablaufenden Amtsdauer vereinigten sich von den abgegebenen 14 Stimmen 13 auf den Oberlandesgerichtspräsidenten Wirkl. Geh. Rat Dr. Vierhaus, der die Wahl dankend annahm. 12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Präsidial-Sitzungen haben 3 stattgefunden. Als wesentlichste Mitteilungen und Beschlüsse aus denselben sind hervorzuheben: In der Sitzung am 27. Juli beglückwünschte im Namen der Gesell- schaft der stellvertretende Vorsitzende Exzellenz Vierhaus den Präses, Herrn Geheimrat Foerster zu seinem am nächsten Tage stattfindenden 50jährigen Dokter-Jubiläum, indem er dabei Anlaß nahm ihm den wärmsten Dank der Gesellschaft für alle die großen ihr geleisteten Dienste auszusprechen. Dem Ehrenmitgliede der Gesellschaft Herrn Geh. Ober-Regierungsrat Prof. Dr. Engler-Berlin, wurden aus Anlaß seines 50jährigen Doktor- Jubiläums, desgleichen dem Ehrenmitgliede Herrn Geh. Ober-Medizinalrat Prof. Dr. v. Waldeyer-Hartz-Berlin zu seinem 80. Geburtstage die Glückwünsche der Gesellschaft durch den Präses schriftlich übermittelt. Zum stellvertretenden Mitgliede der Provinzial-Kommission zur Er- haltung der Denkmäler Schlesiens wurde Herr Baurat Grosser gewählt. An Stelle des verstorbenen Geheimrat Neisser wurde Herr Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Küstner zum stellvertretenden Delegierten für das Kuratorium des Schlesischen Museums der bildenden Künste gewählt. Die Goldene Medaille der Pariser Weltausstellung von 1868, welche der Gesellschaft durch Herrn Elsner v. Gronow überwiesen worden war, ist nach einstimmigen Beschlusse des Präsidiums der Goldsammlung des Reiches überwiesen worden. Herr Bildhauer Schulz hat in dankens- werter Weise einen Abguß der Medaille für die Sammlung der Gesellschaft angefertigt. Der verstorbene Rentier Hermann Auerbach, unser langjähriges ein- heimisches Mitglied, hat den 22fachen Betrag seines Beitrages — M. 220 der Gesellschaft testamentarisch vermacht. Der stellvertretende Generalsekretär, Herr Professor Dr. Rosenfeld hat am 28. November der Gesellschaft ein Kapital von 6000 M. der 3. Kriegs- anleihe als Stiftung zum Andenken an seinen am 1. Juli 1916 bei Esteces gefallenen Sohn, den Assistenzarzt der Reserve Dr. med. Rudolf Rosenfeld überwiesen mit der Maßgabe, daß jedes 2. Jahr aus den Zinsen eine wissenschaftliche medizinische Arbeit eines jungen Forschers vom Präsidium preisgekrönt werden soll. Die allerhöchste Genehmigung zur Annahme seitens der Gesellschaft ist nachgesucht worden. Allgemeiner Bericht. 15 Bericht über die Bibliothek. Die im Austausch eingegangenen Gesellschaftsschriften und Zeitschriften lagen in der üblichen Weise im Lesezimmer des Gesellschaftshauses mehrere Wochen zur Benutzung aus und wurden dann regelmäßig von der Königlichen und Universitäts-Bibliothek übernommen. Als Geschenkgeber seien mit Dank genannt: Das Kuratorium der Kommerzienrat Fraenkel’schen Stiftungen hierselbst, die Deut- sche Bücherei des Börsenvereins der Deutschen Buchhändler in Leipzig, sowie die Herren Stabsarzt Professor Dr. Eugen Fischer in Freiburg i. Br. und Privatdozent Dr. R. N. Wegner in Rostock i.M. Dem Schriftenaustausch ist im Jahre 1916 beigetreten: University of Illinois Library, Urbana, Illinois. Bericht über das Herbar der Gesellschaft. Trotz der Ungunst der Zeitverhältnisse hat der Pflanzenbestand des Herbars auch im Laufe dieses Jahres erhebliche Bereicherung erfahren; unter den Spendern der Belegstücke für die z. T. recht interessanten Neu- funde sind besonders die Herren Parkdirektor Lauche (Muskau) und Lehrer Schalow (Breslau) hervorzuheben. Die eigentümliche Verteilung seiner amtlichen Dienststunden ermöglichte es dem Unterzeichneten, zahl- reiche ausgedehnte Studienfahrten durch Nieder- und Mittelschlesien aus- zuführen, durch die auch die Bilderreihe wertvoller dendrologischer Schau- stücke wesentlich vergrößert wurde. Auch die Sammlung schlesischer Meßtischblätter erhielt einen nennenswerten Zuwachs. Breslau, den 31. Dezember 1916. Prof. Dr. Theodor Schube, 14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Kassen-Verwaltungsbericht für das Jahr 1916. Zu dem Bestand des Gesellschaftsvermögens am 51. Dezember 1915 von in baren in Wert- Separat-Fonds : i nl betr. Stiftungen, nn 2 nn Vermächtnisse NeNnwer usw. von HM M M 6 093,72 1 000,— 300,— traten an Einnahmen im Jahre 1916 hinzu 20 a Ra ee en ZONE 199,50 6 000, — 23 804,53 1 199,50 6 300,— Verausgabt wurden im Jahre 1916 16 200,41 —,— nn mithin verbleiben: in bar 7604,12 in baren Separat-Fonds betr. Stif- tungen, Vermächtnisse usw. . 1 199,50 in Wertpapieren im Nennwert von 6 300,— Breslau, den 31. Dezember 1916. Berve Schatzmeister. hr 1916. Barer Separat- ” Fonds betr. were NR 5 apierein %&ine Kasse. u IE Nennwer ısgabe. Le ıR ii 1. | Bestand am hnterstützungen 25 Se 9. | Zinsen von 14 Wasserverbrauch: Div. fü) BL 22) 1050604 vereir | Zinsen M 270,29 Bank 0352,94... 1623.93 | 3. |Mitglieder-Be . - - . 2 »..28,62| 2157| 89 Ei eemheimilien., ae... 131| 30 b. BEN NEE NER UL EL, 482| 18 c. BR a Aa Drssle. 2] aen13 4 Aauswarli . . . BEN RERLEN 26| 35 e. „ eekoren REIN N ie 2| 30 ik EG TEA RS RL KOST, DOREEN CB LTE NAT 9423| 25 | Asalesahresbeittad Dar an 563| 20 | Delannesbeitradg 20 ee 759| 70 6. | Außerordent Werkaul u 2020022 203,92 enEmnahmen!! . .... 2... 143,14 347| 06 en FIR urengesn 701 75 Da tuelaue INT NER N er ze Ngr er c. NOrNSaton nl Aaron — Be mlostaus een... Ertl. = nn 9. | Stiftung Pro - . . N a ie aber 1916 . } 2760 — —- Stiftungen, ehe usw. | RR RE EN 1199| 50 | ‚im Nennwert von M | reins-Antel . . „.300,— feld in 3. Kriegs- | 2 RR 6 30 RAS. 23 804 53 Br... 1l au so | 1m | am 50 6 301 a N Breslihen und richtig befunden. März 1917. Rechnungsrevisor. Kassen-Abschluss für das Jahr 1916. ü x Bar [reed (er; F Pens aree | wort Biel Allgemeine Kasse. a | Allgemeine Kasse. aaa fen Yan, |Nernwert Einnahme. — tl #4 Bl 4 Ausgabe. Le Zr ee Bl 1. | Bestand am 31. IDezem be @1|O)1 7 6093] 72 | 1000| — 300 - | Gehälter und dauernde Unterstützungen er, ron —; | = 9. | Zinsen von Wertpapieren und Guthaben: Heizung, Beleuchtung und Wasserverbrauch : ü Div. für 1915 7°, von A 300 Schles. Bank- a, Koks, Kohle, Hlz . . . . . cd 1506,04 vereins-Antell . . > oa dd Aa b. Beleuchtung: Zinsen von Guthaben beim Schles. | Elektrisch. . . Ab 270,29 Bankyereı ee 25671 257 73 Gasyae 352,94 3. | Mitglieder-Beiträge: | WAS ee 23,62 | 2157| 39 BEN a. einheimische für 1914 (8) . - . db 80,— 3. | Schreibbedarf und Materalien . . 2 2.2. 2.2. 131) 30 b. „ für 1915 (28) . » „» 280,— aa EZeitungsinserate er er ur u Er re 482| 18 e " für 1916 (940) . . „9400, | | & || Ductoien © © © ou 2 o a 00.005 all Bill 8 d. auswärtige für 1912/13/14 (3) . - = 18, — | || 6. | Versicherungen (Feun) . . . . EN ER 36| 35 e. „ für 1915 8)... . - „ 18,— | | 7. | Stempel, Steuergebühren, Gesichtekosten a ep 2| 30 L. m für 1916 (162) . . . ,„ 972,— |10768| — | 8. SEN. a 0.10 Bol 88.006000 942) 25 4, | Jahresbeitrag der Provinz Schlesien cn en ne - 3000| — 91 BRleine@Auszaben se sur) ru er 563 20 5, | Jahresbeitrag der Stadt Breslau . . »- . 2... 2000 — 10‘3 |BBorto-A'usc. abe were Pa. Ir 759| 70 6. | Außerordentliche Einnahmen: || 11. | Fernsprecher: Verkauf von Schriften, Leihgebühren etc. . . - 429| 93 It N09 3/10 2 er 1203°92 7. | Einnahmen aus dem Gesellschaftshause: IN „ 9475 ee LEH 347| 06 — u I a. durch Vermietungen . . . . . JM 980,— |, 12. | Instandhaltung des Gebäudes . . . 2. 2 2 2... 70| 75 b. Rückvergütung für Heizung . : » 93,50 139 |WPostscheck Kontor a al — e. y n Beleuchtung . „ 181,65 1255| 15 | 14. | Hypothekenzinsen und A oreation oe 80 0.) AN — 8. | Erlös aus einer goldn. Medaille u. aufgelaufene Zinsen 199) 50 | 15. | Außerordentliche Unkosten . . . 2 2 2 2.0. P = Stiflung Prof. Rosenfeld in 3. Kriegsanleihe . 6 000 | 16. | Verschiedenes . . . GE reg 740 — | Barbestand am 31. Dee 1816. o | 7604| 12 Te Barer Separat-Fonds betr. Stiftungen, Vermächtnisse usw. || lt. Rechnungsbuch S a 1199| 50 IN Bestand an Wertpapieren im Nee von dB | Schlesischer Bankvereins-Antel . . „ 300,— | Stiftung Prof. Rosenfeld in 3. Kriegs- | || anlei he se | ee 61000, | 6 300 en | er RT 23 804 "| 1199 oo 23 804 | 1199 | 6.300 l 7 | ul I Breslau, den 31. Dezember 1916. Geprüft, mit den Belegen verglichen und richtig befunden. Berve, Schatzmeister. Breslau, den 28. März 1917. Leser, Rechnungsrevisor. Gedächtnisrede auf Albert Neisser gehalten von Herrn Professor Dr. Jadassohn-Bern (siehe S. 11). Drei Monate sind vergangen, seit mich an einem strahlenden Sommertag in einem bündnerischen Bergdorf die Nachricht von Albert Neissers Tode erreichte. Ich wußte nichts von seiner akuten Erkran- kung. Es war mir nicht vergönnt, mit den nächsten Angehörigen und Freunden seine letzte Fahrt zu begleiten. Aus dem ersten dumpfen Schmerz weckte mich wenige Tage später die Aufforderung, in Ihrer Mitte Gedenkworte an unseren Freund und Lehrer zu sprechen. Hier, wo er so oft die reifen Früchte seiner Arbeit Ihnen dargebracht, hier, wo ich unter seiner Leitung vor vielen Jahren die ersten zagenden Schritte medizinischer Forschung getan, schien auch mir der rechte Ort zu sein, sein Bild noch einmal erstehen zu lassen. Ich sagte ohne Zögern zu. Jetzt empfinde ich neben der nie versiegenden Trauer um seinen Verlust und neben der unauslöschlichen Dankbarkeit für alles, was er uns und was er mir war, die ganze Schwere der mir gestellten Aufgabe. Je reicher Wesen und Wirken eines Menschen war, um so weniger kann es gelingen, in einer kurzen Stunde es so darzustellen, daß Nahe und Ferne das Gefühl der Lebenswahrheit haben. Sie aber, unter denen er bis zuletzt geweilt, werden selbst ergänzen, was bei mir trotz besten Willens unvollständig bleibt. Das Lebenswerk Albert Neissers ist nur zu erfassen, wenn man sein Wesen in seinen großen Zügen kennt. Sein Lebenslauf ist jetzt oft geschildert worden. Die menschlichen, zeitlichen und örtlichen Einflüsse, von denen unser aller Schicksal zu einem guten Teil abhängt, sind ihm besonders günstig gewesen. Er hat oft gesagt, daß er viel Glück im Leben gehabt habe. Damit hat er nicht seine außergewöhn- lichen Gaben gemeint, sondern die äußeren Umstände. Im Elternhause hat ‘der Knabe die wärmste Familienliebe mit der Pflege aller höheren Interessen, Pflichtgefühl und zielbewußte Arbeit mit edler Geselligkeit und Freundschaft vereinigen gelernt. Dafür ist er zeitlebens dankbar geblieben. Er hat es als Gunst des Geschicks empfunden, daß er auf- gewachsen ist in der Zeit der gewaltig aufstrebenden Entwicklung Deutschlands und in der Periode, in der Naturwissenschaften und Medizin zu immer höherer Blüte gediehen. Er hat auf seinen zahlreichen Reisen 16 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. viele internationale Beziehungen angeknüpft und hat sie bis zum Kriege gern gepflegt. Aber er war, wie er immer betont hat und wie besonders seine Kriegsaufsätze beweisen, in allererster Linie begeisterter Deutscher — und dann hing er mit wärmster Liebe an unserer schlesischen Heimat. Er zog Breslau auch der Reichshauptstadt als Wirkungsort vor und be- tätigte sich lange und mit regstem Eifer in den städtischen Behörden. Hier hat er die Grundlagen seiner allgemein-wissenschaftlichen Bildung auf dem Magdalenäum erworben, dem er sehr anhänglich war. Hier hat er nicht bloß als fröhlicher Student die medizinische Schule durch- gemacht, sondern auch bei Heidenhain, Biermer, Cohnheim, Weigert, Ferdinand Cohn und bei Robert Koch sein ganzes Lebenswerk beeinflussende Impulse erhalten und die Freundschaft mit Paul Ehrlich geschlossen, der er noch vor wenigen Monaten in einem Nekrolog ein jetzt doppelt ergreifendes Denkmal gesetzt hat. Hier hat er bei Köbner und Simon das Interesse für unser Spezial- gebiet gewonnen. Seine Studien in Wien, seine Dozententätigkeit in Leipzig waren nur kurze Intermezzi. In seiner Heimat hat er auch seine Lebensgefährtin gefunden, Was diese Frau mit ihrer Herzens- und Geistesgröße für ihn gewesen ist, kann einigermaßen ermessen nur, wer im Neisserschen Hause als Freund verkehren durfte. Ihr Verlust war der schwerste Schlag in seinem Leben. So sehr er aber auch selbst alles dem Zufall zuzuschreiben geneigt war, so sehr war doch der hauptsächlichste Grund für seine Bedeutung in Wissenschaft und Leben in seiner Individualität gelegen. ‚Wenn irgend wer, so war Albert Neisser „kein ausgeklügelt Buch, er war ein Mensch mit seinem Widerspruch“. Sein Wesen kritisch zu zergliedern, ist kaum möglich, aber auch nicht nötig. Denn wer ihn kannte, dem steht sein lebensprühendes Gesamtbild vor Augen; wer ihn nicht kannte, dem kann man wohl seine einzelnen ‘Eigenschaften schildern; aber nie wird er einen vollen Eindruck seiner außergewöhn- lichen Persönlichkeit erhalten. So muß ich fast um Entschuldigung bitten, wenn ich doch versuche, wenigstens in einigen Strichen sein Bild zu zeichnen, wie es sich dem treuen Freundesauge darstellt. Man hat oft gesagt, daß Neisser eine Künstlernatur sei, — nicht weil er für die Künste und besonders für seine geliebte Musik ein so tiefes Verständnis hatte, sondern weil er alles, auch in der Medizin, mit einer genialen Intuition angriff, weil er schon bei einem ersten Gedankenklitz einen ganzen Bau vor sich sah, weil er die Wege zur Erreichung seiner Ziele mit einer oft verblüffenden Sicherheit wählte. Es ist gewiß nicht richtig, wenn man künstlerische Begabung mit durchdringendem scharfen Verstand gern in einen fast prinzipiellen Widerspruch setzt, Gerade Gedächtnisrede auf Albert Neisser., 17 bei unseren großen Medizinern sehen wir zum Glück für unsere Wissen- schaft, die auch jetzt noch den ehrenden Beinamen „ars mediea“ trägt, beides oft vereint, und bei Neisser war diese Vereinigung eine besonders innige und glückliche. Aber noch anderes war ihm eigen, was kein wahrer Künstler und kein wahrer Wissenschaftler entbehren kann, nämlich der unermüdliche Fleiß, die Treue zu seinem Werk, das Gefühl der Pflicht, auch in alle Einzelheiten: sich zu versenken, sorgfältig und objektiv zu beobachten und die unerschütterliche Wahrheitsliebe bei der Arbeit. Künstler war er auch als Organisator. Nicht durch vorherige Überlegung aller Einzelheiten gelang es ihm, die vielen Menschen, deren er bedurfte, an den richtigen Platz zu stellen, sondern er hatte auch dafür ein fast untrügliches Gefühl. Aber er benutzte seine Helfer nicht wie Schach- fisuren; für jeden hatte er wärmstes menschliches Interesse und er durfte sich wohl sagen, daß, wenn er sie seinen leitenden Gedanken unterordnete, er damit zugleich auch ihr persönliches Wohl am besten förderte. Wer überhaupt Sinn für gemeinsame Arbeit an einer großen Aufgabe hat, der merkte das auch bald, selbst wenn er sich im Anfang etwas gewaltsam gedrängt und geschoben fühlte. Dabei war Neisser, ‚wie er selbst oft gesagt hat, viel zu optimistisch, viel zu vertrauensvoll, um immer ein guter Menschenkenner zu sein. Er hat sich in Manchem getäuscht und hat das oft bitter genug empfunden — aber nie für lange Zeit. Immer wieder gab er sich mit der größten Offenheit — Heimlichtun war nicht seine Sache — und er nahm lieber die Enttäuschungen in den Kauf, als daß er sich in der schwierigen Kunst kluger Zurückhaltung, die seinem Naturell so wenig lag, geübt hätte. Er war impulsiv, und das war die Eigenschaft, um derentwillen er am häufigsten mißverstanden ‚worden ist. Einem auftauchenden Gefühl gab er oft sofort Ausdruck; mit bewundernswerter Schnelligkeit kamen ihm die Gedanken, er konnte es nicht erwarten, sie in die Tat umzusetzen. Aber dann folgte doch mit der ruhigeren Beobachtung immer wieder die Kritik, und er übte sie an seinen eigenen Arbeiten mehr als an denen anderer. Impulsiv war er auch im Verkehr mit den Menschen, am meisten mit denen, die ihm am nächsten standen. Er konnte namentlich in jüngeren Jahren manchmal brüsk auftreten, er konnte hart tadeln, am härtesten, wenn ihm bei den Kranken etwas versäumt schien oder wenn er den sachlichen Ernst bei der Arbeit vermißte. Auch in wissenschaftlicher Polemik führte er eine scharfe Klinge. Aber er trug nicht nach; er gab in der liebenswürdigsten Weise zu, wenn er einmal zu weit gegangen war, und auch wo er über- zeugt sein konnte, daß man ihm Unrecht getan, hatte er die köstliche Gabe, nicht bloß zu vergeben, sondern zu vergessen. So hohe Ansprüche wie an sich selbst, stellte er an die anderen nicht, aber er verlangte doch viel von seinen Mitarbeitern — und sie wuchsen mit ihren höheren Zwecken. 1916. 2 18 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Wie alle energischen Menschen hatte auch Neisser, wenn er mitten in Arbeit und Kampf stand, eine Selbstsicherheit, die ihm jedes seiner Ziele in greifbare Nähe rückte. Er war aber zugleich. von einer tiefen Bescheidenheit. Das zeigte sich gerade darin, daß er immer wieder von dem Glück sprach, das er gehabt. Er freute sich über jede der vielen Anerkennungen, die ihm wurden, und er konnte seine Freude zeigen; er empfand die Kränkungen, von denen auch er nicht,verschont geblieben ist, schmerzlich; nie aber wurde er bitter und nie ließ er sich dadurch in seiner Arbeit beirren. Bei aller äußerer Festigkeit war er doch eine weiche Natur; man sah das oft, wenn er mit Kindern verkehrte oder wenn er ihm :Nahe- stehenden Schweres zu tragen half oder wenn ihm bei einer festlichen Gelegenheit Liebe und Verehrung dargebracht wurde, was ihn ganz be- sonders rühren konnte. Seinen Körper hatte er gestählte Er hat große Alpentouren gemacht. hat noch spät manchen Sport getrieben — er hatte ja zu allem Zeit. weil er ein Meister in Ordnung und Zeiteinteilung war: und wenn er — allzuoft! — krank war, leistete er trotz seiner großen Sensi- bilität, so lange es ging, Widerstand; mußte er aber nachgeben, so machte, war eine Attacke überwunden, die Rekonvaleszenz dank seiner Energie oft Riesenschritte. Seine Liebe zu den Menschen und besonders zu den Kranken und Schwachen war unbegrenzt. Helfen mit Rat und Tat war ihm wie seiner Frau Bedürfnis; auch da ließ er sich durch Enttäuschungen nicht ab- schrecken. Untätig zusehen konnte er nicht, wenn er leiden sah. Ent- weder er griff aktiv und energisch ein, oder, wenn das nicht möglich war, stürzte er sich in die Arbeit; das tat er auch, wenn er selbst Schweres zu erdulden hatte. So habe ich ihn, als seine Frau vor vielen Jahren lange gefährlich krank war und nur Ruhe ihr gut tun konnte, von früh bis spät in der Klinik und am Schreibtisch in selbst für ihn außerge- wöhnlicher Weise tätig gesehen. und auch nach ihrem Tode suchte er sofort in der Arbeit Trost und wenigstens äußere Ruhe. Er war oft nicht geneigt. auf die Gefühle anderer einzugehen, wenn er glaubte, daß sie sich darein versenkten. In ernstem Leid aber fand er die herzlichsten Töne und bei seinen Patienten hörte er mit einer ihm sonst nicht immer zur Verfügung stehenden Geduld auf alle ihre Klagen. Da konnte er aufs wärmste mitempfinden und trösten. Er war ein Freund wie wenige und es war erstaunlich, an wie vielen Einzelschicksalen er und seine Frau dauernd mit Rat und Tat wärmsten Anteil nahmen. Auch seinen Schülern war er nicht bloß Lehrer, sondern — und noch mehr als das — Freund. Er ertrug auch von den Jüngsten Widerspruch, ging auf jede Anregung ein und, wenn er einmal ihm zunächst falsch Er- Gedächtnisrede auf Albert Neisser. 19 scheinendes schroff abgelehnt hatte, so konnte er nach Tagen oder Wochen darauf zurückkommen; man sah, und er sagte es, er hatte dar- über nachgedacht und nahm die unterbrochene Diskussion wieder auf. So intensiv er aber auch für viele einzelne Menschen tätig war, so fand doch sein humanitäres Bedürfnis darin nicht volle Befriedigung. Für alles Gemeinnützige war er voll tatkräftiger Begeisterung; ein großer Teil seiner Tätigkeit, das was mit der Prophylaxe der venerischen Krankheiten und der Tuberkulose zusammenhing, beruhte auf seinem Bestreben, Not und Elend des Volkes zu lindern. Bei aller Arbeitsfülle war Neisser doch fähig, die Freuden des Lebens zu genießen, am meisten wohl Musik und Natur. Für Geselligkeit im Haus fand er nach des Tages Mühe immer noch Zeit. Sein schönes, von befreundeten Künstlern geschmücktes Heim liebte er; aber ich habe gerade auf Reisen oft gesehen, wie einfach er im Grunde in seinen Lebensansprüchen geblieben war. Wie großzügig er beim Wohltun, bei Opfern für Kunst und Wissenschaft war, hat er unzählige Male gezeigt; jedoch unnützes Verschwenden konnte er nicht ertragen. — Lassen Sie mich mit dieser Schilderung abschließen. Er selbst würde schon längst gerufen haben: „Hör auf, hör auf, das bin ich ja gar nicht.“ Kleine menschliche Schwächen waren auch ihm nicht fremd; denn wo so viel Licht ist, da gibt es auch Schatten. Aber mit den Jahren waren sie immer mehr zurückgetreten, und es bedurfte nicht der ver- klärenden Macht des Todes, um uns seine Persönlichkeit als eine ebenso außerordentlich liebenswerte wie große erscheinen zu lassen. — Und nun seine Lebensarbeit. Mir liegt es nur ob, zu schildern, was die Medizin und ganz besonders unser Fach ihm verdankt. Er wurde 1877 Assistent der neu errichteten dermatologischen Klinik im Allerheilgen-Hospital in Breslau Köbner, dessen rast- losen Bemühungen diese Klinik, die erste in Preußen nach Berlin, zu ver- danken war, war wegen Krankheit schon beurlaubt und konnte die mühsam durchgesetzte Professur nicht antreten. Neisser hat seine großen Verdienste um die Entwicklung der Dermatologie besonders in Breslau immer auf das wärmste anerkannt. Die Klinikleitung übernahm dann sein sehr verehrter Lehrer Oscar Simon, welcher schon. nach 4 Jahren starb. Dessen Nachfolger wurde Neisser. Die älteren unter Ihnen werden noch wissen, wie unzureichend damals Räume und Ausstattung diesese Institutes waren. Äußerlich kann nichts den durch Neisser erzielten Fortschritt besser charak- terisieren als ein Vergleich dieses Erinnerungsbildes mit der jetzigen Klinik. Wichtiger aber ist es, dem Stand unseres Faches zur Zeit, als Neisser sich ihm verschrieb, den heutigen gegenüberzustellen. Es galt damals meist nur als unwesentlicher Appendix bald mehr der 98% 30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. inneren Medizin, bald mehr der Chirurgie. Wohl war die Dermatologie in Frankreich und England schon zu einer gewissen Blüte gelangt, aber ihre Entwicklung hatte unter den vagen allgemein-pathologischen Vor- stellungen über die Diathesen in diesen Ländern sehr gelitten. Es war das unvergängliche Verdienst Ferdinand Hebras, daß er durch die nüchterne klinische Beobachtung und durch die anatomische Unter- suchung die einzig sichere Basis für den wissenschaftlichen Ausbau der Lehre von den Hautkrankheiten schuf. Auch in der Venereologie waren die Wiener mit ihrer gesunden Empirie lange Zeit für Deutschland maßgebend. Und so hat sich Neisser immer als zur damaligen Wiener Schule gehörig betrachtet — wie weit er auch über sie hinaus- wuchs. Gründliche klinische und anatomische Kenntnisse hielt er für unser « und w. Dem Ausbau der Dermatologie in morphologischer Richtung hat er jederzeit sein Interesse bewahrt, und er selbst und seine Schüler haben auch dazu ungezählte Beiträge geliefert. Unendlich viel ‘wichtiger jedoch — und das war das wesentlichste Moment für unser Fach seit dem Beginn von Neissers Tätigkeit und durch ihn ı— war ihm ätiologische und allgemein-pathologische Forschung. Virchow, Cohnheimund Robert Koch waren die Leitsterne, unter denen er zeitlebens arbeitete und arbeiten ließ. Aber er war nicht nur Theoretiker, nicht nur Experimentator, sondern er war Kliniker und er war be- geisterter Therapeut. ‚Entsprechend dieser Mannigfaltigkeit waren auch die Arbeits- methoden, die er verwertete und verwerten ließ, außerordentlich ver- schieden. Physiologische Versuche, die er bei Heidenhain begann, normale und pathologische Anatomie, mikroskopische Technik, Bakte- riologie, Serologie, Chemie, Physik, Statistik, literarische Studien auf breitester Basis — alles trieb er und alles wurde bei ihm getrieben. Er verfolgte die Publizistik fast der gesamten Medizin, machte selbst an- dauernd Notizen, suchte überall, was er etwa für sein Fach verwerten könne, ließ sich, wo er immer konnte, belehren und in neue Ergebnisse einweihen — kurz er war von einer Vielseitigkeit, wie sie in unserer spezialistischen Zeit außerordentlich selten geworden ist. Unzählige Anregungen, die von ihm ausgingen, sind nicht bis zum Ende verfolgt worden, weil die Fülle des zu Verarbeitenden zu groß war. Aber was von ihm und seinen Schülern zur Veröffentlichung gereift ist, ist noch immer erstaunlich viel. Es kann natürlich nicht meine Aufgabe sein, hier eine systema- tische Übersicht über Neissers eigene und die aus der Klinik hervor- gegangenen Arbeiten zu geben. Auch die letzteren gehören zuseinem Lebenswerk, da er sie zu einem großen Teil angeregt, immer aber mit tatkräftigem Interesse verfolgt hat. Ich möchte nur in ganz großen Gedächtnisrede auf Albert Neisser. 21 Zügen auf der einen Seite das andeuten, was in buntem Wechsel Klinik, normale und pathologische Anatomie und Physio- logie und Therapie in der speziellen Dermatologie angeht. Auf der anderen Seite steht, was unzweifelhaft das Wichtigste an seinen Leistungen ist. Es ist kein Zufall, daß das die Themata sind, mit denen er begonnen und an denen er fast unausgesetzt gearbeitet hat: Tuberkulose und Lepra, Gonorrhoe und Syphilis. Denn das sind die Krankheiten, bei denen die beiden Hauptzüge seines Wesens als Arzt am meisten Betätigung finden konnten: sein Streben, Ätiologie und allgemeine Pathologie aufzuklären und sein heißer Wunsch, individuelles und soziales Elend zu lindern. Es sind die Krankheiten auf unserem Spezialgebiet, bei welchen der immer und immer wieder von ihm betonte Zusammenhang mit der allgemeinen Medizin ein besonders inniger ist. Daneben geht dann noch eine Anzahl allgemein-patho- logischer, bakteriologischer und experimenteller Arbeiten einher, welche nicht oder wenigstens nicht unmittelbar zu dem Spezialfach in Beziehung stehen, wie Neissers Untersuchungen über das Jodoform, über die Xerosebazillen, über die Struktur und die tinktoriellen Verhältnisse der Lepra- und Tuberkel- bazillen etc. und viele Arbeiten seiner Schüler (über die Plasma- zellen, über vitale Färbungen, über das Stechmücken- gift, Beiträge zur mikroskopischen und bakteriolo- gischen Technik, urologische Fragen. Manche solche Untersuchungen wurden auch durch die von Neisser eifrig gepflegten nahen Beziehungen begünstigt, in denen die dermatologische Klinik zu den Schwesterinstituten stand. — Von den im engeren Sinne dermatologischen Publi- kationen kann ich nur einzelne in Stichworten erwähnen. Der häufigsten Dermatose, dem Ekzem, hat Neüsser ein- gehende historisch-kritische Untersuchungen gewidmet. Seinen ätio- logischen Beziehungen, der Bedeutung der Staphylokokken für seine Entstehung resp. Entwicklung galt eine ganze Serie von Arbeiten. In kleinen, aber praktisch ungemein wichtigen Mitteilungen beschrieb er die artifiziellen Ekzeme durch Jodoform und durch Mundwässer. Das Urtikariaproblem hat er durch physiologische Ex- perimente zu lösen versucht. Er hielt die Quaddel für durch vasodila- tatorisches Ödem bedingt; diese Idee hat Heidenhain bei seinen perühmten Lymphuntersuchungen mit verwertet. Das urtikarielle Ekzem hat Neisser noch im letzten Jahr eingehend geschildert. Die ersten Ana- phylaxie-Studien über die Urtikaria und manche andere Arbeiten über 32 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. das gleiche Thema wie über die medikamentösen Dermatosen der verschiedensten Art (Quecksilber, Arsen) stammen aus seiner Klinik. Er hat des leider zu früh verstorbenen Plato Frichophytie- Untersuchungen publiziert, welche den ersten Beweis für spezifische Überempfindlichkeitsreaktionen im Sinne des Tuberkulins bei den Derma- tomykosen ergaben. Dieses jetzt überaus fruchtbare Gebiet haben auch seine Schüler mehrfach betreten. Von den anderen Infektionskrank- heiten der Haut wurden Milzbrand, Aktinomykose, Rotz, Blastomykose, Oidiomykose, Diphtherie, Impetigo eontagiosa in kasuistisch und allgemein-pathologisch wichtigen Untersuchungen bearbeitet. Das Molluseum contagiosum hat ihn lange beschäftigt; seine histologischen Studien über dieses infektiöse Epitheliom haben bleibenden Wert, wenn auch seine Anschauungen über die Erreger sich nicht bestätigt haben. Auch die Vogelpocke ließ er experimentell untersuchen. Die Pathologie der Hauttumoren ist durch seine und seiner Klinik Arbeit sehr bereichert Xeroderma pigmentosum, Xanthom, Naevi, benigne und maligne Myome, Pagets disease, Epithelioma adenoides cystieum Syrin-= % om e, Karzinome etc.) und auch die experimentelle Erzeugung von Neoplasmen in Angriff genommen worden. Von den kasuistischen, pathologisch-anatomischen und zusammen- fassenden Arbeiten über die verschiedensten Hautkrankheiten seien seine Lichenstudien, seine und seiner Schüler Aufsätze über die leukä- mischen Dermatosen, über de Pemphigus-Formen (auch Stoffwechsel-, biologische und therapeutische Versuche), die verschie- denen Herpesarten, über Pityriasis rubra pilaris und Hebra, Pityriasis chronica Tichengtdes Sklero- lermie, Granulosisrubranasi, Atrophien, Keratosen, Psoriasis, Mykosis fungoides, Prurigov, Argyrie hervorgehoben. Der Anatomie und Physiologie galten viele Mittei- lungen aus dem Laboratorium der Klinik, wie die über die Platten- modellier-Methode, über Pigment, über Fettgehalt, Talgsakretion, Resorptionsfähigkeit der Haut (aus Jodkalisalben) etc., der allgemeinen Pathologie und pathologischen Anı- tomie mehrere experimentelle Untersuchungen über die Hautent- zündungen (Reizbarkeit in verschiedenen Schichten, Zellformen etc.) Bei seinem ausgeprägten praktischen Sinne beschäftigten ihn immer therapeutische Fragen. Ungezählte neue Medikamente hat er ausprobiert; davon ist aber nur relativ wenig an die Öffentlichkeit ge- kommen, wie vor allem das seit langer Zeit viel verwendete Tumenol. Gedächtnisrede auf Albert Neisser. 33 Die Therapie, die er verwendete, war bis ins kleinste Detail sorgfältig ausgearbeitet. Viele wertvolle Methoden verdanken wir ihm. Niemals vergaß er bei der Behandlung der Hautkranken die Bedeutung, welche innere Leiden und die „Konstitution“ für die Dermatosen haben; immer betonte er, daß man den ganzen Menschen behandeln müsse und nicht bloß die Haut; aber er hat doch nie versucht, da, wo diese Be&- ziehungen noch nicht faßbar sind, ein bestimmtes System aufzustellen. Sehr lebhaft interessierte ihn auch die theoretische Begründung the- rapeutischer Maßnahmen. Davon legen Zeugnis ab seine eigenen toxi- kologisch-pharmakologischen Arbeiten über Pyrogallol und Naph- thol, die seiner Schüler über As-Nachweis, Adrenalin- wirkung ete., vor allem aber über die Beeinflussung des Entzündungs- prozesses durch physikalische und chemische Maßnahmen, über die antiseptische Wirkung der Salben, über die Beeinflussung des Bak- teriengehaltes der Haut durch verschiedene Agentien. So wurden auch die modernen physikalischen Methoden (Lieht, Röntgen, Radium, Mesothorium, Kataphorese, Gefriermethode) in seiner Klinik nicht bloß praktisch besonders früh und ausgedehnt ange- wendet, sondern ihre Wirkung wurde auch experimentell geprüft. Eigene und fremde Modifikationen wurden immer wieder versucht, um die sroßen Vorteile dieser neuen Maßnahmen nach Möglichkeit auszunutzen. Wer sich davon überzeugen will, daß Neisser nicht bloß der große Venereologe war, der findet in manchen klinischen Vorträgen z. B. in dem über das Jucken, vor allem aber in seinen „Hautkrankheiten“ (in Ebstein-Schwalbes Handbuch der Medizin) den Beweis dafür, wie intensiv sein Interesse, wie groß seine Erfahrung, wie tiefgründig seine Betrachtungsweise auch hier war. Er hat an diesem Werke mit be- sonderer Freude gearbeitet und mit derselben Freude ging er auf den Plan ein, ein ganz großes umfassendes Handbuch der Hautkrankheiten herauszugeben und übernahm wichtige Kapitel zur Bearbeitung. — Von den 4 großen Volkskrankheiten, die ich an zweiter Stelle genannt habe, ist die Tuberkulose anscheinend am wenigsten mit Neissers Namen verknüpft. Und doch sind auch auf diesem Gebiete seine Verdienste sehr groß. Schon in Ziemssens Handbuch (1882) hat er unter den „chronischen Infektionskrankheiten der Haut“ der Tuber- kulose eine mustergültige Darstellung gewidmet. Er ist als einer der ersten für die tuberkulöse Natur des Lupus vulgaris eingetreten. Er hat dessen Beziehungen zur internen Tuberkulose untersuchen lassen und hat die enorme Bedeutung der tuberkulösen Infektion der Nasen- schleimhaut für den Lupus von jeher betont. Zu der Lehre von den Tuber- kuliden, welche das Gebiet der Hauttuberkulose vom allgemein-medi- 24 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. zinischen Standpunkt besonders interessant gemacht haben, haben er und seine Klinik Bausteine beigetragen und die Diskussion der in ihrer Zugehörigkeit zu diesem Gebiete noch zweifelhaften Erkrankungen (Lupus erythematodes und pernio, „Sarkoide‘), ebenso wie die Kasuistik der sicher tuberkulösen Affektionen vielfach gefördert. Das Tuber- kulin nahm er enthusiastisch auf. Er hat sich mit der Theorie seiner Wirkung von Anfang an intensiv beschäftigt und wichtige experimentelle Arbeiten darüber stammen von seinen Schülern. In der Praxis hat er auch in der Zeit, in der die allermeisten auf die therapeutische Wirkung der Tuberkulins verzichtet hatten, nie aufgehört, an sie zu glauben und er hat seine Applikation in der verschiedensten Weise modifiziert. Neben Finsens und den anderen physikalischen Methoden wurden auch alle chirurgischen und medikamentösen angewendet und mit Recht von einem Schema abgesehen, vielmehr in der mannichfachsten Weise indi- vidualisiert und kombiniert. Neisser hat aber auch mit dem traurigen Los der Lupösen das tiefste Mitleid gehabt und er hat viele solche Kranke zur Arbeit erzogen und in seinen Diensten verwendet, wie in allererster Linie seinen ausgezeichneten treuen Hein, der überall Bescheid wußte und der uns Assistenten mit heranbildetee Er hat die Lupusfürsorge als eine soziale Pflicht erkannt und in dem Lupus-Ausschuß des Zentral- komites zur Bekämpfung der Tuberkulose von Anfang an auf das intensivste mitgewirkt. — Mit der Geschichte der Lepra, der zweiten großen Volksseuche, der „Schwester der Tuberkulose“, wird Neissers Name für immer verknüpft bleiben. Wenn er auch selbst Hansen das Verdienst zu- erkannt hat, „der erste gewesen zu sein, der stäbchenförmige Gebilde in den Leprazellen gesehen“ hat, so wares doch Neisser, der, wie er mit unzweifelhaftem Recht betont hat, den Leprabazillen erst „ihren berech- tisten Platz in der Pathologie“ geschaffen hat, indem er sie färberisch so darstellte, daß niemand an ihrer Existenz zweifeln konnte. Er hat die Histologie der leprösen Organe auf das genaueste untersucht und überall die Beziehungen der anatomischen Veränderungen zu den Ba- zillen klargelegt und zwar vor allem an dem Material, das er in Nor- wegen und Spanien gesammelt hat. Die Forschungsreise nach den Sandwichinseln, welche er nicht unternehmen konnte, weil er die Pro- fessur in Breslau erhielt, hat dann Arning angetreten. Neissers Interesse für die Lepra ist aber darum nicht erkaltet. Bei der Lepra- konferenz und dem internationalen Dermatologen-Kongreß in Berlin (1898 und 1904), hat er große Referate gehalten, in denen die ätiolo- gische Bedeutung des Bazillus noch einmal überzeugend dargetan, seine pathogene Wirkung eingehend geschildert, alle strittigen Fragen erörtert und die Prophylaxe bis ins einzelne diskutiert wurde. Die Gedächtnisrede auf Albert Neisser. 5 viszeralen Veränderungen bei Lepra, die tuberkuloiden Läsionen, die Pathologie der Nervenlepra, die Wege, auf denen die Bazillen aus dem kranken Körper in die Außenwelt gelangen (Tröpfchenzerstreuung, Ausscheidung durch die Haut), wurden von seinen Schülern unter- sucht. — Unbestritten die größte Bedeutung aber hat Neisser auf dem Gebiet der venerischen Krankheiten. Wenn wir nach dem gewöhnlichen. Sprachgebrauch darunter Gonorrhoe, Syphilis und uleus molle verstehen, so hat ihn das letztere als eine rein lokale, relativ unwichtige Krankheit am wenigsten interessiert; aber auch da hat er selbst die ausgezeichnete Karbolbehandlung /angegeben und hat seine Klinik wichtige bakteriologische und experimentelle Bei- träge geliefert. Die Lehre von der Gonorrhoe verdankt Neisser — das kann man ohne Übertreibung sagen — ihre ganze moderne Entwicklung. Er hat es oft als einen besonders großen Glückszufall bezeichnet, daß er als ganz junger Arzt die Gonokokken entdeckt hat. Aber auch hier waren es Mut und Energie und scharfe Beobachtungsgabe, welche ‘durch das Glück begünstigt wurden. Er verwandte sofort die gerade angegebenen Methoden Kochs und Weigerts für sein Fach und er dehnte seine Untersuchungen gleich auf verschiedene von dem gonorrhoischen Pro- zesse ergriffene Organe aus. Noch in späteren Jahren hat mir Weigert, als er einmal ein Gonokokkenpräparat für eine Demon- stration aufstellte, gesagt, wie erstaunlich es wäre, daß Neisser die wesentlichsten Charakteristika dieser Mikroben so früh und mit solcher Sicherheit erkannte. Bewunderungswerter aber noch ist die Konse- quenz, mit welcher er dann die Lehre von der Gonorrhoe weiter aus- gebaut hat. Alle Stadien, Lokalisationen und Komplikationen wurden untersucht, die infektiösen und die nicht mehr infektiösen geschieden, die Pseudogonokokken und die Pseudogonorrhoen bearbeitet, die überaus verantwortungsvolle Frage des Ehekonsenses wie die forensische Ver- wertbarkeit der Gonokokkenbefunde auf das Sorgfältigste geprüft. Die Gonorrhoe der Frau, speziell der Prostituierten, wurde studiert und in ihrer ganzen Bedeutung für die Ausbreitung der Gonorrhoe in Massen- untersuchungen, an denen sich alle Assistenten beteiligten, festgestellt. Die Kulturmethoden Bumms und Wertheims wurden mit großer Freude begrüßt und für die Diagnose wie für die experimentelle Begründung der Therapie benutzt. Die Färbungsverhältnisse der Gono- kokken, ihre Lagerung im Gewebe, ihre Toxine wurden untersucht, Ar- beiten über die Immunkörper, über Allergie und Vakzinebehandlung, über die Differenzen der Gonokokkenstämme wurden in Angriff ge- nommen und führten zu bemerkenswerten Resultaten. Noch in dem 36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. letzten Heft des Archivs ist eine von Neisser selbst angegebene Go- nokokkenbouillon für Kuti-Diagnose beschrieben. Für die Therapie wurden die Prinzipien der lokalen antiseptischen Behandlung und der steten Kontrolle der Resultate durch das Mikroskop aufgestellt und in systematischer Weise wurden klinisch und experimentell (bakterie- logisch, auf Tiefenwirkung ete.) die verschiedensten Präparate geprüft. Die prävalierende Bedeutung der Silberverbindungen wurde früh er- kannt und für die Prophylaxe wie für die Behandlung stets von neuem betont. So groß die Fortschritte auch schon waren, so wurde doch an der Verbesserung der Präparate und der Methoden fort und fort ge- arbeitet. Andererseits wurden aber auch — und das ist ein Zeichen für Neissers Bestreben auch in therapeutischen Dingen objektiv zu sein — immer wieder einmal die „klassischen“ Präparate und die interne Therapie mit alten und neuen Mitteln, wenngleich mit im wesentlichen negativen Resultaten, versucht. Als Neisser begann, war die Gonorrhoe eine wissenschaftlich wenig beachtete Krankheit. Jetzt ist sie eine der best studierten, aber auch eine der meist gefürchteten Erkrankungen geworden, welche be- sonders durch ihre enorme Verbreitung noch immer unendlichen Schaden anrichtet, trotzdem wir dem einzelnen Fall viel besser gerüstet gegen- überstehen. „Unzählige Frauen und Männer verdanken den Neisser- schen Forschungen die Bewahrung vor Kinderlosigkeit und chronischenı Siechtum.“ (Wassermann), — ‚Wie über Gonorrhoe so hat Neisser unausgesetzt auch über Syphilis gearbeitet. Man kann hier zwei Perioden unterscheiden. Die erste wird wesentlich ausgefüllt von klinischen, statistischen und therapeutischen Untersuchungen. So neben der Darstellung der Sy- philis als Infektionskrankheit in Ziemssens Handuch, die schon vieles hypothetisch besprach, was erst später eingehend bearbeitet werden konnte, die genauere Würdigung des Leukoderms und der maligmen Lues und manche Beiträge zu den auch jetzt noch auf der Tagesordnung stehenden Fragen der Superinfizierbarkeit in der Primär- periode, der Reinfektion, der kongenitalen Lues, der extragenitalen Infektion und zu der nie zu erschöpfenden interessanten Kasuistik der Syphilis. Die Späterscheinungen, welche ihr erst den Charakter als ernsteste Volkskrankheit aufprägen, suchte er durch große Statistiken auf die unzureichende Frühbehandlung zurückzuführen. Darin sah er die wesentlichste Begründung für die chronisch-intermittierende The- rapie Fourniers, welche er in Deutschland einführte und welche er viel energischer gestaltete. Im festen Glauben an die unmittelbar anti- luetische Wirkung des Quecksilbers hörte er nicht auf, dessen Applika- Gedächtnisrede auf Albert Neisser. 37 tionsmethoden zu modifizieren. Von ihm und von seinen Schülern wurden gelöste und vor allem ungelöste zu Einspritzungen benutzte Quecksilberpräparate nach allen Richtungen untersucht und verbessert, wie seine und seiner Klinik Formeln für Kalomel, Salizyl- und Thymol- Quecksilber und graues Öl beweisen. Aber auch die alte Einreibungs- kur wurde experimentell und praktisch geprüft, die Ausscheidung und Ablagerung des Quecksilbers, seine Beziehungen zum Jod im Organis- mus, seine Kombination mit Schwefel- u. a. Bädern untersucht, die Ex- zision des Primäraffektes kritisch erörtert. Die Jodtherapie wurde theo- retisch und praktisch gefördert, neue Jodpräparate, wie das Jodipin, eingeführt, die Bekämpfung des Jodismus mit Antipyrin gelehrt. Die Nebenwirkungen des Quecksilberss auf die Haut und auf die Nieren wurden klinisch, die auf die Mundschleimhaut experimentell und thera- peutisch erforscht. Gewiß waren das wertvolle Ergebnisse; aber immer empfand Neisser das Unbefriedigende aller syphilidologischen Arbeiten in dieser Zeit, da die Kenntnis des Erregers und der Tierübertragbarkeit fehlte. Wie weit man durch klinische und literarische Studien kommen kann, zeigte seine Studie über die Serumtherapie aus dem Jahre 1898, in der die allgemeine Pathologie der Syphilis mit kritischer Schärfe besprochen wurde. Das war die Arbeit, welche ihm neben größter An- erkennung auch den schwersten Kampf seines Lebens brachte. Er war so überzeugt von der Berechtigung seiner Versuche, daß er über die Anfeindungen, die er erlitt, ganz erstaunt war. Auch sein schärfster Gegner mußte aus seiner Darstellung selbst entnehmen, ‚wie unbedingt guten Glaubens er gewesen war. — Nachdem dann auch die Versuche, die Syphilis auf Schweine zu übertragen, brauchbare Resultate nicht er- geben hatten, schienen weitere Fortschritte zunächst kaum möglich. Da kam Metschnikoffs und Roux’ Entdeckung der Über- tragbarkeit der Syphilis auf Affen. Sofort begann Neisser die Ver- suche zu wiederholen und erzielte bald positive Resultate. Jetzt endlieh schien die Möglichkeit gegeben, die Ätiologie, die allgemeine Pathologie und die Therapie der Syphilis auf tierexperimentellem Wege zu erforschen. Das war eine Aufgabe, für welche Neisser die größten Opfer zu bringen bereit war — und er brachte sie. Da er glaubte, daß die Arbeit mit Affen in Europa auf genügend breiter Basis nicht vorge- nommen werden könne, reifte in ihm schnell der Gedanke der Java- expedition. Über manche Bedenken seiner Freunde, welche sich besonders auf seine auch schon damals keineswegs zuverlässige Gesundheit ‚bezogen, setzte er sich mit jugendlichem Wagemut hinweg. Nach umfangreichen Vorbereitungen ging er, begleitet von seiner treuesten Helferin, seiner Frau, und von seinem Assistenten Bärmann hinüber. Dort begann 23 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. nun die komplizierteste Organisationsarbeit, die er je zu leisten gehabt hat. In dem Werk, das über die experimentellen ‚Syphilisforschungen berichtet, ist das eingehend seschildert. Aber ein noch lebensvolleres Bild ergaben die Briefe, die aus Batavia kamen. In ihnen war neben den Schwierigkeiten der Einrichtung und der Tätigkeit und neben dem Interesse an dem Neuen und Fremdartigen zu lesen, wie die beiden an alles und alle daheim dachten, und wie groß, namentlich bei Frau Toni, die Sehnsucht nach der Heimat war. Auf der Heimreise blieben sie einige köstliche Tage in Bern. Da hatten wir Zeit, die ersten Ergebnisse zu besprechen. Inzwischen waren die Spirochaeten entdeckt und auch in Batavia von der Neisser-Expedition gefunden worden. Diese von ihm rückhaltslos bewunderte Tat Schaudins — wie oft hatte Neisser und hatten wir alle den Syphiliserreger mit den verschie- densten Methoden gesucht — war ein weiterer Ansporn, die tierexperi- mentellen Arbeiten fortzusetzen. Als ich danm Neisser 1906 auf seiner Reise nach Lissabon sprach, da war er bereits voll Feuereifer für die Seroreaktion. Wassermann hat in einem prächtigen Nachruf sehr anschaulich geschildert, wie in ihm bei einem Glase Wein im Ge- dankenaustausch mit Neisser, der noch immer mit den praktischen Resultaten der experimentellen Arbeiten unzufrieden war, die Idee auf- tauchte, die Methode der Komplementbindung für die Syphilis zu ver- werten. Intensive gemeinschaftliche Arbeit mit Wassermänn, Bruck u.a. führte sehr bald zur Erkenntnis der enormen praktischen Wichtigkeit der Serumuntersuchung — ganz abgesehen von ihrer theo- retischen noch immer nicht geklärten Bedeutung. Die Ausarbeitung der Methode, ihre Anwendung auf breitester Basis, die Einrichtung einer serologischen Abteilung an seiner Klinik — alles dies war wieder von echt Neisserschem Geist. Im Herbst 1906, beim Kongreß der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft in Bern, bildeten neben den Spirochaeten die experimentellen und die serologischen Resultate der Syphilisforschung den Angelpunkt des Interesses. Dann aber ging er noch einmal nach Java, wiederum begleitet von seiner Gattin, um die in- zwischen dort fortgesetzten Untersuchungen zu Ende zu führen und schließlich die Station abzubrechen. Einen großen Teil der Kosten trug er selbst, einen andern erhielt er von Privaten, die für die zweite Hälfte der Expedition wurden vom Reich übernommen. Die Resultate der Java-Expedition und mancher in der Klinik vor- senommenen Arbeiten aus dem gleichen Gebiet sind in einem funda- mentalen Werk niedergelegt. Nur in ein paar kurzen Sätzen kann ich hier andeuten, welches die Bedeutung dieser Ergebnisse ist. Die verschiedenen Inokulationsmethoden wurden untersucht, die Möglichkeit subkutaner und intravenöser Infektion festgestellt. Der Gang der Gedächtnisrede auf Albert Neisser. ‚39 syphilitischen Erkrankung im Organismus wurde insofern klargelegt, als bei den Affen die allgemeine Durchseuchung sehr früh einsetzt. Die Spirochaeten waren durch Impfversuche auch in den anscheinend un- veränderten inneren Organen nachweisbar. Sie blieben es, falls nicht eine spezifische Behandlung einsetzte, jedenfalls während der ganzen Beobachtungszeit. Das Dogma der Immunität der einmal spezifisch in- fiziert Gewesenen hatte Neisser schon früher in Zweifel gezogen, Jetzt ergaben die Versuche, daß in der Tat nur diejenigen Affen auf Neu-Impfung nicht mit Primäraffekten reagierten, welche noch Spirochae- tenträger waren, diejenigen aber, welche durch spezifische Behandlung frei geworden waren, konnten neu infiziert werden. Es handelt sich also bei dieser scheinbaren Immunität nur um eine durch das Vorhandensein der Mikroben im Körper bedingte relative Reaktionsunfähigkeit gegen- über neu eingebrachten Spirochaeten. Die Seltenheit wiederholter Infektionen beim Menschen mußte vor allem dadurch erklärt werden, daß eben nur selten Spirochaetenfreiheit erzielt wurde. Die Häufigkeit von Reinfektionen bei Salvarsanbehandelten beweist neuerdings die Richtig- keit der Neisserschen Deduktion. Die veränderte Reaktionsfähigkeit im Organismus im Verlauf der syphilitischen Infektion, die „Um- stimmung“ hatte Neisser schon längst als sehr wichtig erkannt. Sie hat durch unsere neuen Erfahrungen über die allergischen Phänomene eine außerordentliche Bedeutung für die gesamte Pathologie der In- fektionskrankheiten erhalten. Die Versuche, Kuti- und Ophthalmo-Reaktion mit syphilitischen Extrakten zu erhalten, gaben allerdings noch nicht wirklich brauchbare Resultate. Anaphylaxie-Probleme haben seine Klinik auch später noch speziell bei Lues beschäftigt. Die viel bestrittene Infektiosität der tertiären Syphilis wurde bewiesen. Die an den Affen gemachten Erfahrungen urn in ihrer Be- deutung für die menschliche Erkrankung mit aller Vorsicht diskutiert. Kaum ein Punkt aus der allgemeinen Pathologie der Syphilis blieb dabei unerörtert, manche Fragen allerdings, wie Neisser schon im Vorwort betont, noch ungelöst. Alle sero- oder vakzinotherapeutischen Versuche scheiterten — das war ein unerwünschtes aber doch sehr wichtiges Resultat. Dagegen wurde die Wirkung der alten antisyphilitischen Mittel tierexperimentell geprüft und es blieb kaum ein Zweifel daran möglich, daß das Queck- silber, in geringerem Umfange auch das Jodkali, einen wirklich unmittel- baren Einfluß auf die Syphilis hat. Das gleiche konnte von den modernen Arsenikalien erwiesen werden. ’ Eine Präventivbehandlung vor Auftreten des Primäraffektes ergab oft Erfolge, besonders bei den Arsenpräparaten. Es wurden dann auch 30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. — sowohl auf Java als in Breslau — viele Versuche mit andern Tieren unternommen, die Frambösie von der Syphilis definitiv abgegrenzt, die Spirochaeten selbst auf ihre Lebensbedingungen, auf ihre Stellung im System, auf ihre Lagerung im Gewebe und auf ihre Kultivierungsfähiskeit untersucht, weitere Präparate wie Chinin, Antimon und Kombinationen verschiedener Mittel geprüft etc. etc. Besonders wichtig waren die Versuche, in Analogie mit der Metschnikoffschen Methode möglichst brauchbare Mittel zur persönlichen Prophylaxe ausfindig za machen (Sublimatsalbe). Bei den Arbeiten über die Seroreaktion fand sich damals und später reichlich Gelegenheit, serologische Fragen der verschiedensten Art in Angriff zu nehmen. Auch einige andere Infektionskrankheiten wie Taubenpocke, Re- kurrens, Ngana wurden speziell mit Rücksicht auf die Immunitäts- verhältnisse bei Lues, ferner noch experimentelle Hauttuberkulose und Vakzine bei Affen studiert. Während so aufs intensivste gearbeitet wurde, hatte Ehrlich seine Untersuchungen über die organischen Arsenverbindungen aufge- nommen. Die ersten Produkte der Chemotherapie seines großen Freundes hat Neisser noch auf Java tierexperimentell geprüft. Die prak- tische Brauchbarkeit des Arsenophenylglyzins hat er erst vor kurzem ausführlich dargelegt. Das Salvarsan hat er dann mit dem ganzen Enthusiasmus, dessen er zeitlebens fähig war, begrüßt. Auch er empfand die ersten Rückschläge schmerzlich, als sich die „Therapia magna sterilisans“ beim Menschen als unzureichend erwies. Aber durch Ver- mehrung der Zahl der Injektionen und durch Hinzufügung des Queck- silbers zum Salvarsan ist es doch gelungen, Resultate zu erzielen, welche unendlich weit über alles hinausragen, was wir bisher bei der Syphilis- behandlung erreicht hatten. Neisser hat an dieser Entwicklung der modernsten Syphilistherapie den intensivsten Anteil genommen. Die verschiedenen Methoden der Applikation wurden in der Klinik geprüft, neue angegeben, auch biologisch wurde über Salvarsan gearbeitet (Salvarsanserum). Es war ihm, wie er selbst sagte, in dem Schmerz um des Freundes Tod ein tröstlicher Gedanke, daß er in dem oft unerquicklichen und Ehrlich tief deprimierenden Streit immer wieder für das Salvarsan eingetreten ist. Das hat Neisser noch erleben dürfen, daß die Zahl der Salvarsangegner zu einem „Häuflein“ zusammengeschmolzen ist. Daß aus der Salvarsantherapie nicht all’ der Nutzen gezogen wird, den sie bei genügend energischer, wenn auch nicht übertriebener Anwendung der Menschheit bringen könnte, hat er tief beklagt. — Gedächtnisrede auf Albert Neisser. il Ich komme zu dem letzten großen Gebiet Neisserscher Lebens- arbeit. Die venerischen Krankheiten sind von allen anderen Infektions- krankheiten nicht sowohl durch die Eigenart ihrer Erreger als vielmehr durch die Bedingungen unterschieden, welche ihre Ausbreitung be- herrschen. Der Menschheit ganzer Jammer, die innere Not ungezähmter Triebe, die äußere Not der Armut, die Unzulänglichkeit im Kampfe mit der eigenen Leidenschaft und im Kampfe um das tägliche Brot — das sind die Hauptquellen, aus denen diese Volksseuchen ihre Kraft schöpfen. Bei ihnen spielt neben sozialen Momenten die Psyche eine ganz be- sondere Rolle. Die prophylaktischen Bestrebungen gegen die infektiösen Geschlechtskranheiten müssen daher außerordentlich mannigfaltiger Natur sein. Diesem ganzen un- endlich komplexen Gebiet hat Neisser schon sehr früh sein wärmstes Interesse zugewendet. Er hat ein gewaltiges statistisches Material nicht bloß über die Krankheiten, sondern auch über die Vorgeschichte der Prostituierten, über die sexuelle Entwicklung und die Morbidität der Männer etc. etc. zusammengetragen, hat neben den einschlägigen medi- zinischen juristische, nationalökonomische, kKulturhistorische, pädago- gische Werke studiert und so auf die verschiedenste Weise versucht, der Lösung des Problems näher zu kommen. Jei mehr die enorme Be- deutung der Gonorrhoe und der Lues für die Volksgesundheit erkannt wurde, je mehr durch sie verschuldetes Unglück er sah, um so inten- siver wurde sein Bestreben, das Übel an der Wurzel oder vielmehr an den Wurzeln zu fassen. Auf der internationalen Leprakonferenz war von dem ebenfalls jüngst verstorbenen Straßburger Dermatologen Wolff zuerst der Ge- danke ausgesprochen worden, auch den Kampf gegen die venerischen Krankheiten auf internationalem Wege zu organisieren. Dubois- Havenith hat diese Anregung mit Begeisterung aufgenommen und in die Tat umgesetzt. Bei den beiden Konferenzen, welche 1899 und 1902 in Brüssel stattfanden, hat Neisser bei der Vorbereitung und der Auf- stellung der Themata und dann bei Referaten und Diskussionen an erster Stelle mitgewirkt. Aber er erkannte sehr bald, daß dieser Kampf nur auf nationalem Boden mit Hoffnung auf Erfolg durchgefochten werden könne. Schon im Jahre 1901 fanden in Breslau beim Kongreß der Deutschen dermatologischen Gesellschaft die Vorbesprechungen statt. 1902 wurde unter Neissers Vorsitz in Berlin bei reger Beteiligung aus den verschiendensten Kreisen die konstituierende Versammlung der Deutsehen Gesellschaft zur Bekämpfung der Ge- schlechtskrankheiten abgehalten. Seitdem hat er ihr einen eroßen Teil seiner Zeit und seiner Arbeitskraft geopfert. Er hat nicht 32 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. bloß in zahlreichen Aufsätzen fast alle Fragen behandelt, welche mit der Prophylaxe zusammenhängen, sondern er hat. auch in vielen Städten Deutschlands Vorträge gehalten, um den Kampf gegen die Geschlechts- krankheiten zu popularisieren. Er hat Ausstellungen organisiert, um über sie aufzuklären; bei den Vorbereitungen zu einer solchen hat er seinen schweren Beinbruch erlitten, und seine letzte Reise nach Brüssel mit ihrem tragischen Ausgang galt wieder einem ähnlichen Unternehmen. Er hat mit Blaschko die Zeitschriften der Gesellschaft redigiert; diese gemeinschaftliche Arbeit ist ein um so schöneres Zeugnis für beide, als sie in manchen Punkten differierten. Sein letztes nachgelassenes Werk ist eine eingehende Darstellung dieses ganzen Gebietes. Auch Neissers Anschauungen über die Prophylaxe kann ich hier nur in wenigen Sätzen skizzieren — sie sind für sein Wesen außer- ordentlich charakteristisch. Er betonte stets, daß die ethische Erziehung auf sexuellem Gebiet von höchstem Werte sei, aber er glaubte nicht, daß wir mit deren Resultaten vom Standpunkt des Hygienikers aus rechnen können, welcher schnelle Wirkungen erzielen will und muß — zum Schutz der jetzigen und der nächstkommenden Generationen. Er war von der Bedeutung der Aufklärung durch Merkblätter, Flugschriften, Ausstellungen überzeugt, aber er verhehlte sich nicht die Schwierigkeiten dieser Aufklärungsarbeit namentlich in der Schule. Er wollte — auch auf dem Wege der Gesetzgebung — das Gefühl der sexuellen Verant- wortlichkeit der Männer stärken und den bei den venerischen Infektionen eine enorme Rolle spielenden Alkoholismus wie die sexuell aufreizende Pseudokunst und -Literatur bekämpfen. Die innigen Beziehungen dieses ganzen Gebietes mit den wirtschaftlichen Bedingungen, mit der „sozialen Frage“ waren ihm stets gegenwärtig. So beschäftigte er sich mit der Milderung des Wohnungselends, dem Ausbau des Fürsorgegesetzes, der Einführung obligatorischer Fortbildungsschulen, der Änderung des Straf- systems Jugendlicher und der Alimentationsgesetzgebung. Er war von dem Standpunkt der Reglementaristen alter Schule ausgegangen, aber er hat den Anschauungen der Abolitionisten, so energisch er sie auch oft bekämpft hat, doch in manchen Beziehungen volles Verständnis entgegen- gebracht. Er hat nicht geglaubt, daß man jeden Zwang bei der Sanierung der Prostitution entbehren könne, aber er war bestrebt, diesen auf das seringste Maß zu reduzieren und das polizeiliche Eingreifen nach Mög- lichkeit auszuschalten. Dazu verlangte er ein eigenes „Gesundheitsamt“ und die Mitarbeit der Ärzte bei der Aufdeekung der Infektionsquellen. Überall stellte er den medizinischen und den erzieherischen Stand- punkt in allererste Linie. Er wollte nicht bloß dem körperlichen, sondern auch dem geistigen Gesundheitszustand der Prostituierten ernsteste Be- achtung geschenkt wissen. Er verlangte nicht bloß wo immer möglich Gedächtnisrede auf Albert Neisser. 33 Fürsorge-Erziehung für die schon Gefallenen, sondern auch vorbeugende Maßnahmen bei allen verwahrlosten und geistig minderwertigen Mädchen, welche der Gefahr in die Prostitution zu versinken ausgesetzt sind. Er trat für die möglichste Gleichstellung beider Geschlechter auch bei den prophylaktischen Bestrebungen ein. Die Gefährdung der Ehe durch die venerische Infektion wollte er durch die Einführung ärztlicher Atteste für beide Parteien vor der Verheiratung vermindern. Immer wieder be- tonte er den Sittlichkeitsvereinen gegenüber, daß unsere prophylak- tischen Bestrebungen, denen man den Vorwurf des Schutzes nur der Männer machte, vor allem unzählige unschuldige Frauen und Kinder vor den venerischen Infektionen bewahren sollen. Für die ganze Materie wünschte er ein Sondergesetz, dessen einzelne Bestimmungen er in seinem nachgelassenen Werke eingehend diskutiert. Die Widerstände, welche sich der öffentlichen Besprechung der Geschlechtskrankheiten entgegenstellen, bekämpfte er, wo er nur konnte, indem er an das „soziale Gewissen“ appellierte. Für die Erleichterung und Verbesserung der Behandlung der Venerisch-Kranken (Kranken- kassen!), für die Bekämpfung der Vorurteile, unter denen diese zu leiden haben, trat er immer und immer wieder ein. Wenn er unermüdlich für die Förderung des Unterrichts in unserem Fach wirkte, so tat er das vor allem, weil er aus unzähligen Erfahrungen wußte, wie viel Schaden durch mangelhafte Ausbildung der Ärzte gerade in der Lehre von den Geschlechtskrankheiten angerichtet wird. Er war der Überzeugung, daß die Behandlung der Venerisch-Kranken keine Spezialität sein) solle, daß alle Ärzte in den Stand gesetzt werden müßten, sie richtig durchzu- führen und daß dadurch nicht bloß die Gesundheit der Individuen, sondern auch die des Volkes am besten gewahrt werde, So wenig er dem Pathos hold war, so ernste Töne fand er doch bei der Besprechung aller dieser Fragen. Aber er war auch zu praktisch, zu sehr auf das Wohl jedes einzelnen Menschen bedacht, als daß er neben den allgemein-pro- phylaktischen Maßnahmen die Bedeutung der individuellen Prophylaxe unterschätzt hätte. Er hat für deren Vervollkommnung experimentell arbeiten lassen und den schwierigen juristischen und ethischen Fragen, die sich daran knüpfen, vollste Aufmerksamkeit geschenkt. Von Anfang des Krieges an hat ihn die Sorge um die Gesundheit unserer Soldaten und ihrer Familien nicht ruhen lassen. Er trug sich mit weitausschauenden Plänen, wie man schon jetzt und nach dem Friedensschluß die Schäden, die der Krieg auch durch die Vermehrung der venerischen Krankheiten mit sich bringen muß, möglichst mildern könnte. Die Arbeit, welche Neisser auf prophylaktischem Gebiete — neben all seiner andern Tätigkeit — geleistet hat, war eine außerordent- lich große. Er war nicht zur Dekoration Vorsitzender der Deutschen 1916. 3 34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Gesellschaft, sondern er besorgte wirklich — mit Blaschko — alle ihre umfangreichen Geschäfte. Auch hier ist seinem Wirken großer Erfolg beschieden gewesen. Gewiß hat er die Frage der Prophylaxe der Geschlechtskrankheiten nicht wirklich lösen können, und zahlenmäßig läßt sich der Nutzen, den seine Bestrebungen gebracht haben, nicht nach- weisen. Aber die Tatsache, daß die höchsten Behörden und die weitesten und verschiedensten Kreise der Bevölkerung jetzt dem Kampf gegen die Geschlechtskrankheiten lebhaftes Interesse entgegenbringen und daß diese Fragen offen erörtert werden können, ist allein schon ein außer- ordentlich wichtiges Resultat und gibt zugleich die unbedingt notwen- dige Basis für alle Bestrebungen auf diesem Gebiete. — Mit dem, was ich bisher dargelegt habe, ist aber Neissers medizinisches Lebenswerk noch lange nicht erschöpft. Als akademischer Lehrer war er ebenso wenig „akademisch“, wie in seinen Vorträgen und Publikationen; er riß seine Hörer und Leser durch die Lebhaftigkeit seines Temperaments, durch die Fülle der Anregungen, durch die Kraft seiner Darstellungsgabe mit sic. Für die praktischen Ärzte und ihre Standesinteressen hatte er immer ein warmes Herz; Ärztekurse gab er mit besonderer Vorliebe. Die Klinik mit ihren Laboratorien hatte er meisterhaft organisiert; sie war lange unbestritten in bezug auf alle Ein- richtungen die erste ihrer Art. Für den Unterricht und für die Forschung wurde er nicht müde, Verbesserungen zu ersinnen. Die Sammlungen der in der Klinik selbst hergestellten ausgezeichneten Moulagen und Photo- graphien, die Registrierung und Führung der Krankengeschichten legen davon Zeugnis ab. Besonders aber war er auf die Ausbildung seiner Assistenten zu selbständigen Ärzten und wissenschaftlichen Arbeitern bedacht. Er regte sie fort und fort zu Studien der verschiedensten Art an und war ihnen jederzeit mit Rat und Tat behilflich. Die Zahl seiner Sehüler im In- und Ausland ist außerordentlich groß. Sie hingen mit treuester Liebe und Verehrung an ihm und haben seine Lehren und vor allem seine Arbeitsweise überall verbreitet. Und er war herzlich erfreut über jede ihrer Leistungen, die er als wertvoll anerkennen konnte, und rührend dankbar für ihre Dankbarkeit. Er war Mitherausgeber des Archivs für Dermatologie und Syphilis und der Mitteilungen derD. G-z,B: d G; Herausgeber des dermatologischen Teils der Bibliotheca me dica, er war Begründer und Redakteur des stereoskopisch-medi- zinischen Atlas, Mitbegründer der Lepra, gab mit Jacobi die Iconographia dermat. heraus etc. etc. Ganz vor allem aber war er mit seinem verehrten Freund F. J. Pick der Vater der Deutschen Dermatologischen Gesellschaft, ihr Generalsekretär und zuletzt zu seiner Gedächtnisrede auf Albert Neisser., 35 großen Freude daneben ihr Ehrenpräsident. Was er für sie war, hat Lesser mit den Worten „unermüdlich und unersetzlich“ treffend charakterisiert. — So also war — in matten Worten geschildert — Wesen und Wirken Albert Neissers. Rückblickend müssen wir ihn — wenn wir seinen sieghaften Lebenslauf und seinen schnellen Tod, die fast uner- meßliche Fülle seiner Arbeit und seiner Erfolge betrachten, — trotz allen Leids, das auch ihm nicht erspart geblieben ist, glücklich preisen — aber auch uns; denn „er war unser“. Mit seinem warmen, liebevollen Herzen gehörte er uns, seinen Verwandten, seinen Freunden, seinen Schülern, seinen Fachgenossen — und alle Fachgenossen waren seine Schüler. Wir müssen ihm im Namen der Menschheit dankbar sein, daß er der Ärzte Wissen und Können vermehrt hat in einem Maße, wie es nur wenigen vergönnt ist. Er hätte noch vieles arbeiten können und wollen — sein Ideenreichtum war so unerschöpflich wie seine Schaffenslust. Seit den ersten Jahren meiner Assistentenzeit hater mir seine Freund- schaft und sein Vertrauen geschenkt und jederzeit erhalten — das ist eines der wertvollsten Besitztümer meines Lebens. Ich kann es also vielleicht wagen zu beurteilen, was ihm am meisten von weiteren Plänen am Herzen ge- legen hat. Ich kann es in wenigen Worten zusammenfassen: Die Förde- rung unserer Kenntnisse von der Ätiologie und der allgemeinen Patho- logie der Hautkrankheiten, spezifische Immuno- und Chemo-Therapie im allgemeinen und bei Tuberkulose im besonderen, Kultivierung der Ba- zillen und spezifische Behandlung der Lepra, Vervollkommnung der Go- norrhoe-Therapie, deren Unzulänglichkeit ihm trotz aller Fortschritte stets gegenwärtig war, Aufklärung der zahlreichen noch ungelösten Fragen aus der allgemeinen Pathologie und systematischer Ausbau der Chemo- und vor allem der Salvarsan-Therapie bei Syphilis, endlich Fort- führung des Kampfes gegen die Ausbreitung der venerischen Krank- heiten auf breitester Basis. Wenn wir mit diesem allgemeinen Programm in seinem Geiste weiter arbeiten, werden wir unsere Dankesschuld gegen den Arzt und Forscher Albert Neisser am besten abtragen. Seine Werke werden — das ist das Los jedes Großen der Wissen- schaft — das Andenken an seine Persönlichkeit unendlich lange über- dauern, Wir alle aber, die wir das Glück gehabt haben, ihm nahezutreten, werden das Bild des Menschen Albert Neisser und seiner Frau, die für unsere Erinnerung untrennbar mit ihm verbunden ist, in treuester Liebe bis an das Ende unserer Tage bewahren. 3*+ 36 1855 1872 1877 1880 1882 1883 1888 1894 1902 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Die wichtigsten Daten aus dem Leben Albert Neissers: geboren 22./T., zu Schweidnitz in Schlesien als Sohn des Dr. med. Moritz Neisser, später Geh. Sanitätsrat in Breslau und Char- lottenbrunn. Abiturienten-Examen Magdaleneum in Breslau. Studium der Me- dizin in Breslau und Erlangen. Promotion (In.-Diss.: Die Echinokokkenkrankheit) und Staats- examen in Breslau. Assistent an der neuerrichteten Dermatolo- gischen Klinik in Breslau. Habilitation in Leipzig. Ernennung zum außerordentlichen Professor und Direktor der Der- matologischen Klinik in Breslau. Verheiratung mit ToniKauffmann. Gründung der Deutschen dermat. Gesellschaft mit F. J. Pick. Ernennung zum Geh. Medizinalrat. Gründung der Deutschen Gesellschaft zur Bekämpfung der Ge- schlechtskrankheiten. 1905—1907 Reisen nach Java. 1907 1916 Ernennung zum ordentlichen Professor. gestorben am 30. Juli zu Breslau an Sepsis im Anschluß an Zystitis bei Nieren- und Blasensteinen. ——— se > Die Gedächtnisfeier für Hermann Klaatsch. Um das ‚Andenken des am 5. Januar 1916 verstorbenen Breslauer Anatomen und Anthropologen Professor Dr. med. Hermann Kiaatsch zu ehren, veranstalteten die medizinische, geologische und geographische Sektion am Sonntag, den 7. Mai, eine Gedächtnisfeier. In dem Saale des Gesellschaftshauses war ein großes, lebenswahres Bild von Professor Klaatsch, das ihn im Präpariermantel zeigte, von Lorbeerblättern um- geben, aufgestellt. Aus weiter Ferne war die einzige Tochter des Entschlafenen, Frl. Liesbeth Klaatsch, herbeigeeilt, um die ehrenden Worte zum Andenken ihres Vaters zu hören. Geheimer Bergrat Prof. Dr. Frech, der als zweiter Vorsitzender der Geologischen Sektion in Vertretung des Berghauptmanns Dr. Schmeisser die Veranstaltung leitete, eröffnete sie mit einigen Be- grüßungworten und verlas von den zahlreichen zur Feier ein- segangenen Schreiben einige wenige, die dem Wirken des Entschlafenen in besonderem Maße gerecht werden. So gelangten die Adressen des Direktors des Phyletischen Museums und Nachfolger Haeckels in Jena, Prof. Dr. L. Plate, des ständigen Schriftführers der Deutschen Anatomischen Gesellschaft, Geheimrat Prof. Dr. Karl von Bardeleben, des Geh. Hofrats Prof. Dr. Wilhelm Salomon im „Auftrage des Medizinisch-Naturhistorischen Vereins in Heidelberg und des Praehistorikers Dr. O. Hauser in Basel zur Verlesung. Nach weiterer Vorlage der Schreiben der Heidelberger Akademie der Wissen- schaften und des Bonner Anatomen Geheimrat Prof Dr. Bonnet, nahm der Wirkliche Geheime ÖOÖbermedizinalrat Prof. Dr. Waldeyer das Wort zu dem im folgenden Auszuge wiedergegebenen Nachruf. Der Redner erinnerte an die Zeit, in der es ihm vergönnt war, hier in Breslau alle Stufen akademischer Lehrtätigkeit vom Assistenten bei Rudolf Heidenhain, unvergeßlichen Andenkens, durch den Privat- dozenten und außerordentlichen Professor zum Ordinarius und Instituts- direktor zu durchmessen. Wenn man, wie er, zu hohem Alter gelange, so müsse man darauf gefaßt sein, neben vielem Erfreulichen auch manches Schmerzliche zu erleben, und dazu rechne er vor allem den Verlust so mancher lieber Schüler und treuer Mitarbeiter auf akade- mischer Bahn. Die heutige Gedenkfeier rufe in ihm zunächst die Er- innerung an diejenigen seiner schon aus dem Leben geschiedenen Schüler wach, die hier in Breslau seine Gehilfen waren: Karl Weigert, Kolaczek, Buchwald, Albertv.Brunnund PaulEhrlich, der ihm mit v. Brunn nach Straßburg folgte. Sei der Tod von lieben 38 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Schülern, von denen man hätte hoffen dürfen, daß sie den Lehrer über- leben würden, tief schmerzlich, so bleibe doch eine tröstliche Empfindung beim Gedenken an den schweren Verlust, wenn man sich der Abge- schiedenen mit Liebe als Menschen und Freunde und mit Stolz als Ar- beiter auf dem Felde der Wissenschaft erinnern könne. Das könne er, betont Waldeyer, von seinen schlesischen Schülern, die vor ihm aus dem Leben geschieden seien, vor aller Welt bekennen. Das bekenne er aber auch in vollem Umfange von dem Manne, dem die heutige ernste und erhebende Feier gelte, von Hermann Klaatsch. Er habe Klaatsch in Berlin in dessen Elternhaus als jungen Schüler und späteren Studenten kennen und schätzen gelernt. Der namentlich durch Gegenbaurs Einfluß zum Forscher erzogene und gereifte junge Mann sei bei ihm mehrere Jahre als Assistent tätig ge- wesen, während welcher Zeit sich freundschaftliche Beziehungen ange- bahnt und dauernd erhalten hätten. Stets habe Klaatsch, obwohl später wieder in Heidelberg bei Gegenbaur weilend, dann hier in Breslau, dann auf jahrelangen Reisen von Europa abwesend, keine Ge- legenheit versäumt, ihm seine treue Anhänglichkeit zu beweisen, und so sei er heute hergekommen, um die gleiche Treue zu bekunden. Prof. Waldeyer schilderte dann die hohe Begabung des Verstorbenen für die Lösung morphologischer Fragen, seine rasche Auffassungsgabe, seine ungewöhnliche Arbeitskraft und Hingabe an die wissenschaftliche Arbeit, sowie seine eminente Lehrbegabung; nur wenige wohl kämen ihm gleich in der anregenden Kraft, die sein Vortrag besaß. Klaatsch hatte die feste volle Überzeugung von der Richtigkeit seiner Lehrmeinungen und war ein streitbarer, feuriger Verfechter seiner Ideen. Es ist erstaunlich, wie viel Klaatsch in den dreißig Jahren, in denen er seit seiner Doktorarbeit „Über die Eihüllen von Phocaena communis“ (1885) tätig sein konnte, erarbeitet hat und wie vielseitig seine Tätigkeit war. Der Redner würdigte dann den Verstorbenen als Anatomen auf dem Gebiete der menschlichen Anatomie und Entwicklungsgeschichte. Klaatsch hat da sowohl in der Gewebelehre und mikroskopischen Anatomie wie in der mikroskopischen Technik, aber auch in deskriptiver, präparierender Anatomie manche anerkennenswerten Arbeiten hinterlassen; der Schwer- punkt seiner anatomischen Leistungen liegt aber auf dem Gebiete der Entwicklungsgeschichte und vor allem auf dem der vergleichenden Anatomie. Dort macht sich der erwähnte große Einfluß geltend, den Gegenbaur, einer unserer bedeutendsten vergleichenden Anatomen, der als der eigentliche Lehrer von Klaatsch angesehen werden muß, auf den empfänglichen und wissensdurstigen jungen Mann ausgeübt hat. Waldeyer rechnet es sich zum Verdienst an, daß er Klaatsch zur Be- schäftigung mit der Anthropologie und Ethnologie angeregt habe in der Gedächtnisfeier für Hermann Klaatsch. 39 ‘ Meinung, daß es für die Anthropologie von höchstem Werte sei, wenn ein junger Forscher mit dem Feuereifer von Klaatsch und ausgerüstet mit so gründlichen Kenntnissen in der Zoologie, vergleichenden Anatomie und von guter paläontologischer Schulung und zugleich durchgebildet in der menschlichen Anatomie und in der Entwicklungsgeschichte, sich anthropologischen Arbeiten widmete. Diese Überzeugung war eine richtige, das hat Hermann Klaatsch glänzend bewiesen. „Dem genialen Forscher, dem unermüdlichen Arbeiter, dem anregenden Lehrer, dem aufrichtigen, originellen, frischen Menschen und treuen Freunde ein unvergeßliches Gedenken !“ Als Vorstandsmitglied der Deutschen anthropologischen Gesellschaft kennzeichnete Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Hans Virchow (Berlin) den Einfluß, den Klaatsch in dieser Gesellschaft ausgeübt hat, und gab einen Überblick über die mannigfachen anthropologischen The- mata, die Klaatsch in seinen Vorträgen auf den anthropologischen Kongressen und in anderen Veröffentlichungen behandelt hat. Die Ge- sellschaft habe ihm viele Anregungen zu verdanken. Schon bei seinem ersten Auftreten auf einem Kongreß im Jahre 1899 in Lindau, erregte er Aufsehen. Was man da von ihm zu hören bekam, das war ganz anders als das Gewohnte. Seine Bedeutung für die Kongresse lag darin, daß er die großen Zusammenhänge für die Betrachtung des menschlichen Ge- schlechts zeigte. Auf Klaatschs Gedankengänge über den Ursprung des Menschen- geschlechts, versuchte Geheimrat Virchow in seiner Rede näher einzu- gehen. Im Anfang nahm Klaatsch an, daß der Mensch sich frühzeitig von dem Anthropoidenstamm (den menschenähnlichen Affen) getrennt und daß dann bald darauf schon eine Trennung des menschlichen Stammes in die verschiedenen Menschenrassen stattgefunden habe. Später aber erfuhren seine Ansichten eine Abänderung dahin, daß sich frühzeitig die verschiedenen Anthropoidenstämme gesondert hätten und daß dann eine Sonderung dieser Anthropoidenstämme von den mensch- lichen sich vollzogen habe, daß sie also eine Strecke weit gemeinsam gegangen seien. Seine Lehre ist die, daß die Primaten, die Vorfahren der Menschen und Affen, von dem ursprünglichen Stamm der Säugetiere vieles Primitive bewahrt haben und daß der Mensch sich von diesem ursprünglichen Primatenstamm wiederum sehr vieles Primitives bewahrt hat, daß also der Mensch ein Dauertypus ist und eine zentrale Stellung einnimmt. Die Affen sind nach seiner Meinung degenerierte und abge- leitete Vettern des Menschen und auch die Anthropoiden (die Menschen- affen) nicht etwa Vorfahren des Menschen, sondern in mancher Hinsicht sogar weiter abstehende Seitenverwandte. 40 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Er schloß seine Rede mit dem Wunsche, daß auch nach dem Hin- scheiden von Professor Klaatsch dessen Anregungen für die Wissen- schaft lebendig bleiben mögen. Ihm folgte als Vertreter der Berliner anthropologischen Gesellschaft Herr Prof. Dr. Seger-Breslau mit den Worten: „Die Berliner anthropologische Gesellschaft, die zu vertreten ich die Ehre habe, hat besonderen Anlaß, des Verewigten in Dankbarkeit zu gedenken. Zählte er doch zu ihren eifrigsten und tätigsten Mitgliedern und war sie es doch, der er seine bahnbrechenden Untersuchungen auf anthropologischem Gebiete zuerst mitzuteilen pflegte. Ein Vortrag von Klaatsch bedeutete für die Gesellschaft immer ein Ereignis und lockte die Mitglieder von fern und nah herbei. Anregend wie wenige, und ge- wohnt, die Dinge bei der Wurzel zu fassen, hat er mehr als einmal die Arbeiten der Gesellschaft in eine bestimmte Richtung gelenkt. Ich er- innere an seinen Vortrag vom 10. Januar 1903 über eine Studienreise durch Deutschland, Frankreich und Belgien, von dem Lissauer sagte, er habe eine solche Fülle von Beobachtungen gebracht, daß es dem Vor- stande zweckmäßig erschienen sei, sie in einer Sitzung nochmals zur Diskussion zu stellen. Die klassischen Fundstätten der älteren Steinzeit in Westeuropa waren der deutschen Gelehrtenwelt damals fast aus- schließlich aus der Literatur bekannt, und man begegnete den Ergeb- nissen der dortigen Forschung bei uns vielfach mit einer unberechtigten Skepsis. Klaatsch hat durch seine überaus lebendige Schilderung viel dazu beigetragen, daß das Interesse für die paläolithische Kultur Westeuropas auch in Deutschland rege wurde.“ „Sein enges Verhältnis zur Berliner Gesellschaft fand den schönsten Ausdruck in den regelmäßigen und eingehenden Berichten über den Ver- lauf seiner australischen Reise. Diese Berichte zu lesen, ist ein wahrer Genuß. Sie zeigen die Vielseitigkeit, die scharfe Beobachtungsgabe und den unermüdlichen Forschungsdrang des Verfassers im glänzendsten Lichte.“ „Nach seiner Rückkehr hat er dann im Anschluß an die neuen Funde diluvialer Menschenreste in der Berliner Gesellschaft seine ebenso kühnen wie scharfsinnig begründeten Theorien über die Entwicklung der Menschenrassen dargelegt. Namentlich sein letzter großer Vortrag am 19. März 1910 über die Aurignacrasse und ihre Stellung im Stammbaume der Menschheit übte auf alle Hörer die tiefste Wirkung aus. Daß er auch als schlagfertiger Diskussionsredner und liebenswürdiger Gesell- schafter sich die allgemeine Sympathie erworven hat, bedarf in diesem Kreise keiner Hervorhebung.“ „Der Vorstand hat mich beauftragt, hier auszusprechen, daß die Gesellschaft Hermann Klaatsch ein treues Gedächtnis bewahren Gedächtnisfeier für Hermann Klaatsch. 41 werde. Das nächste Heft der Zeitschrift für Ethnologie wird einen aus- führlichen Nachruf mit seinem Bilde') bringen.“ Als Freund und Verehrer des Verstorbenen, zugleich im Auftrage der Gesellschaft für Anthropologie und Urgeschichte der Oberlausitz sprach ihr Präsident, Major Prof. Feyerabend aus Görlitz: „Fern von der Zentrale der akademischen Arbeit habe der Ent- schlafene durch zahlreiche Vorträge in der Oberlausitz der Allgemeinheit die Früchte seiner Arbeit kennen gelehrt. Stets habe er seine Auffassung, die Wissenschaft solle nicht eingeschlossen bleiben in der Arbeitsstube des Gelehrten, in die Tat umgesetzt, wobei ihm besonders seine außer- gewöhnliche Herrschaft über das Wort und die Gabe, klar und an- schaulich zu reden, zu statten kam.“ Mit warmen Dankesworten für die vielen Verdienste, die sich der Entschlafene um die Förderung des Vereins für Anthropologie und Ur- geschichte der Oberlausitz erworben hat, schloß der Vortragende seine temperamentvoll vorgetragenen Darlegungen. Geheimer Bergrat Professor Dr. Frech gab hierauf hauptsächlich eine Würdigung der prähistorischen, für Geologie und Palaeontologie höchst bedeutungsvollen Forschungen Klaatschs: „Mitten in dem Wüten des Weltkrieges ist ein Forscher von uns ge- gangen, dessen Lebensarbeit der Aufhellung des Ursprungs des Menschengeschlechtes geweiht war. Nicht auf den viel betretenen, aber allmählich ungangbar und aussichtslos gewordenen Pfaden, sondern auf ganz origineller Grundlage und mit Hilfe zum Teil erst von ihm selbst entwickelter Untersuchungsmethoden suchte Hermann Klaatsch sein Ziel zu erreichen.“ „Wer die dem preußischen Staate hinterlassenen Sammlungen des Ver- ewigten durchmustert, ist zunächst über die Vielgestaltigkeit, ja die scheinbare Zusammenhanglosigkeit der Objekte erstaunt. Neben geolo- gischen Fundstücken — den Fußfährten australischer Riesenvögel und den Resten ausgestorbener Känguruhs und Wombats-liegen die Kletter- hölzer und Steinwerkzeuge der neuholländischen und tasmanischen Ur- einwohner; daneben sehen wir sorgfältig beschriftete vorgeschichtliche Feuersteingeräte von zahlreichen Fundstätten Belgiens, Nord- und Süd- frankreichs. Gehirnpräparate und Skelette aussterbender Volksstämme der Südhemisphäre finden ein Gegenstück in der Rekonstruktion mensch- licher Wesen, die vor 50—100 000 Jahren auf europäischem Boden lebten. Kurz, die Verbindungswege, welche der Forschergeist unseres verewigten Freundes zwischen räumlich und zeitlich weit getrennten Gebieten 1) Inzwischen erschienen: Fischer, Eugen. Hermann Klaatsch. Ein Nachruf. Zeitschrift für Ethnologie. Jahrg. 47, S. 335—390. Berlin 1916. 42 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. schlägt, enthüllen sich mühelos bei einigem Nachsinnen und versinn- bildlichen Umfang und Tiefe seiner Geistesarbeit.“ „Hermann Klaatsch stammt aus einer alten Berliner Arztfamilie. Einer seiner Vorfahren von mütterlicher Seite war der berühmte „alte Heim“, um die Wende des 18. Jahrhunderts der geschätzteste Arzt und eine der bekannten Berliner Persönlichkeiten. Sein Großvater Klaatsch hat ruhmvollen Anteil an der Schlacht bei Belle Alliance genommen. Er gehörte zu den glücklichen Verfolgern, die den Reisewagen Napoleons eroberten. Aus der später verteilten Beute kam das große von Napoleon getragene Ordensband der Ehrenlegion in den Besitz des Breslauer Ge- lehrten. Er selbst wurde aus einer silbernen Schüssel getauft, die zu dem in dem Reisewagen gefundenen Tafelgeschirr des Franzosenkaisers gehört hatte. Die Vermutung liegt nicht fern, daß der kampfesfrohe Sinn des Großvaters in dem Enkel wieder lebendig wurde.“ „Der Vater von Klaatsch war in der zweiten Hälfte des verflossenen Jahrhunderts einer der angesehensten Berliner Ärzte. Er hatte als Schüler von Johannes Müller sich ursprünglich der theoretischen Wissen- schaft (der vergleichenden Anatomie) gewidmet, der seine Doktorarbeit gegolten hatte, war aber durch äußere Verhältnisse in die praktische Laufbahn gedrängt worden. Mit umso größerem Interesse verfolgte der Vater die ersten Schritte und die rasch aufwärts strebende wissen- schaftliche Entwicklung des Sohnes.“ „Die große Vielseitigkeit und der umfassende Überblick, der Klaatsch’s wissenschaftliches Lebenswerk auszeichnete, prägte sich schon auf der Schule aus. Ein naturwissenschaftlicher Schülerverein, den Klaatsch mit den Söhnen von Helmholtz, Dubois-Reymond, dem Maler Ludwig von Hofmann und mir in den siebziger Jahren gegründet hatte, sah in Klaatsch einen Vertreter — der Astronomie, deren Wesen und Begriffe er uns mit einer ihm schon damals eigenen Klarheit und An- schaulichkeit vorzutragen wußte. Doch war er gleichzeitig für biologische und zoologische Fragen interessiert. Ich entsinne mich noch, wie er mit Lebhaftigkeit und Freude seine am Pasterzen-Gletscher zusammen- gebrachte Schmetterlingsssammlung und die Einwirkung der Höhennatur auf die Form und Farbe der Alpenfalter erläuterte. „Es gehört zu dem Wesen der Arbeits- und Forschungsmethode des Verewigten, daß er dasselbe wissenschaftliche Problem von den ver- schiedensten Seiten und Gesichtspunkten, stets aber unter sorgfältigster Durcharbeitung aller Einzelheiten in Angriff nahm. Seine unermüdliche Arbeitskraft und Arbeitslust begleiteten ihn auf der Reise in den austra- lischen Busch, ebenso bei seinen zahllosen Messungen, Sektionen und Ausgrabungen, und das Ergebnis entsprach der aufgewandten Mühe. Eine vollkommen neuartige Gestaltung unserer Anschauungen über die Gedächtnisfeier für Hermann Klaatsch. 43 Urgeschichte des Menschen und der Menschenaffen, über die Anfangs- formen der Kultur und die Bearbeitung der ältesten menschlichen Werk- zeuge waren die Ergebnisse. Kaum einer der lebenden Anthropologen verfügte über ein so vielseitiges wissenschaftliches Rüstzeug wie Klaatsch;, mochte es sich um anatomische Methoden, um Beobachtungen primitiver Australierstämme, ihrer Lebensgewohnheiten und Schädelformen, oder um die Erforschung der Kulturgeschichte in Höhlen und anderer geolo- eischer Aufschlüsse handeln.“ „Einer der bemerkenswertesten Funde ist in der Umgegend der Universitätsstadt gemacht worden, in der der verewigte Forscher seine ersten Proben als akademischer Lehrer ablegte.‘ „Der Unterkiefer dieses „Homo Heidelbergensis‘‘ ') stellt ohne jeden Zweifel den ältesten gegenwärtig bekannten Fossilrest des Menschen dar. Es ist eine glückliche Fügung, daß Klaatsch an der wissenschaftlichen Bearbeitung des Heidelberger Unterkiefers Teil hatte und daß daher dieser einzigartige Menschenrest auch gut untersucht ist. Die an die Grenze des Tertiär hinabreichenden Mosbacher Sande der Maingegend zeigen die nächste Beziehung zu den Mauerer Sanden, in deren tiefster Schicht der Kiefer lag. In beiden überwiegen die Reste einer wärme- liebenden Tierwelt, deren nächste Verwandte jetzt in Afrika und z. T. in Indien zu Hause sind.“ „Die Beschaffenheit der Zähne von Mauer deutet auf eine omnivore und wohl mehr pflanzliche Ernährungsweise hin; jedenfalls ist der Carnivoren-Typus durch die Kleinheit des Ecekzahns gänzlich ausge- schlossen. Daß der Eckzahn keineswegs stärker entwickelt ist als beim modernen Menschen, verleiht dem Heidelberger Unterkiefer für die ganze Frage der Stellung des Menschen zu den menschenähnlichen Affen un- gemeine Wichtigkeit. Bestände die alte Affenabstammungsidee zu recht, wie sie noch heute in mehr oder weniger abgeschwächter Form fort- besteht, so müßte man verlangen, daß die ältesten Menschenformen am meisten dem Anthropoidengebiß ähneln. So wenig dies nun für die niedersten lebenden Rassen, d. h. für die Australier zutrifft, so wenig eilt es für das Fossil von Heidelberg. Homo heidelbergensis bedeutet daher eine glänzende Bestätigung für die Richtigkeit der von Klaatsch seit Jahren vertretenen Lehre von der eigenartigen Entwickelungsbahn des Menschengeschlechts, die nur an der Wurzel mit der der Anthropoiden zusammhängt. Bezüglich des Gebisses haben sich die menschenähnlichen Affen durch sekundäre Vergrößerung des Eckzahns mehr und mehr von der Urform entfernt. Bei den Gibbons, wo die 1) Die auf Grund der Forschungen von H. Klaatsch durch Herrn Dr. Fabiunke ausgeführte Rekonstruktion des Heidelberger Schädels war im Sitzungssaale neben Abgüssen der Neandertaler- und Moustier-Schädel ausgestellt. 44 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Variationen des Augenzahns viel größer sind als beim Orang, Schimpanse und Gorilla, besteht noch innerhalb der Variationsreihe der relativ nächste Anschluß an den Menschen durch Vermittelung von Formen mit relativ kleinem Eckzahn.“ „Der Unterkiefer von Heidelberg bestätigt somit auch die weitere aus Klaatsch‘s Lehre über die Stellung des Menschen in der Reihe der Primaten und der Säugetiere gezogene Folgerung, daß die niederen Affen gänzlich aus der Vorfahrenreihe des Menschen auszuschließen sind.“ „Mit dem Funde von Mauer verglichen treten die beiden anderen Entdeckungen fossiler Menschenreste vom Neandertal-Typus an geolo- gischem Alter zurück; ihre Bedeutung beruht auf der größeren Voll- ständigkeit.“ „Der eine Fund gehört dem Departement Dordogne, der andere dem östlich anstoßenden Departement Correze an. Der Dordogne-Fund betrifft das Skelet des jugendlichen Individuums, welches von O. Hauser aus Basel bereits im März 1908 in der untern Grotte von Le Moustier im Vezeretal aufgedeckt wurde.“ „beide Funde gehören sicher dem älteren Diluvium an und bieten eine interessante Parallele zueinander, insofern es sich in beiden Fällen um eine Art von primitiver Bestattung der Skelette handelt.“ „Klaatsch stellte sich weiter die Aufgabe, durch die Diagnose des Skelets den Beweis für die Verschiedenheit der von ihm als Homo Aurignacensis bezeichneten Rasse vom Neandertaltypus zu erbringen. Diese Frage muß bejaht werden. An sich schon ist die ganze Be- schaffenheit des Skelets entscheidend, das durch die harmonische Aus- prägung zahlreicher Merkmale, die bei rezenten Menschenrassen vor- kommen, sich als Vertreter eines Typus offenbart, durch den zeitlich weit verschiedene Menschenformen miteinander verknüpft werden.“ „Damit gelangen wir einen Schritt weiter zu der Frage: Kann der Aurignactypus sich aus dem Neandertalmenschen entwickelt haben?“ „Die Verschiedenheiten zwischen beiden fossilen Vertretern der Diluvialmenschheit sind so groß, daß, wenn es sich um Tiere handelte, kein Zoologe zögern würde, daraus zwei verschiedene Spezies zu machen.“ „Die beiden Diluvialrassen offenbaren sich als durchaus selbständige Zweige der Menschheit, die auf ganz verschiedenen Wegen von der gemeinsamen Urheimat nach Mitteleuropa gelangt sind und hier auf- einandertrafen.‘ „Das morphologische Ergebnis bildet eine Parallele zu dem, was wir über die Tierwelt der Eiszeit in Europa wissen. Wir sehen da- eine präglaziale afrikanische Tierwelt mit Elephas antiquus, die den älteren Bestand bildet, und auf diese trifft die der Kälte angepaßte, von Osten her einwandernde Mammut-Fauna. Das gleiche gilt für den Menschen. Gedächtnisfeier für Hermann Klaatsch. 45 Der plumpe Neandertaltypus gehört der Antiquus-Fauna an; der grazile Aurignac-Mensch (d. h. der Schädel Aurignac, Brünn TI, Galley Hill und Krapina zum Teil) wanderte mit dem Mammut von Osten ein. Wann beide Rassen aufeinandergestoßen sind, können wir vorläufig nicht sagen, daß sie aber tatsächlich miteinander während der Eiszeit in Mitteleuropa gelebt haben, läßt sich nicht bezweifeln.‘ „Der von Osten einwandernde Aurignac-Mensch traf die Neandertal- rasse als allgemein verbreitete Bewohner Mitteleuropas an; es kam zwischen beiden Menschenzweigen zu Kämpfen, bei denen im allgemeinen die bedeutend höher stehende Aurignacrasse die Oberhand behielt.“ „Der Aurignactypus ist nun dem lebenden Australier auffallend ähnlich. Bei beiden ist die grazile Entwickelung des Knochenbaus bemerkenswert, während der Neandertaler und Heidelberger Urtypus durch massige und plumpe Körperformen gekennzeichnet sind.“ „Die Neandertalrasse hat sich bereits im Tertiär von Afrika über das sanze Nordland ausgebreitet, weit über das jetzige Frankreich und Deutschland hinaus auf den großen Nordwestkontinent, der mit Amerika zusammenhing. Damals herrschte ein mildes Klima bis hoch zum Norden hinauf. Diese Urmenschheit erlebte das Versinken der Atlantis, dann die furchtbare Katastrophe des Hereinbrechens des Nordlandeises, hat aber trotzdem nach einem viele Jahrtausende währenden Kampf mit den Elementen die ganzen Glazial- und Interglazialphasen überdauert, bis sie, durch neue Eindringlinge besiegt und verdrängt, sich mit den Resten der eiszeitlichen Tierwelt teils nach dem Norden, teils in die Alpentäler zurückzog. Welche unendliche Fülle von Schädigungs- möglichkeiten liegt da vor, gerade in bezug auf das Skelet und auf die Atmungsorgane. Fast jeder Neandertalfund erzählt uns daher ein Stück Leidensgeschichte; beim ersten Fund des Düsseltales die Luxation im linken Ellbogengelenk infolge Sturzes; beim Knaben von Moustier die Retention des linken untern Eckzahnes und eine Störung im linken Unterkiefergelenk.‘ „Während die Arbeit Klaatsch’s über die Urformen der Menschheit, die Anpassung des Fußes, die primitive Beschaffenheit der Hand und der aufrechte Gang eine zusammenhängende, organisch entwickelte Reihe bilden (die bis 1913 reicht), blieb das große australische Reisewerk aus einem äußeren, aber für das Zartgefühl des Verewigten höchst ehren- vollen Anlasse liegen. Bei der Untersuchung der anthropologischen Merk- male und der Lebensgewohnheiten lernte Klaatsch das rücksichtslose Vernichtungs- und Ausrottungssystem kennen, das England hier wie überall gegen jeden zivilisierten und unzivilisierten Gegner übt. Eine Beschönigung oder ein Verschweigen lag Klaatsch fern — aber anderer- seits hatte er auch gewisse Förderung seitens der Kolonialbehörden 46 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. erfahren und so hat er auch in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit über Australien aus Dankbarkeit lange geschwiegen.“ „Doch als mit Ausbruch des Weltkrieges das perfide Albion jede Maske fallen ließ, da hörte ich Klaatsch wiederholt äußern: „Jetzt kann ich mein Australienbuch schreiben.“ „Seitdem ist er mit nie ermattender Energie am Werk geblieben. Zahlreiche Kapitel liegen handschriftlich abgeschlossen vor; für die sachkundige Bearbeitung der nicht vollendeten Teile, für die Heraus- gabe des überreichen Materials an Lichtbildern und Zeichnungen wird die erste wissenschaftliche Körperschaft Deutschlands, welche ihrer Zeit die Reise angeregt und unterstützt hat, die Sorge übernehmen.“ „Wir dürfen also ein Werk erwarten, das aufgebaut auf der breiten Unterlage anatomisch-urgeschichtlicher und sgeologischer Forschung, ausgearbeitet mit allem Rüstzeug moderner Untersuchungsmethoden für lange Zeit richtunggebend in der Naturwissenschaft wirken wird.“ „Klaatsch war eine frische, kampfesfrohe Natur. Was er erforscht, was er als richtig erkannt hatte, das teilte er Fachgenossen und Schülern mit der ihm eigenen Lebhaftigkeit in Wort und Schrift mit und verfocht seine Meinung stets mit Geschick und Wärme: „Denn er ist ein Mensch gewesen, und das heißt ein Kämpfer sein.“ Aber die Freude am Durch- fechten der als solcher erkannten wissenschaftlichen Wahrheit wurde gemildert durch eine tiefe, innerliche Güte und einen sonnigen Humor. „so lebt er in uns fort als ein großer Gelehrter, ein guter Mensch und ein aufrechter Mann: Höchstes Glück der Erdenkinder Ist doch die Persönlichkeit. Als fünfter und letzter Redner nimmt Privatdozent Dr. med. et phil. Richard N. Wegner, Prosektor am anate- mischen Institut der Universität Rostock, als Klaatsch’s Schüler das Wort: „Wenn ich an Hermann Klaatsch ‚als anatomischen Lehrer denke, so tritt mir immer unser erstes Zusammentreffen lebendig vor Augen. Damals trat an den jungen Studenten, der bestrebt war, am Seziertisch anatomische Nomenklatur dem Gedächtnis einzuprägen, wie sie den jungen Mediziner zu beengen pflegt, ehe er gelernt hat, plastische Ge- staltung mit jedem Ausdruck zu umschließen, eines Tages ein kleiner leb- hafter Herr mit behender Beweglichkeit im Präpariersaal heran, der mit wenigen Worten darlegte, warum jener Muskel im Laufe menschlicher Stammesgeschichte seine besondere Form erlangt habe, der aus der öden Schwere formalen Wissens zu leichter Anschaulichkeit führte und auf jede Frage unermüdlich eine Fülle von Anregungen aufrollte. Gedächtnisfeier für Hermann Klaatsch. 47 — Da wußte ich, das war Hermann Klaatsch, den ich hier von An- sehen kennen lernte, dessen 1902 veröffentlichtes Werk über die Entstehung des Menschengeschlechts auch mich wie manchen anderen in die Anatomie gezogen hatte. Aber nicht im Präpariersaal ent- hüllte sich dem Hörer die ganze Fülle seiner Darstellungskraft, ' —- die ex tempore eine erstaunliche Menge von Wissensmaterial zur Hand hatte, — sondern in der Vorlesung, in der sein Wort durch rednerische Begabung und durch den Ton ehrlicher Überzeugung wirksam wurde, ebenso wie sein Temperament oft einem ganzen Kongreß seine Stimmung aufprägen konnte. Noch mehr kam sein Lehrtalent in den Arbeitsräumen zum Vorschein, wenn er mit wenigen Strichen ein klares Bild der anatomischen Verhältnisse an die Wand warf. Trotz allem Skeptizismus, der sich in scharfen Angriffen äußerte, stand er der Natur selbst mit Ehrfurcht gegenüber, konnte sich über jeden einzelnen gefundenen Knochen mit so hell’ fröhlicher Begeisterung freuen, daß sie etwas Rührendes gewann, jeden in den Bann der Zuneigung und der Verehrung zu dem Dahingeschiedenen zog.“ „Er behandelte jeden. Schüler als gleichgestellten Forscher, als seinen Mitarbeiter, wußte ihn zu seiner Höhe emporzuheben und an seinem Ent- wicklungsgange teilnehmen zu lassen, ohne der Individualität nahe zu treten. — Das selbständige Arbeiten und Denken schätzte er besonders und ein freimütiger Widerpart im Laboratorium galt bei ihm. „Ab- klaatsche‘“, wie er zu scherzen beliebte, wollte er nicht. Es war die Bescheidenheit eins großen Mannes, wenn er manche seiner Schüler für einige Zeit in die Laboratorien eines durch pedantische Exaktheit be- kannten Forschers sandte, weil sie dort genauer lernen könnten. — Dann konnte er manchmal auch auf Reisen in der Wohnung derer er- scheinen, die ihm näher standen, Schädelserien und anderes stundenlang beschauen und einen gehörigen geistigen Sauerteig in die Arbeit mischen. So jugendlich wie er sich gab, pflegte er die Jüngsten schon von Anfang an zur wissenschaftlichen Mitarbeit heranzuziehen — und gern zu erzählen, daß er in dem Alter mancher seiner Hörer von 27 Jahren schon Dozent der Anatomie gewesen sei, daß er nach kaum bestandenem Physikum, eben 20 jährig, eine eigene wissenschaftliche Tätigkeit be- sonnen habe, in die wir ihm nochmals zurückfolgen wollen.“ „im Sommer-Semester 1883 arbeitete er an einer kleinen wissenschaft- lichen Arbeit: „Zur Morphologie der Säugetierzitzen.‘‘ — Dieses Problem, mit dem er in seine Forschertätigkeit eintrat, hat ihn immer wieder gefesselt. Noch auf dem Anthropologenkongreß zu Weimar 1914 sprach er über die Bedeutung des Säugetiermechanismus für die Stammes- geschichte des Menschen und auch dieser ‘Vortrag sollte nur als 'vor- läufige Mitteilung zu einer umfangreichen Arbeit gelten, zu der sich zahl- 48 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Culiur. reiche schon ausgeführte Abbildungen und Belege unter seinem litera- rischem Nachlaß fanden.“ „Als Anatom wollte er in das tiefsinnige Problem hineinleuchten, wie aus dem Reptil, das seine sich in Eiern entwickelten Nachkommen der »onnenwärme überläßtt — über die noch eierlegenden Monotremata Australiens, die in einem Brustgrübchen schon nährende Flüssigkeit dar- bieten. die Säugetiere sich entwickeln. Steht doch der Säugemechanimus, dem seine Arbeit galt, in engem Zusammenhang mit den Trieben, die zur Ausbildung der Mutterliebe beim Tiere führen, aus der wieder der Anfang alles sozialen Fühlens herzuleiten ist. So verfolgt er die Entwicklung von den Beuteltieren Australiens aufwärts, welche in der Beuteibergung der unfertigen Jungen einen Ersatz für die Unterbringung im Frucht- halter wie bei den Säugetieren zeigen. So uniertig sind idiese Beutel- keimlinge, daß sie wie kleine winzige Knospen an den Brustdrüsen sitzen, die von unverhältnismäßiger Größe zum Kopf der Embryonen die Mund- höhle derselben ganz ausfüllen. Von einem Säugen ist hier nicht die Rede, die Milch muß den Kleinen in den Mund gespritzt werden. — Letzteres besorgt ein Muskelstrang, durch dessen Konprimierung das Ausspritzen der Milch zustande kommt. Die Stelle, an der dieser Muskel aus der Bauchwand austritt. entspricht jener „‚Pforte‘“ des Leibeshöhlen- abschlusses, die wir auch beim Menschen antreffen als den „Leisten- kanal“. So offenbart sich uns ein höchst seltsamer Konnex zwischen dieser Körperstelle, die als Ort geringeren Widerstandes für den Austritt von Eingeweiden in Form von Leistenbrüchen eine so verhängnisvolle Rolle spielt und den Milchdrüsen der niederen Säugetiere. In der Tat ist auch der Musculus compressor mammae der weiblichen Beuteltiere etwas Gleichbedeutendes mit dem Muskel, der sich bei männlichen Säugetieren zur Umhillung der Keimdrüse begibt, des sogenannten Musculus cremaster, der ein gemeinsamer Besitz aller Placentalier ist. — Klaatsch führt uns damit auf eines der interessantesten Probleme unserer Vor- geschichte, nämlich wie es kommt, daß sich beim männlichen Geschlecht die Keimdrüsen außerhalb der Leibeshöhle befinden. — Diesen Ver- lagerungsvorgängen der Keimdrüsen im Verlauf der Säugetierstämme hat Klaatsch seine Habilitationsarbeit gewidmet. Mit der Erforschung des Säugemechanismus verknüpft sich für Klaatsch ferner die Frage nach der Lippenbildung und ihrer Muskulatur, ein ebenso wichtiger Faktor in der Entwicklung desMenschengeschlechts und seiner späteren Sprachbildung.“ „Auch mit dem so fesselnden Problem der Entstehung der Gliedmaßen in der Entwicklung aus Fischformen zu Landwirbeltieren hatsich Klaatsch befaßt. Karl Gegenbaur hatte sich zuerst an das große Rätsel gewagt. Er betonte die Bogennatur des Schulter- und Beckengürtels, an welche die übrige Extremität bei Fischen in Form von Strahlen befestigt ist, Gedächtnisfeier für Hermann Klaatsch. 49 gleichsam als sei die Hand unmittelbar an den Schultergürtel angefügt. — Ein Knorpelstrahlenskelet, wie es der Fisch Ceratodus besitzt, hatte Gegenbaur als ursprüngliche Urflosse oder „Archipterygium“ theoretisch konstruiert, noch bevor der seltsame, heute nur noch in 2 Flüssen Ost- Australiens lebende Fisch entdeckt wurde. Eine Verbreiterung der Knorpelachse zur Platte zeigt der primitive Polypterus, dessen Beiname „bichir“, der Zweihänder, bereits die sonderbare Ähnlichkeit seiner Vorderflossen mit Handgliedmaßen andeutet. Eine nähere Begründung dieses Zusammenhanges und damit eine Anwendung von Gegenbaurs Archipterygiumtheorie auf die Landgliedmaßen gab Klaatsch in der um- fangreichen Festschrift zu Ehren des 70. Geburtstages seines großen Heidelberger Lehrers (1896). Die Skeletplatte dieser ‚„Handflosse“ sollte der Handwurzel der Landwirbeltiere entsprechen, die Strahlen, noch in großer Zahl vorhanden, nicht nur die Vorläufer der Finger sein, es sollten aus ihnen auch die beiden Skeletstücke hervorgehen, die sich bereits beim Polypterus an den Rändern der Platte proximal verschoben haben. Eine Verschmelzung der proximalen Enden dieser Randstrahlen liefert die Grundlage für einen Gliedmaßenstiel, wie wir ihn als Humerus am Arm, „Femur“ am Bein bei den Landwirbeltieren treffen. Die Achsel- platte verliert ihre Beziehung zum Schultergürtel, ihre Zerlegung in zahl- reiche kleine Skeletstücke der Hand und Fußwurzel hängt zusammen mit dem Eintritt der Knochenbildung in den ursprünglich knorpeligen Skeletteilen der Gliedmaßen.“ „Natürlich hatte Klaatsch vorher schon versucht, in die wichtige Frage nach den Anfängen der Knochenbildung in zwei ausgedehnten, gründlichen Arbeiten einzudringen, 1),,Zur Morphologie der Fischschuppen und zur Geschichte der Hartsubstanzgewebe‘ (1890). Sie behandelt die Entstehung des Haut-Skelets der niederen Wirbeltiere in vergleichend- anatomischer, embryologischer und palaeontologischer Hinsicht, eine Arbeit, deren Studium noch heute für jeden Palaeontologen unentbehrlich sein dürfte. — Hierbei wurde die Frage nach der ersten Herkunft der Zellen, die Zahnbein- und Knochengewebe liefern, angeschnitten. Die Abstammung dieser Elemente aus dem Ektoderm suchte er dann in einer zweiten Arbeit nachzuweisen: „Über die Herkunft der Knochenbildner oder Scleroblasten — ein Beitrag zur Lehre von der Osteogenese“ (1894). Der Anstoß, den diese Arbeit bei einigen Anhängern der Keimblattlehre erregte, veranlaßte lebhafte Diskussionen, sie wurden wieder der Anlaß zu einer Entgegnungsarbeit „Über die Bedeutung der Hautsinnesorgane für die Ausscheidung der Scleroblasten aus dem äußeren Keimblatt (1895). Neben den Problemen der Hautknochenbildungen übten Untersuchungen über die ersten Anfänge und Entfaltungen des Achsenskelets einen be- sonderen Reiz auf seinen Forschertrieb aus. Damals entstanden die 1916, 4 50 Jahresberiehit der Schles. Gesellschaft für vaierl. Cultur. „Beiträge zur vergleichenden Anatomie der Wirbelsäule“ (1895), ins- besondere über den „‚Urzustand der Fischwirbelsäule“ (1893), über die „Bildung knorpeliger Wirbelkörper bei Fischen“ (1893), „Zur Phylogenese der Chordascheiden und zur Geschichte der Umwandlung der Chorda- struktur“ (1895) sowie „Über die Chorda und die Chordascheiden der Amphibien‘ (1897). Für diese Chordastudien erwies sich eine gründliche Beschäftigung mit dem klassischen Objekt der Chordaten-Morphologie, dem Amphioxus, als notwendig. Das Studienmaterial lieferte ihm ein längerer Aufenthalt auf der zoologischen Station in Neapel im Jahre 1894, Er wurde für ihn zu einem bedeutenden Fortschritt in seiner Kenntnis der niederen Wirbeltiere. Auch in Messina arbeitete er über die Entwicklung des Amphioxus, insbesondere in der Meeresbucht am Faio, wo schon Hat- schek günstige Gelegenheit gefunden hatte, alle Entwickelungsstufen des Lanzettfischehens zu sammeln und zu beobachten. Als wissenschaft- liches Ergebnis dieser Reisen veröffentlichte er eine ganze Reihe von Beobachtungen zur Anatomie und Entwickelungsgeschichte dieses niedersten Fisches.“ „So vielfach sind die Ideen dieses arbeitsreichen Lebens auf dem Gebiete der vergleichenden Anatomie, daß es ganz unmöglich ist hier auch nur die Hauptzüge alle zu streifen‘) Nur auf eine Reihe von Untersuchungen, welche der Stammesgeschichte des Darmkanals der Landwirbeltiere, besonders den Mesenterialbildungen galten, sei noch hingewiesen.“ „Diese Arbeiten entsprangen dem didaktischen Bedürfnis, namentlich den komplizierten Zustand des menschlichen Situs peritonei auf morpho- lozischem Wege dem Verständnis näher zu bringen. Seit Johannes Müllers Zeiten war am Bauchfell nicht wieder mit solchem Erfolge ver- gleichend-anatomisch und teratologisch gearbeitet worden, als in seinen Arbeiten zur Morphologie der Mesenterialbildungen am Darmkanal sowohl bei den Amphibien und Reptilien, als auch bei den Säugetieren (1892). Die Diskussionen darüber auf dem Anatomenkongreß zu Göttingen i892 führten zu seiner neuen Arbeit: .„.Zur Beurteilung der Mesenterial- tildungen“ (1893). Die Anwendung seiner neuen Auffassung, die auch von chirurgischer Seite besondere Beachtung fand, brachte eine bessere Beurteilung der Hemmungsbildungen. Ein auf dem pathologisch- anatymischen Institut von Prof. Arnold beobachteter Fall gab dem eilends herbeigerufenen jungen Professor den Triumph, diese seine Ein ausführliches Verzeichnis und eine Würdigung aller Einzelarbeiten findet sich in dem Nekrolog auf Hermann Klaatsch von Richard N. Wegner im „Ana- tomischen Anzeiger“ Band 48, No. 23/24. Seite 611—623. Jena 1916. Desgl. im Centralblatt f. Mineralogie, Stuttgart 1916. Seite 353—360. Gedächtnisfeier für Hermann Klaatsch. 9: theoretischen Erkenntnisse auch als nutzbar für die Praxis der Pathologie zu erweisen. Nach all’ seinen genialen Ideen werden wir uns nicht wundern, daß Klaatsch auch Fragen aus dem Gebiet der pathologischen Anatomie in den reichen Kranz seiner Forschungsgebiete zog. Er strebte für alle Erkenntnisse nach allgemeinen Anwendungen, auch auf pathologische Vorgänge, so wenn er für die Teratome eine mit den Fortpflanzungs- gesetzen harmonierende Erklärung sucht. Mit der Frage, ob bestimmte Gewebsarten stets an eins der 3 von den meisten Forschern angenom- menen Keimblättern gebunden ist, verknüpft er die Frage nach der Abkunft der Geschwulstgewebe; Klaatsch spricht von einer gemäßigten Spezifität der Keimblätter, denn für ihre Beurteilung sind physiologische Momente die maßgebenden und nicht eine einseitige morphologische Betrachtungsart. Die Grundidee aller seiner Forschungen bleibt das gewaltige Problem der Abstammung — das Klaatsch, wie seine Ver- wertung des Kampfes ums Dasein und der Zuchtwahl zeigt, in vielem darwinistisch ansah. Gegenüber Weissmann, der schlechthin behauptete, die erworbenen Eigenschaften würden kaum vererbt, erblickte Klaatsch in der geschlechtlichen Fortpflanzung den Faktor, der die Vererbung einer großen Zahl erworbener Eigenschaften hindert, aber durchaus nicht auszuschalten vermag. Er betrachtete die geschlechtliche Fort- pflanzung als eine Art Schutzmittel, in der sich die Vererbungseigen- schaften zweier Individuen auf ihre Brauchbarkeit korrigieren können. „Doppelt hält besser‘ pflegte er zu seinen Schülern zu sagen.“ „Neben anderen vergleichenden Anatomen aus der Generation der 80 ziger und 90 ziger Jahre gehörte er, nachdem er von Berlin nach Heidelberg übergesiedelt, zu Gegenbaurs Schule und nur in Verbindung mit der vergleichenden Anatomie trat er zur Anthropologie in Be- ziehungen. Klaatsch hat innerhalb der Anthropologie seine Stellung als Anatom immer wieder betont und vom Standpunkt des Anatomen aus müssen wir uns das Verständnis für den Weg erschließen, den er auch bei seinen späteren Forschungen über den Mensch der Vorzeit senommen hat. Er steht dabei anderen Vertretern der Gegenbauerschen Schule nicht gar sehr fern, nur daß er in späteren Jahren bei seinen vergleichenden Arbeiten nicht die niederen Wirbeltiere sondern die durch ihre Gehirnentwickelung zu den höchsten Typen gewordenen unter- suchte. — Diese Vertreter der vergleichenden Anatomie in Verbindung mit der menschlichen Anatomie sind nun fast ausgestorben !“ „Klaatsch hatte dieser Verbindung eine besondere eigenartige Prägung gegeben zu gleicher Zeit wo Probleme der Zellbiologie die große Mode unter den Fachanatomen wurde. Verstehe ich die Zeichen der Zeit recht, so ist unter der jüngsten Generation von Fachgenossen eine erneute Vorliebe für vergleichende anatomische Methodik im Entstehen, 592 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. zu der Klaatsch so viele ideenreiche Handhaben geboten hat, 80 wird auch hier seine Arbeit weiterleben.“ „Möchte das reiche, vergleichend anatomische Material, insbesondere der dem Menschen in ihrer Organisation nahe stehenden Menschenaffen, das er mit mir gesammelt hat und welches die Grundlage mancher geplanten Einzelmonographie bilden sollte, noch recht viel Benutzung von Seiten der Fachgenossen finden. Die Früchte seiner Entdeckungen fossiler Menschen gehören ja schon der Allgemeinheit und sind in ihrer großen Bedeutung von mir gewürdigt worden.“ „Wie wir sehen sind es alle die großen Probleme, welche die Ent- wickelungsgeschichte kennt, in die er mutig einmal hineingeleuchtet hat, auch wenn sie die höchsten Anforderungen an Vorstudien kosteten. — Selbst eine so umfassende Arbeitskraft wie Klaatsch hat da nicht immer jeden Baustein nachprüfen können. Man hat ihm daraus oft Vorwürfe machen wollen. — Einst hörte ich ihn zu einem seiner Kollegen, der da meinte, jetzt müsse er einer gewonnenen Idee jahrelange Kleinarbeit zur Gewinnung stützenden Beweismaterials widmen, das stolze Wort sagen: „Das mögen andere tun, die keine Gedanken haben.“ So hat er wohl im Laufe seines Lebens hie und da eine Ansicht ändern müssen. Zur Bewertung auch dieser welkenden Gedankenkinder paßt treff- lich der Satz, den er selbst über die Australierhypothese Schoetensacks schrieb: „Sie gehören zu denjenigen, welche die Wissenschaft nicht schädigen, sondern fermentartig belebend auf den Gang des Meinungs- austausches und auf die Herbeischaffung neuen Materials einwirken.“ Stets aber hat er selbst die durch eine fortschreitende Erkenntnis gewonnene Verbesserung freimütig anerkannt.“ „Sein Gedenken vermag keine lähmende Trauer auszulösen, es erfüllt immer wieder mit anfeuernder Spannkraft, wie sie unser ganzes Volk in dieser ernsten Kriegszeit durchzieht. Wenn ich im Geiste seine kleine, kraftvolle Persönlichkeit im stetigen Laufschritt herbeieilen sehe, sprühend von Arbeitslust, dann stärkt die Erinnerung nachwirkend den Willen zur Weiterarbeit an den Geistesaufgaben unseres deutschen Volkes !“ —ı>X«- schlesische Gesellschaft für vaterländische Cullır. SI OE 94. | . Abteilung. Jahresbericht. | N. 1916. ı a. Naturwissenschaftliche Sektion &c ER u 2,6 Sitzungen der naturwissenschaftlichen Sektion im Jahre 1916. I. Sitzung am 8. März. Über Speiskobalt und seine Entstehung. Von Professor Dr. A. Beutell. Zum optischen Verhalten des Krystallwassers. Von Professor Dr. Glemens Schaefer und Dr. Martha Schubert. I. Sıtzung am 23. Juni. Zur Geschichte der konstanten galvanischen Elemente. Von Professor Dr. Julius Schiff. (Diese Arbeit ist erschienen im „Archiv für die Geschichte der Natur- wissenschaften und der Technik, Bd. 7“.) Über das Absorptionsvermögen der Metalle, insbesondere des Wolframs. Von Professor Dr. Ernst Pringsheim. Zur Methode der logarithmischen Isochromaten. Von Professor Dr. Glemens Schaefer, Ill. Sitzung am 6. Dezember (gemeinsam mit der Philosophisch-psychologischen Sektion). Die Relativitätstheorie. Von Professor Dr. Giemens Schaefer. IV. Sitzung am 14. Dezember (gemeinsam mit der Philosophisch-psychologischen Sektion). Diskussion zur Relativitätstheorie. 1916. : Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Allgemeine Übersicht der meteorologischen Beobachtungen auf der Königl. Universitäts- Sternwarte zu Breslau im Jahre 1916. Mitgeteilt von Dr. G. Rechenberg. Höhe des Barometers über Normal-Null — 147,03 m. 1916 Monat Januar Februar .... November .. Dezember... Jahr 1916 Monat Januar August..... September. Oktober . November . Dezember .. Jahr .... » tern. I. Barometerstand, reduziert auf 0° Celsius in Millimetern I. Temperatur der Luft in Graden nach Celsius . . . . . Wen . . . en nn en wermecn | un u success er \ | | 1x3 2 2 E|i®= Is | 20 | ua: = Na AlSerulls = Bene = a ER = SE een E | N | 31. 766,3 | 14. 729,0 750,80 | 3. | 1,8] 31.1=50| 332 1. 1 6481| 16. | 27,2 46,29 | 29. ı 99| 22. - 87| 0,71 31. | 612| @.| 303] 249 | 12. | 170| 7. |-04| 6,00 97. | 5801| 12. | 33,1 46,08] 5. | 20,6 | 17. | 1,0| 9,08 21. | 56,0] 8. | 407| 4796| 27. | asa| 1a. | 21| 1202 23. | 543 | 927. | 39,5 | 46,15 | 94. | 83| ı8.| 65| 15,16 29. | 527] 5.| 368| 4757| 4 | 3A] 18. | 104] 18,07 9.1 5621| 19. | 3721| 4621 | 17. | 2793| 8&| 82] 17,09 93. | 58,6 | 30. | 34,7] 4860| A | 9337| a3. 2326| 12,96 93. | 5861 a6. | a3] 03l 7 | ara! a1. —-30| 8% 29. | e34| 19. | 977 | A876 | 1. | 120 | 18. |- 54] 370 28. | 56,3 | 13. | 29,1 | 42.79 | 30. | 10,9 | a1. — 7,0] 3,42 Jan. |.» o |Febr.| _. Juli Fon | LE | 746,6 | n | 29,4 = s7| 9,57 III. Feuchtigkeit der Luft, IV. Wolken- a. absolute | b. relative bildung und in Millimetern | in Prozenten Niederschläge | | | | | | 2 = = | Meet | | | | I © a | zZ = | o® = ) lo| = © s|a 2 “2 ea | gel a | 8 m Bevor ae = \8.)8 |] 2.8 le) je E2 © =, | == See eis Sp aA|S|Aa IR = a. Reed Tage 283° 7.| 8,1] 31. 2,4 483] öfter100) 36. |54l81,7| — | 14 | 17] 74,70 29. | 5,9| 22. 2,3] 4,08|| öfter 100 12. 49837} 4 | 15 | 10) 40,40 17. | 8,1 | öfter 3,5) 5,64 | öfter\100| 27. 13580,7| 1 | 14 | 16| 35,65 23.30. 9,3| 11. |3,7| 6,3514.16.|100 4. 3373,6] 3 | 15 | 12) 38,00 26. 12,3| 13. 14,2] 7,72|| 23. | 98| 27. |30163,3| 5 | 20 | 6| 28.50 26. 113,7| 20. 5,4 9,221 5. | 99| 2. 38171,7| 1 | 17 | 121102,35 4. 1#8| 1. |6,6111.15|15.21.| 99 1. 3672,6] 1 | 23 | 7| 76,55 30. 115,3) 4. [6,8110,50| öfter100) 10. |33)72,8| 2 | 17 | 121101,75 öfter 12,7| 22. |4,7| 8,59 | öfter]100 18. |4076,9| 6 | 17 | 7| 30,20 7. 12,4| 19. |3,0| 6,82 23.30.1100 4. |42]76,9| 2 | 13 | 16) 35,70 6.,12.| 8,8116.17.2,8| 6,04] öfter 100 1. 5884,51 1 | 12 | 17| 30,60 30. | 8,0) 21. |2,8j 5,09] öfter\100) 24. |56/86,4| — | 14 | 17| 38,20 Aug Febr R Aprillo. |: g 0: 153 |"59" 12,3 7,17 | öfter/100| AB) 30771] 26 191 149 622,60 II. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 3 V. Herrschende Winde. Januar. Die Winde, die wiederholt stärker als gewöhnlich auftraten, wehten ganz überwiegend aus westlichen Richtungen, Nordwinde wurden garnicht, Nordostwind einmal notiert. Februar. Die Winde, die nur um die Mitte des Monats etwas stärker auftraten, verteilten sich mit Ausnahme der seltenen Nord- und Nordostwinde ziemlich gleichmäßig auf der Windrose. März. Die Winde, die im Durchschnitt in nur mittlerer Stärke auftraten, wehten überwiegend aus Südost, Ost und Süd, demnächst auch häufig aus Nordwest, während alle anderen Richtungen zurücktraten. April. Die Winde, die wiederholt stärker als gewöhnlich auftraten, ver- teilten sich ziemlich gleichmäßig auf der Windrose. Mai. Die Winde traten auch in diesem Monat wiederholt stärker als gewöhn- lich auf und verteilten sich auch sehr gleichmäßig auf der Windrose. Juni. Die Winde, die um die Mitte und gegen Ende. des Monats etwas stärker auftraten, wehten überwiegend aus West und Nordwest; Nordostwind wurde nur einmal notiert. Juli. Die Winde traten wiederholt stärker als gewöhnlich . auf und wehten auch wieder vorherrschend aus Nordwest und West, ver- teilten sich aber sonst gleichmäßig auf der Windrose. ‘August. Die Winde, die mit Ausnahme des 3, und 4. durchweg nur in mittleren Stärken auftraten, wehten überwiegend aus west- lichen Richtungen; Nordwest und auch Ostwind wurde nur je einmal notiert. September. Die Winde traten während des ganzen Monats in nur mittleren Stärken auf und verteilten sich ziemlich gleichmäßig auf der Windrose. Oktober. Die Winde, die wiederholt stärker als gewöhnlich auftraten, wehten überwiegend aus West, demnächst auch häufig aus Süd- west und Südost, doch trat keine andere Richtung, selbst die sonst seltenen Nordostwinde zurück. November. Die Winde, die während des ganzen Monats in nur mittlerer Stärke auftraten, wehten vorherrschend aus Süd und Südost, demnächst auch häufig aus West und Nordwest; Nordostwind wurde nur einmal notiert. Dezember. Die Luftbewegsung war mit wenigen Ausnahmen auffallend gering. Die Winde wehten vorzugsweise aus Südost, West und Süd- ost; Nordostwinde wurden garnicht, Nordwinde nur zweimal notiert. VI. Witterungs-Charakter. Januar. Der Luftdruck bewegte sich in beständigen und gegen die Mitte und das Ende des Monats auch recht beträchtlichen Schwan- kungen um den Mittelwert. Die Temperatur war mit Ausnahme Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. der beiden letzten Tage beständig über Normal, und sehr oft auch um 5 bis 10 Grad darüber, sodaß das Monatsmittel um mehr als 6 Grad über den Durchschnitt sich ergab. Die Feuchtig- keit der Luft war zu groß, ebenfalls auch die Himmelsbedeckung, und infolgedessen war die Sonnenscheindauer zu gering. Nieder- schläge waren sehr häufig und fielen auch oft in beträchtlichen Mengen, sodaß ihre Summe 277 Prozent des normalen Wertes ergab; zum weitaus größten Teile bestanden sie entsprechend den hohen Temperaturen aus Regen. Februar. Der Luftdruck bewegte sich in wiederum recht beträchtlichen März. April. Mai. Schwankungen zumeist unter dem Mittelwerte. Die Temperatur war zwar im Mittel um 2%, Grad niedriger als im Vormonat, war aber auch nur an wenigen Tagen unter Normal. Die Feuchtig- keit der Luft war zu groß, die Himmelsbedeckung dagegen geringer als sonst, und daher überstieg die Sonnenscheindauer den Durch- schnittswert. Niederschläge, die etwa zu gleichen Teilen aus Regen und Schnee bestanden, waren wieder häufig; ihre Summe überstieg den Mittelwert um etwa die Hälfte. Auch in diesem Monat hielt sich der Luftdruck unter recht ader Schwankungen zumeist unter dem Durchschnitt. Die Temperatur war wieder viel zu hoch und ergab einen Überschuß von mehr als 4 Grad. Die Feuchtigkeit der Luft und die Himmelsbedeckung waren zu groß und infolgedessen war die Summe des Sonnen- scheins um beinahe ein Drittel zu klein. Die Niederschläge, die nur noch an 3 Tagen aus Schnee bestanden, waren an Häufig- keit und Menge ziemlich normal. Am 24. wurde in den Abend- stunden das erste Gewitter des Jahres notiert. Die Schwankungen des Luftdrucks, der sich wiederum über- wiegend unter dem Durchschnitt bewegte, waren auch wieder sehr beträchtlich. Die Temperaturen erreichten in der ersten Monatswoche fast sommerliche Höhe, hielten sich aber sonst in der Nähe des Mittelwertes. Die Feuchtigkeit der Luft war zu sroß, die Himmelsbedeckung und die Sonnenscheindauer nahezu normal. Regenfälle wurden im ersten Drittel des Monats nicht beobachtet, da sie dann aber reichlich auftraten, wurde der Durch- schnittswert noch um ein Geringes überschritten. Von elektrischen Erscheinungen wurde nur ein Wetterleuchten notiert. Der Luftdruck bewegte sich in zumeist nur unbeträchtlichen Schwankungen um den !Mittelwert herum. Die Temperatur war in der ersten und in der letzten Woche des Monats sehr hoch, sonst aber oft unter Normal, sodaß das Monatsmittel den Durch- schnittswert nur um 1%), Grad überstieg. Die Feuchtigkeit der Luft war normal, die Himmelsbedeckung zu gering, und infolge- Il. Abteilung. Naturwissenschaftliche Sektion. 5 Juni. Juli. dessen war die Sonnenscheindauer um ein Drittel zu groß. Regen- fälle waren nur selten und traten auch meist in nur geringen Mengen auf, sodaß ihre Summe nur die Hälfte des normalen Wertes erreichte. Von elektrischen Erscheinungen wurden notiert 3 Gewitter und einmal Wetterleuchten. Der Luftdruck war nur an wenigen Tagen der letzten Hälfte des Monats über Normal, sonst aber beständig darunter, sodaß sich das Mittel wieder zu niedrig ergab. Auch die Temperatur war meist unter dem Durchschnitt, besonders um die Mitte des Monats; nur 4 Sommertage wurden notiert. Die Feuchtigkeit der Luft war annähernd normal, dagegen war die Himmelsbedeckung zu groß, und daher erreichte die Sonnenscheindauer nur etwa 80 Prozent des Mittelwertes. Regenfälle waren recht häufig und fielen auch wiederholt in beträchtlichen Mengen, sodaß ihre Summe den normalen Wert um mehr als die Hälfte überstieg. Von elektrischen Erscheinungen wurden beobachtet 4 Gewitter und einmal Wetter- leuchten. Auch in diesem Monat bewegte sich der Luftdruck zumeist unter dem Durchschnitt und war nur an wenigen Tagen darüber. Die Temperatur war im Mittel normal, und die Abweichungen darunter und darüber waren recht unbedeutend. Die Feuchtigkeit der Luft war zu groß, dagegen war die Himmelsbedeckung und die Sonnenscheindauer annähernd normal. Niederschläge waren wiederum recht häufig, 24 Tage mit Regen wurden notiert, sie traten aber meist nur in geringen Mengen auf, sodaß ihre Summe unter dem langjährigen Durchschnitt blieb. Von elektrischen Erscheinungen wurden beobachtet 6 Gewitter und einmal Wetter- leuchten. August. Der Luftdruck war in der ersten Hälfte des Monats über Normal, in der zweiten beständig und oft auch recht beträchtlich darunter. Auch die Schwankungen der Temperatur waren recht bedeutend; es wurden zwar noch 6 Sommertage notiert, aber meist war die Temperatur unter dem Durchschnitt. Die Feuchtigkeit der Luft entsprach dem Mittelwerte, dagegen war die Himmelsbedeckung zu groß und die Sonnenscheindauer erreichte nur ?, des normalen Wertes. Regenfälle waren wieder sehr häufig, und da sie auch wiederholt in beträchtlichen Mengen fielen, überstieg ihre Summe den Durchschnittswert um ein Viertel. Elektrische Erscheinungen waren zahlreich; es wurden notiert 7 Gewitter und 5 mal Wetter- leuchten. September. Die Schwankungen des Luftdrucks, der sich auch wieder 1916. meist unter Normal bewegte, waren besonders in der zweiten Hälfte des Monats recht beträchtlich. Weniger bedeutend waren 2 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. die Schwankungen der Temperatur, die weder abnorm hohe, noch auch niedrige Werte aufwies. Die Feuchtigkeit der Luft, und ebenso auch die Himmelsbedeckung und daher auch die Sonnen- scheindauer entsprach dem Mittelwerte. Regenfälle waren nur um die Mitte des Monats herum häufig; sie fielen aber meist in nur unbedeutenden Mengen und infolgedessen erreichte ihre Summe nur °, des Mittelwertes. Von elektrischen Erscheinungen wurde nur noch 1 Gewitter, am 11., beobachtet. Oktober. Der Luftdruck bewegte sich in nur geringen Schwankungen, und sein Mittelwert ergab sich zum ersten Male in diesem Jahre über Normal. Die Temperaturen waren in der ersten und in der dritten Woche des Monats stark unter dem Durchschnitt, sonst aber meist hoch darüber, sodaß der Mittelwert nahezu erreicht wurde. Die Feuchtigkeit der Luft war normal, die Himmels- bedeckung zu groß und daher betrug die Sonnenscheindauer nur “/, des normalen Wertes. Niederschläge, die fast ausschließlich noch aus Regen bestanden, waren nur in der ersten Hälfte des Monats häufig und fielen auch immer nur in geringen Mengen, sodaß ihre Summe wiederum nur ?, des Mittelwertes erreichte. Elektrische Erscheinungen wurden nicht mehr notiert. November. Die Schwankungen des Luftdrucks, der sich im Durchschnitt um den Mittelwert bewegte, waren wiederholt recht beträchtlich. Die Temperatur war mit Ausnahme weniger Tage um die Mitte des Monats beständig über Normal, und zwar auch oft so hoch darüber, daß ihr Mittel um beinahe 3 ® zu hoch sich ergab. Die Feuchtigkeit der Luft war infolge der hohen Temperaturen zu groß, die Himmelsbedeckung und die Sonnenscheindauer ent- sprachen dem Durchschnittswerte. Niederschläge, die an 4 Tagen in Form von Schnee niedergingen, waren nur in der ersten Hälfte des Monats häufig und fielen meist in nur unbedeutenden Mengen. Dezember. Der Luftdruck war nur an wenigen Tagen über Normal, sonst aber sehr oft so bedeutend darunter, daß sein Mittelwert um beinahe 8 mm zu niedrig sich ergab. Die Temperatur war nur an einem Tage, am 21., unter dem Durchschnittswerte, sonst aber ständig und oft auch um 5 bis 10 Grad darüber, sodaß das Monatsmittel um 4!/, Grad zu hoch wurde. Die Feuchtigkeit der Luft war zu groß, und ebenfalls auch die Himmelsbedeckung; da aber um die Mittagstunde oft Aufheiterung eintrat, war die Sonnen- scheindauer nahezu normal. Niederschläge waren in der ersten Hälfte des Monats sehr selten, wurden aber in der zweiten Hälfte fast täglich beobachtet; sie bestanden zum weitaus größten Teile aus Regen und ihre Summe war um !/, zu groß. Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cullur. TR ”® 94. ll. Abteilung. Jahresbericht. Naturwissenschaften. 1916. | b. Zoologisch-botanische Sektion. ©&,c ESCHE 2,® Sitzungen der zoologisch-botanischen Sektion im Jahre 1916. #2 Sutzume amaks.2Jamuar: Herr F. Pax sprach Über Vegetationslinien in den Westkarpathen. Auf die scharfe Grenze, welche Ost- und Westkarpathen von einander scheidet, habe ich an verschiedenen Stellen bereits hingewiesen. Der Unterschied in der Zusammensetzung der Flora beruht darin, daß die Besiedlung des Gebirges im Osten und Westen der Kaschau-Eperieser Bruchlinie unabhängig stattfand und im Osten die Erhaltung alter Typen in viel vollkommenerer Weise erfolgt ist als im Gebiete der Westkarpathen. Im Osten liegen die Verhältnisse daher auch weit verwickelter. Hier wirkte die diluviale Vergletscherung viel weniger verheerend auf die Vege- tation ein, und es erfolgte eine mannigfaltige Mischung neuer Typen mit alten Bestandteilen, während im Westen wenigstens die höheren Gebirgs- lagen nach der Eiszeit eine wesentlich anders zusammengesetzte, aber in ihren Grundzügen einheitlich gebaute Flora erhielten. Der Zusammenhang der Westkarpathen mit den Alpen und Sudeten tritt auch heute noch im Besitz gemeinsamer Arten klar zutage. So wie geologisch sind auch floristisch die Westkarpathen als Fortsetzung der Alpen aufzufassen. Die Frage aber, wie im Einzelnen die Wanderstraßen zwischen Alpen und Karpathen verliefen, scheint mir bisher nur wenig geklärt zu sein. Als Grundlage für die Anschauung über diesen Gegenstand muß die Orographie des Gebirges dienen. Das lange und tiefe Tal der Waag, dessen Furche im Popper- und Hernädtale sich ostwärts weiter fortsetzt, zer- schneidet das Bergland in zwei Hälften, die in ihrer Vegetation nicht un- erhebliche Verschiedenheiten aufzuweisen haben. Ich habe sie früher als die nördlichen und südlichen Zentralkarpathen bezeichnet, und in dieser Umsrenzung werden sie auch neuerdings von v. Hayek behandelt, Der Gegensatz zwischen Norden und Süden des Waagtals erklärt sich aus den Höhenunterschieden beider Gebirgsmassen und dem häufigeren Vorkommen kalkreicher Substrate im Süden. 1916. 1 B) Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Aber nicht in seinem ganzen Verlauf ist der Talzug der Waag eine Grenze. Zwischen der Niederung der Varinka, die bei Värna in die Waag mündet, und der des Kvacsän-Baches, der sich oberhalb Liptö Tepla in die Waag ergießt, zeigt das gegen das Nordufer der Waag abfallende Gebirge ganz den Charakter der Vegetation des südlichen Teiles. Deshalb habe ich schon früher den Kl. Krivanstock und die Chocsgruppe den südlichen Zentralkarpathen angegliedert, umsomehr als auch orographisch diese Berggruppen als selbständige Glieder umgrenzt sind. Der Übergang aus dem Varinkatale über Zäzriva ins Arvatal und der Paß von Huti schneiden sie aus dem Gebiete der nördlichen Gebirgsmasse heraus. Die Erklärung für diese pflanzengeographischen Verhältnisse ist nicht schwer zu finden. Der Kl. Krivanstock besteht zwar aus kristallinischem Gestein, doch erreicht die Kalkzone, die ihn im Osten und Norden umsäumt, eine mächtige Entwicklung und im zerklüfteten Roszudeez einen hohen Grad von Selbständigkeit; im Osten der Arva baut sich die ganze Chocsgruppe aus Dolomit auf und erscheint somit als nördliche Fortsetzung der Fatra. Die reich entwickelte Kalkflora des Kl, Krivanstockes und der Chocsgruppe zeigt große Übereinstimmung mit der Pflanzenwelt der Fatra. Kurz unterhalb Sillein erreicht die Waag ihren nördlichsten Punkt, um hier aus ihrem bisherigen ost-westlichen Lauf allmählich nach Süder umzubiegen. Parallel hiermit ziehen Beskiden‘ und Weterne Hole, die durch Vermittlung der Kl. Karpathen ihren Anschluß an die Alpen finden. Nur die schmale Furche der Donau trennt den Thebener Kogel von den letzten Ausläufern des Leithagebirges am rechten Ufer. Die Turöcz- Niederung trennt von der Weterne Hole die meridional verlaufende Faira. Die kartographische Darstellung der Verbreitungsverhältnisse der sub- alpinen und alpinen Arten der Westkarpathen läßt interessante Tatsachen erkennen. Nicht wenige solcher Arten sind über das ganze Gebiet ver- breitet, wie z. B. die seltene Viola lutea oder Crepis succisifolia. Eine große Rolle spielen unter ihnen typische Kalkpflanzen, wie Carex firma, Dianthus praecox, Alsine laricifolia, Sedum album, Gentiana Clusü, Satureia alpina, Aster Bellidiastrum, Leontodon incanus, Hieracium bupleuroides und viele andere. Alle die genannten Arten sind auf die Westkarpathen be- schränkt und fehlen überall im Osten; doch ist die Zahl der Sippen, die dem gesamten Gebirgssystem der Karpathen angehören, nicht gering. Aus allen Formationen ließen sich Beispiele nennen, von der montanen Region bis zu den Felsenpflanzen über der Baumgrenze; sie gehören zu der Kategorie der auf Urgestein vorkommenden Arten, aber auch zu kalksteten Genossenschaften. Auf welchem Wege derartige Sippen in das Gebiet gelangt sind, ist nicht unmittelbar klar; dagegen eröffnen die Vegetations- linien einiger weniger verbreiteter Typen einen Einblick in die Wege, welche ehedem die Pflanzenwanderungen benutzten. Einige Beispiele sollen dies erläutern. II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 3 Haquetia Epipactis dringt längs der March nordwärts bis Olmütz vor, treibt einen Ausläufer ihres Areals längs der Beskiden bis in das Teschener Ländchen und erreicht im Südosten Schlesiens eben noch deutschen Boden; die Vegetationslinie umspannt sodann die Chocsgruppe und Fatra, die Umgebung von Losoncz, nimmt von hier ost-westlichen Verlauf an, im Süden am Inoveczstock vorbeigehend. In dieses Areal fallen auch die wenigen Standorte der Aremonia agri- monioides, die ich vom Vapecz in der Weterne Hole, vom Roszudecz und von Znioväralja kenne. Wahrscheinlich ist die Pflanze innerhalb dieses Areals aber doch weiter verbreitet. Amelanchier vulgaris bewohnt die Kalkvorlagen, die im Westen die Weterne Hole begleiten, nördlich bis zum Becken von Szuly6, ist dann aber eine Charakterpflanze der Fatra und des Chocs. Die Nordgrenze der Globularia vulgaris durchschneidet das Marsgebirge Mährens und wird in den Westkarpathen bestimmt durch die Orte Predmer, Znioväralja und Blatnicza. Genau den gleichen Verlauf zeigt in ÖOberungarn der Verlauf der Arealsgrenze der Primula acaulis, während Senecio umbrosus die Grenz- linie von Sillein längs der Waag ostwärts verlaufen läßt, den Kl. Krivan- stock und Chocs umfassend und von hier etwa über Blatnicza gegen Süd- west sich wendend. Der Verbreitungsbezirk der Primula Auricula dringt einmal im Waag- tale nordwärts bis zur Breite von Nagy Bicse vor, dann aber umfaßt er die Fatra, den Kl. Krivanstock und Chocs und geht ostwärts bis zu den Belaer Kalkalpen, im Süden der Waag bis über die Östgrenze der Niederen Tatra hinaus. Isoliert liegen die Vorposten der Aurikel in den Pieninen und bei Torna. In dieses Areal fallen die Standorte des Buphthalmum salicifolium, das im Trencsener Komitat wächst, eine Charakterpflanze der Fatra und des Chocs ist, in den Kalkvorlagen der Niederen Tatra vorkommt und noch bei Lucsivna beoabachtet wurde. Es kann kein Zufall sein, daß in Oberungarn eine Schaar von Vege- tationslinien in gleichem Sinne verläuft. An diesen Ergebnissen werden spätere Untersuchungen nur wenig zu ändern vermögen, denn gerade diese Gebiete der Westkarpathen sind ziemlich gut bekannt und ihre Flora mir selbst durch zahlreiche Exkursionen vertraut. Auch besitzen wir aus der Feder von Johann Wagner eine sorgfältige Aufzählung der Pflanzen des Turöczer Komitats, des sicherlich interessantesten Teils unseres Gebiets Ihm lieferten die reichen Sammlungen von Fräulein Bella Thextoris in Blatnieza vielfach wichtige Belege. Überblickt man den Verlauf der bisher besprochenen Vegetationslinien, so ergibt sich deren Anordnung in drei Kategorien von selbst: 1. die Aurikel-Linie; 1* 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. 2. die Amelanchier-Linie, die durch das Waag- und Revuca-Tal bestimmt wird, gilt auch für Senecio umbrosus und mit gewissen Modifikationen für Hacquetia; 3. die Globularia-Linie, auch für Primula acaulis geltend, wird durch die Lage der Orte Nagy Bicse und Blatnicza festgelegt. In allen drei Fällen begrenzen diese Linien zungenförmig gegen Nord- osten vorgeschobene Areale; die Pflanzenwanderung erfolgte längs der Täler der Waag und der Furche, die den Verlauf von Neutra und Turöcz angeben. Vermutlich wurden beide Wanderstraßen benutzt. Für eine Gruppe anderer Pflanzen der Westkarpathen bildet das Waagtal in seinem oberen Teile eine Grenze, so daß es nicht ganz unwahr- scheinlich ist, daß die Einwanderung entweder nur im Norden oder nur längs des Südufers der Talfurche erfolgt ist. Das lehrt zunächst die Gypsophila-Linie, die auch für Saxifraga caesia Geltung besitzt. Beide Arten bewohnen die Kalkgebirge vom Kl. Krivanstock über die Chocsgruppe ostwärts bis zu den Belaer Alpen, um hier zu erlöschen; sie wachsen nicht im Süden der Waag. Ganz ähnlich verhält sich auch Arabis bellidifolia, die nur auf den unmittelbar jenseits der Waag sich erhebenden Hochsipfeln der Fatra noch vorkommt. Man könnte einwenden, daß die geringere Höhe der Berge südlich der Waag den Eintritt alpiner Sippen in das Pflanzenkleid verbietet oder erschwert, und selbst wenn man sich für Saxifraga caesia zu diesem Erklärungsversuche bequemen wollte, würde er keinesfalls für die genannte Arabis oder Gypsophila ausreichen, auch nicht für Saxifraga rotundifolia, die ostwärts über den Chocs nicht hinausgeht. Für alle diese Arten würden geeignete Standorte in der Fatra und Niederen Tatra sich wohl finden. Im Gegensatz zur Gypsophila-Linie umgrenzt eine andere Vegetations- linie, die man als Coronilla-Linie bezeichnen kann, eine Gruppe von Arten, die das Waagtal nordwärts nicht wesentlich überschreiten. Coronilla vaginalis charakterisiert die Fatra, die aus Kalk bestehenden Vorlagen der Niederen Tatra und kehrt nur noch einmal am Chocs wieder. An dies Areal reiht sich das merkwürdige Vorkommen der Globularia cordifolia in den südlichen Teilen der Fatra. Auch Sorbus Chamaemespilus gehört in diese Gruppe von Arten. Ich sammelte die Pflanze auf der Paludnieza bei Liptö Szt. Miklös; sie wird ferner auch von einzelnen Standorten aus der Fatra genannt, woher ich sie nicht kenne, doch halte ich ihr Vorkommen dort für sehr wahrschein- lich. Auch Buphthalmum salicifolium zeigt eine ganz ähnliche Verbreitung. Endlich muß hier auch Cyclamen europaeum genannt werden. Es ver- gesellschaftet sich in der Fatra mit G@lobularia cordifolia, soll aber auch bei Arva Väralja und in den Pieninen wachsen. Beide Standorte werden durch zuverlässige Beobachter verbürgt. II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 5 So erscheinen in der gegenwärtigen Verbreitung gewisser Pflanzenarten in den Westkarpathen noch die ehemaligen Wanderstraßen wieder, die in der Diluvialzeit und später die Pflanzenwelt des Gebirges bereicherten. Weterne Hole una Fatra, erst in zweiter Linie auch die Beskiden, und die dazwischen liegenden Täler stellen die Brücken dar, die das Gebirgs- system der Alpen und der Karpathen mit einander verbanden. Sie stellen nicht nur den Zusammenhang beider großen Gebiete bezüglich der mon- tanen und alpinen Sippen dar, wie die Aurikel- und Gypsophila-Linie lehren, sondern auch für die Sippen der montanen Region und der Hügel- pflanzen. Das ergibt auf den ersten Blick der Verlauf der Amelanchier-, Globularia- und Coronilla-Linie. Von diesem Gesichtspunkt werden nun auch einzelne versprengte Standorte verständlich, deren Pflanzenbestand von dem der nächsten Um- gebung wesentlich abweicht und in hohem Maße an die Flora anderer Höhenregionen erinnert. Sie stellen erhalten gebliebene Etappen früherer Wanderung vor, alte Relikte, die unter günstigen ökologischen Verhältnissen sich erhalten haben, obwohl die örtlichen Verhältnisse der Umgebung wesentliche Änderungen erfahren haben. Ich erinnere nur an den Tal- kessel von Szulyö, dessen Sohle 370 m hoch liegt, mit ausgesprochen sub- alpiner Flora, an die Pieninen, deren höchste Erhebungen unter 1000 m zurückbleiben, und doch finden sich auch hier Arten höherer Regionen, Auch das Vorkommen von Scirpus alpinus bei Kralovän gehört in diese Kategorie von Vorkommnissen, das des Edelweiß am Holy Kamen bei Iglo. Wer aber aus dem warmen Gebiete von Torna in das Tal von Szädellö eintritt, wird aus dem interessanten Gemisch von Hügelpflanzen mit sub- alpinen Arten kaum den Eindruck gewinnen, daß er sich nur 220 m über dem Meeresspiegel befindet. Alle diese Standorte sind bereits früher von mir ausführlicher besprochen worden. Ein weiteres Interesse beansprucht die Frage, warum gerade längs des Waagtales und der Niederung der Neutra-Turöcz, sowie längs der dazwischen liegenden Gebirgszüge ein lebhafter Pflanzenaustausch zwischen Alpen und Karpathen stattgefunden hat; gerade im Tale der Revuca häufen sich in ganz auffallender Weise. Vegetationslinien, die die Areale gegen Osten begrenzen. Das lange Tal der Gran, das tief in das Herz des Gebirges einschneidet, ist für die Pflanzenwanderung von untergeordneter Bedeutung. Die Böschungen gegen das Grantal vom Quellgebiet bis zum Eintritt des Flusses in das trachytische Erzgebirge bestehen aus einförmigem Substrat. Der Niederen Tatra gegenüber liegt auf dem linken Granufer das Vjeporgebirge aus kristallinischem Gestein. Ganz anders gestalten sich die Verhältnisse in den westlichen Tälern. Den kristallinischen Kern der Weterne Hole begleiten an ihrem Außenrande ım Waagtale Vorberge aus Kalk, und zwischen Turöcz und Revuca zieht das Kalkgebirge der Fatra in südnördlicher Richtung. Dadurch wird in 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. diesen Gebirgen eine große Mannigfaltigkeit ökologischer Bedingungen ge- schaffen, wie solche im Grantal fehlen. Darin beruht die große Bedeutung dieser Gebirge, vor allem der Fatra, für die Besiedlung der Westkarpathen. Natürlich handelt es sich in vielen Fällen um Kalkpflanzen, aber bei weitem nicht ausschließlich. Im Grantal dringen nur Pflanzen des Hügellandes in das Gebirge ein, und ihre Spuren lassen sich deutlich bis Garam Berszencze aufwärts verfolgen, ebenso wie im Waagtal bis etwa zur Breite von Trencsen wärme- liebende Pflanzen nordwärts vordringen und in den Randbezirken der West- karpathen bis Inoveez und im ungarischen Erzgebirge noch deutlich pon- tische Anklänge sich finden. In ähnlicher Weise öffnen auch Hernäd- und Sajotal ihre Pforten gegen das ungarische Hügelland, aber auch ihnen kommt für die Besied- lung lange nicht die Bedeutung zu, wie der Fatra und Weterne Hole, schon deshalb, weil das gegen Südosten vorgelagerte Bükkgebirge und die Mätra dem Vordringen der Nordwärtswanderung thermophiler Sippen bereits weiter südlich eine Grenze setzen. Sodann berichtete Herr A. Lingelsheim über Teratologische Beobachtungen. In dem einen Falle handelt es sich um Fruchtkörper von ZLentinus squamosus (Schäff.) Schröt., welche die enorme Länge von ?/, m erreichten, in dem andern um Fruchtkörper derselben Art mit zahlreichen Anomalien, deren bemerkenswerteste in dem Auftreten extremer Polycephalie (mehrere Hundert akzessorische Hutanlagen auf einem Individuum) beruht. Die Mißbildungen werden eingehend beschrieben in Beiheft. Bot. Centralbl. Eine sehr ebenmäßige Gabelung der Inflorescenzachse zeigte ein Exemplar von Festuca glauca Lam. aus dem Botan. Garten. Hier traten auch gleichzeitig in einem Satze von Fritillaria Meleagris L. an mehreren Pflanzen Gabelteilungen der Hauptachse auf, die aber konstant ein kürzeres und ein längeres Gabelstück ergeben hatten. Es hat ganz den Anschein, als ob dabei Achsen verschiedener Ordnung ausgegliedert worden seien. Höchstwahrscheinlich schließt diese Mißbildung ein atavistisches Moment in sich, insofern als Fritillaria Meleagris mit der gipfelständigen Blüte einen abgeleiteten Typus darstellen würde, der in dem gelegentlichen anormalen Auftreten einer Nebenachse mit einer zweiten Blüte Anklänge an Verwandte mit traubiger Infloreszenz, wie z. B. an F. verticillata Willd. zeigt. Möglicherweise liegen dem gleichzeitigen Auftreten derartiger Ab- änderungen in ein und derselben Generation Vererbungsfaktoren zugrunde, zumal auch vor einigen Jahren im Botan. Garten spontan zahlreiche Stöcke von Valeriana Phu L. Gabelungen ihrer Sproßachsen zur Entwicklung brachten. II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 7 Tutenbildungen der Blätter zeigten im Botan. Garten Magnolia acu- minata L. und Saxifraga rotundifolia L.; letztere Pflanze trug eine sehr symmetrisch gebaute Trichterascidie. Ein Fall von Ekblastesis, durch den Stich einer Gallwespe verursacht, ‚demonstriert eine Blüte von Rosa pimpinellifolia L. aus dem Botan. ‚Garten. Die Gallwespe Rhodites spinosissimae Giraud!) ruft durch ihre Ein- wirkung auf die Blätter von Rosa pimpinellifolia die bekannten, harten, meist rotüberlaufenen, beiderseits vortretenden Gallen hervor. Weit seltener unterliegen die Blütenblätter der Deformation, die dann ein mehr wulstiges, kissenförmiges Aussehen annimmt. Über den Befall der Achsen- cupula durch das Insekt liegen keine Beobachtungen bis jetzt vor. An dem in Frage stehenden Objekt kann nun ein solcher erkannt werden. Der Stich der Wespe ist nahe der oberen Kante des Achsenbechers erfolgt und hat als örtliche Reaktion nach außen hin eine Anschwellung mit schwacher Verfärbung hinterlassen, die sich gegen die Umgebung mittels einer Furche absetzt; dabei ist die infizierte Stelle über das Randniveau ‚der Cupula emporgewuchert, die normal entwickelten Glieder der Blüten- hülle nach oben verschiebend. Im Innern der Höhlung haben umfang- reiche, abnorme Gewebsbildungen eingesetzt, infolge deren mehrere der Schließfrüchtchen nach außen bis weit über den Rand der Achsencupula befördert worden sind. Von einer immerhin reichlichen Volumzunahme abgesehen, bieten dieselben keine Besonderheiten dar. Das am stärksten entwickelte Carpell trägt in unmittelbarer Nähe auf gemeinsamem, wulst- artigem Sockel einen kräftigen Sproß. 4 lanzettliche Gebilde, 0,5—1 cm lang, am Grunde bräunlich, an der Spitze grün, bilden dessen Nieder- blätter. Das am weitesten nach innen stehende trägt an der Spitze bereits an zierlichster Weise 5 Fiederblättchen von 0,5—1 mm Länge. Zwei wohlgestaltete, zweijochige Fiederblätter, von denen das eine ca. l cm, das andere über 2 cm an Länge mißt, bilden die Laubblattregion des Sprosses, der als Achselsproß des erwähnten Carpells zu bezeichnen ist. Eine neue, eigenartige Krankheit, welche mehrere Stöcke von Aruncus silvester Kostel. im Botan. Garten im Sommer 1915 befiel, äußert sich in ‚der Verunstaltung der Blätter, Blattrandrollung, Emergenzbildung und der Entwicklung von Doppelspreitenanlagen der Blattunterseite. Als Urheber derselben konnte Tetranychus telarius L. erkannt werden. Eine genauere Beschreibung dieser Mißbildung erscheint im Centralblatt f. Bakteriol. u. Parasitenk. Schließlich lagen mehrere neue Bildungsabweichungen von Eschen vor, u. a. Durchwachsung von Rispen bei Fraxinus esccelsior L. und F. oxycarpa Willd., ferner monokarpe und apokarpe Gynoeceen von Y) Vgl. dazu Houard, Les Zoocecidies I (1908) 542 fig. 806—808. 8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Fraxinus longicuspis Sieb. et Zucc,, weiterhin Fingerblattentwicklung und beginnende Doppelfiederung des Blattes von Fr. Ornus L., die mit einer großen Zahl für die Wissenschaft neuer, teratologischer Beobachtungen an anderen Arten der Gattung Fraxinus in den Mitt. Deutsch. Dendrol. Gesellschaft zur Veröffentlichung gelangen. 2. Sitzung am 10. Februar 1916. Herr O. Oberstein besprach: Krankheiten und Beschädigungen der Kulturpflanzen in Schlesien im Jahre 1915*), 1. Getreide. a) Pflanzliche Schädiger. Obwohl das Frühjahr und der Vorsommer 1915 durch ihre Trockenheit und das öftere Eintreten von Spätfrösten dem des Vorjahres recht ähnelten, fehlte der 1914 epidemisch in der ganzen Provinz aufgetretene Gelbrost (Puccinia glumarum) so gut wie vollständig. Auch von sonstigen Rostpilzarten trat keine Spezies besonders in den Vordergrund. Allerdings machte sich in den niederschlagsreichen Sommer- monaten der Schwarzrost namentlich am Roggenstroh beim Durchschreiten der Felder stellenweise stark bemerkbar; eingesandt wurde diese Erkrankung aber ebenso selten als der Zwergrost der Gerste (Puccinia simplex), der einmal im Juli aus dem Kreise Pleß, ein andermal von neuer Gemenge- saat im August aus dem Sprottauer Bezirk zur Kenntnis kam. Umso größere Rolle spielten dieBrandkrankheiten. Namentlich derSteinbrand desWeizens (Tilletia Tritier) tratallenthalben besondersstark auf. Inbäuerlichen Weizenfeldern wurde ein Befall von 10—20°,, vielfach nicht selten beobachtet. Aber selbst Felder mit kaum 15%, gesunden Halmen (Kr. Öls) sollen öfter vorgekommen sein. Es wurde dies von betreffendem Bericht- erstatter auf die Aussichtslosigkeit zurückgeführt, die Bauern zum Beizen der Saat zu überreden, zumal das immerhin noch stellenweise angewandte Kupfervitriol nicht zur Verfügung stand. Häufiger waren auch von anderen, durch Saatgutbeize bekämpfbaren Brandarten der Haferflugbrand (Ustilago Avenae) und der Gerstenhartbrand (Ustilago Hordei). Weit- verbreitet, doch nur selten stark schädigend traten ferner die Flug- brandarten des Weizens und der Gerste in die Erscheinung. Daß neben Formalin als Beizmittel auch die quecksilberhaltigen Hiltnerschen Präparate (Sublimoform und Fusariol) in der Provinz so bald in größerem Maßstabe Eingang fanden, ist auf die mannigfach gemeldeten *) Der Abschnitt über den Einfluß der Witterungsverhältnisse findet sich im Jahresbericht 1915/16 der Agrikulturbotanischen Versuchsstation der Schlesischen Landwirtschaftskammer, II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 1) Schneeschimmelschäden, die nach dem Wegtauen des Mäızschnees vielfach zu Neuausackerungen von Roggenschlägen Anlaß gaben, zurückzu- führen. Im übrigen litt das Getreide im Frühjahr auch an Weizen- blattpilz Septoria graminum (Kreise Breslau, Tost-Gleiwitz), Typhula graminum (Grünberg, Pleß) und Schwärzebefall (Glogau, Grünberg, Wohlau u. a.); speziell der Roggen erschien vielenorts chlorotisch verfärbt oder „wurzelkrank“, wohl eine Folge einesteils vorhandenen Stickstoff- mangels, anderseits der übermäßigen Bodenunterwühlung durch die un- zähligen Feldmäuse, die den ganzen Herbst und Winter über auf den Schlägen großenteils auch der Winterung ihr Unwesen getrieben hatten. Schwärzepilze befielen dann während des langen Sommerregens auch vielfach die Rispen und Ähren des Getreides. Fußkrankheiten bei Weizen und Roggen traten im Berichtsjahr zwar allenthalben auf, doch wurde über größere Schadenwirkungen nur selten berichte. Getreidemehltau wurde im Juli und August mehrfach an Gerste und bei neugesätem Gerstgemenge festgestellt. Vereinzelt his zu 10%, bei Wintergerste trat Helminthosporium gramineum, die sog. Streifenkrankheit, in die Erscheinung, während Hafer fleckweise in den Bezirken Namslau, Kreuzburg, Oppeln, Pleß im Juni an der wahr- scheinlich auf Bodeneinflüsse zurückzuführenden, sehr charakteristisch, fast wie Ätzflecken aussehenden Dürrfleckenkrankheit litt. b) Tierische Schädiger. Größeren Schaden am Wintergetreide als die, abgesehen vom Brand und Schneeschimmel (Fusarium nivale), im allgemeinen nicht so sehr ertragsmindernd hervorgetretenen pilzlichen Schädiger, richteten im Berichtsjahre die tierischen Schädlinge an, unter ihnen in erster Linie die Feldmäuse und in vielen Gegenden Schlesiens ohne Zweifel auch das Wild. Wiederholt wird von Berichterstattern hervorgehoben, daß die Wildbeschädigungen der Saaten gerade bei dem ja meist offenen Winterwetter nicht unerheblich, in Lagen nahe Wäldern und Büschen teilweise von totalen Mißernten (Kaninchenverbiß) gefolgt gewesen seien. Im Kreise Öls, aber auch anderwärts, vernichteten besonders Fasanen viel, „weil nicht wie sonst gefüttert und weniger abgeschossen“. Für die neue Saat 1915 gelang es, bisher unbekannte Schädlinge zu identifizieren. Am 22. November sandte Dominium Kreidelwitz (Kr. Glogau) von drei dortigen Roggenschlägen aufgesammelte Anthomyidenmaden und Puppen ein. Die Maden sollten an der jungen Roggensaat viel Schaden angerichtet haben, „indem sie sofort bei der Keimung, aber auch nachdem der Roggen längst aufgegangen war, das Korn aus[raßen, so daß die Pflanzen zugrunde gehen mußten“. Bemerkt wurde ferner, ‚daß auf sämtlichen drei Schlägen, wo der Schädling aufgetreten, Kleegrasbrache war und dieselbe diesen Sommer gebracht und darauf Lupinen als Grün- düngung angebaut war“. Auch bei den Lupinen sei dieser Schädling verschieden stark aufgetreten und habe die jungen Pflanzen, nach- 10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. dem dieselben schon ca. 10 cm hoch waren, zerstört. Am 11. Dezember 1915 nachgesandtes Material von Puppen ergab dann Anfang Februar beim Zuchtversuch im Laboratorium Anthomyidenweibehen und -männchen, die Prof. Stein (Treptow a. R.) mit Bestimmtheit als Chortophila cilierura Rond. (-platura Meig. p. p.) erklärte, über deren Lebensweise bisher nur wenig Sicheres bekannt war. Am 17. Oktober kam ein zweiter, bisher unbekannter Roggenschädling zur Einsendung aus Töschwitz (Kr. Steinau). Hier war am 28. September nach Serradella gesäter Roggen (Aussaat 70 Pfund pro Morgen) nicht aufgegangen. Die Keimlinge waren abgefressen; im Boden fanden sich in großer Anzahl sehr lange, weiße, drahtwurmähnliche Fliegenmaden mit kleinem schwarzem Kopf und lebhaft schlängelnden Bewegungen. Auf danebenstehendem Schlage Roggen nach Vorfrucht Hafer war kein einziger solcher Schädling vorhanden; der Aufgang des Korns, zu gleicher Zeit gesät, war gut. Ungefähr einen Monat später wurden an Ort und Stelle nur noch wenige Larven verschiedener Größe gefunden, wahrscheinlich infolge Abwanderns in tiefere Bodenschichten. Die Tiere bestimmte Prof. Rübsaamen als Thereviden-, Stilettfliegenlarven. Sie fanden sich am Orte ihres Vorkommens nach dem November-Vorwinter in schwächerer Zahl wieder ein, ohne den Aufgang der ganz flachgesäten Roggen-Nachsaat bis Anfang Dezember behindert zu haben. Der Züchtungsversuch zwecks Artbestimmung ist noch im Gange. Er beansprucht auch aus dem Grunde besonderes Interesse, weil für die neue Saat 1915/16 auch aus dem Kreise Freystadt gemeldet wurde, daß bei verschiedenen kleineren Besitzern Roggen gerade nach untergeackerter Serradella absolut nicht aufgegangen sei, sonst Aufgang normal, Boden in bester Kultur. Über den Kampf gegen die gleich nach der Ernte 1914 überall massenhaft auftretenden Feldmäuse verbreitet sich ein Bericht aus dem Kreise Neiße ausführlicher. „Irotz aller hier angewandten Mittel ist es nicht gelungen, die Mäuseplage so sehr zu vermindern, als daß nicht doch ein ganz unberechenbarer Schaden in sämtlichen neu bestellten Feldern verursacht wurde. Als gänzlich wirkungslos hat sich vorigen Herbst die Anwendung des Löfflerschen Mäusetyphusbazillus erwiesen, obwohl derselbe zu verschiedenen Malen neu bezogen und ganz genau nach Vorschrift teils mit Semmelbrocken und Milch, teils mit Salzwasser, und endlich mit gequeischtem Hafer ausgelegt wurde. Ein Erfolg ist überhaupt nicht eingetreten, während in früheren Jahren manchmal recht gute Ergebnisse erzielt wurden. Ferner erwies sich die Anwendung von Gift in ver- schiedenen Formen von Sirychnin und Phosphor auch als zu wenig wirkungsvoll, weil man gar nicht imstande war, in alle Löcher Gift zu legen. Phosphorsirup in Verbindung mit Strohhalmen wurde durch den vorigen Herbst häufig auftretenden Regen schnell abgewaschen und verlor dann ebenfalls jede Wirksamkeit. Die Anwendung von Schwefelkohlenstoff II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 11 hatte dagegen einen ganz vorzüglichen Erfolg, nur war dieses Verfahren so teuer, daß es ebenfalls nur auf einigen Schlägen ausgeführt werden konnte. Schließlich war das sicherste Mittel das Fangen der Mäuse in Fallen und das Erschlagen derselben hinter dem Pfluge.. Von 5—6 Jungen wurden auf diese Weise täglich etwa 3000 Mäuse getötet.‘“ — Andere Berichte loben wieder die gute Wirkung des Typhusbazillus und des Phosphorsirups. Alle sind sie sich aber einig darüber, daß es letzten Endes der Witterungsverlauf gegen das Frühjahr hin war, der der Land- plage ein jähes Ende machte, durch Vollaufen der Löcher mit Schmelz- und Regenwasser und Wiederzufrieren derselben. Glücklicherweise sind diese im Vorjahr so überaus schädlichen Nager, bis zum Jahresende 1915 allenthalben so gut wie verschwunden. Von größeren Schädigern wurde, was die neue Saat betrifft, aus dem Kreise Neustadt über Tauben geklagt, denen die Novembersaaten vielfach zu willkommener Beute wurden; aus dem Waldenburger Gebiet berichtete man über starkes Überhandnehmen der Sperlinge. Für den genannten Kreis wird der Schaden derselben allein auf mindestens 3000 Zentner Getreide angegeben. Im Kreise Schweidnitz schädigten im Oktober 1915 Getreide- laufkäferlarven (Zabrus) stellenweise junge Weizensaat., Gegenüber der großen Zahl der Eingänge Wildverbiß - ähnlicher Erkrankungen junger Roggen- und Weizensaaten von November 1914 bis etwa April 1915 (Kreise Glogau, Görlitz, Goldberg - Haynau, Grünberg, Guhrau, Löwenberg, Schweidnitz, Steinau) traten festgestellte Stockälchen- schädigungen (Tylenchus dipsaci, Kreise Glogau, Goldberg-Haynau, Grünberg, Guhrau, Liegnitz, Neumarkt, Pleß, Wohlau) im Frühjahr 1915 völlig zurück. Stellenweise erheblich aber lıtt der Hafer, zumal bei der herrschenden Dürre, unter Nematoden (Heterodera Schachtü). Erdungezieferschäden waren im übrigen nicht sehr von Belang. Tipula wurden im Wohlauer Kreise an Roggen, Bibio-Larvenfraß auch für den Kreis Glogau nachge- wiesen. Über Drahtwurm- und Engerlingsfraß wurde gleichfalls, was die Cerealien anbelangt, nicht oft geklagt. Desgleichen hielt sich der Getreide- fliegenschaden im allgemeinen in mäßigen Grenzen. Nur vereinzelt kamen Hessenmücke (Mayetiola destructor) und Weizenhalmfliege (Chlorops taeniopus) in ihrer charakteristischen Schädigungsart zur Einsendung. Letzterer Schädling fand sich stellenweise in Oberschlesien aber schon wieder etwas häufiger. Stellenweise (Kreis Neiße bis 30°/,, Kosel, Öls) gab stärkeres Auftreten der Sattelmückengallen (Olinodiplosis equestris) an Weizenhalmen zu Vermutungen teils als ‚„Hagelanschlag‘‘, teils als „Wildschädigung‘‘ Anlaß. Relativ am häufigsten wurden Fritfliegen- larven, namentlich am Hafer (auch in den Rispen) festgestellt, hier und da auch schon wieder an der jungen Saat 1915/16. Von sonstigen lokal auftretenden Schädlingen sind Getreideblatt- läuse und Hafermilben (Tarsonemus spirifex) zu erwähnen. Die 12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Getreidemilbe (Pediculoides graminum) trat im Berichtsjahr wohl nirgends schädigend hervor. Dagegen hatte die Station Gelegenheit, bei einer Wildschaden- besichtigung im Kreise Cosel recht erheblichen Schaden der Getreide- halmwespenlarve (Cephus pygmaeus) zu beobachten. Tausende von in !,, Höhe abgebissenen Halmen lagen auf dem noch von keiner Sense berührten Feld. Aber sehr viele lagen auch ‚‚wie in der Wurzel abgeknickt“ an der Erde; sie waren von der Ende Juli im Grunde der Stoppel zur Puppenruhe sich anschiekenden Cephus-Larve von innen heraus in einer ‚ringförmigen Zone durchgenagt und scharf, wie abgeschnitten, an der Halmbasis umgebrochen. Cyphus-Larven wurden im übrigen u. a. für die Kreise Bolkenhain, Cosel, Kreuzburg auch in Roggenhalmen nachgewiesen. Daß längere Trockenperioden das schädigendere Auftreten der Blasen- füße im Gefolge haben, bestätigte sich auch im Berichtsjahre wieder, wo solche Schäden an Ähren und Rispen in zahlreichen Fällen für Roggen und Gerste nachgewiesen wurden. Zahlreich waren auch wieder die Ein- gänge von Speicherschädlingen. Sie betrafen meist den Kornkrebs (Calandra granaria), vereinzelt aber auch die Mehlmotte (Zphestia Kuehniella) und Mehlmilbe (Tyroglyphus farinae). Bei den Keimversuchen der Samenkontrollstation traten vereinzelt Muster auf, die von Larven der Phora rufipes befallen waren. 2. Rüben. Bereits Anfang Mai teilte uns ein Landwirt aus dem Steinauer Kreise mit, daß das Jahr 1915 reichlich mit Schädlingen gesegnet zu sein scheine; Maulwurf und Igel träfe man sehr zahlreich an, und könne man diese beiden nützlichen Tiere stets als Vorboten der tierischen Schädlinge aus dem Insektenreich beobachten. Zahlreiche Anfragen betreffend „Be- kämpfung‘‘ des Maulwurfs ließen aber in der Folge leider nur allzu deutlich erkennen, wie verkehrt vielfach noch der Maulwurf beurteilt wird. Als nach den ersten Juniregen die bis dahin vielfach ungekeimt verharrenden Rübenknäule anfingen aufzugehen, trat dann auch eine Erdraupenplage von seltener Heftigkeit allenthalben in die Erscheinung. Über Hunderte von Morgen hin wurden vorzugsweise diese nachzekeimten bezw. die nach- gepflanzten Rüben in den Sommer-, Herbstmonaten im Wurzelwerk gefressen, auch im Blattapparat skelettiert, so daß die Lücken als solche bestehen blieben. Bis 1400 Raupen (Ärgrotis segetum) wurden beispielsweise pro Frau und Tag im Schweidnitzer Kreise beim Hacken der Rüben gesammelt. Wenig geklagt wurde über Aaskäfer (Silpha opaca) und Rübenwanzen (Piesma capitata). Eine Meldung über erstere lag aus dem Kreise Jauer vor. Infolge Piesma-Befalls kräuselkranke Rüben wurden im September einmal aus dem Lübener Kreise eingesandt. Wider Erwarten blieb eine eigentliche Rübenblattlaus-Epidemie (Aphis papaveris) aus, Nur hin II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 3 und wieder wurden Samen- wie Blattrüben in stärkerem Maße durch Befall mit der schwarzen Blattlaus, der dies Jahr erst verspätet (im Juli) einsetzte, geschädigt. Häufiger dagegen war wiederum die Blattschädigung bei jungen Rüben, die die Larve der Runkelfliege (Anthomyia conformis) durch ihre Miniertätigkeit hervorruft. Über das Vorkommen des Wurzelbrands lagen Nachrichten aus den Kreisen Hindenburg, Neumarkt, Waldenburg vor. Herzfäule war im allgemeinen nicht häufig. Zu erwähnen sind ferner die Rotfäule der Rüben (Kreis Glogau), hervorgerufen durch Rhizoctonia violacea, Rüben- schorf (Kreis Strehlen), Blattbräune (Sporidesmium putrefaciens) und Blattfleecekenkrankheit (Cercospora beticola); die letzeren beiden Pilz- krankheiten machten sich namentlich nach den sommerlichen Regenfällen stellenweise übel bemerkbar. 3. Kartoffeln. Auch auf den Kartoffelfeldern trat vielenorts die Raupe der Winter- saateule (Agrotis segetum) schädigend auf. Dagegen wurde ein Anfang August aus dem Kreise Militsch-Trachenberg gemeldeter Fall vom Auf- treten des Coloradokäfers (Leptinotarsa decemlineata) bald als irrtümlich erkannt. Im Stader Bezirk freilich waren, trotz energischster Bekämpfungs- maßnahmen im Vorjahr, am 16. und 18. Juni 1915 wiederum 4 Käfer und 27 Eiablagen gefunden worden. Glücklicherweise stellten sich auch zwei Meldungen von Kartoffel- krebs (Chrysophlyctis endobiotica) für den Berichtsbezirk wiederum als Verwechselungen mit Schwarzbeinigkeit heraus, die für die Kreise Bolken- hain, Guhrau, Landeshut, Pleß, Schönau, Wohlau festgestellt und aus vielen anderen Kreisen der Provinz noch gemeldet wurde. Öfter als echte Kräuselkrankheit wurde Blattrollkrankheit beobachtet, Allerdings traten auf vielen Kartoffelfeldern auch eine große Anzahl Kümmerer in die Erscheinung, deren krankhaftes Aussehen oft wohl eher als eine Folge der Dürre anzusprechen war. Gegen den Herbst hin war Krautfäule (Phytophthora infestans) häufig zu finden, die mitunter in kurzer Zeit ganze Schläge im Kraut vorzeitig abtötete.e Weit verbreitet war auch die auf Alternaria Solani zurückgeführte Dürrfleckenkrankheit, in der Praxis öfter als sog. „brauner Rost“ bezeichnet. Von Knollenkrankheiten trat besonders der Schorf hervor, öfter, zumal bei der Frühkartoffelsorte ‚„Kaiserkrone‘‘ als Tiefenschorf entwickelt. Bei geforderten Knollenunter- suchungen wurden ferner Phellomyces-Flecken, Rhizoctonia-Grind, Fusarium- Fäule, Bakterienringkrankheit, sowie öfter bakterielle Naßfäule (Rotz) fest- gestellt, auch sog. Kindelbildung und Eisenfleckigkeit. 4. Hülsenfrüchte, Futter- und Wiesenpflanzen. a) Pflanzliche Schädiger. Fälle von Kleekrebs (Sclerotinia Trifoliorum) kamen sowohl im Frühjahr als im Herbst 1915 zur Einsendung 14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. (Breslau, Guhrau, Kreuzburg, Leobschütz, Nimptsch, Tost-Gleiwitz). Auf zu Lager gegangenem Samenklee machte sich auch vielfach der Mehltau (Erysiphe Martii) bemerkbar. Beulenbrand des Maises kam einmal aus dem Kreise Militsch-Trachenberg zur Kenntnis der Station. Ackerbohnen litten im Kreise Neumarkt stark unter Blattrost (Uromyces Fabae), andernorts unter Blattfleckenkrankheit (Ascochyta Pisi). b) Tierische Schädiger. Den größten Schaden hatten die Feld- mäuse, von denen bis zu 4500 täglich hinterm Pfluge getötet wurden, in den Rotkleefeldern 1914/15 angerichtet. Von viel geringerer Bedeutung waren demgegenüber Stockälchenschäden (Guhrau, Lauban, Nimptsch), schon empfindlicher der Graurüßlerfraß (Sitona lineata); der Käfer trat zu Beginn der Dürreperiode zu Tausenden auf Kleeschlägen, Wicken- und Gemengesaaten (Bolkenhain, Trebnitz, Steinau, Reichenbach) auf. Im September wurde für den Kreis Nimptsch wiederum der Kleewurzel- käfer (Hylastes Trifolii) im Larvenstadium als örtlich schädigend fest- gestellt. Größeren Schaden als auf Rüben verursachte die schwarze Blattlaus (Aphis papaveris) wiederholt an Pferdebohnen (Kreis Neumarkt) und Pelusehken (Kreis Schönau), während die grüne Blattlaus (Siphono- phora ulmariae) beispielsweise im Steinauer Gebiet viele Morgen Erbsen vernichtete. Zu Tausenden traten im August im Kreise Sagan die Erd- raupen auch schädigend in Gründüngungslupinen auf. Über Vorkommen von Hamstern lagen zu Ende des Berichtsjahrs nur vereinzelt Nachrichten vor. 5. Handels-, Öl- und Gemüsepflanzen. Von tierischen Schädigern des Rapses ist in erster Linie der Raps- glanzkäfer (Meligethes aeneus) zu erwähnen. Waren deshalb schon teil- weise Ausackerungen nötig, so setzten anderwärts das Wild, insbesondere dieRehe, dem Raps z. T. derart zu, daß auch deshalb stellenweise wiederum Umpflägungen vorgenommen werden mußten. Der Lein war im Kreise Pleß z. T. völlig mit Mehltau (Erysiphe) bedeckt. Vom Gemüse hatten die Bohnen öfter unter Fleckenkrankheit (Gloeosporium Lindemuthianum) zu leiden; dagegen wird oft ausdrücklich auf die diesjährige Seltenheit der Kohlweißlinge hingewiesen. Größere Schäden soll vielfach der „Mehltau‘‘ bei Weiß- und Blaukraut angerichtet haben (Kreis Beuthen), wobei allerdings genauere Angaben über die Art dieser Schädiger nicht gemacht werden können. Vielleicht handelt es sich auch hier um die Kohlblattläuse (Aphis brassicae), die von der Station für die Kreise Breslau und Pleß im Juli festgestellt wurden und namentlich in dem letztgenannten Kreise die Krauternte fast illusorisch gemacht haben sollen. Im Kreise Bunzlau wiederum trat die Kohlschabe (Plutella cruciferarum) späterhin an Weißkraut schädigend auf. Kohl- und Mohr- rüben wurden dort auch von der Erdraupe (4Agrotis segetum) durch völliges Ausfressen der Herzblätter stellenweise vernichtet. Auch Erd- II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 15 flohkäfer (Phyllotreta) fügten namentlich im Coseler Bezirk dem Kraut mitunter sehr großen Schaden zu. Er trat dort in solchen Massen auf, daß es „in den Beeten wie Regen davon raschelte“‘. Unter den Kohl- krankheiten seien ferner erwähnt die Kohlhernie(Plasmodiophora Brassicae) und die Kohlfliege (Kreise Rosenberg, Rybnik). Eine Veröffentlichung über den Blattbrand der Gurken (Corynespora Melonis) hatte Einsendung von „Schwindsucht‘‘ (Blasenfüßen und Spinnmilben) befallener Glashaus- gurken aus dem Kreise Schweidnitz zur Folge. In Treibhauskulturen des Waldenburger Bezirks wurden u. a. Gemüsepflanzen auch Gurken durch in zahlloser Menge auftretende sog. japanische Höhlenheuschrecken ab- und nachträglich aufgefressen. Eine Schädigung junger Gurkenpflanzen, die allem Anschein nach wieder auf Befall durch die Larven der Gurken- fliege (Chortophila trichodactyla) zurückzuführen war, ging am 1. Juni aus dem Strehlener Kreise bei uns ein. Der Schaden war „auf einem umge- brochenen Wiesenstück‘‘ aufgetreten, „an einem Ende beginnend und sehr rasch um sich greifend, im Garten nicht“. Handelte es sich doch auch in den beiden Vorjahren bei Gurkenfliegenbefall um Feldkulturen. 6. Obstgehölze einschließlich Weinstock. Von größeren Schädlingen waren es besonders die Wühlmäuse (Arvicola amphibius var. terrestris), über deren Auftreten aus den ver- schiedensten Teilen der Provinz Klage geführt wurde, namentlich zu Beginn des Vegetationsjahres. Andernorts schadeten die Sperlinge durch Ab- beißen der Obstbaumblüten; auch Hasen machten stellenweise sehr viel Schaden. Über z. T. bedenkliches Überhandnehmen der Blutlaus (Schi- zoneura lanigera) wurde aus vielen Kreisen berichtet. Sehr stark trat auch vielerorts der Frostspanner auf, Bei Kahlfraß durch seine Raupen trat zuweilen eine auffallende Hypertrophie der Brakteen in die Erscheinung. Auch wurden in solchen Fällen fast alle Blüten und Früchte befressen. Von tierischen Schädlingen sind ferner zu erwähnen: Psylla pyrisuga (Neiße), Contarinia pirivora (Wohlau), Rhopalosiphum ribis auf Johannis- beeren, Nematus-Larvenfraß an Stachelbeeren (Landeshut, Rybnik), ver- schiedener Blatt- und Schildlausbefall auf Pfirsich, Stachel- und Johannis- beeren und Pflaumen. Als Stachelbeerschädlinge zu erwähnen wären ferner Bryobia ribis (Rybnik) und die Spinnmilbe (Breslau) als Ursache von Blattdürre; auch Ohrwürmer machten sich stellenweise lästig bemerkbar, Besonders erwähnt sei aber auch als Obstschädling wiederum die japani- sche Heuschrecke (Tachycines asynamorus), die im Kreise Waldenburg ganze Treibhaus-Pfirsiche abfraß und Löcher hineinfraß, daß man glaubte, es wären Mäuse. Wohl nicht als tierische Schädigung sondern als durch anorganische Ursachen bedingte Hemmungsbildung dürfte eine charakteristische Schalen- änomalie der Wallnüsse zu deuten sein, bei der an den Umbiegungs- 16 Jahresbericht der Schles. Geseilschaft für vaterl. Cultur. stellen der Schale nahe der Spitze und symmetrisch zu der die Nuß längs halbierenden Schalenleiste Löcher in die Erscheinung treten, bei bemerkens- werterweise unverletztem Kern. Von den Mykosen der Obst- und Beerengehölze ist in erster Linie wiederum der amerikanische Stachelbeermehltau (Sphaerotheca mors uvae) zu nennen, der nicht selten die Beerenernten teilweise völlig ver- nichtete. Im Kreise Trebnitz verursachte auch der Gitterrost (Gym- nosporangium Sabinae) vorzeitigen Laubfall bei Birnen; auch waren ferner Moniliafäule bei Äpfeln und Birnen und Schorf (Fusieladium) eine häufige Erscheinung. Örtliche Schädigung rief beim Birnbaum der Blatt- fleckenpilz (Septoria piricola) und die Filzkrankheit des Weinstocks (Eriophyes Vitis) hervor. Von Rebschädlingen traten zwar die Heuwürmer in nicht unerheb- licher Menge auf, der Fraß war aber nur unbedeutend. Aus dem gleichen Grunde war auch die Vermehrung des Sauerwurms und die Anzahl der von ihm befallenen Früchte gering. Springwurm und Rebenschildlaus fanden sich gleichfalls nur vereinzelt vor. Die Trockenheit des Vorsommers verzögerte die Entwicklung der Peronospora viticola. Später aber wurde aus vielen Kreisen über Mehltauschäden geklagt (Brieg, Liegnitz, Lauban, Namslau, Nimptsch), ohne daß freilich bei den Meldungen die beiden Mehl- tauarten unterschieden wurden. Echter Weinmehltau (Oidium Tuckeri) wurde für die Kreise Breslau, Cosel, Falkenberg, Frankenstein, Glogau, Leobsehütz, Ratibor, Reichenbach, Rothenburg, Rybnik, Schweidnitz, Groß- Strehlitz festgestellt, 7. Forstgehölze. Über Massenauftreten von Maikäfern wurde nur aus dem Kreise Lauban Bericht erstattet. Im Bezirk Tost-Gleiwitz machte die auffallend bunte Raupe der Ahorreule (Acronycta aceris) großen Schaden. Nur lokales Interesse beanspruchten dagegen Psylla alni (Kreuzburg), Dreyfusia pieiae (Löwen- berg), Phylloxera coccinea (Breslau), Neuroterus numismalis und lenticularıs auf Eichenblättern und Tischeria complanella. Von pilzlichen Schmarotzern erschien etwas allgemeier Oidium quercinum, seltener Peridermium Strobi (Kreis Schönau). 8. Zierpflanzen. Hier handelte es sich in erster Linie um Rosenschädlinge, von denen Sphaerotheca pannosa in den bei weitem meisten Fällen zur Einsendung kam. Teilweise gelangte infolge des Befalls besonders die beliebte, aber sehr empfängliche Kletterrose „Crimson Rambler‘“ gar nicht zur Blüte (Breslau, Glatz, Lüben, Sagan, Trebnitz). Ebenfalls als „Schimmel‘“ be- zeichnet ging einige Monate vorher Oidium Evonymi japonici aus dem Görlitzer Bezirk ein. Meist von Blumenliebhabern eingesandt wurden Er- krankungen von Oleandern durch Aspidiotus hederae (Tarnowitz), sog. Napoleonsnelken, befallen und oft vernichtet von Heterosporium echinulatum> Tetranychus telarius an Topfrosen und Lonicera Caprifolium. II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. Herr Dr. A. Lingelsheim referierte im Anschluß an eine Umfrage der Staatlichen Stelle für Naturdenkmalpflege in Berlin, betreffend die Schaffung von Moorschutzgebieten Über die Erhaltung der schlesischen Moore. Die Sektion beschließt, folgende Moore der Provinz als erhaltungs- würdig vorzuschlagen: 1. Das Isermoor, die sog. Iserwiese, bei Karlsthal; 3. Die ‚Seefelder‘ bei Reinerz; 3. Ein Moor in der niederschlesischen Heide. 3. Sitzung am 23. November 1916. Herr F. Pax berichtete auf Grund der gemeinschaftlich mit Fräulein Käthe Hoffmann durchgeführten Untersuchungen über die Systematische Stellung der Gattung Aextoxicon. Die Gattung wurde von Ruiz und Pavon (Fl. Peruv. et Chilens. Prodr. [1794] 131, t. 29) aufgestellt, während der Speziesname Aextoxicon punctatum erst 1798 (Syst. veget. Fl. Peruv. et Chilens. 260) veröffentlicht wurde. Mehrere Forscher, Schlechtendal, Baillon, De Candolle, Bentham, Pax, behielten die ursprüngliche Bezeichnung bei; dagegen wurde sie von Hooker in Aextoxicum umgeändert, was auch Endlicher, Grisebach, Miers, Decaisne und Reiche annahmen. Decaisne wollte den Namen des Wohlklangs wegen in Aegotoxicum verwandeln, was auch etymologisch richtig ist. Die Früchte sollen giftig sein und namentlich auf Ziegen schädlich wirken. Von Ruiz und Pavon in das Linnesche System eingeordnet, wurde Aextoxicum punetatum später in den verschiedensten Familien des natür- lichen Systems untergebracht. W. J. Hooker (le. pl. 1[1837] t. XII) sprach zum ersten Mal die Ansicht aus, daß die Pflanze eine Euphorbiacee sei. Aber schon Endlicher (Gen. pl. I1[1836—40] 1124) hielt die Zugehörig- keit zu den Euphorbiaceen für zweifelhaft. Dagegen stellte sie Bentham (Benth. et Hook. Gen. pl. III [1880] 285) wieder ohne weiteres zu dieser Familie, und diese Ansicht hat sich bis in die Gegenwart erhalten und wurde auch von Pax (Nat, Pflzfam. III. 5 [1890] 27) und Reiche (Veg. Erde VII [1907] 86) vertreten. Nach einer kurzen Angabe Benthams (Hook. Journ. Bot. VI [1854] 372) hatte Miers bei der Analyse der Blüten große Ähnlichkeit mit der lcacinaceengattung Villaresia gefunden, und in der ausführlichen Bearbeitung ‚der Pflanze (Contrib. Bot. II [1860—69] 121) suchte Miers ihre Verwandt- schaft mit Villaresia eingehend nachzuweisen. Wegen gewisser Unterschiede wollte er eine besondere Subtribus der Aquifoliaceae- Aextoxiceae begründen, Baillon, der später anderer Meinung wurde, wies der Gattung (Et. gen. Euph. [1858] 660 t. XXVII f. 26—33) eine Zwischenstellung zwischen Agui- foliaceen (Tlicinees) und Celastraceen an. Es1e. p 18 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Eine ganz andere Beurteilung erfuhr Aextoxicon bei A. Grisebach (Abh. Ges. Wiss. Göttingen VI [1856] 102), der sie, hauptsächlich wohl wegen der Schuppenhaarbekleidung, zu den Elaeagnaceen rechnen wollte, und nur dann zu den Icacinaceen, wenn die Beschreibung der weiblichen Blüten bei Ruiz und Pavon der Wirklichkeit entsprechen sollte. Auch Grisebachs Ansicht stieß bald auf Widerspruch, denn Schlechtendal (DC. Prodr. XIV. 2 [1857] 616) hielt es für sehr unsicher, ob Aextoxicon wirklich zu den Elaeagnaceen gehöre, während Baillon (Hist. pl. II [1870] 491, 497) eine besondere Gruppe der Elaeagnaceae- Aextoxiceae aufstellen wollte im Gegensatz zu seiner früheren Ansicht, Wieder ganz anders ist die Stellung, die der Gattung von Decaisne (Bull. soc. bot. France V [1858] 214) zugewiesen wurde, der sie mit Be- stimmtheit für eine Monimiacee hielt, wenn auch für einen reduzierten Typus. In der Bearbeitung der Monimiaceae (DC. Prodr. XVI. 2 [1868] 640) nahm Alph. De Candolle Aextoxicon zwar nicht direkt in diese Familie auf, sondern behandelte sie hier nur anhangsweise, wollte sie aber doch eher zu den Monimiaceen als zu den Euphorbiaceen rechnen. Bei der Unsicherheit der systematischen Stellung der Pflanze war eine genauere Nachuntersuchung dringend erwünscht. Aextoxicon punctatum, von den Eingeborenen Tique oder Olivillo, auch Aceytunillo, von den Spaniern Palomuerto genannt, ist ein hoher Waldbaum Chiles, der in den Küstengebieten des südlichen Teiles der Pro- vinz Coquimbo und in der Provinz Llanquihue wächst, mit zunehmender Breite auch im Innern des Landes vorkommt. Er beschränkt sich nicht nur auf den geschlossenen Waldbestand, sondern findet sich auch auf Uferfelsen, wo er eine sparrige, an Knieholz erinnernde Form annehmen kann (Reiche). An den mit rostroten Sternschuppen bekleideten jungen Trieben er- scheinen die Blätter bereits ein Jahr vor ihrer Entfaltung, ohne Knospen zu bilden, aber insofern gegen zu starke Transpiration geschützt, als sie vor ihrer Entwicklung der Länge nach zusammengefaltet und außen und innen mit Sternschuppen bedeckt sind, deren Strahlen an den sich deckenden Rändern des Blattes übereinandergreifen. Bei den ausgebildeten, länglichen Blättern bleibt die Behaarung nur auf der Unterseite. Zwischen den Schuppen sitzen noch kurze Drüsen, die wahrscheinlich ein Öl oder Harz ausscheiden (Reiche). Einen weiteren Transpirationsschutz bedeutet die lederartige Beschaffenheit der Blätter, die zerstreut oder paarweise ein- ander genähert stehen. Alle Teile der Pflanze sind reich an Gerbstofl. Ölzellen fehlen. Dafür enthalten die Blätter reichlich vielgestaltige Steinzellen und stark vergrößerte Zellen mit schleimigem Inhalt und einem großen Kristall von Caleiumoxalat. II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 19 Die traubigen Blütenstände erreichen nicht die Länge der Blätter und stehen in den Blattachseln bisweilen zu mehreren, entweder als kollaterale Beisprosse oder auf Verzweigung vom Grunde aus zurückführbar. Während kleine Tragblätter zur Entwicklung kommen, fehlen die Vorblätter. Die Geschlechterverteilung ist diözisch, aber das zweite Geschlecht ist meist rudimentär vorhanden. Eine dicht mit Schuppen bedeckte Hülle umschließt die Knospen vollständig, reißt bei der Entfaltung der Blüte von unten her unregelmäßig auf und fällt ab. In beiderlei Blüten folgt auf die äußere Hülle eine Anzahl von Blattgebilden in spiraliger Anordnung, manchmal nach der Divergenz ?/,, aber auch nach anderen Stellungsverhältnissen. Zunächst bemerkt man 5 äußere Blätter, mitunter 6, seltener 4,. von kreis- runder, oben etwas zugespitzter Gestalt, die an den Rändern stark decken, ausnahmsweise sich gar nicht berühren. Sie spalten sehr leicht der Länge nach und fallen ebenfalls beim Öffnen der Blüte ab. Ganz anders sehen die inneren 5 bis 6 Blätter aus. Sie sind schmal-länglich, fast spatel- förmig, am Rande wellig bis gekerbt und haben immer einen stark ver- dickten, nach innen vorspringenden Mittelnerv. In der Knospe biegen sich die oberen Ränder dieser Blätter nach innen und umhüllen in den männ- lichen Blüten die Antheren. Sie bleiben stets auch nach der Entfaltung der Blüte stehen. Sowohl die äußeren als auch die inneren Blätter sind in der weiblichen Blüte oft in geringerer Zahl entwickelt. Innerhalb der Blütenhülle stehen 5, auch 6 bis 7 Staubblätter mit breiten, freien Fila- menten und introrsen, der Länge nach aufspringenden Antheren. Mit ihnen alternieren 5 große, oft halbmondförmige Diskusdrüsen. Sie um- geben ein mehr oder weniger entwickeltes Fruchtknotenrudiment. In der weiblichen Blüte stehen zwischen den 5 Diskusdrüsen ebenso viele Staminodien. Das monomere, einfächrige Ovarium enthält 2 anatrope, hängende Samenanlagen, nebeneinander an der Placenta angeheftet, mit dorsaler Raphe. Der kurz zweispaltige Griffel ist besonders anfänglich stark zurückgebogen. Aus dem Ovarium entwickelt sich eine längliche, etwa 1 cm lange Steinfrucht, die an den untersuchten Exemplaren nur einen Samen enthielt. Da jedoch Miers zweisamige Früchte beschreibt, ist es möglich, daß auch beide Samenanlagen gelegentlich zur Entwicklung kommen. Die nach innen faltig vorspringende Samenschale umschließt ein zerklüftetes Endosperm, an dessen Spitze ein ansehnlicher Embryo liest mit herzförmigen, etwas schaufelartig gebogenen Keimblättern und einer nur wenig kürzeren Radicula. Das Endosperm enthält keine Stärke. Die Samenanlagen besitzen eine deutliche Caruncula, auf die Baillon besonderen Wert leste. Von den Teilen der Blüte erfordert nur die äußere, unregelmäßig aufspringende Hülle eine morphologische Deutung. Seit Endlicher wird das Gebilde von den meisten Forschern, die sich mit 4ewtoxicon be- schäftigten, als Involucrum (Bractee) aufgefaßt, ohne daß freilich klar aus- DA 30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. gesprochen wurde, aus wieviel Blättern dieses Involucrum zusammengesetzt ist. Eine andre, morphologisch kaum haltbare Ansicht äußerte Grisebach, der-in der Hülle eine Bractee erblickt, auf die noch weitere „Involukral- bildungen oder Systeme von Knospenschuppen“ folgen und erst dann das „Perigon“. Hiernach würden also nur die mit verdicktem Mittelnerv ver- sehenen Blätter die Blütenhülle darstellen. A. De Candolle dagegen sieht, allerdings mit Vorbehalt, in der Hülle ein äußerstes Kelchblatt, und dieselbe Meinung, ebenfalls nicht ganz sicher, spricht Baillon aus, Nach unserer Ansicht liegen zwei Möglichkeiten vor. Entweder handelt es sich um zwei miteinander verwachsene Vorblätter oder um ein äußeres Kelchblatt. Aus dem Querschnitt durch eine junge Knospe geht nun hervor, daß die Hülle nur von einem einzigen Blatt gebildet wird. Sie erscheint von einer ver- dickten Stelle nach der gegenüberliegenden Seite hin allmählich verdünnt, an der sie auch zuerst aufspringt. Somit liegt die Vermutung nahe, daß die Hülle das äußerste, zum Zweck des Knospenschutzes in eigenartiger Weise umgebildete Kelchblatt darstellt. Für die Beurteilung der systematischen Stellung von Aextoxicon sind folgende Merkmale von ausschlaggebender Bedeutung: 1. die Breite und starke Deckung der Blütenhüllblätter sowie ihre schwankenden Zahlenverhältnisse, 2. die Zweizahl der kollateralen, anatropen, hängenden Samenanlagen mit dorsaler Raphe im einfächrigen Fruchtknoten, 3. das ruminierte Endosperm, 4. das Fehlen von Ölzellen, 5. die Schuppenhaare. Die drei ersten Merkmale sprechen entschieden gegen die Einordnung der Gattung zu den Euphorbiaceen, obwohl eine gewisse habituelle Ähnlich- keit z.B. mit der Gattung Pera nicht geleugnet werden kann. An eine Verwandtschaft mit den Elaeagnaceen kann erst recht nicht gedacht werden. Der Bau der perigynen Blüten dieser Familie ist ein wesentlich anderer, und nur die Schuppenbekleidung könnte an sie er- innern, Freilich kommen solche Trichomgebilde in vielen andern Ver- wandtschaftskreisen vor. Man wird schwer gemeinschaftliche Merkmale zwischen den Hlaeagnaceen und der Gattung Aextoxicon auffinden können. Die Monimiaceen unterscheiden sich von Aextoxicon durch das apokarpe Gynöceum und die Einzahl der Samenanlagen sowie durch das Vorhanden- sein von Ölzellen. Es gibt auch keine Gattung unter ihnen, die mit Aextoxicon in irgend eine nähere Beziehung gebracht werden könnte. Es bleibt somit nur noch die von Miers behauptete Verwandtschaft mit Villaresia zu besprechen übrig. Wenn man den Blütenbau beider Gattungen vergleicht, findet man eine weitgehende Übereinstimmung. Sie kommt zum Ausdruck in der Form der Petalen, die bei beiden Pflanzen einen II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 31 nach oben stark vorspringenden Mittelnerv und eine eingebogene Spitze besitzen, in dem Bau des Fruchtknotens, der drupaähnlichen Steinfrucht und dem ruminierten Endosperm. Letzteres scheint bei Vellaresia nur am Rande zerklüftet zu sein. Dieser großen Ähnlichkeit, auf die Miers mit Recht hingewiesen hat, stehen aber doch erhebliche Unterschiede gegen- über, die zugleich auch Unterschiede gegenüber den typischen Formen der Icacinaceen darstellen, so das als Involucrum ausgebildete äußere Kelch- blatt, die Breite der rasch abfallenden Sepalen und deren schwankende Zahl, die Ausbildung der Diskusdrüsen, die bei den Icacinaceen nur selten vorkommen, und endlich die Schuppenbekleidung. Bei den Icacinaceen treten immer einfache Haare auf. Auf Grund dieser Befunde wird man Miers zustimmen müssen, Aextoxicon aus der Familie der Euphorbiaceen zu entfernen und in nähere Verwandtschaft zu Villaresia zu bringen. Man wird ihm auch darin Recht geben müssen, daß Aextoxicon der Monotypus einer eigenen Gruppe ist, die aber besser als besondere Familie, Aextoxicaceae, aufgefaßt wird. Herr Dr. A. Lingelsheim machte folgende Mitteilungen. 1. Bericht über einen Besuch des Hochmoores „die Seefelder‘“ bei Reinerz, Eine auf Anregung der Staatlichen Stelle für Naturdenkmalpflege in Berlin unternommene Besichtigung dieses in der Literatur öfters erwähnten Moores sollte über den gegenwärtigen Zustand seiner Flora Auskunft geben, da geplant wird, das Gebiet als Naturdenkmal zu erhalten. Die Frage, ob die Seefelder nach seit langen Zeiten andauernder Entwässerung noch wert sind, als Beispiel eines Gebirgshochmoores der Nachwelt überliefert zu werden, muß unbedingt bejaht werden. Besonders gilt das für die am weitesten nordwärts gelegenen, am wenigsten ent- wässerten Teile, wo prachtvolle Bestände der Hakenkiefer weite Flächen bedecken. Der Baum zeigt je nach der Feuchtigkeit des Untergrundes alle Übergänge von dichtem, außerordentlich knieholzähnlichem Polsterwuchs bis zu starker Hochstammbildung. In großer Häufigkeit tragen die Zweig- enden kleiner und großer Exemplare jene von Evetria resinella L. erzeugte Harzgalle, die von Pinus uncinata Ram. bisher noch nicht bekannt war. Fast alle älteren, verwitterten Harzmassen dieser Gallbildung waren besetzt von den rotgelben Apothezien von Biatorella resinae (Fr.) Rehm, die frischen Gallen waren frei davon. Das ist insofern eigenartig, als dieser Ascomycet sonst nur auf frischen Harzflüssen angetroffen wird?). 1) Nach Lindau in Engler und Prantl, Nat.-Pflzf. I, 1 (1897) 230. 22 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Bei genauerer Inaugenscheinnahme zahlreicher Komplexe der hier wachsenden Kiefernbüsche ergab sich, daß die Angaben über das Vor- kommen echten Knieholzes, die auf Freyn zurückgehen, nicht haltbar sind; .Pinus Pumilio Hke. fehlt den Seefeldern. Auch der von Zacharias‘) stammende Bericht über Massenvegetation von Ledum palustre L. ist irrig, ich fand diese Pflanze an keiner Stelle. Sollte der Autor etwa Andromeda polifolia L. dafür angesprochen haben? Sonst waren alle Pflanzentypen des Hochmoores in bester Entwicklung vorhanden, was besonders auch für Befula nana L. gilt. Ein Standort dieser Birke liegt nahe dem Rehdanzwege in nicht allzu großer Entfernung nördlich der Torfstecherei, welche, wie hier bemerkt werden mag, mit den vorhandenen, sehr primitiven Abbaumitteln dem Moore nur gering- fügige Wunden geschlagen hat. Hier erheben sich kleine, mehr kraut- artige Exemplare der Zwergzbirke aus dem Sphagnumfilz um die Ränder eines kleinen Tümpels und durchsetzen zerstreutwachsend stellenweise die Kiefernbestände der angrenzenden Randzone. Ein zweiter, weitaus bemerkenswerterer Standort liegt in nordwest- licher Richtung einige hundert Meter entfernt. Dort wachsen recht zahl- reiche, oft fast meterhohe Zwergbirken, deren Stamm bei einigen Daumen- stärke erreicht. Mehr nach Süden zu sind in immer steigender Anzahl Moorbirken in die Hakenkiefervegetation eingesprengt. Unmittelbar am Fouqu&wege wachsen zu vielen Tausenden in nahezu reinen Beständen deren Knüppel- formen. Der südlich vom Wege gelegene Anteil der Seefelder längs des Reh- danzgrabens führt in eine Landschaft von parkartigem Aussehen; Fichte und Moorbirke kennzeichnen dieselbe. Von besonderem Interesse sind merkwürdig regelmäßig geformte, dichtzweigige, bis zum Boden beästete Fichtensträucher von Kegel- oder Pyramidenwuchs, welche, wie künstlich zugestutzt, die Parkähnlichkeit des Geländes sinnfällig steigern. Eine genauere Beschreibung und bildliche Darstellung soll in den Mitteil. Deutsch. Dendrolog. Gesellsch. erfolgen. 2. Ein neuer Fundort des Veilchensteins in Schlesien. Gelegentlich der oben kurz skizzierten Bereisung der Seefelder kon- statierte ich auf dem Wege von Bad Reinerz dorthin Trentepohlia Jolithus (L.) Wittr. in Menge an feuchten Felsen im Weistritztkal. Die Alge steigt hier tief im Gebirge herab, dicht hinter den letzten Häusern des Bades beginnt ihre Vegetation. Nach freundlicher Mitteilung des Herrn Dr. B. Schröder ist der Standort neu für das Habelschwerdter Gebirge. Der genannte 1) Zacharias in Jahresb. Glatz. Geb. Ver. (1886) 38. II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 23 Forscher stellte in den Belegproben noch folgende Beischlüsse fest: Mesotaenium macrococcum (Kütz.) Wille var. micrococcum (Kütz.) West et G. S. West, Oylindrocystis Brebissoni Menegh., Oystococcus humicola Näg. und Pleurococcus vulgaris Menegh. 3. Pyronema laetissimum Schröter. Dieser Pilz, ein Endemismus Schlesiens, wurde im zeitigen Frühling dieses Jahres von meinem Schüler, Herrn stud. ing. Paul Rüster- Argelander, am Geiersberge im Zobtengebirge wieder aufgefunden und zwar an einem zweiten Standort am Ostabhang des Berges, unweit des jüngst dort errichteten Aussichtspunktes. Von F.Rosen in den 90er Jahren entdeckt, wurde der Pilz von Schröter zu Pyronema gestell. Rehm äußerte auf Grund der Schröterschen Angabe über Blaufärbung der Schlauchspitze mit Jod Zweifel an der richtigen Stellung bei dieser Gattung und vermutete, es handele sich um eine Art der Gattung Melachroia. Der Pilz ist jedoch eine echte Pyronema. Schröters Be- obachtung läßt sich auf eine Täuschung zurückführen, denn nicht die Ascusspitze ergibt Bläuung bei Jodzusatz, sondern der in den Paraphysen befindliche Farbstoff, besonders in deren keuligen, der Schlauchspitze auf- liegenden Enden, färbt sich mit Jod blaugrün. Der Farbstoff gehört seinem chemischen und physikalischen Verhalten nach in die Gruppe der Karotine. Näheres über den Pilz ist in Hedwigia LVIII (1916) 155 von mir ver- öffentlicht worden. 4. Neue Gallen an Pflanzen des Königl. Botan. Gartens in Breslau. Folgende, von Houard und anderen Autoren nicht verzeichnete Gall- bildungen kamen in diesem Jahre zur Beobachtung: 1. Mirabilis nyctaginea (Sweet) Heimerl — terminale Blätter schopfig, gekraust durch Aphiden, cf. Lingelsheim, Durch Hemipteren verursachte Mißbildungen einiger Pflanzen, in Ztschr. f. Pflanzenkrankh, XXVI. 6/7. Heft (1916) 378. 2. Philadelphus latifolius Schrad.. — Blattbüschelbildung, Spreiten- _ kräuselung durch Aphis viburni Scop., ef. Lingelsheim |. c. 378. 3. Philadelphus pubescens Koch — Galle wie bei 2, cf. Lingelsheim 1. ©. 378. 4. Philadelphus Satsumi Paxt. — Galle wie bei 2. 5. Deutzia crenata Sieb. et Zuece. — Blätter der Triebspitze durch Saugwunden unregelmäßig blasig verbeult oder verbogen. Urheber Aphiden, ef. Lingelsheim |. c. 332. 6. Deutzia scabra Sieb. et Zuec. — Galle wie bei 5, ef. Lingelsheim 1. e. 382. 24 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. 7. Aruncus silWwvester Kostel. — Aphidengalle, Fältelungen verbunden mit Krümmungen oder Verdrehungen der Spreiten, cf. Lingelsheim l. e. 379 Abbild. 1. 8. Spiraea bella Sims. — Mißbildung der Blätter durch Macrosiphum 'ulmariae Schrank. 9. 8. chamaedrifolia Bl. — Galle wie bei 8. 10. 8. japonica L. — Galle wie bei 8. 11. $. Menziesii Hook. — Galle wie bei 8. 12. S. Thunbergi Sieb. — Galle wie bei 8. 13. 8. albiflora X corymbosa. — Galle wie bei 8. 14. S. albiflora > Douglasü. — Galle wie bei 8. 15. 8. albiflora X salicifolia. — Galle wie bei 8. 16. 8. bella X expansa. — Galle wie bei 8. 17. 8. canescens X Douglasiü. — Galle wie bei 8. 18. S. canescens X. salicifolia. — Galle wie bei 8. 19. S. Douglasü >< superba. — Galle wie bei 8. 20. S. japonica > corymbosa. — Galle wie bei 8. 21. Mespilus germanica > ÜCrataegus monogyna (Crataego - Mespilus Simon-Louis) — Blattbüschel durch Einkrümmung der Spreite, erzeugt durch Aphis crataegi Buckt., ef. Lingelsheim |]. ce. 379, 380. 22. Mespilus germanica > Crataegus monogyna — kleine, karmin- rote Blattpusteln durch Psylla crataegi Schrank, ef. Lingelsheim ]. c. 380. 23. Mespilus germanica > ÜCrataegus monogyna — große gelbrote Blattbeulen durch Myzus oxyacanthae Koch, ef. Lingelsheim |]. c. 380. 24. Prunus americana Marsh. — Kräuselung und Schopfbildung der Blätter durch Aphis cerasi Schrank (A. prunicola Kalt.), cf. Lingelsheim l. c. 380. 25. P. maritima 'Wangh. — Galle wie bei 24 durch Aphiden. 26. P. utahensis Koehne. — Blätter gehäuft, verbogen durch Myzus cerasi Fabr.? 27. Glycyrrhiza glandulifera W. et K. — Durch saugende Aphiden bewirkte Verbeulungen und Verbiegungen der Blätter. 28. Staphylea pinnata L. — Blätter an den Triebspitzen eingekrümmt, schopfig durch Aphiden, cf. Lingelsheim |. c. 380. 29. Evonymus Bungeana Maxim. — Blattknäuel durch Aphis evonymi Fabr., cf. Lingelsheim |. c. 380. 30. Hladnickia golacensis (Hacq.) C. Koch — Blätter eingekrümmt durch Aphiden. 31. Fraxinus holotricha Koehne — Blattkonglomerate durch Pemphigus nidificus F. Löw, cf. Lingelsheim |. c. 383. 32. Forsythia suspensa (Thbg.) Vahl. — Blätter der Triebspitze durch Saugwunden von Aphiden blasig verbeult und verkrümmt, cf. Lingelsheim 1.6..381: II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 25 33. Forsythia viridissima Lindl. — Galle wie bei 32, cf. Lingels- heim |. c. 381. 34. Forsythia europaea Deg. et Bald. — Galle wie bei 32, cf. Lingels- heim |. c. 381. 55. Ligustrum vulgare L. — Galle wie bei 32, cf. Lingelsheim ne. 882. 36. Zycium barbarum L. — Galle wie bei 32, cf. Lingelsheim l. c. 333. 37. Pentstemon laevigatus Ait. — Blätter gekraust und gekrümmt durch Aphrophora spumaria L. 88. Lonicera chrysantha Turcz. — Blattrand entfärbt und verbildet oft umgeschlagen durch Siphocoryne lonicerae Sieb., cf. Lingelsheim le. 383, 39. Lonicera Maackii Maxim. — Galle wie bei 38, cf. Lingelsheim l. ec. 383. 40. Lonicera Morrowii Graebn. — Galle wie bei 38, ef. Lingelsheim l. ec. 383. 41. Lonicera Ruprechtiana Dippel — Galle wie bei 38, cf. Lingels- heim |. c. 383. 42. Viburnum tomentosum T'hbg. — krause Blattbüschel an den Trieb- spitzen durch Aphis viburni Scop. 43. Campanula Trachelium L. — Blätter gefältelt, verbogen durch Aphrophora spumaria L. 44, Aster salicifolius (Lam.) Ait. — Blätter durch Wachstumstörung der Triebspitze gehäuft, gefältelt oder verkrümmt durch Aphrophora spu- maria L. 45. Helianthus debilis Nutt. — Blätter schopfig, gekraust durch Aphis helichrysi Kalt? Die große Mehrzahl der aufgezählten Cecidien ist durch Einwirkung von Blattläusen zustande gekommen, die gerade in diesem Jahre in unserm Garten auffallend häufig waren. Mitteilenswert ist dabei noch vielleicht folgende Beobachtung. Mit Regelmäßigkeit erscheint alljährlich eine Aphiden- galle auf Althaea armeniaca X officinalis!); von der Rollung und Kräuselung der Blätter an den Triebspitzen bleibt kein Exemplar verschont. Weder auf den in unmittelbarster Nähe befindlichen Stöcken von Althaea armeniaca Ten., noch auf officinalis-Pflanzen tritt Befall von Läusen und Gallbildung auf. Ähnlich steht es mit der Galle auf Glycyrrhiza glandulifera, die ich seit Jahren immer wieder finde, die aber nicht auf die daneben wachsenden Individuen von Glycyrrhiza echinata L. übertragen wird. 1) Vgl. Herb. ceecidiol. Dittrich u. Pax n. 491. 26 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Culiur. 5. Teratologisches. Auf Witterungseinflüsse zurückzuführende, partielle Verwachsungen der Blattränder bei Fliederarten des Botan. Gartens und der Umgebung Breslaus traten besonders massenhaft bei Syringa vulgaris L., seltener bei andern Arten auf. Die Verwachsung serfolgt in der Knospenlage. Die Knospen werden in der freien Entfaltung oberwärts durch abgestorbene Blattreste gehemmt. Die Verbindung, im mikroskopischen Bilde ganz homogen erscheinend, kann zwischen Paaren desselben Quirls, aber auch zwischen Blättern superponierter Quirle auftreten, Einzelheiten darüber bringt meine Arbeit in Beiheft. Botan, Centralblatt XXXII (1916) Abt. I. p- 294. Taf. VIII u. IX. Syringa Josikaea Rehb. und Lonicera Maackii Maxim. gliederten an einigen Ästen 3-gliedrige Blattquirle aus. An ersterer traten Gabelungen der Spreite bezw. des Hauptnerven auf, was auch für Blätter von Syringa affinis (L. Henry) Lingelsh., $. oblata Lindl., Fraxinus holotricha Koehne, Forsythia europaea Deg. et Bald, bei dieser verbunden mit partieller grober Zähnelung des normalerweise glatten Blattrandes, ferner von Magnolia conspicua > obovata festgestellt werden konnte. Diese Magnolie zeigte häufiger mehr oder weniger tiefe Einbuchtungen der Blätter, in einem Falle beiderseits in gleicher Höhe fast bis zur Mittelrippe. Überzählige kleine Blätterpaare fanden sich am Grunde der Fiederblättchen bei Fraxinus holotricha Koehne: diese Esche produzierte auch ein Wendeltreppenblatt von sehr regelmäßiger Bauart (Endblättchen). Eine Blattascidie trug Gleditschia triacanthos L-. und zwar waren an einem Fiederblatt die beiden uniersten Blättchen zu einer gestielten, im oberen Teile zweilappigen Tute verwachsen. Eine Aseidie als direkte Forisetzung der Mittelrippe, ähnlich Codiaeum, aber umgekehrt orientiert, fand sich an Magnolia conspiceua X obovata, von der ich bereits andersartige Tutenbildungen beschrieben habe!). Eigenartige Bauverhältnisse wies ein Zweig von Skimmia japonica Thbe. aus dem Kalthause unseres Gartens auf. Der betreffende Ast schließt nicht mit einer Triebspitze, sondern mit einem 4lappigen, in der Mitte trichterig vertieften Blattgebilde ab. Offenbar sind die Glieder zweier Quirle ver- wachsen, d. h, bereits im allerjugendlichsten Stadium, und über den Vege- tationskegel hinweg. Der durch diese Concrescenz verhüllte Vegetations- punkt ist indessen tätig geblieben; er hat das oberste fleischige Stengelstück soweit gedehnt, daß ein einseitig klaffender Spalt entstanden ist. In einer Blüte von Aconitum Lycoctonum L. hatten sich in den Achseln von Staminodien der inneren Kreise nicht weniger als 6 junge Blüten ent- wickelt, deren am weitesten vorgeschrittenen bereits deutlich gespornt waren. !) Vgl. dazu A. Lingelsheim in Ber. Deutsch. Bot. Ges. XXXIV, 6 (1916) 392 a. 2; II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. Om Herr Apothekenbesitzer E. Hoffmann sandte mir 2 Exemplare von Polygonum Bistorta L. aus der Umgebung von Konstadt O/S. mit reichlich abnorm verzweigten Blütenständen. Der Bastard Magnolia conspicua X obovata lieferte mir einen Frucht- stand, welcher Ansätze zur Gabelung zeigte. Chelidonium majus L. bringt in seiner var. laciniatum Gren. et Godr. fast durchgängig, wie mich unser Herbarium und die Gartenkulturen lehrten, abnorme, unregelmäßig verbogene Früchte hervor, die auch der Stammform in vielen Fällen eigen sind. Vielleicht hängt diese Ausbildungsweise irgend- wie mit der korrugativen Knospenlage zusammen, 6. Auftreten von Panaschüre., Ungewöhnlich oft und reichlich erschienen an sonst normal grün- blättrigen Pflanzen unserer Gartenkulturen im Sommer d. J. zum Teil recht hervorstechende Panaschierungen, entweder nur in bestimmten Regionen der Laubmasse, oder auch ziemlich gleichmäßig darin verteilt. Einzelne mitten zwischen normalen Stauden von Sorbaria sorbifolia A. Br. stehende Pflanzen hatten rein weiße Randpanaschüre des Blattes erworben. Sehr feine und distinkte Weißsprenkelung zeichnete zahlreiche Blätter von Syringa amurensis Rupr. und deren Varietäten aus; bei einer dieser Pflanzen steigerte sich an den jüngsten Blättern die Erscheinung bis zur Chlorose. Gröbere Weißfleckigkeit bezw. Streifung zeigten an einzelnen Zweigen die Blätter von Forsythia viridissima Lindl., Buxus sempervirens L., Prunus Lauroce- rasus L. Rein weiße Streifen vom Blattgrunde zur Peripherie strahlend fanden sich an den Blättern eines der unteren Äste von Ginkgo biloba L., von dem bekanntlich auch eine gestreifte Form, aber mit goldgelber Zeichnung, als f. variegata hort. kultiviert wird. Das Laub von Forsythia suspensa (Thbg.) Vahl und Deutzia crenata Sieb. et Zucc., insonderheit ersterer, war hier und da mit zierlicher Nervenpanaschüre versehen, die sich aber nur bis etwa auf die Nerven dritten Grades erstreckt hatte. 4. Sitzung am 7. Dezember 1916. Herr Th. Schube sprach über die Ergebnisse der Durchforschung der schlesischen Gefässpflanzenwelt im Jahre 1916. Trotz den Kriegsnöten haben unsere Floristen, soweit sie in der Heimat verbleiben durften, in ihrer Forschertätigkeit nicht nachgelassen; selbst einer der jungen Krieger, Herr Leutnant Herbert Malende, hat in der Zeit, die er während der Wiederherstellung von seiner Verwundung in Schlesien verbrachte, sich an den Beobachtungen beteiligt. Am erfolg- reichsten waren die Herren Parkdirektor Lauche-Muskau und Lehrer 38 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vater]. Cultur. Schalow-Breslau; außer ihnen haben mich die Herren Lehrer Auras- Gr. Peterwitz, Seminarlehrer Buchs-Frankenstein, Schornsteinfegermeister Burda -Reichtal, Hüttenobermeister Czmok-Zaborze, Oberstabsarzt Grüning-Breslau, Rittergutsbesitzer von Haugwitz-Rosental, Lehrer Kiese-Klenowe, Forstmeister Klopfer-Primkenau, Oberlehrer Kruber- Hirschberg, Lehrer Pfeiffer-Steinau, Zollinspektor Pietsch-Habel- schwerdt, Oberlehrer Schmattorsch- Rybnik, Lehrer H. Schmidt- Grünberg, Dr. Bruno Schröder - Breslau, Kantor Schwarz - Obernigk, Prof. Dr. Sommerlad-Breslau, Prof. Spribille-Breslau, Taubstummen- lehrer Wunschik-Ratibor und Geh. Bergrat Zimmermann-Berlin mehr oder weniger ausgiebig unterstützt. Ihnen allen sei dafür auch hier herz- lichst gedankt! Aspidium Dryopteris. Breslau: Marienkranster Wald! (Schalow). A. Robertianum. Silberberg: Wallgang gegen den Hohenstein (Buchs). A. Phegopteris. Ohlau: Kiefernberge bei Zedlitz (Schalow)! A. Thelypteris. Breslau: Marienkranster Wald! (Schalow). A. cristatum. Rybnik: Moschnikmühle (Schmattorsch)! —+ Onoclea Struthiopteris. Camenz: im Schloßparke (Buchs)! Blechnum Spicant. Lähn: Gießhübel (Zimmermann)! (++?) Asplenium viride. Muskau: an einer alten Mauer bei Köbeln (Lauche). A. Ruta muraria. Frankenstein: mehrfach; ÖOttmachau: z.B. an der Schloßparkmauer (Buchs). A. septentrionale X Trichomanes. DBolkenhain: Distelstein bei Nimmer- satt (Zimmermann)!, Scheibenberg bei Altröhrsdorf, Heidelberg bei Wiesau (derselbe). Polypodium vulgare. Primkenau: Revier Petersdorf!; Neusalz: schattige- Lehne nahe dem Kirchhofe (Schmidt)! Osmunda regalis. Niesky: Neuliebel (Lauche). Equisetum pratense. Dyhernfurt: gegen Bschanz (Schalow)! E. hiemale. Breslau: Oderufer hinter Tschirne (Schalow)!, nördlich von Meleschwitz (ders.); Hindenburg: Eisenbahndamm bei Zaborze (Czmok)! Lycopodium annotinum. Muskau: Bergpark (Lauche). L. chamaecyparissus. Brieg: Forst Rogelwitz (Prof. Schwarzbach t. Schröder)! Pinus silvestris f. parvifolia. Rybnik: Spendelmühle (Schmattorsch)! Sparganium minimum. Rybnik: Rudateich (Schmattorsch)! Potamogeton lucens f. acuminatus. Muskau: Großteich bei Zibelle (Lauche)! P. acutifolius. Breslau: Althofnaß (Grüning)! P. obtusifolius. Muskau: Gablenzer See (Lauche)! P. trichoides. Breslau: Teich im städtischen Schulgarten (Grüning)! II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 99 Setaria verticillata. Carolath: auf einem Kartoffelfelde (Schmidt)! Anthoxanthum odoratum f. villosum. Breslau: Janowitz (Schalow)! Hierochloa odorata. Auras: im gegenüberliegenden Oderwalde! (Schalow). Calamagrostis arundinacea. Primkenau: Revier Petersdorf!; Camenz: Schloßpark (Buchs)!, Plottnitzer Forst (Schalow); Strehlen: bei der „Hölle“ vor Krain; Ottmachau: Matzwitz (ders.)!, Oberwald (Buchs)!; Grottkau: Tscheschdorfer Oberwald, Nieder-Bischofswald (Schalow). Trisetum flavescens. Wartha!: z.B. um Giersdorf (Schalow)! Sieglingia decumbens, ungewöhnlich reichblütig. Hoyerswerda: Po- droschnikteich (Lauche) ! Dactylis glomerata v. lobata. Camenz: Pilzwald (Buchs)! Festuca myurus. Muskau: zwischen Braunsdorf und Zibelle (Lauche)! F. sciuroides. Sprottau: Dittersdorf (Schmattorsch)! F. glauca, mit schwach behaarten Deckblättern. Wartha: an der Straße nach Giersdorf (Schalow,)! Bromus asper. Camenz: im ‚Neidig‘‘ und im Revier Plottnitz; Ott- machau: Matzwitz (Schalow)! \ B. ramosus. Silberberg: zwischen dem Exzellenzplan und Gabersdorf Buchs)! B. inermis f. aristatus. Dyhernfurt: gegen Bschanz (Schalow)! B. commutatus. Strehlen: Schönbrunn (Schalow)! Lolium remotum. Muskau: Zibelle (Lauche). Oyperus flavescens. Rybnik: Boguschowitzer Teiche! (Schmattorsch). Scirpus acicularis f. fluitans. MRybnik: an der Heerstraße gegen Seibersdorf (Schmattorsch) ! S. compressus. Muskau: Zibelle (Lauche). Carex dioeca. Hindenburg: Hüttenwiesen bei Zaborze (Czmok)! C. Davalliana. Silberberg: südlich vom Stadtbahnhofe, Hartelehne am Spitzberge (Buchs)! C..ligerica. Muskau: Neu Köbeln (Lauche)! ©. leporina v. argyroglochin. Muskau: in der Wussina (Lauche)! ©. caespitosa. Dyhernfurt: gegen Bschanz (Schalow)! C. Bueki. Breslau: Janowitz; Neumarkt: zwischen Warsine und Leonhardwitz (Schalow)! C. Buxbaumi. Breslau: zwischen Meleschwitz und Zindel (Schalow)! C. tomentosa. Dyhernfurt: gegen Bschanz; Auras: im gegenüber- liegenden Oderwalde (Schalow)! | | O. ericetorum. Ohlau: zwischen Kottwitz und Sackerau (Schalow)! C. umbrosa. Strehlen: Drachelgraben im Lorenzberger Walde (Schalow)! Ö©. montana. Ottmachau: Matzwitz (Schalow)! CO. distans. Frankenstein: Grochbergschanze! (Buchs). 30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. C. brizoides X ligerica. Muskau: Schützenhaus (Lauche)! Juncus filiformis. Hindenburg: Ziegeleiteiche bei Zaborze (Czmok)! squarrosus. Breslau: Marienkranst (Schalow)! tenwis. Sohrau: gegen Pallowitz (Spribille)! compressus. Muskau: zwischen Zibelle und Gebersdorf (Lauche)! tenageia. Muskau: Tschöpeln (Lauche)! bufonius f. hybridus. Obernigk: vor Zechelwitz (Schwarz)! obtusiflorus Ehrhart. Muskau: auf einem sumpfigen Wiesen- hange nahe beim Mausoleum! (Lauche), auch oberhalb der Brücke beim Englischen Hause (ders.). Erst in diesem Jahr, in dem des anhaltenden Regenwetters halber der Schnitt jener Wiesen erheblich später als ge- wöhnlich erfolgte, konnte der Entdecker die ausnahmeweise zur Blüte ge- langte Pflanze, die ibm schon längst aufgefallen war, mit Sicherheit fest- stellen. Luzula nemorosa. Grottkau: Bischofswald zwischen Gläsendorf und “ Poln. Tschammendorf (Schalow)!, Oberwald bei Tscheschdorf u. a. (ders.), Allium ursinum. Reichenstein: mehrfach im Follmersdorfer Revier!; Rauden: im Parke (Schmattorsch)! SHHSN = A. angulosum. Breslau: Schönborn, Gallowitz, Boguslawitz; Canth: am Martinsberge bei Sachwitz! A. vineale f. capsuliferum. Sprottau: vor Kortnitz (Schmattorsch)! Ornithogalum tenuifolium. Breslau: Schwedenschanze bei Wangern!; Strehlen: zwischen Louisdorf und Hermsdorf (Schalow)! Polygonatum verticillatum. Camenz: Plottnitzer Forst (Schalow)!, Pilzwald (Buchs)! P. officinale. Wartha: gegenüber Morischau (Schalow) ! Galanthus nivalis. Ottmachau: zwischen Matzwitz und Laßwitz (Schalow), —+- Narcissus poeticus. Goldberg: Wiese östlich von Ulbersdorf (Zimmermann)! Iris sibirica. Auras: im gegenüberliegenden Oderwald, auch zwischen Warsine und Leonhardwitz (Schalow)! Cephalanthera xiphophyllum. Ottmachau: Matzwitzer Wald; Grottkau‘: Oberwald bei Tscheschdorf (Schalow)! Neottia Nidus avis. Camenz: z. B. Pilzwald, Schloßpark (Buchs). Populus alba. Auras: im gegenüberliegenden Oderwalde zahlreich spontan (Schalow)!, desgl. Breslau: Kottwitzer Oderwald (ders.). — Salix acutifoia. Grünberg: zwischen der Schillerhöhe und der Lawaldauer Straße (Schmidt)!; Auras: am gegenüberliegenden Oderufer, wohl völlig eingebürgert (Schalow)! —+ Alnus rugosa. Goldberg: Armenruh, gegen Radmannsdorf (Schmidt)! II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 31 Ulmus montana. Frankenstein: an der Schloßruine (Buchs), Gläsen- dorfer Busch; Silberberg: zwischen Böhmischwald und Gabersdorf (ders.)! Aristolochia Clematitis. Steinau: am Oderhafen (Schmidt) ! Rumex Acetosa f. auriculatus. Sprottau: Küpper (Schmattorsch)! R. Acetosella f. integrifolius. Obernigk: bei Jaekel (Schwarz)!; Rybnik: vor dem Paruschowitzer Walde (Schmattorsch)! Montia rivularıs. Muskau: Keula (Lauche). Silene dichotoma. Sprottau: vor Kortnitz (Schmattorsch)!; Breslau: buschiger Damm bei Kottwitz (Grüning)! S. gallica. Rybnik: vor Belauf Lerchenberg (Schmattorsch)! S. Otites. Wohlau: zwischen dem Leipnitzer Grunde und Kl. Ausker! Gypsophila fastigiata. Breslau: Sanddünen bei Meleschwitz (Schalow)! Tunica prolifera. Wartha: hinter Giersdorf (Schalow)! —- Dianthus barbatus. Frankenstein: Schloßruine (Buchs)! D. superbus. Camenz: unweit des Nordrandes vom Schloßparke (Buchs)! Stellaria media f. neglecta. Camenz: Pilzwald, Schloßpark (Buchs)! Sagina apetala. Muskau: Zibelle (Lauche)! Spergula vernalis. Neumarkt: Finkeberg bei Warsine (Schalow)! Spergularia segetalis. Muskau: Gr. Särchen, in Menge (Lauche)! Da die Pflanze bisher nur einmal (1849) bei Glogau und seitdem anscheinend nicht wieder beobachtet worden ist, kommt der Fund einer Neuerwerbung ür die Provinz gleich: Illecebrum verticillatum f. stagnale Möllmann. Niesky: gegen Neuhof (Lauche)! Caltha palustris v. procumbens. Obernigk: Jäkel (Schwarz)! Trollius euwropaeus. Ratibor: Rudnik (Wunschik)! —+ Helleborus viridis. Neumittelwalde: Wegrand bei Klenowe (Kiese) ! Isopyrum thalictroides. Strehlen: Lorenzberger Wald (Schalow)!; Silber- berg: Jägerwiese (Buchs)!; Ottmachau: zwischen Matzwitz und Johnsdorf (Schalow)! Actaea spicata. Obernigk: Schimmelwitz (Schwarz)! Der Standort am Goldberg ist leider völlig vernichtet. Aquilegia vulgaris. Schönau: Hopfenberg bei Hohenliebental!; Wartha: gegenüber Morischau (Schalow)., Ranunculus Ficaria f. incumbens. Obernigk: Karoschke (Schwarz). R. cassubieus. Camenz: Pilzwald (Buchs)! R. nemorosus. Muskau: Kl. Särchen (Lauche)! R. polyanthemos. Muskau: mehrfach (Lauche), Thalictrum aquilegifolium. Rybnik: zwischen Skronkowitz und Spendel-. mühle (Schmattorsch)! 32 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Th. minus. Obernigk: Schimmelwitz (Schwarz)!; Breslau: Schweden- schanze bei Wangern! Corydalis intermedia. Neumittelwalde: Klenowe (Kiese)! Cardamine hirsuta. Ottmachau: ÖOberwald (Buchs)! Dentaria bulbifera. Reinerz: Vorder-Kohlau (Schröder)! Arabis Gerardi. Neumarkt: zwischen Kniegnitz und dem Odervorwerk {Schalow)!, zw. Warsine und Leonhardwitz (ders.). 4. hirsuta. Rybnik: vor dem Gatschwalde (Schmidt)! A.arenosa. Rybnik: Hammerteich (Czmok)!, Gottartowitzer Hüttenteich (Schmattorsch)! (+?) A. Halleri. Muskau: im Parke (Lauche). —- Hesperis matronalis. Frankenstein: Pilzwald; Ottmachau: Schloß- park (Buchs)! —- Sisymbrium Sinapistrum. Obernigk: an der Bahn (Schwarz)!; Bres- lau: um Mochbern mehrfach (Schalow), Carlowitz (Spribille)!; Hindenburg: Zaborze (Czmok)! — 5. Loeseli. Grünberg: Blümelfeld (Schmidt)! —+ Erucastrum Pollichi. Hindenburg: Zaborze (Czmok)! —+- Diplotaxis muralis. Glogau: gegen Brieg (Schwarz); Hindenburg: auf Erzhalden, auch bei Zaborze (Czmok)! Lunaria rediviva. Wartha: an der Heerstraße von Giersdorf nach Gabersdorf massenhaft (Buchs, auch Schalow)! + L. annua. Frankenstein: Schloßruine (Buchs)! Thlaspi alpestre. Silberberg: ‚Schöne Aussicht“ bei Herzogswalde (Buchs)! —+ Lepidium Draba. Breslau: an den Kanalbauten bei Margareth (Schalow)! —+ Reseda lutea. Namslau: Giesdorf, Buchelsdorf (Burda)!; Breslau: zwischen Gr. Sürding und Bogenau!, Kanalböschungen bei Margareth (Schalow)! Sempervivum soboliferum. Silberberg: Hohenstein (Buchs); Wartha: an Felsen in Hemmersdorf (Schalow). Saxıfraga tridactylites. Silberberg: Raschsrund (Buchs). Ribes Grossularia. Strehlen: Louisdorfer Wald (Schalow)! — R.aureum. Strehlen: zwischen Schönbrunn u. Käscherei (Schalow)! R. nigrum. Strehlen: Prieborn (Schalow)! —- Spiraea salicifolia. Rybnik: Ufergebüsche bei Paruschowitz (Czmok)! — S.chamaedryfolia L. Strehlen: alte Sandgruben bei Louisdorf (Schalow)! Ulmaria Filipendula. Bolkenhain: mehrfach!, z. B. beim Feldschlößchen und um Baumgarten (Zimmermann). Rubus saxatilis. Muskau: im Parke (Lauche). II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 38 R.*) suberectus. Rybnik: Papierokteich bei Boguschowitz (Sm.). R. nitidus. Carlsruhe: an der Heerstraße gegen Sabinietz. R. ihyrsordeus ssp. thyrsanthus. Carlsruhe: gegen Christianshof; Gr. Strehlitz: im Jarischauer Walde mehrfach; südlich der Heerstraße nach Nogowschütz auch ssp. incisiserratus. R. bracteolentus Kinscher. Glatz: Herrnsdorf (K.). R. lepidus Müll. v. bifrontiformis Kinscher. Ratibor: Haatsch (K.). R. Wimmerianus. Tost: Boguschützer Wald, in Ellgut-Tost; Gr, Strehlitz: Balzarowitzer und Jarischauer Wald. R. villicaulis, mit eingeschnitten gesägten Blättchen. Carlsruhe: im Orte; Gr. Strehlitz: in Balzarowitz. R. Wimmeri Weihe. Breslau: Carlowitz; Carlsruhe: gegen Christians- hof und Sabinietz, sowie am Bahnhofe. R,rhombifolius v. pyramidiformis. Carlsruhe: am Bahnhof; Gr. Strehlitz: Balzarowitzer und Jarischauer Wald; Tost: Boguschützer Wald; auch Rybnik: Chwallowitzer Dembine (Sm.); sbsp. senticaulis Kinscher. Glatz: Mühldorf, Steinwitz (K.). R. gliviciensis. Sohrau: an der Heerstraße nach Riegersdorf, gleich hinter der Bahnstrecke, und im Klischezower Walde. R. oboranus. Tost: Boguschützer Wald; Gr. Strehlitz: Balzarowitzer und Jarischauer Wald (hier mehrfach). R, siemianicensis. Carlsruhe: am Bahnhof und im Walde gegen Sa- binietz ; Gr. Strehlitz: Jarischauer und Balzarowitzer Wald; Gleiwitz: zwischen Tatischau und Klüschau, Boitschower und Rachowitzer Wald. R. Sprengeli. Gleiwitz: Boitschower und Rachowitzer Wald. R. radula. Gr. Strehlitz: Balzarowitzer Wald mehrfach; Tost: Bogu- schützer Wald. R. capricollensis. Frankenstein: Kl. Belmsdorf (K.). R. posnaniensis. Tost: Boguschützer Wald. R. apricus. Gr. Strehlitz: Jarischauer und Balzarowitzer Wald. R. Schleicheri. Wie vor., auch Tost: zwischen Ellgut-Tost und Niekarm; ssp. chloroxylon v. piligerminatus Kinscher bei Kreuzburg: Wrzosse (K.). R. longicuspis Müll. v. inaequidens Kinscher. Münsterberg: Höllen- busch (K.). R. fulvus Sudre v. pinetivivus Kinscher. Wie vor. 1) Die Zusammenstellung der Brombeeren hat wieder in dankenswerter Weise Herr Prof. Spribille ausgeführt, die ohne Findernamen gelassenen Standorte sind von ihm beobachtet; außerdem liegt eine kleine Anzahl Beobachtungen von Herrn Schmattorsch (Sm.) und von Herrn Dr. Kinscher (K.) vor; Herr Prof. Spribille hat die ihm von diesem gesandten Belegstücke dem Herb. siles. über- lassen. 1916. wo 34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. R. Bellardü. Carlsruhe: am Bahnhofe; Gr. Strehlitz: Balzarowitzer und Jarischauer Wald; Tost: Boguschützer Wald sowie zwischen Ellgut- Tost und Niekarm; auch Rybnik: Jankowitz (Sm.). R. rivularıs v. alsogenes Kinscher. Münsterberg: Kl. Schlause (K.); v. vallivivus eiusd. Wartha: Mühlgrund bei Giersdorf (K.); v. flesci- setus Sudre. Glatz: Herrnsdorf (K.). R.lusatieus v.amphitriehrs Kinscher. Münsterberg: Kl. Schlause (K.). R. viridis v. swbincultus Kinscher. Reichenbach: Tannenberg (K.) R. spinosulus Sudre v. mollifoliatus Kinscher. Frankenstein: Harte- berg (K.). R. aculeolatus Müll. v. Iylohodogeton Kinscher. Münsterberg: Höllenbusch (K.). R. serpens. Ratibor: Obora; Rybnik: Weg von Romanshof durch den Popelauer Schwarzwald (Sm.). R. leptadenes Sudre v. pallens. Gr. Strehlitz: Balzarowitzer und Jari- schauer Wald; Tost-Gleiwitz: Boguschützer und Rachowitzer Wald. R. obrosus Müll. v. puberulicandlis Kinscher. Moschwitzer Buchen- wald (K.); v. altisepalus Kinscher Münsterberg: Höllenbusch (K.). R. häirtus. Rybnik: Chwallowitzer Dembine (Sm.). R. nigricatus v. fallaciosus. Gr. Strehlitz: Balzarowitzer Wald; Tost: Boguschützer Wald sowie zwischen Ellgut-Tost und Niekarm. R. tenwidentatus v. melanochlamys. Gleiwitz: Stadtwald. R. Bayeri. Rybnik: Chwallowitzer Dembine, alter Weg nach Rauden (Sm.). R.Güntheri v. majorifolius Kinscher. Münsterberg: Höllenbusch (K.). R. anoplocladus v. pluridigitatus Kinscher. Glatz: oberhalb der Nesselgrunder Mühle (K.); v. varticolor Kinscher ebenda (K.). R. dollnensis. Gr. Strehlitz: Jarischauer und Balzarowitzer Wald. R. polycarpiformis. Gr. Strehlitz: Balzarowitzer Wald. R. oreogeton v. montivivus Kinscher. Reichenbach: Seherrsgrund (K.). R. centiformis. Sohrau: zwischen Klischezow und Riegersdorf. R. ciliatus. Carlsruhe; Gleiwitz: gegen Kieferstädtel. R. Balfourianus X caesius (= ciliolentus Kinscher). Franken- stein: Schönwalde (K.). R. bifrons X purpuratus (= orthoplodes Kinscher). Ratibor: P.-Krawarn (K.). R. eaesius X constrictus (= hariacus Kinscher). Frankenstein: Staudemühle (K.). R. caesius X foliolatus (= lugiacus Kinscher). Kreuzburg: zwischen Dochhammer und Bankau (K.). R. caesius > idaeus. Breslau: Hatzfeldtweg. II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 35 R. posnaniensis << roseolus (= amygdalothyrsus Kinscher). Glatz: Herrnsdorf (K.). R. rhombifolius X viridis (= pygmaeiformis Kinscher). Silber- berg: Spitzberg (K.). R. roseolus X salisburgensis (= saltivivus Kinscher). Glatz: Herrnsdorf (K.). R. salisburgensis << tabanimontanus (= stenostachyodes Kinscher). Wie vor. a Fragaria vesca f. polyphylla. Wartha: zwischen dem Paßkreuz und Gierichswalde! Potentilla norvegica. Wartha: wie vor. P. recta. Weißwasser: Eisenbahndamm am Braunsteich (Lauche); Bolkoburg (Zimmermann); Namslau: Marienhof bei Butschkau (Burda)! P. canescens. Camenz: Kol. Baitzen (Buchs)! P. verna. Muskau: mehrfach (Lauche). P. opaca. Priebus (Lauche). P. Anserina f. sericea. Obernigsk: am Bache gegen Schimmelwitz (Schwarz)! P. fragariastrum. Ottmachau: Matzwitzer Wald gegen Johnsdorf (Schalow)! Neu für Oberschlesien. P. erecta X procumbens. Obernigk: Schimmelwitz, Muritsch (Schwarz)!; Rybnik: Seibersdorf (Schmattorsch)! P. procumbens X reptans. Rybnik: Orzupowitz (Schmattorsch)! Rosa canina f. desmata. Sprottau: Gr. Eulau (Schmattorsch)! R. glauca. Sprottau: vor Kortnitz (Schmattorsch)!; um Camenz vielfach (Schalow). R. dumetorum f. eriostyla. Ratibor: Oborarand bei Lukasine; v. pu- bescens Sprottau: Küpper (Schmattorsch)! R. corüfolia. Camenz: mehrfach; Wartha: Giersdorf; Patschkau: Kosel; ÖOttmachau: Matzwitz, Nitterwitz u. a. (Schalow). R. agrestis. Wartha: um Nd. Eichau mehrfach (Buchs)! R. rubiginosa. Breslau; vor Kottwitz, Tschirne; — Strehlen: Sand- gruben bei Louisdorf und Ruppersdorf (Schalow); Silberberg: Hohenstein (Buchs)!; Wartha: zwischen Hemmersdorf und Gierichswalde; Grottkau: zwischen Gläsendorf und P. Tschammendorf; Ottmachau: Matzwitz (Schalow). R. livescens. Breslau: vor Kottwitz; Neumarkt: Warsine (Schalow). R. tomentosa. Militsch: Postel, gegen die Johannahöhe (Schalow). R. omissa. Silberberg; zwischen Herzogswalde und Wiltsch (Buchs t. Schalow). R. pomifera.. Camenz: bei Rogau, wohl ursprünglich; Strehlen: zwischen Mückendorf und Friedersdorf (Schalow); (+?) Rybnik: vor der Försterei Gsell (Schmattorsch)! 3*r 36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. R. gallica. Neumarkt: zwischen Kniegnitz und dem Odervorwerk, Warsine (Schalow). —- Ulex europaeus. Zobten: Kl. Silsterwitz (Buchs); Wartha: westlich von Giersdorf (ders.)! Cytisus nigricans. Haynau: Alzenau (Zimmermann)! C. capitatus. Camenz: Plottnitzer Forst (Schalow) ! C. ratisbonensis. Carlsmarkt: Althammer und gegen Neu-Cöln!; Nams- lau: Bahndamm bei Noldau (Burda)!; Breslau: Meleschwitz (Schalow)! Medicago minima f. mollissima. Grünberg: Schützenhaus (Schmidt)! Melilotus altissimus. Wartha: oberhalb Johnsbach! + Amorpha fruticosa L. Breslau: auf einer Wiese hinter Kleinburg (Schalow)! Astragalus arenarius. Ohlau: Daupe (Schalow); Breslau: Meleschwitz mit f. glabrescens (ders.)! Ornithopus perpusillus. Muskau: häufig (Lauche); Grünberg: Marsch- feld (Schmidt)! Orobrychis vicüfolia. Camenz: Südrand des Plottnitzer Forstes, wohl ursprünglich (Schalow)! Vieia lathyroides. Muskau: häufig (Lauche); f. angustifolia Ottmachau: Schloßpark (Buchs)! V. silvatica. Grotikau: Oberwald bei Tscheschdorf (Schalow)! V. pisiformis. Wartha: oberhalb Johnsbach! (Buchs). V. dumetorum. Silberberg: Nullweg bei der Haltestelle Festung (Buchs)!; Ottmachau: Matzwitz (Schalow)! Lathyrus Nissolia. Stroppen: Gr. Peterwitz, zahlreich am Rande einer Schonung! (Auras). L. tuberosus. Stroppen: Gr. Peterwitz! (Auras); Frankenstein: Bahn- damm beim Kommunalfriedhof (Buchs)!; Ratibor: Rand der Obora bei Luka- sine (Schmattorsch)! — L. hirsutus. Breslau: Feldrand bei Kleinburg (Grüning)! Geranium phaeum. Ottmachau: zwischen Matzwitz u.Johnsdorf(Schalow)! G. palustre, weißblühend. Schönau: Seitendorf (Zimmermann)! + @. pyrenaicum. Weißwasser: beim Waldhause (Lauche); Sprottau: bei der Kaserne (Schmattorsch)!; Strehlen: Schönbrunn (Schalow)! G. molle. Sprottau: Promenaden und am Wege nach Primkenau! (Schmattorsch); Oels: Gr. Graben! (Schröder); Breslau: Oderdamm bei Kottwitz (Schalow)!; Frankenstein: an einer Scheune; Camenz: gegen Baitzen; Silberberg: Bölımischwald (Buchs)!; Glatz: Königshain; Wartha: um Gierichswalde mehrfach! (ders.). G. dissectum. Muskau: sehr vereinzelt (Lauche). @G. columbinum. Sprottau: vor Dittersdorf (Schmattorsch)! Mercurialis perennis. Namslau: Charlottenau! II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 37 Oxalis Acetosella, mit tief purpurnen Blüten. Muskau: in der Wussina an einer Stelle ausschließlich (Lauche); desgl. Obernigk: in den Sitten (Schwarz). Euphorbia stricta. Neumarkt: Warsine (Schalow)! Eu.duleis. Muskau: Alt-Köbeln (Lauche)!; Camenz: Schloßpark (Buchs)!, Plottnitz (Schalow)! Eu. palustris. Dyhernfurt: gegen Bschanz; Auras: mehrfach (Schalow); Ohlau: am Weinberg (ders.)! Eu. lucida. Bei Dyhernfurt und Auras mehrfach (Schalow). Eu. Esula f. pinifolia. Obernigk: Gebüsch am Bahnhofe (Schwarz)! —+ Evonymus latifolius. Ottmachau: an einem toten Neißearm ober- halb des Sarlowitzer Steiges (Buchs)! Acer campestre. Camenz: Pilzwald (Buchs)!; Ottmachau: sehr spärlich im Matzwitzer Walde (Schalow)! Impatiens parviflora. Goldberg: Bürgerberg (Zimmermann)!; Dyhern- furt: im Park! (Schalow). Malva Alcea f. excisa. Rybnik: am Raudener Wege vor Försterei Gsell (Schmattorsch)! — M.moschata. Silberberg: Luzernefeld im Mannsgrunde; Ottmachau: gegen Friedrichseck (Buchs)! Hypericum montanum. Strehlen: Louisdorf (Schalow), Schönbrunn; Grottkau: Bischofswald zwischen Gläsendorf und P.-Tschammendorf, Ober- wald bei Tscheschdorf (ders.)! H. hirsutum. Camenz: Pilzwald; Silberberg: Spitzberg, Exzellenzplan (Buchs)!; Grottkau: Oberwald bei Tscheschdorf; Ottmachau: Matzwitz (Schalow)! Elatine hexandra. Muskau: Großteich bei Zibelle (Lauche)!; Rybnik: vor Boguschowitz (Schmattorsch)! Viola odorata. Sehr zahlreich weißblühend im Rohrbusch bei Grün- berg (Schmidt)! V. arenaria. Muskau: Köbeln (Lauche). V. palustris. Breslau: Marienkranster Wald; Strehlen: beim Forst- hause Spähne sowie zwischen Schönbrunn und Ober Rosen (Schalow)! Daphne Mezereum. Frankenstein: Seitendorf; Camenz: Schloßpark (Buchs). i Epilobium Lamyi. Ottmachau: Oberwald (Buchs)! Trapa natans. Steinau a. O.: gegen Ibsdorf (Schmidt)! Cicuta virosa. Strehlen: Louisdorf (Schalow). Pimpinella Saxifraga f. dissecta. Sprottau: gegen Küpper (Schmattorsch)! Conium maculatum. Strehlen: beim Prieborner Marmorbruch (Schalow)!; Silberberg: massenhaft auf dem Nicklasdorfer Buchberge (Buchs)! 38 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Anthriscus nitidus. Königshainer Kammweg am Glatzenberge (Buchs)! — Archangelica officinalis. Glatz: zahlreich am Königshainer Dorf- bach; Wartha: Johnsbach! (Buchs); Ottmachau: Toter Neißearm ober- halb des Sarlowitzer Steiges (ders.)! Peucedanum Oreoselinum. Grottkau: im südlichen Teile des Kreises verbreitet (Schalow). Heracleum Sphondylium v. sibiricum. Sprottau: Boberwiese gegen Küpper (Schmattorsch)! Laserpicium prutenicum. Primkenau: zwischen Reuthau und Walters- dorf (Klopfer)!; Grottkau: Gläsendorf (Schalow)!; f. glabrum Obernigk (Schwarz)! — Cornus stolonifera. Neumarkt: Brandschütz (Schalow)! Pirola chlorantha. Reichtal: gegen Butschkau (Schalow). Monotropa Hypopitys. Breslau: Meleschwitz (Schalow)! Vaccinium Vitis idaea. Strehlen: Töppendorfer Berg, gegen Kat- schelken, spärlich (Schalow)! Trientalis europaea. Strehlen: Krystallberg bei Schönbrunn (Schalow). Anagallis arvensis f. decipiens. Breslau: Rosental! (von Haugwitz). — Ligustrum vulgare. Ohlau: am Schmiedeberge bei Zedlitz (Schalow)! Gentiana campestris. Schönau: um Hohenliebental mehrfach! Vinca minor. Zobten: an einem Steige zwischen dem Tampadeler Hauptweg und dem Großen Riesner! Vincetoxicum officinale.. Camenz: im Schloßparke (Buchs)! Cuscuta Epilinım. Muskau: häufig (Lauche). Cynoglossum officinale. Saabor: gegen Hammer (Schmidt)!; Stroppen: um Gr. Peterwitz mehrfach! (Auras). Asperugo procumbens. Steinau: Dominium Kreischau (Pfeiffer)! —- Borrago officinalis. Steinau: Weidengebüsch am Anger (Schmidt)!; Frankenstein: am Eisenbahnfußsteige (Buchs)! Anchusa officinalis. Bolkenhain: Richardhöbe (Zimmermann). Pulmonaria officinalis, weißblühend. Silberberg: Herzogswalde und oberhalb Nicklasdorf (Buchs)! Myosotis caespilosa. Muskau: häufig, z. T. in Riesenexemplaren! (Lauche). —- Dracocephalum Moldavica. Breslau: Gebüsch an der großen Sand- grube südwestlich von Klettendorf (Grüning)! —+ Physostegia virginica (L.) Bentham. Habelschwerdt: Weiden- gebüsche an der Neiße (Pietsch)! Brunella grandiflora. Glogau: vor Quilitz mehrfach! Melittis Melissophyllum. Bolkenhain: zwischen Ndr. Baumgarten und Kauder (Zimmermann)!; Frankenstein: Kobelauer Busch (Buchs)! II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 39 Galeopsis angustifolia. Silberberg: auch am Spitzberge (Buchs)! Stachys arvensis. Frankenstein: auf einer Baumschule an der Heerstraße zu den Gläsendorfer Nickelwerken (Buchs)! + Salvia silvestris. Frankenstein: am Kleinbahnhofe (Buchs)! -—- 8. verticillata. Niesky: Rietschen (Lauche); Grünberg: in einem Nebengäßchen des Mühlweges (Schmidt)!; Hirschberg: gegen Hartau (Kruber), hier vielleicht urwüchsig; Frankenstein: mehrfach auf dem Kleinbahnhofgelände (Buchs)! Origanum vulgare. Schönau: Hopfenberg bei Hohenliebental! Mentha longifolia. Camenz: Plottnitzer Forst (Schalow)! Atropa Belladonna. Landeck: unter dem Kunzendorfer Jagdschlößchen! Verbascum Thapsus. Um Frankenstein und Silberberg verbreitet (Buchs). V. nigrum >< phlomoides. Obernigk: Kl. Wilkawe (Schwarz)! Linaria Elatine. Muskau: Braunsdorf (Lauche)! Scrofularia alata. Ohlau: zwischen Eulendorf und Haltauf!; Öttmachau: zwischen Matzwitz und Johnsdorf (Schalow). Gratiola officinalis. Beuthen a. O.: gegen Carolath (Schmidt)!; Auras: am gegenüberliegenden Oderufer; Neumarkt: Warsine; Breslau: Melesch- witz (Schalow)! Veronica montana. Schreiberhau: unterhalb des Kochelfalles (Grüning); Camenz: Pilzwald; Neurode: östlich vom Forsthause Volpersdorf (Buchs)! V. verna. Silberberg: kisher nur am Hohenstein (Buchs)!; v. Dilleni Ohlau: zwischen Kottwitz und Sackerau (Schalow)! Melampyrum eristatum. Neumarkt: zwischen Kniegnitz und dem Finke- berg (Schalow)!, zwischen Warsine und Leonhardwitz (ders.). Euphrasia curta. Strehlen: Westseite des Rummelsberges gegen Pogarth; Wartha: zwischen Gierichswalde und Hemmersdorf (Schalow)! Alectorolophus minor f. fallax. Rybnik: Hammerteich (Schmattorsch)! Pinguicula. vulgaris. Hoyerswerda: Lugteich (Lauche). Utricularia minor. Rybnik: Boguschowitzer Teiche (Schmattorsch)! Orobanche pallidiflora, Habelschwerdt: in einer Schlucht bei Seiten- dorf (Pietsch)! Plantago arenaria. Ottmachau: zwischen den Bahngeleisen (Buchs)! —- Asperula orientalis. Breslau: beim Feuerwehrhaus auf der Danziger Straße (Sommerlad)!; auch schon früher bei Beuthen (1902, Tischbierek)! Galium Orueiata. Camenz: Pilzwald (Buchs)! G. vernum. Strehlen: Krystallberg bei Schönbrunn (Schalow)! @. rotundifolium. Muskau: in der Gatka bei Gr. Särchen (Lauche). @G. saxatil. Muskau: im Parke; Weißwasser: in der Heide (Lauche). G. silvaticum. Camenz: Plottnitzer Forst; Wartha: gegenüber Morischau (Schalow)! 40 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. @. Schultesi. Reichtal: vor Butschkau (Schalow)! Sambucus Ebulus. Silberberg: Spitzberg (Buchs)! S. racemosa. Breslau: Marienkranster Wald! (Schalow); Camenz: Plott- nitzer Wald (ders.), Pilzwald (Buchs)! — Lonicera Caprifolium. Strehlen: Weachtelhau bei Louisdorf, völlig eingebürgert (Schalow)! L. Periclymenum. Strehlen: Lorenzberger Wald (Schalow). L. Xylosteum. Ottmachau: Ogen (Schalow), Matzwitz (ders.)! Valeriana sambucifolia f. angustifolia.- Rybnik: zwischen Spendelmühle und Skronkowitz (Schmattorsch)! Scabiosa canescens. Breslau: Schwedenschanze bei Wangern! Campanula Cervicaria. Wartha: Giersdorfer Berge (Schalow). C. Rapunculus scheint sich bei Proskau auszubreiten: auch am Fuß- wege von der Pomologie zur Stadt (Schröder)! Filago apiculata. Militsch: an der Altenauer Heerstraße (Schalow)!; Strehlen: z. B. Ruppersdorf (Kruber)!, Lorenzberg, Jäschkittel (Schalow)! Helichrysum arenarium. Grottkau: Gläsendorf, Seiffersdorf (Schalow)! —- Inula Helenium. Namslau: Straßengraben in Wallendorf (Burda). ]. vulgaris. Silberberg: Nullweg bei der Haltestelle Festung (Buclıs)!; Wartha: gegenüber Morischau (Schalow)! Xanthium strumarium. Steinau: Oderhafen (Schmidt)!; Hindenburg: Zaborze (Czmok)! —- Rudbeckia hirta. Oels: Bahndamm bei der Winkelmühle nächst Gr. Graben (Schröder)!; Reichtal: desgl. bei Butschkau (Burda)! Anthemis tinctoria. Namslau: Giesdorf (Burda)!; Wartha: Hemmers- dorf (Schalow)!; Gleiwitz: Soßnitza (Czmok)! Achilles Ptarmica. Ottmachau: Oberwald! (Buchs). — COhrysanthemum segetum. Frankenstein: Heinersdorf (Buchs)!; Strehlen: Jäschkittel (Schalow)! Petasites albus. Rybnik: vor Spendelmühle (Schmattorsch)! — Erechthites hieracifolius. Cosel: Pirchwitz (H. Malende). Senecio vernalis. Ohlau; zwischen Märzdorf und Zedlitz; Strehlen: Prieborner Marmorbruch (Schalow)!; Gleiwitz (vgl. Bericht für 1914): an den Uferdämmen der regulierten Klodnitz mehrfach (Czmok)! S. Fuchsi. Wohlau: zwischen den Schießständen und Mondschütz! S. crispatus. Reichtal: Dallenau (Burda)!; Namslau: Charlottenau! — Echinops sphaerocephalus. Reichtal: Straßengraben in Polkwitz (Burda)!; Breslau: Ackerrand bei Rosental! Carlina vulgaris f. intermedia und f. multicapitulata. Silberberg: bei der Haltestelle Festung (Buchs)!; erstere auch Wartha: gegen Giersdorf (Grüning)! II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 41 Carduus nutans f. microcephalus. Grünberg: bei der Brikettfabrik (Schmidt)! ©. Personata. Wartha: Neißeufer gegenüber Morischau (Schalow)! Cirsium lanceolatum v. silvaticum. Obernigk: Gebüsch bei der Ziegelei (Schwarz)!; Strehlen: am Wege von Crummendorf zum Rummelsberge (Schalow)! ©. acaule f. caulescens. Grünberg: vor Lawaldau (Schmidt)! C. canum. Steinau: Bielwiese (Schmidt)! C. arvense f. incanum. Weißwasser: beim Waldhause (Lauche)! — Centaurea solstitialis. Lissa: gegen Saara (Grüning)! —- Pieris echioides. Wie vor. Hypochoeris glabra. Strehlen: Dobrischau (Schalow)!, Jäschkittel (ders.). H. maculata. Ottmachau: Matzwitz (Schalow)! Scorzonera humilis. Grünberg: gegen Lawaldau (Schmidt) ! Ohondrilla juncea. Ottmachau: Seiffersdorf (Schalow)! Taraxacum paludosum. Rybnik: vor Seibersdorf; f. erectum und v. Scorzonera Rybnik: an der Nacinna (Schalow)! Orepis biennis f. lodomiriensis. Ratibor: Lukasine (Schmattorsch)!; f. integrifolia Obernigk: bei Sorge und Sponsberg (Schwarz)! Hieracium Pilosella f. niveum. Obernigk: Heidewilxen (Schwarz)! H. umbellatum f. aliflorum. Obernigk: Karoschke (Schwarz)! H. laevigatum. Sprottau: vor Kortnitz, mit f. phyllopodum, denticulatum und coronopifolium (Schmattorsch)! H. Pilosella X pratense. Gleiwitz: bei der Hütte (Czmok)! Herr Dr. Th. Schube besprach sodann die Ergebnisse der phaenologischen Beobachtungen im Jahre 1916. Fast aus sämtlichen Stationen sind wieder Berichte eingegangen, nämlich von den Herren Höhn-Hoyerswerda, Rakete-Rotwasser, Liersch- Haynau, Rühle- Wigandstal, Kruber - Hirschberg, Pfeiffer - Steinau, Nitschke-Rawitsch, Hölscher-Breslau (Kgl. Bot. Garten), Kiekheben- Breslau (Städt. Bot. Schulgarten), Rösner-Bad Langenau, Elsner-Forst- haus Reinerz, Heimann-D. Krawarn, Kotschy-Belschnitz und Tisch- bierek-Beuthen. Im Dezember 1915 hatte zwar, gleichwie in den vorangegangenen Monaten, andauernd trübes und nasses Wetter geherrscht, doch war die Temperatur gegenüber dem Durchschnitte ziemlich hoch geblieben; so kam es, daß vereinzelt Veilchen und Gartenprimeln um die Weihnachtzeit im Freien blühten und ich das Stäuben der Hasel nicht nur auf den Bres- lauer Promenaden in den ersten Januartagen, sondern z. B. auch noch 42 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl Cultur. wenig unter dem Zobtengipfel am 23. Januar wahrnehmen konnte. Daher fiel die Frühlingshauptphase, obgleich März und Aprıl im allgemeinen kühl verliefen und noch nach dem Palmsonntag (16. IV.) reichlich Schneefälle sich einsiellten, fast überall merklich zu zeitig, durchschnittlich um etwa 10 Tage. Der Mai brachte recht warmes Wetter, das auch die „‚Eisheiligen“ nur mit geringem Schaden störten; der Juni und der größere Teil des Julis waren überwiegend regnerisch, erst gegen den Schluß des Monats stellte sich wieder schönes Wetter ein, das, nur in der 2. Augusthälfte ven Gewitiergüssen und einzelnen kurzen Regenperioden unterbrochen, bis gegen Ende des Septembers vorhieli. Hier gab es wieder einmal stärkeren Regen und im Gebirge kräftigen Schneefall, doch wurde es bald wieder schöner und wärmer. Das Einsetzen von Schnee und starkem Frost in der Mitte des Novembers hielt nicht lange vor, so daß bis in den Dezember hinein Feldbestellung vorgenommen werden konnie. Der Wiesenwuchs war infolgedessen ın diesem Jahr, im Gegensatze zum vorigen, sehr begünstigt, so daß an vielen Orten dreimaliger Schnitt erfolgen konnte, auch die Geireideernte fiel recht gui aus, während freilich die Kartoffeln, zumal auf schwerem Boden, nur bescheidene Erträge lieferten und stellenweise zänzlich mißrieten. Herr Th. Schube gab ferner Nachträge zum Waldbuch von Schlesien. Während im vorigen Jahre die Ausflugtätigkeit durch die ungünstige Witterung sehr eingeschränkt war — in der Zeit von Anfang Sept. 1915 bis zum 23. Jan. 1916 konnte ich nur eine einzige Fahrt ausführen, und selbst auf dieser reznete ich ein! —, gestalteten sich diesmal die Verhält- nisse wesentlich besser; nach Ausweis meines Tagebuches habe ich bis zum Beginn des Dezembers reichlich 300 km auf Fußwanderungen und gegen 2300 km auf größeren Radfahrten zurückgelegt. Die zufolge der Kriegs- umstände eigentümliche Verteilung meiner Amistätigkeit ermöglichte es mir im Spätsommer und Herbst, mehrere ziemlich ausgedehnte Sireifzüge zu unternehmen (vom Mittage des Sonnabends bis zu dem des Montags), die sich vorwiegend auf Niederschlesien erstreckten. Die Unannehmlich- keiten, denen ich dabeı infolge der üblen Wirtschaftslage ausgesetzt war, wurden vielfach durch gastliches Entgegenkommen älterer und neuer Freunde meiner Bestrebungen wesentlich gemindert; ihnen allen sei auch bier der herzlichste Dank dafür ausgesprochen! S. 10. Krieblowitz. An der Straße nach Landau, südlich von der Stelle, wo der vom Parke kommende Weg in sie einmündet, eine *Silber- weide von 4,20 m Umfang; in dem Wäldechen am Kieferberg mehrere Kiefernüberhälter, bis zu 2,30 m Umfang. II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 43 S. 10. Marienkranst. An der Linie C (früher B), am Nordrande des Jag. 80 (früher 77), ein *Gneißfindlingblock, der zwar vorläufig mit etwa 2 qm Oberfläche nur !/), m aus dem Erdreich herausragt, anscheinend aber einen recht beträchtlichen Inhalt besitzt. Herr Forstmeister Hühner, der sich ja auch sonst vielfach um die Naturdenkmäler der Forst Kottwitz verdient gemacht hat, will ihn, sobald ihm die nötigen Arbeiter zur Ver- fügung stehen, freischaufeln lassen. S. 15. Johnsbach. Auf dem Grundstück 41 ein ungewöhnlich schöner Holunderbaum mit fast 1 m Umfang. S. 18. Königshain. Auf dem Grundstück 103 eine etwa 80 jährige Eibe, desgl. auf der benachbarten Freirichterei. S. 34. Prausnitz. Unweit des Jahndenkmals eine schöne *Silber- weide von 3,15 m Umfang. S. 38. Schönjohnsdorf. Auf dem Schloßberg, gerade an dem Wesstern, eine herrliche *Buche von 2,80 m Umfang; eigentümlich ge- staltete Buchengruppen am Buchberg, unweit des Hauptgestelles. S.38. Charlottenau. In den jüngeren Beständen zahlreiche Über- hälter, besonders Kiefern, im Jag. 11, nahe der Nordostecke, eine Eiche von 5,15 m Umfang mit sehr starkem Wurzelanlauf; J. 4, besonders in der Nähe der Pogorsellewiesen, zahlreiche hohe *Eschen, bis fast 3 m Umfang. S.58. Lorzendorf. Bei der Kirche einige starke *Linden; die an- sehnlichste hat reichlich 5 m Umfang. S.39. Saabe. Die im Waldbuche genannte *Buche zeigt noch kräf- tiges Wachstum; ihr Umfang beträgt jetzt 3,66 m (gegenüber 3,43 im Jahre 1902). S. 45. Pangel. Von der Stelle, wo die Straße nach P. von der Heerstraße nach Woislowitz abgeht, zieht sich ein Fußweg neben dem Bach aufwärts hin, der bald in einen Waldstreifen mit schönen Eichen und Fichten eintritt; seine linke Abzweigung vor der 1. größeren Schlucht führt zu einer etwas freier stehenden schönen *Buche von 2,60 m Umfang. S.45. Prauß. Unweit der sonderbaren Roßkastanie eine *Schlangen- fichte mit ungewöhnlich zahlreichen Ästen. S. 49. Habendorf. Die im Jahresberichte für 1911 angegebene *Kiefer, die einen ungemein starken Asi quer über den Weg streckt, steht am „Steindamm“, der von der Heerstraße beim Straßenstein 6,0 abgeht; aus dem Schloßgarten sind eine sehr schöne Robinie von 3,70 m und eine Silberpappel von 4,50 m Umfang zu nennen. S.49. Karlswalde. Die 1911 angegebene *Grenzkiefer steht östlich . vom Stein 3,4 der neuen Heerstraße, 44 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. S.54. Schweidnitz. Unweit der Weistritzbrücke der Reichenbacher Heerstraße eine prächtige *Pappel von reichlich 5 m Umfang. S.56. Nährschütz. Dort, wo der zwischen den Heerstraßensteinen 9,5 u. 9,6 ostwärts abgehende Holzweg die alte Straße von Zechelwitz nach Köben trifft, steht ein stattlicher *Kiefernüberhälter von 2,25 m Umfang. S.57. Weißig. Am Nordrande des Waldes nördlich von W., östlich der Heerstraße zwischen Queissen und Kammelwitz (nahe dem Steine 3,1), einige baumartige *Wacholder, bis zu 5 m H.; an der Nordostspitze dieses Waldes, auf freiem Feld, ein mächtiger *Kieferndrilling, anscheinend Grenz- baum. S.61. Neuhof. In dem Parkteile südlich von den Teichen mehrere schöne Eichen von 4—4!/, m Umfang; an dem Parkwege nach der Neu- mühle bei Ossig, nahe der Brücke über den Abflußgraben des Mühlgrabens zum Striegauer Wasser, eine Hängefichte mit einem kugeligen Hexenbesen (Durchmesser fast !/, m) auf der Mitte eines nordwärts gerichteten Astes. S. 64. Machnitz. Die im vorigen Berichte genannte *Grenzeiche hat einen Umfang von 5,75 m. S.66. Zedlitz. Außer der großen Übereberesche am Fußsteige nach Paschkerwitz ist eine kleinere, mit armdickem Stamme, auf einer der nörd- lichsten der Weiden, dicht am Wege, zu nennen, S.67. Kynau. Die „Ferdinandskiefer“ ist der Dürre des Jahres 1911 erlegen; ein etwa 1 m hoher Stumpf ist erhalten geblieben. S. 75. Leipnitz. Im Leipnitzer Grunde (zwischen L. und Kl. Ausker) mehrere schöne Eichen, die stattlichste (U. reichlich 5 m) nahe der Mühle. S. 73. Pathendorf. Die *Hexeneiche, bei meinem diesjährigen Besuche endlich einmal freigestellt angetroffen, hat 4,90 m Umfang. Im Walde, J. 14, links von der Straß2 nach der Knotenmühle, ein Quarzitblock, von dem fast 2 cbm aus der Erde herausragen. S. 76. Alt-Röhrsdorf. Vor dem evang. Pfarrhofe 2 eigentümlich gewachsene *Linden, eine Art Torweg bildend; absichtliche Verbiegung scheint nicht vorzuliegen. S. 76. Börnchen. In der Nordostecke des Schloßparkes ein sehr alter *Maulbeerbaum; Umfang des gesprungenen, von Efeu überwucherten Stammes in Brusthöhe 5,40 m, der unverletzte Stamm muß fast 5 m Umfang gehabt haben, S. 76. Girlachsdorf. Auf dem Niederhofe, zwischen Scheunen und dem Stallgebäude, ein *Eichenzwiesel von 7,20 m Umfang; jeder Einzel- stamm hat in 2!/, m Höhe etwa 4 m Umfang. II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 45 8.76. Lauterbach. Vom Forsthause führt südwärts, am Krautberge vorbei, ein Weg an der Westseite des Dürren Berges entlang; von ihm zweigt sich ostwärts ein Steiglein ab, das etwa 30 m südlich von einer *Buche sich hinzieht, deren Standplatz genau nördlich von der Bergspitze, etwa 20 m tiefer als diese, ist: sie hat 3,70 m Umfang und eine präch- tige Krone. S.83. Gurkau. Folgt man von der *Torstensonlinde aus dem süd- wärts (nach Tauer) führenden Landwege, so hat man, etwa 200 m nördlich von dem fünffachen Wegstern — in der Höhe von Siglitz — zur Linken eine alte Sandgrube, an deren Nordrande, 20 m vom Weg entfernt, ein Spindelbaum von 1 m Umfang steht. S.85. Haasel. Dort, wo der vom Gutshofe südwärts führende Weg mit dem vom Teiche herkommenden zusammenstößt, steht die — auf dem Meßtischblatt angedeutete — *,,Läusefichte‘‘; der Name hängt höchstwahr- scheinlich mit ähnlichen Umständen zusammen, wie der des gleichnamigen Baumes bei Probsthain und ist kaum als aus ‚„Luisenfichte‘‘ verderbt auf- zufassen. Der Umfang des durch sein äußerst kräftiges Geäst ausgezeich- neten Baumes beträgt 3,25 m. S. 86. Konradsdorf. Die im Bericht für 1914 genannte Eiche steht unmittelbar an der Hauptstraße, an der Östgrenze des Kirchgrund- stücks; sie hat übrigens nur 4,95 m Umfang, S.86. Vorhaus. Die *,‚Zimmerfichte‘ steht nicht „dicht beim Dorfe“ (vgl. Bericht für 1910), sondern reichlich 1 km davon entfernt (beim Stein 26,5 der Lübener Heerstraße). Vor dem Schloß ein *Silberahorn von 4,95 m Umfang in Brusthöhe, darüber infolge reichlicher Maserbildung noch weit stärker. Dort auch einige sehr kräftige Erlen, während die- jenigen in dem parkartig umgewandelten ehemaligen Bruche nur mittlere Stärke zeigen. Im Parke auch stattliche Wacholder; ein baumartiger (von fast 7” m H.) südlich vom Westausgange des Dorfes gegen Samitz. S. 96. Kroppen. Unweit des Schlosses in einem 80jährigen Bestand ein *Kiefernüberhälter, der sich schon dicht über dem Boden in mehrere sehr starke Äste (Umfang der stärksten 141, 111 und 100 cm) teilt; Umfang des Stammes unter der 1. Verästelung 3,50 m. S. 97. Laasnig. Bei der Mühle der zugehörigen Kol. Konradsberg eine *Eiche von etwa 8 m Umfang (da der Baum hart am Mühlgraben steht, war genaue Messung vorläufig nicht ausführbar). S. 97. Leipe. Im Parke des Mittelhofes eine schöne *Fichte von 2,60 m Umfang, ferner eine Buche mit geschlitzten Blättern (f. heterophylla Loudon), an der ein Zweig alljährlich normale Blätter trägt, endlich ein von Efeu völlig überwucherter *Birnbaum. 46 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Ss. 98. Prausnitz. Die im Waldbuch angegebenen Bäume sind ge- schlagen; von der Tanne steht noch ein niedriger Stumpf. Dagegen sind zu beachten auf dem Gutshof in Nieder-Pr. eine *Pappel von 5,25 m und ein *Rotdornbaum von 2,15 m Umfang, wohl einer der stärksten, die es überhaupt gibt; der Wildlingteil des Stammes ist auffallend spannrückig. Erwähnung verdient auch die *,‚Friedenseiche‘‘ vor der Kirche in Öber-Pr. wegen ihres außerordentlich dichten und regelmäßigen Geästes, S. 106. Rotkirch. Bei der Scheune des Gutshofes eine Eiche von fast 5 m Umfang, an der Kirchhofmauer eine ebenso starke Linde. S. 111. Lerchenborn. Im Parke eine prachtvolle *Rüster von 30 m H. und 5,25 m Umfang. S. 118. Falkenhain. Die *Pappel (vgl. Bericht für 1913) steht an der Heerstraße im Dorfe, etwa 300 m unterhalb der Abzweigung der Straße nach Probsthain. Ss. 118. Hohenliebental. An der von der Schloßgärtnerei zum Hopfenberge führenden Straße eine Urle von reichlich 3 m und ihr gegen- über eine Eiche von 4 m Umfang; die Urle am Hopfenberge (Umfang 31/, m) steht an dessen Nordostseite unmittelbar über dem Beginne des dortigen Fußsteiges. Am Pfaffenberg, etwa !/, km nördlich von der Feldmühle, eine Lärche mit einem Hexenbesen von walzlicher Form mit Höhe und Durchmesser von je etwa 2 m. An der die Grenze gegen Nd. Kauffung bildenden Waldlinie eine *Fichte von 3,34 m Umfang. S. 118. Kammerswaldau. Aus dem Parke sind noch mehrere prächtige Umkleidungen durch Efeu, besonders an Linden, zu erwähnen. Ss. 121. Konradswaldau. Die im ‚„Waldbuch“ genannte *Buche hat jetzt einen Umfang von 3,60 m. Ss. 121. Neukirch. Der im Bericht für 1912 angegebene — grani- tische — *Findlingblock hat etwa °/, cbm Inhalt; er liegt nicht an ur- sprünglicher Stelle, ist vielmehr schon seit langer Zeit, seiner Auffälligkeit wegen, auf den Hauptplatz des Dorfes geschafft worden. — Am Wege nach P. Hundorf, nahe dem Bahnhofe, steht eine schöne, wohl als Naturdenkmal in Aussicht genommene Eiche von 31), m Umfang. S. 121. Ratschin. Beim Heerstraßenstein 42,2 eine herrliche *Buche von 4 m Umfang. Ss. 121. Girbigsdorf. Die *,‚Böhmerlinde‘ ist eine Winterlinde von nahezu 4 m Umfang. Ss. 121. Liebichau. An einem ungewöhnlich breiten Feldrain südlich von der Heerstraße, bei Stein 8,3, ein mächtiger Feldbirnbaum von reichlich 3 m Umfang. — Die *Butterfaßeiche ist leider so stark im Verfall, daß sie nicht mehr lange aushalten dürfte. II. Abteilung. Zoologisch-botanische Sektion. 47 S. 122, Schadendorf. Am Westausgange des Dorfes, südlich von der Heerstraße, eine Reihe schöner *Wacholderbäumchen, bis zu 0,70 m Umfang (in !/, mH.) und reichlich 6 m Höhe. S. 122. Sprottischdorf. Halbwegs vom Gutshofe gegen die Ziegelei, an der Südwestecke des vor dieser gelegenen Wäldchens eine *Eiche (,‚Blech- eiche‘‘ genannt wegen mehrerer Verkleidungen schadhafter Stellen) von 6,05 m Umfang. S. 122. Wichelsdorf. Im Schloßparke zwei eigentümliche Fichten: der Hauptbaum ist von mehreren kleineren, etwas schräg aufgestiegenen Stämmen in höchst auffälliger Weise derart umstellt, daß es den Eindruck macht, als seien diese als Wurzelbrut entstanden. S. 138. Carlsruhe. Ausgedehnter Park, der unmerklich in den Wald übergeht; in diesem schöne Schläge, besonders von Fichten: doch erreichen selbst die ansehnlichsten (beim Schießhaus und an der Westseite des Wil- helminenteiches) kaum 3 m Umfang. Zahlreich sind ebensostarke Weimuts- kiefern vorhanden. 4. 1 $p el) ae ur wagen ILLDITEE rate en sordtachle schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur. EXP 94. I. Abteilung. Jahresbericht. Naturwissenschaften. 1916. c. Sektion für Obst- und Gartenbau. &x HERE 2 Bericht über die Tätigkeit der Sektion für Obst- und Gartenbau im Jahre 1916. Erstattet von den Sekretären Felix Rosen und Jelto Hölscher. Die Tätigkeit der Sektion für Obst- und Gartenbau stand auch im Berichtsjahre unter dem Einfluß des gewaltigen Völkerringens, aber trotz der durch den Krieg vermehrten Inanspruchnahme jedes Einzelnen fanden die Mitglieder sich zu 3 Versammlungen, die durchschnittlich zahlreich besucht waren, zusammen. Der Gesamtvorstand tagte außerdem einmal zu einer Besprechung, die auschließlich einer geregelten Fort- führung unseres Klettendorfer Obstmustergartens galt. Leider stellten sich bei der Bewirtschaftung des Gartens große Schwierigekiten ein, da nach der Einberufung des ältesten Gärtners, der bislang den seit Beginn des Krieges im Felde stehenden Sektionsgärtner Frost vertrat, der umfangreiche Betrieb in die Hände ungeschulter Hilfskräfte gelegt werden mußte. Bemühten sich auch die Garten- kuratoren nach Kräften mit Rat und Tat dort einzuspringen, wo die dringende Not es erheischte, so mußte sich ihre Tätigkeit im wesentlichen naturgemäß auf eine Kontrolle des Verwaltungsapparats und der dringend erforderlichen Arbeiten beschränken. Wenn hiernach trotz aller Schwierigkeiten das Resultat der Einnahmen für Obst und Gemüse als ein relativ günstiges zu betrachten ist, so darf hierbei nicht außer Acht gelassen werden, daß viele Arbeiten, namentlich in den Anzuchts- quartieren, aus Mangel an geeigneten Kräften unausgeführt blieben, sodaß bei der seit Kriegsausbruch wesentlich gesteigerten Nachfrage nach guten Obstbäumen hier in den nächsten Jahren ein nicht so bald auszu- gleichender Mangel eintreten dürfte. Eine weitere Sorge betritft den Sehnitt der Formobstbäume, der nur von durchaus sachkundiger Hand ausgeführt werden kann, da ein hierbei begangener Fehler nie wieder gut zu machen ist! — Durch den Tod verlor die Sektion drei langjährig-bewährte Mit- glieder: den früheren Apothekenbesitzer Waldemar Beckmann, der mehrere Jahre in treu bewährter aufopfernder Weise den Posten eines Gartenkurators bekleidete, den Kunst- und Handelsgärtner Louis Franke und den Landesbauinspektor a. D. Sutter. Letzterer nahm 1916. 1 D) Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. ganz besonders in den achtziger Jahren ein reges Interesse an den Be- strebungen der Sektion und trug durch seine reichen Erfahrungen auf dem Gebiete des Obstbaues viel zur Förderung der heimatlichen Obst- kultur bei. Die Sektion wird den Verstorbenen ein ehrendes Andenken bewahren. Über die einzelnen Sitzungen ist folgendes zu berichten: In der ersten Sitzung, die am 7. Februar stattfand, sprach Herr Kgl. Gartenbaudirektor PaulDannenberg über: Kriegergräber im Osten. Der Redner berichtete zunächst über die unauslöschlichen Eindrücke, die er und seine Reisegefährten während eines Zusammenseins mit dem Feldmarschall von Hindenburg und den Offizieren seines Stabes in dessen Hauptquartier empfangen haben und wußte dann allerlei Inter- essantes von Land und Leuten in den von ihm berührten Gebieten zu erzählen, wo durch deutsche Zivilverwaltungen rasch Ordnung in die Verhältnisse gebracht worden ist. Die Ergebnisse der Fahrt sind von den Teilnehmern in einem ausführlichen Bericht an das Kriegsministerium niedergelegt worden. Daraus ist folgendes hervorzuheben: Um zu gewährleisten, daß die Kriegergräber künstlerisch einwandfrei ausgestaltet werden, ist es wünschenswert, endgültige Anlagen aufzu- schieben, vorläufige Instandsetzungen aber so auszuführen, daß sie nach- her leicht in den endgültigen Zustand übergeführt werden können. Ge- wisse, für die endgültige Ausgestaltung maßgebende Gesichtspunkte lassen sich aber schon heute festlegen. Grundsätzlich sollen die Krieger- gräber als solche erkennbar sein. Die kriegsmäßige Ursprünglichkeit bei Schaffung der Anlage durch die Truppe ist tunlichst zu erhalten. Soweit wie möglich, sollen die Gräber auch dort bleiben, wo sie angelegt sind. Nur in ganz besonderen Fällen, etwa wo das Gelände besonders un- günstig ist, oder die Gräber Verkehrsschwierigkeiten veranlassen, soll eine Verlegung derselben und ihre Vereinigung zu kleinen Sonderfriedhöfen erfolgen. Für das schlichte Kreuz, das jedes Grab schmücken soll, empfiehlt es sich, eine einheitliche Form einzuführen, so daß die gleich- mäßige Aneinanderreihung der Kreuze das charakteristische Bild des Kriegsfriedhofes ergibt. Die im Lande vorkommenden natürlichen Stoffe, Findlingssteine und Holz, sollen für die Herstellung der Grabmäler möglichst weitgehende Verwendung finden. Gegen zufällige Zer- störungen sind die Grabstätten durch Einfriedigungen aus Feldsteinen, Heckenpflanzungen oder Gräben zu schützen, auch Balkenzäune werden vielfach zur Verhütung von Beschädigungen durch Vieh oder Wild nötig sein. Baumpflanzungen sind der einfachste und natür- Il. Abteilung. Obst- und Gartenbau-Sektion. 3 lichste Schmuck, darum sollte für sie stets genügender Raum vorgesehen sein und an jedes im freien Felde liegende Einzelgrab müßte ein Baum oder eine Baumgruppe gepflanzt werden. In Litauen und Kurland kommen dafür in erster Linie Birke und Fichte in Frage, stellen- weise auch die Eiche sowie in manchen Fällen Weide und Pyra- midenpappel. In abgelegenen Gegenden soll die Pflanzung grund- sätzlich so ausgeführt werden, daß sie eine besondere Pflege nicht nötig hat. Die Graboberfläche ist zweckmäßig mit Wald-, 'Wiesen- oder Heideboden zu bedecken. Wo eine Grabpflege möglich ist, ist Immergrün und in geschützten Lagen Efeu zu verwenden. Als frei- wachsende Hecke lassen sich verwenden: Wildrosen, Liguster, Flieder, Hollunder, Wacholder. Dort wo die Hecke unter Schnitt gehalten werden kann, lassen sich auch Hainbuche, Lebensbaum, Fichte, Weißdorn und andere Sträucher ver- wenden. Statt der Steinmale aus unregelmäßig aufeinander gepackten Findlingen sind besser regelmäßige Formen zu verwenden. Gubeiserne Adler und ähnliches sind überflüssig. Farbige Behandlung der hölzernen Einfriedisungen und Balkenkreuze würde den Eindruck erhöhen, und zwar wäre gleichmäßige Farbengebung, rot für die deutschen Kreuze, blau für die Russenkreuze, zu empfehlen. Die Bemalung macht das Kriegergrab weithin kenntlich und gewährleistet auch eine längere Halt- barkeit des Holzes. Im Anschluß an diese Ausführungen zeigte der Vortragende an einer großen Anzahl von Lichtbildern, wie in dem und jenem Falle das Einzel- srab, Massengrab oder der Kriegerfriedhof auszugestalten ist und führte auch einige photographische Aufnahmen bereits vorhandener Anlagen vor. In der am 28. Februar abgehaltenen II. Sitzung sprach Herr Professor Dr. Rosen über: Vegetationsbilder aus den Alpen. Dem Unterricht und dem Selbststudium der ökologischen Botanik, der Pflanzenphysiognomik und Pflanzengeographie ist in dem um- fassenden Sammelwerk „Vegetationsbilder“, herausgegeben von G. Karsten und H. Schenck (Jena, Gustav Fischer) ein außer- ordentlich wertvolles Anschauungsmaterial entstanden, das hoffentlich, wenn der große Krieg einmal beendet sein wird, weitere Ergänzungen erfahren wird. Die Bildertafeln dieses Werkes sind zumteil wahre Meisterwerke der Photographie und der Reproduktion. Schönere und klarere Vegetationsbilder, als sie beispielsweise L. Adamovic aus dem östlichen Mittelmeergebiet gegeben hat, lassen sich kaum denken. Leider versagen jedoch diese einfarbigen Reproduktionen in den Fällen, wo es 1* 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. wesentlich auf die Farben der Vegetation ankommt, so besonders bei den Alpenpflanzen, deren Eigenart ja nicht zum geringsten Teil auf ihrer Farbenpracht beruht; selbst so vorzügliche Photographien, wie die H. Schenck’s können uns darüber nicht täuschen. Schon Anton Kerner von Marilaun hatte daher zur Illustrierung der Alpenflora zu farbigen Tafeln gegriffen, die er von tüchtigen Künstlern herstellen ließ. Aber eben die Hand des Nichtbotanikers, im Verein mit den künstlerisch schwer lösbaren Forderungen des Naturforschers, brachte in diese Darstellungen etwas fremdes, gekünsteltes, das ihren Wert be- einträchtigt. Neuerdings hat man daher ernsthafte Anläufe gemacht, den farbigen Wiedergaben der Vegetation das objektive photographische Bild zu- grundezulegen. Das ist beispielsweise von Hans Hildenbrand für die Vegetation der Heide und für die herbstliche Laubverfärbung mit Hülfe der Lumiereplatten und des Dreifarbendruckes geschehen. Soweit uns solche Darstellungen bekannt geworden sind, geben sie den allgemeinen farbigen Eindruck der Vegetation gut wieder, genügen aber nicht für die Einzelheiten: das verhältnismäßig große Korn der Bilder gestattet die Betrachtung nur aus gewisser Distanz. Größere Erfolge wurden durch Vervollkommnung der Photochromie erzielt, bei welcher die Farben- gebung zwar der Kunst des Lithographen überlassen bleibt, die Bild- schärfe aber wesentlich größer sein kann. Die Dresdener Firma Nenke und Ostermaier bringt seit einigen Jahren solche Photochromien nach ausgezeichneten Naturaufnahmen ÖOstermaiers zu billigen Preisen in den Handel. Die meist als Ansichtskarten verwendbaren Bildchen behandeln die Vegetation der Alpen, des Riesen- und Elbsand- steingebirges, und zeichnen sich durch eine meist recht befriedigende und dabei leuchtende Farbengebung aus. Ostermaiers ausgezeichnete Naturaufnahmen, die einen sehr bemerkenswerten Blick für das Charakte- ristische in der Vegetation verraten, haben in Schwarzdruck schon wiederholt Eingang in die botanische Fachliteratur gefunden. Aber auch aus der Fülle seiner Ansichstkarten läßt sich durch geschickte Auswahl und Zusammenstellung ein sehr wirkungsvolles Anschauungs- material für den Unterricht schaffen, an dem die Ökologie der alpinen Stauden und das Eigentümliche ihrer Erscheinung sehr gut demonstriert werden kann. Vielfach — zumal auf größeren Blättern bis zum Format 28x40 cm — beschränkt die Darstellung sich nicht auf die Pflanzen, sondern gibt in prächtigen Hintergründen zugleich schöne Beispiele von Hochgebirgslandschaften. Da die erforderliche Schärfe nur durch Ver- wendung zweier Platten, die übrigens meist sehr geschickt mit einander verbunden sind, erzielt werden konnte, kann man über den Wert solcher Bilder verschiedener Meinung sein; eigentlich gehören sie schon in das II. Abteilung. Obst- und Gartenbau-Sektion. . bi) Gebiet der neuerdings öfters gesehenen photographischen Fälschungen. Es mag aber betont werden, daß die Ostermaier’schen Hintergründe an sich wundervolle Darstellungen von Bergformen (Matterhorn, Jung- frau u. a.), von Firn und Gletschereis, von Felsgestein und Halde geben, und daher manchem gewiß willkommen sein werden. Es wäre zu wünschen, daß in ähnlicher Art auch uns fernerliegende Vegetationsgebiete zur photochromischen Darstellung gelangen möchten, so die Macchia, die Steppe und die Wüste, oder gar der tropische Regenwald. Herr Verlagsbuchhändler Max Müller gibt die Rechnungsabgabe für 1914 und 1915. Der Vorsitzende erteilt auf Antrag der Versammlung dem Schatzmeister Entlastung und dankt demselben für die auch in den verflossenen Jahren der Sektion geleisteten, wertvollen Dienste. Bei der Besprechung über die Gratisverteilung von Sämereien an die Mitglieder der Sektion beschließt man die Bewilligung der Mittel wie im Vorjahre. Die Lieferung erhielt die Firma „Eduard Monhaupt der Ältere“, Breslau V, Gartenstraße 27/29. Die III. Sitzung fand am 4. Dezember statt. In derselben wird die Wahl der Sekretäre und des Delegierten im Präsidium für die nächst- jährige Etatsperiode vorgenommen. Durch Zuruf werden die bisherigen Inhaber dieser Posten wiedergewählt; sie erklären sich auch zur weiteren Fortführung der Geschäfte bereit. Herr Kgl. Gartenbaudirektor Julius Schütze berichtet über Die Lage der Orchideengärtnerei in der Kriegszeit. Vortragender gab einleitend einen kurzen Überblick über die ersten Einführungen der Orchideen und beleuchtete alsdann die Orchideenzucht in Deutschland im allgemeinen, wobei er insbesondere die Leistungen der schlesischen Orchideenzüchter wie Kittel-Eckersdorf, Schloß- gärtnerei Camenz und von allem die umfangreichen Kulturen des verstorbenen Gartenbaudirektors Haupt in Brieg beleuchtete. Letzterer hatte insbesondere gute Erfolge bei der Düngung von Orchideen, wenn auch Haupt einen großen Fehler darin machte, daß er eine zu reiche Nahrungszufuhr seinen Pflanzen das ganze Jahr hindurch verabreichte. In der jetzigen Kriegszeit haben die Orchideengärtner am meisten zu leiden, weil Importe ganz ausbleiben und auch von etablierten Pflanzen die Blumen jetzt nicht so gesucht und gut bezahlt werden, wie in Friedenszeiten. Durch diese Verhältnisse und aus Mangel an geschultem Personal sind die großen Orchideengärtnereien lahmgelegt; immerhin werden die Preise für gute Orchideen, so führte der Vortragende weiter 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. aus, steigen, da w. g. die Einfuhr aus den Tropen auf lange Zeit unterbleibt. Zum Schluß erwähnte Herr Schütze noch die große Bedeutung der ‘ Hybridenzucht, die in den letzten Jahren durch die Erkenntnis des Orchideenpilzes (Pilze, die unter dem Namen Mycorrhiza zusammen- gefaßt werden) ganz gewaltig an Umfang zugenommen habe. Im Anschluß an die Namhaftmachung empfehlenswerter Schnitt- orchideen betonte Herr Rektor Kern, daß Herr Schütze bei der Nennung schlesischer Züchter seinen eigenen Namen vergessen habe. Als langjähriger Leiter der Eichbornschen Gärtnerei in Breslau habe gerade er sich als guter Kultivateur einen ausgezeichneten Ruf erworben. Herr Verlagsbuchhändler Max Müller gibt eine summarische Übersicht über die Kassenverhältnisse des verflossenen Jahres, die im allgemeinen recht befriedigend zu bezeichnen sind. Leider konnte bei den Schwierigkeiten einer Vertretung für den Sektionsgärtner Frost eine Inventur nicht aufgestellt werden. Hierauf spricht Herr Prof. Dr. Dittrich über: Mittel und Wege zur Pilzkenntnis. Die schwere Zeit, in der wir leben, hat neben manchem anderen, was sonst nicht sehr gepflegt oder beachtet wurde, auch die Pilzkunde zu Ehren kommen lassen. Welche Nützlichkeitsgründe diesen Um- schwung mit sich brachten, ist zu offensichtlich und zu selbstverständlich, um darüber hier zu reden. Eher wäre die Frage zu berühren, ‚ob denn. von den Pilzen eine nennenswerte Stärkung unseres Bestandes an Nahrungsmitteln zu erwarten ist. In weiten Kreisen, namentlich von seiten vieler Ärzte, wird diese Frage verneint und: die Behauptung auf- gestellt, daß die genossenen Pilze ziemlich unverändert wieder aus dem Körper ausgeschieden würden. Die Ergebnisse der Verdauungsver- suche aus neuerer und neuester Zeit, denen allein Beweiskraft zukommen kann, widersprechen aber einer solchen ungünstigen Ansicht durchaus. In der Berliner Physiologischen Gesellschaft ist im Mai des vorigen Jahres ein Stoffwechselversuch mitgeteilt worden, den der eine der Vor- tragenden an sich selbst angestellt hatte und bei dem nahezu 60 Prozent der gesamten Stickstoffverbindungen getrockneter Steinpilze aufge- nommen wurden. Beger und Michalowski von der Landwirt- schaftlichen Versuchsstation Hohenheim gaben vor kurzem den mittleren Gehalt verschiedenartiger Speisepilze an Rohprotein auf etwa 40 v. H. des Trockengewichtes an und fanden durchschnittlich vier Fünftel davon nach dem Stutzerschen Verfahren verdaulich. II. Abteilung. Obst- und Gartenbau-Sektion. 7 So befriedigend diese Zahlen lauten, darf man doch als ungünstige Seite den außerordentlich hohen Wassergehalt der frischen Pilze nicht außer acht lassen. Immerhin geben sie beim Kochen oder Schmoren erhebliche Mengen davon ab und nähern sich alsdann auch in der chemischen Zusammensetzung einigermaßen dem Fleische, das bei der Zubereitung nur verhältnismäßig wenig Flüssigkeit verliert. Ihr Hauptwert liegt indessen im Geschmack und in der sättigenden Wirkung. Wer gegenwärtig darauf angewiesen ist, mehr oder minder häufig sein Mittagessen aus Kartoffeln und Gemüse zusammenzustellen, mag einmal Pilze zu Kartoffeln versuchen; die getrockneten Stücke kann man Zzu- nächst in Wasser aufweichen und dann geradeso wie frische verwenden, wozu nicht mehr Fettstoffe erforderlich sind als beim Zubereiten anderer Gemüse. Im Vergleich mit Rüben oder Kraut wird man den Eindruck einer vollständigeren und länger vorhaltenden Mahlzeit gewinnen. Da noch im letzten Herbst getrocknete Pilze, wenn man nicht gerade Stein- pilze verlangte, von Landleuten zum Preise von zwei bis drei Mark für das Pfund zu erhalten waren und etwa 30 bis 40 Gramm davon auf den ‘ Erwachsenen zu rechnen sind, stellen sich die Kosten eines solchen Mittag- essens insgesamt auf ungefähr 30 Pfennige. Dazu kommt, daß jeder seine Pilze selbst mehr oder minder kostenlos sich sammeln kann — wenigstens jeder, der Pilze kennt. Um damit zu dem eigentlichen Thema überzugehen, wollen wir ein handgreifliches Beispiel auswählen. Wie läßt sich feststellen, was dies hier*) für ein Pilz ist? Am einfachsten und schnellsten jedenfalls durch Befragen eines Kundigen, der den Namen und, was wichtiger ist, auch die hauptsächlichen Kennzeichen der vorliegenden Art angeben kann. Ein solcher würde etwa folgendes erklären: Es handelt, sich um das Stockschwämmchen. Wenn man einen kleineren Pilz mit solchem lebhafteren Braun der Hutmitte und etwas matterer Färbung des Randes in dichten Büscheln an Baumstümpfen findet, so kann man ihn hieran schon auf den ersten Blick mit ziemlicher Bestimmtheit erkennen; volle Sicherheit schafft freilich erst die Betrachtung der Hutunterseite und des Stieles. Die Blättehen oder Lamellen des Stockschwämmchens sind nämlich hellbraun, bei älteren Exemplaren dunkler gefärbt; der Stiel ist an der Spitze gleichfarbig, von einer Stelle ab jedoch, die meist durch eine dünne, ringförmige Haut bezeichnet ist, dunkelbraun und schuppig, am Grunde sogar schwärzlich. Der Geruch unseres Pilzes ist angenehm, etwa als obstartig-würzig zu bezeichnen. Er kommt in der Regel von Mai bis November vor, ist eßbar und besonders zur Bereitung *) Dieser und andere frische Pilze, ebenso die nachher genannten Bücher und Abbildungswerke, lagen bei dem am 4. Dezember gehaltenen Vortrag aus. S Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur . von Suppen verwendbar. Man darf ihn nicht mit dem ungenießbaren Schwefelkopf verwechseln, dessen Lamellen einen grünlichen Ton aufweisen und dessen Stiel mehr gelb gefärbt ist, der auch dumpfig riecht und bitter schmeckt. Schwieriger ist seine Unterscheidung von einigen gleichfalls, wenn auch seltener, an Stümpfen wachsenden sogenannten Flämmlingen. Wer keinen kundigen Berater zur Seite hat — und mit diesem Falle ist im allgemeinen wohl zu rechnen —, muß den Namen eines Pilzes selbst zu finden, den Pilz zubestimmen suchen. Das ist, wie bei Blütenpflanzen und sonstigen Naturkörpern, entweder durch Benutzung von Tabellen oder durch Vergleichen mit den farbigen Bildern eines Atlasses möglich. Das erste Verfahren erfordert Kenntnis der Fach- ausdrücke, während sich das jedesmalige Durchblättern eines umfäng- licheren Abbildungswerkes als sehr zeitraubend erweist; auch würde man dann letzten Endes immer noch außer der bildlichen Wiedergabe eine eingehende Beschreibung in demselben oder einem anderen Buche einzusehen und mit den gerade vorliegenden Stücken genau zu ver- gleichen haben. Wir beginnen mit den Bestimmungsbüchern für Pilze. Die ältere Generation hat wohl durchweg aus einer Schrift Belehrung geschöpft, die 1871 in erster und 1882 in zweiter Auflage, mit einfachen Skizzen auf vier Tafeln ausgestattet, erschien, dem „Führer in die Pilz- kunde“ von Pastor Paul Kummer (3,60 Mark). Wir beschränken uns, wie in der ganzen folgenden Darstellung, auf die größeren, im täglichen Leben als Pilze oder Schwämme bezeichneten Formen, denen das erste Bändchen von Kummers Führer gewidmet ist. Es enthält Tabellen zum Bestimmen der Abteilungen, der Gattungen und der Arten. Man findet darin stets mehrere (meist zwei) Merkmale einander gegenübergestellt, von denen nur eines für den vorliegenden Pilz zutreffen kann. Die Tabelle zum Bestimmen der Abteilungen unterscheidet zunächst zwischen Hutpilzen und hutlosen (knollenförmigen u. a.) Arten; das Stock- schwämmchen, das wir nunmehr planmäßig zu bestimmen suchen wollen, hat einen gestielten Hut. Die Nummern 1, 2, 3 veranlassen uns, die Hut- unterseite auf das Vorhandensein von strahlig geordneten Lamellen, von Röhrchen mit feinen Öffnungen oder von Stacheln zu prüfen; wir finden Lamellen. Nunmehr ist die Farbe des Sporenstaubes, der von der Unier- seite eines abgeschnittenen Hutes nach einiger Zeit auf untergelegtes Papier abfällt, festzustellen; er ist rostbraun, wir haben also bei der „Unterabteilung‘“ der braunsporigen Pilze S. 11 fortzufahren. Dort handelt es sich zunächst um die Anheftung der Lamellen am Stiel; wir finden diese Bildungen nicht sichelförmig am Stiel herablaufend und ent- scheiden uns daher für 3. Der nächste Gegensatz (Hut stiellos bezw. II. Abteilung. Obst- und Gartenbau-Sektion. ) seitlich gestielt oder mit zentralem Stiel) ist ohne weiteres erledigt und führt auf 4. Dort kommt ein feinerer, nur an jungen Exemplaren deutlich zu erkennender Unterschied in Frage: Ist der Hut anfangs durch einen häutigen Schleier, der später als Haut an seinem Rande oder auch am Stiele erhalten bleibt, oder durch spinnenwebeartige Fasern mit dem Stiel verbunden? Der vorher bereits erwähnte häutige Ring am Stiele spricht, auch wenn so junge Zustände nicht zur Verfügung stehen, für den ersten dieser Gegensätze. Wir lesen weiter bei 5: „Stiel mit Ring oder Manschette (6) — ohne Ring oder Manschette“. Bei 6 heißt es nochmals: „Schleier häutig.. An Bäumen, meist an deren Grunde“; damit ist die Gattung 28, Pholiota, festgestellt, und in der Tabelle der Arten dieser Gattung führen zwei sehr einfache Entscheidungen auf; eine zu unserem Pilz in allen Einzelheiten stimmende, ausführliche Beschrei- bung und an deren Schluß auf den Namen: Stockschwamm, Pholiota mutabilis (Schaeff.). Kummers „Führer“ ist recht eigentlich für den Anfänger verfaßt und ermöglicht ihm, wenn auch nicht immer glatt und leicht, die selbständige Bestimmung aller häufigeren und vieler seltener Pilze. Um dieselbe Zeit (1877) gab Otto Wünsche „Die Pilze. Eine Anleitung zur Kenntnis derselben“ heraus (4,40 Mark). Beide Bücher sind noch in einem Rest- bestand bei den Verlegern zu haben und werden auch häufig alt an- geboten; sie tragen, was immerhin erwähnt sein mag, selbstverständlich neueren Anschauungen über Bewertung und Gruppierung mancher Gattungen und Arten keine Rechnung. Von Wünsche sind aber zwei weitere Bearbeitungen der Pilze erschienen, nämlich 1889 ein erster Teil der damaligen ,„Schulflora von Deutschland: Die niederen Pflanzen“, (vergriffen) und 1896 ein etwas umgearbeiteter Auszug hiervon als kleines, handliches, empfehlenswertes Büchlein mit dem Titel „Die verbreitetsten Pilze Deutschlands“ zum Preise von 1,40 Mark. Die Güte der Beschrei- bungen in diesen beiden neueren Büchern erklärt sich daraus, daß sie mit denen Schroeters übereinstimmen, der den ersten Band der „Pilze Schlesiens‘“‘ im gleichen Jahre 1889 vollendete und Wünsche seine Korrekturbogen zugänglich machte. Das Bestimmen eines Pilzes erfolgt nach den Tabellen Wünsches in ähnlicher Weise wie bei Kummer, nur ist der Weg nicht ganz so breit geebnet, und vor allem fehlen ihnen leider jegliche Abbildungen, ein unbegreiflicher Mangel, da die längsten Be- schreibungen eines unbekannten Gebildes oder Merkmales dem Leser nicht entfernt die klare Vorstellung von ihm zu geben vermögen, wie eine noch so einfache Zeichnung. Eine Anzahl guter Holzschnitte fügt Leunis-Frank, Synopsis der Pflanzenkunde, dritter Band, Krypto- samen (1886, 9 Mark), seinen für den Standpunkt weiterer Kreise freilich zu schwierigen Bestimmungsschlüsseln bei. Hat man erst mit Hilfe des 10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. einen oder anderen dieser Bücher mehrere Arten einer Gattung, etwa der Täublinge, Reizker, Ritter- oder Trichterpilze, ermittelt, so wird man allmählich dazu kommen, bei weiteren Funden die Zugehörigkeit zu der gleichen Gattung unmittelbar zu erkennen, ohne jedesmal von neuem ‚den langen Weg der Tabellen wieder ganz durchlaufen zu müssen. Ein durchaus neuzeitliches Bestimmungswerk hat Lindau, Kustos am Botanischen Museum zu Dahlem, 1911 unter dem Titel „Die höheren Pilze (Basidiomycetes)‘“ veröffentlicht (Preis 7,40 Mark); die übrigen höheren Pilzformen, von denen hier hauptsächlich Trüffeln, Morcheln und Becherpilze in Betracht kämen, würde man in einem zweiten Bande, „Die mikroskopischen Pilze“ (1912, 8,80 Mark), zu suchen haben. Beide Bücher werden bei Übungen, wie sie vereinzelt für Studierende der Universitäten abgehalten werden, gute Dienste leisten; für einen, der noch nichts von Pilzen kennt, sind sie dagegen unver- wendbar. Das mag der Beginn der Bestimmungstabellen der Familien der Basidiomyceten‘“ beweisen: „Konidienträger nur basidienähnlich, aus Chlamydosporen hervorwachsend. — Konidienträger regelmäßig als Ba- sidien ausgebildet (nur bei den Uredinaceae aus Chlamydosporen ent- stehend).“ Zur Benutzung dieser Tabelle sind also bereits weitgehende mykologische Kenntnisse, vor allem auch von vornherein mikroskopische Untersuchungen, erforderlich. Wer allerdings die Gattung, der ein Pilz angehört, schon zu erkennen imstande ist, wird sich der Tabelle der zugehörigen Arten in den weiteren Teilen des Lindauschen Buches in vielen Fällen mit Vorteil bedienen können. Die 607 Figuren, die der Titel dieses ersten Teiles der ..Kryptogamenflora für Anfänger“ nennt, sind winzige Federzeichnungen und größtenteils einem französischen Büchlein von Costantin et Dufour entnommen, in dem man sie als an- schauliche Erläuterungen überall in die Bestimmungstabellen einge- schaltet findet. Das älteste derartige Bestimmungsbuch ist erst am Schluß zu nennen, weil es sich eine eigentümliche Beschränkung in der Auswahl seiner Arten auferlegt, wie aus dem Titel hervorgeht: „Anleitung zum Be- stimmen der vorzüglichsten eßbaren Schwämme Deutschlands für Haus und Familie von August Sollmann“. 1862 erschienen und 1890 beim Übergange des Verlages in andere Hand nicht mehr vorgefunden, enthält es sorgfältig ausgearbeitete Tabellen, die beständig auf gute, wenn auch einfache und einfarbige Abbildungen von etwa 45 Speisepilzen Bezug nehmen. Sehr oft führt der eine von zwei Gegensätzen auf ein Kreuz an Stelle eines Namens; die hierunter fallenden Arten haben dann eben keinen Küchenwert. — Neben oder nach der Benutzung des einen oder anderen dieser Bücher ist die Vergleichung naturgetreuer farbiger Abbildungen ll. Abteilung. Obst- und Gartenbau-Sektion. ur für jede Art von Pilzstudium unerläßlich. Zunächst soll von mittleren und kleineren Bilderwerken, die in den letzten Jahrzehnten erschienen und jedermann zugänglich sind, die Rede sein. „Der Pilzsammler“ von Gotthold Hahn bringt eine vielseitige Auswahl von größeren Arten aller Gruppen und fast aller Gattungen, in der ersten Auflage (1883) 134, in der zwieiten (1890) 172 größtenteils neu hergestellte Abbildungen und in dritter und letzter Ausgabe (1903, 6 Mark) 176 Bilder, außerdem die Beschreibungen einer großen Zahl von weiteren Arten. Die Ausführung der Tafeln verdient, zumal im Verhältnis zum Preise des gediegenen Buches, durchaus Anerkennung; auf Tafel I der zweiten Auflage ist beispielsweise Nr. 1 eine der besten überhaupt vorhandenen Abbildungen des häufigsten unserer Knollen- blätterpilze, der nach neuesten Erfahrungen allerdings ziemlich unge- fährlichen Amanita Mappa, während der in den letzten Jahren so vielen zum Verhängnis gewordene eigentliche Giftling — ein Unterschied in den Wirkungen, von dem freilich noch in keinem Pilzbuch etwas zu lesen ist — unter Nr. 2 gleichfalls gut wiedergegeben ist. Übertroffen, allerdings auch im Preise, wurde das Hahnsche Buch durch die ‚drei Bände des „Führers für Pilzfreunde“ von Michael, die für jeden, der sich mit den größeren Formen beschäftigen will, un- bestritten das wichtigste, umfassendste und vortrefflichste Abbildungs- werk darstellen. 1895 erschien das erste Bändchen, von dessen Ab- bildungen inzwischen manche durch vollkommenere ersetzt worden sind und das jetzt im 14. Tausend vorliegt, 1901 der zweite und 1905 der dritte Band (jetzt 10. bezw. 8. Tausend); sie enthalten bei einem Preise von je 6 Mark zusammen 307 Pilzgruppen in einer auf der Höhe der Technik stehenden Ausführung. 38 der wichtigsten Speise- und Giftpilze sind überdies in einer „Volksausgabe“ für 1,50 Mark zusammengestellt, die bereits das 31. bis 40. Tausend erreicht hat. Bei der Kostspieligkeit so naturwahrer Abbildungen wäre es ganz ausgeschlossen, ein derart billiges Buch eigens herzustellen; die Abbildungen entstammen vielmehr den Bänden der größeren Ausgabe. Sie sind überdies als Tafelwerk für Unterrichtszwecke und zwar die Arten jedes Bandes zum Preise von 8 Mark, ferner in einer Auswahl von 26 Sorten auf zwei Tafeln: „Unsere besten Speise- und Wirtschaftspilze usw.“ (3,50 Mark) zu haben. Etwas verkleinert kann man sie schließlich aut 16 Postkarten mit Beschrei- bung (0,75 Mark) vom Verlag Lebenskunst — Heilkunst, Berlin S 59, beziehen. In den Bildern mindestens gleichwertig, in der Auswahl der Arten (130) freilich beschränkter, sind die beiden Bände „Pilze der Heimat“ von Gramberg aus der Sammlung „Schmeils Naturwissenschaftliche 12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur, Atlanten“ (1913). Wenn selbst hier noch einzelne Pilze, wie die Grünling und „graue Ritterpilz“, nicht ganz getroffen sind, so können sie als Aus- nahmen nur zur Bestätigung der Vorzüglichkeit der Gesamtheit dieser Abbildungen dienen. Die Ausführungen des allgemeinen Teiles findet man alljährlich in zahlreichen Zeitungsartikeln wieder. Um zwischen Michael und Gramberg die Wahl zu treffen, sind mehrere Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Von diesem braucht man unbedingt beide Bände (10.80 Mark), da der eine nur die Blätterpilze enthält; dagegen kommt der Anfänger mit dem ersten Band von Michael (69 Arten aller Gruppen für 6 Mark) ein zeitlang ganz gut aus. Die Beschreibungen sind bei Gramberg ausführlicher, erfordern freilich auch ein längeres Studium als die zunächst vollkommen ausreichenden An- gaben von Michael. Bei Benutzung auch der Fortsetzung des letzt- genannten Buches wirkt allerdings die Verteilung der Arten einer und derselben Gattung auf alle drei Bände vielfach störend. Natürlich wäre ein einheitliches Bestimmungs- und Abbildungswerk wünschenswert; Michael hat denn auch schon 1905 Tabellen zu seinem Führer angekündist, doch ist mit deren Erscheinen nicht mehr zu rechnen. Ein Büchlein, das beides bietet, liegt aber seit kurzem in dem „Praktischen Pilzsammler“ von Macku und Kaspar (1915) vor, dessen Text übrigens stellenweise an französische Wendungen allzu deutlich anklinst. Bei handlichem Format bringst es für 3,20 Mark 182 kleinere Abbildungen (davon 162 farbige) in meist recht guter Aus- führung: den größeren Gattungen, auf deren Namen zwei Tabellen führen, sind „Übersichten zum Bestimmen der Arten vorangestellt. Leider ist das Buch gegenwärtig schwierig zu beziehen, da es in einem österreichischen Verlage (Promberger-Olmütz) erschienen ist. Von einem sorgfältigen Beobachter stammt das reichhaltige „Buch der Pilze‘ von Schwalb (1891, 5 Mark), das beispielsweise der schwierigen Gattung der Täublinge gebührende Aufmerksamkeit widmet. Oft aufgelegt, zuletzt (1890) von Wünsche bearbeitet, ist das grundlegende Werk von Lenz: „ Nützliche, schädliche und verdächtige Pilze“, mit weniger guten Bildern (herabgesetzter Preis 3,50 Mark). Häufig an- geführt werden „Die wichtigsten eßbaren, verdächtigen und giftigen Schwämme“ von Lorinser mit 12 Tafeln leidlicher Abbildungen (4. Aufl. 1896 und 1909, 5 Mark), ferner P.Sydows „Taschenbuch der wichtigeren eßbaren und giftigen Pilze Deutschlands, Österreichs und der Schweiz‘ (1905, 4,50 Mark) mit 64 befriedigenden Tafeln, die in genau gleicher Ausführung, teilweise in zweckmäßigerer Anordnung, als Serie T des „Nouvel Atlas de poche des Champignons comestibles et veneneux les plus r&pandus par Paul Dum&e, troisieme edition, Paris 1912“ II. Abteilung. Obst- und Gartenbau-Sektion. 13 (7 fres.) erschienen sind. Der Verleger gab über das Verhältnis der beiden Bücher zu einander keine Auskunft. Minderwertig sind dagegen, nicht bloß wegen der groben Spuren des Rasters, Rothmayrs Bilder „Eßbare und giftige Pilze des Waldes“ (2 Bände, 1910 und 1913, je 2,50 Mark). Groß ist die Zahl der kleinen und kleinsten Pilzbüchlein, die man schon für 50 Pfennig erwerben kann. Gute Originalabbildungen in natür- licher Größe sind in dieser Preislage, wie schon erwähnt, nicht herzu- stellen. Den genannten geringen Geldwert besitzen die beiden Bändchen von Blücher (Miniatur-Bibliothek), deren Bilder immerhin ausreichen mögen, um Pilze, die auf einer Wanderung gefunden und besprochen wurden, in der Erinnerung der Teilnehmer festzuhalten. Von „Mücks praktischen Taschenbüchern“ setzt Nummer 13, „Die am häufigsten vor- kommenden giftigen Pilze“, durch die hohe Zahl von 96 „nach der Natur gemalten“ Abbildungen in Erstaunen; der größte Teil von diesen „Giitpilzen“, insbesondere die vielen aus „Deutschlands Flora“ von Sturm entnommenen seltenen Polypori, sind glücklicherweise völlig harmlos. Mit welcher Sachkenntnis solche Bilderbogen hergestellt werden können, mag die Tatsache lehren, daß in dem Bändchen 12 „Eßbare Pilze“ der Hallimasch zweimal mit den (gleichbedeutenden) Namen Armillaria mellea und Agaricus melleus unter verschiedenen Nummern abgebildet wird. Als hinreichend können die drei Pilztafeln aus Grasers Verlag (R. Liesche) gelten, die zusammen 3 Mark kosten und zur Erläuterung auf Pilzausflügen bei der Größe der Einzelbilder brauchbar sind; man erhält sie auch in Heftform. Mäßigen Ansprüchen mögen auch „Unsere eßbaren Pilze“ von Röll (7. Aufl. 1908, 1,50 Mark) genügen. Ein ziemlich vollständiges Verzeichnis dieser Volksbücher findet man am Schluß der Schrift „Die eßbaren Pilze und deren Bedeutung für unsere Volkswirtschaft“ von Schnegg (1916, 1,20 Mark); hinzu- zufügen wäre etwa das Buch von Schüler: „Unsere eßbaren Pilze und ihre Verwertung“ (1914, 2 Mark), dessen 8 Farbentafeln und 32 Text- abbildungen freilich keinen Vergleich mit den 38 Bildern der billigeren Michaelschen Volksausgabe auszuhalten vermögen, Schneggs Schrift hat den auf diesem Gebiete seltenen Vorzug lesbarer und anregender Darstellung; daß man aber nach seinen kleinen einfarbigen Bildern Pilze im Freien wiedererkennen kann, wird beispielsweise von Abb. 8&, 24 und 26 niemand glauben. Gute photographische Aufnahmen in natür- licher Größe, wie in den beiden Heften der „Natur-Urkunden“ (je 1 Mark), sind auch dann erkennbar, wenn es sich nicht gerade um so charakte- ristische Formen, wie bei der Stinkmorchel und beim Flaschenbovist, ‚handelt. Das billigste, aber durchaus brauchbare Hilfsmittel ist das vom Kaiserlichen Gesundheitsamt, zuletzt 1913, herausgegebene Pilzmerkblatt 14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. mit Tafel, zu dessen Preis von 15 Pfennig meist noch ein Porto- zuschlag tritt. Für den Anfänger in der Pilzkunde, dem es nur auf die wichtigsten eßbaren oder schädlichen Formen ankommt, dürfte es nach alledem! zur- zeit am empfehlenswertesten sein, sich mit dem kleinen Wünsche (Die verbreitetsten Pilze Deutschlands) und dem ersten Bande von Michaels Führer auszurüsten und nach diesen Büchern zunächst einmal die Marktpilze seines Ortes (in Breslau über 30) oder die in seiner Gegend sonst verwendeten Sorten genau kennen zu lernen, um späterhin den Kreis durch Hinzunahme des zweiten Bandes zu ver- größern. Wer sich von vornherein weitere Ziele steckt, wird mit den beiden Büchern von Kummer und Hahn am billigsten und besten fahren. Nur darf man sich, auch wenn man kundigen Rat zur Seite hat, keinen hohen Erwartungen auf schnelle Fortsehritte in der Pilzkenntnis hingeben, denn die Schwierigkeiten sind auf diesem Gebiete erheblich größer als bei der Beschäftigung mit Blütenpflanzen. In erster Linie liegt das in der Geringfügiskeit und Feinheit der Unterscheidungsmerkmale begründet, auf die man schon in der ver- hältnismäßig leicht zu bewältigenden Gattung der weitverbreiteten und fast durchweg eßbaren Röhrenpilze (Boletus) trifft; allenthalben herrscht auch eine ziemliche Veränderlichkeit im Aussehen der nämlichen Art, und deshalb wieder lassen sich die Pilze nicht so recht in die scharf ab- getrennten Gegensätze der Tabellen einreihen, was natürlich die Be- nutzung der Bestimmungsbücher erschwert, so daß man häufig an der Hand derselben nicht so sicher vorwärts und zum Ziele hin kommt. Beim Stockschwämmchen beispielsweise ist. eine so wesentliche Bildung, wie der Ring am Stiel, oftmals nicht deutlich sichtbar. Der Anfänger ver- steife sich daher niemals darauf, ein einzelnes Exemplar be- stimmen zu wollen, sondern beschäftige sich grundsätzlich nur mit solchen Pilzen, von denen er jüngere und ältere Zustände in größerer Zahl ge- funden hat Bei schwierigeren Gattungen — als solche sind die Täub- linge (Russula) wohl jedem bekannt — ist auch für den Erfahrenen der Versuch mit einem einzigen, nicht von vornherein halbwegs erkennbaren Stück meist aussichtslos. Ein weiterer erschwerender Umstand ist die Kürze der Zeit, in der die Fruchtkörper der meisten Arten frisch zur Verfügung stehen, und die Un- möglichkeit einer befriedigenden Erhaltung dieser vergänglichen Ge- bilde, insbesondere fast aller sog. Hymenomyceten, trotz umständlicher Behandlungsweisen. Das alles hat zur Folge, daß man im zweiten Jahre seines Studiums zumeist von neuem wieder mit Bestimmen und Ver- gleichen anfangen muß, um damit freilich einer dauernden Kenntnis um vieles näher zu kommen. — II. Abteilung. Obst- und Gartenbau-Sektion. 15 Von Pilzliebhabern, die sich mehrere der kleinen Bücher angeschafft haben, hört man gelegentlich die berechtigte Klage, sie fänden überall die gleichen Pilze abgebildet und hätten daher keine rechte Möglichkeit, auch die vielen anderen Sorten, die ihnen im Wald begegneten, kennen zu lernen. Dieser Mißstand erklärt sich ja nun ohne weiteres daraus, daß sich in dieser Literatur alles um die Unterscheidung der verbreitetsten eßbaren und schädlichen Arten dreht und für die weitaus überwiegende Mehrzahl, für die als ungenießbar zu bezeichnenden Formen, nicht viel Raum bleibt. Wer daher z. B. in die Kenntnis der bei ihrer zähen Be- schaffenheit fast durchweg „wertlosen“ sogenannten Porlinge (Polyporus) eindringen möchte, wird sie auch in reichhaltigeren Abbildungswerken nur sehr spärlich vertreten finden. Gerade diese Formen sind in einer Reihe kleiner, nur beim Antiquar erhältlicher und auch nicht billiger Heftehen der schon genannten Flora von Deutschland von Sturm (III. Abteilung) durch Rostkovius eingehend bearbeitet. Wir haben hiermit den Standpunkt derer, die die Pilzkunde nur zur Erlangung von Nahrungsmitteln betreiben wollen, endgültig ver- lassen und sehen uns nunmehr freilich sehr viel größeren Schwierig- keiten der Bestimmung gegenüber. Die meisten Werke, die weiter den Weg zu weisen vermögen, sind in älterer Zeit erschienen, die Bilder in der Regel mit vortrefflichem Handkolorit, das indessen die Herstellung jedes weiteren Exemplares so verteuerte, daß man nur an eine sehr be- schränkte, jetzt in festen Händen befindliche Auflage denken konn'e. Sodann ist die Festlegung der Arten keine so sichere mehr; die alten Autoren, die noch keine mikroskopischen Merkmale berücksichtigten, reichen vielfach nicht ganz aus, und neuere Bechachtungen sind an sich spärlich, nicht leicht zugänglich, zuweilen einander widersprechend. Ohne mikroskopische Untersuchung, insbesondere Messung der Sporen, ist aber ein tiefer gehendes Studium auch der augenfälligen Formen der höheren Pilze unmöglich. Allerdings ist erst in den letzten Jahren ein umfängliches Werk erschienen, das nach seiner Anlage geeignet erscheinen könnte, als weiterer Führer zu dienen. Es ist die im Anschluß an Thome&s Flora von Migula bearbeitete ,„Kryptogamen-Flora von Deutschland, Deutsch-Österreich und der Schweiz“, deren beide die Basidiomyceten, also die Hauptmasse der größeren Pilze, enthaltenden Bände (1912): &0 Mark kosten. Man findet darin eine große Anzahl schöner Bilder der allbekannten wie auch vieler seltener Formen, übersichtliche Be- stimmungstabellen und die Beschreibungen von 2900 Arten. Bei genauerem Zusehen beschränkt sich aber der Wert des Buches in der Hauptsache auf die Abbildungen; in den Tabellen kommt man, zumal an Stellen, denen die genaue Durcharbeitung fehlt, durchaus nicht leicht 16 Jahresbericht der Schles. Geseilschaft für vaterl. Cultur. und sicher vorwärts, und die Beschreibungen stimmen, soweit sie aus- führlich sind und mikroskopische Angaben bringen — also allein für das Studium Wert besitzen —, zum allergrößten Teile wortgetreu mit denen Schroeters überein. Es ist dies keineswegs der einzige Fall, in welchem die Bedeutung des überragenden Forschers eine so weitgehende Anerkennung gefunden hat. Schroeters Werk selbst, „Die Pilze Schlesiens“ aus der „Kryptogamenflora von Schlesien“, insbesondere die erste, 1885—89 erschienene Hälfte (neu 20 Mark), kann niemand entbehren, der sich ein- sehender mit Hymenomyceten befassen will; Abbildungen oder auch nur besondere Übersichtlichkeit wird man darin indessen vergebens suchen. Eine geringe Zahl von Zeichnungen bieten die kurz vorher (1884) von Winter vollendete erste, insbesondere die Basidiomyceten enthaltende Abteilung (neu 33,60 Mark) des Bandes „Die Pilze“ aus Rabenhorsts Kryptogamenflora und die 1897 von Ed. Fischer in dem gleichen Sammelwerk herausgegebenen Tuberaceen (4,80 Mark); zahlreiche Holz- schnitte bringt die Bearbeitung der Pilze in Engler-Prantls „Natürlichen Pflanzenfamilien“, darunter die der Hymenomyceten durch Hennings. Es sind dies die drei grundlegenden deutschen Werke, die unter dem Einfluß des 1878 verstorbenen bedeutendsten Vertreters dieser Richtung, Elias Fries in Upsala, entstanden sind. Ein unter seiner Leitung hergestelltes umfassendes Prachtwerk, Icones seleetae Hymeno- mycetum nondum delineatorum (1867—84), in dem auf 200 Tafeln aus- schließlich seltenere Pilze, insbesondere von Fries selbst aufgestellte Arten, abgebildet sind, ist auch in Schweden nicht mehr vollständig käuflich; eher wäre noch das 217 kleinere Tafeln enthaltende Hauptwerk von Bresadola, Abate in Trient, Fungi Tridentini (1881—1900), zu erlangen. Hauptsächlich auf den zuletzt genannten beiden Werken, aber auch auf Qu&let und anderen Autoren fußend, hat der Pfarrer zu Lahrbach in der Rhön Rieken 1910—15 „Die Blätterpilze (Agaricaceae) Deutschlands und der angrenzenden Länder“ (50 Mark) erscheinen lassen, zweifellos die auf diesem Gebiete wertvollste Arbeit der letzten Jahr- zehnte in deutscher Sprache, wenn auch nicht gerade der zahlreichen bunten Bilder wegen, deren Ausführung offenbar besser der Hand des Künstlers überlassen wird; immerhin erleichtern sie durch ihre allzu grobe Betonung der Artmerkmale dem Benutzer des Buches, der die Gattung erkannt oder mit Hilfe der Tabellen am Schluß des Textes ermittelt hat, die Auffindung der Species wesentlich. Der Hauptwert liegt in den sorgfältig ausgearbeiteten, fast überall auf eigenen, jahrelangen Beob- achtungen beruhenden Beschreibungen, in der besonderen Kennzeichnung und klaren Gruppierung der 1405 Arten. II. Abteilung. Obst- und Gartenbau-Sektion. 17 Als ältere Autoren, deren Namen man am häufigsten den Pilzarten angefügt findet, deren Werke kaum noch zu erkaufen sind, können im Rahmen dieser Ausführungen nur noch mit Namen genannt werden Sehmeffer, Batsch, Bulliard, Bolton,’ Sowerby, Persoon. Daß sie auch in Fällen, in denen es sich nicht bloß um theoretische Studien handelt, eingesehen werden müssen, hat der merkwürdige Tod des Lehrers Bokemüller in Aschersleben, der als Pilz- kenner galt, im letzten Jahre gezeigt; es war dort zwar die Gattung (Inocybe, Rißpilz) erkannt, die von Bulliard treffend abgebildete Art des verderblichen Pilzess aber, da man sich mit den An- gaben von Kummer begnügt hatte, nicht richtig bestimmt worden. Gelegentlich wird noch das herrliche Tafelwerk von Krombholz angeboten, von dem jedoch eine geringer zu bewertende Ausgabe „mit späterem Kolorit‘“‘ vorhanden ist, das von den Lehrlingen einer Buch- handlung herrühren soll, die den Restbestand der schwarzen Tafeln auf- gekauft hatte. Schlesien insbesondere gewidmet waren die leider auf zwei Hefte beschränkt gebliebenen lithographierten Tafeln von Weberbauer. Wertvoll können auch Kopieen aus größeren Werken sein, zumal wenn sie die Pilzwelt einer Gegend so gut widerspiegeln, wie die im Breslauer Schulmuseum aufbewahrte Sammlung von Hübners Hand. Das Ausland besitzt einige neuere Tafelwerke, die, wie das von Rolland, im Anschluß an mykologische Zeitschriften er- schienen sind. Von deutschen Fachschriften widmete sich das „Myco- logische Centralblatt“, das gegenwärtig sein Erscheinen ein- gestellt hat, allgemeineren Fragen; floristische Zusammenstellungen und Beschreibungen neuer Spezies findet man vornehmlich in der „Hed- wigia“ und den „Annales mycologici“. Populäre Zeitschriften sind wiederholt herausgegeben worden, aber stets bald wieder ein- gegangen; die letzte von ihnen, „Der Pilzfreund“ von Rothmayr, umfaßt den einen Jahrgang 1910/11 (herabges. Preis 5 Mark). Wir steigen hiermit von der hohen Warte der Autoren herab und wenden uns wieder den Bedürfnissen des täglichen Lebens, der prak- tischen Pilzkunde sozusagen, zu. Die Not der Zeit mußte auf Maß- nahmen führen, durch die die Kenntnis der Speisepilze verallgemeinert, weiteren Kreisen mitgeteilt werden sollte. Die Lösung dieser Aufgabe erblickte man in Pilzwanderungen unter sachverstän- diger Leitung. Unter dem 26. März 1916 erschien ein Erlaß des Ministers für Landwirtschaft, Domänen und Forsten an die Landwirt- schaftskammern, am 17. Juni ein solcher des Ministers der geistlichen und Unterrichts-Angelegenheiten an die Schulen, die beide zunächst für Preußen derartige Wanderungen anregten; eine weitere Verfügung des 1916. 2 18 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Präsidenten des Reichsernährungsamtes über die Ausnutzung der Pilz- ernte vom 27. Juni*) scheint in Schlesien jedenfalls nicht bekannt ge- worden zu sein. Wie aus einer Mitteilung der Nachrichtenstelle der Landwirtschaftskammer für die Provinz Brandenburg ersichtlich ist, meldeten sich auf einen Aufruf für ihren Bereich 15 Personen sehr ver- schiedener Lebenskreise, unter ihnen ein Kutscher, als Sachverständige, mit denen alles Nähere vereinbart werden sollte. Daß es auf diesen Ausflügen gelegentlich auch anders, als beabsichtigt und sogar in Bildern vorgeführt zu sehen war, zugegangen ist, zeigt folgende Zeitungs- nachricht aus dem letzten Sommer: „Vor einigen Tagen forderte der Kaufmann ... 0... : Personen zur Teilnahme an Pilzwanderungen in der östlichen Umgebung Berlins auf. Auf diesen Spaziergängen wellte er Aufklärung über eßbare Pilze erteilen. Seine Ankündigung erweckte den Anschein, als ob es sich um eine gute vaterländische Sache handele, um das Publikum zur Ausnutzung dieses wichtigen Nahrungsmittels zu veranlassen. Die Forderung, einen Korb und ein Messer mitzubringen, ließ überall die Hoffnung aufkommen, daß man auf dieser Wanderung auch eßbare Pilze finden und mitnehmen könnte und daß man er- schöpfende Belehrungen erhielte.. Das ist aber durchaus nicht der Fall. Auf den Wanderungen muß jeder Teilnehmer für die Führung 30 Pfennig zahlen. Verständliche Erklärungen werden nicht erteilt. Eßbare Pilze werden nicht gefunden. Die Unkosten stehen in gar keinem Verhältnis zu dem Erfolg. Es kann daher keineswegs geraten werden, an den Pilz- wanderungen teilzunehmen.‘ — Es handelte sich hierbei um eine der von der genannten Nachrichtenstelle bezeichneten Persönlichkeiten. Erstaunliche Erfahrungen über den Verlauf seiner Wanderungen teilt auch der ob seiner trefflichen Pilzbücher wiederholt genannte Ober- lehrer Michael im Vogtländ. Anz. u. Tagebl. mit. Man wird dem, was er am Schlusse einer solchen Schilderung selbst über zwecklos vergeudete Zeit sagt, nur beistimmen und ohne Umschweife erklären können, daß Pilzausflüge, die so planlos angestellt werden, besser unterbleiben. Ob man, wie Michael weiter meint, die Wanderung mit einer Einführung in die Hauptmerkmale der Pilzgruppen an der Hand eines Tafelwerkes beginnt oder diese Erläuterung bis zu den ersten Funden einzelner Ver- treter dieser Gruppen aufschiebt, ob man ferner die Erklärungen an Ort und Stelle oder erst im Gasthaus vornimmt, ist wirklich nicht so wichtig; die erste Forderung ist doch wohl, daß hier die Zahl der Teilnehmer *) Einer im Zusammenhang mit dieser Verfügung im Verlage von Werner und Winter (Frankfurt a. M.) erschienenen Wandtafel, welche Zeichnungen von Vertretern der Pilzfamilien und eine farbige (nur in der linken Hälfte den eigent- lichen Giftpilz darstellende) Gruppe von Knollenblätterschwämmen enthält, sollen weitere Tafe!n folgen. . Il. Abteilung. Obst- und Gartenbau-Sektion. 19 ebensowenig eine beliebig große sein darf, wie bei sonstigen belehrenden Veranstaltungen, bei denen ein Erfolg in der Betrachtung und Er- kennung kleinerer Objekte erreicht werden soll; sodann gehören Kinder nicht zu einer ernsthaften Unternehmung. Im übrigen kommt es nicht darauf an, darüber zu reden oder zu schreiben, wie Pilzwanderungen zweckmäßig und nach einem bestimmten Programm einzurichten sind, sondern sie wirklich so auszuführen, und das ist während der beiden letzten Jahre in Breslau ja wohl geschehen. — Im Anschluß an den zuerst genannten Erlaß hatte sich die Land- wirtschaftskammer für die Provinz Schlesien an mich mit der Bitte um eine Meinungsäußerung gewandt, wie die Belehrungen praktisch am besten einzurichten wären, und ich hatte mich beeilt, ihr eingehende Vor- schläge dafür zu übersenden, insbesondere auch die Namen einer größeren Anzahl (nicht so bunt zusammengewürfelter) pilzkundiger Herren in der Provinz angeführt, die sich in ihrer Gegend der Förderung der Sache annehmen würden. Daraufhin ist leider soviel wie garnichts geschehen, und wenn ich nicht nach sieben Wochen um Bestätigung des Eingangs. meines Schreibens gebeten hätte, würde ich augenscheinlich in der Angelegenheit nichts mehr gehört haben. Eine ähnliche Er- fahrung lieferte im vorhergehenden Jahre der Versuch zur Einführung neuer Arten von Speisepilzen am Breslauer Markt; die Anteilnahme der Städtischen Marktdeputation an der weiteren mühevollen Durchführung hatte sich mit dem Gesichtspunkte erschöpft, daß keine größeren Kosten dadurch entstehen dürften. — — In entfernterer Beziehung zur Förderung durch Behörden sind während des Krieges eine Reihe von Pilzauskunftsstellen entstanden, zunächst die Städtische Pilzbestimmungsstelle Königsberg (Pr.), die von Lehrer Gramberg verwaltet wird und Auswärtigen gegen eine Gebühr von 50 Pfennig den Namen einer eingesandten Art mitteilt; Michael berechnet nach einem den neueren Ausgaben seiner Bücher ein- geklebten Zettel 20 Pfennig für die gleiche Leistung. Ich habe über die mir aus Schlesien und Posen, zuweilen freilich in allzugroßer Fülle, zu- gehenden Sendungen bislang im Dienste der Sache Auskunft erteilt; für den Kreis Frankenstein insbesondere hat dies Kgl. Seminarlehrer M. Buchs, einer der besten Kenner unserer Pilzwelt, übernommen. Was der Erwachsene an Pilzen auf Wanderungen, durch Einzel- belehrung oder eigene Arbeit kennen lernt, bleibt naturgemäß im allge- meinen lückenhaft; es fehlt die sichere Grundlage, wie sie für die Ge- samtheit nur die Schule zu geben vermag. Für einen den wirklichen Bedürfnissen Rechnung tragenden Unterricht in der Pilzkunde fehlen in- dessen zurzeit noch wesentliche Voraussetzungen. Nur ganz ausnahms- weise, wie es in Frankenstein der Fall ist, wird der angehende Volks- 20 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vateri. Cultur. schullehrer Gelegenheit oder Anlaß finden, sich mit einer größeren Zahl _ von Speisepilzen aus eigener Anschauung gründlich vertraut zu machen; der Universitätsunterricht vollends hat nicht die Aufgabe, Artenkenntnis auf einzelnen Gebieten zu vermitteln. Es handelt sich hier eben um ein in seiner Bedeutung bisher nicht gewürdigtes und bei dem regel- mäßigen Bildungsgang der Lehrer aller Stufen ungenügend berücksich- tigtes Gebiet. Um also zunächst die Lehrenden selbst, die, wie die Er- fahrung zeigt, oft selbst gern tiefer in die Pilzkenntnis eindringen würden, heranzubilden, würde es besonderer, über die flüchtigen Eindrücke weniger Waldspaziergänge hinausgehender Maßnahmen bedürfen. — Ein wertvolles Mittel zur Belehrung weiterer Kreise sind Aus- stellungen, bei denen die einander ähnlichen, eßbaren und schädlichen oder minderwertigen Arten, auf deren Unterscheidung es dem Sammler vor allem ankommt, in frischen Stücken beisammen liesen und durch kurze Hinweise auf die entscheidenden Kennzeichen auseinander ge- halten werden. Hier hat der Beschauer volle Muße, sich die feineren Unterschiede mit der so unbedingt erforderlichen Sorgfalt einzuprägen und eigene Funde zu vergleichen. In einer Großstadt, die fernab von aus- gedehnteren Waldgebieten liegt, bringt die Unterhaltung einer solchen mehrwöchigen Ausstellung, wie sie in Breslau 1913 und 1915 stattge- funden haben, selbstverständlich sehr große Schwierigkeiten mit sich, von den für den Veranstalter erwachsenden Kosten nicht zu reden. Sehr empfehlenswert ist aber die Verbindung einer kleinen Ausstellung, wenn auch nur von kurzer Dauer, mit jeder Pilzwanderung; insbesondere bei ungünstigem Wetter entschädigt so der Leiter die Teilnehmer für das, was sie im Walde selbst nicht alle finden und betrachten konnten. Bei jedem Versuch, botanisch nicht vorgebildete Kreise in die Pilzkunde einzuführen, macht sich ein Mangel an guten Volksnamen störend geltend; denn wenn auch die Bezeichnung eines Pilzes durchaus noch nicht alles ausmacht, was über ihn zu wissen oder mitzuteilen nötig ist, so will mit Recht doch jeder vor allem eben einen Namen hören, und einheitliche Benennungen sind auch zur Verständigung unerläßlich. Die wissenschaftliche Bezeichnung, aus zwei lateinischen Worten für Gattung und Art bestehend, ist festgelegt, wenn auch nicht immer un- bedingt eindeutig verwendet; wie steht es aber um die deutschen Volks- namen? Wohl mancher Herausgeber eines Pilzbuches rühmt, abgesehen von der vollendet naturgetreuen Ausführung der Bilder, die guten deutschen Namen, die er für seine Pilze — gemacht hat; denn Worte, die im Volke üblich wären, sind das nur vereinzelt und können es auch nicht immer sein. Gibt es doch selbst im Osten, wo die Pilzkenntnis gegenüber der weitgehenden Unwissenheit und auf ihr beruhenden Mißachtung bei Niederdeutschen und Rheinländern gut zu nennen wäre, deren nicht II. Abteilung. Obst- und Gartenbau-Sektion. 21 mehr als dreißig oder vierzig. Besondere Bedeutung kommt hier den polnischen Bezeichnungen zu, und da wir ja zurzeit im Zeichen Polens stehen, sei ein Beispiel dafür angeführt. Der Butterpilz (Boletus luteus) der Bücher führt kaum irgendwo in Schlesien diesen Namen; in Breslau heißt er treffend Schälpilz, im östlichen Schlesien allenthalben Maschlok, Maischluk, Muschloke oder ähnlich. Alle diese Bildungen nun leiten sich von seinem polnischen Namen Maslok ab. Übrigens kann man meist sofort erkennen, ob ein Name ursprünglich ‘ oder künstlich ist. Die Ausdrucksweise des Volkes trifft den Pilz mit einem Wort: Galluschel, Betke, Blutreizker, Michaelipilz, Hasenpilz. Die Büchernamen dagegen bestehen, zumal wenn sie einfach Übersetzungen der lateinischen sind, aus zwei Wörtern: Baumbewohnender Blutmilch- pilz, rehbrauner Sturmdachpilz, nebelgrauer Trichterling, rauher Zärtling (Michael). Die Pilznamen tunlichst auf -ling reimen zu lassen, scheint auch gerade kein Bedürfnis vorzuliegen. Ricken, der in seinen deutschen Bezeichnungen ein besonderes Kennzeichen der Art zum Ausdruck bringt, hat einen reinschleimigbeschleierten Schneckling, elegantesten Wirrkopf und Exkrementen-Aftertintling. Das sind doch Wörter, gegen deren Festlegung sich Feder oder Setzer sträuben sollten. Wer bis zu diesen seltenen Formen vorgedrungen ist, kann ohnedies die Sprache der Wissenschaft nicht entbehren und ist an sie gewöhnt. Der Grau- oder Schneereizker des Breslauer Marktes (Tricholoma portentosum) heißt bei Lindau gar außerordentlicher Blätterschwamm. Freilich ist es einfacher, Namen selbst zu geben, als sich mit Pilzkundigen im Volke zu ver- ständigen, welches Wort für diesen oder jenen Pilz von alters her in ihrer Sprache lebt. Aber schließlich ist die Wahl des Namens nicht so wichtig; die Hauptsache bleibt die eigene Betätigung an den Pilzen selbst, und dazu gehört vor allem häufiges Beobachten derselben Art im Freien, Ver- gleichen der Funde mit einander, mit guten Abbildungen und Beschrei- bungen, Beachtung der Abweichungen vom gewohnten Aussehen, Ver- merke und Zusätze zu früheren Beobachtungen und immer neues Ver- gleichen und Verarbeiten. Das sind letzten Endes die besten Mittel und Wege zur Pilzkenntnis. 1916. 3 4 var Bus: 7 6 re IIND EN Pe RR HEARET ER TT Er Eu. { alt e2 Ri Sin EN Sn weh Air ag i ey Se H an N BI MAUER Fi re | une il HOSHADEN N Dar, Po Por ap pi ©. user -Sehlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur. EEK IF 94. Il. Abteilung. Jahresbericht. Geschichte u. Staatswissenschaften 1916. | a. Historische Sektion. oc SER NNUUN UN nn nn nn na mn m a nn Sitzungen der historischen Sektion im Jahre 1916. Sitzung am 24. Januar (gemeinsam mit der rechts- und staatswissenschaftlichen und der medizinischen Sektion). Herr Professor Dr. Schott sprach über Den Kampf des Staates gegen das Sinken der Geburtenziffern im alten Rom. Sitzung am 11. Dezember (gemeinsam mit der philologisch-archäologischen Sektion). Herr Geheimer Regierungsrat Professor Dr. R. Foerster hielt einen Vortrag: Der 200 jährige Geburtstag von Johann Jakob Reiske. 1916. N y an N j de w % ÄN Schlesische Gesellschaft für vaterländische Gultur. SYS >) 94. III. Abteilung. i Jahresbericht. Geschichte u. Staatswissenschaften 1916. b. Staats- u. Rechtswissenschaftliche Sektion. ©,c 32 SC zR — 2. Sitzungen der Sektion für Staats- und Rechtswissenschaft im Jahre 1916. 1. Gemeinsame Sitzung der Staats- und Rechtswissenschaftlichen, der historischen und der medizinischen Sektion am 24. Januar. Vorirag des Herrn Professor Dr. Schott: Der Kampf des Staates gegen das Sinken der Geburtenzifern im alten Rom. Der Vorsitzende erinnerte bei Eröffnung der Sitzung daran, daß das durch den Weltkrieg noch dringlicher als zuvor gewordene Problem der Bekämpfung des Geburtenrückganges schon einmal in der letzten Zeit vor dem Kriege die Vaterländische Gesellschaft beschäftigt und daß damals er selbst bereits auf den einzig großen historischen Vorgang im alten Rom hingewiesen habe, bei dem das Geburtenproblem nicht rein physiologisch- medizinisch, sondern auch von: der psychologiscken Seite angefaßt wurde. Professor Dr. Schott legte nun dar, wie zwar die Römer schon in den punischen Kriegen gewaltige Menschenverluste erlitten hatten, daß aber das Problem des stetigen Geburtenrückganges erst im letzten Jahr- hundert der Republik aus ganz ähnlichen wirtschaftlichen und sozialen Ursachen wie heute sehr dringend wurde, und wie Kaiser Augustus in langjährigem Bemühen unter harten Widerständen ein Gesetzeswerk zu- stande brachte, das ohne künstliche Mittel und ohne Zwang und Strafen, lediglich durch eine Änderung des Erbrechtes die Ehe- und Kinder- losigkeit wirksam bekämpfte. In Rom war es damals ganz allgemeine Übung, ein Testament zu machen, und zugleich war es Volkssitte, es gehörte sozusagen zum guten Ton, daß man in seinem Testament auch alle möglichen weiteren Verwandten, die für diesen Fall nicht erbberechtigt waren, und seine guten Freunde bedachte Die Lex Julia et Papia Poppaea vom Jahre 9 n. Chr. schränkte nun für alle Ehe- und Kinder- losen das Erbrecht ein, soweit es sich nicht um Verwandtschaft bis zum dritten Grade aufwärts oder abwärts — also Vater, Großvater, Urgroßvater, Sohn, Enkel, Urenkel — handelte. Ehelos im Sinne des Gesetzes waren jeder unverheiratete Mann im Alter von 25 bis 60 und jede unverheiratete Frau im Alter von 20 bis 50 Jahren, auch Witwer und Witwen in diesem Alter. Alle diese Personen hatten mit der erwähnten Ausnahme kein 1916. 1 b) Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. | Erbrecht. Den kinderlosen Verheirateten wurden auch gestorbene Kinder nicht zugute gerechnet, außer den im Kriege gefallenen. Hatte ein Ehe- paar ein Kind, so hatte es volles Erbrecht. Wurde der Mann aber Witwer, so nutzte ihm das eine Kind nichts, er galt dann als ehelos.. Nur wenn er drei Kinder aus der Ehe hatte und dann Witwer wurde, behielt er das volle Erbrecht. Das war ein Antrieb dazu, in der Ehe sich nicht auf ein oder zwei Kinder zu beschränken, da sonst die Gefahr bestand, daß durch einen solchen Todesfall auch die vorhandenen ein oder zwei Kinder in ihrem zukünftigen Vermögen geschädigt wurden, weil der Vater dann überhaupt nicht erben konnte. Die Mehrung der Kinder schädigte also nicht die wirtschaftlichen Aussichten der bisherigen, sondern vergrößerte sie vielmehr. Zur Vermeidung von Härten bestand natürlich eine Reihe von Dispensvorschriften. Was aber den Ehe- und Kinderlosen auf diese Weise an Erbschaften aus der Seitenverwandtschaft und Freundschaft ent- ging, das fiel als „praemia parentum“, als Elternprämie, denjenigen im Testament Genannten zu, die das jus trium liberorum hatten; wer in Rom lebte, mußte dazu 3, wer in Italien lebte, 4, wer in der Provinz lebte, 5 Kinder haben. Erst beim völligen Mangel solcher Erbberechtigten fiel die Erbschaft an den Fiskus. Der Glaube, daß diese ganze Gesetzgebung nur eine Finanzmaßregel gewesen sei, ist also verfehlt, ebenso wie die Annahme, daß es nur ein Mittel zur Hebung der Sittlichkeit gewesen sei. Die praemia parentum bestanden aber nicht nur in dem erweiterten Erbrecht, sondern es gehörten dazu auch besondere Ehrenrechte, sowie die weit- gehende Befreiung von verschiedenen allgemeinen Lasten und Verpflich- tungen. Das Gesetz bestand drei Jahrhunderte und war wirksam, denn die Klagen über den Rückgang der Bevölkerung hörten schließlich auf. Seine Aufhebung erfolgte erst unter der Einwirkung anderer Zeitanschau- ungen, die das Christentum gebracht hatte. Zum Schlusse führte der Vortragende aus, daß er den in der Lex Julia geschaffenen wirtschaftlichen Ausgleich zwischen Ehe- und Kinderlosen und Kinderreichen auch für übertragbar auf unsere Zeit machte, und entwickelte den Plan einer unseren Verhältnissen angepaßten entsprechenden Änderung unseres Erbrechts. Dabei müßte aber auch das Prämiensystem reichlich ausgebildet werden für die Klassen, für die das Erbrecht keine große Rolle spielte. An der Besprechung nahmen teil: Herr Dr. M. Chotzen, Herr Prof. Dr. Leonhard und Magistratsassessor Goerlitz. 2. Gemeinsame Sitzung der philologisch-archäologischen und der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Sektion am 31. Januar. Vortrag des Herrn Geheimrat Provinzial-Schulrat Dr. Thalheim: Die neuen alexandrinischen Rechtsurkunden. An der nachfolgenden Diskussion beteiligte sich Herr Geheimrat Foerster und Professor Leonhard sowie der Herr Vortragende. II. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 3 0) 3. Sitzung am 5. Februar. Vortrag des Herrn Privatdozenten Dr. Georg Obst, zurzeit stellver- tretenden Vorsitzenden der Landes-Preis-Prüfungsstelle für das Königreich Sachsen, über: Prüfungsstellen für Lebensmittelpreise. Nach einem Rückblick auf die Verhältnisse, die den Bundesrat zum Erlaß der „Bekanntmachung über die Errichtung von Preisprüfungsstellen und die Versorgungsregelung‘‘ vom 25. September 1915 veranlaßten, er- örterte der Vortragende den Inhalt des Gesetzes, Organisation und Auf- saben der Preisprüfungsstellen und die mit dieser Einrichtung in Sachsen gemachten Erfahrungen. Die Preisprüfungsstellen, in denen Vertreter der Erzeuger, Händler und Verbraucher sowie unparteiische Sachverständige zusammenwirken, sollen die den örtlichen Verhältnissen angemessenen Preise ermitteln, Gutachten über die Angemessenheit von Preisen für Gerichte und Verwaltungsbehörden abgeben, und die zuständigen Stellen bei Überwachung des Verkehrs mit Gegenständen des notwendigen Lebensbedarfs und bei der Aufklärung der Bevölkerung über die Preis- entwicklung und deren Ursachen unterstützen. Insgesamt bestehen gegen- wärtig in Deutschland 800 örtliche Preisprüfungsstellen, davon 480 in Preußen und 120 im Königreich Sachsen. Während die Errichtung von Preisprüfungsstellen für die Gemeinden mit mehr als 10000 Einwohnern obligatorisch, für die anderen fakultativ ist, ist die Errichtung von Preis- prüfungsstellen für größere Bezirke den Landeszentralbehörden überlassen. Solche den Geschäftsverkehr der örtlichen Prüfungsstellen zusammen- schließende Landes-Preisprüfungsstellen bestehen in Bayern, Baden, Königreich Sachsen, Württemberg und Elsaß-Lothringen. Preußen hat bisher nur eine Prüfungsstelle für die Provinz Ostpreußen errichtet, doch sollen solche provinziale Preisprüfungsstellen demnächst auch in anderen Provinzen geschaffen werden. Für das Reichsgebiet besteht eine Preisprüfungsstelle mit dem Sitz in Berlin; sie soll den Reichskanzler beraten und mit den anderen Prüfungsstellen so zusammenarbeiten, daß das ganze wie ein großer einheitlicher Organismus wirkt. Wenn die Preisprüfungsstellen — so führte der Vortragende dann aus — die auf sie gesetzten großen Hoffnungen bisher noch nicht erfüllt haben, so liegt das an den vielen Schwierigkeiten, mit denen sie bei ihrer Arbeit zu kämpfen haben. Sie vereinigen Vertreter entgegengesetzter Interessen, so daß die Erreichung einer Mehrheit für die Festsetzung eines angemessenen Preises oft unmöglich erscheint und der Vorsitzende eine Einigung auf einer mittleren Linie herbeizuführen suchen muß. Die Ermittlung der Gestehungskosten wie der angemessenen Zuschläge kann kaum jemals generell, sondern muß gewöhnlich von Fall zu Fall erfolgen und zu alle- ‚dem war es noch nicht überall möglich, gleich die richtigen Männer und Frauen in die Prüfungsstellen zu berufen. Bei der dauernden Überwachung 1* 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. der Erzeuger und Händler auf Berechnung angemessener Preise und Inne- haltung der festgesetzten Höchstpreise hat man es auch mit vielerlei Um- gehungsversuchen zu tun. Gegen die Reichs-Preisprüfungsstelle aber sind ebenfalls zahlreiche Klagen laut geworden, die hauptsächlich dahin gehen, daß sie Höchstpreise oft erst viel zu spät festgesetzt und berechtigte Wünsche nicht berücksichtigt habe, und daß so viele Inkonsequenzen vor- kämen. Der Vortragende glaubt indes, daß die auf die Preisprüfungsstellen sesetzten Hoffnungen voll und ganz in Erfüllung gehen würden, wenn erst ein weiterer Ausbau der örtlichen wie der zentralen Prüfungsstellen erfolgt und ein engeres und schnelleres Zusammenarbeiten aller dieser Stellen herbeigeführt sein werde. Es fand eine lebhafte Besprechung statt, an der sich beteiligte Herr Stadtrat Prescher, Herr ÖOberbürgermeister Matting, Herr Stadtrat Dr. Wagner, Herr Magistrats-Assessor Dr. Lukaschek, Herr Stadtrat Birke und der Vortragende selbst. 4. Sitzung "am'p. Marz Erörterung über die Kleinwohnungsfrage. Grundlagen und Richtlinien. Berichterstatter: Herr Rechtsanwalt Dr. K. Steinitz und Herr Professor Dr. Adolf Weber. Rechtsanwalt Dr. Steinitz, der Vorsitzende der Ortsgruppe Breslau der Gesellschaft für soziale Reform, knüpfte an die kürzlich im Breslauer Gemeindeblatt erschienene Statistik der leerstehenden Wohnungen an. Die Statistik zeige eine kleine Erleichterung des Wohnungsmarktes, so daß der Satz von 3 Proz. leerstehender Wohnungen, der im allgemeinen als notwendig angenommen werde, um einen glatten Wohnungswechsel zu ermöglichen, ungefähr erreicht sei, aber nur im Durchschnitt und nicht für die Kleinwohnungen, die Ein- und Zweizimmerwohnungen, und erst recht nicht für alle Stadtteile; so sei in der Nikolaivorstadt der Leer- stand sogar von 2,1 auf 1,4 gesunken. Der Redner vertrat auch die Ansicht, daß nach dem Kriege aus den bereits wiederholt erörterten Ursachen: Gründung neuer Hausstände durch kriegsgetraute Paare, Ein- schränkung anderer Hausstände und vermehrter Zuzug zur Großstadt, sicherlich in unserer Stadt und vielleicht allgemein eine Knappheit an Kleinwohnungen sich bemerkbar machen werde. Der Redner ging dann auf die Grundlagen des Wohnungsmarktes überhaupt ein. Wie es bei vielen anderen Produktionsverhältnissen ist, so werde auch der Wohnungs- markt von dem Prinzip des Selbstinteresses beherrscht. Der vielfach gegen die Terraingesellschaften erhobene Vorwurf, daß sie an der Verteuerung der Wohnungen die Schuld trügen, sei nicht zutreffend. Die Bewertung des Bodens ergebe sich aus der Kapitalisierung der von ihm zu erwartenden Erträge. Eine radikale Umgestaltung dieser Verhältnisse sei nicht möglich. II. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 5 Dagegen werde die Politik sich gegen eine Steigerung der Mieten richten müssen. Bei Erleichterungen sei zu berücksichligen, daß diese sofort kapitalisiert werden und nur der augenblickliche Besitzer den Vorteil habe, Wolle man die Belastung des Grundbesitzes abbauen, so müsse man dafür sorgen, daß dieser Abbau nicht dem augenblicklichen Besitzer zugute komme, sondern dem Mietsverhältnis. Weiter besprach Dr. Steinitz die Abhängigkeit des Baumarktes vom allgemeinen Geldmarkt, die die merkwürdige Erscheinung zeitigen könne, daß zuweilen trotz starker Nach- frage nach Wohnungen und reichen Angebots an Boden nicht gebaut werden könne, weil das Kapital nicht zu einem erschwinglichen Zinsfuß aufzutreiben sei. Dazu komme als psychologisches Moment die Unlust des Kapitals, das sich durch die schwankenden Konjunkturen, die hohen Risiken, die starke Einwirkung der Verwaltungsmaßnahmen und die in neuerer Zeit vorgenommenen verschiedenen Experimente auf dem Gebiete der Steuer abschrecken lasse und anderen Aufgaben zuwende, so daß als Erbauer und Besitzer namentlich der Kleinwohnungshäuser gerade wirtschaftlich schwache Existenzen erscheinen. Bei der Besprechung der Richtlinien für eine Reform hob der Redner hervor, daß die Privatindustrie nicht entbehrt werden könne, wenn man bedenke, was für gewaltige Werte im Grund und Boden liegen; so beträgt in Berlin die Summe der Hypotheken 7 Milliarden und der Grundstückswert 16 Milliarden Mark. Die Reform dürfe nur eine Ergänzung und Leitung der kapitalistischen Wirtschaft sein. Ob es erforderlich sei, neben dem Privatunternehmen den Eigenbau zu pflegen durch gemeinnützige Genossenschaften oder Kommunen, sei örtlich und zeitlich verschieden zu beurteilen. Bei Erleichterungen der Belastung des Bodens sei dafür zu sorgen, daß sie nicht den einzelnen, sondern der Wohnungsproduktion zugute komme. Es müsse eine Dezentralisation durch Schaffung fern vom Mittelpunkt der Großstadt gelegener Wohnviertel ein- treten, wobei die Verkehrspolitik wichtige Aufgaben zu erfüllen habe. Professor Dr. Adolf Weber stellte sich in seinen Ausführungen im wesentlichen auf den gleichen Standpunkt. Es gelte Schlagworte zu be- seitigen, die tief Wurzeln geschlagen haben. Die Bodenfrage sei von ver- hältnismäßig sekundärer Bedeutung, entscheidend sei dagegen, daß die Grund- rente ihrerseits eine Funktion der Mietpreise sei. Verallgemeinerungen und Vorurteile erschweren die Beurteilung der Frage. Man trete für den Flachbau im Gegensatz zum Etagenbau ein, wer aber Realpolitik treiben wolle, der müsse auch die Kostenfrage und die Wohnsitten berücksichtigen. Die Maßnahmen, die seitens der öffentlichen Gewalt in Betracht kommen, seien in Zwangsmaßnahmen und Hilfsmaßnahmen einzuteilen. Unter den Zwangssmaßnahmen seien die Steuern am beliebtesten. Was ist in den letzten zehn Jahren seitens des Staates und der Gemeinden gerade mit sogenannten bodenreformerischen Steuern experimentiert worden! Die Folge ist, daß Kapital und Unternehmungslust dieses Gebiet meiden. Mit Ö Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Culiur. anderen Zwangsmaßnahmen werde nicht viel erreicht werden. In gewissem Umfange notwendig seien allerdınzs Verordnungen, welche Mindestforde- rungen hinsichtlich der Gestaltung der Wohnung festlegen; sie veranlassen aber auch gewöhnlich eine Verteuerung. Die Bedeutung der Hilfsmaß- nahmen dürfe nicht überschätzt werden. Es könne manches geschehen neben der Dezentralisation, wie Einrichtung von Wohnungsnachweisen, Verkauf billigen Geländes durch die Stadtverwaltung bei geeigneten Gelezen- heiten, die ultima ratio aber müsse bleiben das Selbstbauen der Ge- meinden. Der Laie unterschätze allerdings die hierfür nötigen Mittel, Das meiste werde doch dem Privatkapital überlassen werden müssen. Es sei kein Zweifel darüber, daß innerhalb der kapitalistischen Wirtschafts- ordnung die Wohnungsfrage nur dann gelöst werden könne, wenn man Kapital und Unternehmungslust wieder mehr für den Kleinwohnungsbau interessieren würde. Sie erfüllen eine wichtige volkswirtschaftliche Mission, auch wenn sie es aus kapitalistischen Interessen tun, und diese Mission müsse erleichtert, nicht erschwert werden. Darum, wenn man ein Schlag- wort wolle, mehr Freiheit und weniger Zwang auf dem Gebiete der Woh- nungsproduktion! An der Diskussion beteiligten sich: der Vorsitzende, Herr Assessor Dr. Penfick, Herr Dr. rer. pol. Fritz Terhalle, Herr Dr. Menzel (Vertreter der Bodenreformgesellschaft), Herr Stadtrat Neisser, Herr Justizrat Milch, Herr Baurat Henry, Herr Oberpräsidialrat Dr. Schimmel- pfennig, Herr Stadibaurat Bender und die beiden Berichterstatter. 5. Sitzung am 10. April. I. Zum Delegierten der Sektion in das Präsidium wurde Herr Pro- fessor Dr. Adolf Weber gewählt, II. Vortrag des Direktors des Königl. Sächs. Statistischen Landesamts, Geheimrat Würzburger: Unsere Bevölkerung. Rückblick und Ausblick. Der Vortragende führte aus: Daß die Geburten, die nach Ablauf der napoleonischen Ära dauernd gestiegen und in den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts einen Höhepunkt erreicht hatten, von da ab wieder gefallen sind, bis sie auf der alten normalen Höhe standen, ist Tatsache. Nur ist die Ursache dieser Erscheinung zunächst darin zu suchen, daß nach 1869, dem Jahre der Einführung der Gewerbefreiheit, die Eheschließungen wesentlich stiegen und in der Zeit bis 1875, also in sechs Jahren, ein Mehr von 215 000 gegen früher ergaben. Dies mußte zu einer Steigerung der Geburten, und als diese vorübergehende Vermehrung der neuen Ehen wieder zurückging, zu einem Rückschlag im Anfang der achtziger Jahre führen. Das nochmalige Ansteigen der Geburten- zahl bis 1886 wurde ausgeglichen durch die damals einsetzende Hochflut ° III. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 7 der Massenauswanderung, die in anderthalb Jahrzehnten 2 Millionen Menschen zumeist nach Amerika führte. So ging die Bevölkerungszunahme trotz hoher Geburtenzahl langsam vorwärts und erreichte erst 1892 die 50. Million. Allerdings ging dann infolge des riesigen wirtschaftlichen Aufschwungs die Auswanderung zurück, und gerade dies führte aus Furcht vor Übervölkerung zu den Kolonialbestrebungen, umsomehr, als infolge der erfolgreichen Bekämpfung der Seuchen auch ein wesentliches Sinken der Sterblichkeitsziffer einsetzte. Durch das Sinken der Sterblichkeitsziffer wurde trotz andauernden starken Rückgangs der Geburten die Verlustziffer nicht nur ausgeglichen, sondern die Bevölkerungszahl wuchs rasch und erreichte vor dem Kriege 68 Millionen. In diesem Schwanken der Verhältnisse zeigt sich doch ein einheitlicher Zug in der Industriealisierung und Verstädterung, die jedoch, da der Boden des Reichs für eine wachsende ländliche Bevölkerung nicht ausgereicht und die Armeen, die uns jetzt verteidigen, nicht aufgebracht hätte, vom Standpunkt der Bevölkerungspolitik nicht zu beklagen ist. In jedem Falle ist der Geburtenrückgang nur als eine Erscheinung zu werten, die ihrer Zeit eigen und daher vergänglich ist. Die Ursachen, denen man sie zu- schreibt, waren schon im 19. Jahrhundert vorhanden, ohne die gleichen Folgen zu zeigen. Die falschen Vorstellungen, die durch ihre Populari- sierung gefährlich sind, werden von denen hervorgerufen, die statistische Untersuchungen ablehnen, und doch ruht die Bevölkerungswissenschalt ausschließlich auf statistischer Grundlage. Auch der Glaube an die minder- starke Abnahme der unehelichen Geburten ist durch nichts bewiesen und ist nur hervorgerufen durch einen Denkfehler. Die meisten unehelichen Geburten sind nur voreheliche Erstgeburten. Die Abnahme zeigt sich aber, wie in Sachsen festgestellte Zahlen beweisen, nicht bei den ersten, sondern erst bei den späteren Kindern. Ferner ist bei der Beurteilung des Ge- burtenrückganges zu beachten, daß von 1900 ab die Zahl der Ehe- schließungen sich vermindert und auch das Heiratsalter steigt. Dies, zusammen mit der aus hygienischen Gründen wünschenswerten Ver- größerung der Zwischenzeiten zwischen den Geburten der einzelnen Kinder, erklärt nahezu restlos die Geburtenverminderung, die jedoch durch die Abnahme der Kindersterblichkeit vollkommen aufgehoben wird; denn es gelangen weitaus mehr Kinder als früher in das 6. Lebensjahr, und so bleibt die Anzahl der Erben in den Familien die gleiche, wie vorher. Demgemäß kann ein Schluß auf die künftige Volkszahl nur gezogen werden, wenn die Geburtenzahl und die Kindersterblichkeit zusammen betrachtet werden, und dies ergibt, daß die Bevölkerungszahl sich nicht auf absteigender Linie befindet, sondern daß sich nur das Verhältnis der Kinder zu den Erwachsenen zugunsten der letzteren verschiebt, eine Er- scheinung, die in Frankreich allerdings aus wesentlich anderen Gründen schon lange vorliegt und dahin geführt hat, daß das Verhältnis der wehr- 8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. fähigen Mannschaft im Reich und in Frankreich noch immer 100:71 beträgt. Sind nun auch ohne genügenden Grund Gespenster an die Wand gemalt worden, so wäre doch eine Beschleunigung der Geburten freudig zu begrüßen. Das wird sich jedoch durch keinerlei Zwangs- maßnahmen und Druck auf die Eltern, sondern nur durch Herabsetzung des Heiratsalters, also durch Ermöglichung früherer Ehen, erreichen lassen. Auch dies kann nicht zum Ausgleich der Spannung in bezug auf Rußland führen, dessen ungeheure Bodenfläche unbegrenzter Bevölkerunes- vermehrung günstig ist, während der Boden Deutschlands für seine Volks- menge bald zu eng werden wird. Es muß also Raum für weiteres Wachs- tum geschaffen werden durch Erschließung des großen Kolonial- landes im Osten. Die Wunden, die der Weltbrand verursacht hat, und die sich auch in einer großen Geburtenverminderung auf lange Jahre hinaus äußern müssen, werden im Wechsel der Geschlechter heilen, und die Erinnerung an den kraftvollen Aufschwung des Deutschtums in diesem schweren Kampfe zeigt, daß der Geist des Volkes sich aufwärts bewegt, ein sicheres Zeichen, daß auch die Volkszahl, der wertvollste Teil der deutschen Kraft, in Zukunft wieder aufwärts schreiten wird, wie bisher. An der folgenden Aussprache beteiligte sich Prof. Schott, Prof. Weber, Dr. Wagner und Sanitätsrat Callomon und der Vortragende. 6. Sitzung am 22. Mai. Der Vorsitzende widmet dem am Tage vorher verstorbenen Landes- hauptmann von Busfe einen Nachruf, die Versammlung ehrte den Hin- geschiedenen in üblicher Weise. Vortrag des Herrn Amtsgerichtsrat Geheimen Justizrats Fränkel: Massnahmen zur Bekämpfung der Verwährlesung der Jugend. An Hand der Kriminalstatistik legte der Vortragende dar, daß die Zahl der Straftaten Jugendlicher im letzten Vierteljahrhundert vor Einführung der Jugendgerichte nicht nur an sich, sondern auch im Verhältnis zur Bevölkerungszahl stark gestiegen war. Die segensreiche Wirksamkeit der 1909 ins Leben getretenen Jugendgerichte brachte ein sichtliches Absinken der Kriminalität, und das Kriegsjahr 1914 sogar einen erheblichen Rück- sang. 1915 aber schnellte die Kriminalitätsziffer in einer über alles bis- herige Maß hinausgehenden Weise empor, und im laufenden Jahre ist es damit noch schlimmer geworden. Allerdings ist eine große Zahl der Straf- taten gerade durch den Krieg veranlaßt. Viele kaufmännisch und gewerblich tätige Jugendliche haben infolge der Abhängigkeit ihrer Stellung allerhand kriegswirtschaftliche Verordnungen übertreten, und das läßt sich nicht als Verwahrlosung bezeichnen. Auf Grund seiner Erfahrungen als Jugendrichter zeigte der Vortragende dann, wie eine weitere große Zahl III. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 9 von Straftaten sich auf die durch den Krieg entflammte Phantasie, den Nachahmungstrieb und die Abenteuerlust der Jugendlichen zurückführen läßt. Wäre der Krieg nur kurz gewesen, so hätte man auch nur eine günstige Wirkung auf die Gemüter der Jugendlichen zu verzeichnen gehabt; erst seine Länge brachte die üblen Folgen. Mitwirkend waren hierbei die fehlende oder unzulängliche Obhut über die Jugendlichen, die durch den Mangel an Arbeitskräften veranlaßte plötzliche Aufnahme vieler Jugend- licher in Beschäftigungen, in denen sie sanft angefaßt und hoch bezahlt und dadurch übermütig und leichtsinnig gemacht wurden, und vielfach auch wirkliche Not. Bei Besprechung der Maßnahmen, die zur Bekämpfung der Ver- wahrlosung geeignet wären, gedachte der Vortragende zunächst der von verschiedenen kommandierenden Generalen erlassenen, den Besuch öffent- licher Lokale und das nächtliche Herumtreiben Jugendlicher einschränkenden und den Sparzwang einführenden Verordnungen sowie des vom Breslauer stellvertretenden Generalkommando unterm 11. März 1916 an die Jugend- lichen und Erzieher gerichteten mahnenden und warnenden Aufrufs. Er selbst wandte sich gegen die polizeiliche oder gerichtliche Bestrafung solcher Vergehungen, die im Grunde nicht mehr seien als eine Disziplin- losigkeit, und befürwortete statt dessen die Einführung des Sonntag- nachmittag-Arrestes bis zu 6 Stunden durch die Schulverwaltungen. Bei bedenklicheren Verfehlungen empfehle sich polizeiliche Mitteilung an den Jugendrichter, damit dieser zunächst durch nicht ins Strafregister ein- zutragende Verweise auf die Übeltäter einwirken könne. Das Hauptgewicht legte der Vortragende auf die umfassende Anwendung von Erziehungs- und Fürsorgemaßnahmen, und besonders forderte er eine Vermehrung der segensvoll wirkenden, in Breslau aber der Zahl nach unzulänglichen Kinderhorte und ein regeres Interesse der Lehrerschaft und der Frauen- welt für die Beaufsichtigung und Erziehung der durch die Kriegsverhält- nisse sittlich gefährdeten Jugend. Schließlich gab er folgende Zusammen- fassung seiner Vorschläge: „1. Ausdehnung der Erziehungsarbeit und Jugendfürsorge- tätigkeit. Zu diesem Behufe: a. Werbung neuer Kräfte, b. Werbung der Frauen zur Übernahme des Amtes als Vormünder und Pfleger, c. Er- weiterung und Vermehrung der Horte, d. tätige Anteilnahme der Studenten, Lehrer und Gebildeten jeder Art an ihrer Förderung und Entwicklung, e. Einwirkung der Schulbehörden auf die Lehrer im Sinne solcher Anteil- nahme sowie zur Herbeiführung ihrer umfassenden Mitwirkung in der Jugendfürsorge. 2. Nähere Anweisung der Polizeibehörde an ihre Organe über die Ausführung des Aufrufs vom 11. März 1916 und über die Erstattung von Anzeigen an die Schulbehörden. 3. Sonntagsnachmittags-ÄArrest segen die Zuwiderhandlungen in den Schulen im Disziplinarwege. 4. Mit- 10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultuı. teilung wiederholter Ärreststrafen an den Jugendrichter (vormundschafts- gerichtliche Verwarnung), sachgemäße Anwendung der Fürsorgeerziehung, Schutzaufsicht. 5. Zusammenwirken der Schule und der Polizeibehörde mit dem Jugendrichter. 6. Allmonatliche Kontrolle der Arbeitsbücher durch den Lehrer der Fortbildungsschule und Meldung auffällig schnellen Stellenwechsels an den Vormundschaftsrichter. 7. Öffentliche Belehrung über die auf die Eingehung und Lösung der Arbeits- und Dienstverhältnisse bezüglichen gesetzlichen Bestimmungen. 8. Strafandrohung an die Gewerbetreibenden, die Alkohol und Tabak an Personen unter 17 Jahren verabfolgen, und an die Wirte, die solche Jugendliche in Schankstätten dulden.“ Mit dem Wahlspruch: „Nicht neue Strafmittel, sondern hin- gebendste Fürsorgetätigkeit!‘‘ schloß der Vortragende seine Ausführungen. An der Diskussion beteiligten sich: der Vorsitzende, Herr Schulrat Kionka, Herr Geh. Regierungsrat Kaufmann, Herr Oberpräsidialrat Schimmelpfennig, Herr Polizeipräsident von Oppen, Frau Geheimrat Kaufmann, Herr Propst Decke, Frau Geheimrat Schüler und der Herr Berichterstatter. 7. Sitzung am 16. Oktober. Besprechung der Gesetzentwürfe über: Schätzungsämter und Stadtschaften und ihrer Beziehungen zum Realkredit und zur Wohnungsreform. Berichterstatter: Herr Justizrat Bitta. Mitberichterstatter: Herr Justizrat Dr. Milch. Bezüglich der Schätzungsämter bejahte Justizrat Bitta die Frage, ob ihre Einführung überhaupt notwendig und ob sie gerade in gegen- wärtiger Zeit angemessen sei. Die Haus- und Grundbesitzervereine hätten seit vielen Jahren die Einführung beantragt. Die durch den Krieg bewirkte Verschlimmerung der Lage des Grundbesitzes hatte die baldige Vorlegzung des Entwurfs notwendig gemacht, um rechtzeitig Maßnahmen zu ermöglichen, die wenigstens beim Eintritt des Friedens eine baldige Ge- sundung der Verhältnisse versprechen. Es handle sich nicht nur um den Schutz des gegenwärtigen Hausbesitzes, sondern auch um Förderung des Wohnungsneubaues. Von dem erforderlichen Kapitalbedarf von jährlich einer Milliarde habe bisher das Privatkapital etwa die Hälfte über- nommen. Durch erhebliche Ausfälle der zweiten Hypotheken und sonstige Rechtsmißstände sei aber eine Abwanderung des Privat- kapitals vom Wohnungsbau erfolgt, und es gelte in erster Linie dieses Privatkapital durch Schaffung möglichster Sicherheit dem Wohnungsbau zu erhalten bezw. wieder zu gewinnen. Das könne aber, abgesehen von anderen Rechtsmaßnahmen, wie z. B. dem inzwischen ergangenen Reichs- gesetz vom 3. Juni 1915, welches die Vorausverfügung über Mieten Il. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 11 einschränkt, nur durch Schaffung einer zuverlässigen Grundlage für die Schätzung der zu beleihenden Grundstücke geschehen. Die vorgeschlagene behördliche Ausgestaltung der Schätzungsämter schaffe die Gewähr, daß insbesondere die subjektive Beurteilung der Bau-, Wohnungs- und Verkehrsverhältnisse bei der Schätzung des Einzel- schätzers, in einem kollegialen Schätzungsamt eine zuverlässigere Grundlage in dem vorhandenen Schätzungsmaterial, sowie in der Mit- wirkung anderer Schätzer erhalte. Die Gefahr einer bureaukratisch- schematischen Behandlung sei nicht vorhanden, wenn die der Selbst- verwaltung übertragene Wahl tüchtige und großzügige Schätzer treffe. Auch eine Verzögerung sei nicht zu befürchten, da bei geringeren Objekten bis zu 20000 Mark die Schätzung nach den Beschlüssen der Kommission einem einzelnen Schätzer, allerdings unter Prüfung durch den Vorsteher des Schätzungsamis übertragen werden könne. Die Anlehnung der Schätzungsämter an die Kommunalverbände mache es allerdings erforderlich, Vorsorge zu treffen, daß die Schätzungsämter nicht im In- teresse städtischer Boden- oder Steuerpolitik mißbraucht werden. Die Kommission habe verschiedene dem entgegentretende Bestimmungen dem Entwurf beigefügt. Der in weiten Kreisen bestehende Wunsch, die Bewertung durch die Schätzungsämter auch für die Veranlagung zur Grundsteuer nutzbar zu machen, habe sich jedoch nicht verwirklichen lassen, da nicht in allen Gemeinden eine Grundsteuer nach dem gemeinen Wert bestehe und im übrigen die Verhältnisse in den verschiedenen Steuergesetzen so verschieden geregelt seien, daß die Feststellung des Schätzungsamtes für die Steuerveranlagung ohne eine Änderung dieser Gesetze nicht maßgebend sein könne. Der von allen Beteiligten geltend gemachte Wunsch, über Zweck und Richtlinien der Schätzung nähere Grundsätze in das Gesetz selbst aufzunehmen, sei von der Kommission durch ein Kompromiß mit der Regierung erfüllt worden. Danach habe die Schätzung nach dem gemeinen Werte zu geschehen, und als gemeiner Wert sei der Wert anzusehen, den das Grundstück für jeden Besitzer habe. Bei der Fest- stellung dieses Wertes seien unter Berücksichtigung der dauernden Eigenschaften des Grundstückes zum Anhalt zu nehmen in erster Linie der Ertrag, den das Grundstück bei ordnungsmäßiger Bewirtschaftung jedem Besitzer nachhaltig gewähren könne, sowie die im gewöhnlichen Verkehr für Grundstücke in gleicher oder gleichwertiger Lage ge- zahlten Kaufpreise, letztere insbesondere bei Grundstücken, die keinen oder einen verhältnismäßig geringen Ertrag haben. Der Wunsch weiter Kreise auf Erhöhung der Mündelsicherheitsgrenze bei Hausgrund- stücken auf 60 Prozent sei in erster Lesung durch Annahme einer ent- sprechenden Bestimmung zwar erfüllt worden, in zweiter Lesung habe jedoch diese infolge des Widerspruchs der Kgl. Staatsregierung wieder 12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. gestrichen werden müssen. Endlich sei der sogenannte Schätzungs- zwang, das heißt die Verpflichtung der öffentlichen Kreditanstalten, nicht nur eine amtliche Schätzung einzuholen, sondern sie auch ihrer Beleihung zugrunde zu legen, dadurch wesentlich abgemildert worden, daß ein solcher Schätzungszwang für Tilgungshypotheken, welche an Stelle vorhandener Beleihungen treten, innerhalb zehn Jahren nach In- krafttreten des Gesetzes, nicht statifinden solle. Das Inkrafttreten des Gesetzes sei aber von der Kommission dahin verschoben, daß es nicht früher als nach Ablauf von zwei Jahren seit der Beendigung des jetzigen Kriegszustandes und nicht später als am 1. Juli 1922 durch Königliche Verordnung in Kraft gesetzt werden dürfe. Vor dem 1. Juli 1922 solle der Schätzungszwang nur für Neubauten und für Neubeleihungen zu- lässig sein. Der Gesetzentwurf über die Stadtschaften bestimme, daß zum Zwecke der Gewährung von Darlehen zur Förderung der Gründung von Stadt- schaften 10 Millionen Mark der Preußischen Zentral-Genossenschaftskasse zur Verfügung gestellt werden sollen. Stadtschaften seien neue öffentliche Kreditanstalten auf gemeinnütziger Grundlage, welche der Förderung un- kündbarer Tilgungshypotheken dienen sollen. Die erforderlichen Darlehnsmittel sollen durch Ausgabe mündelsicherer Pfandbriefe auf- gebracht werden. Der Darlehnssucher, welcher an die Vereinigung der Hausbesitzer (Stadtschaft) angeschlossen ist, könne hiernach jederzeit ein Darlehn ohne irgendwelche Provisionen erlangen. Bei niedrig verzins- lichen Pfandbriefen und etwaiger Geldknappheit werde er zwar durch den Verkauf der Pfandbriefe weniger als den Nennbetrag erlösen, er brauche aber im Falle der Rückzahlung den Nennbetrag auch nicht bar zu zahlen, sondern könne die Rückzahlung durch entsprechende Pfandbriefe bewirken, die er bei niedrigerem Kurse aufkaufen könne. Allerdings hänge die Lebensfähigkeit der neuen Stadtschaft von der Garantie des betreffenden Kommunalverbandes ab. Bisher hätten sich jedoch nur die Provinzen Ost- und Westpreußen zur Übernahme einer solchen Garantie bereit erklärt. Endlich habe die Kommission noch die Königl. Staatsregierung ersucht, 1. für Hausbesitzer und sonstige in Kriegsnot geratene Personen die Zins-, Steuer- und Mietsrückstände ganz oder zum Teil auf Staatsmittel zu übernehmen, 2. die Besitzwechselabgabe zu ermäßigen, sowie durch sonstige Maßnahmen dem nachstehenden Gläubiger das Ausgebot seiner Hypothek im Zwangsversteigerungsverfahren zu erleichtern, 3. durch Anschluß der Stadtschaften an bestehende oder neu zu gründende Bank- institute den Umtausch der Pfandbriefe in bares Geld zu erleichtern und deren Kursstand zu fördern, 4. Beleihüungen durch die Stadtschaften bis zu 75 Prozent des geschätzten Wertes zu ermöglichen und bei Bemessung der Tilgungs- und Abzahlungssätze der Leistungsfähigkeit des III. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 13 Grundbesitzes, insbesondere für die ersten zehn Jahre nach dem a Kriege Rechnung zu tragen. Justizrat Bitta schloß seinen Vortrag mit dem Hinweis darauf, daß er für die Zeit nach dem Kriege nicht schwarz sehe. Die Zinsen unsrer Kriegsanleihen werden Anlage suchen und solche nicht in ausländischen Werten wählen, sondern in Pfandbriefen. Der Zinsfuß werde allerdings zunächst nicht unter 5 Prozent sinken, solange die Kriegsanleihe diese Verzinsung abwerfe. Vielleicht könne aber das Reich zugunsten des Pfand- briefmarktes eine Ablösung des fünften Prozents der Kriegsanleihen herbeiführen. Der Mitberichterstatter Justizrat Dr. Milch ging von der Ansicht aus, daß die in der Begründung des Gesetzentwurfes über die Schätzungs- ämter enthaltene allgemeine Verurteilung der bisherigen Abschätzung von Grundstücken zu weit gehe. Man dürfe das Ergebnis der regelmäßigen Vierteljahrsnachweise der Hypothekenbanken und Versicherungsgesellschaften über ihre Neubeleihungen einerseits und die Verkäufe andererseits, beides mit Gegenüberstellung der Taxen, nicht schematisch betrachten. Von einschneidender Bedeu- tung seien der zeitliche Zwischenraum, sachliche Verschiebungen durch Umgestaltung von Stadtgegenden, wechselnder Zinsfuß, Veränderungen der Preise der Baumaterialien, der Kohlen bei Zentralheizung, der baupolizei- lichen Vorschriften, der Lage des Wohnungsmarktes (ob Überfluß oder Mangel). An verschiedenen Beispielen in bezug auf Gebäudesteuernutzungs- werte, gemeine Werte, Schätzungen in Enteignungssachen, zeigte der Redrer, daß auch Schätzungen von Behörden subjektiv blieben und für dasselbe Objekt große Abweichungen zeigten. Die Schätzungen der neuen Schätzungsämter würden sicher zu niedrig ausfallen, weil die Schätzer sich bewußt sind, daß sie niedrig schätzen sollen, daß sie kontrolliert werden und daß sie als Kommunalbeamte bis zu einem gewissen Grade zivilrechtlich haften. Für die ersten Hypotheken werde die niedrige Schätzung keinen Nachteil haben. Die Privatgeldgeber schätzen nach wie vor selbst und sind an amtliche Schätzungen nicht gebunden. Bei dem organisierten Grund- kredit aber werde der Wettbewerb in bezug auf die Höhe der Beleihung fortfallen und sich nur auf Billigkeit beschränken, wodurch vielleicht eine Kartellierung hinsichtlich der Höhe der Sätze oder eine Verschmelzung der Hypothekenbanken beschleunigt werde. Die zweiten Hypotheken würden günstiger beginnen, aber größer werden. Nun beruhe aber die entstandene Abneigung nicht auf einer zu großen Höhe der ersten Hypothek, sondern auf ganz anderen Mißständen. In der Zwangsversteige- rung wird bei Zahlung der Zinsen für die erste Hypothek durch den dritten oder vierten Hypothekengläubiger, womit leider unlautere Geschäfte 14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. gemacht werden, ein Grundstück in 1?/, Jahren um 5 Prozent verteuert, durch die Mietebeschlagnahme, die gleich für 2 Vierteljahre wirkt, um etwa 3 Prozent, durch die Umsatzsteuer um weitere 3 Prozent, durch die in der erneuten Festlegung begründete Gebühr für das Stehenlassen der ersten Hypothek und durch Instandsetzungskosten um weitere Summen. Dies alles bedingt, daß der zweite Hypothekengläubiger beim Erstehen des Grundstückes vielleicht ebenso viel zuzahlen muß, als seine Hypothek beträgt. Der Hauptzweck des Gesetzes, den Realkredit zu fördern, werde für die zweiten Hypotheken nicht erreicht werden. Für den Grundstücks- Eigentümer, der meist werde eine dritte Hypothek suchen müssen, werde die Zinsenlast gesteigert, da die dritte Stelle höhere Zinsen fordere. Oder es werde die Verkäuflichkeit erschwert, weil eine höhere Anzahlung notwendig werde. Für die Wohnungsfrage sei nur Angebot und Nachfrage entscheidend. Die niedrige erste Hypothek werde aber eine Einschränkung der Bau- tätigkeit zur Folge haben, weil der Bauherr selbst größere Mittel auf- wenden müsse. Die Folge werde vielleicht sein, daß die Großbanken, die Besitzer der großen Bauflächen, selber würden bauen müssen. Eine andere Folge werde sein, daß die Hypothekenbanken als Geber von Bauhilfsgeldern ausgeschaltet werden, da sie an die amtlichen Schätzungen gebunden wären und diese sich nur für fertige Gebäude aufstellen ließen. Daß aber die Hypothekenbanken von ihren flüssigen Mitteln Bauhilfsgeld geben, um dann bei niedriger ausfallender Schätzung eine Spitzenhypothek behalten zu müssen, die nicht als Pfandbriefunterlage verwendbar sei, das sei ganz ausgeschlossen. Nun sei aber der Baukredit der Hypothekenbanken etwa zum Lombardzinsfuß der billigste gewesen. Bei Kreditbanken stelle sich dieser Kredit durch Hinzutreten einer Wechselprovision bis auf 10 Prozent. Zu dem Gesetzentwurf über die Stadtschaften übergehend, dessen Hauptzweck sei, die Entschuldung zu fördern, erläuterte der Redner zunächst den Unterschied zwischen der alten Tilgungshypothek und dem neuen Abschlagsdarlehn. Bei ersterer, bei welcher der die Tilgung einschließende Zinssatz stets auf das ursprüngliche Kapital weiter gezahlt werde, erfordere die Tilgung bei 1, Prozent einige 50 Jahre. Beim Ab- schlagsdarlehn, bei dem der die Tilgung einschließende Zinssatz nur für das um die Tilgungsrate verminderte Kapital gezahlt würde, dauere die Tilgung wesentlich länger. Bei der Tilgungshypothek erhöht sich die Tilgungsrate, beim Abschlagsdarlehn bleibt sie gleich. Gegenüber den Hypotheken ohne Tilgung hätten diejenigen mit Tilgung den Vorteil voraus, daß sie dem Schuldner nicht gekündigt werden könnten, daß der Schuldner seinerseits aber kündigen und alle Schwankungen des Geldmarktes zu seinen Gunsten ausnützen könne. Trotzdem werde ihr Kreis immer beschränkt bleiben. An einem Zahlen- III. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 15 beispiel zeigte der Redner, daß der Überschuß im üblichen Durchschnitts- falle eine Verzinsung des eigenen Kapitals des Eigentümers ohne Tilgung mit 8 Prozent, mit Tilgung mit 5°/, Prozent ergebe. Das ‚Weniger“ sei nun allerdings nicht verloren, sondern zwangsweise als Spargeld festgelegt. Diese Eigentümer-Grundschuld sei aber eine Erschwerung bei Ver- käufen, sie müsse oft unentgeltlich übereignet werden und ihre Löschung mache häufig Ärgernisse und Kosten. Die Grundbesitzer-Vereine wünschten die Stadtschaften, weil dann jeder Geld bekommen soll. Ein allgemeines Recht auf Geld werde aber keine Stadtschaft einführen können, da sie sonst bald eine Ablagerungs- stelle für alle faulen Kunden sein würde. Auch die Ansicht, daß der Kredit billiger sei, als der der Hypothekenbanken, weil deren Dividende wegfalle, treffe nicht zu. Die Dividende komme den Hypothekenbanken im wesentlichen nicht aus dem Pfandbriefzins oder der Provision, sondern aus anderen Quellen. Allein die Verteilung der Zinsen der Reservefonds auf das Aktienkapital erhöhe dessen Ertrag bei 41, Proz. Verzinsung auf 7 Proz.; die Reservefonds aber würden aus dem Agiogewinn bei den ent- sprechend dem steigenden Pfandbriefumlauf immer wieder nötig werdenden Kapitalserhöhungen und aus dem Disagiogewinn beim Pfandbriefrückkauf unter dem Nennwert gespeist. Das von den Stadtschaften wieder ein- geführte Geben des Darlehns in Pfandbriefen, und nicht in Bargeld, sei so veraltet, daß man sogar den Landschaften raten müsse, hiervon ab- zugehen. Überlasse man den Verkauf der Pfandbriefe dem einzelnen, so werde der Markt durch das Angebot ständig beunruhigt und der Kurs gedrückt. Dies könnten die Hypothekenbanken, wenn sie den Verkauf selbst besorgen, durch planmäßiges Vorgehen vermeiden. Sein Urteil über beide Gesetzentwürfe faßte der Redner dahin zusammen, daß er eher eine Schädigung als eine Förderung des Realkredits durch sie erwarte. 8. Sitzung am 13. November. I. Die bisherigen Sekretäre, Exzellenz Vierhaus, Professor Weber und Geh. J.-R. Professor Leonhard wurden durch Zuruf wiedergewählt, ebenso die bisherigen drei Delegierten in das Präsidium: Professor Weber, Landtagsabgeordneter Dr. Wagner und Geh. J.-R. Professor Leonhard. II. Vortrag des Herrn Rechtsanwalts Dr. Hans Schäffer: Über den Einfluss des Krieges auf kaufmännische Lieferungsgeschäfte. Der Krieg, führte der Berichterstatter aus, beeinflußt das Wirtschafts- leben in dreifacher Hinsicht: einmal durch die Inanspruchnahme des Menschenmaterials, die wiederum auf die schwebenden Dienst- und Werk- verträge einwirkt, zweitens durch das Aufhören des internationalen Verkehrs, das die Erfüllung der mit Einwohnern anderer Staaten geschlossenen Ver- 16 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. träge beeinträchtigt, und drittens durch die Inanspruchnahme der Waren- vorräte, die unmittelbar auf die schwebenden Lieferungsverträge einwirkt. Bei diesen Verträgen kommt es zunächst darauf an, ob sie mit oder ohne Kriegsklausel geschlossen wurden. Die Verträge ohne Kriegsklausel müssen bei Prüfung der Frage, ob der Verkäufer durch den Krieg und seine Folgen von der Leistungspflicht befreit worden ist, einzeln und be- sonders betrachtet werden unter dem Gesichtspunkte: was ist geschuldet, und welcher Umstand hindert die Erfüllung? Dabei ist zu unterscheiden, ob eine individuelle oder eine bloß der Gattung nach bestimmte Sache zu liefern ist, und in letzterem Falle kommt wieder besonders in Frage, ob es sich um die Ware einer bestimmten Fabrikation oder eine sonstwie begrenzte Gattung handelt. Als Hinderungsgründe kommen in Betracht: der physische Untergang des geschuldeten Gegenstandes bezw. der betrefien- den Gattung oder die sonstige physische Unmöglichkeit der Lieferung (z. B. infolge Kaperung des Schiffes), ferner die rechtliche Sperrung der Lieferung durch den Staat (Beschlagnahme, Enteignung, Kontrahierungs- zwang) und schließlich die Erschwerung der Lieferung durch veränderte Markt- und Preisverhältnisse. Der vom Verkäufer nicht verschuldete physische Untergang der geschuldeten Ware befreit den Verkäufer von der Lieferungspflicht, falls er nicht bei der Absendung bereits im Verzuge war. Bei Gattungssachen wird ein vollkommener Untergang kaum jemals ein- treten, wenigstens nicht in einem großen Lande. Bei Kaperung der Ware kommt in Frage, welches der vereinbarte Erfüllungsort war, ob der Abgangs- oder der Bestimmungshafen. War es der Verladehafen, dann ist der Verkäufer durch die fristgerechte Verladung freigeworden. Von den vom Vortragenden erörterten Fällen war für die Praxis besonders wichtig die Frage, ob der Käufer einer nachträglich vom Staate enteigneten Sache berechtigt sei, den dem Verkäufer dabei zugeflossenen Gewinn zu beanspruchen. Er bejahte dies auch für den Fall, daß eine eigentliche Enteignung nicht vorliege, sondern daß der Verkäufer infolge des Neben- einanderbestehens eines öffentlichen und eines Privatvertrages diesen nicht erfüllen könne. Bei Besprechung der Umgestaltung der Markt- und Preisverhältnisse hob der Vortragende hervor, daß das Reichsgericht die in der Literatur vielfach befürwortete „clausula rebus sie stantibus‘‘, die den Verkäufer schon mit Rücksicht auf die veränderten Wirtschafts- verhältnisse für befreit erachtet, abgelehnt hat und nur dann eine Un- möglichkeit der Lieferung anerkennt, wenn die Ware zu einem Marktpreise überhaupt nicht mehr gehandelt wird und nur noch von einzelnen ver- steckten Stellen zu ungeheuerlichen Phantasiepreisen zu erlangen ist. Das Reichsgericht hat hier die Notwendigkeit der Sicherheit des Verkehrs den Billigkeitsrücksichten vorangestellt. Weiter behandelte der Vortragende die Verträge mit Kriegsklausel. Bei dieser Klausel sind nicht weniger als 140 verschiedene Formen zutage Ill. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 17 getreten. Das Reichsgericht hat den Satz aufgestellt, daß eine solche Klausel beweise, daß der Verkäufer den hier vorgesehenen Fall schlecht- hin bezeichnen wollte. Die Klausel befreie daher den Verkäufer schon, sobald der Krieg nur irgendwie auf die in Betracht kommenden wirtschaft- lichen Verhältnisse einwirke. Nachträglich allerdings hat das Reichsgericht zwei Einschränkungen vorgenommen: es fordert, daß die Klausel an sicht- barer Stelle des Vertrages stehe und klar und eindeutig sei, und macht zur zweiten Voraussetzung für ihre Wirksamkeit, daß der Verkäufer bald nach Kriegsausbruch oder störender Einwirkung des Krieges auf seinen Betrieb durch ausdrückliche Erklärung die Wirkung der Klausel in An- spruch genommen hat. Zum Schluß ging der Vortragende auf die Frage ein, ob eine während des Krieges unmöglich gewordene Leistung nach dessen Beendigung zu bewirken sei. Er verneinte das, da durch die Dauer des Krieges und bei der Ungewißheit der künftigen Wirtschaftsverhältnisse sich tatsächlich, wenigstens in der Mehrzahl der Fälle, der Inhalt der Leistung verändert habe, und aus der vorübergehenden Unmöglichkeit der Vertragserfüllung eine dauernde geworden sei. An der Besprechung nahm der Oberlandesgerichtspräsident Vierhaus, Justizrat Lemberg und der Vortragende teil. 9. Sitzung am 18. Dezember. Vortrag des Herrn Geheimen Justizrats Professor Dr. Brie: Das Recht des Kriegs- (Belagerungs-) zustandes mit besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Reichsgerichts. Der Vortragende ging zunächst auf die geschichtliche Entwickelung des Gesetzes ein. Der „Belagerunsszustand‘ stammt aus Frankreich und zwar aus dessen Revolutionsperiode. Als die französische Nationalversamm- lung die Grundlagen eines neuen Rechtszustandes schuf und das Prinzip der Trennung der Gewalten durchzuführen suchte, sah sie ein, daß in Ausnahmefällen besondere Bestimmungen gelten müßten, und noch vor Feststellung der Verfassung von 1791 erging das Gesetz vom 17. Juli 1790, das den Belagerungszustand einführte, wenn auch nur für belagerte feste Plätze. Daneben wurde noch ein ‚Kriegszustand‘ geschaffen, und zwar als gemilderter Belagerungszustand für noch nicht eingeschlossene Plätze. Das spätere Direktorium dehnte die Wirksamkeit des Gesetzes auf alle französischen Gemeinden und auch auf den Fall innerer Unruhen aus, und das auf dieser Grundlage von Napoleon erlassene Gesetz schuf für den Belagerungszustand auch die besonderen Kriegsgerichte. Nach Deutsch- land kam diese Einrichtung während der Unruhen von 1848. Der Be- lagerungszustand wurde zunächst in einem Teil von Baden verkündet, 1916. ws 13 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. dann erließen Preußen und andere deutsche Staaten einschlägige Notver- ordnungen, und daraus entstand schließlich das preußische Gesetz über den Belagerungszustand vom 4. Juni 1551, das später in die Norddeutsche Bundesverfassung und zuletzt in die Reichsverfassung überging. Die un- veränderte Übernahme des an sich schon mangelhaften, stellenweise un- klaren preußischen Gesetzes in die Reichsverfassung hat zu zahlreichen Schwierigkeiten und Zweifeln geführt. Der Vortragende besprach nun die Grundzüge des Gesetzes unter Bezugnahme auf die in Streitfragen ergangenen Entscheidungen des Reichs- gerichts. Danach kann der Belagerungszustand nur im Falle eines Krieges oder Aufruhres erklärt werden. Die Erklärung kann auch schon vor dem Ausbruch des Krieges erfolgen; in dem besonderen bayerischen Gesetz von 1912 über den Belagerungszustand ist dies ausdrücklich ausgesprochen. Das Recht zur Erklärung des Belagerungszustandes hat auf Grund der Reichsverfassung der Kaiser, der es auch an andere Militärbefehlshaber delegieren kann. Es ist teils militärischer, teils polizeilicher Natur, und die gemischte Natur dieses Rechtes ist auch von den Reichsorganen an- erkannt; 1870 und 1914 wurde die Erklärung des Belagerungszustandes vom Reichskanzler gegenzezeichnet und so publiziert. Von den Wirkungen des Belagerungszustandes ist die wichtigste der Übergang der Vollzugs- gewalt auf die Militärbefehlshaber. Vollzugsgewalt ist alles, was nicht zur gesetzgebenden und richterlichen Gewalt gehört. Aber auch eine Art Gesetzgebungsrecht steht ıhnen zu, da sie nach $ 9b des Gesetzes das Recht haben, Verbote im Interesse der öffentlichen Sicherheit zu erlassen. Über die Frage, ob sie mit diesen Verboten an die durch die Verfassung gesetzten Grenzen gebunden sind, hat sich das Reichsgericht nicht deutlich ausgesprochen, doch scheint es immerhin anzunehmen, daß die Verfassungs- besiimmungen eine gewisse Grenze bilden. Das ist wichtig, weil dann die Bestimmungen über das Briefgeheimnis und die Unverleizlichkeit des Eigen- tums unangreifbar bleiben. Sonst aber hat das Reichsgericht diesem Rechte der Milıtärbehörden eine sehr weite Ausdehnung zuerkannt und sich auf den Standpunkt gestellt, daß die Militärbefehlshaber, da sie Verbote unter Strafandrohung erlassen können, auch Gebote erlassen können. In der Literatur ist das bestritten worden, und auch der Vortragende stellte sich auf den ablehnenden Standpunkt. Gebote als Mittel zur Durchführung eines Verbotes seien allerdings etwas anderes. Nur zugelassen vom Gesetze über den Belagerungszustand ist die Suspension gewisser Verfassungsartikel, welche die Freiheit des Einzelnen schützen. Infolge einer solchen Suspension verlieren auch die auf Grund dieser Verfassungsartikel erlassenen Gesetze ihre Geltung, und zwar — wie das Reichsgericht anerkennt — nicht nur die preußischen, sondern auch die Reichsgesetze. II. Abteilung. Staats- und rechtswissenschaftliche Sektion. 19 Eine zweite zulässige Maßregel, die jetzt ausgedehnteste Anwendung sefunden hat, ist die Einsetzung von außerordentlichen Kriegsgerichten. Das Reichsgericht hat das Verfahren vor diesen Gerichten gelegentlich als „ein der wesentlichen Rechtssicherheiten entkleidetes Sondergerichts- verfahren“ bezeichnet. So weit möchte der Vortragende nicht gehen, obgleich der Ausschluß jedes Rechtsmittels bei der kurzen Vollstreckungs- frist recht bedenklich sei. Immerhin haben die Erfahrungen während des jetzigen Krieges bereits Veranlassung zu mehreren Änderungen des Gesetzes gegeben. Bei Übertretungen, für die bisher nur auf Gefängnis- strafe erkannt werden konnte, sind jetzt beim Vorliegen mildernder Umstände auch Haft- oder Geldstrafen zulässig. Ferner haben jetzt die außerordentlichen Kriegsgerichte die Befugnis, geeignete Sachen an die ordentlichen Gerichte zu verweisen, von denen sie dann einfach durch amtsrichterliche Strafbefehle erledigt werden können. Erst kürzlich sind auch wieder Abänderungsgesetze erlassen worden, die Garantien für den Fall einer Schutzhaft geben und eine militärische Zentralstelle als Aufsichts- und Beschwerdestelle gegenüber den Anordnungen der Militär- befehlshaber schaffen, um die Klagen über deren verschiedenartige Praxis zu beseitigen. Zweifellos, so schloß der Vortragende, wird auf Grund der jetzigen Erfahrungen später ein neues Gesetz über den Belagerungszustand geschaffen werden, denn gerade bei einem solchen Ausnahmezustand ist es dringend erforderlich, daß eine möglichst große Rechtssicherheit besteht. Während des Krieges allerdings wird die Zeit zur Schaffung eines neuen umfassenden Gesetzes nicht geeignet sein. Eine Besprechung fand nicht statt. schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur. yo 94. IV. Abteilung, Jahresbericht. a. Philologisch-archäologische 1916. | Sektion. &c 94 er 2,8 Sitzungen der philologisch-archäologischen Sektion im Jahre 1916. Sitzung am 31. Januar (gemeinsam mit der rechts- und staatswissenschaftlichen Sektion). Herr Geheimer Regierungs- und Provinzialschulrat Dr. Thalheim sprach über Die neuen alexandrischen Rechtsurkunden. Sitzung vom 25. Februar (gemeinsam mit der philosophisch-psychologischen Sektion). Herr Öberlehrer Dr. Julius Stenzel sprach über Literarische Form und philosophischer Gehalt des platonischen Dialoges. In jeder verwickelteren wissenschaftlichen Frage ist die umfassende Einsicht in die Schwierigkeiten die Vorbedingung der Erkenntnis, mag dabei auch die Möglichkeit der Lösung noch weiter gerückt, schon Ge- wonnenes in Frage gestellt scheinen. In diesem Sinne wurde neuerdings von W. W. Jäger die Entstehung der Metaphysik des Aristoteles unter- sucht. Der Weg, den er beschritt, wich von den bisherigen Versuchen dadurch wesentlich ab, daß Jäger neben der inhaltlichen Analyse die historisch höchst verwickelte Form der aristotelischen Lehrschriften gründ- lich erforschte und dadurch zu einer ganz neuen Problemstellung ge- langte. Im Vergleich zu der losen, hypomnematischen Form der aristo- telischen Lehrschriften mußte ihm der literarische Stil der völlig durch- gearbeiteten und geformten platonischen Dialoge als wesentlich verschieden zu Bewußtsein kommen, und so schreibt er: Studien zur Entstehungs- geschichte der Metaphysik des Aristoteles. Berlin 1912 8.140: „Die Dialoge dürfen nicht mit dem Maßstab des jonischen Acyog der Naturphilosophen gemessen werden und umgekehrt. Platon will der &t«öoyog der großen attischen Kunst sein, in ihm sind der ideale Tragiker und Komiker des Symposion zu einer höheren Einheit aufgehoben ..... Merkwürdig ist es, wie sich neben dieser Kunstübung in einer unerhörten, neuen Prosa die alte Weise in den stillen Mauern der Philosophenschule erhalten hat. 1916. 1 p) Jahresbericht der Sehles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Dort ist der Wohnsitz der eigentlichen Philosophie, wie sie der Phaidros Platons begeistert verkündig. Nie hat sie sich der Dialogform bedient, um ihre Wissenschaft zu lehren und zu verbreiten. Wir vergessen mit Unrecht, daß es doch stets bloßer Notbehelf bleibt, wenn wir aus Mangel an andern Quellen etwa über Platons Ideen- oder Zahlenlehre aus seinen Dialogen Auskunft schöpfen. Aristoteles zitiert für des Meisters pädagogische oder sozialpolitische Gedanken stets die Politeia und die Nomoi, aber es ist ihm nie eingefallen (Einzelheiten aus- genommen) für die Ideenlehre und ihre Begründung sich auf Politeia VI oder auf das Symposion zu berufen.“ In diesen paradox klingenden Ausführungen kommt ein Kern richtiger Tatsachen zum Ausdruck, die für die gesamte platonische Frage wichtig werden könnten; z.B. würden die polemischen Beziehungen des Aristoteles zu Platos Ideenlehre hierdurch in ein ganz anderes Licht gerückt — hätten wir nur von Plato selbst eben irgend etwas anderes außer jenem ‚„Notbehelf‘‘ seiner Dialoge. Doch wie die Dinge nun einmal liegen, bleibt für das Verständnis der platonischen Philosophie jene Erkenntnis zunächst problematisch. Und doch ist jeder folgerichtig zu Ende gedachte Gedanke irgendwie lehrreich. So wenig wir inhaltlich von der platonischen Lehre wissen, die nicht in den Dialogen beschlossen liegt, schon die Tatsache, daß es noch eine platonische Philosophie daneben gegeben hat, muß be- achtet werden, um zur inhaltlichen Beurteilung der erhaltenen Zeugnisse den richtigen Standpunkt zu gewinnen. Die beiden von Jäger nach- drücklich hervorgehobenen Tatsachen: der dichterische Charakter der platonischen Dialoge und die Wahrscheinlichkeit, daß schriftlich und mündlich ein Stamm platonischer Lehren mindestens neben den späteren Dialogen anzunehmen ist, sind wohl im einzelnen noch von niemandem bestritten worden — falls man sich diese Fragen überhaupt vorgelegt hat. Den literarischen Charakter des platonischen, überhaupt des sokra- tischen Dialoges hat Aristoteles klar erkannt. Er rechnet die Hexameter des Empedokles zur Prosa, die sokratischen Gespräche zur Poesie wegen ihres mimetischen, Wirklichkeit darstellenden Charakters, indem er sich hier ausdrücklich in einen Gegensatz stellt zu der üblichen Terminologie, die Dichtung ohne Verse nicht kennt (Ar. Poet. 1447 b). Der Gegenstand dieser dichterischen Nachahmung ist zunächst Sokrates. Es erscheint uns heute unnötig, hervorzuheben, daß sich wohl bald der Zweck des plato- nischen Dialoges hierin nicht mehr erschöpft haben kann. Die Darstellung eigner Lehre wird für uns immer mehr zum eigentlichen Inlıalt der Dialoge. Erscheint somit die literarische Stilfrage noch mit dem Sokrates- problem verwickelt, so sei von vornherein hier der Meinung vorgebeugt, als beabsichtige die folgende Erörterung, wie es zunächst scheinen wird, die Grenze zwischen dem historischen Sokrates und Plato in seinen Dia- IV. Abteilung. Philologisch-archäologische Sektion. 3 logen festzustellen. Für deren Verwertung als Quelle der sokratischen Lehre darf das Folgende höchstens als eine — wie mir scheint, nötige — Voruntersuchung gelten. Hier handelt es sich vielmehr um die platonischen Dialoge als Quellen platonischer Philosophie. Von den frühesten Schriften abgesehen, die bei reicherer Szenerie philosophisch ergebnislos allenfalls als einfache Darstellungen des Sokrates gelten, ist man gewohnt, ohne Vorbehalt in jedem Dialoge den Philosophen Plato sich entwickeln zu sehen, bemüht sich deshalb sehr um die Reihenfolge der Dialoge im ein- zelnen und vergißt ganz, daß daneben Plato vielleicht dauernd noch andere ‚Gesichtspunkte gehabt hat, als nur den, seine Philosophie in ihrem jewei- ligen Entwicklungszustand vorzuführen. Unter dieser Voraussetzung er- scheint dann auch die Tatsache, daß Plato schließlich doch die Maske des Sokrates fallen ließ, als eine mehr zufällige Angelegenheit der platonischen Entwicklungsgeschichte. Es muß trotzdem befremden, daß niemand ver- sucht hat, diese Tatsache inhaltlich zu verstehen; denn gäbe Plato mit Sokrates als Gesprächsführer zugleich die ganze Dialogform auf, wäre ihm also diese unbequem geworden, so läge der Grund auf der Hand; wir dürften nach inhaltlichen Gesichtspunkten nicht fragen. Nun liegt dies aber nicht so einfach; die Gesetze noch führen die Erörterung in Ge- sprächsform. Ist es notwendig, sich hier mit der ganz allgemeinen, nichts- sagenden Wendung zu begnügen: Plato hat sich immer weiter von Sokrates entfernt, bis eben schließlich an einem gewissen Punkte er es vorzog, andere Männer, wie den Timäus, Parmenides, den eleatischen Fremdling zu Führern des Gespräches zu machen? Wie steht es mit dem Philebus, der methodisch dem Sophistes und Politicus nahe steht, dabei aber plötz- lich den Sokrates wieder im Mittelpunkt des Gespräches zeigt? Daraus er- gibt sich mindestens für die frühesten Dialoge m. E. zwingend der Schluß: Plato hatte in diesen Dialogen noch durchaus die Absicht, ein Bild des Sokrates in irgend welcher künstlerischen Einheit festzuhalten, und in ge- wissem Sinne bleibt ein Sokratesbild das Ziel der mimetischen Darstellung. Es bestand sonst schlechterdings keine Notwendigkeit, jemals den Sokrates auszuschalten, wenn die künstlerische Einheit bereits vorher gesprengt war, wenn die spezifisch platonischen Züge das Bild des Sokrates bis zur Un- kenntlichkeit überdeckt hatten — nicht des historischen Sokrates, den Plato in der Apologie zu zeichnen suchte, sondern desjenigen Sokrates, zu dem er bei jeder Phase der eigenen Entwicklung in ein neues Ver- hältnis zu treten schien. Bei der das eigne Wissen stets verbergenden Mäeutik des Sokrates glaubte Plato in jeder neuen eigenen Entdeckung eine neue Seite der sokratischen Grundfrage, eine Wirkung der kritischen und fruchtbaren logischen Methode des Meisters zu sehen. Doch wenn nichts anderes, so mußten ihm die verschiedenen Sokratesbilder der anderen Sokratiker das eigene geistige Gut immer bewußt erhalten, mußte sein tieferer Blick für das Wesen des Lehrers ıhn davor bewahren, wahllos 1* 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. wie etwa ein Xenophon dem Lehrer jede ihm selbst richtig scheinende Ansicht uneingeschränkt in den Mund zu legen. Nun liegt der Endpunkt der Entwicklung fest: Sokrates verschwindet aus dem Dialog: sollten sich nicht vorher künstlerische Mittel nachweisen lassen, um bei der Darstellung eigener Lehren den Rahmen der sokratischen Persönlichkeit, wie sie Plato erschien, zu wahren? Auf ein sehr durchsichtiges Verfahren, die Grenze des sokratischen Gesichtskreises zu bezeichnen, brauche ich hier nur erinnernd hinzu- weisen, denn es ist stets so verstanden worden: Sokrates beruft sich auf irgend welche Autoritäten, Priester und Seher im Menon, auf die Priesterin Diotima im Symposion. Im letzteren Falle spricht sich Plato 209 E über seine Absicht selbst aus: Diotima zieht die Grenze zwischen dem, was der Fassungskraft des Sokrates allenfalls zugemutet werden könnte, ganz deut- lich. Sie bezweifelt, ob Sokrates zu der letzten Stufe des Erkenntnis- weges, zu der Schau der einheitlichen Schönheit an sich, ihr folgen könnte. Unzweifelhaft liegt hier in dem, was nach der Form der Dar- stellung die Fassungskraft des Sokrates übersteigt, die eigentliche plato- nische Ideenlehre angedeutet, und daher wird hier wohl schwerlich jemand auf den Gedanken kommen, die sonst allerorten geübte Gleichsetzung des Sokrates und Plato in dem Sinne zu deuten, daß etwa in jenem Mehr über Sokrates hinaus sich nicht der eigentliche philosophische Ernst des Schriftstellers, sondern lediglich dichterisches Spiel verberge; nur ein Forscher hat versucht die sonst grundsätzlich angenommene Gleich- setzung des Philosophen Plato mit dem platonischen Sokrates auch hier durchzuführen, nämlich v. Wilamowitz in seinem Akademievortrag: Über das Symposion des Platon. Leider ist darüber meines Wissens bis jetzt nur eine kurze Notiz erschienen, die aber über die Grundanschauung keinen Zweifel läßt; sie lautet: „Die Antworten des Sokrates zeigen, daß Platon die Rede der Diotima durchaus nicht als Ausdruck seiner wissenschaftlichen Überzeugung betrachtet wissen will. Die Prophetin spricht zur Sache nicht anders als Arzt und Dichter. Offenbarungen mögen noch so Großes und Schönes enthalten, Wahrheit wird nur in wissenschaftlicher Dialektik gefunden. Das Verständnis des Platon, auch das philosephische, hängt daran, daß Poesie als Poesie betrachtet wird.“ Sitz. Ber. Kgl. Pr. A. W. 1912 (21) 333. Müßte der philosophische Deuter Platos hiergegen Bedenken äußern, da doch grade die dialektischen Lehren einzig und allein in der Diotima- rede, freilich in enthusiastischem Tone, mitgeteilt werden, so könnte er mit Befriedigung die Anwendung dieses Interpretationsprinzips im Menon gutheißen. Nimmt man nämlich hier die Stellung des Sokrates uneinge- schränkt zum Maßstabe dessen, was Platos wissenschaftlicher. Ernst ist — dies war doch ausdrücklich das Kriterium v. Wilamowitz’ im Symposion — so fällt die ganze Anamnesis- und Unsterblichkeitslehre unter den ‚nur IV. Abteilung. Philologisch-archäologische Sektion. 5 vermuteten“, also höchstens wahrscheinlichen Mythus, und es bleiben lediglich gewisse Forderungen des Sokrates übrig. Ohne in eine er- schöpfende Interpreiation des Menon in diesem Rahmen eintrelen zu können, will ich nur an die Hauptpunkte erinnern. Die Erörterung, die von der Frage nach der Lehrbarkeit der Tugend ausging, spitzt sich auf zwei Probleme zu: 1. ist Lernen überhaupt möglich? 2, gibt es einen Unterschied zwischen Wissen und richtiger Vorstellung? Für beide Fragen wird nach ausführlicher Erörterung die Lösung gefunden: Lernen und zwar Erwerben von festem Wissen im Gegensatz zum bloßen Erfahrungs- wissen ist Wiedererinnerung der Seele an Erlebnisse vor der Geburt. Damit begründet Plato, wie es scheint, logische Tatsachen auf eine psycho- logische Metaphysik. Wie befriedigt auch Menon und mit ihm jeder naive Leser mit diesem Ergebnis der bisherigen Erörterungen ist, so unzwei- deutig stellt Sokrates in zwei einander entsprechenden Bemerkungen alles wieder in Frage, indem er sich auf sein typisches Nichtwissen zu besinnen scheint: Menon 86b: xal t& nEv Ye Aa olx av rravu Ümtp Tod Aoyou Öuoyuptoatumv' Otı Ö’olöpnevor deiv Inrelv & pu) tig olöev Beitioug Av eimev xal AvöpınwWrepor nal Yrrov Apyol 7) el oloineda & pi) Emtordneta mdE Suvaroy eivar zUpelv mds delv Cnrtelv, epl Tourou Tavu dv Ötaporyolmv, el olog Te einv, nal Aöyw nal Epyw. x 1 Ind ah el [4 e _ ISILL 98A... nat Öapepeı Seoum Emiorjim Oöpdis öosns. MEN. NY) \ r z [4 ar 7 r > > x e} \ ce zov Alcd, W Zwxparzes, Eoıxev Torourw tivi. 02. Kal iv zul EyW ws oux Elöwg Atyw, aa eindlwv' ötı SE Zorlv ti aAAolov opdm) Soc al ErLotjn, 00 navu por SoxW toüto elnaleıv, AAN eimep tı &AAo palnv av L >37 Sn r aA »,7 \ Ind e) ’ r N = e eldevar — OAlya 5 av palıv — Ev Ö’oüv nal ToDro Exelvwv delNv dv WV olöc. So fällt also jedenfalls im Menon die Hauptfrage der heutigen plato- nischen Forschung nach dem Sinne der Ideenlehre zusammen mit der hier formulierten: Spricht Sokrates in diesem Falle Platos letzte philosophische Meinung aus? Sind seine Zweifel Zweifel Platos? Ist die Modalität seiner Urteile für Plato vollständig verbindlich? Die Antwort auf eine so schwer- wiegende Frage soll nicht vorschnell gegeben werden, zumal da die Haupt- schwierigkeit, jenes mit der Wiedererinnerung einfach gleichgesetzte Kri- terium des Wissens im Gegensatz zur richtigen Meinung, der Schluß auf den Grund (Aoyıspos altlas), nur durch eine weit ausholende Erörterung gelöst werden könnte. Betrachten wir den Phädon. Dort wird die Lehre vom Lernen als Wiedererinnerung als so bekannt vorausgesetzt, daß auf sie einer der Unsterblichkeitsbeweise gegründet wird. Sokrates beruft sich hier nicht auf Priester und Priesterinnen, sondern er befindet sich selbst in seiner Todesstunde in einem außergewöhnlichen seelischen Zustand. Ein Traum hat ihn zu dichterischer Tätigkeit angeregt, und seine Unsterblichkeits- gedanken vergleicht er mit dem letzten Gesange der Schwäne. Die Freuden 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. und Leiden der abgeschiedenen Seelen werden in langem Mythus ver- kündigt. Es ist nicht der Sokrates, den wir kennen; wenn irgendwo, so ist hier der Ton orphischer Mysterienfrömmigkeit zu hören. Und doch hat Plato dafür gesorgt, daß wir auch in dieser durch die Todesstunde bedingten Stimmung den eigentlichen Dialektiker Sokrates wiedererkennen. Im Phädon findet sich, und das muß bei der Rolle, die die Unsterblich- keit, Prä- und Postexistenz grade hier spielen, auffallen, diejenige Fassung der Ideenlehre, die der philosophischen Deutung der Ideen als Setzungen des Denkens, als Urteile (Aöyot), mit denen wir die Erfahrungstatsachen urteilend „siegeln“, unzweifelhaft am nächsten kommt, und bei der an eine metaphysisch-psychologische Begründung nicht gedacht zu werden braucht; wird bei der ersten Erörterung der Anamnesis noch an der- gleichen erinnert, so wären bei der eigentlichen Hypothesenlehre derartige Gedanken nur mühsam mit dem Wortlaute in Einklang zu setzen, da ja ausdrücklich von den Dingen abgesehen, ausdrücklich von den Urteilen über die Dinge gesprochen wird (99e). Sokrates sagt 100a, nachdem er dies besonders als sein Verfahren angekündigt hat: ..... Gmovepnevog Endotote Aöyov Cy Av xplvm Eppwievestarov eivar, & Ev Ay por Öor) TOUTW ouppwvelv, TiImpt Ws AANUTN övra, xal mepl altias xai repl zov my drdvrwv, & Ö &v ıyi, Ws aux aimdr). Er erläutert dies durch den Hinweis auf seine bekannte These, es gäbe ein Schönes, Gutes, Großes an sich usw. Dieses Verfahren, den Begriff, der erörtert wird, festzuhalten, solange es widerspruchslos möglich ist, ist tatsächlich nichts Neues, sondern auch sonst das Verfahren des Sokrates. Es macht im Grunde keinen großen Unterschied, ob man das Schöne, also die einzelne Idee, als ündteoıg ansieht, oder die Existenz derartiger Ideen überhaupt als ünöyests annimmt. Wesentlich ist, daß die Diskussion einen Wechsel der Urötearg herbeiführen kann, denn auch die „genügende‘ Voraussetzung (ixavcy), zu der man nach einer späteren Stelle 101D im Verlauf der Erörterung auf- steigen soll, ist in diesem Zusammenhang nur relativ zu fassen, und was zurzeit genügt, kann grundsätzlich in einer eingehenderen Diskussion überwunden werden. Jedenfalls ist von einem 'einheitlichen Grund aller Örotrzoets hier nicht die Rede; es heißt ausdrücklich ‚irgend ein Genügen- des“, Ent tı inavöv (cf. Ritter, Platon p. 576,). Diese Fassung der Idee im Sinne methodischer rationaler Begründung philosophisch zu deuten ist durchaus möglich, ja nötig, die Rechenschaft über den Grund, der im Menon unklar gelassene Aoytopnög aftlac, wird ja 100c entwickelt als das scheinbar tautologische Verfahren derart wie: Schön ist etwas durch die Anwesenheit des Schönen oder sein Teilhaben an dem Schönen, was nach dem vorher von Plato Entwickelten in der Tat kaum mehr bedeuten kann als auf die Erfahrung einen Prädikatsbegriff urteilend anwenden. In der Tat orientiert sich Natorp stets an dieser Fassung des Phädon, wenn er den erkenntnistheoretischen Sinn der Idee in andern Dialogen fest- IV. Abteilung. Philologisch-archäologische Sektion. 7 stellen will. Freilich erscheint auch im Phädon an früheren Stellen wie im Menon das logische Verfahren wieder in der psychologisch-metaphysi- schen Verkettung mit Anamnesis und Unsterblichkeit, und auch 100B ff. wird aus der begriffliehen Methode ein neuer, ganz deutlich ontologischer Unsterblichkeitsbeweis gewonnen. Doch es ist durchaus verständlich, wenn sich die philosophischen Erklärer — und nicht nur diese — von dem unzweideutigen Sinne der Hypothesis dadurch nicht abbringen lassen: Es stehen sich hier zwei petitiones principii gegenüber; der eine sagt: weil die Hypothesenlehre mit der Unsterblichkeitslehre verknüpft ist, so kann sie nicht rein logisch-methodisch gemeint sein, der andere: weil dieser Widerspruch besteht, so kann die ganze religiöse Unsterblichkeits- lehre nicht der wissenschaftliche Ernst Platos, sondern nur ein Über- wuchern der mimetischen Darstellung der Todesstunde über den philoso- phischen Lehrgehalt sein; und die letzten philosophischen Worte des Sokrates wiederholen eigentlich denselben Zweifel, den wir ım Menon aus seinem Munde gehört haben, freilich dem Ernst der Stunde im Ton ange- paßt. 114de. To yev oüv Tadr« Öuoyupicaodar (cf. Menon 86B, oben S.5) oütwg &yeıv Ws &yW ÖteinjAude, oD mpener vouv Eyovrı Avöpt ' Orı mEyror Y) TaDT. Eoriy Y) oraür drıa nept tag buyas Ywv nal tag olmyjoeıg, Eneinep Adavarov ye Y) buy Yalverar olon, ToDro nal mperetv joL Öonel Aal dELov ıvöuveüoat olopevw ourwWg Eyeıv — xards yap 6 nivöuvog — Kol XpY Ta Tormüre Wonep Emaöev Eaurw, SO Sy) Eywye nal madaı LYKUOvW Toy nölov. Ad Tourwv Oy) Evena Vappeiv ypr) mepl vi Eaurod Vuyyj Gvöpae orig Ev tw PBiw Tas iv Ada Yoovds Tas reepl TO owıra Aal ToUg ROooug eluoe yalpeıy, Ws dAAoTploug Te Övras, nal mAEov VaTEpov Nymoapevos amepydlcodar, Tas Ö& mepl TO mavikavery Eomolönoe TE xal Rooyjoas iv buyyiv our addorptm AK TW Kurs Room, GWEpposuvN Te anal Ötmaroouvn nal avöpeia nal &Ieudepla nal AAndele, obrw mepıpevet iv eis Ardov nopelav..... Zu: OÖ: vöv Ton Nodel, palm dv Avıjp Tpayınds, Y einaphewm . . - Wir sehen hier bei schärferer Betrachtung den Sokrates wie im Menon sich auf Postulate beschränken, die wie dort in der Forderung sipfeln, zu lernen und die Seele mit dem ihr eigentümlichen Schmuck zu versehen. Ein leise ironischer, ‚„tragischer‘‘ Ton scheint wieder alles andere in Frage zu stellen. Auch aus diesem flüchtigen Überblick dürfte so viel sich unmittelbar ergeben, daß wieder die Interpretation der Ideen- lehre zurückgeführt ist auf die Frage: Ist des Sokrates Stellung zu diesen Problemen in vollem Umfang die des Plato? Spricht Plato in der Maske des Sokrates hier sein letztes Wort, seine eigentliche Meinung über diesen Komplex von Problemen aus? Oder hätte er vielleicht schon damals ein Mehr an eigenen Ansichten zum Ausdruck bringen können, wenn ihn nicht die Rücksicht auf den logischen Typus des Sokrates zu einer zwei- felnden Zurückhaltung, ja zur Zurücknahme des scheinbar bereits Ge- 8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. wonnenen bestimmt hätte? Diese letztere Möglichkeit wird dem von vorn- herein höchst unwahrscheinlich vorkommen, der in der Hypothesenfassung den reinsten, weil erkenntnistheoretisch fruchtbarsten Ausdruck der plato- nischen Idee sieht und nach ihr ja grade die andern Fassungen, die ein metaphysisches Mehr aufweisen, korrigiert. Immerhin muß bei genauerem Zusehen manches auffällig erscheinen. An der Phädonstelle über den Aufstieg zu immer höheren Hypothesen, die wir oben bereits erwähnten, schien Plato noch nicht an einen absoluten und darum metaphysischen einheitlichen Grund aller Hypothesen gedacht: zu haben; nun sieht er aber im VI. Buch des Staates ausdrücklich grade in dem Aufstieg zu diesem einheitlichen, nicht vorausgesetzten Ziel aller Voraussetzungen, dem d&vuröderoy, erst den eigentlichen Sinn wahrer philosophischer Dialektik. Erst in der Beziehung auf ein avunodterov werden die Hypothesen als wahre Hypothesen erkannt, zugleich über- wunden. Dieses Voraussetzungslose ist die Idee des Guten, von ihr aus ist erst ein Abstieg in reinen Begriffen möglich. Ich kann hier über die bis jetzt noch nicht ausreichend untersuchten Beziehungen des Phädon zum Staate nicht mehr als diese Andeutungen geben; andrerseits ist eben der Zusammenhang zwischen der literarischen Form und dem philo- sophischen Inhalt unlösbar, und wer von dem einen handeln will, muß auf das andre eingehen. Und die folgende Beziehung ist für das Ver- hältnis der beiden Stellen sehr wesentlich: Ließe sich auch die logische Bedeutung der Idee des Guten allenfalls an jener Methodenlehre des Phädon orientieren, so erhält diese Idee doch im Staate daneben noch einen deutlich metaphysischen Sinn; sie wird nicht nur Quelle der Er- kenntnis, sondern auch alles Seins und Wesens (509 B), was über ihren erkenntnistheoretischen Sinn doch deutlich hinausweist. Mit dieser, freilich für manche Interpreten sehr lästigen Bedeutung, wird sie aber grade das teleologische Prinzip, das Sokrates im Phädon bei seinem Überbliek über die Lehren der früheren Philosophen vergeblich gesucht, auch bei Anaxa- goras nicht gefunden hatte, und das zu finden er schließlich selbst ver- zichtete. Dieser Verzicht des Sokrates ist eigentlich unbegreiflich; denn er hatte den Unterschied zwischen Final- und Realgrund, auf den alles ankommt, wobei freilich der Realgrund als durchaus untergeordnet er- scheint, so festgestellt, wie ihn Plato in allen seinen Schriften bis zum Timäus festhält, und auch deutlich das Gute (&yadov xal ö&ov 99c) als den wahren Grund, die wahre «altl« angeführt. Mag der Lysis dem Phädon immerhin nachfolgen, zeitlich wird er nicht weit von ihm abstehen; dort führt die Erörterung der beiden Arten des Grundes zum rpwrtov ptAov, dem an sich Erstrebenswerten (219 D). Dieser Begrifi, dann das Schöne an sich im Symposion und die Idee des Guten sind nur verschiedene Fassungen desselben Grundgedankens, der sich als die zentrale Idee der gesamten Dialoge bis zum Staate herausbildet; bald wird die rein ethische IV. Abteilung. Philologisch-archäologische Sektion, 9 Seite wie im Gorgias, bald die anderen betont. (H. v. Arnim, Platos Jugend- dialoge S. 52ff.) Er kann also dem Denken Platos im Phädon nicht fremd sein. Außerdem heißt es, ein teleologisches Prinzip bereits gefunden haben, wenn man es fordert. Und das tut Sokrates im Phädon. Und doch bricht er an dieser Stelle grade ab 99 c: Eyw pe&v oüv tig toraurng altlag öny note Exer nadmTNS Örtovoüy Yöror’ &y yevallınv' Emeiön) 8: Todes Zorepyjdmv Kal OUT’ autos Eüpelv oüre map’ KANU aNrelv olog Te &yevolımv, TÖV ÖEUTEpoV rAo0y Ent TYv Tig aitiag Inemarv % nenpaynareunar Boudsı vor, Epn, Enlösıdıv nowjowpar, 8 Keßns; Nun folgt die Hypothesenlehre, an der die philosophischen Ausleger grade das anzieht, was sie zur Verwertung in dem eben geforderten teleologischen Sinne untauglich macht, nämlich der Verzicht auf die Verknüpfung mit jener metaphysischen Wesenheit, die doch im Staate wieder unzweideutig in der Idee des Guten als notwendige Er- gänzung der Hypothesis erfaßt wird, sofern eben diese nicht nur Ursache der Erkenntnis, sondern auch des Seins ist. So wenig diese Darlegungen die hier vorliegenden Beziehungen im entferntesten erschöpfen, soviel dürften sie gezeigt haben: die Ideen be- dürfen nach Platos Ansicht einer metaphysischen Ergänzung, die in der Hypothesis nicht beschlossen ist. Diese stellt nur eine Seite an der Idee dar, nicht den für Plato wesentlichsten Sinn; denn es fehlt ihr die Kraft, den im Phädon und auch sonst bereits deutlich formulierten teleologischen Ansprüchen zu genügen. Aus diesem Grunde erscheint auch die Annahme ausgeschlossen, eine Entwicklung Platos vom Phädon bis zum Staat in dem Sinne anzunehmen, daß er jenen Gedanken damals grade so weit erst er- faßt hatte, wie er ihn niederschrieb. Da diese Annahme, auf alle Dialoge ausgedehnt, eigentlich die Voraussetzung für diejenige genetische Auffassung Platos ist, die aus inneren Gründen die Reihenfolge der Dialoge bis ins einzelne feststellen will, so dürfte hier wieder eine unlösbare, weil falsch gestellte Aufgabe vorliegen. Bleibt dagegen die Darstellung des Sokrates- bildes neben allem andern eine wesentliche Aufgabe des Künstlers Plato, so ergibt sich hier eine völlig andre Orientierung. Nehmen wir an, daß Plato von der Zeit an, wo er einer eigenen philosophischen Anschauung sich bewußt wurde, neben diesen literarischen Kunstwerken schriftlich oder mündlich in seiner Schule seine Lehren äußern konnte, so gewinnen wir dieselbe Freiheit diesen Werken gegenüber, mit der ihr Verfasser sie auf- gefaßt wissen wollte. | Dazu gehört vor allem, daß wir einen Dialog aus dem andern so er- klären dürfen, wie es oben am Phädon und Staat gezeigt wurde: d.h. wir können sehr wohl dem Plato die Lösung von Aufgaben bereits zutrauen, die sein Sokrates in der für diesen typischen Weise stellt und zu deren Lösung er den Weg deutlich bezeichnet, während er diese selbst zweifel- haft läßt. Nie ist die Ansicht Platos der des Sokrates entgegengesetzt, Die Abwendung von den unzulänglichen &pyat der Vorgänger (vgl. auch 10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Phädon 101 E) zur rationalen Erkenntnis, von den zpaynara zu den Acyoı (ibid. 99e), damit der Sevurepos nAoüs, ist natürlich auch für Plato der prinzipiell allein richtige Weg, nur geht er ihn eben viel weiter als Sokrates. Doch damit ist die innere Beziehung zwischen platonischem Denken und sokratisch-mimetischer Dialogform noch nicht erklärt. Ob wir je den historischen Sokrates von dem, dessen Bild Plato gezeichnet hat, werden trennen können, bleibt dahingestellt, und diese Trennung ist für die folgende Gegenüberstellung glücklicherweise nicht nötig. An dem Bilde, das uns bei Plato entgegentritt, wird der innere Zwiespalt fühlbar, der sich in allem, was sonst von Sokrates überliefert ist, bestätigt: ein Mann, der die stärksten Anregungen in streng methodischem Gespräche gibt, und doch nichts Greifbares als seine Lehre aufweisen will und kann; in seiner Lehre nur Kritiker sittlicher Fragen, in gewissem Sinne Skeptiker, und in seinem sittlichen Tun von fester gläubiger Sicherheit. Jedenfalls sucht hier auch Sokrates dasselbe absolute Wissen — deshalb bleibt er der suchende Skeptiker — das Plato in einer religiösen Metaphysik immer klarer zu finden glaubte. Soweit konnte Plato in Sokrates den ihm ver- wandten Geist sehen, als beide ein Wissen suchten, das über alle Er- fahrung hinauswies. Beide sind hart an der sogenannten kritisch - philo- sophischen Lösung vorbeigegangen, für die die Vorbedingungen eben noch nicht gegeben waren: sich über die Voraussetzungen des Denkens klar zu werden, anstatt sie überwinden zu wollen. (Cohen, Platos Ideenlehre und die Mathematik S. 30.) Plato fand die Sphäre, in der sich ihm jene absolute Wesenheit zeigte, in der von den Pythagoreern bereits philosophisch bearbeiteten Jenseits- religion. I Menon Sla: O0! nv Aeyovrig eicı Toy lepewy Te xal = IS BENEINNE nepl Ov netayerpiLovrar Aoyov oloıg T eivzı Sı5over.) Diese zur Ergänzung des sokratischen absoluten Wissens- ideals brauchbar zu machen, den Mythus zu religiöser Metaphysik zu er- heben und als die notwendige Grundlage der von ihm erstrebten Einheit und Totalität des menschlichen Wissens, ja als Voraussetzung jedes Wissens überhaupt nachzuweisen, damit dürfte ein wesentliches Motiv der platonischen Philosophie angedeutet sein. Diese Verbindung von ver- standesmäßigem Denken und metaphysischem Glauben, die für uns Gegen- sätze sind, war für Platos von vornherein intuitive Denkweise natürlicher; sein anschauliches, gegenständliches Denken führte ihn leicht zu onto- logischer Metaphysik, erschwerte ihm andrerseits die klare Übersicht über einfache diskursive Begriffsverhältnisse, die er im Sophistes und Politicus mühsam erst erringen mußte. So erscheinen in der Einheit der plato- nischen Individualität die beiden einander ergänzenden Gegensätze des Wissens und Glaubens unlösbar verbunden, die er selbst in seinem Ver- nunftbegriff, der vono:s, zu vereinigen suchte. Diesen inneren Antagonis- IV. Abteilung. Philologisch-archäologische Sektion. 11 mus darzustellen, mußte ihm der sokratische Dialog die geeignete Form liefern. In ihr konnte er zeigen, wie die sokratische Denkweise, weil sie auf das Gute, wie er es verstand, gerichtet war, aber zu einem tran- szendenten Objekt nicht vorging, stets auf halbem Wege stehen blieb, suchte, aber nicht fand. Daher liegt in dem Zweifel des Sokrates, über den er im Menon und im Phädon trotz der Nähe des Zieles nicht heraus- kommt, alles andre als ein Zweifel des Plato an der Notwendigkeit, irgend- wie in dieses Reich sich zu begeben, vielmehr grade in seinem Sinne der Beweis, daß ohne jenen Schritt die Voraussetzung des sokratischen Lebens: Lehrbarkeit der Tugend, d. h. des Wissens, nicht der bloßen Meinung vom Guten, unbeweisbar bleibt. Diese Darstellungsform bringt zweierlei mit sich. Erstens erscheint die Sokratik unter dem Gesichtswinkel des auf absolutes Gegenstands- erkennen gerichteten Plato — nach H. Maiers neuester Darstellung eine historisch sehr falsche Perspeklive —, zweitens umgekehrt aber, und das ist für unsre Hauptabsicht noch wichtiger, erscheint das Neue und Fremde, das doch nun einmal in den platonischen Dialogen zur Sokratik hinzutritt, in der skeptischen Perspektive des Gesprächsführers Sokrates, dessen Charakter so allein gewahrt bleiben konnte. Plato hat dies zuerst sicherlich nicht als Schranke seiner künstlerischen Absicht empfunden. Vielmehr gab die eigentümliche Form, in der Sokrates die mystischen Lehren erzählen mußte, wenn er deren innersten Zusammenhang mit dem von ihm selbst geforderten Wissen nur von ferne ahnen durfte, dem Plato willkommene Gelegenheit, den Mythus in seiner verbreiteten Gestalt dichterisch frei darzustellen, alle die überlieferten Züge mit aufzunehmen, für die er im Einzelnen natürlich ebensowenig wissenschaftliche Geltung behaupten wollte, wie für die Züge, die er selbst dichterisch hinzugefügt haben mochte. Damit hatte er die Möglichkeit gewonnen, jede Stufe der Entwicklung darzustellen, in der sich die Durchdringung des Mythus mit Metaphysik und Logik in nie abgeschlossener Annäherung vollzog. So wird im Gorgias, wo von dem Motiv der Anamnesis noch gar keine Rede ist, der Glaube des Sokrates an eine Vergeltung im Jenseits am nach- drücklichsten ausgesprochen — aber es ist dort eben bloß persönlicher Glaube, rniortg (Gorg. 523a, 524a/b). Von dem Augenblicke an, wo sich in der Wiedererinnerungslehre der Ausgleich vorbereitet, tritt die oben geschilderte Entwicklung ein, die im Staate gipfelt: die riotıc, deren Gegen- stand rein sinnliche Objekte sind, tritt an die untere Stelle, und des meta- physischen Gegenstandes bemächtigt sich die Vernunft selbst (aUtög 6 Aoyog) in der vonsts. Daß im Staate selbst die innere Dialogform, wie sie hier entwickelt ist, nicht rein anzutreffen ist, obwohl immerhin auch hier, und zwar besonders im VI. und VII. Buche Sokrates seine Unsicherheit und Zaghaftigkeit bei der Darstellung grade der Hauptlehre zeigt (505 A, 506 CH.: Sonxer oor Ölnnıov elvar mepl WV TIg ii) oldev Acyeıy WG Elöcte; 13 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. 517 B, 5353 Aff. ötoyvpileotar!) darf nicht wundernehmen. Der Staat hat die Form eines Dialogs über die Gerechtigkeit, als der er ursprünglich wohl angelegt war, gesprengt; Sokrates beim Entwurf eines Staatsideals darzustellen, hieß bereits die Grenzen des sokratischen Dialogs innerlich und äußerlich überschreiten. Immerhin stand diejenige Frage noch im Mittelpunkte der Erörterung, die alle eigentlich sokratischen Dialoge be- schäftigt, die Frage nach dem sittlichen Leben, und wenn der Staat in dieser Forderung ausklingt, so ist die Übereinstimmung gewahrt mit dem Sokrates, den wir aus den früheren Dialogen kennen, Dies ist auch der Grund, weshalb der späte Philebus noch einmal den Sokrates ohne seine individuellen Züge als Gesprächsführer zeigt, und außerdem mag noch der ansprechenden Vermutung H. Maiers gedacht werden (Sokrates 537), daß im Philebus noch einmal der Versuch gemacht wird, die wichtigsten Schulen der Sokratiker zur Einigung zusammenzurufen. Doch mit dem Staate stehen wir jedenfalls an der entscheidenden Wendung der platonischen Philosophie nach Form und Gehalt, die ja un- trennbar verbunden sein müssen, wo von Kunstwerken gesprochen werden kann. Daß mit der Aufgabe des eigentlichen Sokratesdialoges die künstle- rische Schönheit zu schwinden beginnt, ist innerlich begründet. Der Ent- schluß mag Plato nicht leieht geworden sein, und er mag es gefühlt haben, daß damit der innerste Grund zur künstlerischen Darstellung, zur winmars aufgegeben sei. Es müssen gewichtige sachliche Gründe ihn zu diesem Entschluß bestimmt haben; wenn es ihm vorübergehend schien, als gäbe er damit jede schriftliche Produktion überhaupt auf und würde von jetzt an in erster Linie sich praktischen Aufgaben, zunächst seiner unterricht- lichen Tätigkeit in der Schule widmen, so könnte das mit zum Beweise dienen, daß bisher sein Schriftstellertum so eng mit der-Persönlichkeit des Sokrates verknüpft war, wie es in diesen Darlegungen angenommen wurde. Und grade in dem Gedanken, seine Schriftstellertätigkeit zugunsten münd- lichen Unterrichts aufzugeben, konnte Plato sich in innerster Überein- stimmung mit seinem Lehrer fühlen — dies wird dem Entschluß erst die radikale Fassung gegeben haben, die im Phädrus vorliegt, auf den meine letzten Worte ja deutlieh genug hinwiesen. An ihm, an der urkundlichen Erörterung der schriftstellerischen Grundsätze Platos, soll die bisherige Darlegung zusammenfassend geprüft. werden. Wieder erweist sich der enge Zusammenhang von Form und Gehalt durch die Unmöglichkeit, auf die inhaltliche Betrachtung zu verzichten. Es konnte bisher scheinen, als wären die großen Errungenschaften der genetischen Platoerklärung aufgegeben zugunsten einer Erneuerung des Schleiermacherschen Standpunktes, wie ihr kürzlich H. v. Arnim offen das Wort geredet hat. Im Gegensatz zu ihm sehe auch ich in den Dialogen Parmenides, Sophistes und Politicus eine grundsätzliche Änderung der plato- nischen Lehre; nun wird, was bisher, soviel ich sehe, noch nicht in diesen IV. Abteilung. Philologisch-archäologische Sektion. 13 Zusammenhang gerückt worden ist, grade in diesen Dialogen Sokrates durch andre Gesprächslührer abgelöst. Daß der Phädrus diesen Dialogen in- haltlich nahesteht, ist heute wenigstens die überwiegende Annahme, und auch der eifrigste Beschützer der frühen Abfassungszeit, ©. Immisch, hat sich kürzlich zur Annahme einer zweiten Bearbeitung entschlossen. Daher ‚ist es nicht unwahrscheinlich, ihn in dem bereits angedeuteten Sinne auch mit der formalen Wendung, dem Aufgeben des eigentlichen Sokrates- dialoges, in Beziehung zu setzen. Es lassen sich nun in der Tat aus ihm die Motive nachweisen, die den Sokrates von nun an zum Gesprächsführer schlecht tauglich machen. Der Phädrus ist das Muster eines sokratischen Dialoges, wie oben diese Form aus den im Aufbau der platonischen Philosophie wirksamen gegensätzlichen Kräften entwickelt wurde. Nirgends wirkt der Zauber der Persönlichkeit in der ganzen Art der Dialogführung so unmittelbar wie in diesem Gespräch. Von Anfang bis zu Ende ist der Ernst, den der Inhalt zu fordern scheint, aufgelöst in eine heitere Ironie, und wer den Phädrus unmittelbar aus sich heraus verstehen wollte, der würde um so weniger wissen, wo hier der wissenschaftliche Ernst steckt, je mehr er neben dem eindrucksvollen Inhalt auf die diesbezüglichen Winke des Schriftstellers zu achten begönne. Und wenn der Leser eine allgemeine Ansicht von püdog und Aöyog heranbrächte, so könnte er sich vielleicht entschließen, so wenig wie in den ersten beiden Reden auch in der großen Palinodie des Sokrates den wissenschaftlichen Ernst Platos anzuerkennen. Bei genauerer Be- trachtung würde er doch im Hymnus des Sokrates den auf die x{vmorg begründeten Unsterblichkeitsbeweis finden, der in den Gesetzen vom Athener unzweideulig ernst vorgetragen wird und der in der Metaphysik des Aristoteles eine große Rolle spielt — noch mehr, er würde bei der Er- wähnung der Anamnesis die deutlichste Abstraktionstheorie lesen, die bei Plato überhaupt zu finden ist; und er würde nun merken, daß Sokrates- Plato dies selbst anzudeuten scheint: lowg Ev dANVoUS Tıvos Epamrölever, Taxe 68 üv nal dAAoce mapapepöjevor, nepdonvtes 00 Tavranacıv Anidavov Aoyov, urtxöv tive Dvov Tpogenalonev... ToV... Epwra 265b. Und die Verlegenheit wird am größten, wenn am Schluß des Dialoges auch die kritische Erörterung über die Aoyoır mit demselben Verbum ratCewv, hier deutlich — scherzen, bezeichnet wird (OVxo0v Yon renaiodw perplwg Yiniv <& rept Aoywv 278b). So wird es erklärlich, daß auch die Forschung über den Sinn keines Dialoges zu abweichenderen und widerspruchsvolleren Ergebnissen gelangt ist. Die sichtlich versöhnliche Stellung zur Rhetorik, zur Kunst des nelYeıv, die von dem Gorgias so sehr abweicht, soll gar nicht Ernst, nur ein verstecktes Lob der Philosophie sein, das Lob des Isokrates am Ende ein hämischer, versteckter Tadel. Alle die Zweideutig- keiten des Tones, die aus der Form des Sokratesdialoges oben abgeleitet wurden, sind hier gehäuft. Und das hängt mit der Stimmung zusammen, 14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur, in der Sokrates hier erscheint. Die sokratische Ironie erhält hier von vornherein einen Einschlag von sprudelnder Laune. Gegen seine Gewohn- heit hat ihn Phädrus hinausgelockt in den Schatten der Platane, in den Zauberkreis des Nymphenheiligtums, der den Musen geweihten Zikaden. So ist er vorbereitet für die Wirkungen der %elz navix, des gottgesandten Wahnsinns, ohne den keine dichterische Leistung möglich ist (245a). In dreifacher Weise wird dieser Wahnsinn begriffen: als erotischer, dichte- rischer und religiöser, und die große Rede des Sokrates zeigt ja gleich- mäßig nach allen drei Seiten die eigentümliche Erhöhung sokratischen Wesens, die zur Ironie zurückzuwenden Platos Aufgabe wurde, wenn er dem Bilde des Sokrates treu bleiben wollte. Dabei läßt er ihn auf die Teilung des Wahnsinns in einen guten und schlechten noch nachher aus- drücklick hinweisen als auf ein wesentliches Stück der Rede (266). Plato tritt damit in den stärksten Gegensatz zur eigentlichen Sokratik, wie er sie selbst in der Apologie und im Ion dargestellt hatte (dessen Echtheit durch Pohlenz’ Vergleich mit Äschines: Aus Platos Werdezeit S. 186 weiter gesichert scheint). Sokratisch ist die stärkste Bewußtheit, ist die Fähigkeit des Rechenschaftgebens, Aoyov SLöcvat, die in der Apologie ausdrücklich auch von den Dichtern gefordert wird (Apol. 22b). Im Phädrus wird sich Plato des Charakters seiner Philosophie, seiner Tätig- keit in Wort und Schrift voll bewußt. Er erkennt seine Schriftstellerei als nardıc, als Spiel, und diese Auffassung bleibt herrschend; kein Wunder; denn wenn er nach Aufgabe des eigentlichen Sokratesdialoges die künst- lerische Gesprächsform nicht mitaufgibt, so tut er dies in der bewußten Absicht, sich nicht mit der Prosa der Lehrschrift zu begnügen, sondern sich mimetisch weiter zu betätigen. Das Hinausgehen des Phädrus über den sokratischen Gedankenkreis hängt mit der Wendung auf das Reich der Wirklichkeit im weitesten Sinne zusammen, die in den späten Schriften Platos sich vollzieht. So lange Ethik, wie sie Plato verstand: der Problemkreis des &y«töy das eigentliche Ziel seines Denkens war, so lange nur dominierte Sokrates. Nun folgt eine Schriftenreihe intensivster Dialektik im Parmenides, Sophistes, Politi- eus, und das dort geübte neue Verfahren der ounmioxy) und Ötaipesıs wird im Phädrus grade ausdrücklich gepriesen. Aber die Wendung zur Wirklichkeit beherrscht so stark diesen Dialog, daß die Dialektik im ange- gebenen Sinne für die ganze Breite möglicher schriftlicher und mündlicher Äußerungen als Voraussetzung der Einwirkung auf andere erwiesen wird. Somit gewinnt die Rhetorik in einem ganz neuen Sinne Bedeutung. Die Erörterung geht von der Frage aus, ob jemandem aus dem Redeschreiben ein Vorwurf gemacht werden könne; dagegen wird angeführt, daß alle großen Staatsmänner schrieben — auch Gesetze sind geschriebene Reden — und daß sie wünschten, ihre geschriebenen Werke möchten ewig währen, Dieser Gesichtspunkt kehrt so häufig wieder, daß Plato bewußten Nach- IV. Abteilung. Philologisch-archäologische Sektion. 15 druck auf ihn gelegt haben muß. Nun erscheint im Politieus die Rhetorik gleichfalls in einer durchaus günstigen Beleuchtung (304a); das hängt mit der politischen Wendung Platos zum aufgeklärten Despotismus zusammen, die Wendland (Preuß. Jahrb. Bd. 136 [1909] 193) geschildert hat und die auf Platos sizilischen Hoffnungen beruht. Bei der für Plato so unendlich verlockenden Aussicht einer Verwirklichung seiner politischen Pläne durch die starke Hand eines Monarchen wurde er sich des großen Wertes der Rhetorik bewußt, sofern diese zu tatsächlicher Bestimmung des Willens der Menschen, zur wirklichen Wuyaywyix werden konnte. Damit gewannen, wie im Phädrus sich so überraschend zeigt, alle die sefühlsmäßigen Momente der Überredung Wichtigkeit, und das Lob des Perikles, der aus der Naturlehre des Anaxagoras, das ‚„Hochsinnige und Wirksame‘ für seine Rede gewann, ist ganz ernst gemeint. (270a cf. Parm. 135d.) Dies zeigt zugleich, in welchem Zusammenhange die Wendung zur puots mit der (buyaywyiz im politischen Sinne steht. Wie in den Proömien der Gesetze, wie ım Politicus soll der Tätigkeit des Staatsmannes vorgearbeitet werden durch einen naturphilosophischen, religiös abgestimmten Unterricht. (Phädr. 276 E Politic. 304D.) Diese rat“ zum Zwecke der nardela ist in den Gesetzen ein häufig wiederkehrendes Motiv — dadurch wird die versöhnliche Stellung zur Volksreligion begreiflich, wie sie auch im Phädrus in dem ausdrücklichen Widerspruch des Sokrates gegen die rationalistische Mythendeutung sich zeigt (229D). Arbeitet sich so im Phädrus der Gegensatz zur theoretischen Sokratik in einer deutlichen Richtung auf praktisch-politische Tätigkeit schon klar heraus, so ist die Abwendung vom geschriebenen Buch zur mündlichen Unterweisung als dem würdigen Ziel philosophischer Tätigkeit noch viel deutlicher aus- gesprochen, und jeder Leser des Phädrus wird hieran wohl zunächst denken. Unter den Gründen, die Plato dafür angibt, sind für die vor- liegende Untersuchung zwei besonders wichtig. Wiederholt hebt Plato hervor, daß alles Geschriebene nur für den Wissenden zur Erinnerung dienen könne. Ohne auf den Gegensatz grade entscheidendes Gewicht zu legen zu dem behaupteten Nicht-Wissen, dem oüx elößc, wodurch der Gesprächsführer Sokrates, wie gezeigt, den eigentlichen Sinn der ihm von Plato in den Mund gelegten Äußerungen verdunkelt, so liegt doch unzwei- deutig in dieser von Plato stark betonten Wendung (töv elöora Unonvnoat 275d) eine Bestätigung für den nur mittelbaren Wert, der seinen sokra- tischen Dialogen nach unsern Ausführungen als einer Quelle platonischer Lehre zukommt. Mag Plato von vornherein an Leser gedacht haben, die „wissend‘“ waren über seine Grundgedanken, oder mag er nur an den traurigen Erfahrungen gesehen haben, wie mißverständlich der sokratische Dialog sein konnte, jedenfalls sehen wir ihn in der Folgezeit seine dialek- tischen und metaphysischen Lehren weniger zweideutig und ohne jene skeptischen Einschränkungen seitens des Gesprächsführers darstellen. 16 Jahresbericht der Sehles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Noch ein zweites Motiv kommt im Phädrus deutlich zum Ausdruck: Jeder Wissende muß imstande sein, das Geschriebene als Spiel, zz:öız, ja sogar gegebenenfalls als unrichtig nachzuweisen (278c), darin läge erst die ernstliche Tätigkeit, das omouözleı. Wieder legt eine Parallele aus dem Politicus nahe, daß auch hier an die ypzepzrz der Gesetze nicht zuletzt gedacht ist; die gegebenen Gesetze zurücknehmen, sie durch bessere ersetzen zu können, erscheint als oberste Pflicht und Leistung des Staats- mandes (295E, 2936B). Bedenkt man, daß Platos literarische Tätigkeit bisher in einem Staatseniwurfe gipfelte, so ist ja sachlich kein großer Unterschied. Immerhin weist auch die das Theoretische mitbegreifende Fassung darauf hin, daß Piato hier an einem Wendepunki steht; Mißver- ständnisse anderer und eigne Wandlung, die beiden möglichen Gründe der Kritik der Ideenlehre im Parmenides und Sophistes, klingen ja deutlich an. Somit scheint auch hierin der Zusammenhang zwischen Phädrus, Politieus und Sophistes bestätigt; das Politische ım Phädrus ist bis jetzt wenig betont worden und bedarf noch des genaueren Nachweises. Viel- leicht beruht das Lob des Isokrates mehr auf politischer Übereinstimmung; immerhin legt die Ähnlichkeit im Gedanken und in der Fassung von Isoer. ep. 12.3. (an Dionysius!) und Phädr. 275E eine Anwendung der buyayuyiz nahe, welche der 277 BC so stark empfohlenen Rücksicht auf die Indi- vidualität des zu Überredenden erst Sinn verleiht; jedenfalls, hoffe ich, ist klar geworden, daß die politische Seite bei der Wirkung des lebendigen Wories von Mensch zu Mensch, die der Phädrus preist, mitinbegrifien ist. Weil das negative Ergebnis des Phädrus, die Abwendung vom geschriebenen Worte, eine wesentliche Berührung zwischen Sokrates und Plato darstellt, darum kann hier noch einmal Sokrates selbst ın ironisch verhüllender Form Gedanken zum Ausdruck bringen, die nichis Sokratisches mehr haben. Mit dieser Beurteilung des geschriebenen Wortes gibt also Plato selbst deutlich zu verstehen, daß seine Dialoge Kunstwerke sind, die nach be- kannter platonischer Lehre als niwnoıs, rz.öz aufzufassen ‚sind, Von dieser Grundlage aus beurteilt später Plato stets seine schrift- liche Produktion. Es kreuzen sich weiter mannigfach die inhalilichen und formalen Gesichtspunkte; das ironische Spiel des sokratischen Dialoges bildet sich um zur mystischen Resignation, und ein eigentümlicher Gegen- satz zum sokratischen Standpunkt tritt ein: 72 Wy Awpuney Tpaynare, der ausschließliche Interessenkreis des Sokrates, peyzing yEv omoudic oUx Aka, dvayaalov ye iv cmovddle:v (Ges. 303B). Das Reich der Natur er- scheint im Timäus grundsätzlich nur als Gegenstand würdiger zetö:z (59D ef. 293C). Und der eigentliche „Ernst des Philosophen wird jene mystisch vergeistigte netswgoioyiz der religiösen Astronomie, mit der Plato sich wohl von Sokrates am weitesten entfernt. Diese Ausführungen wollen zunächst nur ein Versuch sein, gewisse Fragen, die bisher nur mit Hilfe von außerhalb des Kunsiwerks liegenden IV. Abteilung. Philologisch-archäologische Sektion. 17 Gesichtspunkten beantwortet wurden, aus der Struktur des platonischen Dialoges selbst zu begreifen. Denn auch die Sonderaufgabe der philo- sophischen Erklärung, den Sinn der platonischen Problemstellung schlecht- hin zu untersuchen, ist in diesem Zusammenhang nicht anders zu be- urteilen, solange man das als Ziel der platonischen Forschung festhält, was Goethe (Plato als Mitgenosse einer christlichen Offenbarung. Jubi- läums-Ausgabe 36, 145) bereits so ausgesprochen hatte: ‚Wie nötig bei einem solchen Schriftsteller — wie Plato — eine kritische, deutliche Dar- stellung der Umstände, unter welchen er geschrieben, der Motive, aus welchen er geschrieben, sein möchte, das Bedürfnis fühlt ein jeder, der ihn liest, nicht um sich dunkel aus ihm zu erbauen — das leisten viel geringere Schriftsteller —, sondern um einen vortrefflichen Mann in seiner Individualität kennen zu lernen; denn nicht der Schein desjenigen, was andre sein konnten, sondern die Erkenntnis dessen, was sie waren und sind, bildet uns.“ Sitzung am 11. Dezember ‘(gemeinsam mit der historischen Sektion). Herr Geheimer Regierungsrat Professor Dr. Richard Förster hielt einen Vortrag: Der 200 jährige Geburtstag von Johann Jacob Reiske. 1916. 2 L iz HIER Ms RR BEE Sohlesische Gesellschaft für vaterländische ultır. Gy 94. IV. Abteilung. Jahresbericht. b. Orientalisch-sprachwissen- 1916. schaftliche Sektion. &c Er TR Sitzungen der orientalisch-sprachwissenschaftlichen Sektion im Jahre 1916. Sitzung am 17. Februar (gemeinsam mit der philosophisch-psychologischen Sektion). Herr Professor Dr. William Stern hielt einen Vortrag über Kindersprache und Sprachwissenschaft. 1916. en j j nn ve - y 5 Au q a f \ ee E d ir Ga TARNTART 1, Haste Zip r- Halnsing sa EURE SO AAN BF ar N ca. ker Birahrm , Wie N An PR Ta r L 4 ıF A B & I KW " f a * i 0 - a 3 % % j schlesische Gesellschaft für vaterländische Gultur. TayR e 94. | IV. Abteilung. Jah sbericht. | i Br ß ; N ee ' e. Sektion für neuere Philologie. 1916. | &uc RTIE 965) Sitzungen der Sektion für neuere Philologie im Jahre 1916. Am 10. Februar: Vortrag des Herrn Privatdozenten Dr. A. Hilka: Über einige italienische Prophezeiungen des 14. und 15. Jahrhunderts, vornehmlich über einen deutschen Friedenskaiser. Das mittelalterliche Italien mit seinen wechselvollen Schicksalen und politisch-religiösen Wirren bildete den Gegenstand zahlreicher sogenannter Prophezeiungen, die hier ihren klassischen Boden fanden. Namentlich aus dem Kreise der Minoriten Italiens gingen solche Prophetien hervor. Teils knüpften sie an die Schriften des kalabrischen Abtes Joachim von Fiore!) (f 1202), an dessen Prophetenrolle selbst Dante geglaubt hat (,,Di spirito profetico dotato‘“ Par. XII 140), teils an Merlin und die Sibyllen, auch frühere Visionen, sodaß ein recht buntes Gemisch aus allerlei Motiven entstand?). Diese pseudojoachitischen Schriften erhofften alles Heil von den beiden Bettelorden und predigten mit ihrem apokalyptischen Charakter vollkommene Armut; daher ihre scharfe Spitze gegen den Geiz und die Verkommenheit des Weltklerus, der Prälaten und insbesondere der Kurie. Rettung aus dieser großen Seelennot erwartete man von einem idealen Weltenkaiser, der Frieden, Gerechtigkeit und Freiheit dem bedrängten Menschengeschlechte bringen und den paradiesischen Zustand allgemeiner Glückseligkeit wiederherstellen würde®). Hier schwebte bald die Gestalt des letzten mächtigen Staufers, Friedrichs II,, oder eines mystischen „Friedrich‘‘ aus dessen Stamme vor, bald die eines französischen Kaisers 1) Druck Venedig 1516. Vgl. J.M. Schneider, Joachim von Floris und die Apokalyptiker des Mittelalters. Progr. Dillingen 1872/73. 2) Vgl. O. Holder-Egger, Italien. Prophetien des 13. Jahrhunderts = Neues Archiv für ältere deutsche Geschichtskunde XV (1890), S. 143ff. XXX (1905), S.321ff. XXXII (1908), S. 97 ff. 3) Vgl. Fr. Kampers, Kaiserprophetieen und Kaisersagen im Mittelalter = Histor. Abhandlungen VII (München 189), S. 149 ff. Die deutsche Kajseridee in Prophetie und Sage. München 1896, S. 113ff. K. Voßler, Die göttliche Komödie, Heidelberg 1908, S. S00 ff. 1916. \ 2 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. „Karl“, indem noch die alte Karlssage nachwirkte!) und die französisch- päpstliche Richtung dieser Joachiten ihre Sonderbestrebungen offen kundtat. Aber der Widerstreit beider Riehtungen dauerte noch lange fort, da die Idee vom messianischen Friedenskaiser vornehmlich deutscher Herkunft die Gemüter bis zum Ausgange des 15. Jhdts. bewegte, während die Not des Landes immer höher stieg und die Türkengefahr für die gesamte Christenheit immer drohendere Ausdehnung gewann’). Eine solche Kaisersage lag bereits Dante für seinen Veltro vor, jenen mächtigen Jagdhund, dem es gelingen werde, die nimmersatte Wölfin zur Hölle zurückzutreiben°®). ‚Der deutsche Friedenskaiser ist im Grunde der Veltro Dantes,‘‘ bemerkt Gaspary in seiner Literaturgeschichte (I S. 357). Den Weissagungskampf selbst nach all seinen Phasen hin hat uns Fr. Kampers in seinen Schriften hervorragend dargestellt. Doclı scheint noch weiteres Sammeln des Materials zu dieser eigenartigen Literatur nicht unnütz zu sein. Dies gilt besonders von den zahlreichen Prophetien in italienischer Sprache, vor allem in poetischer Form, die sich neben die lateinischen Vorbilder, bisher in den Vordergrund der Forschung gerückt, stellen. Eine solche Sammelhandschrift mit italienischen Prophetien (Papier, XV. Jahrhdt.) erregte bald nach Ausbruch dieses Weltkrieges meine Auf- merksamkeit: Sie befindet sich seit dem Jahre 1837 ım Besitze des Hof- antiquars Jacques Rosenthal in München und ist seitdem von niemand ein- gesehen oder bearbeitet worden. Eine Beschreibung des Inhalts nebst kurzen Textproben habe ich bereits gegeben‘). Seitdem konnie ich fest- stellen, daß diese Handschrift identisch ist mit dem von Fr. Novati?) unter Nr. 91 angeführten und kurz beleuchteten Codex der Sammlung Trivulzio- Trotti, zu deren Ankauf sich damals (1387) das italienische Kultusmini- sterium nicht entschließen konnte und die daher größtenteils durch den Verleger Hoepli aus Mailand in New York versteigert wurde. Ob nun diese Handschrift direkt aus Italien oder auf dem Umwege über Amerika in den Besitz des Münchner Antiquars gekommen ist, gelang mir nicht zu er- mitteln. Über die Bedeutung der hier enthaltenen Profezie hat bereits Novati das zutrefiende Urteil gefällt: „I componimenti che il codicetto 1) Vgl. A. Durrwaechter, Die Gesta Caroli Magni der Regensburger Schotten- legende. Bonn 1897, S. Si fi. 2) Vgl. J. Rohr, Die Prophetie im letzten Jahrhundert vor der Reformation —Hist. Jahrbuch XIX (1898), S. 29. MTfi. 3) A. Bassermann, Veltro, Groß-Chan und Kaisersage = Neue Heidelberger Jahrbücher 1902, S. 28f. K. Voßler a. a. O.S. 47Sffl. F. Kampers, Dantes Kaisertraum. S. A. Breslau 1908. #) Beiträge zur Forschung. Studien und Mitteilungen aus dem Antiquariat Jacques Rgsenthal. I (1915), S. 171. 5) I codiei Trivulzio-Trotti = Giorn. stor. della letter. ital. IX (1887), S. 181 #. Vgl.J. Sanesi, La storia di Merlino. Bergamo 1398, S. XXVI. IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 3 Trotti contiene, i piü de’ quali io non ho memoria d’aver rinvenuti altrovi, richiamano assai davvicino i modelli piü famosi del genere; quelle frottole profetiche, uscite dalle fantasie di monaci e di eremiti, che le privazioni, Je penitenze e la solitudine avevano esaltati; lequali corsero per tutta Italia, rendendo celebri i nomi di Tomasuccio da Foligno, di frate Stoppa, di fra Francesco da Bologna.‘‘ Auch R. Renier!) hat darauf hingewiesen, daß dieser Zweig der schwierigen Prophetienliteratur eine größere Beachtung verdient. "Das I. Stück ist nach der Hs. Vaticana 4872 bereits von G. Mazza- tinti?) und A. D’Ancona?) behandelt, sodann von diesem daraus abgedruckt®) worden. Der Text trägt dort den Titel: Prophelia fratris Jacoponi edita in M. C0C.L. E.Filippinı fand den Text auch in der Hs. Bibl. Nazionale zu Neapel V. H. 274 mit der Überschrift: Prophetia fratris Mucii de Perusio und druckte ihn nebst einer Einleitung und den Varianten der Hs. Vaticana ab°). Auf Grund weiterer Funde, da sich die Zahl der ihm bekannten Hss. auf neun erhöhte, erfolgte durch Tilippini die kritische Edition®), der er eine alles Wesentliche umfassende Einleitung und einen historischen Kommentar beifügte. Für den Trivulzio-Codex, den er eben noch irgendwo in Amerika liegen wähnte, blieb er auf die Notizen Novatis angewiesen. Es wird daher nicht unangebracht sein, den Text der Münchener Hand- schrift in einem blossen Abdruck hier mitzuteilen, um so die Über- lieferung zu vervollständigen. Er ist überschrieben: Infraseripta e una astrologia o Judieio che dura cento anni che fo predicata. Innerhalb der Gattung der Profezie?) nimmt diese Dichtung eine hervorragende Stellung ein. Was die Autorschaft dieser sogen. Prophetie betrifft, so stammt sie sicher nicht von Jacopone (} 1306) noch von Tommasuccio da Foligno (r 1377) oder von frate Stoppa. Die Vermutung Filippinis, daß frate Muzio da Perugia der Verfasser sei, läßt sich durch keine triftigen Gründe stützen, wie denn wohl die Verfasser solcher mehr oder minder apoka- Iyptischen Dichtungen sich absichtlieh auch mit ihrem Namen in Dunkel gehüllt haben, während die Kopisten sich sonst bekannte Gewährsmänner ‚aussuchten, um eigne Erzeugnisse diesen zuzuschreiben und ihnen dadurch einen weiteren Leserkreis zu schaffen. Bezüglich des historischen Gehalts betont Filippini den einzig maßgebenden Grundsatz: „dobbiamo ricercar zen un % 1) Liriche edite ed inedite di Fazio degli Uberti. Firenze 1883, S. CCC IL. 2) Un profeta umbro del sec. XIV = Propugnatore XV, parte Il (1882), S. 36, 3) Nuova Antologia XXI, S. 464 ff. 4) Studi sulla Letteratura italiana dei primi secoli. Milano 1884, S. 95 ff. 5) Miscellanea Francescana V (Foligno 1890), S. 136 ff. 6) Una profezia medievale in versi di origine probabilmente umbra = Bollettino ‚della regia deputazione di storia palria per l’Umbria IX (Perugia 1903), S. 448 ff. Über eine 10. Hs. (Oxford) berichtet Filippini ebda. X (190%), S. 149. ?) Vgl. Gaspary, Gesch. der ital. Liter. I S. 357. Renier a. a. O0. S. 191 ff. Faloci Pulignani — Miscellanea Francescana 1 (1886), S. 81 ff., 121 ff., 150f., 172. A.Medin = Rivista critica della letter. ital. 1889, Sp. 120. i* 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. l’origine della profezia nella profezia istessa.* Seine mühsamen Unter- suchungen führten ihn zu dem Ergebnis, daß die Dichtung zwischen 1400 und 1401 abgefaßt worden ist, zu einer Zeit, als der Traum von einem mächtigen deutschen Friedenskaiser neues Leben durch das Heranziehen Roberts von Bayern in Oberitalien gewann, während die Kleinstaaten einander zu vernichten trachteten und die Florentiner mit Gian Galeazzo Visconti in blutiger Fehde lagen. Dieses Datum wird durch das Fehlen jeder Angabe über den Streit zwischen Gian Galeazzo und dem neuen deutschen Kaiser erhärtet, und bekanntlich mußte sich dann Robert, bei Brescia völlig geschlagen, rasch ins Trentino zurückziehen. Unser Text—=B, den ich nur dank der Ausgabe Filippinis, dessen Hss.. Sigel ich übernehme, mit der sonstigen Überlieferung vergleichen kann, stellt eine ziemlich unabhängige Redaktion dar, wie die große Zahl der dieser Hs. eigentümlichen Varianten beweist, die nur selten einige Be- rührungen mit den Lesungen der anderen Hss. zeigen. Vgl.v. 13(=CEH); 22.71. 242: CD); 942 29; I! EEE 790 Die Verwandtschaft von B mit A ist wohl keine zufällige; denn auch dieser Text H nebst E gehört zur Redaktion O0, der wir nunmehr unser B mit großer Wahrscheinlichkeit anreihen dürfen. Unser Abdruck ist bezüglich der Graphie und Interpunktion den Be- dürfnissen des modernen Lesers angepaßt, größere Änderungen vorzunehmen lag mir fern außer bei offenkundigen Kopistenfehlern, die ich unter den Text verwiesen habe. Die Lücken in Str. XLIII u. XLIV sowie LXIV habe ich nach O —= Filippinis kritischem Text, der die Hs. A zugrunde gelegt hat, ausgefüllt. Unter den Text setze ich auch einige der bemerkens- wertesten Abweichungen von OÖ, um eine rasche textkritische Vergleichung an dunklen oder verderbten Stellen von B zu ermöglichen. I. Piü volte il voler mio m’ ha sforzato Iokrir Et m’ha ditto: non tener celato; Quel che Dio vole sia manifestato A tuta genie. II. Et io si m’ho imaginato ne la menie 9 De dire alquante cose brevemente E fo prineipio de I!’ Italia dolente E de so’ tirannı. III. A ciö che non credi che te inganni Dico che doppo li setanta anni!) 10 Finendo lo quatrocento?) de grandi affanni Haverä il paexe.°) 1) darüber korr: Dico che in questi s. a. Fil.s krit. Text (= O0): Da M.CCC sexantanove anni. 2) über quatrocento korr: mille qu. 3) paexo. IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 5 IV. Voltomi a quello che sta apresso Accese, Che a la fin non ge valerä defexe, Che in vero lo popolo con soe arnexe 15 Sara deserto. V. Non lo tener per zanze, mha tielo por certo Che li peccati antiqui aspetan merto, Tuto ’l senno del Re Roberto No /] potrebe scampare. 20 VI. Tamborri e trombete vederai tu sonare E campane a martello martellare; Quantı sono che sı vedera andare \ A la lor morte. VII. © ducha de Milano, che te tieni sı forte 25 E credi star securo cun tue schorte, Tu lassaray li palaci con le porte Per via fuzire. VIL. O Dala Scala, el te convien sofirire fol. 1v. L’aspra vendeta del crudo martire, 30 E ala fin el te convien morire Con lı to’ sequaci. IX. Non giovarate a dir: io volio pace, Perch’el & accexo focho ne la fornace Per intromettere ogni lupo rapace 35 Ch’a carpito. X. O Padovano, o signor ardito, Tu non t’acorgi del crudo convito? Non fugiray che non sii punito A questa volta. 40 XI. O da Ferara, una parola ascolta, Ch’ aragunato hay pecunia molta: Presto semenaray !) quella recolta Cun gran fretta. XI. OÖ da Mantua, un pocho aspeta, 45 Che tosto haveray la gran stretta, Che li toy peccati cridano vendeta Davantiı a Cristo. XII, Ora tu, da Ravenna, intendi questo, Che tosto lassaray lo grande conquesto; 50 Deza vene che te faräa tristo De la persona. 1) somenaray, aber O: Ma tosto sonarai a la racolta. Unsere Hs. bietet die bessere Lesart. Rn Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. XIV. Ora te alegra, Lombardia bona, }) Po’ che di te tanto ben si rasona, Ben vay, po’ che Idio te perdona Li toy peccati. XV, 0O Malatesta ch’ aviti sforzati Li populi da voy dominati, ot or Or’ aspetati che saran pagati Li vostri pari. 60 XVIl. O tyranni erudi, o homini avari, Che spanto haviti lo sangue per li denari, Dirite mo’ cheli siano ripari Al gran bisogno. XVII. Ora me intenda zascun ch’a inzegno,?) 65 Siatı certi che non me insogno; N’anche parlo ungaro ni borgogno Che non si intexo. XVII. Ma per meglio esser da voy intexo, Tale se crede el regno havere prexo, 70 Quando sı medesimo haverä difexo, Tropo haverä fatto. XIX. Non & alehun chi s’acorgi del gatto, Che ven d’amicho per far meglio so tratto, Quel che se crederä esser piü alto “> Haverä paura. XX. O tu, Fiorenza, che stay in grande altura, Or si !'aparegia de bona armatura Per far difexa, che non stay secura®) Del to periglio. 80 XXI. Non giovarate el tuo savio consiglio, Che per terra se n’andarä lo riglio, Che’ padre piangerä e che lo figlio Da po’ il botto,. XXI. EI tuo gran trapello*) sarä rotto 85 fol. 2v. Da li Alemani con lo lor signor dolto; Poy con altrı acordara el scotto, Che altri non pensa. 1) O: L. non bona. 2) O: eiaschun quel che agongio. 3) O: Perch& te dico che t’& gionta l’ora. Unsere Hs. hat die bessere Lesart. 4) trupello. XXIM. XXIV. XXV. xXXV1. XXVII. XXIX. XAX. XXX. IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. A Pisa e a Lucha') non valera defensa: Tanta sara verso di lor gran forza extensa;?) OÖ bon lector, fra ti stesso pensa Che deve seguire. Che d’Alemania vedray vegnire Uno hom feroce?), con grande ardire, Che con sua umbra fara sbigotire El piü ardito. E tu d’Arezo saray al convito Con li to’ vieini che stano atorno al s(e)ito, Ma trovaray con meglior partito Alcuna cosa. Volgomi a la citade glorioxa, Quella che su la marina se reposa, Tosto se ritrovera angoscioxa Nel so letto. E subito perderä ogni diletto, Tutte le donne con gran dispetto Se strazerano con le manı el petto Per gran dolore. A quanti homini crepara lo cuore Prima ch’ el sia purgato tanto errore; Perö pregamo Ihesü nostro Redemptore Che ci deflenda. E a chi piace, le parole mie intenda, Chi a ofexo a Dio, a luy si se renda, E sıa ben certo, s’el non se emenda, Ci’ el sara pagato. Tornarö a quella che gia fu in stato, Che tosto purgaräa il so peccaio; Da molto sangue saräa turbato E dal largo fiume.*) Trapasso qui per non far piü volume,?) Ma per poter dire piü del lume:®) Vederay tu levar un novo costume Nel paexe. O: Ad Sena et Pisia. : T. serra de lui la f. immensa. : Un homo forte. „Lo. £. : per non far gran v. : Et per poderne dare qui piü 1. 90 95 100 105 110 115 120 fol. 3r. 8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. XXXIl. Vederay tu levare li Anglexi,!) 125 L’un fratello contra l'altro a contexe; Lance e penoni per fare difexe Vederay tu portare. XXXII. Richo se tenirä che poträ trovare Bona armadura per poterse armare; 130 Vederay bel fuzire e bel incalzare Da ogni parte. XXXIV. Vederay ritornare el tempo di Marte,°) Con gran crudeltä uxar sua arte, Em molti luoghi sue membre sparte,°) 135 Tute sanguinate. XXXV. Vederay donne a bruna schapigliate E d’ogni suo dilletto esser private, Da gente stranie esser supergiate E cun desdegno. 140 XXXVI Vederay in la Italia un certo segno,®) fol. Contrastar regno contra l’altro regno, In fin ch’el verä colu’ che serä degno De far pace. XXXVIl. Vederay de molta gente esser falace 145 E quasi ogni preyto esser lupo°) rapace; Vederay le opere de Dio verace Abandonare. XXXVII. Vederay lı religiosi insieme adunare E prender modo de poder robare 150 E per meglio poder luxuriare A la sfrenata. XXXIX. Vederay la fede in tuto abandonata, E anche la carita molto despresiata, E la vitualia cossi carestiata 155 Sey cotanto. XL. Vederay fuzire de molta gente in sancto, Che pregarano Ihesü con grande pianto, Crederano che’] mondo tuto quanto Venga al meno. 160 1) O: Vederai armarse l’omo ad l’anglese. 2) O: Vederai vitturiare l’impio Marte. 3) O: Et in m. modi mandara sua carte. 4) O0: V. perduto lo ytaliano ingengno. 5) lJupo fehlt. 3V. IV. Abteilung. ‚Sektion für neuere Philologie. XLI. Vederay alcuni frati senza freno Portar trattati cun tradımenti in seno, De simonia e de pessimo veneno Esser carichatıi. XLII. Vederay anchora alcun prelati Tener a guarda de gran soldati; E cometteran gravissimi peccati Per denari. XLIH. Li pastori saran fatti bechari, Tutı saran erudeli e avarı; Poy se vederan in man di pelizari [Con alte grida.!) XLIV. O gran miseria de lo avaro Mida Et totı quegli che a presa sua guida, Per cui exempio conven che se grida.] Tuti quanti.?) XLV. Vederay lassar lı cavallı ambianti, De molte veste e denari cotanti Se coprirano la chiericha°) tuti quanti Per paura. XLVI. Vederay desarmar molti de l’armadura E de gran corpi morti?) senza sepultura Per li monti e per la pianura?) In sangue lassare. ®) XLVI. Vederay Anglexi a mal modo tratare, Gente tedescha e Ungari tagliare; Beato sara che poträ scampare Che non sia morto. XLVII. Conviene a me parlando che sia schorto Abreviando, lo tempo & tanto corto; ”) Vederay quelli ch’ano fatto tanto torto Esser pagati. XLIX. Vederay a quel modo esser tratati Li Ceeiliani quando föno vendicati, Da gente francesce föno supergiati Za molti anni. 1) v. 172—175 fehlen. 2) O: Dice Danti (cf. Purg. XX 106—1098). 3) Se c. la gereglia. 4) c. monti. 5) O: Vederai quelgli [che per Maria iura]. 6) O: Sangue pissiare. 7) Abr. lo t. e tardo forto. 180 185 190 fol. &r. 10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. LI. LIN. LIV, LV_ LVIL LVIL LVII. Poy che consumati sarano |ı tiranni E lı preyti mandati con li lor danni, Verä coluy che in terra de 4lemani Sie alevato. 200 Costu’ sarä de ozni virtü ornaio, Promesso ne la leze e prophetizato, De la casa del Re David sarä levato Certamente, 15) oO [PL Questo non cercharä n® oro n& arzenie, Anche deschazerä che gli ne!) consente, E sı li metter&ä col gran serpente Nel profondo. Costu’ sara signor di tuto il mondo Fazendo®) justieia a quadro e a tondo, 210 Sposo de 1’ Italia, questo non ascondo, E Imperatore. Costiu’ sara el?) piü dritto signore Che nascesse ma’ da poy al Signore: Ello renderä gratia a Dio et honore 2315 Del so stato. Costu’ mantegnerä paee in ogni lato Deschazando dal mondo ogni peccato; Non se trovarä che sia superehiato Dal so vicino. 220 Convertirasse a la fede el Saracins E Tartaria con tuto el so camino; Poy intrar& in quello loco divino Sanetificato. or E quando Roma tornara in so siato 22 E tuto quanto el mondo sara ripossato, Li santi preyti del mondo stato Tuti predicarano. Tutı li infideli se convertirano, Vestiti tuti d’uno aspro panno, 230 E senza proprio sempre viverano In la povertade. 1) ne fehli. 2) Fazando. ®) el fehlt. fol. 4v. 100) Fa) LX. LX1. LXI. LXIM. LXIV. LXV. IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 11 Rebannita!) alora sara la caritade E fra la gente sarä ferma amistade, E saran segur tute Je contrade Cun l’oro in mano. Or te alegra, o populo romano, Che signorezaray in loco luntano Et anche quello chi & proximano Cun grande valia.?) Al mondo may non sarä piü bataglia, Sara in obprobrio?) ogni ferro e maglia, Ne may piü cara sara la vitualia Certamente. Remarrä®) sopra la terra pocha gente, E ogni spirituale sara alora gaudente; Perho pregamo Dio che conducha ogni gente A bon stato. Bl can con Y'orso sara pacificato, El lupo con l’agnello aconpagnato, E’l serpente stara nel fossato A manducare. |Or odi se te piace el mio parlare,?) Et per richeza non alteregrare, Perch&e convene nostra volgia acordare Col convenente.| Quel che del mondo have a prophetizare ®) Da Dio fo inspirato primamente;”) El nome so sia laudato devotamente °) Dicendo Amen.?) 240 250 255 260 Von der II. Prophetie „El se movera un gatto“ befindet sich eine 1) Rebaldita. 2) O: Sensa travalgia. 3) O: Serra nascoso. 4) Regnara. 5) v. 253—256 fehlen. 6) O: Chi ha profetizato [&] da niente. ”) O: [Ej da Dio fo spirato fermamente, 8) O: Esso |. sia d. 9) O: Ad totte V’ore. Sie wird hier s. Bernardino zugeschrieben. „Ilumina lo cor mio, o alto Süre‘“ habe ich mir zwei Hss. angemerkt, die sie gleichfalls enthalten: Vatic. 4872 (hier mit der weitere Kopie in der Sammelhandschrift Paris, Bibl. Mazarine, cod. ital. 43 (2022 A, XVI. Jhdt.); vgl. Mazzatinti, Manoser. ital. delle bibl. di Francia Ill (Roma 1888), S. 171. die III. Prophetie Für 12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Überschrift: Prophetia fratris Tomassutijj de Fulgineo edita in Mo CCCo LXÄXX0) und cod. Maglıab. Cl. XVX, 7, 344. Der Weltkrieg beraubt mich der Möglichkeit, einen kritischen Text herzustellen und manch dunkle Stelle aufzuklären. Der kurze Prosatext IY scheint in der großen Pro- phetienhs, Riecard. 1258, Bl, 72a vorzukommen. Ich hoffe, all diese Stücke später abzudrucken, sobald erst die Möglichkeit eintritt, mein Hss, Material zu erweitern. E Einen historischen Kommentar zu diesen prophetischen Texten, die absichtlich dunkel gehalten sind, habe ich vorläufig um so weniger an- gestrebt, als die historischen Verhältnisse bei weitem nicht so klar daliegen wie etwa in der von A. Benzoni!) vortrefflich edierten und erklärten Prophetie ‚„Lieve la mente, o spirito zentile, die die europäische Geschichte 1460— 1470 betrifit. Am 9. November: Vortrag des Herrn Professor Dr. P. Diels: Die tschechische Orthographie des Mittelalters und ihre Entstehung. Die Fragen, die hier aufgeworfen und nach Möglichkeit beantwortet werden sollen, sind nicht etwa paläographischer Natur. Welche Schicksale die Form der lateinischen Buchstaben auf dem böhmischen Boden im Mittelalter durchgemacht hat, das soll hier außer Betracht bleiben. Mich beschäftigt hier nur die Geschichte der Orthographie, also die Frage: wie haben die tschechischen Schreiber des Mittelalters, seit dem Beginn der literarischen Zeit, die lateinischen Buchstaben verwendet, um damit die Laute ihrer Muttersprache auszudrücken? 1, Den bedeutsamsten Einschnitt macht hier, wie bekannt, die ortho- graphische Reform des Johannes Hus. Sie bemüht sich, die Schwer- fälligkeit und zugleich auch die Zweideutigkeit der älteren Orthographie zu vermeiden, und erreicht dies durch die Verwendung diakritischer Zeichen, durch Punkte und Striche, die sie über die lateinischen Buchstaben setzt. Dadurch kamen die Doppelschreibungen und zusammengesetzten Zeichen der älteren Orthographie in Wegfall, und es wurden Unterscheidungen möglich, die die ältere Orthographie nicht hatte machen können. Ein Strich über dem Vokalzeichen (z.B. 4) bedeutet in der Husischen Ortho- graphie (und bedeutet noch heute) die Länge des Vokals, die vorher allen- ‚falls durch Doppelschreibung ausgedrückt worden war. Ein Punkt über i, d, n bezeichnete die palatalisierte Aussprache dieser Konsonanten, also das, was man vordem etwa durch die Verbindungen ty, (fi), dy, (di), ny, (ni) bezeichnet hatte. Punktiertes » ersetzte das ältere »z (= &ech. 7), 5 wurde durch punktiertes s ausgedrückt und dadurch von s sicher unterschieden; ebenso unterschied Hus punktiertes e (= ech. €) von e und punktiertes’z (= Cech. 2) von z. In den drei letzten Fällen leistete die Husische 1) Ateneo Veneto XXVIIi, vol. II (1905), S. 161—208. IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 13 Orthographie!) etwas, das die Orthographie des 14. Jahrhunderts über- haupt nicht geleistet hatte. Auch den damals im Öechischen noch vor- handenen Unterschied zweier !-Laute bezeichnete Hus mit den gleichen Mitteln: punktiertes Z und !. Die Husische Orthographie hat sich zunächst nicht durchzusetzen vermocht, Neben ihr hat sich bis weit in das 16. Jahrhundert hinein die ältere Orthographie behauptet, auch an Vermischungen beider hat es nicht gefehlt. Einen entscheidenden Erfolg trug erst gegen Ende des 16. Jahr- hunderts die Orthographie der böhmischen Brüder davon. Im wesent- lichen war es aber ein Sieg der Husischen Orthographie, auf die das gute in der Schreibweise der böhmischen Brüder zumeist zurückging. Von hier führt der Weg dann weiter bis zur modernen tschechischen Orthographie, deren Gestalt erst im Laufe des 19. Jahrhunderts endgiltig festgelegt wurde. Und der Weg führt nicht bloß zur modernen tschech. Orthographie, sondern er führt auch zu den modernen Orthographien mehrerer anderer slavischer Sprachen. Die Grundlagen der tschechischen Schrift, vor allem auch ihre diakritischen Zeichen, haben im Laufe des 19. Jahrhunderts bei Kroaten und Siovenen Eingang gefunden und haben dort die älteren Orthographien verdrängt, die auf italienische, magyarische oder deutsche Vorbilder zurückgingen. Ein Versuch, die tschech. Ortho- graphie auch bei den Polen einzubürgern, ist mißlungen und hat mißlingen müssen. Dagegen ist den diakritischen Zeichen im Litauischen, also schon außerhalb des slavischen Sprachkreises, ein gewisser Erfolg beschieden gewesen, auch hier auf Kosten einer älteren, leidlich gut ausgebildeten Orthographie. In allen diesen Fällen hat die Einführung der Cechischen Zeichen die Schreibung einfacher und klarer gestaltet. Ob aber diese Ent- wickelung der kroatischen, slovenischen und litauischen Orthographie wirklich notwendig war, das wird man immerhin noch bezweifeln dürfen. Möglich war sie nur da, wo der Strom des literarischen Lebens noch seicht war, oder vorübergehend sich verflacht hatte, wie in Kroatien und Dalmatien. Aus der gleichen Erwägung erklärt sich der Mißerfolg ähnlicher Bestre- bungen auf polnischem Gebiet. Die diakritischen Zeichen des Tschechischen, £, 2, S, 7, haben aber noch ein anderes Gebiet erobert: sie haben in die moderne sprachwissen- schaftliche Lautschrift Eingang gefunden. So sind sie zu internationaler Geltung gelangt und gehören zum notwendigsten Rüstzeug jedes sprach- wissenschaftlichen Werkes und jeder sprachwissenschaftlichen Zeitschrift. Sie sehn, die Reform, an deren Ausgangspunkt Hus steht, hat recht weitgreifende Folgen gehabt. Aber nicht davon will ich heute sprechen. 1) Die Grundlagen und die Bedeutung der Husischen Orthographie sind öfters. dargestellt worden, wohl zuletzt von M. Murko, Ztpwpateıs, Grazer Festgabe zur 50. Versammlung deutscher Philologen... Graz 1909, S. 136 fi. 14 Jahresbericht der Schles. Geseilschalt für vaterl. Cultur. Diese Dinge sind alle recht bekannt, und ich wüßte im Augenblick nickts zu ihrer weiteren Aufhellung beizubringen'). Wir wollen unsere Blicke vielmehr au! das lenken, was vor Hus war, wir wollen vom 14. Jahrhundert aus, an dessen Ende Hus steht, in die Vergangenheit zurückschreiten, die Entwickelung der mittelalterlichen Schreibweise bei den Tschechen verfolgen und, wenn möglich, ihre Ur- sprünge aufhellen. d Die Reform Hus’ zeigt uns deutlich, an welchen Stellen das lateinische Alphabet der Ergänzung bedurfte, um dem Lautreichtum der tschechischen Sprache zu genügen. Wenn Hus den tschech. Laut s dureh s wiedergab, für 5 dagegen ein besonderes Zeichen, das punktierte s, wählte, so darf man annehmen, daß er das lateinische s eben wie das s seiner Mutter- sprache aussprach, daß er dagegen für das tschech. s ın der mittelalter- lichen Aussprache des Lateinischen keine Entsprechung fand. Das gleiche gilt für seine Unterscheidung von z und punktiertem z: wir dürfen an- nehmen, daß er das lateinische z in Worten wie baptizare, zelotes, zizania, zyma wie das z seiner Muttersprache, also als stimmhaftes s, gesprochen hat, und daß er das punktierte z dazu erfand, um einen Laut auszudrücken, der dem Lateinischen, mindestens nach seiner Aussprache, ganz fremd war, nämlich das tschech. 2 (gespr. wie frz. j in journal). Daß er lat. c vor e und i, aiso z.B. in celare, cito, als ts sprach, versteht sich von selbst; danach hat er dann ce überhaupt in dieser Bedeutung in sein Alphabet übernommen, und hat das punktierle e dazugesellt, als Zeichen für den Laut ts, den es nach seiner Aussprache natürlich im Lateinischen nieht gab. Ebenso mangelte dem Lateinischen der Laut 7, so schuf er dafür das punktierte r. Den Laut k bezeichnete er in jeder Stellung durch %, was übrigens schon vor ihm zur Regel geworden war. Für den Laut y konnte er es ebenfalls bei dem hergebrachten ch bewenden lassen. Es war dies zwar kein einfaches Zeichen, aber ein Mißverständnis nicht zu befürchten, da es im Tschech. kaum ein Wort gibt, worin c und h un- mittelbar zusammenstoßen. Für die übrigen Konsonanten ergab sich die passendste Bezeichnung ohne weileres und war übrigens auch vor Hus bereits zur Regel geworden. 3. Die Fragen, die sich Hus bei seiner Reform aufgedrängt haben mögen, sind natürlich auch den Schreibern des vierzehnten Jahrhunderts nicht erspart geblieben. Gelöst haben sie sie so gut: wie nirgends. Die 1) Zur Geschichte der tschech. Orihographie vgl. das alte, aber bis jetzt durch nichts ersetzte Buch von Gebauer, Prispevky k historii Cesk&ho pravopisu..... — Sbornik vedecky musea kräl. Ceskeho, odb. historicky IV (1871), sowie desselben Historickä mluvnice jazyka Ceskeho 1, S. 1: ff. (1894). r IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 15 Orthographie des 14. Jahrhunderts ist nicht nur schwerfällig (diesem Übel- stand konnte nur eine so tiefgreifende Änderung wie die Husische ab- helfen), sondern sie ist auch sehr wenig ausdrucksvoll. Fast in keinem Denkmal ist eine Unterscheidung von ce und <, von s und S, von z und gelungen oder auch nur angebahnt. Eine kurze Übersicht über die ver- breitetsten Schreibweisen des 14. Jahrhunderts soll das zeigen, Einzelheiten sind hier nicht am Platze. Es muß dafür auf Gebauers Prispevky und auf die Sonderbefrachtungen zu einzelnen Denkmälern verwiesen werden!). c und © werden in den Denkmälern des 14. Jahrhunderts meist unter- schiedslos durch cz wiedergegeben. Im Anschluß an die Aussprache des lat. ce vor e,ö werden tech. c, € vor e, i gelegentlich durch e wiedergegeben, doch ist das nicht gerade häufig. Daß lateinische Worte wie centurio mit c geschrieben werden, nimmt nicht wunder. Ebensowenig werden s und 5 unterschieden. Beide werden durch f dargestellt, vielfach auch, bes. zwischen Vokalen, durch //. Die letztere Schreibung wird wohl z. T. häufiger für s als für s angewandt; zu einer konsequenten Bezeichnung von $ durch /f, s durch / ist man aber nicht gelangt. z und 2 werden unterschiedslos durch z dargestellt. Für 7 ist rz die üblichste Schreibung. 4. Im ganzen zeigen, wie man sieht, die Denkmäler des 14. Jahrhunderts keine allzugroßen orthographischen Schwankungen. Es herrscht eine ge- wisse Gleichförmigkeit, aber die Ausdrucksfähigkeit ist durchweg gering. Der augenfälligste Mangel ist die Nichtunterscheidung von e:c, s:S, 2:2. Gerade hier hebt sich nun die Vulgärorthographie des 14. Jahrhunderts scharf ab von der Schreibweise einiger Denkmäler, die in den Anfang des Jahrhunderts gehören. Es sind nicht viele Denkmäler, die wir hierher zählen, in der Haupt- sache nur Fragmente: die Ausgießung des heiligen Geistes (102 Verse), die Pilatuslegende (107 Verse), die Judaslegende (etwa 270 Verse), die Apostellegende (über 600 Verse), die Marienlegende (78 Verse), von Dich- tungen weltlichen Inhalts nur die ältesten Fragmente der Alexandreis, das Neuhauser, das Budweiser und das Budweiser Museumsbruchstück’). Die Schreibweise dieser Bruchstücke aus der Frühzeit der tschechischen Literatur hat im Vergleich mit den Denkmälern der folgenden Jahrzehnte 1) Vieles derart enthalten auch die Einleitungen zu verschiedenen Ausgaben alttschech. Sprachdenkmäler. Leider läßt die Behandlung orthographischer Fragen an Methode und Sorgfalt fast durchweg viel zu wünschen übrig. Eine umfassende Neubehandlung wäre erwünscht. 2) Wir wollen der Kürze halber die Bezeichnung: „Orthographie der Apostellegenden‘ wählen. 165 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. eigeniümliche Vorzüge aufzuweisen: einmal die außerordentliche Folge- riehtigkeit, mit der die orihographischen Regeln durehgeführt werden, so- dann und vor allem die Ausdrucksfähigkeit. Was wir an der Schreibweise des 14. Jhs. vermißten, ist hier, an seinem Anfang, alles vorhanden. c wird von €, s von $, z von 3 zenau unterschieden, usw. Und diese Unterscheidung geschieht auf einer Grundlage, die von den Grundlagen der späteren Orthographie merklich abweicht. Wir bemerken nämlich folgendes: c wird regelmäßig durch cz wiedergegeben, © dagegen durch chz, also owocze — alitschech. ovoce, aber pochzie — altischech. poce. s wird durch zz wiedergegeben, 5 dagegen durch /f, also ozzidla — altischech. osidla, aber poffel — alttschech. posel}). wird durch z wiedergegeben, Z dagegen durch s, also potaza — altischech. potaza, aber sabu — alitschech. Zabu. 7 wird regelmäßig durch rs wiedergegeben, z. B. bursiu — büru. Ws Ein Punkt bedarf noch der Hervorhebung, weil er deutlich nach rück- wärts weist, die Darstellung des k: hier wechseln k und e miteinander, ganz so, wie es sich aus der Aussprache des lat. c ergibt: vor a, o, u wird e geschrieben oder kann doch geschrieben werden, ebenso vor r; vor e, i, y dagegen steht nur k, und zwar, wie hervorgehoben sei, nur mit Rück- sicht auf die Aussprache des Lateinischen, denn vom Standpunkt des tschechischen Schreibers hätte einer Wiedergabe durch e auch hier nichts im Wege gestanden, da ja ischech. c, wie wir gesehen haben, von ihm regelmäßig (auch vor e, z, y) durch cz wiedergegeben wird?). In dieser Konsequenz und Ausdrucksfähigkeit herrscht die Orihographie in den Fragmenten der Alexandreis freilich nicht mehr. Die Einzelheiten über die verwilderte Orihographie der ältesten Alexandreis- fragmerte wolle man in Trauimanns Einleitung nachsehen. Einen Unterschied gezen die Apostellegenden usw. bezeichnet einmal die viel geringere Konsequenz, sodann manche, z. T. fast regelmäßig durchgeführte Abweichung. Daß diese Ab- weichungen durchgängig in der Richiung der jüngeren Orthographie lägen, kann man nicht behaupten. Wenn z.B. für Z nicht wie in der Apostellegende durch- gängig s, sondern vielfach (in verschiedenem Ausmaße) auch f geschrieben wird, so erinnert das im Grunde mehr an die Bruchstücke des 13.. als an die aus- gebildete Orthographie des 14. Jahrhunderts. Ebenso wenn statt des zz der Apostel- legenden oft, ja überwiegend, z in der Bedeutung s verwandt wird, so weist auch das eigentlich nicht nach vorwärts. Und das /z, mit dem das Neuhauser und Bud- weiser Fragment nicht ganz selten © wiedergegeben (neben chz, das in der Apostel- legende allein herrscht), steht ganz außerhalb der Eniwiekelung und scheint weder vorher noch nachher eine Parallele zu haben. Anderes, worin die Bruchstücke von der Orthographie der Apostellegende usw. gelegentlich abweichen, gehört zwar 1) Vor t gelegentlich einfaches z und regelmäßig einfaches f. 2) Die Regel ist allerdings insofern schon etwas gestört, als auch vora, o, % nicht ganz selten k geschrieben wird, z.B. kazan Safariks fragm. v.89. Im Aus- laut und vor Konsonanten (außer r) steht wohl regelmäßig k. IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 1177 der geläufigen Schreibweise des 14. Jahrhunderts an, kommt aber auch früher schon vor (/ statt /f für 5, 2 statt s für 2, fs statt zz für s). Ich finde also die Bemerkung, in der Trautmann S. XXIV das Verhältnis der Alexanderbruchstücke (B, BM) zur Orthographie der Apostellegende zu bestimmen sucht, anfechtbar, der „Übergang zur späteren gewöhnlichen Orthographie des 14. Jahrhunderts“ läßt sich kaum ınit Sicherheit feststellen. Mindestens ebensoviel Wert hätte etwa die Vermutung, es sei eine Alexanderhandschrift mit genauer Orthographie (der Apostel- legende usw. entsprechend) in die Hände eines Abschreibers gefallen, der in einer älteren, unvollkommneren Schreibweise erzogen war und als Spezialität die sonderbare Schreibung /z für © pflegte. Doch sei auf diese und ähnliche Ver- mutungen hier kein Werl gelegt, zumal da ja noch andere Punkte der Orthographie zu berücksichtigen wären. Wie man sieht, weicht diese Orthographie stark ab von der Übung des 14. Jahrhunderts. Leider ist es zurzeit nicht ganz leicht, eine be- stimmte Meinung über das chronologische Verhältnis der einen zur andern zu gewinnen. Keinesfalls darf die eben besprochene Orthographie als eine vollkommen vereinzelte, außer dem Zusammenhang stehende Erscheinung aufgefaßt werden. Nach vorwärts ist sie allerdings außer Zusammenhang: die ge- läufige Schreibweise des 14. Jahrhunderts steht, wie wir bereits wissen, auf andrer Grundlage, und hat die Orthographie der Apostellegenden vollkommen verdrängt, so vollkommen, daß von deren Denkmälern nur elende Trümmer auf uns gekommen sind). Nach rückwärts steht jedoch die Orthograpbie der Apostellegenden durehaus nicht ohne Anknüpfung da. Es wird darüber gleich genauer zu sprechen sein, hier genüge die Feststellung. Es erhebt sich die Frage: Wie steht die besprochene Orthographie zeitlich zu der ausgebildeten Orthographie des 14. Jahrhunderts? Keine kann unmittelbar aus der andern hervorgegangen sein, die Orthographie der Apostellegenden kann vielmehr nur eine Weiterbildung und Verfeine- rung der älteren Schreibweisen (des 13. Jahrhunderts) darstellen. Die Frage kann also nur sein: war die später herrschende Orthographie schon in ihren wesentlichen Zügen ausgebildet, als die Orthographie der Apostel- legenden geschaffen wurde, oder ist sie jünger als diese und hat sie nur abgelöst ? Die Antwort darauf fällt schwer: Einmal sind die beiden Orthographien ihrer Art und Entwickelung nach recht verschieden: die Orthographie der Apostellegenden ist etwas Eigenartiges, Scharfumrissenes, das seine Aus- bildung ohne Zweifel dem Streben eines einzelnen verdankt. Dagegen die geläufige Orthographie des 14. Jahrhunderts, mit ihren vielen kleinen Schwankungen und ihrer geringen Ausdrucksfähigkeit, ist mehr ein Usus, dessen einzelne Teile sich alle schon im 13. Jahrhundert vorfinden. Nur 1) durchweg nur Bruchstücke, zum großen Teil nachweislich von Bucheinbänder losgelöst. i 1916. 2 18 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. das Aufhören allzu großer Schwankungen, die Beseitigung einiger Alter- tümlichkeiten, das Zusammenwachsen zu einem gewissen System unter- scheidet die beiden Jahrhunderte. Diese Entwickelung kann sich allmählich vollzogen haben und läßt, soviel ich sehe, nirgends das stark bewußte Eingreifen eines einzelnen erkennen. Dazu tritt die Schwierigkeit, das Alter der in Frage kommenden Denkmäler mit einiger Sicherheit zu bestimmen. Die Denkmäler, die uns die „Orthographie der Apostellegenden‘“ dar- bieten, sind oben aufgezählt. Es besteht Grund zu der Annahme, daß die Proben geistlicher Epik, die wir darunter finden, das Werk &ines Dichters sind. Dann läßt sich wenigstens diese Gruppe mit ziemlicher Sicherheit datieren, denn in der Judaslegende v. 120 ff. benutzt der Dichter die Ge- legenheit zu einer Abschweifung in die Zeitgeschichte und spielt auf das Aussterben des Hauses der Prfemysliden an. Damit ist die Abfassungszeit auf das Jahr 1306 oder wenig später festgelegt; und an dieser Stelle wenigstens ergibt sich auch für das Alter der handschriftlichen Überliefe- rung ein terminus post quem. Schwieriger steht es mit der Alexandreis: daß zwischen ihr und der geistlichen Epik kein gar zu großer Zeitabstand sein kann, ersieht man aus der Sprache, im weitesten Sinne, und wohl auch aus der Handhabung des Versmaßes. Auf Grund philologischer Er- wägungen ist man wohl mit Recht dazu gelangt!), die Alexandreis für etwas jünger zu halten. Also müssen auch die ältesten Handschriften der Alexandreis nach 1306 entstanden sein. Wie lange danach, entzieht sich zunächst unserer Beurteilung. Der neueste Herausgeber der Alexandreis- bruchstücke, R. Trautmann, versucht eine Datierung und meint, ‚in Er- wägung aller Umstände‘ das Neuhauser Fragment etwa in das 3. Dezennium des 14. Jahrhunderts setzen zu sollen, das Budweiser und das Budweiser Museumsbruchstück setzt er um ein Jahrzehnt früher. Dagegen wird kaum etwas einzuwenden sein, doch wäre es erwünscht gewesen, er hätte die paläographische Seite der Frage zur Sprache gebracht. Die einzige Grundlage der paläographischen Erwägungen scheint bisher fol- gendes zu sein: 1830 hat Gebauer durch Jagid’s Vermittlung Photographien der Bruchstücke dem Urteil Wattenbachs unterbreitet, und dieses Urteil lautete (s. Listy filologick&e 11, S. 249) dahin, daß der Schrift nach unter den Bruchstücken der Alexandreis das Neuhauser Fragment das älteste sei und vielleicht noch aus dem 13. Jahrhundert. Dieses Urteil scheint sich Gebauer auch für seine Vorlesungen zu eigen gemacht zu haben. 1899 äußerte Smetänka, Gebauers Schüler, im engen Anschluß an dessen Vorlesungen (Listy filolog. 26, S. 364): „Die Neuhauser Alexandreis stimmt paläographisch und sprachlich zum 13. Jahrhundert (es könnten etwa auch die ersten Jahre des 14. Jahrhunderts in Frage kommen). Damit weist er Havliks Versuch zurück, der die Alexandreis gegenüber der Apostellegende als jünger erweisen wollte. Havlik wiederum in seiner Entgegnung (Casopis cesk&ho 1) Das Verdienst, diesen Nachweis geführt zu haben, gebührt Havlik, Casopis Ceskeho musea 1896, S. 441 ff., 558 ff. IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 19 musea 1900, S. 421) bringt zu dieser Seite der Frage auch nichts neues bei und begnügt sich mit der Bemerkung, der Paläograph könne seine Feststellungen nie- mals auf das Jahrzehnt genau machen. Es wäre bei diesem Stande der Dinge doch wünschenswert, daß wieder einmal ein Paläograph sich die Bruchstücke an- sähe, zumal Wattenbachs Urteil nicht sehr bestimmt ist und eigentlich gar nicht das zu sagen scheint, was Smetänka als Gebauers Meinung mitteilt. Das Durichsche Fragment der Apostellegende, das, wie die andern Bruch- stücke der geistlichen Epik, erst nach 1306 entstanden sein kann, soll Waitz noch in das 13. Jahrhundert gesetzt haben; ich vermag aber darüber iın Augenblick nichts festzustellen. Auf jeden Fall sind die Denkmäler der geläufigen Orthographie des 14. Jahrhunderts in ihrer überwältigenden Mehrheit jünger oder doch jeden- falls nicht älter als die besprochenen Fragmente der geistlichen Epik und des Alexanderromans. Nur zwei Denkmäler wüßte ich zu nennen, die zwar nach der herrschenden Datierung noch ins 13. Jahrhundert gehören, gleichwohl aber die Orthographie des 14. Jahrh. schon ziemlich ausgebildet zeigen, den sog. „glossierten Psalter‘‘ und mehr noch den etwas jüngeren Museumspsalter. Ich muß es den Paläographen oder eingehenderer sprach- licher Durchforschung überlassen, das zeitliche Verhältnis zu den Frag- menten der geistlichen Epik genauer zu bestimmen. Ob die Orthographie der Apostellegenden geschaffen wurde, als die später geläufige Orthographie des 14. Jahrh. schon ausgebildet vorlag, — diese Frage muß also einstweilen noch unentschieden bleiben. In keinem Falle kann es überraschen, daß ein solcher Reformversuch gemacht wurde, denn die Vulgärorthographie des 14. Jahrh. ist zwar etwas konsequenter, aber ebenso unvollkommen wie die des dreizehnten. 3. Wir wenden uns nun ins dreizehnte Jahrhundert, das ja in Böhmen noch keine erhebliche Literatur (wenigstens nicht in tschechischer Sprache) hervorgebracht hat. Eine kurze Übersicht der orthographischen Gebräuche des 13. Jahrhunderts wird uns zeigen, daß auch die Ortho- graphie der Apostellegenden durch das, was voranging, vollkommen vor- bereitet ist, und in ihren Grundlagen keinesfalls eine krasse Neuerung. An den Anfang stellen wir!) die noch älteren von P. Corssen ent- deckten, von Jagid besprochenen und herausgegebenen Wiener Glossen?). s ist darin meist durch 2 wiedergegeben, nur selten scheint / vorzukommen?’), $ wird einigemale durch / ausgedrückt, einmal durch z2*). — Für z finden 1) unter Beiseitelassung der nicht zweifellosen Gregoriusglossen. 2) zum lat. Texte des Matthäusevangeliums in der sog. Radobibel der Wiener Hofbibliothek, s. Jagi6, Denkschr. der Kais. Akademie der Wiss., phil. -histor. Klasse 50 (1904), 2. Abhandlung. Die Glossen etwa Anfang 12. Jahrh. 3) In dem immerhin zweifelhaften /inetz und in fet „säen“ (Supinum), sowie in ftahu. 4) in uez — lat. scis, doch ist der Fall nicht ganz sicher, s. Jagic a. a. 0.8.14. ) 8 2 30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. wir nur 2, für Z ebenfalls meist z, einmal /!). ce und © werden beide durch e ausgedrückt, doch begegnet für c, wie es scheint, auch die Kombination tz?), die ganz wohl eine Augenblickserfindung des Schreibers sein kann. In dem Liede „Slovo do sve&ta stvorenie‘‘®) wird bezeichnet: s regel- mäßig durch z, doch kommt einigemale auch / vor: veft, zveftouano, vgl. auch bo/ki, vbo/tui, 5 wird stets mit /f bezeichnet‘) — z durch >, 2 durch [; — € durch c (einmal), wie © ausgedrückt werden sollte, wissen wir nicht. — kist vor 0, u, r dreimal durch c vertreten, vor i einmal durch A. In den echten Glossen zu dem mittelalterlicken Wörterbuch Mater Verborum?°) ergibt die Orthographie folgendes Bild: s wird, offenbar ohne Regel, durch z oder / bezeichnet, $ durch / oder (zwischen Vokalen) durch /f. — z wird durch z, 2 durch / oder /f wiedergegeben. — c durch c, ganz selten durch cz oder cc, € durch c, selten durch ch, cf, cft, ce, s. — k meist durch k, aber vor a, 0, u, r, l auch durch c, In den von Noväk 1900 gefundenen Wiener Glossen®) werden s und s, soviel man ersehen kann, durch / ausgedrückt, 2 durch / (fito), ce vor e und i zweimal durch c, k vor o, a, r, ! durch c. In der Beischrift zur Gründungsurkunde der Kollesiatkirche zu Leit- meritz?) ist s durch s vertreten, $ durch s®), z durch 2, © durch ce in Scepanu. k ist vor o durch c vertreten, In den Glossen zum Jeremiasprolog?) wird s zweimal durch /, z ein- mal durch z, 2 einmal durch /, werden c und © durch c, wird k einmal vor a durch k wiedergegeben. !) nur in dem unsicheren zimotrfe, s. Jagie a. a. O. S. 23, 2, In den unsicheren /inelz und zuitzet. 3) in einer Hs. der Bibl. des Prager Domkapitels, die Aufzeichnung des Liedes gehört ins 13. Jahrh., hsg. von Patera, Casopis Geskeho musea, 52 (1878), S. 293. Dies und die meisten der folgenden Denkmäler auch bei Flajshans, Nejstarsi pamätky jazyka... Ceskeho, 1 (1903). 4) Beispiele nur zwischen Vokalen. 5) in einer Hs. des 13. Jahrhunderts, die sich im Böhmischen Museum beiindeif Nach Patera, Casopis Geskeho musea 5l (1877), S. 372 ff. handelt es sich 1) um 12 Glossen im Text, die in der Vorlage noch Internes gewesen sein dürften, 2) um 42 Interlinearglossen, etwas jünger, 3) um 285 Interlinearglossen, wieder etwas jünger. Ebendort S. 377 ff. sind die echten Glossen gesammelt. 6) in lat. Handschrift des 13. Jahrhunderts, befindlick in der Wiener Hof- bibliothek, herausgegeben von Flajshans, Casopis Cesk&ho musea 75 (1901), S. 249 f. 7) s. Cod. dipl. regni Bohemiae 1, S. 59 f. Die Beischrift stammt aus dem 13. Jahrh. 8) doch durch ce in Bogucea, wenn die Zuteilung im Index nominum richtig ist. 9) aus der 1. Hälfte des 13, Jahrhunderts, in einer Olmützer lat, Handschrift, die Stücke des alten Testaments enthält, herausgegeben von A. Patera, ee Ceskeho musea 61 (1887), S. 119 £, IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 21 Die wenigen tschechischen Bemerkungen in dem Merkbuch des Albertus Bohemus!) zeigen s stets durch z vertreten, nur einmal durch s in milo- stiue, 5 dagegen durch / oder /f?). z wird mit z, 2 dagegen einmal mit /, einmal mit /ch wiedergegeben. — c wird vor u durch cz, vor e dagegen durch e wiedergegeben, beides nur je einmal. — % wird vor e durch k ausgedrückt, vor o dagegen durch c oder k. In den Glossen zum Opatowitzer Homiliar?®) werden s und $ wohl unterschiedslos durclı / dargestellt, andere Schreibungen begegnen nur ausnahmsweise, so wird s einigemale vor t und k durch z dargestellt, zweimal vor ? durch z/, zweimal durch /f; $ einigemale durch /f. — 2 und 2 werden unterschiedslos mit 2 wiedergegeben, z aus etymolog. Rücksichten (?) einmal durch / in pro/ba, 2 einmal durch / in fiuot. — ce und € werden unterschiedslos durch ch wiedergegeben, daneben c vor e, i einigemale durch c. — k wird meist durch k bezeichnet, aber vor a, o, vor d, t und vor allem vor r auch durch c, vor o steht einigemale auch g, gu. In der ältesten tschechischen Übertragung des Cisiojanus®) wird s in beiden Handschriften durch / (s) wiedergegeben, doch scheinen sich auch Spuren von z zu finden’); 5 ist durch / ausgedrückt®). — z durch 2°), 2 teils durch /, s, teils durch z. — c und © werden teils mit c, teils mit ch geschrieben. — k teils durch k, teils, in geeigneten Fällen, durch c®). In der Prager Hs., die den Cisiojanus enthält, hat ein andrer Schreiber an andrer Stelle die tschech. Monatsnamen aufgezählt®). Da wird s zwei- mal durch zz ausgedrückt!®), c und © erscheinen als ch. In den Stücken einer Randübersetzung zu Bonaventuras Pharetrat!) finden wir s und 5 unterschiedslos wiedergegeben durch /, einigemale 1) Geistlichen und antistaufischen Hetzers (1239—1258). Die Handschrift, von A. eisner Hand, befindet sich in der Hof- und Staatsbibliothek in München. Die ech. Bemerkungen hersg. von J. Truhlät, Casopis &esk&ho musea 53 (1879), S. 580 ff. 2) /f einmal in veffekrne. 3) 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts, die Handschrift befindet sich auf der Prager Univ.-Bibliothek, die ech. Glossen hersg. von A. Patera, Casopis Ceskeho musea 54 (1880), S. 109 ff. 4) in 2 Hss : Münchner Hs., geschrieben zwischen 1258 und 1278, hsg. von Hanka, CCM. 1853, S. 417f. Prager Hs., geschr. vor 1296, hsg. von Truhlär, Listy filol. 28, S. 367 £. 5) so vielleicht in wzled (Nov.), ursprgl. wohl geschriebnes zlaumi (März) ist in flauni geändert in M., in zbauni verderbt in P.; vezna (Febr.) in M., zu vrezna verderbt in P. Bemerke noch z/ymonem (Oktober) in PM. 6) /f nur in der Zeilentrennung in apo/ftol (Febr.) in M. 7) außer in fueria (Sept.) in PM. 8) bemerke die Schreibung guet (April) in M. 9) s. Listy filol. 28, S. 367. 10) wrez. zen. proz. zinech, aber liftopad. 11) Ende des 13. Jahrhunderts; die Handschrift befindet sich in der Hof- und 92 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaierl. Cultur wird s vor x, k, p durch z bezeichnet, einmal durch /f in y/fen = i sen „und der Schlaf‘, — z wird ziemlich regelmäßig durch z wiedergegeben). — zZ wird zwar En einigemale mit z bezeichnet, so im Anlaut der Worte, z. B. in ziuota, und zuweilen im Auslaut, dagegen im Inlaut finden wir nur f. — ce und © werden im allgemeinen unterschiedslos durch c be- zeichnet, auch vor a, # und Konsonanten, daneben tritt im Auslaut und vereinzelt vor e und i auch die Schreibung ch auf. — k wird in der Regel mit k bezeichnet, nur vor a, r und / begegnet dreimal c. In der ältesten erhaltnen Fassung des Liedes „Vitaj krälu v$emohuci‘*?) finden wir s und $ im allgemeinen ohne Unterschied wiedergegeben durch f, für s wird vor Z, k, p und besonders vor / auch zuweilen z geschrieben: zlauni, zlauitelu, zlaune, ozlaueno, zlaunie, zlouem, zlunce, chyzti — csti, poprdzcou, zpeuaiuce, creftianztuo, für $ selten ff. — z wird im allgemeinen durch z wiedergegeben, doch ist auch / nicht gerade selien, Z wird nur im Anlaut zweimal durch z bezeichnet, sonst regelmäßig durch f. — e wird im allgemeinen mit ce wiedergegeben, nur zweimal durch ch, € wird fast regelmäßig durch ch bezeichnet, nur dreimal, vor e und i, durch c. — k wird vor a, 0, u undr fast regelmäßig durch c bezeichnet, so auch vor d, einmal sogar im Auslaut: Zac diunie 45. %k steht vor e, i, silbebildendem r (z. T. yr geschrieben), im Auslaut und vor f, einmal steht ch, bemerke noch die Schreibung guiete 148. In dem ältesten Pfianzenglossar?) werden s und $ unterschiedslos durch s oder ss wiedergegeben*), ss findet sich nur, wiewohl nicht ganz regelmäßig, im Inlaut zwischen Vokalen, s in der Stellung vor t£, k, p und / wird gelegentlich durch z wiedergegeben: netryezk, polzka, ztrachye zporis, zlez, zlunechnyeye. — z wird regelmäßig durch z wiedergegeben. z wird auch einmal durch z wiedergegeben, in podrazecz = aristolochia, dagegen dreimal durch s (vermutlich /), so in petrusyel, thusebnyk, sabye. — ce und © werden im allgemeinen unterschiedslos durch cz bezeichnet, doch begegnet auch c (vor ye), und für € wird von einer bestimmten Stelle an regelmäßig ch geschrieben, einmal chs, in chsryeweze = €rievce „Darm“. — k wird meist, auch vor a, o und Konsonanten mit k wiedergegeben, aber vor o und r auch mit c. Staatsbibliothek zu München; die tschech. RandJübersetzung hrsg. von J. Truhlär, Casopis@ esk&ho musea, 53 (1879), S. 573 fi. ) über zweimaliges /fde „hier‘‘ s. Gebauer, Historicka mluvn. I, S. 323. Hs. in Prag, wohl aus den an zwischen 1285 und 1236, hsg. von Patera, Be teskeho musea 56 (1882), S. 116 £. 3) aufeinem ursprünglich leeren Blatie einer Handschrift in Olmütz, um 1300, s. die folz. Anmerkung. *) vermutlich durch f oder //, der Abdruck von Müller, Casopis teskeho musea 51, S. 391 ff. und nach ihm der Abdruck von Flajshans, Nejstarsi pamäiky...1, S. 126 f. schreiben aber immer s. IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 33 In den tschech. Randbemerkungen zum Choralbuch des Prager St. Georgsklosters!) ist s mehreremale durch / wiedergegeben: crafni, crafen, doch auch durch z: curbizin, ze; s ist einmal durch / bezeichnet: imyefe. — z ist durch z wiedergegeben in zmek, 2 kommt nur in ienf vor. — ce scheint gar nicht zu begegnen; © ist durch zc bezeichnet in zcerni. — k ist teils durch k bezeichnet: zmek, angelik, lokti, ptilik, teils durch e: crafni, curbizin, yaco, erafen, angelie. Zusammenfassend kann man demnach über die Orthographie vor 1300 etwa folgendes aussagen: 1. Während der ganzen Periode findet sich zwar kein Denkmal, in dem s konsequent durch z ausgedrückt wäre, aber auch keines (von den ganz kleinen abgesehen), in dem nicht z auch (neben /) vorkäme. /f kommt zwischen Vokalen vereinzelt, doch selten, vor, zz nur in der Beischrift zu der Prager Hs., die auch den Cisiojanus enthält. Eine Entwickelung zeigt sich vielleicht darin, daß gegen Ende der Periode z mehrfach nur noch in gewissen Konsonantengruppen geschrieben wird, zeigt sich vielleicht auch in den Änderungen und Mißverständnissen der Cisiojanustexte. Doch lege ich auf diese Feststellungen keinen be- sonderen Wert. 2. z wird allgemein durch z bezeichnet, nur in „Vitaj krälu vsemohuei“ kommt daneben nicht ganz selten / vor, sonst nur in fxeria des Cisiojanus. 3. S und Z werden vielfach durch /, seltner /f bezeichnet, wobei /f auf die Geltung $ beschränkt bleibt?). Es wird dadurch gelegentlich ein Unterschied zwischen $ und 2 ermöglicht, so wohl in ,„Siovo do sveta stvorenie‘‘, im Pflanzenglossar, und vielleicht auch bei Albertus Bohemus. Für Z dringt nun aber bereits im 13. Jahrhundert die Schreibung z ein, eigentümlicherweise herrscht sie schon in den von Jagie edierten Wiener Glossen (deren Entstehung sehr unklar ist), dann (neben /, s) in den Glossen zum Opatowitzer Homiliar, in den Cisiojani, in der Über- setzung zur Pharetra, seliner in „Vitaj krälu“ und dem Pflanzenglossar. 4. Bei e und £ ist im allgemeinen keine Unterscheidung erreicht worden, auch keine feststehende Bezeichnung. Die Schreibung c findet sich vor allem vor e, i, doch nicht nur da. Andere kombinierte Schrei- bungen mögen zunächst da aufgekommen sein, wo c mißverständlich war (also vor a, u usw,), eine gewisse Beliebtheit hat ch erlangt, es findet: sich in den Glossen zum Opatowitzer Homiliar, in den Cisiojani in der Über- setzung zur Pharetra; ein Unterschied von © und c wird durch die Schreibung ch, soviei man sieht, nur in „Vitaj krälu“ und im 2. Teile des Pflanzenglossars angedeutet. 1) um 1300, Handschr. jetzt in Prag, hsg. von J. Truhlär, Listy filol. 6 (1879), S. 244 f. 2) Anders in den Glossen zur Mater Verborum. 94 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. cz ist in dem ganzen Zeitraum noch selten, wir finden es einmal bei Albertus Bohemus, ausgiebiger erst im Pflanzenglossar. Die Entwickelung, die sich in der Darstellung von c, € vollzieht und von 1500 an offenbar rasch vollzieht, ist ziemlich begreiflich. Das Zeichen ec, im 13. Jahrhundert noch sehr gebräuchlich, hatte doch immer das Miß- liche, daß es in Verbindungen wie ca, cu auf Schritt und Tritt mißverstan- den werden mußte, wenigstens von Leuten, die vor allem im Lateinlesen geübt waren. Wir begreifen, daß es dem Bedürfnis nicht genügte. ch war nur so lange verwendbar, als die gleiche Kombination nicht zur Darstellung des Lautes % benötigt wurde, d. h. solange als x durch A ausgedrückt wurde. Dies wiederum war nur solange angängig, als » nicht zur Dar- stellung des aus g entstandenen stimmhaften h benötigt wurde. Über den Übergang g > h, der im 13. Jahrh. zuerst kenntlich wird, s. Gebauer, Historickä mluvnice I, S. 456. Wie lange sich A dann noch in der lautl. Geltung x in der Schrift erhielt, darüber kann ich keine genauen Angaben machen, doch ist es im ganzen 13. Jahrh. noch recht gewöhnlich. Solange als sich dieser Schreibgebrauch hielt, war die Verwendung von ch für c, € unanstößig (so in den Glossen zum Opatowitzer Homiliar und der Übersetzung zur Pharetra). Erst als man anfing, zwischen h und y genauer zu unterscheiden und das Zeichen ch (etwa nach deutschem Vorbilde) für x in Anspruch nahm, wurde die Bezeichnung von c, € durch ch unmöglich, und der Verbreitung von cz war der Boden geebnet. Es mag aber da- zwischen eine Übergangszeit gegeben haben, in der tatsächlich ch die beiden Lautgeltungen hatte (sowohl x wie c, £): dahin gehört ein Teil des Pflanzen- glossars und das Lied „Vitaj krälu“. Aus diesen Feststellungen ergibt sich nun, daß die Orthographien des 14. Jahrhunderts, sowohl die geläufige wie die zeitlich begrenzte der Apostellegenden, im 13. Jahrhundert vorgebildet erscheinen. Die geläufige Orthographie des 14. Jahrh. übernahm vom Ende des 13. das Zeichen cz für ce und © und machte keine Anstrengungen, den Unter- schied zwischen den beiden Lauten zu bezeichnen. Ganz entsprechend hat sie auch den Unterschied zwischen s:5, 2:2 vollkommen oder doch so gut wie vollkommen vernachlässigt; d. h. sie führte, in Verfolg dessen, was wir schon am Ende des 13. Jahrh. beobachten, für s konsequent die Schreibung / durch, merzte also z in dieser Bedeutung aus. Anderseits brachte sie die Schreibung z für Z zum Siege, beseitigte also das im 13. Jahrh. noch vorhandene, ja zunächst allein herrschende /. Die ge- läufige Orthographie des 14. Jahrh. will also bei s, 5, z, 2 nur noch den Unterschied des Stimmtons bezeichnen, nicht den der Artikulationsstelle, während das 13. Jahrhundert zum Teil umgekehrt verfuhr oder doch zwischen beiden Wünschen schwankte. Selbst naheliegende Möglichkeiten, wie etwa die Unterscheidung [ = s, /f = 5, sind im 14. Jahrh. nicht oder doch ohne Konsequenz verwendet worden. IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie, 35 Der letzte Beweggrund dieser schon im 13. Jahrh. angebahnten Ent- wickelung bleibt für mich, wie ich gestehn muß, im Unklaren. Ganz anders die Orthographie der Apostellegenden: Sie unterscheidet mit großer Konsequenz sowohl die Artikulationsstelle wie das Vorhanden- sein oder Nichtvorhandensein des Stimmtons. Auch sie erscheint als eine Fortbildung der Schreibweisen des 13. Jahrhunderts, doch in andrer Richtung, mit feinerer Unterscheidung und — vielleicht — auf Grund andrer Vorlagen. Sie beließ 2 bei seiner Geltung als z, gab s sehr passend durch zz wieder, wobei sie sich an ältere Vorbilder (s. die Monatsnamen der Prager Hs.) angelehnt haben mag. Eine Unterscheidung von /f = 5 und / = zZ war im 13. Jahrh. vorgebildet, der Schöpfer dieser Ortho- graphie aber brachte die Änderung an, daß er für 2 das Schluß-s gebrauchte, seine Gründe kennen wir nicht. Bei der Darstellung von c:© mag er sich erinnert haben, daß Versuche gemacht waren, ch=cvonc=c zu unter- scheiden; und da inzwischen für beide Laute cz in Aufnahme gekommen war, so unterschied er mit glücklicher Neuerung chz = € von ez = c., Die Umstände, unter denen diese Neuschöpfung stattfand, sind uns verhüllt. Wir können nur konstatieren, daß sie ohne größere Wirkung blieb. Über die Gründe des Mißerfolgs ließe sich manches vermuten, doch ohne irgendwelche Sicherheit: Grund genug war wohl, daß die Ortho- graphie der Apostellegenden einige einschneidende Änderungen brachte, deren absolute Notwendigkeit den meisten Schreibern nicht eingeleuchtet haben mag. Im Ganzen erscheini jedenfalls die Orthographie der Apostellegenden, obwohl sie alle nötigen Unterschiede macht, doch mehr als Fortsetzung und Krönung jener älteren orthographischen Übung des 13. Jahrhunderts, die vor allem die Unterschiede der Artikulationsstelle zur Anschauung bringen will. Nur diese ältere Übung weist in die Vergangenheit. 6. Die orthograph. Übung, die wir eben verfolgten, — wir wollen sie die „literarische“ nennen —, reicht für unser Auge nicht über das 13. Jahrhundert zurück, wenn wir von den einstweilen ganz vereinzelten Wiener Glossen absehen. Gleichwohl dürften die orthographischen Grundsätze, die sich heraus- gestellt haben, viel älter sein. Wir finden sie wieder in der Art, wie die älteren Quellen der böhmischen Geschichte die tschech. Namen, Orts- namen und Personennamen, wiedergeben, am Anfang des 13. Jahrhunderts, im 12. Jahrhundert und wahrscheinlich auch im 11. Jahrhundert. Für die Zeit vor Kosmas ist freilich unser Material bescheiden. Von der in Fontes rer, Bohemicarum I, s. 360 ff. veröffentlichten Prokop- 26 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. legende sehe ich ab, da ihre Überlieferung spät ist. Von den Lebens- beschreibungen des hl. Adalbert sind die früher dem Canaparius zuge- schriebene!) und die des Bruno von Querfurt?) in Betracht zu ziehn. Die sog. Passio sancti Adalberti®) steht in der Orthographie abseits und soll hier unberücksichtigt bleiben. Die Ludmilalegende ‚Fuit in provincia Bohemorum‘“*) ist in derselben Dresdener Hs, des 12. Jahrh. überliefert, die auch den Text des Kosmas (s. u.) und den sog. „Mönch von Säzava‘“ (s. u.) enthält, sie lehrt nichts besonderes. Von den Wenzelslegenden kommt die des Laurentius (Hs. des 10. oder 11. Jahrh.) als in Italien ent- standen nicht in Betracht, sie zeigt auch eine abweichende orthograph. Gewöhnung. Die sog. „bairische‘‘ Fassung der Legende „Crescente fide Christiana“‘ ist bisher, soviel ich weiß, nach den ältesten Hss. nicht ge- druckt worden, sondern nur nach einer Hs. des 12. Jahrhunderts. Die sog. „böhmische‘“ Fassung ist spät überliefert. Von den Hss. der sog. Legende Gumpolds stammt die älteste erhaltene aus dem 12. oder dem Ende des 11. Jahrh., von ‚‚Oportet nos fratres“ aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts). - Die Legende „Oriente iam sole‘‘ liegt schon ihrer Abfassung nach jenseits der Zeit, die uns hier beschäftigt. Christians Wenzelslegende®) ist im ganzen spät überliefert, sie kann hier nur inso- fern in Betracht kommen, als das Alter der (verschollenen) Hs. von Böddecke unbestimmbar ist und die davon genommene Abschrift die Namen in sehr altertümlicher Form gibt. Ziemlich allgemein wird in dieser Literatur das slav. s’durch z wieder- gegeben, ausnahmslos oder doch so gut wie ausnahmslos in den Namen auf -slav: Wencezlaus, Wratizlaus, Bolezlaus usw.”), sodann auch in den Namen Spytihnev: Zpuytignev usw.°), Slavnik: Zlaunic, Svatopluk: Zwato- pule, Zuentepulk, ferner Ztroymir, Zroimir, Zlaubor, ebenso im Namen der Preußen: Pruzzi, Pruzi?) und im Namen Danzig: Gyddanyzc!®). Nur der Name der Slaven zeigt stets s: Selavi. $ scheint nur in dem Namen Mifico!!) 1) die älteste, Wolfenbüttler, Hs. stammt aus dem 11. Jahrh. 2) die Königswarter Hs. stammt aus dem Ende des 12. oder Anfang des 13. Jahrh. 3) über sie wie über die andern Biographien s. H. @. Voigt, Adalbert v. Prag 1898. 4) s. Pekar, Die Wenzels- und Ludmilalegenden (1906), S. 69 f. 5) hsg. bei Pekar a, a. O. S. 389 ff. 6) hsg. ebda. S. SS ft. ?) Abweichungen wie Vendeslavi Fontes rer. Boh. 1, S. 189 sind ganz selten und bedürfen der Bestätigung. 8) aber Spitigne:s in der Ludmilalegende MG. SS. 15, 1, S. 573, 20. 9) in den Adalbertslegenden. 10) in der Adalbertlegende des Canaparius. 11) bei Bruno v. Querfurt, Fontes rer. Boh. 1, S. 271. IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. DIT: sowie in Pfou!) vorzukommen, z nur in Gnezne?) = Gnesen, Z gar nicht. c kommt, abgesehn von dem Namen der Liutizen, nur in Gradiec?) vor und bes. in dem Namen Wencezlaus*). Endlich € begegnet nur in dem Namen der Stadt Budce und zwar wiedergegeben teils durch c°), teils durch z°), teils durch ce”). Ich lasse es für die Zeit vor Kosmas bei diesen summarischen Be- merkungen bewenden. Zu noch eingehenderer Betrachtung ladet das dürftige Material nicht ein. Eine gewisse Gleichartigkeit ist schon hier gar nicht zu verkennen?°), nur die sog. Passio sancti Adalberti fällt aus diesem Rahmen durch ihre ständige Verwendung von s für slav. s heraus, als eine Erscheinung, die sich der Einordnung entzieht. Mit Kosmas beginnt nun eine reichere Überlieferung: mit dem Um- fang des historischen Interesses mehrt sich auch das Namenmaterial. Wir müssen daher ihn und seine Fortsetzer eingehender?) betrachten. Zunächst Kosmas selbst!°). Die Handschriften der Chronica Boemorum, auch die älteren, schwanken zwar in der Wiedergabe tschechischer Namen, und es muß durchaus fraglich sein, ob auch nur die älteste, die Leipziger Handschrift, Kosmas’ Schreibweise einigermaßen wiedergibt. Auch eine Sonderbetrachtung der einzelnen Handschriften empfiehlt sich nicht, da in keiner einzigen eine irgendwie durchdachte Konsequenz zu herrschen scheint!!). Eine Registrierung des ganzen Materials erscheint daher zweck- los, und ich werde mich z. T. mit zusammenfassenden Bemerkungen be- gnügen. 1) so bei Christian S. 94, 35. 2) bei Bruno v. Querfurt, a. a. O. S. 292. 3) Christian S. 93, doeh hat die Böddecker Hs. wie es scheint cz gehabt. 4) daneben die Formen Wenzezlaus in der Böddecker Hs. Christians (?), in der Überlieferung von „Oportet nos fratres“, Uendezlavus in „Ürescente fide“, Ventizlavus bei Bruno. 5) so in der Brüsseler Hs. der Legende Gumpolds (anfg. 12. Jahrh.) MG. SS. 4, S. 214, 29 (die Wolfenbüttler ist verderbt), in „Oportet nos frat es“, S. 391, 10. 6) so vielleicht bei Christian S. 96, 24 in der Böddecker Hs. %) so Budceam in „Crescente fide‘ S. 183. Ähnliches in Urkunden 8) wobei zwischen böhmischen und außerböhmischen Quellen kein Unterschied zu bestehen scheint. Durch die Gleichartigkeit sind wir auch einstweilen der Be- sorgnis überhoben, ob die Überlieferung in jedem Falle das alte wiedergibt. 9) Die hier in Betracht kommenden Werke sind vereinigt im 2. Bande der Fontes rerum Bohemicarum (1874). Natürlich werden nur solche Quellen berück- sichtigt, die auch ihrer Überlieferung nach vor dem 14. Jahrh. liegen, 10) hsg. Fontes rer. boh. 2, S. 1 ff. In Betracht kommen nur die älteren Hss., die von Leipzig, Bautzen, Stockholm, Dresden und Wien (4a). K. starb 1125. als Achtzigjähriger. 11) Ich sehe ab von der Frage, ob die bisherigen Ausgaben des Kosmas in ihrem kritischen Apparat so vollständig und zuverlässig sind, daß die Schreibweise jeder Handschrift daraus mit Sicherheit erkannt werden kann. 23 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Vor allem in der Wiedergabe des s herrscht in der Überlieferung des Kosmas ein Schwanken, das jeglicher Bemühungen spottet. Ich besitze das ganze Material, sehe aber einstweilen keinen Grund es vorzulegen, auch eine Statistik wäre durchaus unangebracht. Es genüge die Fest- stellung, daß in der ganzen Überlieferung sowohl / wie z vorkommen, und daß nicht eine einzige Handschrift sich zur Konsequenz durchgerungen zu haben scheint‘). 5 wird mit beträchtlicher Konsequenz durch /, bzw. durch /f bezeichnet, letzteres findet sich im allgemeinen nur im Inlaut zwischen Vokalen, wo es aber auch nicht regelmäßig ist.) z wird fast steis mit z wiedergegeben®). 2 wird in ‘den alten Handschriften in der Regel durch / bezeichnet. Daß die jüngeren Handschriften dafür z ein- setzen, versteht sich von selbst*). c wird im allgemeinen mit c wieder- gegeben, die jüngeren Handschr. setzen dafür z. T. cz ein?). Auch £ wird im allgemeinen mit c bezeichnet, doch scheint die Schreibung cz, in jür- geren Handschriften recht gewöhnlich, hier in einigen Fällen auch in die ältesten hireinzuragen®). — In der Wiedergabe von %k herrscht großes Schwanken, vor a, o, u, r, 2 und im Auslaut wird vielfach ce geschrieben, doch ohne Folgerichtigkeit. 1) bemerkensweit ist zz, das ein paarmal auch in alten Hss. vorkommt, so frater noster Ozzel qui et asinus S. 133 in der Stockholmer und Dresdner Hs., ebenso Nizzam S. 139 in der Siockkolmer Hs., ebenso S. 177. 2) Man vergleiche z.B. die Schreibung des Namens Vysehrad: Wissegrad, der in der Bautzener Handschrift mehrfach (regelmäßig) mit einem s erscheint. Ab- weichungen von der oben angegebnen Regel fand ich nur in folgenden Fällen: Der alie Name der Siadt Taus, ischech. Tuhost’, erscheint in der Dresdner Hand- schrift als T.gozc (S. 116). Der Name der Stadt Leitomischl, tschech. Litomysl, ebenda als Lutomizl (S. 158). Worauf die Schreibung Olzawa für den Flußnamen Olsava beruht (S. 178), wüßte ich nicht anzugeben. 3) Varianten finden sich nur zu den Namen, die in den Fonies rer. boh. als Buz transskribiert werden, s. S. 105, 164, 167, 173. Die spätere Lautgruppe zd wird in einigen Fällen im Anlaut durch /d wiedergegeben, so Sderad S.125 in der Leipziger Handschrift, Sdie S. 184 ebenda und noch in andern Hss., s. oben die Bemerkung zur ischech. Übersetzung der Pharetra. *) Von den ältern Handschriften nimmt daran nur die Wiener Handschrift 4a einigemale teil. In einigen Fällen ist allerdings schon in den ältesten Hss. z: Bozena s.53.86, filius Bozeni s, 98, offenbar auf Grund einer uns verborgenen Tra- dition. Einigermaßen fraglich ist Zrieinaves s. 102, in der Dresdner Handschrift mit fe geschrieben, in den Fontes rer. boh. als Zeräine ves transskribiert. 5) Gelegentlich kommt ez schon früher vor, so in der Dresdner Handschrift Olomucz S. 39, ebendort und in der Bautzener Hs, Belecz S. 110; in campo Luczko oder Lucsko S. 143. 178, wo man die Varlanten nachsehen wolle, ist in der älteren Überlieferung wohl Luäösko zu lesen, gehört also nicht hierher, zur Ortsbestimmung s. Novotiny, Ceske dejiny I, 2, S. 392, Anm. 3. Was ad curtem Saczcam S, 170 etymologisch ist, vermag ich nicht zu sagen, s. noch die Namensformen im Cod. dipl. regn. Boh. I, S. 527a. s. v. Sazka. Der Lanczo S. 96 fi. ist ein Deutscher. — ch steht ausnahmsweise in Satech S._18 in der Wiener Hs. 4a. 6) So Stybeczna S. 7. 8 (Stockholmer Hs.), Luczanos usw. =. 18 (2). 19. IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie, 29 In den Hradisch-Opatowitzer Annalen!) wird s in der Regel durch z wiedergegeben, / findet sich nur vereinzelt?), ganz selten /2?). s erscheint regelmäßig als / oder, einmal, zwischen Vokalen, als //*). 2 wird durch z dargestellt, einmal durch /?), 2 durch /°). Für c finden wir stets c, für € einmal c, in Caslau S. 388. Für % erscheinen k und unter Umständen c, Bei dem unter dem Namen des Mönchs von Säzava bekannten Fort- setzer des Kosmas’) finden wir s vorwiegend durch z wiedergegeben, doch kommt auch / vor®). 5 ist in den wenigen vorkommenden Fällen durch f vertreten, oder, in 2 Fällen zwischen Vokalen, durch /f. z wird im allge- meinen mit z bezeichnet’), 2 durch z in Bozethecus S. 249 u. ö., Bozata 26710), ce wird mit c bezeichnet, einmal begegnet im Auslaut cz: Olomucz S. 268 (aber Olomucensis). Auch € wird mit c bezeichnet in Nemci S. 240 (entlehnt), sowie in Nacerat 2611!). Für % finden wir wie sonst auch c, doch nicht regelmäßig?). In der Chronik des Vincentius!?) wird s in der Regel durch z wieder- gegeben, doch kommt auch / vor!t). Ss wird mit /, zwischen Vokalen gelegentlich mit /f bezeichnet. z erscheint stets als z, 2 einmal als s in Ziris S. 430. Für ec finden wir c!?), € kommt nur in dem Namen Cast« S. 413 vor. k wird meist durch % wiedergegeben, doch kommt auch c vor, 1) hersg. Fontes rer. boh. 2, S. 386 ff., erhalten in einer Wiener Hs. des 12. Jahrhunderts, die Abfassungszeit fällt um 1140—1150. 2) in Caslau S. 338 — Cäslav, Strigomiam S. 389 — Ostrihom, Sobeslaus S.392, Sobezlaus meist (daneben Zobezlaus), Kladsko S. 394. 3) in Wladifzlao S. 400 (2). *, Ausgenommen ist Tugozc, wie in der Dresdner Hs. des Kosmas, s. 0. 5) in Kosli S. 395. 6) Ausgenommen ist wieder Bozena S. 388 f., wie bei Kosmas. 7) hersg. Fontes rer. boh. 2, S. 238 ff, nur in der Dresdner (12.—13. Jahrh.) und der daraus geflossenen Wiener Hs. (13. Jahrh.) des Kosmas. Abfassungszeit um 1170. 8) Ausnahmslos steht z z.B. in dem Namen Zazoa, Zazavensis usw.; f steht in Selavi usw. (die Nachrichten sind durchweg entlehnt), ferner in Sirnounic S. 244, Miroslaum 8.255 (anders S.261), Spitigneus 8.261. 263 (anders 8.246 f.), Radosta 5.263, sowie stets in Postolopertensis (wie bei Kosmas, vielleicht mit $ gesprochen), und im Anlaut des Namens Sobezlaus. — sc in Rusciae S. 239 (entlehnt). 9) So stets in dem Namen Zazoa, Zazavensis usw., zd wird durch /d wieder- gegeben in Sdico S. 257.262.263, s. oben zu Kosmas. Zweifelhaft ist Izeizlaus S. 262. 10) Zweifelhaft ist Sizna $. 263. 11) aber $S.255 derselbe Name Nazcerat geschrieben. 12) einmal Misacho S.239 (entlehnt). 13) hersg. Fontes rer. boh. 2, S. 407 ff. Hs. des Strahov-Klosters bei Prag, Anfang des 13. Jahrh., Abfassung um 1173. 14) So in Sobezlaus S.409 (der Name wird sonst stets Zobezlaus geschrieben), in Spitigneus S.410.417.418. Smilo S.412. Wladislaus S.417 (sonst stets mit 2). Svatopluk S. 420. 454, Decksan 420. 15) Der Name Wenzel erscheint als Wenzlaus S.409, Wenzezlaus S. 452. #58. 30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. In den Prager Annalen!) ist die Wiedergabe von s sehr unregel- mäßig, sie schwankt zwischen /, z?), /2, 2. 5 finden wir nur in dem Namen Severus. z ist durch z vertreten in Strezslaua S. 377 und Zaza- vensis S.377. c kommt außer dem Namen Wenceslaus nur in Lubie S. 377 vor, © nurin Nemeis S.377. Für k finden wir einmal auch c. Ein großer Teil der Belege steht übrigens in entlehnten Stellen. In der Chronik des Gerlach?) ist s wiederum meist durch 2 vertreten, / kommt nur ganz vereinzelt vor*). Für 5 finden wir zweimal /f (zwischen Vokalen), für 2 nur z, für Z einmal / in Dirsata S. 470. c erscheint als c°), öfters aber als tz®), te”), ts®), 2°). € kommt nur in Nathseraz S. 505 vor. %k erscheint als k und nicht selten als c, einmal als ch!®). Damit gewinnen wir den ungefähren Anschluß an die Anfänge der literarischen Zeit!!. Wer nun die beiden Gruppen vergleicht, wird nicht im Zweifel sein, daß die Orthographie der Glossen und der literarischen Denkmäler des 13. Jahrhunderts in den Geschichtswerken des 12. Jahr- hunderts durchaus vorgebildet ist. Hier wie dort finden wir die verhältnis- mäßige Konsequenz in der Wiedergabe von z durch z und in der Wieder- gabe von $ durch /, /f. Hier wie dort ein nie zur Folgerichtigkeit ge- langendes Schwanken zwischen z und s in der Wiedergabe von s, wobei übrigens 2 in weit größerem Umfange verwandt wird als /, zum Teil fast regelmäßig. Die Wahl des Zeichens / mag z. T. auch auf Traditionen beruhen, die für uns unfaßbar sind. In der Wiedergabe von Z durch / sind die geschichtlichen Denkmäler des 12. (und beginnenden 13.) Jahrh. 1) hersg. Fontes rer. boh. 2, S. 376ff. Hs. in Bamberg, aus dem Anfang des 13. Jahrhunderis. Abfassungszeit wohl ebendamals. 2) z. B. erscheint der Name Sob&slav bei ihm als Zobeslaus, Sobeslaus und Zobezlaus! 3) hrsg. Fontes rer. boh. 2, S. 461 ff., die Handschrift ist dieselbe, die die Chronik des Vincentius enthält, Abfassungszeit: erstes Viertel des 13. Jahrh. Die nur in den Abschriften von Pitter und Wokoun überlieferten Stellen sind nicht berücksichtigt. %) In Stragu S. 458. 473. 482. 495. 508. Diese Konsequenz in der Schreibung des einen Namens muß irgend einen besonderen Grund haben, Vincentius schreibt Ztragov S. 410. 5) so in Zovnewvieii S. 495. Dassyce S. 497. Lumewie 8. 496 ff. na Zdice 3.510, sowie in den Adjektiven Olomucensis S. 497 u.ö. Cunicensis 3.497. Luncwi- censis S. 504. 6) so in Zedletz S. 463. Olomvtz 5.472. Olomutzensis S.508. Cunitz 8.483. 497. Lonewitz S. 483. Watzlaus, Wathzlaus S. #72 u. ö. ?) in Zunwitcensis $. 483 u. ö. Cunitcensis S. 483, 8) in Uunitsensis S. 483. 9) Loumewiz, Kvniz S. 503. Nathseraz S. 505. 10) Witch» S. 511. 11) kleinere Stücke wie das Necrologium Podlazicense sind hier nicht berück- sichtigt. Sie lehren übrigens nichts besonderes. IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 31 z. T. konsequenter als die literar. Denkmäler des 13. Jahrh. Für e und © herrscht im allgemeinen das Zeichen c, die zusammengesetzten Zeichen der literar. Denkmäler begegnen nur ausnahmsweise. Wie weit in der Verwendung dieser zusammengesetzten Zeichen irgend eine Tradition an- zunehmen ist, bleibt fraglich, sicher darf sie bei /f vorausgesetzt werden (s. oben), bei cz kann man stark zweifeln, noch mehr bei zz (einerseits in gewissen Kosmashss., anderseits in den Monatsnamen der Prager Hs. Ende 13. Jahrh. und in der Orthographie der Apostellegenden). Es wäre un- vorsichtig, hier etwas zu behaupten. Vielleicht kann eine Durchforschung der Urkunden (bis zum Ende des 13. Jh.) mehr Licht bringen, die aller- dings nicht „statistisch“ sein dürfte, Soweit die geschichtliche Tradition. An ihrem Anfange stehn für uns die Legenden. Ob wir irgendwo ein Mittel haben, in noch ältere Zeit zu gelangen, entzieht sich meiner Kenntnis. Das Zeugnis der Urkunden, an das der Uneingeweihte zunächst denken würde, versagt, und zwar aus einem sehr einfachen Grunde: Wir besitzen aus Böhmen aus dem 11. und dem Beginn des 12. Jahrh. fast keine Originalurkunde (für Kopien gilt dasselbe). Wie weit dies der Ungunst des Zufalls zuzuschreiben ist, mögen die Kenner entscheiden. Jedenfalls können wir hier nur auf eins verweisen, auf den Text A der Gründungsurkunde der Kollegiatkirche in Leitmeritz!). Da finden wir nun allerdings für s einmal z?), neben s°) und ss*), wir finden für z die Schreibung z in Breza S. 56, 16, und für $ mehrfach die Bezeichnung / oder //, aber immerhin bleibt das Material doch zu dürftig, und wir müssen konstatieren, daß diese Tradition als Ganzes in keinem historischen Werke wiederkehrt, denn die hier geläufige Schreibung cs für c (und vielleicht auch c) pflegen weder die Legenden noch Kosmas oder seine Fortsetzer anzuwenden°). Wir sind hier, glaube ich, am Ende der sicher faßbaren Tradition angelangt, aber wir müssen uns doch wenigstens die Frage vorlegen, woher diese Tradition stammt, die für uns zum ersten Male in den Legenden und dann bei Kosmas auf- tritt. Soviel ich sehe, bieten sich uns einige immerhin erwägenswerte Möglichkeiten. 8. Die Art, wie die älteren Geschichtsquellen schreiben, weist unver- kennbare, wenn auch nicht immer ganz scharf faßbare Ähnlichkeiten mit 1) Codex diplomaticus ... regni Bohemiae .. . ed. G. Friedrich. T.1I, S. 53 ff. Der Text stammt aus dem 11. Jahrhundert. 2) im Vzthi S. 55, 14. 3) Spitigneus S. 54, 25. 4) Zassadee S. 56, 15. 5) was nicht etwa in der Entwickelung der Tradition begründet war, denn die 1130 ausgestellte und in der Mitte des 12. Jahrh. abgeschriebene Urkunde nr. 111 verwendet cs häufig. 32 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Culiur. der Schreibweise auf, die in den deuischen Geschichtsquellen der Zeit vor Kosmas für slavische und zerade auch für tschechische Namen angewandt wird. Ich besnüge mich hier mit dem Hinweis auf zwei, die ein etwas umfangreicheres Namenmaterial bieten und die gerade auch einige Nachrichten über Böhmen vermitteln. Bei Widukind von Corvey finden wir s regelmäßig durch z wieder- gegeben in dem Namen Bolizlavus, auch das e in Centupulcho 1, 19 mag Änderung eines unkundigen Abschreibers für ein z der Vorlage sein; / finden wir geschrieben in Stoinef, Mistav und ganz regelmäßig in dem Namen Slavi bzw. Selavi, sclavanicus usw. 5 ist regelmäßig durch / aus- gedrückt in dem Namen Misaca. Ein Name mit z scheint nicht vorzu- kommen. z wird durch / wiedergegeben in Lusiki. Die Wiedergabe von ce durch k in Zusiki und wohl auch in Licicaviki muß irgend einen beson- deren Grund haben, wielleicht ist es nur eine augenblickliche Abirrung des Schreibers, der in der Vorlage ein c fand. Thietmar von Merseburg schreibt für s regelmäßig z in dem Namen Bolizlavus, ebenso in Budizlavus 9, 21. Ventizlavus 2, 2. Zebizlovo 6, 12. Wortizlava 4, 45. 8, 64, Mistizlavum 9,5. Prebizlavo 4, 64, also in den Namen mit -slavus ganz folgerichtig. Außerdem finden wir z in Zuetepulco 7,39 und Zentepulcum 9, 32, gegen- Suentepuleum 4, 57, endlich in Zuara- sici — Svarozie 6, 23. Nicht selten aber auch f, vgl. die Namen Crosno, Gestimulus, Mistui usw., Sprewa, Stoderania, Stoinnegui, Stoignewo, Striela, Ustiure, also vielfach vor f, über Riedegost 6, 23 läßt sieh nicht ganz sicher urteilen, der Name der Slawen wird traditionell Selavi geschrieben, Rußland erscheint traditionell als Ruscia, vgl. Ruscorum und Buszorum, der alte Name Schlesiens wird Silensi und Cilensi geschrieben. Für $ begegnet in den wenigen Fällen wohl nur /, /f, eiwas häufiger Budusin, Miseco, kein z. z wird in den wenigen vorkommenden Fällen verschieden geschrieben, meist /, doch vielleicht auch z, vgl. die Namen Gezerisca, Gnesin, Pilisini, Posnani und etwa Silensi. zZ wird durch / wiedergegeben in Satzi 6, 11 und Zuarasici 6, 23, durch z in Zara 6, 34 = Sorau, wend. Zarow. c und wohl auch £ sind durch z (in diesen Fällen gewiß fs zu lesen) und durch c vertreten. Die Tradition, die hier nieht zu verkennen ist, muß übrigens in weiterem Umfange und auch später noch gegolten haben, wie das Beispiel zweier anderer Geschichtschreiber zeigt: Adam von Bremen wechselt bei der Wiedergabe von s zwischen z und /: Auch bei ihm erscheinen die Namen auf -slav usw. meist mit z: Missizla, Wencezlaus, Bugezlaus, Bolizlaus; außerdem Zuentifeld und Zuentina, Den Namen Rußland finden wir meist in der Form Ruzzia (doch kommen in der Überlieferung nalürlich auch andere Schreibungen vor), dasselbe zz zeigt der Name Pruzzi. zz begegnet noch in Mizzidrog, Chizzini, Leubuzzi, über deren lautl. Be- deutung ich mich nicht allzu bestimmi äußern möchte. Auch f ist nicht selten es steht, wohl traditionell, in Sorabi und Sclavi, ferner in Sioderani, Missizla Mystiwoi, Redigast, das letztere nieht ganz sicher zu beurteilen. Über die Schreibung Au IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 33 der andern Laute bei Adam läßt sich nicht viel sicheres sagen, da die Deutung vieler Namen mehr oder minder willkürlich ist. Ähnlich schreibt Helmold: er gebraucht in den Namen auf -slavus regel- mäßig 2, ebenso auch hier Zuentineveld, sowie Zuantevith und Zuentepolcht). Den Namen Rußlands und der Russen schreibt H. stets mit ce. Daneben auch hier /: traditionell in Slavi, wohl auch in Slavina und in Sorabi, sonst in Stederani, Missizla, Mistiwoi, Mistue, sowie in Redegast, das zweifelhaft bleibt. 5 scheint durch /, /f dargestellt zu sein in T’hessemar, Woligost. Für z finden wir z in Kazemarus, Zuerin, ce wird mit c und z wiedergegeben, © mit ze in zcerneboch. Ich begnüge mich für die deutschen Historiker des 10.—12, Jahr- hunderts mit diesen Feststellungen, obwohl ich das Material in weit größerem Umfange gesammelt habe. Ich begnüge mich aus folgenden Gründen: einmal setzt eine zum einzelnen vordringende Würdigung dieser Zeugnisse vor allem eine eingehende quellen- kritische Erforschung voraus, die ich zurzeit nicht zu leisten und in ihren bis- herigen Leistungen nicht vollkommen zu beurteilen vermag. Für den Einzelfall ergeben sich 4 Möglichkeiten: 1. kann die Schreibung auf einer augenblicklichen Überlegung des Schrift- stellers beruhn, kaum sehr häufig. 2. kann sie auf einer verbreiteteren Tradition beruhn, das sicherste Beispiel für eine allgemein verbreitete, sehr alte Tradition ist Slavi, Sclavi. 3. kann sie auf einer lokalen Tradition beruhn, diese lokale Tradition kann sich in Urkunden herausgebildet haben und kann den orthograph. Grundsätzen des Schriftstellers, der sie benutzen muß, vollständig zuwiderlaufen. 4. kann die Schreibung aus der jeweiligen Quelle entnommen sein. Auf die Frage der Überlieferung ist dabei noch nicht einmal Rücksicht genommen. — Sodann ist die Mehrzahl der Namen, vor allem der Ortsnamen, ihrem Wortsinn nach unver- ständlich oder, was in unserm Falle fast dasselbe besagt, mehrdeutig, und eine Entscheidung meist nur da zu treffen, wo die lebende Tradition zu Hilfe kommt, wie in Böhmen und in der Lausitz auf noch heute slavischem Boden und in dessen nächster Umgebung. Endlich müssen wir selbst da, wo die Namen an sich ver- ständlich sind, vielfach, so besonders auf wilzischem und obotritischem Gebiet, vorsichtig mit unsern Schlüssen sein, weil wir über die lautliche Entwickelung dieser Sprachen fast gar nichts wissen. Wer will schließlich bestimmen, wie das st von Mistue in Helmolds Ohren geklungen hat? Die Ungunst des Zufalls verbirgt manches, was man zu wissen wünscht. Bei weitem nicht jede Möglichkeit erscheint in unsern Quellen durch hin- reichend sichere Belege vertreten. Wie würden z. B. die genannten deutschen Geschichtsschreiber des 10.—12. Jahrhunderts ein slav. — s — zwischen Vokalen ausgedrückt haben? Ich glaube, wir können das kaum sicher beantworten. Und solcher Lücken gibt es mehrere. Was wir er- kennen, ist nur dies: die slav. Gruppe si — im Wort- und Silbenanlaut wird gern, ja vielleicht regelmäßig, durch 22 ausgedrückt, ebenso finden wir nicht selten zv, zu für slav. sv—. Die Verwendung von 2 für s ist damit nicht erschöpft, doch sind sichere Beispiele sonst selten, der Name der 1) Mizzidrag ist aus Adam übernommen, was natürlich auch für die andern Namen teilweise gilt. 1916. 3 34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Russen und Rußlands erscheint in mehrfacher Stilisierung und dürfte den deutschen Geschichtsschreibern des 10.—12. Jahrhunderts nichts Lebendiges gewesen sein. Vielfach, besonders in der Verbindung st, finden wir / geschrieben, in welchem Umfange sonst noch, wird sich kaum entscheiden lassen. Die Schreibung #Slavi, Selave beruht auf sehr alter, ursprgl. vielleicht nicht einmal deutscher Tradition, s. z. B. Niederle, Slovansk& starozıtnosti 2, S. 477. Ss und Z werden zwar meist / geschrieben, doch ist das Material dürftig. Dieser immerhin merkwürdige Zustand muß irgendwie vom Standpunkt deutscher Aussprachsgewohnheiten aus verstanden werden. Die Richtung der Erklärung ist gegeben durch das, was die germanistische Forschung von verschiedenen Seiten beigebracht hat, um den Lautwert der ahd. und mhd. Zeichen z (zz) und s (ss) festzustellen. Daß zwischen den beiden, auch etymologisch verschiedenen, heute z. T. zusammengefallenen Lauten ein Unterschied bis in das 13. Jahrhundert bestanden haben muß, das zeigt die Folgerichtigkeit, mit der die Zeichen bis zu der genannten Zeit in unsern Hss. auseinandergehalten werden. Welcher Art der Unterschied war, dafür liegen verschiedene Anhaltspunkte vor. Die neuere Forschung neigt dazu, dem ahd. s (ss) eine S-ähnliche Aussprache zuzuerkennen. S. Behaghel, Gesch. d. deutschen Sprache (1911), S. 216 ff., Braune, PBB 1, 5938 ff. und Ahd. Gramm. 3 (1911), S. 156 ff. Das Ergebnis ist auf verschiedenen Wegen gewonnen worden, vor allem (von Braune) durch die Heranziehung der slavischen sog. Freisinger Denkmäler, deren Verwendung des deutschen Alphabets den oben angeführten Schluß wohl zwingend erscheinen läßt. Auf die Orthographie der alttschech. Denkmäler des 13., 14. Jahrh. hat in diesem Zusammenhange bereits Ernst W. Kraus verwiesen, s. Festschr. zum VII. allg. deutschen Neuphilologentage (1898), S. 32 ff., er verfolgt aber andere Absichten und in andrer Weise als ich hier. Die Beweise aus dem Gebiet der deutsch-slavischen Beziehungen lassen sich übrigens noch mehren. Was die Lehnwörter betrifft, so genüge der Hinweis darauf (so schon Kraus), daß die deutschen Lehnworte im Tschechischen (natürlich nicht die neueren und neusten) fast durchweg deutsches s durch $ oder 2 wiedergeben, s. Gebauer, Historickä mluvnice I, S. 485 f., Schneeweis, Lautlehre der deutschen Lehnwörter im Tschechischen, 15. Jahresber. der Landesoberrealschule in Zwittau 1911. 1912 dürfte noch mehr Material enthalten, ist mir aber nieht zugänglich. Aufzuklären ist dabei noch, warum im einzelnen Falle das deutsche s (es handelt sich dabei zum großen Teil um lat. Lehnworte) teils durch 8, teils durch 2 ver- treten ist. Auch in den Ortsnamen, soweit ihre beiderseitigen Formen alt sind, dürfte das Verhältnis das gleiche sein. Alte deutsche Namen in slavischem Munde dürften dabei weniger in Betracht kommen, denn von den bedeutsameren deutschen Städte- namen, die sich im tschech. Munde früh einbürgerten (Mainz, Köln, Aachen, Regens- burg usw.) kommt hier zufällig keiner in Betracht. Um so öfter kann man den Übergang in umgekehrter Richtung feststellen, vel. z. B. tschech. Zatec mit deutsch Saatz, tschech. Misen mit deutsch Meissen, wend. Zarow mit deutsch Sorau usw. IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 35 In welchem Umfange diese Aussprache im Mittelalter gegolten hat, darüber wird sich kaum etwas genaueres feststellen lassen. Daß sie nicht in jeder Lautumgebung und an jeder Stelle des Worts die gleiche war, ist so gut wie gewiß. Wenn irgendwo, dann dürfen wir sie in den Ver- bindungen sw, sl (sowie sm, sn) voraussetzen, die heute in einem großen Teile des deutschen Sprachgebiets schw, schl lauten. Von da aus begreifen wir vielleicht, daß die mittelalterlichen deutschen Geschichtschreiber es unmöglich fanden, slav. — slav durch — slavus oder slav. sveto — durch sıtento — wiederzugeben, und daß sie es vorzogen, — zlavus und zuento — zu schreiben, da das ahd. mhd. Zeichen z ohne Zweifel den Lautwert des slav. s ziemlich genau wiedergibt. Natürlich erhebt sich eine Frage: wenn der im Ahd. und Mhd. durch z bezeichnete Laut dem slav. s ziemlich genau entspricht, warum wird dann slav. s bei unsern Geschichtschreibern nicht konsequent mit z bezeichnet, also warum nicht Ztoderani (wie die böhm. Quellen später wirklich schreiben), . Ztoignewo, Zprewa? Es ist schwer, darauf eine ganz befriedigende Antwort zu geben, doch muß man sich gegenwärtig halten, daß z für den mittel- alterlichen Lateinschreibenden kein sehr geläufiger Buchstabe war. In deutschen Namen hatte das z seine selbständige Tradition, im engen Zu- sammenhange mit den deutsch geschriebenen Denkmälern, diese Tradition ohne weiteres auf slavische Namen zu übertragen, wird man gezögert haben, zumal bei s vor Z und p wird das Vorbild der lateinischen Schrift mit ihren vielen si, sp übe.mächtig geblieben sein, nur bei sl, sv mag sich das unangemessene der Schreibung s einem deutschen Schreiber so stark aufgedrängt haben, daß er lieber z wählte (dies um so eher, als es ja sl, sv im Lateinischen nicht gab). Nach dieser Abschweifung in das Gebiet der deutschen Geschicht- schreibung kehren wir zu den böhm. Geschichtsquellen zurück und fragen uns: wie etwa verhält sich ihre Schreibweise (denn bei ihnen kann man immerhin von einer Schreibweise sprechen) zu den Versuchen der deutschen Geschichtschreiber, slavische Namen wiederzugeben? Mit allem Vorbehalt, der durch die Beschaffenheit des letztgenannten Materials geboten ist, kann man etwa folgendes sagen: 1. Kosmas stellt das slav. z ziemlich konsequent durch z dar, was wir bei den deutschen Geschichtschreibern in den wenigen vorkommenden Fällen nicht oder doch nicht regelmäßig beobachten). 2. 5 und 2 gibt er ziemlich regelmäßig durch / bzw. 5 auch durch /f wieder, worin er mit den deutschen Geschichtschreibern übereinkommt. In beiden Be- ziehungen bieten die Quellen vor Kosmas kein rechtes Material, doch stehn sie keinesfalls im Gegensatze zu Kosmas. 3. Die Schreibung z (bzw. zz) 1) S. z. B. die Schreibung Gnezdensis, Gnezden Kosmas S. 49. 71. mit der Schreibung Gnesin Thietmar 4, 45. 36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. für s ist bei Kosmas und wohl schon bei seinen Vorgängern in weit aus- gedehnterem Gebrauche als bei den deutschen Historikern, wennschon auch / in der gleichen Bedeutung vorkommt. Den Unterschied gegenüber den Schreibungen der deutschen Geschichtsquellen bezeichnet vor allem etwa die häufige Schreibung zf, vgl. z.B. Ztrahquaz u. aa. Genaueres zu sagen, ist wohl unmöglich, da weder K. noch die deutschen Historike, sich in der Schreibung des s zu irgendwecher lKonsequenz durchgerungen haben. Den Unterschied von ce und € zu bezeichnen hat K. und haben seine Vorgänger nicht versucht, wie es auch die deutschen Historiker zweifellos nicht versuchten, ihr z hat er vermieden. Wie soll man sich nun das Verhältnis denken? Die unverkennbaren Ahnlichkeiten fordern eine Erklärung, und dann auch die Unterschiede, die leider nicht so scharf zu erfassen sind, wie man wohl wünschen möchte, Wenn die böhmischen Geschichtsquellen sich die Schreibweise der deutschen Historiographie zu eigen gemacht haben, so haben sie (spätestens Kosmas) jedenfalls auf Grund ihrer besseren und zuverlässigeren Kenntnis der Sprache größere Konsequenz hineingebracht, so zwar, daß die Ortho- graphie fähig wurde, den Unterschied der Artikulationsstelle (einerseits s, z — anderseits 5, 2) auszudrücken. Zu einer Unterscheidung der stimm- haften (z, zZ) von den stimmlosen (s, s) sind nur Ansätze vorhanden. Freilich bleibt dabei manches unklar. Warum ist neben z die Schreibung s für s niemals ganz ausgerottet worden, wie es die Kon- sequenz eigentlich verlangt hätte? Dies mit der ausgiebigeren Verwendung von s in den deutschen Geschichtsquellen zu erklären, also gewissermaßen einen Rest älterer Tradition darin zu sehen, geht kaum an, denn wir finden / in der Kosmasüberlieferung auch in solchen Namen, die gewiß niemals vorher von einem deutschen Geschichtschreiber niedergeschrieben worden sind. Und weiter: Wenn K. bei s schwankte, warum schwankte er dann nicht auch bei z? Woher vielmehr die verhältnismäßige Kon-. sequenz in der Schreibung dieses Lautes? Ich weiß einstweilen keine ganz trefiende Antwort auf alle diese ‚Fragen. Doch meines Erachtens erheben sie sich in jedem Falle, mag man die böhmische orthographische Tradition aus der Übung der deutschen Geschichtschreiber ableiten oder nicht. 3. Eine andre Möglichkeit wäre nämlich die, daß die Orthographie der böhmischen Geschichtsquellen sich auf heimischem Boden entwickelt hat. Die Übung deutscher Geschichtschreiber wie Thietmar oder Widukind könnte dann entweder unabhängig daneben entstanden, oder sie könnte, direkt oder durch irgendwelche Vermittlung, durch die Orthographie der böhm. Quellen beeinflußt sein. Für die letztere Annahme könnte sprechen, IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 37 daß die deutschen Geschichtschreiber z gerade in solchen Namen ver- wenden, die ihnen aus der böhmischen Geschichtschreibung, und zwar schon aus der ältesten, mit 2 bekannt sein mochten, also in den Namen auf -slav (-zlavus) und den Namen, die mit svento-, svato- beginnen (Zuetepulco usw.). In diesem Falle fiele die Erklärung, die ich oben für das Verhalten der deutschen Geschichtsquellen gegeben habe, für diese weg. Doch widerspricht dem wohl das Zeitverhältnis. Ist die böhm. Schreibweise heimischen Ursprungs, so muß sie aus einer mehr oder minder naiven Vergleichung der tschech. Laute mit den lateinischen Lauten und ihren Zeichen geflossen sein). Die Aussprache des Lateinischen könnte dabei freilich nicht die heutige gewesen sein, sonst wäre die Gleichsetzung von slav. Ss, 2 mit lat. / unmöglich gewesen. Wir kommen also auch hier nicht um den ‚Schluß herum, den ich oben auf die deutschen Geschichtschreiber anwandte: für die Schöpfer der vorliegenden Orthographie muß lat. / die Aussprache eines geschriebenen deutschen / gehabt haben, und diese Aussprache muß (den slav. Lauten s bzw. 2 nahegestanden haben. Fraglich kann nur sein, was die Urheber der beschriebnen Schreib- weise unter dem lat. Zeichen z verstanden haben. Da wir bei lat. / die deutsche Aussprache geltend fanden, so liegt es nahe, auch für lat. z in den böhmischen Klosterschulen jener Zeit eine Aussprache vorauszusetzen, die der deutschen Aussprache des Zeichens entsprach. Diese wiederum dürfte übereingekommen sein mit der Aussprache des Zeichens z in deutschen Schrifttexten, dürfte also entweder ts oder s (stimmlos) gewesen sein. Aus der letzteren Geltung würde sich die Schreibung z für s wohl er- klären. Auffallend ist aber dann die Konsequenz, mit der Kosmas?) auch das stimmhafte tschech. 2 durch z wiedergibt. Man müßte denn annehmen, daß er die relative Verwandtschaft zwischen s und z hinreichend stark empfunden und dementsprechend z auch zur Wiedergabe des stimmhaften Lautes verwandt hätte (entsprechend der gleichmäßigen Wiedergabe von Ss, 2 durch f). Daß er aber z konsequenter für den stimmhaften Laut anwandte, bliebe auch unter dieser Voraussetzung noch erklärungsbedürttig. Vielleicht aber ging K. bei der Verwendung des Zeichens z gar nicht oder nicht lediglich von der Geltung des z als eines stimmlosen s aus (wie es vermutlich deutsche Aussprache war), sondern er hat dem lat. z von vornherein den Lautwert des stimmhaften z beigemessen. 1) Ob irgend ein Zusammenhang mit der Orthographie der Freisinger Denk- mäler angenommen werden darf, vermag ich nicht zu entscheiden. 2) über die früheren kann man bei der Dürftigkeit des Materials nicht mit Bestimmtheit reden. Vielleicht haben sie z wirklich vorwiegend als s (oder ts) verstanden. 38 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vater]. Culiur. Damit kommen wir zur Frage, ob die mittelalterlichen Lateinkundigen dem lat. z den Lautiwert des stimmhaften z erteilten oder erteilen konnten. Böhmen kann hierin natürlich keine eigene Tradition gehabt haben; es bleibt nur übrig, das Vorbild in Deutschland, Frankreich oder Italien zu suchen. Ob nun für Deutschland oder Italien eine solche Aussprache- des lat. z wahrscheinlich gemacht oder als fakultativ möglich erwiesen werden kann, entzieht sich meiner Kenntnis, doch wüßte ich nichts dafür anzuführen. Für Frankreich ist die Annahme gewiß möglich!),. Daß von da aus die gleiche Tradition auch nach Böhmen gelangen konnte, bedarf kaum eines Beweises, zum Überfluß verweise ich auf die Bemerkungen von Kalousek über böhmisch-französische Beziehungen?) jener Zeit. Ausge- schlossen ist natürlich nicht, daß sich die gleiche Aussprache, etwa von Frankreich her, auch irgendwo in Deutschland eingebürgert hatte, und von da aus nach Böhmen kam. Indem ich diese Fragen den Kennern des Mittellateinischen zur weiteren Behandlung überlasse, ziehe ich nur den einen für mich wichtigen Schluß:. daß die Wiedergabe von Gech. z durch z bei Kosmas und später (auch früher wohl) auf einer geläufigen Aussprache des lat. z beruhte. Vielleicht wird von da aus auch das Schwanken in der Bezeichnung des s verständlich. Wenn man dem z vorzugsweise den Lautwert z, dem f nach der in Deutschland herrschenden Äussprache den Lautwert $ oder 2 beimaß, so war für s in der Tat keine ganz passende Bezeichnung vor- handen. Man hatte die Wahl, entweder / zu schreiben und also den Unterschied der Artikulationsstelle zu vernachlässigen, oder z, wobei der Unterschied des Siimmtons nicht zur Geltung kam. Im Ganzen dürfte diese Herleitung die Tatsachen einstweilen am besten erklären. Ob sie sich bewährt, bleibt abzuwarten. Die Beziehungen, die wir als möglich andeuteten, geben Anlaß zu der Frage: sind nicht auch die kombinierten Zeichen z. T. fremden Ursprungs? Ich denke dabei weniger an cz, denn diese Kombination lag immerhin nahe und kann an verschiedenen Stellen und zu verschiedenen Zeiten unab- hängig gefunden sein°®), zu erwägen bleibt aber, ob nicht die Kombination ch,- die wir in Böhmen, vor allem im 13. Jahrh. (doch auch schon früher) für ce und © finden, auf französische Vorbilder zurückgeht. !) Ich erschloß die Möglichkeit daraus, daß schon in den ältesten französ._ Texten z auch zur Bezeichnung des stimmhaften s vorkommt, z. B. raizon in der Passion und im hl. Leodegar, bellezour in der Eulaliasequenz. Ich werde von den: Romanisten belehrt, daß dies auch sonst nichts ganz ungewöhnliches sei. %) bei Jagic, Denkschr. d. Wiener Akademie der Wissenschaften, phil. -hist.. Classe, Bd. 50, 2. Abh.. S. 35. 2) Vgl. die altfrz. Texte und das deutsche Ludwigslied. IV. Abteilung. Sektion für neuere Philologie. 39 Am 21.Dezember: Vortrag des Herrn Prof. Levin L. Schücking: Wann entstand der Beowulf ? Als Sekretäre sind gewählt worden die Herren: Diels, Koch, Schücking, Appel, der letztere zugleich als Delegierter für das Präsidium. AT Hin) schlesische Gesellschait für valerländisehe Gultur. CHF - 94. | V. Abteilung. Jahresbericht. | b. Philosophisch - psychologische 1916. | Sektion. ©&x aRER x 2,6 Sitzungen der Pbilosophisch-psychologischen Sektion im Jahre 1916. Sitzung am 17. Februar (gemeinsam mit der orientalisch-sprachwissenschaftlichen Sektion). 1. Vortrag des Herrn Professor Dr. Stern: Kindersprache und Sprachpsychologie. 2. Diskussion. Sıtzume ann 25, Kebruar (gemeinsam mit der philologisch-archäologischen Sektion). 1. Vortrag des Herrn Oberlehrer Dr. Stenzel: Literarische Form und philosophischer Gehalt des platonischen Dialoges. (Abgedruckt in der philologisch-archäologischen Sektion.) 2. Diskussion. Sitzung am 8. März. i. Vortrag des Herrn Dr. Ludwig Cohn: Beiträge zur Blinden-Psychologie nach persönlichen Beobachtungen. 2. Diskussion. Sitzung am 19. Juli. Vortrag des Herrn Dr. Hans Honigmann: Methoden zur Erforschung von Licht- und Farbensinn der Tiere. Im Jahre 1913 hatte ich Gelegenheit im physikalischen und im physiologischen Institut der Universität Breslau eine Reihe von Ver- suchen über den Farbensinn der Tiere anzustellen. Bei dieser Unter- suchung handelte es sich zunächst um ganz spezielle Probleme, deren experimentelle Lösung ich mir schon seit langem gewünscht hatte. Im Laufe dieser Versuche ergaben sich mehrere unerwartete Tatsachen, und diese Tatsachen, von denen ich dann berichten möchte, brachten mich zu ganz bestimmten Anschauungen über einige allgemeine Probleme des Farbensinns. 1916, il 2 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaierl. Culiur. Ich werde es mir daher nicht versagen können, Ihnen einen Bericht über die erwähnten Untersuchungen zu geben, da die Berechtigung der weiter zu ziehenden Folgerungen natürlich von der Richtigkeit der experimentell gefundenen Resultate abhängt. Auch auf die Methodik der Versuche muß ich eingehen, denn ‚‚die Methoden sind es, die die Re- sultate geben“, sagt Flourens, ein Satz, der in der experimentellen Physiologie ganz besonders berechtigt erscheint. — Ehe ich aber auf die Untersuchungsmethodik eingehe, möchte ich festlegen, was hier unter dem Begriffe des Farbensinns eines Tieres verstanden werden soll. — Über diesen Punkt herrscht nämlich absolut keine Einigkeit. Es gibt Forscher, die annehmen, daß man vom Farbensinn eines Tieres nür dann sprechen kann, wenn sich nachweisen läßt, daß die Liehtempfindlichkeit dieses Tieres quantitativ und qualitativ mit der des Menschen übereinstimmt. Ändere sehen ein, daß diese Forderung zu weit geht und postulieren nur, daß ein Tier mit Farbensinn die verschiedenen Strahlungen ceteris paribus ungefähr ebenso hell sieht, wie wir. Dieser Satz ist auch umgekehrt worden und man hat den Schluß gezogen, daß Tiere, die Strahlungen in demselben Helligkeitsverhältnis sehen, wie totalfarbenblinde Menschen, auch farbenblind sein müssen. — Das ist eine Anschauung, die merkwürdigerweise auch heute noch nam- hafte Anhänger hat. Sicherlich begrenzt auch diese Definition und ihre Umkehrung den Begriff des Farbensinns viel zu eng. Ich glaube, daß man sich von den eben genannten Anschauungen und ähnlichen Auffassungen des Farbensinns freimachen muß, bevor man an Probleme der vergleichenden Physiologie herangeht. All die ge- nannten Faktoren, wie die spezifische Helligkeitswirkung bestimmier Strahlen auf das normale menschliche Auge, ferner die Zahl bestimmier Grund- empfindungen und ähnliche Tatsachen, sind im Grunde doch nebensächlich und zunächst nur für den normalen Farbensinn des Menschen charakte- ristisch. — Es ist aber stets eine gewisse Gefahr, bei vergleichenden Untersuchungen vom Menschen auszugehen, eine Gefahr, die bei sinnes- physiologischen Arbeiten freilich besonders nahe liegt. Wenn wir aber einmal nur das Wesentliche ins Auge fassen, so können wir sagen: Ein Organismus besitzt dann Farbensinn, wenn er die Fähigkeit hat, qualitativ verschiedene Strahlungen ihrer Qualität nach zu unterscheiden. An dieser ganz allgemeinen Definition möchte ich zunächst festhalten. Wieviel besondere Strahlungsarten oder Farben von einander unter- schieden werden können, ist dabei vollkommen ohne Bedeutung. Ferner ist ganz gleichgültig, auf welche Weise diese Unterscheidung zustande V. Abteilung. Philosophisch-psychologische Sektion. 3 kommt. Nur auf einen Punkt ist unbedingt Wert zu legen: die Unter- scheidung der qualitativ verschiedenen Strahlungen darf nicht quantitativ, sondern muß qualitativ erfolgen — oder mit andern Worten: die Strahlungen müssen ihrer Farbe, nur ihrer Farbe nach und nicht ihrer Helliskeit nach von einander unterschieden werden, denn gerade das ist ja das Charakteristische des Farbensinns. Es genügt nämlich durchaus nicht, wenn wir sagen: ein Organismus hat Farbensinn, wenn er zwei qualitativ verschiedene Strahlungen von einander unterscheiden kann, selbst dann nicht, wenn die beiden unter- schiedenen Strahlungen objektiv gleich stark sind, d.h. gleiche Intensität oder gleiches Wärmeäquivalent haben. Ein totalfarbenblinder Mensch nämlich kann oft sehr wohl das, was wir verschiedene Farben nennen, von einander unterscheiden, aber nicht, weil sie ihm qualitativ verschieden erscheinen, sondern weil er sie verschieden hell sieht. Und das kann ein Totalfarbenblinder auch dann, wenn die beiden qualitativ verschiedenen Strahlungen objektiv gleich stark sind! Das liegt natürlich daran, daß auch der Totalfarbenblinde für Strahlungen verschiedener Wellenlänge verschieden empfindlich ist, obgleich er subjektiv nur Quanti- täten, also Helligkeitsunterschiede, und keine Qualitäten oder Farben unter- scheiden kann. Ich erwähne das nur, weil die irrige Anschauung weit verbreitet ist, daß Strahlungen auf Totalfarbenblinde nur ihrer objektiven Quantität, also ihrer Intensität, nach wirken. Das ist aber nun einmal nicht der Fall, sondern die verschiedenen Strahlen wirken eben, obgleich sie subjektiv nur quantitativ wirken, doch nicht nur ihrer objektiven Quantität, sondern auch ihrer objektiven Qualität nach. — Für die Untersuchung des Farbensinns der Tiere können wir aus diesen Tatsachen wichtige Schlüsse ziehen. Wenn wir nämlich feststellen wollen, ob Strahlen verschiedener Schwingungsdauer einem Tiere qualitativ verschieden erscheinen, so müssen wir natürlich unbedingt die Möglichkeit ausschalten, daß hier die subjektive Quantität der Strahlung, also die Helligkeit, eine entscheidende Rolle spielt. Das ist die conditio sine qua non für alle Untersuchungen des Farbensinns. Es ist ganz lehrreich, einmal zu verfolgen, wie im Laufe der Jahre die Forscher, die sich mit diesen Problemen beschäftigten, diese Grund- bedinsung mehr oder weniger bewußt vernachlässigt haben. Die älteren Autoren ziehen sie überhaupt nicht in Betracht: sie suchen z. B, einfach festzustellen, ob ein Tier zwei qualitativ verschiedene Strahlungen unter- scheiden kann und kommen sie dann zu positiven Ergebnissen, so glauben sie, bei dem betreffenden Tiere Farbensinn nachgewiesen zu haben, während in Wirklichkeit vielleicht ganz und gar keine Unterschiede der Farbe, sondern Ä 1* 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. nur Helligkeitsdifferenzen vorhanden waren. Neuere Forscher sind dann allmählich zu der Überzeugung gekommen, daß die Dinge doch nicht so einfach liegen. — Um zu vermeiden, daß zwei Farben ihrer Helligkeit nach unterschieden werden, hat man sich dann so zu helfen gesucht, daß man die Helligkeit einer der beiden Strahlungen variierte. Sollte z. B. fest- gestellt werden, ob Rot und Blau als Farben von einander unterschieden werden könnten, so benutzte man etwa ein bestimmtes Rot, aber Blau in allen möglichen Helligkeitsabstufungen. Damit sollte nun die oben an- gedeutete Fehlerquelle beseitigt sein. — Der Gedankengang dabei ist offenbar folgender: unter den ganz verschieden hellen blauen Strahlungen muß doch eine sein, die gleich hell ist, wie die bestimmte rote Strahlung. Unterscheidet das Tier nun ein bestimmtes Rot von allen benutzten blauen Strahlungen, so kann hier nicht mehr die Helligkeitswirkung, sondern nur die Farbwirkung ausschlaggebend sein. Diese Folgerung wäre ganz richtig, wenn wir irgend einen Anhalts- punkt dafür hätten, daß bei diesem Experiment — um beim konkreten Beispiel zu bleiben — wirklich ein Blau dem Vergleichsrot gleich hell erscheint, und zwar natürlich dem Tiere. Das ist aber von vornherein ganz unbewiesen, denn wir wissen ja eben, wie immer wieder betont werden muß, zunächst absolut nicht, wie hell ein Tier eine bestimmte Strahlung sieht. Wir sehen also, daß man auf diesem Wege nicht weiter kommt. Es hat natürlich immer Forscher gegeben, die von vornherein einge- sehen haben, daß man die beiden Komponenten der Lichtwirkung gesondert untersuchen muß, daß man also Helligkeitssinn — wenn ich diesen Aus- druck einführen dar? — daß man also Helligkeitssinn und Farbensinn gesondert untersuchen muß, wenn man den Lichtsinn eines Tieres er- forschen will. Da nun nach der vorhin gegebenen Definition kurz gesagt Helligkeits- sinn ohne Farbensinn bestehen kann, nicht aber das Umgekehrte, so ist nicht zu umgehen, daß man zuerst den Helliskeitssinn und dann erst den Farbensinn eines Tieres untersucht. Das ist eine Forderung, die immer und immer wieder nachdrücklich erhoben werden muß. Es fragt sich nun, wie wir am besten zu Aufschlüssen über den Helligkeitssinn eines Tieres kommen. — Die Gesamtheit der Methoden, die hier zum Ziele führen, kann man nach ihrem Untersuchungsprinzip in zwei große Gruppen einteilen, nämlich erstens in solche, bei denen die Stärke der Lichtempfindung an objektiv unmittelbar wahrnehmbaren Re- aktionen gemessen werden kann, und zweitens in solche, bei denen die Empfindungsstärke indirekt aus Handlungen des Tieres erschlossen wird, V. Abteilung. Philosophisch-psychologische Sektion. b) aus Handlungen, die mehr oder weniger vom Willen abhängen oder von ihm beeinflußt werden. Zunächst machen wohl die erstgenannten Methoden den Eindruck größerer Korrektheit. Es gibt nun eine ganze Reihe von Reaktionen, die hier als Kriterien in Betracht kommen, und das sind z. B. die Änderung der Pupillenweite bei wechselnder Helligkeit, ferner die Änderungen im mikroskopischen Bilde der Netzhaut und schließlich noch das Auftreten elektrischer Ströme in der Netzhaut, der sogenannten Aktionsströme. All das sind Reaktionen, mit deren Hilfe eine große Zahl von Arbeiten die Wirkung von Licht auf den tierischen Organismus zu ermitteln ver- sucht hat. — Aus Zeitmangel kann ich hier leider auf diese zum Teil hochinteressanten Versuche nicht näher eingehen. Ohne übrigens im geringsten die Berechtigung und den Wert dieser „objektiven‘‘ Methoden anzuzweifeln, die zuweilen unersetzlich sind, so kann man doch sagen, daß sie sämtlich (infolge technischer Schwierig- keiten) für feinere Messungen nieht recht brauchbar sind, vor allem nicht für vergleichende Untersuchungen, da man natürlich meist nur relative Werte erhält. Zu diesem Zweck muß man also zu prinzipiell neuen Methoden seine Zuflucht nehmen, nämlich zu solchen, wo Handlungen des Tieres als Ausdruck der Reizwirkung beobachtet werden. Dieser indirekte und theoretisch viel kompliziertere Weg, der das Psychische mit in die Ver- suchsanordnung hineinzieht, wenn ich so sagen darf, ergibt bei sorgfältiger und kritischer Handhabung doch viel feinere Resultate, als die bisher genannten objektiven Methoden, was zunächst gewiß überrascht. Die ersten tastenden Versuche auf diesem Gebiete sind allerdings so kritiklos angestellt worden, daß ihre Resultate für die wissenschaftliche Beurteilung des Farbensinns völlig wertlos sind. Das gilt zunächst für die meisten Versuche, bei denen Bewegungsreaktionen des ganzen Tieres als Kriterium der Empfindungsstärke gewählt wurden. Zu erwähnen sind an dieser Stelle z. B. die alten, sogenannten. „Zweikammerversuche“ von Vitus Graber. Heute haben sie freilich nur noch historisches Interesse, denn man kann daran zeigen, zu was für falschen Schlüssen man kommt, wenn man es unterläßt, sich durch sorg- fälige Kontrolle von der Eindeutigkeit der festgestellten Ergebnisse zu überzeugen. Graber setzte Frösche und andere Amphibien in einen Behälter, der aus 2 Abteilen oder Kammern .bestand, die durch eine weite Öffnung in Verbindung standen. Die eine Kammer war rot, die andere blau beleuchtet. Aus Vorversuchen schloß Graber nun, daß Frösche lieber ins Dunkle gehen, als ins Helle. — War nun eine Kammer mit Blau beleuchtet und die andere mit einem Rot, das — wie der Verfasser sagt — für uns 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. heller war als das Blau, so fanden sich nach einer Viertelstunde doch fast immer mehr Frösche im roten Teil des Kastens, als im blauen. — Graber schloß aus seinen Versuchen, daß die von ihm beobachteten Tiere erstens einmal Farben unterscheiden könnten und zweitens, daß sie für bestimmte Farben eine Vorliebe hätten. So gibt Graber direkt an, daß ‚Rot die absolute Lieblingsfarbe für Frösche sei, Blau die absolute Widrigkeitsfarbe etec.“. Ich brauche wohl nicht erst zu sagen, daß hier eine völlige Ver- kennung des Problems vorliegt. Es ist ja bei diesen und vielen anderen Versuchen durch nichts bewiesen, daß der spezifische Farbwert oder sagen wir lieber die Wellenlänge der Strahlung einen bestimmenden Einfluß auf die untersuchten Tiere hatte. Wir können also auch diese Versuche, über die sich noch viel kritisches sagen ließe, beiseite lassen und wenden uns zu einer Reihe von Arbeiten, die Carl v. Heß in den letzten 10 Jahren ausgeführt hat. Dieser Forscher, der zum ersten Mal systematisch exakte ver- gleichende Untersuchungen in großem Stil angestellt hat, verwandte unter anderm zur Erforschung des Helligkeitssinns eines Tieres die Methode der Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit von Futter, also eine Schwellenwert- methode. Die Versuche, die mit Wirbeltieren aller Klassen und auch mit Wirbellosen angestellt wurden, sind in zweierlei Weise ausgeführt worden: einmal nämlich beleuchtete v. Heß eine Menge von hellem Futter auf dunklem Grunde mit einem Spektrum, und zweitens untersuchte er zum ersten Mal messend das Adaptationsvermögen seiner Versuchstiere, d. h. die Fähigkeit, die Empfindlichkeit der Netzhaut der herrschenden mittleren Helligkeit anzupassen. Diese letzten Versuche wurden allerdings mit unzureichenden Mitteln unternommen. Bei den Experimenten, die zur Untersuchung der Helligkeitswirkung verschiedener Lichter angestellt wurden, befanden sich Tier und Beobachter zusammen in einem absolut dunklen Raum. Nun wurde das Futter, z. B. eine Menge Weizenkörner, mit einem für uns mäßig hellen prismatischen Spektrum beleuchtet, so daß also ein Teil der Körner im Dunkeln blieb, ein anderer Teil aber in allen Farben des Spektrums erschien. Das Versuchstier wurde jetzt dazu gesetzt und man konnte nun zunächst einmal feststellen, ob die Grenzen der Sichtbarkeit im Rot und Violett für die Tiere dieselben waren, wie für uns. Bei der Untersuchung von Säugetieren und Amphibien war auch kein Unterschied zu konstatieren. Affen z. B. fraßen diejenigen Körner, die auch uns hell erschienen und ließen die liegen, die für uns dunkel waren. Ganz andere und prinzipiell sehr wichtige Resultate ergaben sich aber bei der Untersuchung von Vögeln und Reptilien. V. Abteilung. Philosophisch-psychologische Sektion. 7 Hühner und Tauben nämlich fraßen zwar, wie v, Heß angibt, alle Körner im Rot, Gelb und Grün, ließen aber im Blau und Violett die Körner liegen, auch wenn sie für das menschliche, gleichfalls helladaptierte Auge, ohne Schwierigkeit sichtbar waren. Diese Tatsache beweist, daß das Auge der untersuchten Tagvögel für blaue und violette Strahlen weniger empfindlich ist, als das des Menschen und anderer Säugetiere. — Das gleiche gilt übrigens, nur in noch höherem Grade, auch für Reptilien, die also für kurzwellige Strahlen relativ noch weniger empfindlich sind, als Vögel. Überblicken wir noch einmal die Ergebnisse der Heß’schen Forschungen, deren hervorragende Bedeutung hier leider durchaus nicht genügend ge- würdigt werden kann, so darf man sagen: „Säugetiere und Amphibien sehen die Welt der Farben ebenso oder ähnlich wie wir, Vögel und Reptilien aber sehen alle blauen und violetten Farben relativ viel dunkler, als der Mensch.‘ Die grundlegenden Versuche von Heß lehren zweierlei: einmal die Verwertbarkeit seiner Methoden zur vergleichenden Untersuchung des Helliekeitssinns von Tier und Mensch, wobei sich prinzipiell neues ergeben hat; und zweitens zeigen sie, wie wichtig es ist, auf die adaptiven Vor- sänge gleichzeitig den größten Wert zu legen. Diese Punkte waren für mich maßgebend, als ich mit meinen Experi- menten an Tagvögeln begann. Ich wollte mich zunächst einmal von der Richtigkeit der oben genannten Angaben überzeugen und, wenn möglich, die so gewonnenen Anschauungen erweitern. Vor allem aber lag mir daran, eine möglichst exakte Versuchsmethodik auszuarbeiten, um überhaupt einmal festzustellen, was sich alles auf diesem Wege erreichen ließe. Die Versuchsanordnung, die ich natürlich nur ganz kurz schildern kann, war. folgende: Durch das Licht eines Nernstbrenners wurde in üblicher Weise ver- mittelst Linsensystemen, Spalt und Prisma ein objektives Dispersions- ‚spektrum erzeugt, das auf einer von der Lichtquelle etwa 3 m entfernten vertikalen Ebene entworfen wurde. In dieser Ebene war ein mattschwarzes Blech mit einem vertikalen Spalt verschiebbar und gestattete, Licht von verschiedener Farbe aus dem Spektrum auszublenden. Dieses praktisch homogene Licht ging also durch den zuletzt genannten Spalt in horizontaler Richtung weiter und fiel auf einen Spiegel, der es schräg nach unten reflektierie, wo es schließlich das auf einer Tischfläche ausgestreute Futter diffus beleuchtete. Die Ausblendung einer bestimmten Strahlung aus der Gesamtheit des Spektrums hatte übrigens seine ganz bestimmten Gründe. Wenn man, 3 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. wie üblich, ein ganzes Spektrum benutzt, so kann natürlich die jeweilig hellste im Spektrum vorhandene Strahlung die Empfindlichkeit für weniger helle herabdrücken, eine Tatsache, die eine exakte Messung von Schwellen- werten natürlich unmöglich macht, und die oft vernachlässigt wird. lm Strahlengang meines Apparats befand sich nun noch eine Vor- richtung, die gestattete, die Intensität des Lichts in feiner Abstufung und ganz allmählich zu verändern, nämlich ein Paar Nicolscher Prismen, deren eines durch ein Uhrwerk in ganz langsame und gleichmäßige Drehung versetzt werden konnte. Die Qualität, also die Wellenlänge der jeweils ausgeblendeten Lichter war natürlich durch Eichung genau festgestellt worden. — Die ganze Vorrichtung befand sich in einem völlig lichtdichten Kasten und gestattete, Futter mit einem Streifen Licht von beliebiger Farbe zu beleuchten, dessen Intensität allmählich und in relativ weiten Grenzen variiert werden konnte. Auf einen Punkt ist noch Wert zu legen: die Quantitäten der als Reiz verwendeten Strahlungen wurden nicht nur relativ im Vergleich zur menschlichen Helligkeitsempfindung, sondern als wahre Intensitätsverhält- nisse ermittelt, d. h. es wurde das wahre energetische Verhältnis der Strahlen zu einander festgestellt. Im allgemeinen herrschen ja in dieser Beziehung innerhalb eines kontinuierlichen Dispersionsspektrums starke Unterschiede; ein roter Teil des Spektrums hat eine weit größere Inten- sität als ein gleich großer blauer Bezirk und zwar aus zwei verschiedenen Gründen: im Dispersionsspektrum ist das Blau weiter auseinander gebrochen als das Rot und außerdem ist das Energieverhältnis auch im Normal- spektrum der Nernstlampe so, daß rote Strahlungen den blauen weit über- legen sind; beide Faktoren wirken also in dem gleichen Sinne, daß Blau gegenüber Rot im Nachteil ist. Auch bei der Reflexion der Strahlen an der Oberfläche der Körner konnte natürlich noch eine Selektivität vorhanden sein, d. h. das scheinbar rein weiße Futter konnte Strahlen einer bestimmten Wellenlänge mehr reflektieren, als andere. Ich benutzte als Futter stets rohe, ungekochte möglichst große Reiskörner, die auf den unhefangenen Beobachter einen völlig weißen Eindruck machten. Um ganz sicher zu gehen, habe ich das Reflektionsvermögen dieser Reiskörner spektrophotometrisch untersucht und gefunden, daß doch durchaus nicht alle Strahlen gleich stark reflektiert werden, sondern daß rote und besonders grüne Strahlen mehr reflektiert werden als kurzwellige, die am stärksten absorbiert werden. Diese Ergeb- nisse wurden natürlich berücksichtigt. Vielleicht erscheint die Genauigkeit, mit der die physikalischen Kon- stanten der Versuchsanordnung ermittelt wurde, übertrieben und infolge- dessen sinnlos. Denn es hat ja gar keinen Zweck, die Messung der Reiz- stärke, also der Strahlungsintensität, unverhältnismässig feiner zu gestalten, als die Messung der Empfindungsstärke, also des jeweils ausgelösten Hellig- V, Abteilung. Philosophisch-psychologische Sektion. 9 keitseindrucks des Tieres. Ich hatte mir aber zum Prinzip gemacht, zu- nächst die Messungen so fein als möglich anzustellen und dann sukzessive diejenigen Faktoren der Messung wegzulassen, die keinen nachweisbaren Einfluß auf die Resultate hatten. So wurde z. B. zuerst auch die Strom- stärke der Nernstlampe vermittelst Voltmeter und Regulierwiderstand konstant gehalten; als sich aber zeigte, daß die geringen auftretenden Schwankungen die Ergebnisse nicht beeinflußten, wurde diese Regulierung natürlich wieder aufgegeben. — So wurde also festgestellt, welche Faktoren bei der Messung noch zu berücksichtigen waren und welche vernachlässigt werden konnten. Ich komme nun zur Ausführung der Versuche, die so vor sich gehen sollten, daß die betreffenden Tiere zunächst ganz im Dunkeln waren; dann sollte die Intensität der Strahlung ganz allmählich gesteigert werden, bis ein Lichtstreifen einen Teil der Reiskörner auf schwarzem Untergrunde so hell beleuchtete, dass die Tiere ihn grade wahrnehmen und aufpicken konnten. Zunächst kaufte ich mir eine Anzahl junger Hühner und gewöhnte diese daran, im dunkeln Zimmer aus einem Haufen Körner einen schwach belichteten Streifen herauszupicken. Die Hühner lernten in etwa 10—14 Tagen ihre Aufgabe, d. h. zunächst nur das Fressen des in irgend einer Farbe hellbeleuchteten Streifens in dem sonst ganz dunkeln Zimmer, immerhin also eine für Hühner ungewöhnliche Leistung, Leider lernten die Hühner bald noch mehr, als sie sollten: sie merkten nämlich, daß immer noch im Dunkeln Körner lagen, wenn sie die beleuch- teten schon gefressen hatten und zwar fühlten sie das offenbar mit ihren Füßen — der Geruchssinn kam nicht in Frage, wie sich dann zeigen wird. Die meisten Vögel können ja auch so gut wie gar nicht riechen. Da die Hühner nun im Dunkeln die Körner fühlten, die sie nicht sahen und deshalb nicht aufpicken konnten, so kamen sie auf die gute Idee, sich Körner aus dem Dunkeln ins Helle zu scharren, wo sie sie dann leicht aufpicken konnten. Ich will mit diesen Worten natürlich nicht im geringsten eher, daß dieses Scharren ein bewußtes, zweckmäßiges Handeln bedeutete; aber soviel steht fest; es war für die Hühner zweckgemäß und für mich war es das Gegenteil, denn es machte meine Versuchsanordnung illusorisch: die Hühner sollten ja gerade dann aufhören zu fressen, wenn die Licht- reize für sie aufhörten. Ich mußte also unbedingt ein Mittel finden, um das Scharren der Hühner zu verhindern. Zunächst versuchte ich es damit, die Hühner im Dunkeln auf eine Stange zu setzen und von da aus picken zu lassen. Anfangs hatte diese Maßnahme auch Erfolg, da die Hühner im Dunkeln ‚meist dort sitzen bleiben, wo man sie hinsetzt, denn der Gesichtssinn dominiert bei ihnen fast völlig. Als sie aber einmal gemerkt hatten, daß der Abstand der 10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Culiur. Stange von der Tischplatte nur gering war, blieben sie auch im Dunkeln nicht mehr auf der Stange sitzen, sondern sprangen herab und scharrten wieder. Ebenso wenig konnte ich sie am Scharren verhindern, indem ich sie durch ein weitmaschiges Drahtnetz hindurch picken ließ. Ich sah also ein, daß das Scharren an und für sich nicht verhindert werden konnte. Infolgedessen mußte wenigstens seine Wirkung unschädlich gemacht werden und zu diesem Zweck benutzte ich einen Kunstgriff, der dann nun auch endlich zum Ziele führte. Ich bohrte mir in ein Holzbrett ganz regellos zahlreiche kleine halb- kugelige Vertiefungen von etwa 1 cm Durchmesser und legte nun in jedes dieser Löcher ein Reiskorn. Das ganze Brett war natürlich mattschwarz. Die Hühner mußten nun die Reiskörner aus diesen Vertiefungen heraus- picken. Waren sie mit den beleuchteten Körnern fertig und wollten sie jetzt scharren, so half das natürlich nichts, da ja die übrigen Körner in den Vertiefungen lagen und sie daher darüber weg scharrten, ohne sie zu erreichen. So war das schwierige Problem endlich gelöst. — Ich erzähle das nur deshalb so ausführlich, damit Sie sehen, was für Kleinigkeiten unter Umständen beim Tierexperiment eine störende Rolle spielen können, Bemerkenswert ist übrigens, daß die Hühner jetzt, als sie die stete Erfolglosigkeit ihres Scharrens merkten, es nach einigen Tagen ganz von selbst einstellien. — Nun war ich endlich so weit, daß ich mit den eigentlichen Messungen anfangen konnte. Diese wurden nun folgendermaßen vorgenommen: ein Huhn wurde zunächst in einem Gitterkäfig 5 Minuten lang dem Tageslicht — aber nicht dem direkten Sonnenlicht — ausgesetzt, um eine gleich- mäßige Helladaptation zu erzielen, Dann wurde das Tier auf den Versuchs- tisch gesetzt, das Zimmer sofort völlig verdunkelt und durch einen Hebel das Uhrwerk in Gang gesetzt, das zur Drehung des Nicolschen Prismas diente. Die beiden Nicols standen zunächst gekreuzt, d. h. es war alles absolut dunkel. Ganz langsam aber wurde nun ein schwacher ‚weißlicher‘“ Lichtstreifen sichtbar, in dem bald einzelne Körner unterschieden werden konnten. Wurde nun z. B. grünes Licht benutzt, so dauerte es gar nicht lange, bis auch das Huhn zu sehen und infolgedessen zu picken begann. Sobald das der Fall war, wurde das Uhrwerk zum Stillstand gebracht, noch einige Sekunden gewartet, bis die „Lichtlinie“ ausgepickt war und dann das Huhn entfernt. Jetzt wurde wieder Licht gemacht und zunächst einmal nachgesehen, ob der Streifen gut oder schlecht, d. h. deutlich oder undeutlich ausgefressen war. War es zu deutlich, so bewies das, daß die benutzte Helligkeit überschwellig gewesen war. All dies wurde jedesmal notiert und dann erst wurde festgestellt, bis zu welchem Grade das Nicolprisma gedreht worden war, als das Picken begann. Die Gradstellung, und ferner die Zeit vom Beginn des Versuchs V. Abteilung. Philosophisch-psychologische Sektion. al bis zum Beginn des Pickens wurde natürlich auch stets notiert. — Im ganzen wurden über 2000 solcher Messungen ausgeführt. An dieser Stelle möchte ich ein psychologisch interessantes Faktum erwähnen, welches zeigt, daß wir es bei solcher Untersuchung nicht mit bloßen Reflexautomaten, sondern mit lebenden Tieren zu tun haben. Es zeigte sich nämlich, daß immer die ersten Versuche an jedem Tage eine scheinbar zu geringe Empfindlichkeit angaben, d. h.: beim ersten und oft auch noch beim zweiten Versuch fingen die Tiere zu spät, also erst bei zu großer Helligkeit, zu fressen an. Vom dritten oder vierten Versuch.an waren dann die Resultate konstant. Dasselbe zeigte sich auch im Verlaufe der Versuche, wenn die Tiere Mißerfolge gehabt, d. h. erfolglos gepickt. hatten. — Ich kann mir nur vorstellen, daß es sich hier um Hemmungen psychischer Art handelt; die Tiere waren in dem einen Fall sozusagen noch schüchtern, und im zweiten enttäuscht und entmutigt. Ich habe dann, weil dies Versagen ja auch praktisch sehr störend war, mir dadurch zu helfen versucht, daß ich von Zeit zu Zeit sogenannte „‚Ermunterungs- fütterungen‘ einschob, d. h. die Tiere bei stark überschwelliger Helligkeit ihre Reislinie auspicken ließ. Dieser Kunstgriff hat denn auch stets die genannte Schwierigkeit behoben. — Später habe ich dann jeden Tag die Versuche mit je 1—2 solcher ‚„Ermunterungsfütterungen‘‘ begonnen und dann auch Resultate von befriedigender Übereinstimmung erhalten. Außer diesen Versuchen, bei denen ich den Schwellenwert der Hellig- keit verschieden brechbarer Strahlen für das helladaptierte Auge ermittelte, und zwar in der Regel für 12 verschiedene Spektralbezirke, wurden noch solche angestellt, die den Umfang und den Verlauf der adaptiven Vorgänge im Vogelauge ermitteln sollten. Ich habe zu diesem Zweck einen bisher nicht üblichen Weg ein- geschlagen. Man benutzt gewöhnlich zur Feststellung der Empfindlichkeits- Zu- oder Abnahme weißes Licht, dessen Stärke variiert werden kann. Nun geht ja aber schon aus dem so bekannten Purkinje-Phänomen hervor, daß die Empfindlichkeitszunahme des Auges nicht nur von der Zeit des Dunkelaufenthaltes abhängt, sondern auch von der Qualität, also der Wellen- länge oder „Farbe“ des Lichts. Das Purkinje-Phänomen enthält also schon implicite den Beweis dafür, daß die Empfindlichkeit für die eine Lichtart schneller zunehmen muß, als für die andere. Untersuchen wir nun immer nur die Empfindlichkeitszunahme für weißes Licht, also gemischtes Licht verschiedener Brechbarkeit, so kommen wir natürlich niemals zu einer deutlichen Analyse der sich hier abspielenden Vorgänge. Es ist also meines Erachtens unbedingt nötig, daß man die Empfindlichkeitszunahme für ver- schiedene homogene Lichter untersucht, also feststellt, wie schnell und wie stark die Empfindlichkeit z. B. für ein bestimmtes Rot, Blau oder Grün ete. zunimmt. 13 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Merkwürdigerweise scheint noch niemand auf diese Idee gekommen zu sein; in der physiologisch-optischen Literatur habe ich jedenfalls bisher vergebens nach solchen Messungen gesucht, Zum Schluß bitte ich noch auf die Resultate der Arbeit etwas ein- gehen zu dürfen, aus denen ich 3 Punkte herausgreifen will. — Bei der Ermittlung der Schwellenwerte für helladaptierte Hühner er- gab sich zunächst mit voller Klarheit die Richtigkeit der Heßschen Angaben über die relative Unterempfindlichkeit der Hühner für blaue und violette Strahlungen. Die Hühner begannen hier erst zu picken, wenn die Körner für uns schon längst sichtbar waren und eine erheblich überschwellige Helligkeit hatten. Bei den ersten Untersuchungen mit langwelligen Strahlen ergab sich aber außerdem etwas völlig neues und unerwartetes. Der Versuch hatte kaum begonnen und für mich war noch alles absolut dunkel, da begann das Huhn schon zu picken und zwar nicht tastend, sondern ganz sicher. Ich arretierte sofort das Uhrwerk und entfernte das Tier — dann machte ich Licht und sah zu meiner großen Überraschung, daß ein Streifen Körner sauber und fehlerlos ausgefressen war. — Wiederholte Versuche gaben stets dasselbe Resultat und damit den Beweis, daß Hühner für rote Strahlungen weit empfindlicher sind, als Menschen. — Vielleicht erscheint diese neue Tatsache der Überempfindlichkeit im Rot manchem nur ein Analogon zu der schon bekannten Unterempfind- lichkeit der Hühner für kurzwellige blaue und violette Strahlungen. Aber es handelt sich hier doch um etwas prinzipiell anderes und neues. Die Unterempfindlichkeit für blaue Strahlungen ist nach allem, was wir bisher wissen, zum größten Teil rein physikalisch zu erklären, nämlich durch Absorption. In der Netzhaut der Vögel und Reptilien finden sich nämlich mikroskopisch kleine, rot und gelb gefärbte Ölkugeln und zwar immer zwischen Innen- und Außenglied der Zapfen, also der farbenempfind- lichen Elemente der Netzhaut. Neuere Untersuchungen (v. Heß) haben nun den Nachweis erbracht, daß die Außenglieder als eigentliche Reizempfänger zu betrachten sind und die Ölkugeln sind meines Erachtens nicht etwa Sensibilatoren, wie manche Autoren annehmen, sondern im wesentlichen nichts anderes als Lichtfilter, die die Zapfenaußenglieder vor kurzwelligem Licht schützen, indem sie es absorbieren. Es ist klar, daß eine entsprechende Erklärung für die Überempfind- lichkeit nicht gegeben werden kann. Wir können eben nur annehmen, daß hier die perzipierenden Netzhautelemente weit empfindlicher sind, als die unsrigen, daß hier also wirklich biologische Unterschiede bestehen, die V. Abteilung. Philosophisch-psychologische Sektion. 13 allerdings auch durch die Anzahl der verschiedenen Netzhautelemente mit bedingt erscheinen. — Eine zweite, ganz unerwartete Tatsache konnte festgestellt werden, als meine Versuchstiere ausgewachsen und geschlechtsreif geworden waren. Die im Frühjahr gekauften jungen Hühner waren etwa im Oktober er- wachsen, was sie unter anderm dadurch ad aures demonstrierten, daß sie zu krähen begannen: es waren nämlich zufällig sämtlich Hähne. Zu dieser Zeit ergab sich also etwas höchst merkwürdiges: innerhalb weniger Tage sank die Empfindlichkeit für grüne und blaue Strahlen deutlich herab und blieb von da ab auch so. Mit andern Worten: die im Vergleich zum Menschen bestehende Unterempfindlichkeit für kurzwellige Strahlen war jetzt noch beträchtlich gesteigert. Das allermerkwürdigste war aber, daß nicht etwa die gesamte Empfindlichkeit abgenommen hatte, denn für rotes Licht war die Empfindlichkeit gleich geblieben. — Diese Beobachtung erschien mir so merkwürdig, daß ich — um ganz sicher zu geken — mir nochmals junge Hähnchen kaufte und nun gleichzeitig mit jungen und alten Tieren abwechselnd experimentierte. Aber da zeigte sich erst recht aufs deutlichste der Unterschied: für rotes Licht waren alte und junge Tiere gleich empfindlich, im gelben Licht waren die ausgewach- senen Tiere schon den jungen gegenüber im Nachteil, im grünen Licht noch mehr usw. An der Tatsache war also nicht mehr zu zweifeln — und der Umstand, daß die Empfindlichkeit für Rot gleich geblieben war, machte es sehr wahrscheinlich, daß weder das Zentralorgan, noch die Zapfen der Netzhaut, sondern vielmehr wieder ein physikalischer Faktor für diese Empfindlich- keitsänderung wesentlich in Betracht kam. Es lag am nächsten, wieder an die farbigen Ölkugeln zu denken. Zweierlei war möglich: entweder war die Zahl der Ölkugeln vermehrt, oder sie absorbierten jetzt aus irgend einem Grunde mehr, als früher, Ich habe daraufhin etwa 50—60 Netzhäute von eben geschlachteten Hähnen untersucht (natürlich noch vor dem Kriege) und zunächst einmal festgestellt, daß die Zahl der Ölkugeln jedenfalls keine Rolle spielt. Sie varliert immer sehr stark und ist z. B. je nach der Lage der Netzhautpartie im Auge ganz verschieden. Nahm ich nun aber entsprechende Netzhautstücke von jungen und ausgewachsenen Hähnen, so sah ich sofort einen Unterschied: bei den aus- gewachsenen Hähnen waren die Ölkugeln dunkler und, wie ich glaube, auch größer als bei jungen Tieren. Dabei ist aber nötig, daß man in beiden Fällen zentrale Netzhautstücke nimmt, denn die periphere Netzhaut junger Tiere erinnert zuweilen in ihrem Bau an die zentrale Retina aus- gewachsener Exemplare. Man kann sich also vorstellen, daß diese Um- wandlung — das Dunkler- und vielleicht Größerwerden der Ölkugeln — 14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Caultur. von der Peripherie ausgeht, um dann relatıy plötzlich auch in zentralen Partien der Netzhaut aufzutreten. Jedenfalls halte ich es für durchaus möglich, daß das Dunklerwerden der Ölkugeln bei geschlechtsreifen Tieren die genannte Empfindlichkeits- änderung hervorbringt. Es erklärt auch ohne weiteres, warum die Empfind- lichkeit für rotes Licht unverändert bleibt. Ich muß aber doch betonen, daß diese Erklärung nur eine Hypothese ist, die noch weiterer Untersuchungen bedarf, während die Tatsache der Empfindliehkeitsänderung selbst feststeht. Ich komme nun zum dritten und letzten Punkt meiner Versuchsergeb- nisse, und das sind die Resultate, die sich bei der Beobachtung der Adap- tionsvorgänge ergeben haben. — Vorhin wurde schon erwähnt, daß ich den Vorgang nicht unter Anwendung weißen Lichts untersuchte, sondern unter Benutzung verschiedener homogener Strahlungen. Die Ergebnisse der Messungen, für die sich Tagvögel aus bald zu erörternden Gründen ganz besonders gut eignen, habe ich in Kurvenform dargestellt, da man so am besten eine Übersicht über die scheinbar höchst komplizierten, in Wirklichkeit aber unschwer zu analysierenden Vorgänge erhält. — Handelt es sich bloß darum, die Empfindlichkeit für verschiedene Strahlungen während eines Zeitpunktes graphisch darzustellen, so trägt man natürlich einfach die gefundenen Empfindlichkeitswerte in ein Koordinatensystem ein, wo die Abszissenachse die Wellenlänge der Strahlung, die Ordinatenachse den Grad der Empfindlichkeit angibt. In dieser Weise habe ich 2 Kurven der Empfindlichkeit hergestelit, die sich auf die einigermaßen stationären Zustände der Helladaptation bei Tageslicht und der Dunkeladap- tation nach 10stündigem Aufenthalt im Dunkeln beziehen. Jede dieser Kurven spaltet sich nach dem kurzwelligen Ende hin, und das bedeutet eben die Verschiedenheit der Empfindlichkeit junger und alter Tiere.e. Wenn man nun nach demselben Prinzip noch außerdem die Ab- hängigkeit der Empfindlichkeit von der Zeit darstellen wollte, so müßte man Kurven herstellen, die nicht mehr in einer Ebene lägen, was aus praktischen Gründen natürlich nicht geht. Ich habe mir deshalb damit geholfen, daß ich ein neues Koordinaten- system einführte. Hier bedeutet die Höhe der Kurve wieder die Empfind- lichkeit, aber die Abszissenachse gibt jetzt die Zeit an. In dieses Sysiem sind nun 6 verschiedene Kurven eingetragen, die der Empfindlichkeit für Licht von 6 verschiedenen Wellenlängen während der Adaptierung ent- sprechen. Der Einfachheit halber sind die Kurven in den Farben gezeichnet, für die ihre Empfindlichkeit gilt, also die Kurven der Empfindlichkeit für rotes Licht mit roter Tinte usw. — Dieses Kurvensystem gestattet abzu- lesen, wie groß die Empfindlichkeit für eine beliebige Strahlung in jedem beliebigen Stadium der Dunkeladaptierung ist. — V. Abteilung. Philosophisch-psychologische Sektion. 15 Betrachten wir nun die Gesamtheit dieser Kurven, so ist es nicht schwer, eine Reihe von Rätseln zu lösen, die bisher keinem ordnenden Prinzip zugänglich waren. Zunächst fällt auf, daß für eine bestimmte Strahlung, nämlich grünes Licht von 540 wu Wellenlänge, zu allen Zeiten maximale Empfindlichkeit herrscht. Die Kurve dafür liegt also stets über allen andern und wird von keiner anderen geschnitten. Die anderen Kurven aber gehen scheinbar regellos durcheinander und kreuzen sich mehrfach. Aber nur scheinbar ist diese Regellosigkeit, und um sie zu entwirren, müssen wir die Gesamtheit der Adaptationskurven in 2 Gruppen zerlegen, nämlich erstens in die Kurven der Empfindlichkeit für Strahlungen, die langwelliger und weniger brechbar sind, als Licht von 540 up Wellen- länge, also gelbe, gelbrote und rote — und zweitens in eine Gruppe von Kurven für stärker brechbares Licht, also grüne, blaugrüne und blaue Strahlen. Da zeigt sich nun zunächst, wenn wir beide Gruppen von Kurven gesondert betrachten, daß in jeder Gruppe für sich nirgends ein Schnittpunkt vorhanden ist. Das heißt: die Empfindlichkeit für rote, gelbe und grüne Strahlen ist immer von einander ver- schieden. Das gleiche gilt auf der andern Seite für grüne, grün- blaue und blaue Strahlen. — Woher kommi es nun aber, daß trotzdem die Kurven der einen Gruppe die der andern schneiden? Das kommt daher, daß die Anfangs- empfindlichkeit für kurzwellige Lichter bei Tagvögeln eben eine relativ geringe ist, daß aber die Empfindlichkeitszunahme für kurzwellige Liehter enorm viel rascher erfolgt, als für rote und gelbe Strahlungen. Beim Menschen liegen die Dinge prinzipiell einfacher, sind aber schwerer festzustellen, da sie hier noch viel schneller verlaufen. Die Empfindlichkeit für grünes Licht ist beim Menschen immer größer, als die für rotes Licht von gleicher Intensität; das Empfindlichkeitsverhältnis verschiebt sich hier nur relativ, und diese Tatsache nennen wir eben das Purkinje-Phänomen. Bei Hühnern dagegen ist die Empfindlichkeit für Rot zunächst bedeutend größer als für Blau, dann kommt ein Zeitpunkt — etwa nach 20 Minuten Dunkelaufenthalt — wo Hühner für Rot und Blau gleich empfindlich sind, dann aber nimmt die Empfindlichkeit für Blau zunächst noch weiter rapide zu, so daß nach einer Stunde Dunkelaufenthalt die Empfindlichkeit für Blau jetzt umgekehrt 10 mal so groß ist, wie für Rot, Diese gewiß frappante Tatsache ist experimentell unschwer nachzu- weisen; ich konnte sie jederzeit ohne weiteres an meinen Versuchstieren demonstrieren. 16 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Während also manche Forscher auf Grund theoretischer Erwägungen geleugnet haben, daß Hühner überhaupt adaptieren können und daß bei ihnen etwas ähnliches vorhanden ist, wie das Purkinje-Phänomen beim Menschen, so ist in Wirklichkeit dieses Phänomen bei Hühnern geradezu in höchster Potenz vorhanden, denn hier verschiebt sich das Helligkeits- verhältnis zweier Strahlungen während der Dunkeladaptierung nicht nur relativ, sondern das Verhältnis wird ja geradezu diametral entgegengesetzt. So erklärt sich denn auch ganz natürlich die vorher befremdende Tatsache, daß verschiedene Forscher ganz verschiedene Empfindlichkeits- quotienten für bestimmte Strahlungen gefunden haben. Bisher haben wir übrigens immer nur den Verlauf der Dunkel- adaptierung während der ersten Stunde betrachtet. Das genügt aber natürlich nicht. Die Empfindlichkeit der Hühner für grünes Licht erreicht allerdings etwa schon nach einer Stunde ihr Maximum, die für blaues Licht etwa nach 1!/, Stunden. Die maximale Empfindlichkeit für gelbes Licht wird aber erst nach etwa 4 Stunden erlangt und die für rotes Licht sogar erst nach 10 Stunden. Verfolgt man die Dunkeladaptierung soweit, so zeigen die Maxima der Kurven noch eine Eigentümlichkeit; sie fallen nämlich alle zusammen — oder mit anderen Worten: nach einem Dunkelaufenthalt von mehr als 10 Stunden wirken alle Strahlungen jetzt nicht mehr quali- tativ verschieden, also nicht mehr ihrer objektiven Qualität nach, sondern nur noch ihrer objektiven Quantität nach, d. h. gemäß ihrem Wärme- äquivalent. Alle diese Vorgänge, die sich hier bei Hühnern in einem Zeitraum von mehr als 10 Stunden abspielen, verlaufen beim Menschen außer- ordentlich schnell, nämlich innerhalb 20—350 Minuten. Deshalb ist es sehr schwer, sie beim Menschen exakt zu verfolgen, während man bei der Untersuchung des Vogelauges, bei dem diese Änderungen auch viel ruhiger und gleichmäßiger verlaufen, ganz bequem einen Einblick in diese Verhältnisse erhält, Begründet ist diese Differenz höchstwahrscheinlich in der relativen Stäbehen- und Sehpurpur-Armut des Tagvogelauges. Die genannten Ergebnisse haben mich zu einer Anschauung gebracht, die von der bisher üblichen theoretischen Deutung der adaptativen Vor- gänge etwas abweicht. Sie steht im Einklang mit einer prinzipiell wich- tigen Beobachtung von Nagel (in Helmholtz, Physiologische Optik II, S. 328), die aber leider nicht weiter verfolgt worden ist. Man nahm an, daß der Sehpurpur, der sich in den Stäbchenaußen- gliedern findet und der zweifellos bei dem Vorgang der Dunkeladaptierung die Hauptrolle spielt, für Strahlungen verschiedener Wellenlänge spezifisch empfindlich sei und zwar anders als die Zapfen, die während des Zustandes V. Abteilung. Philosophisch-psychologische Sektion. 17 der Helladaptation ausschließlich wirksam sind. Ich möchte nun an die eben erwähnte Beobachtung von Nagel anknüpfen und die Theorie auf- stellen, daß während des Vorgangs der Dunkeladaptierung die Konzentration des Sehpurpurs stets erheblich zunimmt, und daß infolgedessen das Empfindlichkeitsverhältnis sich noch einmal in umgekehrtem Sinne ändert, wie zuerst, nämlich daß jetzt allmählich rote Strahlen wieder relativ wirksamer werden, als kurzwellige. Wir haben also hier sozusagen den 2. Akt des Purkinje-Phänomens vor uns, der umgekehrt verläuft, wie der erste. Der Sehpurpur der Stäbehen hat also, wie ich glaube, eine diametral entgegengesetzte Funktion wie die farbigen roten und gelben Ölkugeln der Sauropsidennetzhaut. Die Ölkugeln haben meines Erachtens mit der Lichtperzeption selbst nichts zu tun; sie sind lediglich Lichtfilter, die durch Belichtung nicht verändert werden. Der Sehpurpur dagegen wirkt erst als Sensibilisator der Stäbchen und zwar dadurch, daß er zersetzt und immer wieder neu gebildet wird, also durch einen chemischen Prozeß. Die Wirkung dieses Prozesses hängt ım allgemeinen davon ab, wie viel Licht im Sehpurpur absorbiert wird, denn die dabei frei werdende Wärme kann ja nur das energetische Äqui- valent der hier auftretenden chemischen Leistungen sein. Der Grad der Absorption aber — und das ist eben der springende Punkt — ändert sich hier meiner Annahme nach mit der Zeit, denn es ist doch klar, daß eine konzentriertere Schicht Sehpurpur mehr absorbiert, als eine dünnere Schicht, die sieh eben erst zu bilden anfängt. So erklärt sich aber auch, warum die Empfindlichkeit für grüne Strahlungen während der Dunkel- adaptierung so schnell ihr Maximum erreicht, während es bei roten Strahlungen so lange dauert, denn schon eine relativ wenig konzentrierte Schicht Sehpurpur wird alles Grün absorbieren, während zur völligen Absorption roter Strahlungen eben sehr konzentierte Purpurlösungen nötig sind, die sich nur allmählich in langen Zeiträumen bilden können. Hängt nun aber der Grad der Erregung der Stäbchen lediglich von der Absorption im Sehpurpur ab, so erklärt sich auch, warum nach sehr langem Dunkelaufenthalt die Maxima der Empfindlichkeitskurven sämtlich zusammen fallen. Dann ist eben ein Zustand erreicht, wo meines Er- achtens alle Strahlungen vollständig vom Sehpurpur absorbiert werden. Infolgedessen können sie dann natürlich nicht mehr qualitativ verschieden wirken, sondern nur noch ihrem Wärmeäquivalent nach. — Damit ist aber auch eine Ausnutzung erreicht, die nicht mehr übertroffen werden kann, und wir haben damit die Begründung für die Tatsache, daß die jetzt erreichten Maxima absolute, nicht mehr zu über- schreitende sind. tS 1916. 13 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaierl. Culiur. Ich glaube, daß gerade die Anzahl von unerwarteten Tatsachen, die sich bei der Untersuchung des Vorgangs der Dunkeladaptierung ergeben hat, aufs deutlichste zeigt, wie wechselnd — wenn auch ganz gesetzmäßig wechselnd — die Beziehungen zwischen Qualität des Reizes und Quantität der Reizwirkung sind. Wollen wir also den Farbensinn eines Tieres kennen lernen, so müssen wir diese wechselvollen Beziehungen aufs genaueste studieren und ich hoife, Ihnen gezeigt zu haben, daß die zuletzt genannte Untersuchungs- methode hier einen gangbaren — zwar nicht gerade bequemen, aber doch sicher zum Ziele führenden — Weg darstellt. An den Vortrag schloß sich eine umfangreiche Diskussion. Sitzung am 6. Dezember (gemeinsam mit der naturwissenschaftlichen Sektion). 1. Wahlen. Es werden gewählt: a. zu Sekretären: die Herren Geheimer Regierungsrat Professor Dr. Baumgartner, Professor Dr. Kühnemann, Professor Dr. Hönigswald und Privatdozent Dr. Guttmann; b. zum Vertreter der Sektion im Präsidium: Herr Geheimrat Pro- fessor Dr. Baumgartner; c. zum Vorsitzenden: Herr Privatdozent Dr. Guttmann. 2. Vortrag des Herrn Professor Dr. Schäfer: Die Relativitätstheorie. Sitzung am 14. Dezember (gemeinsam mit der naturwissenschaftlichen Sektion). Diskussion zur Relativitätstheorie. Sehlesischt Gesellschaft für vaterländische Gultur. SYS I 94. | V. Abteilung. Jahresbericht. c. Sektion für katholische 1916. Theologie. ©, SER 26 Sitzungen der Sektion für katholische Theologie im Jahre 1916. Am 20. Juni sprach Herr Professor Dr. Wagner über Die Gründe sittlich ungünstiger Kunstwirkungen. Der Vortragende legte zunächst dar, daß es, abgesehen von gewissen bedenklichen Objekten, im allgemeinen nicht der Gegenstand des Kunst- werkes es ist, der eine sittlich gefährliche Wirkung hervorbringt. Zu allen Zeiten hat die Kunst, besonders die Dichtkunst, das Böse in allen Er- scheinungsformen dargestellt, ohne daß man daran Anstoß nahm, wie sich an vielen Beispielen klassischer Dichterwerke zeigen läßt. Die Darstellung muß aber objektiv sein, so daß das Böse nicht als gut und das Gute nicht als Schwäche erscheint. Nicht aber kann man von dem Künstler ver- langen, daß er die sittliche Qualität aller seiner Charaktere und Hand- lungen als solche zur Anschauung bringe und sein Urteil darüber andeute; dazu fehlt es besonders dem Maler an künstlerischen Mitteln. Ein besonders beliebter und häufiger Gegenstand der Kunst sind die menschlichen Leidenschaften. Auch ihre Schilderung ist sittlich unbe- denklich, wenn sie objektiv, d.h. wenn sie nicht gerechtfertigt oder be- schönigt werden. Als Muster objektiver Darstellung der Leidenschaften erscheinen besonders die Werke Shakespeares. Nur die Schilderung ero- tischer Leidenschaften kann, auch wenn sie die Grenze der Dezenz nicht überschreitet, gefährlich wirken, weil sie bei vielen Betrachtern auf einen gleichgearteten Seelenzustand stößt und daher leicht die entsprechenden Empfindungen aufwühlt: deshalb ist die Lektüre solcher Dichtungen nicht für alle unbedenklich. In der Malerei sind erotische Szenen nur bei großer Idealisierung und in mythologischem Gewande erträglich. Die Darstellung des Nackten in der bildenden Kunst ist nicht durch- aus unzulässig. Das Unsittliche und Gefährliche von Werken der Malerei und Bildhauerei beruht nicht auf der Nacktheit der Figuren, sondern auf Motiven, Stellungen und Gebärden, die das sittliche Gefühl verletzen, gleich- viel ob die Figuren nackt oder bekleidet sind. Zum Schluß legte der Redner dar, daß die sittliche Wirkung der Kunstwerke individuell verschieden ist und hauptsächlich von der Bildung 1916. > Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. und Disposition des Betrachters abhängt. Doch müsse bei öffentlichen Ausstellungen von Kunstwerken auf das Volk und die Kinder Rücksicht senommen werden, damit sie nicht Schaden leiden. In der Sitzung am 11. Dezember hielt Herr Privatdozent Dr. Felix Haase einen Vortrag über das Thema: Die katholische Kirche in Polen unter russischer Herrschaft. Trotz der Zusage, die katholische Kirche beider Riten in Polen zu erhalten und zu beschützen, begann Katharina II. (1762—96) bald nach der ersten Teilung Polens in die kirchlichen Verhältnisse einzugreifen. Den bequemen Vorwand bot die vorgebliche Herstellung der religiösen Freiheit der Dissidenten d.h. Nichtkatholiken und ihre Zulassung zu den staatlichen Ämtern. Der Widerstand der Bischöfe Soltyk und Zaluski, sowie des Palatin von Warschau, Rzewuski, wurde durch Verhaftung und Deportation derselben beseitigt; neue Gesetze über die Mischehen wurden eigens zum Nachteile der Katholiken geschaffen. Solche Bedrängnisse nötigten die Katholiken zu einem gemeinsamen Protest, zur Konföderation von Bar. Die Antwort der Kaiserin darauf war, daß sie die Zaporoger Kosaken gegen sie aufbot, die Namen und Geschlecht der katholischen Polen für immer vernichten sollten. Dieser grausamen Verfolgung, die man nur in dem Zeitalter eines Diokletian für möglich halten möchte, nicht aber im XVII. Jahrhundert, sollen gegen 200 000 Polen zum Opfer gefallen sein. Außerdem wurden innere Differenzen unter den polnischen Katholiken, Streitigkeiten zwischen Welt- und Ordensklerus, zwischen den Angehörigen des lateinischen und griechischen Ritus von der Kaiserin als willkommene Handhaben benützt, um die religiöse Freiheit der Katholiken einzuschränken, und sie, offen und versteckt, dem Schisma zuzuführen. Leider fand sie hierbei unterwürfige Gehilfen unter den Vertretern des höheren polnischen Klerus. Unter Katharinas Nachfolgern Paul I. (1798—1801) und Alexander I. (1801—25) besserte sich die Lage der Katholiken etwas, um sich unter Nikolaus I. um so drückender zu gestalten. Während der langen Re- sierung des letzteren wurde die katholische Kirche Polens durch syste- matische Korrumpierung des Klerus, Schließung der Seminarien, Aufhebung der Klöster, Vermögenseinziehung usw. dem Untergange nahe gebracht; Kirchen wurden den Orthodoxen übergeben, die Gemeinden, besonders die des griechischen Ritus, mit List und Gewalt der russischen Staatskirche einverleibt; Bischöfe wie Siemaszko waren die gefälligen Helfer der Re- gierung bei der Überantwortung von Gemeinden und Diözesen an das Schisma. Daß dann bei der Niederwerfung des polnischen Aufstandes 1330 ganz in diesem Sinne gearbeitet wurde, erscheint als selbstverständlich. V. Abteilung. Sektion für katholische Theologie. 3 Bei all diesen brutalen Vergewaltigungen der religiösen Freiheit unter Nichtachtung eingegangener Verpflichtungen ist es erstaunlich, daß das Ausland ruhig zusah; eine gewisse Erklärung liegt in der Geschicklichkeit der russischen Staatsmänner, mit der sie eine Behandlung dieser Fragen auf Kongressen zu vermeiden verstanden. Ungehört verhallte der wieder- ‚holte Protest des Papstes, dem man die polnischen Katholiken mit Gewalt zu entfremden suchte. Nur durch Berichte englischer Konsuln drangen ‚authentische Einzelheiten an die Öffentlichkeit. Durch hermetischen Ab- schluß von den übrigen Katholiken, durch Anstellung russisch -orthodoxer Professoren in den verbliebenen Priesterseminarien, Knebelung der religiösen Literatur, sowie durch unzählige andere Mittel suchte die Regierung dem Klerus und dem Volke auch innerlich und kulturell den Geist der russi- schen Orthodoxie aufzuprägen; leider ist ihr das nur zu gut gelungen. Am Schluß wies der Vortragende auf die wichtige Aufgabe hin, nach ‚der äußeren Befreiung der polnischen Katholiken vom russischen Joche ihnen auch die Mittel zu einer inneren Loslösung von dem Banne des Geistes der Orthodoxie zu bringen. — Wiederholt nahm er Gelegenheit, die Notwendigkeit, aber auch die Schwierigkeiten der historischen Forschung ‚auf diesem Gebiete zu betonen. rar 6 1 % „at Y “ 7 f € „ir ’ L, Bar ee Pe ee ER N E22 = „r I 2 = une nen, % R 7 TE r “ \ 4 Nach > u F L le N Fi Re gegen are Hu sehlesische Gesellschait für vaterländische Cultar. Sy 9. V. Abteilung. Jah bericht. i i ahresberic d. Evangelische Theologie. 1916. & ARE = Sitzungen der evangelisch-theologischen Sektion im Jahre 1916. Sitzung am 23. Februar. Vortrag des Herrn Pastor prim. Bederke: Der Anteil Schlesiens an dem Kirchenliederbestand unseres Gesangbuchs. Sitzung am 6. Juni. Vortrag des Herrn Pastor Lie. Konrad: Die Protokolle des Bresiauer Domkapitels aus der Reformationszeit. Sitzung am 50. November. Vortrag des Herrn Pastor Fiebig: Die evangelische Kirche nach dem Rriege. 1916. na u 12% and - Ku BELSSTT 10T series schlesische Gesellschalt für vaterländische Cultur. —yas 9. | VI. Abteilung. a. a. Technische Sektion. | Eee ____ L& 2,8 Sitzungen der technischen Sektion im Jahre 1916. Es wurde im Berichtsjahre nur eine Sitzung am 8. Dezember 1916 abgehalten zur Vornahme der Wahl der Sekretäre und des Delegierten in das Präsidium für die Jahre 1917 und 1913. Als Sekretäre wurden wiedergewählt die Herren Professor Dipl.Ing- Wohl und Professor Schilling. Als Delegierter wurde gewählt Herr Professor Dipl.=ing. Wohl. 1916. dchlesischt Gesellschaft für vaterländische Gultur, LT Io I} Be en Rn VI. Abteilung. anrespericht. R en R b. Sektion für Kunst der Gegenwart. 1916. | ENSETE N BRRN ©, Re an 248 Sitzungen der Sektion für Kunst der Gegenwart im Jahre 1916. Die erste Sitzung des Kriegsjahres 1916 fand am 2. Februar statt mit dem Vortrag des Herrn Garteningenieur Hanisch: Schlesische Heimstätten in der Gegenwart und in der Zukunft. | Mit Lichtbildern. Die Anteilnahme an dem von Architekt Henry geleiteten Vortrags- abend war eine sehr große. Die Besprechung wuchs über das eigent- liche Thema hinaus und betrachtete die brennende Kriegsfrage der Klein- wohnungsnot der Städte überhaupt und in Sonderheit die für Breslau zu befürchtende. Zu Worte kamen die Herren; Bürgermeister Hahn, Ohlau, Dr. Menzel, Oberbürgermeister Dr. Bender, Oberregierungsrat Köppel, Dr. Ponfick, Rechtsanwalt Dr. jur. Steinitz und der Vorsitzende, der die anregende Sitzung um 10°, Uhr schloß. Sonnabend, den 19. Februar fand im unteren Vortragssaale die zweite Sitzung unter dem Vorsitz des Architekten Henry statt. Sie galt einem Vortrage aus der Theaterkunst. Den Vortrag hielt Herr Dr. Franz Ludwig Hörth (Breslauer Stadttheater). % Moderne Regie. Der Spielleiter unseres städtischen Theaters gab in freiem fesselnden Vortrage ein klares Bild der Entwicklung der Regiekunst; in warmherziger Künstlerart der Auffassung besprach er die Gegenwart, besonders glücklich auch in der Beantwortung der Fragen und Einwände aus der Zuhörerschaft. Montag, den 13. März, abends 8 Uhr folgte der Vortrag des Herrn Dr. Fritz Prelinger: Über die Symphonie der Gegenwart. Anschließend an den Vortrag, der die geschichtliche Entwicklung mit bewertenden Urteilen gab, gelangten zur musikalischen Darstellung: I. Anton Bruckner: Adagio. Zweiter Satz der siebenten Symphonie, gespielt von Dr. Fritz Prelinger. 1916, 2 Jalıresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. II. Gustav Mahler: Aus der zweiten Symphonie: a. Erster Satz Maestoso. b. Vierter Satz Urlicht. Aus des Knaben Wunderhorn. Das Solo gesungen von Frl. M. Brandenburg, ce. Zweiter Satz Andante con moto. Auf zwei Flügeln gespielt von Frl. E. Leichtentritt und Dr. F. Prelinger. Die Mitglieder aller Sektionen waren eingeladen. Dem entsprach die Teilnahme und der Beifall, der auch den musikalischen Darbietungen des Abends folgte. Er währte bis tief in die elfte Stunde. Unter Leitung des Herrn Baurat Karl Grosser schloß mit der vierten Sitzung am 16. Dezember die Reihe der Vorträge Herr Privatdozent Dr. Franz Landsberger mit dem Vortrag über: Die Farbengebung der italienischen Renaissance. Mit farbigen Lichtbildern. Der Redner legte zunächst an Aussprüchen einzelner Renaissance- Künstler dar, daß die Renaissance, ganz mit der Ausprägung der plastischen Form beschäftigt, die Farbe nur als eine Zutat betrachtete, die für den Schönheitswert des Werkes nicht von entscheidender Bedeutung sei. Und so verwendet auch die künstlerische Praxis der Zeit die Farbe nur im Dienste der einzelnen Form oder — bei vielfigurigen Darstellungen — lediglich zur Unterstützung der bereits durch die Form in sich ge- festigten Kompositionsschemen. Die Entstehung des Renaissancebildes aus einer auf der Bildgrundierung oder auf einem besonderen Karton ge- fertisten farblosen Vorzeichnung kam dieser sekundären Stellung der Farbe im Bildganzen entgegen, und wenn gerade die besten dieser Kartons — die Schlachtenszenen des Leonardo und Michelangelo — überhaupt nicht zur Ausführung kamen, so liegt doch neben äußeren Hemmungen der ent- scheidende Grund eben darin, daß der Künstler wie sein Publikum in der farblosen Darstellung ihr Genüge fanden. Nicht selten werden ja auch zur farbigen Durchführung der Bilder Künstler zweiten Ranges hinzu- gezogen. Einschränkend bemerkte der Vortragende, daß freilich erst im 16. Jahrhundert und auch nur in Mittelitalien diese strenge Stellung gegen- über der Farbe zur vollen Ausprägung gelangt. Das 15. Jahrhundert hat eine naive Freude an der Farbe entwickelt, die sich zum Beispiel in der farbigen Plastik äußert, während erst mit Michelangelo die farblose Plastik zum Siege gelangt. Und die oberitalienische Kunststadt Venedig hat diese Farbenfreude auch bis ins 16. Jahrhundert bewahrt, wenn nicht gar ge- steigert. Hier finden die ın Mittelitalien so beliebten farblosen Helldunkel- Bilder keine Stätte, hier wird selbst, wie einige Äußerungen Giorgiones und Tintorettos beweisen, der Kartonstil in einigen Fällen überwunden und das Bild in moderner Weise gleich aus der Farbe heraus entworfen. Hier endlich zeigt sich am frühesten von ganz Italien — schon bei Bildern VI. Abteilung. Sektion für Kunst der Gegenwart. 3 des späten Tizian und bei Tintoretto — ein Farbenauftrag, der die von der Renaissance neuaufgenommene Öltechnik nicht wie das übrige Italien glatt und verreibend verwendet, sondern pastos und klecksig, und damit der Farbe eine selbständige Stellung gegenüber der Form einräumt. Doch führen solche Tendenzen eben bereits ganz aus der Zeit heraus, deren reguläre Stellung zur Farbe keine schlechthin bejahende ist. Gleichwohl fehlt es — am Mittelalter gemessen — auch hier nicht an positiven Fortschritten der Farbe. Gegenüber der willkürlichen und absoluten Farbengebung des Mittelalters entwickelt die Renaissance die Forderung der wahren d. h. das dargestellte Material bezeichnenden Farbe. Sie weiß bereits die einzelnen Stoffe farbig zu charakterisieren und selbst die komplizierte Färbung des menschlichen Körpers wiederzugeben. Nur die Veränderung der Farbe unter dem Einfluß von Licht und Luft, die sich die Moderne so angelegen sein ließ, wird zwar hier und da bereits theoretisch beobachtet, aber wohl absichtlich in der Praxis nicht wieder- gegeben, um die Klarheit der Form nicht zu verwischen. Neben dem Darstellungswert der Farbe entwickelt dann die Zeit vor allem ihren Schönheitswert. Die beschränkte Palette des Mittelalters wird zu einer reichen Skala gemischter und gebrochener Farben erweitert, die im 15. Jahrhundert nach der Seite einer hellen, leicht wirkenden, im 16. Jahrhundert nach der Richtung einer dunklen und schwereren Farben- gebung entwickelt wird. In der Zusammenstellung der Farben ist im (Quattrocento eine bunte Mannigfaltigkeit erwünscht, die sich im Cinquecento zu der einfacheren Lösung des Farbenkontrastes abklärt. Die helle Farbe wird gegen die dunkle, die kalte gegen die warme ausgespielt und auch die einander hervorhebende Wirkung der Komplementärfarben wird erkannt. Die Bindung solcher in ihrer Eigenart durch den Kontrast noch gesteigerten Farben ist freilich nicht die einzige Möglichkeit eine Farbenharmonie herzustellen. Ihr setzte der Redner am Problem Rembrandtscher Kunst die feinere Harmonie in sich verwandter Farbentöne entgegen, die dem 17. Jahrhundert zum Problem wird. Der venezianische Goldton mag als der erste Versuch des späteren Farbenempfindens besondere Beachtung verdienen. Am wenigsten verwendet der Italiener die seelischen Ausdrucksmöglichkeiten, die in der Farbe enthalten sind; das ist vielmehr gerade die Tat der germanischen Kunst geworden, wofür der Vortragende zum Beweise die Namen eines Grünewald, Rembrandt oder von Modernen eines van Gogh oder Edward Munch anführte. Dienstag, den 12. Dezember fand die Beratungssitzung der Sektion statt, in der I. Mitteilungen des Vorsitzenden, 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Culiur. II. Wahl der Sekretäre und der Delegierten im Präsidium Tagesordnung waren. Als Sekretäre wurden wieder gewählt: für Abteilung Denkmalspllege und Heimatschutz: Herr Architekt Henry, für Abteilung Architektur und Kunstgewerbe: Herr Baurat Grosser, für Abteilung Dichikunst: Herr Geh. Reg.-Rat Universitäts-Professor Dr. Max Koch, zurzeit im Felde als Major und Führer des II. Bil. des Bayer. Inft.-Regiments Nr. 28, für Abteilung Malerei und Bildhauerkunst: Herr Privatdozent Dr. phil. Landsberger. Neu gewählt wurde als Sekretär: für Abteilung Musik: Herr Universitäts-Professor Dr. Max Schneider. Zu Vertretern im Präsidium wurden die Herren Architekt Henry und Professor Koch, zum geschäftsführenden Vorsitzenden der Sektion Herr Architekt Henry wiedergewählt. Außer diesen Sitzungen fanden noch zwei Sitzungen der Sekretäre als Vorstandssitzungen stait. Henry. sehlesische Gesellschaft für vaterländische Gultar. IE 94. | VI. Abteilung. Jahresbericht. c. Sektion für Geologie, Geographie, 1916. | Berg- und Hüttenwesen. REN Re EIG) Sitzungen der Sektion für Geologie, Geographie, Berg- und Hüttenwesen im Jahre 1916. Die Sektion hielt am 7. Mai gemeinsam mit der Medizinischen Sektion eine Gedächtnisfeier für Hermann Klaatsch !). Außerdem fanden am 28. November zwei Sitzungen statt. In der ersten Sitzung wurde der bisherige Vorstand der Sektion und die Dele- gierten für das Präsidium wiedergewählt und an Stelle des gefallenen ersten Schriftführers der Sektion, Privatdozenten und Dozenten Dr. Richard Lachmann der Kandidat des höheren Schulamts G. Köster zum ersten Schriftführer neu gewählt. Die darauf folgende Sitzung war eine Gedächtnisfeier für Richard Lachmann, dem weiland 1. Schriftführer der Sektion, in welcher Herr Geheimrat Frech die Gedächtnisrede ?) hielt. 1) Die Reden zur Feier finden sich am Schlusse des „allgemeinen Berichts“. 2) Die Rede ist in den „Nekrologen‘‘ des Jahresberichts abgedruckt. 1916. ua 1 u Ben ei Y 1; m “Er Fi Y Pr 5 1 | , £ . y } 1) + ’ v ) u, u) i n \ N r 8 y ‚77 f i FO FR TR ya s schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur. 94. VI. Abteilung. Jahresbericht. d. Chemische Sektion 1916. | (Chemische Gesellschaft zu Breslau). &,c MICH BIO) Sitzungen der Chemischen Sektion (Chemische Gesellschaft zu Breslau) im Jahre 1916. Sitzung am 11. Februar. Untersuchungen über die Siliziumwasserstoffe. Der Unterschied zwischen Silizium- und Kohlenstoffchemie. Von A. Stock. Sitzung am 26, Mai. Untersuchungen über Reflexion im Uitrarot (ultrarote Eigen- schwingung) im Zusammenhang mit der chemischen Konstitution krystallisierter Verbindungen (mit Demonstrationen). Von Cl. Schäfer. Sitzung am 14. Juli. Über die Konstitution des Kantharidins. Von J. Gadamer. Sitzung am 10. November. Einige organische und anorganische Ideen, ihre Entwickelung und Verwirklichung. Von 0. Ruf. Sitzung am 7. Dezember. Einiges aus der chemischen Technik des Zuckers (mit Lichtbildern). Von F. Ehrlich. 1916. an je A Ü eg“, r ., i IF id i iS 1 SEE Notarepinwiutri) sh: aa [eRE- % h SALE: BEwRusINE Din - Ü R %; « uns .. EB HOME Bug store) Bora m ng} ste 1 n i i r2ingpron He eh br 2 »i IE DT; | TIER: ı MI) r .Y Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultır. ya 94. Jahresbericht. Nekrologe. 1916. &uc ER 2u® Nachrichten über die im Jahre ı91ı6 verstorbenen Mitglieder der Schlesischen Gesellschaft für vaterl. Cultur. Alphabetisch geordnet. Hermann Auerbach, geboren am 19. April 1851 als Sohn des Breslauer Kaufmanns Salomon Auerbach und als jüngerer Bruder des unsrer Gesellschaft als tätiges Mitglied wohlbekannten Biologen Leopold Auerbach, trat frühzeitig in das Geschäft seines Vaters ein, aus dem er erst nach fast vierzigjähriger Tätigkeit, während deren er es zu hoher Blüte gebracht hatte, ausschied, um sich in das Privatleben zurückzuziehen. Fachmäßige Kenntnisse hat er sich auf keinem Ge- biete der Wissenschaften erworben, aber allen brachte er ein lebhaftes Interesse entgegen, war ein eifriger Leser, besuchte alle Vorträge, von denen er sich Gewinn versprach, besonders die in der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur, und erweiterte seinen Blick durch zahlreiche Reisen. Im übrigen lebte er ganz zurückgezogen; und das Einzige, was ihn mit der Öffentlichkeit in Beziehung brachte, war seine ausgedehnte Wohltätiskeit. Namentlich hat er für die Waisen- und Krankenpflege große Summen hergegeben. Ganz besonders aber kam seine Denkweise zum Ausdruck in seinem letzten Willen, durch den er, nach reichlicher Berücksichtigung seiner Verwandten, die Stadt Breslau zu seiner Erbin einsetzte mit der Verpflichtung, daraus be- stimmte gemeinnützige Anstalten und Einrichtungen zu treifen, sowie den Vereinen, deren Mitglied er war, den kapitalisierten Betrag seines Jahresbeitrags auszuzahlen. So wird sein Andenken auch äußerlich in der Stadt Breslau fortleben. Am 10. Juli 1916 verstarb zu Breslau der frühere Apothekenbesitzer Waldemar Beckmann, seit dem Jahre 1902 wirkliches Mitglied der Schlesischen Gesellschaft und langjähriger Gartenkurator der Sektion für Obst- und Gartenbau. Er wurde am 27. Mai 1846 in Jütroschin im Kreise Posen als Sohn eines Apothekers geboren und verlebte hier seine ersten Jugendjahre. Nolo 1 2 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Nachdem sein Vater die Apotheke verkauft und eine neue in Neibe erworben hatte, siedelte die Familie 1856 nach dort über. In Neiße besuchte Beckmann das Gymnasium bis zur Obersekunda und trat 1861 in die väterliche Apotheke als Lehrling ein. Nach wohlbestandenem Gehilfenexamen führte ihn sein Wandertrieb durch fast ganz Deutsch- land. Seine Studienzeit verlebte er von 1869 an in Berlin, wo er 1841 sein Staatsexamen machte. Nachdem er hernach einige Jahre als Ge- hilfe tätig gewesen war, übernahm er 1874 die väterliche Apotheke, die er 27 Jahre hindurch erfolgreich innehatte und 1901 an einen früheren Angestellten verkaufte. In Neiße verlebte Beckmann, wie er oft und gern erzählte, seine glücklichsten Jahre; hier verehelichte er sich 1876 mit Alwine Sperlich aus Neiße, welcher Ehe 4 Töchter entsprossen sind, von denen aber die beiden ältesten im jugendlichen Alter starben. Um sein reges Interesse an dem künstlerischen und wissenschaftlichen Leben besser betätigen zu können, nahm er vom 1. Oktober 1901 an mit seiner Familie seinen Wohnsitz in Breslau. Erfüllt von der Liebe zur Natur widmete er sich hier mit Vorliebe den Bestrebungen der Sektion für Obst- und Gartenbau, in der er als eifriges Mitglied im Jahre 1903 als Garten- kurator gewählt wurde und dieses Amt mehrere Jahre hindurch mit aufopfernder Hingabe bekleidetee Nur ungerne legte er sein Amt nieder, als aber zunehmende Kränklichkeit ihn hierzu zwang, bekundete er noch bis kurz vor seinem Tode durch eifrige Mitarbeit der Sektion sein reges Interesse. Beckmann bevorzugte in gesunden Tagen über alles Spaziergänge und Exkursionen in Flur und Wald; den Bergen galt seine ganze Liebe. Rauschenden Festen war er abhold, aber er sah gerne einen fröhlichen Freundeskreis um sich und suchte vor allem sein Ideal im stillen Glück der Familie. Die Sektion und seine Freunde, die das Glück hatten, ihn näher zı kennen, werden seiner stets dankbar gedenken. J. Hölscher. Leo von Busse, Landeshauptmann von Schlesien, geboren dem 15. Juli 1876 in Ossen, Kreis Groß-Wartenberg i. Schl., starb am 21. Mai 1916. — Nach schnell durchlaufener Vorbereitungszeit und nur 4 Jahren Tätigkeit als Assessor, deren letztes er in der wichtigen und lehrreichen Stelle eines Dezernenten am Oberpräsidium Posen zubrachte, wurde er schon 1908 als Landrat an die Spitze des Kreises Groß-Wartenberg i. Schl. gestellt, dem er durch Familienbesitz verbunden, und dessen eingesessener Landrat auch einst sein Vater gewesen war. Neber Nekrologe. 3 anderem gab ihm insbesondere die Erschließung des Verkehrs durch Chausseebauten und die Ausdehnung des landwirtschaftlichen Unter- richtswesens Gelegenheit zu organisatorischer Betätigung, während ihm zugleich seine persönliche Art das unbedinste Vertrauen seiner Kreis- eingesessenen aller sozialen Stufen erwarb. Aber auch die Aufmerk- samkeit weiterer Kreise, denen er u. a. auch als rege tätiges Mitglied der Provinzial-Synode und in der Arbeit der Landwirtschaftskammer bekannt geworden war, hatte sich schnell auf ihn gerichtet, und so kam es, daß er im Juni 1915 nach dem Tode des Freiherrn von Richthofen als dessen Nachfolger zum Landeshauptmann von Schlesien berufen wurde, — nach knapp 7 jähriger landrätlicher Tätigkeit, — in dem wohl für dieses Amt einzig dastehenden jugendlichen Alter von noch nicht 39 Jahren. Nicht einmal ein volles Jahr hat er des Amtes walten können: am 21. Mai 1916 raffte ihn, nach kurzer Erkrankung an einer schweren Lungenentzündung, die er sich in reger dienstlicher Reisetätigkeit zu- gezogen, der Tod dahin. Aber auch diese kurze Zeitspanne hat genügt, zu zeigen, welche Erwartungen für unsere Provinz und das Vaterland auf diesen außergewöhnlichen Mann zu setzen waren. Neben den glänzenden Gaben eines klaren, schnell orientierten und praktisch richtig urteilenden Verstandes war, was ihn auszeichnete, vor allem die frische, nie erlahmende und andere mit sich fortnehmende Initiativkraft und die große, ehrliche Freundlichkeit und Herzenswärme, mit der er an jedermann und an jede Sache herantrat. Sie haben seinen Mit- arbeitern in der Landesverwaltung die Tätigkeit unter seiner Leitung zur Freude gemacht, — haben ihn trotz der Kürze der Zeit, neben der Pflege des Bestehenden manche Grundlage für Neues legen lassen, haben seinem Ratschlag auch über die Provinz hinaus Wert und Gehör verschafft. So war es ihm vergönnt, an dem im wesentlichen gerade in dieser Zeit erfolgten Ausbau der Fürsorge für Kriegsverletzte und sonstige Kriegsgeschädigte in Schlesien und im Reiche maßgebend mitzuarbeiten; insbesondere werden auf dem Gebiete der Ansiedelung und Besitz- befestigung Kriegsverletzter die Spuren seiner Tätigkeit dauernde sein. Gerade diese Arbeit mag ihm auch eine gewisse Entschädigung geboten haben dafür, daß es ihm — wie fast allen Landräten der Grenz- provinzen — bei Beginn des Krieges versagt worden war, selbst mit der Waffe für sein Vaterland einzutreten, — seinem lieben Dragoner- Regiment 8, dem er als Rittmeister d. R. angehörte, ins Feld zu folgen, ein Verzicht, der ihm ganz besonders schwer geworden ist. Über sein letztes Krankenlager und sein Sterben zu sprechen, gehört nicht vor die große Öffentlichkeit. Nur das sei gesagt: er ist dahin- 1*# 4 Jahresberieht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. gegangen als ein Held unerschütterlichen frohen christlichen Glaubens, selbst den Seinen darin feste Kraft und Stütze gebend für Zeit und Ewigkeit. v. Thaer. Fritz Ehrlich wurde am 28. März 1854 als dritter Sohn des Kaufmanns Julius Ehrlich und seiner Ehefrau Mathilde Ehrlich geb. Auerbach in Breslau geboren. Er besuchte das Realgymnasium am Zwinger in Breslau, woselbst er im Jahre 1871 das Abiturium machte. Er trat bald darauf in das Geschäft seines Vaters (Firma Herz & Ehrlich) ein, woselbst er drei Jahre verblieb, und ging danach nach Karlsruhe i. B.. um sich dort während 2 Jahre am Polytechnikum aus- zubilden. Dort genügte er auch bei dem Dragoner-Regiment seiner einjährigen Dienstpflicht. Zu seiner weiteren kaufmännischen Aus- bildung begab er sich dann auf ein Jahr nach Brüssel. Nach Hause zurückgekehrt, arbeitete er wieder im Geschäft seines Vaters und wurde im Jahre 1883 von diesem als Teilhaber aufgenommen. Von Jugend an musikalisch veranlagt, lernte er Cello und brachte es auf diesem Instrument zu einer Fertigkeit, die ihm selbst und vielen anderen große Freude bereitete. Auf Grund seines Interesses für die Musik wurde er in den Vorstand des Breslauer Orchester-Vereins gewählt, in dem er sich hervorragend betätigte. Als Vorstand der Aktien-Gesellschaft Breslauer Konzerthaus bewirkte er den umfassenden Umbau des Grundstücks, wodurch endlich ein geeigneter Raum für Kammermusik geschaffen wurde. — Sein Austritt aus der Firma Herz & Ehrlich er- möglichte es ihm, nachdem er in das Stadtverordneten-Kollezium ge- wählt worden war, sich den kommunalen Interessen vollständig zu widmen, und sich in den verschiedenen Ausschüssen energisch und er- sprießlich zu betätigen. Als die Vereinigten Staaten von Brasilien es auf Anraten der hiesigen Handelskammer für erforderlich erachteten, ein Konsulat für Schlesien zu errichten, wurde er zum Vize-Konsul ernannt. Sein Interesse für seine Vaterstadt Breslau zeitigte in ihm den Wunsch, Ansichten. der Stadt bis in die älteste Zeit zurück zu sammeln. Ein großer Teil der Sammlung ist von Herrn Professor Masner für das Kunstgewerbe-Museum ausgewählt und diesem geschenkweise über- lassen worden. | Am 17. Januar 1916 wurde Fritz Ehrlich, während er einer Sitzung in der Metallabnahmestelle beiwohnte, von einem Schlaganfall be- troffen, der eine vollständige Lähmung der rechten Körperseite zur Folge hatte. Durch Wiederholungen solcher Anfälle verschied er am 26. August 1916. Mit ihm ist eine stadtbekannte Persönlichkeit dahin- gegangen, der durch seine für die kommunalen Interessen geleistete Nekrologe. 5 Arbeit, durch seine geraden, rechtlichen Gesinnungen und durch seine persönliche Liebenswürdigkeit in den weitesten Kreisen ein ehrendes Andenken bewahrt bleiben wird. Am 19. Januar 1916 verschied der praktische Arzt Dr. Max Friedländer zu Breslau Am 3. August 1866 zu Neustadt in Ober- schlesien geboren, besuchte er, nachdem seine Eltern nach Oppeln ver- zogen waren, dort die Volksschule und dann das Kgl. Gymnasium der- selben Stadt, welches er Ostern 1886 mit dem Zeugnis der Reife ver- ließ, um Medizin zu studieren. Er hörte Vorlesungen an den Universi- täten Breslau und Leipzig, bestand an der Universität Leipzig das Staatsexamen und wurde am 20. Mai 1892 als Arzt approbiert. Am 12. Juli 1894 promovierte er an der Universität Leipzig mit einer Arbeit „Über die Beteiligung des linken und des rechten Ohres an den verschiedenen Ohrenkrankheiten“. Nach !/ jähriger Assistententätigkeit ließ er sich im November 1892 in Neustadt OS. als Arzt nieder. Dort erbaute und organisierte er in den Jahren 1903/04 das Krankenhaus „Hedwig und Max Pinkus-Stiftung“ und leitete dasselbe als dirigierender Arzt bis zum Jahre 1909. April 1910 verlegte er seinen Wohnsitz nach Breslau, errichtete hier ein Radiumambulatorium und übte ärztliche . Tätigkeit aus. Seiner Dienstpflicht kam er beim Infanterie-Regiment Nr. 63 nach. Nach Ausbruch des Weltkrieges stellte er sich, obwohl nicht mehr dienstpflichtig, der Militärbehörde zur Verfügung und wurde dem Reservelazarett zu Brieg als ordinierender Arzt überwiesen. Mitten aus umfangreicher Arbeit und treuer Pflichterfüllung verschied er plötzlich und unerwartet an einem Gehirnschlag. Sein stets liebens- würdiges und hilfsbereites Wirken sichern ihm ein treues Andenken. Dr. J. Schlesinger. Otto Fröhlich, Meteorologe in Breslau und Leutnant bei’ einer Luftschiffer-Abteilung, erlitt den Heldentod am 27. Juli 1916. Er wurde geboren am 24. Oktober 1881 in Breslau und besuchte das hiesige Elisabeth-Gymnasium, das er als Primaner verließ, da er sich dem Kaufmannstande widmen wollte. Aber sein Drang nach wissen- schaftlicher Arbeit und auch nach eigenem Forschen bestimmte ihn nach 1'/2 jähriger Tätigkeit bei Raiffeisen diesen Beruf aufzugeben, und so bezog er im Jahre 1903 die Breslauer Universität, wo er hauptsächlich Meteorologie, Astromonie und Geophysik studierte. Im April 1907 wurde er als Assistent am öffentlichen Wetterdienst angestellt und war vorübergehend auch als Hilfsassistent an der Kgl. Erdbebenwarte in Krietern tätig. Während dieser Zeit wurde er durch zahlreiche Vorträge in wissenschaftlichen Vereinen und auch durch 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. seine Mitarbeit bei dem schlesischen Verein für Luftschiffahrt im öffent- lichen Leben Breslaus bekannt. Nebenbei führte er auch Arbeiten für das kgl. astronomische Recheninstitut in Berlin aus. Als der Weltkrieg ausbrach, meldete er sich, obwohl er als dauernd untauglich bisher nicht gedient hatte, sofort als Kriegsfreiwilliger und wurde bei einem Luftschiffertrupp in Schlesien eingestellt. Durch seine rastlose Tätigkeit gelang es ihm in kurzer Zeit schnell vorwärts zu kommen. Im Oktober des ersten Jahres wurde er schon zum Unteroffizier befördert und im Juni 1915 wurde er zum Leiter einer Wetterstation im Westen ernannt, nachdem er einen Monat vorher sich bei einer Kriegsfahrt das Eiserne Kreuz verdient hatte; bald wurde er auch Leut- nant und legte die Führerprüfung ab. Im Frühling des vergangenen Jahres ging er mit seinem Flugzeug nach dem Südosten, dessen Schönheit er in begeisterten, täglichen Briefen an seine Frau mit warmen Worten schilderte. Sein stets heiteres und offenes Wesen, das in einem festen und starken Gottvertrauen begründet war, gewann ihm die Herzen aller, die mit ihm verkehrten, sowohl seiner Vorgesetzten, als auch seiner Untergebenen. Während seiner verhältnismäßig kurzen Tätigkeit als Leiter der Wetterstation verstand er es sich bei der Bürgerschaft so beliebt zu machen, daß sie ihm Weihnachten 1915 einen silbernen Ehrenpokal überreichte. Rechenberg. Ernst Gaupp. Siehe medizinische Sektion TeilII S. 117. Geheimer Regierungsrat Dr. phil. Carl Hintze, ordentlicher Professor der Mineralogie und Direktor des mineralogischen Instituts der Universität Breslau, geboren am 17. August 1851, gestorben am 28. Dezember 1916. Drei Eigenschaften kennzeichnen Carl Hintze, den Mann und den Forscher: Klarheit. Kraft und Scharfsinn; sein Leben und sein Werk sind das Ergebnis ihrer glücklichen Vereinigung. Sie haben ihn im Beginn seiner Laufbahn zum Sieg über ernste Schwierigkeiten geführt, denen sehr viele andere hätten unterliegen müssen, und sie haben ihm das Arbeitsgebiet gewiesen, das von ihm Entsagung verlangt hat, aber für das er vor allen durch Anlage und Erfahrung auserwählt war. In seinem Vater, dem bekannten Breslauer Graveur Carl Hintze, vereinigte sich zu einer Zeit, der der Begriff Kunsthandwerk noch nicht geläufig war, die zuverlässige Tüchtigkeit des Handwerkers mit dem feinen Verständnis des Künstlers, und beides ist auf den Sohn über- gegangen: Zuverlässigkeit und Gewissenhaftigkeit der Arbeit wurden selbstverständlicher Grundzug seines Wesens; das künstlerische Element Nekrologe. 7 kam bei ihm in einer ausgezeichneten Beobachtungsgabe zum Ausdruck, die durch seine scharfen Sinne unterstützt und zu ungewöhnlicher Höhe gesteigert wurde, und entwickelte sich außerdem, genährt durch den Verkehr mit tüchtigen Künstlern in dem väterlichen Hause, zu einer Freude und einer Zierde seines Lebens. Sehr jung bestand Carl Hinze auf dem Magdalenäum unter Schönborn das Abiturientenexamen und nahm die Liebe zum klassischen Altertum hinüber in das Studium der Naturwissenschaften; nie hat er die Beschäftigung mit der Antike als lästigen Ballast empfunden, sondern sich ihrer stets als einer vortrefflichen Schule des Geistes und eines dauernden reichen Besitzes gefreut. Seine naturwissenschaftlichen Studien begann er in seiner Vaterstadt unter Ferdinand Roemer, dem er seine Dankbarkeit dauernd bewahrte, er setzte sie in Berlin und Bonn fort, und jeder dieser drei Orte wirkte bestimmend auf sein Leben und seine Entwickelung ein. Ferdinand Roemer verlor den hervorragend begabten Schüler nicht aus dem Auge und rief ihn viele Jahre später als Professor nach Breslau zurück; persönliche Beziehungen gestatteten dem jungen Bonner Studenten neben den Studienmitteln der Universität rege Beschäftigung mit den stets wechselnden Schätzen des Rheinischen Mineralienkontors, so daß er schon damals den Grund zu seiner um- fassenden Mineralienkenntnis legte, und in Berlin führte ihn Paul Groth, dem er bald als Assistent nach Straßburg folgte, in die Me- thoden der Kristallographie und in die wesentlich durch Groth und seine bahnbrechende Entdeckung der Morphotropie in rascher Entwickelung begriffene Kristallochemie ein‘). Noch in Berlin veröffentlichte Hintze als Student seine erste, gemeinsam mit seinem Lehrer P. Groth ausge- führte Untersuchung: Über kristallisierten Blödit von Staßfurt; wenig später vollendete er in Straßburg seine in der Methodik von seinem 2) Bekanntlich hatte E. Mitscherlich 1819 zusammen mit G. Rose auf Grund von Beobachtungen den Satz ausgesprochen, daß Körper von analoger chemischer Formel häufig gleiche Kristallform besitzen (Isomorphie); bald zeigte sich jedoch, daß isomorphe Körper nicht gleiche, sondern ähnliche Kristallwinkel aufweisen. Da der Begriff der Winkelähnlichkeit nicht begrenzt werden kann, mußte der Begriff Isomorphie zu Willkür führen, die sich besonders in der orga- nischen Chemie geltend machte. P, Groth wies 1870 darauf hin, daß es vorteil- hafter sei, statt nach isomorphen Körpern zu suchen, vielmehr die Verschieden- heiten chemisch verwandter Substanzen zu studieren und machte darauf aufmerksam, daß es gewisse Atome und Atomgruppen gibt, welche für Wasserstoff in das Benzol oder dessen Abkömmlinge eintretend, die Kristallform desselben nur in mäßiger Weise verändern, so daß man imstande ist, die Form des neuen Körpers mit der des ursprünglichen zu vergleichen. Diese Gesetzmäßigkeit, für die sich sehr rasch eine große Anzahl von Belegen fand, bezeichnete Groth als Morphotropie (nach C. Hintze’s historischer Darstellung in seiner Habilitations-Vorlesung 1884). 8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Lehrer Groth beeinflußte, aber doch ungewöhnliche Sicherheit und Kritik beweisende Inaugural-Dissertation: Kristallographische Unter- suchungen über Naphtalinderivate und erwarb sich am 28. Februar 1872 in Straßburg die Doktorwürde. Somit schienen alle Bedingungen für eine glückliche akademische Laufbahn gegeben; der junge Forscher hatte vielseitiges Wissen und Können erworben, er war in ein neues, vielfältige Ergebnisse versprechendes Arbeitsgebiet eingedrungen, ein trefflich ausgestattetes Institut und reiche Anregung standen ihm als Groth’s Assistenten zur Verfügung, und mehrere gute kristallographische Arbeiten, sowie die entscheidende, auf kristalloptischem Wege erzielte Feststellung des Kristallsystems der dunklen Glimmer zeigten, daß er den geigneten Gebrauch von diesen günstigen Verhältnissen zu machen wußte, als eine Änderung seiner Pläne sich notwendig erwies. Im Jahre 1875 hatte er sich, seiner Jugendliebe folgend, mit Gertrud Schneider aus Breslau vermählt und durch diesen Schritt sein häusliches Glück begründet — er lebte mit ihr bis zu seiner Todesstunde in innigster Gemeinschaft und durfte sie rückblickend seinen guten Geist in seinem Leben nennen; um aber für seine Familie sorgen zu können, mußte er jetzt von einer Habilitation zunächs Abstand nehmen und sich dem Mineralienhandel zuwenden. Menschen von geringerer Energie und geringerer Veranlagung hätte ein so starkes Hemmnis wohl dauernd von dem erstrebten Ziel fern gehalten, nach einiger Zeit des Kämpfens hätten sie die aufgenötigte Lebensrichtung freiwillig weiter verfolgt — für Männer vom Range Hintze’s waren Hindernisse nur vorhanden, um überwunden zu werden und um eine Stählung der Kräfte zu bewirken, und so wurde ihm und der Mineralogie zum Heil, was für viele andere unweigerlich einen Verzicht auf wissenschaftliche Tätigkeit in größerem Maßstabe bedeutet hätte. Scharfe Sinne, Liebe zu den Mineralien, gute Anleitung und eifrig benützte Gelegenheit hatten schon den Studenten und Assistenten mit den äußeren Kennzeichen der Mineralien innig vertraut gemacht; durch die dauernde Beschäftigung mit immer neuen Vorkommen wurde er, besonders nachdem er die fachwissenschaftliche Leitung des Rheinischen Mineralien-Kontors in Bonn übernommen hatte, zu einem der besten Kenner der in ihrem Habitus so wechselvollen Mineralien und der charakteristischen Merkmale ihrer zahllosen Fund- punkte. Dies bedeutet viel mehr, als daß er etwa Minerale und ihre Fundpunkte lediglich erkannt hätte: aus vielen Stücken fand er fast intuitiv infolge seiner geschärften Sinne und seines vortrefflichen Ge- dächtnisses, das ihm einmal Gesehenes stets gegenwärtig hielt, sofort das Neue, Ungewöhnliche, mineralogisch Bedeutsame heraus. Somit bot ihm sein Beruf Gelegenheit zu zahlreichen wissenschaftlichen Unter- suchungen, die nicht nur wichtige Tatsachen bekannt machten, sondern Nekrologe. fe) immer auch theoretisch Bedeutsames enthielten und die eigenen ebenso wie ältere Beobachtungen kritisch sichteten. Hier sollen nur die wichtigsten Untersuchungen dieser Gruppe erwähnt werden: die Studie zur Kristallform des Dolomits aus dem Binnental, der Nachweis und die Beschreibung des Danburits aus Graubünden, die scharfsinnigen Beiträge zur Kenntnis des Epistilbits, die wichtige Untersuchung über Cölestin von Lüneburg und das Studium von Vizinalflächen, sowie die Feststellung einer regelmäßigen Verwachsung von Bournonit und Blei- glanz. Mit dieser ihm gewissermaßen durch seine Berufsgeschäfte nahe- gelegten wissenschaftlichen Tätigkeit begnügte sich jedoch Hintze’s forschender Geist nicht; aus der Bonner Zeit stammen in großer Zahl kristallographisch - optische Untersuchungen organischer Ver- bindungen, die die Reihe der unter dem Einfluß und mit den Methoden P. Groth’s begonnenen Arbeiten erfolgreich und selbständig fortsetzen und theoretisch wichtigen Zielen zustreben. Dabei versprechen diese oft zeitraubenden und mühevollen Untersuchungen keineswegs immer augenblicklichen Erfolg, und oft gelingt es erst anderen Forschern nach vielen Jahren, die untersuchten Körper mit vorher noch nicht darge- stellten oder verkannten zu einer Reihe zu vereinigen, die nur im Zu- sammenhang theoretische Schlüsse gestattet und somit die mühsame Arbeit lohnt. In einer Einleitung zu seinen „Beiträgen zur kristallo- graphischen Kenntnis organischer Verbindungen‘ von 1884 teilt Hintze daher „vom Gesichtspunkt der Untersuchung aus“ die beschriebenen organischen Substanzen in drei Klassen: bei der ersten dient die kristallographische Untersuchung zur Identifizierung der Körper und ist maßgebend für die Frage nach ihrer Konstitution: „die Kristallo- graphie hat hier als Hilfswissenschaft der Chemie fungiert“, bei der zweiten, für die Kristallographie wichtigsten Klasse „sehen wir, wie sich die Ergebnisse der kristallographischen Untersuchung zusammen- fassen lassen, um einen Einblick zu gewähren in den Zusammenhang zwischen Gestalt und Stoff, zwischen Kristallform und chemischer Konstitution“, die dritte umfaßt Untersuchungen „von Körpern, deren kristallographische Kenntnis vielleicht erst später als ein willkommenes Glied in die Kette der Betrachtung einer zusammengehörigen Reihe eingefügt werden kann“ und daher „gewiß auch als ein Beitrag im Interesse des Ganzen angesehen werden“ darf. Klärend im Sinne der ersten Klasse wirkten schon die Untersuchungen über Naphtalinderivate in seiner Doktor-Dissertation, die durch Beobach- tung und Kritik Ordnung in diese Gruppe bringen half, für die Kon- stitution entscheidend wurden seine Untersuchungen von Tetraphenyl- aethan-Präparaten (1884), Beziehungen zwischen Gestalt und Stoff 10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Culiur. erweisen (ebenso wie Arbeiten aus der Straßburger Zeit) die Unter- suchung des Triphenylmethans und seiner Abkömmlinge (1884) und besonders seine mehrfachen Untersuchungen über Terpenverbindungen (1885, 1887); sehr zahlreich sind seine steis unbedingt zuverlässigen kristallographischen Beschreibungen organischer Verbindungen, die wert- volles, aber nicht sofort auszunutzendes wissenschaftliches Material darstellen. Eine durch lange Jahre anhaltende, eifrige Beschäftigung mit einem Problem mußte bei einem Forscher vom Range Hintze’s auch zu Fort- schritten der Theorie führen: wir finden sie ausgesprochen in seiner Habilitationsvorlesung in Bonn am 5. August 1834 (Verh. d. naturwiss. Vereins d. Rheinlande u. Westfalens Bd, 41 5. Folge S. 261ff.). Ein erheblicher Erfolg kommt schon im Titel zum Ausdruck: „Ist ein wesent- licher Unterschied anzunehmen zwischen anorganischen und organischen Verbindungen rücksichtlich der Beziehungen zwischen Kristallform und chemischer Konstitution?“, und die Antwort lautet, heute für uns selbst- verständlich, aber nicht für die Zeit vor mehr als dreißig Jahren: Es be- steht kein derartiger Unterschied. Nach einer historischen Darlegung der Lehre von der Isomorphie und ihrer Entwicklung schildert er ausführlich Groth’s grundlegende Lehre von der Morphotropie; aber während sie bisher hauptsächlich auf organische Verbindungen angewendet wurde und bei anorganischen Verbindungen, besonders bei Mineralien, die Betrachtung vom Stand- punkt der Isomorphie noch maßgebend blieb, stehen nach Hintze als isomorph bezeichnete Minerale „gerade so gut in morphotropischer Be- ziehung zueinander, wie organische Verbindungen. ..... Die Ver- schiedenheiten bei den gewöhnlich als isomorph bezeichneten Körpern sind nur eben verhältnismäßig unbedeutend. Durch Vertauschung der sich vertretenden Elemente ist nur eine geringe morphotropische Wirkung hervorgebracht worden. Es soll nun aber nicht bloß eine Namensänderung sein, die Isomorphie als eine Morphotropie schwächeren Grades zu bezeichnen, sondern es ist damit auch eine Veränderung des Standpunktes, die Sache zu betrachten, verbunden, die recht wohl für die weitere Forschung fruchtbar sein kann.“ An zahlreichen Beispielen zeigt er die Fruchtbarkeit dieser Auffassung, und höchst bezeichnend für seine Klarheit und Kritik der Theorie gegenüber ist die Tatsache, daß zu seiner Stellungnahme seine vorzügliche Kenntnis der Minerale mitgewirkt hat: in seiner öffentlichen Antrittsrede ..Über die Bedeutung kristallographischer Forschung für die Chemie“ (Bonn 1884) führt er für seine Auffassung an: „Wir brauchen dann nicht mehr einer ge- zwungenen Gleichheit der Form, einer Isomorphie zu liebe, den Kristallen gezwungene Aufstellungen zu vindizieren, nie beobachtete Formen den Nekrologe. 11 Axenverhältnissen zu Grunde zu legen, sondern statt alles zu nivellieren, wollen wir lieber auf die leitenden und warnenden Wegweiser achten, die uns durch die natürliche Ausbildung der Kristalle gegeben sind.‘ Durch die Habilitation eröffnete sich Hintze wieder die Aussicht auf eine ausschließliche Beschäftigung mit der Wissenschaft, aber leicht ist ihm auch dieser Schritt nicht gemacht worden. Gegen den Willen des Fachvertreters hat er die Zulassung zur Privatdozentur durchge- setzt, und es wäre ihm wohl nicht gelungen, wenn nicht der große Chemiker August Kekul& seine hervorragende Bedeutung erkannt und ihn eifrig unterstützt hätte. Nur noch zwei Jahre mußte er seine Zeit zwischen Berufsarbeit und Wissenschaft teilen: im Oktober 1886 folgte er einem Ruf in seine Vaterstadt Breslau, um als außerordentlicher Pro- fessor den für Martin Websky geschaffenen und in rascher Folge von hervorragenden Forschern besetzten Lehrstuhl für Mineralogie und Kristallographie einzunehmen. Die Mittel dieses Lehrstuhls muß man sich recht bescheiden vor- stellen. Die Hauptvorlesung über Mineralogie hielt der Ordinarius und Direktor, dem Extraordinarius standen nur zwei kleine Räume und wenig - Geld zur Verfügung, gute Instrumente waren allerdings vorhanden. aber eine Sammlung war mit dem Lehrauftrag nicht verbunden, und stets mußte der Lehrer die für den Unterricht erforderlichen Mineral- stufen mit Erlaubnis des Direktors des „mineralogischen Cabinets“ der Hauptsammlung entnehmen und sie nach der Vorlesung so schnell als möglich wieder einordnen. Und doch begann in diesen knappen Ver- hältnissen ein reges und freudiges wissenschaftliches Leben, und bald gingen aus den engen Räumen neben Arbeiten C. Hintze’s auch Unter- suchungen seiner Schüler hervor, die er angeregt und geleitet hatte, um die Methoden und Ziele seiner Bonner Arbeiten weiter zu verfolgen. Die Berufung nach Bresiau bedeutete aber für Hintze viel mehr als einen günstigen Wechsel seiner Arbeitsbedingungen: nachdem bisher nur seine Mußestunden der reinen Wissenschaft gehört hatten, fühlte er jetzt mit der Möglichkeit, seine ganze Zeit wissenschaftlichen Zwecken zur Ver- fügung stellen zu können, auch die Verpflichtung, sich großen und gerade seiner Eigenart und seiner Vorbildung angemessenen Aufgaben zu widmen, und nach kurzem Kampfe, in dem auch der Rat seines ver- 'ehrten Lehrers Ferdinand Roemer bestimmend mitgewirkt hatte, ent- schied er sich für sein Lebenswerk, das gewaltige Handbuch der Mineralogie, das alle bisher bekannten Tatsachen über die ein- zelnen Minerale, ihr Vorkommen und ihre Beziehungen zu einander im Zusammenhang darstellen sollte. Es war ein schwerer Entschluß: in seinem Streben nach Klarheit in allen Verhältnissen war er sich voll bewußt, daß er mit diesem Beginnen, wenn nicht seine ganze Lebens- 12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur arbeit, so doch seine besten und fruchtbarsten Jahrzehnte festlegen würde und daher sein Lieblingsgebiet, die Weiterentwicklung der kristallochemischen Beziehungen, aufgeben müsse, aber seine Kritik sagte ihm, daß wenn überhaupt ein einzelner ein solches Handbuch zu schreiben wagen dürfe, gerade er durch seine scharfen Sinne und sein ungewöhnliches Gedächtnis hierzu berufen und durch die scheinbar ungünstige, tatsächlich aber überaus glückliche Fügung, die ihn durch mehr als ein Jahrzehnt zu immerwährender praktischer Beschäftigung mit den Mineralien gezwungen hatte, geradezu auserwählt sei. Ein solches Werk war notwendig; das einzige bisher bestehende dieser Art, J. D. Dana’s „The System of Mineralogy‘ erstrebte keineswegs Voll- ständigkeit, und andererseits bedeutete ein solches Unternehmen in größtem Styl für Hintze keineswegs einen Verzieht auf bestimmende Mitarbeit an unseren theoretischen Vorstellungen. Gerade für seinen in der Bonner Antrittsrede entwickelten Lieblingsgedanken, die Be- trachtung der Minerale und ihrer Beziehungen zu einander vom Stand- punkt der Morphotropie, konnte es kein besseres, allerdings auch kein mühevolleres Mittel geben als eine zusammenfassende Übersicht über das ganze ungeheure Gebiet der bisher in Jahrhunderte langer Arbeit an den Mineralien festgestellten Tatsachen. Dreißig stattliche Lieferungen des gewaltigen Werkes liegen vor, die erste erschien im Jahre 1889, die letzte wenige Monate vor Hintze’s Tode — und doch ist es nicht vollendet. Die Wissenschaft vermißt schmerzlich das Fehlende, aber trotzdem ist der vorhandene Hauptteil dem Wesen der Mineralogie entsprechend kein Torso. Im Gegensatz zu dem natürlichen, ein organisches Ganzes bildenden System der Tiere und der Pflanzen, auch im Gegensatz zu dem der Gesteine, baut sich das System der Minerale aus einzelnen, unverbunden nebeneinanderstehen- den Mineralgruppen auf — nur innerhalb dieser Mineralgruppen zeigen sich die überaus wichtigen und fesselnden verwandtschaftlichen Be- ziehungen der einzelnen Minerale zu einander. Die überwiegende Mehr- zahl dieser Mineralgruppen und gerade die wichtigsten und interessan- testen, hat Hintze bearbeitet, und heute, vor dem unvollendeten Werke, betrachten wir es als eine besonders glückliche Fügung, daß er sein Buch mit dem zweiten Bande, mit den Silikaten begonnen hat, so daß wir diese wichtigste Klasse schon seit Jahren vollständig von ihm dar- gestellt, besitzen. Als zwei Halbbände mit 1840 Seiten erschienen die Silikate in 11 Lieferungen in den Jahren 1889 bis 1897, und was Hintze in dem am 24. Dezember 1896 geschriebenen Vorwort zu dem den zweiten Band abschließenden Heft versprochen hat, hat er erfüllt: „Ohne Unterbrechung werde ich die Ausarbeitung des anderen Bandes buch- stäblich noch in diesem Jahre beginnen und die Fertigstellung nach Nekrologe. 116) Kräften betreiben.“ Neunzehn weitere Lieferungen mit 2875 Seiten hat er seit dieser Zeit der Wissenschaft geschenkt; in der ersten Abteilung des ersten Bandes liegen die großen Klassen der Elemente und Sulfide, in der zweiten die Oxyde und Haloide abgeschlossen vor, die ersten Hefte der dritten Abteilung enthalten die Nitrate und den Beginn der Karbonate — ihren Abschluß und die Klassen der Borate, Sulfate und Phosphate zu schreiben war ihm nicht mehr vergönnt. Alle ihm verliehenen Kräfte hat er ständig zu einem großen Werk zusammengerafft, die gerade in der Bearbeitung befindliche Mineral- gruppe stand im Mittelpunkt seines Interesses, fast gewaltsam schloß er sich gegen andere Fragen während seiner Arbeit ab, um nicht durch fremde Probleme abgelenkt zu werden. So gelang es ihm, von jedem Mineral ein abgerundetes Bild zu geben, die Kenntnis auf historischer Grundlage zu entwickeln, Sicheres von Unsicherem zu unterscheiden und die Beziehungen der einzelnen Glieder einer Gruppe auf fester Grundlage darzustellen. Und auf lange hinaus wird das Werk eine feste Grundlage der gesamten mineralogischen Forschung bleiben! Es war Hintze’s Bestreben, seinem Werk einen durchaus unpersön- lichen, streng sachlichen Charakter zu geben, und er hat seine Absicht voll erreicht, aber wer ihn näher kannte und schärfer zusieht, findet doch viele Züge seines Wesens, und nicht nur seine Haupteigenschaften, auch in seinem Buche wieder. Von diesen zeigt sich seine ungewöhn- liche Energie in der Art der Durchführung des großen Unternehmens, in der dreißigjährigen gleichmäßigen Tätigkeit, in dem Verzicht auf eigene Untersuchungen, der dem stets Ideenreichen besonders schwer fallen mußte, und in der tatsächlich bewältigten Arbeitsmenge; seine Kritik tritt in der Wertung der Tatsachen und in den kurzen Bemer- kungen über die größere oder geringere Sicherheit der überlieferten Angaben hervor, seine Klarheit beherrscht die Zusammenfassung und Unterscheidung, überhaupt die ganze Art der Darstellung. Daneben aber lassen geschichtliche Entwicklungen, wie er sie jedem Mineral voran- stellt, sein historisches Denken erkennen, Ausführungen über die Ent- stehung der Namen zeigen seine philologischen Neigungen, die Zu- sammenfassung einer Fülle von Tatsachen in klare, den Leser nicht er- müdende Sätze weist bei aller Einfachheit auf eine außerordentliche Be- herrschung der Sprache hin, wie sie nur durch ständige Beschäftigung mit unsern besten Schriftstellern erworben werden kann, und verstreute, ganz vereinzelte Bemerkungen verraten den trefflichen Kenner der Welt- literatur. Und so war sein Wesen: stets tätig und zusammengerafft, klar und kritisch, immer auf ein großes Ziel gerichtet; aber da er seine Zeit zu Rate hielt, hatte er auch Zeit für die Freuden des Lebens, für Kunst und 14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Theater, für Weltliteratur und Weltgeschichte, sowie für das Zusammen- sein mit Freunden aus den verschiedensten Berufen, die sich an seinem treffenden, Personen und Verhältnisse kurz und scharf charakterisieren- den Witz ebenso wie an seiner vielseitigen Bildung und seinem reichen Wissen auf den verschiedensten Gebieten erfreuten. So lernten ihn auch seine Schüler kennen und verehren: im Vortrag klar, mit der Gabe ausgestattet, Schwieriges einfach darzustellen und zu fühlen, wo das Hemmnis beim Schüler liegt, stets hilfsbereit, aber kritisch in der Beur- teilung von Arbeitsweise und Ergebnis, gern von seinem Wissen und Können mitteilend und von dem Wunsche beseelt, die Schüler zu selb- ständiger Arbeit auf den von ihm besonders gepflesten Gebieten der Mineralogie heranzubilden; wer in seinem Institut anderen Zielen zu- strebte, mußte erst Ernst und wissenschaftlichen Erfolg beweisen, bevor er ihm die volle Berechtigung zuerkannte. Neben der Arbeit kam in seinem Institut auch der Frohsinn zu seinem Rechte, und nach kleinen Reibungen, die im Zusammenleben mit einer so scharf ausgesprochenen, ihrer innersten Wesensart wie ein Kristall streng gesetzmäßig ent- wickelten und daher auch wie dieser mit Kanten und Ecken ausge- statteten Persönlichkeit nicht ausbleiben konnten, war es stets der ältere überragende Forscher und Lehrer, der mit einem Scherz, einem freund- lichen Wort das alte Verhältnis schnell wieder herstellte. Seine Schüler haben in dem großen Mineralogen einen eifrigen Förderer und einen treuen Freund verloren, dem sie stets verehrungsvolle Dankbarkeit be- wahren werden. Nach seiner Berufung nach Breslau war Hintze ein gleichmäßiges Fortschreiten und Aufsteigen seiner Lebensbahn beschieden, die reich an Arbeit, an Freuden, an Erfolgen und Ehren war. Im innigen Zu- sammenleben mit seiner Gattin erfreute er sich der glücklichen Ent- wicklung seiner fünf Kinder, die er alle als erwachsene Männer und Frauen in hochgeachteten Stellungen sehen durfte, in seinen späteren Jahren war er von einer Enkelschar umgeben, nach Art eines Patri- archen, aber in reizvollem Gegensatz zu seiner inneren und äußeren Jugend, die er sich bis zu seiner letzten Krankheit bewahrte. Nach dem Tode Ferdinand Roemers wurde er im Jahre 1892 auf Grund des Vorschlages der philosophischen Fakultät zum Ordinarius der Minera- logie in Breslau ernannt, gleichzeitig wurden an Stelle des bisherigen „mineralogischen Cabinets“ ein mineralogisches und ein geologisch- palaeontologisches Institut errichtet und er zum Direktor des ersteren bestellt. Dieser Stellung in seiner Vaterstadt blieb er treu, auch als er einen Ruf nach Bonn erhielt; seine Fakultät bewies ihm ihr Vertrauen durch seine Wahl zum Dekan und durch mehrfache Entsendung in den Senat der Universität. Bei der Begründung der technischen Hochschule Nekrologe. 15 wurde er auch in ihren Lehrkörper berufen und beteiligte sich als Senator an ihrer Verwaltung; die Ernennung zum Geheimen Regierungs- rat und die Verleihung hoher Orden bekunden die von der Staats- regierung seiner Tätigkeit gezollte Anerkennung. Als Nachfolger Ferdinand Roemers wurde er zum Sekretär der naturwissenschaftlichen Sektion der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur erwählt und vertrat später seine Sektion auch im Präsidium; stets war er unserer Gesellschaft im Vorstand und als Vortragender ein eifriges und treues Mitglied. Auf der Höhe angelangt, konnte Carl Hintze auf ein erfolggekröntes glückliches Gelehrtenleben zurückblicken, glücklich aber nicht durch den Zufall, dessen Ungunst er mehrfach überwinden mußte, sondern im Sinne Goethe’s infolge einer gerechten Verkettung von Verdienst und Glück. Die ihm von der Natur verliehenen Gaben, Kraft, Klarheit und Scharfsinnigkeit in der eigentlichen und in der übertragenen Bedeutung des Wortes, hat er treulich gepflegt, gegen Mißgeschick hat er mutig gekämpft, des Erfolges und alles Schönen, das ihm das Leben bot, sich herzlich gefreut. Seine geistige Entwicklung hat er auf eine breite Unterlage aufgebaut, doch haben ihn seine vielfältigen, erfolgreich ge- pflegten wissenschaftlichen und künstlerischen Neigungen niemals zur Zersplitterung verleitet, wohl aber ihn vor der Verknöcherung bewahrt. Durch weise Beschränkung im richtigen Augenblick, bei der Entschei- dung für sein Lebenswerk, ist es ihm gelungen, nach Goethe’s Rat „die Pyramide seines Daseins, deren Basis ihm angegeben und gegründet war, so hoch als möglich in die Luft zu spitzen‘ und somit das höchste seiner Eigenart zugängliche Ziel zu erreichen. Die Lebenden werden dem Manne, die kommenden Geschlechter seinem Werk dauernde Erinne- rung bewahren. IM Reh: Am 1. Mai 1916 starv Max Kamm, Dr. med., Geh. Sanitätsrat, in Breslau. Er war am 1. Juni 1857 zu Tworog in Oberschlesien geboren, besuchte das Matthiasgymnasium in Breslau, das er 1875 mit dem Zeugnis der Reife verließ, um in Breslau und Leipzig Medizin zu studieren. Er promovierte 1879 zum Dr. med. und erlangte 1881 die Approbation als Arzt. Er ließ sich in Breslau vor dem Odertor nieder. wo er bald eine ausgedehnte Tätigkeit als praktischer Arzt ausübte und zugleich als Volontär am Augusta-Hospital beschäftigt war. Im Kreise der Ärzte dieses ziemlich abgeschlossenen Stadtbezirks erwarb er sich rasch allgemeines Ansehen. Er gehörte zu den Gründern und Leitern des ärztlichen Odertor-Bezirksvereins, schloß sich mit großem Eifer dem neu begründeten Leipziger Ärzteverband an, dessen erster Vertrauens- 16 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. mann für Breslau er war. Später wurde er in den Vorstand des Vereins der Breslauer Ärzte gewählt, wo er bis an sein Lebensende das Amt des 2. Schriftführers resp. Schatzmeisters mit großer Sorgfalt verwaltete. 1911 wurde er zum Mitglied der Schlesischen Ärzte-Kammer gewählt. Länger als 15 Jahre, bis zu seinem Tode, war er als Vorsitzender der ärztlichen Krankenkassen-Kommission in hervorragender Weise tätig und genoß durch seine Besonnenheit und Mäßigung das Vertrauen aller Parteien. Im Jahre 1905 wurde er zum Sanitätsrat, im Jahre 1915 zum Geheimen Sanitätsrat ernannt. Er war Stabsarzt der Reserve, hatte 1893 das Physikatsexamen abgelegt, und auch einige Aufsätze aus dem Gebiete der Staatsarzneikunst verfaßt. Seit dem Anfange dieses Jahr- "hunderts wendete er sich der speziellen Behandlung der Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten zu und verfaßte neben einigen Aufsätzen auch ein kleines Buch unter dem Titel: „Was muß der praktische Arzt von Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten wissen“. Großen Anklang fand ein von ihm veröffentlichtes Buch: „Die Steuerdeklaration der Ärzte und Zahnärzte‘, das 1914 in 4. Auflage erschienen ist, ebenso die Schrift: „Was muß der Arzt von der Reichsversicherungsordnung wissen“, die 1913 in 2. Auflage erschien. Bis in die letzten Lebenstage war er für die Interessen der Ärzteschaft tätig, die dem arbeitsamen, schlicht- bescheidenen und sehr klugen Kollegen ein ehrendes Andenken be- wahren wird. RrRKiayser. Am 23. August 1916 starb in Breslau Fritz Katz nach einer tückischen Krankheit, die in wenigen Tagen dem Leben dieses kraft- vollen jungen Mannes ein Ziel setzte. In ihm ist ein Mensch dahin- gegangen, der allen, die sich seine Freunde nennen durften, unersetzlich ist, allen, die ihm je nahe getreten sind, in dauernder wehmütiger Er- innerung bleiben wird. Denn er wurde aus einem Leben hinausgerissen, das gerade erst beginnen sollte, ihm die Früchte zu tragen, nach denen er voll Mühe und unter Überwindung mancher großer Schwierigkeiten Jahre und Jahre gerungen hatte. Erst wenige Monate vor dem Aus- bruche des Weltkrieges hatte er das schöne, große Rittergut Gold- schmieden von seinem Vater erworben, das ihm seit den Tagen seiner Kindheit eine Heimat gewesen war, und das seiner Schaffensfreudigkeit ein dankbares Feld für ihre Entfaltung bot. Er widmete sich dieser schönen Aufgabe mit der ganzen Hingebung eines Mannes, der die Scholle liebt, die ihm angehört, und als der Krieg der Tätigkeit und Umsicht des Landwirtes neue schwierige, aber unendlich wichtige und dankbare Aufgaben stellte, gab er sich diesen neu geschaffenen Pro- blemen mit all der Energie und Intelligenz hin, die ihm eigen war. Aus Nekrologe. 17 dieser Tätigkeit des Kämpfens und Ringens wurde er jäh zur ewigen Ruhe abgerufen. Sein Lebens- und Bildungsgang wich nicht von dem der Söhne aus gutem Hause ab. Er wurde am 17. November 1879 in Kattowitz ge- boren, genoß an höheren Bildungsanstalten, besonders am Breslauer Magdalinäum, seine Schulbildung, verließ es 1897, um seiner Militär- pflicht zu genügen und sich dem Bankfach zu widmen, in dem er sich in Breslau und London ausbildete. Eine Erkrankung seines Vaters, der Gutsbesitzer war, veranlaßte ihn seinen Beruf zu wechseln und Landwirt zu werden, um ihm in der Bewirtschaftung seiner Güter beizustehen. Seine praktische Vorbildung zu diesem Berufe erwarb er sich auf den Gütern Muckerau und Ober-Altellguth, wo er als Eleve tätig war, die theoretische an der Landwirtschaftlichen Hochschule der Universität Breslau. 1907 übernahm er pachtweise von seinem Vater das Gut Neu- kirch, 1914 kam das Rittergut Goldschmieden in seinen Besitz. Alfred Hamburger. Hermann Klaatsch. Siehe allgemeinen Bericht S. 37. Josei Klose wurde am 28. Mai 1841 zu Frankenstein in Schlesien geboren. Er besuchte zuerst die Volksschulen zu Frankenstein und Neurode, darauf das Gymnasium zu Glatz, studierte dann Theologie in Breslau und wurde am 1. Juli 1865 zum Priester geweiht. Seine erste Anstellung erhielt er als Kaplan in Neustadt O/S., woselbst er bis zum Februar 1884 wirkte. Von 1884 bis September 1890 war er Pfarrer in Wartha, von 1890 bis September 1903 Pfarrer in Falkenberg O/S.; er wurde Erzpriester des gleichnamigen Archipresbyterats und Fürst- bischöflicher Kommissarius des Kommissariats Oppeln. Am 2. Dezember 1903 wurde er als residierender Domherr an der Breslauer Kathedrale installiert. In dieser Stellung bekleidete er verschiedene Verwaltungs- ämter mit solchem Erfolge, daß das Domkapitel ihn nach dem Hin- scheiden des Kardinals Kopp im März 1914 zum Kapitularvikar wählte. Die katholisch-theologische Fakultät der Breslauer Universität ehrte ihn Oktober 1914 durch Verleihung der theologischen Doktorwürde honoris causa. Fürstbischof Dr. Bertram ernannte Kanonikus Klose bald nach seinem Amtsantritt zu seinem Generalvikar. Schon schwer leidend ver- waltete Klose dieses schwierige Amt fast drei Jahre lang bis zu seinem am 17. Januar 1916 erfolgten Tode. Der hl. Vater verlieh ihm im De- zember 1915 die Würde eines Apostolischen Protonotars und infulierten Prälaten. Klose war das Muster eines eifrigen, frommen, selbstlosen, still und bescheiden wirkenden Priesters. Mit großen Geistesgaben ausgestattet, wirkte er besonders gerne unter der Jugend. Er war ein gottbegnadeter 1916. 2 18 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Katechet. Sein im Verlage von Huch in Neiße erschienener „‚Beicht- und Kommunionunterricht“ erlebte viele Auflagen. Bescheiden und zurückgezogen lebend. verwendete er fast seine ganzen Ersparnisse schon zu Lebzeiten zu Werken der Wohltätigkeit. Stets heiter und zu- vorkommend zenoß er die Liebe und Verehrung aller, die zu ihm in nähere Beziehungen traten. Tiefbetrauert von seinen Freunden und Amtsgenossen starb er am 17. Januar 1916 im 75. Jahre seines Lebens, im 51. Jahre seines Priestertums. IE Nikel Am 26. Juni 1916 starb unser korrespondierendes Mitglied, der Geheime Regierungsrat Prof. Dr. Kny, in Berlin-Wilmersdorf. Geboren am 6. Juli 1841 in Breslau, besuchte er das hiesige Matthiasgymnasium, das er zunächst mit dem Primaner-Zeugnis verließ, um auf Wunsch seiner Eltern dem kaufmännischen Berufe sich zu widmen; aber bald trieb ihn die Neigung zu wissenschaftlicher Arbeit wieder zur Schule zurück, und so bestand er 1859 die Reifeprüfung. Er studierte zunächst in Breslau, besonders angeregt durch Göppert und Ferdinand Cohn, dann in München und Berlin und promovierte hier 1863 zum Dr. phil. Seine geschwächte Gesundheit veranlaßte ihn, drei Jahre fast ununterbrochen auf Reisen zuzubringen; erst im Sommersemester 1867 habilitierte er sich als Privatdozent an der Berliner Universität, der er bis zu seinem Lebensende treu blieb. Hier wurde er zum außerordentlichen Professor der Pflanzenanatomie und Physiologie an der Universität ernannt. gleichzeitig auch zum ordentlichen Professor an der dortigen Landwirtschaftlichen Hochschule: er war Direktor des pflanzenphysiolo- gischen Instituts der Universität und des botanischen Instituts der Land- wirtschaftlichen Hochschule. Kny war ein hervorragender, geistreicher Forscher, der auf vielen Gebieten der Botanik erfolgreich tätig war; vorzugsweise aber hat er die pflanzliche Physiologie und Anatomie durch eine ungewöhnlich große Zahl von Einzeluntersuchungen gefördert. In die kritische und gewissen- hafte Art seines Arbeitens gewähren die in jedem Institut bekannten „Botanischen Wandtafeln“ einen überzeugenden Einblick. Seine zahl- reichen Schüler werden in dankbarer Erinnerung das Bild des anregenden Lehrers niemals vergessen; wer ihm näher trat, wird sich gern der liebens- würdigen Persönlichkeit, die stets hilfsbereit war, erinnern. Am 27. Februar ist in Dresden Hofrat Prof. Dr.-Ing. h. ce. Hermann Krone, unser korrespondierendes Mitglied. im 90. Lebensjahre gestorben, der zuletzt etatsmäßiger Dozent für Photographie an der Technischen Hochschule in Dresden war und sich auf dem Gebiete der Photographie große Verdienste erworben hat. Am 14. September 1827 in Breslau geboren, Nekrologe. 19 am Gymnasium zu St. Elisabeth vorgebildet, erlernte er bei seinem Vater die Lithographie und studierte daneben Philosophie und Natur- wissenschaften; von 1848 bis 1850 war er Mitarbeiter der Breslauer Sternwarte und des von derselben herausgegebenen astronomischen Jahrbuches „Uranus“. Nachdem er 1849 bis 1850 Schüler der Kunst- akademie in Dresden gewesen war und 1851 in Leipzig eine größere photographische Anstalt zu errichten versucht hatte, ließ er sich 1852 dauernd in Dresden nieder, errichtete hier eine Kunst- und Lehranstalt für Photographie und erweiterte diese binnen kurzem durch einen photographischen Kunstverlag. 1870 habilitierte er sich am Dresdener Polytechnikum, der jetzigen Technischen Hochschule, als Dozent für Photographie. Er gab seitdem die geschäftliche Tätigkeit auf und widmete sich ganz dem wissenschaftlichen Lehr- beruf in einem der Hochschule angeschlossenem eigenen Auditorium und Laboratorium. 54 Semester, bis zum Jahre 1907, war er als Dozent tätig. 1869 begründete er die Photographische Gesellschaft zu Dresden und das Organ der Gesellschaft „Helios“. 1874 ging er als Leiter der photo- graphischen Abteilung zur Beobachtung des Venusdurchganges mit der wissenschaftlichen Reichsexpedition nach den Auckland-Inseln. Be- merkenswert ist auch sein historisches Lehrmuseum für Photographie. Unter anderem ist ihm die Einführung der Stereoskopie, die Anwendung photographischer Trockenplatten für Landschaftsmalereien in Deutsch- land zu verdanken. 1858 erfand er den ersten Wechselapparat zum Auswechseln lichtempfindlicher Trockenplatten im vollen Tageslicht. Richard Lachmann f. Für die geologische Jugend Deutschlands gilt das Dichterwort: „Ja der Krieg verschlingt die Besten“. Nachdem F. F. Hahn in den ersten Monaten in Frankreich gefallen und H. von Staff in Südwest ein Opfer des Krieges geworden war, stehen wir jetzt an dem Karpathengrabe Richard Lachmanns, dessen Name mit einem weit reichenden Fortschritt der geologischen Erkenntnis verknüpft ist. Neben seiner stets klaren und Neues bringenden Beobachtungsgabe, neben den anregenden Gedanken über Erzlagerstätten, Tektonik des Steinkohlengebirges und der Alpen, über die Entstehung der Tuffkanäle (Hemidiatremen) in Ungarn und den Vulkanismus der Euganeen sind be- sonders Lachmanns Forschungen über die Entstehung und Umformung der Salzlagerstätten von bahnbrechender Be- deutung. Die Entstehung der in Form an Eruptivschlote erinnernde, das auflagernde Gebirge durchbrechenden Salzmassen war vor 8 Jahren d. h. vor Lachmanns Auftreten derart dunkel, daß im Kolleg das Vor- kommen als unerklärt bezeichnet werden mußte. Denn daß sich allein DE: . 30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. durch gebirgsbildende Kräfte kein „Salzhorst“ bilden konnte, mochte man das umgebende Gebirge absinken oder das Salz als „Aufpressungs- gebilde‘‘ emporsteigen lassen, war ohne weiteres klar. Schon die leichte Löslichkeit der Stein- und Kalisalze in unserem niederschlagreichen Klima stand diesem Deutungsversuch entgegen. Und wenn man gar die eigenartigen Verschlingungen der Carnallitschnüre auf tektonische „Faltung“ zurückführen würde, wenn gar vor den Augen eines vor- stellungskühnen Geologen in der Lüneburger Heide ein Himalaya emporsteigen konnte, so weiß die Wissenschaft dem Scharfblick des zu früh dahingegangenen Forschers Dank, welcher diese leeren Phantasie- gebilde mit energischem Schnitte entfernt hat. Doch verdanken wir Lachmann nicht nur die Beseitigung der Aus- wüchse der Tektonik — von denen sich übrigens der Altmeister Eduard Sueß noch selbst in einem Briefe an den Unterzeichneten energisch ab- gewandt hatte —, sondern vor allem auch die Aufrichtung eines durch zahlreiche Beobachtungen gefestigten Gedankenbaus — die Ekzemtheorie —, zu deren Begründung der berühmte schwedische Physiker Svante Arrhenius wertvolle Bausteine beigetragen hat. Wie hoch der schwedische Nobelpreisträger die Arbeit des jungen deutschen Fachgenossen einschätzte, geht aus seinem im folgenden wiedergegebe- nen Schreiben hervor: „Zu meinem großen Bedauern habe ich erfahren, daß Prof. Richard Lachmann ein Opfer dieses schrecklichen Krieges geworden ist. Da ich seine Tüchtigkeit hoch schätzte, nehme ich lebhaft an der Trauer über sein tragisches Schicksal Teil, in der blühenden Kraft seines ersten Mannesalters hinweggerafft worden zu sein.“ Richard Lachmann wurde am 23. Februar 1885 in Hamburg ge- boren. Nachdem er Ostern 1903 das Reifezeugnis erhalten hatte, wurde er Bergbaubeflissener und lag zunächst ein Jahr lang praktischen Studien in den Bergwerken des preußischen Staates ob. Von 1904 bis 1907 studierte er an den Universitäten München und Berlin. An letzte- rer promovierte er am 23. November 1907 (Inauguraldissertation: Der Bau des Jackel im Obervintschgau). Am 29. November desselben Jahres bestand er das Staatsexamen, wurde Bergreferendar und war als solcher in den nächsten Jahren tätig. Da er sich jedoch besonders für die Geologie als Wissenschaft interessierte, nahm er 1911 eine Assistentenstelle am geologischen Institut der Universität Breslau an. Hier erhielt er auf Grund seiner Habilitationsschrift: „Der Bau des niederhessischen Berglandes bei Hundelshausen“ im November 1912 die venia legendi. Nach Ausbruch des Krieges von August 1914 bis Februar 1915 war er als Zivilbauleiter bei der Fortifikation Breslau und in Polen tätig. Nekrologe, 21 Im September 1915 trat er als Freiwilliger Schütze in die Schneeschuh- Ersatz-Abteilung in Immenstadt ein. Im Juni 1916 kam er als Gefreiter des 3. Jäger-Regiments ins Feld und machte die Stürme auf Douaumont vor Verdun mit. Er erhielt das Eiserne Kreuz für das Eindringen in das französische Fort Souville, über das er seinem Regimentskommandeur Meldung erstattete. Am 7. September ist er in den Karpathenkämpfen durch Kopfschuß beim siegreichen Sturmangriff am Carny Czeremosz gefallen. R. Lachmann war in Krieg und Frieden als Forscher und als aka- demischer Lehrer frisch, stets angeregt und anregend voller Lebensmut und Unerschrockenheit: „Er ist ein Mensch gewesen, und das heißt ein Kämpfer sein“. Wie er aus Liebe zur wissenschaftlichen Wahrheit mit seiner Ekzemtheorie der damaligen offiziellen Geologie Fehde ansagte und siegreich durchfocht, so litt es ihn im Kriege nicht hinter der Front, trotzdem eine Betätigung als Kriegsgeologe die naturgemäße Fort- setzung seiner Stellung als Bauleiter bei den Fortifikationsarbeiten ge- wesen wäre. Aber auch in die Stürme des Krieges hinein begleitete ihn wieder die glühende Liebe zu seiner Wissenschaft. Der ganze Lachmann, der scharfe Beobachter, der frische Mensch, der gute Kamerad steht vor uns in einem Briefe an den Unterzeichneten, der am Morgen des letzten Sturmes geschrieben und in der Brieftasche des Gefallenen gefunden worden ist: In den Karpathen, 6. September 1916. „leh liege hier mit meiner bayrischen Jäger-, früheren Schneeschuh- Kompagnie am ungarischen Grenzkamm in ca. 1800 m Höhe bei sehönster Morgensonne. Die Hochkämme hier bestehen aus Verukano, sind beiderseits von Klippenzonen eingefaßt und morphologisch ein ver- größertes Riesengebirge. An der Auffassung der Hochfläche als Pene- plain werde ich von Tag zu Tag mehr schwankend. Das Wiesen- Phänomen westlich der Schneekoppe ist die Ausnahme, nicht die Regel bei diesen Hochflächen. Ich habe 2 Karpathenkamm-Querprofile. einige Glazialbeobachtungen (Karbodenhöhe 1500—1600 m) sowie manches Morphologische festlegen können. Ich bin jetzt seit 2'/s Monaten im Felde. Habe zwei böse Tage vor Verdun (wir sind am 12. Juli am weitesten von allen Truppen bisher gegen Souville vorgedrungen mit ca. 80°/s blutigen Verlusten) glücklich nicht nur überstanden, sondern auch tüchtig dekoriert worden, weil ich den Zustand vorne als Erster dem Regiments-Kommandeur be- schreiben konnte. So wird man zum Kriegshelden, ehe man sichs versieht. 32 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Verdun ist damals, wo der Kampf auf dem Höhepunkt stand, eine Klasse Weltkrieg für sich, die schärfste Probe auf Selbstbeherrschung. ‚Deshalb bewähren sich gerade die Gebildeten und unsere bayrischen Bauernburschen wegen ihrer animaiischen Kaltblütigkeit an solchen Stellen am besten. Auch dieser Karpathen-Gebirgsfeldzug ist etwas Einziges, steht in denkbar schärfstem Kontrast zum Fleischhacken bei Verdun. Auf der positiven Seite: eine herrliche Natur, interessante Siedlungsformen, Kriegführung häufig & la Lederstrumpf, wenig Artilleriegefahr und ein minderwertiger Gegner. Auf der negativen: Tage ohne hinreichende Ver- pflegung, wenig regelmäßige Post und kein Mittel, der Läuse Herr zu werden. Ferner die Last des schweren Gepäcks. Ich fühle mich recht wohl als Krieger, würde aber natürlich auch mal wieder eine wissenschaftliche Tätigkeit nicht ausschlagen.“ Re Frech. Am 15. Mai 1916 verschied schnell und unerwartet in Breslau Professor Dr. Richard Leonhard, der lange Jahre als Geograph an der Friedrich-Wilhelms-Universität gewirkt hat und bei allen Fachgenossen nah und fern sich einen hochgeachteten Namen geschaffen hat. Aus erfolgreichem Schaffen schied er dahin, kurz nachdem er der Welt ein bleibendes Denkmal seiner umfassenden Forschertätigkeit in seinem Reisewerk „Paphlagonia“ geschenkt hatte. Er schied dahin, betrauert von seinen Freunden, denen er allezeit ein lieber treuer und zuver- lässiger Freund gewesen, betrauert auch von seinen Fachgenossen, die von seinem umfassenden Wissen, seiner sorgsamen Arbeit, seiner an- regenden Forschertätigkeit noch viel erhofft hatten. Schweres inneres Leiden hatte seine Gesundheit untergraben; er schied allen ihm Nahe- stehenden zu früh —. Geboren am 25. Mai 1870 in Breslau besuchte Richard Leonhard das Magdalenen - Gymnasium daselbst und verließ es 1889 mit dem Zeugnis der Reife, um sich dem Studium der Erdkunde und der Geologie zuzuwenden. Zunächst studierte er zwei Semester an der heimatlichen Universität, und wandte sich darauf nach Wien, wo er drei Semester bei dem Altmeister der Geologie, dem ewigjugendlichen Eduard Süß, bei Uhlig und Fuchs der Erdgeschichte sich widmete und auch bei Hann und Penck Geographie trieb. Von 1891—1893 hörte er bei Partsch, Römer, Frech und BHintze in Breslau Vorlesungen aus denselben Gebieten und widmete sich spezielleren Studien, besonders auch über den Oderlauf mit seiner wechselvollen Geschichte. „Der Stromlauf der mittleren Oder“ war das Thema seiner Inaugural - Dissertation, in der er in prächtiger Nekrologe. 23 Verquickung morphologischer Beobachtung mit sorgsamen, geschickt ausgewerteten historischen und archivalischen Studien ein Bild des Werdeganges des heutigen Oderlaufes entrollte, eine Arbeit, die grade damals mit Rücksicht auf die in die Wege geleitete Oder-Regulierung von besonderer allgemeiner Bedeutung war. Am 18. Februar 1893 bestand er das Examen rigorosum mit hervorragendem Erfolge. Die nächsten Jahre fesselte ihn die Vertiefung seiner geologischen Kenntnisse und besonders die geologische Erforschung der erst in großen Zügen durchforschten Heimatprovinz. Am 11. Juni 1895 suchte ein beträchtliches Erdbeben nach langer Pause Mittelschlesien heim. Gemeinsam mit dem damaligen Assistenten am geologischen Institut, Dr. Wilhelm V olz, ließ er sich die genaue Er- forschung seiner Wirkungen, der Art seines Auftretens und seiner Ursache angelegen sein und gab mit ihm gemeinsam eine kurze, erschöpfende Darstellung im 73. Jahresbericht der schlesischen Gesell- schaft für vaterländische Cultur (189%). der dann im nächsten Jahre eine Betrachtung der schlesischen Erdbeben iin der Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde in Berlin) folgte, die Wesen und Ursachen der Schlesischen Erdbeben vergleichend (Jarstellie. Noch mehrfach kamen beide Autoren in den nächsten Jahren auf Einzelfragen zurück. Es ist dies wohl die letzte Bearbeitung eines Erdbeben-Phänomens vom allge- mein-geologischen Gesichtspunkt aus — bald begann die Umspannung der Erde mit mikroseismischen Beobachtungsstationen. 1897 folgte eine Monographie über „die Fauna der Kreideformation in Oberschlesien“ (Paläontographika Jahrgang 44). Nun zog es Leonhard in die Ferne zur Forschertätigkeit; Griechen- land war sein erstes Ziel, und die Erforschung der Insel Kythera war sein nächstes Arbeitsfeld. Auf Grund dieser Reise habilitierte er sich am 23. Juli 1898 in Breslau als Privatdozent für Geographie. Die Mono- graphie der Insel ist als 128. Ergänzungsheft von Petermanns Geogra- phischen Mitteilungen 1899 erschienen. Hier zeigte er zum erstenma! sein großzügiges geographisches Können, das es ihm ermöglichte, die vieige- staltigen Fragen der geologischen Geschichte und Gestaltung, des morpho- logischen Aufbaues, von Klima und der Einwirkung des Menschen zu einem großen, innerlich verflochtenen Bilde auszugestalten. Die nächsten Jahre seines Lebens widmete Leonhard tätiger Forscherarbeit in Kleinasien; 1899, 1900 und 1903 bereiste er das nörd- liche Kleinasien, nach jeder Beziehung trefflich ausgerüstet und brachte aus sorgsamer unermüdlicher Arbeit ein reiches und wertvolles Material mit heim. Seine sorgfältigen kartographischen Aufnahmen veränderten das bisherige Kartenbild dieser erst wenig erforschten Gebiete ganz gewaltig und kein Geringerer als Heinrich Kiepert bezeichnete Leonhards 24 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. kartographische Aufnahmen als „grundlegend für unsere Kenntnis“. So sorgfältig wie bei seinen Aufnahmen war Leonhard auch bei der Ver- arbeitung seines Materials; es war ihm nicht gegeben, in kühnem Fluge eine vorläufige Übersicht der Ergebnisse zu geben, auf die Gefahr hin später einmal sich hier und da selbst korrigieren zu müssen. Was aus seiner Feder kam, war abgeschlossen und endgiltig. So kam den Fach- genossen zunächst nur wenig von seinen Ergebnissen vor Augen; das ausgearbeitete kartographische Material gab er neidlos an Kiepert, der es in seine große Karte von Kleinasien verarbeitete. Und wenn Kiepert auch in den Begleitworten in hohem Lobe Wert und Bedeutung dieses Materiales hervorhebt, auf der Karte selbst ist der gewichtige Anteil Leonhards auch für den Fachmann schwer zu erkennen. Sonst bilden ein Aufsatz über den Gebirgsbau des nördlichen Kleinasiens (im Neuen Jahrbuch für Mineralogie ete.) und zwei Arbeiten über paphlagonische Felsengräber und Denkmäler (in den Sitz.-Ber. d. schles. Ges. f. vaterl. Cultur) fast das einzige, was er von seinen Reiseergebnissen vorläufig bekannt gab. Auch in Vorträgen hat er nur selten über seine Reisen berichtet. So blieb ihm die verdiente Anerkennung denn auch lange versagt. 1908 erhielt er den Professortitel. Seine Jahre verflossen in eifriger Arbeit und wenn auch wenig nur das Licht der Öffentlichkeit erblickte, seine Freunde wußten, ein wie großes und wertvolles Material fast druck- fertig in seinem Schreibtisch lag, der Vollendung des Ganzen harrend. Als dann 1915 sein Reisewerk. „‚Paphlagonia‘“ erschien, mitten im Kriege, da war sich die Fachkritik einig in der hohen Anerkennung dieser Leistung, der Fülle des Neuen, der sorgsamen Beobachtung und der vorzüglichen kritischen Durcharbeitung des Ganzen. Als die türkische Universität in Konstantinopel deutsche Lehrkräfte heranzog, da war Leonhard einer der Ersten, die dorthin berufen wurden; aber er lehnte den ehrenvollen Ruf ab, das Wirken an einer deutschen Hochschule vorziehend; doch die verdiente Frucht seiner Arbeit, die Berufung auf einen deutschen Lehrstuhl der Erdkunde, konnte Leonhard nicht mehr erleben; bereits am 15. Mai 1916 starb er, kaum 46 Jahre alt. Die letzten Jahre seines Lebens waren nicht sehr glücklich; körper- liches Leiden stellte sich ein und ließ ihn die Enttäuschung über die erst spät kommende Anerkennung bitterer empfinden; zudem sagte ihm die Enge des Wirkungskreises nicht zu, obwohl er mehr Forscher als Lehrer war. Tief aber empfand er es, daß sein Leiden es ihm, der mit Leib und Seele Soldat gewesen, unmöglich machte, mit hinauszuziehen in den Kampf für die heilige Sache des Vaterlandes. Als Mensch war Leonhard bei allen, die ihn näher kannten, sehr hoch geschätzt und beliebt, seinen Freunden ein zuverlässiger und treuer Nekrologe. 25 Freund und in vertrautem Kreise war er ein liebenswürdiger, anregender und fröhlicher Gesellschafter. Er wird unvergessen bleiben, Professor Dr. Wilhelm V olz- Erlangen. Am 31. Januar 1916 verstarb in Breslau der Geheime Medizinalrat Herr Dr. Hans Matthes, Kgl. Kreisarzt des Landkreises Breslau. Am 22. Mai 1856 als Sohn eines Domänenpächters in Westpreußen geboren, bestand er 1876 in Nakel das Abiturientenexamen. Den größten Teil seines Studiums absolvierte er in Berlin; hier erhielt er auch, nach- dem er im März 1880 promoviert worden war, am 18. März 1881 die Approbation als Arzt. Nach Ableistung seiner Dienstpflicht bei dem 5. Badischen Infanterie- Regiment und dem Garde-Füsilier-Regiment ließ er sich — 1882 — in Flatow in Westpreußen als Arzt nieder, verlegte aber bereits im nächsten Jahre seinen Wohnsitz nach Hamburg, um sich medizinisch weiter aus- bilden zu können. Nach Bestehen des Physikatsexamens am 14. März 1885 wurde ihm im Juli des nämlichen Jahres die Verwaltung der Physikatssetelle in Obornik im Kreise Posen übertragen; seine definitive Anstellung hierselbst erfolgte am 4. November 1885. Kurz zuvor war er zum Stabsarzt der Reserve ernannt worden. In Obornik leitete er zunächst das Städtische Krankenhaus, später das Krankenhaus des Vaterländischen Frauenvereins und vertrat auch des Öfteren und des Längeren den leitenden Arzt der Privatirrenanstalt in dem benachbarten Kowanowko. Seine Privatpraxis wuchs schließlich derart an, daß er sie nur noch mit Hilfe eines Assistenten zu bewältigen vermochte. Während zweier Wahlperioden war er Mitglied der Ärztekammer der Provinz Posen. 1901 wurde H. Matthes als Kreisarzt des Landkreises Breslau nach Breslau versetzt und übernahm auch alsbald die Arztstelle an dem Kgl. Untersuchungsgefängnis. Privatpraxis übte er hier nicht mehr aus. Sein conciliantes Wesen und seine Arbeitsfreudigkeit erwarben ihm auch in diesen Stellungen viele Freunde; besonders verdient gemacht hat er sich durch die treffliche Einrichtung des Kreiskrankenhauses und des während seiner Amtszeit ebenfalls erbauten Lazaretts des Untersuchungs- gefängnisses. Seit 1885 war H. Matthes mit einer Tochter des Landes-Ökonomierats Herrn Hoffmeyer auf Zlodnik in glücklichster Ehe verheiratet; das einzige Kind ist mit dem Hauptmann in dem Neisser Pionierbataillon Herrn Wehowski verehelicht. A.Lesisier. 96 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vater]. Cultur. Albert Neisser. Siehe allgemeinen Bericht S. 15. Dr. jur. Karl Anna Reichsgraf von ÖOppersdorä, auf Alt- waltersdorf, ist am 16 Juni 1868 auf Schloß Geppersdorf Östereich - Schlesien geboren. Er wurde mit jungen Jahren in eine ausländische Erziehungsanstalt geschickt und legte seine Reifeprüfung auf dem Gymnasium in Paderborn ab. In den folgenden Jahren besuchte er die Universitäten von Berlin, Genf, Heidel- berg und Oxford, auch lernte er auf Reisen Europa kennen. In Heidelberg wurde er zum Dr. juris promoviert. In späterer Zeit besuchte er als, Vorbereitung für den Beruf des Landwirts die landwirtschaftliche Akademie in Poppelsdorf bei Bonn. Einige Jahre vergingen mit Reisen und der Ableistung der militärischen Dienstpflicht bei dem 2. Garde- Ulanen-Regiment. Dann trat er für zwei Jahre in den diplomatischen Dienst,, den er verließ, um sich auf seinem Rittergute Ober-Altwalters- dorf seßhaft zu machen. Sein Leben bot keine besonderen Schicksale, dagegen bezeichnet er selbst seinen Übertritt zum evangelischen Glauben als ein Ereignis von großer Bedeutung für ihn. Außer der Doktordissertation verfaßte er 1911 die Schrift: „Die Produkte der Viehzucht und der genossenschaftliche Handel“. Er starb im Jahre 1916 als auswärtiges Mitglied der Gesellschaft. Am 2. März 1916 starb unser Ehrenmitglied, Oberstleutnant Pro- fessor Dr. phil. h. c. Paul Pochhammer. Eine Persönlichkeit unge- wöhnlicher Eigenart und Kraft ist mit ihm aus dem deutschen Geistes- leben geschieden. Eigenartig schon in ihren Lebensschicksalen. Als Kind unserer Provinz war er am 21. Februar 1841 zu Neiße geboren. Seine Schulbildung schloß er 1859 als Abiturient des Maria-Magdalenen- Gymnasiums unserer Stadt ab. Er fühlte sich stets als Schlesier und kehrte bis in die allerletzten Jahre mit besonderer Liebe auf häufigen, wenn auch kurzen, Reisen zur alten Heimat zurück. Nach dem Verlassen der Schule trat er als Fahnenjunker in das Garde-Pionierbataillon und hatte die stolze Freude als junger Offizier die drei Feldzüge mitzumachen, die das neue Deutschland geschaffen haben. Mit dem Eisernen Kreuz geschmückt, kehrte er aus Frankreich heim. in den Jahren 1873—83 war er als Hauptmann Lehrer der Befestigungs- kunde an der Kriegsakademie. Es war eine besondere Genugtuuns seiner letzten Monate, daß der Volksheld unseres gegenwärtigen Lebens- kampfes, Hindenburg, sich als seinen damaligen Schüler bekannte. Auch Beseler hat zu seinen Füßen gesessen. Dieser akademischen Tätigkeit folgte 1883—87 die als Kommandeur des 4. Pionierbataillons in Magdeburg. Dann aber trat die Krisis seines Nekrologe. 27 Lebens ein. Ein schweres Nervenleiden zwang ihn 1883 den geliebten Dienst zu verlassen. Er erhielt als Oberstleutnant z. D. seinen Abschied. Fünf Jahre lang weilte er in der Heilanstalt des Dr. Kleudgen in dem uns benachbarten Obernigk. Dort fand er die Heilung nicht in geistiger Ruhe, sondern in der leidenschaftlich ergriffenen Beschäftigung mit Dante. Wohl hatte er schon als Schüler die Göttliche Komödie kennen gelernt (er erzählte gern, wie seine besondere Auffassung des Danteschen Weltaufbaus sich mit schulzeitlichen Erinnerungen aus der Kallen- bachschen Badeanstalt in Breslau verband). Jetzt aber wurde ihm der große Florentiner zum Inhalt des Lebens. In der Obernigker Anstalt faßte er den Plan, und führte ihn aus, das große Gedicht Dantes dem deutschen Volke in einer Gestalt zu geben, die Dante ebenso zum deutschen Dichter machen sollte, wie Homer und Shakespeare die unseren geworden sind. Um die göttliche Komödie bei uns wirklich heimisch zu machen, glaubte er ihre Terzinenform aufgeben zu müssen, und wählte für seine Übersetzung die flüssigere, und durch Wieland, Goethe und viele andere uns längst vertraut ge- wordene Oktave. Man kann über die Beziehung zwischen Inhalt und Form in der Dichtung, und daher über die Berechtigung ein bis in die innerste Seele dringendes Werk wie die göttliche Komödie in eine ihm fremde Form zu gießen, verschieden urteilen. Das aber muß man Pochhammer zugestehen, daß er Meister in der Anwendung der Stanze war. Sie wurde ihm fast zum natürlichen Ausdruck seines Denkens. Auch was er in geistvoller intimer Korrespondenz, in Widmungs- schreiben u.a. aussprach, floß ihm oft wie von selbst in diese Form. Wie wirkungsvoll er sie zu gestalten wußte, wird jedem unvergeßlich sein, der ihn seine Danteverse hat rezitieren hören. Aber nicht ein ästhetisches Gut wollte Pochhammer der deutschen Literatur mit seiner Übersetzung schenken. Für ihn war Dante zum Führer allen Denkens und Handelns geworden. Pochhammer war eine durchaus religiöse Natur. Das menschliche Leben hatte für ihn seinen Wert nur als ein Gestalten der sittlichen Idee. Aus dem Inferno unseres dumpfen Daseins müssen wir den Berg der Läuterung hinan- steigen zum paradiesischen Schauen der Gottheit, das heißt zu ihrer Verwirklichung in uns durch unser sittliches Handeln. Dies mit un- übertroffener Macht und Anschaulichkeit dargestellt zu haben, vergleich- bar nur mit der anderen von Pochhammer mit gleich heißer Liebe er- faßten Dichtung, dem Faust, war für ihn der Ewigkeitswert der gött- liehen Komödie!}. Diese Religion von allen dogmatischen Fesseln gelöst, [3 !) Wie seine beiden Dichter, Dante und Goethe, ebenso wie ihre beiden Konfessionen, ihm die gleiche Gottheit künden, hat er in schönen Versen ausge- 28 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. dem deutschen Volke zu verkünden, setzte er sich zum Ziel seines ferneren Lebens. Als Apostel dieser Dantemission wollte er seine Bot- schaft zu Hoch und Niedrig tragen. Er wurde ihr Wanderprediger, so- weit die deutsche Zunge klingt, in den Auditorien der Universitäten, die ihm zu seiner Freude geöffnet wurden, in den Sälen der Humboldt- akademie zu Berlin, aber auch überall sonst, wo er einen Hörerkreis fand, er mochte so groß oder so klein sein, wie er wollte, in der Geselligkeit der Gebildetsten und Höchststehenden, wie im Einzelgespräch mit den Einfachsten. Und wes sein Herz voll war, des floß sein Mund über, in oft stürmischem Wallen, eindringlich, hier und da mochte man fast sagen aufdringlich, aber zugleich unendlich liebenswürdig in Ernst und Scherz, und gewinnend durch die heilige Überzeugung vom Wert dessen, was er zu sagen hatte. Das war nun freilich nicht der Dante der in Italien, England und Deutschland üblichen, gelehrt betriebenen Dantephilologie. Sie nalım den ethischen Inhalt des großen Gedichtes als im wesentlichen wohl- bekannt und gegeben hin. Aber eine Fülle von Schwieriskeiten im einzelnen war und bleibt dem Verständnis zu erschließen. Das Leben des Dichters und sein Verhältnis zur Divina Commedia ist uns längst noch nicht hinreichend bekannt. Nicht einmal die Textgestalt des Ge- dichtes ist aus den hunderten von Handschriften, die in unzähligen Versen von einander abweichen, genügend gesichert. Welche Fülle vor Personen und Ereignissen, auf die Dante anspielt, gilt es genauer zü erkennen! Wie verhält sich das, was er sagt, zur Religion und Wissen- schaft seiner Zeit? Und dann sind da die anderen italienischen und lateinischen Werke des Dichters, über deren Echtheit oder Unechtheit zum Teil noch nicht endgültig entschieden ist und die ebenso viel des Erklärungsbedürftigen enthalten, wie die Divina Commedia. So gibt es eine Unendlichkeit von Fragen, mit deren Untersuchung sich die Bände der Dantologen füllten und füllen. Pochhammer stand in be- wußtem Gegensatz zu dieser gelehrten Danteforschung. Ihre Probleme hatten für ihn fast durchweg ganz untergeordneten Wert. Nicht ohne sprochen, mit denen er unserer Gesellschaft ein Exemplar seiner letzten Dante- übersetzung widmete: Zwei Bäume seh ich auf zum Himmel ragen; Mit Recht sorgt jeder nur für sich allein. Doch wenn sie beide gleiche Früchte tragen, Dann können artverschieden sie nicht sein. „Steht’s anders mit den Kirchen ?‘“ möcht ich fragen. Bricht jede ihrer Wurzeln nicht den Stein, Um sich am gleichen edlen Naß zu laben? Das ist das Bild, das mir die Dichter gaben, Nekrologe. 29 Schärfe liebte er über die „Philologen“ zu spotten. Er hatte Unrecht darin. Auch das Kleine und Kleinste will in der Wissenschaft beachtet werden; das Verständnis des Großen ist ohne solche sorgfältige Detail- arbeit nicht möglich. Aber auch die Dantisten hatten unrecht, wenn sie geneigt waren, Pochhammer leichthin beiseite zu schieben. Dantes eigentlichste Be- deutung liegt doch in der Wucht seiner ethischen Persönlichkeit. Er selbst hatte die ausgesprochene Absicht, mit seinem Gedicht der Menschheit einen Weg des Heils zu zeigen. Diesen großen Inhalt über der Fülle des Einzelnen zu vernachlässigen, ist häufige Schuld der Dantegelehrsamkeit gewesen. Immer wieder auf ihn hingewiesen zu haben, ist unvergeßbares Verdienst Pochhammers,. Und auch in der Auffassung der großen Absichten des Dichters gibt es ungeklärte Fragen. Der Gegensatz Pochhammers zur geläufigen Lehre von der Architektur des Danteschen Weltgebäudes berührt doch in der Tat bedeutsame und nicht endgültig geklärte Probleme. Auch Pochhammer mußte, trotz seines halb stolzen, halb bescheidenen Ablehnens, zu einem Dante- philologen werden. Und diese innere Verwandtschaft, bei aller äußeren Verleugnung, erklärt die Freude, die er dann doch schließlich empfand, als die Wissenschaft den Widerstrebenden als den ihren an sich zog. Als die philosophische Fakultät seiner Heimatsuniversität ihn in Würdi- gung seiner Verdienste um Dante zum Ehrendoktor ernannte, hat er €s ihr auf das Wärmste gedankt. Eine andere der am innigsten empfun- denen Freuden seiner letzten Lebensjahre war es, als der Romanist der Münchener Universität ihm den letzten Teil seines hochbedeutsamen Dantewerks mit herzlicher Widmung zueignete. „Durch Ihre große Liebe zu Dante ist es Ihnen gegeben, Wahrheiten und Schönheiten in ihm zu erkennen, die einem kälteren Auge, auch dem meinigen, verhüllt bleiben. Wie vieles ich erst durch Sie habe verstehen gelernt, ist, zum Teil wenigstens, aus diesem Buch ersichtlich.“ So schrieb Karl Voßler. Liebe war, wie hier ausgesprochen wird, die Wurzel der Dante- beschäftigung und des Danteverständnisses Pochhammers. Doch nicht nur die Liebe zu Dante allein, sondern auch die Liebe zur Merschheit, der er sich verpflichtet fühlte, das erkannte Gut zu übermitteln. Keine empfindsame, oft eine streitbare, Liebe. Denn auch als Danteapostel blieb Pochhammer jederzeit Soldat. Er sah in seinem Dichter immer eine Art von Kameraden, und mit gutem Recht. Beide waren sie leiden- schaftliche Kämpfernaturen. Daß Dante bei Campaldino mitgefochten hatte, daß er Freude am militärischen Schauspiel selbst bei den Teuteln in der untersten Hölle bezeugte, war für Pochhammer ein Anlaß inniger Genugtuung. 30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Viermal hat Pochhammer seine „Göttliche Komödie in deutschen Stanzen frei bearbeitet“ ins deutsche Volk hinaussenden können, und hat so Tausende von Lesern für den Dichter gewonnen. Vielen tausend andern hat er sein Evangelium durch seine in Wärme und Redekunst hinreißenden Vorträge übermittelt. Auch die darstellende Kunst stelite er in den Dienst seiner Sendung. Auf seine Veranlassung und unier seiner Mitwirkung entwarf Franz Strassen hundert stimmungsvolle und tief überlegte Federzeichnungen, die den Gehalt jedes Gesanges der Komödie bildlich erfassen wollen. Zu diesen Zeichnungen hat Poch- hammer 100 Stanzen gedichtet und Text und Bilder als einen „Danie- kranz“ veröffentlicht. Zu den groben trat eine Reihe kleinerer Veröffentlichungen, die alle Dante behandeln, entweder an sich oder in seinem Verhältnis zu Goethe, denn daß diese beiden Ganz-Großen im innersten Wesen ihres Denkens eng zusammengehören, war ihm eine immer wieder klarzustellende Tatsache. Die stählerne Zeit des Weltkrieges schlug dann schließlich aus diesem vulkanischen Gestein noch andere Funken. Es entstand eine Reihe markiger Gedichte, die sich auf die großen Ereignisse des ersten Kriegsjahres bezogen. Seine Verse auf die Seeschlacht bei den Falk- landinseln (aus welcher der einzige Sohn Pochhammers als einer der wenigen Überlebenden wunderbar gerettet wurde), sind von berufenem Munde als eine der besten Dichtungen unserer Kriegslyrik bezeichnei worden. So blieb Pochhammer Soldat bis zum letzten. Es erfüllte ihn mit Stolz, auch wieder dem aktiven Offizierkorps eingereiht zu sein („zuge- teilt der General-Inspektion des Ingenieur- und Pionierkorps und der Festungen“). Seine unmittelbar bevorstehende Beförderung zum Oberst hat er leider nicht mehr erlebt. Nun ist der so Lebensprühende aus dem Leben gegangen. Auf seiner Wanderung durchs Jenseits trifft Dante, fast auf der Schwelle, die Schatten der großen Dichter der Vorzeit: Vier Schatten — ernst die Stirn, doch ohne Falten — Sah ich in stiller Hoheit jetzt uns nahn. Und er (Virgil): „Den mit dem Schwert sieh an, den Alten! Homer, der Dichter Fürst, der Dichtung Ahn! Die hinter ihm, die niederen Gestalten, Horaz, der Spötter, ist's, Ovid, Lukan.“ Zu ihnen geleitet ihn sein Führer und Meister Virgil, der fünfte der großen Dichter des Altertums: Nekrologe. al Und mich nahm auf — wofür ich laut ihn preise — Der Ring, der, wen er einläßt, auch erhebt! In ihm erklingt nur edle Sangesweise, Weil über ihm der Geist des Herrschers schwebt. Dem Adler gleich, der aufwärts zieht die Kreise: Unsterblich ist, wer je in ihm gelebt! Sie grüßten mich, als wenn den Kranz ich trüge — Wie Lächeln schlich’s durch meines Meisters Züge. Inferno IV, Stanze 10 und 11. Wenn Pochhammer jetzt die Schwelle des Jenseits überschritt, stellen wir uns gern vor, daß auch er dort auf diejenigen trifft, die er als Leiter der Menschheit verehrte. Und aus ihrem Kreis mag sich dann Dante, sein guida und maestro, lösen und mag ihn aufnehmen unter die, welche in Wort und Tat nach dem Edelsten und Höchsten gestrebt haben: Sie grüßten mich, als wenn den Kranz ich trüge — Wie Lächeln schlich’s durch meines Meisters Züge. Appel. Das auswärtice Mitglied unsrer Gesellschaft, Sanitätsrat Dr. Joseä Pohl, Badearzt in Salzbrunn, Stabsarzt d. L., erlag am 14. Januar 1916 nach längerem Leiden einer hinzugetretenen Lungen-Entzündung. Am 20. Mai 1850 in Lobedau, Kr. Grottkau, geboren, das seit 400 Jahren im Familienbesitz ist, wurde er bis zum 12. Lebensjahre im elterlichen Hause erzogen, besuchte dann das Gymnasium in Neiße, um später die Universi- tät Breslau, nach einigen Semestern Würzburg zu beziehen, in der Ab- sicht Medizin zu studieren. Hier wurde er im Januar 77 zum Dr. med. promoviert — seine Dissertationsschrift führte den Titel: „Abdominal- Typhen mit anormal niederem Temperaturverlauf“ — und im Februar desselben Jahres approbiert. Als erstes Feld seiner Tätigkeit wählte er Kostenblut bei Canth, das er nach vierjähriger anstrengender Arbeit als Landarzt verließ, nachdem er, warm empfohlen, sich um die Stellung eines fürstlichen Badearztes in Salzbrunn beworben und unter einer stattlichen Zahl von Mitbewerbern ausersehen war. Das in ihn gesetzte Vertrauen rechtfertigte er vollauf; er förderte Salzbrunns Ruf nicht nur durch er- sprießliche, rastlose ärztliche Arbeit mit spezialistischer Bevorzugung von Hals- und Ohren-Krankheiten und reichlich operativer Behandlung der- selben, sondern auch mit gewandter Feder. Hierher gehören: „Indi- eationen und Kureinrichtungen von Salzbrunn‘“ — „Über Asthma und seine Behandlung“ (Manuskript geblieben) mit besonderer Berücksichti- gung der Heilfaktoren Salzbrunns, sowie „Über Nasensteine‘“ Berl. klin. Woech. 1893 Nr. 24. Den Befähigungsnachweis für diese Fertigkeiten 33 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Culiur. erwarb er durch fleißige Ausnützung der einschlägigen klinischen und Kranken-Anstalten während der Winterurlaube und durch emsiges mikroskopisches Arbeiten. — In Salzbrunn konnte er seiner ausge- sprochenen Vorliebe für alle militärischen Angelegenheiten, die er schon als Kombattant im Feldzuge 70/71 bekundet hatte, Ausdruck geben, in- dem er 23 Jahre lang mit anerkanntem Erfolg die ihm überwiesenen Militärkurgäste behandelte; noch im Jahre 1915 wurde er zum leitenden Arzt des Vereinslazarettes vom Kriegsministerium ernannt, konnte aber wegen seiner Erkrankung (Arteriosclerose) den ehrenvollen Posten nicht mehr antreten. Militärische Schriften gehörten zu seiner Lieblings-Lektüre; mit innerer Befriedigung verheiratete er sein einziges Kind mit einem Kgl. sächsischen Rittmeister. — Anerkennung für sein umfangreiches Streben fand er durch den Sanitätsrat - Titel, dessen Patent ihm anläßlich der 300 jährigen Feier des Bades Salzbrunn am 30. Mai 1901 mit rührenden Worten persönlich über- geben wurde. — 34 Jahre lang hatte Pohl dem Bade treu gedient, drum trauert die fürstliche Brunnen- und Badedirektion in voller Würdigung und Kenntnis der Leistungen und des Charakters des Entschlafenen mit den Worten: „Ein unerschrockener Kämpfer für alles, was er für recht er- kannt hatte, ein hervorragender Arzt, dem tausende ihre Genesung verdanken, ein Mann von echter, schlichter Vornehmheit ist dahin- cesangen.“ 2 s j zu HeinricehFriedlaender. Prof. Franz Renz war am 3. Oktober 1860 zu Altenstadt a.d.Nller im schwäbischen Teile von Bayern geboren. Nachdem er das Gymnasium in Dillingen absolviert und an der dortigen Hochschule sowie an der Universität München Theologie studiert hatte, wurde er im Jahre 1884 zum Priester geweiht. Seine erste Anstellung erhielt er als Stadtkaplan in Nördlingen. Nach einjähriger Tätigkeit daselbst wirkte er 6 Jahre lang als Präfekt des Knabenseminars, dann 3 Jahre als Subregens des Priesterseminars, dann 2 Jahre als Direktor des Knabenseminars in Dillingen. Nachdem er sich in allen diesen Stellungen als Erzieher vor- züglich bewährt hatte, wurde er im Jahre 1901 zum Regens des Priester- seminars in Dillingen ernannt. Es ist dies eine der verantwortlichsten Stellungen in der Diözöse, da der Regens die praktisch-aszetische Aus- bildung der Theologiestudierenden zu leiten hat und dem Bischof für die Würdigkeit der zu Ordinierenden verantwortlich ist. Während Renz die erwähnten Stellungen bekleidete, verlor er die theologische Wissenschaft nieht aus den Augen. Da er für die spekulative Forschung besonders begabt war, wandte er sein Interesse vornehmlich Nekrologe. 33 der Dogmatik zu. Er behandelte zuerst in einem 1892 erschienenen Werke den Opfercharakter der Eucharistie und wurde auf Grund dieser Arbeit von der theologischen Fakultät der Universität München am 6.. Oktober 1893 zum Doktor der Theologie promoviert. Nach einiger Zeit (1901—2) folgte eine groß angelegte, zwei starke Bände umfassende „Geschichte des Meßopferbegriffes“, welche den wissenschaftlichen Ruf des Verfassers fest begründete. Renz wandelte in diesem Werke zum Teil eigene Wege und zeigte sich als durchaus selbständigen Forscher. Die äußere Anerkennung für diese wissenschaftliche Leistung blieb nicht aus. Als bald darauf im Jahre 1903 in Münster die Professur für Dog- matik vakant wurde, lenkte sich der Blick der Fakultät auf den bewährten Regens des Dillinger Priesterseminars. Er wurde 1903 als Ordinarius nach Münster berufen und hat dort, von Studenten und Hoch- schullehrern hochverehrt, vier Jahre gewirkt. Die von Renz vertretene Auffassung gewisser, zum Teil dog- matischer, zum Teil exegetischer Fragen bereitete dem Verstorbenen schließlich in Münster mannigfache Schwierigkeiten. Die beste Lösung derselben wurde schließlich darin gefunden, daß Renz durch Vermitt- lung des sel. Kardinals Kopp als Professor der Moraltheologie nach Breslau berufen wurde. Mit vollstem Vertrauen hier in Breslau aufgenommen, hat Renz in ‘Schlesien bald Wurzel gefaßt, sowohl in akademischen, wie in auber- akademischen Kreisen, und er schien sich bald in Schlesien einigermaßen heimisch zu fühlen. Das Hauptgewicht legte er in seinem Berufe hier in Breslau weniger auf literarische Produktion als vielmehr auf eine fruchtbringende, an- regende Lehrtätigkeit. Da er ein ganz neues Lehrfach übernahm, so mußte er zuerst hier heimisch werden, bevor er an weiteres, an literarische Arbeiten denken konnte. Auf die Herstellung eines gediegenen ausge- reiften Kollegheftes hat er außerordentlich viel Zeit verwendet. Der Lohn dieser Mühen bestand in der dankbaren Anerkennung seiner Zuhörer, die für seine klaren, schlicht und ruhig, ohne jedes rhetorische Mittel vor- getragenen Ausführungen das lebhafteste Interesse bekundeten und seine Vorlesungen sehr fleißig besuchten. Allen modernen Problemen der Ethik hat Renz sein Augenmerk zu- gewendet; sein in der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur gehaltener Vortrag über den Geburtenrückgang und die moraltheolo- gischen Gesichtspunkte für diese Erscheinung war für die Mitglieder der kath.-theol. Sektion ein Ereignis und hat als Druckschrift (Die katho- lischen Moralsätze bezüglich der Rationalisierung der Geburten, 1913) das lebhafteste Interesse erweckt. Besondere Vorliebe hatte Renz an 1916. 3 34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Diskussionen philosophischer Art aus den Grenzgebieten von Theologie und Dogmatik; es war ein Vergnügen, seinen Diskussionen zuzuhören, auch wenn man nicht allem beipflichten konnte. Ungemein sympatisch berührte Renz’ Persönlichkeit, welche eine geradezu ideale Verkörperung christlicher Tugenden, besonders der Be- scheidenheit, der Milde und des aus wahrer Nächstenliebe hervorgehenden Taktes war. Wer ihn nicht näher kannte, dem machte seine ganze Er- scheinung den Eindruck des Weltfremden. Freilich hielt er von der Freude und den Genüssen der Welt nicht viel; seine Lebenshaltung war die denkbar bescheidenste.. Aber wer ihn für weltfremd hielt, der täuschte sich; er verstand es, die Menschen sowohl treffend zu beurteilen, wie auch richtig zu behandeln. In seiner langjährigen Tätigkeit als Er- zieher der Jugend hatte er die Menschenseele und damit die Welt sehr genau beobachtet. Und weil er die Mängel und Unvollkommenheiten alles Menschlichen genau aus seiner erzieherischen Tätigkeit kannte, war er milde in der Beurteilung der Menschen, wofern er überhaupt ein Urteil fällte, was äußerst selten der Fall war. Er zog die Menschen an und erzog sie weniger durch das, was er sagte, als durch das, was er nicht sagte. Die stille, heilige Ruhe, die sein Wesen umgab, verschaffte ihm nicht bloß Verehrung und Liebe, sondern vor allem auch Autorität. Seine Milde artete aber nicht in Schwäche aus, am wenigsten bei Beur- teilung der Leistungen der Studierenden; aber willig haben sich alle seinem Urteile gebeugt. Langsam, aber sicher hat Renz sich an der Universität Breslau eine starke Position geschaffen, welche ebenso auf Achtung wie auf Zuneigung beruhte. Auch in den akademischen Verwaltungsämtern hat er seine Aufgabe stets glänzend gelöst, besonders wenn es sich um die Ausar- beitung schwieriger und delikater Berichte und Gutachten handelte. Un- vergeßlich wird Renz seinen Freunden bleiben, denen er ein treuer Freund und Berater war, und die er bei den regelmäßigen Spaziergängen gern durch Wald und Feld und Flur begleitete. Bewegten Herzens haben sie ihn, nachdem er am Charfreitag des Jahres 1916, 17. April, das Opfer eines tückischen, schleichenden Leidens geworden war, am 2. Österfeier- tag zur letzten Ruhestätte geleitet. Er hatte sein baldiges Ende voraus- eeschen. Der Gedanke an den Tod hatte für ihn nichts Erschreckendes. „Semper paratus ad mortem“ war der Wahlspruch seines Lebens gewesen. So ist er friedlich und voll gläubiger Hoffnung auf ein besseres Jenseits dahingeschieden. rn Mit dem am 13. September 1916 erfolgten Tode von Geheimen Medizinalrat Professor Dr. Emil Richter aus Breslau ist ein akademischer ox Nekrologe. 3 Lehrer dahin gegangen, dessen Geschick, wie in einer auf ihn gehaltenen Trauerrede ganz richtig bemerkt wurde, sich trotz herber Enttäuschungen auf der Sonnenseite des Lebens bewegt hat. Sproß einer alten Offiziers- und Beamtenfamilie (am 19. April 1837 geboren) widmete er sich dem Studium der Medizin und wurde aktiver Militärarzt. Als solcher war er Assistent von Fischer in Köln und Langenbeck in Berlin, machte dann die Kriege 1866 und 1870 und 71 mit (Regimentsarzt des Elisabethregiments). 1868 hatte er sich in Breslau als Privatdozent für Chirurgie habilitiert. Nach dem Kriege nahm er seinen Abschied vom Militär. Im Januar 1876 wurde er zum Extraordinarius ernannt, 1887 wurde er Medizinalrat und Mitglied des Medizinalkollegiums, 1899 erhielt er den Charakter als Geheimer Medizinalrat. In früherer Zeit und auch später ein gewissenhafter und geschickter Operateur, gelang es ihm doch nie, eine größere praktische Tätigkeit zu erreichen. Es blieben ihm sowohl ein chirurgisches Ordinariat als die Leitung eines größeren Krankenhauses versagt. Richter war eben seiner sanzen Veranlagung nach eine Gelehrtennatur und von seinen vielseitigen Interessen und seinem feinsinnigen Streben legt das Manuskript einer Literaturgeschichte Zeugnis ab, das sich, still verschwiegen und von niemanden geahnt, in seinem Nachlasse fand. Unter seinen medizinischen Arbeiten war sein Buch über Schußver- letzungen, auf die Ergebnisse der von ihm miterlebten Kriege gestützt, zweifellos ein sehr gutes und tüchtiges Werk, das bleibenden Wert be- halten hat. Andere Arbeiten erstreckten sich auf Studien über Nerven- erkrankungen, Verrenkungslehre, Unterleibsbrüche, Medizinische Sta- tistik. Seine Hauptbedeutung erlangte er aber als Leiter des Zentral- blattes für Chirurgie, in dessen Redaktion er 1880 eintrat und das unter ihm und dank seiner umsichtigen Mitarbeit seinen unbestrittenen Platz in der Weltliteratur erlangte. Von’ der deutschen chirurgischen Gesell- schaft wurde er dafür durch die Wahl in den Vorstand geehrt, dem er viele Jahre lang: als überall gekannte, gleichmäßig verehrte Persönlich- keit angehörte. Als akademischer Lehrer hielt Richter lange Zeit Vorlesungen über Akiurgie, die ebenfalls ausgezeichnet waren. Er brachte bereits damals dasjenige, was als Programm dem großen Werke von Bier, Braun, Kümmell zugrunde liegt, d. h. nicht eine trockene Beschreibung von Operationsmethoden, sondern ihre Indikationen, ihre Erfolge usw. Richter war auch jahrzehntelang Examinator im Staatsexamen und als solcher Generationen von schlesischen Ärzten bekannt. Nie benützte er, der Extraordinarius, diese Stellung zu irgend einer Pression auf die 3% 36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Studenten, niemals zeigte er Eifersucht oder Neid gegenüber den Er- folgen eines neben ihm aufstrebenden Talentes. Mit philosophischen: Gleichmut hatte er sich früher in manches Herbe gefügt, abgeklärt und in heiterer Ruhe genoß er seinen Lebensabend, geliebt und verehrt von seiner Umgebung — er starb auf der Sonnenseite des Lebens. Emil Sachs wurde am 28. November 1847 in Breslau geboren. Er besuchte hier das Realgymnasium am Zwinger. Nach abgeschlossener Schulbildung widmete er sich dem kaufmännischen Beruf. Seine Ausbil- dung erhielt er teils in Breslau, teils in Paris. Im Jahre 1870 trat er in das väterliche Geschäft Fritz Sachs & Comp. ein. Seine Neigune für die Landwirtschaft veranlaßte ihn, im Jahre 1877 ein Rittergut in der Pro- vinz Posen zu erwerben, welches er mit großem Interesse bewirtschaftete, bis er durch den Tod eines seiner Sozien gezwungen wurde, seinen dauernden Wohnsitz wieder nach Breslau zu verlegen. Dort besuchte er, soweit seine freie Zeit es ihm gestattete, die Kollegien der Universität und widmete sich mit großem Eifer philosophischen Studien. Er stellte seine Kräfte in den Dienst des öffentlichen Wohls und auch, als sein Gesundheitszustand ihn zwang, sich von seinem Berufe zurückzuziehen, fand er in der Ausübung der humanitären Bestrebungen ein ihn befrie- digendes Feld der Tätigkeit. Sein Tod trat am 7. Januar 1916 ein. Seine vornehme Gesinnung und das große wissenschaftliche Interesse, das er durch seine Universitätsstudien in so vorgerückten Jahren lebhaft be- stätigte, heben seine Persönlichkeit aus seinem Lebenskreise hervor. Eduard Andreas Emil Scheer wurde am 1. Januar 1840 zu Rendsburg geboren. Von Ostern 1846 an besuchte er kurze Zeit die Volksschule, genoß dann mehrere Jahre hindurch Privatunterricht und ward Michaelis 1850 in die Gelehrtenschule seiner Vaterstadt aufge- nommen. 1857 setzte sich der Vater, in seinem Glasergewerbe zu Wohl- stand gelangt, zur Ruhe und zog als Rentner nach Altona. Zu Michaelis dieses Jahres dem dortigen unter Leitung von Lucht stehenden Gym- nasium Christianeum übergeben, bestand er Ostern 1859 die Reifeprüfung und bezog alsbald die Landesuniversität Kiel. Im ersten Jahre studierte er Jurisprudenz, in den vier nächsten Jahren klassische Philologie. Im März 1865 bestand er vor der dortigen Prüfungskommission die Prüfung für Kandidaten des höheren Lehramts und wurde schon im Mai dieses Jahres von der Kaiserlich Königlich Österreichischen und der Königlich Preußischen Zivilbehörde der Herzog- tümer Schleswig-Holstein und Lauenburg zum zweiten Adjunkten an dem aus einer „Gelehrtenschule“ zum „Realgymnasium“ umgewandelten, Nekrologe. 37 d. h. mit Realklassen versehenen, Gymnasium seiner Vaterstadt „konstituiert‘“ und im Oktober desselben Jahres vom K.K. Statthalter für das Herzogtum Holstein definitiv „ernannt“. Aber schon im folgenden Jahre traten die Anzeichen eines Brustleidens in beunruhigender Weise hervor, und er war genötigt, einen längeren Urlaub nachzusuchen. Derselbe wurde ihm Ostern 1867 von seiner neuen vorgesetzten Behörde, der Königlich Preußischen Regierung, unter Belassung seines vollen Dienst- einkommens auf ein Jahr zu einer Reise nach Italien bewilligt. Er ging zuerst nach Venedig, dann nach Rom, zuletzt nach Neapel, mußte aber, um einen wirklichen Erfolg zu erreichen, die Verlängerung des Urlaubs für ein zweites Jahr nachsuchen. Auch dieser ward ihm unter gleichen Bedingungen gewährt. Der Erfolg war sehr erfreulich. Schon im No- vember des Jahres 1868 konnte er von Rom aus, wohin er von Neapel zurückgekehrt war, in die Heimat melden, daß sein Leiden gehoben und er als genesen aus der ärztlichen Behandlung entlassen sei. Ostern 1869 konnte er sein Amt wieder übernehmen und in voller Frische verwalten. Michaelis 1873 siedelte er nach dem schönen Ploen über; hier war durch Eugen Petersens Berufung nach Dorpat die dritte Oberlehrerstelle an der Gelehrtenschule frei geworden und auf besondere Empfehlung des Provinzialschulrats Sommerbrodt Scheer zuteil geworden. Hier hat er fünfzehn Jahre gewirkt. Sie waren voll Freud und Leid. Hier gründete er seinen Hausstand, verlor aber schon nach wenigen Jahren seine Frau, nachdem sie ihm drei Kinder geschenkt hatte; hier schritt er zu einem "zweiten Ehebund, ebenfalls mit einer Tochter des Landes, Friderike Wackernagel aus Meldorf. Und auch dieser Bund war durch die Geburt zweier Töchter gesegnet, deren zweite jedoch bald starb. Hier knüpften sich freundschaftliche und gesellige Bande nicht nur mit dem Landrat Freiherrn v. Brakel und seiner Familie, sondern auch mit andern höheren Beamten, Lehrern des Kadettenkorps und Angehörigen des Landadels, die sich nach Ploen zurückgezogen hatten. Hier hatte er zunächst an Albert Müller, bald darauf an Christian Heimreich Direktoren, die wissenschaftliche Arbeit neben pädagogischer Tüchtigkeit hochschätzten, weil sie sie selbst übten. Hier ward ihm 1883 „in Rücksicht seiner anerkennungswerten Leistungen‘ das Prädikat Professor verliehen. Hier erlangte er auch — 1877 — vom Minister Urlaub und Unterstützung zu einer wissenschaftlichen Reise nach Italien. Ein zweites Mal 1883. Bisweilen bestand wohl die Gefahr, daß in diesem äußerlich so ange- nehmen Leben die Ausführung der wissenschaftlichen Pläne zu kurz kam. Aber er kehrte doch immer zu derselben zurück und war dankbar für freundschaftliche Mahnungen, wie ich sie an ihn richtete, der ich im Winter 1868/69 seine Bekanntschaft in Rom gemacht hatte und die Be- ziehungen wieder aufnahm, als ich Ostern 1881 nach Kiel ge- | 5 3 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. kommen war. Ein anderes war es, was ihn nötigte, auf einen Wechsel des Wohnortes ernstlich Bedacht zu nehmen. Die Rücksicht auf seine Gesundheit. Ein Ohrenleiden. durch die mit Leidenschaft gepflegten Segelfahrten auf dem Ploener See wenn nicht hervorgerufen, so doch verschlimmert. wollte nicht weichen. So meldete er sich 1883 nach Frankfurt a. M.. als dort eine Stelle an dem von Tyche Mommsen ge- leiteten Gymnasium freigeworden war: die Wahl fiel auf ihn, aber Be- denken wegen der Schwerhörigkeit scheinen zuletzt doch die Berufung verhindert zu haben, obwohl das Leiden zum Stehen gekommen war und ihn im Unterricht nicht behinderte. Schlimmer war, da5 sich Anfälle von Malaria einstellten und dauernden Aufenthalt in einer vom Wasser entfernten Gegend forderten. Aber auch hier wußte das Ministerium Rat zu schaffen. Ostern 1888 wurde er als erster Oberlehrer an das Königliche Gymnasium in Saarbrücken versetzt. In dieser Stellung hat er 17Y2 Jahr, also noch länger als in Ploen, sewirkt. Auch hier wechselten Freud und Leid: Glück und Unglück in der Familie, Aner- kennung seitens der vorgesetzten Behörden und amtliche Reibungen, körperliches Wohl- und Übelbefinden. Zuletzt nötiste ihn Krankheit, um seinen Abschied zu bitten. Er erhielt ihn Michaelis 1905. Und es war gut so für die Förderung seiner wissenschafilichen Arbeiten, besonders für die Vollendung seines Lebenswerkes. Für dieses hatte ihm das Schulamt. dem er sich mit voller Hingabe widmete, doch nur sehr be- schränkte Zeit gelassen. Zwar hatte ihm das Ministerium auf Empfehlung des Provinzial-Schulkollesiums einen nochmaligen dreimonatlichen Ur- laub vom 1. März bis Ende Mai 1903 zu einer wissenschaftlichen Reise nach Frankreich und Italien bewilligt. für die ihm auf Befürwortung von U. v. Wilamowitz von der Akademie der Wissenschaften in Berlin die Mittel in Höhe von 1200 Mark gewährt worden waren. Aber die Reise diente doch nur dazu, seine Vorarbeiten für die Ausgabe der Scholien zu Lykophron zu ergänzen. Die eigentliche Arbeit war so groß, daß sie sich neben dem Schulamt schwer bewältigen ließ, sondern eine unaus- gesetzte Vertiefung verlangte. Diese fand er in den nächsten Jahren. Mit Beginn des Jahres 1908 lag das Werk im Drucke abgeschlossen vor. Aber auch jetzt ruhte der Geist nicht. sondern arbeitete rastlos weiter. Er hatte den lebhaften Wunsch. sich nicht nur in Schrift. sondern auch mit dem lebendigen Worte auf dem Gebiete der Wissenschaft tätig zu erweisen. Und diesem Wunsche wie dem Bestreben der vorgesetzten Behörde. ihm eine besondere Anerkennung zu verschaffen, kam die philosophische Fakultät der Universität Bresiau entgegen. indem sie im Juni desselben Jahres den Minister bat. ihn zum ordentlichen Honorar- professor zu ernennen. um den Gelehrten zu ehren und ihr einen Gewinn 4 Nekrologe. 59 in der Vertretung der klassischen Altertumswissenschaft zuzuführen. Schon durch Erlaß vom 17. September des Jahres 1908 wurde dieser Bitte entsprochen. Mit Beginn des Wintersemesters trat er das Amt an. Und damit der Abend seines Lebens so recht vom Sonnenlichte verklärt werde, verlieh ihm die philosophische. Fakultät seiner Heimatsuniversität Kiel am 2. April 1909 ehrenhalber ihre Doktorwürde. Sie wählte den Tag, au dem er vor 50 Jahren an ihrer Universität immatrikuliert worden war, und würdigte seine Verdienste mit folgendem Elogium: Eduardum Scheer / Rendsburgensem / qui ante hos quinquaginta annos civis factus est universitatis Kiliensis cuius per longum vitae spatium se praestitit dignissimum / qui cum magistri offieio summa sollertia ae fide fungeretur ab litterarum studio numquam recessit / cuius doctrinae et acuminis testimonia exstant luculentissima cum dissertationes et pro- grammata plurima tum illa Lycophronis Alexandrae et scholiorum editio “ quae nuper in lucem prodiit egregia atque mirabilis/qui anno proxumo in universitate Vratislaviensi professor publicus honorarius factus est eoqlıe honore nequaquam volgari patriae quoque decori fuit Slesvico-Holsatiae. Er hielt Vorlesungen über die Ilias, Griechische Lyriker, Aischylos, Sophokles, Herodot, über Quintilian, Tacitus’ dialogus, Plinius’ Briefe. Besonders geschätzt waren seine Vorlesungen über deutsch-lateinische Stillehre und lateinische Stilistik. Ja, als im Juni 1909 der Tod des Gymnasialprofessors Dr. Walter Volkmann die Stelle des Assistenten am philologischen Seminar frei gemacht hatte, wurde ihm diese auf seinen besondern Wunsch am 1. November d. J. übertragen mit der Ver- pflichtung, lateinische und griechische Übersetzungsübungen für An- fänger zu halten und die Bibliothek des Seminars zu verwalten. Und auch hier hat er es an Lust und Liebe nicht fehlen lassen — solange seine Kräfte es erlaubten. 1914 mußte er allerdings auf diese Tätigkeit verzichten, zuletzt auch seine Vorlesungen einstellen. Fortan lebte er nur noch in der Studierstube, seiner letzten wissenschaftlichen Arbeit, der Neubearbeitung des Aischylos für die Bibliotheca Teubneriana, und nachdem er auch diese im Manuskript voliendet hatte, ist er am 19. Mai 1916 sanft entschlafen und hat gefunden, was er lange gesucht hatte. „Ich habe Dich gesucht für und für; Nun hab ich Dich gefunden. Da- rum hab ich Frieden“ hat er zu seiner Grabschrift gewählt. Seinem Wunsche gemäß ist er in aller Stille auf dem städtischen Friedhofe der Luthergemeinde in Oswitz am 22. Mai beigesetzt worden. Doch lieb es sich der Rektor, Prälat Professor Dr. Pohle, nicht nehmen, die Universität zu vertreten. Außer ihm waren ein von auswärts herbeigeeilter Freund, der Direktor des Bunzlauer Gymnasiums, Prof. Dr. Reinhold Biese mit Frau, der Senior des philologischen Seminars, stud. phil. Eberhard Richtsteig, und ich selbst mit meiner Frau erschienen, um an der Seite der Witwe, 40 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. der jüngeren Tochter und deren Bräutigams dem teuren Entschlafenen die letzte Ehre zu erweisen. "Das sind in wenigen Strichen die äußeren Umrisse des Lebens eines Philologen, das in gewisser Hinsicht einen von dem der meisten Fachgenossen abweichenden Verlauf genommen hat. Nur. scheinbar war es von schweren Erschütterungen frei geblieben, doch die Erinne- rung an sie soll mit ihm begraben sein. Schon das Prüfungszeugnis von 1865 rühmte seine „didaktischen Fähigkeiten“. Und er hat dieselben aufs glücklichste entwickelt und ist ein geistweckender Lehrer geworden, von dem die Schüler noch im späteren Leben mit großer Begeisterung redeten. Auf seine wissen- schaftliche Ausbildung hat Otto Ribbeck in Kiel am meisten Einflus geübt, doch war Sch. eine viel zu selbständige Natur, als daß er sich vom Lehrer auch (las besondere Arbeitsfeld hätte anweisen lassen. Als solches wählte er sich die griechischen Dichter, besonders Hesiod, Kallimachos, Arat und Lykophron. Von letzterem hat er die zwei- bändige kritische Ausgabe mit Paraphrasen und Scholien vollendet (Bd. I 1891; Bd. II 1908). Die Neubearbeitung des Aischylos liegt nur im Manuskript vor. Vorläufer derselben waren der Aufsatz: Bei- träge zur Erklärung und Kritik des’ Aischyleos (Rhein. Museum f. Philologie Bd. 67 S. 481-514), die Schrift: Studiea zu denDramen des Aischylos, Leipzig 1914 und ein in der philologisch-archäologischen Sektion unserer Gesellschaft am 26. Juli 19:0 gehaltener und im 88. Jahresbericht Bd. I (1911) Abt. IV Seite 4—22 veröffentlichter Vortrag: Zur Textkritik des Aischylos. Eine eingehende Würdigung seiner pädagogischen und wissenschaft- lichen Bedeutung gedenkt der Unterzeichnete im Biographischen Jahr- buch der klassischen Altertumswissenschaft zu geben, nachdem er in der Sitzung der philologisch-archäologischen Sektion vom 26. Februar 1917 einen Vortrag: Eduard Scheer als Lehrer, Gelehrter und Mensch halten hat. gehalten hat Richard Foerster. Im Herbst 1916 starb Max Steın, Dr. med., Badearzt in Bad Reinerz. Geboren am 13. Februar 1865 in Steinau a. O., besuchte er zuerst die Volksschule in Steinau, dann das Gymnasium in Wohlau und das Elisabetgymnasium in Breslau, das er Ostern 1887 mit dem Zeugnis der Reife verließ, um in Breslau und München Medizin zu studieren; wo er auch promovierte und im Jahre 1892 als Arzt approbiert wurde. Körperliches Leiden verhinderte ihn, sich der allgemein-ärztlichen Tätigkeit zu widmen. Er war längere Zeit als Assistent resp. Vertreter Nekrologe. 41 oder Volontär an Lungen- und Wasserheilstätten, an der medizinischen Universitätsklinik bei Prof. Kast in Breslau, sowie an Hals-, Nasen-, Öhrenpolikliniken tätig. Seit 1909 praktizierte er im Sommer in Bad Reinerz, in den letzten Jahren im Winter in einem Schweizer Kurort. Seine Tüchtigkeit und Pflichttreue verschaffte ihm bald eine umfang- reiche Badepraxis. S. hat einige Aufsätze balneologischen Inhalts in Fachzeitschriften veröffentlicht, sich eifrig an den schlesischen Bäder- tagen beteiligt, wo er gelegentlich wertvolle Beiträge zur Hebung des Bäderwesens lieferte. Bei Patienten wie bei Kollegen erfreute er sich durch gewissenhaften Arbeitseifer und persönliche Liebenswürdigkeit größter Beliebheit und Anerkennung. R. Kayser. Am 12. November 1916 starb auf dem Kriegsschauplatz des Westens, als ein Opfer der aufreibenden und entnervenden Anstrengungen eines hin- und herschwingenden Krieges Dr. med. Max Trappe aus Breslau, welcher der Vaterländischen Gesellschaft von April 1909 ab angehörte. Geboren am 28. März 1879 als Sohn eines Breslauer Kaufmannes, studierte er auf den Universitäten Freiburg und Breslau, machte nach seinem Staatsexamen 1903 und nach Ableistung seiner Militärdienst- pflicht einige Reisen als Schiffsarzt und war dann bis Anfang 1909 Hilfs- bezw. Assistenzarzt an dem pathologischen Institut Frankfurt a. M,, der medizinischen Klinik und der chirurgischen Abteilung von Aller- heiligen in Breslau. Während dieser Zeit war er auch schriftstellerisch tätig und ver- öffentlichte eine Reihe von Aufsätzen und größeren Arbeiten sus dem Arbeitsgebiet der Institute, an denen er tätig war. Von diesen Arbeiten hat die über hysterische Kontrakturen (Mit- teilungen aus den Grenzgebieten Band 19) eine besondere Bedeutung in- sofern erlangt, als der Verfasser damals bereits eine Theorie aufstellte, welche, wie es scheint, ihre Probe gerade jetzt im Kriege gegenüber der Unmasse dieser nunmehr zu beobachtenden Krankheitsbilder bestanden hat. Trappe faßte die hysterische Kontraktur als „Erstarrte Abwehr- bewegung“ auf, d. h. er suchte nachzuweisen, daß der Verletzte eine Stellung beibehält, welche er ursprünglich zur Vermeidung von Schmerzen selbst eingenommen hat, oder die ihm vom Arzt zu gleichem Zwecke im Verband gegeben worden ist. Nach seiner Assistententätigkeit wurde Trappe, welcher, glänzend begabt, von äußerlich liebenswürdigen Umgangsformen, von größtem Interesse für die Wissenschaft beseelt, die besten Aussichten auch für den akademischen Beruf gehabt hätte, praktischer Arzt in Breslau. Das war von vornherein sein Ziel gewesen und ganz bewußt hatte er zur 42 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Erreichung desselben eine höchst sorgfältige und lang dauernde Aus- bildung gewählt. Er hatte die Anschauung, daß der praktische Arzt der eigentliche und vielseitigste Vertreter der handelnden Medizin sei, daß der Spezialist notwendig sei als Berater in schwierigen Fällen und als Pfadfinder auf seinem eigenen Forschungsgebiete, daß aber der praktische Arzt dazu berufen wäre, die Ferschungsresultate in sich auf- zunehmen und in Verkehr zu bringen. Trappe bezeichnete somit einen Typ von Ärzten, wie er, vorläufig noch sehr selten, hoffentlich sich baid immer häufiger finden wird. Es konnte nicht fehlen, daß Trappe einer der gesuchtesten Ärzie seiner Vaterstadt wurde und daß sein Scheiden eine schmerzlich emp- fundene Lücke zurück läßt. Im Kriege bewährte er sich als Regimentsarzt ebenso treu, ritterlich und tapfer, wie es alle, die ihn kannten, erwartet hatten. Seine Un- erschrockenheit. die bis zur völligen Todesverachtung ging, gewann ihm die begeisterte Verehrung der seiner Pflege unterstellten Truppe. die Bewunderung seiner Mitarbeiter, und es verursachte unter seinen Freunden und Kollegen lebhafte Freude, als er mit dem E.K.]. aus- gezeichnet wurde. Begeisterungsfähig und Begeisterung auslösend. aufopfernd, edel und warmherzig, so lebt er in der Erinnerung aller. die ihn gekannt haben. Am 27. Juli 1916 verschied nach längerem Leiden und doch un- erwartet im Alter von 55 Jahren der Generalsekretär Dr. Hans Voltz in Kattowitz, Geschäftsführer des Oberschlesischen Berg- und Hütten- männischen Vereins und der Östlichen Gruppe des Vereins deutscher Eisen- und Stahlindustrieller. Am 9. April 1861 zu Hanau a. M. geboren, besuchte der Heim- gegangene daselbst die Realschule II. Ordnung, dann die Königliche höhere Gewerbeschule sowie das Realgymnasium zu Kassel; darauf lag er in Straßburg i. E. und in Freiburg i. B. naturwissenschaftlichen, philo- sophischen und nationalökonomischen Studien ob. Zur Erlangung der Doktorwürde in der Philosophie schrieb er 1886: „Die Ethik als Wissen- schaft mit besonderer Berücksichtigung der neueren englischen Ethik‘. Zum 1. April 1887 erfolgte seine Wahl als Generalsekretär des Ober- schlesischen Berg- und Hüttenmännischen Vereins. Von da ab bis zu seinem Tode gehörte seine ganze Tätigkeit Oberschlesien, das in ihm einen ebenso kenntnisreichen wie eifrigen und erfolgreichen Vertreter seiner vielseitigen Interessen fand. Besonders ersprießliche Dienste leistete er dem oberschlesischen Steinkohlenbergbau durch die umfang- Nekrologe. 43 reichen Arbeiten zur Begründung der Oberschlesischen Kohlenkon- vention, deren Geschäfte er dann über ein Vierteljahrhundert mit großer Umsicht führte. Nach der im Jahre 1895 erfolgten Verlegung des Büros der Östlichen Gruppe des Vereins deutscher Eisen- und Stahlindu- strieller von Königshütte nach Kattowitz wurde ihm auch die Geschäfts- führung dieses Vereins übertragen. Außerdem gehörte er zahlreichen wirtschaftlichen Körperschaften Oberschlesiens an und widmete sich ihnen allen mit der ihm eigenen Gewissenhaftiskeit und Gründlichkeit. Diese Eigenschaften wußte auch, als er von 1903 bis 1908 den Wahl- kreis V, Oppeln (Tarnowitz, Beuthen, Königshütte, Zabrze, Kattowitz) im Preußischen Landtage vertrat, die Nationalliberale Fraktion, der er sich angeschlossen hatte, zu schätzen, indem sie ihn in wichtige Kommissionen als Vertreter entsandte. Dr. Voltz lieferte dabei durch unermüdliche Arbeit und reiche Sachkenntnis den Beweis, wie wichtig es ist, daß unseren Parlamenten Männer angehören, die mit dem Wirt- schaftsleben auf das genaueste vertraut sind. In dem vom Oberschlesischen Berg- und Hüttenmännischen Verein erlassenen Nachruf heißt es von ihm: „Ein bedeutender Mann ist mit ihm dahingegangen. Seit dem 1. April 1887 hat Dr. Voltz zunächst zwei Jahrzehnte allein die vielseitigen Geschäfte unseres Vereins geführt und danach, als ihr wachsender Umfang und die Inanspruchnahme durch parlamentarische Arbeiten ihm die alleinige Erledigung unmöglich machten, vor allem die wirtschaftliche Abteilung geleitet. In diesen nahezu dreißig Jahren hat Dr. Voltz seines Amtes mit vorbildlicher Treue und Gewissenhaftigkeit gewaltet. In ihm paarte sich ein warmes Herz für das Gedeihen der oberschlesischen Montanindustrie und aller ihrer Angehörigen mit eindringendem Verständnisse für die Interessen Oberschlesiens und großer Fähigkeit, sie erfolgreich zu vertreten. Aus- gerüstet mit reicher Sachkenntnis, scharfem Blick und praktischem Verständnis, des Wortes hervorragend mächtig, stets freimütig und un- erschrocken, hat er als Geschäftsführer des Vereins und als Mitglied zahlreicher wirtschaftlicher Körperschaften, von 1903 bis 1908 auch im Abgeordnetenhause, unermüdlich für Oberschlesiens Gedeihen gewirkt. Groß waren seine Erfolge auf wirtschaftlichem, Verkehrs-, Gesetz- gebungs- und vielen anderen Gebieten, und sein allzufrüher Tod ist ein schwerer Verlust für ganz Oberschlesien. Noch in der Zeit, da die Aufresungen des Krieges seine Gesundheit stark erschüttert hatten, ealt all sein Denken den Einwirkungen des Weltkrieges auf unser ihm zur zweiten Heimat gewordenes Oberschlesien. Als Mensch von ge- winnender Liebenswürdiekeit, stets hilfsbereit zu Rat und Tat, hat er sich weit über den Kreis der Vereinsmitglieder hinaus zahlreiche Freunde erworben. Aufs tiefste erschüttert steht die oberschlesische Montan- 44 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. industrie an seiner Bahre. Sie wird ihm für alle Zeit ein treues, dank- bares Gedenken bewahren.“ Voltz hat eine ganz besondere Teilnahme für alle Bestrebungen, die vaterländische Kultur betrafen, bewiesen. So hat er den Zielen und den Betätigungen unserer Gesellschaft stets aufrichtiges Interesse entgegengebracht. Georg Weber wurde am 11. Dezember 1839 als zweiter Sohn des Stabsarztes Dr. Weber in Frankenstein in Schles. geboren. Seine Schulbildung erhielt er zunächst auf der Volksschule daselbst und später auf dem Gymnasium zu Glatz, wohin sich sein Vater hatte ver- setzen lassen. An dieser Anstalt legte er im August 1857 die Reife- prüfung ab. Seinem Wunsche, Medizin zu studieren. konnte er. nachdem der Vater 1856 während einer Typhusepidemie seinem Berufe erlegen war, nur dadurch gerecht werden, daß er Aufnahme in das Kgl. med. chirurgische Friedrich-Wilhelm-Institut nachsuehte und auch fand. Von Oktober 1857 bis etwa 1861 war er Zögling dieses Institutes, und trat dann als Unterarzt zur Charite über, um seiner Dienstpflicht zu genügen. In dieser Zeit wandte er sein besonderes Interesse der Psychiatrie zu und war über 6 Monate Unterarzt an der betreffenden Abteilung. Vom 1. Oktober 1862 bis April 1863 legte er die Staats- prüfung ab, nachdem er schon am 1. August 1861 den Doktorgrad erworben hatte. Als ehemaliger Zöglinz des Friedrich-Wilhelm-Institutes mußte er nun Militärarzt werden, und so trat er am 1. April 1863 in das 63. In- fanterie-Regiment in Groß-Strehlitz als Assistenzarzt ein, wurde von da in das Büro des Korpsgeneralarztes kommandiert und dann in das 4. Dragoner-Regiment versetzt. Den Feldzug von 1866 machte er als diensttuender Stabsarzt bei einem Feldlazarett des 6. Armeekorps mit, und wurde im Dezember desselben Jahres als Oberarzt an das Friedrich- Wilhelm-Institut und später als Stabsarzt an die Charite kommandiert. Von da im Jahre 1869 nach Schweidnitz zum 6. Artillerie-Regiment ver- setzt. war er in den Jahren 1870/71 Chefarzt eines Sanitätsdetachements. 1877 wurde er zum Oberstabsarzt des 4. Niederschlesischen Infanterie- Regimentes Nr. 51 in Brieg ernannt. Der Wunsch, seinen Beruf auch in ärztlicher Privatpraxis, besonders in Augenpraxis, auszuüben und deshalb in Brieg zu verbleiben, ließ ihn auf weitere Beförderung ver- zichten. Ende 1898 trat er in den Ruhestand, wobei ihm der Charakter als Generaloberarzt verliehen wurde, und übersiedelte nach Breslau, wo er ärztliche Praxis nicht mehr ausübte, sondern nur wissenschaftlichen Interessen und seiner Lieblingsbeschäftigung, der Malerei, lebte, bis er am 15. Oktober 1916 starb. Nekrologe. 45 Ein für seinen Beruf begeisterter Arzt, ein treuer, anhänglicher Sohn seiner Heimatprovinz, ein glücksfroher Mann, dessen Humor auch in schweren Leidenstagen nicht versagte, ist mit ihm dahingegangen. Am 29. März 1917 erließ das Königliche Amtsgericht in Breslau die Todeserklärung des ordentlichen Professors der wirtschaftlichen Staatswissenschaften Dr. phil. Adolph von Wenckstern. Als Todes- tag wurde der 23. Oktober 1914 festgesetzt. Bald nach Ausbruch des Krieges war von Wenckstern hinausgeeilt, um als Hauptmann der Reserve seine Pflicht für das bedrohte Vaterland zu erfüllen. Er wurde nicht, wie er sehnlichst hoffte, unter die „Elisa- bether“, mit denen er sich seit Jahren eng verbunden fühlte, eingereiht, sah sich vielmehr zunächst vor die Aufgabe gestellt, an der Ausbildung eines der jungen, meist aus Kriegsfreiwilligen bestehenden Regimenter mitzuwirken. Am 13. Oktober fuhr er mit seinem Regimente — es war das Reserve-Infanterie-Regiment 203, dessen zehnte Kompagnie er führte, — ins Feld. Am 19. bereits stand er mit seinen Leuten dem Feinde vor Dixmuiden gegenüber. In einer zündenden Ansprache an seine „Goldjungen‘“ bereitete Wenckstern sie auf das Kommende vor. In der Nacht zum 22. Oktober begann der schwere Kampf. In der Dunkelheit ging der Hauptmann an der Spitze seiner Kompagnie vor. Aus einem Gehöft erhält er Flankenfeuer. Das Gehöft wird genommen. Es geht weiter vorwärts._ Bei einem Sprunge erhält von Wenckstern einen Armschuß; er springt trotzdem weiter vor. Mehrere andere Schüsse treffen ihn schwer; niedersinkend ruft er seinen Leuten nochmals „Vor- wärts“ zu. Ein Student verbindet ihn notdürftig. Die Kompagnie er- obert die Stellung des Gegners im Bajonettkampf. „Östlich Dixmuiden wurde der Feind geworfen“, konnte der amtliche Bericht der Heimat melden. Inzwischen war es aber deutlich geworden, daß der Feind für die verhältnismäßig schwachen deutschen Kräfte zu stark war. Diese wurden daher zurückgezogen. In der dunklen Nacht war es nicht mög- lich, alle Verwundeten mit zurückzunehmen; auch Wenckstern blieb seinem Schieksal überlassen. Am folgenden Morgen wurde er von belgischen Sanitätsleuten nach Dixmuiden gebracht und dort verbunden. Einige Stunden später fand die Verladung in einen Sanitätszug statt, der ihn nach Calais bringen sollte. Kurz darauf — wahrscheinlich noch auf der Fahrt nach Calais — verschied er. Beim Regiment nahm man zunächst an, daß er im Kampfe gefallen sei; erst allmählich und mit großer Mühe erlangte man Aufklärung über sein wirkliches Geschick. Ganz Zuver- lässiges über seine Todesstunde und den Ort, an dem er seine letzte Ruhe- stätte gefunden hat, wissen wir aber auch heute noch nicht. 46 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Das Leben, das so für das Vaterland geopfert wurde, bewegte sich nicht in vorgeschriebener, gradliniger Bahn. Schon die äußeren Lebens- schicksale sind für einen deutschen Professor eigenartig genug. Adoiph von Wenckstern wurde am 3. Oktober 1862 in Groß-Tippeln (Ostpreußen) geboren. In Hohenstein (Ostpreußen) begann er seine Gymnasialstudien, die er in Münster in Westfalen abschloß. Das ganz vorzügliche Abi- turientenzeugnis ist ein Beweis dafür, wie Wenckstern es schon in seiner Gymnasialzeit mit übernommenen Pflichten so ernst wie möglich nahm. Das „Militärfach“ hat er beim Schulabgang als den von ihm gewählten Beruf angegeben. Dementsprechend trat er sofort in die Armee ein. Von 1880 bis 1885 war er aktiver Offizier. Als er aber sah, daß seine wirt- schaftliche Lage es ihm nicht erlaubte, die militärische Laufbahn weiter zu verlolgen, entschloß er sich, den Abschied einzureichen. Er wurde Tabakpflanzer in Deli auf Sumatra. Fast fünf Jahre weilte er dort. Dann aber drängte es ihn zur Wissenschaft. In München und in Berlin studierte er von 1890 bis 1893. Mit erstaunlichem Fleiß muß er diese Jahre ausgenutzt haben; er hörte nicht nur volkswirtschaitliche und rechtswissenschaftliche Vorlesungen; auch Vorlesungen über Geschichte, Anthropologie, Naturgeschichte, Philosophie und Psychologie wurden von inm belegt. Hauptsächlich widmete er sich aber unter der Leitung Schmollers und Wagners dem Studium der Wirtschaftswissenschaften. Noch ehe das Triennium ganz abgelaufen war, wurde er auf Grund einer Studie über „Le Play“ zur Doktorprüfung zugelassen. Schon wenige Vochen später schloß von Wenckstern mit dem damaligen kaiserlichen japanischen Gesandten in Berlin, dem Grafen S. Aoki, einen Vertrag, der ihn für drei Jahre als Professor der Nationalökonomie und Finanzwissen- schaft an die kaiserlich japanische Universität in Tokio verpflichtete. Er lernte dabei die Japaner an Ort und Stelle gründlich kennen; es war wahrlich kein gutes Andenken, das er von den „tückischen gelben Affen“, wie er sie gern nannte, mit nach Europa nahm. Jedenfalls war er froh, daß er die gut bezahlte Professur in Tokio mit der Stelle eines Privar- dozenten an der Berliner Universität vertauschen konnte (1896—1905). 1897 bis 1899 war er zugleich Assistent Schmollers, 1898 bis 1905 Lehrer an der Post- und Telegraphenschule in Berlin. 1905 wurde er außer- ordentlicher Professor der Staatswissenschaften an der Universität Greifswald; schon kurze Zeit später, im Oktober 1906, erhielt er eine ordentliche Professur an der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universi- tät. Seit Eröffnung der Technischen Hochschule in Breslau gehörte er auch dieser als Lehrer der Wirtschaftswissenschaft an. Es ist nicht leicht, der wissenschaftlichen Bedeutung von Wencksterns gerecht zu werden, namentlich dann nicht, wenn man, wie es beim Nekrologe. 47 ‘Schreiber dieser Zeilen der Fall ist, einer anderen wissenschaftlichen „Richtung“ angehört. Ein Grundzug seines Wesens, der sich immer scharf ausprägt in allen seinen Veröffentlichungen, muß allem voran un- bedingt hervorgehoben werden: die große Ehrlichkeit und mannhafte Wahrhaftigkeit. Daraus ergeben sich von selbst die Leitsätze für sein Schaffen, die er einmal so formulierte: „Maßhalten im Urteil, Bestreben überall gerecht zu werden, aus noch so verschieden anmutenden An- schauungen das Gemeinsame oder zum mindesten das Ähnliche herauszu- stellen!!‘“ und „Parteihalten ist notwendig, aber es ist auch notwendig, daß es Beobachter, Kritiker, Darsteller gibt, welche ihren Stuhl aus dem Getriebe des Tages herausrücken, den Tag an sich vorbeiziehen lassen, mit seiner Hast, ruhig den Geist der Ereignisse auf sich wirken lassen und ihn ruhig für die Geschichte verwerten.“ Mit diesem Programm und der Art, wie er es durchzuführen bemüht war, machte sich von Wencekstern das Leben wahrlich nicht leicht. Nicht nur, daß er sich, wie er selbst meinte, „in jeder Frage zwischen die Stühle setzte“, er hielt es gewissermaßen auch für seine Pflicht, grade die schwierigsten Probleme unserer Wissenschaft herauszusuchen und von ihnen aus- gehend immer wieder von neuem sein ganzes weit ausgedehntes Lehr- system einer Umarbeitung zu unterziehen. Es ist kennzeichnend für ihn, daß er einst nach Verlust der Niederschrift für eine seiner Vorlesungen seiner Freude über dieses Ereignis unverhohlen Ausdruck gab, weil er gezwungen sei, alles von neuem auszuarbeiten. Auch das ist charakteristisch, daß er zum Gegenstand seiner Habilitations- schrift so ziemlich die schwierigste Aufgabe nahm, die er nur wählen konnte: „Marx“ lautete der Titel ohne einschränkende oder erläuternde Ergänzung. Ihm schwebte dabei nicht nur die Darstellung und Kritik der ökonomischen und ethischen Lehre des Marxismus vor, er wollte auch die Grundgedanken von Karl Marx mit denen von Aristoteles, Proudhon, Stirner, Schopenhauer, Hegel, Jules Le Chevalier und Kant vergleichen, eine Riesenaufgabe, die selbst heute noch, nachdem viel bessere Vorarbeit geleistet ist, ein Lebenswerk sein müßte. Von Wenck- stern konnte sie 1896 als angehender Gelehrter nach verhältnismäßig kurzer Vorbereitung nicht lösen; aber der Mut, mit dem er sich an diese Riesenaufgabe heranwagte, verdient trotzdem Anerkennung. Das Unbe- friedisende der ersten größeren wissenschaftlichen Leistung fühlte nie- mand deutlicher als Wenckstern selbst. Das erklärt es wohl auch, daß er nach diesen Marxstudien selbständige Untersuchungen über theo- retische Probleme nicht mehr veröffentlicht hat; aber in seinen zusammen- fassenden Arbeiten (Einführung in die Volkswirtschaftslehre 1903 und Leitfaden zu den Vorlesungen über Geschichte und Methode der national- ökonomischen und sozialistischen Theorien 1911) zeigte sich deutlich, wie 43 Jahresbericht der Schles. Geseilschaft für vaierl. Cultur. er auch in der Zeit nach 1896 den schwierigen theoretischen Grund- problemen unserer Wissenschaft ernste Aufmerksamkeit zuwandte. An die große Öffentlichkeit trat er sonst fortan nur, wenn es galt, zu brennenden politischen Tagesfragen Stellung zu nehmen. Nicht immer war er dabei glücklich; manches, was er im Drange des Augenblicks redete oder schrieb, hat er später bedauert. Ich weiß z. B. aus der eigenen Unterhaltung mit ihm, daß die Lehren, die er 1900 in seiner haupt- sächlich gegen Lujo Brentano gerichteten Streitschrift „‚Arbeitsvertrags- gesetzgebung. Positive Politik gegen die roten Gewerkvereine“ vertrat, in- zwischen in wesentlichen Punkten einer anderen und — man darf wohl sagen — besseren Einsicht Platz gemacht hatten. Aus der großen An- zahl von politischen Gelegenheitsschriften verdienen seine Schriften und Abhandlungen, die er in den Jahren 1899 und 1900 zur Fiottenfrage ver- öffentlichte, hervorgehoben zu werden (,.Mein Auge war aufs hohe Meer gezogen“, „Heimatpolitik und Weltpolitik“, „Auf Scholle und Welle”). In diesen Schriften ebenso wie auf vielen Agitationsreisen, die ihn in alle Gegenden Deutschlands führten, trat er unermüdlich für die Stärkung unserer Seemacht und die Vermehrung der deutschen Schlachtflotte ein. Es war daher keine Übertreibung, als Tirpitz ihm nach glücklicher Er- ledigung der Flottenvorlage schrieb: „Sie haben durch Ihre Tätigkeit. wesentlich dazu beigetragen, daß in einer verhältnismäßig kurzen Zeit die Erkenntnis über die Notwendigkeit einer starken Flotte im deutschen Volke erheblich zugenommen hat.“ Von Wenckstern selbst fühlte sich im Grunde seines Wesens gewiß mehr berufen, als Apostel für das zu wirken, was ihm im Interesse seines Volkes und seines Landes eine gute Sache zu sein schien, denn als Ge- lehrter neue Theorien auszuklügeln. Für diesen seinen Apostelberuf war jedes äußere Mittel recht; selbst die Form des Romans verschmähte er nicht als Mittel zum Zweck. In seinem Roman „Imme“, der ebenso wie ein anderer Roman „Heiligenblut‘‘“ (Berlin 1910 bezw. 1909) sein eigenes Lebensschicksal wiederspiegelt, legte er dem Helden das Bekenni- nis in den Mund: „Ich soll doch öffentliche Kollegs lesen vor Herren und Damen — und vor wie vielen verschiedenen Begabungen und Aus- bildungen! Wenn mir so etwas wie ein Roman gelingt, erweitere ich nur die im Hörsaal beschränkte Öffentlichkeit.‘ Auch das Wirken Wencksterns im Hörsal ist nicht gering einzu- schätzen. Er war ein vortrefflicher Redner — häufig genug hat er ja in den Sitzungen unserer Gesellschaft Proben von seiner Redekunst abge- lest. Er konnte zündend wirken. Als Lehrer hat er aber noch mehr dadurch geleistet, daß er namentlich zu den Mitgliedern seines Seminars möglichst enge persönliche Beziehungen anzuknüpfen und ihnen das Beste Nekrologe. 49 zu geben bemüht war. Viel Dankbarkeit und Liebe hat ihm das ein- getragen. Das Bild von Wencksterns würde nicht vollständig sein ohne Hinweis auf die von Herzen kommende Anhänglichkeit, die er seinen Lehrern, namentlich seinem Hauptmeister, Gustav von Schmoller, dem er sehr viel zu verdanken hatte, entgegenbrachte. Die Lehren seines Meisters waren ihm fast wie ein Evangelium heilig: „Schmollers Auf- fassung der Wissenschaft, der Freiheit, der Kultur erscheint mir als die Auffassung, welche uns Gelehrten, Fürsten und Volk, voranleuchten sollte.“ Alles in Allem war der Dahingeschiedene eine Persönlichkeit, die man wohl leicht mißverstand, der aber keiner, der selbst das Herz auf dem rechten Flecke hatte, gram sein konnte, nachdem er ihn ganz ver- standen hatte. Wenn seine Witwe, seine Kinder, seine zahlreichen Freunde traurig sind, weil sie nicht wissen, wohin sie ein Zeichen des Gedenkens an den teueren Toten legen können, so wird es ihnen ein Trost sein zu wissen, daß Adolph von Wenckstern sich selbst durch sein Leben und Schaffen in den Herzen derer, die ihn kannten, ein Denkmal gesetzt hat, das unendlich viel mehr wert ist, als der kalte Stein, mit dem wir die Gräber unserer Lieben zu schmücken pflegen. Adolf Weber. Anfang Oktober 1916 starb in Wien im 79. Lebensjahre, unser korre- spondierendes Mitglied, Hofrat Dr. Julius v. Wiesner, der berühmte Botaniker und frühere Professor an der Wiener Universität. Wiesner, einer der hervorragendsten Pflanzenphysiologen unserer Zeit, wurde 1838 zu Tschechen bei Brünn geboren. Nach Beendigung seiner Studien habilitierte er sich 1861 am Wiener Polytechnikum für physiologische Botanik, wurde 1868 außerordentlicher Professor und 1873 Ordinarius für Anatomie und Physiologie der Pflanzen ‚sowie Direktor des Pflanzenphysiologischen Instituts an der Wiener Universität. Im Jahre 1909 trat er nach Erreichung der gesetzlichen Alters- grenze in den Ruhestand. Um den Einfluß des Lichts und der Sonnenstrahlung auf Wachstum und Aufbau der Pflanzen zu untersuchen, unternahm er wiederholt größere Studienreisen, die ihn u. a. nach Ägypten, Java, Spitzbergen führten. Seine Arbeiten über die Licht- und Vegetationsprozesse der Pflanzen sind in vieler Hinsicht bahnbrechend gewesen. Insbesondere verdankt man ihm die wert- vollsten Aufschlüsse über die sogenannten heliotropischen Erschei- nungen im Pflanzenreiche, — d. h. die durch die Wirkung des Sonnen- lichts in bestimmter Richtung beeinflußten Bewegungsprozesse —, die er 1916. & 50 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. in einem klassischen Werke (zwei Bände 1879/80) erschöpfend behandelt hat. Aber auch über die Elementarstruktur und das Wachstum der lebenden Substanz, über die Entstehung und Bedeutung des Chlorophylis, über den Einfluß der Schwerkraft auf die Richtung der Pflanzenorga- nismen, auf Größe und Formverhältnisse der Blätter und über viele andere wichtige Einzelfragen aus dem Gebiete der Pflanzenmechanik hat er Forschungen von bleibender Bedeutung hinterlassen. Auch seine Beiträge zur technischen Warenkunde, wie sein „Lehrbuch der mikro- skopischen Untersuchung des Papiers“ u. a. sind von großer Wichtigkeit. Wiesner war (seit 1882) wirkliches Mitglied der Wiener Akademie der Wissenschaften. Ehrendoktor der Universitäten Glasgow und Upsala, der Technischen Hochschulen von Wien und Brünn: dem österreichischen Herrenhause gehörte er seit vielen Jahren als lebenslängliches Mitglied an. Am 25. Februar 1916 verschied an den Folgen einer recidivierenden Gesichtsrose unser lieber Kollege und Kamerad, der Sanitätsrat Dr. August Wolit, der über 30 Jahre in Breslau eine ausgedehnte Praxis als Arzt ausübte. Geboren am 14. September 1860 in Landsberg a.W.. promovierte er im Jahre 1884 in Leipzig auf Grund einer Arbeit über „Soor und Intertrigo“. Dort hatte er auch den weitaus größten Teil seiner Studienzeit verbracht und das Staatsexamen abgelegt. Nach Breslau, wo er das Reifezeugnis am Johannesgymnasium erlangt hatte, zurückgekehrt. war er zunächst am städtischen Allerheiligen-Hospital unter Sanitätsrat Friedländer. dem damaligen Primärarzt der inneren Abteilung einige Jahre tätig. Nach seiner Niederlassung als Arzt erwarb er sich in der Breslauer Bürgerschaft durch seine strenge Pflichttreue und stete Hilfsbereitschaft,. durch sein gediegenes Wissen, wie durch die offene, ehrliche Art seiner Raterteilung ein allmählich, aber stetig wachsendes Ansehen. Seine reiche dichterische Begabung, sein herzerquiekender Humor, den er stets gern und ausgiebig zur Verfügung stellte, machte ihn in Kreisen der Breslauer Ärzteschaft. zumal in dem damals noch weniger durch wirtschaftliche Sorgen und Kämpfe getrübten Vereinslebens beliebt und geschätzt. Sein ernstes Streben nach Bereicherung seines Wissens machte ihn zu einem der treuesten Besucher der Sitzungen unserer Gesellschaft, in deren medizinischer Sektion er als aufmerksamer Zuhörer selten fehlte. Bei Beginn des Krieges stellte er sich dem Vaterlande zur Ver- fügung und betreute teils durch Leitung von Transporten, teils durch Nekrologe. 91 seine Fürsorge im Bahndienst die Verwundeten. Seine beiden Kinder sind ihm auf dem Wege des Studiums der Medizin gefolgt; sein Sohn, seit Kriegsanfang im Felde, ist Assistenzarzt, seine Tochter steht vor dem medizinischen Staatsexamen. Wolff war so recht der Typus des praktischen Arztes in bestem Sinne: mit tiefem Interesse für das Wohl und Wehe seiner Schutz- befohlenen, Tag und Nacht auf dem Posten, nie erlahmend in auf- reibender Tätigkeit, gönnte er sich nur seltene und kurze Pausen der Er- holung. So verbrauchte er in aufopfernder Arbeit seine Lebenskraft nur allzuschnell, so daß er dem Anstürmen der schweren Erkrankung keinen Widerstand mehr entgegenzusetzen vermochte. Der treue, treffliche Mann, aufrecht und ehrlich in seiner Gesinnung, wohlwollend und selbstlos, mit einer ganz besonders ausgeprägten Wahrheitsliebe und Offenheit, hinterläßt bei all seinen Kollegen und in einem großen Kreise dankbarer Mitbürger ein ungetrübtes, achtungs- vollstes Andenken, das wir stets in Ehren halten werden. RobertAsch. Verzeichnis sämtlicher von der Schles, Gesellschaft für vaterl. Cultur he 1. Einzelne Schriften. en SE Zwei Reden, gehalten von dem Reg.-Quartiermstr. Müller und Prof. R er ersten des Stiftungstages der Gesellschaft zur Beförderung der Naturkunde und Industrie ‚Schlesie am 17. Dezember 1804, 80, 48 Seiten, An die Mitglieder der Gesellschaft zur Beförderung der Naturkunde und Industrie Schlesiens und a sämtliche Schlesier, von Rector Reiche, 1809, 8%, 328. “ Oeffentlicher Aktus der Schles. Gesellschaft £. vaterl. Cultur, gehalten am 29. Dezbr. 1810 zur Feit ihres Stiftungsfesies. 8%, 408, Joh. George Thomas, Handb. der Literaturgesch. v. Schles., 1824. 80, 3728, gekrönte Preisschril Beiträge zur Entomologie, verfasst von den Mitgliedern der entom. Sektion, „mit 17 Kpft. 1829. ! Die schles. Bibliothek der Schles, Gesellschaft v. K. G. Nowack. 8 1835 oder später erschienen Denkschrift der Schles. Gesellschaft zu ihrem 50jähr. Bestehen, enthaltend die Geschichte der Schle: Gesellschaft und Beiträge zur Natur- und Geschichtskunde Schlesiens, 1858. Mit 10 HEUDE 4 Tateln. &, 2328. h. Dr. J. A. Hoennicke, Die Mineralquellen der Provinz Schlesien. 1857. 89. 166 s, gekr, Preissch ift Dr. J. G. Galle, Grundzüge der schles. Klimatologie, 1857. 4%, 1278. x Dr. J. Kühn, Die zweckmäsigste Ernährung des Rindviehs, 1359. 80, 2128, gekr- Preisschrift. Dr. H. Lebert, Klınik des akuten Gelenkrheumatismus, Gratulationsschrift zum 60 jähr. Dok .) Jubiläum des Geh. San.-Kats Dr. Ant. Krocker, Erlangen 1860. 3. 498. Dr. Ferd. Römer, Die ıossile Fauna der silurısehen Diluvialgeschiebe ‚von Sadewitz bei Oels Schlesien, mit 6 lithogr. und 2 Kupfer-Tafeln. 1861. ®, QwS.- Lieder zum Stiitungsfeste der entomologischen und botanischen Sektion se Schles. Gesellschaft, & Manuskript gedruckt. 1867. 8% 928. E Verzeichnis der in den Schriften der Schles, Gesellschaft von 1804-1863 inkl. enthaltenen ‚Aufsätze ii alphab, Ordnung von Letzner. 1868. 8%, Fortsetzung der in den Schriften der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur oa 1864 bis 1876 i enthaltenen Aufsätze, geordnet nach den Verfassern in alphab. Ordn. von Dr. Schneider. General-Sachregıster der in den Schritten der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur von 1804 bis 18 incl, enthaltenen Aufsätze georinet in alphab, Folge von Dr, Schneider. Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur. L Die Hundertjahrfeier (125 8.). II. Geschichte e der Geselischaft (149 S.,. Breslau 1904. : Dr. Richard Foerster, Johann Chrıstoph Handke’s Selbstbiographie, Festschrift zum \ hundertährige Jubiläum der Universität Breslau. 1911. 80, 33 5. 2. Periodische Schriften. Verhandlungen der Gesellschaft f. Naturkunde u, Industrie Schlesiens. 8%, Bd.I, Be % 218 8, Hit. 3 112 S. ‘1806. DesgL Bd. 1, 1. Heft. 1807, 2 Correspondenzblatt der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische a 4, Jahrg. 1, 1310, 36 S. | Jahrg. UI, 1812, 46 S. ahrg. V, Hft.iu 2 je 968 = 0cHE, 1511, do. | IV, 1813, Hft. 1 wrjewal "vwLı Hft. 1, %S8, 2 Correspondenz der Schles, Gesellschaft f. vaterl. Cultur. 3, Bd, L. 362 8, mit An 1819 u 1820 Desgl. Bd. Il (Heft I), 80 S. mit Abbild., 1820, Bulletin der naturwissenschaftl, Sektion der Schles. Gesellschaft 1—11, 1822, 8% do, do. do. 1-10, 1824. 3, Übersicht der Arbeiten (Berichte sämtl. Seetionen) u, Veränderungen ’der SchL Ges. £. vat. Cultur:- Jahrg. 1824. 55 Seiten 40, | Jahrg. 1859. 222 Seiten 40, Jahrg. 1894. VII u. 561 Seiten 80, 135.64 - 4. -- „1860. 202 - 40, n. Erg.-Heft 265 S. 8%. 1826. 65 ” 40, 1861. 1485 8% n. Abh. 4928, D » 1845. 165 — . nebst 528. a Beob. | - 1846. 320 Seiten 4°, nebst 74 S. meteorol.Beob. | *» 1908. XI und 650 Seiten 80, « 1909. X und 844 Seiten 8% -» ..1910. Bd.I: VI u. 332 8%. 1884, XLI u.402 - 8, - 0% 0 11: VEN u. 472 80. ) ” _ 5 : 189. 9 » 49, | 2.°.1862) 1628. 9°. n.Abh, 416 8. n.Erg. it. 80. «- 1828. 97. 40, I 02. 1863. 156 Seiten 80, . 1896. VıL u.4748.8°n. Erg.- eK 4, » 1864. 266 S. 80%, n. Abh. 2668; Heft V, 56 Seiten 8%. » 1830. % 5 40, | — 1865. 218 S.80%. n.Abh. 698.| >» 897. VILLu.4868. $°n. Erg, ... 4831.86: 7» 40, e . 1866. 2678.80, n. Abh. 908. - Heft VI, 64 Seiten 80. . 1832.1038 -» 40, « 1867.275S 8%. n.Abh.1918.| = 1898, Vil u. 492 Saıten 80, ».1833. 1066 -» 4, » 1868. 300S.8%.n.Abh.4478,| = 1899, VIlu.3808. 8%.n.Erg.- .: 184,143 . a, «= 1869.3718. 8%, n. Abh. 2368. - Heft VIEL 55 Seiten 8%, . 185.146 =» 4, |» 1870. 3188.8°.n Abh. 858.| * 1900. VZIT u. 668 Seiten 80, . 1836. 1577-40 «= 1871. 3578.8%,n. Abh.2528,| .n.Erg.-Heft 36 Seit, 80. .. 1897. 1915 = 40, |. =...1872. 3508,8.n.Abh.1u1S| » 80, .. 1838.14 - 40, "1873. 2878.80. Abh.1488.| = . 1839.26 - 40, | =. 1874. 2% Seiten. 80, E =- 1840, 151 - 40, E 1875. 326 - 8, . . 1341.18 = 40, 0. 1806.34 » 8, j .» 182,26 = 40, I 2 ET ARE 80, . . 1843.272 « 4. nebst! . 1878. 331 . 8, » 1906. VIELu.6648.8%n. Erg. 41 S. meteorol. Beob.| .=- 1879. XXL u.473Seiten Heft VIU, 186 Seit. = =» 1844. 232 Seiten = » .18380.XVI u29 1907. X und 600 Seiten 8% « 1847 404 Seiten 4°. nebst -. 1911. Ba.I: V1n.518 80. - 44 S. meteorol. Beob. n. Erg.-Heft, 121 8. 8% =» li: VIII u. 210 8%. . 1848. 248 Seiten 40, . 1886. XL u. 327 Seiten 8° . 1912. Ba.l: 'YI u, 602 80, » 1849. Abth.1,180 8.,IL 398. n. Erg.-Heft 121 8. 80, : VI u. 250 80. n.44S, ıneteorol. eob | 1887. XLII u, 411 Seiten SS. | > ‘ 1888. XX u, 317 Seiten 89, | 1889. XLIV u. 287 Seiten 8, 1890. VII u. 329 Seiten 8°. 1851, 1% Seiten 4. ji a u - £ 'E [v7] 8 3 & 1850. Abth.L, 2048. II, 368. | 1852. 212 - 40, : 1853.35 - 40, | n. Erg.-Heft 272Seit. 8. | . 15.28 - 1, | = 189. VIL u, 481 Seiten &.| . » 1855.26 = 40, j n. Erg.-Heft 92 Seit. 30. | . 1856.42 - 4, j 1892. VII u. 351. Seiten 80 | - ». 1857. 317 49, | n. Erg.-Heft 160 8. 80, 1858. 24 - @. |» 1898. VIL u. 592 Seiten &. Vierundneunzigster “| ahres-Bericht der g " Schlesischen Gesellschaft N MM vaerändische Gultur. 41916. I. Band. ‚Breslau. G, P. Aderholz’ Buchhandlung. Adresse für Sendungen; : MIL In. THAN SLR Be 1.012. 38acaha Salon Rraoclan IT M atthiasknnet ; NVieruümdmeunzigster Jahres-Bericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Gultur. 1916. I. Band. LIBRARY NEW YORK RT A NAT [N L —4>- Breslau. G. P. Aderholz’ Buchhandlung. Neilzt, LIBRARY NEW YORK sy a Aldır BoeTa ! E Inhalts -Verzeichnis des II. Bandes des 94. Jahresberichtes. Berichte über die Sektionen. I. Abteilung: Medizin. a. Sitzungen der medizinischen Sektion. Die römischen Zahlen zeigen den Teil, die arabischen die Seitenzahlen an.) Seite Bessau: Über die Hervorrufung der lokalen Tuberkulinempfindlichkeit (Ein Beitrag zum Problem der Tuberkulose-Schutzimpfung) . . . . II 40 Pieseh20phthalma sympathiea.. ....... 2.002000 0 Sa 1237 — Cataraet nach Starkstromverletzung - . . . 22 2.2 22 20.0. I ,37 Zum Vortrager (D21S.36) von ©. Roerster . „er. eu 2 san: IM Bry: In Besserung befindliches Symptomenbild von Myelitis transversa mit Hanthochromie des Liquots . ». ..... ne ON area Paare NEIN Auge 7712 Bumke: Körperliche Symptome der Dementia praecose. . »....... 1224 — Zum Vortrage (T.IS.44) von Severin . .... er star EWAO Cohn, Ludwig: Unterricht einer Taubblinden durch einen nen erblindein Belmeralse., enge EN TEEN, STE MIPOIR ED DEV RR 2 11236 egenmutzUneraVauiolas. 2 Rare jenen as lerne I 14 Dreyer: Vorstellung eines in der Mitte des Oberschenkels amputierten- SOlaatenk BE era Yamaha tt 1 ART | — Demonstrationen. ., ., „Tersreiel.reyelk SE safe I:.21 — Zum Vortrage (T.IIS.103) von Heimann. . . . . a ee TE Feyerabend: Demonstrationen von Mißbildung bei Nengebareren. 1229 Bonstehibach-=UÜber Malaria: -_ . .. ausnalleais ugs sale nanatenel sit I 46 Foerster, O.: Zum Vortrage (T. IL S.88) von Ludwig Mann. 1 23 — Schußverletzungen der peripheren Nerven, des nee mare and GENE SE es Neffe, Sol a eh eier lry Eu ne aerf ar, 3 Frank: Zum Vortrage (T. II S.30) von Rosenfeld. .. .. . Ne Ke2 — Über Lungenembolien nach Injektion von Oleum einereum . ... - 1.39 Fraenkel, L.: Zum Vortrage (T. IS. 27) von Bumke. ..... NS —_ “ n (2:155:.103)7 „2 SHeimann 7.2.2.2 1 35 —_ an GE IS. h3%) 1,2. Küstinen.er arg 135 Freund, C. S.: Zum Vortrage (T. II S. 62) von Ludwig Mann. .... . 12216 Gerson: Fall von Schütteltremor des Kopfes durch Lungenschuß . . ». I 2% IV Inhalts- Verzeichnis. Seita Gräpner, L.: Nachruf auf Ernst a ee ee ES ee I 117 Greinert: Genitalaplasie. . . - . . 2 a ee a N Ne ey Heimann, kraz: Meracolon ..- - -.20n 2er Se — Stumpfearcinom nach Myanetomie 2 0 ee Re ee EEE 1.6 — »Puerperalsepsise ne a0 Sn 0» ee a — Cystoskopie und Hostrahlungserfolge] beim In: inonerahlen lern ca mom 15.10 — Vierusperforation mi Darmvoriall - _ 2 2 nn rorurgeeree 16 — Rückblicke und Ausblicke der Strahlentiefentherapie bei gutartigen und bösartigen Erkrankungen der weiblichen Sexualorgane .... 11 55 — Bakteriologische Untersuchungen beim Uteruscareinom. . - . 2. . II 103 Henke: Magengeschwür und Magencareinom. . x.» 22. .... I » — Zum Nortrage: (1. 129..29).2 ci Scans er re 1:97 —_— ,„ ® (T.1 S. 37) von Bleisch. 177383 — Aortendurchschuß -. . ».».... 2. I 39 Hürthle: Zum Vortrage (T.1S.27) von Burke, ET I 28 Justi: Leberabsceß. -. .-... - N en ee . 1906 Kowalski, B.: Uterusruptur ... . - a a N RE ea Küstner: Über extraperitonalen Kanserschnill 2 er Ne NEE REES M 43 —. Extrautermschwanrerschait „2 #0 aRM. Meere 1 — Zum Vortrage (T.I S.25) von Benke. 12.36 — Gravider exstirpierier Uterus. . . . ee 751 — Echtes Aneurysma der Arteria na RN I 3 — Homo neutrius generis - ..».... Kae I 34 Küttner: Meine Erfahrungen in der Kuierschrurse. der ierößen Blutgefäß- Stammers nee: ee NR RE PER EN Lange: Dempnsistonen von Kriegsyerleisien mit ee RR - I 30 — "Hysterischer Mutismuss ./ . ur Ru Sie 13 Mann, Ludwig: Eigenartige Formen von fünktioheller Neurose. Be Krk: werleizten. 07.2 A et le - - 1.8 — Die traumatischen Neuresen. ihre klnischen Formen und! ne Ent- stehungsmodus bei Kriegsverletzungen . . . . . » 22 2 22... I 62 — Neue Methoden und Gesichtspunkte zur Behandiare der Krtegenehe osen II 883 Melchior: Lymphangiom der Hand und des Unterarms. | Kl | Minkowski: Zum Vortrage (T.1S.25) von Henke . I 26 — Schußverletzung der Aorta thoracia . . ... . ES DEREN ERIETSS — Demonstration verschiedener Anämien . ». » ...". 22.2.2... 139 Neisser: Zum Vortrage (T.1S.14) von Drewitz . -.. -. 22.22.22... I 14 — e (T.11 S.62) von Ludwig Mann. 1.20 Partsch: Im Vortrage (T.I1S.3) von Küttner Re RER FAN 3 Platau, Lilli: Demonstratio® von Drillingen . .. .... Ar ErE Es In Pohl, Julius: Zum Vortrage (T.IS.27) von Bumke. as SE ET IE — Über Tetra-hydro-Athaphan. .". na N „ME Be II 126 Reim: Zur Pathologie des Herzmuskels . - 10:6 — Ein seltener Herzbefund bei acuter iyimphatische Haukemiek 11.:39 — Ein Beitrag zur Kenntnis der Herzmuskeltuberkulose . I 24 Rosenfeld: Zum Vortrage (T.IS.30) ...... Tea EEE 3 = y = (T. 1 S.14) von Drewitz Un. ser I 14 — Welche Nahrungsmittelmengen sind für die Inenschliche Ernährung im kommenden Wirtschaftsjahre nötig? . -. ». 2... 2... 2... I 14 — Zur Heller’schen Überschichtungsprobe. -. -. -...:.. 2... ..1723 Inhalts-Verzeichnis. V Seite Rosenfeld: Eunuchoidismus der langwüchsigen Form . » » »2.... 1 21 zum Vlortrage,(t.1S.39) von Erank . » 2. Zu... une. I — Zur Behandlung des Diabetes insipidus mit ypophyscapripatalen II 30 Sekten: Zum Vortrage (D.1S.39) von Frank . „2... 222 139 u.14l Schuppius: Multiple Sklerose mit Muskelatrophie. . . . .. 2.2... Del — Symptomenbild eines doppelseitigen Kleinhirnbrückenwinkeltumors multiplen Neuroübromatose): ... . „u. nu... 0. 0 00. 1212 Severin: Duodenalstenose durch Cysticusstein. . » » 2 22.2.2... le) — Zwei Fälle von Myotonia congenita (Thomsenscher Krankheit) bei Soldlakens. naeh ee a a At SirekzeeGreors-zBrythromelaleien.. . 2... 0 une ee 116 — Poesie. ne ee Re I 10 -— Zum Vortrage (T.IIS.62) von Ludwig Mann. . . 2... 22.2.0. > — eyphuszundoNervensystem. 2. 0... ae ne er I 39 — Das wissenschaftliche Wirken Alzheimers. . » . 2 2 2 22200. marst Ieizes Zum Veortrage (1.1S.36) von ©. Eoerster .. .». . . „2... 1 4 Uhthoff: Blaue Skleren mit abnormer Knochenbrüchigkeit bei Vater und Som s to are Be ee ES — Vorstellung eines Patienten, dem der rechte Rectus internus an seinem skleralen Ansatz total abgerissen war . . ».. 2.222.220 .. I 20 — Zum Vortrage (T.1S.36) von O. Foerster ......... oe we _ ji „ WESINSZ36), vonrBudwisl Cohnzar nn ae II 36 Wolffberg: Zum Vortrage (T.IS.14) von Drewitz. . . . . See I 14 b. Sitzungen der hygienischen Sektion. Pfeiffer: Über Schutzimpfungen gegen Cholera und Typhus . ».... 1 Scheller Zur Frage der Bacillenträger. . - -»» » . 222. n0.0.0 VEraR N RAR re Tae) Sellesitie beselschaft (ür valerländische cal ei le Er 94. I. Aa Jahresbericht. Medizin. 1916. a. Medizinische Sektion. oc ENT, RD RE ITIIERIEARL NR 2 __2® Sitzungen der medizinischen Sektion im Jahre 1916. Sitzung vom 14. Januar 1916. Vorsitzender: Herr Pohl. Schriftführer: Herr Partsch. Vorsitzender: Das erste Wort, das: ich bei Beginn des neuen Vereinsjahres an Sie richte, ist zunächst ein Wort des Dankes, dass Sie mir die Leitung der Sektion anvertraut haben. Obwohl die Zeitläufe wissenschaftlicher Forschung. durchaus nicht hold sind, hat unser Verein seine Aufgaben in ungemindertem Umfang durchgeführt. Es ist auch dies ein Erfolg hinter der Front, und der hauptsächliche Dank hierfür gebührt meinem Amtsvorgänger Herrn Geheimrat Uhthoff, der seine ganze Energie und seinen Ehrgeiz dafür eingesetzt hat, die Verbindung zwischen der Breslauer Aerzteschaft und der Gesellschaft gegen alle Hindernisse aufrecht zu erhalten. Ich glaube wohl in Ihrem Sinne zu handeln, wenn ich ihm hierfür unseren herz- lichsten Dank abstatte. Sodann obliegt es mir, zweier treuer Freunde und Kollegen, die uns entrissen wurden, zu gedenken. Am 19. Dezember des vergangenen Jahres starb nach langwieriger Krankheit unser Psychiater Prof. Alz- heimer. Grollend stehen wir einem Schicksal gegenüber, das uns vor- zeitig eines vollgültigen Mitkämpfers und Helfers bei unseren ärztlichen und wissenschaftlichen Aufgaben beraubt hat. Wer den Hünen Alz- heimer gekannt hat, musste ihn für stark genug halten, um ein Patriarchenalter zu erreichen, musste noch eine Fülle von Leistungen von diesem glänzend begabten Kopfe erwarten. Sind schon jene Kräfte dunkel, die das Organische zum Organischen formen, so birgt die Gehirn- physiologie noch das Ignoramus des Uebergangs vom Organischen zur Psyche; jeder Einblick in die Struktur dieses Wunderbaues bedeutet also einen Schritt näher zur Lösung dieses Riesenproblems.. Was Alz- heimer’s schöpferische Kraft auf diesem Gebiete erstrebt und erreicht hat, wird Ihnen noch heute von berufener Seite geschildert werden. Ganz unerwartet traf uns der Verlust H. Klaatsch’s. Mit nimmer müder Phantasie, mit seltenem Fleiss hat er die verschiedenen Gebiete der vergleichenden Anatomie und Anthropologie, der Rassen- und Stammesgeschichte bearbeitet und sich durch seine Originalität und temperamentvolle Darstellung einen grossen Ruf verschafft. Die Einzel- heiten seines Wirkens sind schon anderen Orts dargestellt worden und so bleibt uns nichts anderes übrig, als mit diesen wenigen wehmütigen Worten von dem lebenslustigen Kollegen Abschied zu nehmen. Vor der Tagesordnung. Hr. Dreyer stellt einen in der Mitte des Oberschenkels ampu- tierten Soldaten vor. Dieser hat seit 24 Stunden begonnen mit seinem Schlesische Gesellsch. f. vaterl. Cultur. 1916. 1. 1 2 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Behelfsgliede und 2 Spazierstöcken Gehversuche zu machen. Das Beheltfs- glied besteht aus einer unten offenen gut anmodellierten Gypshülse, der zwei seitliche Schienen angenietet sind. Diese besitzen ein bewegliches Kniegelenk und eine bewegliche Fussplatte. Mit dieser „wackligen“ Stütze geht der Mann überraschend gut. Der Vortragende führt dies insbesondere auf die „künstliche Stumpfverlängerung“*“ zurück. Er klebt, um letzteres zu erreichen, auch wenn die Verhältnisse am Stumpfende solches an sich nicht mehr erfordern würden, stets einen Trikotschlauch mittelst Mastisol ringsum am ganzen Stumpf fest. Die Enden des Schlauches werden fest an der Kniegelenksachse angebunden, was dem Amputierten die Führung des Ersatzgliedes wesentlich er- leichtert. Tagesordnung. Hr. Stertz: Nachruf auf Alois Alzheimer. (Siehe Teil II.) Hr. Pohl: Pharmakologische Mitteilungen. (In der Zeitschrift für experimentelle Pathologie und Therapie er- schienen.) F Hr. Rosenfeld: Zur Behandlung des Diabetes RE, (Siehe Teil II.) Diskussion. Hr. Frank: Bei 2 selbst beobachteten Fällen von Hypophysen- erkrankung mit stärkstem Diabetes insipidus habe ich eine Einwirkung des Hypophysenextraktes auf die Diurese nicht bemerkt. In dem ersten Falle wurde 3stündlich 1 cem Hypophysenextrakt von Schering injieiert und dabei manchmal für wenige Stunden ein Absinken der Diurese beobachtet; die in 24 Stunden abgesonderte Harnmenge aber blieb bei der durch salzarme Kost auf einen konstanten Wert gebrachten Diurese der Patientin unverändert. In einem zweiten Falle, der bei salzarmer Kost etwa 4 Liter Harn ausschied, wurde 3 Tage lang 2stündlich 1/, cem Pituitrin von Parke-Davis injieciert und ein Ansteigen der Harnmenge auf 5—7 Liter festgesteslt, während in der Nachperiode wiederum nur 31/, Liter ausgeschieden wurden. Es gibt also Fälle von Diabetes insipidus, die auf Hypophysen- extraktinjektionen nicht mit einer Verminderung der Diurese, sondern sogar mit einer Steigerung reagieren und es ist gewiss bedeutsam, dass die beiden Fälle, in denen diese Therapie versagte, als hypophysäre sichergestellt sind, also doch am ehesten hätten reagieren müssen, wenn der Diabetes insipidus auf einer Unterfunktion der Hypophyse beruhte. ea Nach meiner Meinung kann die Frage, ob dem Diabetes insipidus eine gesteigerte oder eine verminderte Leistung der Pars inter- media der Hypophyse zu Grunde liegt, mit Hilfe der Einspritzung von Extrakten beim Menschen nicht entschieden werden. Die Autoren haben von den verschiedensten Firmen hergestellte Präparate benutzt, und es ist sehr fraglich, ob alle diese Präparate die gleiche Zusammensetzung haben. Merkwürdig ist jedenfalls, dass Schäfer die Hypophysenextrakte nach seinen bei verschiedensten Tierarten durchgeführten Untersuchungen als das stärkste Diureticum der Pharmakopoe bezeichnete, während von neueren Autoren nun plötzlich den gleichen Extrakten eine diurese- vermindernde Wirkung zugeschrieben wird. Schäfer hat aber bereits betont, dass in dem Hypophysenextrakt 2 Prinzipien vorhanden sein können: ein diuretisches und ein diuresehemmendes, und es ist wohl möglich, dass je nach der Herstellung der Extrakte bald das eine, bald das andere überwiegt. Ferner kann es sein, dass die kontinuierliche Zufuhr von Hypophysenextrakt, wie sie in meinen beiden Fällen geübt I. Abteilung. Medizinische Sektion. Ba ie wurde, ganz andere Resultate liefert als die einmalige oder erst nach mehreren Tagen wiederholte Injektion. Die Experimentalversuche an der Hypophyse selbst, wie sie beson- ders von Harvey Cushing ausgeführt worden sind, sprechen jedenfalls dafür, dass es sich wohl beim Diabetes insipidus um eine gesteigerte Funktion der Hypophyse handelt. Denn die Transplantation der Hypo- physe in die Gehirnsubstanz führt nach Cushing zu einem viele Tage dauernden Diabetes insipidus, während die Totalexstirpation der Hypo- physe eine Oligurie zur Folge hat und die partielle Exstirpation des Hinterlappens nur vorübergehend die Diurese steigert, so lange das bei der Operation ausgepresste Hypophysensekret noch im Organismus kreist. Ebenso führt jede Manipulation an der frei gelegten Hypophyse zu einer Steigerung der Diurese. Am sichersten erhält man beim Tiere einen länger dauernden Diabetes insipidus, wenn der Hypophysenstiel unter- bunden wird, d.h. wenn das Hypophysensekret, das sich normalerweise in die Ventrikelflüssigkeit ergiesst und sich immer ganz langsam dem Blute beimischt, gezwungen wird, sich andere Wege der Resorption zu suchen, die ein rasches Eindringen in die Blutbahn wahrscheinlich machen. Auch klinisch scheinen Tumoren der Hypophysengegend mit Vorliebe zum Diabetes insipidus zu führen, wenn sie bei intakter Hypo- physe den Hypophysenstiel kombinieren. Hr. Rosenfeld: Die klinischen Tatsachen stimmen am besten mit der Vorstellung der hemmenden Wirkung. In den meisten Fällen war die Injektion erfolgreich, doch ist sie nicht unfehlbar. Sitzung vom 21. Januar 1916. Vorsitzender: Herr Pohl. Schriftführer: Herr Partsch. Als Delegierter für das Präsidium wird Herr Hürthle gewählt. Hr. Küttner: Meine Erfahrungen in der Kriegschirurgie der grossen Blutgefässstämme. (Ist in Nr. 5 und 6, 1916, der Berliner klin. Wochenschr. abgedruckt.) Diskussion. Hr. Partsch: Gestatten Sie mir nach dem auf reichen Er- fahrungen fussenden, alle Punkte so eingehend behandelnden Vortrage Ihre Aufmerksamkeit nur für die Demonstration eines Präparates in Anspruch zu nehmen, welches Ihnen die Schwierigkeiten, welche die Gefässverletzungen oft einem chirurgischen Eingreifen bieten, reeht ver- anschaulichen soll. Das Präparat entstammt einer Schussverletzung der Femoralis mit gleichzeitiger Zertrümmerung des Knochens. Es trat bei dem Verletzten, der mit einer enormen, pulsierenden Schwellung des Oberschenkels eingeliefert wurde, spontan eine fortschreitende Gangrän des Unterschenkels ein, so dass die hohe Oberschenkelamputation not- wendig wurde. Der abgesetzte Oberschenkel wurde dann gefroren in Scheiben zerlegt, von denen ich Ihnen zwei demonstriere. Das Präparat zeigt fast den ganzen Querschnitt in eine von ver- schiedenen Gerinnselmassen durchsetzte Bluthöhle verwandelt, umgeben von den zu einem schmalen peripheren Streifen zusammengedrückten Muskelmassen, die dem starken Druck ausgewichen sind. Die Blut- höhlen, zwischen denen das flüssige Blut kreiste, sind ausgefüllt mit verschiedenfarbigen, deutlich geschichteten Blutgerinnseln, zum Zeichen, dass diese aus dem kreisenden Blute entstanden und niedergeschlagen sind. Einzelne Thromben sind ganz hellgelblich, die mehr aussen ge- legenen mehr rostbraun gefärbt. Eingesprengt in die Gerinnungsmassen 1% 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. sind einzelne Knochensplitter. Bei näherem Zusehen sind sie durch den Druck des Blutes an die Wand des Blutsackes gedrängt, so dass sie ihn hier kreuzförmig umgeben, wie das ganz besonders schön auf dem Röntgenbilde zu sehen ist. Dieses Bild eines belebten Hämatoms in ausgedehnter Form zeigt, wie schwer es ist, einen solchen Blutsack anzugehen und in ihm sich den Weg zum Gefäss zu bahnen. Hier bleibt meines Ermessens kein anderer Weg, wie die vorherige Unterbindung am Orte der Wahl. Ich habe sie noch in drei anderen Fällen bei grossen belebten Hämatomen des Oberschenkels ausgeführt. In einem der Fälle, wo der Oberschenkel durch die Blutgeschwulst auf einen 15 cm grösseren Umfang als den des gesunden Beines gebracht war, konnten wir aus dem nach der hohen Unterbindung gespaltenen Blutsack nach dem Gewicht 2 kg Blut- gerinnsel ausleeren. Durch Tamponade ist der Sack zur Ausheilung ge- kommen und das Bein erhalten geblieben. In einem zweiten Falle nötigte der spontane Durchbruch eines Oberschenkeladeraneurysmas zur hohen Unterbindung, weil die be- ginnende Gangrän ein direktes Vorgehen gegen den Blutsack unmöglich machte. Auch hier ist nach der hohen Unterbindung der Sack durch Tamponade nach Ausräumung zur Heilung gekommen und das Bein er- halten geblieben. In einem dritten Falle erlag der Patient einer fort- schreitenden Gangrän des Beines bei sehr heruntergekommenem, All- gemeinbefinden. Es finden sich also doch Fälle, welche zur Unterbindung am Orte der Wahl nötigen. Sitzung vom 11. Februar 1916. Vorsitzender: Herr Küstner. Frl. Lilli Platau: Drillinge. Demonstration von ausgetragenen, 14 Wochen alten, gut gedeihenden Drillingen, 2 Knaben und 1 Mädchen. Die Kinder stammen nicht von durch Mehrlingsschwangerschaften erblich belasteten Eltern. Die Diagnose wurde erst intra partum gestelit. Wegen Nabelschnurvorfalls wurden die ersten beiden mittels hoher Zange entwickelt, das dritte wurde gewendet und extrahiert. Die Placenta folgte spontan. Sie lehrt, dass es sich um den für Drillingsschwangerschaften häufigsten Fall von zwei- eiigen Drillingen handelte. Ref. macht als von besonderer Bedeutung auf die im vorliegenden Falle gut entwickelten übercapillären Anasto- mosen zwischen den beiden Gefässbezirken der eineiigen Drillinge auf- merksam und bringt ihr Vorhandensein und die Tatsache, dass die Kinder ausgetragen wurden, ziemlich gleich entwickelt und \ebensfähig waren, in einen ursächlichen Zusammenhang. Hr. B. Kowalski: Uterusruptur. Im Anschluss an einen demonstrierten Fall von mit gutem Erfolg operierter Uterusruptur wird nach einigen statistischen Daten der Stand- punkt der Klinik dargelegt. Die Klinik verzichtet auf die Naht des Risses und empfiehlt je nach Lage des Risses und Zustand der Patientin die supravaginale Amputation bzw. die abd. Totalexstirpation mit Drainage. In der Praxis draussen keine Entbindungsversuche, keine Tamponade nach der Diagnose, sondern sofortige Ueberführung der Patientin in die Klinik. Hr. Küstner: Ueber extraperitonealen Kaiserschnitt. An der Hand der Demonstration einiger von der Operation Genesenen beschreibt Redner ausführlich seine Methode und wendet sich gegen die jüngst von Hofmeier und Baisch erhobenen Einwände. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 5 Der extraperitoneale Kaiserschnitt wird für schwierig und kompli- zierter gehalten als der tiefe transperitoneale. Das ist ohne Weiteres zuzugeben. Jede Operation hat ein Kindheitsstadium durchzumachen, aus dem sie erst allmählich herausentwickelt wird. So auch der extra- peritoneale Kaiserschnitt. Mit der Befolgung unserer Methode werden die Operateure die Erfahrung machen, dass in den meisten Fällen der Operation wirklich nicht unüberwindliehe Schwierigkeiten anhaften. Positiv leicht kann sie bei Wiederholtgebärenden sein, wenn diese schon längere Zeit kreisen. Baisch meint, man könne den extraperitonealen Kaiserschnitt nicht machen, wenn die gleiche Operation schon einmal bei derselben Frau vorgenommen worden ist. Das ist nicht richtig. Wir haben bei einer nicht unbeträchtlichen Anzahl von Frauen die Operation zweimal, beide Male mit vollem Erfolg, d.h. ohne Verletzung des Peritoneums gemacht. Meine seitliche Schnittlegung ermöglicht die zweite Operation auf der andern Seite zu machen. Vielleicht gelingt es auch noch ein drittes Mal, wenn dann genau in der Mitte geschnitten wird. Sollten bei einer Frau noch mehr Kaiserschnitte nötig werden, dann trete die tiefe trans- peritoneale Methode in ihre Rechte. Behufs der speziellen Methodik betont Redner, dass beim extraperito- nealen Kaiserschnitt die tiefe, aufgeblätterte, paravesikale, parametrane Wunde niemals durch Naht völlig geschlossen werden darf. Es muss auf kurze Zeit ein Gazestreifen eingelegt werden. Die Sekretionsstase und die Beschleunigung des Wundhöhlen- verschlusses wird auf das vorteilhafteste unterstützt dadurch, dass man die Operierten längere Zeit — also pro Tag einige Stunden lang mit geeigneten Zwischenpausen — Bauchlage einnehmen lässt. Auf diese Weise kann schon am 6. Tage Höhle und Wunde geschlossen sein. Im Allgemeinen kann man als Grundsatz aufstellen: Wenn eine Operation an einem abdominalen Organe sowohl extra- peritoneal als auch transperitoneal gemacht werden kann, so verdient das extraperitoneale Verfahren unbedingt den Vorzug. Hr. Heimann: a) Uterusperforation mit Darmvorfall. (Siehe Teil II.) b) Cystoskopie und Bestrahlungserfolge beim inoperablen Uterus- carcinom. (Siehe Teil II.) Hr. Küstner: Extrauterinschwangerschaft. Fehldiagnosen sind nicht selten. Besonders verhängnisvoll ist die Verwechslung mit Retroversio-flexio uteri gravidi, weil sich an sie un- mittelbar der Repositionsversuch anschliesst und dieser die Berstung der Hämatocele bzw. des Fruchtsackes zur Folge hat. Die Verwechslung kann nur vermieden werden dadurch, dass man in einem ihr naheliegenden Falle daran denkt, dass ektopische Schwanger- schaft vorliegen kann. Ist erst der Verdaeht geschöpft, dann unter- bleiben gefährliche Manipulationen, wie Repositionsversuche. Dann klärt die Untersuchung in Narkose meist den Befund. Auch eitrige Adnex- affektionen werden gelegentlich mit Retroversio-fexio uteri gravidi ver- wechselt. Hier sind Repositionsversuche erst recht gefährlich. Die Verwechslung soleher mit Extrauteringravidität sind auch nicht selten. Hier klärt die Narkoseuntersuchung nicht unter allen Umständen. Wohl aber tut es die Probepunktion mit feiner Nadel vom Scheidengewölbe aus. Sie ist einfacher als die von Döderlein empfohlene Incision des hinteren Scheidengewölbes. Hr. Heimann: c) Megacolon. Redner berichtet über einen Fall von Hirschsprung’scher Erkrankung, der unter der Diagnose stielgedrehter Ovarialtumor zur Operation kam. 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Die Symptome liessen an ein Megacolon nicht denken, der alle für die Hirschsprung’sche Erkrankung charakteristischen Bilder fehlten. Infolge des sehr schlechten Allgemeinzustandes der Patientin wurde von jedem ehirurgischen Eingriff Abstand genommen, das Abdomen gesehlossen und weiter intern behandelt. Am 4. Tage post operationem ging Pat. an einer Lungenembolie zu Grunde. Demonstration des Präparates. Ein- gehen auf das Krankheitsbild. (Erscheint als Original in der Gynäkologischen Rundschau.) d) Stumpfeareinom nach Myomotomie. Demonstration einer Patienten, die vor 10 Jahren eine supravaginale Amputation wegen eines myomatösen Uterus durchgemacht hatte. Im Stumpf hat sich jetzt ein Careinom entwickelt; Radikaloperation nicht möglich, daher wird Strahlenbehandlung mit gutem Erfolg angewendet. (Erscheint als Original in der Monatsschrift für Geburtsh. u. Gynäk.) Sitzung vom 25. Februar 1916. Vorsitzender: Herr Justi. Hr. Justi bespricht den Sektionsbefund eines kulturell sterilen, mikroskopisch vereinzelte Stäbehen und Kokken enthaltenden Leber- abscesses, der vor 4!1/, Jahren in Breslau operiert (Infektion des 36jährigen Junggesellen in Ostasien), seit einigen Monaten wieder Er- scheinungen gemacht hatte: mehrfächriges Pleuraemphysem, Perforation eines 4 Liter haltenden Abscesses des rechten Leberlappens subpulmonal und in die Lungen, Durchbruch in die grösseren Bronchien stand un- mittelbar bevor. Im Colon, besonders im Coecum, frischere, ältere und vernarbte Geschwüre. Amöben in Darmwand und deren kleineren Venen, sowie in den Lebercapillaren. Abscesswand teils derb fibrös, teils im Zustande tiefgreifender, eitriger Einschmelzung. Bezüglich der anschliessenden Besprechung der Pathogenese, Diagnose und Therapie sei auf den Beitrag des Vortragenden in Mense’s Hand- buch der Tropenkrankheiten, Bd. 4, 1. Hälfte, 1916, verwiesen. Hr. Reim: Zur Pathologie des Herzmuskels. (Siehe Teil II.) Redner demonstriert 1. einen Fall chronischer Herzmuskeltuberkulose (erscheint als Originalarbeit), 2. ein Herz mit ausgedehnter leuko- ämischer Tumorbildung (erscheint als Originalarbeit), 3. ein Lympho- sarkom des Mediastinums mit ausgedehnter sarkomatöser Infiltration des Pericards, 4. einen Fall von Situs viscerum inyersus totalis. Klinischer Abend vom 10. März 1916. Vorsitzender: Herr Stertz. Hr. Steriz: Erythromelalgie. Der 48jährige Patient erlitt im November 1914 durch Sturz vom Pferde eine Verstauchung und einen Bruch im Bereiche des rechten Handgelenks. Nach der Heilung trat zuweilen ein Gefühl von Kälte und Kribbeln der Finger auf. Ende April 1915 trat ein Krampf im rechten Unterarm auf, der anschwoll und hart wurde und sich später blaurot verfärbte. Die Erscheinungen schwanden nach etwa zwei Wochen. Einige Wochen später Krampf der rechten inneren Handfläche, Aus- bildung einer schmerzhaften taubeneigrossen Verdickung daselbst, Ring- und kleiner Finger waren wie gelähmt, sodann traten in den andern drei Fingern mehrstündige heftige Schmerzen auf. Anfangs wiederholten I. Abteilung. Medizinische Sektion. sich diese Anfälle selten, seit August 1915 aber häufiger; sie traten täglich und selbst bis viermal am Tage auf. Dabei stellten sich im An- falle nun Blutergüsse im Verbreitungsgebiete der Krämpfe, besonders am Rande der Verdickung der Haut ein. Es war zuerst, als schiesse eine Blutwelle vom Herzen in diese Hand. Dann färbte sich die erwähnte Gegend blaurot, am Rande mehr ziegelrot, worauf die Blutaustritte er- folgten. Die meist sehr heftigen, krampfhaften Schmerzen hielten etwa 11), Stunden an. Psychische Erregungen und Anstrengungen be- günstigten das Auftreten der Anfälle. Das Leiden war zeitweise fast unerträglich. Die Therapie blieb erfolglos. Patient war früher, ab- gesehen von leichten Gichtanfällen und Gallensteinen, gesund, nicht be- sonders nervös, nicht belastet. Kein Alkoholmissbrauch, dagegen starker Raucher. Bei der Untersuchung Ende November 1915 fand sich eine allgemeine mässige Arteriosklerose mit Erhöhung des Blutdrucks. Von der Fraktur war als Residuum nur noch eine leichte Verdickung der Bänder an der Beugeseite des Handgelenks nachweisbar. Der Handrücken war im ulnaren Abschnitt ödematös geschwollen, die Haut des Handtellers im gleichen Anteil verdickt und derb sowie rotblau bzw. mehr gelblich verfärbt. Die gleiche Beschaffenheit hatte die Haut des fünften und der Grundphalange des vierten Fingers, von denen der erstere in leichter Beugecontractur sich befand. Beide fühlten sich jetzt etwss kühl an. Am Rande der verfärbten und verdickten Partie des Handtellers waren ziemlich frische Blutaustritte in die Haut erkennbar. Die Untersuchung des Nervensystems ergab im übrigen weder am Orte der Erkrankung noch auch sonst irgendwelche Störungen. Die Diagnose wurde auf Erythromelalgie gestellt. Mit Rücksicht auf die Schilderung des Beginns der Anfälle konnte man an einen anfallsweisen Krampfzustand der Vasodilatoren in der be- fallenen Gegend denken und überhaupt an einen Reizzustand in dem betreffenden Gefässnervengebiete. Neben dem bereits zuvor gebrauchten Sajodin und Pyramidon wurde deshalb regelmässig der konstante Strom angewendet. Der Erfolg war ausgezeichnet, die Anfälle wurden viel seltener, die Schmerzen schwanden fast ganz. Die Schwellungen gingen auf ein Minimum zurück. Blutaustritte sind seit vielen Wochen nicht mehr vorgekommen. Vortragender geht auf die Theorien der Entstehung des sehr seltenen Leidens ein. Im vorliegenden Fall ist neben der be- ginnenden Arteriosklerose das Trauma von Bedeutung, da sich die An- fälle in zeitlichem und örtlichem Zusammenhange mit demselben ent- wickelt haben. Die Beschränkung auf den ulnaren Teil der Hand lässt aber die Vermittlung einer Erkrankung dieses Nerven nicht aus- geschlossen erscheinen, wenn sie sich auch nicht in den sonst üblichen Funktionsausfällen zu erkennen gibt. Hr. Melchior stellt aus der Küttner’schen Klinik einen 12jährigen Knaben mit diffusem tiefen Lymphangiom der Hand und des Unter- arıms vor. Obwohl sicherlich auf congenitaler Grundlage beruhend, war klinisch das Leiden erst seit drei Jahren stärker in die Erscheinung ge- treten. Hand tatzenartig, deutlich transparent, compressibel, Haut und Skelett ausserordentlich atrophisch!). Bei mehrfach vorgenommenen Ein- griffen zeigte sich das Zwischengewebe restlos verdrängt durch ein zartes, maschiges Gewebe, das beim Anschneiden unter Entlerung von Lymphe collabierte. Das Geschwulstgewebe umgibt völlig Knochen, Sehnenscheiden; Nerven und Gefässe ziehen frei dadurch. Auf Grund 1) Bei Suspension geht die Schwellung etwas zurück, während sie bei Tieflagerung der Extremität rasch zunimmt. 8 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. des mikroskopischen Befundes ist ein Haemo-Lymph-Angioma mix- tum anzunehmen. Wiederholte partielle Exeisionen schienen anfangs Erfolg zu versprechen, doch stellten sich schon nach einem Vierteljahre die ehemaligen Verhältnisse wieder her. Alkoholinjektionen blieben ebenfalls resultatlos. — Es soll jetzt ein Versuch mit Radiumbestrahlung gemacht werden. Hr. Uhthof: Blaue Skleren mit abnormer Knochenbrüchigkeit bei Vater und Sohn. Vortr. stellt zwei Patienten vor, Vater und Sohn, mit sogenannter „blauer Sklera“ beiderseits, von denen der Vater eine abnorme Knochen- brüchigkeit aufweist. Er hat nicht weniger als sechs Frakturen aus geringfügigen Anlässen erlitten. Bei dem Sohne wurden bisher solche nicht beobachtet. Auch zwei verstorbene Kinder hatten die gleiche Anomalie der „blauen Sklera“. Vortr. weist sodann noch kurz auf andere einschlägige Mitteilungen in der Literatur hin. Hr. L. Mann demonstriert einige eigenartige Formen von funk- tioneller Neurose bei Kriegsverletzten. 1. Einen Fall von sogenannter Krampusneurose. Der Patient, ein Vizefeldwebel, hat in den Monaten Februar bis März 1915 mehrere schwere Sturmangriffe mitgemacht und ist dabei von einem durch Granatexplosion abgesprengten Stein am Kopfe verletzt, bei einer andern Explosion etwa 10 m weit fortgeschleudert worden, war mehrfach be- wusstlos, beteiligte sich aber immer wieder noch an den Gefechten. All- mählich entwickelte sich dann der jetzige Zustand, der das typische Bild der Krampusneurose bietet: schwere tonische Muskelkrämpfe, besonders in den unteren, aber auch in den oberen Extremitäten, die bei jeder willkürlichen Bewegung auftreten und die sehr kräftig entwickelte Mus- kulatur steinhart hervorspringen lassen, auch mit heftigen Schmerzen verbunden sind. Der Krampf erstreckt sich nicht etwa, wie bei der Myotonie, nur auf die willkürlich innervierten Muskeln, sondern ver- breitet sich von diesen auch auf andere Muskelgebiete, bisweilen auch auf die Rumpfmuskulatur, so dass sich der ganze Rumpf tonisch zu- sammenkrümmt; keine elektrische myotonische Reaktion, aber Auslösung heftiger Krampi durch die elektrische Untersuchung, keine Sensibilitäts- störung, keine Gesichtsfeldeinengung usw. Psychisch intakt, nur eine gewisse Verlangsamung und Hemmung, heftige Kopfschmerzen auf der Scheitelhöhe, anscheinend bedingt durch eine leichte Schädelimpression. Therapeutisch wirkte die Anwendung von Hyosecin, Bettruhe, lauwarmen Bädern, Galvanisation günstig; der Zustand war zeitweise schon wesent- lich gebessert, in der letzten Zeit ist ohne ersichtliche Ursache wieder eine Verschlimmerung aufgetreten. Die Krampusneurose, welche zuerst von Wernicke bei Al- koholismus beschrieben worden ist, kommt, wie Oppenheim beobachtet und betont hat, auch als Folge von Traumen vor; Oppenheim selbst und andere Autoren, Schuster usw., haben gerade jetzt bei den Kriegs- verletzten diese eigentümliche Form der Neurose mehrfach beschrieben. Es ist meiner Ansicht nach Oppenheim vollständig zuzustimmen, wenn er die Krampusneurose als eine besondere Form in der grossen Gruppe der traumatischen Neurosen ansieht. Ueber die Genese dieser eigentüm- lichen Krankheitsform kann ich mich hier bei der Kürze der Zeit nicht verbreiten; jedenfalls bin ich mit Oppenheim der Meinung, dass es nicht angängig ist, diese eigenartige Krankheitsform einfach unter die Hysterie zu rubricieren, und stimme ihm auch darin bei, dass die An- nahme eines psychogenen Entstehungsmechanismus in diesen Fällen keinesfalls befriedigend erscheint. Während wir es bei diesem Falle mit einer Hyperkinese zu tun I. Abteilung. Medizinische Sektion. & haben, zeigen die zwei nächsten vorgestellten Fälle eigenartige akine- tische Zustände. Fall 2 ist ein Kanonier, welcher am 31. August 1914 durch Granatsplitter am Oberschenkel verwundet wurde, gleichzeitig aber eine Kopfverletzung erlitt mit länger dauernder Bewusstlosigkeit. Bald nach dem Verlassen des Bettes war sein linkes Bein total gelähmt. Er lag lange Zeit in Lazaretten bis Juli 1915, wurde dann beurlaubt, be- kam eine Kniebandage und nahm seine Arbeit wieder auf; er arbeitete ein halbes Jahr lang bis Januar 1916 wieder als Dreher und verdiente fast denselben Lohn wie vor dem Kriege. Sicherlich ein Ausdruck seines guten Willens zur Arbeit, wenn man seinen gegenwärtigen Zustand be- trachtet! Es findet sich nämlich noch jetzt eine fast totale Lähmung des linken Beines. Absolute Schlaffheit, aber keine Muskelatrophie, er- haltene Sehnenreflexe, vollkommen normale elektrische Erregbarkeit. Der Patient kann nur dadurch einigermaassen gehen, dass er eine feste Lederbandage um das Knie trägt, welche er mittels eines Riemens nach oben zieht und welche das Zusammenknicken des Kniegelenks in Beuge- stellung verhindert. Legt er die Bandage ab, so muss er das Knie mittels der aufgelegten Hand durchdrücken und mit der andern Hand das Bein nach vorwärts heben, so dass er nur in ganz tiefgebeugter Stellung gehen kann. Prüft man die Beweglichkeit des Beines im ein- zelnen, so findet man, dass der Patient imstande ist, eine leichte Beugung des Oberschenkels hervorzubringen, aber nur beim Liegen in Seitwärts- lage, bei welcher also die Schwere des Oberschenkels vermindert ist; auch kann er beim Stehen das Bein etwas vorwärtsschwingen, nicht aber aus der Rückenlage erheben. Ausser der Beugung des Ober- schenkels, die wesentlich mittels des Tensus fasciae latae geschieht, kann er auch den Unterschenkel in derselben Lage etwas beugen. Alle andern Bewegungen im Knie- und Fussgelenk sowie in den Zehen- gelenken sind absolut aufgehoben, so vollständig, wie man es sonst nur bei einer organischen Lähmung findet. Das wichtigste ist nun, dass man hier, wie man den Patienten auch beobachtet und welche verschiedenen Bewegungen man ihn auch auszuführen auffordert, immer nur die, er- wähnten Bewegungen in ganz schwachen Andeutungen herausbekommt, aber keinerlei andere Bewegungen. Auch tiefe Stiche in die Fusssohlen erzeugen keine Fussbewegungen. Beim Stehen mit Augenschluss steht er etwas unsicher, und es tritt ein andauerndes Spiel der Sehnen an dem gesunden rechten Fuss auf. Am linken Fusse fehlen auch diese unwillkürlichen Bewegungen vollständig. Die Lähmung kann in An- betracht des völligen Fehlens von Atrophie, Veränderungen der elek- trischen Erregbarkeit usw. keinesfalls als eine organisch bedingte an- gesehen werden. Das Unterscheidende dieser Lähmung gegenüber den gewöhnlichen hysterischen Lähmungen liegt besonders darin, dass sie absolut konstant ist und bei jeder Art von Bewegungsversuchen unter den verschiedensten Bedingungen sich absolut gleichbleibt. Neben der Lähmung findet sich eine Sensibilitätsstörung am linken Beine, die in der Höhe der Glutäalfalte abschneidet, ferner eine leichte Gesichtsfeld- einengung mit Ermüdungserscheinungen, eine gewisse Labilität der Herz- tätigkeit, sonst keine weiteren funktionellen Störungen. Bemerkenswert ist auch das Fehlen der hysterischen Charakterveränderung, insbesondere der ausserordentlich hervortretende Wille zur Arbeit, den Patient be- währt hat. Alles Momente, die den Fall von den gewöhnlichen hyste- rischen Lähmungen ausserordentlich abstechen lassen. Auch diesen Fällen hat Oppenheim mit Recht eine besondere Stellung eingeräumt und sie mit dem Namen Akinesia amnestica bezeichnet. Der 3. demonstrierte Fall gibt ein weiteres Beispiel für diese Krankheitsform, es handelt sich hier um eine Lähmung des rechten Armes bei einem Gefreiten, der im Januar 1915 vom Pferde gestürzt 10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. ist, später an einer Rippenfellentzündung erkrankt ist. Im Anschluss an diese Krankheit hat sich allmählich die jetzige Armlähmung heraus- gebildet. Dieselbe ist wiederum eine totale schlaffe Lähmung, mit Er- haltensein der Erregbarkeit, ohne Atrophie, ohne Störungen der Reflexe. Auch hier war längere Zeit wieder ein einzelner Bewegungsmechanismus, nämlich eine leichte Fingerbeugung, verbunden mit Unterarmbeugung, vorhanden. Auch diese Bewegung konnte konstant von dem Patienten hervorgerufen werden, während in allen übrigen Muskelgruppen eine totale schlaffe Lähmung bestand. Bei plötzlichem Vorwärts- oder Seit- wärtsbücken des Rumpfes fällt der Arm vollkommen schlaff, genau in lotrechter Richtung herab, beim plötzlichen Fallenlassen des erhobenen Arms tritts niemals eine Kontraktion des Deltoideus auf, es bleibt hier, ganz wie bei dem vorigen Fall, bei allen Bewegungsversuchen, unter welchen Bedingungen wir sie auch vornehmen, stets der Ausfall der- selbe. Dieser Fall ist jedoch in höherem Maasse vergesellschaftet mit hysterischem Stigmata, wie der vorige, er hat eine Hemianästhesie, und vor allem zeigte er im Beginn der Beobachtung eine Gangstörung von typisch hysterischem Charakter. Die Beine, besonders das rechte, zeigten eine unregelmässige wechselnde Parese mit Schütteln und Zittern, unzweckmässigen Muskelspannungen, Neigung zu übertriebenem, etwas theatralisch aussehendem Schwanken und Hinstürzen. Charak- teristischerweise war diese hysterische Parese und der Schütteltremor suggestiv in kurzer Zeit zu beeinflussen, so dass sie jetzt vollständig geschwunden ist und der Patient normal geht, während der Armlähmung gegenüber alle therapeutischen Versuche bisher erfolglos geblieben sind. Als 4. Fall wird noch ein Fall von hysterischer Kontraktur vorgestellt, bei einem Wehrmann, welcher im Juli 1915 durch Granat- explosion verschüttet worden ist, nachher an Malaria erkrankte und längere Zeit im Lazarett lag. Hier bildete sich allmählich der jetzt vorhandene Zustand heraus. Es besteht eine Kontraktur der Dorsal- fiexoren am linken Fuss, besonders des Tibialis anticus. Der Patient geht infolgedessen links mit Hackenstellung, setzt die Fussspitze gar nicht auf. Bemerkenswert ist eine sehr ausgeprägte ödematöse Schwellung am linken Fuss und Unterschenkel, es besteht eine teigige Verdickung (um 2—3 cm über dem Knöchel gemessen) und dunkelblaurote Ver- färbung, welche den Eindruck erweckt, als ob es sich um eine Venen- thrombose handle. Passive Bewegungsversuche sind sehr schmerzhaft, der Schmerz strahlt dann in das ganze Bein bis in den Rumpf aus. Daneben andere hysterische Stigmata: Hemianästhesie, Gesichtsfeld- einengung und dergleichen. Interessant ist hier besonders die be- gleitende vasomotorische Störung. Der Fall scheint therapeutisch günstige Aussichten zu bieten. Vor etwa 8 Tagen war es durch suggestive Maassnahmen plötzlich gelungen, den Krampf vollständig zu beseitigen, und es war darauf am nächsten Tage auch die vaso- motorische Störung, die Schwellung und Verfärbung vollkommen ver- schwunden, so dass der kranke Fuss nicht von dem gesunden zu unter- scheiden war. Nach einigen Tagen trat jedoch wieder der alte Zustand ein, wie er auch jetzt noch besteht. Ich bin aber überzeugt, dass eine dauernde Beseitigung hier in Kürze erreicht werden wird. Hr. Stertz: Polymyositis. Vortr. demonstriert die mikroskopischen Präparate eines Falles subakut entstandener und tödlich verlaufener Myopathie. Bei dem früher immer gesunden 55jährigen Patienten trat im Juli 1915 ein entzündliches Oedem der oberen und unteren Augenlider auf, auch eine leichte Schwellung der Lippe und später eine vorübergehende der Hände. Im Munde traten später die Erscheinungen einer schmerz- I. Abteilung. Medizinische Sektion. nl haften Stomatitis hinzu. Von Anfang an bemerkte Patient eine allmäh- lich zunehmende Schwäche der ganzen Körpermuskulatur. Besonders befallen wurde der Schulter- und Beckengürtel mit dem Quadriceps, ferner die Hals- und die gesamte Rumpfmuskulatur, so dass Patient bis ins einzelne das motorische Verhalten der Dystrophiekinder zeigte. Dann kamen die lebenswichtigen Muskelgebiete — die Atmungs-, Kau- und Schluekmuskulatur hinzu. Bei der Aufnahme im Dezember hatte Patient bereits eine Bronchitis und unregelmässige Temperaturen. Die befallenen Muskeln waren etwas atrophisch, schlaff und sehr druckschmerzhaft, auch passive Bewegungen waren schmerzhaft. Die elektrische Erregbarkeit war entsprechend der Parese stark herabgesetzt, stellenweise in sehr un Grade; keine qualitativen Veränderungen, auch kein myasthenischer ypus. Die Sehnenreflexe waren abgeschwächt, sonst bestanden keine Ver- änderungen am Nervensystem. Der Tod erfolgte am 23. I. 1916 an Atmungslähmung in Verbindung mit den bronchitischen Erscheinungen. Bei der Sektion fand sich ein ulceriertes Magencareinom, sonst keine Veränderungen an den inneren Organen. Die Muskeln waren zum Teil schlaff und auffallend hell (Deltoides und Nackenmuskeln). Mikro- skopisch erwies sich das gesamte centrale und periphere Nervensystem intakt. Das ganze Muskelsystem zeigte schwere Veränderungen, die an ver- schiedenen Stellen verschieden ausgesprochen waren, nämlich: 1. Die Erscheinungen einer interstitiellen Entzündung: Infiltrate von Lympho- cyten und Plasmazellen, oft erkennbar perivasculär angeordnet, drängten hier und da die Muskelfasern auseinander. 2. Die Erscheinungen einer ganz verbreiteten, hochgradigen — wenn auch nicht alle Muskelfasern gleichmässig betreffenden — parenchymatösen Entartung der letzteren. Die einzelnen Stadien: die Trübung, das Auftreten verschieden färb- barer Fettkörnchen, die Aufnahme der letzteren durch die gewucherten Muskelkörperchen bei Verlust der Querstreifung der Fasern, die weiteren Abbauvorgänge, die beginnenden reparatorischen Vorgänge werden an der Hand der Präparate erläutert. Auf die Literatur und die Theorien der Entstehung des Leidens wird eingegangen. Im vorliegenden Falle ist eine Resorption toxischer Produkte durch das ulcerierte Magencareinom sicher als Ursache in Ver- bindung mit einer besonderen Disposition des Muskelsystems anzunehmen. Eine genauere Mitteilung des Falles erfolgt an anderem Ort. Hr. Schuppius: a) Multiple Sklerose mit Muskelatrophie. K. S., Schrankenwärter, 39 Jahre alt. Das Leiden besteht seit 3 oder 4 Jahren; zuerst trockenes, sandiges Gefühl im Munde, Er- schwerung des Kopfdrehens, zeitweise auffallende Müdigkeit; hin und wieder für einige Stunden Erschwerung des Sprechens, wobei er sich sehr viel Mühe geben musste, um verstanden zu werden. Das Befinden war schwankend, besserte sich vorübergehend sehr merklich. Seit Weih- nachten 1915 starke Heiserkeit, Reissen in Schultern, Armen und Beinen, dauernde Müdigkeit; vorübergehend Erschwerung des Schluckens; Patient klagt auch jetzt noch, dass ihm beim Trinken das Wasser aus der Nase wieder herauskomme. Befund: Pupillen beiderseits gleich, rund, reagieren prompt auf Lichteinfall und Konvergenz; feinschlägiger Nystagmus beim Blick nach rechts, beiderseits temporale Abblassung der Papillen. Zunge wird etwas nach rechts vorgestreckt, zittert stark; rechte Zungenhälfte leicht verschmälert; Uvula hängt etwas nach rechts, die rechte Seite des Gaumensegels hebt sich bei der Phonation nur unvollkommen. In Zunge und Gaumensegel keine Entartungsreaktion. Sprache undeutlich, 12 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. gaumige Kornealreflexe fehlen. Mässige Heiserkeit; nach Mitteilung der Nasenklinik besteht leichte katarrhalische Internusparese. Sehnenreflexe an den Armen normal, an den Beinen sehr gesteigert; Patellar- und Fussclonus beiderseits, rechts deutlicher als links; kein Babinski; deut- liche Spasmen beider Beine. Cremasterrefex unsicher; Bauchdecken- reflex links nur schwach; rechts ist der obere sehr schwach, der untere gar nicht auszulösen. Im Liquor 10 Zellen im Kubikeentimeter, 4 Teil- striche Eiweiss nach Niss], nach Nonne eine Spur Opalescenz; Wasser- mann negativ. Das Krankheitsbild. lässt in seiner Vielgestaltigkeit und der Ver- teilung der Symptome keine andere Deutung als die Annahme einer multiplen Sklerose zu. b) Symptomenbild eines dopnelseitigen Kleinhirnbrückenwinkeltumors (multiple Neurofibromatose). Cl. H., 18 Jahre alt. Im Jahre 1911 ziemlich akut erkrankt mit starken Kopfschmerzen mit Erbrechen, zeitweise ziehenden Schmerzen im rechten Arm; oft in letzterem Gefühl von Einschlafen; Abnahme des Sehvermögens. November 1913 wurde folgender Befund erhoben: Beider- seits Strabismus convergens; beim Blick nach aussen nystaktische Ein- stellungszuckungen; rechts leichte Abducensparese; beiderseits deutliche Stauungspapille, Herabsetzung der Sehschärfe; im übrigen am Nerven- system keine Veränderungen; rechter Vorderarm und Hand schwächer entwickelt als linker; am rechten Oberarm etwas über bohnengrosse, sehr derbe, auf Druck schmerzhafte Verdickung unter der Fascie; bei Druck Gefühl von Einschlafen des Arms. Wassermann im Blut negativ. Patientin ist im Wachstum und der Entwickelung zurückgeblieben. Pat. wurde im Juni 1915 wieder vorgestellt; damals wurde ange- geben, dass seit etwa einem Jahr das Gehör sich erst links, dann rechts ver- schlechtert habe, und dass seit derselben Zeit die Sehkraft bedeutend nach- gelassen habe. Es habe sich auch eine Unsicherheit im Gehen eingestellt. Es wurde folgender Befund erhoben: die Stauungspapille war, links mehr als rechts, in Atrophie übergegangen; beim Blick nach den Seiten bestand deutlicher Nystagmus; auf dem linken Ohr wurde überhaupt nichts gehört, auf dem rechten sehr wenig (Barany’sche Lärmtrommel auf 30 cm); der Gang war ein wenig taumelnd, es fand sich eine leichte Unsicherheit in beiden Armen; die Achillessehnenreflexe fehlten; im übrigen war der Nervenbefund derselbe wie bei der früheren Unter- suchung. Der Tumor am rechten Oberarm war grösser geworden; die Exstirpation in der chirurgischen Klinik ergab ein Neurofibrom an der Radialisscheide. Zurzeit sind die Erscheinungen noch dieselben wie im Juni 1915 Pat. hört jetzt nichts mehr, sieht nur einen ganz matten Lichtschein. Die Intelligenz ist voll erhalten; es gelingt unschwer, sich mit Pat. zu verständigen, wenn man mit ihrer Hand Buchstaben und Worte langsam auf den Tisch schreibt. Diagnostisch kommt bei der Eigenart der Erkrankung und der charakteristischen Gruppierung der Symptome nur ein doppelseitiger Tumor am Kleinhirnbrückenwinkel in Frage. Da bereits am Arm der Pat. ein Neurofibrom festgestellt wurde und ferner die bisher beob- achteten doppelseitigen Acusticustumoren immer auf einer centralen Neurfibromatose beruhten, dürfte auch hier ein doppelseitiges Neurofibrom die Ursache der Erscheinungen sein. Frl. Bry: In ee befindliches Symptomenbild von Myelitis transversa mit Xanthochromie des Liquors. Es handelt sich um den 22jährigen Landwirt G. B., der von Januar bis Ende Mai 1915 als Grenadier an der französischen Front ge- I. Abteilung. Medizinische Sektion. 13 wesen ist, wobei er häufigen Durchnässungen der Beine ausgesetzt war. Früher ist er immer völlig gesund gewesen, die Familiengeschichte ergab keine Besonderheiten. Am 20. Mai erkrankte er mit leichten Schmerzen in beiden Füssen, dann ging allmählich erst die Kraft im linken, dann auch im rechten Bein zurück; dann bemerkte er ziehende Schmerzen in Brust und Rücken zwischen den Schultern, ein taubes Gefühl am ganzen Unterkörper bis hinauf an die Rippenbögen, ein Jucken unter den untersten Rippen rings herum, zuweilen dort auch kleine rote Flecken, gürtelförmig verlaufend. In den letzten 3 Wochen ist das Urinieren erschwert, der Stuhl hartnäckig verstopft gewesen. — Bei der Aufnahme, am 24. Juli 1915, bot B. das typische Bild einer dorsalen Myelitis transversa mit spastischer Paraplegie der Beine, fehlenden Bauchdecken- und Cremasterreflexen, Hypästhesie für alle Qualitäten bis zum 5. Intercostalraum bzw. 5. Brustwirbel; Patellar- und Fusselonus beiderseits, und vollständiger Blasen- und Mastdarmlähmung. Die Unter- suchung der inneren Organe und die Röntgenaufnahme der Wirbelsäule ergaben nichts Pathologisches, die Gegend des 3. Brustwirbeldorns war leicht klopfempfindlich; für multiple Sklerose fand sich kein Anhalt. Bei der Lumbalpunktion floss unter geringem Druck gelblicher Liquor ab, in dem sich nach kurzer Zeit eine etwa erbsengrosse Fibrinblase absetzte. Die Nonne’sche Eiweissreaktion ergab eine sehr starke Trü- bung, Zellvermehrung bestand nicht (6 Zellen in 1 cmm), die Wasser- mann’sche Reaktion fiel negativ aus (auch im Blut). Derselbe oder doch ein ähnlicher Liquorbefund ist in der Literatur häufig beschrieben und zwar bei Rückenmarkstumoren; ich erwähne nur die hierüber ver- öffentlichten Berichte von Klieneberger und Nonnet). Besonders auf die Wichtigkeit der Kombination von Eiweissvermehrung mit fehlender Zellvermehrung für die Diagnose „Tumor medullae spinalis“ legt Nonne grossen Wert, hat sie bei keiner anderen organischen Erkrankung des Centralnervensystems gesehen. Xanthochromie ist auch bei meningo- myelitischen Prozessen beschrieben worden (Raven s. o.). Zusammen mit den beiden vorher erwähnten Faktoren gilt sie als Zeichen für eine Rückenmarkskompression, die Eiweissvermehrung ist nach Raven als durch Stauungstranssudation bedingt aufzufassen, die distal von dem raumbeengenden Prozess durch die Unterbrechung der Liquorzirkulation hervorgerufen wird. Die Gelbfärbung erklärt Raven (s. 0.) durch multiple kleine Blutungen, die so weit zurückliegen, dass rote Blutkörperchen und Hämoglobin im Liquor nicht mehr nachweisbar sind. Daraufhin musste auch in unserem Falle das Vorhandensein eines das Rückenmark komprimierenden Tumors angenommen werden. Es wurde dem Kranken zur Operation geraten, die dieser aber ablehnte. Erstaunlicherweise war vom Laufe der 3. Woche ab spontan eine fortlaufende Besserung zu konstatieren. Erst verloren sich die Blasen- und Mastdarmstörunger, dann war (nach 1 Monat) rechts, dann (nach 2 Monaten) auch links keine Sensibilitätsstörung mehr nachzuweisen, bis auf leichte Hypästhesie an den distalen Teilen der Beine, die auch nach einigen Wochen verschwand. Die Bewegungsmöglichkeit der Beine nahm fortlaufend zu. Augenblicklich finden sich noch: spastische Parese des linken Beins, gesteigerte Patellarreflexe, links > rechts; gesteigerte Achillesreflexe rechts — links; beiderseits Babinski, Patellar- und Fussclonus. Die Bauchdecken- und Cremasterreflexe sind zuweilen auslösbar, aber in- konstant. Sensibilitätsstörungen sind nicht nachzuweisen. Der Gang ist 1) Mschr. f. Psych. u. Neurol., 1910, Bd. 28, u. D. Zschr. f. Nervhlk., Bd. 44. 14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. ohne Stock ganz gut, mit Nachziehen des linken Beins; Blase und Mast- darm sind intakt. An den Hirnnerven und dem Augenhintergrund ergibt sich kein pathologischer Befund. Der Liquor zeigt normale Verhältnisse. Demnach ist trotz des charakteristischen Liquorbefundes die Dia- gnose „Tumor medullae spinalis“ bei der langen Dauer der Remission zum mindesten sehr unwahrscheinlich geworden, zumal auch keine Neuralgien mehr aufgetreten sind und der Liquor jetzt ganz normal ist. Vielmehr muss man annehmen, dass auch bei myelitischen Prozessen die Kombination von Xanthochromie und Eiweissvermehrung ohne Zell- vermehrung vorkommt, wobei es sich vielleicht um entzündliche Ex- sudation und alte entzündliche Hämorrhagien handeln könnte. Sitzung vom 9. Juni 1916. Vorsitzender: Herr Uhthoff. Schriftführer: Herr Rosenfeld. Hr. Drewitz hält seinen angekündigten Vortrag mit Demonstra- tionen: Ueber Variola. Diskussion. Hr. A. Neisser hebt auch den charakteristischen Zug des Exanthems hervor, dass alle Efflorescenzen gleichaltrig sind. Hr. Rosenfeld: Es gibt zwei klinische Symptome, auf die der Herr Vortragende nicht eingegangen ist, die schon in der Prodromie auf- treten. Das eine ist die eigenartige Dikrotie des Pulses, die noch aus- geprägter als bei anderen Infektionen ist, und die Rückenschmerzen, die mit ihrer ausserordentlichen Stärke auch schon am Ende des Prodromalstudiums auf die Möglichkeit eines Pockenausbruches hinweisen. Hr. Wolffberg: Die gleichmässige Entwickelung des Pockenaus- schlags ist durch den Einfluss des Impfzustandes verändert: analog den Abweichungen des Revaccinationsverlaufes. Dies hat sich auch in unsern letzten Fällen bestätigt. — Betreffs des Symptoms der Rückenschmerzen ist hervorzuheben, dass solche gelegentlich auch vor Ausbruch des Varicellen-Ausschlages vorkommen. Varicellen befallen nicht ganz aus- schliesslich Kinder; wir haben sie nicht ganz selten bei Personen um das 15. Lebensjahr, ganz vereinzelt bei Erwachsenen beobachtet. Sitzung vom 23. Juni 1916. Vorsitzender: Herr Uhthoff. Schriftführer: Herr Röhmann. Hr. Rosenfeld: Welche Nahrungsmittelmengen sind für die menschliche Ernährung im kommenden Wirtschaftsjahr nötig? Sitzung vom 30. Juni 1916. Vorsitzender: Herr Uhthoff. Schriftführer: Herr Röhmann. Hr. L. Mann: Die traumatischen Neurosen, ihre Entstehungsweise und kiinischen Formen bei Kriegsverletzten. (Siehe Teil II.) Die Diskussion wird vertagt. & I. Abteilung. Medizinische Sektion. 15 Sitzung vom 7. Juli 1916. 1. Diskussion zu dem Vortrag des Herrn L. Mann. Hr. 0. Förster (erscheint als Originalbeitrag im II. Teil). Hr. G. Stertz: Für das Verständnis der Neurosen nach Trauma ist m. E. die Unterscheidung zwischen primären und secundären Sym- ptomen nicht ausser acht zu lassen. Die primären sind die unmittel- baren Folgen der psychischen und unter Umständen auch körperlichen Einwirkungen eines Traumas auf das Gehirn, die secundären sind solche, die durch nachträgliche psychogene Vorgänge, affektbetonte Vorstellungen, Begehrungen usw. entstehen und nur indirekt mit dem Unfall zusammen- hängen. Gerade diese sind dazu berufen, in späteren Zeiten ein gemein- sames Band um die ätiologisch und symptomatisch verschiedenartigen Bilder zu schlingen, indem sie u. a. eine depressiv-hypochondrische Gemütsstimmung und eine eigenartige Willensschwäche herbeiführen. So entsteht die grosse Gruppe, die uns in der Begutachtungspraxis vorwiegend beschäftigt, und es würde dem Bedürfnis praktischer Ver- ständigung entsprechen, wenn wir für sie die Bezeichnung, „Traumatische Neurose“* beibehalten würden. Der Zeitpunkt, in welehem diese secundären Symptome entstehen und zur Blüte gelangen, ist gewiss sehr verschieden, gerade bei den schweren Unfällen, und besonders bei denen der Kriegsteilnehmer glaube ich jedoch nicht, dass sie von vorn- herein so im Vordergrund stehen, dass man sie schon für die anfängliche Gestaltung des Krankheitsbildes verantwortlich machen kann, wie es jetzt vielfach geschieht. Es ist OQppenheim’s Verdienst, mit Nachdruck darauf hingewiesen zu haben, dass neben den psychischen Wirkungen eines Traumas das Moment einer materiellen Erschütterung des Gehirns für die Entstehung der Neurosen von Bedeutung sein kann. Wenn er aber auf dieser Grundlage zu einer symptomatologisch ab- grenzbaren Sonderform — seiner traumatischen Neurose — gelangte, und wenn er einzelne Symptome auf Grund zwar interessanter jedoch immerhin rein theoretischer Erwägungen nur für diese Sonderform in Anspruch nahm, z. B. seine Akinesia amnestica und die Reflexlähmungen, so hat seine Lehre von vielen Seiten berechtigten Widerspruch ge- funden. Wir sind aber nicht in allen Fällen in der Lage auszu- schliessen, dass unter der Voraussetzung eines schweren Traumas Symptome, die wir sonst psychogen entstehen sehen, materiellen Verände- rungen des Gehirns ihre Entstehung verdanken können. Es ist bekannt, dass eine ganze Reihe von Symptomen: Kopfschmerzen, Schwindel, vasomotorische Erscheinungen, gesteigerte Erregbarkeit und Erschöpfbar- keit, Zerstreutheit, Schlafstörung, Neigung zu Verstimmungszuständen sowohl als Symptome von Neurosen verschiedener Aetiologie als auch als unmittelbare Folgeerscheinungen mit Gehirnerschütterung einher- gehender Unfälle auftreten können. Wir können es einem aus diesen Symptomen sich zusammensetzenden Complex an sich nicht ansehen, ob er endogen, psychogen, organisch entstanden ist. Wir wissen ferner, dass sicher organische Hirnerkrankungen Symptome zeitigen können, die wir von psychogenen symptomatologisch nicht zu trennen vermögen. Der Boden, auf dem sie entstehen, ist noch keines- wegs genügend geklärt. Es spricht nichts dagegen, dass Funktions- schädigungen von Bahnen und Innervationscomplexen entsprechend den Anschauungen von Monakows über Diachisis (die ja auch Oppenheim zur Erklärung seiner Symptome heranzieht) entstehen können, die ganz den echt psychogenen gleichen. Ich habe eine Reihe von Kopfschüssen gesehen, bei denen von vorn- herein die organischen Ausfälle durch funktionelle, die in nichts von 16 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. hysterischen zu unterscheiden waren, überlagert waren und die sich im Laufe relativ kurzer Zeit, obgleich das Klarerwerden des Vorstellungs- lebens die psychogener Anteile eher hätte fördern können, zurückbildeten. Die Erkenntnis, dass die ungeheure Mehrzahl der in den Heimat- lazaretten anzutreffenden Neurotiker ihre Komplexe einem psychogenen Mechanismus verdanken, entbindet uns daher in Fällen sicher schwerer körperlicher Erschütterungen mit nachfolgender Bewusstlosigkeit nicht davon, die Frage immer wieder zu prüfen, ob nicht doch manche „funk- tionelle* Reiz- und Ausfallserscheinungen eine organische Grundlage haben könnten, was dann in prognostischer, therapeutischer und ver- sicherungstechnischer Beziehung zu berücksichtigen wäre. Fixierung der Symptome: Hierin liegt ein Moment, das, gleich- gültig wie die ursprüngliche Genese der Symptome sich abgespielt haben mag, die höchste Beachtung verdient, ohne dass wir befriedigende Er- klärungen dafür haben. Gewöhnlich werden auch dafür die psychogenen Einflüsse allein verantwortlich gemacht, das Vorhandensein von Gedanken und mehr oder weniger bewussten Strebungen, unter denen der Wunsch krank zu sein und damit zusammenhängende Begehrungsvorstellungen eine besondere Rolle spielen. Eine unvoreingenommene Beobachtung lehrt aber immer wieder, dass bei aller Anerkennung ihrer Bedeutung diese Annahme für viele Fälle nicht ausschliesslich zutreffen kann, sei es, dass Ansprüche gar nicht bestehen, sei es, dass die zu erlangenden Vorteile in keinerlei Verhältnis zu den durch die Krankheit entstehenden Nachteilen stehen. Hier fehlt ein Glied in der Kette der Erklärungen, das uns das Ver- ständnis vieler unserer Traumatiker, zumal der nicht gerade querulatorisch Veranlagten, völlig problematisch macht. Eine vergleichende Betrachtung psychopathischer Individuen lehrt uns, dass die Fixation gewisser, unter irgend welchen Bedingungen ent- standener Abweichungen tief in der Anlage begründet liegen kann. Ich erinnere hier an die Zwangsvorstellungen und Phobien auf dem Gebiet der Vorstellungen, die Neigung psychopathischer Menschen, durch Fixierung von Gewohnheiten zu Sonderlingen zu werden; auf dem Gebiet des Affektlebens an die protahierte Nachwirkung der Affekte, auf dem Gebiet der Triebe z. B. an das triebartige Fortlaufen psychopathischer Kinder, auf sensorischem Gebiet an das Haften manchmal ganz isolierter hypochondrischer Vorstellungen, an die monotone Wiederkehr der gleichen Hallucinationen unter bestimmten Umständen usw. Alle diese Er- fahrungen sind geeignet u. U. ein Licht zu werfen auf die Fixierung sensorischer und motorischer Innervationscomplexe, die wir als Unfall- folgen entstehen sehen. Die Bedeutung der Fixation auf diesem Wege liegt im Gegensatz zum erstgenannten Modus in einer relativen Unabhängigkeit der Sym- ptome mancher Kranker gegenüber eigener und fremder psychischer Beeinflussung. Abgesehen von dem Umstand, dass nicht alle Menschen der Hypnose zugänglich sind, liegt hierin auch eine Erklärung für die Unbeeinfluss- barkeit mancher Fälle durch hypnotische und andere Suggestion. Je offenkundiger das Hineinspielen von Vorstellungen in die Ent- stehung und Fixierung von Symptomen ist — was man oft an einem Walten der Phantasie in der Gestaltung der Symptome erkennen kann — umso labiler und — bei gutem Willen — beeinflussbarer sind sie, umso näher stehen sie u. U. aber auch der bewussten Uebertreibung oder Simulation. Die Stellungnahme des Individuums zu den Krankheitsym- ptomen erklärt sich in ihrer Verschiedenheit aus den hier geschilderten - I. Abteilung. Medizinische Sektion. 17 verschiedenen Mechanismen der Entstehung und Fixierung der Symptome. Je abhängiger vom Vorstellungsleben ein Symptom ist, umso weniger kann man eine entsprechende Affektbegleitung desselben erwarten, weil es ja gewissermaassen dem Wunsche des Kranken entspricht. Je selbst- ständiger es aber vom Vorstellungsleben ist — wie bei dem zweiten Modus der Fixation — desto eher kann es zu einer entsprechenden Affekt- begleitung kommen. Allerdings kann man keine Gesetzmässigkeit in dieser Richtung er- warten, weil, wenigstens bei manchen hysterisch Veranlagten, eine andere Eigenschaft der allgemeinen psychischen Verfassung, die Janet als Spaltung des Bewusstseins bezeichnet hat, der entsprechenden Selbst- wahrnehmung und Bewertung der Symptome im Wege steht. Die besondere Localisation der Symptome hängt von der Art der Vorstellungen, die durch die äusseren Umstände des Traumas ‚vermittelt werden, ab, oder von zufälligen Constellationen, die sich im Augenblick der durch den Shok bedingten Bewusstseinstrübung bilden, im Falle der Affektwirkungen von der gesetzmässigen oder von einer mehr minder zufälligen oder in der besonderen Veranlagung begründeten Aus- strahlungsart derselben, manchmal wohl auch von sensorischen Eindrücken, die von der Peripherie dem Zentralorgan zugehen. Auch das Vor- handenseir eines Locus minoris resistentiae ist offenbar von Bedeutung, da es nicht selten vorkommt, dass sich Erscheinungen von neuem ein- stellen, die in früherer Zeit bereits vorhanden gewesen waren. Im Falle einer organischen Auslösung ist natürlich der zufällige Sitz der Läsionen von entscheidender Bedeutung für die Localisation der Erscheinungen. Die Rolle der Belastung ergibt sich z. T. aus dem Gesagten. Sie ist keine Conditio sine qua non für das Auftreten von Neurosen nach Traumen, jedoch von folgenschwerer Bedeutung hinsichtlich des Missverhältnisses von Ursache und Wirkung und bezgl. der Nachhaltigkeit der Symptome. Auch für die sekundäre psychogene Weitergestaltung des Krankheits- bildes ist die Belastung nicht ohne Bedeutung. Die Neigung zu hypo- ehondrischer Selbstbeobachtung und die Willensschwäche finden gerade bei Belasteten einen günstigen Boden, und selbst das Unterliegen gegen- über dem Rentenwunsch an sich dürfen wir wohl mit Kräpelin in vielen Fällen als die Reaktion eines psychopathisch minderwertigen, willens- schwachen Menschen auffassen. Was die Prognose anlangt, so liegt an sich kein Grund vor, wes- halb nicht alle Formen der Neurose nach Trauma, auch die nach materiellen Schädigungen entstandenen, heilen könnten, sehen wir doch auch die allgemeinen Folgen schwerer Hirnverletzungen oft auffallend rasch zurückgehen, wenn es auch Fälle gibt, bei denen dauernd Be- schwerden zurückbleiben. Dass die Prognose quoad tempus getrübt wird durch die Belastung einerseits, die Schwere der traumatischen Einwirkung andererseits ist selbstverständlich. Bei den Kriegsverletzten werden wir auch berück- sichtigen müssen, dass eine wesentliche Schwächung der Widerstands- fähigkeit des Nervensystems bereits beim Eintritt der Verletzung be- standen haben kann. Die Voraussetzung einer Heilung ist schliesslich die Herstellung eines psychischen Gleichgewichtszustandes.. Wo secundäre psychogene Einflüsse den Krankheitserscheinungen stets neue Nahrung zuführen, kann dieser nicht zustande kommen. Die Kranken genesen, wenn ihre Wünsche erfüllt werden, oder wenn sie resignieren können. Die gleiche Wirkung gegenüber dem Krankheits- complex hat das Eintreten eines neuen, starken, anders gerichteten Interessenkreises in das Bewusstsein der Kranken. Der letzte Punkt Schlesische Gesellsch. f. vaterl. Cultur. 1916. I. 2 18 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. dürfte später gerade bei den noch jugendlichen Soldaten, die zum grossen Teil im Gegensatz zu alten Industriearbeitern das ganze Leben mit seinen Entwicklungsmöglichkeiten noch vor sich haben und auch alle vorläufig unter dem Einfluss aussergewöhnlicher Verhältnisse stehen, seine günstige Wirkung nicht verfehlen. Diese Zeit ist auszunützen, um erziehlich einzuwirken und die Kranken nach Möglichkeit bald für die Arbeit wieder zu gewinnen. Geringe Teilrenten mögen ihnen den Uebergang erleichtern. Es muss sich verhindern lassen, dass sie in grosser Anzahl jene Gruppe von Traumatikern vergrössern, die ihr Leiden durch die Jahrzehnte mit sich schleppen. Hr. C. S. Freund bringt zunächst in Erinnerung, dass Fälle von- der Eigenart der Akinesia amnestica Oppenheim’s in der Unfall- literatur bekannt sind. Er selbst hat 1895 in einem Vortrag „Ueber* psychische Lähmungen “ (Neurol. Centralbl.) zwei solche Fälle erwähnt und H. Sachs hat 1896 vier Fälle eingehend mitgeteilt). Unter An- lehnung an die Anschauungen, die H. Sachs in seinen „Vorträgen über Bau und Tätigkeit des Grosshirns“?) über die physiologische Bedeutung der Associationsbahnen niederlegte, hat Redner (l. c.) deu Versuch einer Pathogenese der psychischen Lähmungen gemacht und als Ort der Störung das Gebiet der Associationsfaserung angenommen und auch ver- sucht, die klinische Eigenart der localisierten psychischen Lähmung gegenüber der localisierten cerebralen Lähmung auseinander zu halten. Gegenüber der Oppenheim’schen Einteilung der „Traumatischen Neurosen“ hält Redner für richtiger und zweckdienlicher die Gruppierung in dem von ihm und H. Sachs verfassten Lehrbuch „Die Erkrankungen des Nervensystems nach Unfällen“3) und empfiehlt den Militärärzten die nach weiterer zehnjähriger Unfallpraxis denselben Standpunkt vertretende kritische Studie von Heinr. Sachs „die Unfallneurose, ihre Entstehung, Beurteilung und Verhütung“.%) Wenn man die traumatischen Neurosen auffasst als nur durch Unfälle bedingte rein funktionelle Erkrankungen des Nervensystems, so: bleibt nach Absonderung aller nicht streng hierher gehöriger Krankheits- zustände nur die Gruppe der psychogenen Krankheitszustände übrig. Denn hinter der Bezeichnung „traumatische Neurose“ verstecken sich sehr viele scheinbar neurasthenische und sonstige funktionelle Krankheitszustände, die auf anatomischen Veränderungen irgend welcher Art beruhen (z. B. beginnende organische Erkrankungen des Gehirns und Rückenmarks, beginnende Arteriosklerosen, Ueberreste von leichten Wirbelsäulenverletzungen, beginnende Gelenkerkrankungen) und vor allem auch die nach Kopfverletzungen auftretenden nervösen Fr- scheinungen, welche durch einen Reizzustand im Schädelinnern auf organischer Basis ausgelöst werden. Aus der grossen Häufigkeit dieser letzteren Verletzungsformen stammt die verbreitete Meinung, dass gerade Kopfverletzungen besonders geeignet sind „eine traumatische Neurose“ herbeizuführen. — Zwischen diesen auf organisch nachweisbaren Schädi- gungen bestehenden „Neurosen“ und den psychogenen Krankheitszuständen bleibt die Gruppe der „funktionellen“ Störungen übrig, bei welchen es sich um eine abnorme Form der Erregbarkeit der Nervencentren handelt, meist. 1) Ueber Bewegungsbehinderungen und psychisch bedingte Läh- mungen ohne anatomische Grundlage. Wissenschaftl. Mitt. d. Inst. z. Behandl. v. Unfallverletzten in Breslau 1896. 2) Breslau 1893, fünfter Vortrag. 3) Berlin 1899, Fischer’s med. Buchhandl. 4) Breslau 1909, Preuss & Jünger. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 19 um eine Steigerung, in einzelnen Fällen um eine Verminderung der Er- regbarkeit. Aber auch diese Zustände haben keine traumatisch bedingte Eigenart, denn sie unterscheiden sich nicht wesentlich von den funktio- nellen Störungen, wie sie nach infektiösen Erkrankungen oder als Folge- zustände der Uebermüdung oder mangelnder Erholung oder vor allem beiangeborener abnormer Erregbarkeit der Nervencentren zurückbleiben. Unter den psychogenen Krankheitsbildern wird von SachsundFreund als besondere Krankheitsgruppe die „Schreckneurose“ herausgehoben, ein schweres, sehr akutes, meist in wenigen Monaten, oft in viel kürzerer Zeit ablaufendes Krankheitsbild, in reinem Zustande ohne hysterische und ohne hypochondrische Züge, mit Zuständen von Angst besonders gegenüber der Situation, in welcher der Unfall sich ereignet hat, Herz- klopfen, schreckhaftem Träumen besonders von dem Unfall, allgemeiner Ueberempfindlichkeit. — Solche Zustände dürften in den Feldlazaretten häufig sein und selten bis in die Heimatslazarette kommen. (Ziehen sich in das Krankheitsbild der Schreckneurose deutliche hysterische Er- scheinungen, so kann man von vornherein auf das Vorhandensein einer schweren nervösen Belastung schliessen). Unter den anderen psychogenen Krankheitszuständen sind neben den hysterischen die durch hypochondrische Gedankenrichtung bedingten, die durch Beeinträchtigungsideen und Querulieren gebildeten, die Zwangs- und Angstzustände u. a. Es liegt in der psychopathischen Veranlagung des Individuums be- gründet, ob sein Gehirn auf das psychische Trauma mehr mit einem hysterischen oder mit einem hypochondrischen oder einem der anderen psychogenen Krankheitszuständen reagiert. In der Mehrzahl der Fälle vereinigen sich mehrere dieser Reaktionsarten, und so entstehen dann die vielgestaltigen Krankheitsbilder, die Oppenheim als Typus seiner traumatischen Neurose hinstellt. Unter Hinweis auf die These Babinski’s, dass die hysterischen Stigmata ihre Entstehung znm grössten Teil den ärztlichen Uniter- suchungsmethoden verdanken, bespricht Redner die grosse autosuggestive Befähigung der hysterisch oder hypochondrisch veranlagten Individuen zur Uebernahme von Krankheitserscheinungen anderer Kranker und führt eine Anzahl von Missständen auf, die geeignet sind eine psychische Infektion herbeizuführen oder schon ausgebildete hysterische oder hypo- chondrische Krankheitszustände zu verschlimmsrn, so das Zusammenliegen zahlreicher derartig veranlagter Kriegsverletzter auf ausschliesslich für Nervenkranke bestimmten Krankenstationen, das stundenlange Verweilen im Wartezimmer der Nervenpolikliniken. In Gegenwart neurosever- dächtiger Patienten sollten Untersuchungen anderer und insbesondere nervöser Kranker nicht stattfinden, auch nicht das Diktieren von Befund- berichten, ärztliche Besprechungen über den Krankheitszustand oder klinische Demonstrationen, zum mindesten nicht in einer für den Kranken verständlichen Form. Die Untersuchung selbst muss mit grösster Vor- sicht vorgenommen werden. Redner berichtet über Prüfungsmethoden auf Druckschmerzhaftigkeit, Gefühls- und Gleichgewichtsstörungen bei abge- lenkter Aufmerksamkeit des Untersuchten, bei denen die Gefahr des Ansuggerierens solcher Störungen nach Möglichkeit ausgeschlossen wird. Gerade der Arzt in den Feld- und Etappenlazaretten sollte die Technik solcher Untersuchungsmethoden beherrschen. Die Behandlung dieser Krankheitszustände verspricht Erfolg meist nur dann, wenn sie gleich im ersten Beginn einsetzt, so lange sich die psychischen Abnormitäten noch nicht befestigt haben. Von der Art und Weise des erstbehandelnden Arztes kann es abhängen, ob eine Neurose sich überhaupt entwickelt oder nicht. Psychogene Krankheitserscheinungen weichen nur der psychischen Beeinflussung durch sachkundige Ablenkung DIE 230 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. der Aufmerksamkeit des Kranken von seinem Leiden; Fälle von Hysterie sowie solehe mit leichten hypochondrischen Erscheinungen müssen bald- möglichst das Lazarett verlassen und zu leichtem Dienst herangezogen werden. Fälle von Neurasthenie oder neurastheniformen Schwächezu- ständen müssen geschont und nötigenfalls gegen ihren Willen vom Dienst ferngehalten werden; dies gilt besonders für die neurastheniformen Er- scheinungen nach Kopfverletzungen, welche eine nicht zu früh aufge- gebene Bettruhe erfordern, namentlich bei der Neigung zu Schwindel- anfällen. Die Voraussetzung für eine erfolgreiche Behandlung ist neben einer möglichst scharfen Differentialdiagnose der verschiedenartigen Neurosen die praktisch psychologische Erfahrung und Menschenkenntnis des Arztes. Ganz abgesehen von den theoretischen Bedenken ist die Auffassung der traumatischen Neurose als Krankheit sui generis geradezu gefährlich, weil sie dazu führt, zam Schaden der Kranken die scharfe Differential- diagnose zu vernachlässigen. Im Hinblick auf die in den letzten Jahrzehnten gerade genügend gemachten bösen Erfahrungen ist es zweckdienlich auf die bequeme Be- zeichnung „traumatische Neurose“ überhaupt zu verzichten. 2. Hr. Lange zeigt eine Anzahl von Kriegsverletzten mit Sprach- störungen. Redner macht auf dem in prognotischer Beziehung wichtigen Unterschied zwischen schlaffer und spastischer Aphonie aufmerksam. Während bei ersterer in achtzig Fällen durch die übliche Behandlung (Verbalsuggestion, faradische Pinselung am Hals und an der Brust) stets in einer Sitzung prompte Heilung erzielt wurde, blieben zwei Fälle vom spastischen Typus trotz Monate langer Behandlung ungebessert. An einschlägigen Fällen wird demonstriert, dass der funktionelle Mutismus auf verschiedene Weise abheilt: a) plötzliches Wiedereinsetzen der normalen Sprache (Spontanheilung durch Schreck), b) allmählicher Uebergang zu erst lautlesen Lippenbewegungen, dann zur tonlosen Flüstersprache, schliesslich Beseitigung der Aphonie auf dem angegebenen Wege. Manchmal tritt nach Beseitigung der ursprünglichen Sprachstörung leichtes Stottern auf, das durch sofort einsetzende, systematische Sprech- übungen bekämpft werden muss. 3. Hr. Gerson demonstriert einen Fall von Schütteliremor des Kopfes nach Lungenschuss. Hr. C. Neisser weist auf die Bedeutung der hysterischen Disposition für die Entstehung des Bildes der traumatischen Neurose hin. Hr. Mann: Schlusswort. Sitzung vom 3. November 1916. Vorsitzender: Herr Pohl. Schriftführer: Herr Partsch. Der Vorzitzende eröffnet die Sitzun® mit Gedenkworten auf A. Neisser und E. Richter. Vor der Tagesordnung. Hr. W. Uhthoff stellt einen Patienten vor, dem durch einen Sturz von der Treppe und Quetschung der rechten Orbitalgegend der rechte Reetus internus an seinem skleralen Ansatz total ab- gerissen war. Das rechte Auge stand in starker Divergenzstellung, die Beweglichkeit desselben im Bereich des Rectus internus war auf- I. Abteilung. Medizinische Sektion. >) gehoben, erhebliche Protusion des Augapfels, keine intraokularen Ver- änderungen. Der Fall wurde der operativen Behandlung unterzogen, indem der abgerissene Rectus internus aufgesucht und vorgenäht wurde mit gleichzeitiger Rücklagerung des Rectus externus. Es ist auf diese Weise gelungen, dem Patienten ein binokulares Einfachsehen wieder- herzustellen und ebenso ein richtiges stereoskopisches Sehen. Nur nach rechts herüber, etwa 30° von der Mittellinie ab, besteht noch gleich- namige Diplopie mit wachsendem Abstand der Doppelbilder. Unter der jetzt eingeleiteten massierenden Behandlung der Verlagerungsnarbe in der Gegend des inneren Augenwinkels erweitert sich das Terrain des Einfachsehens nach rechts allmählich immer mehr, so dass eine noch weitergehende Besserung zu erwarten steht. Sollte das Einfachsehen nach rechts herüber nicht hinreichend verschwinden, so wäre eventuell später noch an eine Vernähung des zurückgelagerten rechten Rectus externus zu denken. Jedenfalls zeigt sich, einen wie mächtigen Heil- faktor die Tendenz zum Einfachsehen auch in diesem Falle bildet. Redner erwähnt sodann noch einen zweiten Fall, wo es durch Stoss mit einem Billardstock zu einer Abreissung des Reetus inferior gekommen war mit sekundärem Strabismus sursum vergens des rechten Auges in entsprechender Diplopie. Auch hier gelang es durch Vernähung des Rectus inferior ein binokuläres Einfachsehen nach den verschiedenen Richtungen wiederherzustellen, so dass Patient später nicht mehr wesentlich gestört war. Hr. Rosenfeld: Bei der jetzigen Knappheit an Salpetersäure muss man auch darauf bedacht sein, die Mengen, die zur Heller’schen Ueber- schiehtangsprobe nötig sind, zu verringern. Zu diesem Behuf hat in meinem Lazarett Herr Apotheker Deiters die hier vorzuzeigende Form des Probierröhrchens hergestellt. Man erhitzt den konvexen Boden des Glases und drückt ihn dann mit einem Bleistift oder dergl. pyramidal oder halbkuglig nach innen. Dann bleibt uns noch efn schmaler Spalt für die Salpetersäure zu füllen übrig. Die Ueberschichtung gelingt sehr gut durch Aufsetzen der Pipette auf den Gipfel des Kegels: der Eiweiss- ring ist sehr scharf zu sehen. Man kann die Aussenwand des Innen- kegels auch durch Russ schwärzen, um den Eiweissring noch mehr her- vorzuheben. 2 Hr. Rosenfeld demonstriert einen Soldaten mit Eunuchoidismus der langwüchsigen Form. Hr. Dreyer: M.H., dieser Patient wurde am 11. Juli 1915 durch Granatsplitter verwundet, der auf der rechten Halsseite eindrang und in der rechten Lunge stecken blieb. Am 23. Dezember 1915 wurde er in die chirurgische Klinik aufgenommen. Allgemeinzustand stark reduciert. Ueber der Mitte des rechten Schlüsselbeins eine Fistelöffnung, aus der beim Husten reichlich grünlich- gelber Eiter herausfliegt. Rechter Arm stark geschwollen, ödematös, blau verfärbt. Röntgenbild zeigt Verdichtung des ganzen oberen Lungen- lappeus und (Demonstration) eine riesige Abscesshöhle, die hier mit Jodipin ausgefüllt und dadurch deutlich sichtbar gemacht ist. Mittels des Fürstenau’schen Verfahrens wurde festgestellt, dass sich ein Granatsplitter in Il cm Tiefe von der vorderen Brustwand befand. Wegen des reducierten Allgemeinzustandes munste zunächst von einem Eingriff abgesehen werden. Erst am 20. April d. J. konnte ich mit Hilfe des Druckdifferenzverfahrens, und zwar des Tiegel-Henle’schen Ueberdruckapparates, an die Operation -herangehen. Zunächst wurde die 4. und 3. Rippe ausgiebig entfernt. Die Lunge erwies sich als nicht verwachsen, vielmehr zeigte es sich, dass die Abscesshöhle tief im Innern BR 22 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. der Lunge lag und, mit Ausnahme eines kleinen Bezirks oben in der Gegend des Einschusses, von normalem Lungengewebe überlagert war. Es wurde auch noch die 2. Rippe ausgiebig reseciert und nun die Lunge rings um die Abscesshöhle durch Naht an die Brustwand fixiert. Nach- dem noch die 1. Rippe in 4 cm Ausdehnung entfernt war, konnte von der Stelle des Einschusses her die riesige Abscesshöhle eröffnet werden, worauf sich eine Unmenge stinkenden Eiters entleerte. Die Höhle ging von hier oben in Kindskopfgrösse nach unten und der Wirbelsäule zu. Eine grosse Anzahl von Lungensequestern sowie das am Grunde der Höhle liegende Geschoss wurden entfernt. Nunmehr schritt, wenn auch langsam und von kleinen Zwischen- fällen unterbrochen, die Erholung des Patienten von Woche zu Woche fort. Die anfangs ausserordentlich reichliche Absonderung wurde immer geringer, und seit Mitte Juli ist der Patient den ganzen Tag über ausser Bett. Es besteht noch eine Fistel, die vielleicht noch einen kleinen Eingriff erfordert, da sie anscheinend von einem abgestorbenen Knochen- stück unterhalten wird. Im übrigen zeigt das letztaufgenommene Röntgenbild (Demonstration), in wie erheblichem Maasse bereits die Abscesshöhle sich verkleinert hat, so dass alle Hoffnung besteht, dass der Patient dauernder Genesung entgegengeht. 2. Dieser zweite Patient hat eine ganz eigentümliche Krankheits- geschichte. Er wurde am 10. September 1915 durch Gewehrschuss am Unterschenkel rechts verwundet. Am 13. Oktober 1915 musste, wegen drohender Sepsis handbreit oberhalb des Knies der Oberschenkel abge- setzt werden. Seit der Öperatien, gibt der Patient an, habe er ruck- weise Schmerzen an der Innenseite des Stumpfes am unteren Ende ge- habt. Von Oktober bis Januar sei er auf Krücken gegangen, dann mit, einer Gipsprothese. Vom 27. April bis 1. Mai, also nur wenige Tage, hat er eine Dauerbehelfsprothese getragen. Am 1. Mai d. J. bekam er schon sein künstliches Bein. Patient hatte von Anfang an das Gefühl, als ob das Kunstbein etwas eng sei. Mitte Juni begann nun das Bein anzuschwellen. Patient wurde einem Arzt vorgestellt, der einen zangen- artigen Knochenvorsprung am Stumpfende fand und diesen am 19. Juli d. J. durch Operation entfernte. Nach 4 Wochen stand Patient wieder auf und ging 3 Tage lang mit Krücken, dann griff er wieder zu seinem künstlichen Bein. Der Stumpf war wieder ziemlich abgeschwollen. In der Zeit vom 17. bis 27. Augusst musste er sich sehr stark anstrengen beim Kaffeetragen. Da begann der Stumpf erneut anzuschwellen. An der Innenseite des rechten Oberschenkels fand sich damals eine klein- apfelgrosse Schwellung, die undeutlich fluktuierte, sehr druckempfindlich war, rasch wuchs und den Verdacht auf Aneurysma erweckte. Nunmehr wurde Patient in die hiesige chirurgische Klinik eingeliefert. Es ergab sich in der Tat ein grosses inficiertes Aneurysma der Femoralis. Ich habe sofort die Femoralis oberhalb der Leistenbeuge freigelegt, abge- klemmt und dann den aneurysmatischen Sack, der sich von hier bis nahe an das Stumpfende erstreckte, eröffnet. Die Arterie enthielt ein grosses Loch, 4 Finger unter der Leistenbeuge und wurde naturgemäss doppelt unterbunden. Ich habe diese Krankengeschichte so ausführlich wiedergeben, weil es nach dieser Anamnese ganz rätselhaft ist, wie dies Aneurysma hat entstehen können. Der Patient gibt auf das Bestimmteste an, niemals am Oberschenkel verwundet worden zu sein. Er habe nur einen Schuss am Unterschenkel erhalten, und wie auch aus den Krankenblättern hervorgeht, ist lediglich dieses Schusses wegen, von dem aus eine Sepsis drohte, der Oberschenkel amputiert worden. Es ist dann noch später ein Knochenvorsprung abgetragen worden, aber dieser sass ganz unten am Stumpfende, während das Loch in der Arterie 4 Finger unter der I. Abteilung. Medizinische Sektion. 23 _ _— _— _ _ + — _ _ - Leistenbeuge sich befand. Da wir aber schliesslich nach irgend einer Erklärung suchen müssen, so scheint mir eine Möglichkeit für das Zustandekommen des Aneurysma in folgendem zu liegen: Die bestehende schwere Infektion hatte die Vitalität der Gewebe stark in Mitleidenschaft gezogen; ferner ist es bekannt, dass gerade bei Oberschenkelstümpfen eine hochgradige Atrophie der gesamten Weichteile durch Muskelschwund eintritt. Dadurch leidet die ganze Elastieität des Gewebes, und man könnte sich vorstellen, dass der Druck der von dem Patient als zu eng empfundenen Hülse des künstlichen Beines die Arterie, die ja hier an sich schon sehr oberflächlich liegt, durch- gerieben hat. Ich bin mir wohl bewusst, dass diese Erklärung durchaus nicht allen Ansprüchen genügt, und wäre für jede bessere dankbar. Jedenfalls ist der Fall so ungewöhnlich interessant, dass eine Vor- stellung hier gerechtfertigt erschien. 3. Diese Patientin kam in die Orthopädische Abteilung mit habitueller Luxation der Patella auf beiden Seiten, einer recht seltenen Abnormität. Hier auf der rechten Seite ist noch sehr deutlich zu sehen, wie bei jeder Streckung des Knies die Kniescheibe nach aussen ab- gleitet und sich ganz schräg stellt (Demonstration). Auf der linken Seite war der Grad der Verrenkung ein noch höherer. Deshalb habe ich diese Seite zunächst operativ in Angriff genommen, und zwar bin ich von den in den Handbüchern empfohlenen Methoden etwas abge- wichen. Es wurde von einem Schnitt von der Aussenseite aus etwa die Hälfte der Quadricepssehne, 3 cm von der Kniescheibe entfernt, eingeschnitten, so dass der nach aussen wirkende Zug dieser Muskel- fasern wegfiel. Darauf wurde durch einen Schnitt auf der Innenseite die Kniegelenkkapsel freigelegt, und der an der Kniescheibe stehenge- bliebene Rest der äusseren Hälfte der Quadricepssehne unter der medialen Hälfte der Sehne durchgeführt und hier mit dem Vastus medialis ver- näht, so dass nunmehr bei der Streckung die Kniescheibe anstatt nach aussen nach innen gezogen wurde. Zur grösseren Sicherheit wurde noch eine Verschmälerung der Kapsel an der Innenseite durch Raffnaht hinzugefügt. Die Verrenkung ist, wie Sie sehen (Demonstration), be- seitigt und die Patientin hat nur den einen Wunsch, dass auch die andere Seite baldigst operiert werden möge. Hr. L. Mann: Nene Methoden und Gesichtspunkte zur Behandlung der Kriegsneurosen. (Siehe Teil II.) Diskussion. Hr. Foerster-Breslau: Nach meiner Erfahrung gebührt der Methode der Anwendung starker elektrischer Ströme bei weitem die erste Stelle in der Behandlung der hysterischen Störungen bei Kriegsverletzten. Ich halte es für ziemlich gleichgültig, ob der faradische Strom oder der sinusoidale Strom angewandt wird. Auf jeden Fall muss bei letzterem aber einige Vorsicht bezüglich des Ortes, wo die Elektroden angesetzt werden, walten. Zu vermeiden ist im allgemeinen bei stärkeren Strömen die Gegend des Herzens und des Halses. Falls, wie zum Beispiel bei hysterischer Aphonie, die Anwendung doch am Hals stattfinden muss, empfehle ich, die Elektroden nur auf ganz kurze Momente zy applicieren, Es fällt dann die von Kollegen Mann erwähnte gefährliche Tiefen- wirkung mehr oder weniger fort. Im übrigen wird auf der von mir ge- leiteten Abteilung der Strom nur in solchen Stärken angewandt, dass dabei eine Gefahr ausgeschlossen ist. Wir haben bei vielen hunderten von Fällen, die damit behandelt wurden, niemals irgend eine ungünstige Nebenwirkung beobachtet. Die Anwendung starker elektrischer Ströme zur Beseitigung hysterischer Störungen ist etwas uraltes. Wenn heute von einer Kaufmann’schen 24 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Methode gesprochen wird, so haben wir uns zu fragen, welche neuen Gesichtspunkte Kaufmann speziell für die Art und Weise der An- wendung des elektrischen Stromes eingeführt hat. Kaufmann legt erstens besonderen Wert darauf, in einer Sitzung zum Ziele zu kommen. Er treibt die Behandlung bis zur mehr oder weniger vollständigen Er- schöpfung des Individuums. Ich halte diese Form erstens nicht für ganz unbedenklich, vor allem aber ist es nicht unbedingt erforderlich. Man kommt auch in zwei, drei, ja mehr elektrischen Sitzungen ebenso- gut zum Ziel, chne dass man die einzelnen Sitzungen bis zu der von Kaufmann geforderten Grenze treibt. Ich habe speziell gefunden, dass häufig gerade in der Zeit zwischen zwei Sitzungen der volle Erfolg sich „einstellt durch die Furcht des Kranken vor der noch bevorstehenden zweiten Sitzung. Ferner legt Kaufmann besonderen Wert auf die Mobilisierung der militärischen Vorgesetztengewalt. Auch das halte ich nach meiner Erfahrung durchaus nicht für wesentlich. Im Gegenteil habe ich oft gefunden, dass man viel weiter kommt, wewn man die Maassnahme als eine rein ärztliche stempelt und sie vor allen Dingen nicht irgendwie als eine disziplinarische Maassregel dem Kranken gegen- über erscheinen lässt. Kaufmann ist von der Anwendung der Vor- gesetztengewalt so überzeugt, dass er glaubt, die Methode könne auf Offiziere keine Anwendung finden. Dem widerspricht aber die Erfahrung. Ich habe eine grosse Anzahl von Offizieren mit hysterischen Arm- und Beinlähmungen, Kontrakturen usw. in wenigen elektrischen Sitzungen vollkommen von ihren Symptomen befreit. Ich halte es allerdings Offhi- zieren gegenüber für ganz besonders notwendig, sich rein auf den ärzt- lichen Standpunkt zu stellen und ihnen die Wirkungsweise des ange- wandten Mittels in irgend einer Weise plausibel zu machen. Ausserordentlich überraschend sind ja die sehr günstigen Erfolge, die Nonne mit der hypnotischen Behandlung erzielt. Ich habe in der Beziehung bisher deshalb weniger Glück gehabt, weil die meisten meiner Kranken die Hypnose einfach abgelehnt haben. Eine besondere Bedeutung kommt der Isolierung zu. Dieselbe besteht, wenn sie vollkommen sein soll, in vollkommener Bettrube im dunklen Zimmer bei vollkommener geistiger Abstinenz, speziell dem strengen Fernhalten jedes Besuches. Gleichzeitig gebe ich, besonders in frischen Fällen, Brom und Chloral. Es ist meines Erachtens nicht er- forderlich, die Kranken ohne weiteres in Einzelzimmern unterzubringen, sondern ich lege 10 bis 20 unter Umständen in einen Saal zusammen und nur in besonders hartnäckigen und schweren Fällen kommen die Kranken in ein Einzelzimmer. Die Isolierungsmethode ist hauptsächlich am Platze für schwere Formen von primärem Tremor, Tics und anderen motorischen Reizerscheinungen, bei denen nach meiner Erfahrung der elektrische Strom oft gar keine oder eine unvollkommene Wirkung ent- faltet. Manchmal habe ich danach sogar wvorübergehhnde Ver- schlechterungen gesehen. Das Indikationsgebiet für den elektrischen Strom sind vielmehr alle hysterischen Lähmungen, Kontrakturen, pseudo- spastische Paresen, die meisten Gangstörungen, während wiederum die ganz schweren Gangstörungen mit schwerem Schütteltremor zunächst besser durch Ruhe und Isolierung behandelt werden. Aphonieen, Mutismen, Stottern, besonders aber auch die hysterische Enuresis, die in letzter Zeit eine ganz bedeutende Rolle spielt, gehören in das Indikationsgebiet des elektrischen Stromes. Bei Enuresis setzte ich die eine Elektrode auf die Symphyse, die andere ans Perineum. Ich habe damit stets volle Erfolge erzielt. Beim Stottern kommt ausser der elektrischen Behandlung noch die Sprachübungsbehandlung in Betracht. Recht wichtig ist auch eine konsequent betriebene Anwendung von psychischer Disziplinierung. Es kommt ja in erster Linie darauf an, I. Abteilung. Medizinische Sektion. 25 das vom Hysteriker instinktiv im Dienste eines bestimmten Zweckes be- triebene Festhalten des oder der Krankheitssymptome zu übertrumpfen. Sehr wichtig ist es in dieser Hinsicht, dass den Kranken jeglicher Ur- laub verweigert wird und ihnen klar gemacht wird, dass sie den Urlaub erst erhalten, wenn das Krankheitssymptom beseitigt ist. Gar nicht selten führt dies zu einer vollständigen Heilung oder wesentlichen Besserung, oft mit einem Schlage.. Es muss andererseits alles vermieden werden, was bei dem Kranken das Festhalten der Krankheitssymptome im Dienste des Zweckes bestärkt. Dahin gehört meines Erachtens un- hedingt, dass die Hysteriker nicht der Kriegsverletzten-Fürsorge zugeführt werden, weil dadurch bei ihnen die Vorstellung, nicht wieder gesund zu werden, nur bestärkt wird. In dieser Hinsicht wird bedauerlicherweise zurzeit noch vielfach gesündigt. Aeusserst wichtig wäre es auch, dass den Hysterikern klar gemacht wird, dass der Grad der Beschränkung ihrer Erwerbsfähigkeit prinzipiell nur unter 10 pCt. erachtet wird. Es muss mit allen überhaupt nur zur Verfügung stehenden Mitteln im einzelnen Falle dem vom Hysteriker befolgten Zweck entgegen gearbeitet werden, und es muss ihm der von ihm befolgte Zweck als aussichtslos dargestellt werden. e Hr. Lange zeigt mehrere Fälle von geheiltem hysterischen Mutismus, der in einem Falle 10 Monate, in einem anderen 8 Monate, in den übrigen kürzere Zeit bestanden hatte. Im Gegensatz zu früher (s. Sitzungsbericht vom 7. 7. 16.) erörterten therapeutischen Richtlinien geht er neuerdings so vor, dass der Uebergang vom vollständigen Mutismus über lautlose Lippenbewegungen, Lippensprechbewegungen, aphonisches Sprechen zur lauten Sprache sofort nach dem Ein- treffen des Kranken auf der Abteilung in einer Sitzung durch- geführt wird. Hr. Mann: (Schlusswort). Sitzung vom 10. November 1916. Vorsitzender: Herr Pohl. Schriftführer: Herr Partsch. Hr. Henke: Magengeschwür und Magencareinom. Vortr. gibt zunächst einen Ueberblick über die Careinomtheorien, die den Zusammenhang einer chronischen Reizwirkung oder Entzündung mit der Krebsentstehung in den Vordergrund stellen (Virchow, Ribbert, experimentelle Ergebnisse). Unter den sog. präcancerösen Erkrankungen (v. Bergmann, Orth) wird auch auf das Hervorgehen von Carcinom aus chronischen Geschwüren Bezug genommen. — Für die Verhältnisse im Magen, ob häufig oder nur selten aus einem Geschwür später ein Careinom wird, gehen die Meinungen, besonders der Kliniker, noch sehr auseinander. Namentlich amerikanische Chirurgen (Mayo, Wilson und Carty) sind der Meinung, dass bis zu 71pCt. der Carcinome aus peptischen Geschwüren hervorgehen. Als ein Beitrag zur Entscheidung dieser auch für die chirurgischen Maassnahmen (Resektion oder Gastroenterostomie) so wichtigen Fragen, wurden genauere mikroskopische Untersuchungen an einem grossen Material vorgenommen. Demonstration einer grösseren Zahl von Zeich- nungen der makroskopischen Präparate und von mikroskopischen Schnitten. Es ergibt sich aus diesen Untersuchungen!), dass nur relativ recht 1) Vgl. auch Verh. D. path. Ges., München 1914, S. 339. 26 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. selten der Nachweis zu erbringen ist, dass aus einem Geschwür ein Careinom hervorgeht. Vortr. konnte nur 5 sichere solche Fälle unter seinem Material finden. Die morphologische Beurteilung begegnet grossen Schwierigkeiten, die auch schon Hauser betont hat; häufiger bildet sich in einem schon bestehenden Carcinom ein sekündäres peptisches Geschwür. Makroskopisch ist die Unterscheidung. eines callösen Geschwürs von einem geschwürigen seirrhösen Careinom auch für den erfahrenen Chir- urgen oder Pathologen manchmal schwierig. Daraus ergibt sich die praktische Konsequenz, in zweifelhaften Fällen lieber zu resecieren (Payr), als die Gastroenterostomie zu machen. Bei der ganzen Fragestellung muss natürlich auch die klinische Anamnese berücksichtigt werden. Bei den Untersuchungen wurde auch die Frage der Ulcusanamnese nach den Krankengeschichten berück- sichtigt; sie war selten zu erheben. Diskussion. Hr. Minkowski: Auch die klinischen Beobachtungen sprechen dafür, dass nur ein geringer Bruchteil der Fälle von Magencareinom sich auf dem Boden eines Magengeschwürs entwickelt. Unter den letzten 200 Fällen von Magencareinom, die an der Breslauer medizinischen Klinik beobachtet wurden, fanden sich nur 7 Fälle, in denen sichere, anamnestische Angaben über Uleussymptome gemacht wurden. Aller- dings könnten zu diesen noch manche Fälle hinzukommen, bei denen ein Magengeschwür latent geblieben war. Hr. Küstner: Diejenige Lokalisation des Careinoms, an - welcher seine ätiologische Beziehung zu ulcerösen Prozessen am offensichtlichsten erscheint, ist das Collum uteri. Wenn R. Meyer im Gegensatz zu Ruge-Veit recht hat, dass die Erosionen in irgendwelchem Stadium wirkliche Erosionen und nicht epithelbekleidete adenoide Bildungen sind, dann entwickelt sich ein gut Teil der Collum- bzw. Portio- carcinome an Stellen, welche einmal früher geschwürig gewesen sind. Sehr viele der Blumenkohlgewächse tragen noch unverkennbar den Charakter der Lacerationsektropien: Entweder die eine oder beide Muttermundslippen scheint nach aussen umgekrempelt zu sein, nur ist die evertierte Cervixschleimhaut nicht bloss entzündet, nicht bloss ge- schwürig, nicht bloss adenoid gewuchert, sondern krebsig degeneriert, infolgedessen vergröbert, gigantisch intumeseciert. Sind makroskopisch die Uebergänge des geschwürigen, entzündlichen in das krebsige offensichtlich, so’ gilt das auch für das mikroskopische Bild, besonders dann, wenn es sich, was an dieser Stelle ziemlich selten ist, um die hochentwickelte Form des Drüsencareinoms handelt. Dass ein sehr hoher Prozentsatz der Collumcarceinome ihre ätiologische Beziehung zu früheren geschwürigen bzw. entzündlichen Prozessen ver- raten, ist mir zweifellos. Ebenso sicher aber ist es, dass nur auf einem geringen Bruchteil aller Lacerationsektropien, Eversionen und Erosionen sich später Krebse entwickeln. Nichtsdestoweniger glaube ich, damit, dass ich bei jüngeren Frauen die genannten gutartigen Prozesse auf irgendeine Weise, also z. B. auch durch die Emmet’sche Operation zur Heilung bringe, in wirkungsvoller Weise eine Krebsprophylaxe zu üben. Hr. Minkowski: Die Careinome, die sich auf Geschwürsflächen der Portio vaginalis entwickeln, können insofern nicht mit den Ulcus- carcinomen verglichen werden, als es sich ja beim Ulcus pepticum um einen Vorgang eigener Art handelt, bei dem die Wirkung des Magen- saftes eine Rolle spielt. Vielleicht aber könnte man zu den adenoiden Wucherungen der Portio gewisse Adenombildungen und polypöse Wuche- DS I. Abteilung. Medizinische ‚Sektion. 27 rungen in Parallele stellen, — die sich aus entzündlichen Vorgängen an der Magenschleimhaut entwickeln können. Häufig wird übrigens eine Entstehung aus einem Uleus bei einem Magencarcinom angenommen, wenn der Mageninhalt hyperacid ist. Es wäre noch zu prüfen, ob nicht etwa die Beschaffenheit des Magensaftes weniger von der Natur der Erkrankung abhängt, als von der Lokalisation der Neubildung und der Läsion bestimmter Nervenbahnen, die die Magensaftsekretion beherrschen. Hr. Henke: Auch an der Cervix dürfte die makroskopische Unterscheidung, ob ein geschwüriger bzw. ein ähnlicher Prozess oder ein beginnendes ulceröses Carcinom bereits vorliegt, manchmal schwer sein. — Dass auch, abgesehen von chronischem Geschwür im Magen, Drüsenwucherungen (atypische Epithelwucherungen) bei chronischer Gastritis als präcanceröse Erkrankungen gelten können, muss in Be- tracht gezogen werden. Etwas anderes ist das seltene Krebsigwerden von adenomatösen Magenpolypen, analog der Polyposis intestini mit Uebergang in Careinom (Hauser). Sitzung vom 17. November 1916. Vorsitzender: Herr Pohl. Schriftführer: Herr Rosenfeld. 1. Die Wahlen zu Delegierten ins Präsidium ergaben Wiederwahl der bisherigen Herren: Hürthle, Küttner, Partsch, Tietze, Uhthoff. 2. Hr. Bumke: Körperliche Symptome der Dementia praecox. Vortragender geht von den Schwierigkeiten aus, die für die Psy- chiatrie heute noch bei der Abgrenzung ätiologisch, pathogenetisch oder pathologisch-anatomisch zusammengehöriger Krankheitsgruppen bestehen. Er weist auf die Verdienste besonders von Kraepelin und Bonhoefer, sowie von Nissl und Alzheimer hin, die uns einen Zustand haben überwinden lassen, der Wernicke bekanntlich noch zwang, auf die ‘Aufstellung von Krankheitsformen ganz zu verzichten und anstatt dessen Krankheitsbilder, oder, wie wir heute sagen würden, Syndrome zu studieren. Bei der Diagnose von wirklichen Krankheiten im Leben spielen körperliche Krankheitszeichen eine hervorragende Rolle. Der Kreis der Krankheiten, bei denen sie gefunden werden können, ist dadurch grösser geworden, dass sich Störungen der Ausdrucksbewegungen und Veränderungen der inneren Sekretion auch bei Psychosen finden lassen, die nicht grob organisch bedingt sind. So hat sich bei der Dementia praecox ein Fehlen der Psychosereflexe der Pupillen und ein Ausbleiben der normalen Senkung der Volumkurve bei plethysmo- graphischen Untersuchungen in mehr als 60 pCt. der Fälle feststellen lassen. Diese Zahlen würden noch grösser sein, wenn bei früheren Untersuchnngen schon die Dementia phantastica (paranoides) ausser Be- tracht geblieben wäre, die nach Auffassung des Vorhandenen nicht zur Dementia praecox gehört. Wenig erfolgreich waren bisher die durch Fauser angeregten Untersuchungen mittels des Abderhalden’schen Dialysierverfahrens. Auch die Angabe von Schultz, dass die Pupillen-Erweiterung nach Adrenalingaben unter Umständen für die Diagnose Dementia praecox verwendet werden könnte, und die von Schmidt, dass dasselbe Mittel bei Gesunden stets eine erhebliche Blutdruckssteigerung hervor- rufe, die bei Dementia praecox-Kranken ausbliebe, haben sich bei Nach- 28 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. prüfungen an der Rostocker Klinik nicht bestätigen lassen. — Die von Schultze erhobenen Blutbefunde sind theoretisch interessant, aber für die Diagnose am Krankenbett bisher noch nicht zu verwerten. Dagegen haben sich die Befunde von Hauptmann aus der Frei- burger Klinik an einem grossen Material der Rostocker Irrenanstalt be- stätigt. Hauptmann fand eine Verkürzung der Blutgerinnungs- zeit bei Dementia praecox-Kranken, die auch in Rostock festgestellt wurde. Bei den Nachprüfungen dort hat sich ergeben, dass sich frische und alte Fälle verschieden verhalten. Bei abgelaufenen Fällen tritt die Blutgerinnung zu normalen, ja oft zu verhältnismässig späten Zeiten auf. Bei frischen Fällen dagegen wurde die Gerinnung bei Katatonie in 70 pCt., bei Hebephrenie in 86 pCt. der Fälle auffallend frühzeitig beobachtet. Diskussion: Hr. Hürthle und Hr. Pohl: Methodologische Bemer- kungen, Hr. L. Fraenkel: Mit der Nachuntersuchung der überaus kritik- losen Behauptungen des Italieners Bossi und gemässigteren ähnlichen Anschauungen deutscher Gynäkologen, wie B. S. Schultze beschäftigt, wonach zwischen Geistes- und Frauenkrankheiten ursächliche Beziehungen vorliegen sollen, kam ich dazu, über die körperlichen Symptome der Dementia praecox eigene Erfahrungen sammeln zu können, die ich im vorigen Jahre an dieser Stelle vorgetragen habe. Indem ich wahllos weibliche Irre aller Art auf ihren Genitalstatus untersuchte, fand ich sonst keine Beziehung, nur Befunde von gehemmter Entwick- lung bei einer Anzahl Imbeecillen und bei fast allen Kranken mit Dementia praecox. Öhne also von dem Satz von Kraepelin, den der Vortragende angeführt. hat, Kenntnis zu besitzen, dass bei Jugendirren Beziehungen zur Geschlechtsfunktion vorliegen möchten, kam ich auf einem anderen Wege zu dem gleichen Resultat. Die Bilder von Infantilismus genitalium, die ich gerade bei diesen Kranken sah, waren die stärksten, die ich überhaupt beim weiblichen Geschlecht beobachtet habe. Weder erzeugte natürlich die Entwicklungshemmung der Genitalien die Geisteskrankheit noch umgekehrt, sondern beide dürften Folgeerscheinungen der gleichen Grundkrankheit sein — des Infantilismus. Das unbefriedigende Resultat der Nachprüfungen der Fauser’schen Untersuchung, von denen Hr. Bumke sprach, ist durchaus nicht ver- wunderlich, da das zu Grunde liegende Abderhalden’sche Dialysier- verfahren noch gänzlich unklare Resultate gibt, nicht nur auf diesem Gebiete, sondern auch in der Graviditätsdiagnose, für das es ja ur- sprünglich ausgearbeitet war. Mir ist bekannt, dass der Herr Vor- tragende s. Zt. in Freiburg mit einem Assistenten der Kroenig’schen Klinik gemeinsam gynäkologische Untersuchungen von Geisteskranken mit negativem Resultate vornahm, doch möchte ich hierzu bemerken, dass die Diagnose des sexuellen Infantilismus die grösste Uebung und Er- fahrung und unter allen Umständen die Narkosen-Exploration nötig macht. Dann aber ist allerdings der Gynäkologe noch mehr wie der allgemein erfahrene Arzt mit geübtem Blick befähigt, den Infantilismus zu er- kennen, weil diese Krankheit oft nur in den in der Körperhöhle ver- borgenen Genitalien sich äussert. In der Diskussion, die sich an meinen vorjährigen Vortrag anschloss, wurde darauf hingewiesen, dass in der Gruppe der Dementia praecox recht variable Krankheitsbilder sich ver- einigen, und dass es lohnenswert sei, diese in bezug auf Infantilis- mus zu sondern. Dieses gedenke ich in der nächsten Zeit zu tun, habe bereits mit verschiedenen Psychiatern diesbezügliche Verabredungen getroffen, und würde mich freuen, wenn durch gemeinsame Arbeit, auch mit dem Herrn Vortragenden, diese wichtige Frage gefördert würde. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 29 Ich darf heute schon als gesichert betonen, dass unter den körper- lichen Symptomen der Dementia praecox die zurückgebliebene Entwick- lung eine nicht urerhebliche Rolle spielt. Hr. Bumke: Schlusswort. Hr. Stertz: Typhus und Nervensystem. Vortr. bespricht die Störungen seitens des Nervensystems, welche im Geleit des Typhus auftreten, nach Beobachtungen, die er an Ge- nesenden gemacht hat. Psychische Veränderungen waren sehr häufig in Gestalt neurasthenischer Zustände festzustellen, eine stärkere Ver- stimmung und hypochondrische Ausgestaltung der Symptome verriet eine schor früher vorhandene Disposition. In einigen Fällen wurden Gedächtnisstörungen nach Art der Korsakow’schen Psychose festgestellt, nicht ganz selten wurde das Vorhandensein residualer Wahnvorstellungen nachgewiesen. Durch das Hinzutreten von somatischen Erscheinungen können paralyseähnliche Bilder entstehen. Hysterie kommt meist in Form der Ueberlagerung organischer durch den Typhus bedingte Symptome vor. Epileptische Anfälle werden zuweilen im Typhus und in der Reconvalescenz beobachtet. Gegen die Annahme ursächlicher Beziehungen zwischen Typhus und genuiner Epilepsie verhält sich Vortragender skeptisch. Von organischen Erkrankungen am Zentralnervensystem werden be- sondere Formen beobachtet, die auf multiple kleine Herde hinweisen; häufig sind Kombinationen mit Erkrankungen des peripheren Nerven- systems und der Muskeln. Erkrankungen des peripheren Nervensystems überwiegen über solche des Zentralnervensystems. Am häufigsten finden sich Neuritiden des Ulnaris, Peroneus, Cutaneus femoris lateralis; ferner Lähmungen im Ge- biet des Schultergürtels. Polyneuritiden sind ebenfalls häufig. Kurz werden die trophischen, sekretorischen, vasomotorischen Folge- erscheinungen erwähnt, Beziehungen zur Tetanie und Basedow gestreift. Die Prognose ist im allgemeinen günstig, mit Ausnahme der seltenen Fälle schwerer Gewebsentartungen und ihrer Natur nach unausgleich- barer Defekte. Eingehende Schilderungen am andern Ort. Klinischer Abend vom 24. November 1916. Vorsitzender: Herr Küstner. Frl. Feyerabend: Missbildung bei Neugeborenen. (2 Demonstrationen.) Wir haben an unserer Klinik im Laufe der letzten Monate Gelegen- heit gehabt, 2 interessante Missgeburten zu beobachten. Zunächst handelt es sich um ein Kind, weiblichen Geschlechts, das am 7. April dieses Jahres bei uns in der Klinik geboren wurde. Die Mutter war von kräftigem Körperbau und machte in jeder Beziehung einen gesunden Eindruck. Anamnestisch wurde ausser den üblichen Kinderkrankheiten eine Rachitis in Erfahrung gebracht, die aber weder zu Beckenver- engung, noch zu anderen sichtbaren Knochenveränderungen geführt hat. Irgendwelche Missbildungen oder Deformitäten in der näheren und weiteren Verwandtschaft sind nicht bekannt. Die Kreissende hat vor einigen Jahren ein völlig normales und gesundes Kind zur Welt ge- bracht. Die Geburt des zweiten, heute zur Demonstration gelangenden 30 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Kindes ging absolut normal in wenigen Stunden nach dem Mechanismus der ersten Schädellage von statten. Das Kind war völlig lebensfrisch, schrie sofort mit lauter, kräftiger Stimme und trug alle Reifezeichen. Gewicht 3000 g, Länge 40,5 cm. Es zeigt an den oberen Extremitäten schwere Entwickelungsstörungen, während es sonst ganz normal ist und vor allem an den unteren Extremitäten keinerlei Veränderungen auf- weist. — An der Hand des Röntgenbildes, durch Betastung und In- spektion lässt sich folgender Befund erheben: Der Schultergürtel ist beiderseits normal ausgebildet und besitzt jederseits ein Schultergelenk mit Pfanne nnd Kopf und unbeschränkter Beweglichkeit. Der linke Arm war bei der Geburt 13 cm lang. An seinem proximalen Ende ist der Humerus typisch ausgebildet, es fehlt jedoch an seinem distalen Ende eine Gelenkbildung, vielmehr spaltet sich der Humerus continuierlich, gabelförmig in zwei kürzere, frei endigende Knochen, einen inneren und einen äusseren, von denen der letztere ungefähr doppelt so lang ist, wie der innere. Diese gabelförmige Spaltung kann man wohl als eine Anlage von Radius und Ulna deuten. In einiger Entfernung von den freien Endigungen dieser beiden Knochen sind, anscheinend ohne jede gelenkige Verbindung mit diesen, zwei kleine 2—3 cm lange Röhren- knöchen vorhanden, die allem Anschein nach die Mittelhandanlage dar- stellen. Eine Handwurzelanlage fehlt. Die Anlage der Finger wird durch zwei durch einen tiefen Spalt voneinander geschiedene Einzel- anlagen repräsentiert, von denen die eine aus einem typischen zwei- gliedrigen Daumen und einem typischen dreigliedrigen Finger, der seiner Stellung nach als Zeigefinger angesprochen werden kann, besteht. Beide Finger weisen eine richtige Nagelbildung auf. Jenseits des Spaltes _ imponiert ein ebenfalls dreigliedriger Finger mit einem krallenförmigen Nagel. Die rechte Armanlage ist etwa 4 cm lang, hat eine knöcherne Oberarm- und eine mit ihr gelenkig verbundene knöcherne Vorderarm- anlage. Am distalen Ende sitzen ganz unvermittelt zwei sehr kleine, mit ihren Weichteilen verwachsene, mit Nägeln versehene Fingeranlagen. Von fundamentalem Interesse ist nun das Wie und Warum der Entstehung, die formale und kausale Genese. Von den zahlreichen Entstehungsmöglichkeiten, deren Erörterung ja eine gewaltige Literatur umfasst, scheint mir der nach genauer Inspektion eruierte Placenta- befund eine, als am nächsten liegend, herauszugreifen. Die Placenta wies nämlich um das placentare Ende der Nabelschnur lose gewickelt einen nicht mehr mit ihr zusammenhängenden Fetzen bindegewebiger Konsistenz auf. Es handelt sich also aller Voraussicht nach um amniotische Stränge, die in Kombination mit vielleicht zu verschiedenen Zeiten zur Wirkung gelangte Oligohydramnie die Hemmungsbildung hervorgerufen haben, einerseits durch Spaltung oben durch die Stränge und andererseits durch Wachstumshemmung; letztere durch vorüber- gehende fötale Verwachsung mit dem Amnion oder durch zu eng an- liegendes Amnion bedingt. — Natürlich ist absolut nicht festzustellen, ob nicht noch ganz andere Ursachen: innere, schon im Keim bestehende: Vererbung, — oderirgend eine von den ja allgemein bekannten äusseren Ursachen, vielleicht fötale Krankheiten, fötale Entzündungen der Knochen und Knorpel oder sonst irgend welche Einflüsse mechanisch-, physi- kalisch-chemischer Natur eine Rolle spielen. Eine endgültige Ent- scheidung dieser Frage bei diesem Fall kann natürlich nicht gefällt werden. Hinzufügen möchte ich noch, dass sich das Kind durchaus normal entwickelt und gut gedeiht. In Kürze sei noch einer zweiten Missbildung Erwähnung getan. Es handelt sich um eine asymmetrische Doppelbildung, einen Thoraco- pagus parasiticus, Der Autosit hat die Grösse eines reifen Kindes. Es ist männlichen Geschlechts. Das linke Bein ist weniger entwickelt I. Abteilung. Medizinische Sektion. öl als das rechte. Die ganze linke Rumpfseite von der Brust bis zur Unterbauchgegend ist die Ursprungsstelle des Parasiten, der mit der Brustgegend, unmittelbar unter der Achselhöhle, an dieser Stelle ansetzt. Der Parasit hat ein ausgebildetes Gesicht, ein ausgebildeter Schädel fehlt, das Gehirn ist durch eine pflaumengrosse Encephalocele repräsen- tiert. Der Hals ist sehr kurz, die oberen Extremitäten sind gut ent- wickelt. Von einer unteren Extremität ist nur eine Andeutung in einem rudimentären Stummel, der aus der linken Glutäairegion des Autositen in 3 cm Länge herauswächst, vorhanden. Was die inneren Organe anbetrifft, so sind sie beim Autositen alle in normalem Umfang und normaler Lage vorhanden. Die linke Hälfte der Leber weist einen stark nach unten in die Länge gezogenen Lappen auf, der sich dicht unter das gut ausgebildete Diaphragma des Parasiten legt. Durch dieses Diaphragma ist die Brusthöhle des Parasiten von der Bauchhöhle des Autositen fast vötlig abgeschlossen. Der Parasit hat seiner Grösse ent- sprechend ausgebildete Lungen, eine Herz- und Thymusanlage, die ins- gesamt von Rippenanlagen umgeben sind. Vom Nabel des Autositen, der sich an normaler Stelle befindet, zieht die Nabelschnur ohne Be- sonderheiten zur gemeinsamen Placenta. — Näher auf die (Genese der Doppelmissbildungen und dieser speziell einzugehen, würde hier zu weit führen. Wie bekannt ist die teratologische Terminationsperiode nach Schwalbe die Gastrulation. Ob Teilung, ob Verwachsung, ob beides zur Wirkung kommt, ist ja noch immer nicht völlig geklärt. — Von grossem Interesse ist für uns noch der Geburtsmechanismus, den ich leider nicht selbst beobachten konnte und nur dem kurzen Bericht einer auswärtigen Hebamme entnehmen kann. Nach ihren Angaben ging die Geburt spontan von statten, nur musste sie bei der Ueberwindung der Anheftungsstelle des Parasiten durch Zug an den Schultern etwas nach- helfen. Hr. Küstner demonstriert einen wegen Collumkrebs im 4. Monat graviden exstirpirten Uterus und erörtert, dass man unter den Zeitver- hältnissen, unter denen wir leben, sich wobl auf den Standpunkt ge- drängt fühlen konnte, auf alle Fälle dem Fötus zu seinem Recht auf Leben zu verhelfen, ihn bis zu seiner extrauterinen Lebensfähigkeit tragen zu lassen und erst dann das Careinom zu operieren. Das ist der Stand- punkt, den viele namhafte französische Gynäkologen einnehmen, wogegen wir "bisher den Krebs so früh wie möglich ohne Rücksicht auf den Fötus operierten. Wenn wir auf diese Weise beabsichtigten, das Carcinom unter den denkbar günstigsten Aussichten zu operieren, so glaubt Redner doch, dass dennoch sehr häufig Recidiv auftreten wird; die Jugend der Kranken und die unselige Complication mit Schwanger- schaft sind es, was die Chancen wesentlich verschlechtert. Andererseits aber darf auch nicht verkannt werden, dass die Kinder von Müttern, welche bald nach deren Geburt dem Krebsleiden erliegen, schlechte Lebensaussichten haben. Ob die Strahlenbehandlung die Möglichkeit eines Compromisses zwischen beiden Standpunkten eröffnet, erscheint fraglich. Wird durch das Mesothorium das Collumcareinom einer Graviden nicht radikal ge- heilt, so wuchert es während des weiteren Verlaufes der Schwanger- schaft ebenso weiter, als wenn er nicht bestrahlt worden wäre. Der demonstrierte Uterus zeigt, dass die Careinomwucherung bereits soweit in die Tiefe ging, dass die tiefsten Schichten vom Mesothorium nicht beeinflusst worden waren. Hr. Heimann: Paerperalsepsis. M. H. Ich möchte mir gestatten, Ihnen kurz eine Pat. zu demon- strieren, die hinsichtlich der Therapie, die wir bei ihrer Erkrankung an- er Bi en Ei: a : l Ti ee 5 = E BestBonYoBnnSek.n Feiner echt OSgEuEEn Sl anche Era che a aan rk fr 2 29.20 ERHEEOR NRCRUETREFERTETE, 220151 52\52.5% 55 18.37,58 59160 57 62 0.65.06. 02% SE SEHE ort 05-3 EHE H FSBESES Ei Ei HEEEHEFEEeE =s=8 | WE - u ; FE | | “ gen UNEANITERE Schüttelfrost, I. Abteilung. Medizinische Sektion. 33 gewendet hatten, sehr viel Interessantes und praktisch Wichtiges bietet. Kurz die Anamnese: Sie ist 24 Jahre alt, hat dreimal geboren und zwar die ersten beiden Male spontan. Das letzte Mal, ca. 14 Tage vor Aufnahme in die Klinik, wurde draussen bei Gesichtslage eine Wendung und Extraktion vorgenommen. Am 3. Tage post partum stellt sich der erste Schüttelfrost ein. Temp. über 40. Die Schüttelfröste wiederholen sich alle 2 Tage, die Pat. wird mit Eisblase, Secale usw. zu Hause behandelt. Bei ihrer Aufnahme in die Klinik am 15. Tage post partum macht die Pat. einen schwer septischen Eindruck. Im übrigen ist kein be- sonderer Befund zu erheben, Herz und Lungen ohne Befund. Das Abdomen ist weich, der Uterus gut kontrahiert, steht mit seinem Fundus hinter der Symphyse. Sonst lokal kein Befund, ausser einer leichten Schmerzhaftigkeit in der linken Adnexgegend. Von höchstem Interesse ist der Verlauf. Ich bitte dabei einen Blick auf die Kurve zu werfen. In den ersten 14 Tagen ihres Aufenthaltes in der Klinik hat die Pat. täglich einen Schüttelfrost, an einem Tage sogar zwei, dabei Temperaturen bis 41,5. In den nächsten beiden Wochen sind noch 5 Schüttelfröste zu verzeichnen, die an den folgenden 14 Tagen auf 2 zurückgehen. In der 7. Woche geht die Temperatur zurück und von der Mitte der 7. Woche an, bis zu ihrer Entlassung, die in der 10. Woche stattfindet, ist die Pat. völlig fieberfrei. Daneben will ich erwähnen, dass sich gleich in den ersten Tagen, als wir die Pat. sahen, epileptiforme Anfälle einstellten, die sich einige Male noch wiederholten. Ungefähr in der 4. Woche konnte eine septische Endocarditis konstatiert werden; von Zeit zu Zeit war bei extrem kleinem, frequentem Puis das Sensorium benommen, ‚die Reaktionsfähigkeit ausserordentlich gering. Der Urin zeigt ziemlich starken Albumengehalt, Cylinder wurden jedoch nicht ge- funden. Die mehrfach vorgenommene Blutuntersuchung ergab stets ein negatives Resultat. Weder in Bouillon noch auf der Agarplatte gelang es, Keime zu züchten. Auch die wiederholte Untersuchung des Genital- sekretes auf Gc. erwies immer das Fehlen von Gonokokken. Wie wird nun eine solche Kranke behandelt? Das ist die Frage, die von grösstem praktischen Interesse ist. Unsere Pat. hat in der ersten Zeit eigentlich nur, ut aliquid fiat, Collargol und Dispargen, also Silberpräparate bekommen, aber — wie fast stets in solchen Fällen — ‘ohne jeden Erfolg. Die Schüttelfröste traten weiter auf. Wenn wir auch hin und wieder nach Dispargen ein Heruntergehen der Temperatur für einige Stunden sahen, um so grösser war nachher der Anstieg. Auch das Supersan hatte nur ganz vorübergehenden Erfolg. Aus diesem Grunde wurden bald alle derartigen Mittel beiseite gelassen. Wir haben auf sorgfältigste Pflege und Ernährung geachtet, sowie den Haupt- wert auf Darreichung von grossen Mengen Alkohol gelegt. Daneben wurden selbstverständlich Herzmittel, wie Digitalis, Coffein, zuweilen Campher, Adrenalin verabreicht. Jedoch irgendwelche eingreifende aktive Therapie vermieden wir strengstens. Bei der Behandlung der septischen Allgemein-Infektion — und um diese handelt es sich ja beim Fehlen jedweden lokalen Befundes — teilen wir die in Anwendung kommenden Maassnahmen in 2 Gruppen: in eine interne und eine chirurgische Behandlung ein. Erstere ist von überwiegender Bedeutung. Bei einer Allgemein- infektion ist wie schon erwähnt, vor allen Dingen auf die Stärkung des Organismus zu achten. Und hierfür müssen, wie es auch in unserem Falle geschehen ist, alle die Schritte ergriffen werden, die jenes Ziel vor Augen haben: Zweckmässige Ernährung, reichliche Flüssigkeitszu- fuhr, aligemeine Körperpflege. Das Fieber an sich soll man nicht direkt Sehlesische Gesellsch. f. vaterl. Cultur. 1916. 1. 3 34 Jahresberieht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. bekämpfen, da Antipyretica die Temperaturkurve bloss verschleiern, also die Kranke eher nur Nachteil davon tragen kann. Auch mit hydriatischen Verordnungen ist Vorsicht geboten. Das Verhalten der Herzkraft ist von entscheidender Bedeutung. Man soll mit Herzmitteln nieht erst beginnen, wenn sich Zeichen einer Insufficienz einstellen, sondern es muss rechtzeitig einer solchen vorgebeugt werden. Die auf die Bekämpfuug der Infektion gerichteten spezifischen Maassnahmen haben, wie fast immer, so auch in unserem Falle vollkommen versagt. Die Literatur über die Anwendung dieser Mittel ist unendlich gross. Die intravenöse Injektion der Silberpräparate, Collargol, Elektragol, Dispargen usw., die Resistenzerhöhung des Organismus durch Erzeugung einer Leukocytose, die Bakterio-, die Serotherapie, alle diese Methoden haben bisher ein eindeutiges Resultat nicht erzielt. Vielleicht wird die Chemotherapie eine Besserung schaffen. Noch trostloser sind die Erfolge bei chirurgiseher Behandlung für unsere puerperalen Fälle dabei. Es handelt sich um die Venenunter- bindung und die Uterusexstirpation. Hier ist die Wahl des Zeitpunktes der Operation von grösster Schwierigkeit. ÜOperiert man zu zeitig, so besteht die grosse Gefahr der Ausbreitung der Infektion. Bei zu spät einsetzender Operation ist die Pat. dieser erneuten Schädigung meist nicht mehr gewachsen. Wir sehen alsce, dass die aktive Therapie der Sepsis vorläufig noch recht schlechte Erfolge zu verzeichnen hat. Unser Fall zeigt, dass eine streng durchgeführte symptomatische Behandlung auch bei ganz infaust aussehenden Fällen doch eine Heilung herbeiführen kann, wenn man nur den Organismus im Kampfe gegen die Infektion unterstützt. Hr. Küstner: Eehtes Aneurysma der Arteria nterina. B. G., 51 Jahre alt, hat nie geboren, ist seit einigen Jahren klimakterisch, kam vor 12 Jahren in Behandlung des Bedners. Bechts neben dem Uterus vom Scheidengewölbe aus tastbare hühnereigrosse, lebhaft pulsierende Geschwulst, welche lästige Empfindungen und Arbeits- behinderung verursachte. Damals Unterbindung der rechten Hypogastrica — ohne Erfolg. Bald darauf Unterbindung beider Uterinae vom er- öffneten Scheidengewölbe aus, wie eine spätere Untersuchung ergab, ebenfalls ohne Erfolg. Am 11. IL 1906 Esstirpation des Aneurysma vom Abdomen aus. Sehr lebhafte Blutung bei der Operation. Glatte Heilung, voller Erfolg. Die exstirpierte Masse besteht aus starrem vaskularisiertem Bindegewebe mit 3 grossen, miteinander communicierenden arteriellen, ausserordent- lich dilatierten arteriellen Gefässen. Die Befürchtung, dass beim Absetzen des Aneurysma der Ureter geschnürt oder verletzt worden sei, wird durch die mikroskopische Unter- suchung, bei welcher nach intramuskulärer Ipjektion von Carminum - coeruleum-Lösung deutlich gesehen wird, dass der Ureteröffnung bläu- licher Urin entströmt, als gegenstandslos erwiesen. Echte Aneurysmata der Arteria uterina sind bisher nur von Beymond, Whitmarsh und Mars beschrieben. Reymond’s Kranke wurde operiert. Hr. Heymann: Bakteriologisehe Untersuchungen beim Uteruseareinom. (Siehe Teil II.) Hr. Küstner stellt einen Homo nentrius generis, bei welchem er eine ÖOvarialtransplantation gemacht hat, vor. Eine 3ljährige Köchin E. L., welche von ihrem 15. bis 19. Jahre in 4—-6wöchigen Pausen menstruiert, nachdem noch kurze Zeit an vicariierenden Blutungen ge- litten, von ihrem 25 Jahre an Bartwuchs beobachtet haben will, so dass 1. Abteilung. Medizinische Sektion. 35 sie sich zweimal wöchentlich rasieren musste, weist virilen Knochenbau, breiten Schultergürtel, schmales Becken auf. Behaarung der Mons pubis reichlich. Membrum genitale viel grösser als eine Olitoris, kleiner als ein Penis, unperforiert. Schmale Labia majora. Keine Introitusgebilde. Hinter der Wurzel des Membrum genitale eine Urethralöffnung, von welcher aus ausser der Urethra ein kleines, etwa 2 cm langes Diver- tikel, welches etwa 3 cm hinter der Urethralöffnung von der Harnröhre nach hinten zu sich abzweigt, mit der Sonde festzustellen ist. Für Frauen ist kein Empfinden vorhanden, sie will Weib sein, ist mit einem Manne verlobt, den sie nach Kriegsende heiraten will. Vom Rectum aus ist das Becken völlig leer zu tasten, keine An- deutungen von Geschlechtsdrüsen oder irgend welchen Gebilden, welche als Derivate der Müller’schen Gänge gedeutet werden können. Im Mai Laparotomie. Die Inspektion des Beckens lässt keine An- deutung von Uterus, Tuben, Ligamente rotunda, Geschlechtsdrüsen ge- wahren. Zu gleicher Zeit wurde auf dem Nebentisch eine Ventrifixur bei einer Achtunddreissigjährigen gemacht, ein Ovarium entfernt und sofort in das Gewebe der Bauchwunde zwischen Peritoneum und tiefer Fascie des Homo neutrius generis implantiert. Heilungsverlauf glatt. Als Erfolg der Operation kann gelten, dass die E. L. sich zunächst nur einmal wöchentlich, jetzt nur ganz selten zu rasieren braucht. Viel- leicht hat sie auch richtig beobachtet, dass die Mammae, die zur Zeit der Operation völlig virilen Typ aufwiesen, etwas an Volumen gewonnen haben. Wenn die Ehe bevorsteht, will E. L. sich eine Vagina konstruieren lassen. Dafür wird dann die Schubert’sche Operation in Aussicht ge- nommen. Diskussion. Hr. L. Fränkel (zum Vortrag des Herrn Heimann): Wenn die prophylaktische Einspritzung des Antistreptokokkenserums derartig zauber- hafte Erfolge auch bei anderen Streptokokkeninfektionen des Menschen ge- zeitigt hätte, so würden wohl die Erfinder der Sera energisch und immer wieder.gerade ihre prophylaktische Anwendung gefordert haben. Darüber ist mir wenig oder nichts bekannt. Herrn Heimann’s Resultate heben sich, wenn sie sich bestätigen, weit über den Rahmen hinaus, den er Ihnen gegeben hat. Wir würden dann berechtigt, ja sogar verpflichtet sein, die Einspritzung nicht nur nach Carcinomoperationen zu machen, bei denen wir Streptokokken in der Cervix finden, sondern nach jeder Art von Operationen, die in Bezug auf Infektion gefährlich sind, ja auch nach schweren Entbindungen, denn die tödlichen Erkrankungen beruhen ja fast immer auf Streptokokken und so würde man bei der Möglichkeit, eine Anzahl Leben hierdurch zu retten, in allen diesen Fällen das Serum wahllos einzuspritzen haben. Ich muss aber gestehen, dass mir die er- wähnten Zahlen (24 bezugsweise 13 Fälle in den beiden Serien mit 61 bezugsweise 16 pCt. Mortalität nach unterlassener oder ausgeführter Streptokokkenserumeinspritzung) zu klein sind. Jeder Operateur weiss, wie sehr seine eigenen Resultate in so kleinen Serien durch Zufall schwanken können. Auch fällt mir auf, dass in der 2. Tabelle, nämlich den nicht streptokokkenhaltigen Carcinomen nach der Einspritzung des Serums ebenfalls die Mortalität enorm zurückgegangen ist. Der Vor- tragende wird also zunächst seine Zahlen sehr erheblich vergrössern müssen, wozu die Anregung, die ich oben gegeben habe, vielleicht ge- eignet erscheint. Hr. L. Fränkel zur Demonstration des Herrn Küstner: Ueber Hermaphroditismus und Ovarientransplantation. Der Herr Vortragende hat uns mitgeteilt, dass der vorgestellte Zwitter verlobt ist und sich nach dem Kriege als Frau verheiraten will. Viel- 3 %* 36 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. leicht gibt ihm die von Herrn Küstner vorgenommene ÖOvarientrans- plantation und die noch beabsichtigte Bildung einer künstlichen Vagina einiges Recht dazu; anderenfalls würde ich allerdings glauben, dass eine solche Ehe später angefochten und für nichtig erklärt werden kann. Die Eierstocküberpflanzung, welche in diesem Falle einige Erfolge gezeitigt zu haben scheint, sollte nicht nur bei Zwitterbildung, sondern auch bei Amtenorrhoe und Oligomenorrhoe, Ausfallserscheinungen, Hypo- plasie und Atrophie häufiger verwendet werden. Ebenso ist es zweck- mässig, wenn aus technischen Gründen die leidlich gesunden Oyvarien mit den erkrankten Tuben zunächst weggenommen werden müssen, sie sofort wieder nach Auslösung aus dem Adnexpaket zu reimplantieren. Wenn es auch nicht immer gelingt, die Eierstöcke zur funktionstüchtigen Einheilung zu bringen, so handelt es sich doch bei Einpflanzung unter die Haut oder die Muskulatur um einen kleinen Eingriff, den man leichten Herzens ausführen kann. Hr. Dreyer fragt an, ob bei den in Rede stehenden Untersuchungen auf Pathogenität der Bakterien auch die intraarticulare Impfung in das Kniegelenk des Kaninchens angewandt wurde. Er hat bei Untersuchungen des Keimgehaltes aseptisch heilender Operationswunden gefunden, dass die aus solchen gezüchteten Bakterien in das Kniegelenk des Kaninchens gebracht, niemals eine Eiterung hervorriefen, was im Gegensatz dazu stets bei Verimpfung von aus menschlichen Eiterungsprozessen stammenden Bakterien der Fall war. Nach seinen Untersuchungen stellt die Virulenzprüfung mittels intraarticularer Impfung eine sehr zuverlässige Methode dar, die Fatho- genität von Bakterien zu bestimmen. Hr. Greinert: Genitalaplasie. i Demonstration eines 2ljährigen Mädchens, das noch nie menstruiert hat. Anamnestisch keine Molimina menstrualia.. Untersuchsungbefund: Aeusseres Genitale normal gebildet. Anstelle der Scheide ein zwei cm tiefer Blindsack. Rektal fühlt man rechts und links vom Promontorium die hypoplastischen Ovarien als ovoide Körper. Quer durch das Becken verläuft, mit der Konvexität nach vorn, ein bogenförmiger Strang, der sich bis zu den Ovarien hin verfolgen lässt und nach unten zu in einen dünnen, median verlaufenden Strang übergeht. Die vorliegende. Genital- aplasie kann man also als Uter. rudiment. solid. bicorn. cum vagina solida ansprechen. Trotz fehlender Facultas generandi wünscht sich die Patientin zu verheiraten. Der Versuch einer operativen Konstruktion einer Vagina erübrigt sich in diesem Falle, da der bestehende Scheiden- blindsack so dehnbar ist, dass durch fortgesetzte Kohabitationsbemühungen eine genügende Facultas coeundi geschaffen werden dürfte. Sitzung vom 1. Dezember 1916. Vorsitzender: Herr J. Pohl. Schriftführer: Herr Röhmann. Hr. Pohl gedenkt des Verlustes, den die Gesellschaft durch den Tod von Ernst Gaupp erlitten hat. Hr. 0. Förster: Sehussverletzungen des peripheren Nerven, des Rückenmarks und Gehirns. (Mit vielen Demonstrationen.) (Siehe Teil II.) Diskussion: Hr. Bumke erörtert die Frage des Operationszeit- punktes. Die weitere Diskussion wird vertagt. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 37 Klinischer Abend vom 8. Dezember 1916. Vorsitzender: Herr Minkowski. Hr. Bleisch: 1. Ophthalmia sympathica (sympathische Augenentzündung). M. H.! Das klinische Bild der sympathischen Augenentzündung, dieser höchst gefährlichen Erkrankung, ist Ihnen bekannt; Sie wissen, dass nach jeder perforierenden Verletzung, mag sie auch so unbedeutend sein wie ein Nadelstich, sich auf dem andern Auge eine sogenannte sympathische Entzündung einstellen kann; in den allermeisten Fällen handelt es sich um eine chronische Uveitis, Erkrankung der Iris, des Ciliarkörpers und der Chorioidea.. Man sollte nun annehmen, dass während des Krieges, in dem so viele augenperforierende Verletzungen erleiden, die sympathische Entzündung häufig Gegenstand augenärzt- licher Beobachtung und Behandlung sei; glücklicherweise ist das nicht der Fall; es sind bis jetzt erst 8 Fälle mitgeteilt worden. Gegenwärtig ist eine Umfrage im Gange, über deren Ergebnis später berichtet werden wird; die Seltenheit, dieser Erkrankung und die Wichtigkeit jedes einzelnen Falles rechtfertigt unsere Demonstration. Der Patient erlitt im Juni d. J. bei Vauquois, am Nordrand der Argonnen, eine Verletzung seines rechten Auges durch Handgranaten- splitter; am nächsten Tage kam er in ein Feldlazarett; dort wurde eine perforierende Verletzung festgestellt; ein Irisvorfall wurde abgetragen; nach 3 Tagen kam Patient in ein Heimatslazarett; dort wurde der Vor- fall nochmals mit der Glühschlinge behandelt. Zunächst war das Auge reizlos; dann aber entwickelte sich eine chronische intraoculare Ent- zündung; das Auge wurde weicher (Netzhautablösung!) und 4 Wochen nach der Verletzung wurde der Bulbus enukleiert; es erwies sich, dass der Bulbus durch einen Eisensplitter doppelt perforiert war; während dieser ganzen Zeit und auch nachher war das linke Auge normal, ent- zündungsfrei und hatte normales Sehvermögen. Patient wurde 14 Tage nach der Enukleation in die Heimat (Breslau) beurlaubt; hier suchte er — also 6 Wochen nach der Verletzung — wegen einer Rötung seines linken Auges die Augenstation des Festungs- lazaretts (Werderstr. 83) auf; ich fand eine leichte ciliare Injektion — und nach 2 Tagen traten bereits hintere Beschläge, sogenannte Des- cemet’sche Beschläge, auf; damit war die Diagnose sympathische Augen- entzündung eigentlich schon entschieden. — Die Wassermann’sche Reaktion und die probatorische Tuberkulinreaktion war negativ. Das linke Auge des Patienten, den ich Sie jetzt anzusehen bitte, zeigt folgendes: Es besteht eiliare Injektion, an der Hinterfläche der Hornhaut zahlreiche hintere Beschläge. Die Regenbogenhaut ist ver- waschen in Zeichnung und Farbe; es bestehen mehrere hintere Synechien; der Glaskörper ist diffus getrübt; es handelt sich also um die seröse Form der Uveitis sympathica. — Ich hatte gehofft, Ihnen heute Schnitte des sympathisierenden Auges zeigen zu können, zumal wir wissen, dass in jedem Falle aus dem histologischen Befund die Diagnose sympathische Ophthalmie zu stellen ist. Leider hat der Kollege, der das rechte Auge enukleiert hat, den Bulbus nicht auf- bewahrt. 2. Cataract nach Starkstromverletzung. Der Patient, den ich Sie bitte anzusehen, erlitt dadurch eine Ver- letzung, dass er — im besetzten Gebiet Frankreichs — der Starkstrom- leitung zu nahe kam; er war nach der Verletzung mehrere Stunden be- wusstlos und erlitt Verbrennungen dritten Grades an der Haut des Kopfes; etwa 3 Wochen nachher bemerkte er eine Herabsetzung des 38 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Sehvermögens des linken Auges, die allmählich zunahm; auch auf dem rechten Auge stellten sich Sehstörungen ein; als ich den Patienten vor etwa 6 Wochen zum ersten Male sah, bot er folgenden Befund: Linkes Auge: Cataracta matura; Lichtschein für kleinste Flamme wird richtig projieiert. Rechtes Auge: Punktförmige Trübungen der Linse, die in der vorderen Rindenschicht lokalisiert sind. Es unterliegt keinem Zweifel, dass das Auftreten der Linsentrübungen mit der Starkstromverletzung in ursächlichem Zusammenhange steht. Derartige Fälle sind mehrfach in der Literatur beschrieben worden; so sah man bei einem Arbeiter, der von einem Wechselstrome von 20000 Volt Spannung getroffen worden war, nach einiger Zeit — etwa nach 14 Tagen — zahlreiche punkt- und strichförmige Trübungen unter der vorderen Kapsel der Linse. F Die Cataract auf dem linken Auge wurde vor 14 Tagen operiert. Heilung erfolgte reaktionslos. Diskussion. Hr. Henke: Der vorgestellte Fall von Schädigung durch Starkstrom gibt mir Veranlassung, aut einen Todesfall nach Einwirkung sinusoidalen Wechselstroms (Behandlung von schweren Kriegsneurosen nach Kauf- mann) hinzuweisen. Bei dem ausserordentlich kräftigen, etwa 30 jährigen Patienten war im Anschluss an die schon einige Male in derselben Weise vorgenommene elektrische Einwirkung ganz plötzlich der Tod eingetreten. Der Sektionsbefund ergab keine aceidentelle Todesursache; dagegen war eine Thymus persistens vorhanden, die peripheren Lymphdrüsen waren hyperplastisch. Es würde sich fragen, ob etwa ein Status thymolym- phaticus als Konstitutionsanomalie mit für den unerwarteten Ausgang der bei einer grossen Zahl von anderen Patienten in derselben Weise ohne Schaden vorgenommenen Behandlungsmethode anzuschuldigen ist. Ar. Minkowski: Schussverletzung der Aorta thoraeica. Verwundung am 27. VIII. 1916. Einschuss links hinten handbreit von der Wirbelsäule in Höhe des 10. Brustwirbels; kein Ausschuss. Zu- nächst kleiner Hämothorax hinten links unten. Bei der Aufnahme in die Klinik am 28. XI. 1916 nur links hinten vom Schulterblattwinkel ab- wärts Dämpfung, links vorne normaler Klopfschall und Atemgeräusche. Traube’scher Raum frei. Dabei auffallende Verlagerung des Herzens nach rechts, bis zur rechten Mammillarlinie. Sehr erhebliche, dem objektiven Befund nicht entsprechende, subjektive Beschwerden, namentlich auch Klagen über zeitweise auftretende heftige Schmerzen in der Bauchhöhle. Im Röntgenbild: Schrapnellkugel rechts vorne zwischen Mammillarlinie und Parasternallinie in Höhe des Zwerchfellansatzes sichtbar; kleiner Hämopneumothorax links hinten unten, abgesackt; neben dem ganz nach rechts verlagerten normal grossen Herzen, in der Gegend der Durchtritts- stelle der Aorta durch das Zwerchfell ein eigentümlicher länglicher, vertikal nach oben konisch auslaufender Schatten. Hämoglobingehalt des Blutes 60 p&@t. — Am 21.X. plötzlich ausserordentlich heftiger ‘Schmerzanfall; Patient jammert und schreit, es sei ihm etwas in der Brust zerrissen. Tachypnoe, Tachykardie bis 180, kleiner Puls, auffallende Blässe der Haut, Hämoglobingehalt des Blutes 37 pCt. Vorübergehende Temperatur- steigerung auf 38,7°. Am folgenden Tage subjektive Besserung. Hämo- thorax bis zur Höhe der 3. Rippe angestiegen. Blutige Stuhlentleerungen. — In den nächsten Wochen fortschreitende Erholung. — Am 23. XI. Hämoglobingehalt wieder 70 pCt. — Am 28. XI. plötzlich Ohnmacht, höchste Anämie, Puls unfühlbar, Tod unter dem Bilde einer inneren Verblutung. Die Autopsie (Prof. Henke) ergibt, dass die Kugel die Aorta I. Abteilung. Medizinische Sektion. 39 thoracica quer durchbohrt hatte. Das entstandene Aneurysma spurium hatte das Herz nach rechts verdrängt. Der Tod war schliesslich durch Perforation in den Oesophagus erfolgt. Der Magen war mit grossen Blutgerinnseln ausgefüllt. Auffallend bleibt die lange Lebensdauer von 3 Monaten trotz der beiden kreisrunden, der Grösse der Schrapnellkugel entsprechenden Löcher in den Wandungen der Aorta. Hr. Henke: Aortendurchschuss. Hr. Henke demonstriert und bespricht das anatomische Präparat des von Herrn Minkowski klinisch mitgeteilten Falles. Es handelt sich um einen queren Durchschuss der Aorta dicht oberhalb des Zwerchfells durch eine Schrapnellkugel, mit dem der Soldat noch mehrere Monate gelebt hat, bis das um die Aorta entstandene Aneurysma spurium sekundär in den Oesophagus perforierte und so zur tödlichen Verblutung führte. Offenbar hat das sofort in den aneurysmatischen Sack gerinnende Blut die kreisrunde Einschuss- und Ausschusswunde der Aorta so schnell tamponiert, dass die augenblickliche Verblutung verhindert wurde Es entstand zunächst nach der Verwundung, das klinische Bild beherrschend, ein ausgedehnter Hämothorax, der später zu starken schwieligen Prozessen der Pleura und fast völliger Atelektase der linken Lunge führte. Die Schrapnellkugel hatte noch die Leber gestreift und lag jetzt, aseptisch eingeheilt, im rechten Zwerchfell. Hr. Severin bespricht einen Fall von Duodenalstenose durch Cystieusstein. Hr. Minkowski: Demonstration verschiedener Anämien. Hr. Frank: Ueber Lungenembolien nach Injektion von Oleum cinereum. Nach scheinbar regelrecht ausgeführten intraglutäalen Injektionen von Oleum einereum wurde mehrfach folgendes Krankheitsbild beob- achtet: 8—24 Stunden ‘nach der Injektion erkrankte der Patient mit Schüttelfrost und heftigen, die unteren Partien des Brustkorbs gürtel- förmig umgebenden Schmerzen. Gleichzeitig wurde die Atmung so schmerzhaft, dass der Kranke ausserordentlich beschleunigt und kurz atmete und häufig nicht einmal kurze Sätze im Zusammenhang sprechen konnte. Der perkutorische und auskultatorische Befund war dabei meistens sehr geringfügig, gelegentlich bildete sich ein kleines Exsudat. Die Röntgendurchleuchtung zeigte, dass in derartigen Fällen beide Lungen mit inteusiven Schattenflecken geradezu durchsetzt waren, am stärksten in den unteren Lungenpartien. Erst im Laufe mehrerer Wochen hellten sich die Lungenfelder wieder auf. Die Dauer der Krankheitserscheinungen schwankte zwischen 2 und 10 Tagen. Die Patienten machten manchmal infolge der starken Cyanose und der starken Kurzatmigkeit den Eindruck recht kranker Menschen. Offenbar handelt es sich um multiple Emboli- sierungen der Lunge, die sehr rasch auf die Pleura übergreifende reaktive Prozesse auslösen. Den Syphilidologen ist dieses Krankheitsbild, das wohl nur nach der Injektion unlöslicher Quecksilbersalze beobachtet wird, als Grippe mercurielle schon längere Zeit bekannt. Durch das Röntgenbild konnte gezeigt werden, dass es sich dabei um embolische Prozesse handelt, während die Bezeichnung zu sagen scheint, dass an eine gesteigerte Disposition zu einer influenzaartigen Krankheit im Laufe der Quecksilberkur gedacht wurde. Diskussion. Hr. Schäffer: Die Befunde von Herrn Frank sind besonders wichtig für uns Dermatologen, die sich ja mit der Frage der embolischen Quecksilberverschleppung schon seit der Einführung der unlöslichen Hg-Injektionen beschäftigen. Die früher nicht so seltene ausgesprochene 40 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Quecksilberembolie durch direkte Injektion in die Vena kommt ja jetzt bei Beobachtung der modernen Technik glücklicherweise nur ganz aus- nahmsweise vor. Dagegen macht man gelegentlich einmal Beobachtungen, die die Vermutung aufkommen lassen, dass Hg-Partikelchen, wenn auch nur in geringer Menge, in den Blutkreislauf geraten und Lungener- scheinungen hervorrufen. Es handelt sich um anfallsweises Auftreten - von Hustenstössen mit nachfolgenden katarrhalischen Lungenerscheinungen, die aber nicht charakteristisch genug sind, um die Diagnose einer Embolie stellen zu können. Die Symptome treten bisweilen erst Stunden, manchmal auch Tage nach der letzten Einspritzung auf. Diese Fälle sind wohl so aufzufassen, dass man zwar nicht direkt in die Vene gerät, dass man aber das Gefäss ansticht oder durchsticht und dann die Injektionsflüssigkeit in die Nachbarschaft deponiert. Hier besteht also durch den Stichkanal eine offene Verbindung mit dem Venenlumen, und es kann später (beispielsweise bei starker Muskelkontraktion) ein Teil des Injeettums noch in das Venenlumen gelangen. Die hierdurch ausgelösten Embolieerscheinungen werden naturgemäss viel weniger deutlich sein, weil eben nur ein Teil der injieierten Flüssigkeit in den Blutkreislauf gelangt. Dass dies tatsächlich vorkommen kann, beweist folgende mir von einem Kollegen mitgeteilte Beobachtung: er traf beim Einstich die Vene (Austritt von Blut aus der Kanüle), zog dann die Spritze etwa 1/; cm zurück und nahm jetzt die Injektion vor. Es trat nachträglich doch eine Embolie ein, also offenbar in der oben ge- schilderten Weise, weil das Injeetum durch den Stichkanal in die an- gestochene Vene hineingeriet. Man muss ferner auch an die Möglichkeit denken, dass bei der Injektion in die unmittelbare Nähe eines Gefässes später eine Arrosion der Venenwand erfolgt und infolgedessen unlösliche Hg-Partikelchen ins Blut geraten. Die Hauptsache für uns Dermatologen ist natürlich, die Embolie so weit als möglich zu vermeiden. Ich füge der von Lesser und Blaschko gegebenen Vorschrift, nach dem Einstich die Spritze abzu- nehmen, noch eine leichte Aspiration hinzu und verwende für die unlöslichen Einspritzungen eine besondere Spritze „Aspirationsspritze“* mit durchsichtigem Glaseonus, in dem man auch minimalste Spuren von aspiriertem Blut bemerken kann. Ich glaube, dass man bei dieser Technik sicherer nachweist, ob man direkt in ein Venenlumen geriet, vielleicht auch, ob eine Vene auch nur angestochen oder durchstochen wurde. Jedenfalls habe ich seit der Benutzung dieser Technik kaum noch etwas beobachtet, was als embolische Verschleppung‘ gedeutet werden müsste, jedenfalls eine ausgesprochene Embolie nie mehr gesehen. Bei den Merecinolipjektionen, für die ja besondere Spritzen mit enger und langer Kanüle verwandt werden, muss man mit der Technik besonders vorsichtig sein, da ja die Hg-Suspension zäher ist als die andern unlöslichen Hg-Präparate und darum nicht so leicht aus der Kanüle heraustropft. Ferner ist an die Möglichkeit zu denken, dass Embolien durch das Mercinol etwas anders verlaufen als die durch Paraffinsuspensionen (z. B. Salicylquecksilber) bedingten, weil das zähe Ol. cinerum mehr zu klumpenförmigen Ansammlungen neigt, während das Salicylquecksilber sich viel leichter verteilt. Es wäre gewiss sehr dankenswert, wenn Herr Frank seine Unter- suchungen weiter fortsetzte bei einer grösseren Zahl von Patienten, die mit unlöslichen Hg-Injektionen behandelt werden, um nachzuweisen, ob vielleicht trotz aller Vorsichtsmaassregeln doch embolische Verschleppungen vorkommen können. Hr. Rosenfeld: Es ist nicht gut möglich den Röntgenbefund etwa so zu deuten, dass die Herde einfach Quecksilbertröpfehen wären, dazu | 1. Abteilung. Medizinische ‚Sektion. 41 ist die Menge des in den Körper eingeführten Hg viel zu klein. An und für sich sind Embolien durch Fettinjektionen ziemlich bedeutungslos, wie mir die öfters beobachteten Embolien nach den Berliner’ schen Menthol-Ol. derieini-Injektionen gezeigt haben. Hr. Schäffer: Zu den Ausführungen des Herrn Rosenfeld möchte ich kurz bemerken, dass in der Tat ein grosser Unterschied be- steht zwischen Embolien, die durch Fett bezw. durch Quecksilberfett- suspensionen hervorgerufen werden. Im letzteren Fall bekommt man intensive Reaktionserscheinungen, wie experimentelle Untersuchungen an Kaninchen bewiesen haben. Sitzung vom 15. Dezember 1916. Vorsitzender: Herr Pohl. Schriftführer: Herr Rosenfeld. 1. Hr. @raeper: Nachruf auf Ernst Gaupp. (Siehe Teil II.) 2. Diskussion zum Vortrage des Herrn Förster: Schussverletzungen der peripheren Nerven, des Rückenmarks und Gehirns. Hr. W. Uhthoff spricht zu den Hinterhauptschüssen mit hemianopi- schen Störungen, von denen er über 40 Fälle gesehen hat, und von denen er über 53 genauer beobachtete berichtet. Er hat die Abbil- dungen dieser 33 Fälle auf Tafeln angeordnet ausgehängt, indem auf jeder Tafel die Gesichtsfelder, die Photographie des Kopfschusses, die Eintragung der verletzten Hirnpartien und eventuell das Röntgenbild angebracht ist. Auf die Weise ergibt sich eine Gesamtübersicht seines Materials, welches er in kurzen Sätzen erläutert. Er hebt hierbei be- sonders die Punkte hervor, in denen uns der Krieg neue Erfahrungen über die Eigenart der Hinterhauptsverletzungen mit entsprechenden Ge- sichtsfeldstörungen gebracht hat. (Häufigkeit der doppelseitigen Hemi- anopsie und der Hemianopsia inferior, Seltenheit der Hemianopsia superior und der totalen Erblindung usw.) Zum Schluss geht er noch auf die begleitenden cerebralen Erscheinungen, die Frage der Dienst- tauglichkeit u. a. etwas näher ein. Hr. Tietze: M. H.! Es ist vielleicht unbescheiden, wenn ich mich an der Diskussion über den Vortrag des Herrn Förster beteilige, da sich meine Erfahrungen hauptsächlich auf die Erlebnisse an der Front beziehen und das Material und damit die Indikation zur Operation in den Hauptverbandplätzen und Feldlazaretten natürlich ganz anders ist als in den Krankenhäusern der Heimat. Und wenn am Anfang des Krieges scheinbar so schwer eine Einigung über die Behandlung der Kopfschüsse zu erzielen war, so liegt das meines Erachtens daran, dass die einen von den Erfahrungen der ersten Linien ausgingen, während die anderen das mehr durchgesiebte Material der Kriegslazarette in der Hand hatten. Sehr richtig sagt Simon in seiner kleinen Schrift über Schädelschüsse, dass wir in den ersten Linien nicht aus neurologischer, sondern aus vitaler Indikation operierten, dass am allerwichtigsten die Versorgung der Wunde war, die uns in der Mehrzahl der Fälle zum operativen Vorgehen zwang. Ich will im Rahmen der Diskussion versuchen, mich kurz zu fassen, und gleich damit beginnen, wovon ich vorläufig am wenigsten kenne, mit den Schussverletzungen der peripheren Nerven. Allerdings habe ich solche Verletzungen — ich kann ruhig sagen — massenhaft vor Verdun und an der Somme gesehen. Aber ich habe an der Front nur eine einzige Nervennaht gemacht. Es handelte sich 44 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. schossteilen im Wirbelkanal. Dann war einmal — bei Granatsplittern — die Entfernung wegen der Infektionsgefahr angezeigt oder — die Gewehrkugel stand im Verdacht, das Mark zu drücken. Einmal konnte ich ein französisches Infanteriegeschoss aus einem Wirbelkörper ent- fernen, nachdem ich eine Wurzel durchschnitten und das Mark beiseite gezogen hatte. Die Dura war unverletzt und wurde von mir nicht er- öffnet. 4. Bei Einklemmung von Wurzeln durch Knochensplitter oder Geschosse. Diese Fälle zeichnen sich durch rasende Schmerzen aus. Ich operierte zwei davon mit dem Erfolge, dass die Schmerzen bald verschwanden. Sehr beglückwünsche ich Herrn Förster zu den guten Erfolgen, die er bei zwei Fällen von spastischen Lähmungen mit der von ihm er- sonnenen Resektion hinterer Wurzein erzielt hat. Fürwahr ein schöner Erfolg einer auf Grund theoretischer Erwägungen geschaffenen Operation! Unter den Fällen, die ich früher mit Herrn Förster gemeinsam operiert habe, fand sich ein ähnlicher nach Wirbelfraktur, doch war das Resultat hier nicht so günstig. Kurz vor dem Kriege habe ich in zwei Fällen — auf nicht traumatischer Grundlage — die Durchschneidung der N. ob- turatorii vorgenommen. Der Erfolg schien mir gut zu sein, doch habe ich die Patienten aus dem Auge verloren. M. H.! Ueber Kopfschüsse will ich nicht sprechen. Diese Ver- letzungen gehören in den Feldlazaretten zu den alltäglichen Er- scheinungen und bieten zahlreiche Belehrungen, doch vermag ich nur Bekanntes anzuführen. Hr. Bleisch: M. H.! Während meiner Tätigkeit als leitender Arzt der Augenstation am Festungslazarett (Werderstr.) hatte ich Gelegen- heit, eine sehr grosse Anzahl von Patienten mit Sehädelschüssen, namentlich Hinterhauptschüssen zu untersuchen; ich bitte Sie, sich diese 23 Tafeln anzusehen, auf denen die Photographien der Verletzten und daneben die Gesichtsfelder aufgezeichnet sind. Hemianopsia superior wurde nicht beobachtet; Hemianopsia exterior mehrfach (5 Fälle). Bezüglich der Prognose der Amaurose nach Hinterhauptschüssen ist Vorsicht geboten; dies lehrt der Fall, den auch Herr Förster erwähnte, bei dem nach Hinterhauptschuss die Amaurose 3 Monate bestand; die- selbe war in einem auswärtigen Lazarett als bleibend angesprochen worden und Patient kam auf meine Station, um der Blindenanstalt zugeführt zu werden; die neurologische Untersuchung und Beobachtung ergab das Vorhandensein einer Hysterie und nach psychischer Behandlung erlangte Patient plötzlich das Sehvermögen wieder, bis auf eine Hemianopsia inferior, die jetzt noch besteht. Hr. Förster (Schlusswort). Sitzung vom 20. Dezember 1916. Vorsitzender: Herr Pohl. Schriftführer: Herr Rosenfeld. Hr. Severin demonstriert 2 Fälle von Myotonia congenita (Thomsen- scher Krankheit) bei Soldaten, die er im Frühjahr 1916 im Felde zur Untersuchung bekam und als felddienstunfähig in die Heimat entlassen hatte. Es handelt sich um 2 Brüder im Alter von 25 bzw. 21 Jahren, die als Infanterist bzw. Feldartillerist beim selben Korps sich befanden. Bei beiden traten die ersten myotonischen Krankheitserscheinungen um die Pubertätszeit hervor. Der ältere hatte während seiner Lehrzeit auf einer Grube öfters unter Tage zu arbeiten und bemerkte damals im Alter von [wit I. Abteilung. Medizinische Sektion. 4 15 Jahren beim Treppensteigen zuerst eine Steifigkeit in den Beinen. Er konnte die ersten 5—6 Stiegen nicht hintereinander nehmen, sondern musste sich mit steifem Beine am Geländer zunächst schwerfällig hoch- ziehen, kam dann bald in Bewegung und konnte mit jedem anderen Schritt halten. Mit 18 Jahren war er auf dem Bureau in sitzender Stellung tätig und hatte zugleich das Telephon zu besorgen. Beim An- läuten konnte er sofort aufspringen, sich aber nicht sofort von der Stelle fortbewegen; nur mühsam, mit steifen Beinen, die Füsse über die Erde schleifend, konnte er jedesmal die wenigen Schritte zum Telephon zu- rücklegen. Beim Abspringen von der Elektrischen kam er oft zu Fall. Vor dem Kriege hatte er von 1913—1914 als Infanterist aktiv gedient. Während der Ausbildungszeit als Rekrut fiel er beim Marschieren (be- sonders Parademarsch), Turnen (besonders Weit- und Hochsprung) und später beim Griffeüben — während der Militärzeit stellten sich auch krampfartige Zustände in Händen und Armen ein — dauernd auf, be- sonders bei Besichtigungen durch höhere Vorgesetzte. Er hiess in der Kompagnie nur der „Krampfmensch“. Er galt als Simulant, weil er zeitweise ganz frei von Bewegungsstörungen und ein guter Soldat war. Unbeeinflussbar war sein Leiden durch die Jahreszeit (Sommer oder Winter) oder durch Witterungsverhältnisse (Regen- oder Sonnentage, Hitze oder Kälte), wohl aber übte die Tageszeit einen deutlichen Ein- fluss aus. Morgens hatte er über stärkste Störungen zu klagen, während er abends meist beschwerdefrei war; so war er in der Kompagnie als flotter Tänzer bekannt, Psychische Aufregungen (Besichtigung, Vor- stellung usw.) steigerten seine Beschwerden. Am Ende des 1. Jahres wurde er wegen seiner Krampfzustände Bursche und kam bei der Mobil- machung als Radfahrer und Ordonanz zur Stabswache eines General- kommandos. Beim Fahren konnte er jedoch nur ein Rad mit Freilauf benutzen, weil er zu Anfang nur allmählich die Pedale treten konnte. Wegen Verschlimmernng seines Zustandes, verbunden mit allgemeiner Nervosität, meldete er sich im März 1916 krank. Heredität fehlt; in der Verwandtschaft keine Psychosen oder Neuropatbien. Während 2 ältere verheiratete Schwestern und deren Kinder sowie ein 16jähriger Bruder gesund sind, leidet ein 2ljähriger Bruder ebenfalls an Thomsen’scher Krankheit. Dieser bemerkte sein Leiden (Steifigkeit der Beine) zuerst im 17. Lebensjahre bei einem Fussballwettspiel. Nach einem Jahr wurden auch die Hände und Arme befallen. Im Juni 1915 als Feldartillerist eingezogen, kam er'im November 1915 an die Front. Beim Springen, Schlusssprung auf der Stelle oder beim schnellen Treppensteigen aus dem Unterstand, beim Alarm — er gehörte zu einer Fliegerabwehr- abteilung — fiel er meist lang ausgestreckt auf das Gesicht. Beim Ab- ziehen des Geschützabzughebels blieben die Finger zusammengeballt, steif. Bei einem heftigen Fliegerschiessen konnte er nach einer schnellen Kopfbewegung den Kopf im ersten Moment nicht zurückbewegen. Ferner ‚stellten sich im Kriege Kaubeschwerden ein. An regnerischen Tagen war sein Leiden schlimmer. Auch bei ihm war der Einfluss der Tages- zeit deutlich vorhanden: Morgentliche Exacerbationen, abendliche Re- missionen. Objektiv ist bei beiden eine herkulisch entwickelte Muskulatur am ganzen Körper vorhanden. Reflexe und Sensibilität sind normal. Von typischen schweren myotonischen Bewegungsstörungen sind befallen: Die äusseren Augenmuskeln, Gesichts-, Kau-, Zungen-, Rumpf- und Ex- tremitätenmuskulatur. Mechanische Reize (z. B. Beklopfen) lösen an einzelnen Muskeln, z. B. Triceps, Supinator longus, besonders an der Zunge myotonische Wirkung (langdauernde Dellenbildung) aus. Auch geben die befallenen Muskeln deutliche myotonische Reaktion auf fara- 46 Jahresbericht der Schles. Gesellsehaft für vaterl. Cultur. dische und galvanische Reize. In beiden Fällen ist während des Krieges draussen eine Verschlimmerung eingetreten. Besprechung des Krankheitsverlaufs, der Aetiologie (myogenen und chemischen Theorie), Prognose und Kriegsverwendungsfähigkeit (Dienst- unbrauchbarkeit oder höchstens Arbeitsverwendungsfähigkeit für die Heimat für Bureaudienste). Diskussion. Hr. Bumke erwähnt die Bedeutung der Heredität und der Funktion der inneren Augenmuskeln. Hr. Pohl: Ueber Tetrahydroatophan (mit Demonstration). (Siehe Teil II.) z Hr. Froschbach: Ueber Malaria. 1. Malaria tertiana mit vorausgehender schwerer, der epidemischen ähnlichen Meningitis mit Blutgehalt des Liquors. — 2. Malaria tropica, durch Nierenhämorrhagie eingeleitet, die prompt durch Chinin beseitigt wurde. Anlässlich beider Fälle wird die Bedeutung der lockeren Capil- larenthrombosierungen für verschiedene Organerkrankungen beider Ma- laria besprochen. — 3. Chronische Malaria tropica mit Kachexie und schwerer Anämie mit erhöhtem Färbeindex. Kombinierte Strangerkran- kung. Besprechung des Blutbildes bei der Malaria. — 4. Tertianaanfall, mit Neosalvarsan geheilt. Die besprochenen Fälle sollen ausführlich durch Georg Pysz- kowski in dieser Wochenschrift veröffentlicht werden. » Originalien. Sehlesische Gesellschaft für vaterländische Gultur, ID I 9%, I. Abteilung. Jahresbericht. Medizin. 1916. a. Medizinische Sektion. Us aXıa 24® Vorträge der medizinischen Sektion im Jahre 1916. l. Das wissenschaftliche Wirken Alzheimer’s. Ein Nachruf. Von Prof. Dr. Georg Stertz. M. H.! Ich bin von dem Herrn Vorsitzenden beauftragt worden, ihnen ein Bild des wissenschaftlichen Wirkens Alzheimer’s zu ent- werfen. Das ist eine dankbare Aufgabe, weil der Referent dabei aus der Fülle einer grossen Lebensarbeit schöpfen kann, es ist aber auch eine schwierige Aufgabe, weil die wissenschaftlichen Arbeiten der jüngeren Zeit sich in ihrem Einfluss auf unsere Wissenschaft noch nicht voll über- sehen lassen, vielmehr erst aus einiger Entfernung angesehen im richtigen Licht und Maassverhältnis zu der gesamten Fortentwickelung unseres Wissens erscheinen werden. Wenn wir die Bedeutung menschlichen Wirkens nur aus der Zeit heraus verstehen können, in die es fällt, so ist es vielleicht zweckmässig, auf die Strömungen und Bestrebungen der Psychiatrie seiner Zeitepoche ein Streiflicht zu werfen. Es fehlt in derselben nicht an Versuchen, System und Licht in das noch vor wenigen Jahrzehnten bestehende Chaos in der Psychiatrie zu bringen. Ein solcher knüft sich an den Namen Wernicke’s, den wir Breslauer ebenfalls einst mit Stolz den unseren nennen durften. Wer- nicke, einer der hervorragendsten Kenner und Bereicherer der Lokali- sation physiologischer Vorgänge im Gehirn, suchte mit den daraus ge- wonnenen Vorstellungen das ganze Seelenleben zu durchdringen und . ein auf physio-pathologischen Prinzipien beruhendes System der Geistes- krankheiten aufzubauen. Der Versuch fand keine Nachfolge wegen der ihm innewohnenden eigenartigen Einseitigkeit, der Nichtachtung der Krankheitsursachen und der Ausserachtlassung aller praktischen Be- dürfnisse. Hingegen hat als Begründer einer neuen Klassifikation der Psy- chosen Kraepelin einen führenden Einfluss auf die klinische Psychiatrie gewonnen. Kraepelin sah in der Zusammengehörigkeit der Krankheits- fälle nach Ursache, Verlauf und Ausgang das wesentliche Einteilungs- prinzip und betrachtete das als eine Krankheitseinheit, was sich gesetz- mässig diesen Voraussetzungen in gleicher Form unterordnete. So ein- leuchtend dieses Prinzip war und so wirkungsvoll es in der Hand seines Begründers sich ausgestaltete, der Mannigfaltigkeit der psychischen Krankheitsbilder gegenüber hat sich seine Gruppierung der Krankheits- bilder nicht immer ohne Zwang anwenden lassen. So kam es, dass Scehlesische Gesellsch. f. vaterl. Cultur. 1916. II. 1 2 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. unter seinen Anhängern und eigentlich in der ganzen psychiatrischen Welt die letzten Jahrzehnte zu einem guten Teil mit Meinungsverschie- denheiten ausgefüllt waren, ob dieses oder jenes Krankheitsbild zu der oder jener Krankheitseinheit gehört. Diese vergeblichen klassifikatori- schen Bestrebungen haben schliesslich in manchen Kreisen einen Pessi- mismus hervorgerufen, auf diesem Wege, soweit die endogenen Psychosen in Betracht kommen, überhaupt weiter zu kommen, einen Pessimismus, dem Hoche vor einigen Jahren einen unumwundenen Ausdruck ver- liehen hat. Während dieser an Wernicke’s und Kraepelin’s Namen an- knüpfenden Bestrebungen beschritten Nissl und Alzheimer einen neuen Weg zur Abgrenzung von Krankheitseinheiten in der Psychiatrie, den der pathologischen Histologie. Auf neuen Methoden Nissl’s basierend, war dieser Weg zweifellos mühsam und dornenvoll. Die schwer zu deutenden mikroskopischen Bilder stellten an die Kritik und die Ge- staltung der Versuchsbedingungen ausserordentliche Anforderungen, und was das Ziel betraf, so wurde es von fast allen Seiten a priori mit grosser Sepsis bedacht. Das erste Wirken Alzheimer’s, damals Assistent der Frankfurter Irrenanstalt, ist unzertrennlich mit dem Nissl’s verbunden, mit dem er 15 Jahre in freundschaftlich -wissenschaftlichem Verkehr gestanden hat, und dem er nach seiner eigenen gern bekannten Ueberzeugung in ihrer Bedeutung gar nicht genügend einzuschätzende Anregungen ver- dankte. Indessen die räumliche Trennung beider Forscher zeigt uns Alzheimer wachsend und auf eigenen Bahnen weiterschreitend. Seinen Ruf in der wissenschaftlichen Welt als einer der beiden Führer der pathologischen Anatomie hat Alzheimer durch seine Forschungen über die Paralyse begründet. Seine zusammenfassende Arbeit darüber er- schien 1904 gleichzeitig mit der Nissl’s über den gleichen Gegenstand unter dem Titel: Histologische Studien zur Differentialdiagnose der pro- gressiven Paralyse. Das wesentliche Ziel dieser Arbeit war nicht der Versuch, die bei der Paralyse auftretenden Krankheitserscheinungen durch histologische Veränderungen zu erklären, und doch sind auch in dieser Richtung einige bemerkenswerte Ergebnisse insofern erzielt worden, als Alzheimer die chronischen verblödeten von den akuten Fällen unterscheiden lehrte, die Aufpflanzung frischer Schübe bei alten Fällen im histologischen Bild erkannte, gewisse besondere klinische Formen in Anlehnung an Lissauer auf besondere Lokalisation des paralytischen Prozesses zurück- führte und auch eine histologische Erklärung für den paralytischen Anfall in Gestalt einer rapiden lokalen Steigerung des Krankheitspro- zesses fand. Das Hauptziel Alzheimer’s ging aber dahin, die besonderen und konstanten Merkmale der Paralyse aufzufiaden, die diese Krankheit charakterisieren und von anderen klinisch ähnlichen unterscheiden lassen; mit anderen Worten eine histologische Differentialdiagnose zu ermöglichen. Es fehlte zwar schon damals nicht an wertvollen Ergebnissen der histologischen Paralyseforschung. So hatte 1884 Tuezek den Ausfall von Markfasern in bestimmten Systemen der Hirnrinde als ein konstantes und frühes Symptom der Krankheit beschrieben, 1895 Weigert die Ver- mehrung der Gliakerne und -fasern in der Hirnrinde gefunden, die er als Folge des primären Untergangs des nervösen Gewebes aufzufassen gelehrt hat. Und Nissl hatte Veränderungen an den Ganglienzellen feststellen können, die ebenfalls von Bedeutung waren, wenn sie sich auch nicht als spezifisch gerade für diesen Krankheitsprozess heraus- stellten. Alzheimer hat alles bis dahin Bekannte an einem Material von nicht weniger als 320 — darunter 170 Paralysefällen — nachgeprüft I. Abteilung. Medizinische Sektion. 3 und zusammengefasst, das Wesentliche vom Unwesentlichen getrennt, den sicheren Besitz durch eigene Ergebnisse bereichert und somit auf breiter Grundlage ein klassisches histologisches Bild der Paralyse ge- zeichnet, das noch heut im wesentlichen unangetastet dasteht und trotz einer Fülle neuerer Arbeiten nur in einzelnen Punkten eine Vervoll- ständigung erfahren hat, so bezüglich der rein degenerativen, von der „Entzündung“ unabhängigen Vorgänge, bezüglich der Fibrillenverände- rungen, gewisser Veränderungen des Kleinhirns bei der Paralyse hereditär Luetischer und schliesslich der Spirochätenbefunde im Gehirn. Die von ihm in ihrer Gesamtheit als charakteristisch ‚bezeichneten Kennzeichen: die Piainfiltration mit Lymphocyten und Plasmazellen, die Umscheidung der Rindengefässe mit den gleichen Zellarten (Alz- heimer hat als erster die Plasmazellen bei der Paralyse beschrieben), die Neubildung von Gefässen, die Veränderungen und Ausfälle der Nervenzellen, die Störung der Cytoarchitektonik, der Markscheidenausfall, die eigenartigen Wucherungsvorgänge an der Glia ermöglichen in allen Fällen die Diagnose der Paralyse und lassen sie ausschliessen, wenn diese Veränderungen nicht vorhanden sind oder in wichtigen Bestand- teilen fehlen. Die zur histologischen Differentialdiagnose herangezogenen Fälle haben auch ihrerseits wertvolle, zum Teil grundlegende Beiträge zur Anatomie der in Betracht kommenden Krankheiten: der Lues cerebri, der Arteriosklerose, der alkoholischen und senilen Demenz zutage ge- fördert. Die Rückwirkung dieser Untersuchungen auf die Klinik ist nicht hoch genug einzuschätzen. Die ätiologische und klinische Ein- heit der Paralyse gewann dadurch ihre wichtigste Stütze. Sprach man früher von dem Uebergang der verschiedensten Psychosen in Paralyse, glaubte man, dass neben der Lues auch der Alkohol, das Blei und andere ätiologisehe Momente u. a. die Paralyse bedingen konnten, so wurde es jetzt ein allgemeiner und unbestreitbarer Besitz, dass die Paralyse eine in sich geschlossene Krankheitseinheit ist, und dass die Verände- rungen, die z. B. der Alkoholdemenz entsprechen, sich ohne Schwierig- keit von der Paralyse unterscheiden liessen, dass somit diese beiden Krankheiten nichts anderes gemein haben als eine gelegentlich weitgehende klinische Aehnlichkeit. Die Möglichkeit, die klinischen Beobachtungen nunmehr anatomisch zu kontrollieren, hat ausserdem rückwirkend auch für die klinische Er- kenntnis reiche Früchte getragen. Ich will über Alzheimer’s Anteil an der Erforschung einiger anderer Krankheiten etwas flüchtiger hinweggehen, um am Ende wieder länger bei dem bedeutungsvollsten und zugleich eigensten Teil seiner Arbeiten zu verweilen. Der Epilepsie, über die Sie am gleichen Ort im Jahre vor dem Kriege einen mit soviel Beifall aufgenommenen Vortrag von ihm gehört haben, hat Alzheimer seit 1893 ein besonderes Interesse zugewendet. Sie bot ein um so aussichtsreicheres Feld für den Histologen, je grössere Schwierigkeiten für die klinische Abgrenzung bekanntlich darin bestanden, dass das Hauptkriterium — der epileptische Anfall — als ein Attribut so vieler und unter sich verschiedenartiger Krankheiten mehr und mehr erkannt wurde. Auch hier waren gewisse Veränderungen bereits bekannt, die aber wegen ihrer Beschränkung auf eine Minderzahl von Fällen und wegen der Unklarheit ihrer Deutung nicht allzu viel zur Klärung der Frage beitragen konnten. Beides bezieht sich sowohl auf die seit langem bekannte, aber nur in einer Minderzahl der Fälle beobachtete Sklerose des Ammonshorns — über deren Beziehung zu den Erscheinungen der Epilepsie wir über- dies gar nichts wissen —, wie auf die Vermehrung der Glia in der 1 4 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. oberen Rindenschicht, auf die Chaslin und Weigert aufmerksam ge- macht hatten und auf die letzterer seine Theorie von der primären Wucherung der Glia bei der Epilepsie begründet hatte. Alzheimer hat das Verdienst, durch seine an einem grossen Material vorgenommenen Untersuchungen zur Frage der engeren Um- grenzung der genuinen Epilepsie wichtige Beiträge geliefert zu haben und dann die Befunde bei der genuinen Epilepsie selbst unter Heran- ziehung eigener neuer Ergebnisse in ein klares Licht gesetzt zu haben. Die Formen, die sich von der genuinen Epilepsie histologisch abtrennen liessen, waren die sogenannte atrophische Sklerose (eine durch Alkohol- und Bleiintoxikation bedingte Gruppe von Fällen), die arteriosklerotische, die luetische, die durch herdförmige Erkrankungen bedingte und die im Geleit von Entwicklungsanomalien (Status verrucosus, hypertrophische Sklerose) auftretende Epilepsie. Als Hauptbefunde bei der nunmehr schon erheblich schärfer umgrenzten genuinen Epilepsie beschrieb er neben der bekannten Verdichtung der oberflächlichen Gliaschicht auch die der Glia der Markleisten, eine verbreitete Schrumpfung der Ganglien- zellen in den oberen Schichten in Verbindung, mit einer Störung der Architektonik, den Schwund einer nicht unerheblichen Menge von Mark- scheiden. Die Anordnung der Gliavermehrung, die Anpassung derselben an den normalen Aufbau, die die gewucherte Glia nur wie eine Verstärkung der normalen Strukturen erscheinen lässt, gaben ihm Veranlassung, die Weigert’sche Theorie von der primären Natur der Gliawucherung an- zugreifen und ihre sekundäre Natur zu betonen, eine Auffassung, die später fast allgemeine Verbreitung gefunden hat. Die gefundenen Veränderungen konnten als der histologische Aus- druck der epileptischen Demenz betrachtet werden, die in ihrer Eigen- art sich auch als klinisch viel bedeutungsvoller herausstellte, als das accidentelle Phänomen des epileptischen Anfalls. Auch für die akuten epileptischen Zustände — insbesondere den Status epilepticus — fand Alzheimer einen histologischen Ausdruck in Gestalt einer lebhaften Wucherung der amöboiden Glia — ein Vor- gang, auf den ich noch ausführlicher zu sprechen komme —, von Kern- teilungsfiguren und Abbauvorgängen an Nervenzellen und -fasern. Wenn gerade diese Fälle deshalb bisher so rätselhaft gewesen waren, weil sich für die schweren, unter Umständen zum Tode führenden Erscheinungen gar kein objektiver Befund hatte feststellen lassen, so wurde nun einiges Licht in dieses Dunkel geworfen und zugleich auch eine Erklärungs- möglichkeit für gewisse, nach epileptischen Anfällen vorübergehend zu beobachtende Ausfallserscheinungen in den Projektionssystemen angebahnt. Dagegen hat Alzheimer darauf verzichtet, die epileptischen Ent- ladungen selbst auf die von ihm gefundenen Veränderungen direkt beziehen zu wollen. Wesentlich beteiligt ist Alzheimer bei der histologischen Er- forschung der anderen hirnatrophischen Prozesse, vor allem der Arterio- sklerose und der senilen Demenz. Bezüglich der Arteriosklerose ist er, unabhängig von Binswanger, 1894 zu ähnlichen Ergebnissen wie dieser betreffend die Abgrenzung einzelner Formen gelangt. Auch die Histologie der präsenilen und senilen Verblödungsprozesse verdankt ihm wesentliche Bereicherungen durch Arbeiten, die zum Teil noch den jüngsten Jahren seines Schaffens angehören. Es würde zu weit führen, an dieser Stelle alle sich darauf beziehenden Ergebnisse zu beleuchten, die wiederum eine wichtige Stütze der auch klinisch wohl- begründeten Trennung der arteriosklerotischen von den Altersverände- N NEE I. Abteilung. Medizinische Sektion. 5 rungen des Gehirns. bilden, von denen die letztere Gruppe zu viel allgemeineren geistigen Defekten führt als die erstere. Nur eine Er- krankungsgruppe möchte ich besonders herausgreifen, weil sie Alz- heimer’s Namen trägt. Es handelt sich um seltene Fälle im Prä- senium, etwa in den 40er Jahren auftretender und ziemlieh rasch zu tiefster Verblödung führender Erkrankungen, die darum klinisch so interessant und für weitere Forschungen aussichtsreich erscheinen, weil sich neben der geistigen Schwäche agnostische, asymbolische, apraktische Symptome zeigen, die an der Grenze rein psychisch-associativer und lokalisierbarer Herdsymptome sich bewegen, somit vielleicht in noch höherem Grade als die durch grobe Herderkrankung bedingte Aphasie und Apraxie Einblicke in die Werkstätte seelischer Funktionen gestatten. Als einheitliche anatomische Grundlage dieser Fälle fand Alz- heimer ähnliche Veränderungen wie bei der senilen Rindenverödung in ihrer schwersten Form: sehr zahlreiche Drusen, Absterben eines Drittels aller Ganglienzellen, massenhafte Fibrillenknäuel an Stelle der ab- gestorbenen Zellen und lebhafte Abbauvorgänge. Die Aufteilung der Idiotie, die früher einen ziemlich undifferenzierten Sammelbegriff darstellte, in voneinander abgrenzbare, im Wesen ver- schiedene Formen hat Alzheimer seit langem und bis in die jüngste Zeit lebhaft beschäftigt. Ueber einen kleinen Teil seiner Ergebnisse hat er gelegentlich hier berichtet und Ihnen sehr lehrreiche Abbildungen zeigen können, die sich auf die Unterscheidung der durch Entwicklungs- hemmungen von den durch früh auftretende Daran un 2 des Gehirns bedingten Formen der Idiotie bezogen. Fast alle bisher geschilderten Fortschritte bezogen sich aber auf das Gebiet der hirnatrophischen Prozesse, während das grosse Gebiet der funktionellen Psychosen nach wie vor unangetastet geblieben war, obgleich manches dafür sprach, dass auch hinter diesem grossen Sammel- gebiet organisch bedingte Krankheiten verborgen sein mochten. In dieses Chaos einiges Licht zu bringen, war Alzheimer’s nächstes Ziel, und da die alten Methoden versagten, suchte er nach neuen Wegen. Das Studium der Ganglienzellveränderungen, von Nissl angeregt und zu einer ungeahnten Feinheit in der Differenzierung emporgehoben und anfänglich auch — ohne Schuld des Entdeckers — mit übergrossen Erwartungen begrüsst, hat dieselben nicht ganz erfüllt. Die von Nissl bei den experimentellen Studien über subakute Vergiftung gefundene Tatsache, dass die verschiedenen Gifte verschiedene Zellarten angreifen und auch qualitativ verschieden einwirken, eröffneten zunächst die Aus- sicht, auf diesem Wege zur differentialdiagnostischen Unterscheidung grösserer Gruppen von Psychosen zu gelangen. Es zeigte sich indessen, dass die gefundenen Unterschiede sich schon bei chronischen Vergiftungen vermischten, und dass die Vorgänge, wie sie sich bei infektiös-toxischen Prozessen in der Hirnrinde abspielten, im allgemeinen keinen Rück- schluss auf die spezielle Genese der Erkrankung zuliessen, eine Erkennt- nis, zu der Bonhoeffer später auch auf Grund klinischer Analyse ge- langt ist. (Immerhin hatten diese Untersuchungen den Erfolg, dass sie eine pathologische Anatomie der die Infektionen und Intoxikationen be- gleitenden Geistesstörungen anbahnten.) Die Darstellung der Achseneylinder und Markscheiden konnte ferner teils wegen der Geringfügigkeit der Ausfälle, teils wegen der mangel- haften Darstellung der allerfeinsten Strukturen keine wesentliche Förde- rung für die Erforschung der „funktionellen Psychosen“ erwarten lassen. Schliesslich erwies sich auch die Weigert’sche Gliamethode als un- geeignet für diesen Zweck. Die Lehre Weigert’s, dass überall, wo Nervengewebe zugrunde geht, Gliafasern sich bilden, so dass man das pathologische Auftreten der letzteren als Maassstab für den Ausfall des 6 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. ersteren verwenden könne, hat sich als nur teilweise zutreffend heraus- gestellt insofern, als bei manchen Erkrankungen zweifellos Nervengewebe zugrunde geht, ohne dass gleichzeitig Gliafasern gebildet werden; ja es zeigte sich sogar, dass auch die letzteren in dem Absterbeprozess mit hineingezogen werden können. - Von der Tatsache ausgehend, dass die bis dahin bekannten Methoden nur einen Teil des unendlich verwickelten Aufbaus des Centralnerven- systems darzustellen vermochten, und in der Erwartung, dass die Dar- stellung neuer Strukturen vielleicht weitere Fortschritte bringen könnte, wandte sich Alzheimer dem Studiam des protoplasmatischen Anteils der Glia zu. Schon Nissl hatte den Gliazellen und ihren Veränderungen eingehende Beobachtung geschenkt, seine Methode vermochte aber nur einen teilweisen Einblick in die Struktur derselben — hauptsächlich nur Kernbilder — zu gewähren. Alzheimer’s Untersuchungen fussten auf Feststellungen Held’s, wonach — abgesehen von den Zellen und Fasern — die Glia noch ein das ganze Nervensystem durchziehendes zusammenhängendes Syneytium bildet. Die Darstellung gerade dieser Struktur nahm Alzheimer teils mit Hilfe bereits bekannter Methoden von Held, Apathy, Herx- heimer, teils auch in der Technik eigene Wege wandelnd, in Angriff, und er ist zu Ergebnissen über die normale und pathologische Anatomie und Biologie der Glia gelangt, die er selbst zu ausserordentlich bedeut- samen Nutzanwendungen ausbaute, und die seitdem Anregung zu weiteren Arbeiten allenthalben in der Welt gegeben haben. Die Forschungen und Erfahrungen Alzheimer’s sind in seiner grundlegenden Arbeit: „Beiträge zur Kenntnis der pathologischen Neuro- glia und ihre Beziehungen zu den Abbauvorgängen im Nervengewebe“ aus dem Jahre 1910 zusammenfassend niedergelegt. Das Studium frischer akuter Krankheitsfälle liess mit den neuen Methoden erkennen, dass in den frühesten Stadien gleichzeitig oder selbst vor den erkennbaren Veränderungen am nervösen Gewebe in der Glia Vorgänge bis dahin unbekannter Art sich abspielen, welche zu einem Zerfall alter Strukturen von Zellen und Fasern führen. Gleichzeitig entstehen durch Umbildung anderer Gliazellen massen- haft neue Formen von Zellen, die er als amöboide Glia nach ihrer Gestalt benannt hat. Die amöboiden Zellen sind somit Gebilde, die mit der Stützfunktion der Glia nichts zu tun haben, also auch keine Fasern bilden. Sie gehen nach kurzem Leben zugrunde — aber nicht ohne eine wichtige biologi- sche Aufgabe erfüllt zu haben. Diese Aufgabe ist nichts anderes als der Abbau durch die Krank- heit untergehender nervöser Formationen. Die absterbenden nervösen Gebilde ziehen die amöboiden Gliazellen an, die in dem verflüssigten Gewebe beweglich werden. Die letzteren üben dann ihrerseits eine verflüssigende Wirkung auf die betreffenden nervösen Strukturen aus und nehmen die gelösten Bestandteile in sich auf, um sie dann in ihrem Körper als besondere Granula wieder ab- zuscheiden. Dem Studium dieser Granula, die Alzheimer mit besonderen Methoden zum Teil im Anschluss an Reich darstellte, galt ein wesent- licher weiterer Anteil der Arbeit. Die neuen Färbungen liessen Granula verschiedener Herkunft und verschiedener Stadien der chemischen Um- wandlung erkennen, die lipoiden Abbauprodukte des Markes liessen sich von den protoplasmatischen Zwischenprodukten des Zellverfalls unter- scheiden. Auf der Höhe der Entwicklung zerfallen die amöboiden Zellen. Die Granula gelangen in den Lymphstrom und werden den perivascu- lären Lymphräumen zugeführt, wo sie von mesodermalen, wesentlich der U IE I. Abteilung. Medizinische Sektion. M Adventitia entstammenden Elementen aufgenommen und weiter abgeführt werden. Dabei ist zu bemerken, dass auch die protoplasmatischen Ab- bauprodukte am Ende in lipoide Substanzen übergeführt werden. So säubern die amöboiden Zellen das Nervengewebe von Abfallstoffen, wandeln diese in unschädliche Stoffe um und führen sie den meso- dermalen Geweben zu. Der von Alzheimer beschriebene "Typus des Abbaus im Nerven- gewebe ist nicht der einzige. Bekannt waren bereits der mesodermale, 'von den Gefässen ausgehende Typus und eine andere Form des ekto- dermalen, ebenfalls von der Glia ausgehenden, aber durch die Bildung von Körnchenzellen ausgezeichneten Abbaus der Zerfallsprodukte (Sehroeder). Diese beiden letztgenannten Typen bilden aber die Reaktion weit gröberer Zerfallsvorgänge im Nervensystem als der amö- boide. So erscheint der letztere gerade für das Eindringen in das Ver- ständnis der eigentlichen Psychosen mit den zu erwartenden feinsten Veränderungen allein geeignet. Diese Anwendung, die Alzheimer vor allem als Ziel seiner Bestrebungen vorgeschwebt hat, hat neben inter- essanten Ergebnissen bei ganz verschiedenartigen Erkrankungen des Centralnervensystems die pathologische Anatomie einer Geisteskrankheit begründet, die zu den umstrittensten der ganzen Psychiatrie gehört und deren Auffassung — ob funktionell oder organisch — in lebhaftem Schwanken begriffen ist, der Dementia praecox. In einer Zeit, wo Bleuler die Zurückführung des hebephren-katatonischen Defektes auf eigenartige, rein psychologische Mechanismen proklamierte, waren die an einer grösseren Reihe von Fällen gefundenen übereinstimmenden histologischen Befunde von ganz besonderem Interesse. Die letzteren schufen — soweit sie auf dem Studium der amöboiden Glia basieren — eine anatomische Grundlage allerdings nur für die akuten Zustände dieser Art, vielleicht auch für die dabei gelegentlich auftretenden apo- plektiformen Todesfälle. Den letzteren stand man früher bezüglich ihrer Deutung ganz ratlos gegenüber, bis Reichard seine Methode auf Grund der Hirnwägung die Schwellung des Organs dafür verantwortlich machte. Auf ganz verschiedenem Wege sind somit Reichard und Alzheimer zu einem gleichen Resultat gelangt, da sich ohne weiteres annehmen lässt, dass auch die von Alzheimer gefundene Vermehrung der amö- boiden Glia mit einer erheblichen Volumvermehrung des Gehirns ver- bunden sein müsse. Die chronischen Fälle der Dementia praecox aber lassen nichts oder nicht mehr von dem genannten Typus des akuten Abbaus erkennen, aber seine Folgen sind in Gestalt deutlicher Ausfälle wenigstens bei Fällen schwerer Verblödung nachweisbar, an deren Erforschung Alz- heimer ebenfalls vorwiegend beteiligt war. Die Ausfälle funktionstüchtigen Gewebes lassen sich in geeigneten Fällen in Form einer erheblichen Lichtung vor allem in der 2. und 3. Zellschicht der Rinde oder in einer umfangreichen Sklerosierung und lipoiden Entartung der betreffenden Zellen erkennen. Auch die Abbau- produkte sind oft noch lange Zeit nach akuten Stürmen des Krankheits- prozesses in den Gefässscheiden nachweisbar. Dadurch sind die Grundlagen einer pathologischen Anatomie der Dementia praecox in akuten und chronisch-defekten Stadien gewonnen. Sie sind gewiss, wie Alzheimer stets betont hat, noch weiteren Aus- baus bedürftig, aber doch sehon jetzt in hohem Grade bedeutungsvoll und gelegentlich auch bereits differentialdiagnostisch gegenüber dem manisch-depressiven Irresein verwertet worden. Die Rückwirkung dieser Befunde auf die klinische Auffassung des schizophrenen Defektes wird vermutlich gegenüber Bleuler’s Deutung desselben nicht ausbleiben. Ss Jahresbericht der Sehles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. M.H.! Die Forschungsrichtung, in der sich Alzheimer’s: Arbeiten bewegten, ist aus dieser flüchtigen Skizze seines Lebenswerkes klar zu erkennen. Sie ist eine durchaus naturwissenschaftliche und strebt da- nach, so weit es die Grenzen menschlicher Erkenntnis zulassen, für die psychischen Krankheiten auch einen natürlichen Ausdruck zu finden in pathologisch-anatomischen Veränderungen des Gehirns. Dieses Streben ist gewiss nicht neu, aber während die meisten vor Nissl und Alz- heimer die Grenzen dieses Weges der Erkenntnis zu eng steckten, sehoben diese beiden Forscher sie weit hinaus. Alzheimer sah nach seiner ganzen Denkungsart das Unzulängliche nicht in der Sache, sondern in den unvollkommenen Methoden der Forschung und war stets und, wie wir gesehen haben, mit grossem Erfolge an deren Verbesserung beteiligt. Dennoch verlor er niemals den Blick für die natürlichen Schranken auch seiner Arbeitsrichtung und verzichtete darauf, psychotische Vor- gänge, psychopathologisches Geschehen überhaupt mit seinen histologi- schen Befunden in direkte Beziehungen zu setzen, eine Verlockung, der Kraepelin, auf Alzheimer’s histologischen Befunden bei der Dementia praecox fussend, in geistvoller, aber ganz hypothetischer Weise in der letzten Auflage seines Lehrbuches gefolgt ist. Wie sehr ein derartiges Bestreben von manchen Seiten in Acht und Bann getan wird, ist bekannt. Gerade darum wurde ja die Anwendung pathologisch-histologischer Forschung auf das Gebiet der Geisteskrank- heiten für aussichtslos gehalten, weil wir schon normalerweise von einer Beziehung psychischer und physischer Vorgänge nichts wissen. Es bedurfte einer neuen, davon abweichenden Fragestellung, um den Nutzen der für alle anderen Krankheiten anerkannten pathologischen Anatomie auch für die Psychiatrie zu erweisen, und es ist nächst Nissl’s hauytsächlich Alzheimer’s Verdienst, diese neue Fragestellung gefunden zu haben, welche das Fatum der Aussichtslosigkeit von diesem Forschungs- gebiet nahm. Indem Nissl und Alzheimer alle Gewebsteile mit grösster Ge- nauigkeit durchforschten, suchten sie auch nach den geringsten Abwei- chungen derselben von der Norm und dann nach der Gesetzmässigkeit solcher Abweichungen bei bestimmten, auch klinisch zusammengehörigen Erkrankungen. Der Erfolg war die differentialdiagnostische Abgrenzung einer Reihe von Krankheitseinheiten, deren klinische Trennung schwierig und manch- mal unmöglich erschien. Die fördernde Rückwirkung der pathologischen Anatomie auf die Klinik versuchte ich jedesmal hervorzuheben; denn das verdient besondere Betonung, dass ebenso wie Nissl auch Alzheimer ihre histologische Arbeit in engster Fühlung mit der Klinik durehführten, von deren Un- zulänglichkeit und Bedürfnissen einerseits, von deren festen Errungen- schaften anderseits sie infolge einer jahrzehntelangen praktisch-psychi- atrischen Tätigkeit durchdrungen waren. Die Erkennung der Grenzen des eigenen speziellen Arbeitsgebiets hat auch zur Folge gehabt, dass Alzheimer kein anderes gering achtete und an seiner Klinik grossen Wert auf die Pfiege der Arbeitsmethoden der neuesten Zeit, der Sero- diagnostik nach Wassermann und Abderhalden, der Spirochäten- forschung legte und sich für die daraus entspringenden Errungenschaften nicht weniger interessierte wie für die eigenen. Alzheimer’s klinische Anschauungen sind durch anatomische Gedankengänge naturgemäss bestimmt worden. Er schloss sich bezüglich der Systematik dem Ergebnis, zu dem Kraepelin aus ätielogisch- symptomatologischen Prinzipien gelangt war, an, der Anerkennung einer Reihe durch Ursachen, Verlauf, Ausgang und pathologisch-anatomischen Befund gekennzeichneter Krankheitseinheiten. Und andererseits hatte I. Abteilung. Medizinische Sektion. 9 er die Genugtuung, dass Kraepelin, in konsequenter Durchführung eigener Ideen, der pathologischen Anatomie, indem er sich dabei vor- - wiegend auf Alzheimer’s Befunde stützte, in weitestem Umfang Eingang in seine neueste Darstellung der Psychiatrie verschafft hat. Noch vor wenigen Jahren in Kiel hat Alzheimer Gelegenheit ge- nommen seinen klinischen Standpunkt in einem Referat über die Be- deutung der Symptomenkomplexe in der klinischen Psychiatrie gegenüber dem abweichenden Standpunkt Hoche’s zu vertreten. Hoche wollte neben den bisher zweifellos als organisch erkannten Geisteskrankheiten in der Psychiatrie nur gewisse Symptomverkuppelungen gelten lassen, die in der gleichen Form durch die verschiedensten Ursachen ausgelöst werden und somit als Einteilungsprinzip keineswegs gelten können. Alzheimer konnte für seinen Standpunkt die bisherigen Erfolge der Histologie geltend machen, die auf so vielen Gebieten Ordnung in die bestehende Unordnung gebracht hatten und die in der Abgrenzung der Einheiten der Paralyse, Lues, Arteriosklerose, Dementia senilis, Epilepsie, der Infektions- und Intoxikationspsychosen und schliesslich der Dementia praecox so offenkundig zu Tage traten. Sie lassen nach seiner Meinung auch für die übrigbleibenden — der Histologie aus inneren Gründen unzugänglichen, eigentlich funktionellen — Psychosen die Aussicht auf eine theoretisch brauchbare und praktisch nützliche Trennung von Krankheitseinheiten in Form von verschiedenen Entartungsrichtungen rege erhalten. Dem Pessimismus Hoche’s setzte er einen Optimismus gegenüber und die Gesamtheit seines Lebenswerkes hat ihn dazu berechtigt, auch dann, wenn seine Auffassung über die Abtrennbarkeit verschiedener Entartungsrichtungen und die Möglichkeit, darauf eine Einteilung der funktionellen Psychosen zu begründen, sich einmal als irrig erweisen sollte. Sein Werk ist unvollendet geblieben. Alzheimer ist aus ver- heissungsvollem Schaffen durch einen vorzeitigen Tod abgerufen worden. Es scheint, dass auch sein Buch über die pathologische Anatomie der Geisteskrankheiten, von allen Fachgenossen sehnlich erwartet, unvollendet geblieben ist, das den Niederschlag seines bisherigen wissenschaftlichen Lebens in einer die eigenen und fremden Erfahrungen zusammenfassenden kritischen und abgeklärten Form enthalten sollte. Neue Entwürfe be- schäftigten ihn vor allem für eine umfassende Bearbeitung der Idiotie, als eine fortschreitende Krankheit, die einst so urwüchsige, niemals müde Kraft in immer schwerere Ketten zwang. Was er geleistet hat, wird seinen Namen für alle Zeit untrennbar mit der Psychiatrie verbinden, und was er zu eignem grossen Leid un- vollendet zurücklassen musste, werden seine Schüler, die sein Ruf und seine Persönlichkeit aus der ganzen Kulturwelt anzog, hoffentlich voll- enden und weiter ausbauen. I. Cystoskopie und Bestrahlungserfolge beim in- operablen Uteruscarcinom. Von Priv.-Doz. Dr. Fritz Heimann. Die hervorragende Bedeutung, die die Cystoskopie bei der operativen Behandlung des Gebärmutterkrebses besitzt, ist wohl jetzt allgemein anerkannt. Einer der Ersten, der cystoskopische Untersuehungen der Harnblase bei an Uteruscarecinom erkrankten Frauen anstellte, war Kolischer in Wien. Seine Befunde wurden durch Winter kontrolliert, ergänzt und vermehrt. Von anderen Autoren, die sich grosse Verdienste auf diesem Gebiete erworben haben, sind zu nennen un. a. Zangenmeister!), Fromme?), Stöckel®), Werner“) und besonders Hannes°). Letzterer hat an dem grossen Material der hiesigen Klinik die Uteruseareinome vor der Operation eystoskopisch untersucht und später bei der Operation seine Befunde auf das Genaueste kontrolliert; dadurch gewinnen seine Untersuchungen auch so an Bedeutung. Die Cysto- skopie bietet uns, wie er sagt, eine Handhabe zu erkennen, ob das Messer blasenwärts wird weit vordringen müssen, ob eventuell ein Stück der Vesica zu Gunsten der Radikalität wird geopfert werden müssen. Ja nach eingehender Funktionsprüfung der Nieren wird uns der Ausfall derselben gemeinsam mit der Cysto- skopie immer sagen können, ob der Fall operabel ist oder nicht. Zusammenfassend kommt Hannes zu dem Schluss, dass es unbe- dingt zweckentsprechend ist, jedes Cervixcarcinom zu eystosko- pieren, da man aus dem erhobenen Befund Rückschlüsse auf die Beschaffenheit des Septum vesico-vaginale ziehen kann. Was den Grad und die Schwere der Veränderung anbetrifft, so möchte ich mich auf Grund meiner Erfahrungen der Hannes- 1) Festschr. f. Olshausen, 1905. 2) Mschr. f. Geburtsh., Bd. 27, H.2. 3) Lehrb. d. gyn. Cystoskopie, 1910. 4) Zschr. f. gyn. Urol, Bd. 5, Nr. 3. 5) Habilitationsschr., 1907. a u a BE En u a A a An, I. Abteilung. Medizinische Sektion. 11 schen Einteilung anschliessen. Die geringfügigsten Veränderungen der Blase bestehen in Vorwölbung des Blasenbodens, die rein mechanisch durch den darunterliegenden Tumor, eventuell auch durch einen retroflektierten Uterus bedingt ist. Oystitische Veränderungen, Auflagerung von Schleim, stärkere Injektion, verwaschene Gefässzeichnung, kleine unbedeutende Hämorrhagien können dazukommen. Sind die Veränderungen bereits intensiver, dann kommt es sowohl infolge der Stauungen, als auch infolge einer festeren Fixierung der Blase an die Cervix zu einem Oedem der ganzen Schleimhaut, das sich in Falten und Wulstungen der Schleimhaut manifestiert. Greift dieser Prozess weiter um sich, wird die Stauung intensiver, tritt eine erhebliche Abflussbehinde- rung ein, dann kommt es zum bullösen Oedem; wir sehen dann die blasenähnlichen Gebilde der Schleimhaut diesen Falten und Wulstungen aufsitzen. Ich halte also gleich Hannes, Zangen- meister und Heynemann das bullöse Oedem für eine schwerere Komplikation als das sogenannte Wandödem, während besonders Stöckel und Werner die gegenteilige Ansicht vertreten. Stöckel fasst das bullöse Oedem als eine durch Flüssigkeit hervorgerufene Abhebung des Blasenepithels auf, die gewöhnlich an einer eircum- skripten Stelle auftritt und durch ein in einer gewissen Entfernung von der Schleimhaut sich befindendes Zirkulationshindernis ver- ursacht wird, während das Wandödem eine Schwellung der Blasen- wand in ihrer ganzen Tiefe sei, gewöhnlich mehr diffus, auf eine grosse Strecke ausgebreitet, die Folge einer in nächster Nähe der Blase befindlichen Zirkulationsstörung. Sind die Veränderungen noch tiefgreifender, dann handelt es sich um tiefe Spaltbildungen mit Exsudationen, um drohende Perforationen, eventuell um schon ausgesprochene Fistelbildungen. Was die Ureteren anlangt, so ist bei der cystoskopischen Untersuchung natürlich nicht mit Sicherheit zu sagen, ob Kom- plikationen durch Umwachsung der Ureteren vorhanden sind. Man wird auf Schwellung und Vorwölbung des Orficiums auf die Art und Weise der Funktion achten müssen und wird daraus schon gewisse Schlüsse zu ziehen berechtigt sein. Die oben genannten Autoren haben nun sämtlich ihre cysto- skopischen Untersuchungen angestellt, um daraus Anhaltspunkte betrefis der Operabilität des Careinoms zu bekommen. Heyne- mann!) und Sigwart?2) haben diese Untersuchungen auch beim inoperablen der Strahlentherapie unterworfenen Uteruscarcinom angewendet. Sigwart konnte in einem Falle beobachten, dass bei einem mit Erfolg bestrahlten inoperablen Careinom das vor der Bestrahlung vorhandene bullöse ODedem verschwand. Heyne- mann verfügt über ein grösseres Material. Bei 22 Frauen waren ausgesprochene Veränderungen an den Harnorganen, die durch eystoskopische Untersuchungen festgestellt worden waren, vor- handen. Bei 8 Fällen war nach der Bestrahlung keine Aenderung zu bemerken, während bei 14 Fällen Veränderungen gesehen werden konnten, 7mal im guten, und 7mal im schlechten Sinne. 1) Strahlenther., Bd. 5, H.1, S. 100. 2) Zbl. f. Gyn., 1913, S. 1675. 10 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Heynemann kommt zu dem Schluss, dass Blasenverände- rungen und Touchierbefund nicht immer streng Hand in Hand zu gehen brauchen; jedoch kann in einer Anzahl von Fällen der Nachweis der Blasenveränderungen bei der Beurteilung des Falles und der Wahl des weiteren Vorgehens von praktischer Bedeu- tung sein. Aus diesem Grunde habe ich systematisch an unserem grossen Material inoperabler Carcinome die Blasenveränderungen, die sich im Laufe der Bestrahlung nach der guten oder schlechten Seite hin eingestellt haben, studiert und sie besonders mit dem Touchier- befund verglichen, um zu erforschen, ob man der Cystoskopie nicht auch hierin eine grössere Bedeutung für die Aussichten der Behandlung beimessen könnte. Bisher habe ich etwa 40 Fälle, bei denen sämtlich recht erhebliche Blasenveränderungen zu kon- statieren waren, zu meinen Untersuchungen herangezogen. Ich will hier auf die Technik der Bestrahlung nicht eingehen; nur so viel sei gesagt, dass ich zwischen den einzelnen Serien, die gewöhnlich aus 3—4 Mesothoreinlagen zu 50 mmg 10— 24 Stunden hindurch und 10—12 Röntgensitzungen (50—60 X pro Sitzung) bestehen, eine Pause von 4—5 Wochen eintreten lasse. Aus diesem Grunde ist es mir möglich gewesen, manche Patientinnen 5—6mal zu untersuchen und die einzelnen Phasen genau zu verfolgen. Zum besseren Verständnis will ich auf einige Befunde näher eingehen. Fall 1: Frau F. 49 Jahre. 29. VIII. Portio in einen hühnereigrossen, etwas zerfallenen Cauli- flower umgewandelt. Bei Berührung stark blutend. Parametrien, beider- seits infiltriert, rechts mehr als links. Cystoskopie: Wenig fassende, nach hinten verzogene Blase, sehr starke Vorwölburg des Trigonums, ausgesprochene Querfaltung und Wul- stung, starke Gefässinjektion, Ureteren nicht zu Gesicht zu bringen. 4. X. Die Scheidenwände haben sich blindsackartig aneinander ge- legt; nichts mehr vom Careinom zu tasten. Parametrien vielleicht etwas weicher geworden. j Cystoskopie: Blase nach rechts und hinten verzogen. Trigonum noch etwas vorgewölbt. Ligamentum interuretericum etwas erhaben, linker Ureter gerade zu Gesicht zu bringen, reagiert normal, desgl. der rechte Ureter, beide noch wie auf einem Abhang gelegen. Fall 2: Frau J., 51 Jahre. 17. IV. Cervix-Kanalcareinom, ziemlich grosser Krater, beide Para- metrien stark infiltriert. Blase: Sehr starke Vorwölbung des Trigonums, verwachsene Gefäss- zeichnung, linker Ureter auf der Höhe eines Buckels, tiefe Einziehung (drohende Perforation), rechts ausgesprochenes bullöses Oedem, ziemlich ausgebreitete Hämorrhagien, rechter Ureter nicht zu Gesicht zu bringen. 29. V. Krater noch angedeutet, jedoch völlig epithelialisiert, keine Blutung, keine Sekretion, Parametrien noch unverändert. Blase stark nach hinten verzogen, Trigonum noch etwas vorgewölbt. Schleimhaut narbig aussehend. Ureteren nicht deutlich zu erkennen. 12. VII. Vagina weit, in Fingertiefe eine ringförmige Verengung. Neubildung der Portio, die man hinter dieser Verengung fühlt; keine Blutung, keine Sekretion, Parametrien entschieden weicher geworden. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 13 Blase: Trigonum noch wenig vorgewölbt, mässig starke Injektion, beide Ureteren gut zu Gesicht zu bringen, in guter Funktion. 31. VIII. Scheideneingang besonders rechts druckschmerzhaft, kein besonderer Befund. Scheide etwas infiltriert, Portio neugebildet. Para- metrien wie bei der letzten Untersuchung. Blase bis auf eine geringe Vorwölbung des Trigonums völlig normal. Fall 3: Frau L., 36 Jahre. 10. X. Jauchender Zerfallskrater, Ränder hart infiltriert, bröcklig. Blutung, Sekretion. Parametrien, besonders rechts, stark infiltriert. Blase: Enorme Vorwölbung des Trigonums, beginnende Querfaltung, Ureteren nicht zu Gesicht zu bringen. 15. XI. Krater verschwunden, Neubildung einer vorderen Mutter- mundslippe, hinten eine narbige, nach links sich erstreckende Falte, keine Blutung, keine Sekretion. Parametrien sicher weicher geworden. Trigonum nur wenig vorgewölbt, Ureteren an normaler Stelle, sonst 0. B. Fall 4: Frau M., 53 Jahre. 1. VI. Jauchendes Cervixcarciom. Parametrien beiderseits stark in- filtriert. Blase nach hinten und links verzogen, Trigonum vorgewölbt, sehr ausgedehntes bullöses Oedem. Schleimhautblutungen, Ureteren nicht zu Gesicht zu bringen. 19. VII. Es besteht noch ein fingergliedtiefer Krater, Wände glatt, nicht bröckelig, die bei Berührung nicht mehr bluten. Parametrien noch infiltriert. Trigonum noch etwas vorgewölbst, Schleimhaut narbig aussehend, kein bullöses Oedem mehr. Ureteren zu Gesicht zu bringen. 21. IX. Scheidenwände blindsackartig verklebt, keine Blutung, keine Sekretion, Parametrien zarter. Blase: Etwas trübe Zeichnung, sonst o. B. 6. XII. Scheide glatt, Wände, besonders oben, verklebt, nichts mehr von einem Carcinom zu tasten, rechts eine kleine etwa linsen- grosse Rauhigkeit, nicht blutend. Normale Blase, geringe Schleimauflagerung. Fall 5: Frau Schw., 38 Jahre. 27. VII. Sehr ausgedehntes Cervixkanalcareinom, sehr grosser Krater, jauchende Sekretion, starke Blutung. Parametrien, besonders rechts, stark infiltriert. Blase: Sehr starke Vorwölbung des Trigonums, Querfaltung, begin- nendes bullöses Oedem rechts, linker Ureter gut zu Gesicht zu bringen, rechter nicht zu sehen. 14. X. Krater geschwunden, die Scheidenwände bilden einen Blind- sack, Blutung und Sekretion fehlen, Parametrien rechts weicher geworden. Trigonum kaum noch vorgewölbt, nichts mehr von Querfaltung oder Oedem zu sehen, an diesen Stellen etwas verwischte Gefässzeichnung, Ureteren beiderseits gut zu Gesicht zu bringen. 22. XI. Scheide vollkommen glatt, 0. B. Parametrien rechts nur noch gering infiltriert. Blase: Etwas Injektion, sonst normal. Fall 6: Frau St., 41 Jahre. 6. V. Portio in einen faustgrossen zerklüfteten Tumor umgewandelt. Parametrien stark infiltriert, keine Blutung, keine Sekretion. Blase völlig nach rechts verzogen. Trigonum sehr stark vorgewölbt. Auf der Höhe des. Trigonums bullöses Oedem, Ureteren nicht zu Gesicht zu bringen. 25. VI. Befund kleiner geworden. Keine Blutung, geringe Sekre- 14 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. tion, starke Vorwölbung des Trigonums, sehr starke Verziehung der Blase nach rechts, kein bullöses Oedem mehr. Ureteren gerade zu Ge- sicht zu bringen, wie auf einem Abhang gelegen, Gefässinjektion. 23. VII. Kraterbildung, jauchende Sekretion, Blutung, beginnende Verdünnung an der hinteren Scheidenwand. Blase: Trigonum stark vorgewölbt, ausgedehnte Querfaltung der Blase, Ureter links auf einer solchen Querfalte gelegen, Mündung ge- schwollen, klaffend, rechts nicht zu Gesicht zu bringen. Sehr starke Gefässinjektion. Es würde zu weit führen, sämtliche Krankengeschichten auf- zuführen. Wir können schon aus den oben genannten Beispielen ersehen, dass Aenderungen im Touchierbefund auch Aenderungen in dem cystokopischen Befunde erkennen liessen, wenn auch nicht immer ein strenger Parallelismus zwischen beiden Affektionen besteht. Es muss Heynemann zugestimmt werden, wenn er nur auf grobe Veränderungen in den cystoskopischen Befunden Wert legt. Handelt es sich um Entzündungsvorgänge, die zurückgegangen oder aufgetreten sind, so ist diesen Erscheinungen wenig Bedeu- tung beizumessen, da diese Zustände auch unabhängig von einer Krebserkrankung auftreten können. Anders verhält es sich mit dem Wandödem und dem bullösen Oedem, hier müssen, falls ein solches entstanden oder zum Schwinden gebracht worden ist, tiefgreifende Veränderungen in den Zirku- lationsverhältnissen aufgetreten sein, und diese Aenderungen können natürlich nur durch Umstände bedingt sein, die sich an der Ge- schwulst abspielen. Wir sehen im Falle 1 bei einem hühnereigrossen Cauliflower ein Wandödem der Blase, bei Rückbildung des carcinomatösen Effektes ist auch das Oedem vollkommen zurückgegangen, so dass wir es fast mit einer normalen Blase zu tun haben. Fall 2 zeigt dasselbe noch viel deutlicher. Der Genitalbefund verändert sich derart, dass aus einem grossen, jauchigen Krater ein völlig epithelialisierter, in nichts mehr an ein Carcinom erinnernder Scheidenblindsack — ein Befund, den man übrigens sehr häufig findet — wird. Auch die Parametrien fühlen sich weicher an; diese günstige Beeinflussung durch die Bestrahlung ist auch sehr deutlich an der Blase zu konstatieren, auch so schrittweise, wie es beim Genitalbefund der Fall ist. Das bullöse Oedem bildet sich all- mählich zurück, und nach der 4. Serie sehen wir eine ganz normale Blase. Besonders betonen möchte ich, dass wir hierbei niemals von einer Heilung sprechen wollen, diese unsere Ansicht ist ja bereits in einer Reihe von Arbeiten präcisiert worden. In ähnlicher Weise ist auch Fall 5 verlaufen. Auch hier konnten wir die ausserordentliche günstige Beeinflussung von Genital- und Blasenbefund erkennen. Auch das Umgekehrte, das Schlechterwerden des Befundes, wie wir es natürlich auch erleben, kann gut beobachtet werden. In Fall 6 sehen wir nach der I. Serie eine deutliche Besserung eintreten, und diese drückt sich an der Blase aus. Das bullöse I. Abteilung. Medizinische Sektion. 15 Oedem ist verschwunden, wenn auch noch starke Veränderungen vorhanden sind. Dieser Erfolg hält jedoch nicht an; bei der nächsten Serie sehen wir eine enorme Verschlechterung. Eine Kraterbildung mit jauchender Sekretion ist aufgetreten, und diese Verschlimmerung gibt sich in der Blase durch Auftreten eines ausgedehnten Wand- ödems kund. Wir werden selbstverständlich nicht verlangen können, dass Touchier- und Blasenbefund, wie ich bereits erwähnte, immer derart parallel miteinander laufen, dass aus einem von ihnen sofort ein Schluss auf den anderen gezogen werden kann. Eine dauernde Kontrolle der Blasenbefunde wird notwendig sein, und erst diese wird Rückschlüsse auf die Einwirkungen der Strahlen auf das Careinom gestatten. Wie wir stets hervorgehoben haben, sehen wir den Nutzen der Strahlen erst nach der Bestrahlungspause; erst wenn 3 bis 4 Wochen nach der ersten Serie vergangen sind, können wir den Einfluss der Strahlen konstatieren, und nach dieser Zeit wird es uns also erst möglich sein, eine Aenderung im Blasenbefund festzustellen. Ich möchte auf Grund meiner Studien zusammen- fassend sagen, dass eine dauernd fortgesetzte, cystoskopische Untersuchung der inoperablen Uteruscareinome sicher eine Kon- trolle über den Einfluss der Bestrahlung darstellt. IM. Uterusperforation mit Darmvorfall. Von Priv.-Doz. Dr. Fritz Heimarn. Die Uterusperforation bei Abortausräumung ist auch heute noch, wo Literatur und Belehrungen in umfangreichstem Maasse die Gefahren dieses geburtshilflichen Eingriffes schildern, kein seltenes Vorkommnis. Auch wir hatten Gelegenheit, vor einiger Zeit einen derartigen Fall von draussen eingeliefert zu bekommen. Wegen des grossen Interesses, das solche Fälle bieten, möchte ich mir gestatten, Ihnen davon Mitteilung zu machen. Es handelt sich um eine 34jährige Frau, die 3 spontane Geburten und eine Fehlgeburt durchgemacht hat. Die Wochenbetten waren stets afebril verlaufen. Jetzt war die Periode seit etwa 3 Monaten fort- geblieben; 10 Tage, bevor wir die Pat. sahen, hatten starke Blutungen eingesetzt, die angeblich einige Tage vorher den Abgang einer Frucht gezeitigt hatten. Die Blutung liess nicht nach, aus diesem Grunde wurde ärztliche Hilfe zugezogen. Jetzt wurde konstatiert, dass der Uterus vergrössert, der Muttermund für einen Finger durchgängig wäre. An der linken Tubenecke und an der vorderen Wand wären noch deutlich Placentarreste fühlbar gewesen. Die Entfernung derselben mit dem Finger hätte grosse Schwierigkeiten gemacht, und daher wäre zur Winter’schen Abortzange gegriffen worden. Zunächst sei das Eindringen schwierig, dann leicht gewesen. Man habe die Reste gefasst und herausgezogen. Die Besichtigung habe ergeben, dass mit der Zange Darm gefasst worden wäre. Sofortige Ueberführung in die Klinik. Als wir die Frau zu Gesicht bekommen, können wir folgenden Be- fund erheben: Recht blass aussehende Frau, Herz wie Lungen ohne Befund. Leib etwas gespannt und empfindlich, geringe Blutung aus der Scheide, in der eine vom Mesenterium abgerissene Darmschlinge liegt; aus diesem Grunde wird sofort die Laparotomie beschlossen. Puls 81, Temp. 37. Schnitt in der Linea alba. An der linken Tubenecke sieht man ein etwa 5 Pfennigstück grosses Loch mit scharfen, zackigen Rändern, in dem eine vom Mesenterium abgerissene Darmschlinge von etwa 30 cm | Länge steckt. Sie wird vorsichtig herausgezogen, und nachdem die ganze übrige Bauchhöhle gut abgedeckt ist, ausgebreitet und in sterile Mull- tupfer eingewickelt. Die Resektion der Schlinge ist notwendig. Ab- klemmen mit Gummiklemmen und sofortiges Absetzen mit der Schere. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 17 Die Enteroanastomose geschieht Seit zu Seit, sehr dichte Naht in drei- facher Etage, mit Seide. Das Mesenterium wird behufs Blutstillung fortlaufend genäht und dann so vereinigt, dass keine Lücke zum Durchschlüpfen von Därmen entsteht. Das Uterusloch wird mit 4 Catgutnähten geschlossen, von einer Exstirpation der Gebärmutter wird Abstand genommen. Toilette der Bauchhöhle, Drainage mit Mikuliczsack. Der Verlauf war bis auf eine geringfüglge Cystitis vollkommrn reaktionslos.. Nach 3 Wochen wird die Pat. geheilt entlassen. Der Entlassungsbefund war folgender: Darmtätigkeit normal, Leib weich, nirgends empfindlich. Genitalien: Uterus normal gross, ante- flektiert, Adnexe 0.B. Urin frei von pathologischen Bestandteilen, Es handelt sich also im vorliegenden Falle um eine Per- foration eines im 3. Graviditätsmonats abortierenden Uterus mit der Winter’schen Abortzange und Herabholen einer etwa 30 cm langen Dünndarmschlinge. Es ist sehr viel darüber geschrieben und diskutiert worden, wie sich der Arzt, dessen Erfahrungen auf diesem Gebiete nicht allzu gross sind, dem Abort gegenüber verhalten solle. Nicht in allen Fällen ist ja ein absolut abwartendes Verhalten möglich. Es muss zuweilen aktiv eingegriffen werden, und darum müssen eben gewisse Normen für die Behandlung des inkompleten Abortes aufgestellt werden. Eine Reihe von Autoren [Orthmann!), Rühl2), Freund?), Puppe‘), Küstner?) u. a.] steht auf dem Standpunkt, dass die digitale Ausräumung das schonendste Ver- fahren ist, obwohl auch hierbei Perforationen vorgekommen sind; derartige Fälle sind von Orthmann, Asch$), Stumpf”), Albrecht°) u. a. beschrieben worden. Allerdings muss bezüglich des Alters der Gravidität ein Unterschied gemacht werden. In den ersten 3 Monaten kann es sehr schwierig, zuweilen unmöglich sein, kleine Placentarreste mit dem Finger allein herauszuholen. Hier wird man zum Instrument greifen müssen. Vom 4. Monat an wird allerdings der Finger in den meisten Fällen genügen. Recht häufig bildet die Curette die Ursache der Perforation. Eine Zusammenstellung von Orthmann ergibt, dass bei 75 Fällen von Perforation des puerperalen Uterus 25 mal die Ourette. die Schuld trug. Puppe berichtet über 264 Perforationen, von denen 124 durch die Curette verursacht wurden. Schliesslich muss auch die Statistik von Stumpf noch erwähnt werden, nach der von 178 Fällen 119 Perforationen durch die Üurette gemacht wurden. In gleicher Weise soll die Gefährlichkeit der zangen- artigen Instrumente der Korn- und Winter’schen Abortzange betont werden. Auch auf Konto dieses Vorgehens ist, wie ja 1) Frauenarzt, 4, S. 146. 2) Mschr. f. Geburtsh., Bd. 36. 5) M.Kl., 1915, Bd. 9. 4) Mschr. f. Geburtsh., Bd. 36. 5) Verh. d. deutsch. Ges. f. Gyn., XV. Kongr. 6) Zbl. f. Gyn., 1913, Nr. 19. 7) Winkel III, 3. 8) Zit. nach Stumpf. Schlesische Gesellsch. f. vaterl, Cultur. 1916. II. DD 18 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. auch in unserem Falle, eine grosse Anzahl von Unglücksfällen zu setzen. Das, was ich eben gesagt habe, ist eine allen Aerzten be- kannte Tatsache. In fast allen Schulen wird auf die Gefahren, die bei der Abortausräumung bestehen, besonders aufmerksam gemacht, uud doch gibt es jährlich eine mehr oder minder grosse Anzahl von Unglücksfällen, die diesen Verfahren zur Last gelegt werden müssen. Man wird sich also die Frage vorlegen müssen, ob eine Perforation unter allen Umständen zu vermeiden ist. Diese Frage ist zu verneinen; auch bei Anwendung aller Vorsichts- maassregeln können Perforationen vorkommen, aber zwei Haupt- bedingungen müssen erfüllt worden sein: Einmal, dass alle Kautelen sorgsamst beobachtet worden seien, und 2., dass wenn wirklich eine Perforation erfolgt sei, diese nicht übersehen werden dürfe. Selbstverständlich wird man nach den Puppe’schen Forderungen auch die Berechtigung und Indikation der Operation streng in Betracht zu ziehen haben. Ich möchte auf die Vorschläge der Autoren, Perforationen zu verhüten, hier nicht eingehen, ebenso wie ich die forensische Seite ausser acht lassen möchte. Nur eine kurze Kritik unseres Falles. Die Laporatomie war, nachdem man sich überzeugt hatte, dass Darm bzw. Mesenterium verletzt war, notwendig. Die Darmresektion stellt einen nicht unbeträchtlichen Eingriff dar, und daher war man, um die Operation nicht noch zu vergrössern, berechtigt, die Uteruswunde durch Naht zu schliessen, die Gebär- mutter also nicht zu entfernen. Auch hierüber sind die Ansichten der Autoren geteilt; während manche zu recht aktivem Vorgehen, der sofortigen Exstirpation des verletzten Uterus raten, wird von anderer Seite (Sigwart, Freund, Bumm) dem konservativen Verfahren das Wort geredet. Unser Fall, bei dem eine Infektion, so weit im Augenblick überhaupt nachweisbar, nicht vorlag, beweist, dass die eingeschlagene Methode die richtige war. IV. Ein seltener Herzbefund bei akuter Iympha- tischer Leukämie. Von Dr. Reim. Das Vorkommen tumorartiger Neubildungen bei leukämischen Erkrankungen ist eine bekannte Tatsache. Während bei der myelogenen Leukämie und auch bei einem grossen Teil der Fälle Iymphatischer Leukämie die diffuse Infiltration der Organe vor- herrscht, tritt bei der letzteren Krankheitsform vielfach eine aus- gesprochene Tendenz zu geschwulstähnlichen Bildungen hervor. Derartige Beobachtungen sind von Türk, Strauss, Domarus, Graetz u.a. mitgeteilt; auch ich habe vor kurzem einen Fall kleinzelliger Iymphatischer Leukämie beobachtet, bei dem die Thymus in einen grossen Tumor umgewandelt und die Lungen und Pleuren von zahlreichen geschwulstähnlichen Knoten durch- setzt waren, die sich makroskopisch sowohl wie mikroskopisch ganz wie maligne Neubildungen verhielten. Noch ausgesprochener tritt die Neigung zur Tumorbildung und zu aggressivem Wachstum bei den Fällen akuter Leukämie mit grosszelligem Blut- und Organbefund zutage. Die Literatur über die akute Leukämie enthält eine grosse Anzahl derartiger Mitteilungen. Sehr häufig sind Thymus oder Mediastinum der Sitz der geschwulstähnlichen Bildungen, aber auch andere Organe -—— Nieren, Leber, Lungen, Darm — werden davon betroffen. Während bei den diffus in- filtrierenden Formen der Leukämie auch das Herz die weit- gehendsten Veränderungen erfahren kann, scheint dasselbe bei der akuten grosszelligen Form nur selten ergriffen zu sein. Jedenfalls habe ich in der neueren Literatur über die akute Leukämie keine Aufzeichnungen über Geschwulstbildungen im Herzmuskel finden können. Es dürfte deshalb von einigem Interesse sein, wenn ich kurz über einen derartigen Fall berichte: Es handelt sich um einen 37jährigen Mann, aus dessen Kranken- geschichte folgendes zu entnehmen ist: Im April 1915 erhielt er einen Kieferschuss, der ohne Komplikationen in verhältnismässig kurzer Zeit ausheilte. Einige Zeit später musste er sich einer Bruchoperation unter- ziehen, die er ebenfalls gut überstand. Anfang Oktober begann er über 20 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Mattigkeit zu klagen; zugleich bemerkte er eine auffallende Abnahme des Körpergewichtes. Im Laufe der Zeit nahm die Mattigkeit zu, auch das Körpergewicht ging weiter herunter; gleichzeitig traten Temperatur- steigerungen bis 330 C auf, so dass Patient sich genötigt sah, ärztliche Behandlung in Anspruch zu nehmen. Der wegen des gleichzeitigen starken Hustens bestehende Verdacht einer Lungenaffektion konnte durch den physikalischen und röntgenologischen Befund ausgeschlossen werden. Im Laufe des November stellten sich septische Temperaturen ein, gleichzeitig war eine leichte Schwellung der Milz zu konstatieren. Patient wurde nun in die Klinik verlegt. Die hier angestellte Widal’sche Reaktion hatte ein negatives Ergebnis. Etwa 8 Tage nach der Aufnahme in die Klinik trat eine äusserst schmerzhafte Thrombose der Vena dorsalis penis auf. Seitdem verschlechterte sich das Allgemeinbefinden des Patienten zusehends; die septischen Temperaturen waren selbst durch grosse antipyretische Dosen nicht mehr zu beeinflussen. Die angelegten Blutplatten blieben steril. Die nun vorgenommene Untersuchung von Blutausstrichpräparaten und die Blutzählung hatte folgendes Ergebnis: Erythrocyten 192 000, Leukocyten 58 600, kleine Lymphocyten 66 pCt., grosse Lymphocyten 27 pCt., Polynucleäre 6pCt., Eosinophile 1 pCt. Oxydasereaktion negativ. Gleich nach der zur Blutentnahme vor- genommenen Venenpunktion thrombosierte die rechte Vena mediana; hieran schloss sich wenige Tage später eine Thrombose der linken, kurz darauf eine solche der rechten Vena femoralis an; zu gleicher Zeit zeigten sich auch bedrohliche Symptome von seiten der Cirkulations- organe; der Puls wurde immer schneller, sehr klein und weich, blieb dabei aber immer regelmässig. Trotz Thoriumbehandlung und Milch- säureinjektionen trat unter zunehmender Verschlechterung des Allgemein- befindens und rapidem Kräfteverfall am 8. Januar der Exitus ein. Die klinische Diagnose lautete akute Lymphoblastenleukämie. Sektionsprotokoll: Mässig kräftig gebaute männliche Leiche. Aussehen eines etwa 4öjährigen Mannes. Gesicht eingefallen. Fett- polster sehr gering. Muskulatur mittelmässig entwickelt; Haut durch- weg sehr blass, trocken, schlaf. An beiden Beinen ziemlich starkes Oedem. Am Rücken sind nur sehr geringe, blassbläuliche Blut- senkungen vorhanden. Bauchsitus: Darmschlingen gebläht. Peritoneum glatt, spiegelnd. Netz fettarm. Die Leber überragt den rechten Rippen- bogen um 4 Querfinger Breite. Zwerchfellstand rechts 4., links 5. Intercostalraum. Das durch- trennte Fettgewebe ist spärlich, dunkelgelb, die Muskulatur hellrot, glänzend, trocken. Brustsektion: Die Lungen liegen weit vor, der Herzbeutel ist in Kleinhandtellergrösse unbedeckt. Anstelle der Thymus liegt ein flacher, ziemlich derber Fettlappen von geringer Ausdehnung vor. Im Herzbeutel 50 cem klare gelbe Flüssigkeit. Herz mehr als doppelt faustgross; grösste Breite 14, grösste Höhe 15 cm; Gewicht 575 g. Beide Herzhälften sind gleichmässig vergrössert. Das Epicard des rechten Ventrikels ist fettreich. Ueber der linken Kammer finden sich dem Verlauf der Gefässe entsprechend breite, dunkelgelbe Fett- auflagerungen. Die kleinen Gefässe über den Vorhöfen und dem oberen Teil der linken Kammer sind stark mit Blut gefüllt. Der Herzmuskel erscheint von aussen betrachtet graurot. Konsistenz des Herzens derb; die Gefässe sind starr. Beide Herzhälften sind erweitert, die Wandungen hypertrophisch. Wandstärke am erweiterten Conus pulmonalis 7 mm, nahe der Herzspitze 10 mm, unterhalb des Ostium trieuspidale 11 mm. Dicke der linken Ventrikelwand 11 mm, der linken Vorhofswand 2—3 mm. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 21 Am auffälligsten ist die Wand des rechten Vorhofes verändert. Hier ist nur stellenweise die blassgraurote Muskulatur sichtbar. Fast durchweg weist die Innenfläche des Vorhofes linsengrosse, halbkugelförmige Ge- schwulstknoten auf. Die Tricuspidalsegel sind zu starren, knolligen Massen verdickt. Die Sehnenfäden sind zart, die Papillarmuskeln un- verändert. Im oberen Teil des rechten Vorhofes finden sich ablösbare, derbe Thromben, die ebenso wie die erwähnten Geschwulstknoten eine weissgraurote Farbe zeigen. Die Innenfläche des rechten Ventrikels er- scheint fleckig und zeigt knollige, derbe weisse Verdickungen. Auf dem Durchschnitt setzen sich die Tumorinfiltrate in Form breiter Streifen in die Muskulatur for. Das mediale Segel der Pulmonalis enthält eben- falls einige kleine flache Infiltrate. Die Mitralis ist in ihrem hinteren Teil geschwulstartig infiltriert. An der Innenfläche des linken Vorhofes sitzen kleinere und grössere derbe Geschwulstknoten. Die Museularis ist auf dem Durchschnitt frei. Der linke Ventrikel verhält sich ähnlich wie der rechte. Die geschwulst- ähnlichen Infiltrate sind besonders gegen die Spitze hin reichlich ent- wickelt und ziehen als breite Streifen in die Muskulatur hinein. Aorten- klappen frei. In der Intima der Aorta einzelne Verfettungsherde. Schilddrüse nicht vergrössert, blass, gelbbraun. ‚Zungenfollikel, Tonsillen nicht vergrössert. Die Follikel des Oesophagus sind in den unteren zwei Dritteln zu etwa Stecknadelkopfgrösse angeschwollen. Trachea und Bronchien enthalten etwas Schaum. Die Lungen sind ödematös durchtränkt, in den Unterlappen hyper- ämisch. Luftgehalt ausreichend. Oberhalb des rechten Stimmbandes sind vereinzelte linsengrosse Blutungen wahrzunehmen. Bauchsektion: Die Milz ist vergrössert (17:10:4 cm, Gewicht 265 g). Oberfläche glatt, blassrot. Konsistenz mässig derb. Auf dem Durchschnitt erscheint das Milzgewebe hellrot. Die Follikel sind bis zu Stecknadelkopfgrösse geschwollen. Die Leber ist vergrössert (Gewieht 2200 g, Maasse 23:25:15 cm). Ränder des rechten Leberlappens stumpf, abgerundet; diejenigen des linken Lappens scharf. Die Farbe des Leberparenchyms ist blassrot- braun. Kapseloberfläche glatt. Konsistenz der Leber derb. Auf der Schnittfläche erscheint das Lebergewebe trübglänzend; die acinöse Zeichnung tritt deutlich hervor. Nebennieren vergrössert (6:3:1). Mark weiss, Rinde pigmentiert. Nieren mittelgross, von blassbraunroter Farbe, glatter Oberfläche und fester Konsistenz. Die Kapsel lässt sich leicht abziehen. Rinde gelblich- grau, etwas trüb, gegen die Marksubstanz ziemlich scharf abgegrenzt. Blase — Genitalorgane o. B. Magenschleimhaut hyperämisch. Darmschleimhaut blassgrau, Follikel nicht vergrössert. Mesen- terialdrüsen nicht auffallend geschwollen. Pankreas o. B. Aorta abdominalis frei. Die Vena cava zeigt eine ziemliche Verdiekung der Wand. Sie enthält einen etwa 10 cm langen Blutpfropf von knorpelähnlicher Kon- sistenz, der nach unten zu bis in die Venae iliacae communes reicht, nach oben zu sich in Form eines bleistiftstarken Gebildes bis an die Nierenvenen verfolgen lässt. Der Femurschaft enthält blassrotes sulziges Knochenmark. Die Lymphdrüsen sind nicht erheblich vergrössert. Diagnose: Akute Iymphatische Leukämie. Allgemeine Anämie und 22 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Abmagerung — Ausgedehnte leukämische Tumorbildung des Myocards und Endocards — Leukämische Infiltration der grossen Gefässe — Fett- thymus — Follikelschwellung des Oesophagus — Hyperämie und Oedem der Lungen — Schleimhautblutungen des Larynx — Milz und Leber- tumor — verfettete Stauungsnieren — Thrombose beider Iliacae und der Cava inferior — Rotes Knochenmark. Mikroskopischer Befund: Das histologische Bild des Herzens ist hochgradig verändert. Die Muskulatur ist von breiten Streifen oder mehr umschriebenen Nestern Iymphoider Zellen vom Typus der kleinen Lymphocyten und der grossen mononucleären Lymphoblasten durchsetzt. Auch in den makroskopisch intakt erscheinenden Partien finden sich ausgedehnte, streifenförmig- leukämische Infiltratee An vielen Stellen liegen die Zellan- häufungen in unmittelbarer Umgebung der Kapillaren, die mit Lymphocyten dicht angefüllt sind. Das Charakteristische dieser Infiltrate besteht darin, dass sie sich in ihrer Ausbreitung ganz wie maligne Tumoren verhalten. Am besten lässt sich dies an dem Verhalten der Muskelfasern verfolgen. Diese werden entweder durch die Infiltrate erdrückt und gehen atrophisch zugrunde oder aber die wuchernden Lymphocyten greifen die Muskelfasern selbst an, indem sie direkt in dieselben eindringen und sie auflösen. Die reaktiven Veränderungen der Muskulatur sind sehr gering. Hier und da erscheinen die Fasern kolbig angeschwollen; auch vereinzelte Kernvermehrungen sind kier und da anzutreffen. Weiter scheint aber die Reaktionsfähigkeit der Muskeln nicht zu gehen. Die Oxydasereaktion hatte ein negatives Ergebnis. Die mikroskopische Untersuchung der Milz und der Lymphdrüsen er- gab eine starke Wucherung der Iymphatischen Elemente. Auch in den vom Knochenmark angefertigten Ausstrichpräparaten war eine starke Vermehrung der kleinen Lymphocyten und der grossen mononucleären Zellformen zu konstatieren. Es handelt sich dem- nach um einen Fall akuter Iymphatischer Leukämie. Auf die zur Zeit noch schwebenden Streitfragen über die akute Leukämie soll hier nicht näher eingegangen - werden. Sternberg hat bekanntlich die grosszellige Leukämie von der kleinzelligen (akuten) Iymphatischen als eine Krankheit sui generis abgetrennt und bezeichnet sie wegen ihrer nahen Be- ziehungen zur Kundrat’schen Lymphosarkomatose als Leukosarkomatose, indem er die Neigung zu heterotopen Wucherungen und das aggressive Wachstum als etwas Charak- teristisches dieser Krankheitsform im Gegensatz zur kleinzelligen Iymphatischen Leukämie betont. Demgegenüber haben Naegeli, Fabian, Türk, Domarus, Graetz u.a. hervorgehoben, dass auch die equisit kleinzellige Iymphatische Leukämie zur Bildung heterotoper Wucherungen, ja sogar zur Entwicklung ausge- sprochener maligner Tumoren führen kann. Der von mir ein- gangs kurz erwähnte Fall kleinzelliger Iymphatischer Leukämie und der eben kurz beschriebene Fall, der zweifellos nicht der Sternberg’schen Leukosarkomatose zuzurechnen ist, bestätigen I. Abteilung. Medizinische Sektion. 25 die Beobachtungen der oben erwähnten Autoren, und sprechen für die Auffassung, dass die akute grosszellige Leukämie. nicht als Krankheitsform sui generis anzusprechen ist, sondern sich nur graduell von der kleinzelligen Iymphatischen Leukämie unterscheidet. Literaturverzeichnis. v. Domarus, Fol. haemat., 1908, Bd. 6. — Fabian, Ziegler’s Beitr., 1908, Bd. 43 und 1912, Bd. 53. — Fabian, Zbl. f. Path., 1908, Bd. 19. — Fabian, Naegeli, Schatoloff, Virchow’s Arch., 1907, Bd. 190. — Graetz, Ziegler’s Beitr., 1910, Bd. 49. — Naegeli, Blut- krankheiten und Blutdiagnostik. — Sternberg, Lubarsch-Ostertag, Ergeb., 1905, Bd. 9. — Sternberg, W.kl.W., 1908. — Türk, W.kl.W., 1899, 1901, 1903. — Türk, B.kl.W., 1901. y. Ein Beitrag zur Kenntnis der Herzmuskel- tuberkulose. Von Dr. Reim. Die Tuberkulose des Myocards wurde von früheren Autoren (Virchow und anderen) für eine grosse Seltenheit erklärt. Für die chronisch tuberkulösen Veränderungen des Herzmuskels trifft dies auch zu, für die Miliartuberkulose nicht mehr. Seit Weigert’s grundlegenden Untersuchungen wissen wir, dass miliare Tu- berkel im Herzen einen sehr häufigen Befund bei allgemeiner Miliartuberkulose darstellen. Meist liegen die Knötehen im Conus- teil des rechten Ventrikels dicht unter dem Endocard, aber auch in den tieferen Schichten des Myocards [Thorel!)] sind sie nicht selten, allerdings vielfach nur mikroskopisch nachzuweisen. Diese subendocardialen bzw. im Myocard gelegenen, von Benda als echte Organtuberkel bezeichneten Knötchen entstehen auf häma- togenem, embolischem Wege. Streng davon zu trennen und er- heblich viel seltener sind die echten Endocardtuberkel (Benda), deren Entstehung auf Ablagerung von Tuberkelbacillen aus dem Herzblut auf das Endocard zurückzuführen ist. Ebenso wie die Intimatuberkel können diese Endocardknötehen den Ausgangs- punkt einer Miliartuberkulose bilden. Chronisch tuberkulöse Veränderungen des Myocards sind im allgemeinen selten. Sie treten entweder als einzelne grosse Conglomerattuberkel oder als multiple Knoten oder end- lich unter dem Bilde einer diffusen käsigen Myocarditis auf. Zwischen den beiden letztgenannten Formen kommen zahlreiche Uebergänge vor. Meist sind die Veränderungen sekundärer Natur. Die von Demme mitgeteilte Beobachtung einer primären Tuber- kulose des Herzmuskels steht bisher vereinzelt in der Literatur da. Am häufigsten schliessen sich tuberkulöse Infektionen des Myocärds an tuberkulöse Pericarditiden an; nicht selten bilden verkäste Lymphdrüsen der Nachbarschaft (Mediastinaldrüsen) den 1) Thorel, Pathologie der Kreislauforgane. Lubarsch-Ostertag Ergebnisse 1903, 1907, 1910, 1315. (Daselbst auch die näheren Literatur- angaben.) I a u Ah a Aa a I. Abteilung. Medizinische Sektion. 25 primären Herd; schliesslich entsteht in seltenen Fällen die chro- nische Tuberkulose des Herzens auf hämatogenem Wege. Ueber einen derartigen Fall möchte ich im Folgenden be- richten: Es handelt sich um ein 14jähriges Mädchen, das von gesunden Elttern stammt. Eine Schwester soll an Skrophulose gelitten haben und im Alter von 13 Jahren gestorben sein; sonst ist über tuberkulöse Erkrankungen in der Familie nichts bekannt. Als kleines Kind hatte Pat. Masern, sonst war sie stets gesund. Anfang Juni 1914 bemerkte sie eine Schwellung an der Aussenseite des rechten Oberschenkels, die langsam zunahm und ihr erhebliche Schmerzen bereitete. Sie wurde deshalb dem Allerheiligen-Hospital zur Behandlung überwiesen. Bei ihrer Aufnahme wurde folgender Befund erhoben: Schwächliches, schlecht genährtes, in der Entwicklung etwas zurück- gebliebenes Mädchen von blasser Hautfarbe. Keine Oedeme, keine Exantheme. An der Aussenseite des rechten Oberschenkels befindet sich etwa_ 4 Querfinger oberhalb des Kniegelenkspaltes eine leichte Vorwölbung; in der Tiefe derselben fühlt man eine Resistenz, die undeutlich fluktuiert. Die Probepunktion ergibt 7 ccm dünnen Eiters. Die klinische Diagnose lautete: Kalter Abscess. Von den inneren Organen ist nur der Befund an der rechten Lungen- spitze hervorzuheben, eine leichte Schallverkürzung und etwas verlängertes Exspirium. Husten und Auswurf bestanden nicht. Urin frei von Eiweiss und Zucker. Von Seiten der Circulationsorgane und des Nervensystems waren keine Störungen zu beobachten. x - Die Temperatur schwankte zwischen 36,5 und 37,5 C. Unter Jodoformglyzerinbehandlung gingen die Beschwerden erheblich zurück, so dass Pat. am 8. VII. 1914 als gebessert entlassen werden konnte. Am 26. IV. 1915 wurde sie dem Krankenhaus vom behandelnden Arzte wegen Wirbelsäurencaries zugeschickt. Sie klagte über heftige Schmerzen in der Wirbelsäule, vor allem über intensive Kopfschmerzen. Ihr Allgemeinzustand war im Anfang noch einigermaassen zufriedenstellend; bei ruhiger Rückenlage hörten die Schmerzen auf, setzten aber bei der geringsten Bewegung mit grosser Heftigkeit wieder ein. Trotz Behandlung mit Watte- und Gipsverbänden trat weder eine Besserung des objektiven Befundes noch der subjektiven Beschwerden ein. Der Allgemeinzustand wurde im Laufe der Zeit immer schlechter, Pat. magerte ab, nahm keine Nahrung mehr zu sich, die allgemeine Schwäche wurde immer grösser. Die Temperatur stiegin den Abendstunden bis auf 38,0 C. Zu diesen schweren Allgemeinerscheinungen traten noch decubitale Ulcera am Rücken, eine immer sich stärker ausbildende Parese des linken Armes, schliesslich eine vollkommene Incontinentia urinae und alvi hinzu. Am 27. VI. 1915 erfolgte der Exitus. Von Seiten der Cireulationsorgane waren während der ganzen Zeit keine auffallenden Störungen wahrzunehmen. Die von mir vorgenommene Sektion ergab folgendes: Aeusserst schwächliches, stark abgemagertes Mädchen von grazilem Knochenbau, schwacher Muskulatur und geringem Fettpolster. Die Haut ist von blasser Farbe, schlaff und lässt sich in grossen 26 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Falten von der Unterlage abheben. In den abhängigen Partien des Körpers reichliche Blutsenkungen von blauroter Farbe, Totenstarre vor- handen. Zu beiden Seiten des Kreuzbeines mehrere unregelmässig begrenzte, fiache Ulcera mit eitrig belegtem Geschwürsgrunde. Nach Entfernung des Sternums sieht man den Herzbeutel in ziemlich grosser Ausdehnung vorliegen. Die mediastinalen Lymphdrüsen sind klein, derb, ihre Schnittfläche ist diffus grau. Herzbeutelblätter nirgends miteinanderverwachsen, spiegelnd und glatt. Herzbeutelflüssigkeit klar, nicht vermehrt. Das Herz entspricht in seiner Grösse der Faust der Leiche. An der vorderen Fläche des linken Ventrikels etwas oberhalb der Herzspitze wölbt sich ein etwa wallnussgrosser derber Knoten vor, der von völlig intaktem Pericard überzogen ist. Dieser Knoten erstreckt sich ziemlich weit in die Muskulatur hinein, an manchen Stellen fast bis an das Endocard. Seine Abgrenzung gegen die Umgebung ist im allgemeinen scharf, nur in den tieferen Muskelschichten erscheinen die Conturen etwas verwaschen. Im Inneren des Knotens kann man makroskopisch mehrere erweichte, bröcklige gelbe Herde erkennen. In der Peripherie des Knotens nimmt das Gewebe eine mehr schwielige, speckige Beschaffenheit auf. Die übrige Herzmuskulatur erscheint blassrot und fühlt sich ziemlich derb an. Endocard und Klappen zart, Gefässe frei. Was die übrigen Brustorgane anbetrifft, so findet sich am oberen Rande des linken Unterlappens ein etwa apfelgrosser, käsiger Herd, der in den zentralen Partieen eine beginnende eitrige Einschmelzung zeigt. Dieser Herd liegt dicht unter der Pleura pulmonalis, die hier fest mit der Pleura costalis und der von käsigen Massen bereits zerstörten 5. Rippe zusammenhängt. Im übrigen ist die linke Lunge frei von tuberkulösen Veränderungen. In der rechten Lunge finden sich ver- einzelte grauweisse miliare Knötchen. Bronchialdrüsen frei von tuber- kulösen Veränderungen. Schleimhaut der Bronchien, der Trachea und des Kehlkopfes von -blasser Farbe. Schilddrüse etwas vergrössert, diffus colloid entartet. Tonsillen klein, frei von Eiter. Der Situs der Bauchorgane zeigt keine Abweichungen von der Norm. Das grosse Netz bedeckt die Därme. Das Peritoneum zeigt überall spiegelnden Glanz. Die Mesenterialdrüsen sind klein, graurot, derb. Die Milz ist etwas vergrössert, blutreich, weich, die Pulpa guillt vor und lässt sich mit dem Messer abstreichen. Leber derb, von glatter Oberfläche. Die zentralen Partieen der Acini sind dunkelrot, während die Peripherie der Läppchen gelblich- braun erscheint. Gallengänge durchgängig. Die Gallenblase enthält klare, dünn- flüssige Galle von bräunlicher Farbe. Schleimhaut zart. Magenschleimhaut blassgrau. Im Darm sind keinerlei geschwürige Prozesse festzustellen. Nebennieren sehr blass, Mark- und Rindensubstanz deutlich von einander abgrenzbar. Nieren mittelgross, sehr blutreich und derb. Oberfläche glatt. Kapsel leicht abziehbar. Nierenzeichnung deutlich. Hier und da finden sich dieht unter der Oberfläche einige grauweisse miliare Knötchen. Nierenbeckenschleimhaut spiegelnd und glatt, von blasser Farbe. Ureteren durchgängig. Blase und Genitalorgane o.B. Bei der Freilegung der Wirbelsäule zeigt es sich, dass die Körper des 12. Brust- und des ersten Lendenwirbels in ganzer Ausdehnung von I. Abteilung. Medizinische Sektion. 27 käsig eitrigen Massen durchsetzt und zerstört sind. Die Verkäsung greift in der Tiefe auf die Dura mater über. Das Rückenmark selbst ist an dem Prozess nicht mitbeteiligt, nur insofern erleidet es eine Veränderung, als es durch die käsigen Massen komprimiert wird. Diagnosen: Solitärtuberkel des Myocards, alte Pleuraadhaesionen- käsiger Herd im linken Unterlappen, Caries der linken 5. Rippe vereinzelte miliare Tuberkel in der rechten Lunge, Infektiöse Schwellung der Milz, Stauungs- und Fettleber, Miliare Tuberkel der Nieren, Stauungsnieren, Caries des 12. Brust- und 1. Lendenwirbels, Tuberkulose der Dura mater spinalis, Compression des Lendenmarkes. — Colloidstruma. Mikroskopischer Befund: Innerhalb des Knotens sind weite Gebiete einer ausgedehnten Verkäsung anheimgefallen. Die verkästen, unregelmässig begrenzten Bezirke werden von dicht gelagerten, radiär gestellten Fibroblasten und einkernigen Lymphocyten umsäumt. In den Käseherden erkennt man noch erhaltene Rundzellen oder Trümmer von Zellkernen; in den nekrotischen Massen selbst ist keinerlei Struktur mehr wahr- zunehmen. Die weitere Umgebung der Gefässe bildet ein mehr oder weniger zellreiches Granulationsgewebe, welches von zahl- reichen Lymphocyten durchsetzt ist und- vereinzelte, mit flachem, einschichtigem Endothel ausgekleidete Gefäsle enthält; aber auch grössere, noch nicht zugrunde gegangene Gefässe grösseren Kalibers fehlen in dem Granulationsgewebe nicht. Hier und da finden sich kleine Gefässquerschnitte, an denen deutlich alle drei Schichten zu unterscheiden sind; in der Adventitia dieser Gefässe liegen vereinzelte Rundzellen, während die übrigen Schichten keine Ver- änderungen aufweisen. Neben den grösseren Käseherden sind in einigen Schnitten typische Epitheliodzellenknötchen mit be- sinnender zentraler Verkäsung und Riesenzellen von Langhans- schem Typus anzutreffen. In den Randpartien des Knotens geht das Granulationsgewebe in ein etwas zellärmeres, von Lymphocyteninfiltraten durchsetztes Bindegewebe über, welches sich vielfach zwischen die Muskelzüge des Myocards einschiebt und sich unter allmählicher weiterer Abnahme seines Zellgehaltes in dem interstitiellen Gewebe des Herzens verliert. Aber auch Stellen mit fibröser Umwandlung und hyaliner Degeneration sind in den peripheren Schichten des Knotens wahrzunehmen, ein Zeichen, dass es sich um einen sehr lang- dauernden chronischen Prozess handelt. Wie schon oben kurz erwähnt, sivd in dem Granulations- gewebe Riesenzellen zu finden. Die Mehrzahl dieser Zellen ist ganz und gar nach dem Typus der Langhans’schen Riesenzellen gebaut; sie liegen meist in unmittelbarer Nachbarschaft der käsig nekrotischen Partien, aber auch in den weiter entfernt liegenden Bezirken sind sie mitunter anzutreffen, ohne dass eine deutliche Beziehung zu nekrotischen Herden oder den oben erwähnten Epithelioidzellenknötchen zu erkennen wäre. Gegenüber den Zellen von Langhans’schem Typus spielen riesenzellartige Bildungen mit zentralen, dicht nebeneinander- oder. aufeinanderliegenden Kernen und schmalem Protoplasmasaum eine nur untergeordnete Rolle. Ich konnte derartige Zellen in ganz 28 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft. für vaterl. Cultur. vereinzelten Exemplaren frei im Granulationsgewebe liegend nach- weisen. Es sind solche Riesenzellen auch in einem nicht spezi- fischen Granulationsgewebe nichts Ungewöhnliches. Ihre Ent- stehung aus Muskelzellen möchte ich nicht strikt leugnen, halte dies aber wegen des gleich noch näher zu besprechenden Ver- haltens der Muskulatur nicht für wahrscheinlich. Betrachtet man die Muskulatur an der Grenze des Knotens, so gewinnt man den Eindruck, dass sie eine im wesentlichen passive Rolle spielt. Besonders deutlich tritt dies in den oben erwähnten schwielig veränderten Partien zutage. Das schwielige Gewebe bildet hier ein aus breiten Strängen zusammengesetztes, sich vielfach verzweigendes Netz, in dessen Maschen atrophische Muskelfasern oder schollige Trümmer von solchen oder endlich zugrunde gehende Muskelkerne liegen. Einen direkten Ueber- gang von Muskelgewebe in Narbengewebe habe ich nicht fest- stellen können. Ganz ähnlich liegen die Verhältnisse an den Stellen, wo das zellreiche Granulationsgewebe sich zwischen die Muskelfasern ein- schiebt. Auch hier kann man eine allmähliche Atrophie der Muskelfasern und Zerfall derselben beobachten. An manchen Stellen scheint es zwar, als ob die Muskelzellen sich aktiv an dem Entzündungsprozess beteiligten; in einigen Fasern erscheinen die Kerne vergrössert, stellenweise ziemlich chromatinreich; oder man sieht in einer Faser mehrere Kerne in einer Reihe dicht hintereinander liegen, allmählich aber geht die Struktur der spe- cifischen Muskelzellen verloren, es erfolgt eine Auflösung in ein- zelne Fibrillen, oder die Fasern verfallen der Atrophie; schliess- lich geht auch der Kern zugrunde. Einen Uebergasg von Muskel- zellen in Granulationszellen habe ich jedenfalls nicht gesehen. Vielleicht ist es zu weit gegangen, diese Muskelveränderungen als rein degenerative anzusprechen; ich glaube, dass das Wesen des Prozesses besser gekennzeichnet wird, wenn man die erwähn- ten Veränderungen als vergebliche Regenerationsversuche der Muskelzellen bezeichnet. Die Untersuchung zahlreicher Schnitte auf Tuberkelbacillen hatte ein negatives Ergebnis. Trotzdem ist wohl die Diagnose einer tuberkulösen Affektion des Myocards nicht in Zweifel zu ziehen, wenn man neben den charakteristi- schen Veränderungen am Herzen noch das Ergebnis der übrigen Sektion berücksichtigt. Nicht immer aber liegen die Verhältnisse so klar wie im vorliegenden Falle. Ist der Bacillennachweis nicht möglich und fehlen auch die charakteristischen Tuberkel- knötchen, so wird man häufig vor die Frage gestellt sein, ob es sich um einen tuberkulösen oder gummösen Prozess handelt. Die Schwierigkeiten, beide Prozesse gegeneinander abzugrenzen, sind ja hinlänglich bekannt. Baumgarten!) hat des öfteren die differentialdiagnostischen Merkmale zwischen Tuberkulose und Lues erörtert. Er legt einen besonderen Wert auf das Auftreten von Langhans’schen Riesenzellen. Das ist auch im allgemeinen zutreffend; für die tuberkulösen Affektionen der Muskulatur scheint indessen der diagnostische Wert der Riesenzellen nur gering 1) Verhandl. d. pathol. Gesellschaft, 1901. n I. Abteilung. Medizinische Sektion. 29 zu sein. Durch die Untersuchungen von Thorelt), Busse?2), Landois®) u. a. wissen wir, dass Riesenzellen bei luetischen Affektionen des Myocards und der quergestreiften Muskulatur mitunter in sehr grosser Zahl vorkommen können. Diese Riesen- zellen sind vielfach in nichts von den typischen Langhans’schen Riesenzellen zu unterscheiden. Busse hat einwandsfrei die Ent- stehung dieser Zellen aus Muskelzellen nachgewiesen. Für eine derartige Genese der Riesenzellen bei der Muskeltuberkulose ist der Beweis noch nicht erbracht. Lejars beschreibt zwar diesen Entstehungsmodus; Saltykow*) konnte aber in seinen experi mentellen Untersuchungen über die Muskeltuberkulose einen ge- netischen Zusammenhang der Riesenzellen mit der Muskulatur nicht feststellen. Was die Mitbeteiligung der Muskulatur an dem Aufbau des tuberkulösen Granulationsgewebes betrifft, so ist im vorliegenden Falle nichts Sicheres davon zu erkennen. Es soll damit nicht bestritten werden, dass auch bei der Tuberkulose der Muskulatur die Muskelzellen eine mehr aktive Rolle spielen können, wie das aus den experimentellen Untersuchungen von Saltykow hervorgeht. Jedenfalls scheint nach den in der Lite- ratur zusammengestellten Beobachtungen die Rolle der Muskulatur bei der Tuberkulose eine im wesentlichen passive zu sein, eine Erscheinung, die wohl in der schweren bakteriellen bzw. toxischen Schädigung des Gewebes bei der Tuberkulose ihre Erklärung findet. Im Gegensatz dazu ist nach den Untersuchungen von Busse die Mitbeteiligung der Muskulatur am Aufbau des Granu- lationsgewebes bei luetischen Prozessen eine äusserst rege. Vielleicht lässt sich dieses verschiedene Verhalten des Muskel- gewebes in zweifelhaften Fällen differentialdiagnostisch verwerten. Im übrigen seiauf die jahinlänglich bekannten von Baumgarten angegebenen differentialdiagnostischen Merkmale-Beschaffenheit der Nekrosen, histologische Zusammensetzung des Granulations- gewebes und das Verhalten der Gefässe hingewiesen. Jedenfalls ist bei den in differentialdiagnostischer Beziehung schwierig zu beurteilenden Fällen der Nachweis von Tuberkel- bacillen anzustreben, eventuell muss das Tierexperiment als wei- teres Hilfsmittel herangezogen werden. Zum Schluss möchte ich noch kurz das klinische Verhalten des Herzens erwähnen. Es erscheint vielleicht auffallend, dass von Seiten der Zirkulationsorgane keine Störungen wahrzunehmen waren. Zieht man aber in Betracht, dass viel schwerwiegendere Veränderungen als die beschriebenen ohne bedrohliche klinische Erscheinungen verlaufen können, berücksichtigt man ferner, dass im vorliegenden Falle der grösste Teil des Myocards vollkommen intakt war, so dürfte wohl das Fehlen von Zirkulationsstörungen nicht auffällig sein. 1) Thorel, Virchows Archiv, 1899, Bd. 158. 2) Busse, Arch. f. klin. Chir, 1903, Bd. 69. 3) Landois, Arch. f. Derm. u. Syph., 1908, Bd. 90. 4) Saltykow, Zbl. f. Path., 1902, 13. ME Zur Behandlung des Diabetes insipidus mit Hypophysenpräparaten. Prof. Dr. Fe Rosenfeld. Im Anfang dieses Jahrhunderts haben Magnus und Schäfer die Entdeckung gemacht, dass wässerige Extrakte des Hinter- lappens der Hypophysis eine Vergrösserung des Nierenvolumens und eine starke Diurese erzielen. 1906 hat Schäfer diese Arbeiten in Gemeinschaft mit Herring fortgesetzt und erweitert. Schon in dieser Arbeit kommt er zu der Vermutung!) eines Zusammenhanges zwischen dieser Hypophysenfunktion und dem Diabetes insipidus. Er weist schon auf Fälle von Hypophysen- tumoren hin, in welchen die Polyurie ein hervorstechendes Symptom war und empfiehlt diesen Punkt der Aufmerksamkeit der Kliniker. 1911 hat Schäfer dann noch weiterhin gezeigt, dass die mechanische Störung der Hypophyse eine langdauernde _ Polyurie, d.h. also schliesslich einen Diabetes insipidus erziele. In gleichem Sinne haben Römer und Jacoby gelegentlich anderweitiger, Hyperthermie betreffender Versuche beobachtet, dass Verletzungen der Hypophyse bzw. des Hypophysenstils neben starker Hyperthermie eine starke dauernde Polyurie er- zielten. Der von Schäfer 1906 den Klinikern gegebene Hinweis, auf den Zusammenhang zwischen Hypophysisfunktion und Harn- ruhr das Augenmerk zu richten, hat dazu geführt, dass nunmehr auch von klinischer Seite Beobachtungen gesammelt wurden, welche die Schäfer’sche These bestätigten. An dieser Stelle hat uns Frank vor etwa 3 Jahren eine 1) Philosoph. transact. of the royal soc. of London, 1908, Ser. B, Bd. 199, S. 29: In view of the probability that this is actually the purpose of this internal secretion, it will be of interest to know whether diabetes, and especially diabetes insipidus, is associated with hyper- trophy of the pituitary. Cases of tumour of pituitary have been recorded in which polyuria was a prominent symptom, but the condition of the posterior lobe has not been specially noted, and the polyuria may have been merely an accidental complication. The point is one for future observation and will no doubt receive the attention of elinieists. : WB I. Abteilung. Medizinische Sektion. 3l übersichtliche Darstellung des vorhandenen klinischen Materials gegeben, wobei er sich der Anschauung anschloss, dass eine Ver- mehrung der Hypophysenfunktion der Grund vom Zustande- kommen des Diabetes insipidus wäre. Von einer Reihe von Klinikern wurde nun auf Grund dieses von Schäfer betonten Zusammenhanges eine bei dieser Sachlage etwas verwunderliche Behandlung des Diabetes insipidus begonnen, in dem die Herren Biach, von der Velden und Hoppe-Seyler eine Verminderung der Diurese dadurch zu erzielen sich bemühten, dass sie Hypophysenextrakte den Patienten subeutan einspritzten. Eigentlich musste man doch nach der ganzen Lage der Dinge erwarten, dass das Pituitrin die Harnflut noch vermehren würde; denn die Pituitrininjektion tritt doch, genau genommen, an die Stelle einer starken Mehrfunktion der Hypophyse, aber die Er- fahrungen der drei Herren und verschiedener anderer Forscher gaben dem Versuche recht, indem wirklich sehr erhebliche Ab- nahmen der Harnmenge erzielt worden sind. Schon aus diesen Beobachtungen lässt sich nun schliessen, dass der ja an sich wahrscheinliche Zusammenhang zwischen Hypophyse and Diabetes insipidus vermutlich nicht der einer Mehrfunktion ist. Ja, man würde von vornherein geneigt sein, das Gegenteil anzunehmen. Auch Rosenfeld!) hat bei Injektion von Pituglandol oft die Diurese vermisst im Kaninchenversuch. Die Vermutung wird nun ganz verlässlich gestützt durch Ergeb- nisse von Versuchen, wie sie von der Velden, Römer sowie Kouschegg und Schuster angestellt haben, welche alle das Resultat zeitigten, dass im Tierversuch Hypophysenextrakte geradezu die Diurese stark herabsetzten. Die letzten Autoren fanden z. B., dass die Verminderung der Diurese so stark ist, dass bei Wasseraufnahme Zurückhaltung des Wassers im Blute eintritt, so dass der Wassergehalt des Blutes um 2 pCt. zunimmt. Dabei ist auch nicht zu vergessen, dass auch Schäfer schon eine diuresehemmende Wirkung gesehen hat. Es finden sich bei der klinischen Verminderung der Diurese zweierlei Typen von Wirkungen, einmal nämlich, dass das Wasser zurückgehalten wird, aber alle anderen Be- standteile etwa normal entleert werden, andererseits aber tritt.eine Zurückhaltung von Wasser und anderen Harn- bestandteilen auf. Beide Typen der Verminderung der Diurese finden sich auch bei der Behandlung von ‚Fällen des Diabetes insipidus, und von beiden Arten möchte ich Ihnen noch aus meiner Beobachtung vorführen (s. Tabelle). Im ersteren Falle handelt es sich um eine wohlgenährte 38 jährige Frau, welche schon längere Zeit über eine Polyurie klagte, die bei einer gleiehmässigen kochsalzarmen Diät zur Ausscheidung von durchschnitt- lich 51 Urin führte. Für die eigentliche Beobachtung wurde die Koch- salzmenge noch weiter herabgesetzt, so dass nur ganz geringfügige Mengen von Kochsalz eingeführt wurden. Schon das Herabgehen der Harnmengen (am 13. V.) auf Einschränkung des Kochsalzes zeigt, dass wir es hier mit einem idiopathischen Diabetes insipidus zu tun hatten. Erich 1) B.kl.W., 1912, S. 718. (Diskussion.) 32 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. NaCl 'NaCi' | Tag und Kost “ Zugabe Menge aha Ira Frau D. Mai 1915. 12. salzfreie Kost — | 4660 /6,19 80,13 | 1305 mg | — mg 13. n = = | 3500 11,99 g 0, 0571120 „ 630 „ 14. x 5 0,5 Pitugl. | 1490 0,85 2 0.057 1073 „1492 „ 15. x De a HZ 1150 /0,65 8 0,057| 1311 „ |209 „ 16. 5 3 — 2430 1,38 g.0,057| 1264 „ |340 „ 1%: ® & 5g NaCl 3230 5,43 80,17 1163 „ 433 „ 18. & 5 1 g Pituitr., 2080 5,80 g.0,28 1352 „| 5 g NaCl | | „ |Rost{7,4g NaCl) 3470 |7,39 g.0,21 = —- 20. n a 1g Pituitr. + 7 2460 17,97 8. 0,32 —— | 21 £ = _ ı 2030 4,99 g.0,24 _— 0 22. 4 z — | 2500 '5,07 g|0,2 a 23. 5 > 1g Pituitr. | 1530/4,6g 0,3 — — = Tag und Kost Zugabe [Menge N | Er = N Juni 1915. 15. salzfreie Kost — 3750 | 4,46g| 0,12 | 11,55 g ee R er 4460 | 718g 0,16 |14,37g 17. 5 = 1g Pitugl. per anum | 3570 | 6,14g| 0,17 |17,88g 18. 5 5 BETTER 3 ni 3400 4,76g | 0,14 '13,63g 19. z z — 4030 6,93g| 0,17 |11,54g 20. & 2 — 5080 '11,48g| 0,22 |12,01g 21. n 5 = 5000 | 4,85g 0,09 |10,74g 22. a 5 1 g subeutan 2730 | 6,74g| 0,24 10,75g 23. = & En 3200 5,70g| 0,17 | 9,85g 24, & % 1 g subeutan 1860 | 3,81g| 0,20 | 9,33g 23. E 5 — 2700 ı 435g 0,16 | 831g 26. 5 = — 4850 10,96g 0,22 10,07g 27. 5 ä —_ 2800 | 5,71g| 0,20 | 6,62g 28 i £ = 4170 | 7,17g, 0,17 | 8,06 29 : x - 3470 | 7,08g| 0,20 | 8,64g E Iv | Tag und Kost | Zugabe Menge | I | De | - Juli 1918. 15. salzfreie Kost — 4650 | 781 0,17 16. 3 — 4350 13°>.1.7047 1: 2 r = | 3300 | 445 | 0,33 18. E & 1 g subcutan | 1500 },4,18 | 0,28 19. R 5 —_ | 1940 3,4 0,28 20. 2 E —_ 2620 | 5,74 | 0,22 21. ® > — 3050 | 6,83 0,22 22. ® . — 3100 | 6,23 0,20 23. 5 = _ 3120 | 5,24 0,17 24. . = 1 g Pitugl. per anum | 3630 | 6,24 0,17 23. 5 a Ir 5 2.27 1731007 26 0,15 26. 5 : _ | . 3320 3,78 0,11 I. Abteilung. Medizinische Sektion. 35 Meyer hat ja bekanntlich als Unterscheidungsmerkmal zwischen dem symptomatischen und dem idiopathischen Diabetes insipidus die Reaktion auf eine Kochsalzzulage angegeben; beide scheiden das überschüssige Kochsalz aus; der „symptomatische Polyuriker*“ ohne Vermehrung der Harnflut, während bei wahrem Diabetes insipidus jede Kochsalzzulage eine erhebliche Vermehrung der Harnmenge erzielt. Eine Injektion von 0,5 g Pituglandol (14. V.) führt bei unserer Patientin zu dem mächtigen Sturze auf 1490 ccm Harn. Am nächsten Tage wird 1g (15. V.) nach- injieiert, die Harnmenge sinkt auf 1150 ccm, um am folgenden Tage 2430 ccm (16. V.) zu betragen. Nunmehr wird ein Versuch angeschlossen, wie das Pituglandol bei kochsalzreicherer Kost wirkt. 5 NaCl als Extra- gabe erhöhen die Harnmenge (17. V.) auf 3230 g, jetzt wird 1.g Pitu- glandol bei derselben NaCl-Zulage injiciert: Herabsinken (18. V.) auf 2080; am nächsten Tage (19. V.) werden der Kost 7 g Kochsalz zugelegt. Resultat 3470 ccm, die durch 1 g Pituglandol (bei 7 g NaCl) auf 2406 (20. V.) ermässigt werden. Noch 2 Tage hält die Harnvermin derung an: 2030, 2500 cem, und eine neue Injektion (23. V.) lässt die Harnmenge wieder noch weiter auf 1530 sinken. Betrachten wir dabei die Chlor- ausscheidung nach absoluten Zahlen und nach Prozenten, so sehen wir, wie mit der Kochsalzzufuhrverminderung in der Nahrung auch die Aus- fuhr etwa bis 0 sinkt, dass aber sowohl die 5 g, wie die 7 g Zulage an ‚peiden 2tägigen Perioden vollständig ausgeschieden werden, aber mit sehr verschiedener prozentualer Konzentration. Beide Male wird durch Pituglandol die Konzentration auffallend erhöht. In der Zwischenzeit, bis zum 2. Versuch, erhält die Patientin wöchentlich etwa 2 Injektionen, welche ausreichen, um ihr ihre Polyurie so zu vermindern, dass sie keinerlei Klage hat. Es entsteht der Wunsch, das Pituglandol so zu verabreichen, dass die Patientin nicht immer ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen braucht, wie bei der subcutanen Injektion, und so wird versucht, das Pituglandol per anum einzuführen. Sie sehen die Wirkung (17. VII. und 18. VII) verglichen mit der sub- eutanen Einspritzung (22. VII. und 24. VII); eine Verminderung der Harnmenge tritt ebenfalls ein, aber nur in geringem Maasse, und die subceutanen Injektionen wirken unvergleichlich stärker. Von einer Koch- salzkonzentrationserhöhung ist wenig zu spüren; dagegen führen die subeutanen Injektionen am nächsten Tage zu der konzentrierteren Aus- scheidung des Kochsalzes. Ein dritter Versuch mit dem gleichen Zwecke: zeigt, dass eine einzige Subeutanirjektion (18. VIII.) das Vielfache der Wirkung hat als zwei anale Injektionen (24. VIII. und 24. VIII.), was die Harnmenge be- trifft. Sie sinkt nach subeutaner Injektion auf 1500 cem, während sie nach analer Beibringung bei 3600 und 3100 bleibt. Wiederum sehen wir, dass die subcutane Einspritzung eine kolossale Erhöhung der Kochsalz- konzentration (18. VIIIL) zu Wege bringt, dass die anale Beibringung dagegen in diesem Punkte vollständig versagt. Das Ergebnis der Pituglandolbehandlung bei der Patientin war also eine starke Herabsetzung der Harnmenge und eine grosse Konzentrationserhöhung bei der Kochsalz- zufuhr. Die Wirkung des Hypophysenextraktes ist somit zweifellos als eine Hemmung der Diurese aufzufassen. Diese Beobachtung liess den Wunsch entstehen, auch andere Polyurien, wie ich sie bei den Soldaten nicht gerade selten fand, und bei denen das wesentliche Symptom eine Incontinentia urinae neben einer Polyurie von etwa 3 | war, ebenfalls mit Pituglandol zu behandeln. Schlesische Gesellseh. f. vater]. Cultur. 1916. II. 3 34 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Es hatte dies aber keinen Erfolg, und zwar nach meiner Vermutung in erster Reihe deshalb, weil diese Patienten, unter einem recht hohen Salzgehalt ihrer Kost stehend, schon von vorn- herein eine hohe Chlorkonzentration im Harn hatten. Eine noch intensivere Erhöhung der Chlorkonzentration, wie sie hier hätte eintreten müssen, vermochte aber das Pituitrin nicht zu erzielen. Ich möchte Ihnen noch über einen Fall berichten, wo ich das Pituitrin bei einem Patienten angewandt habe, der angeblich einen Diabetes insipidus gehabt haben sollte. Er berichtete nämlich, dass er für gewöhnlich 5—7 ] Urin liesse,. was ihn sehr plagte, da er an einer Prostatahypertrophie mit starker Cystitis litt. Als ich ihn sah, war seine Harnmenge nicht grösser als 2320 ccm. Der Harn zeigte die Erscheinungen der Cystitis, Spuren von Eiweiss und kaum Nierenelemente. Tag Menge NaCl N NaCl 14. IX. 2320 6,8 7,27 0,29 pCt. 15. IX. 2270 5,85 6,15 0,96... 16. IX. 1860 4,8 6,36 0,96 lg Pituglandol 17. 1X 1180 2,35 5,95 02% 25 18. IX. 1200 2,32 — 0,19, „ III 1740 2,8 7,2 Oo: = Wenn bier das Pituitrin überhaupt eine Wirkung gehabt hat, so hat es am 16., 17. und 18. die Harnmenge vermindert um etwa 1/;—1 |, wobei sich aber die Konzentration keineswegs ge- hoben hat. Ja, ich hatte sogar die höchst unangenehme Empfin- dung, dass es Schuld trüge an der noch bis über den 18. dauernden Konzentrationsverminderung, die in einer schon etwas ängstigenden. Weise mit leichten Anzeichen der Urämie einberging. Nachdem sich glücklicherweise diese Erscheinungen am 19. verloren hatten und wieder für diesen Patienten normale Ausscheidungsverhältnisse- für N eingesetzt hatten, prüfte ich seine Nierenfunktion mittels Phenolsulfophthalein und fand nur ganz wenige Prozent Aus- scheidung, also eine ausserordentlich schlechte Nierenfunktion. Nun ist es sehr wohl möglich, dass bei solcher Nierentätigkeit die ganze Erscheinung ohne Zusammenhang mit dem Pituitrin. war. Immerhin ist die analoge Beobachtung der gleichzeitigen Herabsetzung von Harnwasser und vor allem der Stickstoffmenge in dem Falle von Graul!) in noch stärkerem Maasse hervorgetreten.. Die Harnmenge sank zwar von 9 auf 2 |, aber auch die N-Aus- scheidung auf 2g pro die, ohne dass nach Graul’s Vermutung sonst für Kochsalz eine Konzentrationserhöhung eingetreten wäre. In solehen Fällen von Ausbleiben der Konzentrationserhöhung bei Verminderung der Diurese dürfte ein zweiter Typus der Pituitrin- wirkung zu erkenuen sein. In einem dritten Falle von Diabetes insipidus bei einem Soldaten, dessen Harnmenge bei der Lazarettkost 5—6 Liter betrug und der da- bei zwischen 15 und 20 g Kochsalz und ebenso Stickstoff ausschied, er- reichte die Injektion von Hypophysin eine Verminderung der Harnmenge um 1/, 1 ohne sehr ausgesprochene Konzentrationsveränderung, ebenso- die von Pituglandol. Dafür ein Beispiel: 1) D.m.W., 1915, S. 1095. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 35 Harnmenge Spec. Gew. NaCl. N cem g g pCt. g Behandlung 19. 6100 1008 NE 0,32 16,38 nichts 20. 4450 1009 Nor 0,577 14,7 l ccm Pituglandol 21. 4650 1007 13,21 0,28 10,33 do. 22. 4750 1010 19,14 0,4 13,73 Hypophysin 23. 5500 1008 14,85 0,27 12,49 nichts 24. 6950 1008 15,98 0,23 — nichts Eine Vermehrung der Pituglandol- oder Hypophysenmenge auf 2 ccm brachte keine Vermehrung der Wirkung — es schienen sogar an einem Tage 2 cem Pituglandol die Harnmenge zu erhöhen. Vielleicht ist darauf der Misserfolg im Falle von Steiger!) zurückzuführen, dass er mit 3 g Pituitrin eine zu hohe Dosis verabfolgte. Wir haben bei diesem Falle des öfteren Injektionen von Adrenalin gemacht. Sie hatten ziem- lich dieselbe Wirkung wie die Hypophysenextrakte, während Stromeyer Adrenalin ohne Erfolg gegeben hat. Der Patient hat nach Adrenalin, aber nicht nach den Hypophysenpräparaten regelmässig einen Anfall von nervösem Zittern gehabt. Für die Theorie der Hypophysenwirkung kann mit den ex- perimentellen und klinischen Tatsachen wohl nur die Annahme in Einklang gebracht werden, dass die Drüse die Aufgabe hat, die Polyurie zu hemmen. Wo ihr Hormon nicht am Boden des 4. Ventrikels das Polyuriecentrum erreichen kann, tritt eben die Polyurie zutage. Von der Durchgängigkeit des Infundibulums könnte dann aber nicht nur die Wirkungsmöglichkeit des natür- lichen Hormons, sondern auch die des Hypophysenextraktes ab- hängen, etwa im Sinne der Hyperthermieversuche Römers2), der durch Verschluss des Infundibulums durch einen Quecksilber- tropfen hyperthermische Zustände hervorrief. Man darf sich wohl auch vorläufig der Römer’schen Auf- fassung anschliessen, mit der er den späten Eintritt der Polyurie- hemmung durch Hypophysenextrakt mit der Zeit erklärt, die ver- geht, bis der Extrakt an den Ort seiner Wirkung, den Boden des 4. Ventrikels, gelangt ist. Wenn auch diese Vorstellungen nichts definitiv Bewiesenes sind, so sind sie doch zunächst als Arbeits- hypothesen am besten im Einklang mit den Tatsachen. In therapeutischer Beziehung weist der kasuistische Bericht, den ich Ihnen hier erstattet habe, darauf hin, dass die Hypo- physenpräparate zur Behandlung des Diabetes insipidus sehr zu empfehlen sind, und dass, da ihre Wirkung in einer Steigerung des Konzentrationsvermögens der Niere zu liegen scheint, sie zu besonderer Wirkung kommen können, wenn der Kochsalzgehalt der Kost möglichst herabgesetzt wird. Ihre Wirkung ist eine vorübergehende, im günstigen Fall einige Tage dauernd, und bei subeutaner Anwendung eine viel bessere als bei analer Ein- bringung. Wr DEmeW., 2912,.5.41869. 2) D.m.W., 1914, S. 108. 3* vi. Unterricht einer Taubblinden durch einen selbst erblindeten Lehrer. Von Dr. phil. Ludwig Cohn-Breslaun. (Mit einem Vorwort von Prof. W. Uhtheff.) Zur Einleitung nimmt der Vorsitzende Prof. W. Uhthoff das Wort über die sehr bemerkenswerten medizinischen Daten des vor- zustellenden Krankheitsfalles. M.H.! Ich möchte mir gestatten, zu dem Falie, den Herr Dr. Cohn Ihnen gleich vorstellen wird, einige klinische Bemer- kungen vorauszuschicken. Die Patientin ist schon einmal in der medizinischen Sektion als seltener Fall von Dr. Schuppius vor- gestellt worden (Klinischer Abend. in der Psychiatrischen Univ.- Klinik vom 10. III. 1916), und ich wurde damals gebeten, mich der Kranken zwecks Zuführung zum Blindenunterricht anzunehmen. Ausführlich ist die Krankengeschichte von G. Woitalla in seiner Dissertation (Breslau) aus der psychiatrischen Klinik 1915 „Das Symptombild eines doppelseitigen Kleinhirn-Brückenwinkeltumors bei Neurofibromatosis“ niedergelegt worden. Die Krankheit hat sich seit Jahren langsam entwickelt, und wir haben Patientin Cl. H., jetzt 20 Jahre alt, schon 1913 einige Zeit mit cerebralen Symptomen und Stauungspapillen in der Univ.- Augenklinik beobachtet. Später ist sie dann längere Zeit in der psychiatrischen Klinik behandelt worden. Als Zeichen des allgemeinen Hirndrucks bestanden Kopf- schmerzen, Erbrechen und Stauungspapillen, welche zur Erblindung führten. Als erstes in die Erscheinung tretendes Symptom und zugleich als erstes Lokalsymptom entwickelten sich Hörstörungen, die den Ausdruck einer doppelseitigen Acusticusschädigung, anfangs in Gestalt von Reiz-, dann von Lähmungserscheinungen darstellten. Charakteristisch waren ferner die Trigeminusstörungen, die sich in Aufhebung des ÜCornealreflexes rechts bzw. Ab- schwächung links äusserten. Vorübergehend bestand früher leichte doppelseitige Abducensparese. Die mutmaassliche Natur der doppelseitigen Acusticus- erkrankung muss in einer Neurofibrombildung angenommen I. Abteilung. Medizinische Sektion. 37 werden, dafür spricht auch besonders der Umstand, dass vor längerer Zeit am rechten Oberarm ein kleiner Tumor der Radialis- scheide in der chirurgischen Univ.-Klinik exstirpiert wurde, der sich anatomisch als Neurofibrom erwies. Ein kleiner analoger Tumor ist auch am linken Oberarm fühlbar. Die rechte Hand und der rechte Unterarm zeigen einen mässigen Grad von Atrophie. Jetzt ist offenbar nach völligem Verluste des Gehörs- und Gesichtssinnes ein ziemlich stationärer Zustand eingetreten, wie das sehr wohl bei diesen Krankheitsprozessen möglich ist. Pa- tientin ist zurzeit frei von wesentlichen sonstigen cerebralen Beschwerden, und ihre Intelligenz ist vollständig erhalten. Sie hatte den dringenden Wunsch nach Beschäftigung und Blinden- unterricht und drohte ihren Eltern, sich ein Leid anzutun, falls nichts in dieser Hinsicht geschehe. Da ist uns nun als Retter in der Not Hr. Dr. phil. Ludw. Cohn zur Hilfe gekommen, wir haben die Kranke ein Zeitlang in die Klinik aufgenommen, und sie ist regelmässig von ihm unterrichtet worden. Nun, m.H., wie er es als Blinder fertig gebracht hat, diese Taubblinde mit Erfolg zu unterrichten, darüber wird er Ihnen jetzt selber berichten. } Die vorerwähnte Patientin, die den lebhaften Wunsch äusserte, beschäftigt oder unterrichtet zu werden, andernfalls sie sich aus Verzweiflung an diesem anregungslosen Dasein das Leben nehmen wolle, wurde mir am 11. März d. J. zum ersten Male gebracht. Sie war sehr scheu und misstrauisch und fragte unablässig, wo sie sei, und was mit ihr geschehen solle. Ihre Mutter schrieb ihr durch Führen des Fingers die Antwort auf, und nun blieb das Mädchen bei mir, merklich erfreut, dass ihr Wunsch erfüllt werden solle. Während sie bis dahin immer ängstlich nach der Mutter gefragt hatte, schien sie nun Vertrauen zu mir zu haben und blieb allein da. Durch den taubblinden k. k. Hofrat Hugo Ritter v. Ohlu- mecki in Brünn und durch gelegentliches Hospitieren in der Abteilung für taubstummblinde Kinder in der Blindenunterrichts- anstalt in Düren sind mir die in Betracht kommenden Lehr- methoden bekannt, und meine eigene Blindheit ist kein Hinderungs- grund, als Lehrer Taubblinder zu fungieren. Sehr hilfreich kam mir zu statten, dass unsere Patientin aus ihrer sehenden Zeit her noch die Schrift beherrscht. Deshalb benutzte ich zum Unterricht ein von Frau Marie Lommnitz-Leipzig für den Unterricht später Erblindeter hergestelltes äusserst zweck- mässiges Alphabetschema, bei dem über jedem Blindenschrift- buchstaben dieser als grosse lateinische Letter gut tastbar steht. Ich begann mit dem I, und nun dauerte es eine geraume Zeit, bis meine Schülerin begriff, dass sie mir sagen soll, als was sie dieses Zeichen anspräche. Endlich sagte sie mir, das sei einel. Nun wandte ich zum ersten Male das Zeichen für „nein“ der Taubblindensprache an, ein leichtes mehrfaches Bestreichen der 38 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Hand. Das begriff sie natürlich nicht. Da gab ich ihr das L unter die Finger, und als sie es nach kurzer Zeit richtig erkannte, bejahte ich es ihr, auch wieder in der Taubblindensprache, durch kurzes mehrfaches Klopfen auf die Hand, sofort aber brachte ich sie wieder auf das I und verneinte wieder, als sie nochmals darin eine 1 vermutete. Nun merkte sie, was das Klopfen und Be- streichen der Hand zu bedeuten hatte. Das war ein wichtiger Schritt vorwärts. Weiter brachte ich ihr nun bei, dass der lateinische Buchstabe und das aus Punkten bestehende Zeichen darunter identisch sind. So lernte sie noch in der ersten Unterriehtsstunde einige Buchstaben. Ich schnitt ihr die einzelnen Buchstaben beider Schriftzeichen aus dem Schema aus, damit sie daheim üben konnte. Sie erwies sich im Gegensatz zu ihrer Schulzeit als sehr eifrig und gelehrig. Das Erlernen des Schreibens, das dadurch eine kleine Schwierigkeit bildet, weil die Buchstaben umgekehrt geschrieben als gelesen werden müssen, nahm weitere vier Wochen in Anspruch. Eine überraschend kurze Zeit, wenn ich sehe, dass die Kriegserblindeten nicht rascher, meist sogar länger lernen. Patientin beherrschte die Blindenschrift so zut, dass sie schon Ende April ein Gebetbuch recht gut benutzen konnte. Drei Stunden waren- dann weiter erforderlich, um ihr die Taubblindenfingersprache beizubringen, eine ebenfalls sehr kurze Zeit, die aber genügte, um sie in der Anwendung dieser Sprache ganz sicher zu machen. Ich habe das System gewählt, das mir vom Hofrat v. Chlumecki bekannt und schon von dem taubblinden Diehter Hieronymus Lorm gesprochen worden ist. Es ist einfacher als das, das z. B. in Düren gelehrt wird. Während nämlich dort die einzelnen Glieder jedes Fingers berücksichtigt werden, be- schränkt sich unser System auf den ganzen Finger. So bedeutet ein leichtes Klopfen auf die Innenseite des Daumens das A, auf die weiteren vier Finger die übrigen Vokale. Ein Klopfen auf die Fingerballen vom Zeigefinger bis zum kleinen Finger bedeutet BDGH. Ein wirbelartiges Klopfen in- den Handteller ein R. Ein leichtes Bestreichen der Handfläche vom Ballen bis zu den Fingerspitzen das L, usw. Meine Schülerin zeigt grosse Freude an dieser Sprache und benutzt sie im Verkehr mit mir viel lieber, als dass sie sich von mir alles in Blindenschrift nahe bringen lässt. Endlich lehrte sie noch das Schreiben der grossen lateinischen Buchstaben in einer hierfür brauchbaren Tafelform, das ist die im Blinden- unterrieht bekannte Heboldtschrift. Das macht ihr noch etwas Mühe, weil sie da wieder im Gegensatz zur Punktschrift von links nach rechts schreiben muss. Eine mir in der Kriegsblinden- fürsorge assistierende Dame hat dem Mädchen Handarbeiten und Handfertigkeiten beigebracht, so dass sich die Patientin aus- reichend beschäftigen kann. Wenig gut ist ihr Vorstellungsvermögen entwickelt. Ich machte Versuche mit dem Erkennen von Reliefbildern, dabei versagte sie vollständig. Sie erkannte Tiere nicht, ja, vermochte zum Beispiel keinen Unterschied zwischen einem Strauss und einem Kamel heraus zu finden. Mehrfach belehrt, erkannte sie I. Abteilung. Medizinische Sektion. 39 dann einzelne Bilder wieder, bei neuen jedoch zeigte sie immer wieder das gleiche Unvermögen. Dagegen erkannte sie das so- genannte Russische Brot, das bekanntlich in den verschiedensten Formen, meist in Buchstaben und Ziffern gebacken ist, in den einzelnen Formen wieder. Jetzt ist meine Schülerin so weit, dass sie meiner Hilfe nicht mehr bedarf. Dieser Erfolg nach zehnwöchentlichem Unter- richt bedeutet meines Wissens einen Rekord, der selbstverständlich ganz unbeabsichtigt durch die gute Intelligenz und den rührenden Fleiss des Mädchens herbeigeführt worden ist. Höher aber ist der ethische Erfolg zu veranschlagen: Das Mädchen, das am Tage, bevor sie zum ersten Male mir vorgeführt wurde, zu ihrer Mutter gesagt haite: „Sei nicht böse, wenn ich dir jetzt etwas sage! Ich kann das Leben so nicht mehr ertragen, wenn ich einmal allein bin, nehme ich mir in der Küche beim Gasherd das Leben,“ eben dasselbe taubblinde Mädchen sagte vor einer kurzen Zeit zu mir: „Ich glaube, ich werde noch einmal ganz glücklich!“ N Il. Ueber die Hervorrufung der lokalen Tuberkulin- empfindlichkeit. (Ein Beitrag zum Problem der Tuberkulose-Schutz- impfung.) Von Privatdozent Dr. 6. Bessan. Der Koch’sche Fundamentalversuch lehrt, dass es einen speeifischen Tuberkuloseschutz, eine „Tuberkuloseimmunität“, gibt: ein Tier, das mit Tuberkelbacillen infieiert ist, zeigt gegenüber einer neuerlichen Infektion eine erhöhte Widerstandskraft. Dass die Tatsache eines specifischen Tuberkuloseschutzes immer wieder geleugnet wurde, liegt nur an mangelnder Berücksichtigung der quantitativen Verhältnisse: der Schutz ist quantitativ beschränkt. Ueber seine Grösse sind wir durch die exakten Untersuchungen Römer’s gut unterrichtet; wer den quantitativen Verhältnissen Rechnung trägt, kann sich von dem Vorhandensein des specifischen Schutzes leicht überzeugen. So unzweifelhaft das Vorhandensein eines specifischen Tuber- kuloseschutzes ist, so ungeklärt ist der Mechanismus desselben. Zunächst hoffte man durch Analogie mit den Mechanismen ein- gehend erforschter Immunitätsformen weiterzukommen; man suchte nach Antikörpern, fand auch solche und erwartete, dass sie mit dem specifischen Tuberkuloseschutz in Beziehung stünden. Alle Konstruktionen derartiger Zusammenhänge sind aber bisher miss- lungen, keiner der erwiesenen Antikörper kann als Grundlage der Tuberkuloseimmunität gelten (vgl. die neuen Untersuchungen von Ungermann). Deycke und Much glauben, dass der specifische Tuberkuloseschutz auf der Anwesenheit sämtlicher Partialanti- körper gegen die vier Partialantigene, die sie durch Säureauf- schliessung der Tuberkelbacillen erhielten, beruhle. Nun ist es überhaupt unwahrscheinlich, dass die Tuberkuloseimmunität auf Antikörpern beruht, da sie nach den Untersuchungen Römer’s und seiner Schüler passiv nicht übertragbar ist, ja nicht einmal 1) Eine ausführliche Mitteilung der experimentellen Ergebnisse wird in einer Fachzeitschrift erfolgen. l. Abteilung. Medizinische Sektion. 41 von dem Muttertiere (Schaf), weder intrauterin noch durch Säugung, auf das Junge übergeht. Auch das menschliche Neu- geborene einer Mutter, von der wir voraussetzen können, dass sie im Besitz des specifischen Tuberkuloseschutzes ist, besitzt be- kanntlich den höchsten Grad der Disposition für die Tuberkulose- infektion). Aussichtsreicher als alle Analogieversuche mit anderen Im- munitätsmechanismen erschien mir von jeher das specielle Stu- dium der biologischen Vorgänge im tuberkuloseinficierten Orga- nismus. Jedem Theoretiker bekannt, jedem Kliniker seit der fundamentalen Entdeckung v. Pirquet’s tagtäglich vor Augen tretend ist eine charakteristische Eigenschaft des tuberkulose- infieierten Individuums: die Fähigkeit, auf eine bestimmte Sub- stanz des Tuberkelbacillus, das Tuberkulin, mit Erscheinungen lokaler und allgemeiner Entzündung zu reagieren. Wer dieses charakteristische Phänomen täglich von neuem beobachtet, dem muss sich die Vermutung aufdrängen, dass Beziehungen zwischen dem specifischen Tuberkuloseschutz und der specifischen Tuber- kulinempfindlichkeit bestehen. Ein derartiger Zusammenhang ist schon von verschiedenen Autoren (Wolff-Eisner, Römer, Hamburger u. a.) ausgesprochen worden; allein in der allgemeinen Fassung: specifische Tuberkulinempfindlichkeit —= specifischer Tuberkuloseschutz stösst die These auf Schwierigkeiten?). Meines Erachtens werden alle Schwierigkeiten überwunden, sobald wir in das Wesen der Tuberkulinempfindlichkeit eindringen. Von der specifischen Tuberkulinempfindlichkeit gilt zunächst das gleiche wie vom specifischen Tuberkuloseschutz: sie ist passiv nicht übertragbar, sie geht nicht von der Mutter auf den Säug- ling über, ja sie überträgt sich nach Römer und Köhler nicht einmal von Tier zu Tier bei parabiotischer Vereinigung. Genaue Vergleiche zwischen Serum- und Tuberkulinempfindlichkeit, wie ich. sie durchgeführt habe, lehren, dass zwischen diesen beiden Ueberempfindlichkeitsformen prinzipielle Unterschiede bestehen: die Serumüberempfindlichkeit folgt in jeder Hinsicht den Anti- körpergesetzen, während die Tuberkulinempfindlichkeit ihnen in jeder Hinsicht widerstrebt. Es kann somit keinem Zweifel unter- liegen, dass die Tuberkulinempfindlichkeit nicht auf Antikörpern beruht. Wollen wir das Wesen der Tuberkulinempfindlichkeit ver- 1) Neuerdings gibt Römer an, mit specifischem (artgleichem) Serum Schutzwirkungen im Tierversuch erzielt zu haben; die weitere Prüfung dieser Angabe, die sich nur auf wenige, dazu nicht völlig über- einstimmend ausgefallene Versuche stützt, bleibt abzuwarten. Ebenso wollen Much und Leschke mit dem Plasma eines tuberkuloseimmunen Menschen, das alle Partialantikörper enthielt, specifische Schutzwirkungen hervorgerufen haben. Wir sind gegenwärtig mit einer Prüfung der Grundlagen der Deycke-Much’schen Anschauungen beschäftigt und werden erst nach Abschluss unserer Untersuchungen zu den Angaben jener Autoren Stellung nehmen. 2) Vgl. die Darstellung Loewenstein’s im Handbuch von Kolle- Wassermann, II. Auf. 42 Jahresberieht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. steben, so müssen wir uns einer bestimmten Erscheinungsform derselben erinnern, die bei Ueberempfindlichkeitsformen, welche auf Antikörpern beruhen, nicht existiert und die für die Tuber- kulinempfindlichkeit geradezu charakteristisch ist, ich meine die Herdreaktion. Die Herdreaktion Jebrt meiner Ansicht nach ohne weiteres, dass die Tuberkulinempfindlichkeit an das tuberkulöse Gewebe gebunden ist: überall, wo Tuberkulin ‘mit taberkulösem Gewebe in Kontakt tritt, entsteht eine Gift- wirkung, die lokal Entzündung, allgemein Fieber auslöst. Dass das tuberkulöse Gewebe der Träger der Tuberkulinempfindlichkeit ist, hat Bail experimentell erhärtet, der mit tuberkulösem Ge- webe die Herd- und damit die Allgemeinreaktion passiv über- tragen konnte. An welche Eiemente des tuberkulösen Gewebes die Empfindlichkeit geknüpft ist, ob diese Elemente morphologisch definierbar (Epitheloidzellen?) sind oder nicht, ist vor der Hand unentschieden: einstweilen könnte man von „Tuberkuloeyten“ sprechen. Wer wie wir lediglich im tuberkulösen Gewebe den Träger der Tuberkulinempfindlichkeit sieht, der muss sefort eine sehr bedeutsame Folgerung ziehen: Während bei Ueberempfindlichkeits- formen, die auf Antikörpern beruhen, z. B. bei der Serumüber- empfindlichkeit, die verschiedenen Erscheinungsformen derselben die gleiche Bedeutung haben — eine Herdreaktion gibt es nicht!), Lokal- und Allgemeinreaktion sind der Ausdruck der vorhandenen Antikörper —, bedeuten die verschiedenen Erscheinungsformen der Tuberkulinempfindlichkeit — Herd-, Allgemein- und Lokal- reaktion — nicht das gleiche: Herd- und Allgemeinreaktion sind die Folge der Re- aktion zwischen Taberkulin und dem vorhandenen tuberkulösen Gewebe; bei dieser Reaktion entsteht ein Gift (nach meinen Untersuchungen handelt es sich biologisch um anaphylaktisches Gift), das lokal Entzündungserscheinungen (Herdreaktion), nach Uebergang in den Blutkreislauf Allgemeinerscheinungen (Allgemein- reaktion) auslöst. Die Lokalreaktion (lokal = am Orte der Dar- reichung) ist der Ausdruck dafür, dass der Organismus die Fähigkeit besitzt, auf Tuberkulinreiz tuberkulöses Gewebe zu bilden; die Lokalreaktion ist dann der Ausdruck der Reaktion zwischen Tuberkulin und neugebildetem, tuberkulösem Gewebe. — Dass die Lokalreaktion auf Grund neugebildeten tuberkulösem Ge- webes entsteht, lässt sich histologisch und biologisch erweisen; histologisch: die lokale Tuberkulinreaktion zeigt die für tuber- kulöses Gewebe charakteristischen Gewebsveränderungen (eine Tatsache, die bei der Antikörpertheorie völlig unerklärt blieb), biologisch: die lokale Tuberkulinreaktion zeigt auf neuerlichen Kontakt mit Tuberkulin echte Herdreaktionen. Nach diesen Ausführungen sind Herd- und Allgemein- reaktion der Ausdruck des vorhandenen tuberkulösen Gewebes, die Lokalreaktion dagegen ist der Ausdruck 1) Vgl. Bessau, Jb. f. Kindhlk., 1914, Bd. 81, S. 405 £. l. Abteilung. Medizinische Sektion. 43 des Vermögens, tuberkulöses Gewebe zu bilden. Wir verstehen nunmehr, dass Allgemein- und Lokalreaktion sowohl beim Tiere wie beim Menschen keinen Parallelismus zeigen: die Allgemeinreaktion geht im grossen und ganzen der Ausbreitung des tuberkulösen Prozesses parallel, die Lokalreaktion dagegen nicht. Beim Menschen pflegt nach eignen Untersuchungen in progredienten Fällen die Allgemeinreaktion stark, die Lokalreaktion schwach zu sein (= viel tuberkulöses Gewebe — weil viele oder grosse tuberkulöse Herde — vorhanden, dabei geringes Vermögen, tuberkulöses Gewebe zu bilden); bei inaktiven, klinisch geheilten Fällen ist gewöhnlich die Lokalreaktion stark, bzw. leicht steiger- bar, während die Allgemeinreaktion sehr gering, meist gleich Null ist (= wenig tuberkulöses Gewebe vorhanden, aber starkes Ver- mögen, tuberkulöse Gewebe zu bilden). Aus dieser Erkenntnis heraus kann zum ersten Male verständlich gemacht werden, warum Herd- und Allgemeinreaktion einerseits, Lokalreaktion andererseits eine verschiedene diagnostische Bedeutung haben: nicht deshalb, weil diese verschiedenen Reaktionsformen verschieden fein sind — das liesse sich selbstverständlich durch quantitative Abstimmung ausgleichen —, sondern weil sie verschiedenes aussagen, und zwar in dem eben dargestellten Sinne!). Es kann, wenn überhaupt die Tuberkulinempfindlichkeit zum spezifischen Tuberkuloseschutz Beziehungen hat, keinem Zweifel unterliegen, dass lediglich die lokale Tuberkulinempfind- lichkeit ein Ausdruck des Schutzmechanismus ist. Nicht das statische Moment, der Gehalt des Organismus an specifischem, tuberkulösem Gewebe, sondern nur das dynamische Moment, das Vermögen, dieses Gewebe auf specifischen Reiz hin zu bilden, kann mit dem Wesen des specifischen Schutzes in Beziehung ge- bracht werden. Hiermit stimmt überein das biologische Verhalten bei der spontanen Ausheilung der Tuberkulose: die Allgemein- empfindlichkeit sinkt ab (== tuberkulöses Gewebe schwindet), die Lokalempfindlichkeit bleibt lebhaft, steigert sich oder bleibt zum mindesten für sehr lange Zeit leicht steigerbar (= das Ver- mögen, auf specifischen Reiz specifisches Gewebe zu bilden, bleibt erhalten oder steigert sich sogar). Dass die lokale Tuberkulinempfindlichkeit mit dem specifischen Tuberkuloseschutz in Zusammenhang steht, wahrscheinlich mit ihm zu identifieieren ist, ist eine durchaus verständliche Annahme. Die lokale Entzündung ist immer eine Abwehrvorrichtung des Orga- nismus, und so muss auch die erworbene specifische Fähigkeit, auf bestimmte Tuberkelbacillensubstanzen mit Entzündung zu reagieren, von vornherein als eine Schutzeinrichtung betrachtet werden. Meines Wissens gibt es keine Beobachtung, die gegen den Zusammenhang von lokaler Tuberkulinempfindlichkeit und specifischem Tuber- kuloseschutz spräche. 1) Ich kann an dieser Stelle nur so weit auf meine Anschauungen über die Tuberkulinempfindlichkeit eingehen, als es zum Verständnis des Folgenden durchaus notwendig ist; Näheres siehe in meinen Arbeiten Jb. f. Kindhlk., Bd. 81. 44 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Treten wir nunmehr an die Frage der künstlichen Hervor- ruafung der Tuberkulinempfindlichkeit, so kann, wenn wir vom Gesichtspunkt der Tuberkuloseimmunisierung geleitet werden, nur die Erzeugung der lokalen Tuberkulinempfindlichkeit erstrebt werden. Die Frage lautet: Kann eine Tuberkulinlokal- empfindlichkeit ohne Infektion mit Tuberkelbacillen erworben werden? Dass eine stärkere Tuberkulinallgemein- empfindlichkeit, die ja auf der Summe des gebildeten tuber- kulösen Gewebes beruht, nur durch viel und möglichst überallhin verteilte Tuberkelbacillensubstanz, also durch Infektion, eventuell durch Ueberschwemmung des Organismus mit massenhaften toten Bacillen (Ungermann) erworben werden kann, ist nach unseren Auseinandersetzungen ohne weiteres klar. Vom praktischen Standpunkt aus interessiert lediglich die Frage, ob und auf welche Weise der Organismus ohne Infektion das Vermögen er- langen kann, tuberkulöses Gewebe zu bilden, ob er also ohne Infektion die lokale Reaktionsfähigkeit zu erwerben vermag. Wenn wir einen erfolgreichen Plan für die Hervorrufung der lokalen Tuberkulinempfindlichkeit gewinnen wollen, so müssen wir versuchen, uns eine Vorstellung zu machen, warum dieses Ziel durch Vorbehandlung mit Tuberkulin nicht erreicht wird. Warum gelingt es nicht, ein Individuum mit Tuberkulin gegen Tuberkulin empfirdlich zu machen, was doch nach den all- gemeinen Gesetzen, die in der Ueberempfindlichkeitslehre gelten, der Fall sein müsste? Die Hypothesen, die zur Erklärung heran- gezogen wurden, sind nicht befriedigend. Meines Erachtens würde die Tuberkulinempfindlichkeit durch Tuberkulindarreichung ohne weiteres hervorzurufen sein, wenn die Tuberkulinempfindlichkeit eine gewöhnliche anaphylaktische, auf specifischen Antikörpern (v. Pirquet’s Erginen) beruhende Reaktion wäre. Weil sie es nicht ist, weil die Grundlage, auf der sie entsteht, eine wesens- verschiedene ist, glückt dieses Experiment nicht. Die lokale Tuberkulinempfindlichkeit beruht, wie wir abgeleitet haben, auf der Bildung tuberkulösen Gewebes, also auf dem Vermögen zu einer lokalen Gewebsumstimmung. Wir wissen, dass, wenn man einem normalen Tier Tuberkulin injieiert, an der Injektionsstelle niemals charakteristische Gewebsveränderungen auftreten, dass aber schon dann, wenn man tote Tuberkelbacillen einspritzt, lokal nach längerer Zeit specifische histologische Befunde er- hoben werden können. Der Hauptunterschied zwischen der Dar- reichung von Tuberkulin und toten Tuberkelbacillen ist offen- sichtlich der, dass das Tuberkulin schnell resorbiert wird, dass es die Zellen, mit denen es in Kontakt kommt, nur ganz vor- übergehend beeinflussen kann, während tote und erst recht natürlich lebende Tuberkelbacillen schwer resorbierbar sind, des- halb längere Zeit im Gewebe liegen bleiben, mit ihm in dauerndem Kontakt bleiben und ganz allmählich das Gewebe, in dem sie lagern, specifisch umstimmen, d.h. bestimmte Elemente desselben in Tuberkulocyten verwandeln. Die einfachste Vorstellung der lokalen Tuberkulinempfindlichkeit dürfte nun die sein: Haben sich erst einmal auf den lokalen specifischen Reiz hin gewisse I. Abteilung. Medizinische Sektion. 45 Zellen des Organismus in specifische Tuberkulocyten umgebildet, so steigert sich die Fähigkeit des Organismus zu dieser biologischen Zellmetamorphose; sie wird so gross, dass nunmehr auch auf den flüchtigen Tuberkulinreiz hin das specifische Gewebe an jeder beliebigen Stelle entsteht. Um also die lokale Tuberkulinempfindlichkeit her- vorzurufen, kam es darauf an, einen tuberkulösen Gewebsherd zu erzeugen; hierzu musste die specifische Substanz, die meines Erachtens im Tuberkulin und in den Tuberkelbacillen die völlig gleiche ist, in möglichst unresor- bierbarer Form in den Körper eingebracht werden. Die Art der Einbringung schien mir das entscheidende zu sein: je schwerer resorbierbar, um so geeigneter musste das specifische Agens zur Gewebsumstimmung sein. Mit diesem Plan befinde ich- mich, abgesehen von Sahli, der — obwohl in vieler Richtung wesentlich andere Vorstellungen vertretend — einem ähnlichen Gedankengang Ausdruck gegeben hat, im Gegensatz wohl zu allen Autoren, die bisher Versuche zur Hervorrufung der Tuberkulinempfindlichkeit bzw. des specifischen Tuberkulose- schutzes angestellt haben; der Gegensatz ist die natürliche Folge der entgegengesetzten theoretischen Grundvorstellungen. Wer die Tuberkulinempfindlichkeit und den specifischen Tuberkuloseschutz als Antikörperphänomene betrachtet, muss selbstverständlich das Antigen in möglichst leicht resorbierbarer Form einführen). Als specifische Substanz in schwer resorbierbarer Form wählte ich vorsichtig abgetötete Tuberkelbacillen; ich zerstörte die Bacillen möglichst wenig, nicht weil ich fürchtete, dass die specifische Substanz leiden und zur Tuberkulocytenhervorrufung ungeeignet werden konnte (wissen wir doch, dass die Tuberkulin- substanz gegen äussere Rinflüsse äusserst widerstandsfähig ist), sondern weil jede gröbere Zerstörung der Bacillen sie leichter resorbierbar machen konnte. Die Abtötung geschah durch Hitze; am geeignetsten erwies sich nach den bisherigen Versuchen die 2stündige Erwärmung auf 6500. Die abgetöteten Bacillen wurden in kleinen Flüssigkeits- mengen (meist 0,1 ccm) verabfolgt, um sie an einer bestimmten Gewebsstelle möglichst zu konzentrieren. Die Einspritzungen er- folgten in die verschiedensten Gewebe (Haut, Unterhaut, Mus- kulatur, Lunge, Milz, Leber, Bauchhöhle, Blutbahn); es geschah dies, weil möglicherweise die verschiedenen Gewebe in ver- schiedenem Grade geeignet waren, sich biologisch umzustimmen, 1) Ganz besonders sei der Gegensatz zu den neueren Forschungs- ergebnissen von Deycke, Much und ihren Schülern betont; Much und Leschke geben an, gerade mit aufgeschlossenen, gelösten Tuberkel- bacillen Tuberkulinempfindlichkeit und specifischen Tuberkuloseschutz hervorgerufen zu haben. Die Autoren gehen ebenfalls von der Anti- körpertheorie aus, auch ihr Begriff der „cellulären Immunität“ deckt sich in keiner Weise mit den soeben entwickelten Vorstellungen über die specifische biologische Gewebsumstimmung. Auf eine Kritik ihrer Angaben und ihrer Auffassung kann an dieser Stelle nicht näher ein- gegangen werden. 46 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. primär specifisches Gewebe zu bilden. Wissen wir doch, dass zur Antikörperbildung überhaupt nur ganz bestimmte Gewebe des Organismus befäbigt sind. Methodik: Auf Nährböden nach Lydia Rabinowitsch ge- züchtete Baeillen des Tbe.- humanus -Stammes „Krakau“ wurden in physiologischer Kochsalzlösung aufgeschwemmt, meist so, dass im Kubikcentimeter 10 mg feuchter Baeillensubstanz enthalten waren; die Aufschwemmungen wurden durch Hitze abgetötet, und zwar bei ver- schiedenen Temperaturgraden, stets in zugeschmelzenen Röhrchen im Wasserbade versenkt. In allen Versuchen erwiesen sich die Impfstoffe als vollständig sterilisiert. Zur Impfung gelangten ausschliesslich Meerschweinchen; vor der Impfung wurden die Tiere ausnahmslos durch intracutane Tuberkulin- prüfung (s. w. u.) auf Tuberkulosefreiheit untersucht. Diese Kontrolle halten wir in Uebereinstimmung mit neueren Arbeiten (vgl. Feyer- abend) für notwendig; bei unserem allerdings sehr grossen Versuchs- material musste ein Tier wegen Spontantuberkulose ausgeschaltet werden. Die intracutane, subeutane, intramuskuläre und intravenöse Impfung erfolgte nach den üblichen Regeln; die Injektionen in Lunge und Leber wurden pereutan, diejenigen in die Milz nach Laparotomie ausgeführt. Die Prüfung auf lokale Tuberkulinempfindlichkeit geschah stets mit 0,1 cem Alttuberkulin Koch 1:10 verdünnt. Die Prüfung wurde in der ersten Zeit häufiger, ungefähr alle 8—14 Tage, später seltener, alle 4—S—12 Wochen vorgenommen. Jede Intracutanreaktion wurde mindestens 3 Tage lang, event. länger, genau verfolgt und tägliche Aufzeichnungen über Grösse, Infiltration, Rötung, violette Verfärbung, Nekrosenbildung usw. gemacht. Alle Tiere wurden nach ihrem Tode bzw. nach ihrer Tötung ob- dueiert und auf Tuberkulosefreiheit sorgfältig untersucht. Die folgende Wiedergabe meiner Versuche, die sich über mehr als 3 Jahre erstrecken, gibt nur einen ganz kurzen Üeber- blick und lässt interessante Einzelheiten nicht erkennen; die aus- führliche Veröffentlichung der Versuchsprotokolle wird in einer Fachzeitschrift erfolgen. Jedes Zeichen bezieht sich auf das Er- gebnis bei einem Versuchstier; die Zeichen selbst geben den Grad der jemals erreichten lokalen Reaktionsfähigkeit an: ——- = sehr starke Reaktion mit Nekrosenbildung; ++ = starke Reaktion (starke Infiltration und violette Ver- färbung des Centrums); — = als deutlich positiv zu beurteilende Reaktion; (+) = schwach positive Reaktion; —, = fraglich positive Reaktion: — = negative Reaktion. Versuche. Vaecin IV (pro Kubikcentimeter 10 mg Tuberkelbacillen, 15 Minuten gekocht). 1 mg imtrahepatal . . . 444,35; —. 5 mg intraperitoneal . . == 8 mg intraperitoneal . . -—, Vacein VI (pro Kubikeentimeter 10 mg Tuberkelbaeilien, 2 Stunden bei 80° C). l mg intrapulmonal: —; —; (4); —; —; —3 43 5 —. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 47 Vaccin III (pro Kubikcentimeter 10 mg Tuberkelbacillen, 2 Stunden bei 1220): mg intraeutan. . —; —; —. mg subeutan . . —; —; — 5 mg subeutan . . + 4+. mg intramuskulär —; —; ; mg intraperitoneal +; +; +2). 5 mg intraperitoneal —; ++. mg intrapulmonal —; +. mg intrahepatal . —; +++; — mg intralienal.. Im: mesmtrayenos. 2... ., Vaccin VII (pro Kubikcentimeter 10 mg Tuberkelbacillen, 2 Stunden bei 67° as 1 mg intrapulmonal: —; —; (4); 4; +. een V (pro Kubikcentimeter 10 mg Tuberkelbaeillen, 2 Stunden Hamm bei 70° GC.) Intrapulmonal Intraperitoneal Subeutan MOL mE.... —; S- Dem een CoE a: ma. et: Aa Dame. le). en > (an) 10 mo. (+). Is me 9. Seele: Vaccin XI (pro Kubikcentimeter 100 mg Tuberkelbacillen, 2 Stunden bei 69 66°. ©). Intracutan Subcutan Intraperitoneal 19 3 ne a er DE a re ee SmE . . ‘ Se og I Gen): mu ei ae: Vaccin X (pro Kubikcentimeter 10 mg Tuberkelbacillen, 2 Stunden beit 0652.60). 5 mg intraperitoneal: ++; —+-- (0,15 Tuberkulin subeutan: lebt?); ++; +); (0,15 Tuberkulin subeutan: lebt). 5 mg intravenös: —; —; — 1 mg intraperitoneal: ++; a: I (0,5 Tuberkulin subeutan: lebt?); (+); u, (0,5 Tuberkulin subeutan: lebt); (+). Imgintrayenös: —; —; —; —; 3; —. Nach Vorbehandlung der Bauchhöhle mit 2,5 steriler Bouillon (24 Stunden vor der Impfung): 1 mg intraperitoneal: ++ (1,0 Tuberkulin subeutan: lebt?); —; +. 5 mg intraperitoneal: ++ (2,0 Tuberkulin subceutan: lebt?); —; aa ie: Vaecin XII (pro Kubikeentimeter 10 mg Tuberkelbacillen, 2 Stunden bei 65° ©). 5 mg intraperitoneal: +; —; —; ++; ++ (2,0 Tuberkulin subeutan: lebt); —; +; #5 —; +; +7 (2,0 Tuberkulin subeutan: lebt); 4; 4. Bemerkung: Sehr viele, nicht aufgeführte Tiere dieser Reihe starben interkurrent, auch einige der aufgeführten Tiere waren nach- weislich krank. 1) Erst nach 4 Monaten positiv geworden. 2) An älteren Intracutanreaktionen wurden auf die subeutane Tuber- kulingabe Herdreaktionen beobachtet. 48 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. oO Vaeccin IX (pro Kubikcentimeter 10 mg Tuberkelbacillen, 2 Stunden bei 65° ©). Vacein IXA = Vacein IX —+ pro Milligramm Tuberkelbaeillen 0,1 mg Diphtherietoxin DG 7. Vacein IXB = Vacein IX 4 pro Milligramm Tuberkelbaeillen 0,2 mg Diphtherietoxin DG 7. l mg Vacein IX Seen +; 4: +4: 4443; 44-43 4 Im „ I ,. : BIER mE = WRITE > +++; +1), Img TOUR tirappzitoneals +++; een Die Uebersicht zeigt, dass die Meerschweinchen auch bei gleicher Impfung unregelmässige Resultate liefern. Nur zum Teil kommt die Injektionstechnik zur Erklärung in Frage; es ist ja selbstverständlich, dass Einspritzungen in die inneren Organe ge- wissen Zufälligkeiten ausgesetzt sind. Aber auch bei den Tieren, bei denen die Art der Impfung mit technischen Schwierigkeiten nicht verknüpft war, sehen wir keine übereinstimmende lokale Tuberkulinempfindlichkeit eintreten. Es müssen hier individuelle Eigentümlichkeiten der einzelnen Tiere bedeutungsvoll sein, die uns nicht überraschen können, da ja sogar bei tuberkulöser In- fektion die Meerschweinchen recht verschieden stark lokal- empfindlich werden (vergl. Selter), wovon ich mich auch selbst überzeugen konnte. Nach meinen Erfahrungen ist es eine wichtige Vorbedingung zur Erlangung einer starken lokalen Reaktionsfähig- keit, dass die zum Versuch benützten Tiere gesund und kräftig sind; kranke Tiere wurden “meist wenig empfindlich; Versuchs- reihen, bei denen auf Grund zahlreicher intercurrenter Todesfälle eine Durchseuchung der Tiere anzunehmen war, gaben die schlechtesten Resultate. Diese Beobachtung dürfte auch für die menschliche Pathologie nicht bedeutungslos sein. Als wichtigstes Ergebnis meiner Versuche möchte ich obenan- stellen, dass es gelingt, durch einmalige Injektion von kleinen Mengen toter Tuberkelbacillen eine lokale Tuberkulinempfindlichkeit beim Meerschweinchen hervorzurufen, und zwar nicht nur eine schwache, sondern gelegentlich eine so starke, wie sie auch bei tuberkulös inficierten Tieren kaum stärker angetroffen wird. Die Impfstoffe scheinen zur Erzeugung der lokalen Empfind- lichkeit um so geeigneter zu sein, je vorsichtiger sie behandelt, d. h. bei je geringeren Hitzegraden sie sterilisiert wurden; wenn auch durch Kochen abgetötete Bacillen gelegentlich eine hoch- gradige lokale Reaktionsfähigkeit erzeugten, so lieferte doch die besten Resultate die 2stündige Erhitzung auf 65°C (eine noch schonendere Abtötung wurde bisher nicht versucht, ist aber in Aussicht genommen). Die Tuberkelbacillendosen, die zur Hervor- rufung einer lokalen Tuberkulinempfindlichkeit notwendig waren, sind keineswegs gross; sieschwanken allerdings, wie sich bei einem 1) In dieser Reihe starb eine Anzahl Tiere, wohl infolge chronischer Schädigung durch das Diphtheriegift. 2) Bei diesem Tier besteht auch jetzt noch, 11 Monate nach der Impfung, eine bedeutende lokale Reaktionsfähigkeit. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 49 Ueberblick über alle Versuche deutlich erkennen lässt, je nach dem Gewebe, in welches die Bacillen eingebracht werden. Ob sich die verschiedenen Gewebe tatsächlich in verschiedenem Grade zur primären Bildung spezifischen Gewebes eignen oder ob vielleicht die Bacillen aus den verschiedenen Geweben in verschiedenem Grade resorbiert werden, so dass bei gleicher Impfdosis der Kon- takt zwischen spezifischer Substanz und Gewebe verschiedene Zeit währt, bleibe vor der Hand unentschieden. Jedenfalls waren zur Erzeugung der lokalen Tuberkulinempfindlichkeit bei Impfung in die Haut oder Unterhaut grössere Dosen (5—15 mg) notwendig, als bei Impfung in die inneren Organe und in die Bauchhöhle, wo schon bei 1 mg starke lokale Reaktionsfähigkeit erzielt wurde. Wohl die gleichmässigsten und günstigsten Resultate gab die intraperitoneale Impfung; zum Teil mag dies auf der Gleichmässigkeit und Zuverlässigkeit der Injektienstechnik beruhen, zum Teil damit zusammenhängen, dass das Netz, an dem sich die Tuberkelbacillen ebenso wie andere in die Bauch- höhle gebrachte Bakterien niederschlagen, zur Bildung spezifischen Gewebes besonders befähigt ist. Nach intraperitonealer Impfung wurden in den meisten Fällen, in denen starke Lokalempfind- lichkeit erhalten wurde, mehr oder minder hochgradige charakte- ristische tuberkulöse Veränderungen am Netz, gelegentlich auch einzelne kleine spezifische Knötchen in der Leber beobachtet. In ' den pathologisch-anatomischen Veränderungen habe ich noch 5 Monate nach der Impfung säurefeste Tuberkelbaecillen gefunden, doch mögen diese auch noch sehr viel länger Form und Färb- barkeit bewahren können. Höchst bemerkenswert und geradezu eine Stütze unserer An- schauungen über die Entstehung der lokalen Tuberkulinempfind- lichkeit sind die Ergebnisse bei intravenöser Impfung; hier konnte mit Dosen, die bei Verabfolgung in die inneren Organe und in die Bauchhöhle hochgradige Empfindlichkeit erzeugten, kein posi- tives Resultat hervorgerufen werden. Das bestätigt unsere Auf- fassung, dass die Tuberkulinempfindlichkeit nicht auf Antikörpern beruht; zur Erzeugung von Antikörpern ist die intravenöse Impf- technik bekanntermaassen die weit überlegene.e Kommt es aber, wie wir annehmen, darauf an, dass die spezifische Substanz das Gewebe lokal umstimmt, und muss sie zu diesem Zweck mit dem Gewebe in bestimmter Dosis und eine bestimmte Zeitlang in Kontakt bleiben, so ist ohne weiteres verständlich, dass die intravenöse Darreichung unzweckmässig ist; bei ihr wird die verabreichte Bacillendosis natürlich über den gesamten Or- ganismus verteilt, während bei der Impfung in ein bestimmtes Gewebe die Impfmenge an dieser Stelle konzentriert wird. Ich habe weiterhin untersucht, ob zur primären Gewebs- umstimmung geeigneter als normales Gewebe vielleicht patho- logisches Gewebe, speziell Entzündungsgewebe, sei. Der Versuch wurde so angestellt, dass mit dem Impfstoff gleichzeitig Diph- therietoxin miteingespritzt wurde, und fernerhin bei der intraperi- tonealen Impfung in der Weise, dass die Injektion nicht nur in die normale, sondern auch in die zuvor durch sterile Bouillon in Schlesische Gesellsch. f. vaterl, Cultur. 1916. II. 4 50 Jahresbericht der Sehles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Entzündungszustand versetzte Bauchhöhle erfolgte. Eine deutliche Verbesserung des Impferfolgs konnte nicht festgestellt werden. Der Zeitraum zwischen Impfung und Eintritt der lokalen Tuberkulinempfindlichkeit schwankte nicht unwesentlich; die meisten Tiere wurden in ca. 2—3 Wochen empfindlich, gelegent- lich aber sahen wir die Empfindlichkeit erst nach 4 Monaten auftreten. Die Dauer des Empfindlichkeitszustandes war ebenfalls recht verschieden: bei der Mehrzahl sank die Empfindlichkeits- kurve nach erreichtem Höhepunkt in wenigen Wochen wieder ab, um mehr oder minder lange Zeit auf einer niedrigen Stufe stehen zu bleiben; bei Tieren, die stark empfindlich geworden waren, sank die Empfindlichkeit selbst im Laufe vieler Monate kaum je auf den Nullpunkt herab, bei einem Meerschweinchen konnte noch 11 Monate nach der Impfung eine recht beträchtliche lokale Reaktionsfähigkeit beobachtet werden. War es somit auch gelungen, ohne Infektion eine hochgradige, häufig auch lange Zeit andauernde lokale Tuberkulinempfindlich- keit hervorzurufen, so möchte ich doch nochmals betonen, dass das Ergebnis bei keiner Versuchsreihe in allen Fällen positiv war. Gegenwärtig sind Versuche im Gange, die dartun, dass Wiederholung der Impfung den Impferfolg wesentlich ver- bessert. Ob durch noch schonendere Behandlung der Tuberkel- bacillen oder durch Kunstgriffe, die ihre Resorbierbarkeit noch erschweren, günstigere Resultate erzielt werden können, darüber behalte ich mir weitere Untersuchungen vor. Bemerkt sei, dass einige Versuche mit dem Friedmann’schen Kaltblüterbacillen- vaccin ein wesentlich dürftigeres Ergebnis zeitigten: Friedmann Vacein Nr. 4. 0,1 intrahepatal : + 0,2 » aa 0,4 x 2 0,5 subeutan : +: + 1,0 3 2 0,5 intraperitoneal: + ‚0 ” Eee In keinem der Fälle trat eine starke lokale Reaktionsfähigkeit ein. Auch beim menschlichen Säugling sah ich nach Impfung mit dem Friedmann’schen Vacein in Uebereinstimmung mit Lust keine sichere lokale Tuberkulinempfindlichkeit entstehen. Aus theoretischem Interesse, zur weiteren Verfolgung des Gedankens, ob der wesentliche Punkt in der Erzeugung der lokalen Tuberkulinempfindlichkeit wirklich die Einführung der spezifischen Substanz in möglichst unresorbierbarer Form ist, wurde Koch’sches Alttuberkulin mit colloidalen Fällungsmitteln (besonders colloidalem Eisenhydroxyd) gefällt; ein Teil der spezi- fischen Substanz wird auch, wie ich nachweisen konnte, tatsäch- lich mitgefällt, und es wurde nun versucht, mit dem — wie an- zunehmen war — schwer resorbierbaren Niederschlag lokale Tuberkulinempfindlichkeit zu erzeugen; das Ergebnis war bisher nicht überzeugend, wofür verschiedene Gründe in Erwägung ge- zogen werden müssen. Vor der Erörterung derselben sollen die . I. Abteilung. Medizinische Sektion. 51 in dieser Richtung gehenden Versuche weiter ausgebaut werden. Aehnliche Versuche hat bereits Stocker an der Sahli’schen Klinik begonnen, seine Versuchstiere sind ihm indes infolge Haut- nekrosen an septischen Komplikationen zugrunde gegangen. Besonders interessant und für unsere Vorstellungen über die Tuberkulinempfindlichkeit bedeutsam war die Frage, ob die Versuchstiere, die durch Impfung mit toten Bacillen lokal empfindlich geworden waren, auch eine Allgemeinempfindlich- keit gegen Tuberkulin erworben hatten. Waren meine oben kurz dargestellten Anschauungen über die Tuberkulinempfindlichkeit zutreffend, so durften selbst die Tiere, die eine hochgradige lokale Reaktionsfähigkeit erlangt hatten, höchstens eine ganz geringe Allgemeinempfindlichkeit aufweisen. Die Allgemeinempfindlichkeit geht im Prinzip parallel dem vorhandenen tuberkulösen Gewebe. Durch unsere Impfung konnte zwar das Vermögen, tuberkulöses Gewebe zu bilden, in hohem Maasse erworben werden, niemals aber konnte — bei einmaliger Impfung relativ kleiner Mengen toter Bacillen in ein bestimmtes Gewebe — sich viel tuberkulöses Gewebe bilden, es konnte sich im wesentlichen nur um die Ent- stehung eines beschränkten Gewebsherdeshandeln. Dementsprechend musste — unsere Vorstellungen als richtig vorausgesetzt — eine ganz geringe Allgemeinempfindlichkeit erwartet werden. Zu beachten blieben höchstens noch zwei Umstände: erstens: wird, wie dies meist geschieht und auch von uns getan wurde, die Allgemeinempfindlichkeit durch subeutane Tuberkulindarreichung geprüft, so entsteht eine subcutane Depotreaktion, die natürlich ihrem Wesen nach eine Lokalreaktion ist und der Lokalempfind- lichkeit parallel geht, die Allgemeinempfindlichkeit aber dann vergrössern wird, wenn sie eine nennenswerte Giftmenge in den Kreislauf gelangen lässt!); zweitens: die Tiere, deren Allgemein- empfindlichkeit gemessen wurde, waren naturgemäss vorher schon mehrfach durch Intracutanreaktionen auf Lokalempfindlichkeit geprüft worden; positive Intracutanreaktionen sind nun im biolo- gischen Sinne tuberkulöse Herde, führen also bei Herantreten von Tuberkulin auch zu Giftentstehung, ein Umstand, der allerdings für die Grösse der Allgemeinempfindlichkeit wenig belangreich sein konnte. Alles in allem konnten unsere geimpften Tiere keine nennenswerte Allgemeinempfindlichkeit erworben haben. Das ist nun auch tatsächlich der Fall; selbst die subeutane Injektion von 2 ccm Tuberkulin, jener Dosis, die gesunde Tiere noch gut zu vertragen pflegen, wurde von unseren lokal stark empfindlichen Tieren ohne nennenswerte all- gemeine Krankheitserscheinungen überstanden. Hervor- gehoben sei, dass mehrmals ein „Aufflammen“ älterer Intracutan- reaktionen, d. h. also Herdreaktionen an älteren Intracutanproben 1) Auf die Fehlerquelle der Depotreaktion habe ich schon früher hingewiesen; die Prüfung der Allgemeinempfindlichkeit würde, wenn sie lediglich ein Maass des vorhandenen tuberkulösen Gewebes geben soll, zweckmässiger durch intravenöse Tuberkulindarreichung erfolgen. 4* 52 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. beobachtet wurden, ein Beweis dafür, dass in jenen Intracutan- reaktionen spezifisches Gewebe gebildet worden war. Wir stehen somit vor der wichtigen, mit unseren theoretischen Anschauungen völlig übereinstimmenden Tatsache, dass durch die Impfung mit kleinen Mengen toter Tuberkelbacillen in bestimmte Gewebe eine hochgradige Tuberkulin- lokalempfindlichkeit, nicht aber eine nennenswerte Tuberkulinallgemeinempfindlichkeit hervorgerufen werden kann. Der Organismus hat in hohem Grade das Ver- mögen erworben, auf den spezifischen Reiz spezifisches Gewebe zu bilden; er hat aber nur wenig spezifisches Gewebe gebildet, da der spezifische Reiz in nur ganz beschränktem Umfang ein- zewirkt hat. Wir haben hier also hinsichtlich der biologischen Verhältnisse einen ähnlichen Zustand vor uns, wie wir ihn beim Menschen sehen bei klinisch inaktiven, ganz umschriebenen Tuber- kulosen oder bei spontan ausgeheilter Tuberkulose. Als letzte und wichtigste Frage blieb die, ob die Tiere mit dem Vermögen, spezifisches Gewebe zu bilden, einen spezifischen Tuberkuloseschutz erworben hatten und ob mit der lokalen Re- aktionsfähigkeit der spezifische Tuberkuloseschutz parallel ging. In dieser Richtung verfüge ich zunächst nur über einen kleinen Versuch, der folgendermaassen angestellt wurde: Meerschweinchen, die auf verschiedene Weise lokal empfindlich gemacht worden waren, wurden mit lebenden virulenten Baecillen inficiert, und zwar intracutan mit 0,1 mg Bacillen: bei diesem Infektionsmodus und dieser Infektionsdosis konnte die lokale Reaktionsfähigkeit an der Infektionsstelle selbst direkt abgelesen werden, anderer- seits war die Infektionsdosis zu gross, als dass eine völlige Immunität gegen dieselbe erwartet werden konnte. Das Ergebnis geht aus der folgenden Uebersicht hervor: (Die Angaben über die intracutane Entzündungsreaktion beziehen sich auf die Messung 24 Stunden nach der intracutanen Infektion mit 0,1 mg Tuberkelbaeillen.) Tier Nr. 72. Durchmesser 20 mm, sehr stark infiltriert, stark ge- rötet, im Zentrum kleine Nekrose. — Lebensdauer nach der Infektion: 51/, Monate (Lungenkaverne). Tier Nr. 117. Durchmesser 21 mm, stark infiltriert, stark gerötet, im Zentrum kleine Nekrose. — Lebensdauer nach der Infektion: 31/, Monate. Tier Nr. 118. Durchmesser 19 mm, stark infiitriert, stark gerötet, im Zentrum kleine Nekrose. — Lebensdauer nach der Infektion: 21/, Monate. Tier Nr. 4. Durchmesser 19 mm, stark infiltriert, stark gerötet, im Zentrum kleine Nekrose. — Lebensdauer nach der Infektion: 2 Monate (Lungenkaverne). Tier Nr. 54. Durchmesser 24 mm, stark infiltriert, schwach gerötet, im Zentrum kleine Nekrose. — Lebensdauer nach der Infektion: 2 Monate. Tier Nr. 25. Durehmesser 13 mm, mässig infiltriert, schwach ge- rötet, im Zentrum kleine Nekrose. — Lebensdauer nach der Infektion: 12/, Monate. Tier Nr. 73. Spur Reaktion. — Lebensdauer nach der Infektion: 1?2/,; Monate. Tier Nr. 69. Kontrolle, nicht vorbehandelt. Spur Reaktion. — Lebensdauer nach der Infektion: 11/, Monate. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 53 Die lokal nicht empfindlichen Tiere (das Kontrolltier und ein Versuchstier) überleben die Infektion 11/, bis 12/; Monate, die lokal empfindlichen Tiere 13/, bis 5'/, Monate; die Lebensdauer der Tiere läuft ungefähr parallel dem Grade der lokalen Ent- zündungsreaktion, mit der die Infektion beantwortet wurde. Zwei der lokal empfindlichen Tiere wiesen bei der Obduktion Lungen- kavernen auf, zeigten somit jene Tuberkuloseform, die für einen abgeschwächten Infektionsverlauf charakteristisch ist. Der Ver- such spricht in dem Sinne, dass die Lokalempfinalickkeit die Grundlage des spezifischen Tuberkuloseschutzes ist; selbstverständlich bedarf er weiterer Ausdehnung und Er- gänzung, die unter günstigeren Zeitumständen unverzüglich in Angriff genommen werden soll, Sollten sich die hier gefundenen Ergebnisse weiter bestätigen, und — wie erwartet werden darf — auf den’ Menschen über- tragen lassen, so wären damit die experimentellen Grundlagen einer Tuberkuloseschutzimpfung gegeben. Der Weg wäre: Ein- führung der spezifischen Substanz in möglichst unresorbierbarer Form (vorsichtig abgetötete Tuberkelbazillen, deren Resorbierbar- keit durch gewisse Hilfsmittel wahrscheinlich noch erschwert werden könnte). Das Maas der erhaltenen Immunität wäre: Prüfung der lokalen Tuberkulinempfindlichkeit. Für eine Tuber- kuloseschutzimpfung kämen natürlich nur solche Individuen in Betracht, die noch nicht tuberkuloseinficiert sind und keine lokale Reaktionsfähigkeit erworben haben. Wer inficiert und lokal- empfindlich ist, besitzt bereits den spezifischen Tuberkuloseschutz und bei ihm wäre höchstens zu versuchen, die lokale Empfind- lichkeit und damit den spezifischen Schutz künstlich zu steigern. (Dies gelingt sehr oft durch cutane oder intracutane Tuber- kulinapplikation; unter welchen Umständen, darüber vergl. Bessau und Schwenke, Jahrb. f. Kdhlkd., Bd. 79. Ob in dieser Rich- tung ein Impfstoff aus toten Tuberkelbazillen in gewissen Fällen mehr als Tuberkulin leisten würde, müsste untersucht werden.) Da es die Aufgabe der Tuberkuloseschutzimpfung wäre, noch nicht infieierte Individuen lokal tuberkulinempfindlich zu machen und ihnen dadurch den spezifischen Schutz zu verleihen, so müsste die Impfung in den ersten Lebensjahren erfolgen, eventl. in ge- wissen Zwischenräumen wiederholt werden; ihr Ziel wäre die Verhütung der Erstinfektion. Ob eine Tuberkuloseschutzimpfung praktischen Nutzen gewähren wird, darüber kann nur die experimentelle und klinische Forschung entscheiden; es hängt dies von mannigfachen, nicht vorauszubestimmenden Grössen ab: Stärke, Dauer und Konstanz des Impfschutzes beim Menschen. Gelänge die Verhütung der Erstinfektion, so wäre schon sehr viel erreicht, aber wohl noch nicht das wichtigste: die spezifische Prophylaxe der Lungenphthise. Ob durch Verhütung der Erst- infektion eine Eindämmung der Lungenphthise erreicht werden könnte, lässt sich zur Zeit nicht beantworten, weil wir über die Entstehung dieser Erscheinungsform der Tuberkulose nicht hin- reichend unterrichtet sind. Angesichts der Möglichkeit, die Erst- infektion zu verhüten, scheint mir die Entscheidung darüber von 54 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. grösster Bedeutung, ob die Lungenphthise durch Ausbreitung oder Reinfektion von der Erstinfektion aus oder aber durch Super- infektionen entsteht, bezw. wie häufig der eine, wie häufig der andere Modus ist. Im ersteren Falle sind die Aussichten für eine spezifische Prophylaxe der Lungenphthise günstig; wir dürfen ja hoffen, die Erst- infektionen durch Impfung zu verhüten, oder zum mindesten seltener werden zu lassen, und wir würden damit auch allen Folgen der Erst- infektion vorbeugen. Entsteht dagegen die Lungenphthise vor- wiegend durch Superinfektionen, dann sind die Aussichten von vornherein ungünstig; wir würden vor der Tatsache stehen, dass Individuen, die durch eine frühere Infektion bereits im Besitz des spezifischen Tuberkuloseschutzes sind, durch Infektionen von aussen her eine Lungenphthise erwerben können, und es ist kaum wahrscheinlich, dass eine künstliche Immunisierung einen grösseren Schutz gewähren wird als die natürliche durch Ueberstehen der Erstinfektion. So überaus interessant und erkenntnistheoretisch bedeutungsvoll alle Untersuchungen über den spezifischen Tuber- kuloseschutz und die Tuberkuloseschutzimpfung sein mögen — welchen praktischen Nutzen sie zeitigen werden, ist nicht voraus- zusagen und muss der weiteren experimentellen Forschung und dann der klinischen Erfahrung vorbehalten bleiben. Literatur. Bail, Zschr. f. Immun. Forsch., 4, 1910 u. 12, 1912. — Bessau, Jb. f. Kindhlk., 81, 1915. — Bessau u. Schwenke, Jb. f. Kindhlk., 79, 1914. — Feyerabend, Brauers Beitr., 29, 1914. — Lust, Mschr. f. Kindhlk., 13, 1914. — Much u. Leschke, Brauers Beitr., 31, 1914. — Römer, D.m.W., 1914, Nr. 11. — Römer u. Köhler, D. m. W., 1915, Nr. 13. — Sahli, Ueber Tuberkulinbehandl. usw., Benno Schwabe u. Co., Basel, 1913. — Selter, D.m. W., 1916, Nr. 3. — Stocker, eit. nach Sahli. — Ungermann, Arb. Kais. Ges. A., 48, 1915. IX. Rückblicke und Ausblicke der Strahlentiefen- therapie bei gutartigen und bösartigen Erkrankungen der weiblichen Sexualorgane. Von Privatdozent Dr. Fritz Heimann. M.H. Die Bedeutung der Strahlentherapie muss von allen, die den Werdegang dieser Wissenschaft mit verfolgt haben, an- erkannt werden. Unsere Klinik kann auf 5 Jahre Erfahrung zurückblicken. Sie ist daher imstande, schon heute ein Urteil über die Leistungsfähigkeit dieser therapeutischen Bestrebungen abzugeben. Gynäkologische Erkrankungen sind es hauptsächlich, die wir behandelt haben, und die auch hier eine Besprechung finden sollen. Von gutartigen sind besonders die Myome und Metro- pathien, von bösartigen die Carcinome zu nennen. Gerade die beiden ersteren Erkrankungen waren es, an denen im Anfang, als diese Therapie aufkam, die Wirkung und der Nutzen der Strahlen studiert worden ist. Ich gehe auf das Geschichtliche nicht ein. Es bedurfte erst einer grossen Arbeitsleistung, ehe wir die Erfolge erzielten, auf die wir heute zurückblicken können. Wir arbeiten an der Klinik!) seit etwa 2%/, Jahren mit den Apex-Instrumentarien von Reiniger, Gebbert u. Schall und sind mit den Erfahrungen sehr zufrieden. Auch die Dura-Röhre eben dieser Firma besitzt viele Vorzüge und hat sich bezüglich In- tensität, Dauer und Konstanz recht bewährt. Meines Erachtens kommt es bei der Intensivbestrahlung überhaupt nur auf ein gutes Rohr an, da man den Strom eigentlich aus jedem Apparat in genügender Menge herausholen kann. So hat sich auch das Siederohr von H. C. F. Müller, das wir seit einiger Zeit für unsere Zwecke verwenden, als recht brauchbar erwiesen. Auch sonst sind natürlich alle Einrichtungen, die ein schnelles Arbeiten gestatten — Osmofern-Regulierung, Motorwasserkühlung usw. vorhanden. Daher ist die Technik, die wir uns im Laufe der Jahre für unsere gutartigen Erkrankungen ausgearbeitet haben, völlig zu- verlässig. Bei einer Serie von mehreren 100 Fällen haben wir keinen Versager erlebt, d. h. wir brauchten niemals eine Patientin, bei der die Indikation auf Strahlenbehandlung gestellt war, später 1) Vgl. Strahlenther., Bd. 7, H. 2. 56 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. infolge Versagens der Behandlung doch noch der Operation zu unterziehen. Die Bestrahlung findet nur vom Abdomen aus statt, das in 6 Felder eingeteilt wird. Eine Erhöhung der Felderzahl ist zwecklos. Man erreicht dasselbe, wenn man z.B. bei sehr grossen Myomen das einzelne Hautfeld etwas grösser wählt. Täglich werden 1—2 Felder bestrahlt, so dass eine Serie, die sich aus 6 Feldern zusammensetzt, 3—6 Tage dauert. Diese Zeit soll auch in Zukunft beibehalten werden. Wir haben die Erfahrung ge- macht, dass schon wenige Minuten Bestrahlung die Patientin häufig sehr anstrengen. Würde man also Zeit sparen wollen, so würde dies auf Kosten des Wohlbefindens gehen. Jedes Hautfeld bekommt unter 3 mm Aluminium 30 X, wozu gewöhnlich 5—7 Minuten gebraucht werden. Die Serie umfasst dann 180 X. Nach jeder Serie 3 Wochen Pause, 3—4 Serien genügen, um den vollen Erfolg herbeizuführen. Eine Zeitlang hatten wir die Einzeldosis vergrössert. Wir sahen bei manchen Fällen, dass ein Erfolg nicht so schnell eintrat, wie wir es gern wünschten und sind auf 50 X pro Dosis und Hautfeld gestiegen. Es wurden nur Nachteile von solcher Aenderung gesehen, so dass wir bald diese Methode wieder aufgaben. Die Bestrahlung selbst beginnt zu jeder Zeit, gleichgültig ob die Patientin blutet oder nicht. Das Reizstadium, das in der ersten Zeit so gefürchtet wurde, da es stärkere Blutungen her- vorruft, existiert infolge der hohen Dosierung nicht mehr. Auch Erscheinungen von seiten des Herzens bilden keine Gegenanzeige für die Bestrahlung. Im Gegenteil, gerade bei solchen Kranken wirken die Strahlen ausgezeichnet. Der Erfolg setzt prompt und sicher ein und gilt bei uns als erreicht, wenn die Periode min- destens 8 Wochen fortgeblieben ist. Nachteile, Verbrennungen, Recidive wurden nicht beobachtet, obwohl eigentlich jede Grösse von Tumoren mit Ausnahme der sehr selten vorkommenden „Riesentumoren‘“ bestrahlt wurde. Die Schrumpfung der Myome lässt natürlich mehr oder minder lange Zeit auf sich warten. Wir haben niemals beobachtet, dass die Myome unter den Strahlen verschwinden, aber in fast allen Fällen konnten wir eine Verkleinerung schon nach der ersten Serie erkennen. Verursacht einer Patientin ihre Geschwulst keine Beschwerden mehr, und ist die Blutung zum Stehen gebracht, dann hat die Kranke auch das Gefühl, geheilt zu sein, und damit ist der Zweck der Bestrahlung erreicht. Selbstverständlich ope- rieren wir auch noch eine grosse Zahl Myomkranker. Ist die Diagnose auf Myom nicht sicher, bestehen Zweifel, ob Kompli- kationen vonseiten der Adnexe in Betracht kommen, so wird das Abdomen eröffnet. Bestrahlt man solche Fälle, so ist die Therapie nutzlos, und die Methode wird diskreditiertt. Auch bei Ent- zündungen, vereiterten oder verjauchten Tumoren, bei Verdacht auf maligne Degeneration soll zum Messer gegriffen werden. Handelt es sich um submucöse Tumoren, die gerade ausgestossen werden, so wird man natürlich diese operativ entfernen. Auch bei Myomen, die auf Blase oder Mastdarm drücken, und deren I. Abteilung. Medizinische Sektion. 57 Beschwerden durch die Bestrahlung nur sehr langsam verringert werden können, wird man operativ vorgehen. Das Alter der Patientin ist für die Bestrahlung gleichgültig. Junge Kranke, wie solche, die sich dem Klimakterium nahe befanden, sind in gleicher Weise erfolgreich behandelt worden, und dabei konnten wir kon- statieren, dass die Ausfallserscheinungen bei Röntgenkastration keinesfalls lästiger auftreten, als bei der operativen Entfernung der Eierstöcke. Bei der Bestrahlung der Metropathien haben wir die gleichen Erfahrungen machen können. Die Technik schliesst sich eng der ‚eben geschilderten an: Abdominale Bestrahlung: 6 Hautfelder, pro Feld 30 X, nach jeder Serie 3 Wochen Pause, 3—4 Serien führen die Amennorrhoe herbei. Hier muss das Alter der Fatientin burücksichtigt werden, da unter allen Umständen ein Corpuscareinom auszuschliessen ist. Vor der Bestrahlung ist also eine Abrasio mit mikroskopischer Untersuchung des Geschabsels eine unerlässliche Bedingung. Ausserdem bestrahlen wir nur Patientinnen, die eine oder mehrere erfolglose Curettements durchgemacht haben, da schon die Abrasio allein ein Heilmittel für die klimakterischen Blutungen darstellt. Noch ein Punkt muss bei der Strahlenbehandlung der Metro- pathien berücksichtigt werden. Junge Frauen brauchen mehr Strahlung zur Herbeiführung der Amennorrhoe als ältere. Nun kann diese eintreten, auch ohne dass sämtliche Follikel zerstört worden sind.. Diejenigen, die erhalten geblieben sind, können später noch reifen und befruchtet werden. Würden die Eier durch die Bestrahlung geschädigt worden sein, so könnte dies Ent- wicklungsanomalien der Frucht zur Folge haben. Ich habe dies- bezügliche tierexperimentelle Untersuchungen anstellen lassen. Würden diese die Annahme bestätigen, so dürften wir junge, im konzeptionsfähigen Alter stehende Frauen nicht mehr bestrahlen. Zusammenfassend wollen wir noch einmal hervorheben, dass die Strahlenbehandlung der gutartigen Erkrankungen der weib- lichen Sexuaiorgane Hervorragendes leistet. Wir sind mit den Röntgenstrahlen stets ausgekommen und haben auf die Anwendung : der radio-aktiven Substanzen völlig verzichtet. Die von uns aus- gearbeitete Methode ist so ausgezeichnet, dass wir in allen Fällen mit Sicherheit auf Erfolg rechnen können, ohne den Patientinnen die geringsten Unbequemlichkeiten verursachen zu müssen. Anders verhält es sich mit der Strahlenbehandlung des Careinoms. Hier ist in den letzten Jahren fieberhaft gearbeitet worden. Schon heute sind die Fortschritte auf diesem Gebiete hervorragend, ohne bisher natürlich das Endziel — eine Heilung des Careinoms — durch die Strahlen erreicht zu haben. Zunächst ein Wort zur Technik, wie sie heute von uns an- gewendet wird. Neben den Röntgenstrahlen treten hier radio-aktive Substanzen, besonders Radium und Mesothor in Funktion. Die Klinik besitzt 100: mg Mesothor, in 3 Dominieiröhrchen zu 50, 30 und 20 mg. Die Substanz ist in 0,2 mm dicken Silberröhren verschlossen, welche zwar schon die weichen Strahlen abfangen, jedoch für 58 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. unsere Tiefenbestrablungen noch nicht genügen. Als Filter kommen besonders Blei, Messing, Aluminium. Silber, Gold und Platin in Betracht. In der ersten Zeit der Bestrahlungstherapie glaubt man auf die verschiedenen Metalle, bezüglich der Wirk- samkeit der Strahlen besondern Wert legen zu müssen. Davon ist man abgekommen. Selbstverständlich muss filtriert werden, denn die weichen Strahlen, die die Haut schädigen, dürfen nicht zur Wirkung kommen. Doch ist der Wert der einzelnen Metall- filter nicht exakt abzuschätzen. An der Klinik benutzten wir 3 mm dickes Blei, 1 mm vernickeltes Messing und 3 mm starkes Aluminium. Gestützt auf eigene experimentelle Untersuchungen am lebenden Kaninchenovarium hatten wir für die einzelnen Metalle gewisse Indikationen aufgestellt. Bei Anwendung von Bleifiltern sahen wir eine besonders intensive Nahwirkung, welche vielleicht auf die starke Sekundärstrahlurg des Bleis zurückgeführt werden kann, und die wir uns daher für die stark: secernierenden Careinome zunutze machten. Erst wenn die Sekretion nachge- lassen hatte, wurde mehr in die Tiefe bestrahlt, indem mit Messing und Aluminium die nur 3 pCt. der Strahlen absorbieren, gefiltert wurde. Diese scharfe Trennung ist nicht mehr aufrecht zu er- halten, da die häufig auftretenden Nebenerscheinungen zu einer Aenderung der Filtration zwingen. Wir gehen daher heute ganz individuell vor. Die Wirkung bei den sehr fortgeschrittenen Careinomen darf nicht zu schnell eintreten, da durch die rapide Einschmelzung des Gewebes Fisteln entstehen können. Die Filter selbst werden mit 2 Gummifingerlingen überzogen, mit einem Seidenfaden armiert und in den Krater eingelegt. Zur Vermei- dung der Nebenschädigungen auf Blase und Mastdarm habe ich mir 3—4 mm lange Bleispecula anfertigen lassen, die nach Art der Milchglasspecula, natürlich mit Verschluss der oberen Oeff- nung, in die Scheide eingelegt werden. Die Erscheinungen sind bei konstanter Anwendung dieser Bleispiegel sicherlich seltener geworden. Wie lange Zeit soll uun das Mesothor eingelegt werden? Diese Frage ist präcis nicht zu beantworten. In der ersten Zeit benutzten wir nur 30 mg und liessen das Präparat mehrere Tage und Nächte liegen. ÄAllmählich haben wir die Dosis vergrössert und sind mit der Anwendungszeit zurückgegangen. Wir haben eine Eichung der Präparate vorgenommen, um auf diese Weise das Optimum der Wirkung kennen zu lernen. Jedoch alle diese Methoden lassen im Stich. Wir müssen heute noch zugeben, dass die Technik, auch wenn die Erfolge leidlich sind, nicht be- friedigt. Es muss eben ganz individuell bestrahli werden. Zur Zeit werden 50 mg zwischen 12 und 24 Stunden und zwar 3mal in 5—6 aufeinanderfolgenden Tagen eingelegt. Dann tritt eine Pause von 4—5 Wochen ein, ehe eine neue derartige Serie appliciert wird. Diese Behandlung mit radio-aktiven Substanzen wird aufs Tatkräftigste durch intensive Röntgenbestrahlung unter- stützt. Mit dieser kombinierten Methode haben wir sehr gute Erfahrungen zu verzeichnen. Es wird nur vaginal bestrahlt. Die Dosen sind hoch, 50—100 X pro Sitzung. Die Technik ist im — I. Abteilung. Medizinische Sektion. 99 übrigen die gleiche, wie sie für die abdominale Therapie ge- schildert wurde. Der Krater wird durch ein Hartgummispeculum freigelegt, in das ein Bleiglasspeculum zum Schutze der Vaginal- wände vor Verbrennungen eingeschoben wird. 10—12 derartige Röntgensitzungen werden verabreicht. Die Patientin erhält also in einer Serie ausser den oben erwähnten 3 Mesothoreinlagen 500—1000 X-Röntgenstrahlen. Abdominal wird bestrahlt, wenn vaginal ein Effekt zu konstatieren ist. Ich will kurz auf unseren Standpunkt eingehen, den wir be- züglich der klinischen Anwendungsweise beim Careinom ein- nehmen. Von Anfang an haben wir an unserer Ansicht festge- halten, die operablen Carcinome der Operation zu unterziehen und nur die inoperablen der Bestrahlung zuzuführen. Diese Meinung ist nicht immer von allen Schulen geteilt worden. Noch vor einigen Jahren trat eine Reihe namhafter Autoren dafür ein, beim Carcinom das Messer wegzulegen und nur die Strahlen anzu- wenden. Ich glaube, dass in den letzten Jahren hier eine strenge Kritik eingesetzt hat, die diesen Standpunkt nicht mehr aufrecht erhält. Trotzdem haben wir uns auch beim operablen Carcinom die Strahlen nutzbar gemacht. Die glänzende Beeinflussung des jauchigen Kraters halten wir als Vorbereitung zur Operation für sehr vorteilhaft, daher werden die operablen Carcinome in gleicher Weise wie die inoperablen Careinome eine Zeitlang bestrahlt, um auf diese Weise die Patientinnen in einem besseren Zustande auf den Öperationstisch zu bringen. Vielleicht ist aber auch noch jener Punkt von Bedeutung: Die Infiltration der Parametrien ist zuweilen auf entzündliche Vorgänge, die vom Carcinomulcus ihren Ausgang nehmen, zurückzuführen. Heilt das Ulcus ab, hören die Mikrobeneinwanderungen auf, so gehen auch die Entzündungs- erscheinungen zurück, die Parametrien fühlen sich für den unter- suchenden Finger zarter und nachgiebiger an als vor der Be- strahlung. Hervorgehoben soll werden, dass durch die Be- strahlungen niemals Schwierigkeiten bei der Operation gesehen worden sind. Für solche Zwecke sollen also die Strahlen auch weiterhin dem operablen Carcinom nutzbar gemacht werden. Die Operation selbstbleibtals Therapie für den Gebärmutterkrebs bestehen. Auch die Behandlung des inoperablen Oarcinoms hat durch die Strahlen eine wundervolle Bereicherung erfahren. Hier kann man — das darf offen ausgesprochen werden — nicht mehr auf radio-aktive Substanzen verzichten. Einzelheiten sollen keine Be- sprechung finden. Wir haben weit über 100 inoperabie Uterus- carcinome behandelt. Die Technik ist die oben geschilderte. In der ersten Serie erhalten die Patientinnen 3—4 Mesothoreinlagen und 10—12 Röntgensitzungen. Danach tritt eine Pause von 4 bis 5 Wochen ein, ehe eine neue derartige Serie applieiert wird. Allmählich, je weiter man mit dem Erfolge kommt, werden die Pausen grösser, doch sollen sie im ersten halben Jahre 6 Wochen nieht überschreiten. Das Optimum dieser Bestrahlung sehen wir etwa 5—6 Monate nach Beginn der Behandlung. Und diese gute Beeinflussung kann 6, 8—12 Monate anhalten; dann tritt aller- 60 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. dings wieder trotz stärkerer Dosierung, trotz kräftigerer Be- strahlung eine Verschlechterung ein, der die Patientinnen erliegen, wenn nicht vorher aus irgend einem anderen Grunde dem Leben der Kranken ein Ziel gesetzt worden ist. Ich habe damit schon auseinandergesetzt, dass von einer „Heilung“ des inoperablen Carcinoms keine Rede sein kann, dass es sich nur um eine aus- gezeichnete palliative Therapie handelt. Durch kein anderes Mittel ist es bisher möglich gewesen, die entsetzlichen Symptome des inoperablen Uteruscareinomes, den jauchigen Ausfluss, die starke Blutung, so zu bekämpfen wie durch die Strahlen. Schon nach der ersten Serie lassen Ausfluss und Blutung nach. Der Krater nimmt eine festere Form an. Die Wände sind nicht mehr so bröckelig und zerfallen wie vorher. Allmählich legen sich die Scheidenwände aneinander und bilden eine Art Blindsack, so dass von einem Öarecinom nichts mehr zu tasten ist. Die Kranken selbst leben wieder auf, werden arbeitsfähig und haben jegliches Krankheitsgefühl verloren. Solcher Zustand ist bereits von manchen Autoren als Heilung angesprochen worden. Es wurden Probeexcisionen aus diesen unverdächtigen Partien gemacht, die natürlich keine Oareinomzellen mehr zeigten. Wir haben ir einer Reihe von Publikationen auf die Unzulänglichkeit dieser Methode hingewiesen. Histologische Studien können nur an intensiv be- strahlten Uteri gemacht werden, die entweder durch Operation oder durch Autopsie von zufällig verstorbenen Patientinnen” ge- wonnen worden sind. Sie führen zu der Erkenntnis, dass nur eine Tiefenwirkung von höchstens 3—4 cm wahrzunehmen ist. In grösserer Tiefe findet man völlig unbeeinflusste lebensfähige Careinomzellen. Nicht einmal jedes Careinom ist in der eben geschilderten Weise beeinflussbar. Wir sehen hin und wieder Tumoren, die sich gänzlich refraktär verhalten, bei denen selbst die höchste Dosierung keinerlei Einfluss hevorrufen kann. Die mehr oder minder gute Wirkung der Strahlen lässt sich im übrigen durch systematisch fortgesetzte eystoskopische Unter- suchungen kontrollieren, wie wir durch eigene Studien feststellen konnten. Es gibt uns der Blasenbefund einen ausgezeichneten Fingerzeig, in welcher Weise unsere Behandlung vorgenommen bzw. fortgesetzt werden soll. Leider stellen sich häufig bei der Intensivbestrahlung der Careinome, besonders durch die Mesothorstrahlung hervorgerufen, eine Anzahl von sehr störenden Nebenerscheinungen ein. In erster Linie handelt es sich hier um Temperatursteigerungen, Schwindelgefühle, Uebelkeit und Erbrechen, Zeichen einer Intoxi- kation durch Resorption des zerfallenen Gewebes. Besonders unangenehm sind die Darmerscheinungen, die sich in nicht zu be- kämpfenden Tenesmen äussern. Allmählich kann es zu sehr schmerz- haften Strikturen des Mastdarms kommen, die meist auf entzündliche Veränderungen der Darmschleimhaut zurückzuführen sind. Auf die Gefahr einer Fistelbildung bei einer zu schnellen Einschmelzung des Gewebes habe ich oben bereits hingewiesen. Vielleicht darf hier noch ein Punkt besprochen werden, der sicherlich eine Rolle spielt, wenn die Erfolge der Strahlen- I. Abteilung. Medizinische Sektion. 61 therapie nicht einwandsfrei ausfallen. Es handelt sich hier um eine gewisse Indolenz der Kranken. Sie kommen regelmässig zur Bestrahlung, so lange Beschwerden irgend welcher Art vorhanden sind. Verschwinden die Symptome, fühlen sich die Patientinnen selbst wieder gesund und arbeitsfähig, dann kommen sie zur nächsten Bestrahlungsserie nicht nach 4 Wochen wie festgesetzt, sondern erst nach 8—10 Wochen oder noch später. In dieser Zeit kann bereits wieder die Verschlechterung des Zustandes ein- getreten sein, die dann nicht mehr zu beseitigen ist. Vielleicht ' wird man diesem Uebelstande nur dadurch Abhilfe schaffen können, dass man die Patientinnen über ihre Erkrankung auf- klärt, ein Mittel zu dem man sich allerdings nur ungern ent- schliessen wird. Ausser dem inoperablen Carcinom sind auch nicht mehr zu operierende Recidive Gegenstand der Behandlung gewesen. Leider sind die Erfolge sehr schlechte. Meist handelt es sich da um fest an der Beckenwand sitzende Tumoren, die von den Strahlen nicht genügend getroffen werden. Vielleicht wird auch hier die Verfeinerung der Technik die Erfolge verbessern. Schliesslich soll noch erwähnt werden, dass die Patientinnen, die eine Totalexstirpation wegen Carcinom durchgemacht haben, nach der Operation alle 4 Wochen bestrahlt werden, um das Recidiv hintanzuhalten. Diese Methode scheint sich, soweit bis- her übersehbar, sehr gut zu bewähren. Auf Grund unserer reichen Erfahrungen auf dem Gebiete der Strahlenbehandlung der Carcinome müssen wir trotz mancher Enttäuschungen die grosse Bedeutung dieser Therapie anerkennen. Wir werden selbstverständlich auch weiterhin die operablen Carcinome der Operation unterziehen, um so mehr als wir heute mehr denn je die Ueberzeugung gewonnen haben, dass die „radikale Heilung“ nur die Operation bringen kann. Die Strahlen können die hochhinaufgehenden Careinomzellen nicht vernichten, man mag so kräftig dosieren, wie man wolle. Die präliminare Bestrahlung vor der Operation soll jedoch in gleicher Weise wie bisher betrieben werden. Beim inoperablen Oarcinom stellt die Strahlentherapie einen Faktor von unschätzbarem Werte dar. Hier ist es möglich gewesen mit keinen anderen Mitteln wie Paquelinisierung, Aetzung, Auskratzung usw. der Symptome in. solch hervorragender Weise Herr zu werden, wie dies durch die Strahlenbehandlung geschieht. Ich will noch einmal besonders betonen, dass ich eine Heilung der Carcinome für unmöglich halte. Es gelingt nur, eine Zeitlang die quälenden Erscheinungen des inoperablen Uteruskrebses zu beseitigen, dadurch die Kranken pflegefähig zu machen und das Leben für mehr oder minder kurze Frist zu verlängern. Diese Möglichkeiten sind jedoch schon ein unschätzbarer Gewinn. 1. Die treumatischen Neurosen, ihre klinischen Formen und ihr Entstehungsmodus bei Kriegs- verletzungen. Von Prof. Dr. Ludwig Mann-Breslau. Eine vor 20—25 Jahren lebhaft diskutierte Frage, nämlich die Frage nach der Berechtigung des klinischen Begriffes der „traumatischen Neurose“ ist durch die Fülle des Kranken- materials, welche uns der gegenwärtige Krieg bietet, von neuem angeregt worden. Die in der neurologischen Literatur nieder- gelegten, auf diese Frage bezüglichen Erörterungen und casuistischen Mitteilungen haben seit Kriegsbeginn bereits einen ungewöhnlich grossen Umfang angenommen. Da der Stoff nicht ganz leicht übersichtlich ist, andererseits aber mancherlei prak- tisches und theoretisches Interesse bietet, schien er mir geeignet, hier vor unserer Gesellschaft kritisch zusammenfassend behandelt zu werden. Ebenso wie vor etwa 25 Jahren ist die Diskussion mit un- gewöhnlicher Lebhaftigkeit und Energie von Oppenheim eröffnet worden. Er hat sein grosses Beobachtungsmaterial, welches ihm in seiner Berliner Lazarettstation zur Verfügung steht, in zahl- reichen Einzelpublikationen und auch schon in einer umfangreichen Monographie!) der öffentlichen Besprechung vorgelegt und hat vielfache Zustimmung, aber noch mehr Ablehnung und Gegner- schaft, die teilweise eine ausserordentlich scharfe Form angenommen hat, gefunden. Die Grundfragen, um welche sich der ganze Streit dreht, sind kurz zusammengefasst folgende: Kann sich im Anschluss an Traumen, also an Verletzungen resp. Unfälle irgendwelcher Art, eine besondere, als eigenartige Krankheitsform zu charakterisierende Form der funktionellen Neu- rose entwickeln, die man mit dem besonderen Namen „trauma- tische Neurose“ zu bezeichnen berechtigt ist, oder entstehen im Anschluss an Traumen nur die bekannten Formen von Neu- rosen, alse Neurasthenie, Hysterie und ähnliche und ist demnach der Name „traumatische Neurose“ entweder ganz überflüssig oder höchstens in dem Sinne zu gebrauchen, dass wir damit eine auch 1) Die Neurosen infolge von Kriegsverletzungen, Berlin 1916. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 63 sonst vorkommende Nervenkrankheit bezeichnen, die eben in dem gegebenen Falle nur die traumatische Aetiologie für sich hat, während sie in anderen Fällen auch durch andere Einflüsse ent- stehen kann? Die zweite Frage ist die besonders viel umstrittene Frage nach dem Entstehungsmodus der traumatischen Neurosen. Hier fragt es sich: entsteht die Neurose durch die körperliche materielle Wirkung, durch die mechanische Erschütterung, die das Trauma auf das Nervensystem ausübt, entsteht sie also soma- togen, oder entsteht sie.durch seelische Einwirkungen, also durch die Gemütserschütterung, den Affektchok und in Verbindung damit durch gewisse sekundär sich anschliessende Vorstellungen, also psychogen resp. ideogen? Ehe wir auf diese Fragen näher eingehen, überblicken wir zunächst einmal das tatsächliche Beobachtungsmaterial. Was zu- nächst die Häufigkeit des Vorkommens von Neurosen bei Kriegs- verletzten anbetrifft, so könnte dieselbe nach der Zahl der in den Spezialnervenstationen beobachteten Fälle sehr gross erscheinen. Aber diese Zahlen haben natürlich gar keinen Wert, da es sich hier um ein ausgelesenes Material handelt. In der Literatur finde ich nur zwei Zahlenangaben, welche uns einigermaassen einen Begriff von der Häufigkeit oder, glücklicherweise können wir sagen, relativen Seltenheit der traumatischen Neurosen im Kriege geben. Nonne!) hat 1800 von der Front zurückgekommene Verletzte auf neurotische Symptome untersucht und dabei nur 1,4 pCt. gefunden, Marburg?) in Wien hat an einem ähnlichen Material sogar nur 0,6 pÜt. ausgerechnet. Nehmen wir also den Durchschnitt mit 1 pCt., so erscheint die Zahl erfreulich niedrig, wobei ich allerdings bemerken möchte, dass sie wohl etwas zu niedrig gegriffen sein wird, deswegen, weil sich bisweilen die neurotischen Erscheinungen erst geraume Zeit nach der Verletzung einstellen. Wenn daher auch die Zahl wohl noch etwas wachsen dürfte, nehmen wir selbst an, dass sie sich verdoppeln oder ver- dreifachen möge, so muss das Resultat immer noch als ein sehr günstiges bezeichnet werden. Im Frieden haben wir vor 10 Jahren eine ganz ähnliche Deberraschung erlebt. Während nach den Beobachtungen der Neurologen und besonders der Versicherungsärzte, die sich dauernd mit diesen Dingen beschäftigen, die Zahl der traumatischen Neu- rosen in geradezu bedrohlicher Weise anzuwachsen schien, ergab eine im Jahre 1906 von Merzbacher?) aufgestellte Statistik unter 1370 entschädigungspflichtigen Unfällen einer Berufsgenossen- schaft, nur 13 Fälle von sich an den Unfall anschliessender Neu- . rose, also ein Prozentsatz von 0,9. Diese Uebereinstimmung der Zahlen ist jedenfalls bemerkenswert! Weiterhin ist die Frage von Wichtigkeit, ob im Anschluss an Kriegstraumen sich Neurosen bei vorher ganz gesunden Menschen 1) Neurol. Zbl., 1916, S. 136. 2) W.kl.W., 1916, Nr. 10. 3) Zbl. f. Nervenhlk. u. Psych., 1906, S. 905 ff. 64 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. entwickeln können, oder ob dies immer ein gewisses Maass von nervöser Disposition resp. psychopathischer Belastung voraussetzt? In Friedenszeiten hat man mehrfach die letztere Ansicht aus- sprechen hören. Am schärfsten hat wohl Sachs!) diesen Stand- punkt vertreten, indem er sagte, dass der Boden, auf dem ein Unfall zur nervösen Störung führt, die Degeneration, die psychische Minderwertigkeit darstelle. Die Unfallneurose sei zu definieren als „die Reaktion des Degenerierten auf einen zur Rente berechti- genden Unfall“. Diese Anschauung, welche schon während der Friedenszeit in dieser Schärfe von den meisten Autoren und auch von mir nicht geteilt wurde, hat jetzt durch das Kriegsmaterial eine, wie mir scheint, entscheidende Widerlegung erfahren. Frei- lich sehen wir auch jetzt, dass nervös disponierte bzw. psycho- pathisch veranlagte Menschen, insbesondere solche, weiche schon vor dem Kriege zeitweise nervöse Störungen gezeigt haben, unter dem Einfluss von Kriegsverletzungen besonders häufig und in be- sonders schwerer Form an Neurosen erkranken. Aber ich kann doch nach einem Material mit Bestimmtheit behaupten, dass auch ganz gesunde, ja sogar robuste Naturen auf die ungewöhnlich schweren Kriegstraumen mit Neurosen rea- gieren können. Die Anamnese bezüglich vorangegangener Krank- heiten, die ja lückenhaft sein kann, scheint mir hierbei nicht allein ausschlaggebend. Vielmehr spricht oft das, was der Patient vor seiner Erkrankung geleistet hat, seine Tätigkeit im bürger- lichen Leben und besonders sein Verhalten während der voran- gegangenen Kriegszeit für seine frühere Nervengesundheit. Manche haben die schweren Strapazen und Entbehrungen des Krieges ein Jahr und länger ohne jedes Versagen und mit Auszeichnung durchgemacht und sind dann doch im Anschluss an ein Trauma an einer Neurose erkrankt. Das können vorher nicht psycho- pathisch degenerierte und minderwertigeSchwächlinge gewesen sein! Diese Auffassung wird jetzt von den meisten Autoren ver- treten, ich erwähne nur Binswanger?), Aschaffenburg?), Nonne), Weygand>), Meier®), Marburg”), denen sich noch viele andere angeschlossen haben. Zahlenmässig wird vielfach angegeben, dass die Hälfte oder auch mehr der Erkrankten keine Spur von Belastung resp. vorangegangenen nervösen Störungen zeigen. Hoche hat treffend gesagt, dass infolge der schweren Kriegsstrapazeen und Kriegstraumen jeder Feldzugsteilnehmer „hysteriefähig“ sei. Den entgegengesetzten Standpunkt vertritt in der Hauptsache Bonhöffer®), der bei der ganz überwiegenden Zahl der Neurotiker psychopathische Konstitution nachweisen zu 1) Die Unfallreurose, ihre Entstehung, Beurteilung und Verhütung. Breslau 1909, S. 35 u. 42. 2) Mschr. f. Psych., Bd. 38. 3) Neurol. Zbl., 1915, S. 925. 4) Neurol. Zbl., 1916, S. 136. 5) Neurol. Zbl., 1916, S. 136. 6) D.m.W., 1915, Nr. 51. 7) Neurol. Zbl., 1916, S. 373. 8) Neurol. Zbl., 1916, S. 476. \ I. Abteilung. Medizinische Sektion. 65 können glaubte und bei dem kleinen übrigbleibenden Rest es nicht als ganz sicher ansieht, ob nicht doch eine solche Kon- stitution vorgelegen hätte. Seine Schüler gehen noch weiter darin, z. B. spricht sich Förster!) direkt dahin aus, dass ein nicht neuropathisch veranlagter Mensch, durch die Verletzungen und die Schrecken des Krieges niemals eine traumatische Neurose erwerbe, und Seelert?) nennt die traumatischen Neurosen, „die Reaktion eines üeuropathischen Individuums auf das Erlebnis des Unfalls und dessen noch weiter wirkende soziale Folgen“. Also eine ganz ähnliche Formulierung wie die vorher zitierte von Sachs. Diese extreme Ansicht steht jedenfalls, wie nochmals her- vorgehoben werden muss, im Widerspruch mit den Erfahrungen der meisten Autoren; die Differenz ist wohl nur aus einer ver- schiedenen weiten Fassung des Begriffes der psychopathischen Veranlagung und besonders der hereditären Belastung zu erklären. Meiner Ansicht nach liegt die Sache so, dass von der schweren neuropathischen Veranlagung zur vollen Nervengesund- heit eine allmähliche Stufenleiter führt, in der Weise, dass Neu- rosen um so leichter eintreten, je ausgesprochener die neuro- pathische Konstitution bei dem betreffenden Individuum ist, dass aber auch die vollwertigen Naturen, die unter den durchschnitt- lichen Verhältnissen niemals erkrankt wären, doch unter den abnorm starken Einwirkungen des Krieges zusammen brechen können. (Aehnlich hat sich kürzlich besonders Hildebrand?®) geäussert.) Wir gehen nunmehr zu den klinischen Erscheinungsweisen resp. einzelnen Formen der traumatischen Neurose über, und wollen uns dabei zunächst an die Aufstellung halten, die Oppenheim in seiner Monographie gemacht hat. Oppenheim ist durchaus nicht der Meinung, die ihm manche untergelegt haben, dass die traumatische Neurose ein einheitliches Krankheitsbild für sich sei, welches gegen die anderen, nicht traumatisch entstandenen Neurosen scharf abzugrenzen wäre. Er hat diesen Standpunkt weder in seinen Publikationen vor 25 Jahren noch in seinen jetzigen vertreten. Er gibt auch jetzt für den grössten Teil der traumatischen Neurosen zu, dass sie den bekannten Krankheits- bildern entsprechen, die auch ohne traumatische Aetiologie vor- kommen, und zwar unterscheidet er als grosse Hauptgruppen: 1. die traumatische Neurasthenie, 2. die traumatische Hysterie, 3. eine Kombination von beiden Gruppen, die traumatische Hystero- Neurasthenie; als 4. Gruppe aber, und hier liegt wesentlich der strittige Punkt, stellt er eine besondere Art von Erkrankungen auf, die nach seiner Ansicht in ihren wesentlichen Erscheinungen aus den Grenzen der Hysterie und Neurasthenie heraustreten und eine Krankheitsgruppe für sich bilden. Diese Gruppe bezeichnet er als die traumatische Neurose im engeren Sinne, will also wesentlich für diese Gruppe die von ihm geschaffene Bezeichnung retten, deren Berechtigung von anderer Seite bestritten wird. 1) Mschr. f. Psych., Bd. 38, H.1 u. 2. 2) Mschr. f. Psjych., Bd. 38, H. 6. 3) Neurol. Zbl., 1915, S. I15£. Schlesische Gesellseh. f. vaterl. Cultur. 1916. II. 5 66 Jahresbericht der Sehles. Gesellschaft für vaterl Culiur. Als 5. Gruppe fügt er noch diejenigen Krankheitsfälle an, bei welchen die Symptome der Neurose kombiniert sind mit Er- scheinungen von organischer Verletzung des Nervensystems. Gehen wir nun diese Gruppen im einzelnen durch. Was zunächst die traumatische Neurasthenie anbetrifft, so sollte man glauben, dass es sich hier um ein klares, scharf umgrenztes Krankheitsbild handle, aber es wird auch diesem die Berechtigung von verschiedenen Seiten bestritten. Mit Recht ist allerdings wiederholt hervorgehoben worden, dass mit der Dia- snose Neurasthenie heutzutage oft ausserordentlich leichtfertig verfahren wird. Alle möglichen Krankheitszustände, nieht nur solche ausgesprochen hysterischer Art, sundern ganz besonders psychopathische Zustände, konstitutionelle Verstimmungen, leichte Schwachsinnszustände, alles mögliche andere sehen wir manch- mal mit der Diagnose „Neurasthenie“ bezeichnet. Dem muss ent- gezengetreten werden, wir müssen uns an eine scharfe Begriffs- bestimmung halten. Diese Begriffsbestimmung ist meines Er- achtens auch heute noch ganz präzise in den Momenten der zesteigerten nervösen Erschöpfbarkeit und gesteigerten Reizbarkeit gegeben. Beide Momente gehen Hand in Hand und sind wesensgleich, da ein Nervensystem, welches abnorm reizbar isi, also schon auf geringfügige Reize reagiert, natürlich auch leicht erschöpft wird. Es liegt meiner Ansicht nach, wenn wir uns an diese scharfe Begriffsbestimmung halten, zar kein Grund vor, die alte treffende Bezeichnung „Nenrasthenie“ ganz in Fortfall zu bringen oder wesentlich einzuschränken, wie es manche Autoren, u.a. Kraepelin, Cimbal und neuerdings be- sonders Nägeli!) wollen. Wir sehen durch die oben erwähnten Grundzüge gekenn- zeichnete, also typisch neurasthenische Krankheitsformen gar nicht selten in unmittelbarem Anschluss an Kriegstraumen sich ent- wickeln. Wir finden den ganz bekannten Symptomenkomplex der gesteigerten nervösen Reizbarkeit und Erschöpfbarkeit, die Reflexsteigerung, die abnorme Erregbarkeit des Herz- und Gefäss- systems, die Muskelermüdbarkeit und die damit verbundenen mannigfaltigen Sensationen, die Schlafstörungen, den Tremor usw., ebenso aber die psychischen Erscheinungen (Reizbarkeit, Affekt- labilität, Mangel an Ausdauer und Konzentration) in aus- zesprochener Weise bei diesen traumatischen Fällen wieder, ganz so wie bei den bekannten, nicht traumatisch entstandenen Erschöpfungsnenrasthenien. Ich bin also der Ansicht, dass das Krankheitsbild der „traumatischen Neurasthenie“ durchaus zu Recht besteht. Ich möchte allerdings hinzufügen, dass gerade bei den an trauma- tischer Neurasthenie erkrankten Kriegern dem Trauma oft un- zewöhnlieh grosse und andauernde Erschöpfungen und Strapazen vorangezangen sind, die aber immerhin nicht dazu genügten, um die eigentliche Neurose zum Ausbruch zu bringen. Erst das 1) Neurol. ZbL, 1916, S. 483. h I. Abteilung. Medizinische Sektion. 67 Trauma hat dann die Krankheit in Form der schweren Neur- asthenie in Erscheinung treten lassen. Viel schwieriger ist der Begriff der traumatischen Hysterie zu umgrenzen. Die Begriffsbestimmung der Hysterie in den verschiedenen Lehrbüchern lautet bekanntlich sehr ver- schiedenartig. Alle Definitionen aber enthalten als wesentlichen, gemeinsamen Kern die Anschauung, dass wir es bei der Hysterie -mit einer abnormen Einwirkung seelischer Vorgänge auf körper- liche Erscheinungen zu tun haben: Hysterisch sind diejenigen körperlichen Krankheitserscheinungen, welche durch psychische Vorgänge (Affekte und Vorstellungen) bedingt sind. Die normale Beeinflussung der Körpervorgänge durch die Psyche hat in der Hysterie eine Abänderung erfahren, nicht etwa nur in dem Sinne einer Steigerung oder Abschwächung (diese gehört auch dem Gebiete der Neurasthenie an), vielmehr finden wir bei der Hysterie diese Beziehungen in qualitativer Hinsicht und besonders in bezug auf ihre Dauer verändert; es kommen körperliche Erscheinungen zustande, die bei einem normalen Menschen niemals auf psy- chischem Wege entstehen oder jedenfalls nicht in dauernder Form. Und in letzterem liegt ein wichtiger Punkt. Die sogenannten hysterischen Stigmata, also die körperlichen Dauersymptome, sehen wir eigentlich sämtlich als vorüber- gehende Erscheinungen, wenigstens angedeutet, auch bei Ge- sunden vorkommen als normale Reaktion auf eine heftige psychische Erschütterung, insbesondere den Schreck- oder Angst- affekt. Unter diesen normalen Schreckreaktionen stehen im Vorder- grund Störungen der Herztätigkeit und der Vasomotoren, man denke an das Blasswerden und das Herzklopfen beim Schreck, in Verbindung damit auch der sekretorischen Funktionen (Schweiss- ausbruch usw.), weiter äussert sich die Schreckreaktion auf motorischem Gebiet in einem Versagen und Schlottern der Glieder, Zittern der Muskulatur, vorübergehendem Verlust der Stimme. Diese Erscheinungen, welche beim normalen Menschen kurze Zeit nach der Schreckwirkung vollständig abgeklungen sind, werden. bei der Hysterie zu Dauersymptomen und er- geben die bekannten sehr hartnäckigen cardio-vaskulären Störungen, die hysterische Lähmung, den hysterischen Tremor, die Astasie- abasie, die hysterischen Kontrakturzustände, die hysterische Aphonie. Auch die hysterischen Blasenstörungen gehören hierher. Ebenso gewisse subjektive Beschwerden, vor allem das Globus- gefühl, welches im Moment des Affektes eine ganz regelmässige Erscheinung in Form von Zuschnüren des Halses ist und bei Hysterischen dauernd fixiert bleibt; auch gewisse Sensationen im Unterleib werden sich auf ähnliche Weise deuten lassen. Schwieriger sind solche Beziehungen zu anderen Stigmata, besonders den Sensibilitätsstörungen zu finden. Ich glaube, dass aber auch hier ein äbnlicher Mechanismus sich vermuten lässt; Parästhesien in den Gliedern, Absterben der Extremitäten usw. finden wir ja häufig als unmittelbare Wirkung eines heftigen Schrecks angegeben, und so können sich auch diese Parästhesien als dauernde Sensibilitäts- 5* 68 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur.‘ störungen fixieren. Besonders wenn ein Glied direkt von einem Trauma getroffen wird, macht sich im Moment der Einwirkung einer stumpfen, das Glied erschütternden Gewalt ein Einschlafen dieses Gliedes bemerklich, und so kann wiederum durch krank- hafte Fixierung dieser Erscheinung die Sensibilitätsstörung im verletzten Gliede erklärt werden. Ganz ähnliche Vorstellungen können wir uns machen für die hysterische Blindheit, Taub- heit usw. Wir müssen also daran festhalten, dass die hysterischen Symptome im wesentlichen eine krankhafte Abänderung und Fixierung derjenigen Erscheinungen darstellen, welche normaler- weise als vorübergehende Folgen gewisser psychischer Vorgänge beobachtet werden. Es ist also die Hysterie ein bestimmter Seelenzustand, welcher zur Festhaltung und Ausbildung der Folgen psychischer Wirkungen disponiert. Dieses Moment hat besonders Dubois!) in seiner Definition der Hysterie treffend betont. Die Einwirkungen nun, unter denen diese hysterischen Er- scheinungen entstehen, könuen einerseits dauernde bzw. wieder- holte kleinere Gemütsbewegungen sein, wie wir es bei der ge- wöhnlichen, nicht traumatisch bedingten Hysterie sehen, andererseits können sie durch einmalige heftige Gemütserschütterung, z. B. bei einem. schweren Unfall, sozusagen akut ausgelöst werden. Auf jeden Fall sind sie auf psychischem Wege entstanden. Manche Autoren (Babinski usw.) möchten deshalb statt des alten Namens „Hysterie“ die Bezeichnung „Psychogenie“ einführen. Bei unseren Kriegsverletzungen nun sehen wir sämtliche hysterische Manifestationen, die uns seit der klassischen Be- schreibung der Hysterie bekannt sind, in den ausgesprochensten Formen. Wir sehen im Anschluss an Kriegstraumen besonders schwere motorische Symptome sich entwickeln, sowohl lähmungs- artige Zustände (Astasie, Abasie, pseudospastische Parese, Läh- mungen in hemiplegischer oder monoplegischer Form usw.) wie auch motorische Reizerscheinungen (vor allem sehr schwere hart- näckige Tremorformen und Kontrakturen), ferner Aphonien, Mutismus, Blasenstörungen usw. Auf dem Gebiete der sensiblen und sensorischen Funktionen besonders Sensibilitätsstörungen, ent- weder in der typisch halbseitigen Form?) oder in gliedweiser Ausdehnung, ferner hysterische Blindheit, Gesichtsfeldeinengung, Taubheit usw., schliesslich auch die grossen hysterischen Krampf- 1) Ueber die Definition der Hysterie. Schweiz. Korr.-Bl., 1911, Nr. 19 u. 36. 2) Es ist wiederholt behauptet worden, dass die hysterischen Sensi- bilitätsstörungen ein Kunstprodukt darstellten, welches durch die ärzt- liche Untersuchung erzeugt, d.h. dem Patienten suggeriert würde (iatrogen entstanden), diese Ansieht ist entschieden falsch, wie kürzlich auch Nonne betont hat. Wenn man ohne Voreingenommenheit und mit zweckmässiger Methode untersucht, kann man jede derartige Suggestion ausschalten und kann durch wiederholte Kontrolle der Grenzen der Sensibilitätsstörung sowie auch durch qualitative Untersuchung mit dem faradischen Strom die Realität der Störung sicher erweisen. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 69 anfälle.e. Kurzum es gibt keines der bekannten hysterischen Stigmata, welches nicht in besonders schwerer Form bei unseren Kriegsverletzten zur Beobachtung käme. An der Berechtigung dieser zweiten Gruppe der Oppen- heim’schen Aufstellung der „traumatischen Hysterie“ scheint mir daher kein Zweifel möglich. Die Einzelheiten dieser Krankheitsbilder kann ich hier nicht schildern, ich werde sie am Schluss durch einige Demonstrationen illustrieren. Dasselbe gilt von der dritten Gruppe der traumatischen Hysteroneurasthenie. Eine Mischung neurasthenischer und hysterischer Züge finden wir ausserordentlich häufig, man kann sagen, dass fast stets neben ausgesprochen hysterischen Er- scheinungen ein gewisser Grad von neurasthenischer Erschöfbar- keit angedeutet ist und umgekehrt. Oft sind aber die Symptome gewissermaassen zu gleichen Teilen gemischt, so dass die obige Bezeichnung die Sachlage am besten widergibt. Nun finden wir aber unter unseren traumatischen Kriegs- neurosen eine Anzahl von Fällen, deren Symptome wir zwar nach unseren bisherigen Kenntnissen ebenfalls als funktionell- neurotisch auffassen müssen, weil alle Anzeichen einer grob- materiellen, organischen Nervenläsion fehlen, die aber doch von den hysterischen Erscheinungen sich ganz wesentlich unter- scheiden. Auf diese Fälle hat Oppenheim ganz besonders auf- merksam gemacht und sie in seine Gruppe IV untergebracht. Er betont immer wieder mit Energie, dass nicht jedes funktionelle Symptom, welches im Anschluss, an Traumen entsteht, entweder neurasthenisch oder hysterisch sei, sondern dass es noch eine besondere Art funktioneller traumatischer Erkrankung gäbe. Und diese bezeichnet er eben als die traumatische Neurose im engeren Sinne. Die "hierhergehörigen Erscheinungen spielen sich besonders auf dem Gebiete der Motilität ab. Sie bestehen teils in Lähmungen, teils in tonischen Krampfzuständen, teils in eigentümlichen Zitter- bzw. Schüttelkrämpfen. Wir könnten diese Neurosen daher auch als traumatische Motilitätsneurosen (teils akinetischer, teils hyperkinetischer Form) bezeichnen. Ich habe eine ganze Anzahl von derartigen Fällen unter meinem Kriegsmaterial gesehen!) und kann der Oppenheim’schen Beschreibung durchaus zustimmen. Besonders interessant sind die hierhergehörigen Lähmungen. Sie werden von Oppenheim teils als Akinesia amnestica, teils als Reflexlähmung bezeichnet und unterscheiden sich in ihrem klinischen Gepräge von den bekannten hysterischen Läh- mungen in der Tat ausserordentlich scharf. Die hysterischen Lähmungen sind ja meist keine Totallähmungen, sondern mehr Paresen, sie stehen sichtlich unter dem Einfluss momentaner psychischer Einwirkungen, treten infolgedessen im Moment der Untersuchung stärker hervor, wie beim unbeobachteten Gebrauch 1) Ich habe einige derartige Fälle bereits demonstriert, s. B.kl.W., 1916, Nr. 18. 70 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. des betreffenden Gliedes, sie können unter dem Einfluss eines Affektes momentan vollkommen verschwinden, es besteht ferner ein Gegensatz zwischen der Funktion des Gliedes bei reflek- torischen und Mitbewegungen zu der Funktion bei Willkür- bewegungen, z. B. macht ein hysterisch gelähmter Arm die Mit- bewegungen mit, die beim Gehen auftreten, ein hysterisch gelähmter Fuss zeigt reflektorische Bewegungen bei Reizung der Fusssohle, eine gelähmte Hand wird auch gelegentlich bei irgendwelchen Verrichtungen, die automatisch geschehen, stärker zur Mitwirkung herangezogen, als es der sonstigen Lähmung ent- spricht. Dagegen sehen wir bei den hier in Rede stehenden be- sonderen Lähmungsformen der Gruppe IV eine absolute Konstanz, ganz wie sie sonst nur den organisch bedingten Lähmungen zu- kommt. Das gelähmte Glied hängt absolut schlaff wie ein totes Anhängsel der Schwere nach herab, es macht keinerlei Mit bewegungen, und man kann auch bei genauester Beobachtung sagen, dass niemals im Momente eines Affektes oder einer auto- matischen Bewegung, eine Bewegungsleistung, die sonst nicht vorhanden ist, hervortritt. Ich konnte z. B. beobachten, dass das unwillkürliche Spiel der Sehnen am Fussrücken, welches man bei jedem Menschen bei längerem Stehen beobachtet, an einem derartigen Gliede vollständig ausfiel, dass auch alle reflektorischen Reizungen von seiten der Fusssohle trotz erhaltener Sensibilität keinen Effekt erzielten. Es ist ferner zu bemerken, dass an ‚solchen Gliedern bisweilen eine bestimmte Muskeigruppe in ihrer Funktion relativ erhalten ist, während die anderen Funktionen ausgefallen sind.. Man kann dann eine vollständige Ueberein- stimmung sehen, in welchen Lagen oder welchen Situationen man auch die statischen oder motorischen Funktionen prüft, immer sind es dieselben Muskelgruppen, welche einen gewissen Rest von Funktion zeigen. Dies sind grundlegende Verschieden- heiten gegenüber dem Verhalten der hysterischen Lähmungen, und es ist daher durchaus treffend, dass Oppenheim diese Lähmungen durch einen besonderen Namen (Akinesia amnestica) hervorgehoben hat!). In manchen Fällen zeigt die Lähmung auch die Eigentümlichkeit, dass bei einem aktiven Bewegungs- versuch statt des beabsichtigten Bewegungsaffektes immer eine bestimmte andere Bewegung zustande kommt, indem die Inner- vation auf eine ganz andere Muskelgruppe übergeht. Oppenheim spricht dann von „Entgleisung der Innervationsimpulse“ usw. Ferner gehören hierher gewisse Tremorformen. Der hyste- rische Tremor, den wir ja ausserordentlich häufig bei Kriegs- verletzten beobachten, hat wieder als charakteristische Eigen- tümlichkeit einen gewissen Wechsel, eine Beeinflussbarkeit durch psychische Einwirkungen, er wird im Moment, in dem die Auf- merksamkeit darauf gerichtet ist und der Patient seine Bewegungs- fähigkeit zeigen soll, erheblich stärker wie in der Ruhe, springt 1) Eine gewisse Verwandtschaft zeigen diese Lähmungen mit den von C.S. Freund als „psychische Lähmungen‘ bezeichneten Lähmungs- formen (Neurol. Zbl., 1895, Nr. 5), s.a. Sachs, Wiss. Mitt. des Inst. z. Behandl. v. Unfallverletzten in Breslau 1896. l. Abteilung. Medizinische Sektion. 71 von einer Muskelgruppe auf die andere über, zeigt auch eine relativ gute therapeutische Beeinflussbarkeit. Sehr häufig ist dieser Tremor mit typisch hysterischen, spastischen Paresen ver- bunden, Fälle, die man dann auch als „pseudospastische Parese mit Tremor“ bezeichnet. In diesen Fällen zeigen die Patienten einen ganz steifen, mühsam schleppenden Gang, es ist, als ob sie am Fussboden festklebten oder einen ungeheueren unsicht- baren Widerstand zu überwinden hätten, dabei geraten die Glieder in ein immer stärkeres Zittern und Schlagen, welches sich allmählich bis zum Hinstürzen steigert. Diese Fälle zeigen durchaus hysterisches Gepräge, gehören also in die Gruppe II, sie sind therapeutisch leicht beeinflussbar, so dass ınan einem Menschen, der eben noch nur in der geschilderten äusserst schwierigen Weise sich fortzubewegen imstande war, nach einer suggestiven Einwirkung einen normalen Gang verschaffen kann, ebenso schnell aber kehrt allerdings der Zustand infolge irgend- einer kleinen psychischen Einwirkung wieder zurück. Im Gegen- satz zu diesem häufig zu beobachtenden typisch-hysterischen Schütteltremor sehen wir nun noch eine zweite Form von Schütteltremor als Folgeerscheinung von Kriegsverletzungen, der ganz andere Charakteristika darbietet: Es ist ein absolut konstant bleibender Schütteltremor, meist nur einer Extremität, der in immer gleicher Form, maschinen- mässig, weitergeht, auch wenn man den Patienten stundenlang beobachtet bzw. scheinbar unbeobachtet lässt. Dieser Tremor zeichnet sich ferner aus durch eine ganz konstante Beteiligung immer der gleichen Muskelgruppen, geringe Beeinflussbarkeit durch psychische Vorgänge und entsprechend auch mangelhafte Reaktion auf psychische Therapie. Die Schwingungszahl dieser Tremors ist nach meinen Beobachtungen ziemlich konstant, sie liegt stets zwischen 240—300 Schwingungen in der Minute. Als eine besondere Eigentümlichkeit dieser Tremor- form ist mir aufgefallen, dass der Tremor oft während einer will- kürlichen Innervation momentan sistiert. Infolgedessen kann z. B. ein Patient mit Schütteltremor der rechten Hand eine leidliche Schrift zustande bringen: er schreibt nicht in einem Zuge, sondern setzt jeden Strich einzeln ab, benutzt gewissermaassen jedesmal den momentanen Stillstand. Aehnliches sieht man bei gewissen organischen Tremoren, besonders bei Paralysis agitans?). Weiterhin müssen wir mit Oppenheim gewisse tonische Krampfzustände zu dieser besonderen Form der traumatischen Neurose rechnen, die ebenfalls als Folge von Kriegstraumen wiederholt beobachtet worden sind, es sind dies besonders die Fälle von Crampusneurose; dieselbe besteht in heftigen tonischen Krämpfen der Muskulatur, die ausgelöst werden be- sonders durch eine willkürliche Innervation in der Weise, dass 1) Auf eine nähere Beschreibung der verschiedenen Tremorformen kann ich hier nicht eingehen, ich hoffe, sie später geben zu können. Es sei hier auf eine einschlägige Arbeit von Niessl v. Mayendorf (Mschr. f. Psych. u. Neurol., Bd. 38, H. 4) verwiesen, mit der ich aller- dings nicht in allen Einzelheiten übereinstimme. —I [50] Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. z. B. bei einer willkürlichen Fussstreckung das ganze Bein in einen tonischen, minutenlang anhaltenden Mnskelkrampf gerät. Andere Krampfzustände sind wieder mehr lokalisierter Natur, wir finden isolierte Dauerkontrakturen einzelner Muskeln, etwa des Tibialis anticus, so dass der Fuss andauernd in einer schiefen pronierten Stellung steht, Kontrakturstellungen ganzer Glieder, z. B. der Beine, in stärkster, mechanisch nicht zu über- windender Streckstellung, welche bei ungenügender Beobachtung eine spastische, organische Kontraktur vortäuschen können. Ich sah ferner z. B. einen tonischen Dauerkrampf der kleinen Hals- muskeln!), so dass der Kopf und die Halswirbelsäule absolut fest fixiert war und auch durch grösste mechanische Gewalt eine Streckung nicht möglich war. Von anderer Seite wurde eine Arthritis der Halswirbelsäule angenommen. Der Fall war ent- standen nach einem Schuss in die Halsgegend, der aber nur eine oberflächliche Verletzung verursacht hatte, es gelang, ihn voll- kommen zu heilen, er ist jetzt wieder im Felde. Wenn man die tonischen Krampfzustände der eben ge- schilderten Art auch der Hysterie zuzurechnen geneigt sein mag, so ist doch Oppenheim durchaus beizustimmen, dass die typische Crampusneurose einen ganz anderen Charakter trägt. Wir sehen hier absolut nicht den Moment der psychischen Beeinflussbarkeit, sondern ein ganz gesetzmässiges, ich möchte sagen, mechanisches Eintreten des Muskelkrampfes im Anschluss an Willkürinner- vationen. Auch sind diese Fälle nicht einmal vorübergehend durch suggestive Therapie zu beeinflussen. Andererseits ist zuzugeben, dass fliessende Uebergänge existieren, und dass auch die Crampusneurose sich mit hysteri- schen Symptomen kombinieren kann. Oppenheim fasst die mannigfaltige Kombination der toni- schen und klonischen Krämpfe und der Tremorformen mit dem Namen „Myotonoelonia trepidans“ zusammen. Unter diesen Krankheitsbildern finden sich zweifellos auch rein hysterische Formen, z. B. möchte ich die „pseudospastische Parese“ mit Tremor zu den letzteren rechnen (s. oben). Nicht beistimmen kann ich ferner Oppenheim darin, dass er auch gewisse vasomotorische, sekretorische und trophische Er- scheinungen als Beweis dafür ansehen will, dass diese Fälle von der Hysterie abzugrenzen seien. Wir sehen bei den Kriegs- neurosen häufig schwere eirkulatorische Störungen in Form von eyanotischer Stauung und Schwellung u. dergl., Anomalien der Schweisssekretion, auch trophische Störungen?2). Wir kennen aber diese Störungen schon lange bei der Hysterie, und sie sind dieser Krankheit auch durchaus nicht wesensfremd, da ja cirkulatorische Vorgänge in gewissem Maasse unter psychischen Einflüssen stehen, und es ist eben wieder nur die Dauer der Störung, die Fixation 1) B.kl.W., 1915, Nr. 31 (Fall 2). 2) Oppenheim betont auch das Vorkommen von Temperatur- steigerungen bei diesen Neurosen. Ich habe kürzlich eine entsprechende Beobachtung gemacht, gebe aber zu, dass die Beurteilung dieser Fälle stets unsicher ist. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 73 hier das Pathologische. Die trophischen Störungen, die man in Form von Anomalien des Haarwuchses, der Hautbeschaffenheit usw. beobachtet hat (Oppenheim hat sogar eine Knochenatrophie im Röntgenbild gesehen), können sehr wohl sekundär durch die vasomotorischen Störungen erklärt werden. Wie man aber auch über Einzelheiten denken mag, immerhin ist es ausserordentlich verdienstlich von Oppenheim, hervor- gehoben zu haben, dass als Folge der traumatischen Einwirkungen Krankheitsbilder entstehen können, ganz besonders auf motori- schem Gebiet, welche sich nicht glatt unter die bekannten Er- scheinungen der Hysterie unterordnen lassen, sondern gewisse von ihr abweichende Eigentümlichkeiten zeigen. Was gerade diese Beobachtung für die Theorie des gesamten in Rede stehen- den Krankheitsbildes für eine Bedeutung hat, darauf werden wir sogleich kommen. Als 5. Gruppe stellt nun Oppenheim noch diejenigen Fälle zusammen, bei denen eine Kombination von organischen, durch die Verletzung direkt bedingten Krankheitserscheinungen mit funktionell-neurotischen Störungen vorliegt. Diese Kombination ist in der Tat ausserordentlich häufig, sowobl bei Traumen, die zu Schädelverletzungen geführt haben, wie auch bei peripheren Verletzungen der Extremitäten, bei denen z. B. ein Nerv lädiert ist und wo neben der durch die Nervenläsion bedingten organi- schen Lähmung sich eine funktionelle Lähmung in anderen Muskelgebieten desselben Gliedes oder eine hysterische Sensi- bilitätsstörung hinzugesellt. Ganz besonders möchte ich auf Fälle aufmerksam machen, bei denen zu einer leichten organischen Läsion des vestibularen Apparates sich funktionelle Gleichgewichts- störungen hinzuaddieren, die dem Kundigen sofort das Bild des Hysterischen oder Psychogenen erwecken, was sich auch in dem Erfolge der Therapie zeigt, im ganzen aber den Typus der materiellen Labyrinthläsion in gesteigerter Weise wiedergeben. Solche Fälle sind kürzlich besonders von Löwenstein!) be- schrieben worden. Ich werde einen sehr charakteristischen Fall am Schluss demonstrieren. Ich möchte mich nach dieser Uebersicht über die klinischen Formen auf den Standpunkt stellen, dass wir zunächst, da die Abgrenzung der in Rede stehenden Krankheitsbilder und, wie wir sogleich sehen werden, auch die Pathogenese derselben durchaus noch nicht ganz geklärt ist, praktisch gut tun, die Bezeiebnung „traumatische Neurose“ beizubehalten. Der Name bezeichnet die Aetiologie der hier in Rede stehenden Krankheitszustände durchaus treffend, und es ist keine Notwendigkeit, würde mir vielmehr als eine Undankbarkeit gegen ihren Urheber erscheinen, wenn wir ihn, wie manche Autoren wollen, gänglich fallen lassen. Manche Autoren warnen direkt vor dieser Bezeichnung deswegen, weil Oppenheim bei seiner ersten Darstellung vor 25 Jahren mit dem Namen „traumatische Neurose“ eine zu düstere Prognose verbunden hätte. Er hätte diese Fälle im allgemeinen als un- heilbar erklärt, und dadurch sei unendlicher Schaden angerichtet 1) Neurol. Zbl., 1915, S. 626. 74 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. worden, indem der Begriff der unheilbaren traumatischen Neurose zw maasslosen Ueberspannungen in der Forderung von Unfall- entschädigungen geführt hätte. Meiner Ansicht nach kam der Umstand, dass ein neubeschriebenes Krankheitsbild zunächst etwas einseitig dargestellt wird und dass in diagnostischer und pro- gnostischer Beziehung später sich mauches ändert und abbröckelt, durchaus keinen Anlass dafür geben, die Namensgebung zu . ändern. Haben wir doch z. B. noch vor 20—30 Jahren die Tabes dorsalis -als eine unheilbare, prognostisch absolut un- günstige Krankheit angesehen, und jetzt kennen wir rudimentäre Formen, welche zur Ausheilung und zum Stillstand kommen, und bei denen der Patient noch jahrzehntelang seine Arbeitsfähigkeit bewahrt. Sollen wir deshalb die Krankheitsbezeichnung „Tabes dorsalis* fallen lassen? Ich bin also entgegen der Meinung mancher Autoren für die Beibehaltung des viel geschmähten Namens und möchte vorschlagen, in praktischer Hinsicht so zu verfahren, dass man die Diagnose „traumatische Neurose“ als übergeordneten Gattungsnamen neben einer speziellen Krankheits- bezeichnung beibehält. Ich schreibe also als Diagnose „traumatische Neurose“ und füge als spezielle Unterdiagnose hinzu entweder „neurasthenische Form“ oder „hysterische Form“ oder „hystero- neurotische Form“ oder Ürampusneurose“, „Schütteltremor“, „Akinesia amnestica“ usw. Schliesslich kann man auch als Unterdiagnose aufnehmen „kombiniert mit organischer Läsion“, und die Fälle, in denen sich die neurotischen Symptome an die organischen der Gehirnerschütterung angeschlossen haben, mit der Spezialdiagnose „Commotionsneurose“ bezeichnen. Eine besondere Frage wäre noch die, ob man die vielfach gewählte Bezeichnung „Schreckneurose“ beibehalten soll. Diese stellt meines Erachtens ebenfalls nur eine Untergruppe der trauma- tischen Neurose dar und zwar diejenige Form, bei der das psychische Trauma, der Schreck, allein ohne irgend eine materielle Erschütterung wirksam war. In sehr vielen derartigen Fällen können wir aber die gleichzeitige Wirkung eines körperlichen Traumas nicht ganz ausschliessen, und es ist die Symptomatologie dieser Form auch durchaus nicht scharf von der der anderen Formen der traumatischen Neurose zu scheiden. Wenn auch, wie kürzlich noch Horn!) in einer sehr gründlichen Studie hervorgehoben hat, die cardio-vaskulären Erscheinungen bei diesen Formen im Vordergrund stehen, so ist dies doch nichts eigentlich spezifisches, vielmehr beobachtet man dieselben Symptome auch . bei solchen Fällen, bei denen gleichzeitig eine materielle Er- schütterung eingewirkt hat. Es scheint mir also empfehlenswert, den Namen „Schreckneurose“ höchstens als Unterdiagnose neben der Hauptdiagnose „traumatische Diagnose“ zu verwenden. Betrachten wir nun die Art der Kriegstraumen, welche zu der Entstehung von Neurosen führen, so sind dieselben natürlich sehr mannigfacher Art; ein je grösseres Material von Kriegs- neurosen man aber sieht, desto mehr stellt sich heraus, dass eine bestimmte Art von Kriegstrauma ganz besonders wirksam 1) D. Zschr. f. Nervhlk., Bd. 53. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 75 ist, nämlich die Granatexplosion. Dieselbe bildet die häufigste Aetiologie gerade für die schweren Formen der traumatischen Neurose, ganz besonders für die Zitter- und Schüttelform. Ich habe mein ganzes Material in dieser Beziehung noch nicht statistisch verarbeiten können, habe nur die augenblicklich auf meiner Lazarettstation befindlichen Schütteltremoren durchgezählt und habe dabei gefunden, dass unter 26 Fällen von schwerem Schüttel- tremor sich 18 im Anschluss an Granatexplosionen entwickelt hatten. Auch die anderen schweren neurotischen Erscheinungen, besonders die Abasie-Astasie treten am häufigsten bei dieser Art von Trauma auf. Wir haben ja in der Granatexplosion ein Trauma von einer ganz ungewöhnlichen Gewalt, sowohl in körperlicher wie in psychischer Hinsicht vor uns. Der starke Luftdruck führt meist dazu, dass die Verletzten viele Meter fort- geschleudert werden oder zum mindesten hinstürzen. Es tritt fast stets eine länger oder kürzer dauernde Bewusstlosigkeit ein, die Leute werden verschüttet, von umhergesprengten Erdmassen oder Geschossteilen getroffen, es dauert oft lange, bis sie aus- gegraben werden, sie befinden sich also oft lange in dem Zustand der Todesangst, dazu kommt der grauenerregende Anblick der getöteten und verletzten Kameraden, von denen oft zerrissene Körperteile umhergeschleudert werden usw. Gaupp!) wil für diese Fälle den besonderen Namen „Granatkontusionsneurose“ einführen. Mir scheint dieser Name nicht zweckmässig, da man sich doch unter Kontusion eine grob materielle Beschädigung vorstellt, während es sich in diesen Fällen gerade nur um eine körperliche Erschütterung neben der psychischen Einwirkung handelt. Zweckmässiger dürfte daher die Bezeichnung „Granat- explosionsneurose“ sein. Aber auch die verschiedenartigsten anderen Traumen führen im Kriege zu Neurosen, Sturz vom Pferde, Sturz in den Schützen- graben usw.,und besonders die lokalen Verletzungen durch Geschosse. Es ist ja ganz klar, dass auch bei diesen Verletzungen, selbst wenn sie verhältnismässig unbedeutend sind, die psychische Einwirkung eine erhebliche ist; die seelische Spannung ist eine andauernde, die Möglichkeit schwerer tötlicher Verletzung steht fortwährend vor Augen, und so kann naturgemäss auch eine relativ kleine Verletzung eine heftige psychische Einwirkung neben der körper- lichen hervorrufen. So sehen wir nach Schussverletzungen, oft nicht sehr erheblicher Art, sowohl allgemeine Neurosen (Tremor usw.) wie besonders auch lokale hysterische Symptome an den verletzten Gliedern, Lähmungen, Anästhesien, Kontrakturen?). Wir kommen nun zur Frage der Entstehungsweise der traumatischen Neurosen. Hier dreht sich der Streit um die Frage, 1) Beiträge zur klinischen Chirurgie, Bd. 46, H. 3. 2) Hauptmann, (Monatsschr. f. Psychiatrie, Bd. 39, H. 1.) betont mit Recht, dass die schweren allgemeinen Neurosen nach Granatexplosionen besonders häufig bei Unverletzten auftreten. Ich kann aber doch nicht sagen, dass sie „äusserst selten“ bei gleichzeitigen Verletzungen vor- kommen. Eine ganze Anzahl meiner Neurotiker bot gleichzeitig auch lokale Verletzungen. Aehnlich wie Hauptmann hat sich kürzlich auch Jendrassik Neurol. Ctrbl. 1916, Nr. 12) ausgesprochen. 76 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. ob das Trauma auf dem Wege der mechanischen Erschütterung, also einer körperlichen Einwirkung (somatogen) zur Neurose führt, oder ob seelische Einwirkungen, nämlich die Gemüts- erschütterung und gewisse sich hieran anschliessende Vorstellungen das Wirksame sind (psychogen). Auf die umfangreiche Literatur, die gerade in der letzten Zeit dieser Frage gewidmet worden ist, kann ich hier im Ein- zelnen nicht eingehen, kann vielmehr nur die allgemeinen Gesichtspunkte skizzieren. Die überwiegende Zahl der Autoren steht wohl gegenwärtig auf dem Standpunkt der psychogenen Entstehungsweise. Man nimmt in erster Linie an, dass die im Moment des Traumas wirksame Gemütserregung, der Affektshok, die Schrekemotion das wesentliche ätiologische Moment bildet. Diese schafit bei vielen Individuen momentan einen besonderen psychischen Zustand, welcher zur Fixation und zur Fortentwicklung gewisser in Moment des Shoks auftretenden Reaktionen Ver- anlassung gibt. Die Art und Lokalisation der Symptome denkt man sich vielfach von „Vorstellungen“ beeinflusst, die im Moment der Schrekemotion wirksam werden, nämlich von der Vorstellung, eine schwere Verletzung erlitten zu haben. In manchen Fällen ist dieser Zusammenhang durchsichtig, wenn z.B. nach einer unbedeutenden Läsion der Hand eine hysterische Lähmung der betreffenden Extremität auftritt, oder nach einer oberflächlichen Augenverletzung eine hysterische Blindheit und dergleichen. In vielen Fäilen ist aber eine solche direkte Beziehung nicht er- sichtlich. Sicherlich entspricht die Annahme einer psychischen Ent- stehungsweise am meisten den klinischen Erscheinungen, welche uns die überwiegende Zahl der traumatischen Neurosen darbieten. Die Abhängigkeit der Symptome von psychischen Einflüssen ist im ganzen Verlaufe der Krankheit unverkennbar. Sie zeigt sich nicht nur in der therapeutischen Wirksamkeit suggestiver Maass- nahmen, sondern auch in der ungünstigen Beeinflussung durch kleine psychische Erregungen, Aerger, Schreck und dergleichen. Es ist ferner besonders hervorzuheben, dass die Symptomatologie der Neurosen, sich im wesentlichen nur auf diejenigen Funktionen bezieht, welche bis zu einem gewissen Grade auch von bewussten psychischen Einwirkungen abhängig sind, Motilität, Sensibilität, Sinnesfunktionen usw. (Wir kommen darauf noch später bei der Simulation zurück.) Nun hat, wie oben erwähnt, Oppenheim hervorgehoben, dass es eine Gruppe von Fällen unter den traumatischen Neu- rosen gibt, welche diese Charakteristica des psychisch Entstan- denen nicht aufweisen, sondern in ihrer Erscheinungsform, in der vollkommenen Stabilität ihres Verhaltens usw. viel mehr den organischen Symptomen ähneln. . Es sind dies die Fälle der Gruppe IV (traumatische Neu- rose im engeren Sinne), die ich oben zu charakterisieren ver- suchte, also besonders die als Akinesia amnestica bezeichnete Lähmungsformen, die besonderen Tremorformen, die Crampus- neurose usw. Ferner betrachtet er noch manche Einzelsymptome I. Abteilung. Medizinische Sektion. ein als aus dem Rahmen des hysterischen respektive psychogenen herausfallend: gewisse vasomotorisch-trophische, ferner sekreto- rische Störungen (Hyperhidrosis), das Chvostek’sche und Gräfe’sche Phänomen usw. Ich muss Oppenheim mit aller Entschiedenheit darin bei- treten, dass wir diesen Krankheitsbildern nach ihrer klinischen Erscheinungsform eine besondere Stellung einräumen müssen, im Gegensatz zu der Mehrzahl der Autoren, welche diese Formen vollständig mit den psychogenen resp. hysterischen Krankheits- bildern zusammenwerfen. Es erscheint mir daher auch der Gedanke Opperheim’s durchaus beachtenswert, für diese Formen der Neurose einen be- sonderen Entstehungsmodus anzunehmen. Während er für die typisch-hysterischen Formen durchaus die psychische Entstehung zugibt, will er diese besonderen Formen auf dem Wege der ma- teriellen körperlichen Erschütterung erklären. Zwar sollen in diesen Fällen nicht grob-anatomische Veränderungen im gewöhnlichen Sinne durch das Trauma gesetzt werden, aber doch materielle Läsionen feinster Art, d.h. eine Beeinträchtigung der moleculären Struktur; er denkt an eine Lockerung und: Verlagerung der fein- sten Gewebselemente, an eine Sperrung von Bahnen und dadurch bedingte Unwirksamkeit resp. „Entgleisung‘“ von Innervations- impulsen. Diese feinen materiellen Läsionen sollen nicht nur durch die mechanische, sondern auch durch die psychische Er- schütterung erzeugt werden können, sie sollen ferner bei gleich- zeitigen äusseren Verletzungen durch einen von der Peripherie ausgehenden dauernden Reiz nach den Centralorganen fortgeleitet und unterhalten werden können (Reflexlähmung). Einer der wenigen Autoren, welche sich Oppenheim neuer- dings angeschlossen haben, v. Sarbot), will diese Veränderungen als „mikroorganische“ Veränderungen bezeichnen, sie sollen ein Mittelding darstellen zwischen den grob-anatomischen und den funktionellen Läsionen). Von seinen Gegnern wird nun Oppenheim zunächst ent- gegengehalten, dass mit derartigen theoretischen Vorstellungen nichis gefördert sei, dass seine Auffassung nur eine bildliche 1) Neurol. Zbl., 1915, S. 316. 2) Schon in seinen früheren Publikationen vor etwa 25 Jahren hat Oppenheim diese somatisch-mechanische Genese der traumatischen Neurosen betont. Es haben sich ihm damals namhafte Autoren ange- schlossen (Strümpell, Vibert, Goldscheider usw., siehe darüber besonders die Arbeit von Schuster, Neurol. Zbl., 1916, S. 500). Später ist diese Anschauung immer mehr zu Gunsten der psychogenen Ent- stehungsweise in den Hintergrund gedrängt worden. Die jetzt im An- schluss an die Kriegsbeobachtungen von neuem von Oppenheim zur Diskussion gestellte mechanische Theorie hat überwiegend Gegnerschaft gefunden. In den Berliner Diskussionen sind ihm besonders Bonhöffer und Lewandowski entgegengetreten. Von weiteren Vertretern der rein psychogenen Genese seien besonders Gaupp und Nonne genannt. Im übrigen muss bezüglich der Literatur auf die Monographie von Oppen- heim und besonders auf seine letzte Entgegnungsschrift (Neurol. Zbl., 1916, Nr. 13) verwiesen werden. 78 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Umschreibung der vorliegenden Tatsachen darstelle usw. Das muss ich bis zu einem gewissen Grade zugeben! Auch ich habe die Empfindung, dass wir mit dem Begriff der „molekulären Ver- schiebung“ nicht recht vorwärts kommen, weil wir keine klare Vorstellung demit verbinden können. Irgend eine molekuläre Zustandsänderung muss ja, im Grunde genommen, jeder normalen und jeder pathologischen Funktion des Nervensystems und auch jedem psychischen Geschehen zu Grunde liegen. Auch die rein psychogen entstandenen Symptome müssen also ein materielles Substrat im Nervensystem haben, wenn uns dasselbe auch nicht bekannt ist. Man pflegt zu sagen, und solche Definitionen sind besonders von Biswanger und Hoche aufgestellt worden, dass die hysterischen resp. psychogenen Krankheitserscheinungen dort ihren Sitz haben, wo die beiden untereinander nicht vergleich- baren Erscheinungsreihen des psychischen und materiellen Ge- schehens sich berühren, wo also die Wechselwirkung zwischen Psychischem und Materiellem stattfindet. In dieses für uns ganz rätselhafte und durch keine mechanische Vorstellung fassbare Getriebe muss das Trauma eingreifen und wir müssen uns meiner Ansicht nach damit begnügen zu sagen, dass sowohl von der psychischen Seite her, auf dem Wege der Schreckreaktion als auch von der körperlichen Seite her, auf dem Wege der mechani- schen Erschütterung dieser feine Mechanismus eine Störung er- fahren kann. Die heftige Erregungswelle, welche bei dem Trauma entweder überwiegend auf-den den psychischen Funktionen oder den den körperlichen Funktionen dienenden Bahnen oder meistens wohl auf beiden gleichzeitig abläuft, kann eben auf jeden Fall eine schwere Betriebsstörung des psycho-psychischen Mechanimus veranlassen. Ob aber die resultierende Störung durch eine mechanische „Sperrung von Bahnen“ oder eine rein psychische Einwirkung zu erklären ist, vermögen wir bei unserer Unkenntnis der Grundlagen des psychischen Geschehens nicht zu sagen. Wir wissen ja auch nicht, was bei den einfachsten normalen psychi- schen Vorgängen, z.B. bei Ausführung irgend einer willkürlichen Bewegung sich materiell in unserem Nervensystem abspielt. Wir müssen uns also, glaube ich, in der theoretischen Aus- legung der Krankheitsbilder vorläufig sehr bescheiden halten und unser Hauptbestreben muss zunächst sein, scharf differenzierte klinische Typen herauszuarbeiten. Und in dieser Beziehung ist meiner Ansicht nach mit den von Oppenheim aufgestellten funktionellen, aber nicht hysterischen Krankheitsbildern ein be- deutender Schritt getan. Wie sehr übrigens die materiellen, echt organischen Folge- erscheinungen des Traumas mit den rein funktionellen als „psyehogen“ aufzufassenden sich kombinieren und ineinander über- gehen können, das wissen wir besonders aus den Erscheinungen der Commotio cerebri. ER Die primären Erscheinungen der Commotio sind ja, wie all- gemein zugegeben wird, als Ausdruck einer materiellen organi- schen Schädigung des Gehirns anzusehen, als ein Produkt einer Pressung resp. Quetschung, verbunden mit kleinen Blutungen in I. Abteilung. Medizinische Sektion. 79 die Gehirnsubstanz und dergleichen, darauf beruht die Bewusst- losigkeit, Beeinflussung von Puls und Atmung usw., auch häufig lokale Erscheinungen, Lähmungen usw.!). Im unmittelbaren Uebergange sehen wir dann häufig die organischen Symptome in die funktionellen Symptome der traumati- schen Neurose (Commotionsneurose) übergehen: kurz nach dem Erwachen aus der Bewusstlosigkeit sehen wir z. B. Lähmungs- erscheinungen, die den Typus der funktionellen tragen und diesen Charakter auch durch den späteren Verlauf dokumentieren. In manchen Fällen wieder können wir nicht einmal unterscheiden, ob die Bewusstlosigkeit rein durch psychischen Shok oder durch eine gleichzeitig wirkende mechanische Commotion wirksam war. Es sei ferner daran erinnert, dass an den nervösen Gehörorganen einerseits häufig direkte anatomische Befunde bei Explosions- wirkungen (Blutungen usw.) nachgewiesen worden sind2), und dass andererseits gerade am Gehörorgan sehr häufig funktionelle Störungen (hysterische Taubheit, hysterische Gleichgewichts- störungen) nach traumatischen Einwirkungen beobachtet werden. Wir müssen also zugeben, dass wir vielfach im Unklaren darüber bleiben, wieviel von den sogenannten funktionellen Sym- ptomen doch durch gewisse feine materielle Läsionen bedingt sein kann. Unsere Kenntnisse sind eben in dieser Beziehung noch ausserordentlich lückenhaft und wir müssen deshalb mit der An- schauung über die Grundlagen dieser Erscheinungen noch recht zurückhaltend sein3). Es sei ferner auf eine Tatsache hingewiesen, die jetzt bei der Diskussion über die traumatischen Neurosen häufig vergessen wird und die beweist, dass es ganz unberechtigt ist, den Begriff der funktionellen Neurose mit dem der psychogenen Entstehung zusammen zu werfen. Wir kennen ja seit langer Zeit Nerven- krankheiten, welche wir als funktionell bezeichnen müssen, weil wir eben grob-anatomische Veränderungen am Nervensystem nicht nachweisen können, denen aber doch eine durchaus materielle körperliche Veränderung zu Grunde liegt. Ich meine hier be- sonders die durch die Störungen der inneren Sekretion verursachten Krankheiten, Morbus Basedowii, Tetanie usw. Auch spricht meines Erachtens alles dafür, dass die echte Neurasthenie einer durch 1) Bonhöffer betrachtet (meines Erachtens mit Recht) auch die Amnesie, die Wesensveränderung, die Reizbarkeit, die Verstimmung usw. bei Commotio cerebri als organisch bedingt. Ganz ähnliches sehen wir auch bei traumatischen Neurosen nach reinen Schreckemotionen. Warum sollen hier nicht auch feine materielle Veränderungen vorliegen ? 2) Siehe z.B. Weil, Neurol. Zbl., 1915, S. 956. 3) Für die materielle Entstehungsweise wird auch angeführt, dass bisweilen Neurosen auch bei solchen Leuten auftreten, die im Schlaf von der Explosion betroffen werden. Ich habe einen solchen Fall be- obachtet, Oppenheim zwei. Schuster erwähnt einen Fall, in welchem bei einem im Schlafe Betroffenen gerade keine Neurose auftrat. Ich glaube, man kann diese Erfahrungen weder in dem einen noch in dem anderen Sinne verwerten, weil es ja sehr leicht möglich ist, dass der Schlafende bei der Explosion vorübergehend erwacht ist, wenn auch nachher Amnesie für den Vorgang besteht. s0 Jahresbericht der Schles, Gesellschaft für vaterl. Cultur. die Erschöpfung bedingten Stoffwechselveränderung ihre Ent- stehung verdankt. Dabei ist besonders beachtenswert, dass die genannten durch Stoffwechselstörungen bedingten Neurosen, ganz besonders der Morbus Basedowii, auch durch Traumen, anschei- nend besonders durch stark psychisch wirkende Traumen aus- gelöst werden können. Wenn wir uns diese Tatsache vor Augen halten, werden wir die Anschauung Oppenheim’s, dass viele der als traumatische Neurosen bezeichneten Krankheitsbilder eine materiell-somatische Grundlage haben, nicht für so ungeheuerlich ansehen, wie es vielen seiner Gegner erscheint. Andererseits aber muss zugegeben werden, dass es ausser- ordentlich schwer ist, sich von der Art dieser materiellen Ver- änderungen eine Vorstellung zu machen. Eine Beobachtung hat mir besonders zu denken gegeben: In einem Falle von Arm- lähmung, welcher durch seine vollständige Stabilität, Fehlen aller reflektorischen und Mitbewegungen usw. ganz ausgesprochen den Typus der Oppenheim’schen Akinesia amnestica wiedergab, verschwand die Lähmung vollständig in der Narkose. Der Patient benutzte im Aetherrausch seinen sonst total gelähmten Arm auf das energischste dazu, um sich die Maske abzureissen!). Unmittelbar nach Abklingen des Rausches war die Lähmung in genau der gleichen Form wie vorher (mit Erhaltenbleiben der- selben Muskelgruppen usw.) wieder vorhanden! Wenn also hier eine materielle „Sperrung von Bahnen“ oder dergleichen vor- liegt, so muss dieselbe jedenfalls sehr flüchtiger, beeinflussbarer Natur sein. Wie dem aber auch sei, wir müssen jedenfalls daran fest- halten, dass die Wirkung eines schweren Traumas als eine momentane heftige psycho-psychische Erschütterung aufzufassen ist, welche sowohl auf psychischem, wie auf mechanischem Wege unmittelbar eine schwere Betriebsstörung im Nervensystem hervorrufen kann, wenn wir auch im einzelnen in Anbetracht unserer Unkenntnis des materiellen Substrates für das psychische Geschehen, diese Wirkungen nicht streng auseinander halten können. In diesem Sinne können wir wohl an der Auffassung einer überwiegend psychogenen Entstehungsweise der traumatischen Neurosen festhalten. Vielfach macht sich aber die Neigung zu einer anderen Aus- legung der psychogenen Entstehungsweise geltend. Nicht die unmittelbare Wirkung der psychischen Erschütterung soll das krankmachende Moment bilden, vielmehr gewisse sich an den Unfall anschliessende, also sekundär entwickelnde Vor- stellungen (ideogene Entstehungsweise). In der Zeit vor dem Kriege hat man diese Vorstellungen ganz besonders als eine Folge der sozialen Versicherungsgesetz- 1) Ein ähnliches, aber offenbar nicht so ausgesprochenes Verhalten hat Oppenheim gesehen: Im Exeitationsstadium der Chloroformnarkose kam es einmal zu einer tonischen Muskelanspannung in einem Teil der dem Willen entzogenen Gebiete (S. 238). « 1. Abteilung. Medizinische Sektion. 8l gebung angesehen und sie unter dem Namen „Begehrungsvor- stellungen“ (Strümpell) zusammengefasst, das sind also Vor- stellungen des Inhalts, dass die Tatsache des Unfalls an sich ein Recht auf ausgiebige Geldentschädigung gewähre, und dass dieses Recht unter allen Umständen ausgenützt werden müsse. Man hat diese in dem Verletzten sich festsetzende Gedanken- richtung direkt als die Ursache der traumatischen Neurosen an- gesehen; das Hineinversenken in diesen Gedankengang, die ewige Beschäftigung damit, die dadurch entstehenden Streitigkeiten und Prozesse sollen das eigentlich krankmachende Moment bilden, und so hat man die traumatischen Neurosen vielfach als „Renten- neurosen“ oder „Rentenhysterien“ bezeichnet und hat Oppen- heim direkt vorgeworfen, dass er durch seine Aufstellung des Begriffs der traumatischen Neurosen geradezu Schuld sei an der ungeheuerlichen Zahl der Unfallneurosekranken und den dadurch bedingten sozialen Lasten. Es sind meiner Ansicht nach in dieser Beziehung ausserordentlich viele Fehler gemacht worden durch ungenaue Analyse der betreffenden Fälle und mangelhafte Be- sriffsbestimmung; manche Aerzte werfen direkt die Begriffe Renten- bysterie und Simulation zusammen. Sie machen sich gar nicht klar, dass die Hysterie eine schwere psychische Krankheit ist, und dass man unmöglich Hysterie und Betrug identificieren kann. Ein Hysteriker ist, selbst wenn seine Hysterie durch das Rentenstreitverfahren erhalten und gefördert wird, unter allen Umständen ein Kranker. Ein Mensch aber, der durch betrüge- rische Vorspiegelungen Rente zu erlangen strebt, ist ein Renten- schwindler oder Betrüger. Derartige Leute sind auch mir zur Genüge begegnet! Es ist aber immer unsere Aufgabe durch möglichst genaue Untersuchung und Diagnosenstellung festzustellen, um welche der beiden Fälle es sich handelt. Dass die bewussten Begehrungsvorstellungen ein ausgesprochen hysterisches Krank- heitsbild mit typischem Stigmata, Krampfanfällen usw. hervor- rufen können, möchte ich energisch bestreiten, es entsteht auf diesem Wege wohl ein hypochondrisch-quärulatorisches Krank- heitsbild, aber nicht die typische Hysterie. Eine interessante Beobachtung habe ich noch kurz vor dem Kriege in einem derartigen Fall gemacht, es handelte sich um einen jungen Mann, der ein verhältnismässig leichtes Kopftrauma durch Umstürzen einer Kulisse erlitten hatte; neben anderen hysterischen Symptomen waren bei ihm ausserordentlich schwere hysterische Krampfanfälle auf- getreten, die jederzeit durch Reizung der verletzten Stelle am Kopfe ausgelöst werden konnten. Ein langdauernder Entschädigungsprozess schloss sich an, in welchem von seiten der Haftpflichtgesellschaft geltend gemacht wurde, dass es sich um einen psychopathisch belasteten Menschen handele, bei dem sich an den ganz unbedeutenden Unfall: Begehrungs- vorstellungen angeschlossen hätten, welche die eigentliche Ursache der Krankheit bildeten. Drei erste Berliner Autoritäten vertraten mit grösster Energie diesen Standpunkt. Der eine Gutachter fand es direkt unerhört, dass auf Grund eines so leichten Traumas Rente beansprucht würde. Unter diesen Umständen würde bald kein Mensch in der Welt von einer Unfallrente verschont sein! Meine gegenteilige Ansicht wurde schroff zurückgewiesen, der Prozess ging bis an das Oberlandesgericht, wo er noch jetzt schwebt (Unfall im November 1911!) Inzwischen Schlesische Gesellsch. f. vaterl. Cultur. 1916. IT. 6 32 Jahresbericht der Sehles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. äusserte der Patient mir gegenüber immer stärker das Verlangen nach Heilung von den Anfällen, ich konnte nun feststellen, dass die Kopfhaut an der Stelle, welche der Patient ganz bestimmt als die verleizte Stelle bezeichnete und welche die hysterogene Zone darstellte, eine eircum- skripte Verfärbung zeigte. Ich liess diese Hautstelle exeidieren (der darunter liegende Knochen war unversehrt) und von diesem Moment an hatte der Patient keine hysterischen Anfälle mehr, jetzt schon seit mehr wie zwei Jahren, obgleich der Prozess weiter geht und die Berliner Gutachter versichert hatten, dass „Bentenhysterien“ wie die vorliegende niemals zur Heilung kämen, so lange die Entsehädigungsfrage nicht ge- regelt sei, nach dieser Regelung aber prompt verschwänden. Ich habe dieses Beispiel angeführt, um zu zeigen, dass die sehr weitgehende Verwendung, die der Begriff der Begehrungs- vorstellungen und der Rentenhysterie in den letzten Jahrzehnten von. vielen Seiten erfahren hat, doch sehr bedenklich ist und dass die Bedeutung dieser Faktoren einer erneuten gründlichen Prüfung bedarf. Ganz besonderer Schaden ist meiner Ansicht dadurch angerichtet worden, dass diese Begriffe als etwas fest- stehendes von den Juristen übernommen worden sind, und in den Schriftsätzen mancher Anwälte, sogar in den Entscheidungen mancher Gerichtshöfe einen breiten Raum eienehmen. Es ist erstaunlich, was für Krankheitserscheinungen hier manchmal als Folge der Begehrungsvorstellungen gekennzeichnet werden! Nun ist, wie es nieht anders zu erwarten war, auch den traumatischen Kriegsneurosen gegenüber von manchen Seiten die Bedeutung der Begehrungsvorstellungen betont worden. Der Be- sriff ist erweitert worden, man denkt jetzt nicht nur an das Streben nach einer Rente, sondern auch noch an das Auftreten anderer Wünsche und Bestrebungen, besonders des Wunsches, sich den Kriegsstrapazen und Gefahren zu entziehen, nicht mehr an die Front zu kommen, Urlaub zu erhalten u. dgl.m. Eine grosse Zahl angesehener Autoren haben sich bereits dahin ausgesprochen, dass dieser „ideogene“ Weg, die Wirkung dieser Wunschvor- stellungen, nur eine untergeordnete Rolle spiele im Vergleich zu der direkten psychischen Erschütterung im Moment des Unfalles. Ich erwähne hier nur Nonne, Binswanger, Meyer, Cassirer, Marburg, ohne auf die Literatur näher eingehen zu können. Am entschiedensten wird dagegen der Standpunkt der ideo- genen Entstehung durch Wunschvorstellungen von Bonhöffer!) vertreten. Er ist der Ansicht, dass sich bei dem Verletzten „un- bewusste Wünsche“ einstellten, die dann auf der Basis der, seiner Meinung nach in diesen Fällen immer vorhandenen, psycho- pathisehen Disposition zu fixierten Krankheitserscheinungen führten. Als Hinweis darauf, dass schon in dem kurzen Moment, in welchem ein Mensch von einem Unfall betroffen wird, sich Wunsch- vorstellungen regen können, führt er ein Erlebnis aus der eigenen Kinderzeit an: bei einer leichten Betäubung, in die er dadurch geraten war, dass er durch den Steinwurf eines Kameraden an den Kopf getroffen wurde, sei ihm sofort der Wunsch gekommen, zunächst liegen zu bleiben, um den Kameraden zu erschrecken! 1) Neurol. ZbL, 1915, 8. 77. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 83 Es ist durchaus zuzugeben, dass im Moment einer „leichten Betäubung“ sich derartige Wünsche regen können; sind die Mehr- zahl der Kriegstraumen aber „leichte Betäubungen“? und können etwaige derartige Wünsche schwere hysterische Symptome, Schüttel- tremoren, Kontrakturen und dergleichen auslösen? Dieser extreme Standpunkt von Bonhoeffer, der sich sehr nahe mit der eingangs citierten Ansicht von Sachs berührt, dass nämlich die eigentliche Ursache der traumatischen Neurosen ein durch das Streben nach Rente bestimmter Gedankengang sei, der auf dem Boden der psychopathischen Disposition wirksam wird, wird, wie ‚bereits oben erwähnt, von der Mehrzahl der Autoren nicht geteilt. Von manchen wird andererseits die soeben skizzierte An- schauung so weit getrieben, dass das Bestreben, einen bestimmten Zweck zu erreichen, überhaupt als die wesentliche Grundlage der Hysterie. und verwandter Neurosen aufgefasst wird. Es ist sogar von Beier der Vorschlag gemacht worden), statt „Hysterie“ die Bezeichnung „Zweckneurose“ einzuführen! Die meisten Auteren, und ich bekenne mich selbst zu dieser Anschauung, stehen wohl jetzt auf einem mittleren Standpunkt, in dem Sinne, däss allerdings allmählich im Laufe der Zeit im Anschluss an einen Unfall sekundäre Wunschvorstellungen sich entwickeln können, welche die ursprünglichen Krankheits- erscheinungen festhalten und steigern, dass aber die primäre Entstehung dieser Erscheinungen keinesfalls auf solche mehr oder weniger bewusste „Vorstellungen“, sondern auf die un- mittelbare psychophysische Erschütterung durch das Trauma zurückzuführen ist. In der Tat scheint mir letztere Annahme unumgänglich, wenn wir jetzt die unmittelbaren Folgeerscheinungen der Kriegs- traumen, besonders der Granatexplosionen2) beobachten, wenn wir den unmittelbar nach dem Trauma schwer alterierten psychischen Zustand der Patienten, die häufige Kombination mit 1) Aerztl. Sachverst. Ztg., 1915, Nr. 21. 2) Eine bemerkenswerte Notiz las ich kürzlich in einer Tageszeitung: „Nach Londoner Blättern hat man plötzliche Todesfälle bei unverwundeten Leuten beobachtet, die von einer Granatexplosion nicht direkt getroffen waren, aber sieh in unmittelbarer Nähe befanden. Untersuchungen er- gaben eine so starke Luftdruckschwankung, dass ein Aneroidbarometer dadurch zerstört wurde. Man fand einen Luftdruck wie auf dem Gipfel des Mont Blane. Daraus wird geschlossen, dass die Betroffenen einer atmospärischen Depression unterliegen, ähnlich wie ein zu schnell auf- steigender Taucher oder Flieger. Es tritt eine plötzliche Scheidung von Kohlensäure aus dem Blut ein und infolgedessen eine Störung der Cir- eulation.“ Sollte hierin nicht ein Hinweis auf die organische Grundlage gewisser Folgewirkungen der Granatexplosion liegen? Man könnte da- nach vielleicht die Granatexplosionswirkungen in Analogie setzen mit der Caisson- oder Taucherkrankheit. Das besonders häufige Auftreten von Erscheinungen von seiten des inneren Ohres würde unter anderem ‚für diese Analogie sprechen. Jedenfalls mahnen solche Beobachtungen dazu, die Granatexplosionswirkungen nicht ausschliesslich vom Stand- punkt der „Wunschvorstellungen“ zu betrachten! 6* 84 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. den organischen Symptomen der Commotio cerebri, ferner auch die vorangegangenen Kriegsleistungen dieser Leute usw. genügend beachten. Liepmann!) .hat vom psychologischen- Standpunkt aus die doppelte psychogene Wirkung des Traumas, die primäre un- mittelbare Kausalwirkung und die sekundäre psychische Ver- arbeitung sehr gut auseinandergelegt. von Strümpell?) geht in dieser Auffassung sehr weit, er schreibt der unmittelbaren Wirkung des Traumas nur eine sehr kurze Dauer zu. Er nimmt an, dass die primären Erscheinungen so schnell abklingen, wie die Wirkungen der Commotio cerebri, und dass das weitere Krankheitsbild dann durch Vorstellungen zustande käme, teils durch die Begehrungsvorstellungen, teıls auch durch ängstliche Erwartungsvorstellungen, Furcht, nicht mehr gesund zu werden und dgl. Oppenheim entgegnet dieser Auffassung mit folgender Fragestellung: „Wie lange dauert die unmittelbare Schreck- wirkung, wann beginnt der Uebergang der Schrecklähmung in die Hysterie? Können Strümpell und seine Anhänger diese Merkmale angeben? Halten sie sich wirklich für berechtigt, den direkten Folgezuständen der Schrecekwirkung eine bestimmte Dauer zuzuschreiben? Liegt es nicht vielmehr auf der Hand, dass für diese die Intensıtät des psychischen Traumas und die individuelle Beschaffenheit des Nervensystems maassgebende Faktoren sind? Ich halte diese Gegenfragen Öppenheim’s für ganz be- rechtigt. Die unmittelbare, durch das Trauma gesetzte schwere Störung des Nervensystems ist bei den schweren Kriegstraumen meist so evident, die Symptome, die sich anschliessen, in ıhrer Art und Dauer so deutlich jedem Gedanken und Wiıllenseinfluss entzogen, dass wir meines Erachtens nicht bereehtigt sind, von einem bestimmten Zeitpunkt ab die Wunschvorstellungen als das Ausschlaggebende anzusehen?). Sicherlich haben wir schon jetzt (und nach dem Kriege wird es ganz besonders der Fall sein) mit dem unberechtigten Streben nach Rente zu rechnen. Wir werden die Pflicht haben, mit der Rentenbemessung sehr vorsichtig zu sein, werden be- sonders uns immer bestreben müssen, die als dienstunbrauchbar 1) Neurol. Zbl., 1916, S. 233. 2) M. KL, 1916, Nr. 18. 3) Als weiterss Moment für die Ideogenese führt Bonhoeffer den Umstand an, dass bei gefangenen Russen und Franzosen keine Er- scheinungen von Hysterie zur Beobachtung kämen. Dasselbe hat Lilienstein und neuerdings auch Oppenheim beobachtet. Ich kann aber (ebenso wie Oppenheim) hierin nicht einen Beweis für die Ent- stehung durch Wunschvorstellungen erblicken, denn auch die Gefangenen hätten doch sicherlich Interesse an der Produktion von Krankheits- erscheinungen zur Erlangung von Erleichterungen u. dgl. In tatsäch- licher Hinsicht liegen auch gegenteilige Angaben von Weygandt vor,. der Ritterhaus eitiert. Die Bedeutung dieser Tatsachen muss vor- läufig noch offen bleiben. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 85 Entlassenen möglichst bald einer nutzbringenden Arbeit zuzu- führen, und werden unberechtigten Anforderungen energisch ent- gegentreten müssen. Aber jetzt schon das soziale Schreckgespenst einer kommenden ungeheueren Belastung durch Rentenhysteriker auszumalen, scheint mir ganz unberechtigt. Man halte sich den eingangs erwähnten geringen Prozentsatz der jetzt beobachteten Neurosen vor Augen und denke an die ungeheueren Lasten, die wir für die Entschädigung der organisch Verletzten und Verstümmelten zu tragen haben werden. Es wird dann wahrlich die traumatische Neurose das Konto nicht so ungeheuerlich belasten, dass man deswegen Oppenheim, wie es vielfach geschehen ist, den Vorwurf machen müsste, er habe durch die Aufstellung des Begriffes der traumatischen Neurosen eine soziale Gefahr heraufbeschworen. | Wir kommen damit mit einigen Worten auf die Frage der Simulation zu sprechen. Viele Autoren haben bereits überein- stimmend angegeben, dass eine Simulation der eigentlichen Er- scheinungen der traumatischen Neurose bei Kriegsteilnehmern . relativ sehr selten ist. Ich kann dies bestätigen und brauche dabei wohl nicht den Verdacht zu fürchten, dass ich jede nervöse Beschwerde eines Lazarettinsassen als Tatsache hinnehme. Ich habe vielmehr schon eine ganze Anzahl von schweren Ueber- treibern bzw. Simulanten. im Lazarett gesehen. Es waren dies aber gerade nicht die Leute, die Kriegstraumen erlitten hatten, vielmehr Leute, die noch gar nicht oder nur kurze Zeit an der Front waren und sich dem Militärdienst mit allen Mitteln zu ent- ziehen strebten. Natürlich ist zuzugeben, und es ist ja allgemein bekannt, dass hysterische Symptome unter Umständen ausserordentlich schwer oder gar nicht von simulierten zu unterscheiden sind. Es liegt dies im Wesen der hysterischen Symptome, wie wir es oben definiert. haben. Alle hysterischen Symptome spielen sich ja auf denjenigen Gebieten ab, die von psychischen Vorgängen, also mehr oder weniger auch von bewussten seelischen Vorgängen abhängig sind. Infolgedessen kann jedes hysterische Symptom auch mit Bewusstsein und Absicht, also simuliert zur Darstellung gebracht werden, während hingegen solche Erscheinnngen, die der bewussten Beeinflussung vollständig entzogen sind (elektrische Erregbarkeit, Pupillenreaktion u. dgl.) auch niemals auf dem Wege der Hysterie verloren gehen oder abgeändert werden können. Wesentlich für die Unterscheidung der hysterischen Symptome und der simulierten ist vor allem die Dauer und Stärke der Er- scheinungen. Ein Schütteltremor, wie wir ihn so häufig bei den Kriegsneurosen sehen, kann jeder Gesunde willkürlıch ebenso produzieren wie der Hysterische, aber nach 1—2 Minuten erlahmt er, er muss den Versuch aufgeben, während beim Hysteriker der Tremor ununterbrochen während des ganzen Tages maschinen- mässig sich fortsetzt. Dasselbe gilt auch für die Lähmungen und besonders die Kontrakturen, die wir für kurze Zeit, aber nicht für die Dauer darzustellen imstande sind. Auch einen Ausfall der Sensibilität und der sensorischen Funktionen können wir für 86 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. kurze Zeit durch absichtliche Unterdrückung vortäuschen, es wird dies aber nicht für die Dauer gelingen, wenn: unter den ver- schiedensten Bedingungen untersucht wird. Die Dauer und die Konstanz der Symptome ist also vielfach ein Unterscheidungs- merkmal der Hysterie gegenüber der Simulation. Mancherlei andere, hauptsächlich psychologische Momente geben natürlich noch Fingerzeige, vor allem die Reaktion auf die Therapie. Vielfach spricht gegen die Simulation auch der Um- stand, dass dieselbe im gegebenen Falle oft gar keinen Zweck und Sinn haben würde, nämlich bei der Komplikation mit schweren erganischen Verletzungen. Wenn z. B. bei einer schweren Schädelverletzung mit grossem Knochendefekt, wie ich es selbst beobachtet habe!), eine einseitige hysterische Blindheit hinzutritt (die auch geheilt wurde), oder bei einer organischen Nerven- schussverletzung eine hysterische Sensibilitätsstörung hinzukommt, so ist ohne weiteres ersichtlich, dass hier keine Simulation vor- liegen kann, denn dieselbe würde für den Verletzten gar keinen Zweck haben, da ja seine Dienstunfähigkeit schon durch die grobe organische Läsion zur Genüge bewiesen ist. Immerhin wird die Unterscheidung zwischen Hysterie und Simulation stets ein sehr schweres Kapital bleiben. Was nun die Prognose der traumatischen Neurosen anbetrifft, so ist dieselbe, wie ich schon angedeutet habe, keineswegs als durchaus ungünstig und aussichtslos anzusehen. Auck Oppen- heim hat wiederholt die ihm unterstellte Ansicht zurück- gewiesen, dass er die traumatischen Neurotiker durchweg mit einer düsteren Prognose behaftet habe. Natürlich spielt hier die Be- lastung wesentlich mit; ausgesprochen psychopathische Individuen werden kaum wieder felddienstfähig werden, wenn sie erst einmal an einer Neurose erkrankt sind, dagegen sehen wir bei Un- belasteten meist einen recht günstigen Verlauf, besonders die Fälle von traumatischer Neurasthenie erweisen‘ sich unter ent- sprechender Ruhe günstig, aber auch hysterische Formen kommen oft zur Heilung. Wir müssen uns allerdings darüber klar sein, dass wenn wir eine hysterische Lähmung, Kontraktur, eine Aphonie u. dgl. beseitigen, stets nur ein Symptom zum Ver- schwinden bringen und dass ein Rückfall Inden leicht möglich ist. Am hartnäckigsten haben sieh mir die hysterischen Schüttel- tremoren erwiesen, und ich habe diese Erfahrung gesprächsweise auch von anderen Kollegen bestätigt gehört. Ueber den definitiven Verlauf der Krankheit bei den entlassenen Kriegern haben wir ja leider zurzeit keinen Ueberblick, wir hören selten von dem weiteren Geschick der Patienten. Erst später wird sich ein allgemeines Urteil gewinnen lassen. Die Therapie muss natürlich wesentlich eine psychische sein, und es können zu diesem Zwecke alle Faktoren herangezogen werden, Bettruhe scheint mir ein wichtiges Mittel, nicht nur bei den neurasthenischen, sondern auch bei gewissen hysterischen Formen, besonders den Zitterformen. Bei allen Ausfallerscheinungen, 1) B.kl.W., 1915, Nr. 31, Fall 3. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 87 Lähmungen, Astasie usw. ist vor allem die Uebungstherapie, die ich besonders mit suggestiver Elektrisation verbinde, zu empfehlen. In manchen Fällen, besonders solchen, bei denen der Patient seinen Beschwerden eine übertriebene Beachtung schenkt, empfiehlt sich dagegen wieder einige Zeit vollständiges Unterlassen jeder Therapie. In jedem einzelnen Fall wird man erst die geeignete Methode herauszusuchen haben. Besonderes Aufsehen hat eine Mitteilung von Nonne!) über glänzende Wirkungen der Hypnose bei Kriegshysterien erregt; diese glänzenden Wirkungen sind von anderen nicht bestätigt worden, und auch ich selbst habe keine hervorragenden Erfahrungen damit gemacht. Auch Nonne hat seine anfänglichen Schilderungen bereits etwas eingeschränkt. Ich glaube, dass man mit anderen suggestiven Methoden dasselbe ' erzielen kann wie mit der Hypnose, wofür ich mancherlei Bei- spiele anführen kann. - In manchen Fällen kann auch die An- wendung sehr starker schmerzhafter Reize (faradischer Pinsel usw.) von eklatantem Nutzen sein. Ich habe auf diesem Wege wieder- holt einzelne hysterische Symptome prompt beseitigt. Für sehr bedenklich halte ich aber die allgemeine Empfehlung dieser Methode in einer geradezu grausamen Form durch Kaufmann). Eine kritiklose Anwendung der Vorschriften dieses Autors kann bei den Neurotikern, die doch sämtlich psychisch kranke Indi- viduen sind, unter Umständen grossen Schaden anrichten. Ich kann diese Dinge hier nicht weiter ausführen, die vor- stehende Darstellung bezweckte nur von ganz allgemeinen Gesichts- punkten aus einen Ueberblick über den gegenwärtigen Stand der Frage von der traumatischen Neurose zu geben. Im Einzelnen hoffe ich mein kasuistisches Material späterhin verarbeiten zu können. (Am Schluss werden 21 Fälle aus der Festungslazarettabteilung St. Georgskrankenhaus in rascher Reihenfoige demonstriert, ein Fall von traumatischer Neurasthenrie, drei Fälle von lokalen hysterischen Lähmungen resp. Kontrakturen, eine hysterische Blindheit, ein hysterischer Mutismus, beide in der Heilung be- griffen, drei Fälle von rhythmischem, andauernd gleichbleibendem Tremor, vier Fälle von echt hysterischem Tremor, eine Crampus- neurose, ein Fall von funktioneller Gleichgewichtsstörung, die sich angeschlossen hatte an eine ganz leichte Läsion des Vestibular- Apparates, fünf Fälle von Astasie-Abasie, resp. hysterischen Gang- störungen, wovon zwei einseitig sind.) 1) Neurol. Zbl., 1915, S. 28. 2) M.m.W., 1916, Nr. 22. xl. Neue Methoden und Gesichtspunkte zur Be- handlung der Kriegsneurosen. Von Prof. Dr. Ludwig Mann-Breslau. In einem Vortrag, den ich im Juni d. J. über die durch Kriegseinwirkungen entstehenden Neurosen hier vor unserer Ge- sellschaft gehalten habe!), habe ich die Therapie dieser Zustände nur kurz gestreift. Ich drückte mich damals ganz allgemein dahin aus, dass unsere Therapie ganz wesentlich eine psychische sein müsse, und dass zu diesem Zwecke die verschiedensten Faktoren herangezogen werden können. Inzwischen sind verschiedene beachtenswerte Publikationen auf diesem Gebiete erschienen, und es hat ganz besonders eine ausgiebige Aussprache, die auf der Münchener Neurologen- und Psychiater-Versammlung im September d. J. stattgefunden hat, die allgemeine ärztliche Aufmerksamkeit und nicht zum wenigsten das Interesse der zuständigen militärischen Stellen auf diesen Gegenstand gelenkt. Unter diesen Umständen erschien es mir angebracht, in Er- gänzung meines damaligen Vortrages der Therapie der Kriegs- neurosen eine besondere Besprechung zu widmen und dabei vor allem den neuerdings hervorgetretenen Gesichtspunkten Rechnung, zu tragen. Wohl die meisten Aerzte, die sich mit der Behandlung von Kriegsneurosen beschäftigen, haben, ebenso wie ich selbst, in der ersten Zeit ein sehr aktives therapeutisches Eingreifen bei diesen Fällen vermeiden zu müssen geglaubt. Da ja bei den meisten dieser Patienten das Moment der Erschöpfung und nervösen Ueber- reizung im Vordergrund steht, beschränkte man sich überwiegend auf die bekannten Methoden der Schonung und Roborierung des ° Nervensystems, also Bettruhe, reichliche Ernährung, leichte Hydro- und Elektrotherapie, sedative Medikamente usw. Dazu natürlich nach Möglichkeit psychische Beeinflussung, im späteren Verlauf der Behandlung bescnders in Form einer Wiedererziehung des Willens durch Beschäftigungs- und Arbeitstherapie, also eine Art 1) B.kl.W., 1916, Nr. 37 u. 38. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 89 psychischer Uebungsbehandlung. Besonders von der Arbeits- therapie haben manche Autoren, denen es möglich war, sie sach- gemäss zu organisieren, sehr gute Erfolge gesehen. So besonders Wollenberg in Strassburg, der in systematischer Weise durch Verbindung mit landwirtschaftlichen und handwerklichen Betrieben eine Wiedererziehung zur Arbeit durchführen konnte. Wo ein solches systematisches Vorgehen nicht möglich ist, sind die Er- folge wohl nicht allzu glänzend. Ein Arbeitsurlaub in die Heimat wirkt zwar manchmal günstig, aber doch nur vorübergehend. Ebenso auch die gelegentlich am Orte sich darbietenden Arbeits- gelegenheiten. Der bei uns, ebenso wie an anderen Stellen ge- machte dankenswerte Versuch, durch einen geregelten Arbeits- nachweis sowie auch durch die Erlaubnis stundenweiser Be- schäftigung der Lazarettinsassen im eigenen Betriebe, denselben einen Ansporn zur Wiederaufnahme der Arbeit zu geben und damit ihre Energie zu heben, hat anscheinend bisher einen allzu grossen Erfolg: nicht gezeitigt. So müssen wir leider sagen, dass die therapeutischen Resultate der Schonungs- und Uebungs- behandlung bisher wenig befriedigend waren. Am günstigsten noch verlaufen unter diesen Verfahren die rein neurasthenischen Formen der Neurose, diese sehen wir oft obne weiteres Eirgreifen nach mehrwöchiger oder mehr- monatiger Lazarettbehandlung zunächst wieder zum Garnison- dienst, später auch wohl oft wieder zum Kriegsdienst heraus- gehen. Wo aber ausgesprochen psychogene bzw. hysterische Krankheitserscheinungen, besonders von der Form der so häufigen motorischen Symptome (Lähmungen, Kontrakturen, Krämpfe, Astasien, Schütteltremoren usw.) vorliegen, da sind die Erfolge relativ sehr gering. Zwar habe ich auch in manchen dieser Fälle ein allmähliches Abklingen der Erscheinungen unter Ruhe- therapie gesehen, so dass z. B. Schütteltremoren nach und nach schwanden und die Kranken in recht gutem Zustand hinausgehen konnten. Es ist dies aber eine kleine Minderheit; die meisten blieben so gut wie unbeeinflusst. Auch Versuche mit narkotisch wirkenden Medikamenten, wie Hyoscin, Morphium, Opium, Chloral, Brom, leisten diesen motorischen Reizerscheinungen gegenüber meist recht wenig. Ich habe daher schon von Anfang an den schweren hysterischen Erscheinungen gegenüber die bekannten alten Suggestivmethoden, insbesondere die Applikation kräftiger elektrischer Ströme und dergl., angewandt, zum Teil mit recht gutem Erfolg. Ich habe eine ganze Anzahl von hysterischen Mutismen, Aphonien, Lähmungen, Kontrakturen, Astasien, auch hysterische Blindheit usw. auf diese Weise beseitigen können, jedoch blieb immer noch ein betrübend grosser Teil unbeeinflusst. Ganz besonders resistent erwiesen sich die so häufigen (lokali- sierten oder universellen) Schütteltremoren. Gelegentliche Be- sprechungen mit Kollegen, sowie auch die Beobachtungen, die ich an Patienten machen konnte, welche schon auf anderen Lazarettabteilungen gelegen hatten, wie schliesslich auch die Mit- teilungen in der Literatur zeigten mir als schwachen Trost, dass es in den anderen Lazarettabteilungen ebenso damit ging wie in 90 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. der meinigen. Ich will hier nicht auf die Literatur eingehen, will nur eine Statistik anführen, die Wilmanns auf der Münchener Versammlung mitgeteilt bat: Von Schreckneurosen bzw. trau- matischen Neurosen wurden nur 5 pCt. wieder kriegsverwendungs- fähig, 64 pCt. mussten aus dem Heeresdienst entlassen werden und spätere Nachfragen ergaben, dass sich von diesen Entlassenen 75 pCt. nicht weiter gebessert, sondern zum Teil sogar noch ver- schlechtert hatten. Also ein recht ungünstiges Resultat! Es ist demnach sehr natürlich, dass Mitteilungen über Erfolg versprechende neue therapeutische Wege mit Eifer aufgegriffen worden sind. Das grösste Aufsehen hat schon vor Jahresfrist eine Mitteilung von Nonne!) über. die Anwendung der Hypnose erregt. Er teılte damals in Hamburg mit, dass er von Fällen grosser Hysterie 65,4pÜCt.durch Hypnose geheilt bzw. von ihren Sym- ptomen befreit habe. Darunter waren 29,5 pCt. Fälle von Schnell- heilung, also Heilung in einer Sitzung. Auf der Münchener Tagung lauteten seine Heilungsprozente, wenn ich nicht irre, wohl etwas niedriger (50 pCt.), immerhin aber noch ein glänzendes Resultat! Besonders wirkungsvoll wurden seine Mitteilungen in München dadurch, dass sie von hypnotischen Demonstrationen unterstützt waren. Er versetzte eine Anzahl mitgebrachter Patienten durch einfache Verbalsuggestion („wenn ich auf 3 zähle, oder wenn ich Ihren Scheitel berübre, oder dergl. schlafen Sie!“) in tiefe Hypnose. Durch eine weitere, ebenso einfache Suggestion konnte er dann den Patienten wieder in denselben Krankheits- zustand versetzen, den er vor der Heilung gezeigt hatte. Der Patient producierte prompt auf Kommando einen schweren Schüttel- tremor, eine Lähmung, eine Kontraktur oder dergl., ebenso schnell wurde er wieder durch hypnotische Suggestion von diesem Symptom befreit. So eindrucksvoll diese Demonstrationen auch waren, so konnte doch ich, wie wohl viele andere Zuhörer, mich des Be- denkens nicht erwehren, ob man von einer wirklichen Heilung reden kann, wenn ein Symptom so leicht reproducierbar bleibt. Aber man muss sich in dieser Beziehung der Erfahrung und Autorität Nonne’s beugen, zumal er auf 4 Fälle exemplificieren konnte, die hypnotisch geheilt wurden und jetzt bei Verdun, an der Somme und an der galizischen Ostfront seit Monaten in schweren Kämpfen stehen, ehne rückfällig geworden zu sein, sowie auf viele Fälle, die wieder im bürgerlichen Leben stehen. Von vielen Seiten aus der Versammlung wurden die günstigen Erfolge der Hypnose bestätigt, aber kein Redner brachte bestimmte Angaben über ähnliche grosse und glänzende Resultate bei wie Nonne. Und so wird es wohl auch in Zukunft bleiben! Die Hypnose ist eben eine besondere Kunst, die in vollendeter Form nur wenige Aerzte ausüben können, sozusagen eine rein persönliche Eigen- schaft. Viele Aerzte haben eine verständliche Abneigung -gegen ihre Anwendung, und wer nicht mit voller Ueberzeugung an sie 1) Neurol. Zbl., 1916, S. 136. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 91 herangeht, leistet natürlich nichts Rechtes damit. Dazu kommt, dass die Ausführung der Hypnose ein grosses Maass von Zeit- aufwand, Ruhe und Konzentration des Arztes verlangt, welches die meisten von uns jetzt bei der Lazaretttätigkeit nicht auf- bringen können. Schliesslich fällt ins Gewicht, dass ein Teil der Patienten sich gegen die Hypnose refraktär verhält, natürlich um so weniger, je geschickter der Arzt in der Anwendung ist. Aber selbst Nonne fand noch einen gewissen Bruchteil nicht hyp- notisierbar und von dem hypnotisierbaren wiederum eine Zahl von Patienten, welche trotz tiefer Hypnose die hypnotische Sug- gestion nicht annahmen, d.h. bei welchen das Symptom in der Hypnose nicht zum Verschwinden kam. Sicherlich wird also die hypnotische Behandlung auf einen kleinen Teil von Patienten und noch kleineren Teil von Aerzten beschränkt bleiben. Ich selbst habe keine nennenswerten Er- fahrungen auf diesem Gebiete. Ich habe sie zwar schon früher und auch jetzt gelegentlich bei Krisgsteilnehmern angewendet, in einigen wenigen Fällen mit gutem Erfolg. Ich bin aber alsbald zu der Ueberzeugung gekommen, dass ich persönlich mit anderen, meinem Gefühl sympathischeren Methoden und mit geringerem Zeit- und Energieaufwand Besseres leisten kann. Die Münchener Diskussion schien mir zu zeigen, dass es in diesem Punkte den meisten Aerzten wohl so geht wie mir selbst, denn über eine zweite dort besprochene Metkode wurde aus der Versammlung heraus von einer viel grösseren Anzahl von Rednern über eigene Erfahrungen und glänzende Erfolge berichtet. Es ist dies die jetzt gewöhnlich kurzweg „Kaufmann’sche Methode“ genannte, aber prinzipiell durchaus nicht neue Methode der Be- handlung mit starken elektrischen Strömen (fälschlich wurde oft von „Starkstrom“ gesprochen). Kaufmann hat über diese Methode zuerst im Mai d. J. be- richtet!). Als wesentliche Bestandteile seines Verfahrens beschreibt er folgendes: Erstens: suggestive Vorbereitung; es wird dem Patienten schon tagelang vorher eröffnet, dass die Behandlung zwar schmerzhaft sein werde, aber sicher helfen werde (der Name „Ueberrumpelungsmethode“, der von Kaufmann selbst gebraucht wird, ist unter diesen Umständen nicht ganz zutreffend). Zweitens: das Wesentliche der Methode besteht in der Anwendung sehr kräftiger elektrischer Ströme von langer Dauer in ein- bis mehr- stündiger Sitzung. Kaufmann benützt dazu den sinuscidalen Strom des Pantostaten, den er oft noch mit dem galvanischen Strom kombiniert (darüber siehe später). ‘ Drittens: eine Kom- bination mit energischen Uebungen, die gegen die betreffende Störung gerichtet sind und zwischen die elektrische Bearbeitung eingeschoben werden, also z. B. Gehübungen bei Abasien usw. Dabei legt Kaufmann besonderen Wert auf das militärische Vorgesetztenverhältnis. Die Aufforderungen bei den Uebungen müssen in knapper Befehlsform unter Zuhilfenahme der mili- tärischen Kommandos gegeben werden. Er lässt Leute mit Zitter- 1) M.m.W., 1916, Nr. 22. 92 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. bewegungen oder mit Atzxie Marschübungen nach scharfem militärischen Kommando machen, genau wie auf dem Kasernenhof usw. Schliesslich ist eine Vorbedingung des Gelingens konse- quente unerbittliche Durchführung bis zur Heilung in einer Sitzung, die, wie gesagt, unter Umständen von mehrstündiger Dauer sein muss. Die Erfolge, die Kaufmann schon in seiner ersten Publikation mitteilte, sind ganz hervorragend. Er berichtet über etwa 40 in einer Sitzung geheilte Fälle. Es waren zahlreiche Fälle von Schütteltremor, Läbmungen, Astasien, Aphonien usw., die teils schon lange, bis zu einem Jahre, bestanden hatten. Die Dauer der Sitzung dehnte sich bis auf 21/, Stunden aus. Die Mitteilung Kaufmann’s hat grosses Aufsehen erregt. Es wird jetzt schon in zahlreichen Lazaretten nach seiner Methode gearbeitet, auch die Sanitätsämter interessieren sich lebhaft dafür, und so scheint eine kritische Prüfung der Methode durchaus am Platze zu sein. Was zunächst das Prinzip des Verfahrens anbetrifft, so ist dasseibe durchaus nicht neu. Die Wirkung schmerzhafter Reize gegenüber hysterischen Erscheinungen ist schon seit vielen Jahren allbekannt. Der kräftige Schlag, den man einem hysterischen Kinde erteilt, die kalte Uebergiessung oder die Stiche in die Fusssoble bei einem hysterischen Anfalle stehen in dieser Be- ziehung mit dem faradischen Pinsel auf derselben Stufe. Letzterer wird aber aus naheliegenden Gründen von jeher besonders gern gebraucht. Vor allem hat er meiner Ansicht nach den Vorzug, dass er nicht nur schmerzerregend wirkt, sondern gleichzeitig eine funktionserweckende Wirkung hat. Ich kann mittels des elektrischen Stromes die hysterisch gelähmten Muskeln reizen und dadurch das unbewegliche Glied in Bewegung versetzen. Ich kann eine im Schüttelkrampf befindliche Extremität durch den Strom tetanisieren und somit den Krampf momentan zum Still- stand bringen, also dem Patienten die Wirksamkeit der Methode gewissermaassen ad oculos demonstrieren.. Sicherlich ein sug- gestives, die Schmerzwirkung unterstützendes Moment! Ich wende diese Methode seit vielen Jahren an und habe sie bereits im Jahre 1911 in dem von mir gemeinsam mit Boruttau her- ausgegebenen Handbuch!) ausführlich geschildert. Ich habe dort auch besonders die Verbindung der suggestiven schmerzhaften Faradisation mit Uebungen geschildert, auf die auch Kaufmann jetzt so grosses Gewicht legt. Ich lasse diese Uebungen be- sonders in der Weise machen, dass ich zunächst die gewünschte Bewegung durch kräftige elektrische Reizung auslöse, dann den Patienten bei ausgeschalteten Strom energisch auffordere, die Bewegung aktiv auszuführen, und wenn ihm dies nicht gelingt, den Strom von neuem einschalte in allmählich steigender In- tensität. Die Kombination dieser Uebungen mit dem elektrischen Schmerzreize hat sich mir von jeher bewährt und ich habe schon 1) Handb. d. gesamt. med. Anwendungen der Elektrizität, Leipzig 1911, Bd. 2, Hälfte 2, S. 612. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 93 in vielen Fällen in Friedenszeitev und auch jetzt während meiner Lazaretttätigkeit auch schon vor der Kaufmann’schen Publikation gute Erfolge damit erzielt. Allerdings sind in den meisten Fällen bei meinem Verfahren eine ganze Anzahl von Sitzungen nötig, in welchen die Schmerz- erregung erst allmählich gesteigert wird, während jetzt Kauf- mann eine einzige Sitzung vornimmt und in dieser mit äusserster Konsequenz die Heilung erzwingen will. Das Prinzip ist also keineswegs neu; neu ist nur die Rigorosität und Dauer der Anwendung bei dem Kaufmann ’schen Verfahren. Ich gebe gern zu, dass damit ein erheblicher Fort- schritt angebahnt ist, wenn Kaufmann auch wohl bei seiner ersten Publikation über das Ziel hinausgeschossen hat. Zunächst ist die Frage zu erörtern: Ist eine derartige kräftige und andauernde Anwendung des elektrischen Stromes ganz unbedenklich? Leider kann man dies nicht sagen. Bei der Münchener Diskussion wurden zwei Todesfälle, die während der Kaufmann’schen Behandlung eingetreten sind, erwähnt!) (Köster, Liebermeister). In beiden Fällen fand sich bei der Sektion eine vergrösserte Thymus. Wenn sich derartige Er- fahrungen wiederholen sollten, würde meiner Ansicht nach die Kaufmann’sche Methode unbedingt abgelehnt werden müssen. Ich glaube aber, dass diese traurigen Erfahrungen nur auf einen Fehler der Technik und eine ungenügende Berücksichtigung ge- wisser elektrotherapeutischer Grundlagen zurückzuführen sind. Kaufmann empfiehlt nämlich die Anwendung des sogenannten Pantostaten. Der jetzt so viel gebrauchte Pantostat liefert nicht einen Induktions- oder faradischen Strom, sondern einen sogenannten sinusoidalen Wechselstrom. Dieser hat zwar mit dem faradischen Strom als wesentlich gemeinsam, dass er ein rhythmisch ‘unterbrochener, wechselnd gerichteter Strom ist und somit tetanisierend wirkt. Er unterscheidet sich aber ganz wesentlich vom faradischen Strom. Letzterer besitzt nämlich zwar eine hohe Spannung, aber nur eine ganz geringe Intensität entsprechend der Steilheit seines Wellen- ablaufes. Der Wechselstrom dagegen zeichnet sich durch eine erhebliche Intensität aus, er ist in dieser Beziehung dem Gleich- strom ähnlicher. Infolge dieser hohen Intensität dringt er in die Tiefe ein und beeinflusst die inneren Organe, während der faradische Strom sich an der Oberfläche des‘ Körpers abgleicht (analog dem Verlauf der hochgespannten Entladungen der Franklin’schen Maschine usw.). Dass der faradische Strom tat- sächlich keine Tiefenwirkungen besitzt, wissen wir aus der all- täglichen Erfahrung. Wir können mit dem faradischen Strom niemals die tiefgelegenen Nerven erregen. Wir können keine Opticus- oder Acusticusreizung, keine Schwindelerscheinungen durch Vestibularis-Reizung hervorbringen usw. Mit dem Wechsel- strom ist dies dagegen leicht möglich, wie sich besonders am 1) Inzwischen ist mir privatim von einem weiteren Todesfall be- richtet worden. 94 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Opticus demonstrieren lässt, und wie schon Bernhard!) vor mehreren Jahren betont hat. Die durch starke elektrische Ströme eintretenden Todesfälle sind nun, wie wir besonders nach den Experimenten von Prevost und Batelli?2) annehmen müssen, auf elektrolytische Beeinflussung des Herzmuskels und seiner Ganglien zurückzuführen. Man beobachtet im Tierexperiment fibrilläre Zuekungen, sogenanntes „Flimmern“ der Herzmuskulatur vor Eintritt des Todes. Es ist experimentell nachgewiesen, dass grosse Hunde schon. durch Wechselströme von etwa 50 Volt ab getötet werden können, während der faradische Strom auch bei grössten Stromstärken, so gut wie ungefährlich ist. Er kann eben wegen seiner geringen Tiefenwirkung den Herzmuskel nicht elektrolytisch beeinflussen. Unsere Pantostaten liefern uns Wechselströme von einer Spannung bis zu etwa 60 Volt; man kann sich wohl denken, dass diese Spannung bei zufällig günstiger Elektrodenanordnung, günstigen Leitungsverhältnissen usw. schon gefährlich werden kann. Besonders gefährlich muss aber die Kombination mit dem Gleichstrom sein, die Kaufmann em- pfeblt. Die elektrolytischen Wirkungen sind dabei natürlich noch wesentlich stärker. Ich würde also als erste Forderung aufstellen, dass man bei Anwendung des Kaufmann’schen Ver- fahrens sich nur des faradischen Stromes, wie er von dem Dubois’schen Schlittenapparat geliefert wird, niemals aber des sinusoidalen Wechselstromes, und besonders nicht des kombinierten Wechsel- und Gleichstroms bedient. Die Schmerzerregung lässt sich mittelst des faradischen Stromes reichlich so weit treiben, wie mit dem Wechselstrom und ebenso die Funktionserweckung in Form von Muskelkontraktionen usw. Ich selbst habe gar kein Bedenken, den faradischen Strom in hohen Stromstärken selbst in der Nähe lebensmichnger Organe z. B. am Halse bei Aphonien anzuwenden. Ich hoffe also, dass man durch ausschliessliche Anwendung des faradischen Stromes weitere Todesfälle wird vermeiden können. Das zweite Bedenken wäre folgendes: Ist eine derartige brüske Methode wie sie Kaufmann in seiner ersten Publikation geschildert hat, Hysterischen, also doch psychisch Kranken, gegenüber erlaubt? Stellen sich ihr nicht moralische Bedenken gegenüber, zumal es sich doch meist um Leute handelt, die im aufopfernden Kriegsdienst krank geworden sind, und zweitens auch rechtliche Bedenken, wegen etwaiger schädlicher Folgen, die bei einem so gewaltsamen Eingriff einer kranken Psyche gegenüber doch immerhin möglich erscheinen. Diese Bedenken sind vielfach laut geworden, schon bei Be- sprechung der ersten Kaufmann’schen Mitteilung, und auch auf der Münchner Versammlung sind ähnliche Bedenken erhoben worden, am schärfsten von Aschaffenburg. Es wurde auch wiederholt betont, dass man vor Anwendung des Verfahrens sich 1) Neurol. Zbl., 1904, S. 690 ff. a 2) Siehe über diesen Gegenstand besonders das oben. citierte Handbuch (Boruttau u. Mann), Bd. 1, Absch. 7, S. 505 ff. 1. Abteilung. -Medizinische Sektion. 95 die Einwilligung des Patienten vor Zeugen geben lassen müsse, und dass man bei etwaigen schädlichen Folgen gedeckt sein müsse. Es scheint, dass auch Kaufmann selbst, wohl veranlasst durch üble Erfahrungen, seine ursprüngliche Methode wesentlich abgemildert hat. Er schilderte sıe in München so, als ob be- sonders starke Ströme gar nicht notwendig wären, dass man im allgemeinen mit mässigen Stromstärken auskäme, auch die Dauer meist nur eine Viertelstunde betrüge.. Sehr auffallend war mir auch, dass er in München die Methode bei „erregten Kranken und bei Zitterern“ nicht angewendet wissen wollte, weil dieselben zu Recidiven neigten. In seiner ersten Mitteilung hatte er gerade eine grosse Reihe von Tremoren als geheilt angeführt. Offenbar hat also Kaufmann selbst seine erste Mitteilung in wesentlichen Punkten als revisionsbedürftig angesehen, und darauf muss energisch aufmerksam gemacht werden. Die Aerzte, besonders die neurologisch weniger erfahrenen, müssen gewarnt werden, sich nach den ersten Angaben Kaufmanns ohne Ein- schränkung zu richten. Trotzdem muss Kaufmann ein hervor- ragendes Verdienst zugesprochen werden, wie ich hier aus- drücklich betonen will. Die Energie und Rücksichtslosigkeit, die er zuerst angewandt hat, hat viele von uns zu einem Fallen- lassen von Bedenken und zu einem konsequenteren Vorgehen veranlasst und dies ist geeignet, unsere Resultate erheblich zu verbessern. Ich muss das für meine Person unbedingt anerkennen. Ich verfahre aber nicht nach den ursprünglichen Kaufmann ’schen Vorschriften, sondern im wesentlichen nach der schon früher von mir geübten Methode und bin nur durch Kaufmann veranlasst worden, zeitweise wesentlich höhere Stromstärken zu benützen und mich nicht so leicht abschrecken zu lassen, wenn nicht so- fort ein Erfolg eintritt oder sich irgendwelche unangenehme Zwischenfälle zeigen. Solche treten besonders auf in Form von hysterischen Anfällen, die durch die brüske Behandlung ausgelöst werden. Ich habe zweimal einen schweren hysterischen Anfall mit nachfolgendem langdauernden Dämmerzustand während der Behandlung gesehen. In dem einen Fall war der Anfall so schwer, der Kranke bot überhaupt das Bild so ausgeprägter psychischer Uebererregbarkeit, dass ich von weiteren. Versuchen Abstand genommen habe. Der Kranke ist noch jetzt ungeheilt. Im zweiten Fall aber, in: welchem sich übrigens an den Dämmer- zustand noch eine schwere Sprachstörung in Form des hysterischen Stotterns anschloss (welche allmählich unter Nichtbeachtung schwand), habe ich nach einigen Tagen Ruhe die Behandlung mit gutem Erfolg fortgesetzt. Ich werde den Kranken nachher demonsirieren. Ich verfahre im allgemeinen also so: In der ersten Sitzung werden kurze Zeit recht energische faradische Ströme angewendet, um zunächst sozusagen Eindruck zu machen, aber nicht in stunden- langer Ausdehnung, sondern sobald sich einiger Erfolg gezeigt hat, wird die Sitzung geschlossen und die Fortsetzung erfolgt am nächsten Tage. Es kann dann mit schwächeren Strömen be- gonnen werden, wenn eine gewisse Besserung sich zeigt und der 96 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Culiur. Patient den guten Willen erkennen lässt, die Störung zu über- winden. Eventuell müssen auch wieder stärkere Ströme angewandt werden bei mangelhaftem Erfolg. Dabei wird der Strom stets im Sinne einer Funktionserweckung angewendet, also es werden die gelähmten Muskeln in Bewegung gesetzt, dadurch die Be- wegungsmöglichkeit demonstriert, es werden die, krampfenden Muskeln durch Reizung des ganzen Nervenstammes (Nervus eruralis, medianus usw.) tetanisiert, so dass die Extremität zeit- weise ruhig gestellt wird. Inzwischen werden immer wieder suggestive Uebungen im Gehen, Bewegen der Extremität, Ruhig- halten derselben usw. vorgenommen. Ich muss aber Kaufmann gegenüber betonen, dass ich dabei stets ohne das militärische Vorgesetztenverhältnis und ohne Uniform ausgekommen bin. Ich glaube, dass die ärztliche Autorität hier das wesentliche sein muss. Ich habe auch sehr häufig bei Zivilpatienten mit derselben Methode Erfolg gehabt. Kaufmann und einige andere Münchener Diskussionsredner haben auch gesagt, dass sich die Methode für Offiziere nicht eigne, weil bei ihnen das militärische Subordinationsverhältnis fehle. Ich kann demgegenüber sagen, dass ich auch mehrfach bei Offizieren gute Erfolge mit langsam fortschreitender sug- gestiver faradischer Behandlung gehabt habe. Zum Beispiel bei einem Leutnant (Lazarettabteilung von Prof. Fränkel) mit hysterischer Hemiplegie. Derselbe war anfangs so überempfind- lich, dass die schwächsten, kaum füblbaren elektrischen Ströme Reizerscheinungen in Form von Muskelzucken, allgemeinem Un- wohlsein, Schwindelerscheinungen usw. auslösten. Hier hat sich durch langsam vorgehende Behandlung allmählich eine immer grössere Toleranz gegen den faradischen Strom und zunehmende Besserung der Lähmung eingestellt. Was nun die Dauer der Behandlung anbetrifft, so habe ich allerdings ebenso wie Kaufmann in einigen Fällen Heilung in einer Sitzung erzielt. Es waren dies Leute, bei denen die Störung noch nicht lange bestand, und ausserdem Leute mit einer simplen, dem kindlichen Verhalten nahestehenden Psyche. Es ist ja bekannt, wie leicht bei hysterischen Kindern durch eine einzige energische Suggestivwirkung oft ein scheinbar schweres hysterisches Symptom verschwindet!!!) Bei den meisten Fällen aber war eine längere, 8 Tage bis mehrere Wochen lang dauernde, Behandlung erforderlich. Jedenfalls halte ich gegenwärtig die Methode der faradisch suggestiven Behandlung in der von mir geschilderten Form als die in erster Linie anzuwendende. Sie kann von jedem, der 1) Eine derartige Beobachtung machte ich kürzlich an einem fünf- zehnjährigen Dienstmädchen. Es handelte sich um eine indirekie Kriegseinwirkung, indem die Patientin bei mehrstündigem „Butterstehen“ durch eine herabfallende Fensterscheibe erschreckt worden war. Darauf Mutismus und Astasie-Abasie 4 Wochen lang. Einmalige Faradisation an den Lippen brachte den Mutismus zum Schwinden. Die Gangstörung wollte ich den nächsten Tag in Angriff nehmen, aber sie war bereits gleichzeitig mit dem Mutismus beseitigt. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 97 einige Neigung und Talent hat, sich in die Psyche dieser Leute hineinzuversetzen, ohne Bedenken geübt werden; ob man sie in mehr oder weniger rigoroser Form ausführt, hängt ganz von dem Temperament des Arztes und der Beschaffenheit des Falles ab. Aber auch bei dieser Methode werden die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Es werden noch ungeheilte Fälle übrig bleiben, und es ist daher zweckmässig, noch andere suggestive Methoden in Bereitschaft zu haben. Es wird sich natürlich jeder das und jene Verfahren, welches gerade in einem einzelnen Falle geeignet erscheint, selbst aus- denken. Einige Methoden sind aber in der letzten Zeit besonders empfohlen worden. Als besonders stark psychisch wirkend ist die Methode der Isolierung und Abhaltung aller äusseren Eindrücke gepriesen worden. Jendrassik!) führt in seinem Spital die Absonderung im Krankensaal durch, indem die Betten mit spanischen Wänden umgeben werden und der Besuch und ae Unterhaltung ver- boten ist. Binswanger isoliert, wie er in München mitteilte, die Kranken vollständig. Er bezeichnet die Methode als Methode der „psychischen Abstinenz“. Als unterstützend wird Nahrungs- beschränkung empfohlen. Jendrassik gibt ausschliesslich Milch- diät, Binswanger schränkt die Nahrung noch weiter ein. Ferner ist. als eine besonders wirksame psychische Behand- lung die Abhaltung aller äusseren Reize durch Aufenthalt im Dunkelzimmer gerühmt worden. Ich glaube wohl, dass dieses Verfahren in manchen Fällen eine energisch wirkende Methode darstellen kann, die allerdings wegen ihrer starken Wirkung auf die Psyche mit Vorsicht wird: verwendet werden müssen. Ich werde in der nächsten Zeit im Einverständnis mit unserem Herrn Chefarzt Versuche mit dieser Methode anstellen. Bisher habe ich, da. es die Verhältnisse nicht anders ge- statteten, mit der Absonderungsmethode Versuche nur in der Form angestellt, dass ich in einem gemeinsamen Saal etwa sechs bis acht an hysterischen Tremorformen Leidende in vollständiger Bettruhe verharren liess. Jeder . Ausgang, jeder Besuch, jede sonstige Unterhaltung, natürlich ausser Gesprächen von Bett zu Bett war verboten. Ein nennenswerter Erfolg hat sich bei diesem Verfahren trotz mehrwöchiger Durchführung nicht gezeigt. Von: »anderen Methoden ist natürlich auch wieder die Empfehlung der schon von altersher bei Hysterischen beliebten suggestiven Scheinoperationen aufgetaucht. Rothmann?) hat empfohlen, den Patienten in Aethernarkose zu versetzen, nachdem ihm eröffnet worden ist, dass in die Nerven eine so schmerzhafte Einspritzung. gemacht werden müsse, dass dieselbe in wachem Zustande nicht ausgeführt werden könne. Bereitstellung eines imponierenden Operationsapparates, Aetherrausch, Kochsalzinjek- 1) Neurol. /Zbl, 1916, 8.496. Sy 2) M.med.W., 1916, Nr. 35. .. RT Fi Schlesische Gesellsch. f. vaterl, Cultur. 1916. U. 7 98 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. tion während des Exeitationsstadiums, sehr grosser Verband, energische Verbalsuggestion während des Erwachens. Er berichtet - über 15 mit der Methode geheilte Fälle und Goldstein!), der sie nachgeprüft hat, hat 7 Fälle damit von ihrem Symptom be- freit. Es waren teils Mutismen, teils Aphonien, Tremorformen, Lähmungen, Kontrakturen, Astasien usw. Ich selbst habe die Methode in der letzten Woche bei einem Fall vonschwerem, !/, Jahr lang bestehendem Schütteltremor des rechten Armes, der vorher von mir vergeblich faradisch be- handelt worden war, mit promptem Erfolg angewendet. Ich werde “ihn nachher demonstrieren. In zwei anderen Fällen, die ich kurz darauf mit derselben Methode behandelte (ein Fall von Kontraktur und einer von schwerem hysterischen Stottern) versagte sie völlig. In München haben einige Redner ihrer Abneigung gegen einen solchen „frommen Betrug“ Ausdrück gegeben, und ich muss selbst sagen, dass ich derartige Methoden im allgemeinen nicht schätze. Aber schliesslich entscheidet der Erfolg, und ich glaube wohl, dass man in einzelnen Fällen diese oder ähnliche Methoden in irgend einer beliebigen Form mit gutem Gewissen wird anwenden können. Dies wären im wesentlichen die therapeutischen Vorschläge, die in der letzten Zeit gemacht worden sind. Die Form und An- wendungsweise dieser suggestiven Beeinflussung ist natürlich be- liebig variabel und modifieierbar?). Als Wichtigstes erhebt sich nun die Frage: Erzielen wir wirklich mit solchen Methoden eine Heilung unserer schweren Kriegshysteriker oder beseitigen wir nur dieSymptome? Und be- seitigen wir wenigstens die Symptome wirklich auf die Dauer oder nur vorübergehend? Es stehen uns meines Erachtens noch nicht genügend aus- gedehnte Erfahrungen zur definitiven Beantwortung dieser Fragen zu Gebote. Eines aber scheint die allgemeine Erfahrung ergeben zu haben, dass diese „geheilten“ Fälle keinesfalls sofort zum Kriegsdienst, ja überhaupt nicht zur Truppe hinausgeschickt werden dürfen, wenn man sie nicht einem sofortigen Rückfall aussetzen will. Dies haben alle Redner in München, auch Kaufmann selbst zugegeben. Der Einfluss des Militärdienstes selbst in der Garnison ist geeignet, wieder den krankhaften Komplex auszulösen. Wir Lazarettärzte müssen also wünschen, dass wir diese Fälle mit Umgehung der Truppe sofort als zeitig dienstunbrauchbar in ihre Heimat, in ihren bürgerlichen Beruf hinausschicken können. Wie impressionabel und labil solche geheilte Kranke sind, habe ich an zweien der Fälle gesehen, die ich nachher demonstrieren 1) Neurol. Zbl., 1916, S. 842. 2) Als eine spezielle Methode zur suggestiven Behandlung der hysterischen Aphasie erwäbne ich noch. das Verfahren von Muck (M.m.W., 1916, Nr. 12 u. 22), welches durch endolaryngeale Einführung einer Kugelsonde Erstickungsangst hervorruft. Auch auf die Methode von Jellinek (W.kl.W., 1916, S. 189) sei hingewiesen. Ueber diese Me- thoden habe ich keine eigne Erfahrung. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 99 werde. Der eine, der schon seit mehreren Wochen geheilt war, bekam einen Rückfall seines Schütteltremors, als ich einem seiner Kameraden in demselben Krankensal eine etwas schmerz- hafte epidurale Injektion gemacht hatte. Der zweite, als ein Saalgenosse einen hysterischen Anfall erlitt. Unter gutem Zu- spruch verschwanden die Erscheinungen in beiden Fällen in wenigen Stunden. Es ist natürlich schon ausserordentlich viel gewonnen, wenn man derartige Kranke, wenigstens von ihrem Symptom befreit, also äusserlich geheilt in ihre Heimat schicken kann und sie dort nicht den Mitleid und Grauen erweckenden Eindruck eines allgemeinen Schütteltremors, einer schweren Lähmung oder dergl. hervorrufen. Wie weit aber die günstigen Erfolge den Einflüssen der Heimat standhalten werden, bleibt abzuwarten. Eine Rente werden sie jedenfalls noch erhalten müssen, natürlich aber eine viel niedrigere, als wenn sie mit ihrem schweren Symptom nach Hause geschickt werden. Ich möchte hierbei ausdrücklich betonen, dass ich wieder- holt beobachtet habe, und es ist auch von anderer Seite darauf aufmerksam gemacht worden, dass vielfach gleichzeitig mit der Beseitigung des betreffenden Symptoms eine vollständige psychische Umstimmung bei dem Patienten sich bemerkbar macht. Die vorher mürrisch und unzufriedenen hypochondrisch deprimierten Kranken werden nach ihrer Heilung liebenswürdig und freundlich, zeigen sich dem Arzt dankbar und sehen zuversichtlicher in die Zukunft. Dies scheint mir gute Aussichten für ein Bestandhalten der Heilung zu eröffnen. Trotzdem, glaube ich, ist es verfrüht, die Erfolge jetzt schon zahlenmässig in Rentenhöhe ausdrücken zu wollen, wie es mehrfach in München geschehen ist. So sagte z. B. Wilmanns, dass seit Einführung der Kaufmann’schen Behandlung die an Neurotikern gezahlte Rente herabgedrückt worden sei. Es bleibt abzuwarten, ob die Erniedrigung der Rente sich dauernd auf demselben Umfang wird erhalten lassen. Wie dem aber auch sei, der Versuch muss unter allen Umständen gemacht werden, auf irgend eine Weise das Stabilwerden der- artiger Zustände zu verhüten, um nicht nur unseren Kranken zu nützen, sondern auch eine übermässige Belastung der Allgemein- heit zu vermeiden. Zum Schluss noch eine mehr theoretische Betrachtung: Was können wir aus unseren therapeutischen Erfolgen, aus der Art der wirksamen Behandlung für Schlüsse ziehen auf das Wesen der hysterischen Erscheinungen? Wir schliessen ja nicht selten ex juvantibus auf das Wesen von Krankheiten und werden uns hier in Anbetracht der Dunkelheit, die die Pathogenese der hysterischen Störungen umgibt, diese Frage besonders vorlegen müssen. Ich will hier in meinen, wesentlich praktischen Dingen gewidmeten Besprechungen nicht näher auf theoretische Erörte- rungen eingehen, möchte hauptsächlich etwas Negatives betonen: Wenn wir sehen, dass ein schweres hysterisches Symptom durch eine für den Patienten so schmerzhafte Methode wie die Kaufmann’sche, beseitigt werden kann, so wird der neuro- 2 78 100 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. logisch und psychologisch weniger geschalte Arzt leicht in dem sehr häufig gemachten Fehler bestärkt werden, die Hysterie einfach mit Simulation zusammenzuwerfen. Er wird eventuell veranlasst sein, zu sagen: durch den schmerzhaften Ein- griff ist dem Patienten das Festhalten seiner Krankheitsproduk- tionen einfach verleidet worden, die Behandlung ist ihm sozusagen unangenehmer, als ihm die Krankheit wertvoll ist, und so gibt er die letztere einfach auf. Diese naheliegende Auffassung scheint mir eine grosse Gefahr. Ich brauche sie für den, der sich einigermaassen mit dem Wesen hysterischer Krankheits- erscheinungen beschäftigt hat, wohl nicht besonders zu wider- legen. Aber selbst wenn man die Hysterie nicht so laienhaft auffasst, sie als eine bewusste Simulation anzusehen, sondern mehr an das Wirken unbewusster Vorstellungen, sogenannter Wunsch- und Begehrungsvorstellungen denkt und den Schluss zieht, dass dieser unbewusste, also nicht absichtlich simulierte Gedankengang durch den schmerzhaften Reiz einfach in eine andere Richtung gelenkt worden ist, nämlich in eine Richtung, die wesentlich dadurch bestimmt worden ist, sich der weiteren Anwendung des schmerzhaften Reizes zu entziehen, so ist auch diese Auffassung meiner Ansicht nach nicht ganz zutreffend. Vor allem spricht dagegen der Umstand, dass wir häufig Heilungen sehen, auch bei solchen Methoden, die für die Patienten gar nicht schmerzhaft und unangenehm sind, sondern die er ohne alle Unannehmlichkeit über sich ergehen lassen könnte. Ich er- innere hier daran, dass manche, wenn auch nicht viele Fälle; wie ich sagte, einfach unter Ruhe zur Heilung kommen, besonders aber daran, dass eine so durchaus nicht unangenehme Behandlung wie die Hypnose in geschickten Händen, wıe denen Nonne’s, die ausgezeichnetsten Erfolge liefert. Was sollte einen Hysteri- schen, wenn seine Krankheit einfach auf derartigen Wunschvor- stellungen beruht, veraulassen, die Wünsche nach dem Erwachen aus der Hypnose nicht weiter in sich wirken zu lassen, also das krankhafte Symptom weiter fortbestehen zu lassen? Es kommt dazu auch die vielfach gemachte Erfahrung von zufälligen Hei- lungen der Hysterie; wir wissen ja alle aus bekannten Er- fahrungen der Friedenspraxis, dass schwere Hysteriesymptome plötzlich unter irgend einer äusseren zufälligen Einwirkung zur Heilung kommen können. Es sind Fälle bekannt, wo Hysterie- symptome durch einen zufälligen Unfall, z. B. durch einen Fall von der Treppe, plötzlich verschwinden; bekannt ist die Er- scheinung, dass Frauen gelegentlich schwere hysterische Anfälle und dergleichen vollständig verlieren, sobald ein anderer, mäch- tiger Eindruck, der gar nicht therapeutischer Art ist, auf sie ein- wirkt, z. B. schwere Erkrankung des Mannes, der Kinder oder dergleichen mehr. Derartige Erfahrungen lassen es: mir nicht logisch erscheinen, wenn man aus den Erfolgen unserer Behand- lung darauf schliessen will, dass das Symptom einfach durch mehr oder weniger bewusste Wunschvorstellungen erzeugt worden ist und fortfällt, sobald dieser Wunsch die unangenehme Kon- sequenz irgend einer schmerzhaften Therapie nach sicht zieht. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 101 Meiner Ansicht nach können wir die Erfolge der Therapie in diesen Fällen vorläufig am besten etwa auf folgende Formel bringen: Die hysterischen Manifestationen stellen, wie wir be- sonders an den hier in Rede stehenden Kriegshysterien sehen, die Folge einer gewaltigen Emotion oder, wie ich mich in meinem vorigen Vortrage ausgedrückt habe, einer physopsychischen Er- schütterung dar. Durch diese Einwirkung wird eine Störung in dem physopsychischen Betriebe hervorgerufen, welche gewisser- maassen einen Komplex körperlicher Erscheinungen abspaltet, aus dem Konnex mit der normalen Psyche bringt. Diese Störung kann unter Umständen dadurch beseitigt werden, dass ein zweites Ereignis ebenso stark erschütternd in das physopsychische Ge- ‘triebe eingreift. Wenn ich ein Bild brauchen soll, so möchte ich sagen, dass ein Haufen Eisenfeilspäne oder Sandkörner durch kräftiges Sehütteln an einzelnen Stellen auseinandergerissen werden kann, dass ein nochmaliges kräftiges Schütteln sie aber unter günstigen Umständen ebenso auch wieder zusammen bringen kann. Der therapeutische Eingriff muss also ebenso wie derjenige Vorgang, welcher das hysterische Symptom erzeugt hat, gewisser- maassen erschütternd wirken, er muss ein Erlebnis!) für den Patienten darstellen, welches seine Psyche gewaltig ergreift und ebenso wie ich damals sagte, dass die krankmachende Erschüt- terung sowohl von der psychischen als von der körperlichen Seite angreifen kann, so kann es auch die heilende Einwirkung tun. So kann z. B. die Hypnose rein auf psychischem Wege wirken, während andererseits die Kaufmann’sche Methode einen gewalt- samen körperlichen Reiz zu Hilfe nimmt. Möge man es zunächst auch eigentümlich finden, wenn man die Wirkung einer faradischen Pinselung etwa mit der Wirkung des Trommelfeuers an der Somme vergleichen will; ich glaube aber doch sagen zu können, dass die faradische Pinselung eben nur dann heilend wirkt, wenn sie für den Patienten ein mächtiges neues Erlebnis vorstellt, welches dem Eindruck der Kriegsereignisse sich einigermaassen an die Seite stellen kann. Aus dieser Betrachtung erklärt sich auch, dass einer be- stimmten suggestiven Methode niemals eine allgemeine Wirksam- keit zugesprochen werden kann, und dass man bei jeder der- artigen Methode Versager haben wird. Dem einen imponiert eben der faradische Strom, dem andern macht er keinen besonderen Eindruck, er ist weniger schmerzempfindlich, er hat auch vielleicht schon von vorne herein eine geringere Meinung von der Wirk- samkeit der Elektrizität, bei anderen ist es umgekehrt. Ebenso können wir uns denken, dass für manchen, der noch niemals nar- kotisiert worden ist, der Gedanke, dass eine Betäubung bei ihm vorgenommen werden soll, ein ganz gewaltiges Erlebnis vorstellt, auf den anderen macht diese Vorstellung keinen besonderen Ein- druck. Dies gilt ebenso von der Hypnose und von allen andern Verfahren. Das Eindruck machende Verfahren braucht aber 1) Der Begriff des „Erlebnisses“ ist in etwas anderm Sinne von S. Meyer (D.m.W., 1916, S. 69) verwendet worden. 102 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. durchaus nicht. immer den Charakter des Schmerzes oder der Unannehmlichkeit za haben; nur indifferent darf ihm der Pat. nieht gegenüberstehen. Dass ein besonders heroisches Verfahren, wie das Kaufmann’sche, auch besonders häufig einen gewaltigen, zur Heilung führenden Eindruck erzielt, ist dabei durchaus ver- ständlich. Noch eine andere Beobachtung möchte ich in dem Sinne verwenden, dass es sich bei den Erfolgen der Therapie nicht etwa nur um Beseitigung resp. Abänderung von Wunschvorstellungen bandelt: man kann nämlich durchaus nicht immer Erfolg damit erzielen, dass man unsern Kriegshysterikern einfach die Erfüllung ihrer Wünsche und Strebungen, Rückkehr in die Heimat, Ent- lassung aus dem Heeresdienst usw. in sichere Aussicht stellt.‘ Wenn nicht gleichzeitig, wie ich vorhin sagte, ein eindrucksvolles Erlebnis hinzukommt, versagen diese Versicherungen oft vollständig. Ich erinnere mich eines Falles von schwerem Schütteltremor, den ich auch hier vorgestellt habe, der den dringendsten Wunsch hatte, in ein Heimatslazarett überführt za werden und dem wir immer wieder vorhielten, dass dies sofort geschehen würde, wenn sein Zittern wenigstens bis zu einem gewissen Grade sich ge- bessert hätte; es trat kein Erfolg ein, obgleich er sichtlich immer tiefer deprimiert wurde durch das Versagen des Transportes in die Heimat!). Schliesslich ist gegen die reine Wunschtheorie auch das Verhalten der Kranken nach ihrer Heiluug anzuführen. Sie machen durchweg oder doch wenigstens in den meisten Fällen, wie ich selbst vielfach beobachtet habe und wie auch von anderer Seite betont worden ist, einen freudigen Eindruck und sind sichtlich glücklich über die Beseitigung des Symptomes und dem Arzt ausserordentlich dankbar. Wie würde sich das ver- tragen mit der Auffassung, dass ein unberechtigter Wunsch gewissermaassen durch eine Züchtigung ausgetrieben worden ist? Nein, wir können uns, meiner Änsicht nach, diese Beobachtungen nur so deuten, dass eben eine durch eine gewaltsame Einwirkung aus ihrem Zusammenbaug gebrachte Psyche durch ein anderes ebenso gewaltiges Ereignis gewissermaassen wieder zusammenge- rüttelt worden ist, ohne das irgend welche Vorstellungen, seien sie bewusste, wie sie der Simulation zu Grunde liegen, oder un- bewusste, wie sie die Wunschtheorie der Hysterie annimmt, dabei mitspielen müssen. Wenn wir von diesem Standpunkt ausgehen, werden wir anch nicht den Mut verlieren, wenn ein Verfahren im einzelnen Falle nicht wirkt, sondern werden es immer und immer wieder mit einem andern versuchen. Denn schliesslich besteht doch bei den meisten Menschen kein absolutes nil admirari, sondern selbst der stumpfesten Psyche gegenüber wird sich oft doch noch 1) Ich verkenne dabei nicht, dass die mit einer wirksamen Therapie gleiehzeitig einsetzende Berücksichtigung der „Wunschvorstel- lungen“ wesentlich unterstützend wirken kann. Besonders die Versiche- rung, dass der Patient nach der Heilung direkt in die Heimat geschickt werden würde! I. Abteilung. Medizinische Sektion. 105 ein Eingriff auffinden lassen, der sie aufrüttelt und damit den gelockerten Zusammenhang wiederherstellt. Es scheinen mir also die Erfahrungen der letzen Jahre zu der Erkenntnis zu drängen, dass unseren schweren Kriegshysterien gegenüber ein therapeutischer Nihilismus durchaus nicht am Platze ist. Die folgenden Demonstrationen sollen Ihnen einiges von den Resultaten zeigen, die ich in den letzten Wochen in der Festungs- Lazarett-Abteilung St. Georgs-Krankenhaus erzielt habe. Demonstration. 1. Ein Fall von schwerem allgemeinen Schütteltremor, der bei mehrmonatlicher Ruhebehandlung im Lazarett (Bettruhe, Chloral, Brom; lauwarme Bäder und dergl.) vollkommen zur Heilung gekommen ist. 2. Ein Fall von pagodenartigen Schüttelbewegungen des Kopfes nach Granatverschüttung, S Wochen lang bestehend, derselbe ist durch einmalige kräftige Faradisation vollkommen geheilt worden. Interessant ist hier die Angabe des Patienten, dass er vor seiner Verschüttung sich erinnert, beim Vorbeisausen der Granaten unwillkürlich seitwärts ruckende Bewegungen mit dem Kopf gemacht zu haben, also ein Beispiel für die Fixation gewisser Vorgänge im Zustande der Emotion. 3. Ein Fall von heftigem Schütteltremor des Kopfes ebenfalls nach Verschüttung durch Granatvolltrefier, 3 Wochen bestehend, mit zwei- maliger Faradisation geheilt. 4. Ein Fall von Urinincontinenz, ein Vierteljahr lang bestehend, nach Verschüttung und Steinsplitterverletzung der linken Kniegelenk- gegend. Incontinentia urinae bei Tage und bei Nacht. Nach einmaliger kräftiger intraurethraler Faradisation völlig geheilt. 5. Ein sehr schwerer Fall von pseudospastischer Parese mit hef- tigem allgemeinen Schütteltremor, ein halbes Jahr bestehend. Beim Erheben der Füsse vom Erdboden heftiger Schütteltremor bis zum wilden Hin- und Herschleudern der Beine. Daher schleifender Gang, wie ein Schlittschuhläufer. Heilung durch kräftige Faradisation in 8—10 Tagen. 6. Schütteltumor des rechten Arms nach Granatverschüttung, sieben Monate bestehend, sehr heftig, anhaltend, rhythmisch. Kaufmann’sche Faradisation versagte trotz mehrmaliger sehr kräftiger Anwendung. Heilung durch das Rothmann’sche Narkoseverfahren in einer Sitzung. 7. Schütteltremor des linken Beins: Oktober 1914. Schussverletzung am linken Bein, leichte Atrophie desselben. Juli 1915 Typhus, im An- schluss daran Schütteltremor, in der Weise, dass das Bein nur dadurch ruhig gestellt werden konnte, dass es in die Höhe gezogen wurde. Beim Aufsetzen auf den Erdboden sofort heftiges Schütteln. Sehr langdauernde Lazarett- und Bäderbehandlung ohne Erfolg, Entlassung. Jetzt nach 1!/;, Jahr Heilung durch kräftige suggestive Faradisation, die systematisch über mehre Wochen ausgedehnt wurde. 8, 9 und 10. Drei sehr heftige, langdauernde Fälle von pseudo- spastischer Parese mit Tremor. Seit 11/, Jahr, “/, Jahr, 3/, Jahr bestehend. Alle drei Fälle durch wiederholte tägliche Faradisation innerhalb 8—14 Tagen geheilt bis auf ganz geringe Reste von Bewegungsstörung. 11. Sehütteltremor des rechten Beines, etwa 1/; Jahr bestehend. Nach Teilnahme an den Kämpfen auf der Lorettohöhe ein sich an- schliessender längerer Lazarettaufenthalt wegen „Rheumatismus“. Der Schütteltremor schwand nach Faradisation in einer Sitzung. Ein daneben bestehender allgemeiner feinschlägiger Tremor von deutlich neu- 104 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. rasthenischem Charakter (neben anderen Erschöpfungssymptomen) blieb, wie zu erwarten war, bestehen. 12. Granatverschüttung mit Labyrintherschütterung vor 5 Wochen. Schüttelbewegungen des Kopfes. Wird seit 4 Tagen faradisiert, Erfolg vollzieht sich allmählich, die vorher sehr heftige Schüttelbewegungen sind [fetzt in ein leichtes Pendeln übergegangen. 13. Hysterische Kontraktur der Rückenmuskeln (stark kyphotische Krümmung) und hysterische Parese des rechten Beines. Lazarettbehand- lung seit ®/;, Jahren. Heilung durch kräftige Faradisation des Rückens in täglichen Sitzungen etwa 14 Tage lang. 14. Kontraktur des linken Tibialis anlicus, Schiefstellung des Fusses. Tritt nur auf den äusseren Fussrand und die Ferse auf. Ischias soll vorausgegangen sein. Seit 4—5 Tagen Faradisation und Uebungen, wesentliche Besserung. Behandlung wird noch fortgesetzt. XI. Bakteriologische Untersuchungen beim Uterus- carcinom. Von Privatdozent Dr. Fritz Heimann. Der Bakteriengehalt, der gesunden und kranken weiblichen Genitalorgane spielt nicht allein in der Geburtshilfe eine be- deutende Rolle, auch die gesamte operative Gynäkologie wird dadurch maassgebend beeinflusst. Spricht man allgemein von der Bakteriologie der Genitalien, so sind wohl in erster Linie die Streptokokken gemeint, die als Erreger einer Infektion in Be- tracht kommen. Hier soll an die Untersuchungen der letzten Jahre erinnert werden, die sich an die Namen Schottmüller, Hamm, Zangenmeister, Fromme, Bondy, Sigwart, Hüssy!) und andere knüpfen. Sie sind es gewesen, durch die die Streptokokkenforschung in der Geburtshilfe neuen Aufschwung genommen hat. Ich gehe auf die gynäkologischen Eigenschaften der Streptokokken nicht näher ein, die Handbücher der Bakterio- logie orientieren darüber genügend. Nur einiges, was für unsere Untersuchungen von Interesse ist, soll herausgegriffen werden. Wie bekannt hat Schottmüller im Jahre 1903 eine neue Ein- teilung der Streptokokken vorgeschlagen, da die bis dahin ge- bräuchliche, die sich besonders auf die Länge der einzelnen Ketten bezog, hinsichtlich der Pathogenität der Kokken versagt hatte. Schottmüller unterschied die Streptokokken nach ihrem Verhalten auf der Blutagarplatte und differenzierte 3 Arten?) den hämolytisch wirkenden, sehr pathogenen Streptococcus longus erysipelatos 2. den weniger pathogenen nicht hämolysierenden Streptococcus minor seu viridans und 3. den im Vergleich zu den beiden obengenannten Arten selten auftretenden Streptococeus mucosus. Diese Unterscheidung ist deshalb von grosser Bedeutung, weil diese Bezeichnung der einzelnen Arten nicht nur ihre Fähig- keit, das Blut zu hämolysieren, ausdrückt, sondern auch die Patho- 1) Ergeb. d. Chir. und Orthop., 1913, Nr. 7 (siehe auch Literatur- angaben). 2) Monatsschr. f. Geb. u. Gyn., 1916, Bd. 43, Heft. 2 u. 3 (ebentalls Literaturangabe). 106 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. genität in gewisser Weise charakterisiert. Schottmüller glaubt nämlich, dass der Streptococcus haemolyticus der Erreger der sep- tischen Infektionen sei, während er dem mitior einen viel geringeren Wert beimisst. Hiernach handelt es sich also um die Beziehungen, die zwischen Hämolyse und Pathogenität bestehen. Bis dahin war es nicht möglich gewesen, die einzelnen Arten der Strepto- kokken bezüglich ihres pathogenen Verhaltens zu unterscheiden. Das Wachstum in den einzelnen Nährsubstraten, die chemischen Eigenschaften der verschiedenen Arten gaben keine Aufklärung über Virulenz. Auch der Tierversuch liess vollends im Stich. Die meisten Tiere sind für menschliche pathogene Bakterien wenig empfindlich. Daher wurde von den Autoren der Gedanke Schott- _ müller’s, aus der Hämolyse einen Schluss auf die Pathogenität der Streptokokken ziehen zu können, eingehendsten Untersuchungen, und zwar fast nur in geburtshilflicher Hinsicht, unterzogen. Als eifrigster Verfechter dieser Ansicht ist Fromme zu nennen. Er kam zunächst auf Grund seiner Untersuchungen zu dem folgenden Schluss: Die Hämolyse steht im engsten Zu- sammenhang mit der Virulenz und Pathogenität, da er Strepto- kokken, die er bei Schwangeren gefunden, zu dem Typ mitior rechnet. Dieser Ansicht pflichteten eine grosse Reihe von Nach- untersuchern nicht bei, ja später sah sich Fromme selber ge- zwungen, seine Behauptungen wieder einzuschränken, denn er gibt zu, dass alle hochvirulenten Streptokokken unter den patho- genen zu suchen sind, dass also die anhämolytischen Formen in der menschlichen Pathogenität hinter den hämolytischen zurück- treten. Auf dieser Idee basieren auch seine beiden Differenzierungs- verfahren, das Blutschwammverfahren und die Lecithinbouillon- methode, wonach er die pathogenen und die nichtpathogenen hämolytischen Streptokokken unterscheidet. Auch diese beiden Methoden liessen sich nicht halten. Es kann hier auf die Fülle der Arbeiten, die über dieses Thema geschrieben worden sind, nicht des Näheren eingegangen werden. Zusammenfassend kann ich nur berichten, dass vielleicht eine gewisse Uebereinstimmung zwischen Hämolyse und Pathogenität besteht und die Mehrzahl der schwersten septischen Infektionen durch hämolytische Strepto- kokken hervorgerufen werden, dass aber eine absolute Entschei- dung nicht möglich ist. Zu häufig werden schwerste Infektionen durch anhämolytische Streptokokken erzeugt, während man um- gekehrt auch hier wieder bei ganz normal verlaufenden Fällen hämolytische Streptokokken findet. Der Nachweis der Hämolyse ist klinisch nicht von ausschlaggebender Bedeutung (Traugott Levi, Lamers Hüssy, Bondy Sigwart u. a.). Trotzdem be- sitzt, wie Hüssy betont, die Hämolysinbildung eine gewisse Be- deutung. Sie zeigt uns, dass die Wachstumsbedingungen für die Streptokokken günstig sind, und insofern ist die Hämolyse als ein Virulenzzeichen anzusehen. Jedoch muss ich auch besonders betonen, dass mitunter derselbe Stamm, wenn er gewissermaassen in ungünstige Verhältnisse kommt, anhämolytisch weiter wächst. Vielleicht muss hierbei an die Möglichkeit der Mutation gedacht werden (Hamm). Ich will hier die anaeroben Streptokokken nur I. Abteilung. Medizinische Sektion. 107 streifen. Ein Gebiet, um deren Erforschung u. a. sich Bondy besonders verdient gemacht hat. Schottmüller gelang es, in fieberhaften Aborten obligat anaerobe Streptokokken nicht allein im Cervicalsekret, sondern auch im Eiter bei Douglasabscessen bei Peritonitis, in den verjauchten Thromben der Beckenvenen und endlich auch intra vitam und post mortem im Blut nach- zuweisen. Schottmüller zeigte sogar, dass die Infektionen mit anaeroben Streptokokken schwerer verlaufen als solche, die durch hämolytische Streptokokken hervorgerufen worden sind. Im engsten Zusammenhang mit der Frage der Beziehungen zwischen Hämolyse und Virulenz sowie der Möglichkeit einer Umwandlung an- hämolytischer Keime in hämolytische steht — man kann wohl sagen ein Problem, das seit langen Jahren die Puerperalfieberforschung beherrscht — die Selbstinfektion. Hierbei handelt es sich um einen Vor- gang, den Kaltenbach schon auf dem Freiburger Gynäkologenkongress mit den Worten präcisiert: „Können die in dem Genitalsekret gesunder Frauen enthaltenen Spaltpilze pathologische Wirkungen äussern oder nicht?“ Ich will hier nicht die ganze Diskussion über diesen Gegenstand, an der sich in den letzten Jahren besonders Ahlfeldt, Fehling, Aschoff, Zug, Zangemeister, Winter, Benthin, Bondy u.a. be- teiligten, beriehten. Vorläufig stehen sich noch zwei Parteien gegenüber. Bondy gebührt zweifellos das grosse Verdienst, durch seine ausgezeich- neten mühevollen Untersuchungen wesentlich zur Klärung der ganzen Frage beigetragen zu haben: „Streptokokken sind bei Schwangeren und Gebärenden vorhanden, aber in geringerer Menge als im Wochenbett. Auch hämolytische Streptokokken, allerdings spärlich und nur mit feineren Methoden nachweisbar, werden bei Schwangeren, Kreissenden und nicht fiebernden Wöchnerinnen gefunden. Reichlich anwesend sind dieselben bei fieberhaftem Verlauf des Wochenbetties. Es drängt sich daher die Frage auf, woher diese grossen Mengen kommen mögen? Bondy hält es mit Recht für höchst unwahrscheinlich, dass dieselben von aussen durch sterile Instrumente oder Gummihandschuhe eingeschleppt werden könnten. Zangemeister und Bondy heben besonders hervor, dass das Vorkommen hämolytischer Streptokokken in unserer Umgebung, wenn man von Angina, Erysipel, Puerperalfieber absieht, ausserordent- lich selten ist. Ausserdem wissen wir, wie schon gesagt, aus den zahl- reichen experimentellen Untersuchungen, dass Streptokokken unter gün- stigen Bedingungen Umwandlungen eingehen können, dass es mitunter nur auf den Nährboden ankommt, auf dem sie wachsen. Es ist mir hier nicht möglich, alle Punkte, die für das Vorkommen der Selbst- infektion sprechen, mitzuteilen. Mit Bondy und einer grossen Än- zahl von Autoren stehen wir auf dem folgenden Standpunkt: Es können spontane Infektionen mit endogenen Keimen vorkommen, d. h. Infektionen einer unberührten Gebärenden oder Wöchnerin mit den unter besonderen, im Körper gelegenen Verhältnissen hinaufgewanderten endogenen Keimen (Aschoff). In gleicher Weise wie in der Geburtshilfe müssen wir auch in der Gynäkologie mit dem Begriff der Selbstinfektion rechnen. Von Fehling, Ahlfeldt, unter den Chirurgen vor allen besonders von v. Bergmann, ist vor vielen Jahren auf diese Tatsache aufmerksam gemacht worden. Winter hat erneut durch eigene eingehende Untersuchungen die Mög- lichkeit der endogenen Infektion bewiesen. Auch hier sehen wir das- selbe wie in allen geburtshilflichen Fällen, Herabsetzung der Widerstands- fähigkeit des Organismus und erhöhte Virulenz der Eigenkeime. Auf dieser Selbsinfektion der operativen Gynäkologie basieren auch 108 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft: für vaterl. Cultur. die Untersuchungen, die Liepmann!), Hanney?), Barth3), Sigwart#) Bauereisen®) u. a. bei der abdominalen Carcinomoperation vorge- nommen haben. Diese Autoren gehen von der Voraussetzung aus, dass die Keime, soweit sie in den erkrankten Partien liegen, durch das Messer des ÖOperateurs freigemacht, ihre deletäre Wirkung entfalten können. Damit fällt ja eigentlich, wie auch schon Bauereisen hervor- hebt, der Begriff der Selbstinfektion im strengsten Sinne des Wortes, weil durch die Operation, bezw. durch die Hand des Operateurs die Keime künstlich verschleppt worden sind. Hierfür gilt folgender von Aschoff präeisierter Ausdruck: „Artificielle Infektion mit endogenen Keimen. Hinaufschleppen von endogenen Keimen durch einen an sich aseptischen Eingriff einer zweiten Person.“ Jedenfalls gelang es den er- wähnten Autoren, systematisch bei einer Anzahl von Operationen, be- sonders beim Carcinom, einmal den Keimgehalt der Scheide, bezw. des carinomatösen Geschwüres, 2. die eventuellen ins Operationsgebiet ver- schleppten Keime und schliesslich die Anwesenheit von Bakterien in den Parametrien und Drüsen festzustellen (Dreitupferprobe) Liep- manns). Ueber die Technik, die im grossen und ganzen bis auf kleine Aenderungen die gleiche war, ist nichts bemerkenswsrtes mitzu- teilen. Jedenfalls glauben die Autoren mit gewissen Einschränkungen aus den gefundenen Resultaten einen Schluss auf die Prognose des Falles ziehen zu können, d. h. wurden Streptokokken in den Parametrien diagnostieiert, so musste die Prognose infaust gestellt werden. Natür- lich ist auch dieses Ergebnis cum grano salis zu verstehen, da wir bakteriologisch nicht imstande sind, uns über den Virulenzgrad Auf- klärung zu verschaffen und auch die etwaige Hämolyse der gefundenen Spaltpilze keine entscheidenden Schlüsse zulässt. Den Hauptnachteil der Methoden erblicke ich aber darin, dass die Anwesenheit von Strepto- kokken nur einen Ausblick über den Verlauf des Falles ergibt, uns aber nicht ermöglicht, den Fall selbst zu beeinflussen, da man bis jetzt wohl kaum von Erfolgen therapeutischer Maassnahmen bei Infektionen reden kann. Diesem Gedanken näher zu kommen, war der Sinn meiner Arbeit. Selbstverständlich handelt es sich bei allen Untersuchungen um Uteruscareinome, dessen Mortalität und Morbidität während des Heilungsverlaufes zu bekämpfen man sich von jeher zur besonderen Aufgabe machte.. Ich will hier die verschiedenen Behandlungsarten, die man zu diesem Zwecke ergriff, Drainage nach oben und unten usw. nicht aufzählen. Jedenfalls weisen die Versuche von Hannes, Liep- mann usw. darauf hin, das Hauptaugenmerk auf das Vorhandensein oder Fehlen von Streptokokken zu richten. Nun ist es meiner Ansicht nach weit vorteilhafter, das Vorhandensein von Spaltpilzen vor der Operation festzustellen als bei der Operation nur eine Prognose des Falles auszusprechen. Um dies zu ermöglichen, musste eine besondere Entnahmetechnik angewendet werden. Liepmann, Hannes usw. haben den Bakteriengehalt des carinomatösen Ulcus nachgewiesen, indem sie entweder Stücke des Carcinoms selbst (Liepmann) oder kleine Tupfer, die das Geschwür ausgewischt hatten, in Bouillon warfen. Selbstver- ständlich musste danach der Gehalt von Bakterien immens hoch, die Reinzüchtung einer besonderen Gattung fast unmöglich sein. Die An- wesenheit von Streptokokken war stets besonders wichtig und wird von den Autoren in ca. 40 bis 70 pCt. der Fälle konstatiert. Die von 1) Verh. D. Ges. Dresden 07. 2) Zschr. f. Geburtsh., Nr. 66. 3) Arch. f. Gynäk., Nr. 87. 4) Arch. f. Gynäk., Bd. 99. 5) Beitr. z. Klin. d. Infekt. Krkh., 1914, Bd. 2. I. Abteilung. Medizinische Sektion. 109 mir angewandte Entnahmetechnik gestaltete sich folgendermaassen: Das Geschwür wurde durch 2 in sterilem Wasser sich befindende Specula freigelegt, so dass das ganze Ulcus sich gut übersehen liess. Darauf wurde es mit sterilem Wasser so lange berieselt, bis das Wasser voll- kommen klar ablief und auch das Uleus von Blut und Eiter möglichst gereinigt erschien. Jetzt entnahm ich mit einer Platinöse direkt aus der Cervix mit Vermeidung der ulcerösen Partien, Sekret zuerst zum Ausstrichpräparat, ferner zum Ueberimpfen in Bouillon und Agar. Wuchsen Streptokokken, so wurde in einer Anzahl von. Fällen auch Schottmüller’sche Blutargarplatten benutzt. Bei dieser Methode sahen wir kaum massenhaftes Wachstum von Bakterien wie diejenigen Autoren berichten, die direkt mit Ulcussekret ihre Untersuchungen anstellten. Auf der anderen Seite musste selbstverständlich streng ver- mieden werden, irgend ein Desinficienz anzuwenden, wie es von Ott tat, der die Probe nach vorangegangener Desinfektion der Scheide entnahm. Hier mussten natürlich ausserordentliche Hemmungen im Wachstum der Spaltpilze stattfinden. Meine Untersuchungen erstrecken sich auf die im letzten Jahre von Herrn Geheimrat Küstner oder mir abdominal operierten Uterus- carcinome, (hierbei scll hervorgehoben werden, dass sämtliche von oben operierten Krebse, sowohl nach dem Bauch wie nach der Scheide zu drainiert werden (Küstner, Lshrb. d. Gynäkologie, Hannes |. c.). Die Anzahl betrug 65. Aus bald näher zu besprechenden Gründen will ich zunächst eine Serie von 36 Fällen erörtern. Wie wir aus Ta- belle 1 ersehen, sind in 18 Fällen Streptokokken gefunden worden, in 18 Fällen fehlten dieselben. Hier waren nur Stapbylokokken, Stäbchen usw. vorhanden. Von den 13 Streptokokken-Fällen sind 11 gestorben, sämt- liche an peritonitischen Erscheinungen und zwar 7 zwischen dem 3. und 6. Tag und 4 nach dem 10. Tage. Bei allen wurden im Peritonitis- Eiter Streptokokken festgestellt. 7 Frauen sind gesund geworden. Die Krankheitsverläufe zeigten sich ausserordentlich schwer und von lang- dauernden und hohen Temperaturen begleitet. Im Durchschnitt geschah die Entlassung erst am 36. Tage. Ganz anders sieht es bei den Fällen aus, wo im Cervixsekret nicht Streptokokken gefunden wurden. Hier ist eine einzige Pat. am 22. Tage an Peritonitis, hervorgerufen durch Staphylokokken und Coli, gestorben. 17 sind am Leben geblieben. Die Krankheitsverläufe bieten ein ganz anderes Bild. Nicht ein einziges Mal sehen wir ein schwerfieberhaftes Wundbett. Die Entlassung geschah im Durchschnitt am 26. Tage. Zusammenfassend lässt sich über diese Serie in 26 Fällen folgendes sagen: 86 Fälle 18 Strept. + 13° Strept. — 41 gestorben 1 gestorben 61,1 pCt. Mortalität 5,5 pCt. Mortalität. Wie man aus dem Vorstehenden erkennen kann, habe ich mich bei meinen Befunden begnügt, wenn ich die Diagnose „Streptokokken“ positiv stellen konnte. Ich bin auf biologische Eigenschaften ob hämolytisch oder anhämolytisch, ob aerob oder anaerob, nicht eingegangen. Das ist mit vollster Absicht geschehen. Wie ich schon am Anfang dieser Arbeit bei Besprechung der Puerperalfieberforschung auseinandergesetzt habe, ist eben nicht mit Sicherheit zu sagen, ob diesen oder jenen Eigenschaften der Streptokokken ein besonderer Virulenzgrad — um diesen handelt es sieh in erster Linie — zuzuschreiben ist. Wir sahen häm. Str. bei afebrilen Wöchnerinnen und fanden anhäm. bei schwerstem, sogar tödlichem Verlauf. Auch hier bei der bakteriologischen Untersuchung der Carcinome konnte dies schon in den wenigen Fällen konstatiert werden, bei denen die Blutagarplatte benutzt wurde. In 110 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. einem Falle sehen wir häm Strept. Die Pat. ging zu Grunde. In anderen Fällen handelt es sich um anhäm.-Keime, und auch von diesen ist die Mehrzahl ad exitum gekommen. Infolgedessen haben wir nur die oben erwähnten Methoden (Bouillon-Agarplatte) angewendet und sind, wie die Statistik erweist, vollkommen damit ausgekommen. Nun zu den Resultaten selbst. Wir haben eine Mortalität von 61,1 pCt. bei denen zu verzeichnen, wo Streptokokken im Cervixsekret gefunden wurden. Mortalität von 5,5 pCt. bei den Fällen die keine Streptokokken aufwiesen. Die Todesfälle sind, wie bereits erwähnt, auf Tabelle 1. 5|& Mikroskopischer Befund Sek- | Ent- E & — Ver- | tions- | las- igi lauf er- |sungs- =| 2 | Original- £ Blnt- = E Anssirien | BomillunZ Feilgar agar gebnis| tag A. Streptokokken 4. Unbehandelt. 1. Gestorben. 1| S.]| Diplo- 7 Kern am | Peri- kokken ER hömoı, |3- Tag t| tonitis 2| R. | Staphylo-, am do. Diplo- Streptokokken I 3.Tagt okken = hämol. 3| K.| Diplo-, | Strepto- |Strepto-,, — am do. Staphylo- | kokken | Staphylo- 4.Tag f kokken, kokken Coli | 4| K. | vereinzelt am do. Diplo- Streptokokken a 15.Tagt| okken & hämol. 5| H.| Diplo- am do. S trep HRS Streptokokken “ 15.Tag} okken = hämol. 6.1 BR... Diplo-swila se area a am do. Enkken Streptokokken 7.Tag}| 71 G.| Diplo-, Diplo-, Diplo- —_ am do. Strepto-| Strepto- kokken 3.Tag f kokken kokken S| F. Coli am do. 2 Streptokokk r Strepto- Ben er 3.Tagf kokken hämol 9| M.| vereinzelt | Stäbchen, | Strepto- —_ am do. Diplo- |Strepto-| kokken 3.Tagf kokken kokken 10| T. | Staphylo-,| Staphylo-, do. _ Ens do. Strepto-| Strepto- kokken, | kokken 29.TagT u sr: 11 | 8. [Strepto-, Streptokokken am du; Diplo- 10.Tag+ kokken, ie Stäbchen I. Abteilung. Medizinische Sektion. 111 Be} 5 ii Mikroskopischer Befund Sek- | Ent- E K Ver- | tions- | las- er rieinal: | Blut- lauf er- |sung3- 2 E ch | Bouillon Agar Ka gebnis| tag 2. Geheilt. 12] L.| Diplo-, Diplo-, |Staphylo-) — gut!) — [31.Tag Staphylo- | Staphylo- | Strepto- kokken, | kokken kokken Coli, Strepto- kokken JH np Diplo-, Streptokokken a | Llar En an- Stäbchen | Karol. haft : ——— —__ mn - ren —ız se Diplo-, Streptokokken gut venta: kokken ne hämol. 15| B. | Diplo-, |Staphylo-,)| =” do. — 132.Tag Staphylo-, Strepto- een Strepto-| kokken aa kokken i 16] L.| Diplo- |Strepto-|Staphylo-,) — fieber--| — 125.Tag kokken kokken |Strepto- haft kokken \ 17| S. |Staphylo-,| Diplo-, | Stäbchen,| — do. — 1[31.Tag Diplo- |Strepto-| Strepto- kokken, | kokken kokken Stäbchen 18| V. |vereinzelt|Strepto-| Diplo-, _ schwer | — [31.Tag Diplo- kokken | Staphylo-, fieber- Diurcht kokken Strepto- haft schnitt- lich kokken Er Tag B. Streptokokken —, 1. Gestorben. KR I Staphylo,,l ee sr am | Peri- | Diplo- E aplylolaEeen 22.Tagf| tonitis kokken 2. Geheilt. 2 | ee — | leicht | — [3].Ta Staphylokekken Rebe 8 haft?) 3|W. in Stäbchen = gut — 124.Tag Stäbchen 1) Gut bedeutet: Temperatur in den ersten Tagen bis "höchstens {) 0°, 2) Leicht fieberhaft bedeutet: Temperatur bis 38,5°. 112 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. = + Mikroskopischer Befund Sek- | Ent- Sp Pe Ver- | tions- | las- Zls Se | lauf er- |sungs- =] = | Original- : | ‚ Blut- : _ zZ = | Aüsstrich. Bouillon | Agar agar gebnis| tag 41 M.| Diplo-- | er are ein- — 130.Tag kokken, | Sin et a | wand Stäbchen | = frei!) r Q - & U = za: = 2x > ur Diplokokken | gut 3 n- I — B 2 Diplokokken | Er =: | frei 7 - NA AA | ee AI I u S Coli u. Staphylo- | = = kokken, ken: | Coli, en | Staphylo- | kokken - re m | en — [ sn a , Staphylo- u. Diplo- | iu = er kokken —- | 9] M.| Diplo-, | Staphylo- |Staphylo-)| — do. a MEI. Tag Staphylo-| kokken, | Diplo- kokken, | Stäbchen | kokken | Stäbeben ! | 1 ee ee 0 __ Be —— D) IT Dıpio- u. Staphylokokken gut ee TE er Be mu tn gs 11] W. Diplokokken Bei 92. Tag —————{,:.— Te) Bee, 3 SQ = Bu Gram — Stäbehen | | gut u: —m Ten | 00 _ we 13|W. Diplokokken do. 23. Tag 14| H.| Dipls-, |Staphylo- |Staphylo-| — leicht | — 131.Tag Staphylo-| kokken | kokken | fieber- kokken, | Stäbchen | haft Stäbchen | | 15] E. Col, | GCeli, Diplo-, — gut — 125.Tag Diplo- | Diplo-: | Staphylo- | kokken | kokken | kokken, [ol in o- i SI — | Es » 5 Ir? I 16] L. | Dipl | Staphylo. u. Diplo- leicht 24. Tag kokken, | Eokker fieber- Stäbchen | haft i . NT | en = al Diplokokken u. Stäbehen | BuE 17. Tag .] ah l Te | u in. a SE Da ' _Coli, Diplo- und | Kenn in kokken Staphylokokken frei ar lich am 26. Tag entzündl/ehe Prozesse zurückzuführen, hervorgerufen dureh dieselben E: reger, d., vor der Operation festgestellt werden konnten. Wir sehen ferner bei den ‚Ueberlebenden ausserordentlich schwere Verläufe, lange eiternde Wunden, die erst in einem Falle die Entlassung am 80. Tage 1) Einwandfrei bedeutet: Temperatur hat 37,7° nicht überschritten. Il. Abteilung. Medizinische Sektion. 113 ermöglichte. Betrachten wir dagegen die streptokokkenfreien Fälle, so kam zwar ein Todesfall am 22. Tage an Peritonitis vor, bei dem keine Streptokokken vorher gefunden wurden, doch konnten wir 17 Fälle fast durchweg zwischen der 3. und 4. Woche entlassen, bei denen der Wund- verlauf ein erstaunlich leichter war. Man muss wohl schon nach diesen Ergebnissen eine wesentliche Bedeutung dieser Befunde anerkennen; sind Streptokokken neben der Cervix vorhanden, so sind dieselben bereits auch in die Parametrien ein- gedrungen, und dann ist die Prognose, wie die Autoren, die während der Operation die Parametrien untersuchten, bereits feststellen konnten, ausserordentlich infaust. Durch meine Methode ist es jedoch allenthalben gelungen, die Anwesenheit der verderbenbringenden Spaltpilze bereits schon vor der Operation festzustellen und damit konnten prophylaktische Schritte zur Bekämpfung einer eventuell durch die Streptokokken ver- anlassten septischen Erkrankung unternommen werden. Wie bekanut, haben ja fast alle therapeutischen Maassnahmen zur Heilung der septischen Infektion versagt. Unzähliche Methoden sind angegeben worden. Der Heilserumtherapie muss man, wie ich selbst experimentell feststellte, die engsten Grenzen setzen. Die Chemotherapie, die Einführung von Silberpräparaten — Collargol, Elektragol — lassen bisher mehr oder weniger im Stich. Hier dürfen vielleicht noch die neuesten Versuche Hüssy’s Erwähnung finden, die vor der Hand im Tierexperiment Gutes geleistet haben. Es gelang, weisse Mäuse gegen virulente Streptokokkenstämme wirksam zu schützen, indem man die- selben Stämme durch Hühnerpassage unwirksam, d.h. unvirulent macht und dann das sie enthaltende Serum intraperitoneal injieciert. Es be- darf weiterer eingehender Arbeiten, um diese Experimente auch auf den Menschen nutzbar anzuwenden. Wenn man sich von all diesen Methoden überhaupt einen Erfolg versprechen soll, so sind sich alle Autoren darir einig, dass die Mittel so frühzeitig wie möglich verabreicht werden müssen. Die weitaus gute Wirkung zeigt also die Applikation bereits vor der exakt eintretenden Erkrankung, also prophylaktisch. Und auch das habe ich experimentell im Tierversuch feststellen können. Während ich kaum ein Tier in vielen hundert Versuchen durchkommen sah, das erst nach der Infektion mit Heilserum behandelt wurde, ging mir nicht ein einziges Tier zu Grunde, dem ich das Serum vor der Streptokokken- infektion injiecierte. Die prophylaktische Wirkung bewies sich demnach als ausgezeichnet. Diese Methode wandte ich nun, wie ich in einer 2. Tabelle zeigen kann, mit bestem Erfolge bei den Streptokokkencarcinomen an. Die Kranken erhielten sofort nach der Operation 50 ccm Aronson’sches Antistreptokokkenserum intramuskulär. (Siehe Tabelle 2.) Hier konnten wir unter 29 operierten Fällen bei 24 Fällen Strepto- kokken konstatieren, 5 waren streptokokkenfrei. Von diesen 24 Fällen sind 6 gestorben, und zwar 4 an Peritonitis, 2 an einer Embolie. Diese letzten beiden können bei unserer Berechnung der Mortalität nicht mit- gezählt werden, weil bakteriologisch die Peritonealhöhle steril, patho- logisch-anatomisch das Peritoneum absolut intakt gefunden wurde. Die Mortalität ist also auf 16,6 pCt. zurückgegangen. Bei den übrigen „18 Fällen sehen wir nach Applikation des Serums ganz andere Krank- heitsbilder wie früher. Nicht ein Fall ist als schwer fieberhäft zu be- zeichnen. Ueberhaupt nur 3 Fälle zeigen eine Temperatur bis 38,5. Alle übrigen sind ausgezeichnet verlaufen. Als Entlassungstag ist im Durchschnitt der 24. Tag zu notieren, doch soll hierbei betont werden, dass der Drainagekanal am 13. oder 14. Tage bereits vollständig ge- schlossen war. Sehlesische Gesellsch. f. vaterl. Cultur. 1916. IT. 8 114 Jahresbericht der Schles. Gesellsehaft für vaterl. Cultur. Tabelle 2. = e | Mikroskopischer Befund Ent = 5 = ions- R = | < Yauf (ergebnis | as = as Brapmal | ae: Blut- ; 5 sung za| 8 >, - , |Bouillon! Agar | = Ausstrich agar A. Streptokokken 4. Behandelt. 1. Gestorben. LAysR: : 2 Er am eitrige | Diplo- u. Streptokokken 4. Tag +|Bronchitis. Perito- neum 0.B. 31 A Te An am Peri- £ Stäbchen, Staphylo- und B pH Gatet Streptokokken 8. Tag j] tonitis 3] M. Diplo- = : — am do. kokken, Daaplıyla, und 4. Tag 7 Stabchen Streptokokken > 46 DT. of vereinzelt] 7, 0 10 — am Lungen- ne ea 3. Tag f] embolie, kokken Perito- neum 0.B. 2 Rn | ” 2 (rt Terra 2er an- et R 5 okken ri Sepsis 61 K. am Peri- Streptokokken 4 Tag +] tonitis an- hämol. | 2. Geheilt. 2 Se ER R. 9 nk er Streptokokken ar de —— u hämol frei okken I — — I s| #. Diplo-, Staphyle- und sut 23. Tag Streptokokken Zi2E a Streptokokken ! 1 ee kokken 10) N. Diplo- Diplo. und — do. —_ 18.Tag kokken Streptokokken - Sı n. N, ii in- u 2 oo Sy Staphylo- und DE a: Stäbchen, | "eptokokken frei Dip!lo- kokk 121 6 Di “2 Ta ne, — do -- 23.Tag x ; en sE Streptokokken 5 P N nr BEER p) 1775 Streptokokken do. a: a Dun, Streptokokken gut ee kokken a \hämol. | l. Abteilung. Medizinische Sektion. | | | ————— _ | Dıplo- und Staphylo- kokken = & | ee Befund E 8 B Ver- lauf SE Oienall i Blut: u E reenilan Bouillon| Agar Ben Bo ESch@ 2 Diplo- | Das 2 | 'an- gut en Streptokokken ll. — u en SE n 10 Dh Strepto- u. Staphylo- en kokken h Si aft Kon B. a Diplo- und = do. Diele: ’ Streptokokken | kokken | 18| S Diplo Dean |, —- fieber- ken | Bean ma | = | p Bron- chitis 1 er N rn 1 Ge ne Zr Di Streptokokken a haft 20 | Sch. Coli, Coli, — ein- Staphylo-,| Strepto- kokken wand- Diplo- | kokken | frei kokken = — Tr Puh || 8 a Streptokokken du. kokken DPA SchwilnDiplo>, era > ut eb. Diplo- und 5 en Streptokokken Coli | n ——u———_ u = zu: Diplo- und do. ck Streptokokken 24| G Diplo (male |, vein- on Suapuyıo. ‚uud wand- Stäbchen Sirenieellien frei an- hämol. B. Streptokokken —. Geheilt. I Diplokokken NN a 2] Sch. | vereinzelt| steril steril — ein- Diplo- wand- kokken frei |, Diplokokken al u 4| Sch : | — fieber- Diplokokken Bar (Pneu- monie) 3, gut Sektions- ergebnis Peri- tonitis Ent- las- sung Den: Tag 39. Tag 34. Tag 23. Tag 32. Tag 23. Tag 19. Tag 18. Tag 24. Tag 18. Tag Du reh- sehnitt- lich am 24. Tag 34. Tag 21.Tag 19. Tag 27. Tag 23. Tag Dureh- schnitt- lich am 24. Tag 116 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Einen Ueberbliek über diese Fälle ergibt folgendes: 29 Fälle. 24 Strept. + 5 Strept. — 4 gestorben 0 gestorben 16,6 pCt. Mortalität 0 pCt. Mortalität. Die Krankheitsverläufe der Patienten ohne Streptokokokkennachweis ähneln sehr diesen beeinflussten Streptokokkenfällen. Auch hier ist nur einmal eine Temperatur bis 38,5 aufgetreten, die auf eine starke Bron- ehitis zurückzuführen war. Die Entlassung geschah im Durchschnitt am 24. Tage, also am gleichen Tage wie bei den mit Serum behandelten Patienten. Die Erfolge sind somit eklatant. Mit Hilfe dieser Methode ist es uns gelungen, die Mortalität der Carcinome, bei denen Streptokokken gefunden worden sind, von 61,1 pCt. auf 16,6 pCt. herunterzudrücken. Dadurch erscheint nur die Richtigkeit meiner eingeschlagenen Behandlungsart als bewiesen. Andererseits zeigen aber auch die Zahlen, dass es tatsächlich nur auf die Anwesen- heit von Streptokokken ankommt. Eine Differenzierung der ein- zelnen Arten ist nach unseren Erfahrungen für diese Zwecke nicht notwendig. Im übrigen wird vielleicht auch hier die An- wendung der Röntgenstrahlen und der radio-aktiven Substanzen aus dem Ulcus eine epithelbekleidete Fläche schaffen, insofern bessernd einwirken, als ja die Mikroven nicht eine gute An- siedelungsstätte verlieren. Wir sind mit derartigem Experiment zur Zeit beschäftigt. Besonders für die Praxis hoffe ich durch meine Versuche einen Gewinn zu bringen. Da es ja hier meist nicht möglich ist, bakteriologische Untersuchungen anzustellen, so würde man eben jedes Carecinom bei der Operation mit Serum spritzen, da Nach- teile dadurch niemals, auch nicht im Tierversuch gesehen worden sind, die Lebenssicherheit aber, wenn es sich wirklich um die Anwesenheit von Streptokokken handelt, in ganz hervorragender Weise gewinnt. XI. Ernst Gaupp 7. Nachruf. Von Dr. L. Gräper, Priv.-Doz., 1. Assistent am anatomischen Institut Breslau. Allen denen, die am 27. November der stillen schönen Feier im Trauerhause Gaupp beiwohnten und dann den langen traurigen Weg zogen zur letzten Ruhestatt des Verstorbenen auf dem weitab im Süden der Stadt gelegenen Militärfriedhof, allen denen wird der Tag unver- gesslich bleiben. Die ernste Stimmung erhielt einen Beiklang herber Bitterkeit durch die von einer einsamen, kleinen schwelenden Lampe unterbrochenen Dunkelheit des Abends, durch das unablässige Trommeln feuchtkalter Regentropfen auf einer wogenden Menge von Schirmen und durch das misstönende Geläut der Friedhofsglocke.. Das waren die äusseren Umstände, unter denen wir das, was von Ernst Gaupp sterb- lich war, zur letzten Ruhe bestatteten. Wenn mir nun heute die Aufgabe geworden ist, vor dieser hoch- ansehnlichen Gesellschaft, deren lebenslängliches Mitglied er war, das mit wenigen Worten darzulegen, was Gaupp unsterblich gemacht hat, so empfinde ich das als grosse Ehre für mich und bin der Einladung mit besonders grosser Dankbarkeit und Freude gefolgt, weil mir dadurch die Gelegenheit gegeben ist, noch einmal öffentlich hervorzuheben, wie weitgehend Gaupp selbst in der kurzen Zeit seines hiesigen Wirkens sich die Herzen aller, die mit ihm arbeiten durften, eroberte durch sein liebenswürdiges gewinnendes Wesen und die stetige freudige Bereitschaft, allen, die es begehrten, aus dem reichen Schatz seines Wissens, seiner Erfahrung und seiner umfassenden Literaturkenntnisse zu spenden. Bevor ich an meine eigentliche Aufgabe herantrete, gestatten Sie mir, ein kurzes Lebensbild des Verstorbenen vor Ihnen zu entrollen. Ernst Wilhelm Theodor Gaupp wurde geboren in Beuthen, Oberschlesien, am 13. Juli 1865 als Sohn des Kreisrichters, späteren Rechtsanwalts und Notars, Geh. Justizrats Dr. Theodor Gaupp. Er stammt aus einer Familie, deren geistige Veranlagung, wie er selbst schreibt, mehr nach der theoretisch-wissenschaftlichen als nach der praktischen Seite geht: Gute Rednergabe, schriftstellerische Produktivität, dichterische und gute musikalische Talente waren in ihr vielfach ver- treten; und es ist ein eigentümliches Spiel des Zufalls, dass ein Vorfahr Gaupp’s mütterlicherseits, Michael Morgenbesser, derjenige war, dem es gelang, nach vieler Mühe im Jahre 1773 die Gründung eines Theatrum anatomicum in Breslau durchzusetzen und dessen Sohn dann der erste Professor für Anatomie in Breslau, allerdings auch gleichzeitig Hebammen- lehrer (!) und Lehrer der Botanik am Magdalenen-Gymnasium wurde. Im 118 Jahresberieht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. kinderreichen Vaterhause aufgewachsen, ein Umstand, dem er wohl auch seinen besonders innig entwickelten Familiensinn verdankt, besuchte Gaupp die Vorschule in Ohlau und das Gymnasium in Eibing. Die Wanderjahre des Studentenlebens führten ihn nach Jena, wo er im Sommersemester 1834 Naturwissenschaften studierte, dann jedoch wieder nach seiner Heimat Schlesien, wo er an der Universität Breslau das Studium der Medizin begann und vollendete und nur durch ein einziges Studiensemester in Königsberg unterbrach. In Breslau machte er sein Staatsexamen und wurde summa eum laude zum Doctor promoviert, hier war er von 1889 ab 6 Jahre Assistent an der Anatomie und gleichzeitig Lehrer der Anatomie an der Königl. Kunst- und Kunstgewerbeschule, hier habilitierte er sich auch im Jahre 1893 als Privatdozent für Ana- tomie. 1895 ging er als Prosektor am vergleichend-anatomischen Institut nach Freiburg, wohin er ein Jahr später eine Tochter des in Breslau allgemein bekannten und beliebten Geheimrats Richter als Gattin heim- führte. Seine Freiburger Stellung bekleidete er über 17 Jahre bis 1912, und erst in diesem Jahre erhielt er den schon längst verdienten und in Anatomenkreisen längst erwarteten Ruf als Ordinarius und zwar nach Königsberg. Mit diesem Rufe beginnt die späte aber dafür um so über- stürztere ruhmreiche Karriere, deren Daten ohne viele Worte für sich selbst sprechen: 1912 Königsberg, 1916 Breslau, 1917 Berlin. Ein tragisches Geschick wollte, dass er selbst von dem Rufe nach Berlin, der doch die höchste Anerkennung und Ehrung für einen Wissen- sehafiler und akademischen Lehrer bedeutet, nichts erfahren konnte, denn an demselben Tage, wo in Berlin die Nachricht von seinem Tode (24. November 1916) eintraf, hatte die Berliner medizinische Fakultät einstimmig beschlossen, ihn an erster Stelle für den Ruf nach Berlin vorzuschlagen. Damit ist ihm, der selbst viel zu bescheiden war, um an einen Raf nach Berlin zu glauben, und der, darüber befragt, immer äusserte, dass er dafür nicht in Betracht käme, die grösste Freude in seiner Berufstätigkeit versagt geblieben. Freilich ist es gerade bei ihm mehr als fraglich, ob er, der zwar immer ein begeisterter Lehrer war, aber doch die Gelehrtentätigkeit am Schreibtisch seine liebste und sehönste Beschäftigung nannte, diesem Rufe gefolgt wäre, der trotz hoher Ehren und anderer Vorteile doch unumgänglich eine gewisse Beschränkung der Forschertätigkeit mit sich bringt, wegen der mancherlei Anforde- rungen, die an einen Berliner Ordinarius herantreten. Wenden wir uns nun dem wissenschaftlichen Leben Ernst Gaupp’s zu, so ist bemerkenswert, dass sich der Drang zu wissenschaftlicher Forsebung schon früh bei ihm geltend machte; denn als Student be- arbeitete er die von der medizinischen Fakultät gestellte Preisaufgabe: „Es soll durch die Reihe der Wirbeltiere festgestellt werden, welche Nerven die Kopfdrüsen (Mund- und Nasenhöhlendrüsen) versorgen.“ und erzielte damit den vollen Preis. Diese Arbeit hat mir im Original nicht vorgelegen, dagegen habe ich aus der 1888 im Morphologischen Jahrbuch erschienenen vervollständigten Bearbeitung entnehmen können, dass Gaupp schon damals eingehendes Literaturstudium mit sehr fleissiger, forscherisch neu schaffender Arbeit verband. Es ist bemerkenswert, dass diese seine erste Arbeit den grössten Einfluss auf das ganze wissen- sehaftliche Leben Gaupp’s gehabt hat. Durch sie wurde er auf die vergleichende Anatomie gewiesen, und da er hierbei den Mangel unserer Kenntnisse über das periphere Kopfnervensystem vieler Tiere empfand, hatte er schon damals Gelegenheit, mancherlei neue Befunde zu erheben, die ausserhalb des Rahmens der eigentlichen Arbeit lagen. Die vergleiehende Anatomie war immer sein Hauptarbeitsfeld, und wenn er sich auch auf anderen Gebieten reichlich und erfolgreich be- I. Abteilung. Medizinische Sektion. 119 tätigt hat, so steckte er sich doch gerade hier schon früh ein Ziel, dessen Erreichung er fast sein ganzes arbeitsreiches Leben darbrachte. In seiner 1893 erschienenen, Herrn Geheimrat Hasse gewidmeten Habilitationsschrift über das Primordialeranium und den Kieferbogen von Rana fusca sagt er einleitend, dass diese Abhandlung das erste Glied einer in Aussicht genommenen Reihe von Arbeiten über den Knorpelschädel der Wirbeltiere bilden solle. Wenn auch der Vergleich und vor allem die phylogenetische Entwicklung des fertigen knöchernen Schädels in der Wirbeltierreihe das Hauptinteresse Gaupp’s in An- spruch nahmen, so beschränkte er sich doch zunächst auf die Erforschung des Knorpelcraniums der Wirbeltiere in der richtigen Erkenntnis, dass der aus vielen Einzelstücken bestehende knöcherne Wirbeltierschädel, ebenso wie er sich ontogenetisch aus einem einheitlichen Knorpelschädel entwickelt, auch phylogenetisch aus einem solchen einheitlichen Knorpel- schädel hervorgegangen sein müsse. Nun existierten zwar schon Arbeiten verschiedener Forscher über dies Gebiet, wie die Wiedersheim’s, Sagemehl’s und vor allem Parker’s, aber die in diesen angewandte Technik, die Lupenpräparation, liess doch vieles unvollkommen erscheinen, und auch die Schlussfolge- rungen wichen in vielem von denen ab, die Gaupp ziehen zu müssen glaubte. Vor allem fehlte aber eine systematische Durchuntersuchung der Wirbeltierreihe, die sich Gaupp zur Aufgabe machte. Zwecks genauer und einwandtreier Untersuchung legte er eine grosse Anzahl von lückenlosen Schnittserien durch Embryonen und junge Tiere verschiedensten Alters und modellierte bei einer Auswahl davon die Primordialeranien nach der Born’schen Plattenmethode. Dadurch zeigte er sich nieht nur als Meister der modernen Technik, sondern hat durch seine Modelle und die daran gewonnenen wissenschaftlichen Resultate auch der am Breslauer Institut ausgearbeiteten Born’schen Methode den ihr gebührenden Platz eingeräumt. Charakteristisch für seine Arbeits- weise ist das peinlich genaue Literaturstudium und die kritische Nach- prüfung des daraus Verwerteten. Dabei beschränkte er sich in der Forschung nicht auf den Knorpelschädel allein, sondern studierte auch die Weichteile, insbesondere die Nerven seiner Objekte aufs gründlichste und zog gerade aus ihrem Verhalten die wichtigsten Schlüsse über die Homologien der einzelnen Teile. Die erste Schädelarbeit wurde bald durch eine zweite über das Hyobranchialskelett der Anuren ergänzt, und schon die nächste grössere und zugleich letzte aus dem anatomischen Institut Breslau bringt wichtige vergleichende Betrachtungen über die Schläfengegend am knöchernen Wirbeltierschädel, wobei nicht nur recente, sondern auch fossile Formen berücksichtigt werden. Hier prägt Gaupp die Aus- drücke stegocrotaph, ceygokrotaph, gymnocrotaph und bereichert die Anatomie durch seine Lehre vom oberen und unteren Jochbogen. Mit der grossen in Freiburg entstandenen Arbeit über das Chondro- eranium von Lacerta agilis setzt er seine Veröffentlichungen über die Primordialeranien fort, ohne damit die ganze Fülle seiner bisherigen Arbeit bekannt zu geben; denn er selbst hatte inzwischen Modelle von Knorpelschädeln einer ganzen Anzahl von Wirbeltieren hergestellt und sich auch in Fischer und Tonkoff zwei Mitarbeiter erworben, ein Beweis für die Fruchtbarkeit des von ihm erschlossenen Forschungs- gebietes. Ganz besonders förderlich war für die Gaupp’schen Arbeiten, dass er das von Semon gesammelte, ausserordentlich wertvolle embryonale Material von Echidna, dem Ameisenigel, zur Untersuchung erbielt. An diesem bekanntlich eierlegenden, primitivsten aller Säugetiere hat Gaupp eingehende Untersuchungen gemacht, denen mehrere zum Teil grosse 120 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Arbeiten ihren Ursprung verdanken, und ohne diese Untersuchungen hätte er vielleicht manche seiner Theorien nicht so lückenlos mit Be- weisen belegen können. Schon die grosse Arbeit über die Ala temporalis des Br sehädels und die Regio orbitalis einiger anderer Wirbeltierschädel zieht hieraus Nutzen. In ihr äussert Gaupp, dass das Schädellumen der Säuger mit dem der niederen Tiere nicht zu vergleichen sei, und dass die ursprüngliche seitliche Schädelwand z. B. der Reptilien dem wachsenden Gehirn habe weichen müssen und durch eine sekundäre aus Belegknochen gebildete ersetzt worden sei. Die Entdeckung eines bisher unbekannten Knochens am Echidnaschädel gab ihm Veranlassung zu einer grösseren Monographie: „Säugerpterygoid und Echidnapterygoid“, in der er die Identität des Säugerpterygoids mit dem der Reptilien bezweifelt. Ausser diesen grösseren, dem eigentlichen Schädel gewidmeten Arbeiten hat Gaupp seine Forschungen auf diesem Gebiete in einer grösseren Anzahl kleinerer Schriften, Vorträgen und Demonstrationen in wissenschaftlichen Gesellschaften behandelt, und ist aus gelegentlichen Kontroversen immer als der Ruhigere und Sachlichere siegreich hervor- gegangen. Es bedarf wohl kaum einer besonderen Erwähnung, dass auch die meisten Arbeiten seiner Schüler Beiträge zur Morphologie des Wirbel- tierschädels sind, und zwar meist Bearbeitungen von Knorpelcranien. In engstem Zusammenhang mit seinen Arbeiten über die ver- gleiehende Anatomie und Entwicklungsgeschiehte des Wirbeltierschädels stehen seine Arbeiten über die Reichert’sche Theorie, die Hammer-, Amboss-, Kieferfrage, die gekrönt sind durch eine 1912 erschienene, 416 Druckseiten starke Monographie, in der mit unendlichem Fleiss alles zusammengetragen ist, was für die Reichert’sche Theorie spricht, und in der ausser den Hartgebilden auch die Weichteile (Muskeln und Nerven) gründlichst untersucht worden sind. Dadurch ist diese Theorie abschliessend glänzend gerechtfertigt, nach der der Amboss der Säuger dem Quadratum der niederen Wirbeltiere entspricht, der Hammer dem Artieulare und dem von Gaupp gefundenen Goniale, das Tympanicum dem Angulare. Daraus ergab sich für Gaupp, dass das Kiefergelenk der Säuger mit dem der niederen Wirbeltiere nicht vergleichbar ist, ebensowenig wie die schallleitenden Apparate einschliesslich des Trommel- fells der Säuger, der Reptilien und der Amphibien untereinander. Dieser gründliche Ausbau und die Sicherstellung der Reichert’schen Theorie ist eine der verdienstvollsten Arbeiten Gaupp’s. Ein so gründlicher Kenner der Literatur und der Tatsachen konnte sich auch theoretische Betrachtungen gestatten, und so finden wir in seinen Arbeiten mancherlei stammesgeschichtliche Spekulationen, be- sonders versucht er im Anschluss an seine Schädelarbeiten und seine Arbeiten über die Kopfgelenke das Bild einer hypothetischen, den Reptilien ähnlichen, ihnen und den Säugern gemeinsamen Stammform zu skizzieren. Seine umfassenden, wohl lückenlos zu nennenden Kenntnisse alles dessen, was über die Morphologie des Schädels jemals erforscht worden ist, befähigte ihn auch hervorragend zu zusammenfassenden Darstellungen und Referaten. So referierte er in den Jahren 1897—1899 in den Jahres- berichten das Kopfskelett, und zusammenfassende Arbeiten über aktuelle Fragen der Wissenschaft finden sich in den „Ergebnissen der Anatomie“ unter den Ueberschriften: „Zirbel, Parietalorgan und Paraphysis“, „Metamerie des Schädels“, „Ontogenese und Phylogenese des schall- leitenden Apparates bei den Wirbeltieren“, „Probleme und neuere Arbeiten über den Wirbeltierschädel“, „Das Hyobranchialskelett der Wirbeltiere“, jede in einem Umfang von je 100—250 Druckseiten. Kein geeigneterer Mann konnte von Hertwig gefunden werden für die I. Abteilung. Medizinische Sektion. 121 Bearbeitung des Kapitels „Entwicklung des Kopfskelettes“ in seinem grossen Handbuch der Entwicklungsgeschichte. Auch wissenschaftliche Gesellschaften erkannten seine Leistungen an; so erhielt er aus der Elizabeth Thompson-Stiftung einen namhaften Geldbetrag zur Unterstützung seiner Arbeiten und 1909 von der Kaiser- lichen Leopoldinisch-Carolinischen Akademie der Naturforscher den Caruspreis. Welch grossen Eindruck schon seine erste Schädelarbeit über das Primordialeranium von Rana fusca allgemein gemacht hat, kann man daraus ersehen, dass er gleich im folgenden Jahre (1894) den Auftrag erhielt, eine neue Auflage der Ecker-Wiedersheim’schen Anatomie des Frosches in Angriff zu nehmen. Da Gaupp seine Aufgabe ernst nahm, musste er alles, was über das „physielogische Haustier zar. e&.“ je berichtet worden war und was naturgemäss über die ganze medizinische und zoologische Literatur des In- und Auslandes verstreut ist, mit ungeheurem Fleiss zusammentragen. Aber damit begnügte er sich nicht, sondern er unterzog jede Angabe, die auf Grund nicht allzu kompli- eierter Methoden gemacht worden war, einer eingehenden Nachprüfung. Und da er bei seinen Schilderungen nicht von einem rein anatomischen, sondern von einem morphologisch-physiologischen Standpunkt ausging, so hatte das Werk, als es nach zehnjähriger mühseliger Arbeit endlich in drei dicken Bänden fertig vor der wissenschaftlichen Oeffentlichkeit lag, ein gänzlich anderes Aussehen. Das war nicht mehr der von Gaupp bearbeitete Ecker, das war ein Gaupp von Anfang bis zu Ende, ein grossartig angelegtes, bis ins feinste durchgearbeitetes, vollständiges und abgeschlossenes Nachschlagewerk, das in keinem Laboratorium fehlt, in dem ernste Arbeit am Frosch geleistet wird. Gelegentlich dieser Riesen- arbeit machte Gaupp eine ganze Anzahl von neuen Beobachtungen und Korrekturen alter, die ausser im Werk noch in Einzelveröffentlichungen festgelegt sind. Die Beschäftigung mit der Anatomie am Lebenden, die auf Hasse’s Einfluss zurückzuführen ist, durch den er Lehrer der Anatomie an der ‘Königlichen Kunstschule wurde, regte Gaupp ebenfalls zu einer Anzahl von Arbeiten an, in denen er neue interessante Gesichtspunkte vor- brachte. Auch auf diesem Gebiete wurden seine Leistungen anerkannt, und er erhielt von dem Verleger den Auftrag, die neuen Auflagen des Duval’schen Grundrisses der Anatomie für Künstler zu bearbeiten. In dieser neuen Bearbeitung erwarb sich das Buch eine noch grössere Menge von Freunden, und Gaupp musste drei Auflagen in den Jahren 1901, 1908 und 1916 besorgen. Die dritte hat er in den letzten arbeits- reichen Tagen seines Lebens bis auf die Durchsicht einzelner Korrektur- bogen beendet. Aus seinen Studien auf diesem Gebiete gingen auch seine Abhandlungen über die Gelenke und die Beweglichkeit des Schulter- gürtels und über die Narkosenlähmungen hervor, deren praktisches Resultat die Konstruktion eines Stützapparates für Leute mit Trapezius- lähmung war. Auch seine Veröffentlichungen über normale Asymmetrien und über Rechtshändigkeit möchte ich hier unterordnen. Da Gaupp ein begeisterter Lehrer war, der viel Zeit und Mühe auf die sorgfältige Vorbereitung seiner Vorlesungen verwandte, so ist es er- klärlich, dass auch diese Tätigkeit bei ihm literarische Früchte zeitigte. Seine Publikationen über das Schläfenbein und das Pericard geben wichtige Hilfsmittel für den Unterricht. Aber nicht nur ein Berufslehrer der Studenten war Gaupp, er war auch ein Lehrer des Volkes. In Wort und Schrift suchte er der Allgemein- heit Verständnis für die grossen Fragen seiner Wissenschaft zu bringen, und seine „Morphologie der Wirbeltiere“ in „Kultur der Gegenwart“ ist eine äusserst verdienstvolle Arbeit. Möchten sich doch auf allen Ge- 122 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. bieten der Wissenschaft Autoritäten finden, die dem Drange des Volkes nach Wissen in gemeinverständlicher Form Rechnung tragen, damit nicht Halbwissenschaftler diese Aufgabe übernehmen, deren Lösung der Stolz der Besten sein sollte. Der Allgemeinheit zu dienen als ein nützliches Glied der Gesellschaft, das war immer Gaupp’s Streben und dieses Streben suchte er auch seinen Schülern und seinen Kindern einzuimpfen. Hieraus erklären sich seine unermüdlichen Bemühungen, die Stellung der jungen theoretischen Dozenten zu bessern, Bemühungen, die er auch als Ordinarius mit gleicher Energie fortsetzte und die sich widerspiegeln in seinem Nachruf zur Erinnerung an Paul Bartels, in der er das tragische Schicksal eines Mannes schildert, der ein tüchtiger, fleissiger Wissenschaftler und glänzender Lehrer war und doch mit 40 Jahren erst eine bescheidene Assistentenstelle hatte. Seine letzte grosse Arbeit, auch ein Nachruf, war eine umfangreiche Würdigung des Lebens und der Arbeiten Weismann’s, die er in den letzten Tagen fertiggestellt hatte. Damit hat Gaupp Weismann ein Denkmal gesetzt, das vielen, die den verdienten Vererbungstheoretiker nur oberflächlich kannten, ein klares Bild von seinem Lebenswerk geben wird. Die Erwähnung kleinerer Gelegenheitsarbeiten, die sich nicht unter die hier erörterten Hauptpunkte einreihen lassen, bitte ich hier unter- lassen zu dürfen. Ein vollständiges Verzeichnis der Gaupp’schen Schriften ist beigefügt. Wenn man die riesige Produktivität auf wissenschaftlichem Gebiete bedenkt und die umfangreiche Lehrtätigkeit Gaupp’s berücksichtigt, so müsste man meinen, dass der Mann keinen Sinn und keine Zeit für andere Interessen hätte haben können. Um so erstaunter wird man sein, zu erfahren, dass Gaupp bei seiner vielen Arbeit noch genealogische Forschungen betrieb, die ihn viele Stunden in den Archiven verbringen liessen. Als Frucht dieser Studien erschien am 1. Oktober d.J. in einem Familienverbandsblatt eine genealogische Studie über den schlesischen Zweig der Familie Gaupp, dem er selbst angehört. Wie er ausserdem noch Zeit fand, der Musik zu huldigen (er selbst war ein vorzüglicher Geiger) und ein Familienleben von grosser Innigkeit zu pflegen, ist schwer erklärlich. Jedenfalls hat er viel Nachtarbeit ge- leistet, die auch seinen Schlaf sehr ungünstig beeinflusste. Da er nun ohnehin nicht zu den widerstandsfähigsten Naturen gehörte, so ist es kein Wunder, dass sein Herz den riesigen Anforderungen nicht ge- wachsen war, die sich noch erhöhten durch die mit mancherlei Sorgen und Neugestaltungen verbundene Uebernahme des Breslauer Instituts, durch ein neu auszuarbeitendes Kolleg und schliesslich auch durch den Umstand, . dass ihm im Institutsbetrieb als Hilfe eigentlich nur meine Kraft zur Seite stand, und die infolge der militärischen Inanspruch- nahme nur halb. Trotzdem war er dankbar für jeden, auch den kleinsten Dienst, immer freundlich und hilfsbereit seinen Assistenten und Dienern gegenüber, nie betonte er seine Stellung als Vorgesetzter und ging auf Wünsche und Vorschläge stets bereitwilligst ein, so dass das Arbeiten unter ihm eine Freude war. Wenn ein solcher Mann, der als Mensch und Wissenschaftler sich überall treue Freunde und begeisterte Anhänger erwarb, gerade in dem Augenblick aus der vollsten schaffenskräftigsten Lebensarbeit heraus- gerissen wird, in dem er sich endlich nach langem Warten in seiner geliebten engeren Heimat an eine einflussreiche Stelle gesetzt sieht, an der er seine Kraft zur vollsten Auswirkung kommen zu sehen hoffte, so ist das ein besonders tragisches Geschick, das im Hinblick auf die An- erkennung seiner Autorität durch den Ruf nach Berlin nur noch herber erscheint. Ernst Gaupp ist durch seine unermüdliche, seine Gesundheit I. Abteilung. Medizinische Sektion. 123 hintansetzende Friedensarbeit ein Opfer seines Berufes geworden, aber da sein Tod indirekt durch Kriegsverhältnisse mitbewirkt wurde, so ist er auch gefallen als ein Held auf dem Schlachtfelde heimatlicher Kriegs- arbeit. Ehre seinem Andenken! Verzeichnis der wissenschaftlichen Arbeiten von Ernst @aupp. 1888. 1. Anatomische Untersuchungen über die Nervenversorgung der Mund- und Nasenhöhlendrüsen der Wirbeltiere. Morph. Jb., Bd. 14. 1889. 2. Ueber die Maass- und Gewichtsdifferenzen zwischen den Knochen der rechten und linken Extremitäten des Menschen. Inaug.-Diss. Breslau. 1891. 3. Die „Columella* der kionokranen Saurier. Anat. Anz., Jahrg. 6, Nr. 4. — 4. Zur Kenntnis des Primordialeraniums der Amphibien und Reptilien. Verh. der Anat. Ges. a. d. V. Vers. München. 1892. 5. C. Hasse, Die Formen des menschlichen Körpers und die Formänderungen bei der Atmung. Jena, Fischer. Ref. Biol. Zbl. — 6. Grundzüge der Bildung und Umbildung des Primordialeraniums von Rana fusca. Verh. der Anat. Ges. a. d. VI. Vers. Wien. 1893. 7. Beiträge zur Morphologie des Schädels. I. Primordial- cranium und Kieferbogen von Rana fusca. Morph. Arb. v.G. Schwalbe, Ba. 2, H.2. — 3. Ueber die Anlage der Hypophyse bei Sauriern. Arch. f. mikr. Anat., Bd. 42. — 9. Beiträge zur Morphologie des Schädels. II. Das Hyobranchialskelett der Anuren und seine Umwandlung. Morph. Arb., Bd. 3, H.3. 1894. 10. Ueber die Jochbogenbildungen am Schädel der Wirbel- tiere. Jber. d. Schles. Ges., Zool,-bot. Sekt. — 11. Beiträge zur Morpho- logie des Schädels. III. Zur vergleichenden Anatomie der Schläfengegend am knöchernen Wirbeltierschädel. Morph. Arb., Bd. 4, H. 1. — 12. Ueber die Bewegungen des menschlichen Schultergürtels und die Aetiologie der sog. Narkosenlähmungen. Jber. d. Schles. Ges., Med. Sekt. — 13. Ueber die Bewegungen des menschlichen Schultergürtels und die Aetiologie der sog. Narkosenlähmungen. Zbl. f. Chir. — 14. Ueber einen Korrektions- apparat für die Trapeziuslähmung. Jber. d. Schles. Ges., Med. Sekt. — 15. Ueber einen Korrektionsapparat für die Trapeziuslähmung. Zbl. f. Chir. 1895. 16. Bericht über die „Modelle zur Erläuterung der Bildung und Umbildung des Primordialeraniums und des Visceralskeletts von Rana fusca“. Verh. d. Anat. Ges. a. d. IX. Vers. Basel. — 17. Mit- teilungen zur Anatomie des Frosches.. I. Carpus und Tarsus des Frosches. Anat. Anz., Bd. 11, Nr. 1. — 18. Mitteilungen zur Anatomie des Frosches. II. Hand- und Fussmuskeln des Frosches. Anat. Anz., Bd. 11, Nr. 7. — 19. Mitteilungen zur Anatomie des Frosches. III. Die Bauchmuskeln des Frosches. Anat. Anz., Bd. 11, Nr. 11. 1896. 20. Die seitlichen Bauchmuskeln der anuren Amphibien. Anat. Anz., Bd. 11, Nr. 25. — 21. Nachträglicher Zusatz zu dem Auf- satz „Die seitlichen Bauchmuskeln der anuren Amphibien“. Anat. Anz., Bd. 12, Nr. 1. — 22. Mitteilungen zur Anatomie des Frosches. IV. Ueber die angeblichen Nasenmuskeln des Frosches nebst Bemerkungen über die „Hautmuskeln“ der Anuren überhaupt. Anat. Anz., Bd. 12, Nr. 1. — 23. Zur Lehre von dem Atmungsmechanismus beim Frosch. Arch. f. Anat. Phys., Anat. Abt. — 24. Anatomie des Frosches. I. Abteilung. 1897. 25. Anatomie des Frosches, Bd. 2, H. 1. Nervensystem. 1898. 26. Zur Entwicklungsgeschichte des Eidechsenschädels. Vorl. Mitt., Ber. Nr. 9, Bd. 10. — 27. Ueber das Primordialeranium von 134 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. Lacerta agilis. Verh. der Anat. Ges. a. d. 12. Vers., Kiel 1398. — 28. Zirbel, Parietalorgan und Paraphysis. Erg. d. Anat. v. Merkel u. Bonnet, 1897, Bd. 7. — 29. Die Metamerie des Schädels. Erg. d. Anat., 1897, Bd. 7. 1899. 30. Anatomie des Frosches, Bd. 2, H. 2. Gefässsystem. — 31. Ontogenese und Pylogenese des schallleitenden Apparates bei den Wirbeltieren. Erg. d. Anat., 1898, Bd. 8. 1900. 32. Das Chondrocranium von Lacerta agilis. Anat. Hefte, Bd. 14. 1901. 33. Referat über H. Schauinsland, Weitere Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Batterie. Zool. Zbl., Jahrg. 3. — 34. Ueber den Muskelmechanismus bei den Bewegungen der Froschzunge. Anat. Anz., Bd. 19. — 35. Anatomie des Frosches, 3. Abt., 1. Hälfte, Lehre v. d. Eingeweiden. — 36. Ueber die Ala temporalis des Säugerschädels. Verh. 15. Vers. Anat. Ges., Bonn 1901. — 37. Duval, Grundriss der Anatomie für Künstler. — 38. Bemerkung, betreffend das Epithel auf den Papillen der Froschzunge. Anat. Anz., 1901, Bd. 20. — 39. Alte Probleme und neuere Arbeiten über den Wirbeltierschädel. Erg. d. Anat., 1900, Bd. 10. 1902. 40. Ueber die Ala temporalis des Säugerschädels und die Regio orbitalis einiger anderer Wirbeltierschädel. Anat. Hefte, Bd. 19. — 4]. Plastisch-anatomische Betrachtungen. Ber. d. Naturf.-Ges. zu Freiburg i. B., Bd. 12. 1903. 42. Zur Entwicklung der Schädelknochen bei den Teleostiern. Verh. d. Anat. Ges. a. d. 17. Vers. Heidelberg. — 43. Historische Be- merkung über die Impressio aortica der Brustwirbelsäule. Anat. Anz., 1903, Bd. 25. — 44. Zum Verständnis des Säuger- und Menschenschädels. Korr.Bl. d. D. Anthropol. Ges., Jahrg. 34, Nr. 12. 1904. 45. Bemerkung über die Innervation des M. rectus medialis ceuli bei den Anuren. Anat. Anz., Bd. 24. — 46. Anatomie des Frosches. Dritte Abteil., 2. Hälfte. Lehre vom Integument und von den Sinnes- organen. 1905. 47. Neue Deutungen auf dem Gebiete der Lehre vom Säuge- tierschädel. Anat. Anz., Bd. 27. — 48. Die Entwicklung des Kopf- skelettes. Hertwig’s Handb. d. Entwicklungslehre, Bd. 3, Abt. I. — 49. Ueber die sogenannte antike Beckenlinie. D.m.W., 1905, Nr. 37. — 50. Die Nicht-Homologie des Unterkiefers in der Wirbeltierreihe. Verh. d. Anat. Ges., aus der 19. Vers. (I. internat. Anat.-Kongr., Genf.) — 50a. Die Nicht-Homologie des Unterkiefers in der Wirbeltierreihe. Compt. rend. de l’assoc. des anatom., VII. session Geneve: — 51. Das Hyo- branchialskelett der Wirbeitiere. Erg. d. Anat., 1904, Bd. 14. 1906. 52. Ueber allgemeine und spezielle Fragen aus der Lehre vom Kopfskelett der Wirbeltiere. Verh. d. Anat. Ges., a. d. 20. Vers., Rostock. 1907. 53. Ueber Entwicklung und Bau der beiden ersten Wirbel und der Kopfgelenke von Echina aculeata nebst allgemeinen Bemer- kungen über die Kopfgelenke der Amnioten. Semon, Zool. Forschungs- reisen, Bd. 3, H. 2. Jen. Denkschr., Bd. 6, H. 2. — 54. Hauptergeb- nisse der an dem Semon’schen Echidna-Material vorgenommenen Unter- suchungen der Schädelentwicklung. Verh. d. Anat. Ges., a. d. 21. Vers., Würzburg. — 55. Demonstration von Präparaten, betreffend Knorpel- bildung in Deckknochen. Verh. d. Anat. Ges., a. d. 21. Vers., Würzburg- 1908. 56. Zur Entwicklungsgesehichte und vergleichenden Morpho. logie des Schädels von Echidna aculeata var. typica.. Semon, Zool. Forschungsreisen, Bd.3, H.2. Jen. Denkschr., Bd.6, H.2. — 57. Ueber die Kopfgelenke der Säuger und des Menschen in morphologischer und funktioneller Beziehung. Verh. d. Anat. Ges., a. d. 22. Vers., Berlin. — I. Abteilung. Medizinische Sektion. 125 58. Ein neues Schädelmodell. Anat. Anz., Bd. 33. — 59. Duval, Grundriss der Anatomie der Künstler. 3. Aufl. 1909. 60. Ueber die Rechtshändigkeit des Menschen. Smi. anat. Vortr, H. 1. — 61. Die Gehörknöchelehen- und Unterkieferfrage. XVI. Congr. intern. de med., Budapest 1909. — 62. Die normalen Asymmetrien des menschliche Körpers. Sml. anat. Vortr., H. 4. 1910. 63. Herkunft der Tuben-Gaumen-Muskulatur und die Natur des N. petrosus superficialis major. D.m.W., 1910, Nr. 14. — 64. Das Lacrimale des Menschen und der Säuger und seine morphologische Be- deutung. Anat. Anz., 1910, Bd. 36. — 65. Erwiderung auf den Aufsatz von H. Fuchs: „Ueber das Pterygoid, Palatinum und Parasphenoid der Quadrupeden, insbesondere der Reptilien und Säugetiere, nebst einigen Betrachtungen über die Beziehungen zwischen Nerven und Skeletteilen“. Anat. Anz., Bd. 37. 1911. 66. Die äusseren Formen des menschlichen Körpers in ihrem allgemeinen Zustandekommen. Sml. anat. Vortr., Nr. 13. — 67. Säuger- pterygoid und Echidnapterygoid, nebst Bemerkungen über das Säuger- Palatinum und den Processus basipterygoideus. Anat. Hefte, 1910, Bd. 42. — 68. Ueber den N. trochlearis der Urodelen und über die Austrittsstellen der Gehirnnerven aus dem Schädelraum im allgemeinen. Anat. Anz., 1911, Bd. 35. — 69. Beiträge zur Kenntnis des Unterkiefers der Wirbeltiere. I., II., III. Anat. Anz. 1911, Bd. 39. 1912. 70. Nachträgliche Bemerkungen zur Kenntnis des Unter- kiefers der Wirbeltiere, insonderheit der Amphibien. Anat. Beitr., Bd. 40. — 71. Die Verwandtschaftsverhältnisse der Säuger, vom Standpunkt der Schädelmorphologie aus erörtert. Verh. d. VIII. intern. Zool.-Kongr. Graz 1910. 1913. 72. Die Reichert’sche Theorie. (Hammer-, Amboss- und Kieferfrage.) Arch. f. Anat., Anat. Abt. Suppl. Jahrg. 1912. 1913. 73. Zum Verständnis des Pericardiums. Anat. Anz., Bd. 43. — 74. Die Morphologie der Wirbeltiere. Kultur d. Gegenw., 1913, Bd. 2, Teil 3, Abt. 4. 1914. 75. Ueber einige neuerdings wichtig gewordene Organe: Epithelkörperchen, chromaffine Körper, Blutlymphdrüsen. D.m.W., 1914, Nr. 7. — 76. Zur Erinnerung an Paul Bartels. Anat. Anz., Bd. 40. 1915. 77. Das Schläfenbein und seine Darstellung im anatomischen, besonders im osteologischen Unterricht. Arch. f. Anat. u. Phys., Anat. Abt. Jahrg. 1915. 1916. 78. Duval, Grundriss der Anatomie für Künstler. 4. Aufl. — 79. Fast vollendetes, umfangreiches Manuskript über Weismann. Ausserdem 18 Arbeiten von Schülern aus den Jahren 1898 bis 1911. XIV. Ueber das Tetra-hydro-Atophan. Julius ee Man wird meist geneigt sein das Atophan auf Grund klinischer Erfahrungen für ein vollkommen unschädliches Mittel zu halten, benützt man es doch in grösstem Umfang als Antıneuralgicam und harn-äuretreibendes Mittel. Tatsächlich aber ist es für ge- wisse Organismen ein selbst in kleinen Mengen tödliches Gift. Fräulein Rotter hat bei mir eine Untersuchung durchgeführt, aus der hervorgeht, dass schon Centigramme das Herz des Frosches irreparabel schädigen; noch empfindlicher ist das isolierte Kalt- blüterherz. Lässt man auf Atophan naseierenden Wasserstoff einwirken, so treten vier Wasserstoffatome in den Pyridinkern ein, und es entsteht die 2 Phenyl — 4 Carbonsäure des Tetra-hydro-Chinolinst). Die Reduktion bedeutet insofern eine Entgiftung, als die eben er- wähnte Herzwirkung schwindet. Hingegen tritt eine ganz eigen- artige unerwartete Wirkung in Erscheinung, die wohl einen bisher unbekannten Typus einer Giftwirkung darstellt. Zunächst sei berichtet, dass das Tetra bydro-Atophan eine Dauervergiftung setzt. Nach einer einmaligen Injektion von 0,005—0.02 an einen Frosch wird das Tier 10—14 Tage (!), ja über 4 Wochen lang krank. Es lag nahe, diese Dauervergiftung auf eine schwere, langsame Ausscheidung zu beziehen. Tatsächlich habe ich eine bisber unbekannte Eigenschaft des Atopbankomplexes beobachtet, die vielleicht biologisch von Bedeutung ist: nämlich das Verhalten zur konzentrierten Salzlösung. Selbst kleinste Mengen Atophan werden durch konzentrieıte Salzlösungen (Ammonsulfat, Kochsalz) ausgefällt. Allein, da diese colloidartigen Eigenschaften nicht bindern, dass das Atophan relativ schnell durch die Nieren zur Ausscheidung gelangt und ich mich ausserdem überzeugte, dass das Salzfällungsvermögen mit der Hydrierung abnimmt, so kommen hier wobl andere Momente in Betracht. Toxikologisch ist nur ein 1) Die zu meiner Untersuchung benützten Präparate waren teils von den „Chemischen Werken“ Grenzach, teils in meinem Laboratorium dar- gestellt. Il. Abteilung. Medizinische Sektion. 127 ähnlicher Fall von Dauervergiftung bekannt, nämlich Einwirkung von Schwefelwasserstoff auf Frösche (Harnack). Die Vergiftungserscheinungen bestehen nun darin, dass einige Stunden nach Zufuhr eine Reflexerregbarkeitssteigerung, oder nach kräftigen passiven Bewegungen ein Tetanus eintritt. Die Tiere liegen scheinbar normal da, aber in die Hand genommen be- dingen die intendierten Bewegungen nun kräftigste Kontraktur der Extremitäten. Die Tiere werden oft wie auf Stelzen auf allen 4 Extremitäten in die Höhe gehoben (Demonstration). Nach einer Ruhepause lassen sich dieselben Spasmen wieder auslösen; durch Wochen dauert der Zustand an, um, je nach Höhe der Dosis entweder mit einem Dauertetanus tödlich zu enden oder all- mählich abklingend zu schwinden. Diese Erregbarkeitssteigerung, dieser Dauertonus der Musku- latur ist zweifellos spinalen Ursprungs; er tritt auch auf nach hoher Rückenmarksdurchscheidung und ist durch allgemeine Narkose zum Schwinden zu bringen. Der Tetanus löst sich unter Eintritt universeller fibrillärer Muskelzuckungen. Oft tritt geradezu eine Art Wogen der Muskulatur auf. Reicht man vor der Vergiftung Chlormagnesinm oder Chlorcalcium, so entfällt das Phänomen. Doch habe ich beobachtet, dass an einem Tier, bei dem durch Chlormagnesium 2—3 Tage die Zuckungen ausblieben, dieselben wieder eintraten, also wohl nach Aus- scheidung des Magnesiumsalzes durch den Harn. Bedenkt man ferner, dass die abgesetzte Extremität des vergifteten Tieres nach Abklingen des Shocks elektrisch gereizt kräftige fibrilläre Zuckungen erstehen lässt, so beweist dies die periphere Natur der fibrillären Zuckungen. Das Tetra-hydro-Atophan hat somit eine centrale und periphere erregende Wirkung. Die einzelne Muskelzuckung, myographisch verzeichnet, ist von der normalen nicht unterschieden. Eine Analogie mit der Myotonia congenita besteht nun darin, dass kleinere spontane Bewegungen krampflos verlaufen, während auf gröbere Impulse .der Tetanus ausbricht, ferner dass der Krampf von einer Periode gefolgt ist, wo die Bewegungen scheinbar wie normal verlaufen, um aber nach einer kurzen Erholungszeit wieder krampfartig zu werden. Auch beim Warmblüter wird ein stundenlang andauernder latenter Krampfzustand bedingt, der erst auf kräftige, äussere Impulse zu Dauerstreckung, Opistotonus, Nystagmus, führt. Acetyliert man das Tetra-hydro-Atophan, dann geht die spinale Wirkung verloren, ohne dass die bekannte harnsäure- treibende Wirkung am Menschen auftritt. Oxydiert man das Tetra-hydro-Atophan, so wird unverändertes Atophan regeneriert. Reduciertt man das Salicylatophan, das Hexophan, oder das 6-Oxyatophan, so werden trotz eintretender Reduktion keine homolog wirksamen Stoffe erzeugt. Brunner und Skita!) berichten auch von der Existenz eines Deka-hydro-Atophans, dessen Untersuchung noch aussteht. Die Hydrierung, d. h. die Lösung doppelter Bindung, ist bei 1) Ber. Ber. 1916, Bd. 49, S. 1597. 128 Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. organischen Basen von wesentlichem Einfluss, doch durchaus nicht in einheitlichem Sinne, vielmehr bald fördernd, bald hemmend. Die fibrillären Muskelzuckungen des Deka-hydro- Atophans erinnern an eine homologe Wirkung des Guanidins, die jedoch unterschiedlicherweise auch bei Eintauchen des isolierten Muskels in Guanidinlösung hervorrufbar sind, was bei Tetra-hydro-Atophan nicht der Fall ist. Die beschriebenen spinalen Wirkungen fordern zu klinischen Versuchen auf, die bereits von berufener Seite in Angriff ge- nommen sind. Druck von L. Schumacher in Berlin N. +. sehlsische sellschaft für valeländische Gut. ER), BET 94. N Aokenluns: Jahresbericht. ‘ Medizin. 1916. b. Hygienische Sektion. Oi BR >,9 Sitzungen der hygienischen Sektion im Jahre 1916. Sitzung vom 6. Dezember 1916. 1. Hr. Pfeiffer: Ueber Schutzimpfungen gegen Cholera und Typhus, Vortragender gibt zunächst eine geschichtliche Uebersicht über die Entwicklung derSchutzimpfung gegen Cholera und Typhus, die wirin grossem Umfange seinen Versuchen und Vorschlägen verdanken. Man verwendet jetzt Bakterien, welche auf 54—56 Grad abgetötet sind. Eine Auswertung der immunisatorischen Wirkung der Bakterien erfolgt am besten durch die Feststellung der Dosis immunisatoria minima. Es gelingt nicht, die giftige Komponente von der immunisatorischen Komponente zu trennen, es ist vielmehr die Immunisationswirkung an das Vorhandensein der giftigen Substanzen gebunden. Es ist daher ein unerfüllbarer Wunsch, gänzlich ungiftige Impfstoffe zu erzielen. Bei der Erörterung über die Gewinnung des Impfstoffes erwähnt der Vortragende, dass seine Wirksam- keit nach 6 Monaten unsicher werde. Wichtig ist, die Impfstoffe aus möglichst frischen Kulturen und wenn möglich, gleichzeitig aus mehreren Stämmen herzustellen. Die Wirkung der Schutzimpfung bei Typhus wird durch eine möglichst häufige Wiederholung derselben erhöht. Aus Gründen, wie sie der Krieg gezeitigt hat, hat man sich bei Typhus auf drei Impfungen geeinigt, die mit einem Intervall von etwa einer Woche erfolgen. Die Impfungen rufen lokale und allgemeine Reaktionen hervor. Die lokalen Reaktionen bestehen aus Schmerzhaftigkeit der Impfstelle, Schwellung und Rötung derselben, auch können mitunter die regionären Lymphdrüsen an der Reaktion beteiligt sein. Die allgemeine Reaktion verläuft im allgemeinen leicht, indem meist nach 18—24 Stunden das Fieber abgelaufen ist. Es kommen iedoch Fälle vor, in welchen man 2—3tägiges Fieber beobachten kann. Die Schutzimpfungen haben ein- wandfrei nur Nutzen gebracht. Die von Wright erwähnte „negative Phase“, d. i. eine Steigerung der Empfänglichkeit gegenüber Infektionen in der ersten Zeit nach der Impfung, existiert nicht. Erkrankungen nach der Impfung sind auf Infektionen zurückzuführen gewesen, welche bereits vor dem Einsetzen der Schutzimpfung stattgefunden haben. Die Impfungen wurden trotz der erschwerenden Umstände ausnahmslos gut vertragen. Unter den Millionen Impfungen wird nur ein einziger Todes- fall angeführt, der aber auch nicht einwandfrei auf die Impfung zurück- zuführen ist. Auch die sogenannte Schützengraben-Nephritis ist, wie jetzt feststeht, mit Unrecht auf die Impfung zurückgeführt worden. Es ist daher die Impfung als völlig gefahrlos zu bezeichnen. Die Erfolge Schlesische Gesellseh. f. vaterl. Cultur. 1916. 1. > Jahresbericht der Schles. Gesellschaft für vaterl. Cultur. der Typhusschutzimpfung sehen wir in der ausserordentlichen Herab- setzung der Erkrankungsziffer und in dem erstaunlich leichten Verlauf der Erkrankung in denjenigen Fällen, die trotz der Impfung Typhus erwarben. Schwerere Fälle sah man nur bei Leuten, die nicht regel- mässig geimpft waren, oder bei denen die Impfung schon längere Zeit zurücklag. Es werden daher die Impfungen 2mal im Jahre wiederholt und es gelingt so, des Typhus im Heere gänzlich Herr zu werden. Dieselben Tatsachen gelten auch für die Choleraschutzimpfung, über welche der Vortragende gedern eigene Erfahrungen im Felde nicht sammeln konnte. 2. Hr. Scheller: Zur Frage der Bacillenträger. Der Vortragende erörtert die Verhältnisse, die während des Krieges zu einer Steigerung der Morbiditäts- undMortalitätskurve bei der Diphtherie geführt haben. Der Hauptgrund liegt darin, dass entweder nicht oder zu spät ärztliche Hilfe in Anspruch genommen wird. Die Einwirkung dieses Faktors ersieht man aus dem verhältnismässig schweren Verlauf der Diphtheriefälle in den Kliniken und Polikliniken im Gegensatz zu dem leichten Verlauf der Fälle in der Privatpraxis.. Der Grund für diese Verhältnisse liegt nicht so sehr an einer mangelhaften Versorgung der Bevölkerung mit Aerzten, sondern wir müssen hierfür einerseits die mangelnde Entschlussfähigkeit der Mütter haftbar machen, andererseits auch das Verhalten vieler Aerzte, welche leichte bzw. atypische Diph- therien trotz positiven Bacillenbefundes nicht als Diphtherie zu be- trachten und zu behandeln gewillt sind. Andererseits ist auch der Um- stand, dass jetzt mehr Kinder in Krippen usw. untergebracht sind, bestimmend gewesen für die Steigerung der Morbiditätskurve, jedoch wird diese Steigerung der Morbidität wett gemacht durch die vorzügliche Beobachtung und frühzeitige Behandlung dieser Kinder. Gegen eine allgemeine prophylaktische Anwendung von Diphtherieserum in Epidemie- zeiten spricht die kurze Wirksamkeit des Serums und der Umstand, dass eine beliebig häufige Wiederholung der Serumbehandlung nicht angängig ist. Hingegen wird die prophylaktische Heilserumanwendung mit Erfolg in Fällen angewendet werden können, wo eine Ansteckungsgefahr zeitig begrenzt ist, so z. B. in geschlossenen Anstalten, unter Umständen auch in Familien. Besonders wichtig für. die Diphtheriebekämpfung ist die Ausmerzung der Baeillenträger. In den geschlossenen Anstalten hörten die Epidemien mit dem Momente erst auf, wo sämtliche Bacillenträger ausgemerzt waren und zwar in allen Anstalten zu verschiedenen Zeiten parallel gehend mit dieser Maassnahme, in allen Anstalten aber noch zu Zeiten, in welchen in der übrigen Bevölkerung die Diphtherieepidemie weiter herrschte. Als besonders wichtig hat sich hier erwiesen, alle Zu- gänge an Beamten und Pflegepersonal und an Kindern vor ihrem Eintritt in die Anstalten auf das Vorhandensein von Diphtheriebaeillen zu unter- suchen. Ebenso konnte unter anderen in einem Ersatz-Bataillon trotz strengster Durchführung der mannigfaltigsten Maassnahmen eine Diphtherie- Epidemie erst dann zum Stillstand gebracht werden, nachdem sämtliche Bacillenträger ausgemerzt waren. Die Epidemie kam zum Erlöschen ohne Schlussdesinfektion. Die Diphtherie ist klinisch keine einheitlich verlaufende Erkrankung. Es ist notwendig, auch leichte und leichteste Fälle der bakteriologischen Untersuchung zuzuführen und bei positivem Befunde ebenso zu handeln, wie die schwersten Diphtherien. Der Vor- tragende fand bei ausgedehnten Untersuchungen, dass Kinder und Er- wachsene, die nach oftmaligen Untersuchungen des Rachenausstriches Diphtheriebaeillen frei befunden waren, nach ihrer Entlassung aus dem Krankeuhaus wiederum Bacillenträger waren. Dieser Umstand führte | | | f. Abteilung. Hygienische Sektion. 3 ihn dazu, in ausgedehntem .Maasse Nasenuntersuchungen bei Rachen- diphtheriekranken und -Reconvaiescenten durchzuführen. Das Resultat war, dass mit: grosser Regelmässigkeit bei den Erkrankten und den Ge- nesenen in der Nase Diphtheriebaecillen festgestellt werden konnten, während bei den an Rachendiphtherie Genesenen die positiven Befunde bei dem Rachenmaterial nicht so regelmässig waren. Der Vortragende kommt zu dem Schlusse, dass die Nase nicht nur Bedeutung für die Entstehung der Diphtherieinfektion hat, sondern dass auch die Haupt- einnistungsstelle für die Diphtheriebacillen die Nasenhöhle ist. Von hier aus kommt es bei thermischen oder mechanischen Schädigungen immer wiederum zur Rückwanderung der Diphtheriebacillen in die Rachenhöhle. Es ist daher die Untersuchung der Nase in allen Fällen von Erkrankungen an Diphtherie auch an Rachendiphtherie während und nach der Er- krankung zu fordern. Die Entkeimung der Diphtheriebacillenträger muss nicht nur den Rachenraum, sondern auch in erster Reihe die Nasenhöhle betreffen. bi ARE SR, = Einzelne Schriften. An Zwei Reden, gehalten von dem er ee Müller und Prof. des Stiftungstages der Gesellschaft zur BamapeRa, der ‚Naturkunde und R an am 17. Dezember 1804. 80, 48 Seiten, ’ s, An die Mitglieder der Gesellschaft zur Beförderung ar Naturkunde und sämtliche Schlesier, von Rector Reiche, 1809. 48%. 32 Dre N i NER Oeffentlicher Aktus der Schles, Gesellschaft £, vaterl. Cultun, genatten am 19, Dezbr. ihres Stiftungsfestes, 80, '40 8. Jo h. ai eorge Thoma 5, Handb. der Literaturgesch. v. Schlen, 1824. ‚Die schles, Bibliothek der Schles, Gesellschafl v.R6 Nora Denkschrift der Schles. Gesellschaft zu ihrem 50jähr. Bestehen, entha Ge een er BEINE zur RE und ‚Geschichtsku de ‚Schl ns, 18 afe 40, 282 ° Dr. J. A. Hoennicke, Die Mineralquellen der Provinz Schlesien. 1857, ©. Dr. J.G. Galle, ‚Grundzüge der schles. Klimatologie, 1857. 4, 127 de H Dr. H. Lebert, Klinik des akuten Gelenkrheumatismus, Jubiläum des Geh. San.-Rats Dr, Ant. Krocker, us, © Dr. Ferd. Römer, Die fossile Fauna der silurischen Diluvia Schlesien, mit 6 lithogr. und 2 Kupfer-Tafeln. 1861. 4%. 708. Lieder zum Stiftungsfeste der entomologischen und botanischen Sektion der Manuskript gedruckt. 1867, 8. 28. - 5 : ‘Verzeichnis der in den Schriften der Schles, Gesellschaft von 1801-180 inkl enthalte . alphab. Ordnung von Letzner. 1868. 80%, BE Fortsetzung der in den Schriften der Schles. Genen La für va rl. enthaltenen Aufsätze, geordnet nach den Verfassern- in alphab General-Sachregister der in den Schriften der Schles. ‚Gesellschaft “ inel. enthaltenen Aufsätze zeordnet in alphab. Folge von Dr. Die Schlesische Gesellschaft für vaterländische Cultur L Dia ; 1 der Gesellschaft (149 8.). Breslau 1904. Dr. Riehard.Foerster, Johann Christoph Handke’s Salbeibiographic, F Jubiläum der Universität Breslau. 1911. 80. 38 S. 2. Periodische Schriften. ; Verhandlungen der. Gesellschaft f. Naturkunde u. Industrie Schlesiens. 112 S. 1806. Desgl. Bd. II, 1. Heft. 18607. . Correspondenzblatt der Schlesischen Gesellschaft für yaterländische Cul Jahrg. .; 1810, 68. _ .....| Jahrg. IH, 1812, 96 8, ‚| Jahr; IL 1811, do. - IV, 1813, Hft.1 u. 2je9%68. SEN E Correspondenz der Schles, Gesellschaft f. vaterl. Cultur. 8%, Bd. IL E Desgl, Bd. H (Heft I), 80 S. mit Abbild., 1820, i Bulletin der naturwissenschaftl, Sektion der- Schles. Gesellschaft ee 1822, ‚80 do. ‚do. do, 1-10, 1824. 80, Übersicht der Arbeiten (Berichte sämtl. Secetioner) u. Veränderungen ‚der ‚Schl. ‚Ge Jahrg. 1824. 55 Seiten 49, - en 1859, 222 Seiten 40, |Jahre. 1894, . 1825. 64 Ce 49, . = 1860. 202 =. 40%. E „1826. 65 . 40, VB ». = 1861. 1483 80.n. 'Abh. 41928. Ri 1827.70 er - 1862. 1628. 8%.n.Abh, 4168. £ > «1828. 97 . 40, \ =. 1863. 156.Seiten 8, * 1829. 72 . 40, a 1864. 2668. 80%. n. Abh, 2668. a "» 1830. 95 . 49, »...1865. 218 8.80. n,Abh. 698. | . 1831, % ” 40, e 1866. 2678.80, n. Abh. 908. . 1832. 103 . ‚40, «. : 1867.275S 8%, n. Abh. 1918. Sbst =». 1833. 106 . 40, D 1868. 300 8. 80%, n. Abh. 447 SSH =» 1834.13 » 40, . 1869. 371.8, 80, n. Abh. 2368. « 1835. 146 . 40, . 1870. 318 8. 8%. n. Abh. 858. » 1836. 157 ar N ” 1871. 357 8.80, .n. Abh.2528. | . ° 1837. 191 . - 40, . 1872. 350 8,80. n. ‚Abh. 18.1. » 1838. 184 -. 40, . 1873. 2878.80, n) Abh. ie 8 Beh "1839. 226 = 4, „1874. 294 oa 80, . 1840, 151 . 40, . 1875. 326 80, « 1841, 188 ” 49, . 1876. 394 - Se » 1842. 226 . 40, » 1877.428 °=2...80 7 : « . 1843. 272 49, nebst . 1878, 331 LE 80, £ 418. N Beob. 1879. XX, u.473 Seiten 80, » 1844. 232 Seiten = j '. 1880.XVI w231 =». ..8, . 185.15 - 0, nebst| = 1881.XVI 0.44 » 80, 52 8, lötderet Beob. = 1882. XXiV.u.432 =. 80. » 1846. 820 Seiten 40. nebst w. .1883. VI m4l8 0 . 801.00 74 8. meteorol.Beob, «1884 XLI u402 2.780 1° » 1847 404 Seiten 4°, nebst » 1885. XVI u. 444 Seiten 80. | 44 S. meteorol. Beob.| n. Erg.-Heft, 121 8, 80, « 1848. 248 Seiten 4, | . 1886. XL u. 327 Seiten’80, | s 1849. Abth. 1, 180 8. II,39S, n. Erg.-Heft 121 8. 80, | n.448, meteorol. Beob . . 1887, XLIL u. 411 Seiten 8%, | » 1850. Abth.I, 2048. II, 368. © 1888. XX u, 817 Seiten 8%, | » 1851. 194 Seiten 4, 1889. zuv: u. 287 Seiten 80, | s» 1852. 22 « 40, 2.1890. VII u. 329 Seiten 80. .„ 1853.35 « 440, N n. Erg.-Heft 2728Seit. 80, "» 1854. 288 . 4% 1 D 1891. VAl. u. 481 Seiten 89, ».:1855. 286 ®* 4, -. n. Erg.-Heft 92 Seit. 80. . 1856. 242 D 4, "© 1892. VII u. 361 Seiten 8°, =» 1857, 347 . 40, ER, n. Erg.-Heft 1608. 8%. |. « . 1858. 224 . 4,0. . 1893. VII u. 392 Seiten 80. Mitglieder-Verzeichnis in 8° von 1805 und seit, 1810 alle zwei Jahre erschienen. i . al . UNI are een PIE EEE Eh A ehERnee N] MAPRPRONTTTZZT EL: UERODERENDENT EL I. 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