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Kant.

Sechzehn Vorlesungen

gehalten an der Berliner Universität

von

Georg Simmel.

Dritte, erweiterte Auflage.

Verlag von Duncker & Humblot. München und Leipzfg 1913.

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Alle Reclite vorbehalten.

Altenburg

Pierersche Hofbuchdruckerei

Stephan Geibel & Co.

Vorwort.

Die Absicht dieses Buches ist keine philosophie-geschicht- liche, sondern eine rein philosophische. Es gilt ausschließ- lich, diejenigen Kerngedanken, mit denen Kant ein neues Weltbild gegründet hat, in das zeitlose Inventar des philo- sophischen Besitzes und wenigstens annäherungsweise wird ein solcher auch zeitlich bedingten Wesen erwerbbar sein einzustellen, unabhängig von allen Anwendungen und Ergänzungen , die zwar innerhalb des Kantischen Gesamtsystems, nicht aber nach inneren und für die Welt- anschauung entscheidenden Gesichtspunkten mit jenen Haupt- sachen verbunden sind, Wie die Kunstgeschichte zwar das einzelne Kunstwerk in seiner Entstehung begreiflich macht, die Ästhetik aber ebendasselbe nach seiner sachlich-eignen, von seiner Genesis gelösten Bedeutung und seiner unmittel- baren Wirkung analysiert, damit aber erst erweist, weshalb jene historischen Untersuchungen sich verlohnen: so sollen die Kantischen Lehren hier durch Analyse und Kritik mit den überhistorischen Lebensfragen der Philosophie kon- frontiert werden, so daß ihre Darstellung auch als eine Prüfung ihres Rechts auf Dargestelltwerden gelten könnte. Den Anspruch auf Vollständigkeit ihrer Reproduktion kann ich deshalb nicht erheben; alle Erörterungen mußten aus- scheiden, von denen mir Kants Verhältnis zu den Grund- problemen keine Beleuchtung oder besondere Nuance zu empfangen schien.

Die Darstellungsart wurde durch den Wunsch bestimmt, daß das Buch als eine Einleitung in das philosophische Denken diene. Denn die philosophische Betrachtung des Lebens, für die jede Einzelheit seiner Oberfläche in dem letzten Sinn und den Tiefen des Ganzen wurzelt, wendet es an ein selbst schon philosophisches Objekt: es sucht die Bedeutung der wissenschaftlichen und zum Teil sehr spezia-

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listischen Theorien Kants für den Sinn des Lebens; es ver- folgt die jenseits der Einzeluntersuchungen verlaufenden Fäden, die diese zu einem Weltbild verknüpfen; es will die fachmäßig-sachlichen Sätze Kants nach ihrem eigentlich philosophischen Wert darstellen, nämlich als die Antworten einer Seele von vorbildlicher Weite und Tiefe auf den Gesamteindruck des Daseins; mit einer Kantischen Formel: es möchte den „Schulbegriff" seiner Philosophie durch ihren „Weltbegriff" interpretieren.

Die hauptsächlichen Erweiterungen dieser Neuauflage gehen, in dem erkenntnistheoretischen Teil, auf die schärfere Abgrenzung der Position Kants gegen allen Psychologismus ; in dem moralphilosophischen darauf, seine ethische Wert- lehre, wie auch die Bedenken gegen sie, tiefer in den Schichten des metaphysischen Lebensbildes zu verankern.

Erste Vorlesung.

Die Beschränktheit der menschlichen Kraft und Stellung, der es nicht gegeben ist, in der äußeren Welt eigentlich Neues zu schaffen, sondern nur deren Energien und Stoffe trennend und verbindend umzuformen, setzt sich, wenn nicht gleichen, so doch annähernden Maßes in die Geschichte des Geistes fort. Denn so sehr diese ihren Stoff durch eigent- liches Schöpfertum gewinnt, so scheint sie doch von dem Streben geleitet, aus einem Minimum grundlegender Probleme und Motive ein Maximum von Kombinationen und Formungen zu entwickeln. Wie die Unermeßlichkeit von Sprache und Kunst sich aus einer erstaunlich geringen Zahl von Buch- staben, Tönen, Grundfarben entfaltet, wie alle Lyrik und Dramatik von einem ganz schmalen Bezirk unsterblicher Motive gespeist werden, so quillt die ganze Tiefe und Breite der Philosophie aus einem sehr engen Kreis beharrender Probleme. Die wirre Mannigfaltigkeit der Geschichte der Philosophie wird zugängig und sinnvoll, sobald man jene wenigen Grundprobleme des Daseins als ihr immer wieder- kehrendes Thema heraushört. Und nicht viel reichlicher als die Fragen selbst vermehren sich die Antworten, die mehr sind als ein bloßes Aneinanderkitten bereitliegender Lösungsfragmente. Die Kangordnung der Philosophen darf deshalb nur durch eines bestimmt sein: ob sie nur kom- binieren oder ob sie elementare Kategorien des Welt- verständnisses geschaffen haben. Solche besagen, ihrem Sachsinne nach, daß von den vielfachen Erlebnisinhalten, die in der bloßen Erfahrung immer als Bruchstücke auf- treten, einer so stark, in so unmittelbarer Verbindung mit den Wurzeln des Lebens empfunden wird, daß er der Grund und Sinn des Ganzen zu sein beansprucht Geist oder Materie, Sein oder Werden, Gott oder Ich, Einheit oder Vielheit, Aktivität oder Leiden, Absolutheit oder Relativität.

Simmel, Kant. 3. Aufl. 1

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Ihrem Menschheitssinne nach spricht sich in ihnen die Art aus, wie die großen seelischen Typen auf die Gesamtheit des Daseins reagieren. Unter welchen geschichtlichen Um- ständen ein individuelles Genie die eine oder die andere dieser Möglichkeiten verwirklicht hat, ist für diese Bedeutung der Philosopheme gleichgültig, sie besitzen eine ähnliche Zeitlosigkeit wie die mathematischen Sätze, die nicht dann und dort, sondern schlechthin gelten, weil sie der Ausdruck dauernder Verhältnisse der Raumgebilde sind. Nur daß diese zeitlose Gültigkeit philosophischer Lehren nicht wie die der mathematischen den Aussagen über die Dinge zukommt, sondern den Verhaltungsweisen des Geistes zam Dasein, die sich in die S a e h behauptungen der Philosophen nur kleiden. Nach ihrem objektiven Gehalt unterliegen all diese Lehren über die Materie und über Gott, über den Wert des Er- kennens und die Formen des Geschehens, über das Wesen des Schönen und die Notwendigkeiten des Sittlichen dem geschichtlichen Prozeß geistiger Wandlungen, der die Wahr- heit von heute zum Irrtum von morgen macht. Aber daß in diesen Behauptungen eine menschliche Seinsart, eine Möglichkeit des Geistes als ganzen, auf das Ganze von Welt und Leben zu antworten, sich ausdrückt das kann durch keinerlei historische Evolution abgeändert werden; in dem Maße, in dem dieser Ausdruck einer typischen Geistesrichtung rein als solcher richtig, erschöpfend, über- zeugend ist, in dem Maße ist die philosophische Lehre von zeitloser Gültigkeit', mag ihr Inhalt als Behauptung über Dinge angenommen oder als irrig verworfen sein. Nun hat natürlich für jede Epoche und jedes Individuum je eine der philosophischen Grundstimmungen eine besondere Anziehung: die Nöte der einen Zeit werden zu der Produktion oder Adoption der einen energischer treiben als zu der anderen. Aber darum bleibt die inhaltliche Bedeutung einer jeden Philosophie, der Wert der besonderen Tonart, in der sie das Leben ausdrückt, von den zufälligen Veranlassungen ihrer einzelnen Verwirklichung völlig unabhängig. Ja, von den Bedrängnissen, die uns einer Philosophie zutreiben, erlösen uns, so sehr sie selbst aus der Zeit entsprungen sein mögen, gerade nur Gedanken jener überzeitlichen Art, die gleichsam die Mitgift der Menschheit bilden, obgleich die einzelnen Stücke dieser Mitgift nur allmählich, zufällig, unvollkommen

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von der geschichtlichen Entwicklung realisiert werden. Was Kant der Gegenwart leisten kann, glaube ich ihm deshalb so am besten abzugewinnen , daß ich gegenüber aller Ver- gangenheit und Gegenwart, die ihn und seine Wirkung bestimmt, die zeitlosen Elemente hervorhebe, jene Fragen und Antworten, deren Bewußtwerden in einem geschicht- lichen Momente nur einem zufällig aufflammenden Lichte gleicht, das einen bereitliegenden Zug und Typus der Menschheit sichtbar macht. Darum muß für unsere Zwecke die Form seiner eigenen Darstellung völlig zerbrochen werden, als das durch seine Zeit und seine Persönlichkeit stilisierte Gefäß eines Inhalts, der nur nach seiner Bedeutung jenseits dieser beiden uns hier angeht.

Es ist ferner ersichtlich, daß wir aus demselben Grunde auf die Erzählung seines äußeren Lebenslaufes zu verzichten haben. Gewiß ist es für Verständnis, Reiz und Fruchtbar- keit einer philosophischen Weltanschauung höchst wichtig, daß ihre Teile nicht einfach nebeneinanderliegen wie die Länder eines Weltteils, sondern vermittels der dahinter- stehenden Einheit der schöpferischen Persönlichkeit selbst als eine organische Einheit wirken. Allein diese Persön- lichkeit ist nicht der reale historische Mensch, sondern ein ideelles Gebilde, das nur in der Leistung selbst lebt, als Ausdruck oder Symbol für den sachlichen, inneren Zusammen- hang ihrer Teile. Die Züge eines Porträts werden trotz ihres bloß räumlichen Nebeneinander zu einer Einheit zu- sammengehalten durch die Seele, zu deren Ausdruck sie zusammenwirken; ob aber diese Seele, für deren Vor- stellung doch schließlich nur jene Züge selbst zur Verfügung stehen, die des wirklichen Modells ist, oder ob dieses eine ganz andere, seinen Zügen gar nicht ent- sprechende Seele besitzt, das ist für das Kunstwerk und seinen Genuß völlig gleichgültig. Genug, wenn die Züge, wie sie sich der Anschauung bieten, uns eine Seele nachfühlen lassen, die ihnen den Dienst der Vereinheit- lichung leistet. So ist die Seele des Philosophen, die wir zur Vereinheitlichung seiner Äußerungen brauchen, nur eine Funktion dieser Äußerungen selbst, nur das Symbol ihres Zusammenhanges und in einer ganz anderen Sphäre gelegen, als die historisch-psychologische Wirklichkeit des philosophierenden Menschen.

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Die Übersciiätzung des äußeren Lebens verwechselt die Entstehung einer Philosophie mit dieser Philosophie selbst. Daß Kant gerade diese und keine andere Lehre ausgebildet hat, würden wir psychologisch verstehen, wenn die Genesis seines Seelenlebens uns vollständig offenbart wäre, die noch da^u oft, kläglich genug, mit den Lebens- „Umständen", d. h. mit dem verwechselt wird, was nur um das Leben herum- steht, ohne sich irgendwie mit seinen innersten Bewegtheiten und dem Fatum seines Charakters zu decken; aber der sachliche Zusammenhang und die Bedeutung dieser Lehre fordert eine ganz andere Art und Richtung des Verstehens, wie die Beurteilung eines Gerätes nach seiner Brauchbar- keit und Schönheit völlig unabhängig von der Kenntnis der technischen Handgriffe ist, durch die dem Verfertiger seine Herstellung gelang. Gerade nur das Werk Kants ist die „Persönlichkeit" Kants, da er nur in ihm der ganz Einzige und Unverwechselbare ist, keineswegs aber in seinen so- genannten persönlichen Lebensverhältnissen, deren Qualitäten er mit Unzähligen teilt, die also das eigentlich Unpersönliche am Menschen sind.

Indem ich diese also schlechthin übergehe, weil sie zu der sachlichen oder weltgeschichtlichen Bedeutung seiner Lehre, auf die allein es uns hier ankommt, nicht das ge- ringste beitragen, so beginne ich die Darstellung doch mit einem sozusagen persönlichen, aber eben keioeswegs bio- graphischen Momente, das einen Gesamtzug der Lehre aus- macht.

Die übliche Auffassung der Kantischen Philosophie stellt sie als eine Untersuchung der menschlichen Seelenkräfte dar, deren Ergebnis der Wirksamkeit und Bedeutung des Intellekts nach drei Seiten hin Grenzen setzt. Zuerst nimmt sie ihm sein naiv behauptetes Recht, die Dinge jenseits der Sinneswelt zu erkennen : die Existenz Gottes, die Unsterb- lichkeit der Seele, die sittliche Freiheit, den Sinn und Zweck des Weltganzen, der hinter seinem Mechanismus steht. Zu diesem Überempirischen schlägt vielmehr nur der moralische Wille des Menschen eine Brücke; denn damit unsere Moral nicht ein fragmentarischer Ansatz, zusammenhangslos mit dem Dasein überhaupt, bleibe, bedarf sie solcher Ergänzungen und Befriedigungen, die aber empirisch, d. h. durch den Verstand, nicht auffindbar sind. Die zweite Entrechtung des

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Intellekts zugunsten des Willens vollzieht der Wert des Lebens. Aus den Funktionen des Intellekts, die doch nur auf ein Erkennen von Gegebenem gehen, kann unser Da- sein keinen Wert gewinnen; sondern nur durch diejenigen Energien, mit denen wir Herr über den Stoff der Dinge sind. Unser Leben kann keinen anderen Wert haben, als den wir selbst ihm geben; und das vermögen wir nur im praktischen Wollen, nicht durch das Erkennen, dessen In- halte und zu dem die Fähigkeit uns von uns abhängig gegeben ist. Endlich, als Gegenstand des Erkennens gilt ihm ausschließlich die sinnliche Erscheinung der Dinge, nur ihr Bild in uns, niemals ihr inneres, für sich, selbst existierendes Sein. Nur an einem Punkte ist uns ein solches zugängig, in unserem Handeln, das nicht aufnehmend, sondern schöpferisch, d. h. frei ist. Nur also wo wir handeln, sind wir wirklich wir selbst, während wir schon da, wo wir uns selbst erkennen wollen, ein bloßes Bild unsres Seins ergreifen. Damit scheint also die entscheidende Geistes- richtung, die in dem Kantischen System lebt, ihr zentrales Interesse nicht dem Denken, sondern dem Wollen zuzuwenden. Und so hat man, radikaler oder zaghafter, Kant diese an sich höchst interessante Grundtendenz imputiert: die gedanken- mäßige Bearbeitung des Daseins, nicht um der Gedanken willen, sondern weil das praktische Tun, wie er es für die objektive Hauptsache des Lebens erklärt, auch das subjektive Interesse sei, das als letzte Instanz sein Denken dirigiert.

Dies erscheint mir nun völlig irrig. Kant und sein System sind völlig intellektualistisch, sein Interesse, wie es aus dem Inhalt seiner Lehre hervorleuchtet, ist: die für das Denken gültigen Normen als auf allen Lebens- gebieten gültig zu erweisen. Seine Philosophie wird ganz und gar dadurch gefärbt, daß ihr keine Leidenschaften oder Gefühle, ich möchte sagen keine Instinkte, zugrunde liegen, wie es bei Plato und Epikur, bei Plotin und Bruno, ja, für genaueres Hinhören auch bei Spinoza und Hegel der Fall ist, von Fichte und Schopenhauer zu schweigen.

Es ist eine Philosophie aus dem Verstände heraus, freilich aus einem vollendeteren Verstände, als der des früheren Rationalismus war. Die Macht des logischen Denkens zeigt sich hier um so souveräner, als sie nicht den haltlosen rationalistischen Versuch wiederholt, die

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änderen Seelenenergien von vornherein zu verdrängen. Die Selbständigkeit des Gefühls , die das Leben beherrschende Macht des Willens wird anerkannt. Und nun erst greifen die vernunftmäßigen Normen der Logik ein und bestimmen von sich aus Sein und Wert jener. Es ist der äußerste und raffinierteste Triumph der begrifflich-logischen Geistigkeit, daß sie den sittlichen Willen allein über den Wert des Menschen entscheiden läßt, dann aber die Sittlichkeit des Wollens allein durch eine logische Norm bestimmt. Ich muß noch kurz bei dieser allgemeinen Charakteristik ver- weilen, obgleich sie vorläufig unerwiesen und ein bloßes Schema ist. Sie soll nur den allgemeinen Stimmungsrahmen geben, der die Inhalte, die ihn allmählich erfüllen und er- weisen werden, gleich ihren richtigen inneren Platz finden läßt.

Die unnachläßliche Strenge seiner Moral stammt aus seinem logischen Fanatismus, der dem gesamten Leben die Form mathematischer Exaktheit aufdrängen möchte. Die großen Morallehrer, bei denen der Quellpunkt der Lehre in der ausschließlichen Wertung des Sittlichen lag, waren durchaus nicht von der gleichen Rigorosität : weder Buddha noch Jesus, weder Mark Aurel noch der heilige Franziskus. Es ist erst später zu untersuchen, ob Kant nicht etwa zu dieser Intoleranz der sittlichen Forderung berechtigt ist; und hier nur zu betonen , daß sie diesen Charakter nicht von einer auf das Praktische, sondern auf das Logisch- Begriffliche gestellten geistigen Lebenstendenz zu Lehen trägt.

Damit stimmt durchaus zusammen, daß Kant, in dem das ethische Interesse angeblich das theoretische so weit über- ragt, nur die alltäglichsten und sozusagen gröbsten Vor- kommnisse des sittlichen Lebens sich zum Problem macht. Was an den Tatsachen des Sittlichen den allgemeinsten Be- griffen zugänglich ist, behandelt er mit unerhörter GVöße und Schärfe. Aber alle tieferen und feineren Fragen der Ethik, die Zuspitzungen der Konflikte, die Komplikationen des Empfindens, die dunklen Mächte in uns, deren sittlicher Bewertung wir so oft ratlos gegenüberstehen, alles das scheint er nicht zu kennen: ebenderselbe, der in der Beob- achtung der D e n k tätigkeit des Menschen zu den tiefsten, feinsten, raffiniertesten Funktionen hinabdrang. Die Phan- tasielosigkeit und Primitivität in den sittlichen Problem- stellungen und die Verfeinerung und Schwingungsweite in

den theoretischen beweisen, daß nur die Durchdringbarkeit durch das logische Denken für ihn entscheidet, was in sein philosophisches Denken eintreten darf.

Wenn man es neuerdings vielfach abzustreiten sucht, daß Kants Philosophie rein aus dem intellektuellen Zentrum herausgewachsen ist, so liegt das an der gegenwärtig auf- kommenden Reaktion gegen den Intellektualismus, der das europäische Leben beit dreihundert Jahren beherrscht. Er zeigte sich einerseits an der neuzeitlichen Bedeutung der Wissenschaft, und zwar nicht nur an ihrer tatsächlichen Entwicklung, sondern noch mehr an dem Glauben an sie, an die Vollkommenheit des Lebens, sobald vollkommene Wissenschaft es beherrschen könnte, ein Glaube, der unter den Entgegengesetztheiten des Liberalismus und des Sozialismus gleichmäßig wächst. Andrerseits, in der Praxis, bezeugt die durchgedrungene Geldwirtschaft die Herrschaft des intellektuellen Prinzips : die rücksichtslose Folgerichtig- keit, die Ablehnung aller gefühlsmäßigen Subjektivität, die prinzipielle Zugängigkeit für einen jeden, dies sind ebenso Charakterzüge der Geldwirtschaft der Neuzeit wie ihrer Intellektualität. Und eben dieser Intellektualismus hat in Kant seinen Gipfel gefunden, so sehr der allmählich wachsende Überdruß an jenem dies leugnen möchte. Man könnte sagen, der unvergleichlich persönliche Zug der Kantischen Philosophie wäre ihre unvergleichliche Unpersön- lichkeit. Analog der unparteiischen Stellung der Logik über allen einseitigen Inhalten des Vorstellens erhebt sich seine Philosophie mit der unberührbaren Kühle des Richters, für den nur das Gesetz und die Logik existiert, über all den- jenigen Philosophien, in denen sich die partikularen mensch- lichen Triebe ausgestalten. Freilich ist die Unparteiischkeit selbst wieder ein, wenn man will, einseitiger Trieb, wie die Intellektualität, die, mit ihrer ausgeglichenen Ruhe, über die anderen Seelenenergien sich erhebt und schließlich doch nur eine neben diesen ist. Ich zeige dies nun an der historisch- sachlichen Stellung der Kantischen Philosophie gegenüber andren philosophischen Hauptrichtungen.

Die beiden Weltanschauungen, denen sich die Kantische ausdrücklich entgegenstellt, werden als Rationalismus und Sensualismus bezeichnet. Beiden ist eigentümlich, daß sie die Wertung einer unsrer Erkenntniskräfte in ihren Mittel-

punkt stellen und von hier aus die Beschaffenheit der ob- jektiven Welt festlegen. Damit unterscheiden sie sich, wenn auch mit mancherlei Übergängen, von den von vornherein metaphysischen , die in umgekehrter Richtung bestimmen : die Welt ist so und so, also kann nur dieses und dieses Erkenntnismittel, das gerade eine solche Beschaffenheit auf- faßt, das allein gültige sein.

Das Wesen des Rationalismus ist die ausschließliche Wertung des logisch-begrifflichen Denkens gegenüber der Erfahrung durch Sinneseindrücke. Diese Verabsolutierung einer unsrer Wesenskräfte hat eine dreifache, die Welt- anschauung bestimmende Folge. Er stell s. Unsere Er- kenntnis der Dinge hängt nicht von unsrer Beziehung zu den Dingen ab, sondern wird durch die Denkbewegungen innerhalb unsres Geistes erzeugt. Aus den Begriffen der Dinge, die das Denken selbst erst gebildet hat, entwickelt es selbst weiterhin alle Wahrheit über die Dinge, eine Souveränität des Geistes, die damit bezahlt werden muß, daß die sinnlich gegebenen Erkenntniselemente entweder zu rein gedanklichen umgedeutet oder als täuschende und wertlose ausgeschaltet werden müssen. Zweitens. Wenn unsere Erkenntnisse wahr sind, auch ohne von sinnlicher Erfahrung erzeugt oder bestätigt zu sein, so können sie sich ohne weiteres auf solche Gegenstände erstrecken, die sich aller sinnlichen Wahrnehmbarkeit prinzipiell entziehen, auf Gott und die Unsterblichkeit, die Struktur des Weltganzen und das metaphysische Wesen der Dinge. Und nicht nur die Gegenstände, sondern auch der Sicherheitsgrad des Er- kennens muß über das, was Erfahrung leistet, hinausgehen können : entwickelt sich jedes oder wenigstens das wertvolle Erkennen aus dem bloß logischen Denken, so muß ihm die unbedingte Sicherheit und Notwendigkeit der logischen Normen eigen sein, während alle Erfahrung nur eine relative und korrigierbare Wahrheit gewährt. Drittens. Wenn dieser Wert des reinen Denkens gelten soll, so muß die objektive Wirklichkeit die dementsprechende Struktur be- sitzen. Das heißt zunächst, daß die metaphysischen Objekte, auf die das sich selbst überlassene Denken schließt, auch wirklich existieren: Gott, die Seele, die Freiheit oder, je nach der Richtung des Denkens, die Unfreiheit des Menschen, ein übersinnlicher Zusammenhang der Dinge usw.

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Dazu aber kommt dies. Die Vernunft der Dinge bedeutet doch nicht nur, daß sie logisch richtig beschaffen sind, sondern daß sie einen Sinn haben, den wir billigen, einen Zweck, der uns befriedigt. Die Vernunft, die das Prinzip der Welt ist, weil sie das Prinzip der Welterkenntnis in uns ist, bedeutet, daß die Welt in demselben Sinne ver- nünftig, wertvoll, zweckvoll ist, wie das Leben eines „ver- nünftigen" Menschen.

Ganz entgegengesetzt nun sieht Subjekt und Objekt des Erkennens für den aus, dessen geistiges Wesen sich um die Sinnlichkeit als Achse bewegt. Das Lebensgefühl, das allem philosophischen Sensualismus zugrunde liegt, ist die Ab- hängigkeit des Subjekts von der gegebenen Welt, sein Be- stimmtsein durch die Elemente, in die es verflochten ist. Er enthält in seinen Fundamenten eine Resignation, zu der das praktische Genießen und Einschlürfen der Dinge, wie er es gelegentlich lehrt, keinen Widerspruch, sondern gerade eine Ergänzung und seelische Balancierung darstellt. Der Sensualismus glaubt die Unmittelbarkeit des Daseins in der Reaktion zu ergreifen, mit der die Sinne auf dieses Dasein antworten. Damit ist zunächst die Erkenntnis durch bloßes Nachdenken und logische Entwicklung der Begriffe abgelehnt und die Erfahrung als das einzige Erkenntnismittel prokla- miert. Dies legt dem Erkennen zwei Beschränkungen auf: einmal den Verzicht auf alles Metaphysische ; weder von Gott noch von dem verborgenen Wesen der Dinge noch von dem Sinn und Zweck des Weltganzen gibt es eine Erkenntnis. Und die der andren Dinge besitzt keine unbedingte Sicher- heit und Notwendigkeit, denn sie ist auf die einzelnen Dar- bietungen der Wirklichkeit angewiesen und kann niemals über sie hinausgehen zu Begriffen und Gesetzen, welche auch die künftigen Erfahrungen festlegten. Da wir vielmehr auf diese warten müssen, so ist nicht die geringste Garantie dafür gegeben, daß nicht die morgige Erfahrung von der heutigen völlig abweicht; alle allgemeinen und gesetzlichen Zusammenhänge gelten nur mit Vorbehalt und auf Widerruf. Aus diesem Verhalten des Geistes folgt für das der Objekte, daß der Sensualismus geneigt sein wird, die Existenz alles Transszendenten in Abrede zu stellen. Das absolut Unerkenn- bare ist für uns so viel wie Nichts. Die gegenseitigen Wider- sprüche der metaphysischen und religiösen Behauptungen

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sind ihm ein willkommener Beweis, daß die Existenz ihrer Gegenstände in sieh widerspruchsvoll ist und nur die Gegen- stände der Erfahrung existieren. Damit entfällt zugleich der vernunftmäßige Sinn und Wert, den auch die erfahrbaren Dinge nach der Ansicht des Rationalismus über das an ihnen Erfahrbare hinaus haben.

Während ersichtlich die ganze seelische Eigenart des Individuums es für Miie eine oder die andere dieser philo- sophischen Gesinnungen bestimmt , sucht das Kantische Prinzip sich von vornherein jenseits all solcher Lehren zu stellen, mit denen sich einseitige subjektive Charakterzüge ausleben. Was ihn von jenen beiden scheidet, ist die Unpersönlichkeit und Unparteiischkeit, mit der er gegen jede von ihnen das Recht der anderen verteidigt. Aber darin liegt schon, daß die Diiferenz gegen sie sich von dem Hintergrunde vielfacher Zustimmung abhebt. Die Aus- einandersetzung dieses Doppelverhältnisses führt nun sogleich auf letzte Motive des Kantisehen Denkens.

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Zweite Vorlesung.

Mit Sensualismus und Rationalismus ist Kant gemeinsam, das gesamte Weltbild von dem Wert und der Bedeutung der Erkenntnismittel abhängen zu lassen, durch die es uns gegeben wird. Während jene beiden aber die Deutung und Rangierung dieser Erkenntnismittel durch irrationale sub- jektive Grundtendenzen entscheiden lassen (denn Annahme oder Ablehnung auch des Rationalismus erfolgt schließlieh aus seelischen Impulsen, die nicht selbst wieder rationell sind), stellt Kant sich sogleich auf einen objektiven Boden : er geht von der Tatsache bestimmter Erkenntnisse, die seinen dauernden Stützpunkt bildet, aus und fragt nun erst : welche Erkenntnismittel müssen in uns bestehen und in welcher Weise und Zusammensetzung müssen sie wirken, damit diese Erkenntnisse, nämlich die Mathematik, die allgemeine, praktisch erprobte Erfahrung, das Kausalgesetz und einige andere Axiome der Naturbetrachtung ihre unbezweifelbare Gültigkeit besitzen können? Kant gehört also nicht zu den revolutionär -radikalen Geistern, die die wissenschaftliche Wahrheit als solche zunächst einmal in Frage stellen, wie religiöse Weltanschauungen und wie Descartes, oder die die Anerkennung des gesamten vorliegenden Wissens verweigern, bis es sich metaphysischen Forderungen gefügt hat, wie es bei Hegel der Fall war. Trotzdem er also mit den meta- physischen Traumwissenschaften von Gott, Welt und Seele aufräumt, nimmt er doch die realeren Wissenschaftsinhalte als so unverrückbare Tatsachen hin, wie er in seiner Ethik das tatsächliche sittliche Bewußtsein der Menschen fraglos akzeptiert, ohne es zu bezweifeln oder umzugestalten. Seine Grundvoraussetzung ist die absolute Gültigkeit der Erfahrung, Die einzelne Erfahrung kann irren, aber das Ganze der Erfahrung, ihr Prinzip, kann es nicht. Gegenüber ver- breiteten Meinungen von dem prinzipiellen Wesen dieser

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Philosophie ist durchaus festzustellen, daß sie nicht nach der Legitimität des Erkennens überhaupt fragt, sondern jene ihr wesentlichen Erkenntnisse für dieser Frage unbedürftig hält. Darum hat auch so paradox es klingt das Problem des Irrtums als solchen Kant nicht beschäftigt, sondern nur diese und jene Inhalte bestehender Theorien, die er als irrtümlich kritisierte. Ihn erregte nicht die Problematik, die die Tatsache des Erkennens als solche der Weltstellung des Menschen einträgt, sondern die Widersprüche innerhalb des Erkennens, das er vielmehr prinzipiell frag- los hinnimmt. Erst indem er von ihm, d. h. von den Er- kenntnissen, die für ihn axiomatisch in Mathematik und Erfahrung gegeben sind, auf die geistigen Bedingungen, die Erkenntnisfunktionen, zurückschließt, die sie bilden, erhalten diese letzteren ihre Bedeutung und können nun zu Trägern und Kriterien einer Weltanschauung werden. Die Kantische Lehre, die freilich auch, wie Sensualismus und Rationalis- mus, um die Rangordnung seelischer Kräfte zentriert, ist so ein Subjektivismus, der aber nicht, wie diese, durch eine Vorliebe des Subjekts, sondern durch die Konsequenz jener objektiven Erkenntnisse bestimmt wird. So ist die Antwort auf die Frage: wie ist Mathematik und wie ist Erfahrung möglich? zugleich die gleichsam überpersönliche Lösung des Konflikts zwischen Sensualismus und Rationalismus. Diese Lösung lautet in kurzer Zusammenfassung: die Rationa- listen haben ganz recht; es gibt Erkenntnisse so allgemeiner und notwendiger Art, daß sie nicht aus der Erfahrung stammen können; sie sind nicht Erfahrung, aber die Mittel der Erfahrung: sie sind die mit dem Wesen unsres Geistes gegebenen Formen oder Funktionen, durch die wir Erfahrung bilden, die also freilich von jedem Gegenstande der Erfahrung ausnahmslos und ohne daß man ihn erst geprüft hätte, gelten müssen; denn sie sind ja die Be- dingungen, unter denen er überhaupt für uns ein Gegenstand der Erfahrung werden kann: so die Sätze der Mathematik, so das Kausalgesetz. Und die Empiristen haben auch recht : nur die Erfahrung gibt uns wirkliche, zureichende Er- kenntnis eines Gegenstandes; allein diese Erfahrung besteht nicht, wie man bis zu Kant ausschließlich glaubte, aus Sinneseindrücken, die die Dinge auf die leere, passiv auf- nehmende Tafel unsres Bewußtseins schrieben; sondern sie

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ist selbst schon ein Produkt der Sinne und des Verstandes. Die Sinne geben das rohe Material, den isolierten, sinnlosen, vorüberfliegenden Eindruck, der erst durch jene verstandes- mäßigen Kräfte zur gültigen, objektiven Erfahrung geformt werden muß. Wir' bringen also schon etwas mit, wenn wir an die Dinge herantreten, um uns von ihnen empirisch belehren zu lassen : die Formen und Funktionen des Geistes selbst, die gestaltenden Kräfte, die die bloße Sinnesaffektion zu einer zuverlässigen Erkenntnis, einer verständlichen Ordnung der Dinge weiterbilden. In ewigem Flusse, der keine Stauung kennt, ziehen die Eindrücke der Sinne an uns vorbei; aber sie sind nur Momente, nur Punkte gleich- sam, und unser eigenes tätiges Bewußtsein erst stiftet die Verbindung unter ihnen, es fügt die einzelnen optischen Eindrücke zu einer räumlichen Ordnung, die zufällige Folge der Bilder zu dauernden Regeln , die wechselnden Vorstel- lungen zu einem bestimmt charakterisierten Ich zusammen. Die Gesetze, nach denen diese Verbindungen gestiftet werden, sind, wie Kant sich ausdrückt, a priori, d. h. sie entstehen nicht aus der Erfahrung, sondern sie bringen diese zustande, als die Formen des Intellekts, in welche dieser den sinn- lichen Stoff faßt.

Nun begriff aber das vom Rationalismus behauptete Rechtsgebiet der Vernunft nicht nur die Allgemeinheit und Notwendigkeit von Sätzen ein, die sich als die Formen der Erfahrung deuten lassen, sondern auch Behauptungen, die ganz über alle Erfahrung hinausgehen, weil sie entweder das absolute Ganze oder den absoluten Charakter des Da- seins angehen, da doch Erfahrung nur Unvollkommenes und Relatives zeigt, oder überhaupt hinter die Erscheinung der Dinge greifen. Diese scheinbaren Erkenntnisse der Vernunft, wie Kant ihren psychologischen Träger im Gegensatz zu dem Erfahrung-bildenden Verstand nennt, sind eben wegen ihrer Unmöglichkeit, sich mit sinnlichem Inhalt zu füllen, durch Kant als bloßer Schein erwiesen; dennoch werden auch sie in den Organismus des Geistes, dessen Produkt die für uns reale Welt ist, eingefügt. Sie sagen zwar nichts über die Dinge aus, aber sie sind die Richtung gebenden Zielpunkte, auf die hin sich unser Forschen über die Dinge bewegt, ohne sie freilich je er- reichen zu können. Einen Zweck der Natur z. B. können

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wir weder im einzelnen noch im ganzen erkennen; aber zum Verständnis der Organismen muß unser Forschen ver- fahren, als ob das vollkommenste Leben der Zweck ihres Baues wäre; zum Verständnis des Daseins überhaupt, als 0 b das moralische Vernunftwesen den Endzweck der Natur bildete; zum Verständnis der Geschichte, als ob ein Welt- staat mit vollkommener Kultur und Freiheit aller Individuen die Absicht der Vorsehung wäre.

Man hat diese von Kant unter die philosophischen Me- thoden eingeführte Kategorie des „Als ob" für die, dem menschlichen Erkennen und Handeln notwendige Fiktion erklärt, sozusagen für einen bewußten Selbstbetrug, der eine Station des Weges zum theoretisch und praktisch Richtigen wäre. Ich halte dies für eine falsche Auffassung. Indem ein Gedanke als „heuristisches" oder „regulatives" Prinzip funktioniert, hat er, der eine subjektive Idee ist, freilich die Wirkung auf uns, die er als objektive Realität haben würde. Dies kann nur als Fiktion erscheinen, weil wir ge- wohnt sind, unsre Erkenntniselemente in die harte, äußer- liche Alternative: subjektiv oder objektiv einzustellen. In Wirklichkeit gehört jenes Gebilde einer dritten, in diese beiden nicht aufteilbaren Schicht an, es ist eine selbständige synthetische Einheit beider, und die Kriterien, nach denen seine einzelnen Fälle als richtig oder irrig gelten dürfen, erwachsen aus seinem eignen, unvergleichlichen Wesen und Zweck, nicht aber aus dem des Subjektiven für sich oder des Objektiven für sich. Nur daraus, daß man den Inhalt der „Als-ob-Prinzipien" der Form und Norm des Objektiven unterstellt, gewinnt man das scheinbare Recht, ihn als „Fiktion" zu bezeichnen. Aber dieser Jurisdiktion der Ob- jektivitätskriterien, die in andern Fällen für ihn gelten mögen, gehört er eben jetzt nicht zu: Unrichtigkeit oder Täuschung ihm zu insinuieren, setzt voraus, daß man deren Gegenteil, die objektive Wahrheit, von ihm verlangt aber nicht diese, sondern nur sein Dienst für Richtung und Fortschritt der Erkenntnis oder des Handelns wird jetzt beansprucht. Das eigenständige Recht dieser regulativen Begriffe oder Prinzipien zu einer „Fiktion" herabzusetzen, ist etwa so, wie wenn man eine im nur sittlichen Interesse vollbrachte Handlung „unvernünftig" nennt, weil sie dies vom Standpunkt der ökonomischen Interessen des Han-

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/ delnden aus allerdings wäre, deren Kriterien aber jetzt gar nicht für sie in Frage kommen.

Mit diesem Gedanken, daß die überempirischen Begriffe, als Erkenntnisse der Realität selbst gegenstandslos und trügerisch, als Wegweiser für unsere Erkenntnisbemühungen eine unentbehrliche Funktion üben, mit diesem unsäglich fruchtbaren Gedanken hat Kant den Fluch der Metaphysik in Segen verwandelt. Ich gebe noch ein Beispiel. Alle philosophische Spekulation meinte die Grundsubstanz oder Grundkraft entdeckt zu haben, in der alle Mannigfaltigkeiten der Dinge ihre Einheit, alle verschiedenen Begriffe ihren höchsten, zusammenfassenden Oberbegriff fänden. Gewiß ist für unsere Erkenntniskräfte diese absolute Einheit des Daseins unauffindbar; allein neben der Illusion ihrer Ent- deckung steht ihr ganz unentbehrlicher Gebrauch als Ideal und Regulativ unserer Erfahrung ; diese darf sich mit keiner vorliegenden Diskrepanz und Fremdheit der Erscheinungen zufrieden geben, sondern muß zu jeder die tiefere Einheit suchen, als ob sie wirklich auf jenem absoluten Grunde der Dinge münden sollte, der ihr doch verschlossen ist. Unser Erkennen, das in der Vereinigung der auseinander- liegenden Erscheinungen zu immer allgemeineren Gesetzlich- keiten besteht 7 würde stillstehen, wenn es nicht durch das imaginäre Ziel einer Einheit alles Seienden seinen Weg ge- führt würde. Nun aber glaubt das Denken, die fragmentarisch gegebene Wirklichkeit gleichsam nach der anderen Seite hin zu einem absolut abgerundeten Bilde ergänzend, daß auch die Unters Chi edenh ei t der Dinge eine unendliche sei. Es gäbe nicht zwei Erscheinungen, ja nicht zwei Bruchstücke je zweier Erscheinungen, die einander gleich seien, jeder Punkt des Seins sei absolut individuell und unverwechselbar mit jedem anderen, so viel Gleichheiten unter den Dingen auch die mangelnde Schärfe unsres Erkennens uns vor- täusche. Auch diese Behauptung haben wir ersichtlich kein Recht, über das objektive Sein aufzustellen, denn innerhalb dieses findet, soweit es der Erfahrung, d. h. uns über- haupt, zugängig ist, die Unterschiedlichkeit allenthalben ihre Grenzen und macht der Gleichheit Platz. Ebenso er- sichtlich aber hat dies Prinzip volle Geltung als Leitfaden unserer Erkenntnisaktion, Denn so wenig wie wir bei den Differenzen des ersten Anblicks der Dinge Halt machen

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dürfen, sondern ihre tiefer gelegene Gleichheit und Einheit suchen müssen, so wenig dürfen wir uns bei dieser letzteren begnügen, sondern müssen unter der entdeckten Gleichheit nach immer tieferer Individualisierung forschen, dürfen jene niemals als das Definitivum behandeln, vielmehr nur als Vorstufe zu noch feineren, dem geschärften Blicke auffindbaren Besonderheiten. Was also als metaphysische Behauptungen unrealisierbar war und sich gegenseitig auf- hob : die absolute Einheit der Dinge und die absolute Indi- vidualisiertheit eben derselben, ist völlig miteinander verträglich und beherrscht in Wirklichkeit den menschlichen Erkenntnisprozeß an jeder Stelle, sobald es statt als ein Gesetz der Dinge als ein Gesetz unsres Forschens erkannt ist. Wie also der Sensualismus mit seiner Behauptung, daß es keine Erkenntnis ohne Sinneseindrücke gäbe, recht hat, wenn auch in einer ihn überraschenden Bedeutung: daß nämlich Sinneseindrücke der zwar unentbehrliche, für sich aber noch keine Erkenntnis bildende Stoff der Erfahrung sind, so hat auch der Rationalismus in einem neuen Sinn recht. Denn Begriffe, die ihre Art und ihr Maß nicht aus der Erfahrung gewonnen haben, gelten zwar ; aber auch sie nicht so, daß sie für sich Erkenntnis wären, sondern nur als die Formen, nach denen Sinneseindrücke und Einzel- erfahrungen geordnet und geleitet werden, um die tatsäch- liche Erkenntnis, die Erfahrung ist, zu gestalten.

Dieser Entscheidung zwischen Sensualismus und Ratio- nalismus ist ein Grundprinzip von höchster Bedeutsamkeit erwachsen: das wahre Weltbild entsteht durch das Zu- sammenwirken sämtlicher geistiger Energien. Die Ein- seitigkeit aller Lehren, die eine derselben auf Kosten der andren zum Träger der Wahrheit machen, ist überwunden, während die Wertung der geistigen Energie überhaupt als Quell der Welt , von der wir sprechen können , erhalten bleibt. Wenn Objektivität die Funktion hat, subjektive Ansprüche auszugleichen und sie in eine höhere Einheit jen- seits ihrer Einseitigkeiten überzuführen, so spiegelt sich die Objektivität des Ausgangspunktes, den Kant nahm, in der Objektivität dieses schließlichen und entscheidenden Ge- dankens. Diesem haben wir nun in seine Ausgestaltungen nachzugehen und im einzelnen zu sehen, wie Kant die Rat- losigkeiten des Erkennens auflöst, für die man vorher in

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der einseitigen Herrschaft seelischer Impulse Abhilfe ge- sucht hatte.

Das Grundproblem ist doch dies: wir können auf die unbedingte Sicherheit und Allgemeingültigkeit gewisser Er- kenntnisse nicht verzichten, die Mathematik, das Kausal- gesetz, die Einstellung der Erscheinungen in die Kategorien von Substanz und Eigenschaft, die Zeitlichkeit alles Daseins, sind uns tatsächlich von einer undurchbrechlichen Gewißheit für unsere sämtlichen Aussagen über die Dinge. Wie aber ist dies möglieh, da wir doch von den Dingen nur wissen, was sie uns zeigen, und deshalb nur das bereits Gegebene und den induktiven Schluß aus ihm zur Verfügung haben? Solche Gewißheit gäbe es doch nur in dem logischen Denken, solange es rein formal sich in sich selbst bewegt ; die Wirk- lichkeit aber wäre uns nur in der Erfahrung zugängig, die immer Korrekturen offen bleibt und niemals die absolute Notwendigkeit jener Gesetze ergibt. Kants Leistung ist nun hier, ein drittes, in unsrem Erkennen tatsächlich wirk- sames Element entdeckt zu haben: die Gesetze, die die Erfahrung aus den Sinneseindrücken zustande bringen ; diese sind allgemein und notwendig , aber sie sind es gerade für die Gegenstände der Erfahrung. Obgleich, oder: weil sie nicht aus der Erfahrung gewonnen sind, so beherrschen sie diese. Gewiß wissen wir nur von den Dingen , soweit sie sich uns sinnlich geben; aber nicht dadurch allein, sondern nur, wenn die sinnlichen Eindrücke sich in Formen ordnen, die in ihnen selbst nicht liegen und deren Gültigkeit für alle Gegenstände der Erfahrung darum eine ausnahmslose, von vornherein feststehende ist, weil diese eben nur durch sie zu Gegenständen der Erfahrung werden. So war gefragt worden: was bedeutet das Kausalgesetz und die kausale Verknüpfung der Dinge das Hauptkapitel der „reinen" Naturwissenschaft? Eine logische Notwendigkeit ist dieses Gesetz nicht; wir können uns eine Welt denken» in der es nicht gilt; aus Sinneseindrücken kann es auch nicht stammen, denn diese zeigen uns immer nur ein Nach- einander, niemals ein Auseinander, die kausale Verbindung ist etwas Unanschauliches, hinter den Sinnesbildern der Dinge Gelegenes. Nun beweist Kant -. selbst diejenige Auf- einanderfolge sinnlicher Erscheinungen, die wir Erfahrung nennen, wäre unmöglich, wenn nicht das Kausalgesetz vor-

Simmel, Kant. 3. Aufl. 2

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ausgesetzt wird. Die sinnlichen Eindrücke der Dinge näm- lich gleiten unter allen Umständen nacheinander durch unser Bewußtsein. Die Vorstellungen derjenigen Dinge, welche dauernd gleichzeitig, nebeneinander existieren, er- folgen als Sinneneindrücke genau so nacheinander, wie die Vorstellungen desjenigen, was auch sachlich nacheinander vorgeht. Der Sensualist, der alle Erkenntnis ausschließlich in den Wahrnehmungen bestehen läßt, würde also z, B. nicht unterscheiden können, ob ein jetzt wahrgenommener Sonnenschein und eine darauf wahrgenommene Wärme sach- lich nacheinander eingetreten sind, oder ob sie wirklich so gleichzeitig existieren, wie die Bäume eines Waldes, die ich ganz ebenso nur nacheinander wahrnehme. Hierbei würde dasjenige, was wir Erfahrung nennen, ersichtlich gar nicht zustande kommen, sondern nur ein praktisch unzuverlässiges Trugbild, eine irrlichterierende Zufälligkeit des Vorstellens, der wir freilich auch oft genug unterliegen, sie aber doch von der prinzipiell uns zugängigen empirischen Erkenntnis unterscheiden. Damit jene formgleichen Sinnenbilder die formverschiedenen Erfahrungen würden, als die sie tatsächlich für uns bestehen, müssen wir überzeugt sein, daß die Nach- einanderfolge der Wahrnehmungen in dem einen Fall not- wendig bestimmt ist, in dem anderen aber gelegentlich auch umgekehrt oder in rhapsodischem Durcheinander erfolgen kann. Auf Grund wovon diese Überzeugung von der not- wendigen Ordnung oder Verknüpftheit gewisser Wahrneh- mungen sich einstellt, ist Sache einer besonderen Unter- suchung. Kausalität aber ist nur der Name für diese Not- wendigkeit, für die Sicherheit, jene Folge jederzeit in der Erfahrung anzutreffen. Wenn wir nicht voraussetzten, daß jedes Ereignis, so oft es sich als das identische wiederholt, unweigerlich ein weiteres, immer identisches zur Folge haben wird, gleichviel ob unsere Sinne, davon abschweifend, irgend ein ganz anderes nach jenem ersten wahrnehmen, so würden wir zwar Sinneseindrücke haben, aber sie würden uns zu keiner Erfahrung verhelfen. Die sinnlich singulären Tatsachen bedürfen also für diejenigen Zwecke, auf die auch der Sensualist nicht verzichten kann , einer übersinnlich allgemeinen Voraussetzung; sie ist notwendig, d. h. die Wahrnehmungen müssen sie stets verifizieren können, auch wenn der tatsächliche Verlauf der Wahrnehmungen im Einzel-

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fall ganz davon abbiegt. Damit ist wohl eine der tiefsten Synthesen der Weltanschauung geschaffen: das notwendig Allgemeine, scheinbar ein bloßes Gedankengebilde gegenüber dem empirisch Tatsächlichen, enthüllt sich als die Bedingung dieses letzteren selbst. Aber diese Bedeutung kommt jenem Notwendigen nur zu, insofern es die Form ist, in der sich die Erfahrung ordnet ; es ist nicht denknotwendig, aus der reinen Logik ist es nicht zu beweisen , und doch notwendig, nämlich für die Erfahrung. Das ist die neue Kategorie, die Kant entdeckt hat: notwendige Begriffe und Sätze, die all- gemein gelten, nicht weil sie sich vom wahrnehmbaren Dasein abwenden, sondern weil sie sich ihm zuwenden, die von der Erfahrung unabhängig sind, aber nur deshalb, weil die Erfahrung von ihnen abhängig ist, eine Art der Verknüpfung, von der Kant mit Stolz und mit Recht sagt, daß seine Vorgänger sie sich „niemals einfallen ließen".

Dieselbe Geltungsart gewinnt Kant für die geometrischen Sätze. Die Farbenempfindung, die der Sinn allein liefert, ist noch nicht der räumliche Gegenstand, mit dem wir es in der Erfahrung zu tun haben. Vielmehr, um zu diesem zu werden, muß jenes Rohmaterial erst durch eine seelische Energie eine besondere Form gewinnen. Diese Form ist die Räumlichkeit. Wir haben die Bedeutung der letzteren als einen Angelpunkt des Kantischen Denkens nachher ein- gehend zu behandeln. Sie muß hier nur vorweggenommen werden , um die Stellung der geometrischen Sätze zu ver- stehen. Daß die Axiome der Geometrie das Wesen unsres Raumes beschreiben, heißt nichts anderes, als daß sie die Regeln formulieren, nach denen unser Geist bei der Formung unsrer Sinneseindrücke zu den Raumgebilden unsrer Er- fahrung verfährt. Der Raum, der doch nur an sinn- lichen Erscheinungen wahrnehmbar ist, richtet sich nach den Axiomen, weil durch ihre Wirksamkeit in unsrem Geist allein jene Erscheinungen zustande kommen. Die geo- metrischen Axiome sind so wenig wie das Kausalgesetz logisch notwendig, es lassen sich Räume und Geometrien denken, in denen ganz andere Axiome als die unsrigen gelten, wie die anti-euklidische Geometrie in dem Jahrhundert nach Kant nachgewiesen hat. Aber unbedingt notwendig sind sie für unsere Erfahrung, weil sie diese erst zustande bringen. Darum war es ein völliger Irrtum von Helmholtz,

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die widerspruchslose Vorstellbarkeit von Räumen, in denen die euklidischen Axiome nicht herrschen, als Widerlegung der von Kant behaupteten Allgemeinheit und Notwendigkeit der letzteren anzusehen. Denn die Kantische Apriorität bedeutet nur Allgemeinheit und Notwendigkeit für die er- fahrbare Welt, keine logische, absolute Gültigkeit, sondern eine solche nur für den Kreis empfindbarer Objekte. Unsere Geometrie gehört eben der von Kant aufgefundenen Gattung von Erkenntnissen an, die Allgemeinheit besitzen, nicht als Produkte des reinen Denkens, sondern als Bedingungen der Erfahrung; die darum nicht, wie der Sensualismus will, aus der Sinnlichkeit geschöpft sind, aber allerdings nur in der Anwendung auf Sinnlichkeit ihre Funktion, nämlich Erfahrung zu bilden, üben können. Darum würden die anti-euklidischen Geometrien die Apriorität unsrer Axiome nur dann wider- legen, wenn jemand seine Erfahrungen in einem pseudo- sphärischen Räume gesammelt oder seine Empfindungen zu einem Raumgebilde zusammengeschlossen hätte, in dem das Parallelenaxiom nicht gälte.

Es wird keiner weiteren Beispiele bedürfen , um das Wesen dieser apriorischen Sätze einzusehen, die das Nach- denken über das menschliche Erkennen aus der peinlichen und ungenügenden Alternative zwischen Sinnlichkeit und sinnenfreier Vernunft erlösten; sie sind die Träger der neuen Synthese, in der Kant die Allgemeinheit der Vernunft und die Singularität der Sinneseindrücke zusammenfaßt: in dem neuen Begriff der Erfahrung, die er als das Produkt von Sinnlichkeit und Verstand erkannte. Nun kann alle reale Erkenntnis der Dinge auf Erfahrung beschränkt werden, ohne daß die höheren Erkenntniskräfte des Menschen mit der Allgemeinheit und Notwendigkeit ihrer Aussagen dadurch deklassiert würden , da diese als die formgebenden Gesetze der Erfahrung durchschaut sind. Grade wenn man nur Erfahrung gelten läßt, muß man zugeben, daß die Be- dingungen der Erfahrung, die jeden ihrer Fälle gestalten, für das ganze Gebiet möglicher Erkenntnis mit ausnahms- loser Gewißheit gelten.

Vermöge des Idealismus so hört man vielfach Kants Absicht gedeutet d. h. vermöge der Einsicht, daß alle Gegenstände der Erkenntnis nur Erscheinungen innerhalb des, durch seine Gesetze sie bestimmenden Bewußtseins

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sind, habe er die „reinen" Wissenschaften, die Mathematik, die „reine Naturwissenschaft", die Regeln des Zeitverlaufs begründet. Nun ist er allerdings durch die Bezweiflung der notwendigen Gültigkeit dieser Erkenntnisse zu seiner Untersuchung bewegt worden. Allein schließlich war das doch nur die psychologische „Gelegenheitsursache". Denn an der Tatsächlichkeit dieses Geltens hat er im Ernst nie gezweifelt und hat diese Tatsächlichkeit als solche gar nicht zu „retten" brauchen. Was er begreiflich machen wollte, war vielmehr, daß diese unbezweifelten reinen Wissen- schaften die Erfahrung begründen. Noch einmal zeigt er sich hier als das Gegenteil des Revolutionärs. Be- zeichnet man einmal, jene Faktoren zu ihren höheren Be- griffen steigernd, die reine Naturwissenschaft, die apriorischen Formen, als das Ideelle, die Erfahrung als das Reale so hat sich doch alle Revolution immer an dem Bruch oder der Unverbundenheit zwischen dem Ideellen und dem Realen (in jedem Sinne der Worte) entzündet. Indem Kant zeigt, daß sie in jenen beiden Formen eine oder vielmehr die Ein- heit des Erkennens bilden, hat er der Revolution gerade den Boden entzogen. Ihn hierin mißzuverstehen entspricht genau dem Irrtum der Gegner des Sokrates. Daß der in der Sophistik sich aussprechende Zeitcharakter nicht mehr gestattete, die sittlichen Werte in den früheren Garantien: Autorität, Pietät, Tradition usw. zu verankern ; daß die neu aufgekommenen Geistesmächte der logischen Vernunft und der selbständig freien Prüfung diese Sanktionen entkernt hatten das sah Sokrates ein. Daß er damit jene sittlichen Werte selbst zerstören wollte das war das Mißverständnis seiner Feinde. In Wirklichkeit suchte er gerade die Syn- these: mit den neuen Denkmitteln die wesentliche, von je bestehende Moral zu fundamentieren. Sokrates war ebenso ethisch konservativ, wie Kant wissenschaftlich konservativ war. E'ür beide handelte es sich darum, die Wendung zum „Subjekt", die erkannte Bedingtheit des Seins durch die Formen und Zeugungskräfte des Geistes nicht als die Zer- störung des Objektiv-Gültigen, sondern gerade als dessen völlige, jetzt keinen Feind mehr hinter sich lassende Sicherung zu begreifen.

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Dritte Vorlesung.

Der zuletzt auseinandergesetzte, von Kant geschaffene Begriff der Erfahrung begegnet einer Reihe von Schwierig- keiten, die aber vielleicht gar nicht seiner inneren Be- deutung entspringen, sondern der noch nicht gewonnenen Zuordnung, dem noch nicht geklärten Verhältnis zu älteren, gleichfalls mit Recht weiterlebenden Begriffen und gedank- lichen Forderungen. Unter diesem Vorbehalt erwähne ich drei Schwierigkeiten gegen die Aprioritätslehre , die mir nur in abgestuften Graden lösbar, aber für das innerste Wesen der Vernunftkritik höchst aufklärend erscheinen.

Der Gedanke, daß die Beschaffenheit des erkennenden Subjekts selbst die Bedingung des Erkennens ist, daß man also von jedem erfahrbaren Gegenstande von vornherein und ohne ihn zu untersuchen diejenigen Bestimmungen aussagen kann, die die Erkenntniskräfte des Subjekts, der Prozeß des Erkennens selbst ihm aufprägt, dieser Gedanke ist zwar in seiner Einfachheit, die seine späte Entdeckung eigentlich zu einem Wunder macht , unmittelbar einleuchtend ; allein die unbedingte Gültigkeit irgendeines bestimmt formulierten Satzes folgt daraus nicht so unmittelbar, wie Kant meint. Das Apriori, das die Erfahrung in uns tatsächlich gestaltet, ist eine objektive Kraft, eine wirksame Wirklichkeit in uns, die in bewußten Begriffen und Formeln erst nachträglich ausdrückbar ist. Niemand wird behaupten, daß das Kausal- gesetz als ein bewußtes Prinzip in uns wirkte, wenn wir unsere Wahrnehmungen ihm gemäß deuten. Es verhält sich mit ihm nicht anders, als wenn wir etwa mit dem Gravi- tationsgesetz eine Wirklichkeit, die sozusagen von ihm nichts weiß und als solche ganz ungreifbar ist, in die wechselnde und unsichere Sprache unsrer Begriffe überführen. Die Formel, in der das Kausalgesetz uns bewußt wird, ist, analog jedem Naturgesetz, nur die reflektierende Deutung derjenigen

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seelischen Wirklichkeit in uns, die die Funktion der Er- fahrungsbildung real ausübt. Diese letztere also ist das wirkliche Apriori, nicht aber das begriffliche und gewußte Kausalgesetz, das nur den durch unser Bewußtsein ge- brochenen Reflex, nur die dem Irrtum unterworfene Wahr- nehmung jenes bedeutet. Wir wissen also mit vollkommener Sicherheit, daß es ein allgemein gültiges Apriori geben muß, wenn es ein Erkennen geben soll; allein dies ist ein rein abstraktes und abstrakt bleibendes Wissen, eigentlich nur ein Postulat; denn welches nun im einzelnen die Inhalte dieses Apriori sind , können wir keineswegs mit derselben Sicherheit wissen, sind hier vielmehr auf dieselbe Ungewiß- heit und Korrigierbarkeit angewiesen, von der das Apriori gerade befreit schien.

Den Umfang dieser Schwierigkeit begreift man übrigens erst richtig, wenn man sich über den Unterschied des Apriori von allen „angeborenen Ideen" ganz klar ist. Das Apriori ist die innere Bedingung der einzelnen Erkenntnisse, nicht etwa eine zeitlich vorangehende Ursache; sondern ungefähr wie man die Gleichheit der Seiten von zwei Dreiecken als die Bedingung dafür bezeichnet, daß sie einander kongruent sind. Jene Gleichheit ist doch nicht zuvor da, um nachher die Kongruenz zu erzeugen, sondern mit ihr 'zugleich ist diese gegeben, sie bedingt sie dem Wesen nach, aber sie erzeugt sie nicht dem Sein nach, wie ein für sich bestehendes Samen- korn die Pflanze erzeugt. Eine „angeborene Vorstellung", z. B, des Kausalgesetzes, würde eine solche zeitliche Prä- existenz eines seelischen Elementes bedeuten, die dann mit später hinzutretenden die Gesamterkenntnis zustande bringt. Der zeitliche Vorgang indes, so oder anders verlaufend, in dem die Erkenntnis psychologisch entsteht, ist gar nicht Kants Problem; dieses ist vielmehr die innere Struktur der sach- lichen, definitiven Erkenntnis. Indem er in dieser Elemente von verschiedener Wertigkeit findet: stabile, notwendige, begründende und flüchtigere, auf Zufälle angewiesene, formale und materiale, allgemein gültige und auf den Einzelfall beschränkte so bedient sich der Ausdruck dieser rein sachlichen Verhältnisse, schwer vermeidlich, des Symboles zeitlicher oder sogar räumlicher Anordnungen: als gingen die einen Elemente vorher und die andern folgten, als lägen die einen „zugrunde" und die andern wären

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darüber gebaut usw. Aber dies sind nur Bilder, von deren zeit -räumlicher Sinnlichkeit die gemeinten Relationen so wenig getroffen werden, wie die Wahrheit der Gleichung 2X2 = 4 dadurch, daß ein erstes Glied zuvor gegeben und das Resultat dann erst aus jenem entwickelt scheint. Würde das Apriori nur als Angeborenheit gelten, so hätte die vor- hin berührte Schwierigkeit volles Gewicht: ob etwas wirk- lich allen Menschen angeboren ist, wäre doch nur durch eine induktive psychologische Untersuchung festzustellen, deren nur graduelle Sicherheit von dem, jeder Grad-Frage fremden Apriori sehr abstäche; die Erkenntnis des absolut Gewissen wäre eine absolut ungewisse. Damit soll der metaphysische Tiefsinn der „angeborenen Ideen" nicht ge- leugnet werden. Ihre Annahme ruht auf dem Gedanken, daß die sachlich-innere Notwendigkeit eines Urteils und die Notwendigkeit, dies Urteil zu fällen, nicht auseinander- fallen können. Der leidenschaftliche Glaube an die natur- hafte Harmonie alles Seienden, der die Aufklärungszeit er- füllte, ließ sie diese Brücke zwischen dem Objektiv-Gültigen und dem Psychologischen schlagen: fundamentale Wahr- heiten seien so eingerichtet, daß jeder Geist ihrer bewußt sein müßte. Diese Brücke brach Kant ab, aber statt daß die Wahrheiten nun in den Abgrund unter ihr versanken, wie es in der Konsequenz jener Voraussetzung gelegen hätte, gab er ihnen in ihrer Bedeutung als Apriori eine feste Wohnstätte , und zwar gerade dadurch , daß er diese gegen alles Psychologische abgrenzte. Indem er das Apriori als ein inneres , sachlich bedingendes Element der als un- bezweifelbar angenommenen wissenschaftlichen Erkenntnis erfaßt, verliert es sich nicht mehr in das schwer zugäng- liche Dunkel des Angeboren-Seelischen, sondern ist durch logische Kriterien aus der Struktur jener Erkenntnisse heraus zu analysieren. Die „Allgemeinheit und Notwendig- keit" des Apriori, die psychologisch angesehen etwas Quanti- tatives ist, zeigt sich erst so als der Ausdruck für eine be- stimmte qualitative Wertigkeit von Erkenntniselementen und die Feststellung, daß dies und jenes eben ein Apriori des Wissens wäre, kann damit eine klare, sachliche, logisch zugänglichere werden. Immerhin bleibt auch so die Gültig- keit, mit der wir das Apriori feststellen, hinter der zurück, die es, seinem Prinzip nach , selbst besitzt. Denn das Er-

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kennen, das das Apriori zum Objekt hat, kann, als Er- kennen, wahr oder irrig sein, das Apriori aber, sozusagen als Subjekt, kann nicht irren, weil es ja die Erkenntnis be- dingt, also seinerseits bestimmt, was wahr sein soll wie man von absoluten Herrschern gesagt hat, daß sie nicht unrecht handeln könnten, weil ihr Handeln bestimmt, was recht sein soll.

Kant selbst freilich entgeht dieser Schwierigkeit, weil er ein Kriterium für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Formen des Erkennens zu besitzen glaubt: die syste- matische Abrundung. Er findet auf Wegen, die an vielen Stellen wunderlich und abstrus, an wenigen tiberzeugend sind, daß jene Normen, die die Erfahrung bilden, den Urteils- formen der Logik entsprechen, und konstruiert diesen analog 12 apriorische Begriffe , denen dann wieder die Grundsätze des Verstandes entsprechen. Jene 12 Kategorien zerfallen in 4 Abteilungen mit je 3 Nummern. Diese Einzelheiten interessieren uns hier nicht, sondern nur das Prinzip, daß, wenn für ein symmetrisches, in sich geschlossenes Schema die hinreichenden Ausfüllungen gefunden sind, damit der Beweis für die Richtigkeit und Zulänglichkeit dieser Aus- füllungen geführt wäre. Die Schwäche dieser Methode liegt heute auf der Hand. Ganz abgesehen von aller Ge- quältheit und Schiefheit im einzelnen, wissen wir, daß die Abrundung eines Gedankenkomplexes nach unseren Ideen von Symmetrie und Architektonik nicht die geringste Garantie für die sachliche Wahrheit oder Vollständigkeit jener Gedanken einschließt, wobei es gleichgültig' ist, ob die Wirklichkeit, die das System einfassen und nach- zeichnen soll, eine äußerliche oder eine seelische ist. Wichtiger aber als diese sehr naheliegende Widerlegung scheint es mir, die tiefere Bedeutung und Tendenz jener barocken Systematik zu verstehen.

Über den Entwicklungsgang und die definitiv be- friedigende Form unseres Erkennens entscheiden zwei sich gegenseitig ausschließende Motive, die in den mannig- faltigsten Kämpfen, Verdrängungen, Kompromissen die Geistesgeschichte durchziehen, und zwischen denen die Wahl, wie bei allen letzten Entscheidungen der Intellektualität, von den jenseits der Intellektualität gelegenen Instinkten der Gesamtpersönlichkeit ausgeht. Man kann sie als den

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systematischen und den progressiven Trieb bezeichnen. Der eine läßt uns nur soweit mit unsrem Weltbild zufrieden sein und an seine Wahrheit glauben, wie alle Einzelheiten desselben sich in einen lückenlosen Zusammenhang fügen, der nach einheitlichen Prinzipien aufgebaut ist. Erst wenn, wie in einem Organismus, jeder Teil auf jeden hinweist und dadurch ein in sich ausbalanciertes Ganzes aus den Teilen entstehen kann, darf die Erkenntnis als vollendet gelten, weil sie erst so die harmonische Einheit und die architek- tonische Struktur der Welt nachzeichnet. Natürlich ist dies ein unerreichbares Ideal, das nur in den allergrößten Zügen oder in einzelnen Provinzen des Erkennens annähernd durch- führbar ist; entscheidend ist aber eben, daß dies das Ideal ist, daß als die definitive Form des Erkennens, gleichviel ob sie ihre Ausfüllung findet oder nicht, die systematische, fertige Abrundung gilt. Ist hier das Bild des vollkommenen Erkennens ein Kreis, so läßt die andere Tendenz es einer ins Unendliche verlaufenden Linie gleichen. Sein Abschluß ist für diese nicht nur tatsächlich, wegen der menschlichen Unzulänglichkeit, sondern auch prinzipiell unmöglich. Sei es, daß die Erscheinungen selbst endlos neue Kombinationen ent- wickeln und bisher unerhörte Kräfte entbinden, sei es, daß das Verhältnis unseres Geistes zur Wirklichkeit nur in der Vermehrung und Korrektur seiner Vorstellungen ins Unend- liche sich adäquat ausdrücke, jedenfalls ist es das innere Wesen des Erkennens, niemals und nirgends abzuschließen, und die symmetrische Vollendung seines Baues ist ein Wider- spruch in sich selbst. Es ist ohne weiteres einleuchtend, daß die erstere Gesinnung sich besonders mit dem Rationa- lismus, die zweite mit dem Sensualismus vertragen wird. Die Kantische Vorstellung der von apriorischen Begriffen geformten Erfahrung bringt auch diese beiden Bedürfnisse zu einer überraschenden Synthese. Die Welt, die sich unseren sinnlichen Erfahrungen darbietet, ist freilich kein System, sie ist unübersehbar und ihre Erkenntnis geht ins Unendliche. Aber der Geist, dessen innere Struktur über- sehbar vorliegt, ist eine abgeschlossene, systematische Ein- heit, Die Welt bekommt Zusammenhalt und durchgängigen Sinn dadurch, daß die allgemeinsten Prinzipien, mit denen unser Verstand ihre Eindrücke und Erfahrungen formt die Gesetze, die er ihr vorschreibt , ein innerlich aus-

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geglichenes architektonisches System, das System unseres Geistes, insoweit er Wahrheit und Wissenschaft trägt bilden. Die Wirklichkeitserkenntnis selbst aber gleicht jener ins Unendliche zu verlängernden Linie, weil sie nicht der in sich zusammengehalteneu Innerlichkeit des Geistes allein entstammt, sondern das Produkt dieser mit den unendlich wechselnden und vermehrbaren Eindrücken der Wirklichkeit ist. Das Produkt eines konstanten und eines variabeln Faktors aber muß ersichtlich selbst variabel sein. Damit ist der Natur und der Erfahrung ihre ganze Grenzenlosigkeit gewahrt, die Gesamtheit der Wirklichkeit ist von jeder einschränkenden Systematik befreit. Und doch ist das Ganze von dem System der Erkenntniskräfte getragen, dessen Struktur alle Unermeßlichkeit der Einzelerschei- nungen umschreibt, weil es erst die Erfahrung über diese gestaltet. Der systematische Trieb, der sonst an der ob- jektiven Wirklichkeit eine täuschende Selbstbefriedigung gewann, hat sich auf den Geist zurückgezogen und überläßt jene Wirklichkeit dem Trieb des Fortschreitens.

Die Genialität dieser Lösung zeigt Kant ganz auf der Höhe seiner geistesgeschichtlichen Stellung: sein Fußpunkt ist die objektiv vorliegende Erkenntnis, die er zergliedert, bis er für ihre konstituierenden Elemente diejenige Gleich- berechtigung gefunden hat, durch die er die Einseitigkeit der von bloß subjektiven Trieben erzeugten Weltbilder auf- hebt. Dennoch werden wir heute diese Lösung nicht an- nehmen. Die systematische Geschlossenheit ist uns selbst in der Beschränkung auf den Geist noch zuviel; auch ihn glauben wir in den Fluß der Entwicklung ziehen zu sollen. Mögen in jedem Augenblick auch apriorische Normen die Erfahrung beherrschen, warum sollen nicht auch sie, die doch, unsere Naturerkenntnis bildend, von der anderen Seite gesehen selbst natürliche Wirklichkeiten sind, eine Ent- wicklung zeigen, deren kontinuierlicher Fluß sie in keinem Augenblick zu einem systematischen Abschluß kommen läßt? Und wenn es ein Zirkel ist, die Entwicklung als das dauernde Schicksal der Dinge erkennen zu wollen, während die Erkenntnis selbst sich dauernd entwickelt, so ist es einer jener unvermeidlichen fundamentalen Zirkel, in denen sich der Relativitätscharakter unserer geistigen Existenz offenbart.

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Mit der Hinfälligkeit des systematischen Zusammen- hanges, in dem jeder Teil seine Wahrheit dadurch beweist, daß er die andren zu einem einheitlichen Ganzen ergänzt, fällt zugleich der einzige Beweis dahin, daß die aprio- rischen Kräfte mit der Sicherheit und Vollständigkeit, die ihrer realen Wirksamkeit eigen ist, in das wissenschaftliche Bewußtsein gelangt seien. Es bleibt dabei, daß Kant die Allgemeinheit und Notwendigkeit, mit der die Struktur unsres Geistes unsere Erfahrungen bedingt, mit Unrecht auf die wissenschaftlichen Prinzipien übertragen hat, mit denen wir nachträglich, und sicher oft unvollständig und irrend , jene Bedingungen formulieren , und die sich der Gültigkeit dieser nur ins Unendliche annähern können. Trotz dieser fundamentalen Abweichung des modernen Denkens von dem Kantischen besitzt seine Entdeckung, daß unsere Erfahrungen von übersinnlichen , von unsrem Geist gleich- sam mitgebrachten Voraussetzungen bedingt sind, eine noch keineswegs erschöpfte Fruchtbarkeit. Kant selbst hat sie nur auf das naturwissenschaftliche Gebiet angewandt; denn sein originales Denken galt einerseits der Natur, das seelische Leben als solches und alles Geschichtliche andrerseits inter- essierte ihn nur vom Standpunkte seines sittlichen Wertes aus und war ihm an und für sich kein Gegenstand eignen Forschens. Und doch sollte die ganze psychologische und historische Welt nicht weniger auf ihre apriorischen Vor- aussetzungen geprüft werden. Man würde dann erkennen, daß, was wir geschichtliche Tatsachen nennen, so wenig das unmittelbare Erleben abspiegelt, wie die naturwissenschaft- liche Tatsache den reinen Sinneneindruck enthält, daß der Bericht des Augenzeugen ebenso wie die reproduzierende Darstellung eine Formung eines gegebenen Stoffes nach ge- fühlsmäßigen, intellektuellen, politischen, psychologischen, ethischen Kategorien darstellt. Und dies ist kein zu be- hebender Mangel und Entstellung, sondern die unerläßliche Bedingung, unter der der Rohstoff des geschichtlichen Da- seins zu einer verständlichen und sinnvollen Gestaltung in unsrem Geiste, kurz : das Geschehen zur Geschichte werden kann. Nicht anders ist es mit dem Recht, mit dem Kunst- verständnis , mit der Psychologie , mit der Religion. Die Erfahrung auf all diesen Gebieten ist keineswegs, was sie ohne die Besinnung auf Kant zu sein scheint: ein Hin-

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nehmen des Gegebeneu , ein treuer Reflex dessen , was die Wirklichkeit unsrem Bewußtsein zuführt; sondern, was Er- kenntnis sein soll, muß von uns dazu gestaltet werden, was ein Gegenstand der Erfahrung sein, soll, ist von den Formen der Erfahrung abhängig, mit denen unser Geist als mit seinem ursprünglichen Besitztum an die Wirklichkeit heran- tritt. Oder genauer: unser Geist hat nicht diese Formen, sondern er ist sie.

In der Kantischen Fassung begegnet dieser Begriff nun einer weiteren, tiefgreifenden Schwierigkeit. Die Sätze der Geometrie sind die abstrakten Formeln für diejenigen Energien, die regelmäßig unsere Sinneseindrücke zu Raumgestalten bilden. Aber Unsicherheiten , Alterationen, Täuschungen gehen doch auch hier vor sich, bei Kindern, unter ungewöhnlichen äußeren oder physiologischen Um- ständen. Ganz unzweideutig sind bei einer andren aprio- rischen Form, der Kausalität, die Fälle, in denen sie eben nicht herrscht, in denen wir, unfreiwillig, aber gelegentlich auch freiwillig, keineswegs dem Kausalgesetz gemäß denken. Wie vereinigt sich dies nun mit der Allgemeinheit und Not- wendigkeit dieser Denkformen und damit, daß unser Geist sie a priori in sich trägt und sie dadurch seinen Einzel- inhalten unvermeidlich aufprägt? Kant würde darauf sehr einfach antworten : das Apriori ist eben nur ein Apriori des Erkennens, wo wir es nicht anwenden, erkennen wir nicht, sondern vollziehen nur irgend welche subjektiven seelischen Prozesse, die aber nicht Erfahrungen sind. Nur als „an- geborene Ideen" würden sie die seelische Wirklichkeit durchgängig beherrschen können; als bloße Bedingungen der Wahrheit können und dürfen sie da nicht bestehn, wo der Geist seine Fähigkeit, zu irren, realisiert. Ob sie herrschen, hängt nicht von ihrem zeitlosen Sinn ab, der Wahrheit ist, sondern von dem Spiel unseres Vorstellungs- lebens, das sie bald aufnimmt, bald vernachlässigt. Das Apriori wird durch die Mängel seiner Anwendung so wenig seiner gesetzlichen Gültigkeit beraubt, wie durch die anti- euklidischen Geometrien, denn es ist nur ein Gesetz für die Erfahrung, aber nicht für jedes beliebige seelische Gebilde.

Dies ist durchaus richtig, aber es führt, wie mir scheint, zu einem verderblichen Zirkel. Jene Normen be- herrschen nur die' gültige Erfahrung. Aber woher wissen

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wir denn, was gültige Erfahrung ist, außer dadurch, daß wir diese Normen in ihr geltend finden? Hätten wir irgendein andres Mittel, die Wahrheit unsrer Vorstellungen festzustellen, so wäre uns geholfen ; wir könnten dann etwa beweisen, daß diese bestimmte Beschaflfenheit ihrer nur durch die Anwendung jener Grundsätze für uns erreichbar ist, und wären nun berechtigt, diese als Bedingung der Er- kenntnis zu proklamieren. Für die populäre Meinung be- steht freilich eine solche Doppelheit der Wege zur Wahr- heit : das Nachdenken und der sinnliche Augenschein ; diese, unabhängig voneinander verlaufend, bestätigen sich gegen- seitig und legen jeden Punkt, an dem sie zusammentreffen, eben dadurch als gültige Wahrheit fest. Aber diese Zwei- heit, die für die Praxis und einzelne Erkenntnisprozesse durchaus legitim ist, hat Kant prinzipiell und für die Ge- samtheit des Erkennens ja grade beseitigt. Er hat ja grade gezeigt, daß nur durch das Zusammenwirken von Verstand und Sinnlichkeit Erkenntnis zustande kommt, daß unser verständiges Denken deshalb eine Wahrheit über die Dinge in sich erzeugen kann, weil die Kategorien unsres Verstandes die für uns objektive Welt mit produ- ziert haben und deshalb von vornherein in ihr enthalten sind, daß andrerseits diese Kategorien nur als Form sinn- licher Inhalte eine Bedeutung haben. Diese Vereinheit- lichung unsrer Erkenntniskräfte beraubt uns aber des Kri- teriums für die Wahrheit, das in ihrer unabhängigen Zwei- heit gelegen hatte. Wir wissen jetzt nur: die apriorischen Normen werden in einigen Fällen angewandt, in anderen nicht; daß die ersteren einen besonderen Wert haben, eine Wahrheitsbedeutung über die bloß psychologische hinaus, das können wir nach gar nichts anderem entscheiden, als daß in ihnen eben jene Normen gültig sind. Diese sind also sozusagen in eigner Sache Richter und der Wahrheitsbegriff dreht sich im Kreise.

Dem zu entgehen macht Kant noch einen Versuch. Die Einheit der Vorstellungen sei.es, durch die sie, sich gegen- seitig und ihrem Zusammen, Wahrheit garantierten; insoweit die mannigfaltigsten Vorstellungen zu einem einheitlichen Gegenstand, Satz, Weltbild zusammengehn, seien sie eben objektive Erkenntnisse. Aber ich frage : wonach entscheiden wir denn, ob Einheit, d. h. doch, Verträglichkeit, Zueinander-

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passen der Vorstellungen besteht? Doch nur dadurch, daß sie sich nach den Axiomen des Raumes, dem Kausalgesetz, dem Verhältnis der dauernden Substanz und ihrer wechseln- den Bestimmungen usw. richten, kurz: nach eben jenen formenden Kategorien, für die wir erst nach einer Bestäti- gung suchten. Den Vorstellungselementen ist ihre Einheit nicht ohne weiteres anzusehen. Daß sie sich logisch nicht widersprechen, gentigt nicht; denn viele Gedanken sind logisch verträglich, die sachlich absolut nicht zusammen- gehen. Sehen wir genau zu, was wir unter der Einheit eines Gegenstandes, einer Seele, eines Gedankenkreises ver- stehen, so ist sie immer der Zusammenhang zwischen einzelnen Anschauungs- oder Gedankenelementen, der durch beherrschende Prinzipien vermittelt wird. Die Gesetzlich- keit eines Naturgeschehens, die Nachfühlbarkeit eines Cha- rakters , die Kenntnis räumlicher Anordnungsmöglichkeiten entscheiden darüber, ob Erscheinungen zeitlich, seelisch, räumlich zusammengehen, ob sie eine Einheit bilden oder nicht. In diesem Zusammenhange besteht die Einheit, sie ist nicht ein Etwas jenseits seiner, das erst durch ihn er- wiesen würde. Daß die apriorischen Normen die Einheit der Erkenntnis zustande bringen, beweist füi; sie also keinerlei ihnen zuwachsende Bedeutsamkeit oder Bestätigung ihrer Gültigkeit, da Einheit nichts anderes ist als der Name für die Zusammenhänge, die die Wirksamkeit jener unter den Vorstellungselementen stiftet.

Der letzte Grund dieser Schwierigkeiten, für die aprio- rischen Bedingungen der Erkenntnis eine Legitimierung zu finden, die nicht wieder aus ihnen selbst geschöpft wäre, liegt in der völligen Fraglosigkeit, mit der Kant die be- stehende mathematische und empirische Erkenntnis als Fundament jeder Untersuchung über das Wesen des Er- kennens hinnimmt. Die Analyse des Erkennens hat ihm ihre Aufgabe restlos und zweifellos erfüllt, wenn sie die Bedingungen der vorliegenden Wissenschaft ausreichend demonstriert hat. Irgendwo muß freilich für jedes Forschen ein letzter Punkt liegen, über den nicht hinausgefragt wird, sondern dessen nicht bezweifelte Festigkeit den ganzen Bau trägt; und es ist die ganze Aufgabe der grundlegenden Wissenschaften, diesen Punkt immer weiter hinauszurücken, jede momentane dogmatische Sicherheit durch immer tiefer

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gelegene abzulösen. Um also die ersten Prinzipien des Er- kenntnisgebietes zu begründen, müßte man über dies Ge- biet selbst hinausgreifen, vielleicht auf ein praktisches, vielleicht biologisches, vielleicht religiöses. Schließt man dies aus und sucht alle Fundamente des Erkennens im Er- kennen selbst, so scheint es unvermeidlich, daß die Beweise sich schließlich im Kreise drehen, weil sie keinen Stützpunkt außerhalb ihres eignen Kreises haben. Der Kantische Zirkel : unsere Erkenntnisse sind wahr, weil und insoweit sie von apriorischen Normen bestimmt sind und diese sind gültig, weil jene von ihnen normierte Wissenschaft unbezweifelt gilt , dieser Zirkel ist der unmittelbare Ausdruck des absolut theoretischen Charakters der Kantischen Philosophie, den ich hervorhob. Es is4; aber auch der Ausdruck ihrer Wehrlosigkeit gegen allen radikalen Skeptizismus. Den relativen Skeptizismus, der aus gewissen Widersprüchen und Widersinnigkeiten in unsern Erkenntnissen schloß, daß es keine notwendig allgemeine Wahrheit, sondern nur korri- gierbare Erfahrung gäbe, konnte er widerlegen, indem er die Aprioritäten als notwendige Bedingungen aller Erfahrung aufwies. Aber dies war eine innere , den Wissensbestand als solchen noch nicht alterierende x4ngelegenheit. Sobald aber behauptet wird : Erfahrung gilt nicht ist der ganzen Kantischen Theorie der Boden unter den Füßen weggezogen. Der moderne Pragmatismus mag man ihn im übrigen so roh und unzulänglich finden wie man will hat jeden- falls gesellen, daß hier die Begrenztheit der Vernunftkritik und des ganzen Intellektualismus liegt: daß das Erkennen, selbst als Kantische Inthronisierung der Empirie, sich aus sich selbst heraus nicht schützen kann, wenn man der Er- fahrung die Legitimitätsfrage stellt und daß daher erst innerhalb des Gesamtzusammenhanges des Lebens die weiteren Elemente aufzusuchen sind, die diese Legitimierung leisten. Kant selbst liegt die moderne Tendenz, das Wissen selbst andren Herrschermächten des Lebens ein- oder unter- zuordnen, völlig fern, wir werden sehen, wie wenig der berühmte Primat der praktischen Vernunft vor der theo- retischen in dieser Hinsicht zu bedeuten hat. Sein Blick bleibt so in das wissenschaftliche Erkennen gebannt, daß er die Gültigkeit des einen Elementes desselben nur von dem anderen und so wechselseitig zu entlehnen weiß.

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Endlich erzeugt der neue Erfahrungsbegriff in sich eine dritte Schwierigkeit, die mir indes völlig lösbar scheint und auf dem Wege zu ihrer Lösung diesem Begriffe noch einmal ein volles Licht zuwenden wird. Aus den Sinneseindrücken entwickelt sich Erfahrung, indem sie nach den Formen und Gesetzen geordnet werden, deren Komplex wir, insoweit wir sie als wirkende seelische Energien betrachten, unsren Ver- stand nennen. Die Formung, die der sinnliche Stoff auf diesem Wege erwirbt, drückt Kant auf zweierlei Weisen aus : das Sinnliche gewinnt einerseits Allgemeingültigkeit, andrer- seits Objektivität. Spricht man das rein und unmittelbar Sinnliche in Satzform aus, so ist es z. B. dies: ich sehe die Sonne scheinen, darauf fühle ich die Erwärmung eines Steines. Dies ist nichts als das Bewußtsein von Vorgängen in den Sinnesorganen des Subjektes, die mit ihrem einmaligen und persönlichen Vorkommen schlechthin abgeschlossen sind. Weder über das Bewußtsein andrer Subjekte, noch über die Sache jenseits der Subjekte wird damit das geringste ausgesagt, es ist also noch nicht, was wir Erfahrung nennen. Diese wird es erst durch- die Metamorphose in den Satz: der Sonnenschein erwärmt den Stein. Hiermit ist jenes Doppelte gegeben: 1. der Folge meiner Eindrücke entspricht ein Verhältnis von Dingen, ich nehme nicht nur wahr, sondern in dieser Wahrnehmung offenbart sich ein Sein. 2. Wenn dieses Objektive wirklich ist, so ist auch die ihm parallel gehende Wahrnehmung nicht auf das Sub- jekt und den Augenblick beschränkt, sondern ich bin nun sicher, daß ich diese Wahrnehmung notwendig bzw. unter den gleichen Umständen immer haben muß, und daß nicht nur ich, sondern alle Subjekte die gleiche haben werden. Den Erfahrung-bildenden Prozeß kann man also so aus- drücken, daß er aus subjektiven Wahrnehmungen eine Aus- sage über das objektive Verhalten der Dinge schafft. Daß beide Stadien des Erkenntnisprozesses völlig verschiedenen Sinn haben, ist die festeste Voraussetzung Kants, mit der er allen Sensualismus abweist; denn für diesen ist Erfahrung oder Erkenntnis nichts andres als die Konstatierung jener unmittelbaren Eindrücke, höchstens ihre Verfestigung zu Eindrucksgewohnheiten; seiner Bedeutung nach bleibt das ganze Erkennen impressionistisch auf die Sinneswahr- nehmung beschränkt. Da nun Kant zugibt, daß wir aus

Simmel, Kant. 3. Aufl. Q

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dieser letzteren allein den Stoff unsrer Erkenntnisse ge- winnen und alle Wirksamkeit der Verstandeskategorien ihr nur eine besondere Form gibt, worin besteht denn der ungeheure Umschwung einer bloß subjektiven Sinnesempfin- dung in die Aussage über ein Objekt? Um gleich vorweg- zunehmen, was mir als die einzig widerspruchslose Lösung dieses schwierigen Kant-Problems erscheint: dem einzelnen Sinnesvorgang gegenüber besteht dieses Neue ausschließlich in der Garantie darüber, daß eben dieser Sinnesvorgang sich für mich und für jeden andren unter den gleichen Be- dingungen jederzeit wiederholen wird. Der Satz: die Sonne erwärmt den Stein, fügt zwar noch die Kategorie der Kau- salität zu seinem subjektiven Gegenstück: ich sehe Sonnen- schein — ich fühle nachher den erwärmten Stein. Aber für die Praxis des Erkennens leistet dies nichts andres als die Sicherheit, daß ich jederzeit und daß jedermann eben die gleiche Wahrnehmung machen werde. Durch die Kausalität wird die Wahrnehmung gleichsam nur in einen neuen, festeren Aggregatzustand übergeführt. So scharf Kant den Satz: A ist die Ursache von B, von dem unter- scheidet: B folgt zeitlich auf A, so weiß ich doch nicht, worin sich diese objektive Kausalfolge noch von der Be- stimmung unterschiede, daß in jedem überhaupt je vor- kommenden Fall B auf A zeitlich-wahrnehmbar folgen wird. Was ich hier unter „Garantie" verstehe, ist etwas völlig andres als die seelische Gewöhnung an die tatsächlich regel- mäßige Folge der Phänomene, worin Hume die Kausalität auflösen wollte; es ist ein Begriff, der seiner Struktur nach nicht nur jede Anzahl von Einzelfällen übersteigt, wie die unendliche Größe jede endliche, er hat vielmehr mit Quantität nicht das Geringste zu tun. Er ist auch nicht ohne weiteres mit der Gesetzlichkeit des Geschehens identisch, sondern ist sozusagen die logische Vermittlung zwischen der Gesetzlich- keit und dem singulären Geschehen. Daß die Sonne den Stein erwärmt, drückt freilich das Gesetz aus, nach dem die Einzelbeobachtung des Sonnenscheins und des Steins verläuft. Aber der Begriff' der Garantie besagt, daß das Gesetz nicht nur etwas in sich Gültiges ist, daß es sich vielmehr sozusagen der Tatsache vermählt hat; so daß, sobald die Kausalität überhaupt auf diesen Fall zu Recht an- gewendet wurde, schon der erstmalige und überhaupt jeder

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einzelne Fall alle überhaupt je möglichen vertritt. Dies ist das „Mehr", das beider Umwandlung des sensuell-subjektiven Ur- teils in das objektive Erfahrungsurteil zu jenem hinzukommt, ohne dessen Inhalt irgendwie zu ändern. Mit diesem Garantiebegriff, durch den mir Kants Objektivierung des Subjektiven allein interpretierbar erscheint, ist wohl der Rationalismus erst wirklich überwunden. Denn solange die Objektivität etwas für sich Bestehendes war, das sich um seine sinnlich-einzelnen Gegenbilder sozusagen nicht küm- merte, schien sie eine Erkenntnisquelle, die jenseits aller Erfahrung floß, zu verraten. Erst wenn sie nichts ist, als die Form, in der der Erfahrungsinhalt sich als ein zu- verlässiger weiß, d. h. als ein solcher, der in jedem einzelnen Erfahrungsfall über diesen selbst hinaus gilt erst dann können die Erkenntniselemente, die im Sinnlichen als solchem nicht liegen, nicht mehr von der Richtung auf die Gesamt- erkenntnis, die am Sinnlichen ihren Inhalt gewinnt, ab- biegen. Ebenso schließt diese Deutung der Objektivität den Sensualismus aus, der in dem einzelnen Sinnesinhalt oder, was hier dasselbe ist, der bloßen Summe solcher Inhalte das suchen wollte, was logischerweise in ihm eben nicht liegen kann: die Sicherheit darüber, daß der einzelne seine Bedeutung nicht in der inselhaften Einzelheit seines jeweiligen Vorkommens erschöpft, sondern an seinem Teile; in bezug auf seine besondere Bestimmtheit, die Totalität der Erkenntnis repräsentiert.

Man kann diese Kantische Transformation des Sinnen- urteils in das objektive Erfahrungsurteil mit modernen Be- griffen auch so ausdrücken : daß der Inhalt des Erlebnisses, ohne sich zu ändern, die Erlebnisform verläßt und sich als reiner Inhalt konstituiert. Indem die sachlichen oder logischen Bedeutungen der Erlebnisse durch die Kausalform untereinander verbunden werden oder sich als verbundne offenbaren, ist die Garantie dafür gegeben, daß sie dieses Verbundensein zeigen müssen, wann auch immer die Er- lebensform sie aufnimmt, die Welterfahrung des Subjekts sie realisiert.

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Vierte Vorlesung.

Die Funktion der Objektivität, daß sie nur das Sub- jektive als ein zuverlässig Gleichmäßiges , notwendig Ein- tretendes feststellt wodurch einerseits die Zweideutigkeit und Zufälligkeit am Sensualismus überwunden, andrerseits alles Erkennen doch am Gegebnen festgehalten wird , diese Funktion würde ganz befriedigend erscheinen, wenn nicht jetzt eine neue Schwierigkeit auftauchte. Kant schärft ausdrücklich ein : alle Erfahrungsurteile, keineswegs nur die Formulierungen bloßer Sinneseindrücke, sondern die echten, unter Wirksamkeit der Verstandeskategorien entstandnen Erfahrungsurteile haben nur relative Gültigkeit: was Er- fahrung gelehrt hat, kann Erfahrung jederzeit widerrufen. Wie ist dies nun mit der eben charakterisierten Zuverlässig- keit und Notwendigkeit der Erfahrungsurteile zu vereinen, mit der sie sich aus den bloß sensuellen Urteilen heraus und über diese hinweg bilden?

Dies ist ersichtlich keine bloße kantphilologische Spezialfrage , sondern es handelt sich darum, in dem Welt- bild, das uns hier allmählich aus dem Kantischen Denken erwachsen soll, dem eigentlichen Träger aller Erkenntnis, dem Erfahrungsurteil, seinen Doppelwert zu retten: einer- seits die Sicherheit und Gültigkeit jenseits der bloßen Sinnesempfindung , andrerseits die Biegsamkeit und jeder- zeitige Korrekturfähigkeit, die doch keineswegs ein bloßes Manko ist, sondern das Verhältnis des Geis^tes zur Wirklich- keit, als eine ins Unendliche gehende Entwicklung, unent- behrlich ausdrückt. Zur Vereinigung dieser widerspruchs- vollen Forderungen sehe ich nur den folgenden Weg, der über eine nochmalige Ansicht der apriori>chen Sätze führt. Nachdem Kant, wie ich zeigte, alle Eikeiintnis auf ihnen erbaut hat, fährt er mit scheinbarer Paradoxie fort: weder der Satz der Kausalität, noch die Geometiie, noch die über

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alle Einzelerfahrung hinaus gültigen Verhältnisse der Zahlen, noch was es sonst an apriorischem Besitz geben mag, ist an und für sich schon ein Erkenntnis. Alles dies sind leere Schemata, abstrakte Formeln, die eine Bedeutung erst in der Erfüllung mit Wahrnehmungsstoff gewinnen. Sie sind zwar dasjenige an der Erfahrung, wodurch sie ein Erkenntnis wird, was aber, für sich allein herausgezogen, kein Erkennt- nis ist, sondern gleichsam nur der blutlose Schatten eines solchen, der freilich dessen Umrisse genau darstellt. Dies vor- ausgesetzt, bewegen sich alle für uns möglichen Erkenntnisse zwischen zwei Grenzen. Zu unterst steht das V/ahrnehmungs- urteil, das weder über das Objekt etwas aussagt, noch eine über den Einzelfall hinausgehende Geltung besitzt, sondern nur die Empfindungszustände des Subjekts in ihrer Reihen- folge konstatiert. Zu oberst stehen die apriorischen, unsren Verstand ausmachenden Sätze, die allgemein und deshalb für alle Objekte gelten, dafür aber die bloße leere Form von Erkenntnissen der Wirklichkeit sind. Das Erfahrungs- urteil ist nun offenbar eine Zwischenstufe, ein Entwicklungs- stadiura zwischen jenen beiden Grenzfällen; es muß, nach der Konsequenz der Kantischen Voraussetzungen, unzählige Abstufungen der Urteile geben, von dem Wahrnehmungs- urteil an, das noch nicht Erfahrung ist, bis zu dem aprio- rischen Satz, der es nicht mehr ist. Welche der Ver- standeskategorien in Wirksamkeit treten soll, vor allem, welchen Gewißheitsgrad das einzelne Urteil auf jener Skala einnehmen soll, darüber entscheidet jedesmal die Art, die Häufigkeit, die Intensität der Sinneseindrücke; be- stimmte Qualitäten und Quantitäten dieser lösen sozusagen das Funktionieren bestimmter Verstandeskategorien aus und bringen damit das Erfahrungsurteil zustande. Je reiner und reicher das Sinnesmaterial gegeben ist, desto unzweideutiger und beherrschender tritt die apriorische Verstandesform in Kraft, desto mehr also nähert sich das Urteil dem Geltungs- wert des apriorischen Satzes, den es freilich wegen des un- vermeidlich mitwirksamen Sinnenstoffes nie ganz erreichen kann. Die apriorischen Sätze gleichen dem Typus von Idealen, mit deren Erreichung eine Entwicklung denjenigen Cha- rakter völlig ändern würde, den sie durch die Richtung auf jene Ideale gewann. Die Versöhnung der beiden Ansprüche an das Erfahrungsurteil, daß es einerseits korrigierbar,

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andrerseits notwendig, daß es einerseits sinnlich subjektiv, andrerseits objektiv allgemein sei, erfolgt so, daß sowohl das einzelne Erfahrungsurteil wie ihre Gesamtheit sich auf dem Wege von dem einen Extrem zu dem andern befindet, daß es in seiner Einheit einen relativen Anteil an jedem von beiden einschließt. Schon das flüchtigste Wahrnehmungs- urteil dürfte mit einem ersten Ansatz an den Erfahrungs- formen teilhaben, und das gefestetste empirische Urteil, dem mathematischen sich ins Unendliche nähernd, ist gegen Um- änderung durch neue Wahrnehmungen nie absolut gesichert. Ein Erfahrungsurteil von absoluter Vollendung seiner ob- jektiven Gültigkeit wäre keines mehr, sondern nur dessen abstrakt leere Form, gerade wie die Reduktion auf sein anderes Extrem, die Wahrnehmungsfolge, seine Bedeutung vernichten würde.

Die geistesgeschichtliche Situation, in der, in den sieb- ziger Jahren des 19. Jahrhunderts, die Renaissance der Kantischen Lehre erfolgte, brachte es mit sich, daß man an ihr vor allem die Opposition gegen den gewöhnlichen Empirismus empfand und nicht recht hervorhob, daß sie ja für die Praxis des Erkennens sich von diesem gar nicht so sehr weit entfernte. Gewiß lehnt Kant aufs stärkste alle Versuche ab, die Mathematik und alle Sätze der gleichen Stufe empirisch zu begründen; allein ebenso stark wenn auch nicht ebenso häufig betont er doch auch, daß diese Sätze „für sich nicht Erkenntnisse sind" ! Nur seinem reinen Begriff nach d. h. in seiner nie erreichbaren Vollendung hat ein Erfahrungsurteil jene Objektivität und Notwendigkeit, wie Kant sie ihm zum Unterschied gegen das Wahrnehmungsurteil zuspricht. Der Inhalt eines wirklich vorliegenden Erfahrungsurteils deckt immer nur einen Teil der überempirischen Kategorie, der es seine mehr als subjektiv-momentane Gültigkeit ver- dankt. Kant äußert einmal in bezug auf die metaphysische Bedeutung der Moral: den Sinn der Welt könne man nur in dem -Menschen unter moralischen Gesetzen finden, wenngleich nicht in dem Menschen nach moralischen Ge- setzen. Das heißt : der Endzweck der. Schöpfung, wenn man sich einen solchen denken wolle, sei nicht der sittlich voll- endete Mensch, sondern der Mensch, der unter sittlichen Normen und Forderungen steht, wenngleich er sie immer

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nur in sehr verschiedenen Graden und nie in einem voll- kommenen realisiert. Eben dies ist nun die innere Form des Erkenntnisprozesses: sein Wert hängt durchaus nicht davon ab, daß er jene Allgemeinheit und Notwendigkeit auch wirklich erreiche, von welcher, als seiner Norm und seinem Ziel, er dennoch allen Wert seiner einzelnen Stadien entlehnt. Die ganze Ratlosigkeit der modernen Intellek- tualität, ja der modernen Existenz, ihr niemals zielloses, aber immer zielfernes Streben konnte nicht kräftiger, ja so- weit Kant diesen Begriff gestattet leidenschaftlicher aus- gedrückt werden, als indem er, dessen ganzes Herz an den vollendeten Wahrheiten der Mathematik und der apriorischen Sätze hing, diesen dennoch den selbständigen Wert für die geistige Erfassung der vollen Wirklichkeit absprach: diesen Wert vielmehr überantwortete er den Vermählungen jener Apriorität mit dem subjektiv-zufälligen Sinnenbilde, deren Recht gleichsam „der ärgeren Hand" folgt und statt der Vollkommenheit die Entwickelbarkeit geerbt hat. Der moderne Entwicklungsgedanke ist in dieser Behauptung über das Wesen alles Erkennens überhaupt vorweggenommen, dem Erkennen ist für seine tiefste und allumfassende Form schon der Cha- rakter erwachsen, dem' seine Inhalte erst fast ein Jahr- hundert später reif waren.

Noch einem weiteren Typus geistesgeschichtlicher Syn- thesen ordnet sich diese Lösung des Erkenntnisproblems ein. Gerade dasjenige, was aller Erkenntnis erst Inhalt und Be- deutung verschafft, die Wahrnehmung, hatte doch verhindert, daß sie zur unbedingten Gültigkeit und Objektivität auf- steige; und andrerseits: grade dasjenige Erkenntniselement, das allen Wahrnehmungen erst Objektivität und über- momentane Gültigkeit verleiht, die Kategorien und Grund- sätze des Verstandes, war an und für sich eine leere Formel, die erst Erkenntnis ermöglicht, wenn sie von ihrer Höhe herabsteigt und sich mit der Zufälligkeit des Empfindungs- inhaltes füllt. Und dies eben gehört jenem großen Typus zu, den Plato vorgezeichnet hat: keiner der Götter ergebe sich der Wissenschaft, denn sie haben schon das Wissen : auch keiner der ganz Unwissenden tue es, denn er trage kein Begehr nach Wissen ; wenn die Philosophen also weder die ganz Unwissenden sind noch die ganz Wissenden, so seien sie ersichtlich diejenigen, die zwischen diesen beiden ver-

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mittein. Die tiefsten Probleme des Lebens gewinnen für uns diese typische Form. Die seelischen, sehicksalsmäßigen, wertvollen Erscheinungen treten uns als Einheiten entgegen, mit denen als solchen unser Bewußtsein sozusagen nichts anzufangen weiß; um uns in sie einzufühlen, ihren Sinn nachbildend in uns erwachsen zu lassen, ziehen wir eine Zweiheit von Elementen aus jedem heraus, die, in einseitiger Absolutheit vorgestellt, durch gegenseitige Modifikationen die konkrete Erscheinung ergeben, so daß diese als Mischung oder Mittleres jener Extreme erscheint. So gilt die Entwicklung der Welt als der Kampf zwischen Gott und Teufel, Ormuzd und Ahriman; so deutet man das gesellschaftliche Dasein als die Resultante eines an sich nur individualistischen und eines an sich nur sozialen Triebes; so bringen wir die einheitlichen Gebilde der Kunst, der Lebensgestaltung, der Rede uns nur so nahe, daß wir ein Interesse an ihrer reinen Form neben ein Interesse an ihrem reinen Inhalt stellen und erst in der Synthese beider die Bedeutsamkeit des Ganzen erfassen. Mag dies ein Zirkel und eine Fiktion sein, die aus dem Einheitlichen und Be- schränkten erst ein doppeltes Absolutes herausdichtet, um durch dessen gegenseitige Beschränkung jenes zurück- zugewinnen, — so knüpft es sieh doch wohl an die Grund- tatsache des höheren organischen Lebens, daß nur aus der Vermischung zweier entgegengesetzter Potenzen eine neue Lebenseinheit entspringt; und jedenfalls scheint es die un- vermeidliche Formel für unsere Geistesart zu sein, um die Einheit der Dinge, zu der wir keinen direkten Zu- gang haben, uns intellektuell zu assimilieren. So hat Kant zuerst die Intellektualität ihrem eignen Gesetze unter- worfen. Er hat dem Erkenntnisprozeß die stärkste dem Intellekt zugängige Einheit verliehen, indem er die beiden Elemente, die ihn sonst abwechselnd für sich beanspruchten, als die an sich unwirklichen Extreme erkannte, deren Ver- schmelzung und Gegenwirkung die einzig legitime Erkennt- nis erzeuge.

Damit ist bei Kant mehr als bei irgendeinem andren Philosophen die Intellektualität Herr im eignen Hause ge- worden; in allen einseitig sensualistischen wie einseitig rationalistischen Theorien des Erkennens verraten sich praktischere, jenseits des Intellekts wurzelnde Impulse des

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Gefühls und Willens. Innerhalb seines souveränen Intellek- tualismus aber zeigt sich nun eine Vertiefung und Ver- lebendigung, die die andren Weltanschauungen nur durch ein Verlassen des intellektualistischen Prinzips gewannen. Wir sahen: die Gesetze, die das Erkennen als einen Vor- gang im Subjekt beherrschen, müssen auch für alle Gegen- stände der Erkenntnis gelten. An diesem Grundgedanken aber, der insoweit die konstatierbaren Eigenschaften der Objekte bestimmte, kann man nun fernerhin den Cha- rakter des Erkennens als einer Tätigkeit betonen. Jene Gesetze gelten für den Geist als für ein lebendiges, funk- tionierendes, handelndes Wesen; seine Inhalte, die den apriorischen Gesetzen unterworfnen Gegenstände der Er- fahrung, sind deshalb nichts außerhalb der Funktion des Geistes, sie sind seine Taten. So bleibt an ihnen nichts Starres, Unlebendiges, Ungeistiges, da sie nun völlig in den Prozeß des Erfahrens aufgelöst sind. In außer- ordentlich einfachen Sätzen begründet Kant diesen ent- scheidenden Gedanken, an dem die Theorie des Erkennens in eine Weltanschauung übergeht. „Wir können uns keine Linie denken, ohne sie in Gedanken zu ziehen, keinen Zirkel denken, ohne ihn zu besehreiben, die drei Ab- messungen des Raumes gar nicht vorstellen, ohne aus dem- selben Punkte drei Linien senkrecht aufeinander zu setzen, und selbst die Zeit nicht, ohne im Ziehen einer ge- raden Linie (die die äußerlich figürliche Vorstellung der Zeit sein soll) bloß auf die Handlung der Synthesis des Mannigfaltigen acht zu haben. Der Verstand findet also nicht schon eine Verbindung des Mannigfaltigen, sondern bringt sie hervor."

Der Angelpunkt ist der : alle Gegenstände, die wir vor- stellen, sind irgendwie geformt, und jede Form ist Ver- bindung einfacher Elemente; diese Verbindung, die wir vorstellen, kann uns nicht wie Sinneseindrücke von Objekten kommen; vielmehr, alle Verbindung „kann nur vom Subjekte selbst verrichtet werden, weil sie ein Aktus seiner Selbsttätigkeit ist". Wenn wir also einen räumlichen Gegenstand anschauen , so ist daran das Ge- gebene, das wir passiv von der Wirklichkeit hinnehmen müssen, eine Summe an sich unverbundner punktueller Sinnesaffektionen , die Farbigkeiten und Tastbarkeiten des

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Gegenstandes. Zu einem räumlichen aber wird er, indem diese sozusagen unlokalisierten Eindrucksatome innerhalb unsres Bewußtsseins verbunden werden. Damit sie einen bestimmt geformten Gegenstand bilden, muß das Bewußt- sein aus jedem von ihnen zu jedem hinübergleiten, aus jedem herausgehen, ohne ihn doch verschwinden zu lassen, also eine Verbindung zwischen ihnen vollziehen, die aus keinem derselben für sich herauszuholen ist: die Räumlichkeit der Dinge ist eben diese Synthese, die der Geist unter den ein- zelnen Empfindungselementen stiftet, oder auch: ein Ver- hältnis zwischen ihnen, das sich aber aus ihrem jeweiligen Fürsichsein noch nicht ergibt , sondern erst dadurch , daß ein Geist sie in seiner Einheit zu gegenseitiger Berührung bringt. Nicht anders verhält es sich mit der Zeitlichkeit wahr- genommener Ereignisse. Daß sie nacheinander stattfinden, ist eine Formung ihrer, die in den Wahrnehmungsinhalten selbst nicht enthalten ist. Um das Nacheinander von ihnen auszusagen, muß der schon verschwundene im Bewußtsein festgehalten und mit dem gegenwärtigen konfrontiert werden, sie müssen, über das an ihnen Wahrnehmbare hinaus, auf- einander bezogen werden. Eindrücken, Ereignissen, Schick- salen gegenüber mögen wir uns passiv, bloß aufnehmend verhalten ; daß sie aber zugleich oder nacheinander sind, ist eine Art von Vergleich, den der Geist an ihnen vornimmt, ein Rangieren ihrer auf einer nicht in ihnen , sondern in ihm gelegenen Linie, nichts Freiwilliges oder Willkür- liches freilich, das er durch den Willen gestalten oder umgestalten könnte, sondern eine gesetzmäßige Aktivität seiner, aber darum nicht weniger eine Aktivität. Nicht nur also die Kausalität, die Satzbildung, der Aufbau systema- tischer Gedanken gelingt durch ein aktives Schalten mit den geistigen Elementen, sondern schon die Wahrnehmung eines einzelnen Objekts, einer räumlichen Substanz, eines Ge- schehens in der Zeit bedarf einer zusammenfügenden Energie. Die formende Tätigkeit unsres Geistes enthüllt sich so als die Bedingung der elementarsten Vorstellungen , als die Bildnerin dessen, was wir unbefangenerweise als das schlech- hin gegebne Material unsrer Erkenntnisse hinzunehmen pflegen. Der hiermit skizzierte Gedanke: daß jegliche Form der Dinge in der sie eben die tatsächlichen Gegen- stände unsrer Erfahrung sind ein Tun des erkennenden

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Geistes ist, bildet den eigentlichen Kern des Kantischen „Idealismus".

Von neuem ist aber zu erinnern, daß mit dieser Tätig- keit nicht das dynamische Moment unserer tatsächlichen seelischen Prozesse gemeint ist. Diese Vorgänge gehören unsrem zeitlich verlaufenden Lebenszusammenhange an, werden aus der Kraftquelle unseres Gesamtlebens gespeist und sind als solche gegen die Wahrheit der vorgestellten Inhalte gleichgültig. Für Kant aber stehen gerade nur die Inhalte und die Zusammenhänge, die sie als wahre haben, in Frage, und wenn ich unsere Erkenntnisse in seinem Sinn als Prozeß, als Tun bezeichnete, so bedeutet dies, daß die Charaktere, die Formen ihrer überpsychologischen Sachlichkeit solche sind, die nur durch seelische Aktivitäten in uns realisiert werden können. Auf die Inhalte in ihrer reinen Erkenntnis- bedeutung hin angesehen, sind jene Ausdrücke nur symbolisch, sie lehnen nur von der Erkenntnis die Starrheit und Isoliert- heit bloßer Vorstellungspunkte ab und konstruieren die- jenigen Zusammenhänge, Vereinheitlichungen, Verwebtheiten, die in der psychologischen, sie tragenden Realität Vorgänge, dynamische Geschehnisse, Aktivitäten sind. Das Verständnis dieses entscheidenden Punktes ist nicht ganz leicht. Man mag als an eine keineswegs deckende, sondern nur un- gefähr auf ihn hinleitende Analogie an die Fälle denken, wo wir bei einem Gemälde, an einem Gerät von der Bewegtheit oder dem Schwünge der Linien sprechen. Die Linie selbst bewegt sich doch nicht ; aber wir empfinden , wir wissen an ihr die Lebhaftigkeit der psychisch-physischen Bewegung, die sie erzeugt hat und die in ihr in einer eigentümlichen Weise investiert oder objektiviert ist. Wenn man sagt: das Erkennen ist ein Tun, weil es nur durch Synthese möglich ist, Synthese aber nur durch Tätigkeit eines Subjekts, so ist dieses „Subjekt" für Kant ein abstraktes, es ist nur die intellektuelle Seite des historischen, lebendigen, real wirk- samen Einzelsubjekts, der logische Abglanz, an dem wir dessen Leben haben und in den die Dynamik dieses Lebens nicht eintritt. Oder, in einer letzten Wendung: natürlich ist es immer nur dieses und jenes bestimmte Individuum, das erkennt, das die erforderliche Synthese in Wirklichkeit vollzieht. Sieht man aber auf die Erkenntnis rein als Wahrheitsgehalt, so wird die Individualität ihres Trägers

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gleichgültig und unwirksam, er ist jetzt sozusagen nur der Name für die formenden Bewegtheiten, mit denen sieh die Inhalte zu Wahrheiten zusammenschließen. Nicht der In- tellekt als seelische Energie, als Bewährung eines indivi- duellen Lebens, ist mit der „Einheit des Bewußtseins" identisch, die den Gegenstand der Erkenntnis formt wo- rüber nachher das Nähere sondern um das „Bewußtsein überhaupt" handelt es sich ; und dieses ist nicht individuell, nicht kraftmäßig, sondern ist der Sinn, die Formbedeutung für den geistigen Zusammenhang der Weltinhalte, der in dem jeweilig aktiven Individuum wohnt, wie in den Materien- stückchen eines geschriebenen Satzes der logische Sinn, den er trägt. Diese Bestimmungen vorausgesetzt, haben wir nun im einzelnen zu untersuchen wie sich unter ihrem Ein- fluß die verschiedenen Schichten des Weltbildes gestalten. Die Deutung dieses, die Kant gibt, ruht durchaus auf dem Begriifspaar : Stoff und Form. Die Vorstellungswelt löst sich ihm auf in gegebne Materialien, die durch innere Energien geformt werden. Daß dies restlos geschehen kann, ist keineswegs selbstverständlich. Das Dasein gibt sich uns unmittelbar als eine bloße Wirklichkeit, die von sich aus die Zerlegung in Stoff und Formung nicht aufdrängt; wir zerspalten vielmehr das in seiner Einheit für uns nicht be- greifbare Dasein in diese Kategorien, in denen wir es uns zuführen können. In ihrer praktischen Anwendung nun stellen sie sich sogleich als ein zweiter Gegensatz dar: Viel- heit und Einheit. In jeglicher Formung wird eine Mehr- heit von Elementen zur Einheit zusammengefaßt. Formen des Eaumes, der gedanklichen Gebilde, des Erlebens, des Hör- und Fühlbaren bedeuten, daß das Verhältnis singulärer Elemente zueinander als eine Einheit ergriffen wird. Die bloße Summe solcher zusammenhangloser Elemente ist bloßer Stoff; er empfängt Form als Zusammenhang jener dadurch, daß aus der Gesamtheit aller Elemente überhaupt ein gewisser Teil ausgeschieden und als zusammengehörig allen andren entgegengesetzt wird. Jede Formung ist Trennung : die Linie, durch die wir eine Form in eine Ebene hineingestalten, trennt eben einen Teil derselben vom andren ; und sie ist Vereinheitlichung: denn der eine Teil wird jetzt als eine Einheit dem andren entgegengesetzt. Wenn wir einen Satz bilden, so fassen wir die Worte, deren keines für

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sich den Sinn trägt, als aufeinander bezogen, als zusammen- gehörig auf, und in dieser Einheit gewinnt der bloße Stoff der Worte, ohne eine quantitative Änderung, die Form des Satzes usw. Kurz, was wir Form nennen, ist, auf die Funktion hin angesehen, die es verwirklicht, die Verein- heitlichung des Stoffes: sie ist die Überwindung des isolierten Fürsichseins seiner Teile, deren Ganzheit nun, als eine Einheit aus den Teilen und über den Teilen, andrem, ungeformtem oder anders geformtem Stoff entgegen- gesetzt wird.

Dies ist der sachliche von Kant selbst nicht hervor- gehobene — Zusammenhang, aus dem er, die Vorstellungs- welt in Stoff und Form zerlegend, schließlich in den Einheiten, die sich aus der Vielheit des Gegebenen bilden, den Dreh- punkt alles Weltverständnisses erblicken kann. Ein gegebnes Mannigfaltiges der Sinnlichkeit, der Phantasie, des Denkens wird erst dadurch zu einem Erkenntnis, daß es geformt, d. h. vereinheitlicht wird, zu einem einheitlichen Sinn zu- sammenwächst. Diese Vereinheitlichung nämlich erst schafft aus jenem Stoffe ein objektives Gebilde. Wenn ich den Sonnenschein und dann ein Wärmegefühl empfinde, so sind dies Tatsachen, die nur in meinem subjektiven Bewußtsein aneindergereiht sind und insoweit noch kein Erkenntnis ergeben. Entsteht aber der Satz: der Sonnenschein ist die Ursache der Wärme, so sind in ihm die beiden Begriffe aus dem bloßen Nacheinander in eine Einheit übergegangen, ein einheitlicher Prozeß faßt sie zusammen, und eben damit sind sie objektiviert, an die Stelle der Zufälligkeit meiner Empfindungen ist ein sachliches Verhältnis der Ele- mente getreten, das von allem bloß Subjektiven unabhängig ist. Der objektive Gegenstand entsteht, indem die ein- zelnen Sinnesempfiudungen zu einer Einheit, die sie an- einanderhält, kristallisieren ; dadurch werden sie das, was man die Eigenschaften des Dinges nennt. Wenn die Empfindungen Süß, Hart, Weiß usw. unmittelbare Zusammengehörigkeit gewinnen, so werden sie zu dem Objekt Zucker, dessen Einheit nun jene Empfindungsinhalte als seine Qualitäten besitzt. Ebenso entsteht das objektive Urteil, indem Subjekt und Prädikat, statt durch bloße psychologische Assoziation in einem persönlichen Bewußtsein aneinanderzustoßen , durch das Wort: „ist" verbunden werden. Denn dies bedeutet nun

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einerseits das einheitliche Ineinandersein der beiden Begriffe, eine Innigkeit der Verschmelzung zu einem Sinne, für die es in der Außenwelt gar keine Analogie gibt; und es be- deutet andrerseits die Realität des Zusammenhanges, der nun von Subjekten wiederholt oder nicht wiederholt werden mag, ohne daß seine sachliche Gültigkeit hiervon noch irgendwie abhinge. So ist also die Einheit des Gegenstandes und die Objektivität seiner Erkenntnis eines und dasselbe, der Prozeß, der zu jener führt, erzeugt eben damit auch diese; wie Kant es ausdrückt: „Alsdann sagen wir, wir er- kennen den Gegenstand, wenn wir in dem Mannigfaltigen seiner Anschauung Einheit bewirkt haben." Es ist ein grundlegender Gedanke von wunderbarer Tiefe : wir erkennen den Gegenstand, indem wir ihn als Gegenstand erzeugen. Wir entheben unsere Vorstellungsinhalte der fließenden Zu- fälligkeit des momentanen Bewußtseins und machen sie zu Gegenständen , zu einer Welt der Dinge, und eben damit haben wir sie erkannt; d. h. wir durchschauen sie als Objekte, finden unsere Forderungen an logische Harmonie und begreiflichen Zusammenhang an ihnen verwirklicht, weil sie eben durch die Anwendung dieser Normen zu Objekten geworden sind. Die früheren Erörterungen über das Apriori haben gezeigt, daß der Geist jeden möglichen Inhalt seiner Erfahrung in die ihm einwohnenden, ihn ausmachenden Formen aufnimmt, so daß alles, was wir erfahren, diese Formen zeigen muß , weil es nur durch deren Anwendung zur Erfahrung wird. Unter diesem Satz ist nun die tiefere Schicht aufgegraben : die V e r e i n h e i 1 1 i c h u n g des Mannig- faltigen hat sieh als die gauz allgemeine Funktion erwiesen, die, aus dem Subjekt hinausführend, das Objekt als solches überhaupt schafft und, in das Subjekt hineinführend, die Erkenntnis desselben bedeutet, beides aber als ein und derselbe Akt, der von diesen beiden Seiten her betrachtet werden kann. Objektivierung bedeutet die Fixierung und Sicherung, die sich die diffusen Sinnesmaterialien vermöge ihrer Vereinheitlichung gegenseitig gewähren , während das Gelingen eben dieser Vereinheitlichung zugleich die Ansprüche befriedigt, die unser Erkenntnistrieb stellt.

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Fünfte Vorlesung.

Die Bedeutung, die die Einheit unsrer Vorstellungen zuletzt für deren Objektivität gewonnen hatte, kann insoweit noch als eine bloße Tatsächlichkeit gelten, für die der eigent- liche innere Grund erst angedeutet ist. Daß sich aus den unendlichen und unendlich mannigfaltigen Einzel elementen seelischer bzw. kosmischer Art Einheiten zusammenschließen, Gegenstände aus Sinneseindrücken, Urteile aus Begriffen, ist nun nach Kants grundlegendster Überzeugung dem zu danken, daß unsere Seele ein Ich bildet. Die Gesamtheit des inneren Lebens bezieht sich, für das Gefühl eines jeden, auf einen tiefsten Punkt in ihm, der von nichts weiterem herzuleiten ist, aus dem vielmehr alles bewußt-persönliche Leben zu entspringen scheint. Wir nennen ihn das Ich und be- zeichnen damit dasjenige, was als das einzig Dauernde und Identische die niemals dauernden und in unübersehbaren Gegensätzen sich bewegenden Inhalte des Lebens begleitet. Eine bloße Form freilich einerseits, ein bloßes Gefühl andrerseits, und gerade durch diese Armut und Inhaltlosig- keit fähig, den unzweideutig einheitlichen Punkt abzugeben, zu dem alle Einzelelemente des Bewußtseins in Beziehung stehen; denn alle meine Vorstellungen muß ein „Ich denke" begleiten können, weil sie sonst eben nicht die meinigen wären. Das Ich ist also die Einheit, in der alle meine Vorstellungen sich zusammenfinden, ja, die einzige absolute Einheit innerhalb unsres Wesens, gegenüber der Extensität und Vielseitigkeit der Materie unsres Seelenlebens, und als solche einzig geeignet, jene Vereinheitlichung von Elementen, in der das Objekt und seine Erkennbarkeit erwächst, in sich und durch sich zu vollziehen. Die Einheit unsres Selbstbewußtseins zeichnet die Form vor, oder : ist die wirk- same Kraft, vermöge deren die gleichsam unlokalisierten Einzelvorstellungen sich zu Einheiten, d. h. zu Gegenständen

und Urteilen zusammenfinden. Die Einheit des Objekts ist das Gegenbild der Einheit des Subjekts. Die unendliche Ausbreitung der atomisiert nebeneinander liegenden Ele- mente des Daseins findet ihre Organisierung in der Seele, in der alle jene mannigfaltigen Strahlen sich wie in einem Brennpunkt schneiden und ebendamit auch im Objekt, in dem, genauer: zu dem die Mannigfaltigkeit seiner Bestim- mungen nicht weniger einheitlich zusammenwächst. Natür- lich gibt das Ich zu dieser Genesis des Weltbildes, die ein unendlicher Prozeß ist, nur seine allgemeine Form her, es ermöglicht nur, daß das Dasein für uns überhaupt als Objekt und als Inhalt sachlicher Erkenntnisse bestehe; es kann nicht verhindern, daß die Vereinheitlichung un- zählige Male Inhalte ergreift, die sich wieder lösen müssen, und ebenso oft an andren vorübergeht, ohne deren Einheit der Zusammenhang des Ganzen eigentlich nicht bestehen kann, so wenig wie nach der subjektiven Seite hin die formale Einheit unsres Selbstbewußtseins dagegen schützt, daß zusammenhangslose Launen, Widersprüche und Zer- rissenheiten sich unter seiner Ägide einfinden.

Die moderne Psychologie könnte unter Festhaltung des vorhin bezeichneten Verhältnisses zwischen Psychologie und Wahrheitsgehalt dies Grundmotiv von vielen Seiten her interpretieren; ich deute nur ein Beispiel an. Zwischen der Vereinheitlichung und dem Objektiv-Werden des Daseins vermittelt dasjenige Verhältnis, das man nur mit dem räum- lichen Gleichnis der Distanz zwischen uns und den Dingen bezeichnen kann. Was für uns Objekt ist, steht uns in einer gewissen Entfernung gegenüber, das heißt, es ist selb- ständig, seine Qualitäten und Gesetzmäßigkeiten sind von den Zufälligkeiten unsrer Subjektivität und von unsrem Willen unabhängig. Wo wir die objektive Existenz eines Dinges oder die objektive Gültigkeit eines Zusammenhanges behaupten, meinen wir damit ein für sich seiendes Dasein, das zwar in jedem Augenblick von uns in der immer gleichen Weise vorgestellt werden kann, aber durch diese dauernde Möglichkeit gerade beweist, daß seine Wahrheit gegen unser Vorstellen oder Nicht -Vorstellen gleichgültig ist; wobei für jetzt nicht in Frage kommt, ob nicht das Ich in einem weiteren Sinne auch diese Selbständigkeiten und die Distanz einschließt, in der wir alles Objektive als solches erblicken.

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Gefühl und Vorstellung dieser Distanz aber gibt uns das Objekt durch seine Zusammengefaßtheit, dadurch, daß alle Teile seines Umfanges sich auf ein inneres Zentrum beziehen und von ihm zusammengehalten werden. In dem Maße, in dem die Elemente eines Vorstellungsganzen aneinander- rücken und sich in einem Sinn , einer Substanz , einer Gesetzlichkeit treffen in eben dem rückt es von uns ab, wird es eine Existenz für sich; bis zu dem Extrem, daß seine Geschlossenheit und Selbstgenügsamkeit uns überhaupt den Zugang zu ihm verweigert und es uns wie Macht zu Macht gegenübersteht, ein in sich fertiges und nicht aus- einanderzureißendes Ganzes, wie unsere Seele selbst. Am deutlichsten vielleicht wird dieser Zusammenhang am Kunst- werk, Daß dieses eine Welt für sich ist, ein lückenlos umfriedeter Bezirk innerhalb des allgemeinen Seins, ein Jen- seits von allem unmittelbaren Leben das ist der Ausdruck seiner inneren Einheit, ist der Erfolg davon, daß jedes Wort des Verses, jeder Strich des Gemäldes ausschließlich dem Sinn dieses einen Ganzen zugewendet ist und jede Beziehung zu Interessen oder Tatsachen außerhalb dieses ablehnt^). Sobald dem Kunstwerk diese Einheit fehlt, sobald seine Einzelheiten nicht notwendig auf den Gedanken, das Gefühl, die Anschauung, oder wie man seinen zentralen Sinn be- zeichnen mag, gravitieren in diesem Augenblick verliert es sein Fürsichsein , es bietet sich nicht mehr als ein sich selbst genügendes Dasein, um eben dadurch uns von uns selbst und der bloßen Tatsächlichkei't des Lebens zu er- lösen. Wenn das vollendete Kunstwerk uns gegenübersteht als eine selige Insel, unberührbar, wie ein Gebilde aus andren als unsren Dimensionen und dennoch dem Tiefsten in uns innig verwandt, in seiner Bedeutung zugleich das Rätsel u n s r e r Existenz aussprechend so ist dies schein- bar Unverträgliche der Erfolg jener Einheit, in der das Kunstwerk sich zusammenfaßt: denn diese gewinnt ihm die Form der Seele selbst. Dies ist der letzte Grund, weshalb im Kunstwerk alle Zufälligkeiten, Einseitigkeiten, bloßen Subjektivitäten von Leben und Schicksal in eine strenge

1) Daß das künstlerische Ganze nachher als solches wieder in über- greifende Zusammenhänge eingeordnet werden kann, wie am sichtbarsten in der Tendenzkunst oder der religiösen Kunst, läßt ersichtlich diese Grundfrage unberührt.

Simmel, Kant. 3. Aufl. 4

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Objektivität aufgehoben sind, als käme in ihm ausschließ- lich das Gesetz der Sache, die reinste, übersinguläre Form der Dinge zu Worte und daß es doch zugleich das am tiefsten menschliche aller Gebilde ist, die unbedingteste Herrschaft der Seele über das bloß Gegebne des Daseins. Weil es der Gipfelpunkt alles menschlichen Tuns ist, leuchtet in ihm auch am vollendetsten und am sichtbarsten Kants großer Gedanke auf: daß die Objektivität der Dinge unsrer Seele gegenüber in jener Einheit ihrer liegt, die unsre Seele selbst ihnen verleiht und mit der sie deren eigene Form wiederholen.

Mit diesem Gedanken hat die ganze Leistung Kants vielleicht ihr Äußerstes an Tiefsinn erreicht. Er spannt zuerst den Unterschied zwischen Subjektivität und Objektivität bis zu absolutem Gegensatz. Alles durch Assoziationen oder überhaupt psychologisch bestimmte Vorstellen, also, geradezu gesagt, alles Vorstellen in seiner empirischen Realität ist rein subjektiv. Die Objektivität, in der der ganze Er- kenntniswert dieses Vorstellens beruht, ist ein Ideal, dem es sich bis ins Unendliche zuentwickelt und von dem ihm als fester Besitz nur jene apriorischen Formen gehören leere Schemata, eigentlich ein nie ganz eingelöstes Versprechen. So streng ist Kants Vorstellung von der Objektivität, d. h. von dem für absolut alle Subjekte notwendig geltenden Rechte, gewisse Qualitäten zu einem Gegenstand, gewisse Vorstellungen zu einem Urteil zu vereinigen daß er, um sie rein zu erhalten, das gesamte Erkennen der gegebnen Welt sie nicht erreichen läßt, sondern es auf die Erfahrung beschränkt, die den Zusatz der sinnlichen und also immer korrigierbaren Subjektivität nicht ausscheiden kann. Und nachdem ihm so Subjektivität und Objektivität zu den Polen der Erkenntniswelt geworden sind, biegt er sie wieder zu- sammen, indem er die eine in ihrer Vollendung als das Gegen- bild des Quellpunktes der andren deutet; denn ohne das Ichbewußtsein würde auch kein subjektives Leben, wie wir es kennen, existieren. Grade die innerlichste Form des Ich ist das Motiv und die Macht, wodurch die Dinge zu Objekten, die Vorstellungen zu Wahrheiten außerhalb des Ich werden : jene Kategorien , deren Wirksamkeit das Sinnen- material zu Erkenntnissen macht, sind die einzelnen Arten, auf die die zentrale Einheit unsres Selbstbewußt-

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seins die Aufgabe löst, das subjektive Gegebene zu einer objektiven Welt zu gestalten, sind die Kanäle, durch die hindurch die ganze Breite der Erscheinungen ihrer Zu- sammengefaßtheit zu Einheiten und Einheit entgegentreibt. Daß grade die innerlichste Tiefe der Seele, die letzte Instanz in ihr, ihre Form hergibt, um das Objektivste, seinem Sinne nach von ihr Unabhängigste zu bilden damit hat das Weltbild eine unvergleichliche Geschlossenheit erlangt, die hier einmal nicht mit einer Verengung der Aufgabe er- kauft ist, sondern ihren ganzen Sinn gerade in der Weite der Spannung hat, die sie zwischen das Selbstbewußtsein und die Welt der objektiven Wahrheit setzt. All die Ahnungen und Andeutungen, die, bald unklar tastend, bald mystisch tiefsinnig, allenthalben zum Ausdruck bringen wollen, daß der Mensch sich der reinsten Wahrheit über die Dinge be- mächtigt, indem er sich in sich selbst versenkt haben hier ihre Erfüllung gefunden : denn sie sind einerseits zu ihrem radikalsten Sinne zugespitzt, sie ergreifen die all- umfassende Form alles Inneren und alles Äußeren und ent- gehen doch andrerseits der Verblendung und Beschränktheit, die den Inhalt der Welt meint ohne Hinsehen auf ihn erkennen zu können. Denn alle einzelnen Weltwirklichkeiten bleiben der Erfahrung vorbehalten, die nur als Ganzes jetzt des undurchbrechlichsten Zusammenhanges sicher ist: der Punkt, von dem sie ausgeht und der, in den sie mündet, das Absolute des Subjekts und das Absolute des Objekts sind ineinandergewachsen. Die Einheit ihrer Form umfaßt alle Stufen des Seins, die sich ihr als Ideal nähern und von ihrem Ursprung in dem .einheitlichen Ich die Gewähr zu Lehen tragen, bei dieser Entwicklung wenigstens nicht grundsätzlich irren zu können.

An diesem Punkte wird eine Richtigstellung der populären Auffassung Kants unvermeidlich. Daß die Welt unsre Vor- stellung ist, erscheint in dieser als die grundlegende Errungen- schaft, und von ihr ist die kulturelle Wirkung Kants im wesentlichen ausgegangen-, die Breite dieser Wirkung ruht darauf, daß die so erreichte Struktur der Welt der gleich- mäßig vollständige Stimmungsausdruck für die entgegen- gesetztesten Naturelle ist. Die Welt ist meine Vorstellung also ist meine Vorstellung die Welt, ich bin ihr Herr, in mir

ist Raum für sie, außerhalb meiner ist Nichts. Die Welt

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ist meine Vorstellung ihre Wirklichkeit, die unverhüllte Wahrheit der Dinge ist mir ewig unerreichbar , ich bin in die Enge meines Vorstellens eingesperrt, vor dem Geiste, der sich nach dem Sein ausstreckt, weicht es zurück wie die Früchte vor der Hand des Tantalus. Daß so die expansiven und energischen Naturen ebenso wie die resignierten und pessimistischen an dieser Lehre ihr Weltbild entfalten konnten, ist sicher eine ihrer größten Attraktionen. Und doch ist dies auf ein Mißverständnis gegründet. Es gibt dem Kantischen Idealismus eine Bedeutung für das subjektiv- persönliche Leben und dessen Verhältnis zum Dasein überhaupt, die völlig über die Absichten Kants hinausgeht. Das Ich, das die Welt zusammenhält und sie dadurch als objektives Sein schafft dieses Ich ist, wie wir noch zu sehen haben, durchaus kein persönliches, ist durchaus nicht die „Seele", der das Gewährtsein oder Versagtsein der Welt außer ihr eine Frage des Lebenswertes wäre. Und entsprechend ist dasjenige, was uns durch den bloßen Vorstellungs- charakter der Welt versagt bleibt, absolut kein Gegen- stand, nach dem zu verlangen einen Sinn hätte, sondern, wie Kant sich einmal ausdrückt, „eine bloße Grille", viel mehr ein Geschöpf unsrer Phantasie und Willkür, als das empirisch vorgestellte Dasein, das dieser Provenienz be- schuldigt wird. Allerdings verkündet die Kantische Lehre eine Souveränität des Geistes über die Welt, aber sie liegt an einem anderen Punkte: in der Herrschaft, die das Ich, als die formgebende Zentralmacht der Bewußtseinswelt, über das Material der Sinneneindrücke ausübt. Geist bedeutet: Zusammenfassung des Mannigfaltigen, ein Ineinander der Elemente des Daseins, zu dem das bloße Neben- und Nach- einander ihres Sinneneindrucks gar kein Gegenbild oder An- näherung bietet. Indem nun diese entscheidendste Energie unsrer Geistigkeit den gegebenen Inhalt des objektiven Welt- bildes lenkt, damit dieser schließlich in ihre Form als in seine eigene Erfüllung eingehe, ist der Sinn des Geistes zugleich der Sinn der Dinge geworden; die Herrschaft, mit der die letzte Instanz des Denkens die Apriorität des Verstandes oder des Ich die ganze -Breite unsrer sinnlichen Rezep- tivitäten gestaltet, ist eine unendlich vertieftere und wert- vollere als die eigentlich sterile Wahrheit, daß die vorgestellte Welt eben unsre Vorstellung ist, uns gewähren kann.

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Aber doch scheint dem Gedanken noch eine letzte Enge anzuhaften. Indem Subjekt und Objekt sich in der Einheit des Selbstbewußtseins zusammenfinden, könnte man sozusagen den Raum, in den sie sich drängen, gar zu beschränkt finden, als ob ein intellektueller Egoismus des Subjekts die Dinge zwänge, seine subjektive und also immer einseitige Sprache zu sprechen. Erst die fortgesetzte Entwicklung dieser Kantischen Grundbegriffe erweitert sie so , daß die Größe des Objekts vielmehr das Subjekt ergreift, als daß sie unter der Beschränktheit dieses litte.

Das Material seiner Probleme ist für Kant die Welt, die uns als empirisches Erkenntnis gegeben ist. Wie das Vor- stellen, das ihn allein interessiert, von ihr ausgeht, so muß es auch wieder in sie zurückkehren. Ihm wäre keine Erklärung zulässig, die dies allein wirkliche Sein von einer jenseits seiner verbleibenden Instanz abhängig machte. Soweit auch die prinzipielle Gültigkeit der apriorischen Begriffe und Normen über jeden momentanen Stand der Erfahrung hinausgreift, so haben sie doch ihre wirksame Existenz nur innerhalb des jeweiligen empirischen Weltbildes. Und nicht anders ver- hält es sich mit dem Ich, durch das wir eine objektive Welt haben und das ausschließlich in jenen Kategorien lebt und sich' äußert. Die Elemente des Daseins werden doch nie in der Erfahrung (höchstens in der metaphysischen oder religiösen Spekulation) nur durch eine ganz allgemeine Einheit zu- sammengehalten. Sondern entweder gehören sie als ver- schiedene Eigenschaften zu einer Substanz und bilden so ein Ding, oder aus der Buntheit der zeitlich einander folgenden Vorgänge werden zwei zu einer Kausalfolge zusammengebunden, oder ein Subjekt und ein Prädikat formen ein Urteil, oder eine Vielheit von Ereignissen macht das Schicksal eines Wesens aus usw. Das Ich ist gleichsam die primäre Energie, die sich in all diesen Formen äußert Kant nennt es „das Vehikel der Kategorien" , das Einheitsmoment dieser verschiedenen Vereinheitlichungen, das so wenig eine von diesen gesonderte Existenz führt, wie die Seele im weiteren Sinn außerhalb der Gefühle, Gedanken, Bestrebungen des Menschen besteht. Damit ist wenn auch jetzt die dynamische Seite des Ich hervortritt an- gedeutet, daß dies noch immer nicht seine Psychologie be- schreibt. Denn der Sinn aller Psychologie ist, daß das

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einzelne Phänomen der Seele aus dem Gesamtzusammenliange ihres Lebens heraus Gutes und Böses, Wahres und Falsches, Intellekt und Gefühl, Energien und Apathien ein- begriffen — verstanden werde ; gleichviel, ob diese Aufgabe nur die bescheidensten Teillösungen findet. Die bloßen Er- kenntnisinhalte aber, die hier in Frage stehen, dürfen so- zusagen auf keine breitere Wurzel, als sie unmittelbar unter ihrem scharf umrissenen Umfang liegt, zurückgehen, und das Ich als Vehikel der Kategorien bleibt jene bloße Form, jene bloß logische Wurzel der Erkenntniswelt nur daß es hier daraufhin angesehen oder damit ausgedrückt wird, daß es diese genau differenzierte, einschließlich durch ihren logischen Inhalt bestimmte Funktion ausübt. So also ist, was wir das Ich nennen, nichts als die Einheit, zu der die einzelnen Inhalte der vorgestellten Welt sich zusammen- finden: es gibt keine Einheit ohne Elemente, die von ihr oder zu ihr geformt werden, zum mindesten nicht in den Grenzen der erkennbaren Welt. Eine etwaige substanzielle „Einfachheit" der Seelensubstanz, als des metaphysischen Trägers des Vorstellungslebens, hat mit der Einheit inner- halb dieses letzteren so wenig zu tun wie der Charakter einer Hülle mit dem ihres Inhaltes. Jenes Ich des Selbst- bewußtseins lebt nur in der W e 1 1 ^ die seine Form annimmt, wie der Gott des Pantheisten in der Welt, durch die er sich als ihr Sinn und eigentliches Sein ergießt und außerhalb derer er so wenig noch etwas ist, wie sie außerhalb seiner. Wenn man das Ich gesondert ergreifen will, jenseits seiner Funktion am Stoif der Sinneswelt, so ist es ein bloßes, all- gemeines Gefühl des Daseins, als Vorstellung ein Schema, von dem wohl anderes seine Bestimmung entlehnen kann, das selbst aber etwas ganz Unbestimmtes und Leeres ist. Mit einem Wort : das Ich, als dessen Gegenbild und Produkt sich die Einheit, der Objektcharakter, die Erkennbarkeit der Dinge gezeigt hat, dieses Ich ist nichts als die Funk- tion, alles dies zustande zubringen. Die Funktion, die unsere erkennbare Welt trägt, hat nicht selbst wieder einen Träger, das Ich geht in seiner Leistung auf, es ist bloße Tätigkeit, es selbst und die Welt, an der es lebt, wie sie an ihm, hat kein Sein, im Sinne einer stabilen Substanz, sondern ein Werden, ein rastloses Bilden, Umbilden, Sich- entwickeln. Wie die Welt unsres Erkennens sich als der

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Prozeß offenbart hat, in dem die sinnliche Gegebenheit in die Form als Objekt, als Zusammenhang, als Urteil eingeht, so geht das Ich, das ihr diese Form gewährt, nun in sie. auf, es ist nicht Partei ihr gegenüber, sondern es ist ihr Geformtwerden; außerhalb ihrer kann es nur die ideelle Gültigkeit der reinen, absoluten, restlos harmonischen Ein- heit haben, der die Welt innerhalb unsres Erkennens sich zuentwickelt.

Hierin zeigt sich eine wohl der Erwähnung werte Evolution der philosophischen Grundmotive. Mit der Er- klärung, daß die Tatsache des denkenden Ich die einzig ganz unbez weifelbare sei, hatte die Philosophie der Neuzeit eingesetzt. Das Cartesianische cogito ergo sum bedeutet nicht, daß aus dem Denken die Existenz eines gleichsam substanziellen, das Denken erst erzeugenden Ich erschlossen würde; sondern vielmehr, daß das Denken selbst als eine Tatsache, eine unmittelbare Wirklichkeit erhärtet wird. Gemäß der früheren und gewöhnlichen Vorstellungsweise steht gleichsam auf der einen Seite die Wirklichkeit, die geschlossene Selbstgenügsamkeit des Daseins, auf der andern das Denken, ein Zusammenhang ideeller Bilder, seinem Wesen und Sinn nach gerade das Gegen stück der Wirklich- keit als solcher. Diese Getrenntheit überbrückt das cogito ergo sum, indem sein Grundmotiv, in modernem Ausdruck, besagt : Das Denken ist nicht einfach ein Komplex von Denk- inhalten, die im Bewußtsein, wie in einem gegenwirklichen Räume, nebeneinanderliegen, sondern es ist ein Vorgang, ein Leben, ein Sein, das selbst Wirklichkeit ist, und zwar die einzige Wirklichkeit, die sozusagen ihre Garantie, eine solche zu sein, in sich selbst hat. All seine einzelnen Inhalte legitimieren sich an ihrer immer problematischen Beziehung zu ihren realen Gegenbildern; das Denken selbst aber be- darf dessen nicht, es bezieht seinen Wirklichkeitswert nicht von wo anders her, sondern hat ihn unmittelbar, indem es sich vollzieht; während seine Inhalte, die freischwebenden Vorstellungsbilder, das Sein außer sich haben, hat es, als Prozeß, das Sein in sich. Indem es sich als bloßen Prozeß erfaßt,, ist es Selbstbewußtsein, ist es Ich, und darum ist dieses die erste und einzig unmittelbare Realität. Wenn Kant dann die objektive Welt gleichsam in das Selbst- bewußtsein aufnahm da sie nur insoweit objektiv ist, als

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sie von ihm seine Form entlehnt hat er jener die stärkste Wirklichkeit verliehen, über die das augenblickliche Denken verfügt. Daß nun aber das Ich sich in die Weltinhalte auf- löst, die bloße Form und Funktion ist, in der diese zu einem erkennbaren, allein realen Kosmos zusammenhängen, das will sagen, daß das Gerüst abgerissen wird, nachdem das Gebäude steht. Durch den entscheidenden Gedanken, daß die Objektivität in der Einheit besteht, die die Vorstellungen vermöge der Struktur ihres Schauplatzes, des Ich, ge- winnen — ist die Descartessehe Bezweifelbarkeit des Objektiv- Wirklichen gehoben; aber eben damit hat das Ich seine Sonderstellung, seine über die Welt der singulären Erkennbar- keiten hinausreichende Gültigkeit verloren, es ist nun er- kenntnistheoretisch gesprochen nichts besseres als die Welt. So mußte in dieser geistesgeschichtlichen Entwicklung die Welt ihre ganze Realität erst an das Ich verlieren, da- mit dieses sich für sie opfere und ihr damit ihre Realität auf höherer Stufe zurückgebe.

Damit wird von neuem die Torheit oder die Miß- verständlichkeit des Ausdrucks klar, daß Kant die Welt subjektiviert habe. Viel haltbarer wäre das Umgekehrte : daß Kant das Ich objektiviert habe, indem er es vollkommen in die Welt, die, als eine erkennbare, seine Leistung ist,"^ auflöst. Versteht man aber, der populären Auffassung folgend, unter dem Subjekt ein Seelenwesen, das eine Existenz und Bedeutung für sich, diesseits seiner Funktion am Stoff des Daseins hätte, und unter Objekt eine Wirklichkeit jen- seits der Erkennbarkeit und ihrer Formen, in die jene erst nachträglich aufgenommen wird, so hat sich Kant über- haupt über diesen ganzen Gegensatz erhoben. Für ihn gibt es, soweit es sich um Erkenntnis handelt, eben nur eine einzige Welt und weder ein Diesseits noch ein Jenseits ihrer. Für die Metaphysik, die die inneren Bewegungen der Er- fahrungswelt zu besondren Wesen als den Trägern und Gründen jener Bewegungen kristallisiert, liegt die Einheit der Welt einerseits in dem absoluten Ich, andrerseits in einem absoluten Sein, das an und für sich nicht in die Vielheit und Besonderung der Erfahrungswelt eingeht. Aber die Meta- physik hat ihren Sinn in Bedürfnissen, die außerhalb der Erkenntnis liegen. Für diese, der alles Absolute versagt ist nicht aus einem Manko und einer Resignation, sondern

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als der absolute Ausdruck ihres Wesens , kann Einheit nichts andres bedeuten als : Wechselwirkung der Teile einer Existenz, die dynamische Beziehung, durch die die Ele- mente der Welt zu Urteilen, Gegenständen, Ursachen und Wirkungen, sinnvollen Zusammenhängen werden. So ist die Welt ein System sich gegenseitig tragender Faktoren, das Ich ist die Tätigkeit, die die sinnlichen Elemente in diese Gegenwirkungen, d. h. zu ihrer Einheit bringt, aber nicht aus ihnen heraustritt, es ist die Lebendigkeit des Welt- prozesses, der in der verständlichen, Objekte bildenden, das Chaos der Sinnlichkeit formenden Verbindung jener Ele- mente besteht.

Wenn diese Gleichung zwischen Subjekt und Objekt den Kern des Kantischen Idealismus richtig deutet, >so stellt sie eine der größten Synthesen der nach zwei Seiten auseinander- führenden Wege der neuzeitlichen Geistesentwicklung dar. Denn so verschieden für diese auch das Verhältnis zum Altertum und das zum Mittelalter ist, in einem Punkt ist es beiden gegenüber das gleiche: in der Herausarbeitung des Objektsbegriffs und Subjektsbegriffs, die sich in den letzten vier Jahrhunderten gegenseitig und an ihrem Gegen- satz zueinander zu einer bis dahin unerhörten Schärfe und Selbständigkeit entwickelt haben. Die objektive Welt als ein Mechanismus durchgehender Gesetzlichkeiten, in die keine subjektive Macht: Zweck, höhere Geister, Freiheit, eingreift; ihr gegenüber die menschliche Persönlichkeit, deren Seelenhaftigkeit jener ganzen Natur ein Paroli bietet, die mit ihren Wertsetzungen eine ganze eigne Welt schafft, deren geistiges Fürsichsein nirgends sonst eine Analogie findet, dieses beides trat erst in der Neuzeit so aus- einander, daß alle Mythologien und Teleologien mit ihrer dumpfen Vermischung beider Prinzipien abgetan waren. Zugleich aber entstand unvermeidlich das Bedürfnis, die verlorene Einheit wiederzufinden, auf höherer und bewußter Stufe zu versöhnen, was von der naiven aus auseinander- brechen mußte. Soweit dies Problem auf dem Gebiet der bloßen Intellektualität spielt, ist die Kantische Lösung von unvergleichlicher Größe und Weite. Sie zeigt , daß das Gebiet möglicher Erfahrung die ganze Festigkeit, die Un- abhängigkeit von allen Zufällen subjektiver Interessen, die Geschlossenheit gesetzlicher Zusammenhänge besitzt, die

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wir eben als Objektivität bezeichnen, daß diese aber die Leistung des tiefsten Punktes unsrer " Subjektivität ist, des so tief gelegenen freilich, daß alle Subjektivität im populären Sinne, alle Besonderheit der Personen, alle Willkürlich- keiten der Gefühle kurz : die Unterschiede zwischen den Menschen und die innerhalb des Menschen ihn nicht mehr berühren. Das im Tiefsten Befriedigende dieser Lösung ist, daß gerade die Welt, die wir in unsrer Erkenntnis wirklich haben, sich jenseits dieses Gegensatzes als solchen stellt, weil sie aus der Synthese seiner Elemente erwachsen ist, in dieser Synthese besteht.

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Sechste Vorlesung.

Das zuletzt erörterte Prinzip beansprucht, die Gesamt- heit der Vorstellungswelt zu vereinheitlichen. Es bedarf mindestens eines Beispiels, wie sich unter seiner Herrschaft die wesentlichen Einzelheiten des Weltbildes gestalten vor allem das Problem des Raumes. Was bedeutet dieses unendliche Gefäß um uns herum, in dem wir als verlorne Pünktchen schwimmen und das wir doch samt seinem Inhalt vorstellen, das also ebenso in uns ist, wie wir in ihm sind? Und wenn die Qualitäten der Dinge, ihre Farben und ihre Härte ; ihr Geschmack und ihre Temperatur ausschließlich in unsrer Seele zustande kommen und so die Bilder der Objekte erzeugen, wie kommt es, daß wir sie dennoch nicht in uns, sondern außer uns zu empfinden meinen, daß wir sie aus unsrer Seele heraus und in den Raum jenseits unser versetzen? Die Kantische Lösung dieses Problems ist bekanntlich das populärste Kapitel seiner Erkenntnistheorie geworden, wie mir scheint, aus keinem andren Grunde, als weil sie das erste Kapitel seines Hauptwerkes bildet und eine leicht nachsprechbare Formulierung gestattet. Daß der Raum nur eine Vorstellung ist und außerhalb der vorstellen- den Wesen nicht existiert, ist eine These, die entweder auf die Selbstverständlichkeit zurückgeht, daß meine Vor- stellungen eben meine Vorstellungen sind und als solche nichts weiter, oder sie bedarf einer in alle Tiefen des Kantischen Systems hinabreichenden Interpretation.

Ich gehe von dem Kantischen Zentralgedanken aus: Sinnesempfindung ist noch nicht Erkenntnis. Vielmehr: die Empfindungselemente werden zu Anschauungen, indem sie innerhalb des Bewußtseins in diejenige Form sich ordnen, die wir ihre Räumlichkeit nennen. Im Gebiete der Sicht- und Tastbarkeit ist Anschauen und Räumlich- Anschauen eines und dasselbe. Die Räumlichkeit der Dinge ist für Kant ein

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formales Verhältnis der Empfindungen die den qualitativen Inhalt der Dinge ausmachen zueinander; diese Verräum- lichung nennen wir, als Handlung des Subjekts, Anschauen. Was freilich der Grund sei, weshalb unsre Empfindungen sich gerade in Kaumform ordnen, lehnt Kant ab zu unter- suchen : dies müsse man als eine letzte Tatsache hinnehmen, die keiner Herleitung aus noch primäreren fähig sei. Der Ausdruck Raumanschauung , so brauchbar er innerhalb des Empirischen ist, bedeutet hier, wo es sich um die Grund- legung der Empirie überhaupt handelt, eine Tautologie. Wir schauen nicht den Raum der Dinge als ein Objekt an, sondern das eben heißt Anschauen, daß wir Empfindungen in die eigentümliche, nicht zu beschreibende, nur zu erlebende Ordnung bringen, die wir Räumlichkeit nennen. Von dieser Auffassung her erst ist der dunkle Satz zu verstehen: die bloße Anschauung an den Dingen sei der Raum; er ist eben nichts als die mit einem besondren und gleichsam substan- ziellen Begriff bezeichnete Funktion, die, an Empfindungen ausgeübt, Anschauen heißt. Wenn Kant den Raum immer als „reine Anschauung" bezeichnet, so ist das in dem Sinne zu nehmen, in dem wir etwas einen reinen Vorwand, eine reine Redensart nennen, d. h. nichts als ein Vorwand, eine bloße Redensart ; er ist der bloße Prozeß des Anschauens. Und daß er eine überempirische Anschauung sein soll, will nur sagen , daß dieser Prozeß als solcher keine Empfin- dung enthält, da diese ja erst das Material ist, an dem er vorgenommen wird. Darum spricht Kant direkt aus : die empi- rischen Erscheinungen enthielten „über die Anschauung noch das Reale der Empfindung". An einer andren Stelle bezeichnet er den Raum als ein „Verhältnis" , das die Sinnesempfindungen zueinander hätten. Dieses Verhält- nis muß aber ersichtlich, nach dem früher Ausgemachten, erst gestiftet werden, da jede Empfindung für sich ein gleich- sam punktueller Zustand ist. Das Stiften dieser Verbindung ist die Aktivität des Subjekts, die Handlung seines An- schauens, die nicht eigentlich den Raum erzeugt, sondern der Raum ist, während andrerseits freilich ein „Ver- hältnis" nicht bestehen kann ohne Elemente, die sich ver- halten, also der Raum nur an Sinnesobjekten wirklich sein kann.

Was diese Lehre so sehr verdunkelt und ihr richtiges

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Verständnis hintanhält, ist die Doppeldeutigkeit des Wortes Raum bei Kant. Er bezeichnet damit einmal das bisher hier gemeinte: die Räumlichkeit der Dinge, die Form kon- kreter Empfindungen , die sie zu Gegenständen der Er- fahrung macht. Andrerseits aber auch, dem Sprach- gebrauch folgend, jenes ungeheure leere Gefäß, das unab- hängig von allen einzelnen Dingen zu existieren und in dem diese zu stehen scheinen. Allein dieser unendliche leere Raum ist eine bloße Abstraktion! Nicht er kann angeschaut werden , sondern nur einzelne , endliche Dinge , weil der Prozeß der Anschauung immer nur an einem Empfindungs- material, also an Endlichem, vorgenommen werden kann. Ein leerer Raum, d. h. ein Raum, der nur Raum wäre, ohne ein Sinnesmaterial zu enthalten, ist für Kant konse- quenterweise ein bloßes Gedankending. Wenn die Figuren der Geometrie bloße räumliche Anschauungen ohne irgend- einen Empfindungsinhalt sind, so besagt dies für Kant: die einzelne Figur, an der ein geometrischer Satz bewiesen wird, ist ein sinnlich empfindbares Einzelding; allein bei der geometrischen Aussage über sie achtet man nicht auf das Sinnlich-Materielle daran, sondern nur auf die Handlung der Konstruktion, die aber ohne jenes nicht stattfinden kann; hier wird indes von ihm abstrahiert, die Aussage gilt nur dem konstruktiven Prozesse, durch den aus Empfindungen Raumgestalten werden. Gibt es also für Kant nur Raum- gestalten an Dingen, so ist es demnach ein völliges Miß- verständnis, den Kanti-schen Raum als ein von den empi- rischen Dingen prinzipiell unabhängiges Sein anzusehen, als ein unendliches Gefäß, in das die Dinge hineingestellt würden, wie Möbel in ein Zimmer. Seine Unendlichkeit bedeutet viel- mehr nichts als „die Grenzenlosigkeit im Fortgange der Anschauung", d. h. die ganz unbegrenzte Möglichkeit, den Prozeß der raumbildenden Anschauung weiter und weiter fortzusetzen. Gewiß gibt es für unsere Anschauung keine Grenze des Raumes, weil wir überall, wo wir hinschauen, den Raum hin-schauen, d. h. weil das, was wir Anschauen nennen, nichts andres ist, als die Verräumlichung von Emp- findungen.

Und nun löst sich das vorhin berührte Problem : wieso wir die Dinge, die doch nur in unsrem Kopf bestehen, aus demselben hinaus in den Raum versetzen, wieso sie nach

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außen kommen, da sie doch nur in unsrem Bewußtsein existieren? Sie bleiben darin; denn das „Außer-Uns"' ist eine Form des Bewußtseins selbst, die nicht aus ihm heraustritt, in psychologischer Wendung: einer der Lebens- prozesse der Seele, die eben nur in ihr stattfinden können. Die Räumlichkeit der Dinge ist eben nichts als das Außer- einander von Sinnesvorstellungen, denn dies ist die Art, auf die solche uns zum Bewußtsein kommen. Der Gegenstand wird nicht in unsrem Bewußtsein fertig und dann in "den Raum hinausverlegt, sondern eben als Vorstellung hat der Gegenstand die Form der Räumlichkeit, dadurch ist er Gegenstand, seine Verräumlichung, seine Extensität ist selbst ein rein intensives Geschehen , eine Funktion der Seele, die, zwischen ihren Sinnesempfindungen gleichsam hin- und hergehend, sie in dieser Form empfindet. Deshalb ist der Raum so wenig etwas Reales außerhalb unsrer Emp- findungen , wie etwa die Form , durch die Holz zu einem Schrank wird, außerhalb dieses Materials eine Sonderexistenz führt. Wenn unsre Empfindungen Zustände der Seele sind, so kann ihre Form nicht jenseits dieser letzteren und ihrer Inhalte subsistieren.

Ich halte diese Raumtheorie, trotz ihrer Popularität, für den schwierigsten Teil der Kantischen Lehre und ihr wirkliches Verständnis für eine der größten Aufgaben, die die Geschichte der Philosophie stellt. Wir sind so gewöhnt, den Prozeß der Raumanschauung, den die reale Erfahrung ent- hält, zu dem starren Raumgebilde zu substanzialisieren und dies noch durch die Abstraktion von allen Inhalten, die eine leere Unendlichkeit übrig zu lassen scheint, zu unterstützen, daß wir unsrem Ich ganz unvermeidlich eine Rolle in diesem Raum anweisen, eine Vorstellung, die für die Verhältnisse innerhalb der zustande gekommenen Er- fahrung auch durchaus legitim ist, aber hier, wo es sich erst um die Voraussetzungen ihres Zustandekommens handelt, überwunden werden muß. Angesichts jener Gewöhnung, uns und die Dinge innerhalb eines vor allem Einzelnen bestehen- den Raumes vorzustellen, ist es ein schwieriger Gedanke, daß mit etwas paradoxer Kürze ausgedrückt der Raum selbst nichts Räumliches ist: grade so wenig wie die Vor- stellung des Roten selbst etwas Rotes ist. Erst wenn man begriffen hat, daß der vorstellende Prozeß selbst nicht in die

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Formen und Inhalte hineingehört, die er enthält, daß das vorgestellte Objekt nicht, über sich zurückgreifend, das Vorstellen selbst in sich einbeziehen kann, erst dann kann man mit der so natürlichen Vorstellung brechen : daß das vorstellende Ich im Räume neben den anderen Dingen existiert, erst dann verschwindet das Widersinnige, daß die ganze Ausdehnung des Raumes in ein Partikelchen innerhalb seiner selbst hineingelegt werden soll. Daß diese ganze Ausdehnung von vornherein etwas rein Funktionelles ist, eine Bewegungsform unsrer seelischen Aktivität, das bedeutet die Erstreckung des Aktivitätsprinzips in das ihm scheinbar Unzugänglichste, in das am meisten passivistisch Gegebne, den unendlichen Raum um uns herum.

Deshalb ist die gewöhnliche Formulierung dieser Lehre: der Raum ist „in" uns, leicht mißzudeuten, indem sie ver- führt, das „in" räumlich zu verstehen. Das „in" ist vielmehr nur so gemeint, wie man von dem Sinn „in" einem Satze spricht, wobei der Satz seinen Sinn doch nicht räumlich umfaßt, sondern dessen funktioneller Träger ist. Mit diesem zweideutigen Ausdruck hängt der andere, nicht weniger zweideutige zusammen: der Raum sei nun als etwas nur Subjektives und Irreales erkannt. Dabei lauert leicht die Vorstellung im Hintergrunde, daß die Räumlichkeit eine un- vollkommene Vorstellungsweise, eine Illusion sei, in die wir gebannt seien, übrigens nicht ohne die stille Hoffnung, doch irgendwelche metaphysischen oder mystischen Blicke hinter diese täuschende Kulisse in die wahre Realität tun zu können. Philosophische Theorien hatten behauptet: es gibt in Wirklichkeit keinen Raum; die räumliche Welt als solche ist nur einem Traum oder einer Sinnestäuschung ver- gleichbar: denn die Seele und die Dinge sind geistigen Wesens, unausgedehnt, bloße Kräfte oder Ideen. Deshalb sei der Raum etwas in sich Widerspruchsvolles, und eine bessere Erkenntnis würde uns statt seiner eine nur intensive, rein geistige Existenz der Dinge zeigen. Und selbst wenn diese innere Irrealität des Raumes nicht bestünde, wenn vielmehr die räumlichen Dinge auch wirklich existierten, so würde doch unser Vorstellen uns nie ihrer sicher machen können. Denn da sie außer uns sind und wegen ihrer Extensität sozusagen nie in unsren nur intensiven Intellekt hinüberwandern können, so können wir immer nur auf sie

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schließen, d. h. sie als Ursache unsrer Vorstellungen ver- muten. Jeder Schluß aber von einer unmittelbar gegebnen Wirkung auf eine nicht ebenso gegebne Ursache ist jeder- zeit eine bloße Hypothese. Wir sind also nie vollkommen sicher, ob die Ursachen unsrer an sich unräumlichen Vorstellungen wirklich objektiv räumliche Dinge sind, oder ob jenen Vorstellungen ganz andersartige, metaphysische, geistige oder was sonst für Realitäten korrespondieren.

Beide Lehren: daß der Raum etwas Illusionäres, sach- lich Unmögliches sei, und daß er etwas nur Mögliches sei, dessen Wirklichkeit wir niemals gewiß sein können, beide sind definitiv abgetan, indem Kant erkennt: der Raum hat alle Realität, von der innerhalb unsrer Erkenntnis über- haupt die Rede sein kann, eben dadurch, daß er die Form und Bedingung unsrer empirischen Vorstellungen ist. Die räumlichen Dinge sind dadurch und insoweit real, als sie unsere Erfahrung bilden. Die bloße Tatsache, daß wir den Raum so vorstellen, wie es geschieht: durchgehends, nach festen Regeln, unter empirisch zuverlässiger Unterscheidung der Sinnestäuschungen von wirklicher Erfahrung, beweist nicht seine Realität das wäre irreführend , sondern ist sie. Nimmt man freilich an, daß die sinnlich-räumlichen Vorstellungen in unsrer Innerlichkeit leben, und daß außer- halb ihrer und unabhängig von ihnen die Dinge in einem objektiven Raum stehen, so können wir dieses letzteren rein von der Innerlichkeit her, auf die wir doch angewiesen bleiben, niemals sicher werden, ja, es ist nicht begreiflich, wie der Gedanke es machen sollte, sich irgendwie in dieses ihm wesensfremde Gebiet zu erstrecken. Indem Kant diese Zweiheit vernichtet und den vorgestellten Raum als den einzigen und wirklichen deutet, bedarf es so wenig eines Schlusses auf den Raum, wie wir, Lust oder Schmerz emp- findend , auf die Tatsache erst zu schließen brauchen , daß es derartige Gefühle auch in Wirklichkeit gebe. Wie man sich freilich über die Bedeutung, das relative Maß, die Dauer solcher Gefühle großen Irrtümern hingeben kann, die aber ihre Realität als Lebenselemente ganz unberührt lassen, so sind über die Einzelheiten der Raumeswelt unzählige Täuschungen möglich, aber immer nur auf der Basis einer Raumeswelt von empirischer Realität überhaupt ; denn auch die Korrektur des Irrtums setzt nie ein unräumliches Wesen

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an die Stelle des räumlichen, sondern sie erkennt entweder die Vorstellung überhaupt als eine empirisch nichtige, wie bei Halluzinationen, oder sie ersetzt den vorgespiegelten durch einen andren räumlichen Gegenstand.

Man kann diese Lehre für eine Resignation in bezug auf die Weltstellung des Menschen, für eine Verarmung seines geistigen Besitzes nur halten, wenn man die Kantischen Grundabsichten völlig verkennt. Jeder abändernde, ver- mehrende oder vermindernde Eingriff in den vorgefundenen Erkenntnisbestand liegt der Vernunftkritik völlig fern, außer soweit es sieh um die spekulative Metaphysik handelt, die mit den für die Erfahrung geschaffenen Denkmitteln die Dinge jenseits aller Erfahrung zu erkennen meinte: das Wesen der Seele, die Beschaffenheiten des absoluten Welt- ganzen, die göttliche Existenz. Das angebliche Wissen um diese Dinge erweist er freilich als einen bloßen Mißbrauch der apriorischen Formen, der einander entgegengesetzte trans- zendente Behauptungen gleich gut und gleich schlecht er- weisbar macht. Abgesehen aber von dieser Ausweisung un- berechtigter Elemente aus dem Erkenntnisgebiet, läßt er auf diesem absolut alles beim alten, die Gültigkeit der Erfahrung und der mathematischen Wissenschaften bildet ja grade seine axiomatische Voraussetzung, und es handelt sich für ihn einzig darum, dieses bestehende Wissen zu analysieren und aus seinen Elementen zu konstruieren. Er steht also über- haupt jenseits der Möglichkeit, uns in unsrem Verhältnis zu der Welt der erkennbaren Realität reicher oder ärmer zu machen.

In der gewöhnlichen Auffassung erscheint Kant viel zu radikal. Das Verhältnis des Geistes zu seinen Objekten hat er nur an jenem einen Punkte, der Erkennbarkeit der trans- szendenten Objekte, völlig revolutioniert. Allein diese Tat hat für uns nicht mehr die Wichtigkeit, die sie im 18. Jahr- hundert besaß. Ob die Seele Eigenschaften aufweist, die ihre Unsterblichkeit gewährleisten, ob sich die Existenz Gottes durch eine logische Deduktion beweisen läßt, ob ein zeitlicher Anfang des Weltprozesses widerspruchslos ist oder nicht, das sind Angelegenheiten, die den modernen Menschen nicht sonderlich aufregen. Für uns ist der positive Aufbau der Erkenntniselemente, den Kant geleistet hat, von viel größerem Belang als jene kritische Konsequenz des-

Simmel, Kant. 3. Aufl. 5

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selben. Durch diese Verschiebung des Interessepunktes kommt überhaupt ein Bruch in die moderne Auffassung Kants, ein etwas schiefes Verhältnis zwischen dem histo- rischen und dem sachlichen Aspekt seiner Leistung. Und hierdurch wird das Mißverständnis begünstigt, als ob die Änderung unsres Besitzstandes, die er an der Metaphysik vollzogen hat, unsere Erkenntnis überhaupt träfe. Die „Ver- wandlung" aller „Realität" in „bloße Erscheinung" läßt die gegebne Erfahrung und die gegebne Wissenschaft in ihrem Wahrheitswerte völlig unangerührt, die Erfahrungen unsrer Räumlichkeit verlieren kein Atom von ihrer Realität, die Vernunftkritik will nur diese Realität, ihren Bestand, ihre Elemente, ihr Zustandekommen deuten : denn es handelt sich immer nur um die Realität innerhalb des Erkennens, um die inneren Beschaffenheiten des Vorstellens, soweit wir es Er- kenntnis oder Wahrheit nennen. Ob und welches Verhält- nis das Vorstellen zu etwas haben möge, was nicht Vor- stellung ist, wird hier nicht gefragt, da jedenfalls nur die auf der Seite des Vorstellens aufzufindende Be- deutung eines solchen Verhältnisses untersucht werden soll. Und selbst wenn man zugeben wollte, daß die Erkenntnis außer ihrem inneren Sinne und außer dem Prozeß, der ihre Existenz ist, noch in einen metaphysischen Weltzusammen- hang hineingehört, daß ihr ganzes, in sich abgeschlossenes Sein ein Glied in einem darüber hinausgreifenden Gesamt- verhältnis der Dinge ist, so macht Kant eben von dem Rechte der freien Problemstellung Gebrauch und untersucht in der Vernunftkritik das Erkennen nur als Erkennen, nicht aber die Stellung, die es innerhalb unsres und des kosmischen Wesens einnimmt. Die Frage also, ob er eine absolute, unsrem Erkennen jenseitige Existenz von Dingen-an-sich an- nimmt, muß ihm innerhalb des Zusammenhanges der Ver- nunftkritik so ungereimt erscheinen, als wollte man von einem Kunsthistoriker verlangen, daß er in einer prag- matischen Geschichte der Kunstwerke den psychologischen Ursprung und das moralische Recht der Kunst überhaupt diskutiere. Daraus erklärt sich die irritierende Fruchtlosig- keit des Streites, wie sich die Vernunftkritik zu jenen ab- soluten Dingen-an-sich stelle; es ist überhaupt nicht ihr Problem, sich zu ihnen zu stellen, und deshalb haben sich, wie in allen Diskussionen über ein imaginäres Objekt, die

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entgegengesetztesten Behauptungen darüber als gleich be- weisbar und gleich widerlegbar gezeigt. Kant konnte seine methodisch ablehnende Stellung zu diesem Problem die ebendeshalb keine Ablehnung der Sache ist nicht genauer präzisieren als durch die Erklärung: unsere Sinnlichkeit habe den Charakter der Rezeptivität, und nur umdiesaus- d rücken, spräche man von Dingen-an-sich als von dem- jenigen, was diese Rezeptivität anregte während er zu- gleich erklärt, die Existenz von Dingen-an-sich zu bezweifeln läge ihm völlig fern.

Daraus, daß Kant sozusagen nur die inneren Angelegen- heiten des Erkennens administriert, wird verständlich, daß er von dem nächstliegenden und radikalsten Beweisgrund für die Unerkennbarkeit der Dinge-an-sich keinen Gebrauch macht: daß unser Vorstellen nicht über sich hinaus kann; das vorstellende Ich, selbst ein unendlich vollkommenes und mit übermenschlichen Erkenntnismitteln ausgerüstetes, bliebe doch immer ein Ich, das von dem Nicht-Ich, seinem Gegen- stande, durch eine unüberbrückbare Kluft geschieden ist, das An- Sich des Gegenstandes ist dem Erkennen, das doch ein Für-Uns ist, seinem Begriffe nach versagt. Und wenn jene Brücke nun dennoch geschlagen und das Nicht-Ich in eine Wesensidentität mit dem Ich verschmolzen wäre, so daß die Erkenntnis des Gegenstandes eine Selbsterkenntnis wäre, so würde doch auch diese sich immer nur in Vor- stellungen bewegen, die, wie jede Selbsterkenntnis, ihren Gegenstand haben , den sie treffen oder verfehlen können ; die Identität des Trägers dieser Vorstellungen mit ihrem Objekt könnte die Zweiheit nicht aufheben, die die Vor- stellung als solche dem An-Sich ihres Gegenstandes, d. h. ihm, insoweit er eben nicht Vorstellung ist, gegenüberstellt. Auf diese logisch-fundamentale Begründung des Idealismus verzichtet Kant, offenbar, weil sie das Erkennen als Ganzes, in seiner Beziehung zu andren, gleichfalls absolut genommenen Existenzen betrifft. Eine Gesamtcharakteristik des Erkennens, die dieses nur gleichsam in eine neue Ton- art transponierte, ohne uns über seine Intervalle Neues zu lehren, liegt nicht in seinem Interesse. In vollem Gegensatz zu jenem logischen, aus dem Begriff des Erkennens ge- folgerten Idealismus setzt er ohne weiteres voraus, daß die Dinge-an-sich für einen andern Intellekt als den unsrigen

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für einen nicht an sinnliches Material gebundnen durchaus erkennbar sein könnten. Es sind also nur Unter- schiede innerhalb des Vorstellens überhaupt, die Kant durch den Gegensatz von Ding-an-sich und Erscheinung charakterisiert, nicht der absolute, zwischen dem Vorstellen überhaupt und dem , was außerhalb des Vorstellens liegt. Behält man diese Wendung des Interesses, ausschließlich nach dem Inneren des Erkennens hin, im Auge, so beant- wortet sich ohne weiteres die alte Frage der Kant-Deutung: mit welchem Rechte er denn Dinge-an-sich als Ursache der Sinnesempfindung bezeichne, da doch die Kategorie der Ur- sache nur auf sinnliche Erscheinungen, ausdrücklich aber nicht auf Dinge-an-sich anwendbar sei? Tatsächlich wird hier durch die „Verursachung" unsrer Empfindungen nur eine innere Qualität ihrer ausgedrückt, sie kommen uns in einer eigentümlichen Weise zum Bewußtsein, die wir als Passivität oder Rezeptivität bezeichnen, gegenüber der Färbung des Denkens, das das Gefühl des Schöpferischen, Spontanen mit sich bringt. Diese psychologische Färbung der Empfindungen wird so ausgedrückt, daß sie von etwas schlechthin Äußerlichem verursacht sinji. Die Beziehung des Dinges-an-sich zum Subjekt ist also ausschließlich von der Seite des Subjekts her erfaßt. Wie sich jenes Äußere auch an sich verhalten möge: die Bedeutung dieses Ver- haltens für uns kann nur als Verursachung von Empfindung ausgedrückt werden, dies ist unser Anteil an dem Ver- hältnis zwischen uns und ihm. Wir meinen, wenn wir es als Ursache bezeichnen, gar keine Beschaffenheit oder Ver- halten von ihm, sondern von uns; indem der Charakter gewisser Vorstellungen, rein innerlichen Kennzeichen nach, als Bewirktheit auftritt, ist die ihnen äußere Ursache ein bloß von ihnen her konstruiertes Korrelat. Durch die An- wendung der Kategorie der Ursache soll hier also keines- wegs das Ding, wie es an sich selbst ist, erkannt werden damit hätte Kant freilich den gerügten Widerspruch gegen seine Voraussetzungen begangen , sondern nur, was es für uns, d. h. in uns ist, wird damit benannt.

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Siebente Vorlesung.

Das eigentliche Motiv, aus dem der Vorstellungscharakter der räumlichen Welt diese ihrer Sicherheit zu berauben scheint, ist ihr scheinbarer Unterschied gegen die innere Welt. Unser Ich gebe sich uns unmittelbar durch unsere Vorstellungen zu erkennen, auf die Substanzen außerhalb dieses Ich aber können wir aus unsren Vorstellungen nur schließen, so daß wir ihrer weder unmittelbar noch un- bedingt gewiß seien. Von der Seite des Raumes her is^" dies nun widerlegt: indem die Räumlichkeit eine Form des Vorstellens ist, brauchen wir auf sie nicht zu schließen, sondern mit ihrem Vorgestelltwerden ist ihre volle Existenz gegeben. Aber die WesensdifFerenz zwischen der äußeren und der inneren Erfahrung muß nicht weniger auch von der Seite der letzteren her aufgehoben werden. Hatte der noch nicht Kantisch vertiefte Idealismus die Sicherheit der Außenwelt zugunsten des Selbstbewußtseins entwurzelt, so enthüllt sich, was er diesem letzteren zuspricht, ebenso sehr als ein Zuviel, wie jenes andere ein Zuwenig war. Die Anschauungsweise, die bisher für die Außenwelt durch- geführt ist, überträgt Kant jetzt auf die Innenwelt, nicht nur um die formale Einheit des Weltbildes zu gewinnen, sondern weil eine Anzahl der beängstigendsten Probleme, die die gegenseitige Fremdheit von Außen- und Innenwelt aufgibt, durch das gleiche Verhältnis des Erkennens zu beiden ihre Lösung finden.

Kant behauptet: die Seele erkennt auch sich selbst nicht, wie sie an sich ist, sondern wie sie sich erscheint. Anders ausgedrückt: ihr unmittelbares Leben, der schöpfe- rische Prozeß, in dem psychische Tatsachen überhaupt ent- stehen, muß, um unsrem Erkennen zugängig zu sein, dem Bewußtsein erst in derselben Weise gegeben werden, wie ein Gegenstand äußerer Sinne. Die Vorstellungen also, mit

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denen die Seele sich selbst erkennt, sind von der Struktur des aufnehmenden Bewußtseins bestimmt, wie die Gesichts- vorstellungen von der des Auges, d. h. sie spielen sich als Erkenntnisse ausschließlich innerhalb eines inneren rezep- tiven Sinnes ab, der auf seine Anschauungsformen beschränkt bleibt; sein „Gegenstand" im absoluten, ihm jenseitigen Sinne kann nicht in ihn überwandern oder durch reines, die sinnliche Vermittlung überspringendes Denken ergriffen werden, so wenig, wenn dieser Gegenstand als unser eignes Seelenwesen gefühlt, wie wenn er als das Substrat räum- licher Anschauungen gedacht wird.

Von der gewöhnlichen Auffassung für die die Selbst- erkenntnis zwar im einzelnen oft irren mag, hiervon ab- gesehen aber das Wesen des Ich restlos und keineswegs nur als „Erscheinung" ergreift mag zu der Kantischen die Betrachtung überleiten, daß mindestens die Vergangen- heit unsrer Seele uns als eine festumschriebene Tatsache gegenübersteht, die wir nur in derselben Weise registrieren und als etwas Gegebenes in unser momentanes Bewußtsein aufnehmen können wie irgendeine räumliche Wirklichkeit. Unsere gedachten Gedanken stehen für uns als Gegenstände einer inneren Anschauung da , wir sind ihnen gegenüber passiv. In welcher Form dieses Frühere weiterexistiert, um uns jetzt zu seiner Reproduktion anzuregen, wissen wir nicht. Aber diese Reproduktion ist doch, so unvermeidlich gegeben ihr Inhalt ist, eine Funktion unsres jetzigen, auf- nehmenden Bewußtseins. Jener frühere Inhalt ist als Wirk- lichkeit unwiderbringlich dahin; was jetzt von ihm lebt, ist nicht er selbst, sondern die Tätigkeit des reproduzierenden Bewußtseins, das zwar zu dieser angeregt und dadurch seinem Inhalte nach bestimmt werden muß, dies aber doch nur in den Formen und Reaktionsweisen kann, zu denen seine Organisation es befähigt. Dieses Hinnehmen des seelischen Inhalts als eines gegebenen bestimmt aber nicht nur den Rückblick auf unsere innere Vergangenheit; nicht weniger kann auch der gegenwärtig aufsteigende Gedanke, Gefühl, Impuls zum Gegenstand einer Wahrnehmung werden. Die Selbstbeobachtung vermerkt die psychischen Inhalte so, wie sie sich entwickeln, sie stellt ein wahrnehmendes Ich einem wahrgenommenen gegenüber, das, obgleich eine und dieselbe Persönlichkeit in beiden lebt, jenem nicht weniger

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Objekt ist, als eine Rauraerscheinung unsrem Auge. Diese Zweiheit unsres Seelenlebens steigt nun aber noch tiefer, in seine primären Elemente hinunter. Die einzelne Vor- stellung ist nicht nur als Moment unsrer Lebensgeschichte und Selbstbeobachtung eine gegebne und hinzunehmende Tatsache : sondern als eine solche bietet sie sich auch schon bei ihrem ersten Aufsteigen unmittelbar dar. Wir fühlen sie gleichsam von unsrem Bewußtsein Besitz er- greifen. Sie ist, als bloße Vorstellung betrachtet, diesem ebenso ein Gegebenes, nicht mehr zu Änderndes, wie eine äußere Sinnesaffektion ihr etwaiger Inhalt es ist. Der spontane Akt unsres Vorstellens ist uns verborgen, wir kennen nur die Resultate, die er in unser Bewußtsein schickt, oder, in der Kantischen Ausdrucksweise, die Arten, wie er unser Bewußtsein affiziert. Was wir Aufmerksam- keit nennen, ist der größere oder geringere Grad des Be- wußtseins, das von der Vorstellung erregt wird und durch das, wie Kant sagt, die Vorstellung überhaupt erst zh. einem Gedanken gemacht wird. Denn wenn es auch Worte eines anderen oder Vorgänge am Sternenhimmel sind, auf die wir aufmerken, so ist dies letztere doch nichts als die Schärfung des Bewußtseins unsrer eigenen Vor- stellungen, ohne daß die objektiven Inhalte desselben dadurch irgend alteriert würden. Irgendein Grad von Aufmerksam- keit aber kommt doch jeder Vorstellung zu: wo die Auf- merksamkeit absolut fehlte, würde kein Gedanke mehr als solcher bestehen. Wenn nun Aufmerksamkeit, d. h. das jeweilige Bewußtsein, eine innere Zweiheit voraussetzt: einen gegebenen Inhalt und mannigfache Grade der seelischen Intensität, mit der er für uns existiert; wenn jener Inhalt doch auch nur die Wirkung eines Vorgangs ist, der den Fundamenten unsres Ich, jenseits des Bewußtseins, an- gehört — so ist also jede Vorstellung eine Selbstanschauung unser. Sobald wir das Denken nach dem befragen, was es als Entfaltung oder Enthüllung unsres Ich bedeutet, so ist es die im Bewußtsein sich vollziehende Anschauung oder Erscheinung unsres seelischen Wesens, das also an und für sich niemals erkannt werden kann. Freilich ist dies nicht der einzige oder notwendige Standpunkt unsren Vorstellungen gegenüber. Wir können sie rein auf ihren sachlichen Sinn und auf das hin ansehen, was ihr Inhalt uns an Erkennt-

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nissen bietet; steht aber ihre Bedeutung für unsere Sub- jektivität, ihr Charakter als seelische Prozesse, ihr Geschehen als Szene unsres Lebensdramas in Frage, so sind sie die Affektionen unsres Bewußtseins durch die ihm jenseitige Wesenheit unsrer Seele, welch letztere wir also auch, wie die Realitäten des Raumes, nur erfahren können, ohne den absoluten Gegenstand, der jenseits dieser sinnlichen Be- eindrucktheiten des Bewußtseins steht, unmittelbar zu er- greifen. Die eigenartige Vereinigung von Aktivität und Passivität in unsren Sinnesempfindungen : daß wir einerseits ihren Inhalt als einen schlechthin gegebnen hinnehmen müssen, andrerseits aber diesen Inhalt doch, unsrer Organi- sation entsprechend, selbst erzeugen, so daß ihre trans- szendente Ursache sich weder in ihnen abspiegelt, noch in sie aufgenommen wird diesen Charakter zeigen unsere Vorstellungen auch dann, wenn sie als der Stoff' unsrer Selbsterkenntnis gelten.

Die einzelne Vorstellung aber, ja, eine Vielheit von Vorstellungen bildet noch kein Ich, sie ist der Stoff, der zu einer Innenwelt erst geformt werden muß, wie der Empfindungsinhalt von Gesicht und Getast erst eine Außen- welt ist, wenn er räumlich geformt ist. Diese Form, ohne die unsere Bewußtseinsinhalte nicht zu einem Ich, einem ein- heitlichen inneren Dasein organisiert werden können, gewinnen sie dadurch, daß der eine früher, der andere später ist. Ein Haufen von Vorstellungen, die keinen zeitlichen Ver- lauf bildeten, würde kein menschliches Ich ausmachen. So wenig es in einem Raumpunkte eine Welt geben kann, diese vielmehr sich im Nebeneinander entfalten muß, so wenig kann es in einem Zeitpunkt eine Innenwelt geben, sondern eine solche muß für ihre Inhalte ein Nacheinander zur Verfügung haben. In dem Augenblick, in dem ein Be- wußtseinsinhalt auftaucht, ist er, auf seine bloße seelische Bedeutung hin angesehn, der subjektive Zustand eben dieses Momentes; daß wir aus ihm und allen seinesgleichen ein objektives Bild, die von allem Momentan-Subjektiven un- abhängige Vorstellung eines Ich formen, das dem augen- blickliehen Bewußtsein als eine historische Tatsache gegen- übersteht: das geschieht durch die Ordnung jener Einzel- zustände in eine Zeitreihe. Dadurch stellen wir sie in eine Distanz gegen den Augenblick, der doch in sie eingereiht

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ist, verbinden sie unter sich zu einem objektiven Ganzen wie dies alles entsprechend durch die Verräumliehung der subjektiven Empfindungen geschehen muß, um aus diesen eine Welt der Dinge zu gewinnen. Wir erfahren uns d. h. wir erkennen ein über seinen subjektiven Zustand hinübergreifendes Ich ausschließlich durch das Bewußt- sein, daß unsere einzelnen Vorstellungen eine Folge bilden und vermittels dieses Vorher und Nachher die in ununter- brochener Zeitform verlaufende, objektiv reale Geschichte unsrer Seele sind.

Welches aber ist das Verfahren, durch welches die aktuellen Vorstellungen zu solchem Znsammenhang eines inneren Lebens gelangen ? Diese Technik unsres Bewußtseins bezeichnen wir als Reproduktion. Die Vorstellung irgendeines Augenblicks ist mit diesem unwiderbringlich verschwunden, die Wirklichkeit des Seelenlebens hat nur den Punkt der Gegenwart in ihrer absoluten Unausgedehntheit zur Ver- fügung, und zu einer Zeit, d. h. zu der Spannung zwische« einem Vorher und einem Nachher würde es niemals kommen, wenn das Vorher nicht in der ideellen Form der Erinnerung weiter lebte. Wir müssen das Bewußtsein haben, daß das, was wir in diesem Augenblick denken , eben dasselbe sei, was wir schon gedacht haben und was nun neben einem eventuellen Neuen, dem primären Inhalt des gegenwärtigen Momentes, weiterbesteht: dieses eigentümlich qualifizierte Bewußtsein nennen wir die Vergangenheit. So wenig wie die Zukunft die wir dadurch erzeugen, daß wir in der Phantasie die Gegenwart mit jener Bewußtseinsfärbung der Vergangenheit ausstatten ist die Vergangenheit irgend- wie real. Vor die Frage des Seins gestellt, ist das Ver- gangene so nichtig, als wäre es niemals gewesen. Es ist schon leicht mißverständlich , wenn man sagt , nur das Gegenwärtige sei wirklich ; denn die Gegenwart erscheint hier als der Begriff irgendeiner Zeit; gerade als solcher aber ist er auf das objektiv Reale nicht anzuwenden. Denn dieses existiert nur in dem Zeitpunkte, der so wenig eine Zeit ist, wie der Raumpunkt ein Raum ist. Zeit ist zeit- liche Ausdehnung; diese aber kommt nur subjektiv, d. h. vermöge der Erinnerung an das objektiv nicht mehr Seiende zustande. Dem individuellen Belieben ist diese Subjektivität natürlich ebenso entrückt wie die der Raum-

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anschauung. An welche Stelle der Zeit wir irgendeinen Vorstellungsinhalt setzen, steht keineswegs in unsrer Macht; daß wir ihn aber überhaupt, nachdem er die Wirklichkeit verlassen hat, vermöge der seelischen Reproduktion mit andren in das Verhältnis setzen, das wir zeitlich nennen das ist ein Tun der Seele, eine Bewährung einer, ihrem und nur ihrem Wesen und deshalb nicht ihrer Willkür inne- wohnenden Energie. Sie stiftet dies Verhältnis, indem sie zwischen ihren Inhalten gleichsam hin und her geht und deren Sein und Nicht-Sein in die diesem selbst fremde Ton- art der Zeitlichkeit transponiert. So ist es zu verstehn, daß Kant die Zeit fortwährend als die Form der Selbst- wahrnehmung, der Erkenntnis des eignen Ich bezeichnet, während sie uns doch das Schema für die Weltereignisse abgibt, die mit unsrer Selbsterkenntnis nicht das geringste zu tun haben. Der Kantische Gedanke ist hier freilich nicht ganz leicht erfaßbar. Jede Vorstellung, so sehen wir, ist nach ihrer Binnenseite hin als eine Selbstanschauung des Ich anzusehen. Ein empirisches Ich aber entsteht aus solchen Vorstellungen, indem das Gedächtnis das Vergangene wiederholt und dadurch das Vorher und Nachher, d. h. die zeitliche Ordnung der Vorstellungen ermöglicht. Die Zeit ist so wenig eine vorbestehende leere Linie, auf die wir unsere Vorstellungen setzen, wie der Raum ein leeres Gefäß war, in das wir unsere Empfindungen projizieren; sie ist vielmehr die Form, die nur an unsren Vorstellungen selbst realisierbar ist und durch deren Funktionieren das Ich als Gegenstand unsrer eignen Erkenntnis zustande kommt. Nun ist es aber nicht notwendig, daß dieser Prozeß, der sozusagen die Zeit nicht schafft, sondern die Zeit ist, auf seinen Er- folg, das empirische Ich zu konstituieren, hin angesehen wird. Wir können auch, indem er abläuft, auf seine sach- lichen Inhalte achten, die nun gleichfalls als zeitlich ge- ordnete erscheinen müssen. So paradox diese Überzeugung scheint: wenn ich einen Sonnenuntergang und darauf einen Mondaufgang beobachte, so geht diese zeitliche Ordnung die Erscheinungen selbst sozusagen nichts an; sie sind einfach da und haben ihre begriiflich ausdrückbare Bedeutung für sieh. Die zeitliche Relation des Vergangenen, also objektiv überhaupt nicht mehr Seienden, nur Erinnerten, zum Gegen- wärtigen entsteht nur dadurch, daß modern ausgedrückt

ich sie erlebe, d.h. daß sie die Form meines Erlebens, das sich vermöge der Erinnerung über Wirkliches und nicht mehr Wirkliches ausspannt, annehmen; Kantisch ausgedrückt: daß sie „als Bestimmungen des Gemütes zum inneren Zu- stand gehören." Der Willkür des Subjekts ist freilich diese innere Formung genau so entzogen, wie der Inhalt des Vorstellens, dessen sinnliche Bestimmtheiten doch nicht weniger durch die psychophysische Organisation des Vor- stellenden determiniert sind. Richtigkeit und Irrtum unter- scheidet sich bei diesen und bei den Formungen durch das Erleben danach, ob sie dem als objektiv vorausgesetzten Zusammenhang der Erfahrungsinhalte nach Naturgesetzen angehören oder ihm widersprechen.

Als den frappierendsten Einwurf dagegen, daß die Zeit keine Wirklichkeit außerhalb unsrer Vorstellungen besitze, bringt Kant selbst vor: daß die Zeit real sein müsse, wenn Veränderungen real seien , da diese doch nur in jener ge- schehen könnten ; da nun aber unsere Vorstellungen unleug\ bar wechselten, so gingen Veränderungen nicht nur in ihnen, sondern mit ihnen vor sich. Nicht nur ihr Inhalt also enthielte die Zeit die in diesem Fall allerdings außerhalb der absoluten Realität stände , sondern der Prozeß des Vorstellens, als unbedingt reales Sein und Ge- schehn und Träger jener Inhalte, unterläge ihr; so daß sie, als Bedingung einer Wirklichkeit, selbst etwas Wirkliches sein muß. Allein: allerdings folgen unsere Vorstellungen einander. Aber das heißt doch nur, daß wir uns ihrer als nacheinander folgend bewußt sind, oder in der Sprache des obigen, von Kant nicht ebenso formulierten Beweis- grundes — daß das Sein und Nicht-Sein unsrer Vorstellungen nur dadurch zu einer Zeitfolge gestaltet wird, daß wir die als Realität nicht mehr seiende im Bewußt- sein reproduzieren und sie mit andern in die Form zusammenordnen, die wir Zeit nennen. Das Wahre an jenem Argument ist nur, daß unsre Vorstellungen, als reale Vorgänge, sind und nicht sind. Daß aber auch die nicht- seienden die reproduzierte Existenz gewinnen, durch die wir sie als sich ändernde, also zeitliche bezeichnen können, ist nur innerhalb des Bewußtseins möglich, nur durch die Wahrnehmung der inneren Tatsachen, die als solche nur sein oder nicht sein können, aber der Verbindung ent-

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behren, die mit ihrer Auffassung als zeitlicher identisch ist gerade wie die Empfindungen äußrer Sinne an sich un- verbunden sind und erst durch die Bearbeitung in dem formenden Bewußtsein das gegenseitige Verhältnis gewinnen, das ihre Räumlichkeit heißt.

Darum ist uns die Erkenntnis der „Seele", die jenseits des Bewußtseins, als dessen Träger, steht, notwendig ver- sagt. Denn wir kennen „uns" nur in zeitlicher Entwicklung, die Zeit aber ist nur die Ordnung der im Bewußtsein empfangenen Anregungen und Inhalte. Auch dem eignen seelischen Sein gegenüber bleibt die Erkenntnis sozusagen auf sich selbst, d. h. auf die von ihrer Reaktionsform be- stimmten Erscheinungen dieses Seins beschränkt. Die Vor- stellungen, die rein als solche angesehn ebenso ein bloßes Material für die sich zur Einheit formende Innenwelt sind , wie die Sinneseindrücke für die Außenwelt, haben mit dieser Einheit, mit dem Ich nichts zu tun, solange man jede einzelne für sich ansieht. Die Verbundenheit, durch die sie Einheit oder lehcharakter gewinnen, ist nur die zeitliche, die ihre sich bietenden Inhalte ergreift und ordnet nicht aber die Einheit einer „Seele", die unter ihnen läge und als ihre gemeinsame Wurzel sie aus sich hervortriebe. Eine solche Einheit mag vorhanden sein aber die Erkenntnis hat keine Brücke zu ihr. Die Ich- Einheit, die überhaupt eine ergreifbare Beziehung zu unsern Vorstellungsinhalten besitzt, kann, da nur diese Inhalte uns wirklich gegeben sind, ausschließlich sozusagen nach oben zu liegen, in der zeitlichen Verwebung dieses Ge- gebnen ; zu dem, was jenseits der Vorstellungen selbst liegt, können wir nicht dringen, an diesen liegt die untere Grenze aller Erkenntnismöglichkeit. Daraus zieht Kant eine Reihe der wichtigsten Folgerungen, die sich aber, seiner theoretisch- intellektualistischen Grundtendenz zufolge, nur auf Möglich- keit und Sicherheit unsres Erkennens erstrecken und für unser Sein und das Fundament unsres Wesens nur kritische, negative Bedeutung haben.

Zunächst wird die empirische Realität der Außenwelt dadurch nun definitiv gesichert. Denn die Zweifel an dieser basierten schließlich doch darauf, daß sie nur durch Vor- stellungen erkennbar sei ; der Vorstellungen selbst, d. h. des denkenden Ich glaubte man unbedingt sicher zu sein, während

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die Wahrheit des Sachgehaltes nie strikt erweislich wäre. Jetzt ist erwiesen: auch das, was diese Vorstellungen als solche unmittelbar, wie es scheint, zu erkennen geben, das Seelisch-Innerliche, hat nur genau den Realitätsgrad der äußeren Welt. Auch uns selbst kennen wir nur in den Reaktionen, als Reaktionen eines auffassenden Organes, nicht aber nach unsrer an sich seienden Realität, jenseits der Energien und Formen dieses Organes. Die äußere und die seelisch-geschichtliche Welt haben also die gleiche empirische Realität und den gleichen Abstand von dem, was man sich als ihr transszendentes Substrat denken mag. Wenn die eine jenen Abstand zu überwinden und das absolute Sein dieses Substrates auszuschöpfen schien, so ist dies ebenso trüglich, wie die Deklassierung und Unsicherheit, in die sie damit die andere herabdrückt, unverdient ist.

Diese Koordination, die die Außen- und die Innenwelt von der Frage nach ihrem Erkanntwerden aus gewinnen, ergibt als weiteres Resultat für Kant die Lösung eines^, Hauptproblems alles neuzeitlichen Philosophierens: der Wechselwirkung von Geist und Körper.

Dem Bruch zwischen der Äußerlichkeit und der Inner- lichkeit des Lebens, der am Ende der klassischen Welt ent- standen war, verlieh Descartes seinen Ausdruck auf objektiv- theoretischem Gebiet : der Leib und die denkende Seele sind so völlig verschiednen Wesens, daß ihre Wechselwirkung eigentlich nicht begreiflich ist, obgleich sie als Tatsache vorzuliegen scheint. Der Dualismus in allem Menschlichen, aus dem seinen Provinzen das Spiel zwischen Getrenntheit und Einheit als ihr ganz allgemeines Entwicklungsschema quillt, hat hier die Elemente unsrer Existenz überhaupt ergriffen. Die Philosophie, dies sogleich als die fundamen- tale Spaltung empfindend, die sich als Riß durch den ganzen Bau unsres Wesens fortsetzt, hat seitdem unablässig an dem Problem gearbeitet: wie die rein intensive, unaus- gedehnte Substanz der Seele eine wirksame Beziehung zu der rein extensiven, in bloßer Äußerlichkeit bestehenden Substanz unsres Leibes eingehen könne. Kein Mittel der Metaphysik blieb unversucht: die Beihilfe Gottes wie das Enthaltensein unsrer Seele und unsres Körpers in der gött- lichen Allumfassung sollten die getrennten Wesenheiten zu- sammenbinden ; ihr Wurzeln in einer einheitlichen Substanz,

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•die sich gleichzeitig als das eine wie als das andre dar- stellt, wie ein Parallelismus ihrer voneinander unabhängigen Entwicklungen; die Deutung des Seelischen als eines im Grunde Körperlichen wie die des Körperlichen als eines im Grunde Seelischen. Diesen etwas verzweifelten Versuchen, dem erfahrungsmäßigen Zusammenhang von Geist und Körper eine begrifflich erklärende Einheit unterzubauen, begegnet Kant durch eine grundsätzliche Reduktion des Problems. Die Schwierigkeit, für die rein extensive Substanz des Körpers und die rein intensive Substanz der Seele eine Einheit zu finden, bestehe gar nicht, weil weder der Körper noch die Seele uns als solche voneinander unabhängigen, für- sich-seienden Substanzen gegeben wären. "Wir haben vielmehr von beiden nur Erscheinungen , die vom Bewußtsein nach den ihm eigenen Formen produziert werden. Es ist also ganz willkürlich, wenn man die hinter diesen Erscheinungen stehenden transszendenten Wesen, die unsrer Erkenntnis für immer entzogen sind , mit irgendwelchen Eigenschaften ausstattet. Die Unzulässigkeit davon zeigt sich eben un- mittelbar so, daß jene Bestimmungen: Intensität und Extensität, auf die selbständigen Wesenheiten Körper und Seele angewendet, keinen Zusammenhang beider denkbar machen, während sie, als Eigenschaften der Erscheinungen, deren Zusammengehen zu einer Erfahrungswelt nirgends behindern. Die Schwierigkeit der Wechselbeziehung zwischen Körper und Seele spiele also nicht zwischen zwei Welten, an denen man keinen Berührungspunkt finden könnte, sondern sei nur eine relative: nach welchen empirischen Gesetzen die Vorstellungen, die wir äußere nennen, mit denen, die bloß innere heißen, in tatsächlichem Zusammen- hang stehen, d. h. zusammen eine Erfahrungswelt die- jenige, die wir wirklich haben, ausmachen.

Der Dualismus, der das W^eltbild zu zerspalten drohte, hat damit eine übergreifende, einschließende Einheit ge- wonnen: die Erfahrung, in der psychische und körper- hafte Elemente sich zusammenfinden, beide aber nur als Vorstellungen, so daß die Gesetze ihres Zusammenhangs prinzipiell nicht anders geartet sind, als die, die für die Beziehungen der physischen Ereignisse unter sich oder der seelischen Ereignisse unter sich auffindbar sind. Die Schwierigkeit, unter der das Problem bis zu Kant gelitten

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hatte, stammte daher, daß man hinter die Erscheinungen, wie sie sich empirisch geben, gegriften hatte und für die Inhalte des einen, erfahrenden Bewußtseins zwei wesens- verschiedene, voneinander unabhängige Träger gesucht hatte verführt durch die qualitative Differenz , die unleugbar zwischen jenen beiden Provinzen der Erfahrungswelt besteht, aber doch immer nur die inhaltliche Verschiedenheit zweier Vorstellungsarten in einem und demselben Bewußtsein bleibt. Was die Metaphysik für die der Erklärung bedürftige Tatsache gehalten hatte: die unausgedehnte Substanz der Seele, die von dem Geistigen unabhängige Raumeswelt und irgendeine Art Vereinheitlichung zwischen ihnen, eben dies erklärt Kant für eine naive und willkürliche Annahme. Denn gerade jene Substanzen sind nicht gegeben, sondern nur körperliche und seelische Erscheinungen, deren Einheit darin liegt, daß sie eine einheitliche, d. h. allenthalben die gleichen Regelmäßigkeiten aufweisende Erfahrung bilden. Es ist auch hier nur der radikale Intellektualismus Kants, der das Wort führt : damit die Welt bis auf den Grund im Erkennen aufgehe, muß sie in eine Funktion des Erkenntnisträgers verwandelt werden, gerade wie Plato, weil er in den Begriffen das einzig zuverlässige Erkenntnismittel erblickte, die Ideen als die eigentliche Realität der Welt konstruierte, die Ideen, die doch nichts sind als die verselbständigten Gegenbilder unsrer Begriffe. In beiden Fällen wird eine Erkenntnisart dort die begrifflich-dialektische, hier die naturwissenschaftliche (mathematisch-empirische) als die souveräne, unbezweifelt wertvolle, als der Drehpunkt des Weltbildes empfunden; und nun wird der Gegenstand des Erkennens, das objektive Dasein, als ein solches konstruiert, das eben dieser Erkenntnis- art sich restlos darbiete, ihr gänzlich durchdringbar sei. An dem Dualismus von Seele und körperlicher Materialität fand Kant das Problem vor, das die Einheit des naturwissen- schaftlichen Erkennens am schwersten bedrohte, weil hier die Gesetzgebungen zweier, der Substanz nach verschiednen Welten nebeneinander zu liegen schienen ; weshalb man denn auch zur Lösung des Widerspruchs nur metaphysische Mittel versucht hatte. Statt dessen bildet Kant die dualistischen Elemente so lange um, bis sie sich gemeinsam der wissen- schaftlichen Intellektualität beugen: die Wirklichkeit wird nur so weit als solche anerkannt, wie sie Wissenschaftsinhalt

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sein kann, wie das Bewußtsein sie nach eben denselben Gesetzen erkennt, nach denen es sie schon produziert hat, nach den intellektuellen Funktionen, die sich gleichmäßig über die äußere wie über die innere Welt, mit nur sekun- dären Unterschieden, erstrecken.

Dies ist natürlich nur eine prinzipielle Lösung und hat mit den empirischen, durch die moderne Physik hervor- getretenen Schwierigkeiten nichts zu tun, die das Verhält- nis von Leib und Seele auch dann noch findet, wenn beides die aus einer Wurzel, d. h, aus einem Bewußtsein ent- springenden Elemente einer Erscheinungswelt sind.

Was aber durch Kant in jedem Fall gewonnen ist, das ist eben die Verwandlung der metaphysischen Schwierigkeit in eine empirische und damit unter andrem das höchst Wichtige: daß aller Materialismus als eine in sich wider- spruchsvolle Metaphysik erwiesen ist. Denn grade er geht ja hinter die gegebnen Erscheinungen zurück, gerade er begnügt sich nicht mit der empirischen Welt, die das Körperliche und das Geistige als letzte, heterogene Tatsachen vorfindet, gerade seine Behauptung: die seelischen Tat- sachen seien physische Wirklichkeiten oder Ereignisse setzt an die Stelle des erfahrungsmäßigen Zusammenhanges der einzelnen Realitäten die Begründung der einen Reihe auf etwas, was hinter ihr und insoweit jenseits aller Wahr- nehmbarkeit und Anschaulichkeit liegt. Er ist in genau demselben Sinne Metaphysik wie der Spiritualismus, für den umgekehrt alles körperliche Dasein seinem Wesen nach ein geistiges ist. Gerade an dem Gegensatz auch zu diesem letzteren wird die Eigentümlichkeit des Kantischen Stand- punktes höchst deutlich. Gewiß ist für Kant die erkenn- bare Welt, also auch die materielle, eine Summe von Bewußtseinserscheinungen; aber auch das, was wir Geist nennen, ist nichts anderes, auch er ist nur ein Inhalt der Erfahrung-bildenden Funktion, auch er besteht, wie die Materie, nur in seinem Vorgestelltwerden. Dieses Vorstellen aber ist nicht in demselben Sinne Geist, in dem wir ihn der Materie als das andere Weltelement gegenüberstellen, sondern ist der gleichsam freischwebende Grundprozeß des Bewußtseins überhaupt, der an sich jenseits jenes Gegen- satzes steht, weil er ihn erst erzeugt und einschließt. Materialismus und Spiritualismus begehen also den gleichen

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Fehler: dasjenige, was nur als ein partielles Erfahrungs- gebiet, als Erscheinung vermittels bestimmter Wahrnehmungs- funktionen existiert, zu dem Dinge-an-sich der je anderen Erscheinungsqualität zu machen. Daß im 19. Jahrhundert der Materialismus noch einmal, trotz Kant, Schule machen konnte, beweist, wie sehr er Metaphysik ist, d. h. von Ge- fühlen und Willenstendenzen, von allgemeinen kulturellen und personalen Motiven abhängig ist, die jenseits der wissen- schaftlichen Intellektualität stehn und alle Belehrung durch diese ausschlagen.

Die Einheit des Weltbildes aber, auf die Materialismus und Spiritualismus ausgingen, ist jetzt aus dem Körper und der Seele in diejenigen Funktionen zurückverlegt, in denen sie beide gleichmäßig entstehen: in den Gesamt- zusaramenhang der Erfahrung. Und dieser Gegensatz gibt noch einmal Gelegenheit, die ungeheure Originalität der von Kant gewonnenen Wendung des Denkens zu betonen. Alle sonstige Philosophie hatte die Begriffe der Dinge so"*- lange umgestaltet, bis ihre Fremdheiten und Gegensätze in eine Einheit aufgehoben waren. Denn wenn es doch schließ- lich jeder Philosophie darauf ankommt, die Vielspältigkeit der unmittelbaren Erscheinungen zu überwinden, ihre Wider- sprüche zu versöhnen, aus den Fragmenten, als die sie sich darbieten, ein einheitliches Ganzes zu gestalten, so suchte man eben in den Qualitäten der gegebnen oder einer kon- struierten Wirklichkeit nach dem Punkte, der diese Ver- einheitlichung leistete. Und man pflegte ihn so zu gewinnen, daß man eine einzelne Bestimmtheit der Erscheinungen ins Absolute, Metaphysische steigerte : den Geist oder die Materie, die Einheit oder die Vielheit, die Substanz oder die Be- wegung — und dadurch an ihr die übergreifende Potenz gewann , die alles andere und Relative aus ihrer Einheit hervorgehn ließ und in dieser zusammenschloß. In Kant nun hat der philosophische Einheitstrieb zum ersten Male auf solche Formung der Dinge selbst verzichtet; er sucht seine Befriedigung nicht mehr an den Qualitäten des Gegebnen. Vielmehr: die Erkenntnisse der Dinge hängen nach wissenschaftlichen, überall anwendbaren Prin- zipien zusammen und bilden dadurch einen einheitlichen, intel- lektuell zugängigen Kosmos. In ihren Inhalten, in den Eigen- schaften ihrer für -sich -seienden Wirklichkeit wird man

Simmel, Kant. 3. Aufl. 6

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vergebens nach einer Einheit suchen; sie liegen gleich- gültig nebeneinander, oft nicht einmal 'durch vermittelnde Glieder kontinuierlich verbunden, nur durch die Künstlich- keiten der Metaphysik einem höchsten Begriffe einzuordnen. Sobald man aber die Einheit nicht mehr in den Dingen selbst, ihrem unmittelbaren Dasein nach, sondern in dem Bilde ihrer sucht, mit dem sie sich in die wissenschaft- lichen Ordnungen einstellen, in dem Zusammenhang, den sie durch ihren gemeinsamen Anteil an der gültigen Er- fahrung gewinnen so stellt sie sich sogleich ein, viel- leicht noch nicht als vollendete Tatsache, aber als eine sichere Form und Schema, die unsere wachsende Erkenntnis immer mehr erfüllt, als ein ideelles Ganzes, durch seine Prinzipien selbst da zusammengehalten, wo das reale Wissen von den Dingen noch Lücken und Irrtümer zeigt. Um die Kantische Intellektualisierung des Weltbildes wirklich zu begreifen, ist ihre jetzt fragliche Funktion: die Einheit eben dieses Weltbildes zu gewährleisten, von größter Be- deutung. Was man sonst „den Gegenstand" nennt, ersetzt er durch die wissenschaftlich haltbare Erfahrung von dem Gegenstand; denn nur als diese ist er uns gegeben, außer- halb ihrer ist nur das Chaos der Sinneseindrücke. Wie Plato über die unmittelbare oder scheinbare Realität des Seins die allein wirkliche Welt der Ideen setzte, der reinen Begriffe, in deren logischer Anordnung und Verknüpfung wir die Wahrheit des Seins ergriffen so läßt Kant die reine Wirklichkeit der Dinge durch den Komplex der wissen- schaftlichen Erfahrungen vertreten; nur daß die Geistig- keit, die bei Plato doch wieder zu einer festen, meta- physischen Substanz gerinnt, jenseits des unwillig anerkannten Weiterlebens der sinnlichen Existenzen, sich hier als der Zusammenhang der Naturgesetze und der durch sie begreif- lichen Erscheinungen offenbart. Nur diese Bedeutung fest- haltend, kann man ohne Mißverständnis die Kantische Lehre so ausdrücken: daß sie an die Stelle der Dinge die Vor- stellungen über die Dinge setzt. Denn damit ist die Welt zwar intellektualisiert , aber nicht subjektiviert. Es fehlt diesem Weltbild völlig die Mitwirkung des Gefühls und jener geheimnisvollen, unmittelbaren Beziehungen der Seele zum Kern des Seins, die sich dem Richterstuhl des Verstandes mit seiner Alternative von Wahr und Falsch, überhaupt

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nicht stellen. Vielmehr, die Wirklichkeit ist mit der Summe der intellektuellen Begreiflichkeiten abgeschlossen. Von Subjektivität, d. h. von einer willkürlichen, von Person zu Person wechselnden Auffassung im Gegensatz zu dem echten, gültigen, sachlich begründeten Erkennen ist hier also nicht die Rede. Es gibt gar kein objektiveres, d. h. den Zufällig- keiten des Subjekts mehr entzogenes Bild des Seins , als dieses, das die Wirklichkeit mit den wissenschaftlichen Be- griffen von ihr identisch setzt. Es ist also nicht die Vor- stellung überhaupt , nicht der seelische Prozeß bloß als solcher, der für Kant das Sein in seinem naiven oder meta- physischen Aufgefaßtwerden verdrängt, sondern das Vor- stellen der Erfahrung und Wissenschaft; nicht einfach das Bewußtseinsbild des Gegenstandes tritt an die Stelle des Gegenstandes, sondern ein intellektuell geprüftes Bild , das theoretisch gültige Bewußtsein, das jede Einzelheit erst akzeptiert, wenn es sie als notwendig begreift.

Ich habe früher auf den Tief sinn hingewiesen, mit dem"*" Kant die innerlichste Einheitsform des Ich und die Gegen- ständlichkeit der Dinge in e i n e n Begriff faßt. Liegt hierin jene tausendfach bewährte Korrelation zwischen dem Sub- jektivsten und dem Objektivsten, die Entwicklungsformel des Geisteslebens, die von allen mittleren Zuständen aus pari passu diesen beiden Polen zustrebt so bewährt sich eben dieselbe nun auch in einem negativen Sinne. Das Ich ist nur noch der Punkt, in dem alle Elemente der Er- kenntniswelt sich treffen , der Träger oder das Gegenbild des theoretisch erfaßbaren Daseins ; eigentlich existiert nur der gleichsam freischwebende Komplex unsrer Erkenntnisse, und das I<!h wie das Objekt sind nur Ausdrücke für die einheitliche Form, in der diese sieh darbieten. Das Ich als Persönlichkeit, die dem erfaßbaren Dasein gegenüber- steht, die subjektive Innerlichkeit, die von sich aus erst ein Verhältnis zur Wirklichkeit sucht ist dieser theoretischen Philosophie fremd. Aber ebenso fehlt in ihr, so sehr sie eine Philosophie der Objektivität ist, das eigentliche Problem des Daseins überhaupt, das lyrischer gestimmte Philosophen im tiefsten erregt. In Spinoza, der alle Dinge in die ^ubstanz, d. h. in das absolute Sein auflösen will, ist ein unstillbarer Durst nach Sein, er perhorresziert alle qualitative, singulare Bestimmtheit, weil sie Verneinung des absoluten Seins ist.

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Für Schopenhauer umgekehrt ist das Sein als solches das Böse und Unerträgliche. Beiden ist das Sein ein Wert- begriif. Kant aber kennt weder eine Leidenschaft dafür, noch ein Leiden an ihm und läßt es ganz jenseits seiner Problemstellung. Denn diese wird ihm durch die Naturwissen- schaft gegeben, die nur eine Bestimmung des Seins durch eine andere, nur die Entstehung seiner einzelnen Formungen durch andere einzelne Formungen gesetzlich festlegt. Die Tatsache des Daseins überhaupt ist einerseits so abstrakt, andererseits so sehr nur durch ein sozusagen metaphysisches Gefühl zu ergreifen, durch eine unmittelbare und eigentlich unmitteilbare Beziehung unsres Wesensgrundes zu jener Tatsache daß die exakte Wissenschaft mit ihr nichts anzufangen weiß und sich vielmehr nur an die einzelnen Inhalte des Daseins und deren gegenseitige Verhältnisse hält. Für die Wissenschaft ist nichts an und für sich notwendig; es ist ohne weiteres vorstellbar, daß überhaupt keine Welt sei, oder daß, weil irgendein Punkt anders sei, als er ist, auch alle andren variiert wären. Notwendig ist ein Ding dies ist ein Hauptprinzip Kants nur durch seinen gesetzlichen Zusammenhang mit einem andren, das als wirklich gilt; dieses ist wieder nur durch jenes oder durch ein drittes notwendig, mit dem es nach Gesetzen ver- bunden ist; u. s. f. ins Unendliche. Dies also ist nun schließ- lich die Einheit des Kantischen Weltbildes: das Aufeinander- hinweisen,. Auseinanderfolgen, Miteinanderverbundensein aller Elemente der Wirklichkeit weil sie eben nur dann der Wirklichkeit angehören, wenn der Verstand sie als der Erfahrung notwendig zugehörend begreift, d. h. in gesetz- lichen Verbindungen, die schließlich jedes mit jedem in Be- ziehung setzen. Alle Erfahrung ist, wie Kant sich aus- drückt, „ein Inbegriff" ; es gibt nur eine, d.h. eine in sich zusammenhängende Erfahrung, und darum ist die Welt, die nur in ihr oder als sie gültig existiert, eine einheitliche. Der Riß zwischen Körperlichkeit und Geistigkeit, der die Welt durchzog und unversöhnlich zu sein schien, solange man in den unmittelbaren Eigenschaften, dem substanziellen Wesen beider einen Einheitspunkt oder eine Reduzierbarkeit suchte ist nun mindestens keine prinzipielle Spaltung mehr. Denn ihre einzelnen Erscheinungen zeigen Regel- mäßigkeiten, die sich allmählich induktiven Gesetzen

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ihrer zeitlichen Aufeinanderfolge nähern; heide Reihen, den gleichen Grundsätzen der Beobachtung, Anordnung und Verknüpfung folgend, fügen sich so dem Zusammenhange der Erfahrung ein. Jedes einzelne Stadium dieser mag fragmentarisch und von Irrtümern durchzogen sein; aber ihrer Idee, ihrem Zielpunkte nach haben wir an ihr die sozusagen in den Dingen selbst vergebens gesuchte Einheit: die Gesetzlichkeit und den Zusammenhang des Erfahrens, durch das unser Intellekt jene zu einem geistigen Weltbilde gestaltet.

So also schließt sich dies Bild der Erkenntniswelt, das ich nun, im Übergange zu dem Kantischen Bilde von der Welt des Handelns, noch einmal in Kürze so charakterisieren möchte. Die Probleme Kants sind ihm nicht aus den Dingen, sondern aus den Meinungen über die Dinge gekommen. Auf der einen Seite treiben ihn die Widersprüche und Wirrnisse der Behauptungen über die Ganzheit des Daseins und dessen übersinnliches Wesen; auf der andern findet er,"^ als die Erlösung aus diesen Unzulänglichkeiten der Mei- nungen die tatsächliche Wissenschaft, die Mathematik und die Erfahrung. Indem Bedrängnis und Befreiung so aus dem Verhältnis zu den Dingen in ihre intellektuelle Spiegelung transponiert wird , ersteht ihm als das ent- scheidende Interesse, das sein Denken zu begründen hat, nicht irgendein Sinn oder Wert des Daseins, sondern die Gültigkeit und Sicherheit der Erkenntnis. Und diese, in unsrem realen Wissen von der Natur unbezweifelbar ent- halten, baut er auf, indem er die innere Organisation des Erkenntnisbestandes nachzeichnet. Aus dieser nämlich er- gibt sich, daß alles Erkennen in der Formung sinnlich ge- gebenen Materials durch die Energien, die wir den Ver- stand nennen, besteht; und dies ist möglich, weil durch eben diese Formung überhaupt der Gegenstand der Erkenntnis zustande kommt. Aus den gegebenen Sinneseindrücken bilden wir erst diesen Gegenstand, und dies heißt, ihn er- kennen ; beides sind nur zwei verschiedene Ausdrücke für eine und dieselbe Sache, und eben deshalb müssen die Ge- setze, nach denen unser Intellekt verfährt, die unbedingt not- wendigen Gesetze der erfaßbaren Dinge sein. Der potenziert theoretische Charakter seines Denkens: daß nicht die Gegen- stände, sondern unser Wissen von den Gegenständen sein

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Problem bildet drückt sich abschließend darin aus, daß das Objekt des Erkennens mit dem Erkennen des Objekts zusammenfällt. Aus dieser Grundtiberzeugung erwächst, als ihr konsequenter und reinster Ausdruck, das Verhältnis zwischen dem innerlichsten Punkte der Erkenntnistätigkeit, dem Bewußtsein des mit sich immer identischen Ich, und der Tatsache des Objekts tiberhaupt: daß es ftir uns ein Objekt gibt, d. h. Zusammenhang und Einheit der Einzel- qualitäten des Daseins, indem alle Einzelheiten in dem be- harrenden Ich-Bewußtsein zusammengehn. Die Souveränität des Erkenntnisinteresses, als eine sachliche Souveränität des Erkennens auftretend, weiß gerade das Äußerste und Festeste des Objekts nur als eine Ausdrucksform der inner- lichsten und unmittelbarsten Funktion des Vorstellens über- haupt zu deuten. Und über diese Leistung an den einzelnen Punkten der Welt hinaus gewährleistet ihre Intellektuali- sierung, genauer: ihre Verwissenschaftlichung, auch noch die Einheit ihres Gesamtbildes. Daß jeder Punkt des Da- seins mit jedem verständlich zusammenhängt, bedeutet nun nichts andres, als daß eine Wissenschaft denn die Gleichheit der Prinzipien in allen Provinzen der Wissen- schaft macht sie schließlich zu einer einheitlichen die Gesamtheit der Erscheinungen umfaßt. In der Beschaffen- heit der Dinge selbst sucht Kant keinen metaphysischen Treffpunkt oder übergreifende Einheit; aber indem die In- tellektualität sie aufnimmt und zu den Zusammenhängen der Erfahrung verarbeitet, werden nun ihre wissenschaftlichen Bilder von dem Zentrum der Erkenntnis aus organisiert und formen einen Kosmos nicht einen Kosmos des Daseins, sondern des Wissens. Und dieser schließt die Tatsachen der körperhaften ebenso wie die der seelischen Existenz, in- soweit sie eben erkannt wird, gleichmäßig ein 5 denn durch ihr Erkanntwerden sind sie gleichmäßig Teile der einen, in sich kohärenten und von denselben Normen bestimmten Erfahrung. Dies ist der höchste Triumph der Intellektualität : daß sie, die eine geistige Funktion ist, den Geist selbst sich untertänig macht. Die wissenschaftliche Erfahrung ist damit der Drehpunkt der W^elt überhaupt geworden, da sie nun auch das seelische Dasein, dessen Zusammenhang mit dem physischen kein auf den Inhalt dieser Existenzen ge- richtetes Denken ergründen konnte, in seine einzelnen er-

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fahrbaren Erscheinungen aufgelöst und sie und die physischen in die gleiche Beobachtbarkeit und in die Gleichheit der wissenschaftlichen Regeln hineingezogen hat. Für den Standpunkt der Intellektualität ist die wissenschaftliche Er- fahrung von den Dunkelheiten und Verwirrungen der un- mittelbar oder metaphysisch erfaßten Welt frei; und da es nun undenkbar ist, daß die Welt an dieser Freiheit nicht teil habe, so ist sie selbst nichts andres, als eine Summe vom Verstände geformter Vorstellungen. Der Kantische „Idealismus", für den die Dinge die Produkte des Ver- standes aus dem Material der Sinne sind, erscheint so als die letzte, keinen Rest mehr lassende Konsequenz der wissenschaftlich-intellektualistischen Wesensrichtung.

Achte Vorlesung.

Daß der Gegenstand der bisherigen Ausführungen deren Inhalt man als die theoretische Philosophie Kants zu bezeichnen pflegt nicht die Wirklichkeit schlechthin ist, sondern nur das Erkennen der Wirklichkeit, und zwar nur der naturwissenschaftlichen, in der Erfahrung und Berechenbarkeit gegebnen Wirklichkeit dies weist das philosophische Interesse auf weitere Objekte, die jenseits dieser Begrenzungen gelegen sind. Da wir das Dasein nicht nur mit dem Verstände erkennen, sondern auch mit dem Willen gestalten, so stellt sich neben die philosophische Theorie des Erkennens die Theorie des praktischen Handelns.

Noch von einem andren Begriff her zeigt sich, daß die Kategorien, die unser empirisch -natürliches Bild der Dinge beherrschen, keineswegs die einzigen sind, unter denen der Inhalt der Welt uns erscheint. Wir fragen viel- mehr nfcht nur nach der Wirklichkeit der Dinge und ihrer Beschaffenheit, sondern auch nach dem Werte derselben. Der Wert ist ein ursprüngliches, nicht weiter beschreibliches Gefühl, mit dem wir Vorstellungen begleiten: die indiffe- rente Gleichmäßigkeit, mit der die bloß naturwissenschaft- liche, bloß theoretische Betrachtung die Wirklichkeit ab- la^ufen läßt, wird durch den Wert, seine Nuancen, seine Grade, seine Verneinungen ganz neu gegliedert. Und während jenes Bild des gegebnen Daseins für den Wert keinen Platz hat, die Natur vielmehr ebenso oft das Wertvollste zerstört, wie sie das Wertloseste konserviert, ist umgekehrt der Wert gegen alle Wirklichkeit gleichgültig, und keine noch so un- zweideutige Realität kann uns ein Wertgefühl oktroyieren, mit dem wir doch oft genug das bloß Gedachte, niemals Verwirklichte ausstatten. Diese fundamentale Tatsache des Wertens, ohne die ersichtlich unser ganzes seelisches Leben

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in unausdenklicher Weise abgeändert werden, ja, stillstehn würde, ist vielleicht nur noch durch einen einzigen Begriff zu umschreiben: durch das Sollen. Das Wertvolle soll sein, sein Gegenteil soll nicht sein. Diese Deckung der beiden Begriffe gilt besonders für eine Art des Wertes: für den sittlichen. Denn im Sollen empfinden wir eine Auf- forderung, die gegenüber unzähligen Werten: der Schönheit, der Kraft, der Harmonie des Daseins nur indirekt ver- wertbar ist, die aber ihren eigentlichen Sinn bewährt, wo das Handeln des Menschen, der Gegenstand des sittlichen Urteils, in Frage steht. Kant ist, wo er nicht als Erkenntnis- theoretiker spricht, seiner ganzen Denkart nach Moralist, d. h. er erkennt den Wert eigentlich nur in seiner mora- lischen Form an. Von dem natürlichen Sein, jenseits der menschlichen Praxis, lehnt er alles Sollen ab: es sei ganz sinnlos, zu fragen, welche Eigenschaften ein Kreis haben solle; in der Natur gebe es nur Sein, aber nicht Sollen. Daß ihm so der Gedanke, der kausal bestimmten Naturx einen positiven oder negativen Wert zuzusprechen, als ein Widersinn erscheint, offenbart die beiden Punkte, in denen Kant den Gesinnungen des modernen Menschen fremd ge- worden ist: seinen mechanistischen Naturalismus, der alle metaphysische Bedeutung der Natur ablehnt und sie als ein bloßes Rechenexempel drückender, anziehender, stoßender Kräfte anerkennt und seinen einseitigen Moralismus, der Werte nur soweit zugibt, wie sie moralisch oder auf mora- lische reduzierbar sind. Es ist von großem, geistesgeschicht- lichem Interesse, wie diese beiden, scheinbar einander sehr entgegengesetzten Züge in ihm eine vollkommene Einheit der Weltanschauung bilden und ihre Einheit von neuem daran bewähren, daß die Gegenwart grade nach einer, Synthese ihrer Gegensätze strebt, nach einer Einordnung auch des moralischen Wesens in die kausale naturwissen- schaftliche oder historische Betrachtungsweise und dafür nach einer Überwindung des Naturalismus durch ein mehr oder weniger metaphysisches, d. h. nach Wertbegriffen ge- ordnetes Weltbild gleichviel, ob dieses Betreben vorläufig eine unerfüllte und oft genug unklare Sehnsucht geblieben ist. Indem Kant allen Wert auf das menschliche Handeln beschränkt, vereint er also in der Betrachtung eben dieses, in der Ethik, die beiden Kategorien Praxis und Wert ,

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die ein äquivalentes Seitenstück zu der Betrachtung des Naturerkennens formen können.

Wie Kant bei der letzteren von einer zweifelsfrei hin- genommenen Tatsache ausgeht : von der vorliegenden Wissen- schaft — so in der Ethik von einer entsprechenden: von dem vorliegenden sittlichen Bewußtsein der Menschen. In beiden Hinsichten fehlt ihm ganz die grundstiirzende Tendenz, die die Tatsächlichkeiten selbst umgestalten will; nur das Erkennen der einen wie der andren gilt es ihm zu revolutionieren. Er lehnt die Zumutung ausdrücklieh ab, eine neue Sittlichkeit einzuführen; nur auf eine „neue Formel" käme es ihm an.

Dennoch ist auch bei ihm die rein theoretische Heraus- hebung des Kernes der tatsächlichen Sittlichkeit von den praktischen Impulsen seiner geschichtliehen Situation ab- hängig. Diese war die Epoche der französischen Revolution, in der die Freiheit als das Losungswort für alle Wert- erhöhungen des Lebens erschien. So gewinnt er in der philosophischen Vertiefung des Freiheitsbegriffs die Deutung für alles, was an dem menschlichen Wollen wertvoll ist. Daß ein Wille, der seinen Ursprung überhaupt jenseits seines Trägers hat: in blindem, urteilslosem Gehorsam, in der Un- mündigkeit, in dem Bann der Furcht jenseits aller sitt- lichen Wertung steht, ist ihm von vornherein keine Frage. Das eigentliche Problem entsteht erst, wenn die Hemmungen ^ der Freiheit in^^dem Subjekte selbst auftauchen, wenn Im- pulse, die zweifellos in den Bezirk des Ich hineingehören, doch diesem Ich zugleich einen Zwang antun, d. h. bewirken können, daß der schließliche Wille nicht mehr der reine oder freie Ausdruck der Persönlichkeit ist. Dies scheint - ihm nun überall der Fall zu sein, wo der Wille ein in irgend- einem Sinne Gegebnes ergreift, um sich von diesem be- stimmen zu lassen. Wo ein Objekt, bzw. unser Verhält- nis zu ihm, den letzten Grund der Willensbewegung bildet, gehört diese nicht mehr sich selbst an. In dieser Hinsicht stehen Gott und die Schönheit irdischer Leiber, die Wissen- schaft und die Champagnerflasche in der gleichen Linie sie alle sind Werte, die der Seele selbst äußerlich sind» einer realen oder ideellen Ordnung angehörig, in der sie an sich außerhalb unsres Willens stehn und ihm deshalb, sobald sie ihn motivieren, die Freiheit nehmen. Denn frei

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erseheint ein Wesen doch nur, wenn seine Bewegungen ab- solut in ihm selbst entspringen; sie mögen sich auf äußere Gegenstände richten, aber ihr Ursprung, das Motiv, das sie überhaupt entfesselt, darf nur in dem eigensten Inneren ihres Subjekts selbst liegen, wenn die Forderung der Freiheit erfüllt sein soll. Jene Hemmungen der Freiheit faßt Kant in einem Gesamtbegriffe zusammen : in dem Streben nach Glück. Wo nämlich der Wille durch die Vorstellung äußrer Objekte angeregt wird, ihre Wirklichkeit herbeizuführen, geschieht dies doch nur, weil wir von ihrer Wirklichkeit ein befriedig- teres Dasein erwarten, als wir ohne sie haben, eine Wirkung auf unser Gefühl, die uns erwünscht ist und die wir Glück nennen. Alles Glück, zu dem der Wille überhaupt praktisch streben kann, liegt auf dem Wege über irgendeine Realität, die in uns die Glücksempfindung hervorruft. Unsere Inner- lichkeit besitzt , nach Kants Überzeugung das Glück nicht von sich aus und, wie wir in seinem Sinne hinzufügen können, wenn sie es besäße, so wäre es keine Aufgabe einerN praktischen Willensbestrebung mehr. Vielmehr ist sie, um es zu fühlen, von einem ihr Äußeren abhängig, von einem Gegebnen oder einem erst zu Gewinnenden. So verflieht jede Glücksbestrebung uns in Abhängigkeiten und bricht unsre Freiheit, weil sie uns auf das zu hören zwingt, was außer- halb des Weges liegt, den die Seele nur von ysich aus gehen würde. Der eigentliche Feind unsrer Freiheit also liegt in uns selbst; denn die Sehnsucht nach Glück ist „durch unsere endliehe Natur selbst uns aufgedrungen", ist ein Bestandteil unsres Seins und doch zugleich das, was dieses Sein von sieh selbst entfernt und ihm damit den Wert raubt, den es sich allein, aus sich allein geben kann und den wir den sittlichen nennen. Wie der Idealismus, die Herrschaft des Geistes über die Wirklichkeit, im theoretischen Sinne nicht die gewöhnlich ihm zugeschriebne Bedeutung hatte : die ' Welt ist meine Vorstellung sondern die Formung des in uns gegebnen Sinnenmaterials durch die zentrale Macht des einheitlichen Ich so bedeutet die praktische Herr- schaft des Ich, die Freiheit, für Kant nicht die Unbestimmt- ? heit und Gesetzlosigkeit des Willens, sondern die formende Herrschaft desselben über den ganzen Stoff unsrer Triebe und Sehnsüchte, die schließlich doch immer auf ein sinn- liches Glücksgefühl ausgingen. In diesem wie in jenem Falle

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hat die Souveränität der Seele nicht den abstrakten Sinn, der sie dem Sein überhaupt gegenüberstellte, sondern den relativen, daß dem tiefsten und entscheidenden Punkt in ihr die Führung und das Gestaltungsvermögen gegenüber all ihren Außenwerken und der ganzen Breite ihrer Ober- fläche zukommt.

Der Weg dieser Überlegung, die von der ausschließ- lichen Wertung der Freiheit ausging, scheint sich der Gefahr eines doppelten Widerspruchs gegen das sittliche Bewußt- sein , um dessen Deutung es sich doch nur handelte , zu nähern. Alle Sittlichkeit tritt uns als Forderung gegenüber, als ein Gesetz, das wir erfüllen sollen; wie aber kann der Wille, der in jener Ausschließlichkeit des Auf-sich-selbst- hörens seinen absoluten Wert fand, ein sittlicher sein, d. h. einem Gesetz gehorchen, das doch nach unsrem Willen gar nicht fragt, diesem vielmehr ein unbarmherziges Sollen entgegenstellt? Und nicht nur ein Gesetz, das keinen un- beschränkten Gebrauch der Freiheit gestattet, ist das Wesen des Sittlichen, sondern dieses Gesetz muß ein allgemeines sein, weil die Isolierung des Ich, die seinem reinen und rücksichtslosen Sich-auf-sich-selbst-Stellen entspricht, dem tatsächlichen sittlichen Bewußtsein durchaus zu widerstreiten scheint. Dieses sagt uns, daß unser Wollen nicht nur sich an einem Sollen bricht, sondern daß dieses Sollen ein all- gemeines, ein über jede bloß persönliche Form des Wollens und Sollens hinausgreifendes allgemeines Gesetz sei. Ja, beide Bestimmungen bilden für Kant eine logische, untrennbare Einheit. Daß eine Norm, die von dem Wollen des Indi- viduums Erfüllung verlangt, also ein Gesetz, vielleicht für jeden einen besondren, für keinen andren verbindlichen Inhalt haben könne, tritt überhaupt nicht in seine Er- wägungen ein. Darin gehört er wiederum seiner historischen Situation an , deren ganzes Denken einerseits naturwissen- schaftlich, andrerseits naturrechtlich orientiert war; die unpersönliche Strenge, die der Naturwissenschaft wie dem Becht eignet, färbte in höchstem Maße die Geistesart Kants. Der Begriff des Gesetzes aber, den die eine wie das andre ausbildet, ist ausschließlich der des allgemeinen Gesetzes. Ein Gesetz ist für Kant nur insoweit Gesetz, wie es über- individuell ist, wie es den einzelnen Fall dadurch normiert, daß es für alle einzelnen Fälle gilt. Wenn wir also über

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unsrem individuellen Wollen ein Sollen, ein forderndes Gesetz in uns als Tatsache und den Gehorsam dagegen als Bedingung alles sittlichen Wertes vorfinden wie ist dies damit zu vereinen, daß dieser Wert in der Freiheit beruht, in dem Gehorsam nur gegen das eigenste Ich, in der Unablenkbar- keit des Willens durch alles, was nicht er selbst ist? Er- sichtlich stehen wir hiermit an dem tiefsten Gegensatze innerhalb des Sittlichen. Freiheit und Gehorsam, Selbständig- keit des Individuums und Einordnung in ein Allgemeines kämpfen ununterbrochen innerhalb unsres Willens und um ihn; und zwar, was den Konflikt doppelt beängstigend macht, jede Partei in dem Zeichen sittlicher Würde, jede mit dem guten Gewissen, einen höchsten Menschenwert dar- zustellen.

Der letzte Sinn der Kantischen Ethik liegt in der Behauptung, daß dieser Zwist in Wirklichkeit gar nicht bestehe, die scheinbar unversöhnliche Zweiheit in ihrem tiefsten Grunde eine Einheit sei: der freie Mensch könne, nur n^ch einem absolut allgemeinen Gesetz handeln, und umgekehrt, nur ein Wille, der dem Sollen gemäß ist, dürfe frei genannt werden. Während es zunächst scheint, als wäre jedes allgemeine Gesetz dem Individuum etwas Äußer- liches, weil es, für alle geltend, an den Einzelnen von außen herantritt, ist Kants Grundmotiv, daß grade dies allgemeine Gesetz jedem von innen kommt, in dem eigentlichen Quell- punkt der Persönlichkeit erzeugt wird. In dieser kurzen und vorläufigen Form erscheint die Behauptung als einer jener philosophischen Maehtsprüche , die eigentlich mehr eine Forderung an die Wirklichkeit, als eine Beschreibung dieser darstellen, Erzeugnisse eines ganz souveränen Ge- 'fühls, das unmittelbar und nicht erst nach Beweismöglich- keiten entscheidet. Und wirklich stehen die Beweise, die jene ethische Fundamentalbehauptung tragen sollen, an Kraft und Bedeutsamkeit weit hinter ihr selbst zurück. In viel höherem Maße als die theoretische Philosophie Kants macht seine ethische klar, daß die Widerlegung des Beweises noch nicht die Widerlegung der Behauptung ist, daß diese vielleicht nicht nur in Beweisen, die ihrem Schöpfer fern- lagen, erst Bewährung finden, sondern ihre Bedeutung über- haupt jenseits von allen Beweisen besitzen könnte ; denn sie hat vielleicht ihren Wert weit mehr als der Ausdruck einer

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tiefen und großen subjektiven Seele, denn als wissenschaft- licher Lehrsatz über ein objektives Verhalten der Dinge.

Kant führt die Ausgestaltung jenes Grundmotivs über die folgende Tatsache des sittlichen Bewußtseins, die zwar als Tatsache alltäglich und banal ist, in ihrer fundamen- talen Bedeutung aber erst durch ihn begrifflich fixiert ist. Die Tat, die in die Außenwelt tritt, mag objektiv alle Be- dingungen sittlicher Gesetze erfüllen: ob ihr ein sittlicher Wert des handelnden Subjekts zugrunde liegt, ist ihr dennoch niemals anzusehn. Wir alle wissen, daß die schlimmsten Motive der Eitelkeit und Heuchelei, Menschenfurcht und Angst vor dem eignen bösen Gewissen das genau gleiche äußere Tun hervorrufen können, wie selbstlose Güte und begeisterter Idealismus; während andrerseits die Wirrnis der Schicksale aus den reinsten Willenstaten Erfolge ent- wickelt, die alle Bosheit nicht schädlicher, der sittlichen Ordnung der Dinge entgegengesetzter ausdenken könnte. Und während niemand prinzipiell bezweifelt, daß die sitt- liche Bedeutung der Handlung nicht an ihr, sondern an dem guten oder bösen Motiv des Willens zu ihr haftet, verfolgt Kant diese Spaltung zwischen Tun und Motiv nun noch in diejenigen Motivierungen selbst hinein, die sich unbezweifelt allgemeiner sittlicher Schätzung erfreuen. Es ist sehr schön, so meint er, den Menschen aus Liebe und Teilnahme Gutes zu tun, aus Freude an geordneten Zuständen ehrlich und gerecht zu sein, aus dem Instinkt der „schönen Seele" her- aus, die nur im Sittlichen ihr Glück findet, jeden moralischen Anspruch zu erfüllen. Allein der echte sittliche Wert kann in all solchen Motivierungen noch nicht liegen. Denn sie sind zufällig. Eben dasselbe Befriedigungsgefühl, aus dem der eine seinen Mitmenschen wohltut, knüpft sich für den andren an ihre Ausnutzung und Mißhandlung; der Trieb, der uns heute zur Unterordnung unter Gesetz und Recht bewegt, kann, gleich stark, unser morgiges Glück in rück- sichtslosen Egoismus und Zerstörung aller Ordnungen ver- legen. Worin jemand seine Befriedigung findet, das hängt eben nicht von seinem Willen , sondern von seiner natur- gegebnen Anlage ab; wenn der Wille also durch das Motiv der Gefühlsbefriedigung geführt wird, so mag diese Führung ihn zu dem Wünschenswertesten und Edelsten bringen es ist kein Wert seines Willens, seiner Aktivität, den der

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Mensch so erwirbt, sondern ein Wert seiner Naturanlage, die er hinnehmen muß, wie Regen und Sonnenschein, und deren Vortrefflichkeit ihn nur in demselben Sinne wertvoll macht, wie die Rose schön ist, die man ästhetisch genießt, aber nicht ethisch schätzt. Die Zufälligkeit des Gefühls- interesses ist das unmittelbare Gegenteil der Notwendigkeit, mit der das sittliche Gesetz uns gegenübertritt, sein passi- vistischer Charakter nicht weniger das Gegenteil des sitt- lichen Wertes, den der Mensch sich selbst geben, der das Werk seines Willens sein muß. Das Motiv also, dessen Herrschaft unsrem Handeln sittlichen Wert leiht, kann nie in einem Gefühl, selbst nicht in dem der Liebe, der Be- friedigung am Sittlichen, der Lust an der subjektiven oder objektiven moralischen Tatsache liegen. So bleibt also nur eine einzige Motivierung übrig: die Handlung muß ge- schehen, nur weil sie sittlich, weil sie Pflicht ist; nicht weil sie das Mittel zu irgend etwas Außersittlichem ist, aber auch nicht, weil jene liebenswürdigen, aus dem Reiz^ des Guten entspringenden Gefühle sie motivieren. Um den Wert wirklich an das zu heften , was an ihr sittlich ist, bleibt keine Wahl, als daß sie ausschließlich durch ihre Sittlichkeit motiviert werde. Mit einem Worte: nicht das pflichtmäßige Handeln, sondern allein das Handeln aus Pflicht genügt dem sittlichen Anspruch.

Wenn das protestantische Prinzip den Glauben und die Gesinnung gegenüber den „guten Werken" betont, so hat es hier, wo der Wert der guten Gesinnung selbst sich darauf zurückzieht, daß sie auch rein um ihrer selbst willen be- steht — so hat der Protestantismus insoweit durch Kant seinen vertieftesten philosophischen Ausdruck gefunden. Jenseits dieser historischen Entwicklung aber ist dem all- gemeinen sittlichen Bewußtsein , insofern es als Forderung und Gesetz auftritt, hier zum ersten Male die Schärfe einer ganz restlosen Formulierung geworden. Jedes Gesetz hat offenbar erst dann seine äußere Garantie in unsrer Praxis und seinen inneren Sinn in unsrer Seele gefunden, wenn es erfüllt wird, weil es eben Gesetz ist. Jede Erfüllung des Gesetzes aus unmittelbarem Interesse an dem , w a s es be- fiehlt, läßt es nicht nur unsicher, ob sein nächster Inhalt die gleiche Triebfeder finden wird, sondern macht über- flüssig, daß es überhaupt Gesetz ist. Man befiehlt niemals

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jemandem etwas, was er schon unvermeidlich von selbst tut, äußert sich Kant; unvermeidlich aber tun wir sobald nichts Innerliches oder Äußerliches uns hindert , was wir gern tun. In Wirklichkeit tun wir nun vieles Sitt- liche gern: denn es binden uns unzählige Verknüpfungen des Gemüts und der sachlichen Interessiertheit an unsere Freunde und unsren Beruf, an unsren sozialen Kreis und die Gegenstände der religiösen Ehrfurcht. Insoweit wir aber unsere Pflichten gegen sie erfüllen, weil wir sie lieben, weil unser Lebensgefühl mit der Leistung an ihnen verbunden ist, weil unsere Interessen und keines- wegs nur die unmittelbaren, sondern unsere tiefsten und vitalsten, oft mit Aufopferung aller äußeren und vorläufigen mit den ihrigen steigen und fallen so ist es doch schließlich das Motiv des Glücks, das uns treibt; vielleicht nicht des niedren und sinnlichen, sondern jenes, das die Wurzeln unsrer Existenz nährt. Wenn aber nun diese Gegen- stände unsrer Pflichten die Triebe zu ihrer Erfüllung in uns auslösen, bedarf es nicht der Pflicht als solcher, denn sie wird aus andren Motiven, als daß sie Pflicht ist, er- füllt. Entweder also tun wir unsere Pflicht, eben weil sie Pflicht ist und insofern völlig gleichgültig gegen die wech- selnden Inhalte, deren Verwirklichung sie uns befiehlt, gegen Lust oder Leid, das uns von ihrer Verwirklichung kommen mag; oder diese Inhalte selbst veranlassen uns zu dem gleichen Tun, und damit scheidet das sittliche Moment als solches aus unsrer Motivierung aus und an seine Stelle tritt das Motiv des eignen Glücks, Ein dritter Grund der Erfüllung unsrer Pflichten ist an ihnen und im Bezirk unsrer Seele nicht zu finden zum mindesten für Kants Anschauungs- weise nicht.

Und nun ist endlich klar, warum die Freiheit des Menschen mit seiner Sittlichkeit zusammenfällt. Beide sind gleichmäßig der Ausdruck davon, daß der Mensch gegen- über den einzelnen Interessen und Reizen, die das Leben an ihn heranbringt, die volle Souveränität errungen hat. Wenn die Pflicht ihn bestimmt, und nicht der Inhalt der Pflicht, so ist er damit absolut von innen her bestimmt; denn jede von außen kommende Triebfeder ist nun aus- geschlossen. Freilich sind auch das Glücksgefühl und die Motivierung durch dasselbe innere Vorgänge; allein in ihnen

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ist die Innerlichkeit von Realitäten und Anregungen ab- hängig, die nicht in ihrer Hand sind. Die Bestimmung durch die Pflicht aber geht ausschließlich von dem Willen aus und kann überhaupt von nichts andrem ausgehn was grade dadurch ausgedrückt wird, daß äußere Um- stände dem Pflichtwillen oft jede sichtbare Äußerung ab- schneiden, ohne damit seinen sittlichen Wert im geringsten zu beeinflussen. Das Gesetz, als welches der sittliche Wert uns entgegentritt, enthält durchaus keinen Wider- spruch gegen die Freiheit, da es und ebenso der Gehor- sam, den wir ihm leisten der Ausdruck unsres eigensten, von keiner Macht außer uns bestimmbaren Inneren ist. Indem wir aus Pflicht handeln, gehorchen wir tatsächlich nur uns selbst, alles, was nicht wir selbst sind, ist nach den Voraussetzungen der Sittlichkeit völlig von ihr aus- geschlossen. Von allen Seiten begrenzen uns die Dinge und zwingen uns unmittelbar und durch die Vermittlung der Gefühle und Interessen, mit denen sie uns affizieren, in Bahnen, die im besten Fall nur Resultanten zwischen ihrer Kraft und der unsren sind ; frei von ihnen, also überhaupt frei sind wir nur in der Motiviertheit durch die sittliche Pflicht, weil diese ihrem Begriff"e nach jeden Einfluß ihres Inhaltes dessen, was nicht ganz allein wir selbst sind ablehnt. Freiheit und Gehorsam, sonst in tödlichem Gegen- satz, wo dem Ich ein Gesetz von außen oktroyiert wird, fallen hier zusammen, wo das innere Gesetz die einzige Motivierung ist, die übrig bleibt, nachdem jede von außen kommende aufgehoben ist , die einzige , mit der das Ich ausschließlich auf sich selbst hört.

So kommt Kant zu dem für die populäre Meinung eigentlich unerhörten Paradoxon, die sittlichen Gesetze und ihre Befolgung hätten mit den inhaltlich -konkreten Absichten der Menschen überhaupt nichts zu tun, die Sitt- lichkeit sei wie wir uns etwa ausdrücken würden ein bestimmter Rhythmus des Willens, eine Form seines Funk- tionierens, die so prinzipiell selbständig sei und die mannig- faltigsten Inhalte so in sich aufnehmen könne, wie ein bestimmter musikalischer Rhythmus die mannigfaltigsten Melodien. Die höchste Frage des Menschenwerts ist, ob der Wille selbst „gut" ist gewiß wird dies die Wahl seiner Ziele bestimmen, aber nicht sie sind gut und lassen

Simmel, Kant. 3. Aufl. 7

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dadurch den Willen gut sein, wie es die gewöhnliche Auf- fassung meint, sondern nur er, als Träger der Ziele, als die spontane und formende Kraft unsres Inneren, hat in sieh die Qualität, die wir gut nennen. Es ist noch wenig beachtet, eine wie tiefe und überraschende Auffassung der Sittlichkeit Kant gerade nach dieser Seite hin andeutet. Wie wir etwa einen Menschen anmutig nennen und damit die rein von innen her bestimmte Linie seiner Bewegungen meinen, die formale Art seiner Innervationen, die die ver- schiedensten Handlungen gleichmäßig beseelt und manche freilich ausschließt so erscheint die Güte des Willens, d. h. die Sittlichkeit, als eine unmittelbare Qualität und Lebens- form des WoUensprozesses. Die moralischen Unterschiede steigen aus den bloßen Inhalten des Willens in ihren dyna- mischen Träger hinab. Dadurch wird das Sittliche etwas unvergleichlich Tieferes, Radikaleres, es ressortiert jetzt viel mehr von der letzten seelischen Instanz ; diese psychologische Formulierung drückt erst vollständig aus, daß die sittlichen Entscheidungen unmittelbar wir selbst sind.

Dies ist nun der Punkt, an dem sich die wurzelhafte Verwandtschaft der Kantischen Ethik mit seiner Erkenntnis- theorie aufzeigen läßt. Zunächst in allgemein-kultureller Hinsicht. Ist es der Weg der Kultur zumindest der technischen, im äußern wie im geistigen Sinne , die Be- strebung nicht unmittelbar auf die Endabsichten, sondern auf die Mittel und die Mittel für die Mittel zu richten; will damit das große Prinzip der Prophylaxis statt der Dinge selbst vielmehr die Bedingungen, die ihrerseits erst die Dinge bestimmen, gestalten so ordnet sich Kants theoretische Philosophie dem ein. Nicht die Erfahrung, für sie das eigentliche Definitivum des Erkennens, will sie be- reichern, sondern die Bedingungen der Erfahrung fest- legen, nicht die Erkenntnis, sondern die Mittel, die erst Erkenntnis erzeugen , will sie kritisieren , ordnen , werten. Unter dieser Tendenz aber steht auch seine Ethik. Nicht daß diese und jene inhaltbestimmte Tat geschieht, ist die Sache seines ethischen Wertens und dessen prinzipieller Festlegung; sondern daß die Gesinnung so und so be- schaffen sei, die ihrerseits erst die Tat wählen oder ver- werfen läßt. Daß sich der Interessenakzent auf den „guten Willen", statt auf die guten Werke verlegt; daß, statt der

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Feststellung: so und so sind die Dinge, die Kritik der Möglichkeit der Erfahrung zum Problem der Philosophie wird damit hat das Kulturprinzip der Prophylaxis die Philosophie, die theoretische wie die praktische, ergriffen. Und nun inhaltlich: Die Gegenstände des Erkennens hatte die Kantische Erkenntnislehre in Tätigkeiten des Erkennens aufgelöst: das Nebeneinander der Räumlichkeit, die Festig- keit der Substanz, die Objektivität von Ursachen und Wir- kungen waren als die Formen der seelischen Vorgänge durschaut, durch die die Realität, das Objekt unsrer Er- kenntnis, gebildet wird. Die Funktionen, die die Erfahrung als einen intellektuellen Prozeß zustande bringen, erzeugen in ebendemselben Akt auch die Gegenstände der Erfahrung. Dieselbe Verinnerlichung und Aktivierung alles dessen, was als gegebener Lebensinhalt von selbständigem Ursprung und Substanzialität an uns heranzukommen scheint, ergreift jetzt das praktische Dasein. Hier handelt es sich freilich nicht um Empirisches und Reales, sondern um Ideelles und Werte. Wie aber in jenem Falle für die gewöhnliche Meinung eine für sich seiende Welt da ist, die der passive, von ihr bestimmte Geist nachbildete^ so scheint es in diesem ein Gutes und Böses zu geben, an und für sich bestimmte Wert- qualitäten, die der Wille aufnimmt und dadurch bald die eine, bald die andere Qualität erwirbt. Im Gegensatz dazu und in Analogie mit seinem theoretischen Idealismus spricht Kant der Willensfunktion von dem Ursprung ihres einzelnen Aktes her die schöpferische sittliche Qualität zu: es ist nicht etwas Gutes da, das wir wollen und wodurch nun unser Wille ein guter würde, sondern es gibt Willens- akte, die von vornherein in einer bestimmten nachher zu erörternden Weise geformt sind und die wir gut nennen ; die Inhalte dieser Akte erst sind „das Gute". Das sittliche Wollen erzeugt, ganz wie das theoretische Erkennen, erst seinerseits seinen Gegenstand, weil dieser Gegenstand außer der Funktion, die ihn trägt und in der er für uns wirklich wird, überhaupt nicht besteht. Die moralischen Imperative sind die Ausmündungen oder Substanziali- sierungen des „guten Willens", er setzt sich mit ihnen sich selbst gegenüber, wie sich mit der Vorstellung Gottes die religiöse Verfassung, die Religiosität des Menschen, aus sich selbst heraus und sich selbst gegenübersetzt. Dringt man

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also über die äußerlich zweckmäßige Ausdrucksweise zu der wahren Ordnung der Begriffe herab, so ist es nicht von vornherein „gut", dem Vaterland zu dienen oder die Feinde zu lieben, den Armen wohlzutun oder seine Versprechungen zu halten, sondern alles dies kann gegebnenfalls Gegenstand eines von sich aus guten Willens sein, Inhalte seines Funktionierens, die, als gute, von ihm erst produziert werden gerade wie der Verstand die Kausalität der Dinge nicht von ihnen abliest, sondern sie kausal sind, weil der Verstand sie, nach der ihm eignen Aktionsform, so vorstellt.

Dieser scheinbar bloß grüblerische Unterschied ist doch von der größten inneren Bedeutung. Denn mit ihm erst erstreckt sich das Prinzip des Idealismus auch auf die Ethik : die Souveränität des letzterreichbaren Quellpunktes in unsrer Seele, des Sitzes unsrer Aktivität und Produktivität, über alles, was in irgendeinem Sinne „gegeben" ist. In der Kantischen Erkenntnistheorie hat sich ergeben, daß die zentrale, den Verstand ausmachende Tätigkeit: die Ver- einheitlichung des Mannigfaltigen, der Ursprung aller Objektivität und aller Gesetzlichkeit des Daseins ist. Jetzt zeigt sich, daß die andere unmittelbare Ausstrahlung des Ich, der Wille, durch eine ursprüngliche, wenngleich nicht immer wirksame Form und Funktionsart die wir, nähere Be- stimmung vorbehalten, den „guten" Willen nennen , die Quelle der andren Objektivität und Gesetzlichkeit des Daseins ist : der ideellen, die das Gute heißt. So wenig also der Ver- stand, in Hinsicht seiner allgemeinen und notwendigen Er- kenntnisse, ein Gesetz von außen bekommen kann, sondern jedes aus sich entwickeln muß , so wenig kann der Wille es in Hinsicht der sittlichen Werte. Denn alle Zustände, Aktionen, Willensinhalte überhaupt können nur eine ab- geleitete Wertqualität haben, abgeleitet von der autochthonen Güte eben jenes Willens, den sie ihrerseits, indem er sie aufnimmt, für den oberflächlichen Anblick zu einem guten zu machen scheinen.

Hier aber droht dieselbe Gefahr wie bei dem theore- tischen Idealismus: daß Bestand und Gültigkeit der sitt- lichen Ordnungen durch diese Abhängigkeit von den Funk- tionen der Einzelseele einer unkontrollierbaren Willkür preisgegeben, daß die Welt der Werte subjektiviert werde.

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Und auch hier liegt, wie entsprechend dort, die Lösung nicht in dem Beweise, daß die scheinbare Objektivität auch wirklich nichts besseres sei, als ein Spiel oder Spiegel subjektiver Zufälligkeiten, sondern in dem umgekehrten, daß das schaffende Ich die ganze Objektivität, und über- individuelle Gesetzlichkeit in sich trägt, ja, daß sein Wesen grade in dieser besteht; und wie das theoretische Ich in die Welt aufgelöst wird, die doch in seiner Form zu Bestand und Einheit gelangt, so ist das praktische Ich, der freie, sich selbst gehörende Wille, nichts andres als die Gesetz- mäßigkeit, die Objektivität des Wertes, die durch ihn ihre Verwirklichung in der praktischen Welt gewinnt. Die Schilde- rung eines solchen Willens hat also die Frage zu lösen, wie seine Personalität, seine unabhängige Eigenheit doch zugleich dem Ideal der Allgemeinheit, der Übersubjektivität genügen kann.

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Neunte Vorlesung.

Ich zeigte, wie der Wille, einen bestimmten pflicM- mäßigen Zweckinhalt verwirklichend, nur dann von allem Gegebnen, allem Außer-Ihm frei ist, wenn nicht dieser In- halt selbst, sondern die Tatsache, daß er Pflicht ist, seine Triebfeder bildet. Was aber heißt Pflicht? Welche Form muß jener sachliche Inhalt haben , um den Ansprüchen dieser Kategorie zu genügen? Pflicht ist Gesetz, Gesetz aber dasjenige, was für alle individuellen Fälle gilt, bei denen seine Voraussetzungen zutreifen. Nun aber soll es doch ein Gesetz sein, das der Wille sich selbst, in Freiheit, gibt, dessen Inhalt also durchaus nicht als ein gegebener, allgemein anerkannter und deshalb auch für uns gültiger an uns herankommen darf. So bleibt zur Vereinigung dieser Ansprüche nichts übrig, als daß der Handelnde selbst wolle oder wenigsten wollen könne, daß seine Handlungs- weise ein allgemeines Gesetz sei. Was den freien Menschen als solchen bestimmt, kann im letzten Grunde von den Abschwächungen und technischen Verflechtungen der Praxis abgesehen nicht ein bestehendes Gesetz sein. Denn das wäre ein Abbruch seiner Freiheit, und es gibt kein Gesetz, das a priori für jede ausdenkbare Situation sittlich gälte; aber möglich muß es sein, daß sein Wille ein Gesetz werde, denn sonst würde er nicht Pflicht sein können. Ob er dies wirklich ist, ob das dem Willen konforme Gesetz historisch oder psychologisch besteht, ist ganz gleichgültig, das geht die Qualität des Willens selbst nichts an, um die allein es sich hier handelt. Die Gesetzlichkeit, die All- gemeingültigkeit ist für ihn von Belang nur als eine innere Eigenschaft seiner selbst. Dies ist der entscheidende Punkt. Jene Bestimmtheit, die dem „guten" Willen als solchem von vornherein eingewachsen ist und die um der Freiheit willen jede Wertung nach einem bestehenden Gesetz ablehnt, ist

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nun ausdrückbar als die Fähigkeit, zum allgemeinen Gesetz zu werden, als die Allgemeingültigkeit, die nicht etwas Quantitatives, sondern ein qualitatives Sosein des Willens darstellt da die Allgemeingültigkeit sozusagen das greif- bare Symbol der Gesetzmäßigkeit ist. Nicht darum handelt es sich, daß alle andren wirklich die Norm, nach der ein sittliches Individuum verfährt, befolgen oder anerkennen, sondern daß diese Norm die innere Beschaffenheit hat, die man nicht anders als mit dem äußerlich- quantitativen Aus- druck, daß sie sich zu solcher Verallgemeinerung eigne, bezeichnen kann. Wären wir schlechthin sittliche Wesen, so würde unser Handeln ausnahmslos und von selbst in dieser Form verlaufen; da wir dies nicht sind, wird sie für uns zum Imperativ, d. h. wir empfinden sie als ein Sollen, als einen inneren Befehl, und zwar, da er die Beschaffenheit des Willens selbst betrifft und deshalb für alle je möglichen einzelnen Willensakte gilt, als den einzig kategorischen, un- bedingt gültigen, dem wir uns zu beugen haben. Damit- sind wir zu dem „kategorischen Imperativ" Kants gelangt, dessen Formulierung nun verständlich sein wird: „Handle so, daß die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." Dies also ist die Verbegrifflichung desjenigen, was als die seelische Tatsache der Pflicht empfunden wird. Es ist das Schema zunächst für das äußerlich pflichtmäßige Handeln, das zum sittlichen wird, wenn das Pflichtmoment in diesem als die allein entscheidende Triebfeder wirkt.

Der kategorische Imperativ ist in bezug auf Popularität das Seitenstück zu der „Idealität des Raumes" und täuscht dadurch genau wie diese über die außerordentliche Schwierig- keit der Probleme und die Komplikationen der Denkmotive hinweg, die sich in ihm kreuzen und ohne deren Entzifferung er eine ziemlich leere Formel bleibt. Seine wesentliche Leistung ist jetzt, wenngleich erst im Umriß, angedeutet: er zeigt, wie der auf die rein persönliche Freiheit gestellte Wille, doch keineswegs etwas bloß Subjektives zu sein, keineswegs der festen, überindividuellen Normierung zu ent- behren braucht. Und die Art, wie er diese dem Willen gewährt, enthüllt eine tiefe Analogie zu dem theoretischen Apriori. Die Allgemeingültigkeit eben dieses hatte gleich- falls nicht bedeutet, daß nun wirklich alle Menschen ihm

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gemäß denken; sondern die Möglichkeit und Forderung einer solchen Allgemeinheit drückte nur die sachliche, innere Wahrheitsbeschaflfenheit der apriorischen Vorstellungen aus. So hat Kant nun hier die entsprechende überraschende Syn- these geschaffen, daß die bloße Möglichkeit, die eigene Handlungsweise als ein Gesetz für alle zu denken, das Kriterium ihrer inneren, nur sich selbst verantwortlichen sittlichen Beschaffenheit sei. Aus der Tatsache, daß das Sittliche uns als eine Forderung bewußt ist, eine Forderung aber nur dann gerecht und im idealen Sinne möglich ist, wenn sie für Alle in gleicher Weise gilt, entwickelt er, daß der Inhalt der Pflicht nur als allgemeines Gesetz möglich ist ; da diese Allgemeinheit des Gesetzes aber nicht bedeuten darf, daß es dem Individuum von außen oktroyiert wird, so bleibt nur übrig, daß sie der Charakter des von innen, frei, aufsteigenden Willensprozesses selbst sei. Weil es aber ferner ersichtlich dahingestellt bleiben muß, ob diese Geltung als allgemeines Gesetz auch wirklich äußer- lich realisiert ist und dies auch für sie, die nur die innere Beschaifenheit und Wert des Willens ausdrückt, ganz gleich- gültig ist so' ist endlich das Entscheidende nur dies, daß der sittliche Willensinhalt die Möglichkeit oder Qualifikation besitzt, zum allgemeinen Gesetz zu werden, daß der Han- delnde ihn als solches wollen kann. Dieser Anspruch auf mögliche Verallgemeinerung zu einem Gesetz würde heute als die soziale Forderung an den Einzelnen auftreten. Die reale Herrschaft des Interesses aller in dem indivi- duellen Tun ist die engere zeitgeschichtliche Form für jenen allgemeinen Imperativ der Sittlichkeit, den Kant zeitlos, weil bloß als logisch -konsequente Deutung des Pflichtbegriffs überhaupt aufstellt. An sich geht diese Formel weit über alles Soziale hinaus. Es würde ihr durchaus nicht wider- streiten, wenn jemand einmal eine Handlung, die allen Inter- essen der Gesellschaft absolut entgegengesetzt ist, als seine Pflicht empfände: wenn religiöse, sachliche, rein personale Idealbildungen dies herbeiführen, so könnte prinzipiell eine solche Handlungsweise doch noch als ein Gesetz für alle, die sich in der gleichen Lage befänden, ohne inneren Wider- spruch gedacht werden.

Will man diesen Gedanken von seinem innersten Kern her ergreifen, so zeigt sich die oben gebrauchte Bezeichnung

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der Allgeraeingültigkeit als des „Kriteriums" der inneren sittlichen Beschaffenheit der Handlung als nicht ganz hin- reichend. Diese Aligemeingültigkeit ist unmittelbar die sittliche Bestimmung des Willensinhaltes. Aber dies eröffnet sofort einen Dualismus; denn der Wert des eigensten Willens erscheint damit doch aus dem Eigensten herausverlegt, es scheint geleugnet, daß er wirklich rein in sich wertvoll sein könnte, er bezieht seinen Wert von einer ideell über ihn hinausreichenden Instanz , so eng und solidarisch diese auch seinem Eigensten verbunden sei. Andrerseits aber kann dies gerade als die Großartigkeit des Prinzips er- scheinen ; denn der ganze Abstand zwischen dem Eignen und dem Nicht-Eignen ist aufgehoben, wenn das Letztere die un- mittelbare Wertqualität ist, die das Erstere überhaupt be- sitzen kann. Hier hat, statt aller logischen und wissenschaft- lichen Entscheidung, eine metaphysische einzutreten : ob man in dem Einwohnen des Allgemeinen in dem individuellen Willen und in dessen so bewirktem Werterwerb eine Deposse^ dierung oder Mißdeutung eben dieses Wertes sieht; denn nur in der reinen Innerlichkeit des Willens und seinem Verhältnis zu qualitativen Idealen wohne sein W^ert, für den es insoweit ganz zufällig wäre, ob er außerdem die Eignung zur allgemeinen Norm besitze. Ebensowenig beweisbar und ebensowenig widerlegbar ist freilich die andere Entscheidung, wonach das in sich beschlossene Sein des Willens wert- indifferent ist und erst in dem Augenblick seiner innerlich vollbrachten Erweiterung zur Allgemeingültigkeit die Wert- schwelle überschreitet: das sei sozusagen die Definition des Sittlichen, daß der Wille so in sich selbst die Spannung zwischen der Einzelheit und der Allgemeinheit überwinde. Diese Kantische Lösung des typisch-menschlichen Kon- fliktes zwischen dem Eechtsunspruch des Einzelnen an Frei- heit und Fürsichsein und dem der Allgemeinheit in ihrem begrifflichen und in ihrem sozialen Sinne scheint zunächst die ethische Situation noch nach den folgenden Seiten hin zu interpretieren. Einerseits findet die Persönlichkeit mit ihren Launen und Velleitäten, ihren Ansprüchen und Reizbarkeiten ein strenges Maß ihrer Freiheit in der Forderung, das eigene Handeln widerspruchslos als ein Gesetz für alle denken zu können. Hier wird jener selbstschmeichlerischen Einbildung vorgebeugt, als sei man zu einem ganz be-

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sondren Handeln und Genießen berechtigt, weil man „anders als die andren" sei. Die Gleichheit vor dem moralischen Gesetz , die sittliche Rechtsprechung „ohne Ansehn der Person" hat hier ihren lückenlosen Ausdruck gefunden. Nicht als ob es eine äußerliche Uniformierung des Handelns gälte; aber wie selbständig, wunderlich, revolutionär eine Handlung auch sei sittlich ist sie nur, wenn der Han- delnde wollen kann, daß jeder beliebige andere in dieser Situation genau ebenso handle. Und hier liegt der Punkt, wo die Kantische Formel an die Allgemeingültigkeit des einzelnen Tuns seine völlige Individualisierung knüpft. Mehr als irgend eine andere Moralformel läßt diese, gerade wegen ihrer Weite und Allgemeinheit, Raum für die Be- rücksichtigung der besondren Umstände, unter denen das Handeln erfolgt. Die Handlung als Ganzes, zu der also auch alle einzelnen Bedingungen, die Situation und der Charakter des Handelnden, seine darauf bezügliche Lebens- geschichte und die Konstellation seiner Umgebung gehört, steht in Frage. Erst von der so spezifizierten Tat wird die mögliche Verallgemeinerung zum Gesetz verlangt. Dadurch wird es denkbar, daß die, äußerlich angesehen, unsittlichste Tat, deren Gültigkeit als allgemeines Gesetz ganz aus- geschlossen scheint z. B. das Töten eines Menschen dennoch, indem alle ihre besondren Umstände in Betracht gezogen werden, durchaus als allgemeines Gesetz gelten könnte, aber freilich nur als diese singulare, durch diese ganz individuellen Umstände bestimmte Tat. Die letzten und besondersten Qualifikationen der Handlung können, ja müssen bei ihrer sittlichen Beurteilung einbezogen werden, und erst wenn sie es sind, wenn der Tatbestand bis in seine feinsten Fugen und Verästelungen hinein klar liegt, dann erst tritt jene Forderung auf, die Handlung, alle diese Um- stände einbegriffen, als allgemein gültige ansehen zu können. Welches inhaltlich bestimmte Moralgebot man auch aus- sprechen möge , die Vervollkommnung der eignen Persön- lichkeit oder die Glückssteigerung der Gesamtheit, die Herrschaft der Vernunft oder der göttlichen Offenbarung, die Steigerung des Mitleids oder der individuellen Kraft immer wird es Situationen geben, deren eigentümlicher Kompliziertheit ein solcher Imperativ nicht gewachsen ist, keiner wird für jede mögliche individuelle Sachlage vor-

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gesorgt haben, und so wird man, wenn man ihm dennoch unbedingten Gehorsam wahren will, sich vergewaltigt fühlen ; man wird empfinden, daß das momentane Problem, die eigen- artige Ausgestaltung des persönlichen Schicksals damit eine äußerliche und rohe Beugung unter ein Gesetz erfährt, bei dessen Schöpfung auf sie keine Rücksicht genommen ist. Erst die Kantische Formel, die von dem höchsten Imperativ jede einzelne, inhaltliche Bestimmung ausschließt, gibt da- mit den einzelnen Bestimmtheiten des gegebnen Falles un- eingeschränkten Raum. Bis hierher scheint die Kantische Moralformel das höchste Prinzip zu verkörpern, das durch den Zwist individueller und sozialer Ansprüche hindurch- leitet: daß die absolute Berücksichtigung der Individualität und ihrer Lage die alleinige Bedingung bildet, unter der man die Befolgung absolut allgemeiner Gesetze von ihr fordern darf. Nun aber muß vor allem aufgeklärt werden, welches denn die Eigenschaften einer Norm sind, damit ich sie als allgemeine „wollen kann". Warum kann ich denn nichK als allgemeines Gesetz wollen, daß gestohlen oder gelogen wird? Die Frage ist keineswegs so leicht beantwortbar, wie es scheint; soweit ich sehe, gibt Kant dafür zwei einander sehr entgegengesetzte, von ihm selbst nicht immer genau aus- einander gehaltne Lösungen. Die erste ist die des Eigen- interesses. Ich kann nicht wollen, daß allgemein betrogen wird, denn, wenn es auch etwa in meinem Interesse läge, zu betrügen, so will ich doch niemals, daß gegen mich ebenso verfahren würde; ich kann nicht wollen, daß meine Hart- herzigkeit gegen den Notleidenden allgemein sei, denn ich kann nicht wissen, ob ich nicht selbst einmal die Hilfe andrer anrufen muß. Dieser Typus von Begründungen wird heute niemandem mehr genügen, ja, ich muß gestehen, daß er mir bei Kant völlig unbegreiflich ist. Weshalb soll die Berufung auf das Eigeninteresse, das er doch sonst nie als sittliches Kriterium anerkennt, auf einmal hier ent- scheiden? Ich kann doch, gerade in seinem Sinne, manches aus sittlichem Interesse als allgemeines Gesetz wünschen, was meinen Privatinteressen ebensoviel Abbruch tut als all- seitige Gleichgültigkeit gegen die Not des Mitmenschen auch gegen die meinige es könnte. Andrerseits: wer sich etwa bewußt ist, geschickter als alle andren betrügen zu können, würde sich bei allgemeiner Herrschaft des Be-

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truges gar nicht so übel stehen und diesen durchaus als „allgemeines Gesetz" wollen können. Und die Eventualität, unter derselben Vergewaltigung etwa selbst zu leiden, die man andren antut, bewirkt noch durchaus nicht, daß man sie nicht als allgemeines Gesetz „wollen könne" : eine trotzige Kraftnatur wäre durchaus damit einverstanden, ebenso rücksichtslos unterworfen zu werden, wie sie selbst andere unterwirft, wenn ein Stärkerer kommt, den sie als überlegen anerkennen muß. Und sogar umgekehrt: gerade die hin- gehendsten, aufopferndsten Wesen können als solche gar nicht wollen, daß von andren in ihrer eignen Weise gegen sie verfahren würde, weil schon dieser Wunsch die Selbstlosig- keit und das sittliche Verdienst ihres Tuns aufheben würde. Es lohnt nicht, länger bei diesem Motiv zu verharren, dessen ethische Kleinlichkeit durch keinerlei logische oder psycho- logische Bedeutung ausgeglichen wird.

Anders steht es mit der zweiten Begründungsart, die Kant andeutet. Ich kann nicht wollen, daß ein Depositum unterschlagen würde, weil dies dem Begriff des Depositums, als einer zum Wiedergeben bestimmten Summe, widersprechen würde. Ich kann nicht wollen, daß die Lüge allgemeines Gesetz sei, weil es der Begriff der Aussage ist, die Meinung des Sprechenden zu verlautbaren, so daß die prinzipielle Lüge demselben Begriff zwei sich gegenseitig aufhebende Be- stimmungen zusprechen würde. Dies kann ich nicht wollen, nicht, weil es mir oder andren schädlich ist, sondern weil es ein logischer Widerspruch ist; ich kann doch unmöglich wollen, daß A non-A sei, obgleich ich natürlich wollen kann, daß statt des A lieber non-A wäre. Mit Worten ließe sich freilich auch ein solcher Wille behaupten , aber für Wesen, deren Denken an den Satz des Widerspruchs gebunden ist, ist es kein vollziehbarer Gedanke. Wer im einzelnen Falle lügt, benutzt subjektiv die Tatsache, daß die Aussage ihrem Wesen nach als Wahrheit anerkannt ist; daß man die Lüge als durchgehende Norm Kant sagt auch: als Naturgesetz wollte, würde heißen, daß die Aussage als solche, objektiv, ihren Sinn als Aussage be- halten und zugleich den gegenteiligen annehmen solle.

Ob sich mit dieser Formel die sittlichen Forderungen wirklich umschreiben lassen, wird nicht unbezweifelt bleiben; dagegen erscheint sie mir als ein höchst bedeutender, viel-

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leicht als der bedeutendste rein spekulative Gedanke Kants da die Vernunftkritik nicht als philosophische Spekulation, sondern als wissenschaftliche Erkenntnistheorie zu gelten hat. Es ist eine wahrhaft großartige Idee, daß der verstandesmäßige Zusammenhang, die innerlich-logische Einheitlichkeit unsres Handelns das Kriterium auch ihres sitt- lichen Wertes bilde. Damit scheint jene wurzelhafte Harmonie unsres Wesens bezeichnet, auf die Kant einmal mit den kurzen Worten hindeutet, es sei doch im Grunde eine und die- selbe Vernunft in uns, die sich einerseits als theoretisches Denken, andrerseits als praktisches Handeln offenbare. Wir brauchen gleichsam nur an der logischen Bedeutung der Dinge entlang zu gehen, um den sittlich richtigen Weg zu finden. Unsere Seele ist so eingerichtet, daß sie das Wider- spruchsvolle nicht wollen kann, weil sie es nicht denken kann; als das Gesetz, dem sie selbst gehorcht, kann sie also nur das Widerspruchslose wollen, oder vielmehr: sie erkennt die Zulässigkeit ihres Handelns, seine Einordnung" in die letzte Harmonie des Daseins daran, daß es wider- spruchslos ist. Aber der Betrachtung der einzelnen Tat ist dies nicht zu entnehmen, sie hat die Zufälligkeit des bloß Wirklichen, ihr Begriff muß erst über ihre Einzelheit empor- steigen, damit sie ihre Bedeutung und deren Wert enthülle. Dazu also muß man sie nicht in ihrer Individualität, sondern als allgemeines Gesetz wollen können, damit man der Zu- sammenstimmung ihres inneren Sinnes mit sich selbst sicher sei , in der ihre Zusammenstimmung mit dem Sinne des Daseins überhaupt beschlossen ist. Hier tritt eine ganz neue Beziehung dieser Formel zu dem letzten Fundamente der Kantischen Ethik hervor, zu der Einheit von Freiheit und Sittlichkeit. Wie der Mensch nur sich selbst zu ge- hören braucht, nur alles Fremde von seinem Willen ab- streifen muß , wie der Wille nur der reine , einheitliche Ausdruck der Persönlichkeit zu sein braucht, damit er sittlich sei so ist die einzelne Handlung sittlich, wenn sie ihrem eignen Sinne, ihren eignen inneren Voraus- setzungen entspricht. Das letztere ist gleichsam die Technik , durch die sich jene grundlegende Werteinheit im einzelnen bewährt und verwirklicht. Beides beruht au/ dem großen spekulativen Gedanken, daß alles Menschliche, insoweit es mit sich selbst übereinstimmt, auch mit den

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idealen Forderungen übereinstimmt, die daran gestellt werden mögen.

Die Bindung der Tat an die Unterordnung unter das allgemeine Gesetz, das aus ihr selbst emporsteigt, gehört in den Kreis jener tiefen Ahnungen der Metaphysik, die in jedes Wesen sein Ideal, das, was es zu sein bestimmt ist, in einer verhüllten, unentwickelten Form hineinlegen, nicht einfach als ein Sein, aber doch auch nicht als ein Nicht- Sein, sondern als" eine dritte Kategorie, die jenseits dieser Alternative steht; als wäre jeder Anspruch, der an ein Wesen oder ein Tun aus ihnen scheinbar äußeren Wert- ordnungen herantritt, dadurch erfüllt, daß es sein eigenes, wie mit ideellen Linien in ihm gezeichnetes innerstes Sein durch die Zufälligkeit und Disharmonie seiner empirischen Wirklichkeit hindurchwachsen läßt. Indem hier nun das Kriterium jener Übereinstimmung in der inneren Wider- spruchslosigkeit der Handlung, als allgemeiner Begriff gedacht, besteht denn das „allgemeine Gesetz" ist doch nur der allgemeine Begriff in der Form der Praxis , indem also die Logik über das sittlich Erforderliehe bestimmt, offenbart sich der Kantische Intellektualismus als die letzte Instanz auch der sittlichen Entscheidungen. In viel wirkungsvollerer Weise greift er hier ein als in den von vornherein intellek- tualistischen Ethiken, die, z. B. wie Sokrates, die Tugend für ein Wissen erklären, so daß der, der alle Dinge in ihren Zusammenhängen restlos erkennte , überhaupt nicht unsittlich handeln könne. Im Gegensatz dazu gibt Kant der Moral eine von vornherein völlig selbständige Stellung. Der Wille, in dem alle ihre Werte ruhen, hat weder psycho- logisch mit dem Erkenntnisvorgang, noch logisch mit dessen Richtigkeit oder Irrungen zu tun. Und erst nachdem der sittliche Prozeß in völliger Abgelöstheit und Autonomie konstatiert ist, tritt das rein logische Moment der Wider- spruchslosigkeit als sein Halt und sein Kennzeichen auf, gleichsam als das Gesetz seiner Gesetze. Gerade die Selb- ständigkeit der moralischen Werte steigert den Triumph des intellektualistischen Wertes, wie es etwas Höheres ist, über Freie zu herrschen als über Abhängige. Die innere Einheitlichkeit unsrer Handlungen, als Garantie ihrer sitt- lichen Würde, baut sich auf ihrer logischen Widerspruchs- losigkeit auf, die ihre Wirklichkeit und Einzelheit mit der

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überindividuellen und absoluten Forderung an sie zusammen- knüpft, beide als verknüpfte erweist.

Es ist vielleicht eine Vermutung über die Entwicklung möglich, mit der Kant zu solcher Logisierung des Ethischen gelangt ist. Nach seinem eignen Geständnis war er zu Be- ginn seiner wissenschaftlichen Arbeit ausschließlich theoretisch interessiert: ausschließlich Forschen und Wissen hätte er geschätzt und den „Pöbel, der von nichts weiß", ver- achtet. Hierin hätte nun Rousseau einen Umschwung ge- bracht und ihn gelehrt, das Menschentum als solches im ethisch-praktischen Sinne zu ehren; was sich dann später zu den häufigen Äußerungen steigert, die dem sittlichen Werte den absoluten Vorrang vor allen anderen, insbesondere auch vor den intellektuellen einräumen. Nun betrifft dieser Vorrang doch nur die Intelligenz als psychologische Eigen- schaft von Subjekten; die ideelle Absolutheit der logischen Werte wird davon nicht betroffen, sie bleibt als die Erb- schaft jener rein intellektualistischen Epoche zurück, sie ist' der sachliche Kern, der seine anthropologische Realisierung in dem gelehrten oder kenntnisreichen Individuum als etwas Zufälliges abgestoßen hat. Indem nun aber die Moral gleichfalls als absoluter Wert daneben trat, wäre ein schwieriger Dualismus des Definitiven entstanden den Kant dadurch löste, daß er die moralische Norm von der Logik gestalten ließ. Es bestätigt diesen Zusammenhang, daß Kant in der vorkritischen Epoche, als sich ihm die Moral nicht als Absolutes darstellte, sie auch nicht als logisch formierte erblickte ^). Die Logisierung der Ethik war das geniale Mittel, die Absolutheit der Moral zu be- wahren, ohne sie in Konkurrenz oder Fremdheit gegen den idealen Wert der Erkenntnis geraten zu lassen.

Nun ist aber das Merkwürdige, daß jener tiefere Sinn des „Wollen-Könnens" dennoch zu versagen scheint, sobald man ihn auf seine Folgen für die einzelne sittliche Entscheidung prüft. Er kann nämlich zunächst nur verbieten, aber nicht gebieten. Vielleicht enthält alles Unsittliche, als allgemeines Gesetz gedacht, einen inneren Widerspruch; aber daraus folgt noch nicht, daß alles, was ihn nicht enthält, sittlich

^) „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen", vom Jahre 1766.

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notwendig sei. Ich kann es ohne weiteres als allgemeines Gesetz denken, daß sich alle Menschen, wie die Quäker, mit Du anredeten ; daraus wird doch aber niemand die sittliche Pflicht entnehmen, zu jedem Fremden Du zu sagen. Es ist einer der am häufigsten betonten Sätze in Kants theoretischer Philosophie der freilich heute nicht mehr die "Wichtigkeit besitzt wie in der philosophischen Situation seiner Epoche , daß die logische Widerspruchslosigkeit eines Satzes noch nicht den geringsten Beweis für seine Wahrheit bildet; sie schließt eine Irrtumsquelle aus, aber keine der unzähligen andren, die in den inhaltlichen Verhältnissen der Erkenntnis liegen; Unzähliges lasse sich ohne den geringsten logischen Widerspruch behaupten, dessen Wahrheit entweder unerweis- lich oder dessen Unwahrheit erweislich ist. Dieser nur pro- hibitiven und partiellen Bedeutung der Widerspruchslosigkeit fügt ihre ethische Anwendung ersichtlich keinerlei Erweite- rungen hinzu. Alle Beispiele, die Kant gibt, folgen der Formel: „du sollst nicht ", aber für die Auswahl des sittlich Notwendigen aus dem so bestimmten sittlich Mög- lichen gibt dies Prinzip nicht den geringsten Fingerzeig.

Hier zeigt die Formel des kategorischen Imperativs eine eigentümliche Beziehung zum Recht und zur Logik. Man kann das Hecht als die soziale Mindestforderung an- sehen, d. h. als die Summe derjenigen Forderungen, die wenigstens erfüllt werden müssen, damit eine Gesellschaft möglich sei während sie für das tatsächliche Leben einer solchen noch keineswegs ausreichen. Es würde vielmehr jede Gesellschaft zusammenbrechen, in der nicht außer den rechtlich erzwingbaren Normen noch solche der Sitte, der Moral, der Gefühlsverbindungen usw. in Kraft wären ; nur daß das Versagen des Rechts zuerst und jedenfalls diese Folge hätte. Ähnlich kann man die logischen Normen als das intellektuelle Minimum bezeichnen. Gewiß müssen sie, damit es volle Erkenntnis gebe, durch sehr vieles andre ergänzt sein, allein wenn nicht zunächst sie erfüllt sind, kann es überhaupt zu keiner kommen ; wenn nicht mindestens sie anerkannt sind, ist die Vereinheitlichung zwischen ver- schiedenen Intelligenzen wie zwischen den Elementen einer einzelnen Intelligenz ausgeschlossen. So also kann man jene innere Widerspruchslosigkeit des Handelns vielleicht als das moralische Minimum charakterisieren. Gewiß reicht es zur

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Ergänzung oder Bestimmung des positiv Sittlichen nicht aus; dieses, durch inhaltbestimmte Normen und konkrete Situationen und Impulse hervorgerufen, setzt aber zunächst die Zulässigkeit, das Nicht- Verbotensein voraus. Wo diese erste Bedingung fehlt, kann es überhaupt zu moralischem Handeln nicht kommen. Durch solche Deutung des Impera- tivischen „Wollen-Könnens" als des ebenso unzulänglichen wie unerläßlichen Minimums des Ethischen wird das Wunder- liche begreiflicher: daß eine Morallehre, die auf das Un- bedingte und Unnachlaßliche der Pflicht geht, es doch in deren Formulierung nicht weiter bringt, als das Zulässige oder, von der anderen Seite her, das Verbotene , zu fixieren. Indes wird sogar diese spärliche Bedeutung, wenigstens den Umfang des Erlaubten zu umschreiben , durch weitere Prüfung an Kants theoretischen Lehren hinfällig: ein Widerspruch, sagt er, hat nur dann irgendeine Konsequenz, wenn die Gültigkeit eines Begriffes zuvor zugegeben ist; dann freilich sind Bestimmungen unmöglich, die diesem logisch widersprechen. Ist jener Begriff aber etwa imaginär, so läßt sich aus dem Widerspruch, den gewisse Bestimmungen zu ihm bilden, gar nichts folgern. Es sei also z. B. ein logischer Widerspruch, daß Gott nicht allmächtig sei, da die All- macht in seinem Begriffe läge ; stellt man aber die Existenz Gottes überhaupt in Abrede , so folgt aus diesem logischen Verhältnis nicht das geringste, denn alle Bestimmungen, die man aus seinem Begriffe vermittels des Satzes des Widerspruchs entwickeln mag, fallen mit ihm selbst dahin. Wendet man dies auf die Widerspruchslosigkeit des all- gemeinen praktischen Gesetzes an, so zeigt sich, daß diese nur dann ein Kriterium ist, wenn das sittlich Notwendige bereits aus andren Gründen feststeht. Ich kann nicht ohne inneren Widerspruch gegen den Begriff des Eigentums wollen, daß allgemein gestohlen werde wenn ich nun aber den Begriff des Eigentums selbst nicht will, ihn nicht anerkenne? Dann entsteht durch das „allgemeine Gesetz" des Stehlens durchaus kein Widerspruch, sondern vielleicht grade die Maxime: Eigentum ist Diebstahl, Die Lüge kann ich nicht als allgemeines Gesetz wollen, weil dies dem Be- griff der Aussage widerspricht aber doch nur, wenn dieser Begriff zu Recht besteht. Gebe ich etwa von vornherein nicht zu , daß es der Sinn der Aussage ist , die Wahrheit

Simmel, Kant. 3. Aufl. 8

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zu verlautbaren, so bedeutet die allgemeine Lüge nicht den geringsten Widerspruch. Ich soll nicht als „allgemeines Naturgesetz" wollen können, daß jeder sein Leben beliebig enden dürfe, weil damit keine Natur bestehen könne; wenn ich nun aber mit den Pessimisten überhaupt nicht will, daß eine Natur bestehe, so ist der Selbstmord in keiner Weise ein innerer Widerspruch. Kurz, genau wie im rein theo- retischen Falle hat die innere Widerspruchslosigkeit des Gesetzes, zu dem ich mein individuelles Handeln erhebe, nur dann eine Bedeutung, wenn ich bereits einen Begriff, einen Zustand oder Geschehen, als sittlich gültig, als sein sollend, vorausgesetzt habe. Ist dies nicht der Fall, so mag ich tun, was ich will, es entsteht kein Widerspruch, weil nichts da ist , dem widersprochen werden könnte. Statt als eine selbständige Feststellung des Sittlichen enthüllt sich also die Kantische Formel als bloßes Mittel für die Klärung und Auseinanderlegung von anderweitig durch sittlichen In- stinkt oder sonst schon anerkannten sittlichen Werten.

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Zehnte Vorlesung.

Es gehört zu den beängstigendsten Fragwürdigkeiten der Philosophie, daß ihre tiefsten Gedanken, die der Ge- samtheit der Erscheinungen ein ganz neues Licht und neue Bedeutsamkeiten versprechen, so oft in dem Augenblick un- zulänglich und widerspruchsvoll werden, in dem ihre Leistung für die konkreten und einzelnen Probleme geprüft wird. In- dem sie aus ihrer Höhe zu diesen herabsteigen, seheint die Änderung der Distanz das ganze Verhältnis zu verrücken, es ist jetzt, als wären sie gar nicht die Allgemeinheiten zu eben diesen Einzelheiten, sondern hätten ihre Gültigkeit nur' in einer eignen Sphäre, innerhalb derer sie auch allein ihre Kriterien finden : als wäre ihr Verhältnis zu dem einzelnen, das wir doch fühlen, gar nicht das der allgemeinen Norm oder des zusammenfassenden Begriffes, sondern ein andres, fremdartiges, für das wir keine rechte wissenschaftliche Kategorie haben. So zerfließt die ganze Bedeutung, die dem logischen Sinn des kategorischen Imperativs zukam, in nichts, sobald man sie nach ihrer Bewährung an dem singu- lären Problem befragt ohne daß man sich doch ent- schließen könnte, diese Bedeutung nun daraufhin zu nulli- fizieren. Wie weit man auch ihre logische oder realistische Tragweite beschränken mag für den eigentümlichen Blick- punkt der philosophischen Abstraktion, für den in sich ge- schlossenen Bezirk eines allgemeinen innerlichsten Lebens- gefühles, das nicht das Allgemeine über angebbaren Be- sonderheiten ist für diesen bleibt sie bestehen.

Und so verhält es sich nicht nur mit der Formel, um deren Interpretation es sich bis jetzt handelte, sondern auch jenen weitausgreifenden sachlichen Sinn des katego- rischen Imperativs, auf den ich früher hindeutete, ergreift die Kritik mit der gleichen Mischung von Erfolg und Erfolg- losigkeit. Ich zeigte, daß die Kantische Fassung des sitt-

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liehen Sollens es mehr als irgendeine andere den besonderen Bedingungen der Situation zugängig macht. Aber grade dies führt zu einer verhängnisvollen Konsequenz. In dem gesamten Bezirk sachlicher und persönlicher Umstände, die jeden Moment eines Menschenlebens erfüllen, ist kein ein- ziger, dem man das Recht auf Beeinflussung einer geforderten sittlichen Entscheidung von vornherein absprechen könnte: ja, je feiner das sittliche Empfinden und je tiefer die Er- kenntnis der Lebenszusammenhänge ist, um so weniger wird irgendein Element des inneren oder äußeren Daseins für unsere moralischen Direktiven gleichgültig sein können. In- dem der kategorische Imperativ verlangt, daß ich mir meine Handlungsweise als ein allgemeines Gesetz denke, indem aber dies, um die Handlungsweise wirklich genau kenntlich und beurteilbar zu machen, die Situation in allen ihren Bestand- teilen mit verallgemeinern heißt ist das Gesetz ja um gar nichts weiter oder allgemeiner als der individuelle Fall! Ein Gesetz bedeutet doch, daß an bestimmte Voraussetzungen ein Erfolg geknüpft ist oder werden soll, und zwar jedes- mal, wenn diese Voraussetzungen gegeben sind, und gleich gültig gegen die sonstigen individuellen Nuancierungen, in denen sie auftreten. Ist man also z. B. auf dem Wege des kategorischen Imperativs zu den Gesetzen gekommen: du sollst Vater und Mutter ehren, oder: du sollst nicht stehlen so sind dies Gesetze, d. h. allgemeine Gesetze nur dann, wenn sie ausnahmslos gelten, und nur dann können sie mein jetziges Verhalten sittlich legitimieren. Aber das ist gar nicht der Fall; es kann Situationen geben, in denen der Bruch aller kindlichen Pietät oder ein Eingriff in fremdes Eigentum durch noch höhere Pflichten gerechtfertigt wird. Ich bilde also, in diesem Falle befindlich, ein neues all- gemeines Gesetz : unter den und den gegebnen Bedingungen darf oder muß die Heiligkeit der Pietät oder des Eigentums durchbrochen werden. Nun mögen ein drittes Mal diese letzteren Bedingungen zwar gegeben sein, zugleich aber weitere Komplikationen, welche die Wirkung jener völlig aufheben; es muß also, um die jetzt resultierende Handlungs- weise als sittliche zu erkennen, ein drittes Gesetz als wider- spruchslos erfunden werden, das nun wieder die Paralysierung jener früheren Normierung als allgemeine Norm ausspricht. Die logische Folge hiervon ist, daß es überhaupt kein all-

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gemeines Gesetz geben kann, d. h. kein solches, das aus einer durch die gegebne Situation bestimmten Handlungs- weise gewisse Elemente heraushebt, um sie zu verallgemeinern und damit ein Gesetz für alle Situationen , die diese Ele- mente zeigen, zu bilden. Denn da jede neue derartige Situation außer jenen allgemeinen Elementen noch spezielle besitzt, so ist es von vornherein ungewiß, ob diese letzteren nicht Bedingungen enthalten, die die sittliche Konsequenz jener modifizieren oder in ihr Gegenteil verkehren. Diese Spezifikation der Lage, die in das „allgemeine Gesetz" als Bedingung aufgenommen werden muß, hat Kant, soviel wir sehn können, nicht erwogen. Er meinte offenbar, die in einer bestimmten Situation fragliche Handlung enthielte eben Elemente, die zum Gesetz verallgemeinert werden könnten also unter Weglassung andrer, die nur individuell wären; und damit sei die jetzt erforderte Handlungsweise gefunden. Aber für die Grenzsetzung zwischen denjenigen Umständen, die noch Aufnahme in das Gesetz beanspruchen dürfen, und den individuellen, denen keine Verallgemeinerung und also kein Einfluß auf die sittliche Entscheidung zu gestatten ist, für diese Grenzsetzung hat er keine prinzipielle Norm angegeben und es ist auch keine anzugeben. Für die Praxis täglicher und unkomplizierter Fälle wird sich die Scheidung freilich ohne weiteres ergeben, die Beispiele Kants zeigen auch, daß er an keine andren gedacht hat: ob man lügen dürfe, ob man anvertraute Gelder zurückbehalten dürfe, ob man sich dem Anspruch auf Hilfe bei Notständen andrer entziehen dürfe alles dieses entscheidet sich innerhalb eines einfachen, ich möchte sagen : kleinbürgerlichen Milieus sehr leicht gemäß dem kategorischen Imperativ; aber sobald solche Entscheidungen in die Wirrnis gekreuzter Interessen und Bindungen verflochten sind, versagt er vollständig, weil wir nicht wissen, wo die Formulierung des allgemeinen Gesetzes, d. h. die Vernachlässigung der singulären Kom- plikationen einzusetzen hat. So ist, lehrreich genug, auch diese, scheinbar auf der bloßen Logik aufgebaute Theorie doch in ihrer Geltung auf das empirische Material beschränkt, das ihrem Urheber vorschwebte, und wird mit der Er- weiterung desselben auch logisch unzulässig.

Statt der a priori ausreichenden Entscheidung, in der Kant den ganzen Wert seines Moralprinzips sah, bleibt also

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ersichtlich nichts übrig, als in jedem Falle die Gesamtheit der Situation in die Erwägung hin einzurechnen und zu fragen, ob man eine bestimmte Handlung unter den ge- samten Umständen der Lage als allgemeine Norm wollen könnte. Dies aber ergibt, wenn man genau hinsieht, über- haupt keine Entscheidung. Wenn alle genau so handelten, wie ich jetzt zu handeln vorhabe, so sind zwei Fälle denk- bar. Entweder, es zeigen sich dabei andere Konsequenzen, als in meinem Einzelfall dann habe ich an jenen kein Kriterium für diesen. Denn zweifellos ändert sich manch- mal die Bedeutung einer Handlungsweise dadurch, daß sie von vielen, statt von einem realisiert wird, z. B. bei solchen, die ein erhebliches Risiko enthalten; dieses auf sich zu nehmen, kann manchmal für den Einzelnen durchaus mora- lisch sein, es würde aber, von vielen Individuen desselben Kreises wiederholt, eine ganz unzulässige Gefährdung des Ganzen mit sich bringen. Ein Handeln mit verschiedenen Konsequenzen ist aber ein verschiednes Handeln, und des- halb ist in diesem Fall aus der Verallgemeinerung der ein- zelnen Entscheidung zum Gesetz kein Kriterium für sie zu entnehmen. Oder, die Konsequenzen des gleichen Handelns aller sind genau die gleichen wie die des individuellen. Dann kann ich nicht sehen, wieso die Verallgemeinerung die hier nur eine numerische Wiederholung ist mich über die Bedeutung weiter aufklären soll, als schon die auf meinen Einzelfall beschränkte Betrachtung es vermag.

Die ganze Eigenart der Kantischen Deutung des Ethischen, in ihrem Gelingen wie in ihrem Versagen , scheint mir auf einen Mittelpunkt hinzuweisen: auf den Einfluß seiner mechanistischen Weltanschauung. Der moralische Kalkül bei Kant ruht durchaus darauf, daß das kontinuierliche praktische Leben und die sittliche Bedeutung, die dies Leben doch in dem gleichen ununterbrochnen Flusse durchdringt, in einzelne, aus der Lebenskontinuität heraus isolierte Willens- taten zerlegt wird. Die einzelne Handlung samt dem Wert- quantum, das die richtunggebende Gesinnung in ihr investiert hat, wird als fest umschriebne dem Gesetz gegenübergestellt, wie die Naturwissenschaft eine Erscheinung aus den unend- lichen Verwebtheiten ihres realen Verlaufes heraushebt und sie in dieser abstrakten Selbstgenügsamkeit in eine bestimmte Anzahl von Elementen zerlegt und nach einer bestimmten

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Anzahl von Gesetzen konstruiert. Man lasse sich nicht dadurch täuschen, daß die entscheidenden Gesetze jetzt alle ethisch wesentlichen Momente der Situation berücksichtigen und daß ihr Urteilsgrund schließlich nur die innerste Ge- sinnung ist: dies alles in die Tat eingerechnet, wird sie nun doch als ein grenzbestimmtes, in diesen angebbaren Momenten sich erschöpfendes Ereignis vor das sittliche Ge- richt gestellt, gelöst aus dem Lebenszusammenhange des Subjekts. Eine „ungerechte" Beurteilung der Tat ist damit an und für sich nicht gegeben; nur darüber muß man sich klar sein, daß hier eine Projizierung des tatsächlichen ethischen Geschehens gemäß der Methode der mechanistischen Wissen- schaft vorliegt. So absolut fern auch das Kantische Ethos mit seiner Fundierung auf unbedingte sittliche Autonomie dem katholischen steht: den „guten Werken" des Katholizis- mus ist die Behandlung der Willenstaten bei Kant formal verwandt. Wie jene einfach ein gewisses Quantum von Ver- dienst darsteilen und auch beliebig auf häuf bar sind, weil' sie als rein objektive Tatsächlichkeiten, gleichgültig gegen ihren organischen Bezug auf das Gesamtleben des Voll- bringers angesehen werden so hat auch bei Kant die einzelne Tat die gleitenden Übergänge abgestreift, durch die sie, ein bloßer Pulsschlag eben dieses Gesamtlebens, ihm ver- bunden ist; konsequenterweise ist ihm der Wert einer menschlichen Existenz gleich den summierten Werten ihrer einzelnen, je zu einer moralischen Einheit begrifflich ab- geschlossnen Willenstaten. Freilich hat der Katholizismus die Objektivierung, Vereinzelung und Lösung der Tat vom Subjekt soweit getrieben, daß ihr Verdienst auch auf einen andern als ihren Täter übertragen werden kann. Dies ist bei Kant durch die Ausschließlichkeit des subjektiven Ge- sinnungswertes natürlich unmöglich, allein der so dem Sub- jekte allein zukommende Wert wird doch nun wieder ob- jektiviert, so daß innerhalb des einzelnen Subjekts die Taten rein additive Größen sind. Immerhin bricht bei Kant ge- legentlich das Gefühl dafür durch, daß dies Mechanische, Antivitale, den Lebenswert aus isolierten Stücken Zusammen- setzende, doch irgendwie unserer sittlichen Tatsächlichkeit nicht entspräche. Er spricht öfter von dem Wert, den grade der Fortschritt im Sittlichen hätte, die Entwicklung, die uns in stetigem Bemühen von dem unvollkommenen zu dem

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immer vollkommeneren, wenn auch freilich nie ganz idealen Verhalten führe. Allein dies ist bei ihm eine Inkonsequenz. Beruht aller sittliche Wert auf der Pflichtgesinnung, von der die einzelne Tat getragen ist, so kann nicht noch ein- mal ein besondrer Wert darin liegen, daß dieses Moment in der jeweils späteren Tat der früheren gegenüber gestiegen ist. Für diesen, in der Relation der Wertquanten ge- legnen Wert hat die nach dem kategorischen Imperativ voll- zogne ethische Schätzung keinen Platz. Dies bedeutete eine ganz neue, nicht auf die Summe der Teile, sondern auf den Rhythmus des sie übergreifenden Lebensganzen hin orien- tierte Wertung aber zu der gemäß dem kategorischen Imperativ allein möglichen verhält es sich, wie das Erfassen des einheitlich - kontinuierlichen Lebens in einem Organis- mus zu dessen versuchter Zusammensetzung aus den mecha- nischen Bewegungen der isoliert gedachten Teile. Damit ist dem kategorischen Imperativ noch nicht einmal vorgeworfen, daß er das qualitativ Individuelle, das die Normierung durch „allgemeine Gesetze" überhaupt ablehnende Ethos ver- nachlässigte. Nur um die Form dieser sittlichen Recht- sprechung handelt es sich, die die „Handlung" aus dem Lebenskontinuum herauslöst und deren ganze sittliche Be- deutung zwischen ihre scharf abtrennenden Grenzen verlegt, als wäre sie ein freischwebendes, für sich allein definier- bares Gebilde. Damit wird einerseits, wie gesagt, das isolierende Verfahren der mechanistischen Naturwissenschaft, andrerseits das des gerichtlichen Rechtes wiederholt. Denn auch dieses unterstellt seinen allgemeinen Gesetzen das einzelne Interesse oder die einzelne Tat des Subjektes, aber nicht die Gesamtheit seiner Existenz , in deren Wirklichkeit jenes Einzelne, rechtlich zu Beurteilende, nicht als ein „Abschnitt'', sondern als ein objektiv gar nicht genau abzugrenzender Teil einer stetigen Entwicklung enthalten ist. Ob aber gerade der Ethik dies Singularisieren der Willenshandlungen, nebst seinem Korrelat, der abstrakten Allgeraeinheit des Gesetzes, angemessen ist, möchte ich nicht ohne weiteres bejahen. Vielleicht sollte sie das freilich viel Schwerere und ganz neue Kategorien, jenseits aller Analogien aus dem Mechanismus und dem Recht, Erfordernde versuchen: an dem Sollen, das als ideales dem Leben gegenübersteht, dennoch jene Kontinuität des Lebens selbst aufzuweisen.

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die den Teil aus dem Ganzen, statt das Ganze aus den Teilen herleiten läßt. Dann wäre der ethische Wert einer Existenz nicht mehr aus den einzelnen Handlungen und deren jeweiliger Relation zu einem „Gesetz" zusammenzusetzen, sondern wohnte jenen einzelnen ein, wie der irgendwie einheitliche Gesamtlebensprozeß eines Organismus jedem seiner Augenblicke.

Wenn wir diese Frage der begrifflichen Form des Ethischen etwas mehr nach dessen Inhaltlichkeit hinwenden, so treffen wir auf einen Punkt, an dem die Unzulänglich- keit des kategorischen Imperativs an das vielleicht tiefste Problem des modernen Lebens rührt. Gerade dadurch, daß er, wie ich zeigte, der Individualität der Lagen ein weiteres Bestimmungsrecht gewährt, als alle weniger formalen Moral- prinzipien; gerade dadurch, daß er das allgemeine Gesetz über der einzelnen Handlung unendlich biegsam und variabel gemacht hat gerade dadurch zeigt sein schließliches Ver- sagen, daß vielleicht in der Problemstellung ein Fehler steckt, daß das Individuum die sittliche Legitimation seiner Hand- lungsweise gar nicht immer in einem allgemeinen Gesetz suchen kann. Das Gesetz freilich können wir nicht ent- behren, d. h, wir bedürfen jener Festigkeit, Objektivität, inneren Begründung unsres Tuns, die wir als seine Ge- setzlichkeit aussprechen und die Kant so tief empfunden hat, als er die Sittlichkeit als eine Bestimmung bezeichnete, die dem Willen von innen her, als seine Funktionsform, und nicht erst von seinen Zielen kommt. Die Abbiegung, die ihn in das Unzulängliche führte, ist nur die Inter- pretation dieses Gesetzes als eines unter allen Umständen allgemeinen, eine Interpretation, zu der ihn die erwähnte Analogie mit andren Gesetzesbegriffen verleitete. Mir aber scheint, das moderne Leben strebe nach dem, was man das individuelle Gesetz nennen muß. Das heißt, die innere und äußere Gestaltung des Daseins verlangt nicht nur die Kantische Freiheit der Motivierung, den rücksichtslosen Gehorsam gegen das eigene Gewissen, sondern sie wird auch gleichgültig dagegen, ob das von dieser Freiheit ge- tragene Handeln durch eine Gleichheit mit andren, durch eine Allgemeinheit seines Geltens legitimiert wird. Kants großartiger Versuch, das für alle gültige Gesetz als den Inhalt der persönlichen Freiheit zu erweisen, ruht im letzten

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Grunde auf einem ungeprüften Dogma, hervorgegangen aus dem sozialen Optimismus des 18. Jahrhunderts und dem eigentümlichen Individualismus, den es ausgebildet hat und dessen Herrschaft innerhalb des ganzen Kantischen Denkens am Schluß dieser Vorlesungen hervortreten wird. Darüber hinaus drängen gewisse Strömungen des 19. Jahrhunderts darauf, die Werte der Persönlichkeit nicht mehr in einem Allgemeinen , das für alle gleichmäßig gelte , sondern in schlechthin individuellen Gestaltungen sich ausformen zu lassen. Aber auf jene Qualität des Willens, die ihn allem Zuchtlosen, Subjektiven, innerlich Zufälligen unbedingt ent- gegensetzt, wird damit nicht im geringsten verzichtet. Die ganze Gehaltenheit, die Würde, die Notwendigkeit, alles also, was wir mit dem Wertbegriff des Gesetzes bezeichnen, muß auch dieser individuellen Lebensform erhalten bleiben. Was Kant aber für logisch notwendig hielt: daß das Gesetz, in dem gleichsam jener wertvolle Aggregatzustand unsrer Seele kristallisiert, ein allgemeines sei das erscheint uns heute nur als historisch notwendig. Der Begriff eines Gesetzes, das seinem Wesen nach für das Individuum als solches gilt für Kant eine contradictio in adiecto , ist zum min- desten der Ausdruck für einen der Werte, die das 19. Jahr- hundert neben die des 18. gesetzt hat, und über dem, vom Standpunkt der Gesellschaft aus, ein andres letztes Ziel erscheint: die gegenseitige Ergänzung der indivi- duellen Wesenheiten, an Stelle der Gleichheit, die, wenn nicht die Folge, so doch, wie wir noch sehen werden, die Vor- aussetzung für die Forderung der allgemeinen Gesetzlich- keit ist.

Jenseits dieser Formulierung des Sittlichkeitsbegriffes aber offenbart sich in den Fundamenten der Kantischen Ethik eine geistesgeschichtliche Synthese, die den Ausgangspunkt dieser Darstellung nun auf höherer Stufe wieder aufnimmt. Indem hier zum erstenmal in der Geschichte der Ethik das Sittliche ganz auf sich allein gestellt ist und nicht nur alles unmittelbar Äußerliche, sondern auch die Außenwerke der Persönlichkeit selbst, alles, worin sie irgendwie abhängig ist, aus der Motivierung des Willens vertreibt vereinigt sich die unnachsichtigste Strenge des sittlichen Anspruchs mit einem, wie es scheint, glücklich unbefangenen Optimis- mus; in dem Glauben nämlich, daß nur die eigentliche,

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tiefste Persönlichkeit in uns, in ihrer ganz unbeeinflußten Freiheit zum Durchbruch zu kommen brauchte, um der Moralforderung zu genügen. Hier gewinnt die Denkrichtung des ganzen 18. Jahrhunderts in Kant eine eigentümliche Form. Denn daß die Persönlichkeit nur auf sich allein zu hören braucht, um den sittlichen Wert zu erzeugen, ist doch nur die philosophische Sublimierung des Freiheitsenthusias- mus, den Rousseau und die Physiokraten genährt hatten: der Mensch braucht nur frei zu sein, um gut zu sein, alle "Widersprüche gegen die gesellschaftlichen und individuellen Ideale entsprängen nur den Verkümmerungen, die die Güte der menschlichen Natur durch den Zwang von Staat und Kirche, von sozialen oder dogmatischen Einengungen erlitten habe. Der Glaube an diese ursprüngliche Güte, der in den politischen und wirtschaftlichen Tendenzen des 18. Jahr- hunderts seine sozialgeschichtliche Form zeigte, ist mit Kants Lehre von dem Zusammenfallen von Freiheit und. Sittlichkeit in die zeitlose Innerlichkeit des Mensehen hinab- gestiegen.

Freilich ist diese Vertiefung zugleich eine Einschränkung. Wenn es bei Rousseau heißt: „die Menschen sind böse, aber der Mensch ist von Natur gut", und bei Kant: „der Mensch ist unheilig genug, aber die Menschheit in seiner Person muß ihm heilig sein", so birgt die scheinbare Identität den bedeutsamsten Gegensatz. Bei Rousseau ist, was Kant die Menschheit im Menschen nennt, ein Wesensbestandteil, der in jedem, wie versteckt und entstellt auch immer, eine Reali- tät ist; bei Kant aber ist „die Menschheit" ein Ideal und Sollen eines jeden: der Mensch ist heilig, insofern er die Anlage zur Menschheit hat. Darum halten sich jene revolutionären Bewegungen an das Niederreißen von Schranken und Hinderungen, während Kant sogleich auf den unendlichen Weg positiver Arbeit hinweist. Kant ist durchaus kein Optimist in bezug auf die wirkliche Beschaffenheit der Menschen, eine wahre Verzweiflung über die allseitige Un- zulänglichkeit der Menschheit bricht immer wieder bei ihm durch. Aber in diesem unendlich unvollkommnen Dasein wohnt ein unendlich erhabner, strahlender Wert nicht als eine verkümmerte Wirklichkeit, nicht als ein, wenn auch steriler und entstellter Besitz, sondern als Forderung, als Anspruch, den der Mensch an sich selbst stellt, und der in

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dieser, mit der historischen Realität sich überhaupt nicht berührenden Form auch dann lebt , wenn kein Minimum seiner erfüllt wird. Aber eben deshalb, weil der Mensch die Güter der Sittlichkeit und der Freiheit nicht in der Form des Habens hat wenigstens ist es völlig zufällig, ob er sie etwa auch noch in dieser besitzt , so können sie in der ihnen wesentlichen, in der des Sollens, ihm auch nicht entrissen werden; sie sind das, wozu er berufen ist, was von ihm unter allen Umständen verlangt werden kann, und so seine ewige Mitgift, auf die er in jedem Augenblick zurückgreifen kann, wenn er es nur will, weil sie nichts andres sind, als er selbst in der Form des sittlichen Impera- tivs, der alle Unzulänglichkeit seiner Realisierung über- lebt. Und nun verstehen wir noch tiefer, warum in ihm Freiheit und Sittlichkeit zusammenfallen : die Freiheit ist nichts als das Sich-Selbst-Gehören , die Verwirklichung des Menschen, der sein soll, in eben demselben, insoweit er ist; der Mensch ist frei, wenn er sittlich ist, weil er im Gehor- sam gegen das Sollen sich selbst findet, die eine Form seines Wesens zur Einheit mit der andren bringt. Dies ist die völlig neue und vertiefte Gestalt, die die Gutgläubigkeit des 18. Jahrhunderts : der Mensch braucht nur frei zu sein, nur sich selbst zu gehören, um alle Werte in sich und um sich zu besitzen in Kant angenommen hat und in der sie gegen alle Widersprüche der geschichtlichen Wirklichkeit gewappnet ist, denen solcher Glaube in seinen andren Formen erlegen ist.

Daß er das innerste Selbst, das in diesem Sinne der Ort des Sollens ist, nicht als individuelles, d. h. von Person zu Person qualitativ unterschiedenes zugibt, liegt daran, daß ihm die Individualität etwas Gegebnes ist. Die Besonderheit unsrer Existenz ist eine Realität, die wir vorfinden und deren eventuelle Modifikationen jedenfalls durch und als Gegebnes bestimmt sind. Es war zweifellos Kants Meinung obgleich er sie nicht unmittelbar so ausspricht , daß die Bindung des Sollens an derartig Gegebnes die Freiheit aufhöbe. Der Ausgangspunkt für das sittlich freie Handeln kann nur etwas sozusagen Indifi'erentes sein, wir dürfen in ihm nicht durch irgendein Gegebnes präjudiziert sein, schon deshalb nicht, weil damit auch das sittliche Ziel unvermeidlich irgendwie festgelegt und der Freiheit entzogen wäre. Anders aus-

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gedrückt: Kant hat, wie ich glaube, in der Individualität den bloßen Wirklichkeitscharakter gesehen und sie schon darum in den Idealcharakter des Sittlichen nicht auf- genommen. Ohne nähere Diskussion sei darüber nur be- merkt, daß die Behauptung, unsre Individualität sei „uns gegeben", das unbefangen voraussetzt, was der tiefere Individualismus gerade bestreitet: daß die Basis unsrer Existenz ein noch nicht differenziertes „wir" sei, dem die Individualität gegeben ist denn das Gegebne muß doch jemandem gegeben sein , wie uns eine Erbschaft oder ein Schicksal „gegeben" ist. Besteht aber die Individualität in unserm letzten Daseinsgrunde oder als dieser, sind wir die Individualität, statt sie zu haben, so kann eine genau so weite Willensfreiheit an sie ansetzen, wie an den undiiferen- zierten Wesensgrund, den Kant annimmt. Und ferner ist ihr Wirklichkeitscharakter so wenig ein Hemmnis für eine Ideal- bildung, daß sie, selbst als Wirklichkeit und so gut wie jede andre, noch immer ein Ideal ihrer selbst über sich haben kann; auch die Individualität, die Unvergleichlichkeit und Unersetzlichkeit unsrer Existenz, ist nicht nur gegeben, sondern aufgegeben, sie ist so wenig fertig, wie überhaupt unsre Werte, und vielleicht ist gerade in ihr ein Sein und ein Sollen am widerspruchslosesten vereinigt.

Wenn Kant jenen bald kraftvollen, bald nur liebens- würdigen Optimismus seiner Zeit schließlich doch in seiner eignen Richtung vertieft, indem er das Mißverständnis auf- hebt, das aus der Verlegung der Freiheit, der Persönlich- keit, der Werte in die Kategorie einer irgendwie unvoll- ständigen Wirklichkeit entsprang , so überschreitet er ihn weiterhin nach einer ihm ganz entgegengesetzten Rich- tung. Nicht nur sittlich und sozial vollkommen sollte der freie Mensch sein, sondern auch glücklich; der subjektive Reflex des Daseins in seinem Gefühl sollte durch die Frei- heit dieselbe Vollendung erhalten wie seine objektive Be- schaffenheit. Kant aber stellt den auf Glück gerichteten Willen in einen Gegensatz gegen die Freiheit sowohl wie gegen die Sittlichkeit in einen Gegensatz, der diesen beiden Werten erst ihre Stellung bestimmt und die Gleich- heit ihres inneren Sinnes begründet. Die Opposition gegen die Kantische Ethik hat von jeher gerade hieran den Vorwurf des Rigorismus, richtiger wohl: der Askese ge-

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knüpft. Die Zurückweisung des Glücks aus jeder Willens- motivierung, die sittlichen Wert beanspruchen will, scheint das Leben vor die unbarmherzige Alternative: entweder glücklich oder sittlich zu sein , zu stellen und die Ent- scheidung für das letztere mit ununterbrochenen Leidgefühlen zu bestrafen; wogegen Schiller sein bekanntes Epigramm gerichtet hat. Aber diese fast allgemein vertretene Meinung veräußerlicht die Absicht Kants vollkommen und schiebt ihm die Torheit unter, daß niemals eine und dieselbe Hand- lung zugleich sittlich sein und unsrem Glücke dienen könnte. Umgekehrt vielmehr: gerade diese Situation stellt ihm sein eigentliches Problem. Wo sie nämlich vorliegt, können wir niemals mit Sicherheit wissen, welcher von beiden Er- folgen unsren Willen bestimmt: wir haben keine so un- zweideutige Erkenntnis unser selbst oder gar andrer, sind niemals vor der Selbsttäuschung über unsre eigentlichen Motive völlig geschützt, insbesondere wo die Harmonie von Glück und Pflicht die sittlich ganz irrelevante Motiviertheit durch das erstere gar zu leicht mit dem schmeichlerischen Scheine, nur der letzteren zu folgen, umkleidet. So wenig also geleugnet werden kann, daß auch in solchem Falle das sittliche Motiv möglicherweise das allein entscheidende ist, so ist dies doch nie mit voller Gewißheit erkennbar. Darum haben wir von dem Motiv, das uns bestimmte also von der sittlichen Qualität der Handlung , allerdings nur in einem Falle eine vor Irrtum geschützte Erkenntnis: nämlich wenn das sittliche und das Glücksmotiv über sie entgegen- gesetzt entscheiden wollen; daß das erstere uns bestimmt hat, wissen wir nur dann, wenn alle andren Triebfedern mit Sicherheit ausgeschlossen sind, d. h. wenn die Handlung gegen das Glücksinteresse lief. Keineswegs aber ist dies die innere Bedingung der Sittlichkeit; keineswegs ist das Glück die sachliche Gegnerin der Moral, wie Schiller es der Theorie imputiert; der Konflikt zwischen beiden ist nur die Situation, in der die Herrschaft der sittlichen Pflicht in uns für die Erkenntnis allein unzweideutig hervortritt. Sachlich be- rühren sich beide Motive so wenig, gehören so sehr zwei verschiedenen Welten an, daß jeder absolute Ausschluß: wo das eine Platz fände, könne das andere überhaupt nicht bestehen schon ein viel zu enges, prinzipielles Verhältnis, wenn auch nur im negativen Sinne, zwischen ihnen bedeuten

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würde. Obgleich Kant zugibt, daß, wie die Menschen nun einmal sind, die radikale Gleichgültigkeit gegen das Glücks- motiv dem moralischen Handeln einen Zug schmerzlicher Resignation nicht erspare, so ist dies doch ein bloßes Neben- produkt der Sittlichkeit. Die Entgegensetzung beider Motive, die er tatsächlich lehrt, ist nur die logische Ausgestaltung jener Grundüberzeugung, daß das Sittengesetz nur da erfüllt ist, wo es selbst und allein das letzte Motiv seiner Erfüllung bildet. Das überall durchbrechende intellektualistische Interesse läßt ihn so stark bis zur Erregung jenes Mißverständnisses stark den Fall betonen, in dem allein die Herrschaft dieses Motives für das Erkennen un- zweideutig ist.

Die asketische Moral, die in dem Erdulden des Leidens einen Charakterzug der Moral, ja an sich einen sittlichen Wert sieht, liegt schon wegen ihres passivistischen Wesens Kant ganz fern. Er ist keineswegs ein asketischer Düster- ling; wohl aber ist er Moralist, d. h. die Sittlichkeit erscheint ihm als der eigentlich einzige Wert, den der Mensch besitzen kann , neben dem alle andren , Glück, Schönheit, Intellekt, nicht nur sekundär sind, sondern auch erst in der Legitimierung durch ihn, ja in der Reduktion auf ihn wirklich als Lebenswerte anzuerkennen sind. Die ethische Übertreibung Kants liegt nicht, wie seine Kritiker durch- gehends behaupten, in einem zu engen MoralbegrilT, sondern in einer zu weiten Erstreckung des Moralbegriffs über das Gebiet der Werte. Daß er das sittliche Ideal in dem ganz kompromißlosen, auf sich allein ruhenden, mit keinen andren Interessen vermengten Sinne faßt, ist nur konsequent und vergewaltigt von sich aus das Leben noch durchaus nicht. Er bedarf auch, aus den letzten Grundlagen seiner Welt- anschauung heraus, dieser inneren Absolutheit des Sittlichen. Er hat den Rationalismus entthront, der mit der unbedingten Notwendigkeit der Logik uns des Daseins und seiner Be- stimmungen sicher machen wollte, er hat erwiesen, daß wir von keiner Existenz anders als durch fortwährend korrigierbare, in ihrer Sicherheit nur graduelle Erfahrung wissen können. Damit hat das Dasein jene überrelative Festigkeit verloren, auf die vielleicht nicht das wissenschaftliche, aber das meta- physische Bedürfnis geht, die Sehnsucht, die durch jenen Ratio- nalismus freilich nicht gestillt werden konnte, weil sie selbst ein

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Irrationales ist. So mußte denn diese Sicherheit außerhalb des Seins gesucht werden: in der Forderung an das Sein, in dem, was nach Abzug der Wirklichkeit noch übrig bleibt : dem Wert, der Aufgabe, der Freiheit. Nicht hier- durch geschieht die Vergewaltigung des Lebens, sondern erst durch jenen absolutistischen Moralismus wie er mit der inneren Strenge des Moralbegriffs keineswegs verbunden zu sein brauchte , der Kant sagen läßt, es sei innerhalb der Welt, ja auch außerhalb derselben nichts schlechthin Gutes zu finden als allein ein guter sittlicher Wille. Die Großartigkeit dieses Radikalismus wird niemand ver- kennen. Das „gefährliche Leben", das den modernen Menschen so unwiderstehlich anzieht vielleicht, weil die Sicherungen des äußeren Lebens so außerordentlich gewachsen sind , ist schon hier zu völliger Reife und Reinheit entwickelt. Der ganze Umfang der Lebenswerte ist hier auf den Punkt gesammelt, der keine Aufgabe und keine Schuld mehr auf ein Außer- Sich abschieben kann; die Verantwortung des Menschen ist mit der Alleingültigkeit der moralischen Werte auf das höchste gesteigert, denn den Punkt in ihm, auf den sie sich richtet, darf er nicht von sich ablehnen, ohne sich selbst aufzugeben. Indem alle Werte mit der Sittlichkeit zusammenfallen, alle Sittlichkeit mit der Freiheit, alle Frei- heit mit dem Gehorsam des Menschen gegen sein persön- lichstes und wahrstes Ich wird dieser allein übrig gelassene Wertpunkt die eine Karte, auf die alles gesetzt wird; das Dasein, auf diesen einzigen Wert des Sittlichen angewiesen, steht in jedem Augenblick vor der Entscheidung: alles oder nichts. Es wird für alle Zeiten merkwürdig bleiben, daß ein eigentlich philiströses Lebensgefühl wie es sich in der moralistischen Verengerung der ganzen idealen Sphäre ausspricht durch den Mut konsequenter Vertiefung zu dem Gegenteil alles Philisteriums geworden ist: zu der Preisgabe aller Reserven und der freiwilligen Gefahr der absoluten Selbstverantwortlichkeit. Unleugbar aber bekommt das Leben durch diese Konzentrierung aller seiner Bedeutsamkeiten auf den äußersten Freiheitspunkt der Willensgesinnung etwas Formloses, es fehlt ihm der Reichtum differenzierter Entfaltung, zu der es eines Eigen- wertes und -rechtes aller seiner Inhalte bedarf.

So scheint schon alle höchste geistige Produktivität den

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Moralismus zu widerlegen. Sie geschieht nie aus Pflicht oder aus Menschenliebe, sondern einerseits aus der natur- haften Schaffensnotwendigkeit des Subjekts, andrerseits aus dem rein objektiven Interesse heraus Motivierungen, die mit der „Achtung vor dem moralischen Gesetz" als „Trieb- feder" genau so wenig zu tun haben, wie sie in das eudä- monistische Interesse hineinzuschieben sind. Soll darum der Wert des Schöpfertums und zwar als solchen, keineswegs nur als einer Rückstrahlung von seinen Ergebnissen ge- leugnet werden? Dies Beispiel soll nur darauf hindeuten, daß der Moralismus zwar das Leben, so weit es auf die ethische Ebene projizierbar ist, zu einem Maximum von Vertiefung und Größe bringt, daß aber Wertgebiete neben ihm und in ihn nicht einbeziehbar bestehen, die er schlecht- hin verkümmern läßt.

Simmel, Kant. 3. Aufl.

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Elfte Vorlesung.

Zu der zuletzt dargelegten Reduktion aller Werte auf den moralischen könnte es nicht kommen, wenn Kant nicht andrerseits alle Interessen, die nicht moralisch sind, ganz entsprechend auf das Motiv des eignen Glücks zurückführte. Die eigentliche Enge seiner ethischen Weltanschauung finde ich eben darin, daß er sämtliche Modifikationen in die Alter- native: Sittlichkeit oder egoistisches Glück einsperrt. Hier hat ihn die scheinbare logische Schärfe des Schlusses: was ich nicht aus Pflicht tue, kann ich nur tun, weil es mir in irgendeinem Sinne Vergnügen macht über die psycho- logische Wirklichkeit fortgetäuscht, in der schließlich doch auch jene Alternative gegründet sein müßte; denn wenn Pflichtbewußtsein und Glückssehnsucht sich nicht als seelische Tatsachen darböten, würde kein Nachdenken sie und ihren Gegensatz entdecken. Jene Alternative ist keineswegs eine kontradiktorische, die kein Tertium zuläßt. Es ist vielmehr von vornherein völlig unbestimmt, ob irgendwelche Motiva- tionen, die sich im Bewußtsein vorfinden, auf jene beiden zurückführbar, oder vielleicht als selbständige und ursprüng- liche Triebe ihnen koordiniert wären. Das letztere scheint mir aber z. B. mit all dem, was man sachliche Interessen nennt, der Fall zu sein; ich komme damit auf ein in der letzten Vorlesung Angedeutetes zurück. Wo wir etwa wissenschaftlich arbeiten oder wissenschaftliche Ziele An- derer fördern, kann dies freilich aus Pflichtbewußtsein, es kann auch um der persönlichen Befriedigung willen geschehen, die die Lösung gewisser Aufgaben uns gewährt. Aber es kann auch ganz ohne die Einwirkung eines so allgemeinen Motives geschehn, rein weil es uns wünschenswert ist, daß jene Aufgaben gelöst seien. Wir können diesen Willen, daß Gewisses bloß der Sache selbst wegen geschehe, nicht näher analysieren, weil er eben selbst ein fundamentales

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seelisches Ereignis ist. Wenn er seinen Zweck erreicht hat, sind wir keineswegs glücklicher, und selbst wenn wir es sind, fühlen wir deutlich, daß diese subjektive Genug- tuung durchaus nicht das Motiv war, aus dem der Wille entsprang. Wir werden ihn vielleicht auch in sittliche Ord- nungen einstellen können; aber unzählige Male dürfen wir uns doch darüber nicht täuschen, daß der sittliche Wert dieser Bestrebung überhaupt nicht motivierend gewirkt hat, auch nicht unbewußt, ja, daß wir ihr vielleicht auch nach- gegangen wären, wenn Rücksichten rein sittlicher Natur dagegen gesprochen hätten. Kant begeht durch die Be- schränktheit seiner Alternative denselben Fehler wie die moderne Ethik , wenn sie die menschlichen Handlungen in egoistische und altruistische einteilt: entweder dem han- delnden Subjekt selbst oder andren Subjekten, näheren oder ferneren, einzelnen oder sozialen, müsse jede Zweckhandlung zugute kommen, die überhaupt einen Sinn und Motiv haben solle. Dies scheint mir nun eben ganz irrig; es gibt tat- sächlich ein drittes. Wir tun unzähliges, was weder uns selbst noch Andren zugute kommt, rein um der Sache willen, rein weil wir wollen, daß eine bestimmte Erkenntnis über- haupt gewonnen sei, eine bestimmte Ordnung der Dinge bestehe, eine bestimmte, im sachlichen Sinne gerechte, har- monische, logische Gestaltung sich vollziehe; ein derartiger Inhalt in seiner Unmittelbarkeit, aber durchaus nicht sein über ihn hinausreichender Erfolg für uns, für die Unsrigen, für die Gesellschaft ist vielfach das Ziel unsrer Wollungen höherer wie niedrerer Art. Daß solche Zwecke sich einer- seits vielleicht historisch aus sozialer Nützlichkeit entwickelt haben, daß sie andrerseits natürlich gewollt werden müssen und ihr Verfehlen uns einen Schmerz bereitet widerlegt nicht im geringsten die psychologische Tatsache, daß jetzt nur sie selbst unser Motiv sind und daß in dieses der Glücks- oder überhaupt fühlbare Reflex in irgendwelchen Seelen nicht eintritt.

Hierüber müssen wir uns prinzipiell klar sein, weil auf der Ausschließlichkeit der Alternative : Glück oder Pflicht alle Kantischen Beweise für das Wertmonopol der letzteren beruhen. Bei einem großen Menschen sind Irrtümer in diesen Fragen nichts Isoliertes, sondern hängen immer mit den letzten Wurzeln der Weltanschauung zusammen. Daß

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er an den Motivierungen, die weder egoistisch noch moralisch sind, einfach vorbeisieht, ist ein echt rationalistischer Zug. Tatsächlich entbehren solche Motivierungen oft der logischen Klarheit und der bündigen Systematisierung; Kant ver- führte der reinliche Schematismus jener Einteilung, die nüchtern verstandesmäßige Plausibilität der beiden Grund- motive zu der Zurückgliederung aller Willensreihen auf sie. Und dieser Rationalismus in der Deutung des Lebens steht wieder ersichtlich in der tiefsten Beziehung dazu, daß ihm der Mensch im wesentlichen als ein rationalistisches "Wesen erscheint, dessen Wollen durchgehends durch Zwecke bestimmt ist. Daß er im übrigen das Spiel des Lebens töricht und leer genug findet, ist eine Sache für sich, ja, man hat den Eindruck, als ob er zwischen jener rationalen, auf Zweckhandeln gestellten Struktur unsrer Art und dieser empirischen Sinnlosigkeit und Verirrbarkeit der Menschen- wege ziemlich ratlos dasteht. Er läßt jedenfalls die Tat- sache nicht zu ihrem Rechte kommen, daß wir unzählige Male überhaupt nicht durch Zwecke, sondern durch Triebe zu unsrem Handeln motiviert werden, Triebe niederer wie höherer Art, die ihre gespannten Energien in unsrem Han- deln auslösen und dabei gar nicht oder nur ganz sekundär nach dem Erfolge des von ihnen bestimmten Handelns fragen. Dieses wird hier durchaus von dem terminus a quo gelenkt, nicht von dem terminus ad quem, weder innerhalb noch außerhalb seiner liegt ein Zweck, aus dem der Wille zur Handlung 'entspränge. Für die Kantische Rationalistik scheidet dieses Triebhafte unsres Willenslebens, das sich, mindestens als Element, bis in die höchsten Gebiete der Kunst, der Religion, der Gemütsbeziehungen fortsetzt, ganz aus der Betrachtung der menschlichen Praxis aus; diese gewinnt damit das Durchsichtige einer fortwährenden Ziel- bewußtheit, freilich um den Preis einer eigentümlichen Unlebendigkeit und einer Fremdheit gegen die tiefsten Wurzeln unsres Wesens.

Mit demselben systematischen Radikalismus also, mit dem Kant alle Werte unsres Wesens in dem moralischen ihre Substanz finden läßt, münden ihm alle andren Im- pulse in ein qualitativ immer gleiches Glücksgefühl, das ausschließlich quantitative Unterschiede besitzt. Was wir edlere Freuden nennen, seien eben nur solche, die sich

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nicht abnutzen, die mehr als die gemeinen in unsrer Gewalt sind, die weitre Verfeinerung und Genußfähigkeit mit sich bringen kurz, die sich durch das im ganzen größere Maß ihres Lustertrages, nicht durch eine andere oder wertvollere Art desselben charakterisieren. Wer sich über- haupt durch Glücksempfindungen bestimmen lasse, sei inso- fern eine gleich wertlose Persönlichkeit, ob jene von bloß sinnlicher oder von der feinsten geistigen Art seien; denn diese Unterschiede beträfen nur die Ursachen des Glücks, aber nicht das Glück selbst und seien deshalb so gleich- gültig, wie es für den Gebrauch des Goldes sei, ob es aus dem Gebirge gegraben oder aus dem Sande gewaschen ist. Dies erscheint mir als eine unerhörte Unterdrückung unsrer wirklichen Wertungen durch die eigensinnige Starrheit eines abstrakten Begriffes. Aus der unübersehlichen Mannig- faltigkeit unsrer Glücksgefühle destilliert Kant einen ganz abstrakten Glücksbegriff, als allen gemeinsamen, heraus, von dem er nun freilich, weil er alle Unterschiede jener Gefühle daraus weggestrichen hat, behaupten kann, er fände sich überall gleich und nur dem Grade nach abgestuft vor. Freilich spricht er überhaupt vom Glück wie jemand, der nur aus der Geschichte der Moralphilosophie erfahren hat, daß es so etwas gibt. Was er aber keinesfalls bewiesen hat und ganz unbefangen voraussetzt, ist, daß jene ver- nachlässigten Differenzen der Glücksgründe ohne Einfluß auf unsere Willensentscheidungen, selbst die rein vom Glücks- bedürfnis beherrschten, seien und daß sie unsere Wertung der Persönlichkeiten nicht bestimmten oder bestimmen dürften. Um das letztere vorwegzunehmen : ob jemand seine beglückteste Stunde in den Armen einer Kokotte oder beim Anhören der Neunten Symphonie erlebt, ist ein Wert- unterschied der Persönlichkeiten, der gilt, auch wenn man von jeder sittlichen Beurteilung absieht; die Welt ist wert- voller, wenn sie diese, als indem sie jene Seele einschließt. Nicht das Ethische, das Wollen, entscheidet hier, sondern das Sein ; grade das, was Kant vom Standpunkte des Wertes der Seele aus für völlig gleichgültig hält: worin sie ihr Glück findet grade darauf kommt es an, grade dieser Unterschied kann die Welt, je nachdem sie mit diesen oder jenen Seelen bevölkert ist, zu einer Schatzkammer oder zu einer Pfütze machen. So paradox und unsren sonstigen

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Wertungsweisen fremd eine Möglichkeit scheint, die ich hier nicht näher verfolgen kann: es wäre nicht ausgeschlossen, daß das Glück nicht als Wert anerkannt wird und doch die Unterschiede der Glücksarten und Glücksv eranlassungen unüberhörbare Wertdifferenzen zwischen die Seelen legten. Und nun das andere: es ist, ohne jeden Vorbehalt, eine psychologische Fälschung , daß die Art des Glückes , die Ursache seiner Erzeugung, selbst nur für den, der nur das Glück und weiter nichts sucht, gleichgültig und einflußlos wäre. Trotz allem ziehen die Menschen noch manchmal die geringe Lust der größren vor ohne irgend an Moral zu denken, rein in dem Gebiete der Glücksinteressen bleibend, aber im Gefühle, daß die eine, rein als Glück, wertvoller ist als die andere und damit ihr quantitatives Manko aus- gleicht. Aus dem Golde unsres Geldes ist jede Spur seines Ursprungs verschwunden und deshalb sind uns Unter- schiede dieses letzteren freilich ganz gleichgültig; aber in unsren Freuden leben die Dinge und Ereignisse, auf die unsere Seele mit diesem Gefühl antwortet, weiter, als sehr entschiedene Unterschiede der qualitativen Färbung des Glücks; verschwunden sind sie nur aus jenem abstrakten Glück, das Kant durch einfaches Hinwegdekretieren dieser Mannigfaltigkeit konstruiert hat. Das Glück aus unter- schiednen Quellen ist ein unterschiednes Glück und diese Unterschiede sind für unsere Empfindung und unsere Ent- scheidungen zugleich Unterschiede des Ranges unsrer Freuden, nur als Freuden betrachtet. In ihnen nur graduelle Differenzen eines und desselben Glückes zu sehen, ist nicht sinnvoller, als wollte man aus allen Individuen das allen Gemeinsame als den Allgemeinbegriff" Mensch herausziehen und nun alle Unterschiede zwischen jenen als die größeren oder geringeren Quantitäten deuten, in denen dieser Begriff sich in dem Einzelnen vorfindet. Es ist von äußerster Wichtigkeit, sich hierüber nicht zu täuschen; denn unter dem falschen Glücksbegriff" Kants hat die Ethik hundert Jahre gestanden, die idealistische wie die sensualistische, die Ethik des Individualismus wie des Sozialismus. Wie Spinoza von dem Allgemeinbegriff des Seins, der ihm zur göttlichen Substanz aufwächst, so geblendet und gefangen ist, daß alle Unterschiede zwischen den Dingen ihm nichtig werden, so erstarrt das Denken Kants gleichsam an dem

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Allgemeinbegriff des Glücks, und dringt nicht bis zu dessen individuellen Ausgestaltungen und ihren Eigenwerten vor, die zwar nicht so bequem und vielleicht überhaupt nicht mehr auf allgemeine Begriffe zu bringen sind, sondern letzte Tatsachen unsres Wertfühlens bilden. Die Ursache aber dieser grauenhaften Vergewaltigung eines der tiefsten und wundersamsten Züge unsrer Natur ist der Moralismus, der hier vielleicht souveräner als irgendwo auftritt, indem er auf dem Gebiet, das mit dem Moralischen nichts zu tun hat, keine Wertunterschiede anerkennt, weil er ihm überhaupt keinen Wert zuerkennt. Noch einmal: Nicht der Rigorismus seines Moralbegriffes verdient die Kritik, denn man kann ihn überhaupt nicht zu streng und zu fest ge- schlossen fassen. Nur gegen den Moralismus gilt es, sich zu verteidigen, der diesen richtig gefaßten Begriff alle andren Wertbegriffe verschlingen läßt, gegen die Verarmung und Verengung so vieler tatsächlicher Wertungen, mit der er die Bereicherung und Alleinherrschaft des einen be- zahlt hat.

Es ist nun gleichsam die Rache des mißhandelten Glücksbegriffs, daß er in der weitren Entwicklung der Lebens- werte eine un verhältnismäßige Wichtigkeit gewinnt. Indem neben ihm und der Sittlichkeit überhaupt keine andren praktischen Prinzipien anerkannt werden so daß Kant z. B. die Eigenart des Schmerzes als einer Vertiefung und Beseelung des Daseins völlig entgeht , sammelt sich unter seiner Ägide alles, was der Mensch jenseits der sittlichen Vollendung noch begehrt, so daß er an Quantität eben das gewinnt, was ihm an Qualität abgesprochen ist.

Merkwürdiger und tiefer bedeutsam als nach der Seite der Moral offenbart sich dies im Hinblick auf das Ver- hältnis von Leben und Welt. Gewiß ist die Welt im Wesentlichen ein Ort des Leidens und Kant empfindet sie durchaus so; jedem auf das Glück orientierten Optimismus ist er völlig fremd. Trotzdem erscheint sie ihm so ein- gerichtet, daß wir wenigstens von ihr Glück wollen können, Sie mag sein, wie sie will ; indem aber unser Wille sich auf sie richtet, erblicken wir sie so, als ob sie uns Glück ge- währen könnte. Ja, noch tiefer und eine letzte meta- physische Deutung ihrer Relation zum Leben aussprechend: wir können von ihr, von der gegebnen Wirklichkeit der

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Dinge, überhaupt nichts andres als Glück wollen! Es ist der tiefste Gegensatz zu der Auffassung Goethes, der das Gute und das Böse unscheidbar verschlungen, als ein einheitliches Leben empfand, zu Nietzsche, der zu allem Leiden, weil es eben Leben war, zu dieser ganzen selig-unseligen Einheit unseres Verhältnisses zur Welt Ja sagte, zu Walters von der Vogelweide : Willekommen bös unde gut ! Aber so wird verständlich, daß Kant das Glück überschätzte, daß er was zu selten betont wird zur einen Hälfte Eudämonist ist. Aus jenen Zusammenhängen heraus erlangt der Glücks- begriff hier ein Forderungsrecht an die Ordnung der Wirk- lichkeit, das nach dem ihm ursprünglich zugesprochnen Range eigentlich überrascht; grade seine prinzipielle Ent- gegenstellung gegen den ethischen Wert macht ihn zu einer Art vollgültigen Gegenstücks zu diesem. Das abschließende Bild des Daseins weil es eben das Dasein sinnlicher, be- dürftiger Wesen ist scheint ihm die Vollendung des Glückes nicht weniger als die der Sittlichkeit zu verlangen. Denn auf der Basis der ganzen inneren Fremdheit zwischen diesen beiden Polen unsrer Interessen besteht ihm doch eine eigen- tümliche innere Verbindung zwischen ihnen : Sittlichkeit ist die Würdigkeit, glücklich zu sein. Mit außerordent- licher Feinheit ist hiermit eine Beziehung der Begriffe kon- struiert , die ihre gegenseitige Selbständigkeit völlig un- angetastet läßt. Denn einerseits darf, wie wir sehen, der Wunsch nach Glück die sittlichen Wege nicht kreuzen; andrerseits werden wir noch zu sehen haben, daß auch die Wirklichkeit jede Verknüpfung zwischen ihnen ablehnt: den alten Glauben , daß eine seelische Notwendigkeit oder die Ordnung der äußren Schicksale die sittliche Güte unaus- weichlich mit einem Lohn an Glück ausstattete Hat Kant in seiner ganzen Unhaltbarkeit dargetan. Aber jenseits dieser beiden Verbindungen , deren Ausschluß jedes Band zwischen Tugend und Glück zu zerschneiden scheint, knüpft sich für Kant nun die ideelle: daß wir durch Tugend das Glück verdienen, obgleich wir es weder in Wirklichkeit durch sie erlangen, noch auch das bloße Streben nach dem einen durch das nach dem andren stützen dürfen, ohne seinen |Sinn völlig zu zerstören. In diesem „des Glückes Würdig Sein" kommt eine ganz neue Kategorie auf; der Sittlichkeit wächst hier, ohne daß sie es aus sich selbst

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entwickelte, ja ohne daß sie daran denken dürfte und ohne daß die Wirklichkeit es ihr zutrüge, ein Anspruch und Hinweis zu, aus einer rein idealen Ordnung, die, über die Elemente des Daseins hinübergreifend, eine in ihnen selbst nicht angelegte Harmonie zwischen ihnen fordert. Wie eine Arbeit ein bestimmtes ökonomisches Äquivalent wert ist, auch wenn sie nicht mit Rücksicht auf dieses vollbracht ist, und wenn sie es auch niemals in Wirklichkeit erhält, wie dies Entgelt, das sie wert ist, sie in einer ganz einzigartigen Distanz, einer völlig irrealen und dennoch festen Beziehung zu ihr umschwebt, als ein Drittes jenseits der Alternative von Haben und Nichthaben so steht über der sittlichen Tat das Maß von Glück, dessen sie uns „würdig macht". Eine vorhin gemachte Andeutung ergänzt sich hier. Es kommt ethisch auf das Glück gar nicht an: aber darauf, worin man sein Glück findet, kommt es auch ethisch gar sehr an. Und nun: Es kommt ethisch auf das Glück gar nicht an : aber darauf, daß man des Glückes würdig, kommt es an. Und so sehr wird durch diesen nur in der Idee gültigen , die W^irklichkeit der Tat nirgends berührenden Abglanz ihrer sie dennoch in ihrer eigensten Bedeutung festgelegt, daß Kant sich eben zu jenem kühnen Wort er- heben konnte: Sittlichkeit wäre nichts andres, als die Würdig- keit, glücklich zu sein eine Bestimmung, die die volle Souveränität des Sittlichen um nichts vermindert, da man in Kants Sinn der Glückseligkeit grade nur dann würdig ist, wenn man ohne jede Rücksicht auf sie gehandelt hat. Vermittels der tiefsinnigen Wendung, die Kant dem trivialen Begriffe des „Würdigseins" gibt, gelingt es, grade auf die radikale Exstirpierung des Glücksbegriffs aus dem Sittlich- keitsbegriff hin sie beide als die selbständigen und doch ideell einander fordernden Seiten einer höheren Gleichung zu begreifen.

Bevor ich aber deren weitere Entwicklung verfolge, bedarf von ihren Voraussetzungen die eine, die ich erst kurz andeutete, tieferen Eingehens. Über das Verhältnis von Tugend und Glück mischen sich im populären Bewußtsein ganz entgegengesetzte Meinungen ; den gutmütigen Glauben, daß ehrlich am längsten währt, daß sich jede Schuld rächt, daß das Gute doch schließlich seinen Lohn findet kreuzt ein entweder großsprecherischer oder auf rein persönliche

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Erfahrungen gegründeter Pessimismus, für den der Gute durchgehends zum Leiden bestimmt und alles Wohlergehen den Schurken aufgehoben ist. Jenen Optimismus pflegt die Moralphilosophie, oft nicht viel kritischer, aufzunehmen. In der Regel führt keine vorurteilsfreie Untersuchung, sondern ein siegessicheres Herzensbedürfnis zu dem Ergebnis, daß die Tugend der sicherste Weg zum Glück ist, oder daß beides die Seiten eben derselben inneren Wirklichkeit oder daß sie von vornherein identisch seien. Der Nachweis der innerlich notwendigen Zusammengehörigkeit von Sittlichkeit und Glück, der „versöhnliche Schluß", erscheint fast als das eine große Ziel und Verpflichtung aller Moralphilosophie. Kant nun steht der ganzen Reihe dieser Versuche mit ein- samer Gegensätzlichkeit gegenüber: er leugnet, daß in der Wirklichkeit eine notwendige, erweisbare, innerliche Verbindung zwischen Sittlichkeit und persönlichem Glück bestände oder begriff"lich erfordert wäre in der Wirklich- keit, also noch ganz jenseits ihrer gegenseitigen Unabhängig- keit als Motive des Handelns. Wir gelangen weder not- wendig zur Tugend, indem wir dem Glücke nachgehn, noch zum Glück, indem wir die Tugend suchen; selbst der schein- bare Tiefsinn des Glaubens, daß das echte, dauernde, allein nicht zu teuer erkaufte Glück nur um den Preis des sitt- lichen Verhaltens zu erkaufen sei, kann ihn nicht über die unbarmherzige Zufälligkeit täuschen, mit der die Wirklich- keit beide Güter zueinander und auseinander führt. Das Glück vielmehr, so meint er, hängt von äußren Chancen und ihrer geschickten Benutzung ab, und, wie wir in seinem Sinne hinzufügen können, von den inneren Chancen des Temperaments und des Lebensgefühls. Glück und Leid sind zufällige Verhältnisse zwischen den Bedürfnissen des Subjekts und der Unberechenbarkeit seiner sozialen, physischen, seelischen Schicksale ; sie grade von dem sittlichen Verhalten des Menschen abhängig zu machen, ist weder logisch noch durch die Erfahrung gerechtfertigt.

Was hierin zu Worte kommt, ist vor allem die mecha- nistische Weltauffassung. Die äußeren und die inneren Wirk- lichkeiten gehen ihren naturgesetzlich festgelegten Gang, und die Gebilde von Lust und Leid, von gutem und bösem Willen, die unter ihnen aufkommen, stehen objektiv durch- aus nicht in der Verbindung miteinander, in die unsere

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Wertgefühle, aus dem gleichgültig gleichmäßigen Strome des Werdeos grade diese auslesend und betonend, sie setzen. Indem wir unsere Zwecke und Interessen an die Wirklich- keit heranbringen, ordnen wir nach ihren Normen die Ele- mente der letzteren in Reihen und Organisationen, die gegenüber ihren natürlich-realen Ordnungen rein zufällig sind _ wie wir etwa von den Früchten des Waldes die für uns genießbaren und die für uns giftigen je in Gruppen zusammennehmen, deren Einheitlichkeit für unsere Interessen in keinerlei objektivem Zueinandergehören , ihr natur- gesetzliches Durcheinanderwachsen unterbrechend, ihr Gegen- bild findet. Seit das mythologische und anthropozentrische Naturbild durch das naturwissenschaftlich-kausale verdrängt ist, steht die Ordnung der Dinge, in der sie, an unsren Ideen und Wünschen gemessen, einen Sinn haben, zu der Wirklichkeit überhaupt nicht mehr in einer bestimmten Proportion, kein Prinzip, sondern der von unsren Wert- begrillfen aus gesehn sinnlose Zufall läßt beide Reihen gelegentlich zusammen-, gelegentlich auseinandergehn. In- dem die Gleichgültigkeif, mit der der Lauf der Dinge den Guten bald glücklich, bald unglücklich macht und mit dem Bösen ganz ebenso prinziplos verfährt, von Kant als der gar nicht korrigierbare Ausdruck des Verhältnisses von Tugend und Glück hingestellt ist hat die mechanistische Weltanschauung, der adäquateste Inhalt des reinen Intellek- tualismus, ihren höchsten Triumph gefeiert; denn sie ist Herr über das Ideal geworden, das für Kant das höchste jeder möglichen Weltordnung ist, über die Gerechtigkeit in dem Verhältnisse jener beiden Fundamentalwerte des Lebens. Indem er so mit rücksichtslosem Mute den Faden zerschneidet, an dem die ganze Moralphilosophie gesponnen hatte, ist das Leben von Grund auf in eine neue Position gebracht. Die zwei Strömungen seines inneren Laufes : was es will und was es soll gehen von verschiednen Aus- gangspunkten zu verschiednen Zielen, und keine unterirdische Quelle entläßt sie mit der Hoffnung, wiederum gemeinsam zu münden. Eine unvergleichlich gewissenhafte Reinlichkeit des Denkens hat hier der Sittlichkeit die Stütze entzogen, die sie an der Hoffnung früher oder später einzuziehenden Lohnes besaß, wie dem Triebe zum Glück die Rechtfertigung, die er aus seiner Verbindung mit der Moral zog. Auch er

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ruht jetzt auf sich allein und muß von seinen eignen Gnaden bestehen. Das Leben verlangt auf dieser Basis der Selbst- herrlichkeit seiner wesentlichen Prinzipien ein ganz andres Maß von Kraft und Mut, als da noch eines am andern, wie in einem circulus vitiosus, einen trügerischen Halt fand.

Aber freilich nur um gegenseitige Unabhängigkeit, nicht um einen Gegensatz handelt es sich, als ob es nun das not- wendige Los des Edlen sei, auf Glück zu verzichten ; als ob Glück nie anders als auf unsittlichen Wegen zu erreichen sei, als ob die grundsätzliche Ordnung der irdischen Dinge auf den Triumph des Bösen ausginge. Es gibt religiöse und zynische, melancholische und satanistische Weltbilder, die ein derartig perverses Verhältnis zwischen den Werten der Sittlichkeit und des Glücks vertreten. Wie aber Kant in der Motivierungsfrage des Sittlichen durchaus kein aske- tisches Leiden, sondern nur Gleichgültigkeit gegen das Glücksinteresse fordert, so liegt ihm hier in der Tatsachen- frage ein Pessimismus völlig fern, der die Selbständigkeit jener Wesensprinzipien, soeben dem Optimismus unter Preis- gabe der tiefsten Herzenswünsche abgerungen, von neuem in eine gegenseitige Verursachung, wenn auch mit um- gekehrtem Vorzeichen , überführte. Der Pessimismus als Weltanschauung ist das Extrem, in das diese ausschlägt, bevor sie aus dem naiven oder dogmatischen Optimismus in die Ruhelage der Objektivität gelangen kann. So schlug, im Zeitalter Kants, der allgemeine Optimismus des 18. Jahr- hunderts in den Satanismus de Sade's um, für den es der Tugend naturgesetzlich nur schlecht, dem Laster nur gut gehen könne. Erst die Kantische Objektivität erkannte, daß unsere Wertgefühle und -ideen überhaupt kein prin- zipielles, sondern ein rein zufälliges Verhältnis zu der realen Ordnung der Dinge haben; daß der Optimismus also nicht deshalb falsch ist, weil der Pessimismus richtig ist, sondern weil beide den Sinn und die Stimmungen des subjektiven Lebens zu Gesetzen der Wirklichkeit übersteigern. In der Betrachtung des empirischen Laufes des Daseins neigt Kant im ganzen zu pessimistischen Überzeugungen; um so höher ist es anzurechnen, daß er in jener prinzipiellen Frage das Stadium des Pessimismus überspringt und die optimistische Verknüpfung von Tugend und Glück durch die objektive Ansicht ersetzt, die beiden ihr voneinander ganz unab-

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hängiges Verhältnis zu der natürlichen Wirklichkeit wieder- gibt. Mit dieser Lösung und Verselbständigung hat, bio- logisch gesprochen, die Differenzierung der einzelnen Triebe, in der sich die Entwicklungshöhe der menschlichen Organi- sation überhaupt kundgibt, die tiefsten Wurzeln unsrer inneren Existenz ergriffen; und historisch ist es das Frei- heitsbedürfnis des modernen Mensehen, das damit gleichsam in die einzelnen Elemente seines Wesens hinabgestiegen ist und jedem derselben die Unabhängigkeit von dem andren sichert.

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Zwölfte Vorlesung.

Die reale Trennung zwischen Sittlichkeit und Glück ver- trägt sich völlig mit der Hinweisung des einen Wertes auf den andren, wie der Begriff des „Würdigseins" sie aussprach. Allein es ist bekannt genug, daß Kant sich mit dieser ideellen Brücke über die Abgründe der Realität nicht begnügte, jene empirische Diskrepanz vielmehr für eine Unerträglichkeit erklärte, deren Beseitigung nicht in einer idealen Forderung, sondern in einer überirdischen Wirklichkeit gesucht werden müßte. Angenommen, unser empirisches Dasein sei nur das unvollendete Stück einer unendlichen Existenz unsrer Seele, deren Fortsetzung sich an das Ende jenes anschließt so würde freilich auch in einer solchen der inneren Vollendung der Seele, die wir hier Sittlichkeit nennen, nicht von sich aus ein Glück zuwachsen, da diese beiden Werte auf keiner Stufe des Daseins sich gegenseitig erzeugen könnten. Übrigens mag dies, rein gedanklich angesehn, noch zweifel- haft sein. Irgendeinen, wenn auch noch so minimen und un- proportionierten Ansatz zu einem Glückserfolge der Sittlich- keit bietet tatsächlich das gute Gewissen. Man könnte sich denken, daß dies die irdisch mögliche, fragmentarische An- deutung eines inneren Zusammenhanges beider wäre, der sich in einer absoluten und ewigen Existenz voll zum Aus- druck brächte. Für Kant indes würde es nur einer gött- lichen Macht möglich sein, in einem jenseitigen Leben die beiden nachträglich so zusammenzubinden, wie sie es in dem uns gegebnen Fragment des Daseins nicht getan hat viel- leicht, weil der Wille seiner Reinheit und selbstgenugsamen Sittlichkeit nur bei völliger Zweifelhaftigkeit des Glücks- erfolges sicher ist. An diesem Punkte seiner Ethik fügt sich ein, was mir von Kants Religionsphilosophie hier mit- teilenswert erscheint. Jene Leistung des göttlichen Prinzips bedeutet nicht, daß wir einen Gott vorfinden, als einen

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Gegenstand des Dognicas oder der religiösen Erfahrung, zu dessen Machtäußerungen unter andrem auch die jenseitige Herstellung jener Gerechtigkeit gehörte. Sondern umgekehrt, unser subjektives Bedürfnis nach dieser ist so unnachlaßlich, eine so unvermeidliche Konsequenz des sittlichen Bewußt- seins einerseits, unsrer bedürftigen Natur andrerseits, daß der Glaube an einen Gott, der das Bedürfnis befriedigte, aus dem Bedürfnis selbst hervorgeht. Wir haben gar kein Mittel, die Schranken unsres irdischen Erkennens zu überspringen und die Wirklichkeit eines Gottes zu ergreifen, aus dessen Wesen wir diese Leistung, die Weltordnung zu vollenden, ableiten könnten: die Religiosität, die Kant zugibt, geht nicht von ihrem terminus ad quem, dem erkannten oder ge- glaubten Gott und seinen Eigenschaften aus, sondern aus- schließlich von ihrem terminus a quo, von dem Bedürfnis des Menschen, an die schließliche Vollendung und Harmonie der Wesenstendenzen in sich selbst zu glauben , von denen ihm empirisch nur zusammenhanglose Teile gegeben sind. Es gibt freilich genug noch radikalere Hypothesen dieser Art: die Furcht soll die Götter gemacht haben, oder der mißleitete Kausaltrieb oder die Verehrung mächtiger Menschen. Allein alle diese deuten den Ursprung der wirklichen, histo- rischen Religionen; Kant aber will nicht den Ursprung, sondern das Wesen, nicht ihre Wirklichkeit, sondern das- jenige, was an der Wirklichkeit vernünftig und haltbar ist, ergründen wie seine Erkenntnistheorie nicht das wirk- liche Vorstellen des Menschen, sondern das richtige Erkennen, seine Ethik nicht das wirkliche Handeln, sondern das sein- sollende zum Gegenstand hat. Gewiß entspringt ihm die Religion, als ein Accidenz der Sittlichkeit, aus bloß mensch- lichen Motiven, jenen aber aus allzu menschlichen, so daß ihre Deutung sie für illusionär und sinnlos erklären muß. Zu ihnen verhält sich auf dem Gebiet des Glaubens die Kantische Tendenz genau so, wie sie sich auf dem Gebiet der Wirklichkeitserkenntnis zu dem naiven oder metaphysi- schen Realismus verhielt. Hat man erst einmal die räum- lichen Vorstellungen zu Dingen, unabhängig von unsrem Vorstellen, gemacht, so sind wir freilich niemals sicher, sie zu ergreifen und fallen notwendig in die Zweifelsfrage: ob sie denn überhaupt da wären, oder in die Verneinung ihrer Existenz. Und so hier: geht man, den Sinn der Religion

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suchend, von Gott aus, als einem jenseitigen und selbst- genugsamen Wesen, so findet man nur Irrwege, die zu ihm aufzustreben scheinen, das Suchen bleibt in der Subjektivität und dem ewigen Jenseits-seiner befangen. Wie aber die Zuverlässigkeit unsres Erkennens sogleich begreiflich wird, wenn es, nach bestimmten Normen verlaufend, dadurch sein Objekt selbst bildet so enthebt sich der religiöse Glaube der Subjektivität in jenem schlechten Sinn, in dem sie durch den Gegensatz zu einer doch ungreifbaren Objektivität leer und täuschend ist, zugunsten des andren, in dem der religiöse Prozeß nicht über sich hinausgreift, sondern sein Objekt selbst bildet, Gott ist, nach Kants Ausdrücken, ein „Postulat" und eine „Idee", d. h. eine von unsrer Seele gebildete Voraussetzung, deren sie um gewisser, in ihr lebender Forderungen willen bedarf. Besteht ein sittlicher Imperativ, so können wir uns nach Kants Überzeugung die freilich keineswegs unbestreitbar und wohl von dem etwas mechanischen Gerechtigkeitsbegriif des 18. Jahrhunderts abhängig ist keine Weltordnung denken, die der Sittlich- keit kein Glücksäquivalent zukommen ließe; welches Äqui- valent nur außerhalb der Erfahrungswelt und durch eine göttliche Macht beschaffbar ist. Nun ist der sittliche Im- perativ eine Tatsache, deren konsequente Fortsetzung also der Glaube an eine derartige Macht ist. Diese ist nichts als der Ausdruck dafür, daß unsere Bedürfnisse eine göttliche Instanz fordern und durch jene sittliche Tatsache zu dieser Forderung legitimiert werden. Damit ist keineswegs „die Existenz Gott bewiesen" , denn ein theoretischer Beweis einer Existenz würde immer die Möglichkeit sinnlicher An- schauung des Gegenstands voraussetzen und unabhängig davon sein müssen, ob dieser Gegenstand eine Beziehung zu unsren inneren Bedürfnissen hat oder nicht. Unter die Kategorie des Seins also gehört Gott darum nicht, sondern unter eine ganz eigenartige, die Kant hiermit aufstellt, und die sich zu den Bedürfnissen des Gemüts, als ihre Erfüllung und ihr Gegenstand, so verhält, wie die beweisbaren und realen Dinge zu den Funktionen des Verstandes. Mit dieser Wendung des Gottesbegriffs, die ihn und seine Gültigkeit zureichend aus unsren ethischen und gefühlsmäßigen Inner- lichkeiten entwickelt, ist zugleich dem vorgebaut, daß die Belohnungen des Jenseits zu Motiven der Tugend würden.

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Denn dazu müßte man den Gott als eine Realität zu wissen meinen, um nun auf ihn hin sittlich zu handeln. Und dann wiederum würde das Handeln ja gar nicht sittlich sein, weil es nicht um der Pflicht, sondern um des Gewinnes willen geschähe. Die einzige Möglichkeit also, Gott als den Ver- einiger von Tugend und Seligkeit zu setzen, ist tatsächlich die Kantische: daß nicht die Sittlichkeit um eines sonst bereits geglaubten Gottes willen sich verwirklicht, sondern daß sie, die rein um ihrer selbst willen geübt wird, um ihrer kosmischen Vollendung willen Gott fordert. Diese Gültigkeitsidee der Gottesidee drückt Kant in einer, richtig verstanden, höchst bedeutsamen und schlagenden Weise aus : wir sollen so handeln, als ob es einen Gott gäbe. Denn so autonom, von allem „Glauben" unabhängig, die Moti- vierung des Sittlichen ist sein Inhalt verläuft so, als ob es einen Gott gäbe, als ob wir diejenige höchste Seligkeit erreichen wollten, die ein absolut gerechtes, all- mächtiges Wesen im Verhältnis des sittlichen Verdienstes austeilte; so daß der ganze Sinn der Religion ist, unsre Pflichten als göttliche Gebote anzusehen sie sind nicht Pflichten, weil Gott sie gebietet, wozu er sozusagen vor ihnen da sein müßte, sondern Gott ist, weil die Versittlichung und die Seligkeit der Seele in ihrer absoluten Vollendung sich, wie Parallele, „im Unendlichen" treffen. So ist Gott gleichsam die transzendente Bestätigung des „Würdig- seins" — ein „regulatives Prinzip", d. h. ein solches, das in der Richtung unsres Handelns über jede realisierbare Stufe hinausliegt, die innere "Norm für den Verlauf dieses Handelns, die zu einem im ideellen Sinne außerhalb seiner gelegenen Gebilde kristallisiert ist.

Immerhin ist nicht zu verkennen, daß eine innere Ver- bindung zwischen Sittlichkeit und Glück auch mit diesem Gottesbegriff nicht geschaffen wird; denn so sehr die Gerechtigkeit, deren Verkörperung er ist, nun zwischen und über ihnen steht, so bringt Gott auch ihr gemäß das Zu- sammen jener beiden nur äußerlich, rein tatsächlich, so- zusagen mit mechanischer Gewalt zustande. Vielleicht meinte Kant, das begriffliche Außereinander beider noch mittels seiner Durchführung in die göttliche Machtsphäre hinein er- härten zu sollen. Allein ich glaube, daß es dessen nicht be- durfte und daß zwischen ihrer empirischen Getrenntheit und

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einer Idee ihrer transzendenten Einheit kein Widerspruch be- steht. Denn sehr wohl kann man sich den transzendenten Zu- stand, auch einen göttlich bewirkten, als eine einheitliche Voll- endung denken, in der alle Energien der Seele, die morali- schen und eudämonistischen ebenso wie alle andern, zu ihrer Absolutheit gelangt sind und in dieser Vollendung die Differenziertheit nicht mehr zeigen, die nur ihren niederen Graden eignet. In der Sphäre dieser Ideen wird man sagen dürfen, daß die himmlischen Gestalten so wenig nach Tugend und Glückseligkeit fragen, wie nach Mann und Weib. Indem das Ganze des Daseins schlechthin vollkommen geworden ist, sind alle Einzelheiten innerlich verbunden, weil auch die Einheit vollkommen ist, in der alle Unterschiede ver- schmolzen oder richtiger: verlöscht sind.

Die Kantische Begründung des Gottesbegriffes von uns her ordnet sich also durchaus der Gesamtansicht seines Denkens ein : das Dasein, gemäß dem modernen Subjektivis- mus, durch die Produktivität der Seele zu erklären, ohne es doch subjektivistischer Willkür und irrationeller Zufällig- keit zu überantworten. Es handelt sich vielmehr für ihn darum, die ganze Bedeutsamkeit und Sicherheit, die den Begriff der Objektivität ausmacht, auf dieser neuen Basis des geistigen Prozesses als des schöpferischen Trägers der Welt zu bewahren, ja, ihn auf dieser erst wirklich zu sichern. Es ist die religionsphilosophische Leistung Kants, daß er einerseits die Religion von ihrem Ausgangspunkt in der Menschenseele her erklärt, ohne Hineinmischung eines vom Transzendenten herkommenden Einflusses, der doch auch nur in seiner Umsetzung in jene subjektive Aktion eine religiöse Bedeutung erlangen könnte; und daß er andrer- seits dem inneren Vorgang der Religion einen festen Aggregat- zustand und überindividuelle Geltung gibt, indem er ihn als die Konsequenz der Sittlichkeit mit ihren unerschütterlichen, allen Willkürlichkeiten des Subjekts entzogenen Geboten begreift. So verschwindet die Gefahr der individuellen Zu- fälligkeit und Laune, die nicht nur den rein seelischen Ursprung der Religion zu bedrohen schien und anderwärts auch wirklich bedroht, sondern die nicht weniger der scheinbaren Objektivität eines jeweiligen, von sich aus zu uns sprechenden Gesetzgebers anhaftet. Denn die Normen eines solchen würden für uns doch immer etwas Zufälliges

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und Willkürliches haben, ein Gesetzbuch, zu dem wir selbst nicht mitgewirkt haben und das wir seinem Prinzip nach nicht als von uns aus notwendig erkennen müßten. So enthüllt sich hier wie in der Erkenntnis- und in der Moral- lehre der Kantische Subjektivismus als die Deutung und Rettung der wahren Objektivität, nicht nur gegenüber dem haltlosen Schwanken der psychologischen Einzelerscheinung, sondern auch gegenüber jener vorgeblichen Objektivität, die die Inhalte der Seele aus der Seele selbst herausreißt, sie ihr in einer unerreichbaren Jenseitigkeit gegenüberstellt und diesen trügerischen Halt mit einem um so tieferen Sturz in den rohesten, aller Festigkeitswerte und überzufälligen Bedeutung beraubten Subjektivismus bezahlen muß.

Nun erhebt sich freilich die Tatsachenfrage, ob diese Religion ihrem Inhalte nach sich mit dem deckt, was man als religiöse Werte vorfindet. Denn mag es sich hier auch nicht um die Beschreibung, sondern um den Sinn der Wirklichkeit handeln, so doch um den Sinn der Wirklichkeit und nicht um den eines ad hoc kon- struierten Gebildes. Und mir scheint, daß Kant in der Tat zwar eine wertvolle und tiefe seelisch-religiöse Möglich- keit deduziert hat, daß auch der Weg dieser Deduktion der wahre für Erkenntnis der Religion ist daß er aber an dem Wesen der Religion, d. h. derjenigen Wirklichkeit, die nun einmal historisch diesen Namen trägt, vorbeigegangen ist. Der positive Grund ist sein auch hier hervorbrechender Intellektualismus. So entschieden er jeden theoretischen Beweis für das Dasein Gottes ablehnt, so soll uns doch nur die Überlegung, daß die Harmonie des vollendeten Glücks mit der vollendeten Sittlichkeit nur durch ein göttliches Wesen möglich sei, an dieses glauben lassen. Gewiß sind es unsere Bedürfnisse, die zu ihm hinauf- führen, aber sie führen hier nicht ganz bis zu ihm, der entscheidende letzte Schritt ist ein theoretischer, durch den Gott überhaupt als ein Glaubensobjekt kreiert wird. Es fehlt völlig jenes Ergreifen des Göttlichen unmittel- bar aus unsren Bedürfnissen heraus, das alle echte Reli- giosität charakterisiert. Vielmehr, wie seine Sittenlehre die Moral erst völlig jenseits der Intel lektualität stellt, als eine Erscheinung eigenster Herkunft, um ihr dann, innerhalb dieser Selbständigkeit, in der Formel des kategorischen

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Imperativs doch die logisch-intellektuelle Spitze zu gehen, so löst er auch die Religion ihren Ursprüngen nach von allem Theoretischen , um diese Ursprünge dann erst durch eine theoretische Üherlegung zu der Idee Gottes auf- und zu- sammenzuführen. Etwas kraß ausgedrückt: die Religion ist ihm eine Summe theoretischer Schlüsse aus der Moralität.

Es sei in diesem Zusammenhange betont, wie sehr der Kantische „Primat der praktischen Vernunft" vor der theo- retischen — die Legitimierung der theoretisch unerweis- lichen Ideen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit aus sitt- lichen Bedürfnissen in seiner Bedeutung für das Lebens- bild übertrieben worden ist. Er heißt doch nichts, als daß die Wissenschaft ein paar Begriffe, mit denen sie selbst nichts anzufangen weiß, dem praktischen Bedürfnis zu ge- stalten überläßt und damit die Sicherheit gewinnt, daß dieses praktische Bedürfnis sich nie in ihre Angelegenheiten einmischt. Dies einen Primat der praktischen Vernunft zu nennen, war k^in ganz glücklicher Ausdruck. Denn in dem Sinne, in dem jene die Ideen aufnimmt, nämlich nur als Gegenstände eines „praktischen Glaubens", als Ausdrücke der praktisch anzustrebenden Vollendung von Mensch und Welt in diesem Sinn macht die theoretische Vernunft gar keinen Anspruch auf sie, und deshalb kann ihr Verzicht darauf durchaus nicht als ein Primat, den sie der praktischen einräumt, bezeichnet werden.

Am tiefsten aber wirkt Kants Intellektualismus darin, daß er überhaupt die Religiosität nicht als ein einheitliches Gebilde, als einen Trieb aus eigner Wurzel anerkennen mag. Das Wesen des Intellektualismus ist Analyse. Der Intellekt mag in seinen grundlegenden Einzelfunktionen, durch die er die Erkenntniswelt produziert, synthetisch verfahren, indem er die Elemente der Sinneseindrücke zu Gegenständen und Zusammenhängen formt. Der Intellektualismus aber, die individuelle Wesensrichtung, die am Verstände ihren Führer hat, geht auf Zerlegung, strebt nach Reduktion der Erscheinungen auf ihre Elemente und glaubt ihr Amt nicht vollendet, solange noch irgendein Sondergebilde dem wider- steht. Deshalb hat der Intellektualismus stets eine innere Beziehung zu der mechanistischen Tendenz, die alle quali- tativen Einzelheiten solange analysieren möchte, bis sie sich als bloße quantitative und formale Zusammensetzungen eines

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immer gleichen, an sich qualitätlosen Grundelementes zeigen. Gewiß ist Kant ein zu großer Denker, um sich der äußeren Schematik dieser Denkriciitung bedingungslos zu ergeben, gewiß hält er aufs strengste darauf, daß es Grundelemente unsres Weltbildes gibt, die keine Zerlegung in schließlich gleichartige Bestandteile gestatten. Jedes dieser Grund- elemente — der Naturmechanismus, die Moral, das ästhe- tische Gefühl , auch wenn es durchaus nicht intellektuellen Wesens ist, gibt ihm doch ein klares, verstaodesmäßiges Bild. Wo ihm dies aber versagt, weil er zu dem Gegen- stand durchaus kein inneres Verhältnis hat, zerlegt er ihn um jeden Preis in die Grundelemente, die er anerkennt, wobei dann freilich statt des spezifischen Wesens, um das es sich handelt, etwas ganz andres herauskommt. Der Religionsbegriff verliert bei dieser rationalistischen Zu- sammensetzung aus dem moralischen und dem Glücks- interesse sein Eigenstes und Tiefstes vollkommen. Gewiß sind auch jene beiden Begriffe für ihn wesentlich; aber gerade die Richtung, in der Kant sie verbindet: daß die Pflicht in Seligkeit mündet, ist die am wenigsten charakteristische und ist nur durch den Moralismus bestimmt, der das Glücks- streben nicht als ein wertbildendes Motiv anerkennt. Viel entscheidender für das Spezifische der Religion scheint mir die umgekehrte Richtung zu sein; sie ist gerade die ideale Macht, die dem Menschen den Gewinn seiner Seligkeit zur Pflicht macht wie sie ihm das Übersinnliche sinnlich, das Sinnliche übersinnlich macht, was für Kant gleichfalls ein schlechthin Unannehmbares wäre. Für den Kantischen Moralismus hat jeder sein Glücksbedürfnis mit sich ab- zumachen, und dies in eine objektive, ideale Forderung auf- zunehmen, würde er ebenso logisch wie wertmäßig a limine ablehnen. In Wirklichkeit aber fordert die Religion, daß der Mensch für sein eignes Heil und Seligkeit sorge, und dies ist das Unvergleichliche ihrer Anziehungskraft. Das Wesenhafte der Religion aber, das weder in Moral noch in Glück aufgeht, die unmittelbare Hingabe des Gemüts an eine höhere Wirklichkeit, das Nehmen und Geben, die Einheit und Entzweiung, jenes in sich ganz Einheitliche des reli- giösen Zustandes, das wir nur durch eine Vielheit solcher gleichzeitig gültiger Antithesen sehr unvollkommen andeuten können das zu kennen verrät Kant an keiner Stelle.

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Man kann mit ihm sozusagen über Religion nicht disputieren, weil ihm, der in dem bloßen Dualismus von Glück und Moral befangen blieb, die tiefsten und reinsten Erschei- nungen, die ihre Geschichte bietet, offenbar psychologisch nicht zugängig waren. Was für Augustin und Franz von Assisi, für Zinzendorf und Novalis die Religion war, hätte er innerlich nicht nachbilden können, und wo er der Reli- giosität derartiger Typen sich nähert, macht er sie kurz und billig als „Schwärmerei" ab. Hier lag die Grenze seiner Natur nicht weniger als seine» wissenschaftlich aufgeklärten Zeitbewußtseins. Seine merkwürdige Verständnislosigkeit für das religiöse Wesen bezeichnet eine Äußerung wie diese: der Geistliche brauche durchaus nicht an die Lehre selbst zu glauben, die er von der Kanzel herab verkündigt. Freilich dürfe er sie nicht positiv für falsch halten, denn damit würde er eine Lüge begehen. Aber er sei doch nur angestellt, diese Lehre zu predigen, sein inneres Verhältnis dazu sei seine Privatsache. Es bedarf keiner Verdeutlichung, wie hier die religiösen Werte, ohne die geringste Empfindung für ihr spezifisches Wesen, restlos der rationalistisch-mora- lischen Norm eingeordnet sind : der Beamte hat eben die aufgetragene Pflicht zu erfüllen, innerlich muß er die Frei- heit haben, darüber zu denken wie er will er sagt be- zeichnend: „als Gelehrter" dürfe er über die Dogmen ganz andre Meinungen haben, ja, äußern , ausschließlich unter dem Vorbehalt, daß er mit der Verkündigung von der Kanzel keine Lüge begeht; wozu ersichtlich genügt, daß er das, was er verkündet, nicht für unmöglich hält für wirklich braucht er es nicht zu halten. Man hat mehr als einmal behauptet, daß Kant mit der Einfügung der reli- giösen Begriffe in sein System eine unwürdige Konzession gemacht, daß er die Wissenschaft und die Aufrichtigkeit den religiösen Ansprüchen geopfert habe. Mir scheint es genau umgekehrt: er hat die Religion mit ihrem Eigensten und Wesentlichen dem Moralismus und dem rationalistischen Denken seiner Zeit geopfert.

Damit jenes Höchste, was wir uns denken können, die Einheit vollendeter Sittlichkeit mit vollendeter Glückselig- keit, für eine göttliche Macht herstellbar sei, bedarf es eines Weiteren, das bisher wie selbstverständlich mit voraus- gesetzt wurde: der Unsterblichkeit der Seele. In der Art,

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wie Kant diese deduziert, wird die Beziehung zu jenem Zu- stand der Seligkeit eigentlich aufgegeben, und es bleibt eine nur moralphilosophische Metaphysik, die, weil sie ganz un- abhängig von religiösen Velleitäten ist, unleugbar größer und sozusagen stilvoller ist als die Postulierung Gottes. Das moralische Gesetz fordert, daß der Wille ihm absolut angemessen sei. Dazu aber ist ein Wesen der Sinnenwelt in keinem Zeitpunkt seines Daseins fähig. Dennoch, da es sittlich gefordert wird, muß es auch möglich sein. So bleibt nur eine Form, in der dieses sich Ausschließende sich dennoch vereinigt: der ins unendliche gehende Fortschritt der Seele zu ihrer Vollendung. Jeder gegebene Augenblick sieht jene absolute Forderung noch unerfüllt; aber der nächste kann sich ihr mehr nähern, und so wird die tatsächliche Unerfüllbarkeit unsrer sittlichen Bestimmung durch eine stetig sich vollziehende Annäherung an sie überwunden. Dazu ist freilich die Unsterblichkeit erfordert, aber diese ist nur eine Art äußerlicher, formaler Bedingung, kaum anders als die Unendlichkeit der Zeit, deren es auch zu dieser Entwicklung bedarf; es fehlt ihr ganz die Eigen- bedeutung, mit der das Leben über den Tod hinaus sonst schon an und für sich ausgestattet wird. Sie ist eigentlich nur der Ausdruck dafür, daß an ein endliches Wesen eine unendliche Forderung gestellt wird. Soll diese nicht als sinnlos verneint werden womit die Seele sich selbst ver- neinen würde, weil diese Forderung ihr eignes, eigentliches Wesen ausmacht so ist ihre Fortdauer über das Irdische hinaus der einzige, für uns erdenkbare Träger jener Ent- wicklung, die zwar ihren abschließenden Punkt nie erreicht, aber über jeden vorher gelegenen hinausgeht. Wie Goethe die Unsterblichkeit fordert, weil die Anlagen seiner Natur sich im Erdenleben nicht völlig entwickeln könnten, die Natur also verpflichtet wäre, ihm dazu eine weitere Form anzuweisen so ist sie auch für Kant nur die Schale und die extensive Ausgestaltung des rein intensiven, rein inhalt- lich bestimmten Verhältnisses des Menschen zu seiner sitt- lichen Aufgabe. Das Pfand dafür, daß dieses Verhältnis nicht ewig in ein hoffnungsloses Gegenüber gebannt sei, finde der Mensch ausschließlich in dem Bewußtsein, schon in diesem Leben zum Guten vorgeschritten zu sein, ihm am Ende des Lebens näher zu stehen als vorher ; daraus ergebe

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sich die Hoffnung, daß dies die erste Strecke jenes Weges ist, der ins Unendliche weiterführt. Sehr schön sagt Kant auf diesem Höhepunkt seiner ethischen Spekulation, ein göttliches Wesen, dessen Anschauung nicht an die Bedingung der Zeit gebunden ist, sähe in dieser für uns endlosen Ent- wicklungsreihe die eine Tatsache des Gehorsams gegen das moralische Gesetz. Für Kant realisiert sich der vernünftige, alle Möglichkeiten unsrer Anlagen erschöpfende Sinn der menschlichen Existenz nicht im Individuum, sondern nur in der Unendlichkeit der Gattungsentwicklung. Und so ist die unendliche Reihe individueller Handlungen, die in aller ihrer Unvollkommenheit doch die eine Tendenz auf das Ideal haben sie ist nichts als die in unsrer Anschauung aus- gedrückte, d. h. in die Entwicklungsform der Zeit distrahierte einheitliche Wirklichkeit der sittlichen Seele. Vielleicht ist die Unsterblichkeit niemals edler begründet worden, niemals ferner von dem gemeinen Immer-weiter-leben-wollen. Für Goethe ist die Vernichtung vor der inneren Vollendung des Daseins ein Widerspruch der Natur gegen sich selbst: hat sie uns nun einmal Anlagen und Möglichkeiten verliehen, so darf sie die Bedingungen ihrer Entwicklung nicht versagen. Kant sieht in eben dem den Widerspruch der menschlichen Wirklichkeit gegen die ideale Forderung, der zugleich ein Widerspruch des Menschen gegen sein innerstes , echtestes Selbst ist, weil in dieser Forderung der Kern unsres Wesens sich unsrer Erscheinung in ihrer Unvollkommenheit gegen- überstellt. Liegt hierin einerseits ein logisches Motiv, das dann ein französischer Beligionsphilosoph ganz rein heraus- gearbeitet hat: es bedürfe der Unsterblichkeit, weil das irdische Leben keinen „reinen Begriff" gäbe so doch andrerseits die tiefe Redlichkeit, die meint, nicht aus dem Leben gehen zu dürfen, ehe sie jede Schuldforderuug be- glichen hat in der Empfindung, daß in einer solchen nicht nur der Anspruch eines andren , sondern viel mehr noch ein Anspruch ihrer selbst an sich selbst lebt.

Indem Gott und Unsterblichkeit eigentlich nur Symbole dafür sind, daß die Forderungen, die der sittliche Mensch an sich selbst und die er an die Ordnung der Dinge stellt, nur im Unendlichen realisierbar sind ist Kant der Frage enthoben, wie diese Ideen denn mit den Grundsätzen unsres realen Weltbildes vereinbar wären. Denn da sie gerade die

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ünzuläDglichkeit des Wirklichen bezeichnen, sogreifen sie in dieses in keiner Weise ein und brauchen deshalb vor seinen Gesetzen keine Rechenschaft abzulegen. Anders aber steht es mit dem, was für Kant das dritte Postulat der prak- tischen Vernunft ist: mit der Freiheit des Willens. Denn während die Sittlichkeit in jene nur ausläuft, beginnt sie mit dieser, und während jene die empirische Wirklichkeit ganz ungestört lassen, setzt diese sich in den entschiedensten Widerspruch zu ihr, indem sie das Kausalgesetz zu verneinen scheint. Hier liegt demnach der Punkt, in dem die Probleme der praktischen Philosophie sich mit denen der theoretischen kreuzen. Seine Erörterung wird deshalb die Darstellung beider um so geeigneter abschließen, als es scheint, als habe Kant selbst in seiner Lösung des Freiheitsproblems den Mittelpunkt seiner Gesamtleistung erblickt.

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Dreizehnte Vorlesung.

Die Gültigkeit der Kausalität hatte Kant gegenüber jener Anzweiflung erwiesen, die sieh auf die Unwahrnehmbarkeit dieser Verknüpfungsart stützte. Er zeigte, daß Ursache und Wirkung eine ihrem Wesen nach unsinnliche Art und Form wären, die sinnlichen Gegebenheiten zu verbinden und da- durch aus ihnen das, was wir Erfahrung nennen, zu gestalten. Infolgedessen gelte sie zwar nur für derartige Gegebenheiten und sei außerhalb der Erfahrung ein leeres Schema, dafür aber müßte sie innerhalb der Erfahrung auch unbedingt gelten. Ob äußere oder innere Erfahrung macht hierin keinen Unterschied ; alles Denken , Fühlen , Wollen des Menschen, soweit es eine psychologische, im Bewußtsein wahrgenommene Tatsache ist, unterliegt der kausalen Not- wendigkeit nicht weniger, wäre bei hinreichender Kenntnis aller Bedingungen und Gesetze nicht weniger berechenbar, wie ein Vorgang am Sternenhimmel. Allein gegen dieses in sich geschlossene Bild des erkennbaren Lebens empört sich das sittliche Bewußtsein, das den Menschen für seine Willens- taten verantwortlich macht ; wie kann er verantwortlich sein, wenn er gar keine Möglichkeit hatte, anders zu handeln, als er es tat, wenn der Mörder sein Opfer mit eben- derselben naturgesetzlichen Notwendigkeit töten mußte, wie ein fallender Dachziegel? Der naive moralische Sinn wird sich nie überzeugen lassen, daß er eine Tat als gut oder als böse beurteilen darf, wenn sie nicht auch anders hätte aus- fallen können. Und dies ergibt den Konflikt zwischen der naturwissenschaftlichen Kausalität und der sittlichen Freiheit unsrer Handlungen, in dem jedes von beiden sich nur da- durch scheint behaupten zu können, daß das andere zur Illusion wird. In folgender Weise nun, die vielleicht die frappierendste Anwendung seiner Erkenntnistheorie ist, löst Kant diesen Widerspruch.

Die kausale Determiniertheit gilt unbedingt aber nur für Erscheinungen; sie gilt also nicht für dasjenige,

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was in uns den äußerlich oder innerlich erscheinenden Seiten unsres Wesens zugrunde liegt. Gewiß ist alles, was Andere oder wir selbst an uns erkennen können, un- ausweichlich in den Naturlauf und seine Notwendigkeiten verflochten. Aber indem wir so Erscheinungen sind, sind wir doch zugleich dasjenige Wesen, das diese Erscheinungen trägt, das unerkennbare, aber seiende Ding-an-sich unser selbst. Dieses also unterliegt der Kausalität nicht, weil deren ganzer Sinn und Zweck nur ist, Erscheinungen zu Erfahrungen zu formen. In der Unerfahrbarkeit unsres Wesens, da, wo wir sind, aber nicht erscheinen, sind wir von allem Zwange, von Ursache und Wirkung frei. Jeder Augenblick unsrer Existenz hat also sozusagen zwei Seiten : die eine, die den Inhalt des erkennenden Bewußtseins bildet, mit der wir der Natur verkettet sind, wie mit den Vorgängen in und mit unsrem Körper, die andre, die nur in und für sich besteht, deren bloße Erscheinung jene andere ist und die durch keine Naturgesetzlichkeit von einem Vorher abhängt. Soweit erscheint die Entwicklung durchaus konsequent und von der größten Bedeutung für die Probleme des Innen- lebens, die aus dessen Verhältnis zu dem wissenschaftlichen Geist der Neuzeit aufsteigen. Seit mit dem 17. Jahrhundert die mechanistische Betrachtungsweise alles Geschehen er- griffen hat, die Ordnungen, des Firmaments wie die der geschichtlichen Gesellschaft, die lebenerhaltenden Prozesse in den Organismen wie die Bewußtseinsakte unsrer Seele; seit alle Werte und Zwecke, die die religiöse und anthro- pozentrische Denkart in den Lauf der Dinge hineingesehen hatte, aus ihm vertrieben und durch die Gleichgültigkeit berechenbarer Druck- und Stoßwirkungen ersetzt worden waren seitdem schien dieses ganze ungeheure Treiben sinnlos und die Seele in ihm heimatlos geworden zu sein. Die Frage nach dem Wozu? und nach der inneren Be- deutung des Daseins konnte nun nicht mehr gestellt werden, des Daseins, von dem der Mensch doch selbst ein Teil war, mit all den religiösen und sittlichen, individuellen und meta- physischen Bedürfnissen, deren Befriedigung ihm mindestens so wichtig war, wie das naturwissenschaftliche Weltverständ- nis und ihm doch durch die Unerbittlichkeit dieses versagt wurde. Darum ist es wohl das fundamentalste Motiv der gesamten neueren Philosophie, die Werte des Gemüts, einen

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Endzweck des Lebens, einen Sinn des Weltlaufs zu retten, ohne die streng kausale, mehr oder weniger mechanistische Naturansicht aufzugeben, die von sich aus für all jenes keinen Platz mehr zu haben scheint, sondern gerade durch ihre eigengesetzliche Notwendigkeit solchen Ansprüchen mit der blinden Zufälligkeit, sie bald zu gewähren und bald zu ver- sagen, gegenübersteht. Der Kantische Lösungsversuch ist im ganzen der Typus aller späteren geblieben. Seit durch ihn erkannt ist, daß alle Natur Erscheinung ist, d. h. Vor- stellung vorstellender Subjekte, und nach Inhalt und Form durch die geistigen Energien dieser bestimmt, ist ebenda- mit als das notwendige Korrelat dieser Erscheinung dasjenige gesetzt, was erscheint: indem die Dinge etwas für urs sind, sind sie doch auch etwas an sich. In dieses An-sich nun kann der spekulative Gedanke, die mystische Ahnuog, das sittliche Interesse alle die Zwecke, Werte und Bedeutsamkeiten ver- legen, die aus der Natur vertrieben waren und damit so lange aus dem Dasein überhaupt, wie die erscheinende Natur den ganzen Bezirk des Möglichen ausfüllte.

Es ist begreiflich, daß die Genialität dieses Gedankens dessen Bedeutung für das Freiheitsproblem seine all- gemeine Erörterung fordert zu einer schrankenlosen Ver- wertung anlockte. Jetzt war der lückenlose kausale Zu- sammenhang der natürlichen Welt gewährleistet und doch die Möglichkeit übersinnlicher Wirklichkeiten gerettet, und zwar hatte gerade das, was jenen Zusammenhang so ganz undurchbrechlich machte, sein Erscheinungscharakter, diese Ergänzung notwendig erzeugt: die beiden Welten forderten sich gegenseitig, ohne daß diese Gegenseitigkeit einen Ein- griff der einen in die andere nötig machte oder auch nur gestattete; denn wo die eine war, konnte, ihrem Begriffe nach, die andere nicht sein. Dies aber spricht schon die ungeheure Gefahr aus, an deren Rande dieses Weltbild erwuchs die Gefahr, das schlechthin Unerkennbare der Dinge-an-sich doch zu einer Welt auszubauen, der Er- kenntnis einen, wie auch indirekten oder symbolischen Zu- gang zu diesem Jenseils-ihrer zu eröffnen und es damit unvermeidlich mit einem Inhalt auszustatten, der aber nirgends anders her als aus der Erfahrungswelt genommen sein kann. Tatsächlich ist der Gegensatz : Erscheinung und Ding-an-sich zum Schema erstarrt, schon bei Kant selbst.

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als wären es zwei Kategorien, von denen die eine aufnimmt was in der andren nicht unterzubringen ist; das Ding-an- sich ist gleichsam die Vorratskammer geworden, aus deren Unerschöpflichkeit man allen metaphysischen, ethischen, ästhetischen und religiösen Nöten beikara, indem verhängnis- vollerweise seine vorgeblichen Bestimmungen, da sie von wirklichen Bedürfnissen getragen waren, durch ihre Unwider- leglichkeit mehr an Sicherheit gewannen, als ihre Un- erweislichkeit ihnen nehmen konnte. Wenn Kant die Schwierigkeiten des Gottesbegriffs dadurch erledigt, daß er ihn für ein „Ding-an-sich" erklärt; wenn er den Wider- streit zwischen der Individualität des Geschmacksurteils und seiner beanspruchten Allgemeingültigkeit dadurch löst das Detail gehört nicht hierher , daß er den Bestimmungs- grund dieser Urteile in dem „übersinnlichen Substrat der Menschheit" sucht; wenn er die Zweckmäßigkeit im Bau der Lebewesen und den ganzen zweckfremden Mechanismus, dessen Herrschaft wir daneben an ihnen voraussetzen müssen, verträglich findet, weil das Ding-an-sich, dessen Erscheinung die beiden Erklärungsarten fordert, die Einheit beider in sich enthielte so tritt dieses Ding-an-sich eigentlich als ein deus ex machina auf, beliebig herbeizurufen, wenn die natürlichen Erscheinungen sich unsrer Sehnsucht nach Wert, Bedeutsamkeit, Einheit, nicht von selbst fügen wollen. Aus der dargestellten Erkenntnislehre Kants ergibt sich als der einzig konsequente Sinn des Ding-an-sich-Begriffs dieser: es ist nichts als ein Ausdruck dafür, daß die Welt der Er- kennbarkeiten eine durch den Geist bestimmte Erscheinung ist. Früher habe ich gezeigt, daß das Ding-an-sich als Ursache unsrer Sinnesempfindungen ausschließlich das innere, psychologische Wesen dieser letzteren charakterisieren soll; keineswegs werden von ihm unsere Empfindungen kausal hergeleitet und erklärt, sondern den Charakter der Passivität, den diese für unser Bewußtsein tragen, können wir nicht anders ausdrücken, denn als Bewirktheit; und das Ding-an-sich ist das durch unsere Denk- und Sprach- gewohnheit konstruierte Korrelat der Empfindung, das nur als Verdeutlichung ihres Wesens, nicht aber an und für sich irgendeine Bedeutung oder Existenzrecht hat. Nicht anders verhält es sich mit seinem allgemeineren Sinn, in dem es die absolute Wirklichkeit, das Jenseits aller Er-

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scheinung, das Übersinnliche zu der sinnlichen Gegebenheit be- deuten soll. Der Schluß, daß, wenn unsere Welt Erscheinung ist, auch etwas da sein müsse, was da erscheint hat nicht ganz so viel Durchschlagskraft, wie es zunächst scheint. Denn daß wir nur Erscheinungen, nur Relatives erkennen, wissen wir keineswegs daher, daß wir ein Ding- an-sich, ein Absolutes, irgendwie ergriffen hätten, von dem her wir nun das Verhältnis unsres Erkennens zu ihm als eines der bloßen Erscheinung begriffen. Vielmehr, die eignen Bestimmtheiten unsres Erkennens, besonders die Tatsachen des Apriori, beweisen, daß es nur mit Erscheinungen zu tun haben kann. Will man dies innere und richtig ver- standen — subjektive Verhalten mit einer objektiven Wen- dung ausdrücken, so muß man sagen, daß unsrem Weltbild ein absolutes, als solches unergreifbares Objekt zum Grunde liegt; aber dieses An-sich der Dinge ist nur die Projektion, oder, da seine Setzung zugleich seine Versagtheit für uns bedeutet, der negative Ausdruck für das allein Positive, daß unser Erkennen nur Objekte für uns liefert. So ist es eine ideelle oder mit dem Negationszeichen versehene Funktion unsrer Erkenntnisse, das diese so treu, aber auch so wesenlos begleitet wie der Schatten die Körper. Die Überschreitung der selbstgesetzten Grenzen, die Kant durch die metaphysische Verwendung des Dinges-an-sich begeht, basiert darauf, daß er den rein funktionellen Sinn desselben zu einem substanziellen Dasein verfestigt. Er selbst be- zeichnet es unübertrefflich als einen „Grenzbegriff", es markiert die Grenze unsres Erkennens, aber nicht von einem Jenseits her, das uns durch eigene, gleichsam in der Richtung auf uns sich streckende Kräfte einschränkte, sondern das Er- kennen erfährt in sich, von sich aus, formende Begrenzungen und nennt die nach der Richtung des Jenseits hin dimensions- lose Linie derselben das Ding-an-sich. Indem Kant dieser bloßen Grenze nun später eine selbständige Existenz ver- leiht, um sie als den Träger gewisser Eigenschaften und Leistungen zwar nicht zu erkennen, aber doch zu denken und zu vermuten, benutzt er die Mehrdeutigkeit des Wortes „Ding", das jenem Grenzbegriff konsequenterweise nur in einem sehr abgeschwächten Sinne zukommt. Durch die un- gliickliche Idee, daß die Verstandesbegriffe auf das Ding-an- sich angewendet werden dürften, wenn man es nur durch

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dieselben nicht erkennen wollte wozu außer jenen auch noch die versagte Sinneserscheinung gehörte hat er im Ding-an-sich gleichsam einen locus minoris resistentiae für jede willkürlich mißbrauchte Denkmöglichkeit geschaffen. Damit ist die Erlösung vom Mechanismus, der doch die Welt der Erscheinungen bestimmt, als hinfällig erwiesen : denn so- bald das Ding-an-sich seine reine Negativität und Begrenzungs- funktion aufgibt und, statt ein bloßer Ausdruck für den Charakter der Erscheinungswelt zu sein , einen irgendwie bezeichenbaren eignen Inhalt annimmt, wird es ein ab- geblaßtes, schemenhaftes theoretisches Gebilde; statt eines prinzipiellen Unterschieds gegen unser Verhältnis zur Erscheinung ergibt es einen nur graduellen und muß, zum Schaden den Spott erleidend, durch seine Unfähigkeit zu wirklichem Erkanntwerden sich zum Tummelplatz aller Phantasterei hergeben ; ich erwähne nur das charakteristische Beispiel, daß man einerseits das Gehirn als Ding-an-sich des Gedankens', andrerseits den Gedanken als Ding-an-sich des Gehirns bezeichnet hat. Es ist ein tragisches Verhängnis in der Entwicklung des philosophischen Denkens, daß die genialste Versöhnung des Mechanismus des Daseins mit den transzendenten Bedürfnissen sich als ein Schema enthüllt, das seinen Wert von seiner Ausfüllung erwartet, aber gerade durch sie verliert.

Nun scheint freilich gerade jene einzige Anwendung des Ding-an-sich-Begriffes, um derentwillen er hier erörtert wurde, diesen Bedenken enthoben zu sein. Gott und das vorgeb- liche transzendente „Wesen" der Naturdinge steht uns gegenüber, und deshalb nützt alle Eestriktion unsres Verhältnisses zu ihnen auf bloßes „Denken" oder „Glauben" nichts: es ist doch ein „um die Ecke Sehen", bei dem man entweder nichts oder das sieht, was man gerade sehen will. Uns selbst aber stehn wir nur gegenüber, insoweit wir Er- scheinung sind, aber wenn es ein Nicht-Erscheinendes in uns gibt, so ist es eben kein Außer-uns, wie jene Dinge-an-sich, sondern wir sind es selbst; hier ist nichts mehr zu ver- muten und zu glauben, sondern die Unmittelbarkeit des Seins zu fühlen. Und dieses fundamentale, jenseits aller Vorstellungen und Schicksale stehende Sein ist darum der Kausalität enthoben, der es erst, wenn es wieder in das empirische Erkennen aufgenommen ist, anheimfällt. Dennoch

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leistet auch diese Freiheit nicht, was Kant von ihr ver- langt. Denn sie hat, wie das Ding-an-sich überhaupt, rein negativen Sinn, sie bedeutet, daß wir in der Unerkenn- barkeit unsres Wesens nicht der Kausalität unterliegen; die Freiheit des Willens, die ein Vermögen ist, statt des einen Tuns ein andres zu produzieren, hat, als dieses Posi- tive, mit ihr nur den Namen gemein. Auf dieser begriff- lichen Doppeldeutigkeit ruht die ganze Kantische Freiheits- theorie: die Freiheit in dem durch die Erkenntnistheorie beschaffbaren Sinne ist etwas in der moralischen oder Wert- hinsicht völlig Gleichgültiges. Freilich erscheint ihm das Sollen als Beweis für die Positivität jenes Freiheitsbegriffs: daß wir dies und jenes sittlich sollen, wenngleich wir viel- leicht tatsächlich ganz anders handeln, wäre ganz sinnlos, wenn wir nicht, unabhängig von aller kausalen Bestimmt- heit dieses Handelns, auch das erstere gekonnt hätten. Allein daß diese Freiheit des Willens, die Indetermination der positiven Inhalte einer einzelnen seelischen Energie, das- selbe ist, wie jene bloße Entrücktheit unsres nicht-erschei- nenden Wesens aus der Welt der Erscheinungen das hat er unbewiesen vorausgesetzt. Es kommt dazu, daß jener angebliche Wesensgrund unsres Seins doch nicht nur unsren Willen, sondern ganz ebenso alle andren inneren Er- scheinungen, unser Denken wie unser Fühlen, unsere Phantasie wie unsren seelischen Gesamtrhythmus zu be- gründen hätte und so diesen keine geringere Freiheit ge- währleistet als jenen. Daß Kant sie aber nur dem Willen zukommen läßt, entspringt seinem Moralismus, für den ganz selbstverständlich aller Gewinn der Freiheit unsres Wesens- an-sich nur dem Träger der Sittlichkeit zugute kommen kann. Freilich liegt darin auch aller Tiefsinn und Adel , zu dem dieser Moralismus es bringen kann. Die Freiheit, so sahen wir, deckt ihm den ganzen Umfang der Sittlichkeit; so also wird diese selbst in den unerforschlichen Grund des Wesens gesenkt, das ganze Rätsel der Tatsache, daß es überhaupt so etwas wie Sittlichkeit gibt, erhält sein Siegel und seine Weihe durch die Überzeugung, daß die Verkettung der Erscheinungen sie nicht erklären kann. So weit scheidet er sie aus dem Gebiet der Erkennbarkeit, daß die sittliche Bedeutung eines Tuns nicht nur Dritten gegenüber niemals mit Sicherheit feststellbar ist, sondern daß der Mensch auch

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sich selbst niemals bis zu dem Punkt herunter, an dem sein sittlicher Wert. haftet, ganz unzweideutig erkennt; denn er liegt jenseits des Gebietes, auf dem Erkenntnis möglich ist. An dieser Stelle durchbricht das Sittlichkeitsgefühl, wie aus einer mystischen Tiefe heraus, den ganzen Rationalismus seiner begrifflichen Fassung freilich um den Preis der theoretischen Unzulänglichkeit, die dieser Freiheitsbegriff" verrät und die im letzten Grunde dem Widerspruch ent- stammt, jenes ganz Unaussprechliche des inneren Daseins logisch zu formulieren, das nicht begriffen, sondern nur ge- lebt werden kann. Es ist schon bezeichnend, daß Kant, völlig konsequent, die „eigentliche Moralität der Handlungen", der fremden wie der eigenen, als etwas „uns gänzlich Verborgenes" bezeichnet und daraus unmittelbar schließt, es könne „niemand nach völliger Gerechtigkeit richten". Aber dies ist eben die verhängnisvolle Abbiegung : nicht nur nicht nach völliger, sondern nach gar keiner Gerechtig- keit kann man richten, wenn die Moral in der Freiheit und die Freiheit im Ding-an-sich wohnt. Daß es übrigens gerade die positive Sittlichkeit ist, die allein in jener nicht erscheinenden, nicht erkennbaren Wesenstiefe wurzelt, ent- spricht eigentlich nur einem populären und einigermaßen engen Gefühl. Kant vermeidet zwar die philiströse Vor- stellung, als ob Sittlichkeit prinzipiell nichts andres sei als Selbstlosigkeit; für die Praxis aber und in seinen Beispielen kommt es im wesentlichen doch darauf hinaus, daß alle Un- sittlichkeit Selbstsucht, alle Sittlichkeit Altruismus ist. Und nun ist die allgemeine Meinung, daß die erstere das Selbst- verständliche und ohne weiteres Begreifliche sei, dieser aber etwas Unerklärliches einschlösse. Vielleicht gehört es zu den wenigen wesentlichen Fortschritten der ethischen Wissen- schaft, daß man begonnen hat, beides unter den gleichen Aspekt zu rücken. Man kann einerseits den Egoismus als eine ebensowenig begreifliche, ursprüngliche Tatsache an- sehen wie sein Gegenteil, man kann andrerseits den Al- truismus ebenso aus Motiven der Lebenserhaltung und der individuellen und sozialen Zweckmäßigkeit ableiten wie den Egoismus. Je nach dem methodischen Standpunkt ist das eine genau so erklärlich und genau so unerklärlich wie das andere^ und nur die größere Sinnenfälligkeit und die prak- tisch stärkere Impulsivität des einen Triebes hat ihre prin-

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zipielle Koordinierung verborgen und aucli Kant zu dem, wie sich noch zeigen wird, verhängnisvollen Irrtum ver- führt, beide nicht nur der Richtung, sondern auch den Energien nach, die sie tragen, in zwei verschiedene Welten zu verlegen. Mit dieser Konzession an eine eigentlich oberflächliche Auffassung verflicht sich nun in merkwür- diger Weise metaphysischer Tiefsinn , indem die sittliche Selbstlosigkeit, durch ihr Zusammenfallen mit der Freiheit, als die Äußerung gerade der tiefsten Schicht in uns, des Ich in seinem reinsten , an-sich-seienden Wesen erscheint gleichsam die philosophische Transponierung des Wortes: Wer seine Seele verliert, der wird sie gewinnen. Dies ist das genaue Gegenstück dazu, daß das theoretische Ich gerade in seiner zugespitztesten, auf seine reine Form konzentrierten Wirksamkeit das Objekt als solches erzeugt, ja, daß wir beides eigentlich zusammenfallen sahen : das Ich war nichts andres als die synthetische Kraft, deren Wirksamkeit den Sinnenstoff zusammenschließt und ihn damit uns als Objekt gegenüberstellt. Wie das er- kennende Ich hier in seinem äußersten Sich-selbst-gehören, durch die Energie, die sein Wesen am unbedingtesten aus- macht, sich gerade am weitesten von sich zu entfernen scheint, sich am vollkommensten als selbständiges, gelöstes Objekt gegenübertritt so ist das sittliche Ich am meisten es selbst, wenn es im Altruismus sich von sich selbst löst. Um nur ja gegen alles Fremde und Äußere gesichert zu sein (d. h. um frei zu sein), muß es seine ganze Er- scheinung und Erkennbarkeit verleugnen, sich in die Dunkel- heit seines An-sich zurückziehen , und eben dies ist nichts andres, als das Sich-aufgeben zugunsten der sittlichen Forderung. Der theoretische wie der ethische Fall mögen sie nun haltbar und über das bloße allgemeine Prinzip hinaus aufklärend sein oder nicht verraten jedenfalls das tiefe und des großen Philosophen würdige Bedürfnis, die Welt des Ich und die des Nicht-Ich in ihren äußersten Polen zusammenzuknüpfen, die Prozesse des Erkennens wie die des Handelns gerade an den Punkten ihrer Wertvollendung als die Untrennbarkeit jener Pole zu begreifen ; so daß die äußerste Selbstbehauptung und die äußerste Hingabe des Ich nur als zwei Namen für dasselbe, in seiner unmittelbaren Einheit vielleicht nicht benennbare Geschehen dienen.

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Vierzehnte Vorlesung.

Der Grundmangel der Freiheitslehre Kants liegt in dem bereits Hervorgehobnen, daß jenes transszendente Wesen unser selbst, das der Erscheinung und deshalb der Kausalität enthoben ist, in einem Mittelzustand zwischen Unerkennbar- keit und Erkennbarkeit schweben bleibt. Denn ohne irgend- ein Maß der letzteren wäre gar kein Urteil über den sitt- lichen Wert eines Tuns, nicht einmal ein unsicheres und hypothetisches, möglich. Es gibt aber auch nicht den kleinsten Schritt in die Erkennbarkeit hinein, der nicht so- fort die Freiheit aufhöbe. Es ist deshalb für sie äußerst bedrohlich, daß unser empirisch erscheinendes Handeln der Ausdruck, das Symbol, das Erkennungszeichen unsres nicht erscheinenden freien Wesens-an-sich sein soll; „ein andrer intelligibler Charakter" so nennt Kant eben dieses Transzendente in uns „würde einen andren empirischen Charakter ergeben haben". Nun ist unser empirischer Cha- rakter, die psychologische Tatsächlichkeit unsres Handelns, in die ununterbrochene Kausalreihe des Weltgeschehens verflochten. Ist also unser Handeln in jedem Falle die adäquate Äußerung einer ihm entsprechenden Freiheits- tat, mathematisch gesprochen: die Funktion dieser so folgt durch einen unvermeidlichen Rückschluß, daß auch diese transzendente Freiheitstat, der intelligible Charakter, von jeher festgelegt sein muß; diese Reihe hat keinerlei „Freiheit" anders zu verlaufen, als sie tatsächlich, aus ihrer Parallelität mit jener berechenbar, verläuft. So scheint also nur die Wahl zu bleiben: entweder [zwischen dem intelli- giblen und dem empirischen Charakter ein variables Ver- hältnis anzunehmen, was Kants ausdrücklicher Versicherung wie der Möglichkeit moralischer Urteile widerspricht, oder die Freiheit unsres transzendenten Wesens preiszugeben.

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Kant deutet allerdings noch einen Ausweg an, der aber in die unzugänglichen Tiefen mystischer Spekulation weist. Die kausale Notwendigkeit der empirischen Erscheinungen setzt gegebne Weltelemente und bestimmte Konfigurationen derselben voraus, von denen ausgehend die künftigen Schick- sale dieser Elemente an der Hand der Naturgesetze als not- wendig bestimmt werden können. Diese letzteren sagen also niemals schlechthin aus, daß dieses und jenes zu geschehen hat, sondern sind nur auf eine gegebne Konstellation des Daseins anwendbar, welche zwar auf immer weitre und weitre zurückgeführt werden kann, deren Elemente aber ihrem Wesen nach nicht weiter kausal herzuleiten sind. Wenn nun das, was Kant den empirischen Charakter nennt, die unveränderliche Wesensart der Seele, aus der ihre ein- zelnen Handlungen so folgen, wie Wirkungen eines Körpers aus seiner chemischen Struktur wenn dies zu jenen ur- sprünglichen Weltelementen gehört, möglicherweise vor seiner seelischen Form in andrer existierend, jedenfalls aber als zeitlos gegebne Tatsache ein Materialstück der zeitlichen Kausalreihe ausmachend so wäre dessen ursprüngliche Beschaffenheit frei, aus keiner vorhergehenden Ursache her- leitbar und würde sich dennoch in seinen Entwicklungen und einzelnen Erscheinungen dem naturgesetzlichen Lauf der Erfahrungswelt völlig einfügen. Dies wäre der abstrakte Ausdruck des Gefühls, das so oft unser praktisches Dasein begleitet: daß wir, da wir nun einmal so und so beschaffen sind, unvermeidlich so und so handeln, daß aber diese Be- schaffenheit selbst einen Wert oder Unwert besitzt, der ohne eine zum Grunde liegende Freiheit undenkbar ist. Als ur- sprüngliches, also unzeitliches Weltelement erfaßt, ist unsre Qualifikation der Bestimmtheit durch Vorhergegangnes ent- hoben, die dann jede Einzeltat, aber unter Voraussetzung jener Qualifikation, beherrscht. Die Ausdrücke, deren Dunkel- heit und Schwierigkeit Kant selbst zugibt, daß die Taten eines Menschen „zu einem Phänomen seines Charakters gehören, den er sich selbst verschafft", und ähnliche, scheinen mir nur diese Deutung zu ermöglichen, deren Drehpunkt es ist, daß die Elemente der kausalen Entwicklungen nicht selbst wieder kausal bestimmt sind und daß damit also auch das kausal Notwendige die Freiheit seines an-sich-seienden Wesens zu Lehen tragen oder symbolisieren kann. Freilich,

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diese eiazige Möglichkeit, die Naturgesetzlichkeit unsrer empirischen Erscheinung mit der Freiheit ihrer nicht- erscheinenden Innerlichkeit zu vereinen , möchte grade die Unmöglichkeit dieser Vereinigung aufs stärkste beweisen.

Eine letzte Schwierigkeit endlich in /lern Verhältnis von Erscheinung und Ding-an-sich, insoweit es sich als das Ver- hältnis zwischen unsrer psychologischen Wirklichkeit und unsrer Freiheit darbietet erhebt sich aus der Wert Ver- schiedenheit beider Kategorien, aus dem vorhin dargestellten Zusammenhang, der die Freiheit nicht als ein indifferentes Vermögen über unsrem Gut und Böse schweben läßt, sondern sie von vornherein mit dem Guten identifiziert. Hierin ver- steckt sich ein höchst denkwürdiges Raffinement des Intellek- tualismus, das Kant einmal bei andrer Gelegenheit so for- muliert: wenn es einen Endzweck der Natur gäbe, so könne er nur in vernünftigen Wesen liegen , weil nur diese die Idee eines Endzwecks zu erfassen vermöchten. Er setzt also ganz unbefangen voraus, daß die besondre Erkenntniskraft, welche die Vorstellung einer gewissen Wirklichkeit ver- mittelt, ebendeshalb auch den objektiven Inhalt dieser Wirklichkeit ausmachen müßte. Weshalb der Endzweck der Natur nicht in Wesen liegen könnte, die nur durch ihr Sein , nicht aber durch ihr begriffliches Wissen um diese Würde zu ihr qualifiziert sind; weshalb die Fähigkeit, diesen Begriff zu bilden, den geringsten Anspruch darauf, ihn auch real darzustellen , verleihen sollte ist logisch nicht ein- zusehn. Die Kantische Vorstellung überspannt den Idealis- mus, für den die Sache mit der Vorstellung von ihr identisch ist, dahin, daß allein die Fähigkeit eines Wesens, eine be- stimmte Idee intellektuell zu fassen , ihm den Rechtstitel, sie an sich selbst zu verwirklichen , verleihe. Eben dieses Prinzip nun beherrscht seine Freiheitslehre. Da die Freiheit eine Idee der reinen Vernunft ist und niemals von unsren sinnlich-empirischen Erkenntniskräften erfaßt werden kann, so könne sie auch nur an dieser Vernunft ihre Wirklich- keit gewinnen und so könne unser transzendentes Wesen sich nie an unsrem sinnlichen Wesensteile zeigen. Zwischen der Freiheit und der kausalen Bestimmtheit besteht also der Wertunterschied wie zwischen Vernunft und Sinnlichkeit.

Dies aber verwickelt uns in unüberwindliche Schwierig- keiten. Wie kann das sinnlich bestimmte Handeln sittlich

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verwerflicli sein, wenn es nicht die Äußerung der Freiheit ist, wenn nicht auch in ihm also der eigentliche, autonome Kern unsres Wesens lebt? Wie wäre eine Verantwortlichkeit denkbar, wenn wir nur frei wären, das Gute zu tun, das Böse aber da dies für Kant mit dem sinnlich Bestimmten zusammenfällt der mechanischen Naturnotwendigkeit an- heimfällt? Der Mensch, so drückt sich Kant wörtlich aus, „maßt sich eines Willens an, der nichts auf seine Kechnung kommen läßt, was bloß zu seinen Begierden und Neigungen gehört". So wäre also doch das Ding-an-sich, das unser erscheinendes Handeln bestimmen sollte, nicht die Grundlage des Ganzen, nicht aller Handlungen, sondern nur derer, die dem sittlichen Imperativ gemäß sind? Aus diesen Wider- sprüchen ist nicht herauszufinden. Man kann nicht eine Freiheit behaupten, die uns für Gutes und Böses gleich- mäßig haftbar machte, und sie zugleich auf diejenige see- lische Energie beschränken, aus der allein das Gute hervor- gehn kann. Es ist danach weder zu begreifen, wie der intelli- gible Charakter eines Menschen etwas zu wünschen übrig lassen kann, noch wie sein empirischer Charakter irgendeinen Wert besitzen kann. Die Identifizierung unsres an sich seienden, nicht erscheinenden Wesens, in dem die Freiheit ruht, mit der Vernunft und die der Vernunft mit der Sittlichkeit drängt zu der grauenhaften Konsequenz, daß alles Verständ- liche und Erklärbare an den menschlichen Handlungen ver- ständlich und erklärbar nur durch die Zurückführung auf selbstsüchtig-unsittliche Triebfedern ist.

Der extreme sittliche Idealismus, der unser transzen- dentes, den natürlichen Verkettungen enthobnes Sein als das allein wertvolle empfindet, oder umgekehrt: der allem Guten in uns seine Heimat in der absoluten Innerlichkeit unsres Wesens, in dem, was wir wirklich s i n d , jenseits aller Flüchtigkeit unsrer Erscheinung anweist dieser Idea- lismus hat die unvermeidliche Kehrseite, daß alles Sichtbare und Erkennbare an uns zunächst der bloßen Gleichgültigkeit des sinnlich wahrgenommenen Naturmechanismus anheim- fällt. Und nachdem dies feststeht, läßt sich Kant das ist ein Angelpunkt seines ganzen ethischen Weltbildes durch die Doppelbedeutung des Wortes „sinnlich", nämlich in theo- retischer und in praktischer Bedeutung, verführen, nur die- jenigen Tatsachen für empirische, d. h. für sinnlich erkenn-

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bare zu halten, die sinnlich in der praktischen Bedeutung des Wortes bestimmt sind. Er wiederholt damit an diesem Begriff denselben intellektualistischen Irrtum, den ich oben an dem Begriff der Vernunft betonte. Was sinnlich wahr- nehmbar sei, könne bei seelischen Objekten auch seinem eignen Wesen nach nur sinnlich sein; da wir aber bei allem, was mit Sinnlichkeit zu tun hat, abhängig, also unfrei und zugleich von der Quelle der Sittlichkeit entfernt sind, so hat dieser Sittlichkeitsbegriff die Folge, daß alles empirisch erkennbare Handeln der Menschen nur auf sinnlich- unmoralische Triebfedern zurückgehen kann für die wir aber doch zugleich nicht verantwortlich sein können, weil sie die Freiheit ausschließen. Hier begegnen sich noch ein- mal alle Motive der Kantischen Ethik, aber nur grade so, daß dieser Zusammenschlag ihre Diskrepanz in das hellste Licht stellt; man braucht diese Fäden nur über den Punkt innerhalb jedes hinaus, an dem Kant sie notdürftig ver- knüpft hat, zu verfolgen, um sie nach ganz unvereinbaren Eich tun gen verlaufen zu sehn.

Der Sinn solcher Kritik kann aber nicht in der klein- lichen Genugtuung liegen, Kant „innere Widersprüche" nachzuweisen, sondern hier, wo es sich um seinen Freiheits- begriff handelt, nur in der Anregung, dasjenige Verständnis dieser so glänzend einsetzenden Theorie zu suchen, das ihr einen W^ert durch die Widersprüche ihrer dargelegten Kon- sequenzen hindurch rettet. Mir scheinen diese Widersprüche im wesentlichen aus derselben Quelle, wie die des Ding-an- sich- Begriffes überhaupt zu stammen : daß aus einer bloßen Funktion eine Substanz geworden ist. Kant selbst scheint mir in einer Schrift, die vor seinem ethischen Hauptwerk liegt, den erlösenden Gedanken auszusprechen: gleichviel, ob der Mensch frei ist oder nicht, er müsse handeln und sich beurteilen, alsob er frei wäre. Die Freiheit ist also nur eine Maxime der Beurteilung, gleichsam ein Hilfsbegriff, ohne den wir die praktisch erforderlichen Urteile über Gut und Böse nicht fällen könnten. Wie wir nun einmal zu denken gewohnt sind, hat das Gute nur dann für uns sitt- liche Bedeutung, wenn wir die Möglichkeit des Bösen da- neben vorstellen; und entsprechend das Böse. Diesen Zug moralischer Urteile, der rein innerhalb ihrer Sphäre verbleibt, drücken wir damit aus, daß wir uns Freiheit, statt des

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einen das andere zu tun, zusprechen. Aber diese Freiheit, obgleich dem einen so gut wie dem andren zukommend, liegt so wenig in einer ober- oder unterirdischen Schicht unser und ihrer , wie das Ding-an-sich außerhalb unsrer Sinnesempfindungen, für deren innere, in ihnen und uns ver- bleibende Charakterbestimmtheit es nur der objektivierende Ausdruck ist. Ebendahin ftihrt die Tatsache des Sollens. Wir sollen in einer bestimmten Weise handeln und der Sinn dieses Sollens fordert die Voraussetzung, daß wir auch so handeln können; dies bezeichnet aber nur die innere Struktur des Sollensbegriffes und die Freiheitsidee stellt diese funktionelle Bestimmtheit seiner gewissermaßen verselb- ständigt dar. Indem Kant die Freiheit als ein positives, produktives Vermögen anspricht, das in unsrer übersinnlichen Realität ruhe, dementiert er seine eigne Behauptung, daß wir die Freiheit „nur in praktischer Hinsicht" brauchen, d. h. daß sie nur der abstrakte Ausdruck für unsere Art ist, das Leben zu führen und zu beurteilen. Die substanzialistische Ansicht, daß die Freiheit gleichsam etwas für sich wäre, daß die übersinnliche Enthobenheit vom Kausalgesetz eine Existenz unser bezeichnete, von der die sinnliche eine Er- scheinung wäre, ist ein Rückfall in den typischen Denk- fehler, der z. B. aus den Zweckmäßigkeitsbeziehungen inner- halb der Natur einen zwecksetzenden Gott außerhalb ihrer schafft. Daß die eine Bedeutung der Freiheit : als einer Interpretation des inneren, sittlichen Lebens in die andere übergeht, in der dieser nur regulative Begriff zu der meta- physischen Substanz unsres Dinges-an-sich erstarrt, reißt unsere ganze Existenz in jene unbarmherzige Zweiheit aus- einander, die nur die Wahl läßt: entweder auch das Böse in den letzten Wesensgrund unsrer Existenz aufzunehmen was für die Vernunftmoral inkonsequent ist , oder diesem nur das Gute zu vindizieren, wodurch die em- pirische Wirklichkeit des Lebens darauf verzichten muß, seinem transzendenten Grunde zu entsprechen. Wird dagegen die Freiheit wirklich konsequent als ein nur regulatives Prinzip gefaßt, so braucht sie sozusagen nicht innerhalb unsrer realen Wesensbestandteile lokalisiert zu werden, weil sie überhaupt nicht als konkrete Kraft besteht und also auch keinen Ort braucht. Damit entfällt ihre Be- schränkung auf das vernünftig -sittliche Handeln und die

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leidige Notwendigkeit, das sinnlich-Bestimmte ihrer Wirk- samkeit zu entziehen.

So ist die Freiheit eine bloße Idee, nicht aus unsren Wertungen und Wollungen heraustretend und doch die all- gemeine Voraussetzung oberhalb jeder einzelnen, jenem Ge- biet mannigfacher Gültigkeitsarten angehörig, das auch die sogenannten „Naturgesetze" im Verhältnis zu den einzelnen Vorgängen, die bürgerlichen Gesetze im Verhältnis zu den einzelnen Handlungen der ihnen Unterstehenden einschließt und damit entgeht sie der groben Alternative, daß wir sie entweder haben oder sie nicht haben. Sobald Kant der rein regulative Sinn der Freiheit entgleitet, fällt er in diese Alter- native und nagelt die Freiheit an unsrem übersinnlich-realen Ding-an-sich fest. Wo er aber jenen und damit die reinere, nur funktionelle Bedeutung des Ding-an-sich-Begriffs fest- zuhalten weiß, eröffnet er die tiefste Deutung jener sitt- lichen Freiheit, von der meine Darstellung seiner Ethik anhob. Daß der Mensch dem Gesetze gehorche, das er selbst sich gibt und in das nichts der Persönlichkeit Äußeres hinein- wirken darf Sinnliches so wenig wie Traditionelles, Religiöses so wenig wie Soziales , das erschien als Sinn und Wesen aller Sittlichkeit. Das ist die Freiheit ihrem Wertbegriffe nach, die Bedingung aller innren Bedeutung unsres Handelns. Und wenn nun andrerseits die Möglich- keit der Freiheit in unsrem übersinnlichen Sein ruhen soll, so ist dies doch wohl nur die metaphysische Spiegelung jener Überzeugung, daß Freiheit ein Sich-selbst-gehören ist, ein Abschütteln alles dessen, was zur Schale statt zum Kern gehört. Daß wir in der Freiheit und durch sie ganz und allein wir selbst sind, kann nicht radikaler aus- gedrückt werden, als durch ihre Verlegung in das trans- szendente Substrat unsrer Erscheinung; denn alle angeb- baren Einzelheiten, die diese zusammensetzen, sind immer noch als ein Kompromiß unsres Ich mit der Außenwelt, mit seinen zufälligen Schicksalen, mit dem ganzen gegebnen Material des Lebens aufzufassen; an dem Punkt, wo wir wirklich rein uns selbst gehören, d. h. völlig frei sind, muß deshalb all dies Empirisch -Einzelne abgestreift sein. In dem Grundbegriff der eigengesetzlichen Persönlichkeit also fallen der ethische und der metaphysische Sinn der Freiheit zusammen. Damit aber ist gesagt, daß auch der letztere

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nicht ein ruhendes Sein bedeutet, sondern genau wie der erstere eine im Unendlichen liegende Aufgabe, einen idealen Zielpunkt, den wir, wie alle seinesgleichen, weder schlecht- hin haben , noch schlechthin nicht haben. Solange wir empirische Wesen sind, haben wir die Freiheit, das Wir- selbst-sein, immer erst zu erringen und nichts andres als ein Ausdruck hierfür ist es, daß ihr Besitz in unser transzendentes Teil verlegt wird: wie ich es früher von dem Ding-an-sich im theoretischen Sinne sagte, bedeutet seine Setzung zugleich seine Versagtheit für uns. Die Frei- heit hat den rein funktionellen Sinn , die Art und Norm unsres sittlichen Bestrebens durch einen besondren Begriff, durch eine Kristallisierung seines Zieles zu bezeichnen wie das theoretische Ding-an-sich eine bestimmte Qualifi- kation des empirischen Erkennens bedeutet. Wie dieses ist sie ein „Grenzbegriff", nur daß er nicht, wie im theoretischen Falle, die Beschränkung unsrer Energien markiert, sondern umgekehrt die ins Unabsehliche gehende Erweiterung der- selben. In dem einen wie in dem andren Falle aber war der Grenzbegriff zu einer selbständigen Existenz jenseits der Grenze erstarrt, aus der er erst wieder gelöst werden muß, nicht, um aus seiner Höhe herunterzusteigen, sondern um durch seine Funktion an der Wirklichkeit erst seine Höhe zu erweisen, für die seine Verlegung in das Jenseits keinen Sinn und keinen Maßstab übrig ließ.

Und damit schließt sich der Kreis der Freiheitsbedeu- tungen: sie weist die Richtung, in der unser Handeln, in- soweit es wertvoll ist, sich bewegt, dies Handeln, das sich so als der unendliche Weg zu uns selbst enthüllt; und unsere Praxis und unser praktisches Urteilen, das auf die Vollendung dieses Weges nicht warten kann, antizipieren sie mit jenem eigentümlichen Regulativ: wir handeln und beurteilen uns und andere, als ob wir schon frei wären, als ob jede Handlung aus dem auf sich allein ruhenden Punkte des Ich quölle, dem kein Außer -Ihm mehr seine Verantwortung abnimmt. So gehört also auch die Freiheit in jenen Bezirk regulativer Begriffe, über den erst Kant volle Rechenschaft gegeben hat und in dem die Freiheit sich mit ihrem Gegenpol, dem Kausalgesetz, zusammenfindet. Denn auch von diesem hatte sich ergeben, daß es trotz oder wegen seiner apriorischen Herrschaft über das Erfahrungsgebiet innerhalb

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dieses niemals absolut rein und absolut sicher verwirklicht ist, sondern es beherrscht die wirkliche Erkenntnis wie aus der Ferne, so daß sie sich seinem Gültigkeitsmaß nur ins Unendliche nähert. Wie die Herrschaft der sittlichen Freiheit im Praktischen nur am Sinnenstoff vor sich gehen kann auf einen Gott wäre ihr Begriff nicht anwendbar , der doch grade ihre absolute Realisierung verhindert, so beschränkt ebenderselbe im theoretischen Sinne die reine Wirksamkeit des Kausalgesetzes, das doch seinerseits nur durch ihn ver- hindert wird, zu einem leeren, spielerischen Schema zu werden. Und so gewinnt die Vollendung der Seele auch nach der Seite des Glücks, so erreicht die geschichtliche Kultur, so der Weltprozeß überhaupt auch für den kleinsten ihrer Schritte eine Dirigierung und ein Maß von Befriedigt- heit nur dadurch, daß sie einem Ideal von absoluter Voll- kommenheit zustreben. Und dies ist nicht, was Ideen sonst so häufig in der Geschichte des Geistes gewesen sind, ent- weder ein fremdes und traumhaftes Absolutes, das unberühr- bar über der Welt der Wirklichkeiten schwebt, oder eine unnütze Verdopplung der aus dieser gezognen Begriffe, sondern ist der innere Sinn der Dinge, unsres Verständnisses wie unsres praktischen Behandeins ihrer, der durchaus nicht als eine metaphysische Wirklichkeit aus ihnen heraustritt, und von dem doch jedes Stadium nur als Glied einer über es selbst hinausführenden Entwicklung Gültigkeit besitzt. Wir können dies nicht anders bezeichnen als so , daß ein Ideal, dem sie zustreben, sie mit ihrem jeweiligen Wertmaß ausstattet. Für den fragmentarischen Charakter des Lebens und des Wissens einen Sinn suchend, empfinden wir oft, daß wir dazu besitzen müßten, was wir nie ganz besitzen werden, und dahin gelangen müßten, wohin zu kommen uns versagt ist. Die „regulativen Begriffe" in ihren mannig- faltigen Arten und Abstufungen erlösen uns ebenso aus dem leeren Idealismus wie aus dem resignierten Naturalis- mus, die uns von jenem Gefühl aus bedrohen. Denn indem sie uns berechtigen, zu leben und zu forschen, „als ob" wir die absoluten Ziele erreichen könnten, „als ob" die absoluten Normen gälten retten sie den ganzen Wert des Absoluten und Transzendenten in seine Funktion hinein, Sinn, Ordner und Wegweiser des Relativen und Empirischen zu sein. In dieser funktionellen Bedeutung des Über-

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empirischen vollendet sich der Grundgedanke der Kantischen Weltdeutung, die doch wohl darauf hinausgeht, die seelischen Elemente nach ihren Sonderfunktionen und Sonderrechten aufs strengste zu trennen, um sie dann wieder zu der Ein- heit der Wirklichkeit zusammenwirken zu lassen. Niemals hatte sich das verstandesmäßige Apriori so scharf von dem Wahrnehmungsmaterial geschieden aber gerade dadurch konnten beide in Gemeinsamkeit die eine, allumfassende Er- fahrung produzieren; niemals war das Ich so entschieden gegen alle seine Einzelinhalte isoliert worden aber diese letzteren entbehren allen Sinn und Bedeutung ohne die Ein- heit, die ihnen die Einheit des ersteren verleiht, diese Ein- heit, die ihrerseits wieder nur an jenen und als ihre Form eine Existenz gewinnt ; nie war die egoistische Glückseligkeit so kompromißlos dem Pflichtgebot entgegengesetzt worden und doch erhoben sich nur aus der unaufhörlichen Über- windung der einen durch das andere alle sittlichen Werte, die bei dem Wegfall der Gegeninstanz nicht mehr in der für Menschen möglichen Form bestehen könnten; niemals hat eine Philosophie, die die Ideen des Überempirischen und die Verabsolutierung der theoretischen und praktischen Normen nicht schon in sich für unsinnig erklärt hat, ihnen so radikal allen Erkenntniswert abgesprochen und doch zeigt sich, daß sie, selbst nicht erkennend, doch die Normen des Erkennens sind, wie der Wegweiser den Weg nicht selbst geht, den der Wandernde ohne ihn nicht finden würde. In dieser Tendenz, die Elemente gegeneinander aufs äußerste zu verselbständigen, um sie auf Grund dieser Sonderung zu einer um so engeren, organischen Wirkungseinheit zusammen- zuführen, offenbart sich die weltgeschichtliche Tendenz der neuzeitlichen Differenzierung, die die trüben, unbeholfnen Produktionsverschmelzungen früherer Epochen aufhebt und jedes Element zu der ganz arbeitsteiligen, mit keiner andren verwechselbaren Leistung führt. Dies aber gerade ist es, was die Individuen unvergleichlich enger aufeinander anweist und was nun erst eine vollkommene und erfolgreiche Ein- heit der Gesamtarbeit gewährleistet wie die von Kant an- gebahnte Scheidung unsrer inneren Energien die Bedingung bildet, ihre Einheit auf höherer Stufe wiederzugewinnen.

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Fünfzehnte Vorlesung.

Unter den Geistern, in denen die Wendungen der Welt- geschichte begründet sind, ist vielleicht keiner, der sich gegen die Bezeichnung als Genie so energisch gewehrt hätte wie Kant. Seine bis zur Pedanterie exakte Wesensart, die ängstliche Strenge schulgerechten Denkens läßt ihm die rasche Kühnheit und Freiheit des Genies als völlig un- verträglich mit dem Geiste der Wissenschaft erscheinen. Die eigentümliche Zusammengesetztheit seines Wesens, das den mutigsten Schwung eines völlig souveränen Denkens in eine philiströse Systematik verzopfte, gipfelt in der Tatsache, daß sein langatmigstes und verkünsteltstes Werk, das durch endlose Wiederholungen immer derselben Sätze und durch die Gewalttätigkeit seiner Konstruktionen den Leser fast zur Verzweiflung treiben kann, die Kritik der Urteilskraft, doch vielleicht die leuchtendsten Spuren seines Genies trägt. Denn es ist doch wohl das Wesen des Genies, zu wissen, was es nicht erfahren hat, und das auszusprechen, dessen Bedeutung es selbst nicht ermessen kann; und jenes Werk enthält Re- flexionen über die letzten Fragen des ästhetischen Genusses, die das Beste des modernen ästhetischen Bewußtseins vor- wegnehmen, und deren Erfahrungsgrundlage in seinem Leben fast nicht aufzufinden ist. Denn dieses Leben verfloß gänz- lich in einer kleinen Stadt des 18. Jahrhunderts, in der aller anschauliche Schmuck des Daseins ein Minimum war, und die ihm niemals den Anblick eines großen Kunstwerks ge- währt haben kann; und in demselben Atem, in dem er die tiefsinnigsten Erleuchtungen über das Wesen des Schönen verkündet, preist er den Vers:

„Die Sonne quoll hervor, wie Ruh' aus Tugend quillt " als ein Muster poetischer Vollendung! wobei gar kein Zweifel ist, daß gerade hier das absolut unartistische Prinzip, das Sympathisieren mit dem Inhalt, seine Anerkennung ver-

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schuldet. In der Geschichte der Philosophie, in der doch mehr als irgendwo sonst in der Welt die Gesteigertheiten und die UnvoUkommenheiten des Geistes sich verflechten, gibt es vielleicht keinen zweiten Punkt, an dem ein un- beirrbarer Instinkt des Genies sich durch ein gleiches Maß von Unkenntüis der Wirklichkeiten und von Verschnörkelungen einer eigensinnigen Konstruktionssucht hindurchgefunden hat. Um diese eigentümliche Bedeutung anschaulich zu machen, die gerade die Kritik der Urteilskraft durch ihre Beziehung zu den auf ganz andren Wegen gewonnenen ästhetischen Überzeugungen der Gegenwart besitzt scheint es mir geraten, ihre Grundgedanken mit einem weiteren und von Kant unabhängigen Umfange dieser letzteren zu konfrontieren.

Die unvergleichliche Schärfe seines Denkens, die mit jener schwer erträglichen Breite der Ausführung ein in seiner Art einziges Ganzes ergibt, leuchtet sogleich aus der ein- führenden Bestimmung hervor: das Wohlgefallen an einem Gegenstande, das wir das ästhetische nennen, ist von der Existenz dieses Gegenstandes völlig unabhängig. Und dies mag folgendermaßen gedeutet werden. An jedem Dinge unterscheidet der zerlegende Verstand die Summe seiner Eigenschaften, durch die es eben dies bestimmte ist, von der Tatsache, daß dieser so qualifizierbare Gegenstand in der Wirklichkeit existiert; denn wir können von der letzteren Tatsache durchaus absehen und Unzähliges rein sachlich, rein seinem qualitativen Inhalt nach uns vorstellen, ohne im geringsten danach zu fragen, ob der Gegenstand dieser Vor- stellungen denn außerdem auch wirklich ist. Wo diese Frage aber erhoben wird, wo Interesse und Genuß an einem Objekt von seiner Greifbarkeit und Erfahrbarkeit abhängt, sind wir außerhalb des ästhetischen Gebiets. Damit wir ein Haus bewohnen, einen Menschen umarmen, uns von einem Baume beschatten lassen und uns des einen wie des andren erfreuen können, muß das eine wie das andre fühlbar da- sein. Wenn aber die bloße Anschauung dieses Hauses, dieses Menschen, dieses Baumes uns beglückt, gleichviel, ob jene realen Beziehungen uns seiner Existenz vergewissern ; wenn dies Glück ungeändert weiter besteht, sollten die Erschei- nungen sich auch als eine Fata morgana enthüllen, die nur das sinnliche Bild, nur jenen reinen Inhalt der Anschauung

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bewahrt so hebt sich aus den vielerlei Möglichkeiten, die Welt zu genießen , erst damit die eigentlich ästhetische heraus. Denn erst damit ist die ganze Freiheit und Reinheit erklärt, die in dem Gebiet des Schönen leuchtet; erst so ist unsre genießende Beziehung zu den Dingen wirklich auf ihre Anschauung beschränkt und' auf die Distanz, in der wir sie genießen, ohne sie zu berühren. Darum ist etwa die poetische Bedeutung eines Gedichts so ganz unabhängig davon, ob seinem Inhalt eine Wirklichkeit entspricht oder nicht , darum ist nach dieser Richtung hin die Musik das vollendetste ästhetische Gebilde, weil in ihr die Freiheit von jedem Interesse an der Existenz bis zur Unmöglichkeit auch nur der Frage nach einer solchen gesteigert ist. In der hiermit bezeichneten Tatsache erblickt Kant den grund- legenden Unterschied des Schönen gegen alles bloß sinn- lich Angenehme; denn dieses letztere ist auf die Fühlbar- keit der Dinge angewiesen, sie müssen unmittelbar auf uns wirken , damit wir mit sinnlichen Lustgefühlen auf sie reagieren. Nur das, was wirklich und gegenwärtig ist, ist uns sinnlich genießbar; aber das längst Verschwundene, dessen Bild nur noch in unsrem Bewußtsein lebt, kann uns noch schön sein denn auch so lange es gegenwärtig war, bestand der ästhetische Genuß nicht in seinem un- mittelbaren Eindruck auf unsre Empfindungsfähigkeit, son- dern in der viel tiefer gelegenen an späterer Stelle zu deutenden Reaktion, die unsre Seele an ihr bloßes Bild des Dinges heftet. Das sinnlich Reizvolle ist uns wertvoll, weil wir es genießen ; das Schöne umgekehrt genießen wir, weil es wertvoll ist. Aber diese letztere Stufenfolge ist nur möglich , wenn der Genuß eben nicht von der Existenz ab- hängt, sondern von den Eigenschaften oder Formen des Dinges , die wir als wertvoll beurteilen müssen , gleichviel, ob ihnen die Empfindbarkeit einer Existenz, die ihnen qualitativ nichts hinzufügte, zukommt oder nicht.

Fragt man diese Kantische Grundbestimmung des Schön- heitsgefühls als eines Wohlgefallens ohne Realitätsinteresse nach ihrer psychologischen Begründung, so scheint sie mir bei ihm wie bei seinen Nachfolgern darauf zurückzugehen, daß die Schönheit traditionellerweise nur an Eindrücken von Auge und Ohr haftet und den Tastsinn ausschließt. Dieser nämlich ist psychologisch der eigentliche Realitäts-

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sinn ; nur was wir greifen können oder könnten, scheint uns die volle Wirklichkeit zu besitzen. Gewiß sind die Lein- wand und der Marmor greifbar; aber so wenig wie an der Buchseite, die das Gedicht trägt, ist an ihnen das, was getastet wird, das Kunstwerk dieses vielmehr liegt aus- schließlich in den Formen, die dem Gesicht und keinem andren Sinn zugänglich sind. Durch diese Ablösung der Sichtbarkeit und Hörbarkeit von der sonst mit ihr stets verbundenen Tastbarkeit, die uns allein die empirische Wirklichkeit zu garantieren pflegt, erhält das bloß ästhetisch Wirksame jene Distanz von der Wirklichkeit; nach der letzteren zu fragen, haben wir tatsächlich innerhalb des ästhetischen Gebietes kein Interesse, weil dieses Gebiet von vornherein den Sinn ausschließt, der uns als die einzige Brücke zur Realität gilt.

Die Gleichgültigkeit unsrer ästhetischen Urteile gegen das empirisch fühlbare Sein oder Nichtsein ihres Gegen- standes ist zunächst eine bloß negative Bestimmung. Kant wendet sie ins Positive, indem er aus ihr folgert, daß nur die Form der Dinge ihre Schönheit trage. Der Reiz etwa der Farben wie der der einzelnen Töne knüpfe sich an Inhalte des Empfindens, sei also von der realen Existenz der Gegenstände abhängig und könne deshalb wohl angenehm, sinnlich beglückend sein, aber in das Geschmacksurteil dürfe er sich nicht mischen , ohne dessen Reinheit zu trüben. Darum sei in allen bildenden Künsten die Zeichnung das Entscheidende, während die Farben den Gegenstand wohl für die Empfindung reizvoll, aber nicht ästhetisch schön machen könnten. Und wie den Reiz der Sinne, so wehrt diese Beschränkung auf die Form auch die Bedeutsamkeit der Gedanken von dem ästhetischen Urteil ab. Es möge sein , daß manches anschaulich Schöne, seinen ästhetischen Wert für uns verliert, wenn es in Zweckverbindungen, die seiner Form widersprechen, eingefügt wird : gewisse an sich schöne Ornamente etwa sind doch an einem sakralen Gegen- stande höchst unpassend, eine Gesichtsform, die an einem Narzissus schön ist, lehnen wir an einem Mars entschieden ab, architektonische Elemente können die schönsten Formen zeigen, aber sie sind höchst widrig, wenn sie innerhalb des Baues ihre dynamische Bestimmung nicht erfüllen. Allein diese Art Urteile beträfe eben nicht die reine Form der

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Dinge, sondern hinge von dem Sinn und den Zwecken ab, in welche diese letzteren ihrer realen Existenz nach ver- flochten werden; sie gehen nicht unsren Geschmack an, sondern unsre Kenntnisse vom Wesen gewisser Zusammen- hänge, unsre sittlichen Interessen, unser Nachdenken. Des- halb lehnt ein reines Geschmacksurteil alle solche Kriterien ab , die außerhalb des unmittelbaren Eindrucks der Dinge liegen; es beurteilt die Dinge zwar im Gegensatz zur Sinnlichkeit, die sie nur genießt, aber es beurteilt auch nur sie und nicht ihre Bedeutungen für Zwecke und Werte, mögen es auch die höchsten sein, zu denen sie nur durch Heraustreten aus ihrem reinen, formalen Angeschautwerden eine Beziehung gewinnen.

Es ist höchst merkwürdig , hier festzustellen , wie ein wahres , tief und scharf erfaßtes Prinzip durch die Enge seiner Anwendung zu ganz mißverständlichen Folgen führt; man braucht ihm nur die von Kant selbst ihm vorenthaltene Weite zu geben, um es vollkommen zu legitimieren. Es ist zunächst ein völliger Irrtum, daß der eigentlich ästhetische Wert der Malerei nur in der Zeichnung als dem einzigen Träger der „Form" beruht; vielmehr haben in ihr die Farben, ganz abgesehen von der durch ihre Grenzen angegebnen Zeich- nung und bloß als koloristische Flecke angesehen, formale Verhältnisse zueinander, die ein rein ästhetisches Urteil hervorrufen. Wie sich die Farben nach Verwandtschaft, Ergänzung, Gegensatz auf der Fläche verteilen, wie sich die Lokalfarben dem Ton des Ganzen einordnen, wie die ver- streuten Flecken der gleichen Farbe in gegenseitige Be- ziehung treten und damit eine der das Ganze zusammen- haltenden Kräfte bilden; wie durch das Dominieren der einen und die abgestuften Unterordnungen der andren eine übersichtliche Organisierung des Bildraums erreicht wird dies alles sind höchst wesentliche Bestandteile des Kunst- werks als solchen, ganz jenseits unsrer unmittelbaren sinn- lichen Sympathie oder Antipathie für den einzelnen Farben- eindruck stehend und deshalb in demselben Sinn der Form des Bildes zugehörig, wie seine Zeichnung. Der durch- aus richtige Sinn der Kantischen Behauptung ist, daß das Kunstwerk eine Einheit aus Mannigfaltigem ist und sein Wesen deshalb in der Wechselwirkung seiner Teile hat. Indem jeder einzelne auf jeden andren hinweist, jedes

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Element durch das Ganze und das Ganze durch jedes Ele- ment bestimmt und verständlich wird, entsteht jene innere Einheit und Selbstgenügsamkeit des Kunstwerks, die es zu einer Welt für sich macht. Das aber bedeutet allerdings, daß das Kunstwerk Form ist; denn Form ist die Art, auf die Elemente sich aufeinander beziehen und sich zu irgend- einer Einheit zusammenfassen ; das schlechthin Einfache und Undifferenzierte ist formlos , ebenso wie das schlechthin Zusammenhangslose. Ein Kunstwerk entsteht, indem die fragmentarischen Inhalte des Daseins zu einer gegenseitigen Beziehung gebracht werden, in der sie ihren Sinn und ihre Notwendigkeit aneinander finden, so daß eine Einheit und innere Befriedigtheit an ihnen aufleuchtet, die die Wirklich- keit nie gewährt, weil in ihr jedes Dasein in eine nach Ursachen wie nach Folgen unabsehbare Verkettung gestellt ist. So ist allerdings die Kunst die äußerste und allein restlose Darstellung dessen , was man als die Formung der Dinge bezeichnet, und das nichts andres ist als die Einheit des Mannigfaltigen.

Noch leichter istjene andre freiwillige Selbstbeschränkung zu heben, mit der Kant die fein empfundene Abgrenzung der Schönheit gegen alle Forderungen des Intellekts und der Moral in einer scheinbar konsequenten, in Wirklich- keit inkonsequenten Weise steigert. Die Schönheit dürfe nicht von dem Begriffe dessen abhängig sein, was von dem Gegenstand nach natürlichen, historischen oder moralischen Normen gefordert würde; sie sei ein freies Spiel unsrer Seele und als solches völlig souverän, ein Gegenstand gefalle uns oder gefalle uns nicht, ganz gleichgültig gegen alles, was er außerhalb dieses bloßen Gefallens sei oder sein solle. Die Folge davon ist, daß Kant, genau genommen, nur Blumen, Ornamente, Musik ohne Text, kurz nur Formen, die nichts Bestimmtes bedeuten, als eigentliche Schönheiten an- erkennt. Denn sobald man von einem Gegenstand eine Leistung jenseits seines bloßen Anschauungsbildes verlange und davon das ästhetische Urteil über ihn abhängig mache, mische sich eben etwas dem bloß ästhetischen Fühlen Fremdes in dasselbe; das sei aber zum Beispiel meistens bei der Be- urteilung der Menschengestalt der Fall , indem analog den obigen Beispielen was als Venus schön ist, es noch nicht als Athene ist, oder indem überhaupt gewisse Forde-

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rungen an Kraft, Charakter, Ausdruck sittlichen Wesens die Bedingungen bilden , unter denen wir eine menschliche Gestalt als schön anerkennen. Daran ist nun so viel richtig, daß alle Qualitäten des Menschen, die nicht unmittelbar anschaulich sind, an sich und ihrem eignen Werte nach nichts mit der ästhetischen Schätzung seiner Erscheinung zu tun haben. Das verhindert aber nicht im geringsten, daß sie, in das Gesamtbild der Person einbezogen, mit allen andren Elementen derselben zusammen die Formen rein ästhetischer Schönheit oder Nichtschönheit bedingen. Nur ihre selbständige, innere Bedeutung kommt hier nicht in Frage, so wenig, wie bei der Schönheit einer Nase ihre Atmungsfunktion in Betracht kommt. Daß uns ein Zug, der uns an einer Venus entzückt, an einer Athene abstößt? geschieht nicht, weil er dem Begriff der Athene wider- spräche, sondern weil er mit all den andren tatsächlichen Zügen, die diese Athene darbietet, keine Harmonie oder Einheit der angeschauten Form ergibt. Stimmten etwa alle Züge zu diesem einen, so würde eben eine Gestalt entstehen, mit der wir ästhetisch völlig einverstanden sind ; wir würden sie dann freilich Venus benennen, und die Behauptung, es solle eine Athene sein, würde etwa als eine Wunderlichkeit und ein historisches Mißverständnis erscheinen, aber ästhe- tischen Widerspruch würde sie nicht mehr wecken, sondern in dieser Hinsicht so gleichgültig sein, wie auch die richtige Bezeichnung als Venus es ist.

Am deutlichsten wird diese Erhebung inhaltlicher Be- deutsamkeiten und Zweckmäßigkeiten in die ästhetische Sphäre wohl im Drama. Hier finden unzählige Prozesse rein sachlicher und psychologischer Art statt, die nach den Erfahrungen der realen Welt, also nach Kriterien, die mit dem Kunstwerk als solchem nichts zu tun haben, als richtig und passend beurteilt werden müssen, wenn wir ästhetisch befriedigt sein sollen. Dies ist durchaus kein Herausfallen aus der ästhetischen Sphäre, sondern es sind nur Tatsachen und Zusammenhänge, die auf andren Daseinsgebieten erwachsen sind, als Material in sie aufgenommen worden; und nun muß das Kunstwerk, wenn es in sich völlige Formeinheit haben soll, mit den inneren Normen dieses Materials so harmonisch sein, wie das plastische Werk in seiner Form- gebung dem Charakter seines Marmors oder seiner Bronze

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entsprechen muß, wobei jene Forderungen der Realität oder der Begriffe nicht um ihrer Eigenbedeutung, sondern um der Einheit des Kunstwerks willen, das sie verwertet, er- füllt werden müssen , gerade wie der Charakter des plasti- schen Stoffes nicht als mineralogische oder physikalische Tatsache, sondern ausschließlich um seiner ästhetischen Bedeutung willen Berücksichtigung fordert. Kant hat also auch hier den Begriff der Form zu eng gefaßt, indem er die Reinheit des Geschmacksurteils verloren glaubte, wenn es von nicht unmittelbar ästhetischen, von begrifflichen und sachlichen Voraussetzungen abhinge. Er hat nicht gesehen, daß eben diese zu ästhetischen Bedingungen erhoben werden, daß sie ihre Bedeutsamkeit in die ästhetische Tonart transponieren können, und daß sie dann die Formeinheit des Schönen und des Kunstwerks als ebenso berechtigte Elemente mitbilden helfen , wie die von vornherein nur ästhetischen.

So sehr Kant also mit jenen Beschränkungen seines Prinzips diesem selbst unrecht tut, so hat er mit ihm doch das Grundgefühl der modernen rein artistischen Auffassung vorweggenommen: daß das Kunstwerk als solches seine Be- deutung nie und zu keinem Teil von dem entlehnen darf, was nicht Kunst ist. Wie wichtig und ergreifend auch sein Inhalt nach seiner ethischen oder historischen, religiösen oder sinnlichen , patriotischen oder personalen Seite sei der Kunst, soweit wir sie ästhetisch beurteilen sollen, darf dies nicht zugute kommen, unser Urteil bezieht sich aus- schließlich auf die Formung dieses Stoffes, das Kunstwerk spielt sich ausschließlich auf dem Gebiet seiner jeweiligen optischen, akustischen, dramatischen Erscheinung ab, ohne von dem, was irgendwie jenseits dieser steht, Unterstützung oder Nüancierung zu empfangen. Diese Selbstherrlichkeit der Kunst und, nach Kants Meinung, des Schönen ordnet er nun, ohne ihr im geringsten Abbruch zu tun, einem allgemeineren Typus menschlicher Wertungen ein. Das Lustgefühl dem Schönen gegenüber stammt, wie hervor- gehoben, nicht aus einer Zweckmäßigkeit des Gegenstands für unsre Willensziele, auch nicht aus einer solchen für irgendein objektives Geschehen. Dennoch muß eine Zweck- mäßigkeit dabei im Spiele sein ; denn durch den ästhetischen Genuß fühlen wir uns gestärkt, in unsrem Lebensprozeß

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gehoben, wir wünschen, ihn festzuhalten, bei seinem Gegen- stände zu verweilen, indem wir uns doch zugleich als frei empfinden. Dieselbe Art der Befriedigung, die uns der Anblick des ganz Zweckmäßigen bietet, kommt angesichts des Schönen über uns: das Gefühl, daß die Zufälligkeiten der Erscheinung von einem Sinne beherrscht sind, daß die bloße Tatsächlichkeit des Einzelnen von der Bedeutsamkeit eines Ganzen durchdrungen ist, daß das Fragmentarische und Auseinanderfallende des Daseins wenigstens an diesem einen Punkte eine seelenhafte Einheit gewonnen hat. Da nun aber das Schöne alle Beziehung auf einen bestimmten Zweck ablehnt, die es sogleich aus der bloß ästhetischen Sphäre herabziehen würde, so bezeichnet Kaut sein Wesen als „Zweckmäßigkeit ohne Zweck": das heißt, es hat die Form des Zweckmäßigen, ohne doch von einem angebbareu Einzelzweck bestimmt zu sein; es setzt durch seine bloße Anschauung unsre mannigfaltigen seelischen Energien in dasjenige Verhältnis von Spannung und Lösung, von Har- monie und Organisiertheit, das sonst in uns nur dem Anblick und Genuß der zweckmäßigen Dinge, des zweckerfüllten Lebens antwortet. Man hat mit einem gewissen Recht als die spezifische Eigenschaft des Menschen gegenüber dem Tier hervorgehoben, er sei das zwecksetzende Wesen. Unser Leben gewinnt seinen Sinn und Zusammenhalt, seine Leistung und seine Befriedigung, indem seine Inhalte sich zu Zwecken und Mitteln gestalten und aneinanderschließen. Was wir schön nennen, ist dasjenige, was in uns den subjektiven Reflex der Zweckmäßigkeit erzeugt, ohne daß wir sagen könnten, wem oder wozu es diene. Es gewährt uns damit gleichsam die typische Genugtuung des menschlichen Daseins in ihrer völligen Reinheit und Gelöstheit.

Wenn wir gegenüber der Realität des Daseins, die sich an konkreten Einzelheiten erschöpft, an dem Schönen und der Kunst die Leichtigkeit und Freiheit des Spieles empfinden, so ist dies nun erklärt. Denn Spielen bedeutet doch, daß man die Funktionen, die sonst den Wirklichkeits- inhalt des Lebens tragen und an ihm gebildet sind, jetzt ohne diese Füllung, rein formal, ausübt. Das Wetten und Jagen, das Ringen und Erlisten, das Bauen und Zerstören, das die realen Ziele des Lebens fordern, geschieht im Spiele an bloß ideellen Inhalten, um bloß ideeller Ziele willen

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oder, genauer, nicht einmal um dieser willen, sondern nur aus Lust an der Funktion, an dem subjektiven Tun, das mit keinem über dieses Tun selbst hinausgreifenden Inhalt be- schwert ist. Das ist der eigentliche Sinn des Satzes aus der Ästhetik Schillers : der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt. Nur im Spiel , das heißt, wenn unser Tun nur in sich selbst kreist, sich nur an sich selbst befriedigt, sind wir absolut wir selbst, sind wir ganz „Mensch", das heißt seelische Funktion, die sich nicht erst eines in irgend- einem Sinne konkreten Inhalts bemächtigt. Und dies ist die Kantische Zweckmäßigkeit ohne Zweck. Denn die Schönheit ist nichts, was in dem objektiven Sein der Dinge läge, sondern sie ist eine subjektive Reaktion, die dieses in uns anregt, oder, wie Kant sich ausdrückt: „eine Gunst, womit wir die Natur aufnehmen, nicht eine solche, die sie uns erzeigt." Sie ist die Aktivität, das „Spiel" unsrer seelischen Vermögen, sonst ausgeübt, um die Wirklichkeit praktisch und theoretisch zu bemeistern, jetzt aber nur um seiner selbst willen vorgehend, in sich selbst schwingend und darum in jener reinen Harmonie und Freiheit verlaufend, die die Belastung mit den konkreten Vorstellungen und Zwecken ihr nicht gestattet.

Was Kant so mit der Intuition des Genies als die Wirk- lichkeit des ^ästhetischen Gefühls beschreibt oder vielleicht richtiger : als dessen ideale Vollendung, die seine Wirklich- keit nur annähernd erreicht, liegt zugleich in der Richtungslinie der modernen entwicklungsgeschichtlichen Deutung. Die Höhe, in der die ästhetischen Werte über den Nöten und Zwecken des äußeren Lebens stehen, verhindert durchaus nicht, daß sie sich geschichtlich aus diesen ent- wickelt haben, so wenig, wie der geistige Adel der Menschen- seele darunter leidet, daß der Mensch einst aus einer niederen Tierart hervorgegangen ist: wenn er keine höhere Herkunft hat als das Tier, so hat er doch eine höhere Hin- kunft. Man hat lange bemerkt, daß, was wir schön nennen, die Form der aus praktischen Gründen nützlichen Dinge ist. Schopenhauer führt aus, daß die Formen der weiblichen Gestalt uns in dem Maße ästhetisch vollendet erscheinen, indem wir sie unbewußt als für die Zwecke der Gattungs- erhaltung geeignet beurteilen. Was wir an einem Gesicht schön nennen, sind vielleicht diejenigen Züge, die nach ur-

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alter Gattungserfahrung mit sittlichen, sozial zweckmäßigen Eigenschaften verbunden sind so oft auch zufällige Ver- erbungen das eine vom andren trennen mögen. Ja, der ästhetische Reiz jeder überhaupt sehr charakteristischen, das heißt ein Inneres unzweideutig verratenden Physiognomie mag daher stammen, daß die äußere Offenbarung der Wesens- art eine zwar nich.t immer für das Individuum , aber für seine soziale Umgebung höchst nützliche Qualität ist. Und ebenso mit untermenschlichen Formen : die architektonische Schönheit erscheint als die vollendete Proportion von Lasten und tragenden Kräften, von Druck und Spannung, kurz als die Struktur, die für den Bestand und die Zwecke des Werks die zweckmäßigste ist. Alle räumlichen Gestaltungen er- scheinen uns schön , die den Raum übersichtlich gliedern, also für praktische Zwecke die geeignetsten sind, ebenso alle physischen und seelischen Wirklichkeiten, die mit einem Minimum von Kraftaufwand ein Maximum von Zweckerfolg erreichen. Aber alle diese praktischen Zwecke sind ver- gessen, wo der ästhetische Wert sich erhebt; die Länge der Vererbungen , die Vielheit und Selbstverständlichkeit der Erfahrungen haben sie längst unbewußt gemacht, diese haben ihrer Form nur die allgemeine Bedeutung hinterlassen, die sie einst durch ihre konkreteren Inhalte erworben hat und die jetzt eine nur gefühlsmäßige geworden ist. Es ist die Bedeutung der Zweckmäßigkeit, aus der der Zweck ent- schwunden ist, jenes bloß innerliche, von aller Materie ge- löste Nachschwingen längst untergesunkener Freuden oder Nützlichkeiten das Kant in die erschöpfende Formel der Zweckmäßigkeit ohne Zweck zusammenfaßt. Und dies scheint mir kein verächtlicher Ursprung der ästhetischen Tatsächlich- keit; er verwebt sie in die ganze Breite des Lebens, läßt sie aus dessen Unerläßlichkeiten und den Bedingungen seines Wachstums sich entwickeln. Und nur dann würde sie an seine Niederungen und Ungeistigkeiten gefesselt bleiben, wenn ihr Reiz noch durch die einzelnen greifbaren Zwecke bedingt wäre. So aber, wo die bloße Form dieser, nur ihr typischer Sinn und Geist geblieben ist, stellt sie den feinsten Extrakt des Lebens dar; die Zweckmäßigkeit, in der die Zwecke sich verzehrt haben, ist jener „farbige Abglanz", an dem wir das Leben haben , weil er sich über das Leben aber doch aus dem Leben erhoben hat.

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Es gehört zu den eigentümlichsten Erfahrungen in der Geistesgesehichte, daß die hiermit umschriebene ästhetische Grundüberzeugung Kants ersichtlich gar nicht aus seinem positiven Verhältnis zu den ästhetischen Objekten gewonnen ist, sondern nur indirekt, durch das wissenschaftlich ver- standesmäßige Bedürfnis, den Begriff des Schönen mit völliger Genauigkeit gegen die des sinnlich Angenehmen, des Wahren, des sittlich Guten abzugrenzen. Die Tendenz seines ganzen Denkens war, die Gebiete des Daseins unter die seelischen Energien aufzuteilen, die sie' aufnehmen oder her- vorbringen ; die Schärfe und Gerechtigkeit, mit der er so die innere Vielheit des Subjekts und damit die der objektiven Welt gliederte und jedem Teile das Seine gab, war die große Geste, mit der er in die philosophische Entwicklung eintrat. Das Schöne, das ihm gewiß zunächst nur ganz im allgemeinen als ein Gebiet eigner Gesetzgebung vorschwebte , mußte nach seinen Grenzen bestimmt werden. Sie ergaben sich dem Sinnlichen wie dem Sittlichen gegenüber durch die Gleichgültigkeit gegen alle Realität. Alles sinnliche Inter- esse knüpft sich an das Empfindbare, das wirklich ist oder dessen Wirklichkeit wir wünschen; alles sittliche Interesse an das, was wirklich sein soll, wenngleich es vielleicht sehr unvollkommen verwirklicht wird. Das ästhetische Urteil aber knüpft sich an das bloße Bild der Dinge, an ihre Er- scheinung und Form, gleichviel ob sie von greifbarer Realität getragen wird oder nicht. Die Grenze gegen alle Erkenntnis- urteile aber liegt im Gefühlscharakter alles Ästhetischen; der höchste Punkt, auf den hier die seelischen Bewegungen hingehen, ist nicht mit Begriffen zu bezeichnen, auf deren Funktion, das Anschaulich-Einzelne zusammenzufassen, alle Erkenntnis beruht. Das Äußerste, wozu das Denken sich erhebt, sind die metaphysischen Begriffe, denen keine Anschauung entspricht das ästhetische Gefühl aber be- zieht sich auf Anschauungen, denen kein Begriff entspricht. Damit ist aber nicht behauptet, daß das ästhetische Urteil willkürlich oder grundlos sei; nur liegt sein Grund nicht in bestimmten Begriffen, die unsre Seele bildet, sondern in jener ganz allgemeinen, innerlich harmonischen Stimmung, jener organischen, für alle ihre Zwecke günstigen Spannung und Rangierung ihrer Energien, die jenseits aller singulären Vorgänge lebt, weil sie nur deren reine, abgelöste Funktion

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ist. Aus dieser Konstellation erklärt Kant die Eigentümlich- keit des Geschmacksurteils: daß niemand einen andren von der Richtigkeit des seinigen überzeugen kann wie von der Richtigkeit einer theoretischen Behauptung, und daß doch jeder mit dem Urteil: dies und das ist schön etwas Gültiges, eigentlich von allen andren Anzuerkennendes aus- zusprechen meint, im Unterschied gegen rein sinnliches Ge- fallen, bei- dem sich jeder mit der bloßen Subjektivität seines Gefühls zufrieden gibt. In der Tat : niemand kann im Ernst darüber streiten, ob Austern gut schmecken, ob Moschus ein angenehmer oder widriger Geruch ist; ob aber ein Kunst- werk schön ist oder nicht, hat die leidenschaftlichsten Kon- troversen erregt, als gäbe es dafür Beweis und verstandes- mäßige Überzeugung, die doch tausendfache Erfahrung als illusorisch zeigt. Was den modernen Menschen von neuem so stark zu den ästhetischen Werten zieht, ist dieses einzig- artige Spiel zwischen dem objektiven und dem subjektiven Standpunkt, zwischen der Individualität des Geschmacks und dem Gefühle, daß er doch in einem Überindividuellen, Allgemeinen wurzle. Diesen Widerstreit löst allerdings die Kantische Vorstellung: das ästhetische Urteil beruhe zwar sozusagen auf Begriffen und Zweckmäßigkeiten, aber nicht auf bestimmten, sondern nur auf dem allgemeinen Zu- stand, gleichsam auf der Form der Seele, die sie bei der Bildung von Erkenntnissen und Zwecken annimmt, die aber hier nicht zu solchen vorschreitet, sondern in sich selbst be- schlossen bleibt und sich nur als Gefühl kundgibt.

Während Erkenntnisse und Zweckmäßigkeiten darauf beruhen, daß eine einzelne, einem niedren Seelenvermögen angehörige Vorstellung sich einer andren einzelnen unter- ordnet oder angliedert, die einen höheren Begriff oder Zweck darstellt, geraten hier, nach Kants Deutung, die ganzen Seelenvermögen selbst in diese Bewegungen und funktio- nellen Verhältnisse. Gewiß kann die moderne Psychologie dies nicht ohne weiteres akzeptieren. Sie rechnet nicht mehr mit „Seelenvermögen", die konkrete Elemente im Menschen wären, die agierten und sich in gegenseitige Beziehungen setzten, wie ganze Menschen untereinander; sie hat diese Begriffe als bloße Abstraktionen erkannt, die in mytho- logischer Weise zu selbständigen Wesenheiten kristallisiert sind. Aber vielleicht umschließt dieser unvollkommene

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Ausdruck doch einen haltbaren Kern. Vielleicht regt der ästhetische Reiz außerordentlich weite Komplexe unsrer Vorstellungen an, die unter der Schwelle des Bewußtseins bleiben und in diese nur die allgemeine Form der Verhält- nisse aufsteigen lassen, die sich allenthalben zwischen ihnen bilden. Das Gefühl, namentlich der Kunst gegenüber, von aller Einzelheit und Einseitigkeit des Daseins erlöst zu sein, entspringt vielleicht daraus, daß eine Unübersehbarkeit von Einzelnem , wie von einem Zentralpunkt her , an den das Kunstwerk rührt, in uns lebendig gemacht wird, und zwar nicht mit der Wirrnis zufälliger Assoziationen , sondern in jedem Fall in typischen und sinnvollen Formen von Verhält- nissen, Attraktionen und Verknüpfungen der Vorstellungen. Statt dieser realen Beziehungen der psychischen Inhalte setzt Kant die „Seelenvermögen", die gleichsam die Parteien dieser Aktion tragen und mit denen er, irreal vielleicht, aber jeden- falls so umfassend wie möglich ausdrückt, daß die einzelne Anschauung, insoweit sie ästhetisch ist, über ihre unmittel- baren Grenzen hinaus den ganzen Menschen aufruft; denn vollständiger kann das nicht geschehen, als wenn, statt irgendwelcher einzelnen Inhalte der Seele, gleich die ganzen Kräfte, die jeden denkbaren Inhalt mindestens potenziell umfassen, auf den Plan treten. Gerade die Leichtigkeit des Spieles, mit der ästhetische Elemente, in ihrer Indifferenz gegen alle Wirklichkeit, wirken, ermöglicht dieses Einsetzen der Seelenprovinzen als ganzer, das gehemmt wäre, wenn die inneren Vorgänge mit den schweren Akzenten der Wirk- lichkeit belastet wären. Und dieses dunkle Bewußtsein, daß hier die grundlegenden Funktionen des Geistes als ganze agieren, die doch allen Seelen gemeinsam sind, läßt uns glauben, daß wir in diesen Urteilen nicht allein stehen könnten, daß doch eigentlich jeder andre das gleiche fällen müßte, wenn es nur gelänge, ihn das Objekt in der gleichen Weise sehen zu lassen. Alle Differenzen der ästhe- tischen Urteile auf gleicher geistiger Ausbildungsstufe könnten dann nur daher stammen , daß jenes allgemein Menschliche in uns schon zu sprechen scheint, jenes reine Verhältnis und formale Spiel unsrer seelischen Kräfte schon als vollendet empfunden wird, wo dies tatsächlich noch nicht der Fall ist, daß es sich für den einen durch Eindrücke anregen läßt, die dem andren dazu ganz unzureichend sind. Man

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mag diese Kantische Hypothese für befriedigend halten oder nicht: sie ist jedenfalls der erste und einer der tiefsten Versuche, die individuelle Subjektivität des modernen Men- schen, auf die er nicht verzichten mag, mit der überindivi- duellen Gemeinsamkeit aller, deren er nicht weniger bedarf, innerhalb des ästhetischen Gebiets zu versöhnen. Die An- erkennung, daß es in so indiskutablen Tatsachen, wie die des ästhetischen Geschmacks sind, dennoch etwas Allgemein- gültiges gibt, weil sie auf die ganz überindividuelle Har- monie unsrer seelischen Kräfte zurückgehen, die freilich auf individuelle oder irrige Veranlassung hin ihr Spiel beginnen können ist der erste Eingriff des modernen Geistes in das ästhetische Gebiet. Denn die Probleme dieses Geistes dürften sich in der Hauptsache wohl um jenes eine gruppieren : wie die Freiheit und Mannigfaltigkeit der Individuen bestehen könne, ohne in Gesetzlosigkeit und Isolierung zu verfallen. Indem Kant die ästhetischen Urteile als eine der Formen erkennt, in denen dieses Problem lebt, indem seine Lösung der ästhetischen Grundfrage ebenso die Spannung zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen in uns, wie ihr Ver- söhnungsverlangen aufs schärfste fühlbar macht, hat er vielleicht mehr als durch den sachlichen Wert dieser Lösung dem erst nach beinahe hundert Jahren bewußt gewordenen Bedürfnis gedient, die ästhetischen Probleme in die letzten Fragen des Lebens zu verflechten, und hat die Überzeugung wachsen lassen, daß gerade in den neuen Schwierigkeiten dieser Verflechtung das Recht liegt, sie auch als Träger neuer Lösungen anzusehen.

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Sechzehnte Vorlesung.

Die prinzipiellen Lebensprobleme der Neuzeit bewegen sich im wesentlichen um den Begriff der Individualität; wie sich ihre Selbständigkeit gegenüber der Macht oder dem Rechte der Natur und der Gesellschaft gewährleisten läßt oder wie sie sich diesen beiden unterzuordnen hat, wird in allen denkbaren Kombinationen und Maßverhältnissen durch- probiert. Einer der umfassendsten Lösungsversuche dieses Problems ist die spezifische Leistung des 18. Jahrhunderts, das auch nach dieser Seite hin in Kant gipfelt; denn sein gesamtes Denken ist von dem Individualitätsbegriffe seines Jahrhunderts getragen ; und der Beweis dafür wird nun zu guter Letzt die Gesamtform, in die die Kantische Philosophie das Leben bringt, als einen der großen Menschheitsgedanken erkennen lassen , deren Auftreten in einer Einzelepoche nur wie das zeitliche Bewußtwerden eines überzeitlichen Besitzes unsres Geistes erscheint.

Das Ideal der Freiheit und Gleichheit, von dem das 18, Jahrhundert entflammt war und das uns heute zwei einander ausschließende Ansprüche zusammenzukitten scheint, drückt auf das zutreffendste die unvermeidliche Reaktion auf die herrschende Gesellschaftsverfassung aus. Es war eine Zeit, in der die individuellen Kräfte im unerträglichsten Gegen- satz gegen ihre sozialen und historischen Bindungen und Formungen empfunden wurden. Als überständig und ver- rottet, als Sklavenfesseln, unter denen man nicht mehr atmen konnte, erschienen die Vorrechte der oberen Stände, wie die despotische Kontrolle von Handel und Wandel; die immer noch mächtigen Reste der Zunftverfassung wie der unduldsame Zwang des Kirchentums; die Fronpflichten der bäuerlichen Bevölkerung wie die politische Bevormundung im Staatsleben und die Einengungen der Stadtverfassungen.

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In der Bedrücktheit durch solche Institutionen, die jedes innere Recht verloren hatten, entstand das Ideal der bloßen Freiheit des Individuums; wenn nur jene Bindungen fielen, die die Kräfte der Persönlichkeit in ihr unnatürliche Bahnen zwangen , so würden alle inneren und äußeren Werte , zu denen die Energien vorhanden, aber politisch, religiös, wirt- schaftlich lahmgelegt waren, sich entfalten und die Gesell- schaft aus der Epoche der historischen Unvernunft in die der natürlichen Vernünftigkeit überführen.

Hierbei aber ging nun eine höchst verhängnisvolle Täuschung vor sich. Jene ständischen, zünftigen, kirchlichen Bindungen hatten unzählige Ungleichheiten zwischen den Menschen geschaffen, deren Ungerechtigkeit aufs schärfste empfunden wurde ; und so schloß man, daß die Beseitigung jener Institutionen, weil mit ihr d i e s e Ungleichmäßigkeiten fallen mußten, alle Ungleichheiten überhaupt aus der Welt schaffen würde. Man verwechselte die bestehenden sinnlosen Unterschiedenheiten mit der Ungleichheit überhaupt und hielt die Freiheit, die die ersteren vernichten sollte, für den Träger der allgemeinen und dauernden Gleichheit. Und dies traf nun mit dem Rationalismus des 18. Jahrhunderts zu- sammen, für den nicht der besondere, in seiner Eigenheit unvergleichliche Mensch der Gegenstand des Interesses war, sondern der allgemeine Mensch, der Mensch überhaupt. Wie die Literatur der Revolutionszeit fortwährend von dem Volke, dem Tyrannen , der Freiheit ganz im allgemeinen spricht, wie die „natürliche Religion" eine Vorsehung überhaupt, eine Gerechtigkeit überhaupt, eine göttliche Erziehung über- haupt hat, wie das „Naturrecht" auf der Fiktion isolierter und gleichartiger Individuen beruht, so ist es allenthalben das Abstraktum Mensch, dem alle Begeisterung gilt, der immer und überall der gleiche ist, weil von allem abgesehen ist, was die Menschen voneinander unterscheidet. Das Grund- motiv ist, daß in jedem Individuum ein Kern enthalten ist, der das Wesentliche an ihm und der zugleich in allen Menschen derselbe ist. Und nun versteht man, daß Freiheit und Gleichheit so unbefangen als einheitliches Ideal emp- funden wurden: wenn der Mensch nur in Freiheit gesetzt würde, so würde sein bloß menschliches Wesen, das die historischen Verbindungen und Vorbildungen überdeckt und entstellt hätten, wieder als sein eigentliches Ich hervor-

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treten, und dieses müßte also, weil es eben den allgemeinen Menschen in uns darstellte, bei allen das gleiche sein.

So hat sich hier ein ganz neuer Begriff der Indivi- dualität — als Wirklichkeit und als Forderung, beides nicht immer in reinlicher Sonderung aufgearbeitet: der all- gemeine Mensch, der doch zugleich Individuum ist. Der Mensch soll schlechthin auf sich stehen, für sich allein ver- antwortlich sein, im schärfsten Gegensatz gegen alle Normen, die den Menschen nur als Glied einer Einung, Element einer Kollektivität, Subjekt einer überindividuellen Allmacht kannten aber dieser Mensch ist seinem Kerne und seinem Rechte nach immer nur einer und derselbe, der Fürst selbst ist, wie Friedrich der Große schreibt, „ein Mensch, wie der geringste seiner Untertanen". Es ist, als ob die Iso- lierung des Menschen gegen den Menschen, die die Freiheits- funktion dieses Individualitätsbegriffs mit sich brachte, in der qualitativen Gleichsetzung der Individuen ihre Aus- gleichung und Erträglichkeit gefunden hätte.

Von dieser Vorstellung der Individualität bildet das Kantische Ich, das als die Einheit unsres Denkens wie seines Objekts auftrat, die philosophische Sublimierung. Es ist, zuerst, der höchste Punkt, zu dem sich die Unabhängig- keit der Person von allem Historischen, von allen Be- stimmungen und Bindungen außerhalb ihrer erheben kann- Indem das Ich alle bewußten Daseinsinhalte formt, kann es nicht selbst wieder von irgend welchen unter ihnen geformt werden. Aus allen seinen Verflechtungen mit der Natur» mit einem Du, mit der Gesellschaft, hat das Ich hier seine absolute Souveränität herausgewonnen, es steht so sehr auf sich selbst, daß sogar seine ganze Welt noch auf ihm stehen kann; das laissez faire, ersichtlich der konsequente ökono- mische Ausdruck jenes Individualismus, ist zur Signatur des Wesentlichsten und Tiefsten in unsrem geistigen Dasein geworden: dieses Ich müssen alle geschichtlichen Mächte schon gewähren lassen, da es überhaupt nichts über sich» ja, nichts neben sich hat, und seinem Begriffe nach keinen andren Weg gehen kann, als den seine eigne W^esens- form ihm vorzeichnet. Nicht weniger gipfelt sich eine zweite Qualität jenes unhistorischen, durch keine individuelle Eigenheit bestimmten Menschen, der doch als das Ent- scheidende innerhalb jedes Individuums lebt, in dem reinen

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Ich auf : oder richtiger: seine Qualitätlosigkeit. Das Funda- mentalbewußtsein, in dem das Ich besteht, bedeutet über- haupt keine bestimmte Vorstellung; da es erst der Träger jeder solchen ist, ist es als Bewußtsein nur ein ganz all- gemeines Gefühl, daß ich überhaupt existiere. Diese Ent- leerung des bloßen Ich von allem individuellen und tatsächlich gegebnen Inhalt ist die geeignete Grundlage für die Gleich- heit aller Ichs, denn nur durch sie läßt sich der „allgemeine Mensch" herstellen; jede bestimmte Qualität würde un- vermeidlich die Allgemeinheit aufheben. Den Vorwurf, daß das atomistische Subjekt des Naturrechts, der Naturreligion, der Menschenrechte nichts Bestimmtes und also überhaupt nichts mehr sei, wandelt nun gerade seine Kantische Steige- rung in Recht und Notwendigkeit: das Allgemein-Mensch- liche enthüllt sich als die wirkende Form, durch die alle Bestimmtheiten zustande kommen. Die Tatsache, daß wir überhaupt denken, ist freilich noch kein einzelner Inhalt des Denkens, aber darum doch keineswegs Nichts. Dieses Ich ist der geniale Ausweg, durch den dem schlechthin Allgemeinen, das sich völlig zu verflüchtigen schien, doch eine Bedeutung, ja eine Notwendigkeit der Existenz zu- kommt, die einzige wirkliche Notwendigkeit, weil ihm gegen- über alles Einzelne und Bestimmte als etwas Zufälliges und von jener Abhängiges erscheint. Wie sich für die Vor- stellung jener Zeit der historische, variable und qualitativ individualisierte Mensch zu dem Menschen überhaupt, zu dem reinen, immer gleichen, wesentlichen Menschen in uns verhält dafür ist es der abstrakte Typus, wie sich der psychologische, subjektive, zufällige Mensch, den Kant als unser empirisches Ich bezeichnet, zu dem reinen Ich in uns verhält eine Analogie, die nicht nur die Tatsächlichkeit, sondern auch den Wert beider Vergleichspaare einschließt. Wie in der damaligen praktisch-sozialen Idealbildung, ist hier erkenntnistheoretisch die Welt auf das Ich gestellt, aber auf das schlechthin allgemeingültige Ich.

Aus diesem Begriff der Individualität verstehen wir nun die eigentümliche Tatsache, daß jener aufgeklärte Libera- lismus, der dem Einzelnen die absolute Bewegungsfreiheit, die uneingeschränkten Persönlichkeitsrechte zusprach, doch so oft intolerant, rechthaberisch, für individuelle Überzeugungen verständnislos war. Denn diese Freiheit hatte die Voraus-

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Setzung, die Freiheit wesentlich gieichgearteter Individuen zu sein, sie durfte, ohne ihr eignes System zu zerstören, nicht zugeben, daß die theoretisch-praktische Anlage der Menschen in ihrem letzten, absoluten Grunde eine ver- schiedene sein könnte. Mit vollkommener Prägnanz drückt dies ein religionsphilosophischer Klassiker dieser Epoche aus: wer mit sich selbst übereinstimme, müsse es auch mit ihm ein Anspruch, der ersichtlich nur bei völliger Gleichheit der inneren Struktur aller Individuen nicht sinnlos ist. Anders formuliert: die objektiv wahre, sachlich notwendige Erkenntnis ist die subjektiv allgemeine, an der Überein- stimmung aller möglichen Subjekte erkennbare; damit aber wird sie zum Produkte dessen, was eben allein allen gemein- sam ist, des Allgemein-Menschlichen in uns, des überhisto- rischen, überindividuellen „Menschen überhaupt", der sich zu allen einzelnen verhält wie der Allgemeinbegriif zu seinen Exemplaren. Wo man überzeugt ist, daß diese letzte In- stanz in uns gesprochen hat, ist die einzige mögliche Wahrheit gewonnen, die Widerspruchslosigkeit des Menschen mit sich selbst, zugleich also die Unmöglichkeit, daß ein andrer widerspreche: da es nur ein Ich gibt, kann es auch nur eine Wahrheit für alle geben. Das reine Ich Kants ist der umfassendste Ausdruck dieses Verhaltens: insoweit seine Form absolut zutreffend wirksam geworden ist was frei- lich nur in unendlicher Annäherung geschehen kann , ist die Wahrheit gewonnen, die die unbedingt allgemeine sein muß. Damit kann das Objekt, in dem alten, realistischen Sinne, fortfallen, da die Wahrheit nicht mehr die Orientierung an diesem, sondern an den für Alle gleichen, inneren Kri- terien fordert. So enthüllt sich der Idealismus, die Her- leitung aller Objektivität aus den Bedingungen der Geistig- keit, als die konsequente Zusammenfassung des Individualitäts- begriffs des 18. Jahrhunderts: wenn die Souveränität des Ich, die dieses lehrte, das Objekt überhaupt zum Produkt des Subjekts macht, so bürgt die prinzipielle Gleichheit des Wesenskernes in allen Subjekten dafür, daß das von diesem legitimierte, weil aus ihm geschaffene Objekt auch wirklich objektiv, d. h. für Alle notwendig und gültig sei.

Dieser Individualismus ist das Korrelat des mechanistisch - verstandesmäßigen Weltbegriffs. Denn dieser hatte es zu- erst axiomatisch festgelegt, daß die Welt für alle Menschen

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eine und dieselbe ist was überall da zweifelhaft ist, wo die variablen Instanzen des Gemüts, der Religiosität, des Willens den letzten Auffassungsgrund entscheiden. Der Idealismus drehte die Ordnung des Gedankens nur um: die Welt ist für alle, d. h. objektiv, dieselbe, weil alle Subjekte als weltauffassende gleich sind. Darum wäre für Kant die Idee , daß ein jeder seine besondere Wahrheit hat , ein Widerspruch und ein Greuel, wäre die Sünde gegen die Ethik der Intellektualität. Denn alle die üntersehieden- heiten der Wesen, die der modernen Welt diese Möglichkeit nahelegen , sind für ihn von dem reinen Ich getragen , in dessen Immergleichheit alle Mannigfaltigkeiten der empiri- schen Welt aufgehn, sobald es sich um die Bildung des Objekts, d. h. um Wahrheit handelt. Die besondere Form, in der das Persönlichkeitsgefühl im 18. Jahrhundert auf- trat, duldete nicht, daß die Verschiedenheit der Personen ihre Produktion der Welt, ihr theoretisches Verhältnis zum Dasein individuell färbte. Denn nach dieser Form, so könnte man sie ausdrücken, sind wir nicht eigentlich Individuali- täten, sondern wir haben nur Individualität: das letzte, entscheidende Sein in uns trägt zwar an seiner erscheinenden Oberfläche genug persönliche Unterschiedenheiten , aber diese reichen nicht in jenes selbst hinunter und deshalb auch nicht in das Sein hinauf, das eben durch jene äußerste synthetische Energie unsres Wesens, unser Ich, zum Ob- jekte gebildet wird. Kant faßt einmal das rechtlich-sitt- liche Verhalten in eine Formel zusammen, die das Ideal der freien, aber gleichberechtigten, weil gleichartigen Individuali- täten unvergleichlich charakterisiert : jeder solle so viel Freiheit haben, wie mit der Freiheit jedes andren verträg- lich ist. In Dingen des Erkennens kann es deshalb keine „Freiheit" geben, auch nicht in dem Sinne, daß die Be- sonderheit der Individualität sich in eine Besonderheit des theoretischen Daseins fortsetze. Denn diese Freiheit würde sich nicht mit der Freiheit aller Andren vertragen, sie würde für Kant, dem Wahrheit nur objektive, d. h. für Alle gültige Wahrheit sein kann, einen Kampf aller gegen Alle bedeuten; der Begriff der objektiven Erkenntnis schließt jeden Versuch des Subjekts aus, die Freiheit Andrer zu ver- gewaltigen, weil er dieses unmittelbar auffordert, den An- spruch der Allgemeingültigkeit zu realisieren, den der

iSimmel, Kant 3. Aufl. 13

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Ursprung dieser Erkenntnis aus dem Überindividuellen in uns mit sich bringt.

Es ist unmittelbarer einleuchtend, wie sehr diese Form des Individualismus auch die Moralphilosophie Kants be- herrscht. Denn deren Grundmotiv: daß die absolute Frei- heit und Selbständigkeit des Willens ein Handeln produziere, das für alle Andren gleichmäßig Gesetz sein könne ist eben nur die philosophische Wendung des Ideals der Frei- heit und Gleichheit, der tiefsinnige Versuch, das mechanische Nebeneinander dieser beiden Forderungen in die organische Entwicklung einer Lebenstendenz überzuführen. Indem hier das normative Individuum hingestellt wird, das seine Freiheit nicht zu individueller Besonderung, sondern grade zu gesetzhafter Vergleichmäßigung mit Allen benutzt; indem Kant sogar unternimmt, dies letztere mit der Frei- heit logisch-notwendig zu verknüpfen hat er das aus der historischeu Situation des 18. Jahrhunderts entsprungene Lebensgefühl formuliert, in dem die Autonomie und Selbst- verantwortlichkeit der Einzelnen ihre Begründung ebenso wie ihre Folge in der Gleichheit ihres Wesenskernes fand; dieser Gleichheit bedurfte es einerseits als einer inneren Wirklichkeit, andrerseits als eines herauszuarbeitenden Ideals, damit die Gedankenkreise des Naturrechts, der Naturreligion, der Politik der Revolution, zum Teil auch die der liberalen Ökonomie, nicht weniger aber, damit der kate- gorische Jmperativ Kants möglich wurde.

An diesem Punkt zeigt nun freilich das ethische Lebens- bild Kants denjenigen Mangel, den erst der moderne, im Wesentlichen dem 19. Jahrhundert angehörige Begriff der Individualität ergänzen sollte. Das autonome Ich, in dem alle theoretischen und praktischen Fäden zusammenlaufen, ist wegen seiner apriorischen Gleichheit mit jedem andren Ich völlig farblos. Es hat zwar eine absolute formale Ein- heit jenseits seiner Einzeläußerungen , aber das , was man die Charakter ologische Einheit der Persönlichkeit nennen kann, findet in diesem Lebenssystem überhaupt keine Berücksichtigung: der besondere Ton und Rhythmus des Wesens, der jede Persönlichkeit zu etwas ganz Un- vertauschbarem macht, die qualitative Unverkennbarkeit gerade all ihres Tuns und Lassens. Indem man diese Besonderheit des Einzelnen nicht nur als Tatsache, sondern

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auch als Bedeutsamkeit und Wert anerkennt, entsteht ein ganz neues Ideal der Individualität, das aber den aus- schlaggebenden Gedankenkreisen des 18. Jahrhunderts noch fern lag und ihnen durchaus widersprochen hätte. In praktischer Hinsicht kennt Kant einerseits nur die gleich- sam punktuelle „Persönlichkeit", die für sich nur dem Gut und Böse zugängig ist, einer ganz generellen und jeweils nur quantitative Unterschiede zeigenden Bestimmung, andrerseits die einzelne Tat, die nur mechanisch mit andren zum „em- pirischen Charakter" zusammengefaßt, ihrem Wesen nach aus der Werteinheit des inneren Lebens ganz gelöst ist, und an der sich der Individualismus der Persönlichkeit wiederholt; ihr einziger Wert liegt in dem Maß von Sittlich- keit, das sie als ganz isolierte darstellt, während ihre Be- deutung als Äußerung dieser bestimmten Persönlichkeit, ihr Sinn innerhalb des Bildes einer qualitativ bestimmten Seele, der auf der moralischen Skala nicht auszudrücken ist, gar nicht in Ansatz kommt; was schließlich nicht viel anders ist, als, auf ökonomischem Gebiet, wenn ein Objekt aus- schließlich auf seinen Geldwert angesehen wird, ohne Inter- esse für seinen spezifischen Inhalt, der ganz jenseits dieses bloß generellen, für alle mannigfaltigsten Qualitäten gleich- mäßig gültigen Maßstabes steht. Wie es für den Deismus nur einen abstrakten Gott, für das Naturrecht nur ein ab- straktes Recht gab, so für Kant nur eine abstrakte Tugend und ein abstraktes Glück, die sich in uns treffen, wie sie ja schließlich auch sein Gott nur äußerlich an uns zu- sammenbringen kann. Nirgends fühlt man die innere Lebens- einheit des Ich, aus der das eine wie das andre quillt, beides sind rein für sich bestehende Welten, deren zu- fälligen Schnittpunkt der Einzelne bildet. Und dies ist begreiflich, weil ihm die Individualität, die an die Stelle jenes nur äußerlich einzigen Treffpunktes eine produktive Besonder- heit von innen her setzt, außer Blick weite steht. Das Eigene im Menschen tritt eben dann erst hervor, wenn er seine eigene Tugend und sein eigenes Glück besitzt; erst dann wird sein Unverwechselbares als das Gemeinsame dieser einzelnen Einzigkeiten ihm bewußt werden. Für Kant fällt zwischen dem formalen Ich, dem die allgemeine „Menschheit in jedem Menschen" entspricht, und der einzelnen Tat die differenzierte, durch ihre Eigenschaften besonderte Persön-

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lichkeit völlig aus. Ihm kommt noch nicht in den Sinn, daß unsere Taten und Eigenschaften eine Bedeutung gerade darin haben könnten, daß sie ihre Träger von andren unter- schieden, daß dies eine andre, und gleichfalls tiefe Selbst- verantwortlichkeit einschlösse, daß diese herrliche Mannig- faltigkeit des seelischen Daseins einen Wert und Reichtum des Lebens jenseits der quantitativ graduierten Sittlichkeit begründe. Aber zwischen jenen Menschen, in denen nur die Menschheit, der allgemeine Mensch, einen "Wert hatte, konnte es höchstens Unterschiede des Willens geben, während die angedeutete qualitative Verschiedenheit vielmehr das naturgegebene Sein betrifft und dessen Differenzen nicht so tief in die letzten Werte der Personen hinabreichen durften, ohne die wesentliche und gerechte Gleichheit Aller zu zer- stören. Man kann von den Menschen allenfalls ein gleiches Tun, aber nicht ein gleiches Sein verlangen; deshalb mußte das durch den Willen nicht oder nur indirekt beeinflußbare Sein aus dem Wertinventar ausscheiden, indem es höchstens als die in sich unterschiedslose Basis alles Menschlichen überhaupt galt. Allenthalben neigen die Gläubigen der wesentlich gleichen Menschennatur zum Moralismus, denn an jener Gleichheit des Seins haben sie die geeignete Voraussetzung für allgemeingültige und deshalb radikale Imperative. Übrigens will es mir auch scheinen, als habe Kant durch die Verlegung des menschlichen Wertes aus dem Sein heraus in das Wollen und Tun, also in jene gleich- sam zentrifugalen Richtungen, in denen die Seele nicht mehr rein bei sich selbst ist als habe er sich damit ein Gegengewicht gegen die ausschließliche Zentrierung der Vorstellungswelt im Ich geschaffen.

Der Begriff der Individualität, den die geschichtliche Situation des 18. Jahrhunderts hervorgerufen hat, offenbart sich so als das Grundmotiv, das sich einerseits in die theo- retische , andrerseits in die praktische Philosophie Kants verzweigt. Aber diese Deutung des menschlichen Daseins, die von der Idee von Freiheit und Gleichheit getragen ist, ist nicht in dem Sinne historisch, daß die Veränderung der Umstände sie einfach antiquierte. Ich glaube vielmehr, daß sie, ähnlich gewissen Gedanken des Griechentums und des Christentums, als dauerndes Element der Lebensdeutung und der Idealbildung die Zeit ihrer Alleinherrschaft überleben

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wird. Die neue Vorstellung vom Sinn der Individualität, die, von Goethe, von Schleiermacher, von der Romantik her, im 19. Jahrhundert aufgekommen ist, hat deshalb jene nicht schlechthin verdrängt, sondern sich als ergänzende oder konkurrierende neben sie gestellt. Die entscheidende Diffe- renz liegt in dem Fortfall des Gleichheitsideales. Nachdem die prinzipielle Lösung des Individuums von den kollektiven, dogmatischen, bloß traditionellen Bindungen vollbracht war, geht sie nun dahin weiter, daß die so verselbständigten Individuen sieh auch voneinander unterscheiden wollen, steigt auf zu der sittlichen Forderung, daß jeder gleichsam ein Idealbild seiner selbst, das keinem andren gleich ist, verwirkliche. Freilich hat sich hiermit auch die Freiheit gelegentlich modifiziert. Denn dieser neue Indi- vidualismus ist der Ausdruck der Arbeitsteilung, wie jener erste der der freien Konkurrenz ist. Je differenzierter und einzigartiger die Individuen sind, desto enger sind sie doch wiederum aufeinander angewiesen. Damit wird eine Organi- sation der mannigfaltigen Einseitigkeiten nahegelegt, die ein Ganzes , dem Einzelnen erst seinen Platz anweisend , zum Herrn über ihn macht. Daher hat dieser Individualismus leicht anti-liberale Neigungen, und so ist er in allen seinen spezifischen Zügen das Gegenbild der Kantischen Auffassung ; so aber, daß innerhalb seiner die ganz differenten Lebensbilder sich noch immer als Ergänzung des Kantischen darstellen. So bei Nietzsche, in dem der Individualismus des 19. Jahr- hunderts am radikalsten und mit der entschiedensten Wen- dung gegen die praktisch-ethische Wertungsweise Kants auf- tritt. Nicht in Taten und Wirkungen offenbart sich für ihn die höhere Natur eines Menschen, sondern gerade „in der Unmitteilbarkeit, im Anderssein, in der Rangdistanz". Aber bei ihm führt nun diese Individualisierung durchaus nicht zu dem Ideal einer Kooperation; er lehnt jede reale und innerliche Abhängigkeit von der Gesellschaft ebenso wie die ideale ab, die für Kant aus der Gleichheit der Menschen- natur hervorgegangen war. Dennoch ist damit die Ent- wicklung der individuellen Freiheit, die in Kant einen ihrer Höhepunkte erreicht hat, nur eine Station weitergeführt. Kant hat durch den Begriff des überempirischen Ich eine der großen Lösungen der Persönlichkeit vollbracht, die das Lebensproblem der Neuzeit bilden : soweit jener Begriff gilt,

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ist der Mensch von der Befangenheit in der bloßen Natur erlöst; indem er dieser den empirischen Menschen preisgibt, gewinnt er für das Wesentliche und Absolute unsres Wesens die volle Unabhängigkeit von allem, womit die ursächlichen Verknüpfungen der Dinge uns sonst zu vergewaltigen schienen. Dadurch indes, daß der Sinn und Inhalt dieser Freiheit mit der Pflichterfüllung innerhalb der Gesellschaft identisch gesetzt wurde, verblieb das Ich in der Fesselung durch die Gesellschaft eine Konsequenz, die bei Kant ideell und zum Teil naiv-unbewußt bleibend, dann vom Historismus und Sozialismus aufgenommen wurde und hier nun das Individuum rettungslos in die materielle und sitt- liche Abhängigkeit von den sozialen Mächten verstrickte. Demgegenüber hat nun Nietzsche die zweite Erlösung ver- sucht. Ihm erscheint nicht das gesellschaftliche Dasein als der Sinn des individuellen , sondern umgekehrt , die ganze geschichtliche Gesellschaft nur als Mittel, die höchsten Werte der Persönlichkeit zu erzeugen. Statt der Zusammenhänge und des Füreinander innerhalb der Menschheit ist ihm die Souveränität ihrer höchsten Exemplare der definitive Sinn des Lebens unsrer Gattung. Mag dieser Versuch gelungen sein oder nicht, es ist damit, der Absicht nach, das Indi- viduum für seine innerlichsten Werte von der zweiten großen Potenz, gegen die seine SelbsterhaltuDg sich wehrt, von der Gesellschaft, losgebunden, wie es durch Kant von der andren, der Natur, geschehen war. So enthüllt sich diejenige Lehre, die als der schärfste Gegensatz der Kantischen auftrat, schließlich als die Fortsetzung eben derselben geistes- geschichtlichen Lebenstendenz, deren erste Aufgabe in Kant ihr prinzipielles Bewußtsein gewonnen hatte.

Ich habe schon erwähnt, daß die Form, die der Indivi- dualismus im 18. Jahrhundert und mit Kant gefunden hat, durch die neue des 19. Jahrhunderts man könnte beide als den Individualismus der Einzelheit und den der Einzig- keit, oder als den quantitativen und den qualitativen be- zeichnen — keineswegs einfach abgelöst ist, daß beide viel- mehr nun nebeneinander weiterleben. Jede von ihnen zeichnet ein besonderes Ideal vor, wie es besonderen Seelen und be- sonderen Problemen entspricht, und es scheint fast, als sollte das neue Jahrhundert in einer Synthese beider seine tiefste Lebensaufgabe finden. Wenn ein solcher Vorblick auf die

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Zukunft Sache der persönlichen Einstellung des geistigen Auges ist, so kann die gesamte Deutung des Kantischen Werks, die ich hier vorlegte, nur eine wenig größere Er- hobenheit über die bloß individuelle Art des Sehens be- anspruchen — weder diese noch eine der andren, die von der jetzt gegebenen nicht verdrängt werden sollen. Denn die Interpretationen Kants stehen nebeneinander, jede den An- sprüchen besonderer Geistesarten genügend und mit ihrem Kampfe nicht dem definitiven Siege der einen zustrebend, sondern das lebendige Wechselspiel differenzierter Weisen des Auffassens und Wertens verkündend, das mit dem Reichtum des seelischen Seins solidarisch verbunden ist und darum seinen Frieden nicht nur nicht finden kann, sondern auch nicht finden soll. Kant gehört zu den ganz großen Geistern, deren Bild sich mit den Wandlungen der Geschichte selbst wandelt, weil sie der Entwicklung dauernd eingefügt bleiben und darum sozusagen immer verschiedne Rollen spielen. Und mehr als aus objektiver Eindeutigkeit erhebt sich ihre weltgeschichtliche Wirkung aus solcher Variabilität, aus der Vielheit, der Weite , der Heftigkeit der um sie gespannten Gegensätze. Denn in dem Maße ihrer Größe nähern sie sich der Natur selbst, die uns auch nicht eindeutig sagt, wie sie verstanden sein will, sondern jeden Geist berechtigt und auffordert, sein eignes Sein und Können an ihrer Deu- tung zu bewähren.

Von demselben Verfasser erschienen im gleichen Verlage:

Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus. Preis 4 M. 20 Pf. geheftet, 5 M. 20 Pf. gebunden.

Die Probleme der Geschichtsphilosophie. Eine

erkenntnistheoretische Studie. Dritte, erweiterte Auf- lage. Preis 3 M. 20 Pf. geheftet.

Philosophie des Geldes, zweite, vermehrte Auflage. Preis 13 M. geheftet, 15 M. 40 Pf. gebunden.

oOZlOlO^ie. Untersuchungen über die Formen der Ver- gesellschaftung. Preis 12 M. geheftet, 15 M. gebunden in Halbfranz.

Über soziale Differenzierung, soziologische und

psychologische Untersuchungen. Vierte Ausgabe. Preis 3 M. 60 Pf.

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