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AUTHOR:

DREWS, ARTHUR

TITLE:

KANTS NATURPHILOSOPHIE

PLA CE :

BERLIN

DA TE :

1894

COTXJMBTA UNIVERSrrY i lfU<ARIES PRESERVATION DEPARTMENT

BlBLl()CRAI>mCMICROi-ÜRM TARGET

Master Negative #

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KANTS

NATURPHILOSOPHIE

ALS

GRUNDLAGE SEINES SYSTEMS.

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ARTIini DüEAVS

DR. PHIL. '

BERLIN.

VERLAG VON MITSCHER & RÖSTELL.

1894.

Vorwort.

tu

Die vorliegende Arbeit über die kantische Naturphilosophie war ursprünglich in Aussicht genommen als erstes Kapitel einer Darstellung der deutschen Naturphilosophie seit Kant. Der Grund, warum sie zu einem selbständigen Werke angeschwollen ist, liegt darin, weil ich bei genauerem Studium des Philosophen fand, man habe das naturphilosophische Element in den Schriften Kants bisher bei weitem unterschätzt und insbesondere seinen Bemühungen um eine dynamische Theorie der Materie lange nicht diejenige Bedeutung zugeschrieben, die ihnen sowohl in Hinsicht auf die Richtung, welche die kantische Gedankenentwickelung genommen hat, wie für die eigentümliche Ausbildung dieser Gedanken im Einzelnen thatsächlich beizumessen ist. Man hat den Philosophen nach seiner theoretischen Seite fast lediglich als den Begründer der modernen Erkenntnis- theorie gewürdigt und dabei übersehen, wie seine ganze Erkenntnis- theorie aus naturphilosophischen Erwägungen hervorgegangen und oft in den wichtigsten Punkten von ihnen bestimmt worden ist. Die vorliegende Arbeit schöpft nun bei der Hochflut der philosophi- schen Litteratur, die sich mit Kant beschäftigt, ihre Daseinsberech- tigung vor allem daraus, dafs sie die gesamte theoretische Philosophie Kants unter dem Gesichtspunkte der Naturphilosophie betrachtet. Ihr Grundgedanke und Ergebnis ist, dafs Kant nicht, wie man es gewöhnlich darzustellen pflegt, Erkenntnis- theoretiker gewesen, der sich nebenbei auch mit Naturphilosophie beschäftigt hat,*) sondern vielmehr wesentlich Naturphilosoph, der sich mit Erkenntnis- theorie nur deshalb befafst hat, um insbesondere

*) Dieser Gesichtspunkt der Beurteilung herrscht auch z. B. vor bei J. Schal 1er in seiner (beschichte d. Naturphilosophie von Baco v. Verulam bis auf unsere Zeit (1846j II.

IV

Vorwort.

seiner Naturphilosophie eine sichere wissenschaft- liche Unterlage zu verschaffen. In dieser Bestimmtheit ist das Verhältnis Kants zur Naturphilosophie auch von Dieterich nicht ausgesprochen worden, obwohl der letztere in seiner Schrift über ,,Kant und Newton" (1S7G) von allen noch am Entschiedensten den Einflufs der naturphilosophischen Ideen auf die Entwickelung des transcendentalen Idealismus betont hat. Auch hat Dieterich diesen Einflufs nur bis zur Abfassung der Vernunftkritik verfolgt und viel zu viel Nachdruck auf eine lesbare und allgemein ver- ständliche Darstellung der kantischen Gedankenentwickelung gelegt, um den Spuren der Naturphilosophie bei Kant im Einzelnen weiter nachzugehen. Angesichts der grolsen Verwirrung, die noch immer über das eigentliche Wesen und den bestimmenden Grundgedanken der kantischen Philosophie unter ihren Beurteilern herrscht, dürfte die scharfe Hervorkehrung des naturphilosopliischen Gesichtspunktes nicht ohne Nutzen sein, wenngleich eine viillige Klarstellung aller einzelnen Fragen, an welcher die Philosophie das ^^cHste Interesse hat, wohl erst von der Vollendung des trefflichen Kommentars von Vaihinger zu erwarten ist. Erweist sich doch jener Gesichtspunkt, wie kein anderer, geeignet, auch Anfängern eine be(|ueme Ein- führung in die kantische Philosophie zu gewähren.

Dafs mit dieser Betonung des naturphiloso])hi3chen Elementes bei Kant der Einiluss, den Etliik und Religion auf seine Ent- wickelung ausgeübt haben, nicht lieral)gesetzt oder geleugnet werden soll, ist selbstverständlich. Hier handelt es sich lediglich um die theoretische Philosophie Kants, und da erscheint es im Interesse der Klarheit und Folgerichtigkeit geboten, die Spur der kantischon Gedankenentwickelung möglichst ohne Rücksicht auf die praktischen Interessen des Philosophen zu verfolgen, um zu sehen, wie weit man mit der Naturphilosophie allein gelangt, und den Faden der Ariadne in dem Labyrinthe der kantischen Ideenwelt nicht aus den Händen zu verlieren. Ich selbst bin weit entfernt, die Bedeutung, die z. B. ein Bousseau für den Philosophen gehabt hat, zu unterschätzen; und wenn ich auch den Nachdruck, der zumal von tlieologischer Seite auf den Einflufs der praktischen Ideen auf Kant gelegt wird, für übertrieben halte, so ist es mir doch nicht unwahrscheinlich, dafs der letzte und tiefste Grund auch seiner naturphilosophischen Bestrebungen ein ethischer und religiciser wtir. AVas Kant im Innersten seiner Seele vielleicht vorgeschwebt hat, das war die L ber- brückung jener Kluft, wie sie der Deismus der Aufklärungsjjeriode im Anschlufs an die spiritualistische Philosophie von Leibniz und Wolff zwischen Notwendigkeit und Freiheit, Sinnlichem und Uber-

Vorwort.

sinnlichem, zwischen der Welt und Gott aufgerissen hatte. Wenn sich die beiden, wie dies die Anschauungsweise des Spiritualismus war, wie Materielles und Immaterielles, Stoff und Geist zu einander verhielten, dann war eine Gemeinschaft zwischen Gott und Welt, ein thätiges Einwohnen des lebendigen Gottes im Menschen, die Sehnsucht und das Postulat des religiösen Bewufstseins, eine Illusion. Es ist ein Beweis für den ahnungsvollen Tiefblick Kants, dafs er, als das sicherste Mittel, jenen Gegensatz zu überwinden, die Be- gründung einer dynamischen Theorie der Materie, die allein imstande ist. den religionsfeindlichen Begrifl' des toten Stoffes zu widerlegen, erkannt und damit eine monistische Spekulation auf naturwissen- schaftlicher Grundlage angebahnt hat.

Eine Darstellung der theoretischen Philosophie Kants von ihren ersten Anfängen bis zu ihrem schliefslichen Ausgang kann natür- licher Weise nicht überall Neues vorbringen. Sie mufs sich in wesentlichen Punkten auf bewährte alte Ansichten stützen und diese wiederholen, um keine Lücke in der Entwickelung ofi'en zu lassen, ich werde zufrieden sein, wenn man findet, dafs unter der Beleuch- tung meines Grundgedankens sich manches in einem neuen Lichte darstellt und dunkle Stellen bei Kant, welche dem Verständnis bisher grofse Schwierigkeiten entgegensetzten, vielfach in über- raschender Weise aufgehellt werden. Insbesondere glaube ich, dafs erst so Kants nachgelassenes Werk, das viel umstrittene, „Vom Übergänge von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik" seinem innersten AVesen und seiner Bedeutung nach sich dem Verständnis mehr erschliefsen wird, als dies bisher hat der Fall sein können. Für die Darstellung und Beurteilung desselben ist es ja freilich höchst mifslich, dafs durch eine unglückliche Verkettung von Umständen bisher erst zwei Drittel dieses Werkes das Licht der (Öffentlichkeit erblickt haben und dem allgemeinen Leserkreise zugänglich geworden sind. AVenn ich es trotzdem gewagt habe, mich an dieser Stelle eingehender mit ihm zu beschäftigen, so ist es, weil ich aus der ganzen Beschaffen- heit des Werkes selbst, dem vorliegenden Inhaltsverzeichnis und aus mündlichen Aufserungen seines jetzigen Besitzers, des Pastors Albrecht Krause in Hamburg, die Überzeugung gewonnen habe, dafs für die Kenntnis des wesenthchen Inhalts jenes Werkes das fehlende Drittel nicht von grofsem Belang ist und jedenfalls das Gesamturteil über dasselbe in keiner Weise modifizieren kann. Mag man nun mit meinem eigenen Urteil über den „Übergang- ein- verstanden sein oder nicht, meine eingehende Darstellung des letzteren, wie eine solche im Zusammenhange mit den übrigen natur-

VI

Vorwort.

philosophischen Schriften Kants bis heute noch nirgends zu finden ist, wird, denke ich, manchem nicht unwillkommen sein, der keine Lust hat, sich durch dieses Monstrum voll ödester Wiederholungen und trockenster Scholastik hindurchzuarbeiten. Man wird mir hoffent- lich auch keinen Vorwurf daraus machen, dafs ich Kants „Meta- physische Anfangsgründe der Naturwissenschaft" mit griifster Aus- führlichkeit erörtert habe. Diese Schrift ist von der Kritik bisher so stiefmütterlich behandelt und von Stadler in seiner übrigens ausgezeichneten Schrift über „Kants Theorie der Materie" (ISS;)) so ausschliefslich blofs aus transcendental-idealistischem Gesichts- punkte interpretiert worden, dafs ich darum eine neue Darstellung versuchen und die Berechtigung ihrer Leliren noch einmal einer gründlichen Prüfung glaubte unterziehen zu müssen.

Trotzdem würde das vorliegende Werk nicht so umfänglich geworden sein, wenn es nicht aufserdem noch einen besonderen Zweck verfolgte, den man neben dem rein darstellenden und kritischen meinetwegen als dogmatischen bezeichnen mag. Alle an einem Philosophen geübte Kritik hat nur dann einen bleibenden und philosophischen Wert, wenn sie sich niclit darauf beschränkt, das Falsche an jenem blofs hervorzuheben, sondern aus den gegebenen Voraussetzungen zugleich eine richtigere Ansicht zu entwickeln sucht, wenn sie mit andern Worten immanente und positive Kritik ist. Aus diesem Grunde habe ich auch der kantischen Naturphil()SO|)hie eine positive Seite abzugewinnen versucht und diese an den be- treffenden Stellen nach Möglichkeit herausgearbeitet. Die Natur- philosoi)hie hat keine wichtigere Frage zu beantworten, als die nach dem Wesen der Materie und dem Vorhandensein einer objektiven Z w e c k v e r k n ü p f u n g , womit sie der mechanisch-kausalen Naturwissenschaft gegenübertritt, die sich selbst schon als die alleinige Löserin des Rätsels der Natur betrachtet und eine von ihr unterschiedene Naturphilosophie niclit aner- kennt. Es giebt aber keinen Philosophen, der eben jene Fragen eingehender erwogen und eine Antwort auf sie gegeben hätte, die eine gröfsere Bedeutung für die ganze nachfolgende Entwickelung gehabt hat, als Kant. Kant ist der Erste, der eine wahrhaft philo- sophische, d.h. dynamische, Ansicht über die Materie aufgestellt hat, und er ist zugleich derjenige unter allen Philosophen, mit dessen Auffassung des Verhältnisses des Mechanismus zur Teleologie der richtige Gesichtspunkt zur Lösung dieser Frage ein für alle Mal vorgezeichnet ist. An ihn wird daher auch eine erneute Erörterung jener Probleme am Passendsten anzuknüj)fen haben.

In diesem Sinne scheint mir der Ruf: „Zurück zu Kant!", der

Vorwort.

VII

gegenwärtig bereits anfängt, in Verruf zu kommen, eine neue Be- deutung zu gewinnen. Hundert Jahre sind nun bald vertiossen, seit der jugendliche Sehe Hing durch seine „Ideen zu einer Philo- sophie der Natur" (ITüT) das naturphilosophische Feuer in Deutsch- land zuerst entzündete. Wir können uns nicht rühmen, in dieser Hinsicht besonders viel weiter gekommen zu sein, nachdem sich das von jenem aufgerichtete Gebäude als ein Luftschlofs ausgewiesen hat. Zwar sind der Natur inzwischen selbst zahllose ungeahnte Antworten von der höchsten Bedeutsamkeit in mühsamer Forscher- arbeit abgerungen worden, das Material der Naturerkenntnis ist nachgerade beinahe ins Unermefsliche angewachsen ; allein es fehlt der geniale Blick, um in dieser Unzahl von Einzelerkenntnisseu die einheitlichen Beziehungen herauszufinden, es fehlt an der ordnenden Hand, dem kühnen Wagemut, um auf dem festen Boden der Natur- wissenschaft den Tempel einer Philosophie der Natur zu erbauen. Und doch giebt es kein Werk, das dringlicher wäre, und keine Auf- gabe von gröfserer Bedeutsamkeit, wofern nicht der einheitliche Überblick über das Einzelwissen völlig verloren gehen und die Naturwissenschaft selbst an ihrer Seele ernstlich Schaden nehmen soll. Mehren sich doch schon jetzt aus den Kreisen der Natur- forscher selbst die Klagen über den einseitigen Spezialismus, der in ihrer Wissenschaft naturgemäfs immer mehr überhand nimmt und bei aller seiner Notwendigkeit und Fruchtbarkeit im Ein- zelnen dennoch den Blick für das grofse Ganze trübt, die Be- ziehungen zwischen den einzelnen Gebieten lockert und die Wissen- schaft einem Zustande der völligen Zusammenhangslosigkeit ent- gegentreibt.

Dafs der Materialismus unfähig ist, diesem Zustand ein Ende zu machen, darüber dürfte unter denkenden Naturforschern heute kaum noch ein Zweifel bestehen. Der Materialismus ist, historisch betrachtet, nur die notwendige Reaktion der empirischen Wissenschaften gegen den absoluten Idealismus und reaktionären Theismus einer verstiegenen Spekulation und hat als solche seine welthistorische Mission erfüllt. Es war nur natürlich, wenn der Bankerott desselben, die Einsicht in seine Unhaltbarkeit und die Unbefriedigtheit über seine einseitige Art, die Dinge zu betrachten, den Blick zunächst wieder auf Kant zurückwendete, von welchem jene Spekulation selbst ausgegangen \var. Es war auch entschuldbar, dafs man bei diesem Zurückgreifen auf Kant Gedanken in dessen Philosophie hineintrug, die eigentlich dem Geistesniveau einer ganz anderen Zeit angehörten, und in Kant wesentlich den Erkenntnistheoretiker des transcendentalen Idealismus sah hatte sich doch, wie Pauls en dies in seinem „Versuch

VIII

Vorwort.

einer Entwickelungsgeschichte der kantischen Philosophie-' (1875) klar ausgeführt hat, bereits in Kants eigenem Bewiifstsein unter dem Einflufs seiner Zeitgenossen das Bild seiner Lehensarbeit so sehr verschoben, dafs er sich schliefslich selbst über seine ursprüng- lichen Ziele täuschte und statt, wie anfangs auf den Apriorismus, den Nachdruck später auf den transcendentalen Idealismus legte. Diese Kantbegeisterung des letzten Menschenalters hat in historischer Hinsicht wenigstens dazu gedient, die späteren Wandlungen und Hineintragungen in die kantische Philosophie als solche zu erkennen und den ursprünglichen Kant mit allen seinen Vorzügen und Fehlern wiederum rein herauszuschälen ; in philosophischer Beziehung aber hat sie uns gelehrt, den transcendentalen Idealismus des Erkenntnis- theoretikers Kants nicht als Unterlage einer Weltanschauung für das „Zeitalter der Naturwissenschaft-' ansehen zu können.

Unter diesen Umständen liegt es nahe, von dem Erkenntnis- theoretiker überhaupt einmal ganz zu abstrahieren, wenn es sich um die Gewinnung einer positiven ])hilosophischen Grundlage handelt, und wenn dabei denn schon an Kant, als den Vater der modernen Philosopliie, angeknüpft werden soll, auf Kant, den Natu rphilosop lien oder Meta physiker zurückzugreifen. Wir liaben lange genug auf den Ruf: ,.Zurück zu Kant!-' gehört: man hat uns dabei immer nur den transcendentalen Idealismus, d. h. die Verzichtleistung auf alles metaphysische Erkennen, als der AWusheit letzten Schlufs angepriesen. Man hat sogar den Nachweis zu liefern versucht, dafs nur auf diesem Boden auch eine gesunde Naturphilosophie gedeihen könne. Aber alle diese Versuche sind bis jetzt ohne Erfolg geblieben. Hervorragende Naturforscher, wie Helmlioltz und Dubois- Reymond, ha})en sich zu einer der kantischen ähnlichen Theorie bekannt, aber sie haben damit der Naturphilosophie nichts hinzu- gefügt als nur den Schaden, dafs sie das Vorurteil gegen die Mög- lichkeit einer wirklichen Naturphilosophie in weiteren Kreisen be- festigt haben. Man erinnere sich jetzt bei dem Huf: „Zurück zu Kant!" auch einmal, wie dieser zeitlebens selbst nach einem halt- baren Fundament für die Naturwissenschaft gesucht und auf der Basis seiner erkenntnistheoretischen Ideen eine dynamische An- sicht d e r M a t e r i e entwickelt hat ! Und noch Eins : man gestehe doch endlich offen ein, womit man nun schon solange das Urteil über Kant zumal in den Kreisen der Laien verwirrt hat, dafs dieser nichts weniger im Sinne hatte, als die Unmöglichkeit einer meta- physischen Weltanschauung zu erweisen, dafs er nur die Unmöglich- keit einer apriorischen, d. h. einer apodiktisch gewissen, Metaphysik beweisen wollte und bewiesen hat dann wird damit das schwerste

/

Vorwort.

\

IX

Bedenken beseitigt sein, das berufene Forscher bisher zumeist davon abgehalten hat, an die Ausführung einer wahrhaft modernen, einer wissenscliaftlichen Naturphilosophie Hand an zu legen. Es ist wahr, so hat Kant selbst über den Dynamismus, das Fundament einer derartigen Naturphilosophie, geurteilt, „der Grund dieses Gedankens ist metaphysisch und also auch nicht nach dem Geschmacke der jetzigen Naturlehrer; allein es ist zugleich augenscheinlich, dafs die allerersten (Quellen von den Wirkungen d e r N a t u r ein Vorwurf der Metai)hysik sein müssen.-'

Berlin, im Februar 1894.

Dr. Arthur Drews.

:l!

Inhalt.

A. Kant als Naturforscher

Der Streit um die prästabilierte Harmonie; Martin Knutzen 1. Kant und Newton 2. Die Scirätzung- der lebendip^en Kräfte 4. Die zwei Arten der Bewegung 5. Der Unterschied zwischen mathematisclier und physikalischer Betrachtunpf 7. Der Mantrel an einer Methode in der bisherif^en Naturbetrachtunof 9. Der Raum kein Hindernis für die Annahme des influxus physicus 11. Die Idee des Dynamismus 12. Die NaturjTceschichte und Theorie des Himmels 14. Die mechanische Welterklärun^ und die Grottesidee K). Die Nebularhypothese K. An- ziehunofs- und Zurückstofsunpfskraft als Prinzipien der mechanischen Welterkliirun^ 22. Die Unendlichkeit der Sclulpfun": 23. Die Ver- gänglichkeit des Weltalls 2G. Das Reich des Geistes 2S. Die Ent- stehung der Erde .'U. Die Erdbeben 'M. Die Zukunft der Erde 34. Die physische (.Teogra])hie 39. Das Wesen der Wärme 40 Die Theorie der W^inde 41. Der entwickelungsgeschichtliche Charakter der kanti- schen Naturwissenschaft 42. Die Menschenrassen 44. Die Notwendig- keit einer teleologischen Erklärungsart neben der mechanischen 48. Übergang zur Naturphilosophie T)!).

Seite 1

B. Kant als Naturphilosoph

I, Die vorkritisclie Naturphilosophie

Der Rationalismus 1)2. Die Beziehungen der Habilitationsschrift Kants zur Naturphilosophie 53. Das Geltungsgebiet des Satzes vom zureichenden Grunde 51. Die Erhaltung der Kraft 55. Das Prinzip der Folge .»('». Das Prinzip des gleichzeitigen Daseins 57. Die Ver- bindung von Mathematik und Metaphysik 59. Die physische Monade CO. Der Unterschied der kantischen von der leibnizschen Auffafsung des Raumes Gl. Das leibnizsche Vorurteil gegen die Anziehungskraft und die Notwendigkeit der letzteren zur Erklärung des Körpers 62. Volumen, Trägheitskraft, Masse. Elastizität (14. Der leere Raum 65. Bewegung und Ruhe 66. Die Trägheitskraft 67. Das Gesetz der Kontinuität Qi<. Das bisherige Verhältnis der Metaphysik zur Mathe- matik 69. Das unendlich Kleine 7(1. Die negative Grösse 7J. Logische und reale Opposition 71 . Wirkliche und mögliche Entgegensetzung 74. Das Gesetz der Erhaltung der Kraft 74. Der Unterschied des Real-

52

52

XII

Inhalt.

grundes vom Erkenntnisfjrunde 7t». Die Natiiri)liiloso})hie als Ver- anlassung zur Entdeckung dieses rnterschiedes 78. Der einzig mögliche Beweis vom Dasein Gottes 80. Die Unhaltbarkeit der Erfahrungs- beweise für das Dasein Gottes 80. Die Einheit in der Welt 84. Das Wesen Gottes ^^), Der Unterschied zwischen der leibnizschen und kantischen GottesautVaCsung 86. Die Physikotheologie SS. Die Einheit von Teleologie und Mechanismus 90. Die Einschränkung der Er- klärunorsofründe 90. Die Gewifsheit der Gotteserkenntnir. und die Metaphysik 91. Die Notwendigkeit einer Erneuerung derMeta])hysik 93. Der Unterschied der matliematischen und metaphysischen lilethode 94. Die echte ]ilethode der Metai)hysik [)7. Kant und Swedenborg 99. Die Erfahrung als einzige Quelle der Erkenntnis lO'i. Apriorische und aposteriorische Erkenntnisart J(i4. Die Metaj)hysik als Erkennt- nislehre 10;j. Das lüiumprobleni lOG. Der absolute Kaum 109. Die Idee des Unendlichen und die Naturphilosojjhie Kants 1J2. Kaum und Zeit als Eormen der Anschauung 11;'). Keine und angewandte Mathematik 115. Die Sinnlichkeit bei Leibniz und Kant 117. Sinn- liche und Verstandeserkenntnis 119. Das metaphysische Gesetz der Stetigkeit l'Jl. Die neue Metaphysik 12i. Die subjektiv-formalen Regeln des Verstandes 124. Die Möglichkeit der Übereinstimmung von Erfahrung und Denken; naiver Realismus und Skeptizisnms 125. Kant und Hume 127. Die Verstandesformen als apriorische Bedingungen der Erfahrung 128. Der Phänomenalismus Kants und Humes 121'.

IIo Die kritische Naturphilosophie

Seite

i;ii

1. Die Grundlegung der Naturphilosophie 131

a) D ie reine N aturw issensch aft

Philoso})hie und Einzelwissenschaft 131. Die Übereinstimmung von Erfahrung und Vernunft 131. Analytisches und synthetisches Urteil 132. Die Fragestellung der V^ernunftkritik 133. Die beiden Möglichkeiten der Übereinstimmung von Erfahrung und V^ernunft 134. Die Natur als Erscheinung und Produkt des Verstandes 134. All- gemeine und besondere Naturgesetze 137. Die reine Naturwissen- schaft 138. Die „physiologischen Grundsätze" des reinen Verstandes 14(». Das Prinzip der Axiome der Anschauung 140. Bedeutung desselben für die Mathematik 141. Die^Wissenschaft der Zeit 142. Das Prinzip der Antizipationen der Wahrnehmung 144. Empfindung und Realität 146. Widerlegun«- des Erfahrungsbeweises für den leeren Raum 148 Die Erscheinungen als kontinuierliche (irröfsen 150. Mathematische und dynamische Grundsätze 150. Die Analogieen der Erfahrung 1.50. Der Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz 141. Substanz und Materie 154. Der Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetze der Kausalität 15G. Subjektive und objektive Vorstellung der Erfahrung 158. Widerlegung des kantischen Prinzij)S der immanenten Kausalität J59. Das Gesetz der Kontinuität aller V^eränderung 162. Das Kausal- gesetz und die Empfindung 163. Die transcendente Kausalität als das wahre Prinzip für die Objektivität unserer W)rstellungsverknü})fung 165. Der Grundsatz des Zugleichseins nach dem Gesetz der Wechsel- wirkung 169. Die Postulate des empirischen Denkens 171. Die Empfindung als Prinzip für die Realität unserer Vorstellungen 172.

131

Inhalt.

XTII

Das Ding an sich als das wahre Prinzip für die Realität derselben 175. Die Unmittelbarkeit der Materie im Bewusstsein 176. Die empirische Realität 178. Die Widerlegung des Idealisnms 180. Seelenlehre und Kiirperlehre 182. Die Gesetze des hiatus. saltus, casus und fatum 1^3. Gesamtergebnis der reinen Naturwissenschaft 184.

h) Die t ran Seen deuten Pri nzipi en der Nat ur])h i 1 o s ophi e .

«) Die kosmologischen 1 deen

Die frühere und die neue Stellung Kants zum Unendlichkeits- problem 185. Die transcendentale Dialektik 1S7. Die Vernunft 188. Die transcendentalen kosmologischen Ideen 189. Die Frage nach dem Aulhören des Weltprozesses 191. Die erste Antinomie 193. Die zweite Antinomie 194. Die dritte Antinomie 196. Die vierte Antinomie 199. Das Resultat der Antinomieenlehre 201. Die natür- liche Dialektik und das menschliche Denken 202.

,^) Die Idee der Einheit

Die Unmöglichkeit der Theologie 2<)4, Die Materie als die dem absoluten Weltgrund korrespondirende Anschauung 2tl5. Das Prinzip der Homogeneität 205. Die Prinzipien der S})ezifikation und der Kon- tinuität der Formen 206. Die regulative Natur dieser Prinzipien 207. Die Wertlosigkeit der Ideen als blofs regulativer Prinzipien 208. Die Ideen als konstitutive Prinzipien 209. Die Ap(Kliktizität der Metaphysik 212. Die „dritte M(»glichkeit^' 21 1. Das Ding an sich 218. Die hypothetische Natur der transcendentalen Aesthetik und Ana- lytik 224. Der Begrilf transcendental 227. Die Deduktion der reinen Verstandesbegriffe 228. Das empirische und das transcendentale Be- wufstsein 232. Kants Verwechselung dieser beiden als Kern der transcendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe 234. Kant und seine Nachfolger 238. Der hypothetische Charakter der Ver- nunftkritik 25! >. Die Unbewufstheit der produktiven Vernunft 240. Reine Mathematik und Logik als die einzigen apodiktisclien V/issen- schaften 243. Kants Verwechselung der reinen und angewandten Mathematik 244. Die kantische ]^hiloso])hie als dogmatischer Rationalismus und die i)hilosophische Überwindung des letzteren durch Schellinfy 245. Die Ideen und die Naturwissenschaft 247. Die immanente Metaphysik als Kritik der reinen V'ernunft 247. Die Ver- nunftkritik als Grundlage der Naturphilosophie 250.

2. Der Ausbau der Naturphilosophie

a)Die metaphysischen Anfangsgründe der Natur- wisse n s (3 h a f t

Vernunftkritik und Ethik 25(). Die Stellung der metaj)hysischen Anfangsgründe im Ganzen der kantischen Gedankenentwickelung 252. Naturlehre und Naturwissenschaft 253. Eigentliche (reine) und un- eigentliche (angewandte) Naturerkenntnis 254. Allgemeine und be- sondere metaphysische Naturwissenschaft 255. Die Möglichkeit der letzteren 256. Der Ausschlul's der Chemie und Psychologie aus der Naturwissenschaft 257. Die J^letaphysik der körperlichen Natur 259. Die Bewegung als Grundbestinmiung der Materie 2H<». Die Aulgabe der metaphysischen Anfangsgründe 262. Die Einteilung derselben

Seite

185

185

204

250 250

H

i

XIV

Inhalt.

1

I.

■'4

J

nach der Kategorieentafel 262. Die mathematische Form der Anfangs- gründe 26. 1.

a)DiePhoronomie

Die Materie unter dem Gesichtspunkte der Quantität 2(;7. Die Bewegung 269. Die Richtung und Geschwindigkeit 270. Die Ruhe 272. Empirischer und absoluter Raum 27;]. Der Widers})ruch zwischen der empirischen Bewegung und dem transcendentalen Raum 274. Die Relativität der Bewegung 278. Mathematische und mechanische Konstruktion 279. Die verschiedenen Fälle der Zusammensetzung von Bewegungen 279. Die Ausführung der Zusammensetzung 281. Der Fehler dieser Konstruktion 282. Die Beziehungen der Phoronomie zur Kategorieentafel 285.

/?) Die Dynamik

Die Materie unter dem Gesichts^junkte der Qualität 28(). Die Raumerfüllung als BegritVsprädikat und als reale Eigenschaft 286. Die Empfindung als die Quelle des Begriffs der Raumerfüllung 2s7. Die Raumerfüllung als Aljstofsungskraft 28.S. Die Abstofsungskraft oder Elastizität als Grundkraft 290. Der kantische Begriff" der Raum- erfüllung 291. Mathematische und dynamische l'ndurchdringlich- keit 292. Die Widersprüche in Kants Auffassung der Raumerfüllung 292. Der transcendentale Realismus als Lösung dieser Widersprüche 29i. Materie und Sioff 295. Der kantische Dynamismus als Materialis- mus 296. Physische und mathematische Teilbarkeit 297. Kants Aut- fassung der unendlichen Teilbarkeit der Materie und ihre Wider- sprüche 298. Die früliere und die jetzige Lösung des Problems bei Kant ;}(l]. Die Unzulänglichkeit der Annahme einer l)l()fs re})ulsiven Kraft ;;02. Die Schwierigkeiten in Kants Begründung jener Lnzu- länirlichkeit 303. Die Grundkratt der Anziehung .304. Der Unterschied in der Erk<>nntnis der beiden Grundkräfte 305. Die Schwierigkeiten in dem Verhältnis von Ausdehnunnr und Kraft 307. Das Aufgeben des Stoffes als Lösung dieser Schwierigkeiten 309. Die Wirkung in die Ferne 319. Scheinbare und wahre Anziehung 312. Die Stellung Newtons zum Problem der actio in distans und die Notwendigkeit der letzteren 312. l^ie Übereinstimmung der beiden Grundkräfte .'513. Das Problem der bestimmten Raumerfüllung 3)1 i. Das Gesetz des Verhältnisses der beiden Kräfte 3)15. Körperatome und Atheratome 318. Der hyi)othetische Charakter der Dynamik und ihr eigentlicher Wert 319. Die Beziehungen der Dynamik zur Kategorieentafel 321. Das Problem der spezifischen Verschiedenheiten der Materie 322. Der leere Raum 322. Dynamismus und Atomismus 326. Die Grundkräfte der Materie und die (jualitates occultae der Scholastiker 32.S. Kraft und Gesetz .329. Die Unmöglichkeit einer apriorischen Ableitunfr der spe- zifischen VerschiedeJiheiten der J^Iaterie 332. Körperlichkeit, Dichtig- keit, Kohäsion, Aggregatzustände, spezifische Elastizität, Ghemis- mus 333. Die Dynamik und die Naturwissenschaft 339.

;) D i e jM e ch an ik

Die Materie unter dem Gesichtspunkte der Relation 33!>. Die Bewegungsgröfse 341. Die Masse 342. Kants indirekte Bestimmung

Seite

267

286

Inhalt.

der Bewegungsgröfse und ihre Fehler 343. Die Bestimmung der Masse in der Monadologie 344. Vergleich mit Kants Erstlings- schrift 346. Das erste Gesetz der Mechanik 346. Die Materie als räumliche Substanz 347. Die räumliche Materie und die wirkliche Substanz 348. Die Substanz als transcendente 350. Die Kraft als transcendente 351. Der fundamentale Widerspruch der Anfangs- gründe in Kants Bestimmung des Verhältnisses von Kraft und Be- wegung 351. Die Substanz als Träger der Kraft 354. Vorläufige Bestimmung der Substanz und deren Wert in philosophischer Be- ziehung 359. Der infiuxus physicus auf dem Standpunkte des Kriti- zismus 360. Das zweite Gesetz der Mechanik 363. Die Trägheit (Leblosigkeit) der Materie 364. Naturwissenschaft und Naturphilo- sophie in ihrer Stellung zum Problem der Belebtheit der Materie 365. Die UnStichhaltigkeit der Gründe Kants gegen eine Behandlung dieses Problems 366. Die Momente des Lebens 369. Die Kraft als geistige und als Wille 369. Der AVille als ideell bestimmter 371. Das Ver- hältnis der Vorstellung zum Willen 372. Der ,.Sitz der Kraft" 374. Der ideelle Inhalt des Atomwillens 376. Die Unbewufstheit der Monade 377. Das Bewufstsein der Monade und sein Inhalt 378. Die Annahme einer Beseeltheit der Materie und die moderne Naturwissen- schaft (Zöllner, Haeckel) 379. Die Beseeltheit der Materie und das Gesetz der Trägheit 382. Das dritte mechanische (iesetz 383. Die falsche und die richtige Ableitung des Gesetzes 383. Die Besonderungen des Gesetzes 367. Das Verhältnis desselben zu Kants früheren Aus- führungen 388. Das physische Gesetz der Kontinuität und seine Ab- leitung 390. Die Unmöglichkeit des absolut harten Körpers.

t)) D i e P h ä n 0 m e n o 1 0 g i e

Die Materie unter dem Gesichtspunkte der Modalität iU)3. Die Verwandlung der Erscheinung in Erfahrung 395. Die geradlinige Bewegung als blofs m()gliche 396. Die krummlinige Bewegung als wirkliche 397. Die Erfahrungsbeweise für die Wirklichkeit der Kreis- bewegung 398. Der tieiere (irund Kants für die W^irklichkeit der- selben 4ul. Die notwendige Bewegung 401. Die verschiedenen Be- deutunfi^en des leeren Raumes 4U2.

1)) Die Teleol ogie .

Die Einheit der theoretischen mit der praktischen Vernunft 404. Die Unfähigkeit der Ästhetik zu dieser Vermittlerrolle 40(>. Die Teleologie als Prinzi}) der Einheit 407. Die Spezifikation der Natur- gesetze 408. Die Teleologie als Prinzip der Spezifikation 409. Die Natur des Zweckbegrifis 40!». Die Notwendigkeit eines Prinzips a priori für das Gefühlsvermögen 410. Die Teleologie als dies Prinzip a priori 41 L Die Aufnahme der Ästhetik in das System der Wissenschaften 4 1 2. Die Urteilskralt41 I. Die Teleologie als Vermittlerin zwischen dem Gefühls- vermö(ren und der Urteilskraft 414. Bestimmende und refiektierende Ur- teilskraft 415. Die Besonderungen <\ev reilektierenden Urteilskraft 416. Die subjektive ästhetische Zweckmäfsigkeit 417. Die ()l)jektive intel- lektuelleZweckmäfsigkeit i 1!». Die objektive Zweckmäfsigkeit als Brücke zwischen Natur und Fi'eiheit 4'^0. Die Teleologie als konstitutives

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Inhalt.

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Prinzip 421. Formale und reale, äufsere und innere objektive Zweck- inäfsif^keit 423. Die Naturzweckmäfsigkeit im Organismus 423. Die Teleologie im Weltganzen 425. Der Mechanismus als Prinzip der Naturwissenschaft 42r). Die mechanische Erklärung des organischen Reiches 426. Die Unfähigkeit des 3lechanismus zur Erklärung der Naturvorgänge 428. Das Verhältnis des Mechanismus zur Teleologie 429. Die Teleologie als Prinzip der Naturphilosophie 431 . Die Erklärung der zweckmäfsigen Naturvorgänge durch Materialismus, Hylozoismus und Spinozismus 432. Der absolute Verstand als das vereinigende Prinzip von Mechanismus und Tele(dogie 433. Der endliche und der unendliche Verstand 434. Die Theologie VS. Die ]\Ionadenwelt als objektive Erscheinung der absoluten Substanz 43'.). Idee und Wille als Attri- but Gottes 440.

c) Der Übergang von den metaphysischen Anfangsgründen

der Naturwissenschaft zur Phys ik

Die drei Kritiken Kants als ])lofse Vorarbeiten zum System der reinen Vernunft 4 «2. Das Verhältnis der Metaphysik der Sitten und Metaphysik der Natur zu den Kritiken und zu einander 441. Kants eigene Zeugnisse für den „Übergang-' 445. Die Zeugnisse von Wasianski, ßorowski und Hasse 44 G. Schuberts Auffindung des nach- gelassenen Manuskripts und der Bericht über dasselbe in den preui'sischen Jahrbüchern 447. Reickes Mittheilungen und VerüfVentlicliung des Manuskripts 450. Fischers Zweifel an dessen Wert und Krauses Ein- spruch 451. Krauses „Populäre Darstellung" des Überganges 454. Die Abfassungszeit des Manuskripts 45(i. Die Bedeutung des Über- ganges für die kantisehe Philosophie 459. Die Notwendigkeit einer apriorischen Systematisation für die Physik 459. Die Unfähigkeit der Mathematik zur Auffindung eines apriorischen Prinzijis für die Systematisation 4(12. Die Kluft zwischen Metaphysik und Physik 4()2. Die Aufgabe des Überganges und sein Begriff von der Materie 463. Die Einteilung der Naturwissenschaft 464. Die empirische Affekt ion des Subjekts als Prinzi|) der Systematisation der l>ewegenden Kräfte der Materie 465, Der Unterschied zwischen der früheren und späteren Ansicht Kants 470. Die empirische Affektion in den früheren Sciiriften Kants 471. Die Naturphilosophie als Bestimmungsgrund der kantischen Erkenntnistheorie 473. Der Prozefs des Zustandekommens des physi- kalischen Objektes 473. Ding an sich und Gegenstand an sich 4 74. Die Verwechselung des transcendentalen und empirischen Ich als Grundfehler der ofanzen kantischen Autfassungsweise 477. Die Materie als Basis der Physik und oberstes Prinzip des l'berganges 483. Die Nichtigkeit des kantischen Beweises für die Apriorität der Materie 485. Die Eigenschaften der Urmaterie 4^6. Das Elementar- system der bewegenden Kräfte der Materie 48S. Das Weltsystem derselben 191. Kant als Vater der schellingschen Naturphilosophie. Die philosophische Bedeutung der kantischen Naturphilosophie und ihr Verhältnis zum transcendentalen Idealismus 49 i.

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^.

Kant als Naturforscher.

Die ersten tiefer greifenden Anregungen, die Jemand auf })]iilo- sopliischem Gebiet empfängt, pÜegen bestimmend für die ganze fernere Entwickelung seines Denkens zu sein. Bei wenigen Philo- soj)ben zeigt sich dies so deutlich, wie bei Kant. Als Kant auf der Universität seinen j)hil()S()})hischen Studien obhig, war der Streit um die prästabilierte Harmonie bereits erh)schen. Aber derjenige unter seinen Lehrern, an den sich Kant am engsten anschlofs, der treff- liche Philosoph und Mathematiker ]\[ artin K nutzen (1713 1751), war es gerade gewesen, der in jenem berühmten Streite schliefslich die Entscheidung lierbeige führt hatte. Es läfst sich denken, dafs er häufig in seinen Vorträgen darauf Bezug genommen und so auch den jungen Kant für ihn besonders interessiert hat.

Um was es sich dabei gehandelt hatte, war die Frage, ob die Monaden im Verliältnis des j)hysi sehen Einflusses (intluxus physicus) zu einander stehen und wechselseitig auf einander wirken, oder ob dasjenige, was uns als eine solche Einwirkung erscheint, nur das Kesultat eines einmaligen göttlichen Aktes darstellt, infolge dessen eine jede Vorstellung in uns von einer ihr entsprechenden Vorstellung in den anderen Monaden begleitet ist. Der Urheber der Monadoh)gie hatte in der k^tzteren Annahme die einzige Mög- lichkeit gesehen, um ]>ei der gegensätzlichen Natur von Leib und Seele den thatsächlichen Zusammenhang zwischen ihnen zu erklären; und sell)st dann noch, als die Annalime einer (lualitativen Gleich- artigkeit der Seelen- und Kör])ermonaden in seinem Denken immer mehr die Oberhand gewann, hatte er daran festgehalten, die allge- meine Weltkausalität in die prästabilierte Harmonie zu setzen. Lidessen war es ihm bei seinen Lebzeiten niclit gelungen, weitere Kreise für seine Ideen zu interessieren. Erst als sein Schüler Wolff in seiner Schrift: „Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen über]iau})t", die im Jahre 1719 erschien, jene bei Leibniz zum Teil nur zer-

1) r e w s , Kants Naturphilosophie. 1

A. Kant als Naturforscher.

A. Kant als Naturforscher.

streut vorhandenen Ideen in eine systematische Form gebracht hatte, erst da tiel ihnen alsbald eine zahlreiche Schar von Anhäni]^ern zu, und nun mul'ste das allgemeine Interesse besonders auch auf die prästabilierte Harmonie sich richten. A\'olff selbst hatte, wie in so manchem andern, auch in diesem Punkte sich schwankend ge- äufsert. Er erkannte die (jualitative Gleicluirtigktit der Monaden nicht an; darum mufste er die prästabilierte Harmonie, wie Leibniz im Anfang, wieder auf das Verhältnis zwischen Leib und Seele ein- schränken, womit nicht ausgeschlossen war. dafs in der KTu-perwelt nicht doch ein })hysischer Einilui's stattfände. Er raubte aber jenem Prinzi]) den Charakter der Absolutheit auch in dem Sinne, dafs er es auf den Pang einer blofsen Hypothese herahdrückte. Damit war das Zeichen zum Angrilf gegei)en. Die ganze nächste Zeit vom Jahre 17'J() an. in welchem die neue Schule sich zuerst konstituierte, ist mit dem Streite um die juästabilierte Harmonie erfüllt, während dessen die wolftisclie Philosophie immer mehr an Ausbi-eitung gewann, auf je w^eniger Vertreter das ursprüngliche leibnizsche Prinzip von den Gegnern desselben eingeschränkt wurde.

Auf die Einzelheiten dieses Streites näher einzugehen, der zwanzig Jahre hindurch die ])hil(»so{)hischen K()pfe Deutschlands in Aufregung gehalten hat, ist überflüssig. In einer höchst belehrenden kleinen Schrift hat IJenno Flrdmann ilm auf das Eingehendste geschildert und die Gründe, die den schliefsliehen Sieg der Theorie des ])hysischen Einflusses herbeiführten, dargelegt.*) Sie lagen nicht so sehr in dem Vorzuge ein(^r gröfseren Popularität, wodurch sich dies Prinzi]) em])fahl, wie vor allem in seiner leichteren l'ber- tragbarkeit ;iuf die übrigen Wissenschaften. Als daher Knutzen im Jahre 1735 seine „Commentatio philosophica de commercio mentis et corporis per iniluxum j)hysicum explicando" bekannt gab, die zehn Jahre später mit einer anderen Abhandlung zusammen unter dem Titel „Systema causarum efticientium" erschien, (hi war das Schicksal der prästabilierten Harmonie besiegelt. Die hervor- ragendsten Glieder der Schule bekannten sich zu der Theorie des physischen Einflusses, und Knutzen hatte den Hulim, das be- deutendste Werk über diese Frage abgefafst und damit jener Theorie endgültig zur Herrschaft verhol fen zu haben.

Dafs ein solcher Mann auf Kant einen hervorragenden Kinllufs ausüben mufste, ist wohl begreiflich. Kants Biograph Borowski teilt uns denn auch mit, derselbe habe Knutzens „wirklich vor- trefflichen, für das Genie weckenden und sehr unterhaltenden Vor-

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*) JB. Erdin an n: Martin Knutzen und seine Zeit fh^TG).

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lesungen-' unausgesetzt besucht und ihnen das gröfste Interesse abgewonnen. Der Lehrer „fand in Kant vortreffliche Anlagen, ermunterte ihn in Privatunterredungen, lieh ihm m der Folge be- sonders Newtons Werke und. da Kant Geschmack daran fand, alles, was er aus seiner herrlichen, reichlich versehenen Bibliothek irgend verlangte."*) Man geht, wie Er d mann gezeigt hat, wohl zu weit, eine direkte Nachwirkung von Knutzens philosophischem Standpunkt auf Kants kritischen Idealismus anzunehmen; aber so viel ist gewifs, dafs Knutzen es war, der ihn von seinen ursprüng- lich philologischen Studien abgezogen und ihn für die Philosophie gewonnen hat.**) Durch Knutzen wurde in ihm die Vorliebe für die Mathematik erweckt, die noch einmal eine so bedeutende Holle in seiner gedanklichen Entwickelung spielen sollte, von ihm wurde er auch in die Naturwissenschaften eingeführt und damit seinem Denken diejenige ßichtung gegeben, welche für Kant cliarakteristisch ist. Insbesondere wurde in dieser Hinsicht das Studium Newtons für ihn entscheidend, auf den ihn Knutzen hingewiesen hatte. Der Eindruck, den Kant aus Newtons Werken empfing, kann gar nicht hoch genug veranschlagt werden. „Newton war der gute Genius, welcher an der Wiege seiner wissenschaftlichen Ent- wickelung stand uiul schützend über dem Fortgange seines philo- so])hischen Denkens schwebte. An der mathematischen Strenge jenes gnifsten Vertreters der exakten Wissenschaft der Neuzeit bildete sich seine allgemeineDenkweise; die philosophischeNatu ran schauung desselben regte in ihm die bestimmten Probleme an, die zur Entstehung seiner Hauptwerke und zur Ausl)ild ung seiner eigenen philosophischen Weltanschauung führten.***)

Darin lag für Kant neben seiner persönlichen Beeinflussung durch Knutzen em neuer Grund, in dem Streite über die prästa- bilierte Harmonie sich für das Prinzip des physischen Einflusses zu entscheiden. Denn nur bei der Annahme einer wechselseitigen Ein- wirkung der Substanzen auf einander konnte er die Anschauumr JNewtons sich aneignen. Beruhte doch eben darin die wissen- schaftliehe That des grofsen englischen Forschers, dafs er die ge- samte Bewegung der Himmelskörper auf das Gesetz der Gravitation zurückgeführt und die Attraktion oder die gegenseitige Anziehung derselben als eine allgemeine Eigenschaft der Körper nachgewiesen hatte. Die Körper sind durch und durch mit Kräften begabte Wesen;

*) Borowski: Darstellung,' d. Lebens und Charakters Kants (1804), 163. 28.

**J Erdniaun: a. a ( ). 1 iG iV.

♦*♦) Dietrich: Kant und Newton (1876) 2 f.

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A. Kant als Naturforscher.

A. Kant als Naturforscher,

darin hatte L e i b n i z dem Cartesius gegenüber Hecht, für welchen der Körper nur ein totes Eäumliches war. Aber Unrecht hatte er darin, die gegenseitige Einwirkung der Körper auf ein- ander j)rinzipiell zu leugnen und die thatsiichlich wahrgenommene Einwirkung auf den unwahren Schein seiner prästabilierten Harmonie zurückzuführen, Unrecht auch darin, dafs er auf i)hysikalischeni Gebiete alles Geschehen mit Cartesius blofs auf Druck und Stofs beschränken und die Attraktionstheorie Newtons nicht anerkennen wollte. In beiden Fällen behält N e w t o n gegenüber L e i b n i z Recht: weit entfernt, dafs die Ktirper nur in unmittelbarer Be- rührung auf einander wirkten, besitzen sie sogar die Fähigkeit, ver- mittelst der ihnen einw^ohnenden wirkenden Knift. sowohl aus der Nähe, w^ie aus der Ferne, einander anzuziehen, und dies el)enso im Zustande der Ruhe, wie im Zustand der Bewegung.

Als Kant sich diese Konsequenzen zum Bewui'stsein brachte, fand er sich damit in offenem Gegensatz zur Physik seiner Zeit, die unter dem EinHul's der me(;hanischen K()rj)erlehre des Cartesius nur rei)ulsive Kräfte gelten liefs. Zugleich aber eröffnete sich ihm nunmehr die Aussicht, „eine der gröfsten 8i)altungen-', die damals unter den Geometern von Europa herrsclite, „beizulegen^', nändich den Streit über die Schätzung der lebendigen Kräfte, wie er zwischen den Cartesianern und den Anhängern von Leibniz ausgel)rochen war. Wenn nämlicli Cartesius bei dem rein mechanischen Charakter seiner Weltanschauung die Kraft des bewegten Körpers nach dem Produkt aus seiner iVIasse und der ersten Potenz, der Geschwindigkeit (mv) oder nach demjenigen gemessen hatte, was wir heute als die „Quantität der Bewegung-' bezeichnen, so hatte dagegen Leibniz*) nicht das Produkt aus der Masse und der einfachen Geschwindigkeit, sondern das Pi-odukt aus der Masse und dem Quadrate der Geschwindigkeit (mv-j für den wahren Mafsstab der Kraft des bewegten Kih-pers ausgegeben. Im Besitz einer neuen Kräftelehre glaubte Kant, den Streit zur Zufriedenheit heider Parteien zum Austrag bringen zu können. So schrieb er. wohl nicht ohne von Knutzen hierzu die Anregung (Mnj)fangen zu haben,*) seine „Gedanken von der wahren Schätzung der leben- digen Kräfte und Beurteilung d e r B e weise, d e r e n sich Herr v. Leil)niz und andere Me c h ani k e r in dieser Streitsache bedienet haben, nebst einigen vorher- geh enden Betrachtungen, welche die Kraft der Körper überhaupt betreffen" (IT-iT).

*) Leihniz: Ww. i^^es. v. Pertz. 3 F. VI. 2oS Ih **j B. Erdmaiin: a. a. O. 143 f.

4

Bescheiden und doch voll Vertrauen in seine Kraft begiebt sich hier der Zweiundzwanzigjährige auf den litterarischen Kampf- platz, um die berühmtesten Männer der Wissenschaft vor das Tribunal der Wahrheit zu fordern und unbeschadet seiner Ehrer- bietung und Hochachtung vor ihnen ihre Lehren einer unbefangenen Kritik zu unterziehen. „Nunmehr kann man es kühnlich wagen, das Ansehen der Newtons und Leibnize für nichts zu achten, wenn es sicli der Entdeckung der W^ahrlieit entgegensetzen sollte, und keinen anderen Überredungen als dem Zuge des Verstandes zu gehorchen" (I. f)).*) Die Welt freilich wird sehr geneigt sein, zu glauben, er wolle sich damit über jene grofsen Gelehrten erheben. Diesen Vorwuif weist Kant zurück: „Die Wissenschaft ist ein unregelmäfsiger Körper ohne Ebenmafs und Gleichförmigkeit. Ein Gelehrter von Zwerggröl'se übertrifft öfters an diesem oder jenem T(Mle der Erkenntnis einen anderen, der mit dem ganzen Umfange seiner Wissenschaften weit über ihn hervorragt" (7). Was hilft es. sieh immer nur auf der Heeresstrafse zu halten:' Auf diese Weise kann die Wissenschaft nicht gefördert werden. „Ich stehe", sagt Kant, „in der Einbildung, es sei zuweilen nicht unnütz, ein gewisses edles Vertrauen in seine eigenen Kr-ifte zu setzen. Eine Zuversicht von der Art belebt alle unsere Bemühungen und erteilet ihnen einen gewissen Schwung, welcher der Untersuchung der Wahrheit sehr beförderlich ist" (S).

Eine solche S])rache mul's von vornherein unser Vertrauen für (h'n Jüngling erwecken, der mit jener seiner Erstlingsschrift seine Studien auf der Universität zum Abschlufs brachte. Und in der That. so fern uns der Inhalt jener Schrift auch ireij^enwärti": lieirt. und so wenig wir seiner Liisung des oben erwälmten Streites vom heutigen Standpunkte der Wissenschaft aus heistiminen können : der Gründlichkeit, mit welcher der jugendliche Verfasser bei seiner Untersuchung zu Werke geht, dem Scharfsiini, den er an vielen Stellen offenhart, und der Geschicklichkeit bei seinen Gedanken- opciationen vermögen wir doch unsere Anerkennung selbst dann nicht zu versa^^en, wenn uns die Schrift im grofsen und ganzen auch als verfehlt erscheinen mufs und ihre Weitschweifigkeit unseren Protest herausfordert.

Kant teilt alle Bewegungen in zwei Hauptarten ein. „Die eine hat die Eigenschaft, dafs sie sich in dem Körper, dem sie mitge- teilt worden, selber erhält und ins Unendliche fortdauert, wenn

*) Ich eitlere nach Hartensteins achtbändiger Ausgabe von Kants sämtlichen Werken.

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A. Kant als Naturforsclier

kein Hindernis sich ent^ep^ensetzt. Die andere ist eine immer- währende Wirkung einer stets antreil)end('n Kraft, hei der nicht einmal ein Widerstand niiti^ ist, um sie zu vernichten, sondern die nur auf der äiifserlichen Kraft heruht und ehenso hald verschwindet, als diese aufhcirt, sie zu erhalten. Ein Exem])el von der ersten Art sind die geschossenen Kugeln und alle geworfenen Kör])er: von der zweiten Art ist die Bewegung einer Kugel, die von der Hand sachte fortgeschohen wird, oder sonst alle Körper, die getragen oder mit mäfsiger (jresch windigkeit gezogen werden" ('JÜ). Diese ist „von dem toten Drucke nicht unterschieden, wie Herr Baron Wolff in seiner Kosmologie schon angemerkt hat*' ('J7). und kann nur die einfache Geschwindigkeit zum Malsc hahen ; denn die Kraft heruht hier nicht auf den bewegten Körpern seihst, sondern auf einer äufseren Gewalt: folglich hat der Widerstand nur nötig, die Geschwindigkeit zu vernichten, mit welcher der Köjrper seinen (3rt verändert. Ganz anders hingegen hei der ,.lehendigen Kraft." Diese hat ihre Ursache in dem hew^'gten K(irper seihst, und weil somit der letztere bemüht ist, sich in seinem Zustand zu erhalten, so hat der äufserliche Widerstand nicht hlofs die (Tcschwindigkcit jenes Kcirpers, sondern auch noch die Kraft, welche diesem eigen ist, aufzuheben, und die ganze Stärke des Widerstandes mufs folglich zusammengesetzt sein aus der Geschwindigkeit und eben dieser Kraft, d. h. die lebendige Ki-aft eines in solcher Ai't be- wegten Kör])ers ist nach dem (Quadrate der Geschwindigkeit zu messen (28 f.).

Wir haben heute nicht ncitig, auf eine nähere Widerlegung dieser Sätze einzugehen. Sie müssen uns in ihrem Resultate ebenso wunderlich erscheinen, wie die Einteilung der Bewegungen, auf welcher jenes Kesultat beruht. Es ist ja von vornherein klar, dafs es eine Bewegung der zweiten Art überhaupt nicht geben kann, weil sie dem Gesetz der Trägheit widersj)reclien würde. Die ganze Konfusion schreibt sich nur daher, dafs Kant in eine Frage, die an sich nur die Mechamk angeht, seinen unklaren metaphysischen Begriff der Kraft hineinbringt, der hier nur die Bedeutung eines Hilfsbegriffes hat und gar nicht bei der Entscheidung der Frage selbst mitspricht. Versteht man unter Kraft diejenige Ursache, welche der (Quantität der Bewegung eines Kcirpers j)roportional ist, so ist es nur eine Tautologie, zu sagen, diese Kraft sei gleich dem Produkt aus der Masse und der einfachen Geschwindigkeit. Wir verstehen unter lebendiger Kraft die Fähigkeit eines bewegten Körpers, Arbeit zu leisten, d. h. einen seiner Bewegung entgegen- wirkenden konstanten Widerstand zu überwinden, und diese mifst

A. Kant als Naturforscher. 7

die heutige Mechanik nach dem halben Produkt der Masse und dem Quadrate der Geschwindigkeit. Für die theoretische Mechanik erscheint das ganze Problem heute nur als ein blofser Wortstreit, da beide Schätzungen richtig sind, je nachdem ob man die Kraft durch die absolute Gröfse des überwundenen Hindernisses oder durch die Summe der Widerstände mifst. Kant wufste nicht, dafs d'Alembert bereits im Jahre JT4r) die richtige Lösung des Problems gegeben und die wahre Natur desselben erkannt hatte, wenn er in seinem „Traite dynamicjue*' über „la fameuse (juestion des forces vives" bemerkt hatte: „Toute la ([uestion ne peut plus consister que dans une discussion metapliysi(iue tres futile ou dans une disj)ute de mots j)lus indigne encore d'occuper des philoso})hes.''*) Wenn jenem ganzen Streite überhaupt eine wissenschaftliche Be- deutung beizumessen ist, so bezeichnet er nur, worauf Erdmann aufmerksam macht. ,,den Al)lösungsprozefs der Mechanik von den philosophischen Disziplinen, mit denen sie durch Cartesius und Leibniz verwachsen war."**) Es war kein Fortschritt, dafs Kant jene rein mechanische Bestimmung der Kräfte durch das Hereinziehen metaj)hysischer Gesichtspunkte verwirrte.

Er selbst findet die Ursache des Streites darin, dafs die Be- teiligten die mathematische und die physikalische Betrachtung mit einander vermengen und zwischen reiner und angewandter (empirischer) Mechanik nicht genügend unterscheiden. Die ]\ratliematik nändich betrachtet in der Bewegung eines Körjiers nichts wie die Ge- schwindigkeit, die JVEasse und noch etwa die Zeit. Sie kann daher niemals etwas über die durch mv" zu messenden lebendigen Kräfte festsetzen, weil dieser Begriff' gar nicht in ihren Voraussetzungen liegt und andernfalls in den Folgerungen mehr enthalten wäre, als die Grundsätze in sich fafsten, das rationatum gröfser sein würde als die ratio (;)8). ,.Die Mathematik erlaubt nicht, dafs ihr Kiirper eine Kraft habe, die nicht von demjenigen, der die äufserliche Ur- sache seiner Bewegung ist. gänzlich hervorgebracht worden" (l'i(i); was sie verj)önt. ist die freie Bewegung, die etwa aus dem eigenen Innern des Körpers selbst entspringt (140). „Sie setzet den Begriff von ihrem Kör])er selber fest vermittelst der Axiomata, von denen sie fordert, dafs man sie bei ihrem Körper voraussetzen müsse" (IH')). Da somit aus den wesentlichen und geometrischen Eigenschaften eines Körj)ers kein Argument zur Leistung einer freien und unveränderten Bewegung entnommen

*) irAlembert: a. a O. XVII. XXI. •*} B. Erdmaiiii: a. a. 0. 81.

A. Kant als Naturforscher.

werden kann, auf dieser aber allein das Dasein der lebendigen Kräfte beruht, „so folgt, dafs die lebendigen Kräfte nicht als eine notwendige Eigenschaft erkannt werden, sondern etwas Hypothetisches und Zufälliges sind"' (147 f.).

Der Körper der Mathematik ist von demjenigen der Natur ganz unterschieden. Bei jenem kann folglich etwas walir sein, was doch für diesen keine Geltung hat ( 1 ;]^). \ 04). Von dem Körper der Mathe- matik gilt unzweifelhaft die cartesianische Schätzung, mit dem KfJrper der Natur hat es jedoch eine ganz andere Bewandtnis. ,. Derselbe hat ein Vermögen in sich, die Kraft, welche von draulsen durch die Ursache seiner Bewegung in ihm erwecket worden, von selber in sich zu vergröl'sern, so dafs in ihr Grade der Kraft sein können, die von der äul'serlichen Ursache der Bewegung nicht ents])rungen sind und auch grölser sind, wie dieselbe, die folghch mit demselben Mafse nicht können gemessen werden, w^omit die cartesianische Kraft gemessen wird, und auch eine andere Schätzung haben" (l'M]). „In der Natur sind wirklich diejenigen Kräfte zu finden, deren Mafs das (^),uadrat ihrer Geschwindigkeit ist, nur mit der Ein- schränkung, dafs man sie auf die Art, wie man es bisher angefangen hat, niemals entdecken werde; dafs sie sich vor dieser Gattung der Betrachtung (nändich der mathematischen) auf ewig verl;ergen werden, und dafs nichts, wie irgend eine metaphysische Unter- suchung oder etwa eine besondere Art der P^^rfahrung, selbige uns bekannt machen können. Wir bestreiten also," sagt Kant den Leibnizianern, „nicht eigentlich die Sache selbst, sondern den modum cognoscendi" (f)?). Wir nn'issen die met.-i})liysischen Gesetze mit den Regeln der ^Mathematik verknüpfen, um das wahre Kräftemafs der Natur zu bestimmen ( 104). „Die lebendigen Kräfte werden in die Natur aufgenommen, naclidem sie aus der Mathe- matik verwiesen worden. Man wird also keinem von beidiMi grofsen Weltweisen, weder Leibniz, noch Cartesius durchaus des Irrtums schuldig geben können. Auch sogar in der Natur wird Leibniz' Gesetz nicht anders stattfinden, als nachdem es durch Cartesius' Schätzung gemäfsiget worden (d. h. auf die freie Bewegung beschränkt ist). P]s heilst gewissermafsen die Ehre der menschlichen Vernunft verteidigen, wenn man sie in den verschie- denen Personen scharfsinniger Männer mit sich selber vereinigt und die AVahrheit, welche von der Gründlichkeit solcher Männer nie- mals gänzlich verfehlt wird, auch alsdann heraushndet, wenn sie sich gerade widersprechen" (144 f.).

In der mathematischen Betrachtungsart, die Kant in solcher Weise von der physikalischen unterscheidet, ist unschwer dasjenige

A. Kant als Naturforscher.

wiederzuerkennen, w\as er später als „Phoronomie" bezeichnet und im ersten Hauptteil seiner „Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft" als „reine Gröfsenlelire der Bewegung" behandelt hat. Auch kündigt sich hier bereits die Ahnung des Unterschiedes von Mathematik und Erlährungswissenschaften leise an, obgleich sich Kant über den Gegensatz zwischen dem wirkliclu^n Körper der Er- fahrung und dem mathematischen Körper, als einem Produkt aj)riorischer Konstruktion im Räume, noch gar nicht völlig klar ist, wenn er z. B. den Stofs natürlicher Körper auf einander der mathe- matischen Betrachtung glauht zuweisen zu ktinnen. In der Mathe- matik ergel)en sich alle Sätze mit absoluter Allgemeinheit und Notwendigkeit, weil ihr Gegenstand vor aller Erfahrung vom Ver- stände selbst gesetzt ist; in den Erlährungswissenschaften dagegen sind wir auf blofse Hypothesen angewiesen, die niemals mehr als einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit beans])ruchen können. Es ist bemerkenswert, dafs er in seiner Erstlingsschril't der leben- digen Kral't der Köi'per imr einen hypothetischen Erkenntniswert zuschreibt. Kant hat diese richtige x^nsicht einem Vorurteil zu Lielie später aufgegel)en, ohne dafür etwas anderes einzutauschen als den blofsen Schein einer apodiktischen Naturwissenschaft.

Wie konnte man nun glaulien, das richtige Mafs für die Ki'äfte- schätzung der Mathematik entnehmen zu können, wenn die leben- digen Kräfte doch blofs in der Natur zu finden sind? „Es ist wunderbar genug, dafs so grofse Schlufskünstler (wie Cartesius und Leibniz) auf solche Abwege geraten sollten, ohne wahr- zunehmen oder auch nur daian zu denken, ob dieses auch der Weg sei, der sie zum Besitz der Wahrheit führen könne, welcher sie nachges])üret hahen" (!)ll). Der Grund, weshalb man den rich- tigen Weg bisher vci fehlte, kann nur ui dem Mangel an einer Methode liegen. ]\Ian mufs vor allem ..eine Methode haben, vermittelst welcher man in jedwedem Falle durch eine all- gemeine Erwägung der Grundsätze, worauf eine gewisse Meinung erbaut worden, und durch Vergleichung derselben mit (h-r Folgerung, die aus denselben gezogen wird, abnehmen kann, was in Ansehung der hieraus geschlossenen Lehren erfordert wird" (flO). „Wir müssen die Kunst besitzen, aus den Vordersätzen zu erraten und zu mut- mal'sen, ob ein auf gewisse Weise eingerichteter Beweis in An- sehung der Folgerung auch wei'de hinlängliche und vollständige Grundsätze in sich enthalten" (!)4). „Wenn man sich jederzeit diesei- Art zu denken heilissen hätte, so hätte man sich in der Phil()soj)hie viele Lrtüiner ers])aren kcinnen, zum wenigsten wäre es ein Mitlei gewesen, sich aus derselben viel zeitiger herauszureifsen.

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A. Kant als Naturforscher.

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Ich unterstehe mich gar 7ai sagen, dafs die Tyrannei (ha* Irrtümer über den menschlichen Verstand, die zuweilen ganze Jahrhunderte liindurch gewährt hat, vormdindich von dem Mangel dieser Me- thode hergerührt hat und dafs man sich also dieser nunmehr vor anderem zu beHeifsigen habe, um jenem Übel ins Künftige vor- zubeugen*' (1)2 f.).

Man hat bisher d(^r falschen Voraussetzung geliuldigt, Materie kcinne nur in unmittelbarer Hcrührung auf Materie wirken. 8el])st Leibniz bekämpfte die newtonsdie Lehre der allgemeinen Attraktion, weil ihm die Einwirkung der K()r})er auf einander ohne gegen- seitige Berülirung zu unvermittelt schien, als dafs er sie mit dem Gesetz der Stetigkeit (lex continui) j^laubte verciiiip^en zu kfinnen. 8o schlofs man, ,.dars keine Bewegung in di'v ^salur entstehe als vermittelst einer Materie, (he auch in wirklicb«^- Bewegung ist: und dafs also die Bewegung, die in einem Teile der Welt verloren ge- gangen, durch nichts anderes als entweder durch eine andere wirk- liche Bewegung oder die umnittelbare Hand (lottes kiuine hergestellt werden. Dieser Satz hat denjenigen jederzeit viel Ungelegenheit gemacht, die demselben Beifall gegeben haben. Sie sind genötigt worden, ihre Einbildungskraft mit künstlich ersonnenen Wirbeln müde zu machen, eine Hypotln^se auf die andere zu bauen, und, anstatt dafs sie uns endlicli zu einem solchen Plan des Welt- g e b ä u d e s führen sollten , der e i n f a c h und b e g r e i f 1 i c h genug ist, um die zusammengesetzten Erscheinungen der ^S'atur daraus herzuleiten, so verwirren sie uns mit unendlich viel selt- samen Bewegungen, die viel wunderbarer und unbegreiflicher sind, als alles dasjenige ist, zu dessen Erklärung selbige herangezogen werden sollten*' (öT f.). 8o hat man zwar eine l^iiysik, die voll ist von vortrefflichen Proben des Scharfsinns und der P]rtindungskraft, allein es fehlt an einer wirklichen Naturerkenntnis. ,.Der Weg der Natur ist nur ein einziger Weg*' (;")!!). Will man sie wirklidi kennen lernen, so mufs man daher auch bestrebt sein, ihre Er- scheinungen in einer mciglicbst einfachen Weise zu erklären. I^]ine solche vereinfachte Naturerklärung abei- besteht in der Annahme einer gegenseitig e n E i n w i r k u n g d e i" K ö r p er au f e i n a, n d e r auch ohne unmittelbare Berührung, wie Newton sie zur Erkläi'ung der Gravi- tation herangezogen hat : denn nur unter dieser \^)raussetzung begreift man, wie ein Körper eine wirkliche Bewegung durch eine Materie emi)fangen könne, die selbst in Ruhe ist. ,.Es ist Avahr, der Grund dieses Gedankens ist metaphysisch und also auch nicht nach dem Geschmacke der jetzigen Naturlehrer; allein es ist zu- gleich augenscheinlich, dafs die allerersten Quellen von

den Wirkungen der Natur durchaus ei n V o r w u r f d e r Metaphysik sein müssen" (58). Wenn Newton auf jene Voraussetzung das unerschütterliche Gebäude seiner Pliysik er- richtet hat, so hat die Schulmetaphysik kein Recht, dagegen Ein- spruch zu erheben; denn welche Resultate von auch nur annähern- der Gewifsheit, wie das Gesetz der Gravitation, hätte sie vorzu- weisen ? „Unsere Metaphysik.-' sagt Kant, „ist, wie viele andere Wissenschaften, in der That nur an der Schwelle einer recht gründlichen Erkenntnis; Gott weifs, wann man sie selbige wird ü])er- schreiten sehen. Es ist nicht schwer, ihre Schwäche in mancliem zu sehen, was sie unternimmt. Man findet sehr oft das Vorurteil als die gröfste Stärke ihrer Beweise. Nichts ist mehr hieran Schuld als die herrschende Neigung derer, die die menschliche Erkenntnis zu erweitern suchen. Sie wollten gerne eine grofse Welt Weisheit haben, allein es wäre zu wünschen, dafs es auch eine gründliche sein möchte" ('ilj).

Zudem hat diese Metaphysik nicht einmal Grund, die ihr von Newton nahe gelegte Annahme zu verwerfen. Nur der gemeinen Ansicht gilt der Raum für eine treiniende Schranke zwischen den verschiedenen mit Kräften begabten Substanzen. Nur ihr ist er gleichsam der gemeinsame Behälter, worin die Dinge erst sein und wirken können, und darum vermag sie sich nicht vorzustellen, dafs ein Ding dort wirken solle, wo es selbst nicht ist. Der Meta- ])hysik eines Leibniz dagegen sind die räundichen Veiliältnisse an den Dingen ja selbst erst das Produkt der Beziehungen d(^r Substanzen untereinander. Der Raum ist nach Leibniz nicht früher als die Substanzen, kann daher auch kein Hindernis für ihre Wirkungs- weise sein. Nach dieser Ansicbt können Substanzen existieren und dennoch gar keine äufserliche Relation gegen andere haben oder in einer wirklichen Verbindung mit ihnen stehen. Da nun ohne äufser- liche Verknü])fungen. Lagen und Relationen kv'm Oi-t vorhanden, so ist es wohl möglich, dafs ein Ding wirklich existiert, aber doch nirgends in der ganzen Welt zu linden ist (20). „Es ist daher nicht richtig geredet, wenn man in den Hörsälen der AVeltweisheit immer lehrt, es kchme im metaphysischen Verstände nicht mehr als eine einzige Welt existieren. Es ist wirklich möglich, dafs Gott viele Mülionen Welten, auch in recht metaphysischer Bedeutung genommen, erschauen habe" (ebd. f.). Kann es doch auch Räume von mehr als d r ei Di men sione n geben, obwohl wir über die Welten, die in ihnen existieren, natürlicher Weise nichts ausmachen können, weil dieselben doch zu uns in keiner Beziehung stehen würden (23 f.). Dafs wir uns einen Raum von mehr als drei Dimensionen

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A. Kant als Naturforscher.

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nicht vorstellen können, dies lie^t doch hlols an unserer eigenen Organisation, weil nämlich die Substanzen, die uns und unsere Welt konstituieren, in der Weise auf einander wirken, dal's die Stärke der Wirkung sich umgekehrt wie (his Quadrat der Weiten verhält. Indessen ist dieses Gesetz willkürlicher Natur, und Gott hätte dafür ebenso gut ein anderes, z. B. dasjenige des umgekehrten drei- fachen Verliältnisses wählen können, in welchem Falle natürlich auch ein anderer Raum mit andern Eigenscliaften und Dimensionen entstanden wäre. „Eine Wissenschaft von allen diesen möglichen Raumesarten wiire unfehlbar die höchste Geometrie, die ein unendlicher Verstand unternehmen könnte" {'2:\}.

Nacli Leibniz sollen die Beziehungen der unräumlichen Sub- stanzen unter einander keine physischen Wirkungen dtn-selben sein. Es ist jedoch ,. leicht zu erweisen, dafs kein Raum und keine Aus- dehnung sein würden, wenn die Substanzen keine Kraft hätten, aufser sich zu wirken. Denn ohne diese Kraft ist keine Ver- bindung, ohne diese keine Ordnung und ohne diese kein Raum-' (21). Gründet sich somit die Eigenschaft der Ausdehnung, mithin auch die dreifache Abmessung derselben auf die F^igenschaften der Kraft und das Gesetz, das sie bestimmt, so stehen der obigen Annahme von Seiten der Metaphysik keine Hindernisse mehr ent- gegen. ]\[an kann alsdann sowohl die Lehre N ewto n s anerkennen und braucht sich nicht mehr, wie Leii)niz, aus metaphysischen Beweggründen gegen sie zu kehren, als auch eröffnet sich damit die Aussieht, die F. ntstehung (h's Weltgebäudes auf natürliche Weise zu erklären , wobei ^' e w t o n selbst zu einem über- natüilichen Akt des Schöpfers glaubte seine Zuflucht nehmen zu müssen. „Es kommt,'' sagt Kant, ,.alles darauf an, dafs ein Ktirper eine wirkliche Bewegung erhalten k()nne auch durch die Wirkung einer Materie, welche in Ruhe ist. Hierauf gründe ich mich. Die allerersten Bewegungen in diesem Weltgcbiiude sind nicht durch die Kraft einer bewegten Materie hervorgebracht worden; denn sonst würden sie nicht die ersten sein. Sie sind aber auch nicht durcli unmittelhare (^ewalt Gottes oder irgend einer Intelligenz verursacht worden, solange es noch möglich ist, dafs sie durch Wirkung (iiner Materie, welche im Ruhestande ist, haben entstehen können ; denn Gott ersj)art sich so viele Wirkungen, als er ohne (h^n Nachteil der Weltmaschine thun kann, hingegen macht er die Natur so thätig und wirksam, als es nur möglich ist. Ist nun die Bewegung durch die Kraft einer an sich toten und unbewegten ]VIaterie in die Welt zu allererst hineingebracht worden, so wird sie sich aucli durch dieselbe erhalten und, wo sie eingebüfst hat, wieder herstellen können*' (öl) f.).

Es giebt nicht blofs abstofsende, sondern auch anziehende Kräfte, nicht blofs eine Wirkung der Körper auf einander, die sich un- mittelbar berühren, sondern es giebt auch eine Wirkung in die Ferne. Der bisherige äufserliche Mechanismus in der Naturbetrachtung ist mithin falsch: die Kcirper sind nicht rein tote, räundiche Wesen. An die Stelle dieser Anschauung mufs eine dynamische Er- klärung der Naturerscheinungen treten, weil sie allein dem Prinzip der Einfachheit ents])richt. Das ist der tiefere Gedanke, der Kant bei Abfassung seiner Schrift über die Kräfteschätzung vorschwebt. „Wolf f." bemerkt er, „hatte das Vorhaben, uns die erste Grund- lage zu einer Dynamik zu liefern. Sein Unternehmen ist unglücklich ausgefallen. So haben wir denn zur Zeit noch keine dvnamischen Grundsätze, auf welche wir mit Recht bauen krumen. Unsere Schrift, welche die wahre Schätzung der lebendigen Kräfte darzulegen ver- spricht, sollte diesen Mangel ergänzen" (114 f.). Die neue Kräfte- schätzung, die Kant an Stelle der Schätzung des Cartesius und Leibniz setzen will, ist selbst das Fund a m e n t der w a h r e n Dynamik*' (144).

L e i b n i z bat in metajdiysischer Hinsicht die Einwirkung der Sub- stanzen aufeinander überhaupt geleugnet, in ]diysischer Beziehung hin- gegen den Körpern mit Cartesius nur eine Wirkung in unmittelbarer Berührung zugeschrieben. Knutzen hat eine gegenseitige Einwirkung auch in metaphysischer Hinsicht nachgewiesen und damit den Gegen- satz zwischen Physischem und ^letaphysischeni, zwischen der Welt der Erscheinung und der Wesen aufgehoben. Kant zieht die Konse(|uenz dieser Aulhebung für die Physik: es ist seine Absicht, die Annahme einer Wirkung in die Ferne, die bei der Theorie des physischen Ein- ilusses nicht zu umgehen ist, auch in die Physik einzuführen, zu zeigen, dafs erst sie eine wirkliche Naturerklärung möglich macht. Damit geht er aber zugleich auch über New^ton hinaus, sofern derselbe vor der blofsen Annahme von Kräften H^ilt gemacht und als Naturforscher mit Recht die Frage abgewiesen hatte, was denn die Krait als solche sei. Kants Absicht ist nicht sowohl auf Naturwissen seh aft, als auf Natur j)h i loso])hi e gerichtet. Mehr und mehr drohten exakte Forschung und Metaphysik auseinanderzugehen, seitdem ihre beiden gröfsten Vertreter in bitterer Feindschaft gegen einander aufgetreten waren. Den Schaden davon hatte nicht die Naturwissenschaft, sondern die Philosophie, die sich vergeblich abmühte, in der Sicher- heit ihrer Resultate und deren Bedeutsamkeit es jener gleicli- zuthun. Es ist Kants Vorhaben, diesen gefährlichen Rifs zu heilen, der sich zwischen beiden aufgethan hat, Leibniz und Newton in einem Dynamismus, der nietajjhysisch und physisch zugleich ist,

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A. Kant als Naturforscher.

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mit einander auszusöhnen. In diesem Sinne gewinnt Kants AVort eine weit über die Unmittelbarkeit liinausreichende Bedeutung, wenn er sa^t : „Ich habe mir die Bahn schon vor^ezeichnet, die ich halten will. Ich werde meinen Lauf antreten, und nichts soll mich hindern, ihn fortzusetzen" (.S).

So enthält also KantsErstlingsschrift gleichsam zwischen den Zeilen bereits das Programm seiner ganzen künftigen Entwickelung. Man wird der Bedeutung dieser Schrift bei weitem nicht gerecht, wenn man sie in einer Darstellung der kantischen Lehre wegen ihrer verfehlten Lösung des Pro!)lems der Kräfteschätzung mit kurzen Worten glaubt abthun zu können. Nicht die Art und Weise, wie Kant (bis Probleu) behand(dt, auch nicht die Einzelheiten und die uns heute zumeist ganz wunderlich vorkommenden Unterscheidungen, die er zur Lösung desselben vorbringt, machen den pliilosophischen Wert seiner Erstlingssclirift aus. Der letztere beruht viidmehr in der Idee des Dynamismus, welche dem allen zu (irunde liegt. Dafs es solange an einem einheitlichen Leitfaden gemangelt hat, um sich durch die grofse Zahl von Kants Schriften hindurchzuiinden, und dafs auch heute über deninneren Verlauf seiner Gedankenentwickelung die Meinungen noch vielfach auseinandergehen, dies hat nicht zum wenigsten darin seinen Grund, w^eil man bisher seiner Schritt über das JVlafs der Kräfteschätzung eine viel zu geringe Beachtung ge- schenkt hat. Es wird sich zeigen, wie die Rekonstruktion jener Entwickelung sich verhältnismäfsig leicht vollziehen und das Bild der letzteren als eine gerade aufsteigende Linie sich darstellen läfst, sobald man das treibende Prinzip seines Gedankenfortscbritts in den Dvnamismus setzt^ dem Kant der abstrakt mechanischen Natur- anschauung gegenüber bestrebt ist, zum Siege zu verhelfen.

Dafs die Naturwissenschaft durch die Annahme einer dynamischen Theorie der Materie keine Einbufse erleidet, dafs vielmehr gerade eine naturwissenschaftliche, d. h. rein mechanische, Erklärung für die Entstehung des Weltgebäudes nur auf (-irrund dynamischer Prinzipien möglich ist, davon hat Kant den Beweis in einer Schrift geliefert, die er neun Jahre nach jener Erstlingsschrift unter dem Titel : ,. A 1 1 g e m e i n e Naturgeschichte und Theorie des H i m m e 1 s o d e r V ersuch von de r V e r f a s s u n g und d e m mechanischen U r s j) r u n g e des ganzen W e 1 1 g e b ä u d e s , nach n e w t o n s c h e n G r u n d s ä t z e n a b gehandelt'' als Frucht seiner eingehenden naturwissenschaftlichen und j)hilosophischen Studien im Jahre ITf):") veröffentlicht hat. Kant hat derselben stets eine besondere Wichtigkeit beigemessen, wie daraus hervorgeht, dafs er durch G e n s i c h e n einen Auszug aus ihr hat anfertigen lassen,

den er einer 17J)1 erschienenen Übersetzung der Abhandhing William Her seh eis über den Bau des Himmels beigefügt hat. Auch hat er seine Hypothese über die mechanische Entstehung des Weltgebäudes in seiner Schrift über den „Einzig möglichen Beweis- grund zu einer Demonstration des Daseins Gottes*' vom Jalire 1703 in kürzerer und fafslicherer Weise dargestellt und sich zeitlebims gern jenes ersten bedeutenderen Werkes erinnert, wodurch er seinen Namen mit unauslöschliclien Zügen in die Geschiciite der Astronomie eingetragen liat.

Copernicus hatte die ])tolemäische Ansicht über die Kon- struktion des Weltgebäudes in ihrem Fun(hnnent gestürzt und der Erde, die bis dahin für dessen ]\Iittelpunkt gegolten hatte, ihre excentrische Stellung im System angewiesen. Keppler hatte so- dann in den drei nach ihm benannten Gesetzen die Art und Weise, in welcher die Planeten sich um ihren wahren ]\rittelpunkt bewegen, sowie das thatsächliche Verh.ältnis gefunden, wie es zwischen dem Abstand der Planeten von der Sonne und der Schnelligkeit ihres Laufes liesteht. Dem Scharfsinne Newtons endHcb war es vor- behalten gewesen, das ])hysikalische Prinzij) jener Kegeln in dem Grundgesetz der Gravitation zu entdecken, nach welchem die Welt- k(irj)er sich proportional ihren Massen und umgekehrt j)roj)()rtional ihren Entfernungen anziehen; er hatte damit den unumstöfsliclien Nachweis geliefert, dafs. w e nn einmal die Planeten in eben dieser Ent- fernung vom Centralkörper eben diese bestimmte Geschwindigkeit erhalten haben, sie dann auch den ke])})lerschen Gesc^tzen gemäfs um die Sonne laufen müssen. Allein wie konnnen die Planeten dazu, gerade an dieser Stelle eben die für sie notwendige Ge- schwindigkeit zu erhalten, so dafs ihre eigene Scliwungkraft der Anziehungskraft der Sonne das Gleichgewicht hält? Wie erklärt es sich, (hifs sie vermöge ihrer innewohnenden Trägheit gerade in dieser Weise um ihren 31 ittel])unkt kreisen? Hier hatte Newton Halt gemacht und sich darauf berufen, Gott habe es selbst so an- geordnet. An diesen Punkt knüpft Kant seine kosmogonischen Untersuchungen an, um „das Systematische, welches die grofsen Glieder der Schöpfuiig in dem ganzen Umfange der Unendlichkeit verbindet, zu entdecken, die Bildung der AVeltkörper selber und den Ursprung ihrer Bewegungen aus dem ersten Zustande der Natur d u r c h m e c h a n i s c h e G e s e t z e herzuleiten" ( L 211).

Das scheint ein gewagtes Unternehmen zu sein, wenn man bedenkt, wie der Verstand des Menschen an den geringsten Dingen, die ihm täglich und in der Nähe vorkommen, oft zu Schanden wird. Wie sollte es nicht vergeblich sein, das Unermefsliche und

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A. Kant als Naturforscher.

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das, was in der Natur vorging, ehe noch eine Welt war, zu ent- decken ! Indessen ist wohl unter allen Aufgaben der Naturforschung irgend eine mit mehr Dichtigkeit und Gewifsheit gelöst worden als die wahre Verfassung des Weltbaues im grofsen. die Bewegungs- gesetze und das innere Triebwerk der Undäufe aller Planeten? Einem Newton ist es gelungen, hier Einsichten von mathematischer Sicherheit zu eröffnen; da erscheint es auch nicht mehr so un- möglich über den Ursprung des Weltsystems und die Erzeugung der Himmelskörper samt den Ursachen ihrer Bewegungen etwas Bestimmtes auszumachen. ,, G e b t m i r M a t e r i e , ich will eine Welt daraus hauen !^' Das ist ein Ausspruch, der vermessener klingt, als er wirklich ist.

„Man weii's/- sagt K;int, „was dazu gelu)rt. dafs ein K()rper eine kugelrunde Figur erlange; man hegreift, was erfordert wird, dafs freischwebende Kugeln eine kreisförmige Bewegung um den Mittelpunkt anstellen, gegen den sie gezogen werden. Die Stellung der Kreise gegen einander, die Übereinstimmung der Richtung, die Excentrizitiit, alles kann auf die einfachsten meclia- nischen Ursachen gebracht werden, und man dai-f mit Zuversicht hoffen, sie zu entdecken, weil sie auf die leiclitesten und deutlichsten Gründe gesetzt werden können. Kann man aber wohl von den geringsten Pflanzen oder einem Insekte sich solcher Vorteile rühmen? Ist man imstande, zusagen: gebt mir IVIaterie. ich will euch zeigen, wie eine Raupe erzeugt werden könne? Bleibt man hier nicht bei dem ersten Scliritte aus Unwissenheit der wahren inneren Be- schaffenheit des Objekts und der Verwickelung der in demselben vorhandenen Mannigfaltigkeit stecken? Man darf es sich also nicht befremden lassen, wenn ich mich unterstehe, zu sagen, dafs eher die Bildung aller Himmelskörper, die Ursache ihrer Bewegungen, kurz, der Urs})rung der ganzen gegenwärtigen Vertassung des Welt- baues werde können eingesehen werden, ehe die Erzeugung eines einzigen Krauts oder einer Raupe aus mechanischen Gründen deut- lich und vollständig kundwerden wird*' (IMI) f.). Man darf hoffen, der ])hysische Teil der Weltwissenschaft werde künftig noch einmal dieselbe Vollkommenheit erlangen, zu welchei' Newton die mathe- matische Hälfte derselben erhoben hat, denn neben den allgemeinen Gesetzen der Verfassung des Weltbaues sind vielleicht in der ganzen Naturforschung keine anderen solcher mathematischen Bestimmungen fähig, als diejenigen, nach welchen er entstanden ist (220).

Allein hier türmt sich v'm anderes Bedenken auf. AVenn diese ganze wunderbare Harmonie des Kosmos, die stets für einen

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Beweis der göttlichen Allmacht und Weisheit gegolten hat, nichts weiter ist als das Produkt blinder Kräfte, wenn sich die Voll- kommenheit des Weltbaues aus den natürlichen Gesetzen der .Afaterie selbst erklärt, was bleibt für die göttliche Vorsehung noch übrig, und wodurch unterscheidet sich eine solche Ansicht von dem System des R])ikur. wonacli die Religion eigenthch für überflüssig erklärt und an die Stelle der Gottheit das vernunftlose Widerspiel ungeistiger Atome gesetzt ist?

Kant ist eifrig bemüht, die Verträglichkeit seiner Kosmogonie nnt der Religion nachzuweisen. Die Ähnlichkeit seiner Theorie mit der Ansicht der griechischen Atomistiker ist nicht zu leugnen. Allein diese leiteten die Oi-dnung des Kosmos aus dem ungefähren Zufall her. der die Atome so glücklich zusammentreffen liefs. dafs sie ein wohl- geordnetes Ganze ausmachen, ja. sie glaubten sogar die organische Welt ohne weiteres auf die anorganische zurückführen zu köuinen. Nach Kant dageg(>n ist die Materie an gewisse Gesetze gebunden, „welchen sie frei überlassen, notwendig scheine Verbindungen hervorbringen mufs. Sie hat keine Freiheit, von diesem Plane der Vollkommenheit abzu- weichen. Da sie also sich einer höchst weisen Ahsicht unterworfen heÜndet, so mufs sie notwendig in solche übereinstimmende Ver- hältnisse durch eine über sie herrschende erste Ursache versetzt worden sein, und es ist ein Gott ehen deswegen, weil die Natur auch selbst im Chaos nicht anders als regelmäfsig und ordentlich verfahren kaiiir' (217). „Ich erkenne", sagt daher Kant, ..den ganzen Wei-t derjenigen Beweise, die man aus der Schönheit und vollkommenen Anordnung des Weltbaues zur Bestätigung eines höchst weisen Urhebers zieht. Allem wenn die allgemeinen AVirkungs- gesetze der Materie gleichfalls eine Folge aus dem höchsten Ent- würfe sind, so können sie vermutlich keine andern Bestimmuiigen haben als die. dvn Plan seiher zu erfüllen trachten, den die höchste Weisheit sich vorgesetzt hat'' (212f.j. In dieser Weise sucht er m Übereinstimmung mit Leibniz und Newton die Teleologie mit dem Mechanismus zu vereinigen, und man mufs einräumen, dafs auf dem Boden des Deismus, worauf hier Kant noch steht, eine andere Vereinigung dieser beiden entgegengesetzten Prinzipien nicht wohl denkbar ist. W\^nn s])äter Kant in seiner „Kritik der Urteilskraft" dasselbe Problem in einer unendlich viel tieferen Weise gelöst hat, so war dies nur auf Grund einer vertieften Anschauung über das Verhältnis möglich, wie es zwischen Gott und der Welt besteht.

Wie deidvt sich nun Kant die mechanische Entstehung des Sonnensystems oder des i)lanetischen Weltbaus? „Wenn man erwägt,

D r (' w ft , Kimtö Naturphilosophie. 9

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A. Kant als Natui-forschor.

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dafs li Planeten mit !) ?)e,t,deiterii,*) die \\m die Sonne als ihren Mittelpnnkt Kreise l)eselireil)en. alle nach einer Soite sich bcwe-cn. lind /wnr nach derjenigen, nach welcher sich die Sonne seiher dreht, dafs ihre Kreise nicht weit von einer -omeinen Fläche ahweielien, nämlich von dvv verliln-erten Ä(iuatorlläche der Sonne, dal's hei .1(mi (entferntesten der znr Sonncnwelt «;ehöri^^en Hininielski.rper. wo die gemeine Ursache dw Hewei^nnn: dem Yermnten nach nicht so krättig ^n'wesen als in der ^^ahheit /um iMitteljuinkte. Ahweichnn.ircn von der Genauheit dieser Hestimmunften statt,t,ndunden. die mit dem Man.^el der eingedrückten ]',ewegung ein genügsames Verhiiltnis hahen. wenn man, sage ich, allen diesen Zusammenhang erwägt: so wird man bewogen, zu ^lauhen, dafs eine Ursache, welche es auch sei. einen durchgängigen Kinihils in dem .ganzen JJ:iume dt>s Systems gehal»t liat und dal's die Einträchtigkeit in (h'r Kichtung un<l Stellung der ]danetischen Kreise eine Folge der fhereinstinimung sei. die sie alle mit derjenigen materialischen Ursache gehabt liahen müssen, dadurch sie in liewegnng gesetzt worden" (L^-iT) f.). Da nun der l^aum zwischen den einzelnen Planeten gegenwältig offenbar leer ist und also in ihm keine iAIaterie vorhanden ist. die jene gleichlT.rmigen Bewegungen sollt(^ hervorgerufen haben, dennoch ahcr eine natür- liche Ursache der letzteren gesucht werden mufs, so schliefst Kant, dafs eine solche lAlaterie früher einmal .lagewesen sei, welche die Bewei^ung auf alle im Kaume betindlichen Hiiumelski)ri)er über- tragen und damit die Ursache zur Fntstehun- di-s Fhmetensystems geg'cd)en habe. Demnach nimmt er an. dafs alle Materie der Körper unserer Sonnenwelt im Anfang aHer ])inge, in ihre Fle- mente aut*gel()st. den ganzen Kaum unseres gegenwärtigen l'laneten- systems gleichsam als eine ungeheure Dunstkugel erfüllte und dafs aus diesem einfachsten Zustand der Natur, als dem sog. Chaos, sich idle anderen Zustände erst herausgebildet haben.

Man braucht sich nur vorzusteUen. die Elemente der i\laterie hätten hinsichtlich ihrer Schwere unendlich mannigfache Unterschiede darge- ])Oten. indem z. U. diejenigen unter ihnen von grbfster spezitischer Dichtigkeit und Anziehungskraft an und für sich weniger Kaum einnahmen, auch seltener und zerstreuter als die leichteren Arten waren, so ist klar, dafs bei einem auf solche \Vvi<c erfüllten liaunie die allgemeine Kühe nur einen Augenblick dauern konnte. Die zerstreuten P^lemente dichterer Art sammeln veiniittelst der An-

*l An andorn Stollen s])riclit Kant von (1 Planeten (in.l lo he-leitern: Morkur, Venus, di.- V.rdv n.it ilirm. :\l<)n(li', Mars. Jupiter mit 4 und Saturn mit 5 Trabanten (v<?l. 2.!0 31(1).

Ziehung aus einer Sphäre rund um sich alle Materie von minder spezifisclier S(diwere an: mit diesen vereinigt, werden sie selbst zu no(di dichteren hmgezogvn und so fort. Gäbe es in der Natur blofs anziehende Krä-f^te. so würde mithin alle Materie sich schliefs- lich zu einem einzigen ungeheuren Klnmj)ei] zusammengeballt haben. Nun stofsen sicli aber die sämtlichen in J^>ewegung betindlichen kleinsten Tedchen der .ALtterie zugleich auch ab. und durch diese Zurück- stofsungskraft. ,die sich in der Flastizität d.T Dünste, dem Aus- flusse stark riechender K.'irp^^r und der Ausbreitung aller geistigen Materien offenbnrt. und die ein unstreitiges Phänomenen der Natur ist. werden die zu ihren Anzndiungspunkten sinkenden Ele- mente durch einandei- von der geradlinigten Bewegung seitwärts gelenkt, und der senkrechte Fall schlägt in K r e i s h e w e g u n g e n aus, die den .Mitteljiuiikt der Senkumr umfassen" ('2A')). Denn die erste Folge der beiden i.n.-en einander wirkenden Kräfte mao zwar eine allgemeine AVirhelhewegum? der kleinsten Teilchen sein, von denen jedes iuv sich krumme Linien durch (He Zusammensetzung der anziehenden und der seitwärts gelenkten U'mwendungskraft i)eschreibt: diese einander widerstreitenden und sich gegenseitig stfüviiden Bewegungen sind doch auf alle Weise bestrebt, einander zur Gleichheit, d. li. in einen Zu4and zu bringen, wo die eine der anderen so weni- als mr.glicli hinderlich ist: dieser Zustand der kleinsten Wirkung aber ist dann erreicht, wenn alle Teilchen in parallel laufenden und gleich gei-uditeten Kreisbewegungen um den Gentral- kdrjx'r nls ihren I\f ittelpunkt sich ])ewegen. Natürlich vermdgen nur diejenigen Teilchen in diesen freien Kreisbewegungen sich schwebend zu erhalten, welche durch ihr Fallen und durch den Widerstand der anderen eine sohdie Gescliwindigkeit und Bicditung bekommen haben, dafs ihre Schwungkraft der Anzieiiungskraft das Gleich- gewicht hiilt. Diejenigen jedoch, die eine scdche Genauit,rk«Mt der Be- stimmungen nicht erhingen, sinken immer tiefer und htben. indem sie die Kreise der unteren durchkreuzen, in den allgemeinen .Mittel- ])unkt der Attraktion, der die gWifste Mengc^ von Materie um sich versammelt hat, die Sonne, herab. Jene anderen dagegc-n müssen sich in einer solchen Weise um die Sonne bewegen, dafs alle Um- läufe mit d(>r Ebene ihrer Kreise den Mittelpunkt der Attiaktion durchschneiden. Es nähern sich fol-Iieh alle Teilchen so vicd. wie mdgli(b, eben dieser Ebene, und nur diejenigen, die nicht die ge- hörige Nähe erreichen kr»nnen. werden schliefslich ebentalls in die Sonne herabgezogen.

Jndem nun die in paralhden Kreisen in einerund derselben Ebene nach der nämlichen Kichtung um die Sonne sich bewegenden Elemente

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A. Kant als Naturforscher.

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„in nicht ^'ar zu ^rofsem Unterschiede des Ahstandes von der Sonne ge- nommen, durch die Gleichheit (U^r paralkden Bewe.i^^unp: heinahe in re- spektiver Rulie ^egen einander sind, so thut die Anziehung der daselhst hetindlichen Elemente von iiherti-effender spe/itischei' Attraktion so- gleich hier eine heträchtliche Wirkung" : sie sammelt die nächsten Par- tikeln zur Bildung eines Kr)r])ers, der nach dem Mafse seines AVachstums innner entferntere Elemente an sich zieht, und diese so entstandenen Körper sind ehen die Phmeten. die folglich ehenso, wie die Eh'iiiente, aus denen sie sich gehihlet hahen, in der gleichen Hahn, der gleichen Ehene, der gleichen Kichtuiig um die Sonne schwingen. Dal's die Planeten in Wirklic-hkcit nicht t)lol's von der regelmäfsigen Kreis- form, sondern auch von der gemeinsanuMi Beziehungsehene etwas ahweichen, ciklärt sich aus den Unterschieden der Geschwindigkeit, die zwischen den aus weiter Ferne zur Bildung der Phmeten zusammenschiefsenden Elementen hesteht, sowie daraus, (hil's ihre Beschränkung auf eine Ebene docli immer nur eine annähernde sein kann (L>4()— ^f):;). Es ist aber leicht einzusehen, dafs, wie um die Sonne die Planeten, in derselben Weise sich aneh die Monde um die Planeten gebihh't haben ('J()7 If.). ja. die Analogie gestattet uns sogar die Annahnn^, auch die Fixsternwelten, deren systematischen Charakter Kant festgestellt hat, und unter denen sich die Milch- strafse zu unserem Sonnensystem ganz ehenso, wie die Planeten zur Sonne, verhält (L>:;4— LM4), seien auf die gleiche Art, wie unser Soiniensystem, aus den kleinsten Teilchen der den leeren llaum erfüllenden elementarisclien Materie entstanden (289).

Es mul's einer (-ieschichte der Naturwisse^nschaft, insbesondere der Astnmcmiie überlassen l)leiben, die näheren Details der kantisehen Theorie des Himmels darzulegen, seine scharfsinnige Hyj)othese üher das Milchstrafsensystem und die systematische Verfassung unter den Fixsternen, wie sie in ähnlicher AVeise sechs dahre später von Lambert in seinen ,.Kosmologischen Briefen über die Ein- richtung des Weltbaues-' (liiil) ohne Kenntnis der Ideen Kants ausges[)rochen und später von Herschel bestätigt wurde, einer näheren Würdigung zu unterziehen. Es kann hier nicht der Ort sein, die Schlüsse, die er aus seiner kosmogonischen (irund- annahme gezogen hat, und welche die verschiedene Dichtigkeit der Planeten und das Verhältnis ihrer Massen, die Excentrizität der Planetenkreise und den Ursprung der Kometen, die Entstehung des Saturnringes, die tägliche Umdrehung des Saturns, das Zodiakal- licht u. s. w. betreifen, zu i)rüfen und mit den Ergebnissen der heutigen Wissenschaft zu vergleichen. Eine solche Darlegung wird das überraschende liesultat gewinnen, dafs, wenn man von manchem

Veralteten absieht, wie es bei dem damaligen Stande der astro- nomischen Kenntnis nur selbstverständlich ist, gar vieles, ja. vielleicht das Meiste von dem. was Kant gelehrt hat, durch die spätere Forschung bestätigt worden und heute in der Wissenschaft in vollem Ansehn steht.*) Uns interessiert lediglich der philosophische Grundgedanke Kants, aus dem heraus er seine kosmogonische Hypothese entwickelt hat. seine Annahme, dafs dieser Weltbau nicht auf einen unmittell)aren Machtspruch des Gottscluipfers zurück- zuführen, sondern nach den allgemeinen und bekannten Natur- gesetzen durch kausalen Mechanismus aus dem Chaos sich heraus- gebildet habe. Dafs er es gewagt hat, dieses Erkläiungsprinzij) hei einem Gegenstande anzuwenden, der, wie kaum ein ainh^rer, sich demselben zu entziehen schien, damit hat Kant einen ungeheuren Schritt vorwärts nicht blofs in der Naturwissenschaft, sondern auch in der Philosoi)hie gethan ; bemerkt er doch mit Hecht, es sei für einen Philosoplien eine ,. betrübte Entschliefsung, bei einer zusammen- gesetzten und noch weit von den einfachen Grundgesetzen entfernten Beschahenheit die Bemühung der Untersuchung aufzugeben und sich (wie Newton) mit der Anführung des unmittelbaren Willens Gottes zu begnügen" (8.20).

Man hatte bekanntlich lange keine Almung davon, dafs eine ganz ähnliche Hypothese, wie diejiMiige, die La place am Schlüsse seiner berühmten ,. Exposition du Systeme du monde'' (IT})!)) über die Ent- stehung des Blanetensystems aus einer um ihre Axe rotierenden Diinst- kugel aufgestellt hatte, fast ein halbes .Jahrhundert früher bereits von Kant entwickelt wäre. Es bedurfte erst mannigfacher Hinweise aut' Kants naturwissenschaftliches Genie, wie sie von Alexandei- v, Hum- boldt in seinem „Kosmos-', von Ijittrow in seinem i)ekannten Werke über die „Wunder des Himmels", insbesondere aber auch vonScho])en- hauer in den ..Parerga und Paralipomena" (Bd. II) und M e 1 m - holtz in seiner Rede ..Über die Wechselwirkung der Xaturkräfte*' (1804), sowie von Kuno Fischer im dritten Bande der ..Ge- schichten der neueren Philosophie" (1(S()0) gegel)en wurden, um die Augen der gebildeten Welt wieder auf den ersten Entdecker jener Theorie zurückzuwenden. Heute aber, nachdem auch Zöllner in seinen „Photometrischen Untersuchungen" (hSt);')) sich für jene Hypothese erklärt und hier, sowie in seiner berühmten Schrift „Über die Natur der Kometen" (1(S72) die Verdienste Kants um

*i \\i\. hieiühiT dir frehaltvolle Al)haii(llunfr Rouschles ü])er „Kant und die Naturwissenschaft mit hes. Rücksicht auf neuere Forschungen" in der „Deutschen Vierteljahrsschrift" 18i;,s. Heft II, Ahtlg. I. S^»— J02. Ehenso: .J. H. V. Kirchmajin: ErUiuterunn^en /u Kants Schriften zur Xatur})l)ilos(>})liie.

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A. Kant als Naturforscher.

A. Kant als Naturforscher.

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die Naturwissenschaft ins rechte Licht gestellt hat. heute ist die sogenannte K a n t - L a p la ce s e h e N e b u 1 a r h y p o t h e s e so allge- mein anerkannt, dal's sie geradezu eirien lesten Bestainlteil der modernen i^ihlnng darstellt. ^

Wie einfaeh und nahelic^gcnd übrigens diese Hypothese ist, wo- durch sie auch den Yoriang üi)er alle anderen Theorien der Planeten- bildung sich errungen, das geht unter anderem daraus hervor, dals auch Laplaee. viUlig unabhängig von Kant, aus ganz der nändichen Voraussetzung zu ihr «gekommen ist. Auf diese interessante Über- einstimmung im (Tedankengange beider Männer hat zuerst () tto Lieb- mann aufmerksam gemacht.'"^) Aus der gleichförn.igiMi Umdrehung der Planeten in der Khene des Sonnenä(juators sehliefsen beide auf eine gemeinschaflliche Ursache. Kein A\'under! bei IJuffon. den Kant sowohl, wie auch La])lace. gekannt haben, findet sieh in dessen „Histoire naturelle" (17r)()) der nämliche Gcuhmke ausgesprochen, und bereits bei Newton in seinen ..^lathematischen Prinzipien der Natur- l)hilosophie" heifst es: ,. Planetae sex j)rincipales revolvuntur circa Solem in circulis Soli eoncentricis, eadem motus directione in eodem piano (|uamj)roxime. Lnnae dec(Mn revolvuntur circum Tcrram, Tovem et Saturnum in circulis concentricis, eadem motus directione. in i)lanis orbium Planetarum (juamproxime. Lt hi omnes motus reguläres originem non habent ex causis niechanicis. Klegantissima liaecce Solls, Planetarum et cometarum compages non nisi consilio et dominio Entis intelligentis et potentis oriri potuit.*'**) Ks be(hjrfte also nur einer Deutung der von Newton gtdieferten Piämisstn in natur\vissenschaftli<diem Sinne, um die richtige Erklärung der Phmetenentstehung zu linden. Huffon verfehlte dieselbe, imh-m er annahm , ein Komet habe die Sonne gestrc^ift und ein Stih'k von ihr los.i^crissen, woraus sich alsdann die JManeten gehildct hätten. Kant und Laj)lace haben unabhängi.i,^ von eimunh'r diMi richtigen Schlufs giv.ogen. und damit ist. wie Liei)mann treffend bemerkt, der logische Gedankenzusammenhang tlurch den historisciien ergänzt worden.

Was nun die Prinzii)ien anbetrifft, aus denen heraus Kant seine kosmogonische Hyi)othese entwickelt hat. so sind es die in seiner Eistlingsschrift bereits angedeuten, durch (h'ren Annahme er die rein mechanische Naturbetrachtung zur dynamischen umgestalten wollte. „Ich habe'', bemerkt er selbst, ,.keine anderen Kräft(^ als die An- ziehungs- und Z u r ü c k s t o f s u n gs k r a f t (an anderen Stellen

*) Philos. Monatshefte Bd. IX (I.^T.T). L>46 'Jnl. **) 1 s. N(>\vt<)iii: Opera; edit. Horsley (1782j. 171.

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Spricht Kant auch von einer ..sinkenden*' und einer ..schiefsenden'' Krait; 'J.'>l) f. .')l(i) zur P]ntwickelung der grofsen Ordnung der Natur angewandt, zwei Kräfte, welche beule gleich gewil's, gleich einfach und zugleich gleich ursprünglich und allgemein sind. Beide sind a u s d er n e w t o n s c h e n W e 1 1 w e i s h e 1 1 e n 1 1 e h n t. Die erstere ist ein nuniiiehr aufser Zweifel gestelltes Naturgesetz. Die zweite, welcher vielleicht die Naturwissenschaft des Newton nicht soviel Deutli(dd^eit als der ersteren gewähren kann, nehme ich hier nur in demjenigen Verstände an, da sie niemand in Abrede stellt, nämlich l)ei dov feinst(Mi Auflösung der Materie, wie z. E. bei den Dünsten*' ('J24). y,iy\(' Anziehung ist ohne Zweifel eine ebenso weit ausg(Ml(dinte ßigenscdiaft der ^laterie, als die Koexistenz, welche d e n R a u m m a cht, indem sie die Substanzen d u r c li gegenseitige xAb n gig k ei te n v e i- b i n d e t . oder, eigent- licher zu reilen: die Anziehung ist eben diese allgemeine Beziehung, welche die Teile dor Natur in einem Räume vereinigt; sie erstreckt sich also auf die ganze Ausdehnung desselben bis in alle Weiten ihrer Unendliiddceit'^ ('JJJl). Die Anziehung ist „eher als alle Be- wegung*', sie ist die ,.urs))rüngliche Bewegungsquelle*', „die keiner frennlen Ursachen bedarf, auch durch keine Hindernisse kann aufge- halten werden, weil sie in das Innerste der Materie ohne einigen Stofs selbst bei der allgemeinen Buhe der Natur wirkt.*' Dei- unermefs- lichen Entferimngen ungeachtet, hat sie im Aid'ang der Regung der Natur dvn üherall hin zerstreuten Stotf zu eigenen Kcirpern ge- sammelt und ist ebenso die l'rsache ihrer systematischen \^'rl)indung, wie der dauerhaften Beständigkeit ihrer (Trlieder, welche sie vor dem Yerfalh; sichert {e\)d. f.).

„Wenn nun alle Welten und Weltordnungen dieselbe Art ihres Uisprunges erkeimen lassen, wenn die Anziehung unbeschränkt und allgenn^in. die Zurückstofsung der Elemente aber ebenfalls durchgehends wirksam, wenn bei ileni Unendlichen das (Irofse und Kleine beiderseits klein ist; sollten nicht alle die Weltgebäude gleichermafsen eine beziehende Verfassung und systematische \er- bindung unter einander angenommen haben, als die liimmelskiirper unserer Sonnenwidt im Kleinen, wie Saturn. .Jupiter und die Erde, die für sich insoiulerheit Systeme sind und dennoch untereinander als Glieder in einem noch gröfseren zusammenhängen?" Li der That k(>nnen wir nicht zweifeln, dafs der gesamte Kosmos ein einziges grofses System ausmacht, in welchem alle Glieder untt^r- einander zusammenhängen und vielleicht auf einen allgemeinen Mittelpunkt bezogen sind. Es läfst sich freilich schwer mit dieser Annahme vereinigen, dafs Kant die Schöpfung dem Räume

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A. Kant als Naturforschor.

A. Kant als Naturforscher.

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nach als unendlich ansieht, weil es ungereimt wäre, die Gott- heit nur mit einem unendlich kleinen Teile ihres schöpferischen Vermögens in AVirksamkeit zu setzen und ihre unendliche Kraft, den Schatz einer wahren llnermefslichkeit von Naturen und Welten, unthätig und in einem ewigen Mangel der Ausübung verschlossen sich zu denken. „Man kommt der Unendlichkeit der Schöpfungs- kraft Gottes nicht näher, wenn man den Kaum ihrer Offenbarung in einer Sphäre, mit dem Radius der Milchstrafse beschrieben, einschliefst, als wenn man ihn in eine Kugel beschränken will, die einen Zoll im Durchmesser hat. Alles, was endlich, was seine Schranken und ein bestimmtes Verhältnis zur Einheit hat. ist von dem Unendlichen gleich weit entfernt" ('J})'J). Soll die Scli()j)fung wirklicli ein Zeugnis der göttlichen Allmacht sein, so kann sie folglich allen gegenteiligen Ansichten der Metaphysiker zum Trotz auch nur als dem liaume nacb unendlich geda(;ht werden: denn die Ewigkeit für sich allein ist nicht hinreichend, die Zeugnisse, des höchsten Wesens zu fassen, wofern sie nicht mit der Unendlichkeit des Eaumes verbunden ist. Ist aber der Kaum unendlicb und ge- schieht die Ausbildung, die Rntwickelung des Weltbaues in der Zeit, d. h. ist die Materie nicht von Anbeginn auch sclion geformt, sondern schliefst sie die verschiedenen Stadien der Entwicklung nur erst der Möglichkeit nach in sich, dann mufs von jenem oben erwähnten Mittelj)unkte der Attraktion des Universums aus, an welchem die Entwickelung begonnen hat, diu Schöpfung sich successive weiter und immer weiter ausgebreitet haben.

Eine streng wissenschaftliche Betrachtung giebt uns freilich nur Aufschlufs über die Entwickelung des Planetensystems und h()clistens noch des Fixsternhimmels, und Kant selbst bemerkt: „Ich bin den Folgen, die meine Tlieorie darbietet, nicht so sehr ergeben, dal's ich nicht erkennen sollte, wie die M utma fsung von der successiven Ausbreitung der Scluipfung durch die unendlichen Käume, die den Stoö' dazu in sich fassen, den Einwurf der Unerweisliclikeit nicht völlig ablehnen könne. Indessen verspreche ich mir doch von den- jenigen, welche die Grade der Wahrscheinlichkeit zu schätzen im- stande sind, dafs eine solclie Karte der Unendlichkeit, ob sie gleich einen Vorwurf begreift, der bestimmt zu sein scheint, dem mensch- lichen Verstände auf ewig verborgen zu sein, niciit um deswillen sofort als ein Hirngespinst werde angesehen werden, vornehndich wenn man die Analogie zu Hilfe nimmt, welche uns allemal in solchen Fällen leiten mufs, wo dem Verstände der Faden der un- trüglichen Beweise mangelt'' (21)8). Es ist die Einbildungskraft, die sich über die (Frenzen des wissenschaftlich Er fahr baren erhebt

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und dem unvollendeten Bilde einen Abschlufs giebt, der allein erst das Gemüt durch den Gedanken der Übereinstimmung aller Teile in der Welt befriedigt.

Angenommen, die Schöpfung habe von ehiem bestimmten Punkte aus, als dem (3rte der dichtesten Häufung der Materie, sich successive immer weiter und weiter ausgehreitet, diese Materie sei unendlich und die Zeit, darin sie sich entwickelt, sei ebenfalls unendlich, so kann die Sphäre der ausgebildeten Natur allemal nur einen unendlich kleinen Teil desjenigen Inbegriffs darstellen, der den Samen zukünftiger Welten in sich trägt und sich aus dem rohen Zustande dt^r Materie in längeren oder kürzeren Perioden aus- zuwickeln trachtet. „Wenn wir eine gewisse Sphäre überschreiten könnten, würden wir daselbst das Chaos und die Zerstreuung der Elemente erblicken, die nach dem Mafse, als sie sich dem Mittel- l)unkte näher befinden, den rohen Zustand zum Ted verlassen und der Vollkommenheit der Ausbildung näher sind, mit den Graden der Entfernung aber sich nacii und nach in einer völligen Zer- streuung verlieren. Wir würden sehen, wie der unendliche J\aum der g()ttli(^lien Gegenwart, darin der Vorrat zu allen möglichen Naturbildungen anzutreffen ist, in einer stillen Xacht begraben, voll von Materie ist, den künftig zu erzeugenden Welten zum Stoff*» zu dienen, und von Trit^-bledern. sie in Bewegung zu bringen, die mit einer schwachen Kegung diejenigen Bewegungen anfangen, womit die Unermefslichkeit dieser öden Räume dereinst noch soll bidebt werden. Es ist vielleicht eine I^eihc von Millionen dahrcn und dahrliunderten verilossen, die die Sphäre der gebildeten Natur, darin wir uns befinden, zu der Vollkommenheit gediehen ist. di(^ ihr jetzt beiwohnt: und es wird vielleicht eine ebenso lange Periode vergehen, bis die Natur einen ebenso weiten Schritt in dem Cliaos thut. Es werden ^Millionen und ganze Gebirge von Millionen Jalir- hunderten veriliefscn. binnen welchen immer neue Welten und Welt- ordnungen nach einander in den entfernten Weiten von dem Mittel- punkte der Natur sich bdilcii und zur Vollkonimeidieit gehingen werden; allein die Schöpfung ist niemals vollendet. Sie hat zwar angefangen, aber sie wird niemals aufhören. Sie ist immer ge- schäftig, mehr Auftritte der Natur, neue Dinge und neue Welten hervorzubringen. Das Werk, welches sie zustande bringt, hat ein Verhältnis zu der Zeit, die sie darauf anwendet. Sie braucht nichts weniger als eine Ewigkeit, um die ganze grenzenlose Weite der unendlichen Käume mit Welten ohne Zabl und ohne Ende anzu- füllen" (211(3 f.).

L)ie Fruchtbarkeit der Natur ist ohne Schrank(Mi. weil sie

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A, Kant als Xaturfors(;her.

A Kant als Naturforscher.

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iiit'lits Anderes als die Aiisiibuii^^ (\vv miittliclien Allniaelit seiher ist. „Uiiziiidi^M' Tiere und I Plauzen werdi n täiilicli /erstöi-t und sind ein Opfer (Ki- \'ei'^än,i]jli('hkeit : aliei* nicht \veni,i]^er bringt die Natur durch ein unerschiipltes Zeu,u;un^svernH"),i{en an anderen Orten wieih'rnm hervor und l'idlt (his Leere aus. lietriichtliche Stücke des Erdhodens, den wir hewohnen, werden wiederum in d(»m Meere hej^rahen, aus dem sie eine ,:,dinstit^e Periode liervor»^ez()«^en hatte; al)er an anderen Orten er^iinzt die Natnr (Kmi Man<^^el und hrini't andere Gegenden hervor, die in der Tiefe (h's Wassers verhornen Wiiren. um neue Keichtümer ihren* Fruchtbarkeit über dieselben auszubreiten. Auf die gleiclie Xvi ver,^ehen Welten und Wclt- or(hiungen und werden von dem Abirrunde der Ewigkeit ver- schlungen; dagegen ist die Schöpfung immerfort geschäftig, in anderen HimmelsgegeniU'n neue Bihlungen zu vei'richten und (Um Abgang mit Vorteil zu ergänzen*' ("J!)ll f.).

,,Man darf nicht erstaunen, selbst in (hau Oi'ol'scn der \\ crke Gottes eine Vergängbchkeit zu verstatten. AHcs, was emllich ist, was einen Anfang und lh•^j)rung hat. hat (bis Merkmal seiner ein- geschränkten Natur in sich; es mufs vci'gelien und ein Knde haben. Newton, dieser grofse Bewunderer (ha* Eigenschaften (lottes aus der Vollkommenheit seiner Werke, der mit der tiel'sten Kin>icht in die Trefflichkeit der Natur die gr(ifste Khrfurcht gegen die Offenbarung der gbttlichen Allmacht verband, sah sich irenötigt, der Natur ihren Verfall durch den natürlichen Hang, den (he Mechanik der I^ewegung dazu hat, vorbei" zu vta"kündigen. Wenn eine systematische Verfassung durch die wesentlicln^ Folge (Ua* Hinfälligkeit in grofsen Zeitläui'en auch den allerkleinsten Teil, den man sich nur denken mag. dem Zustande ihrer Verwirrung nähert, so mufs in dem iniendlichen Ablaufe der Fwigkeit doch ein Zeit- punkt sein, da diese allmähliche V^erminderung alle Hewe^nnig erschö[)ft hat" (.)()()). Wahrscheinlich wird diese Zerstöruni^ bei denjenigen K()rpern beginnen, die sich dtan J\Iittelj)unkt des Welt- alls am nächsten befinden, sowie auch bei ihnen die Frz(aiuung und Bildung angefangen hat: von hier wird sie nach und nach in weitere Entfernungen sich ausbreiten, um schliefslich die ganze Welt in einem einzigiai Obaos zu hegrjdaai. Die ausgebildete Welt be- Hndet sich demnach zwischen den Buinen der zerstiuten und (hau Chaos (ha- uni^nd)ildeten Natur mittcai inne und harrt nui* des Zeit- punktes, wo auch sie der siclna-en Vernichtung anheimfallen wird. Wenn ihre llmlaufsbewegungiai sich soweit erschöpft haben, dafs sie der Anziehungskrat't des Centralk()r})ers nicht mein- das (lileich- gewicht zu halten vermögen, so stürzen die Planeten und Kometen

in die Sonne und helfen deren Glut durch den gewaltigen Zuwachs vermehren. Das Bild einer solchen brennenden Sonne hat Kant in h()chst ;inschaulicher Weise geschildert: ..Man sieht in einem Anblicke weite Feuerseen, die ihre Flammen gen Himmel erheben, rasende Stürme, deren Wut die Heltigkeit (ha* ersten vca'doppelt. welche, indem sie seil)ige über ihre Ufer aufschwellend machen, bald die erhabenen Gegeiuhai dieses Weltkörpers bedecken, bald sie in ihre Grenzen zurücksinken lassen ; ausgebrannte c'elstai. die aus den flammenden Schlünden ihre fürchterlichen Spitzen heraus- strecken, und deren Uberscliw(aninung ocha- Fntbhii'suiig von dem wallenden Feuia'elemente das abwechselnde Erscheinen und Wa- schwinden der Sonmadlecken v(aairsacht: dicke Dämpfe, die das Feuer ersticken, und die. durch die Gewalt der Winde erhoben, finstere Wolken ausmacluai. welche in feurigtai Regengüssen wiederum lua-ahstiirzen und als brennende Ströme von den Höhen des festen Sonnenlandes sich in die flaninienden Thiiler ergiefsen. das Krachen (ha" Elemente, den Schutt ausgebrannter .Materien und di(^ mit dta- Zerstihamg ringende Natur" (MO!) f.).

Den einzidiuai AVeiten also steht ein sicheres Ende bevor. Aber ist es nicht denkbar, dafs die Natur, sowie sie aus dem alten Chaos zu systematischer Ordnung und \'ollkommenheit sich erholaai hat, ganz ebenso auch imstande sein wird, aus dem neuen Chaos sich wiederum in früherer Scla'inheit herzustellen? Wenn durch ^\v\\ Sturz der Planeten in die Sonne und die hi(a'durch entlachte un^Tjeheure Glut alles wiederum in die kleinsten Elemente sicii auflöst, dann m(")gen sich diese wohl mit <a'ner der Hitze gemäfsen Ausdehnungs- kraft und mit eiiua- Schnelligkeit, die durch keinen W^iderstand des llaumes geschwächt wird, in dieselben waaten Bäume wiederum ausbreiten und zerstreuen, wie vorher, und alaa'mals durch das Widerspiel der Anzi(diungs- und Zurückstofsungskraft zu eiiuau neuen Weltgebäude umgeformt werdiai. Und wiam ein einzelnes Blaneteiisystem auf diese Weise in Verlall geraten und durch wesentliche Kräfte si(h daraus wiederum hergest(dlt hat. wenn es wohl gar dieses Spiel mehr als einmal wiederholt hat. so wird endlich die iVaäode herannahen, die ebenso das i^rofse System, darin die Fixsttaaie Glieder sind, durch den Verfall ihrer Bewegungen in einem Chaos sammeln wird.

Die Natur ist ein Phönix, der sich nur darum verbnamt. um aus seiner Asche wiederum via-jüngt em])orzusteigen. \)vy Geist, der alles dieses überdenkt, versenkt sich in ein tiefes Erstaunen. Aber dennoch unzufrieden mit diesem erhabenen Gc^genstande, dessen Ver^^änglichkeit die Seele nicht dauernd befriedigen kann, wünscht er dasjenige Wesen

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A. Kant als Xaturforscher

A. Kant als Naturforscher.

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in der Nähe kennen zu lernen, dessen Verstand, dessen Gröise die Quelle desjenigen Lichtes ist. das sich über die gesamte Natur, gleich- sam als aus einem Mittelpuidct, ausbreitet (.•>() 1 .-^04). Eine phan- tastisclie Naturbetrachtung denkt sich die Gottheit, luit Anziehungs- und Zurückstofsungskräften begabt, in jenem Mittelpunkt des Eaumes, nach weichem das gesamte Universum gravitiert. Das religiöse Bewul'stsein aber weil's es besser: ,.I)ie Gottlieit ist in der Un- endlichkeit des ganzen Weltraums allenthalben gleich gegen- wärtig: allenthalben, wo Naturen sind, welche tabig sind, sich über die Abhängigkeit der Gescbcipt'e zu der Gemeinschaft des höchsten Wesens emporzuschwingen. beHndet es sich gleich nahe. Die ganze Schöpfung ist von ihren Kräften durchdrungen; aber nur derjenige, der sich von dem Geschöpfe zu befreien weifs, welcher so edel ist, einzusehen, dafs in dem Genüsse dieser Ur(juelle der \^)llkommen- heit die lu'ichste Staffel der Glückseligkeit einzig und allein zu suchen sei, der allein ist fähig, diesem wahren Beziehungspunkte aller Treh'lichkeit sich näher als irgend etwas Anderes in der Welt zu betinden'- (:V1 1 f.).

8o leitet die Betrachtung der Organisation des Weltbaues zur Betrachtung der scluipferischen Gottheit hin. und die Naturphilosophie schlägt an ihrem Ende unmittelbar in l{eligionsj)hilos()phie um. Zwischen dei* leblosen Natur und der Gottheit in der Mitte aber be- findet sich das weite Reich des Geistes, vor allem dasjenige des menschlichen (feistes, und dieses ist mit der Natur so eng ver- flochten, dafs auch das Bild der letzteren nicht vollständig sein würde, wenn nicht auch seine unmittelbaren Beziehungen zur Natur wenigstens mit einigen kurzen Strichen würden angedeutet werden.

Mit F]ntschiedenheit betont Kant die Abhängigkeit, in welcher sich der Geist von der Materie befindet QVSi'y iL). Er schliefst daraus, entsprechend dem Prozesse in der physischen Welt, bilde auch das geistige Leben eine aufsteigende Entwickelung. und die verschiedenen Grade seiner Vollkommenheit hingen von der Art und Feinheit des StoÜ'es ab. an (hassen Ein Hufs die Geister zur Vorstellung ihrer Welt und zur Gegenwirkung in dieselbe gebunden seien. Es kann ja keinem Zweifel unterliegen, dal's die meisten unter den Planeten bewohnl sind, und dafs auch diejenigen, deren Beschaffenheit eine Erzeugung des Bebens vorläufig noch nicht zuläfst, dennoch dereinst eine Bevr)lkerung tra^^'en werden (:>:)() ff.). Denniach können z. B. die Einwohner der Erde und der Venus ohne ihr beiderseitiges Ver- derben ihre Wohnplätze mit einander nicht vertauschen. „Der Erstere, dessen Bildungsstotf für den (4rad der Wärme seines Ab- standes (von der vSoiuie) ])roportioniert und daher für einen noch

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gnifseren zu leicht und zu flüchtig ist. würde in einer erhitzteren Sphäre gewaltsame Bewegungen und Zerrüttung seiner Natur er- leiden, die von der Zerstreuung und Austrocknung der Säfte und einer gewaltsamen Spannung seiner elastischen Fasern entstellen würde ; der letztere, dessen frr()berer Bau und Trägheit der Elemente seiner Bildung eines grofsen Eintlusses der Sonne bedarf, würde in einer kühleren Himmelsgegend erstarren und in einer licblosigkeit verderben. Ebenso müssen es weit leichtere und flüchtigere Materien sein, daraus der Körper des Ju])iter-Bewohners besteht, damit die geringe Regung, womit die Sonne in diesem Abstände wnken kann. diese Maschinen ebenso kräftig bewegen könne, als sie es in den unteren Gegenden verrichtet" (i^oG). Überhaupt, meint Kant, mufs der Stoff, woraus die Bewohner verschiedener Planeten, ja sogar die Tiere und Gewächse auf ihnen gebildet sind, von desto leichterer und feinerer Art und die Elastizität der Fasern samt der vorteilhaften Anböge ihres Baues, folglich auch der Grad ihres geistigen Vermcigens um desto vollkommener sein, je weiter sie von der Sonne abstehen, weil nämlich die Feinheit der Materie mit ihrer Entfernung von der Sonne zunimmt. So ist es möglich, dafs auf dem Merkur ein Gröudänder oder Hottentotte ein Newton sein, auf dem Saturn dagegen ein Newton als ein Aife bewundi^rt würde (83() ff. !)12 f.). Uns. die wir die Erde ])ewohnen, ist nach unserer Stellung im Planetensystem ein mittlerer Grad von VollkonnniMiheit zu teil geworden, aber es wäre denkbar, dafs wir auch füi- die höheren Grade dereinst berufen seien. „Sollte die unsterbliche Seele wohl in der ganzen Unendlichkeit ihrer künftigen Dauer, die das Grab selber ni(;ht unterbricht, sonderji nur verändei-t, an diesen Punkt des Weltraumes, an unsere Erde jederzeit geheftet bleiben ? Sollte sie niemals von den übrigen Wundern der Sch()])fung eines näheren Anschauens teiliiaftig werdtMi? Wer weifs, ist es ihr nicht zugedacht, dal's sie dereinst jene entfernten Kugeln des Weltgebäudes und die Trefflichkeit ihrer Anstalten, die schon von weitem ihre Neugierde reizen, in der Nähe soll kennen lernen ? Vielleicht bilden sich darum noch einige Kugeln des Planetensystems aus, um nach vollendetem Ablaufe der Zeit, die unsert^m Aufenthalt allhier vor- geschrieben ist, uns in anderen Himmeln neue Wohnjilätze zu be- leiten. Wer weifs, hiufen nicht jene Trabanten um den Jupiter, um uns dereinst zu leuchten ?•' (344).

Es ist der Gedanke dei* prozefsartigen Natui- des Geistes, den auch Lessing und Herder ausges])rochen haben, und welcher in der l*hilosophie eines Schellin g dereinst noch zu ungeahnter Bedeutung sich entfalten sollte, es ist der Gedanke, dafs die Natur

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A. Kant als Naturforscber.

A. Kant als Naturforsclier.

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mit allen ihren Welten und allem Ixeiclituni ihrer Kiv.euiiun^en nur das ]\I i 1 1 e 1 fiii- den Sicirosznc^ der F^iitwickclnnir des (Teist(^s sei, wie er seinen grolsarti.iijsten Ausdi-iick hei H eg e 1 t^elundeu hat, der in diesen AVort(-n Kants zum Durehhrueh ^elanirt. um iiintnrt nicht wieder aus dem ])liil(»s()j)liis('hen (Ticdnnkenschatze /u entschwinden. jVIaij^ es um jene \'ermutun,ii<'n Kants bestellt sein, wie es will, in der Herv()rliel)un,i;- (h'r Einen Wahrheit hat er sich ein urr/weilel- luiftes Verdienst erworben, und d.irin ist vielleicht die kräftiii^ste An- reiJjunii: zu suchen, dit3 er in dieser Hinsicht s(u"ncn ?saclil()l.u:(U'n <^e- ^ehen hat: „Je iiäiiei- nnin die Xatur wii'd kennen lernen, desto mehr wird man einsehen, dafs die .'illixemeinen l^eschMiVenheiten der Dinge einander nicht fremd und getrennt sind. Man wird hinlänglich überfuhrt werden, dafs sie w e s e n 1 1 i c h e \ e r w a n d t s c h a i'i e n haben, durch die sie sich von sell)er anschicken, einandei" in Rr- riciitung vollkommener Verfassungen zu unterstützen. di(» Weclisel- wirkung der Kiemente zur Sclu'inheit der materialiselien un 1 (h)ch zuglei(;h zu den \'orteilen der Geisterwelt. und dafs überhaupt die einzelnen Naturen dei* Dinge in dem Kehle der ewigen Wahrheiten schon untereinander, so zu sagen, ein 8vsteni ausmachen, in welchem eine auf die andere beziehend ist: mm vviid auch alsbald inne werden . d a f s d i e V e r w a n d t s c h a f t ihnen von d e r (Gemeinschaft des Ursprungs eigen ist, aus dem sie ins- gesamt ihre wesentlichen Hestimmungen gesch()j)ft halxui" (:)4'2). ..In der That, wenn man mit solchen Betrachtungen und mit den vorhergehenden sein (icmüt eriÜllt hat. so giebt der Anblick eines bestirnten Himmels bei einer heit<'ren Nacht eine Art des Vergniig(Uis, welches nur edle Seelen empfinden. Hei der allgemeincai Stilbn der ]S'atur und der I Julie der Sinne redet das verborgene Firkenntnis- verm()gen des unsterblichen Geistes eiiu' unn(U)nnbare Sprache und giebt unausgewickelte J^egriffe. die sieh wohl emphnden. alxu- nicht lieschreiben lassen" (345).

Die Naturgeschichte und Theorie des Himmels hatte die Oi'gani- sation und Entstehung des Weltbaues im Ganzen betrachtet. Nun- mehr wendet Kant dieselbe Art der Betrachtung auch insbesondere auf die Erde an und hat auch hier eine Keihe von fruchtbarcui (bedanken zu Tage gefördert, die sein naturwissenschaftliches Genie in um so hellerem Gl.niz erscheinen lassen, wenn man den all- gemeinen Stand d(U' Wissenschaft zu seiner Zeit in Erwägung zieht, und bedenkt, wie es zum Teil ganz neue Gebiete waren, die Kant mit dem kühnen AVngemut des echten Forschers betreuten hat. Die Idee der Entwickelung, die er von N e w t o n übernommen, und die ihn in seiner Tlieorie des Himmels so glanzende Kesultate hatte

gewinnen lassen, diese Idee mufste ihm auch hier gleichsam als Leuelite dienen und bildete das zu Giunde liegende Prinzip hei allen seinen naturwissenschaftlichen Untersuchungen. Auch die Erde, die ja nur ein Glied in jenem allgemeinen Weltsystem bildet, hat ebenso, wie dieses, ihi-e Geschichte, die sich in die Vergangenheit so gut, wie in die Zukunft, veifolgen läfst. und diese Betrachtung ist somit nui- dasjenige im Khunen. was die Naturgeschichte des HimmeLs im Grofsen oder vielmehr im Unendlichen gewesen ist.

Auch die Erde licfand sicli. wie die übrigen Himmelskörper, anfänglich in tHissigiU' odei- dunstförmiger Verfassung und ging erst alhniihlich in den festen Zustand über. Nun giebt es ohne W^irme keine Flüssigkeit: es mufs also, wie l\;!nt dies in einem kleinen Aufsatz ,,U her di e A' u 1 k a n e i m M o n de'- \oin Jahre 1 iSö näher ausgeführt hat. auch die Wärme schon anfangs im W^'ltraum gleich- förmig ausgebreitet, oder der ilüssige Zustand mufs ein feurig- flüssiger gewesen sein. Da nun ,.dunsti'()rmig ausgebreitete Materien weit mehr Elementarwärnu' in sich fassen und auch zu einer duustförmigen \'erbreitung bedürfen, als sie halten kcinnen, sobald sie in den Zustand dichter Massen übergelien. die sich zu Weltkugeln vei-einigen, so müssen diese Kugeln ein lil>ernnifs von AVärmenuiterie ülier das natürliche (ileichgewieht mit dov Wärme- materie im iuium. worin sie sich befinden, enthalten: (L i. iiire relative AVärme in Ansehung des Weltraumes wird angewachsen sein- (I\'. 'J(M) f.). Hi'-raus erklärt sich die feurige Nritur des Centralkr)i])ers. der. als die gi-rifste .Masse in jedem Weltsyst(un, natur- gemäfs auch dio gi-()l"ste Hitze haben mufs. Ganz eltenso mufs auch die Krde einst eine leuchtende Keuerkugel, wie die Sonne, gewesen sein ; sie kann mithin ihr jetziges Aussehen erst in dem Mafse erhalten haben, in welchem ihre Obertiäche abgekühlt ist. Während dieser Prozefs nach aufsen hin sich abspielte, fingen in ihrem Innern an, sich Jjuftblasen zu entwickeln, stieg(ui nach oben und suchten durcii die gehärtete J^inde sich einen Ausweg zu verschaffen, und so mufsten im Schofse der Erde weite H(")h}ungen entsteluai, von denen uns insbesondere die Erdbeben eine Kunde liel'ern.

Nach der iürchtej'lichi'n Katastro])he des Erdbebens von Lissabon gegen Ende des Jahres lioö bildete diese Naturerscheinung das allgemeine Tagesgespräch. Kant, der von vielen Seiten daruiii ersucht wurde, sich über sie zu äufsern. und der es für die schöne i^flicht des Naturforschers hielt, bei derartigen Veranlassungen das l^ddikum durch die Einsicht in ihre Ursachen aufzuklären, veröffentlichte im folgenden Jahre drei Abhandlunge]i über jenen (-T egenstand : \() n d e n Urs a c h e n d e r E r d e r s c h ü 1 1 e r u n g e n

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A. Kiiiit als Naturforscher,

A. Kant als Naturforscher.

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l)ei Gelege 11 lieit des Unglücks, welches die westlichen L ii n der v o n E ii r o ]) a g e <^ e ii das K n d e d e s v o r i g e ii J a h r e s b etro ff eil hat ;" die „Gesc h i ch te und N n t u r beschreib uiig der in e r Iv würdigsten Vorfälle d (^ s E r d b c 1 > o b e n s . welches an dem F]nde des J7r)r)sten Jahres einen grofsen T(m1 der Erde erschüttert hat," und sclilii^lslich dii» ,. Fortgesetzte Betrachtung der seit einiger Zeit wahrgenommenen E r d e r s c h ü 1 1 e r u n g e 11. •'

Man hat zur P^rklnrun,"^ der Erdbeben die mannigfachsten Hypo- thesen aufgestellt, indessen leiden diese jille mehr oder weniger an dem Fehler, dafs zwischen der vermeintlichen Ursache und ihrer Wirkung keine genügende ICongruenz besteht. „Es ist nicht genug. auf eine Ursache geraten zu sein, die etwas mit der Wirkung Ähn- liches hat; sie mufs auch in Ansehung der Gröfse proportioniert sein" (I, 450). ,.Es wäre ein AV'erk von weitläufiger Ausführung, alle die Hypothesen, die ein jeder, um sich seihst neue Wege der Untersuchung zu bahnen, aufbringt, und deren eine öfters den Platz der andern, wie die Meereswellen, einnimmt, anzuführen und zu l)rü{en. Es giebt auch einen gewissen richti,u;en Geschmack in der Naturwissenschaft, welcher bald die freie Ausschweifung einer Neuig- keitsbegierde von den sicheren und behutsamen Urteilen, welche das Zeugnis der Erfahrung und Ak^v vernünftigen Glaubwürdigkeit auf ihrer Seite Inibeii. zu unterscheiden weil's" (4:');")).

Soviel darf wohl als sicher angenommen werden: „die Erdbeben haben uns g(>offenhart, dafs die 01)(>rtläche der Erd(» voller Wölbungen nnd Hidilen sei. und dafs unter unseren Füfsen verborixene Minen mit mannigfaltigen Irrgäiigen allenthalben fortlaufen. Diese Hrthlen ent- halten ein loderndes Eeuer oder wenigstens denjenigen brennbaren Stoff, der nur einer geringen R(>izung bedarf, nm mit Heftijj^keit um sich zu wüten und den Hoden idier sich zu erschüttern oder gar zu S])alten (1. i^ !() f.). Was Kant im Einzelnen über die „Entzündung der nnt(M-irdischen (Tränge" sagt, weiche die unmittelbare Ver- anlassung zu den Erderschütterungen giebt. vermag zwar der heutigen Wissenschaft nicht nn^hr zu genügen, war doch auch die Chemie zu jener Zeit noch ganz unausgebildet ; indessen das rnn/ip ist doch im Ganzen von ihm richtig bestimmt, und seine Abhandlungen über die Erdbeben sind so reich, an geistreichen und tretfenden l^emerkungen, dafs sie das Lob Alex a n d e r s v. H u m b o 1 d t in seinem „Kosmos" wohl verdienen.

Worauf es ankommt, ist, die Erdbeben, als Naturerscheinungen, nur aus natürlichen Ursachen zu erklären, unbeschadi't dessen, dafs sie letzten Endes auch nur, wie alles, aus dem Willen Gottes

stammen mögen. „Selbst die fürchterlichen AVerkzeuge der Heim- suchung des menschlichen Geschlechts, die Erschütterungen der Länder, die Wut des in seinem Grunde bewegten Meeres, die feuer- speienden Berge fordern den Menschen zur Betrachtung auf und sind nicht weniger von Gott als eine richtige Folge aus beständigen Gesetzen in die Natur eingepflanzt als andere schon gewohnte Ursachen der Ungemächlichkeit, die man darum für natürlicher hält, weil man mit ihnen mehr bekannt ist" (415). „Lasset uns also nur auf unserem AVohnplatze selbst nach der Ur- sache fragen, wir haben die Ursache unter unseren F^üfsen" (453). Eine solche Untersuchung ist allerdings weit schwieriger und unbequemer, als wenn man sich einfach auf ein Übernatürliches beruft. „Die Natur entdeckt sich nur nach und nach. Man soll nicht durch Ungeduld das, was sie vor uns verbirgt, ihr durch Erdichtung abzuraten suchen, sondern abwarten, bis sie ihre Geheimnisse in deutlichen Wirkungen ungezweifelt offenbart" (410).

Es ist daher nicht blofs eine in wissenschaftlicher Hinsicht falsche, es ist sogar eine gefährliche Meinung, als ob man in jenen Werkzeugen der Heimsuchung ein absichtliches Verhängnis, eine besonders von Gott gewollte Veranstaltung zu erblicken habe. „Man verstöfst gar sehr wider die ]\Ienschenliebe, wenn man dergleichen Schicksale jederzeit als verhängte Strafgerichte ansieht, die die verheerten Städte um ihrer Übelthaten willen betreffen, und wenn wir diese Unglück- seligen als das Ziel der Rache Gottes betrachten, über die seine Gerechtigkeit alle ihre Zornschalen ausgiefst. Diese Art des Urteils ist ein sträflicher Vorwitz, der sich anmalst, die Absichten der göttlichen Ratschlüsse einzusehen und nach seinen Einsichten auszu- legen. Der Mensch ist von sich selbst so eingenommen, dafs er sich lediglich als das einzige Ziel der Anstalten Gottes ansieht, gleich als wenn diese kein anderes Augenmerk hätten als ihn allein, um die Mafsregeln in der Regierung der Welt danach einzurichten. Wir wissen, dafs der ganze Inbegriff der Natur ein würdiger Gegen- stand der göttlichen AVeisheit und seiner Anstalten sei. Wir sind ein Teil derselben und wollen das Ganze sein" (443 f.). Und doch lehrt die einfachste Betrachtung, dafs die Naturgesetze um unsert- wegen keinen Abbruch erleiden. Die Freude der Einen und das Unglück der Anderen haben oft eine gemeinsame Ursache. So be- kamen die mineralischen Wasser zu Teplitz durcli das Erdbeben zu Lissabon einen erneuten ZuÜufs, und die Einwohner stimmten ein Tedeum an, indessen zu Lissabon der dammer durch die Strafsen hallte (420). Wir können die Absichten Gottes nicht erraten, die er bei der Regierung der Welt vor Augen hat; „allein wir sind in

n r e w s , Kantü Naturphilosophie. o

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keiner Ungewifsheit, wenn es auf die Anwendung ankommt, wie wir diese Wege der Vorsehung dem Zweck derselben gemäfs gebrauchen sollen. Der Mensch ist niclit geboren, um auf dieser Schaul)ühne der Eitelkeit ewige Hütten /u erbauen, weil sein ganzes Leben ein weit edleres Ziel hat" (444). „Ich bin weit davon entfernt", so schbefst Kant diese Betrachtungen, ,.hiermit anzudeuten, als wenn der Mensch einem unwandelbaren Schicksale der Naturgesetze ohne Kachsicht auf seine besonderen Vorteile überlassen sei. Ebendieselbe h()chste Weisheit, von welcher der Lauf der Natur diejenige Eiclitung entlehnt, die keiner Ausbesserung bedarf, hat die niederen Zwecke denhiUieren untergeordnet, und in eben den Ab- sichten, in welchen jene oft die wichtigsten Ausnalmien von den allgemeinen Hegeln der Natur gemacht hat, um die unendlich höheren Zwecke zu erreichen, die weit über alle Naturmittel er- haben sind, wird aucli die Führung des menschlichen Geschlechts in dem Kegimente der Welt selbst dem Laufe der Naturdinge Gesetze

vorschreiben" (ebd.).

Die Erd])eben gaben uns Aufschlufs über das Innere der Erde, sie liefsen uns deren feurige Natur erkennen und tiihrten uns in ihre Vergangenheit zurück: so dienen sie der Theorie des Himmels zur Bestätigung, wonach die Erde, ebenso wie die übrigen Planeten, ursprünglich eine Feuerkugel gewesen sein mufs. Wie steht es denn nnn a])er nm die Zuknnft dieses Weltkörpers? Sind Zeichen vorhandi^n, die uns hierüber einen Aufschlufs ver- heifsen, oder müssen wir uns mit dem allgemeinen Gedanken be- gnügen, dafs er, als entstanden, ebenso auch dereinst wieder unter- gehen werde? Dieser Frage ist Kant in zwei kleinen Aufsätzen im Jahre 17':)4 näher getreten, v.m denen der eine jedenfalls später als die Naturgeschichte und Theorie des Himmels geschrieben ist, da, Kant hier am Schlüsse die letztere unter dem Titel: „Kosmogonie oder Versuch, den Ursprung dv^ Wtdtgebäudes, die Bildung der Himmelskr»rper und die Ursaclien ihrer Bewegung aus den allgemeinen Bewegungsgesetzen der Materie der Theorie des Newtoirgeinärs herzuleiten" als eine Schrift ankündigt, „die in kurzem öffentlich erscheinen wird" (I. ISO). Die „Unter- suchung der Frage, ob die Erde in ihrer Umdrehung um die Achse, wodurch sie die Abwechselung des Tages und der Nacht hervorbringt, einige Verände- rung seit den ersten Zeiten ihres Ursprunges er- litten habe, und woraus man sich i h r e r v er s i ch e r n könne" war auf Veranlassung einer Preisaufgabe der Königl. Akademie der Wissenschaiten zu Lerlin geschrieben, ohne dafs

A. Kant als Naturforscher.

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jedoch Kant an dieser Konkurrenz selbst teil nahm, weil er sich auf die Zeugnisse der Geschichte nicht einlassen, um aus ihnen eine Bestätigung für seine eigene Ansicht zu entnehmen, sondern nur die physikalische Seite jenes Gegenstandes in Erwägung ziehen wollte.

Kant verwirft zunächst die bekannte Annahme, die im Himmels- raume ausgebreitete Materie müsse durch ihren beständigen Wider- stand die Bewegung der Erde schliefslich ganz aufheben, da Newton auf überzeugende Art dargethan habe, dafs der Himmels- raum, der sogar den leichten kometischen Dünsten eine freie un- gehinderte Bewegung gestattet, mit unendlich w^enig widerstehender Materie erfüllt sei : er weifs also noch nichts von jenem, wie Encke später gezeigt hat, thatsächlich vorhandenen AViderstande bei der Planetenbewegung. Es giebt jedoch ein a.nderes Hindernis, das sich der i'reien Bewegung der Erde um ihre Achse entgegen- stellt, und dies ist nach Kant die Anziehung des Mondes und der Sonne und die aus ihr sich ergebende Erscheinung der Ebbe und Flut. „Die Anziehung des Mondes, welche den gröfsten Anteil an dieser Wirkung hat, hält das Gewässer des Oceans in unaufli()rlieher Aufwallung, dadurch es zu den l^unkten gerade unterm ^lond, sowohl auf der ihm zu-, als von ihm abgekehrten Seite hinzufliefsen und sich zu erheben bemüht ist; und weil diese l^mkte der Aufschwellung von Morgen gegen Abend fortrücken, so teilen sie dem Weltmeere eine beständige Fortstnünung nach eben dieser Gegend in seinem ganzen Inhalte mit. Da, diese Fort- strömung nun der Drehung der Erde gerade entgegengesetzt ist, so haben wir eine Ursache, auf die wir sicher rechnen können, dafs sie jene, soviel an ihr ist, unaufhörlich zu schwächen und zu ver- mindern bemüht ist" (1. 1S3). Man schätze eine derartige Vermin- (h'i'ung nicht gering! „Wenn man erwägt, dafs dieser Antrieb unablässig ist, von jeher gedauert hat und immer währen wird, dafs die Drehung der Erde eine freie Bewe;]^ung ist, in welcher die geringste (Quantität, die ihr genommen wird, ohne Ersetzung ver- loren bleibt, dagegen die vermindernde Ursache unaufhörlich in gleicher Stärke wirksam bleibt, so wäre es ein einem Philosophen sehr unverständiges Vorurteil, eine geringe Wirkung für niclits- würdig zu erklären, die durch eine beständige Summierung den- noch auch die ^r()lste Quantität endlich ersehö])fen mufs" (ebd.)

Bekanntlich hat Robert Player Di Jahre später diesen kaiitischen Gedanken wieder aufgenommen und ihn in seinen „Bei- trägen zur Dynamik des Himmels" (l.S4b) näher durchgeführt."^')

*) Vgl. J. K. Mayer: Ges. Schriften (1874). S. 155—242.

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Nach Mayer beträgt die Verlängerung der Umdrehungszeit der Erde durch den Einlhd's von Hhhe und Fhit in den letzten 2500 Jahren nur etwa ^|^^. Sekunde, vorausgesetzt, dafs das Vo- lumen der Erde keine Veränderung erlitten liat, während Kant für 2000 dahre eine Vergröiserung des Tages um (Sü Sekunden heraus- reclmet; aber daraus ist dem letzteren kein Vorwurf zu machen, weil ihm hei dem damaligen Stande der Wissenschaft die Daten, die bei einer solchen Eechnung in Frage kommen, noch keines- wegs sämtlich zu Gehote standen. Die Entdeckung jenes Ge- dankens durch Kant verdient unsere volle Bewunderung, auch läfst sich dessen KicLtigkeit nicht mehr bestreiten, seitdem wir durch Hansens Berechnung vom Jahre \^{w) wissen, dafs der Sterntag seit den Zeiten des Hipparch (um löO v. Chr.) that- sächlich um den (S4. Teil einer Sekunde zugenommen hat.'-")

Die Erde nähert sich also dem Stillstande ihrer Umwälzung mit stetigen Schritten, und zwar solange, bis die Umdrehungszeit um ihre Achse der Umlaufszeit des Mondes um die Erde gleich geworden ist, in welchem Falle sie ihm immer dieselbe Seite zu- kehren wird. So erklärt es sich auch, warum der jMond in seinem Umlauf um die Erde uns immer die gleiche Seite zeigt. Die Um- drehungszeit des Mondes um seine Achse ist seiner Umlaufszeit um die Erde gleich, weil die Anziehung der Erde auf den Mond zur Zeit seiner ursprünglichen Bildung, als seine Masse noch llüssig war, die Achsendrehung des letzteren, die er damals vermutlich mit gröfserer Geschwindigkeit gehabt haben mag, auf die gleiche Art bis zum gegenwärtigen Ijberreste vermindert haben mufs (18;) f.). Diese Annahme wird freilich von der heutigen Wissenschaft nicht geteilt ; indessen hat Kant selbst die richtige Ursache jener Er- scheinung in seinem Aufsatz ,.Ftwas über den Einflufs des Mondes auf die Witterung" vom Jahre l«ll-i angegeben.

Kant weist hier nach, dals weder das Licht, noch die An- ziehungski-aft des Mondes einen merklichen EinÜufs auf die W^itterung auszuüben vermiige. „Wenn man aber eine weit über die Höhe der wägbaren Luft sich erstreckende, die Atmosphäre bedeckende i m ])o nderable Materie annimmt, die, durch des Mondes An- ziehung bewegt und dadurch mit der unteren Luft zu verschie- denen Zeiten vermischt oder von ihr getrennt, der Affinität mit der letzteren wegen die Elastizität derselben teils zu verstärken, teils zti schwächen und so mittelbar ihr Gewicht zu verändern ver-

*) Vgl. Reuschle: a. a. O. 7G tV. Ders.: „Deutsche Vierteljahrsschrift" Heft 1, S. L'(ii fV. Zöllner: Über d. Natur d. Kometen. 460 li".

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mag , so wird man es möglich finden , dafs der Mond indirekt auf Veränderung der Witterung, aber eigentlich nach chemischen Gesetzen Eintiufs haben könne" (VL 354 f.). Denn ,.neue ver- borgene Kräfte zum Behuf gewisser Erscheinungen auszudenken, die mit den schon bekannten nicht in genügsam durch Erfahrung beglaubigter Verbindung stehen, ist ein Wagstück, das eine gesunde Naturwissenschaft nicht leichtlich einräumt*' (^ÖO).

In diesem Zusammenhange spricht nun Kant auch die Vermutung aus, „der Mittelpuidvt der Schwere (im Monde) möchte vielleicht mit dem der GriUse dieses Kör|)ers nicht zusammentretfen, sondern zu der abgekehrten Seite hin liegen" und fügt hinzu : „Ob übrigens die Eigenschaft desselben, sich in derselben Zeit um seine Achse zu drehen, in welcher er seinen Kreislauf macht, aus der nändichen Ursache (nämlich dem Unterschied der Anzitdiung beider HiUften bei einem Monde, der um seinen Planeten läuft, wegen seiner viel gröfseren Nahheit zum letzteren als der des Planeten zur Sonne) allen Monden als eigen angenommen werden dürfe, mufs denen, die in der Attraktionstheorie bewanderter sind, zu entscheiden über- lassen werden" (VI. 3;")0). In der Tliat ist es diese excentrische Lage des Mondschwerpunkts, der nach Hansens Ent- deckung (1854) ungefähr 8 geographische Meilen weiter von uns entfernt ist als der Mittelpunkt des Mondes, worin die AVissenschaft gegenwärtig die Ursache für die obige Erscheinung sieht. Wenn man nämlich voraussetzt, „dafs die ursprüngliche Axendrehung des Mondes von der jetzigen nicht sehr verschieden war, dann mufste die Anziehung der F]rde ihre Periode der Undaufszeit allmählich genau gleich machen, sofern dieselbe dem Mondkörper die Lage zu geben strebte, in welcher der den excentrischen Schwerpunkt ent- lialtende Durchmesser stets direkt nach der Erdmitte gerichtet war, der ]\lond mithin der Erde stets dieselbe Seite zukelirt."*)

Die andere Abhandlung, m welcher sich Kant mit der Zukunft unserer Erde l)efafst hat, ist betitelt „Die Frage, ol) die Erde veralte? p h y s i k a 1 i s c h e r w o g e n." Sie untersucht nicht die etwaigen Veränderungen des Erdballs im Ganzen, wie die vorige über die Achsendrehung der Erde, sondern sie forscht, ob in dem Organismus der auf ihr sich abs])ielenden Vorgänge selbst Ursachen vorhanden seien , die mit der Zeit eine solche Umgestaltung insbesondere ihrer Oberfläche herbeiführen müssen, dafs ihre Kräfte gleichsam aufgerieben werden und das Leben auf ihr seinem Unter- gang entgegengeht. Kann von einem «olchen Altern der Erde

*) Reuschle: a. a. 0. 82. Vgl. Fechner: „Prof. Schieiden u. der Mond« (J85Gj. S. 390 fi.

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Überhaupt geredet werden, so ist es in dem Ablauf seiner Ver- änderungen jedenfalls nicht ein Al)schnitt. dem äufsere und gewalt- same Ursachen zu Grunde liegen. ,. Ebendieselben Ursachen, durch welche ein Ding zur Vollkommenheit gelangt und darin erhalten wird, bringen es durch unmerkliche Stufen der W'rändcrungen seinem Untergange wieder nahe. Es ist eine natürliche Schattie- rung in der Fortsetzung seines Daseins und eine Folge eben- derselben Gründe, dadurcli seine Ausbildung bewirkt worden, dafs es endlich vt^rfallen und untergehen mul's" (I. 11)1 f.).

Vier Gründe bringt Kant für die Ansicht eines Veraltens der Erde vor, die er der Reihe nach untersucht, um schliefslich seine eigene Meinung dahin auszusprechen, „dafs der Regen und die Bäche, indem sie das Erdreich beständig angreifen und von den hohen Gegenden in die niederen abspülen, die Höhen nach und nach eben zu machen und, soviel nn ihnen ist, die Gestalt der Erde ihrer Unebenheiten zu berauben trachten. Diese Wirkung ist gewifs und zuver- lässig" (liOM). Sie ist aber nicht sowohl deshalb Besorgnis erregend, weil bei der allgemeinen Versetzung der Schichten die fruchtbaren unter den toten versenkt und begraben weiden, sondern vielmehr deshalb, weil die ganze Nützlichkeit der Krdobertläche auf der Einteilung des festen Landes in Thider und Höhen beruht. Wenn erst alle Ungleichheiten der Oberfläche verschwunden sind, dann wird das ohne x\bzug sich häufende AV^asser. das der Regen über den Krdhoden führt, den Schofs derselben durchweichen, und es wird damit die Bewohnbarkeit unserer Erde vernichtet werden. Eine solche Veränderung der P]rd()berfläche kann, wie gesjigt, nur „durch unaufhörliche S u m m i e r u n g e n" herbeigeführt werden ; aber schliefslich l)raucht das Verderben nur Zeit, um sich durchzusetzen, ja, im Hinblick auf die allmähliche Einschränkung der [jaiidseen kann man nicht einmal behauj)ten, die Schritte zu jener Veränderung seien gar nicht bemerkbar.

Wir werden l)ei diesem Gedanken Kauts an die Betrachtungen von Helmholtz und Gl aus ins erinnert, wonach im Anschlufs an das l^rinzip der A(iuivalenz von Wärme und Arbeit der Natur- prozefs dann zum Stillstand kommen wird, wenn durch die allgemeine Ausgleichung der verschiedenen Tem])eraturen die Wechselwirkung der Kräfte und ihr gegenseitiger Umsatz ver- nichtet sein wird. ') Andrerseits klingt es auch an die Spektdation eines j\Iainländer**) an, wenn Kant am Schlüsse seiner Abhand-

*) Helmholtz: Über die Wechselwirkuii«^^ d. Naturkrälte (1854).

**) Vjil. dessen „Philosophie der Erlösunjj:" (lö7ti) u. meine Kritik derselben in: Die deutsche Sj)ekulati()n seit Kant mit bes. Jlücksicht auf das Wesen des Absoluten u. d. Persütdichkeit Gottes. (1893.) Bd. II, S. 359—384.

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lung die Frage aufwirft, ,,ob sich nicht die stets wirksame Kraft, welche gewissermafsen das Leben der Natur macht, und die, wie- wohl sie nicht sichtbar in die Augen fällt, dennoch bei allen Zeugungen und der ( )konomie aller drei Naturreiche geschät'tig ist. nach und nach erschöpfe und dadurch das Veralten der Natur verursache." Unter dem „allgemeinen AVeltgeist," wie Kant diese Kraft bezeichnet, versteht er jedoch nicht ein immaterielles Agens, eine Seele der Welt oder etwas Ähnliches, sondern „eine subtile, aber überall wirksame Materie, die bei den Bildungen der Natur das aktive Prinzip ausmacht und, als ein wahrer Proteus, bereit ist, alle Gestalten und Formen anzunehmen. Eine solche Vorstellung ist einer gesunden Naturwissenschaft und der Beobachtung nicht so sehr entgegen, als man wohl denken sollte*' ('iOf)). Man kann einen derartigen ,, Proteus der Natur' ^ sogar mit einer gewissen Wahr- scheinlichkeit annehmen, mufs dann aber auch besorgen, „dafs die unaufhörlichen Zeugungen vielleicht immer mehr von demselben verzehren, als die Zerstöuaing der Naturbildungen zurückliefert, und dafs die Natur vielleicht durch den Aufwand derselben beständig etwas von ihrer Kraft einbüfse" (ebd.).

Bereits in dieser Schrift über das Veralten der Erde hatte Kant eine natürliche Erklärung für die Entstehung der Gebirge, der Flufsrinnen u. s. w. zu geben gesucht (I. 192 ff.). Von jetzt an beginnt er ül)erhaupt der Beschaffenheit der Erdoberfläche und den auf ihr sich darbietenden Erscheinungen seine Aufmerksamkeit zuzuwenden und auch diese dem fruchtbaren Gesichtspunkte der Entwickelung zu unterwerfen. Die Resultate dieser Forscliungen hat Kant insbesondere in seinen „Vorlesungen über physische G e o g r a ]) h i e" niedergelegt, von denen uns U i ii k . ein Schüler Kants, nach dessen Handschrift ein allerdings nur sehr ungenügendes P>ild hinterlassen hat (1802); haben doch diese Vorlesungen während mehr als dreifsig Jahre einen äufserst zahlreichen Kreis von Zuhörern zu fesseln und selbst die Bewunderung des Ministers v. Zedlitz zu erregen gewufst ! Die physische Geographie bildet das Seitenstück zur „A n throi)ologie in ])ragmati seh er Hi n sich t" (1798). mit welcher zusammen sie ein „auf Weltkenntnis abzweckendes" System der Natur in der Absicht ausmacht, „allen sonst erworbenen Wissen- schaften und Geschicklichkeiten d;is Pragmatische zu verschaffen, da- durch sie nicht blofs für die Schule, sondern für das Leben brauchbar werden, und wodurch der fertig gewordene Lehrling auf den Schauplatz seiner Bestimnmng, nämlich in die Welt, eingeführt wird" (11.447; VlI. 4:)4). Wek'hen Gegenstand eine solche Wissenschaft behandelt, darüber hat Kant in seinem „Entwurf und Ankündigung

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eines Collegii der physischen Geographie" (1757) sich folgendermafsen ausgesprochen: „Die physische Geographie erwägt die Natiirheschaffenheit der Erdkugel und was auf ihr befindhch ist: die Meere, das feste Land, die Gebirge. Flüsse, den Luftkreis, den iMenschen, die Tiere, Pflanzen und Mineralien. Alles dieses aber nicht mit derjenigen Vollständigkeit und ])hilosophischen Genau- heit in d(^n Teilen, welche ein Geschäft der Physik und Natur- geschichte ist, sondern mit der vernünftigen Neugierde eines Reisen- den, der allenthalben das Merkwürdige, das Sonderbare und Schöne aufsucht, seine gesammelten Erfahrungen vergleicht und seinen Plan überdenkt" (IL :\). Mit einer erstaunlichen Eelesenheit auf allen Gebieten der Natur- und Vfakcrkiiude hat Kant seinen Stoff zasammengetragen, „die gründlichsten Beschreibungen besonderer Länder von geschickten Reisenden" benutzt, um seinen Vortrag möglichst anziehend zu gestalten und dabei eine Reihe von frucht- baren Gedanken ausgestreut, die auch heute noch unsere höchste Bewunderung herausfordern.

Li tlie Reihe dieser Betrachtungen gehört auch Kants Schrift- chen über das Feuer „Medi t a tion um quarundam de igne succincta delineatio", womit er sich im Jahre 1755 den Doktortitel erworben hat. Aus dem hydrostatischen Gesetze, nach welchem der Seitendruck pro])ortional der Tiefe ist, folgert Kant, die Teilchen einer Flüssigkeit drückten sich nicht unmittelbar, sondern durch Vermittelung einer gewissen elastischen Materie, mit deren Hilfe sie das Moment ihres Gewichtes überallhin gleichmäfsig verteilen. Ebenso läfst die zunehmende Verdichtung erkaltender fester Körper, sowie die Thatsache, dafs die letzteren durch ange- hängte Gewichte ausgedehnt werden, ohne zu zerreifsen, und bei der gröfsten Ausdehnung das gröfste Gewiciit zu tragen vermögen, darauf schliefsen, dafs auch sie aus Molekülen bestehen, die nicht in unmittelbarer Berührung, sondern ebenfalls durch Vermittelung einer elastischen Materie zusammenliängen und sich mit ihrer Hilfe gegenseitig anziehen (L ooO f.). Auf diese Weise wird begreiflich, wie die P]lemente eines Körpers bei teilweiser Entfernung jener vereinigenden Materie aus den Zwischenräumen sich nähern und das Volumen des Körpers verringern. dagegiMi Ijei Vermehrung der Quantität oder Elastizität derselben, sich vun einander entfernen und ihr Volumen vergröfsern können, ohne den Zusammenhang unter einander einzuhiifsen (H^iU'.). Wenn demnach ein jeder geriebene oder gestofsene Köri)er warm und nach allen Richtungen «deichmäfsio; verdünnt wii'd und dadurch die Gegenwart von etwas Elastischem, innerhalb seiner Masse Enthaltenem beweist, das infolge

jener Erregung sich auszudehnen trachtet, so folgt, dafs diese elastische Materie selbst der „Wärmestoff" und seine und ula torische oder vibratorische Bewegung dasjenige ist, was man mit dem Namen Wärme bezeichnet. Diese Materie der Wärme ist aber nichts Anderes als der Äther oder die Materie des Lichts, welche durch die starke Anziehungs- oder Adhäsionskraft der Korper zwischen ihren Poren zusammengeprefst ist (L o55 vgl. auch: „Vorles. über physisch. Geogr. VIIL 2 18 f.), wo Kant das Licht für eine „zitternde Bewegung des Äthers" erklärt.*)

Von gröfserem Interesse als diese Ausführungen, die entfernt an die moderne Auffassung der Wärme anklingen, ist Kants Theorie der Winde, die er, abgesehen von den betreffenden Stellen in der „Physischen Geographie- und dem ..Supplemente" zu derselben (VIIL 28(3 295, 446 ft'.) bereits in seinen „Neuen Anmer- kungen zur Erläuterung der Theorie der Winde" im Jahre 1756 vorgetragen hat. Unabhängig von Hadley, der ihm hierin bereits im Jahre 1735 vorangegangen, nachdem Halley 1686 eine falsche Erklärung der Passatwinde gegeben hatte, hat Kant an dieser Stelle die letzteren sowohl, wie die Monsune (Moussons), richtig aus der Achendrehung der Erde erklärt und zugleich zum ersten Male das Drehungsgesetz der Winde ausge- sprochen, wie es erst viel si)äter von Dove in seinen „Meteoro- logischen Untersuchungen" (1837)**) und seiner Abhandlung „Über den Eintiufs der Drehung der Erde auf die Strömung ihrer Atmo- sphäre" theoretisch begründet worden ist.***)

„Ein Wind, der vom Äquator nach dem Pole hinweht, wird immer je länger, desto mehr westlich, und der von dem Pole zum Äcjuator hinzieht, verändert seine Richtung in eine KoUateralbewegung aus Osten" (IL 47S). Diese Regel ist der „Schlüssel zur allgemeinen Theorie der Winde", an deren Richtigkeit Kant so wenig zweifelte, dafs er sie sogar für „ungemein nützlich" hielt, „wenn man sie zur Entdeckung neuer Länder anwenden will. Wenn ein Seefahrer in der siullicheii llalbkugcd nicht weit von dem AVendezirkel zu der Zeit, wenn die Sonne denselben überschritten hat. einen anhaltenden Nordwestwind verspürt, so kann dieses ihm ein beinahe untrüg- liches Merkmal sein, dafs gegen Süden hin ein weitgestrecktes festes Land sein müsse, über welches die Sonnenhitze die A(iuatorsluft

*) Vgl. G. Werther in: Altpreufsische Monatsschrift (IbGG), S. 441—44/.

**) a. a. O. 124 ft. 132 f. 138. 244 ft.

***) Poggendorfs Annaleii (l8Hr)). XXXVl. 321— ;5[)1. Vgl. Zöllner: a. a. O. 476 tl. Reuse hie: a. a. O. G.S IV.

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nötigt, zu streichen und einen mit einer westlichen Abweichung ver- bundenen Nordwind macht. Die Gegend von Neuholhind giebt nach den jetzigen Wahrnehmungen noch die gröfste Vermutung eines daselbst befindlichen weit ausgebreiteten Australlandes" (485). Die Richtigkeit dieser Vermutung hat die Folgezeit bestätigt; Kant hat die groi'se Ausbreitung des australischen Festlandes vorausgesagt, die damals nocii so gut wie unbekannt war.

Die physische Geographie, wie Kant sie vorgetragen hat, ist nicht eine rein willkürliche Samndung von Kuriositäten, eine blol'se Beschrei- bung merkwürdiger Naturerscheinungen, wie es nach den ol)igen Worten Kants wohl den Anschein haben könnte. Im Gegenteil verleiht auch hier der entwickeln ngsgeschichtliche Gesichts- punkt diesen Betrarhtuiigeii erst ihren besonderen Wert, und gerade eine Geschichte der Naturphilosophie unseres Jahrhunderts kann nicht genug betonen, wie selir dieser mai'sgebende Gedanke unserer Zeit bereits in dem Kopfe desjenigen Denkers gelebt hat, der mit liecht für den Vater der neuesten Philosophie gehalten wird. Gerade (hulurch ist ja Kant so grofs und ist er seinen Zeit- genossen so weit überlegen, dafs er die unhistorische Anschauungs- weise der Aufklärungs[)eriode durch die Betonung der historischen Betrachtungsart korrigiert und diese auch auf die Natur anwendet, die man als ein fertig Gegebenes sonst hinzunehmen gewohnt war. ])urch die Hervorkehrung dieses Gesichtspunktes hat Kant nicht blol's die geschichtliche Sj)ekulation seinei* unmittelbaren Nachfolger in (k'r i^hilosophie vorweggenommen, welche die gleiche Betrachtungs- weise nur mehr auf das gesamte Gebiet des ])hysischen und g(?istigen Lebens überhau])t auszudehnen brauchten, sondern ist er auch so zu sagen der X'atcr der modernen Na t u i- w i s s ensc ha ft geworden, insofern dieselbe ihren höchsten Ruhm darin setzt und ihre gWifsten Erfolge dadurch gewonnen hat, dafs sie das Leben der Natur als einen geschichtlichen i*rozefs betrachtet.

Man darf sich dadurch nicht irre maclien lassen, wenn Kant in der Kiideitung zu seinen Vorlesungen üher ])hysisclie Geographie die Geograidiie als Naturbeschreiliung in den Gegensatz zur Naturge- schichte stellt : „Die Geschichte, sagt er, ,,betrifft die Begebenheiten, die in Ansehung der Zeit sich nach einander zugetragen haben. Die Geo- graphie betrifft Erscheinungen, die sich in Ansehung des Raumes zu gleicher Z(Mt ereignen. Die- Geschichte ist eine Erzählung, die Geo- grapiiie aber eine Beschreibung" (VIIT. 1 ;")") f. ). Thatsächlich enthalten nicht blofs die „Vorlesungen-' eine „Geschi chte der (^JueHen und Brunnen-', eine „(tc schichte der Flüsse*', eine „Geschichte der grolsen Veränderungen, welche die Erde ehedem erlitten hat und

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noch erleidet", sondern der „Entwurf" vom Jahre 17:")? zeigt auch zur Genüge, wie sehr die geschichtliche Betrachtungsweise im Vorder- grunde der kantischen Erörterungen gestanden hat. Ül)erhaupt ist dieselbe von dem Begriffe der j)hysischen Geographie gar niclit zu trennen; darüber hat Kant sich unzweideutig in der „Nach- richt von der Ei i n 1 e i t u n g seiner Vorlesungen in dem Winterhalbjahre von ITbö ITGb" ausgesprochen, wo er uns zugleich einen allgemeinen Überblick über das von ihm behandelte Thema bietet. „Diese Disziplin", heifst es hier von der physischen Geogra])hie, „wird eine p hy s is ch - m oral i seh - und politische Geographie sein, worin zuerst die Merkwürdigkeiten der Natur durch ihre drei Reiche angezeigt werden mit Auswahl derjenigen, welche Einflufs vermittelst des Handels und der Gewerbe auf die Staaten haben. Dieser Teil, welcher zugleich das natürliche Ver- hältnis aller Länder und Meere und den Grund ihrer V'erknüpfung enthält, ist das eigentliche Fundament aller Geschichte, ohne welchen sie von Märchenerzälilungen wenig unterscliieden ist. Die zweite Abteilung betrachtet den Menschen nach der Mannig- faltigkeit seiner natürlichen Eigenschaften und dem Unterschiede desjenigen, was an ihm moralisch ist, auf der ganzen Erde: eine sehr wichtige und ebenso reizende Betrachtung, welche uns eine grofse Karte des menschlichen Geschlechts vor Augen legt. Zuletzt wird dasjenige, was als eine Folge aus der Wechselwirkung beider v(U'her erzählten Kräfte angesehen werden kann, nändich der Zu- stand der Staaten und Völkerschaften auf der Erde erwogen, nicht sow^ohl wie er auf den zufälligen Ursachen der Unternehmung und des Schicksals einzelner Menschen, als etwa der Regierungsfolge, den Eroberungen oder Staatsränken beruht, sondern in Verliältnis auf das, was beständiger ist und den entfernten Grund von jenen ent- hält, nändich die Lage ihrer Länder, die Produkte, Sitten, Gewerbe, Handlung und Bev()lkerung. Selbst die Verjüngung einer Wissen- schaft von so weitläuHgen Ansichten nach einem kleineren Mafsstabe hat ihren grofsen Nutzen, indem dadurch allein die Einheit der Erkenntnis, ohne welche alles Wissen nur Stückwerk ist, er- langt wird" (II :V2()L vergl. XUI. IT)!) f.).

Einheit der Erkenntnis, das ist es, woran dem Philosophen Kant gelegen ist. Diese aber kommt (^rst dann zustande, wxMin auch die Entstehung und P] n t w i c k e 1 u n g einer Erscheinung dem Blick des Forschers klar vor Augen liegt. ,, Wahre Philosophie ist es, die Verschiedenheit und Mannigfaltigkeit einer Sache durch alle Zeiten zu verfolgen" (VIII. 157). Wendet man diese Betrachtungs- weise auf die Naturgegenstände an, so ergiebt sich daraus der Be-

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griff einer Naturgeschichte. „Wir nehmen", sagt Kant, „die Benennungen : Naturbesclireihung und Naturgescliichte gemeiniglich in einerlei Sinne. Allein es ist klar, dafs die Kenntnis der Natur- dinge, wie sie jetzt sind, immer noch die Erkenntnis vom dem- jenigen wünschen lasse, was sie ehedem gewesen sind und durch welche Reihe von Veränderungen sie durchgegangen, um an jedem (3rte in ihren gegenwärtigen Zustand zu gelangen" (II. 441). „Den Zusammenhang gewisser jetziger Beschaffenheiten der Naturdinge mit ihren Ursachen in der älteren Zeit nach Wirkungsgesetzen, die wir nicht erdichten, sondern aus den Kräften der Natur, wie sie sich uns jetzt darbietet, ableiten, nur bluls soweit zurück- verfolgen, als es die Analogie erlaubt, das w^äre Naturgeschichte, und zwar eine solche, die nicht allein möglich, sondern auch, z. B. in den Ph-dtlieorieen , von gründlichen Naturforschern häutig genug versucht worden ist" (IV. 474). Freilich verhehlt sich Kant di(^ Schwierigkeiten nicht, wodurch eine solche Naturgeschichte hinter' der blofsen Naturbeschreibung zurücksteht. Wenn diese als Wissenschaft in der ganzen Israelit eines grofsen Systems erscheint, so kann dagegen jene nur F^ruchstücke oder wankende Hypothesen aufzeigen. Die Naturgeschichte ist eine für jetzt mehr im Schattenrisse als im Werke ausführbare AVissenschaft (ebd.). Indessen „man nmfs, so sehr man auch, und zwar mit Recht, der Frechheit der Meinungen feind ist, eine Geschichte der Natur wagen, welche eine abgesonderte Wissenschaft ist, die wohl nach und nach von Meinungen zu Einsichten fortrücken könnte"

(IL 4r)l).

Wie fruchtbar der Gesichtsi)unkt der Entwickelung in dei- Naturbetrachtung ist, und mit welcher Meisterschaft Kant selbst ihn zur Anwendung gebraclit hat, davon liefern uns insbesondere seine Untersuchungen über die jVIenschenrassen ein bt^wunderungs- würdiges Beispiel, die für uns ein um so gröfseres Interesse haben, als sich in ihnen bereits die wesentlichsten Gedanken der modernen Descendenztheorie zum mindesten keimliaft angedeutet finden, und zwar in einer Weise, die Kant zu einem unmittelbaren Vorläufer Darwins stempelt.*) Kant hat jenen Gegenstand in drei Auf- sätzen behandelt, in dem Programm zur Ankündigung seiner Vor- lesungen über physische Geographie im Sommerhalbjahr 1775: „Von den verschiedenen Rassen der Menschen," unter dem Titel „Bestimmung des Begriffs der Menschen- rasse" (liöo) und in der Abhandlung „LMjer den Gebrauch

*) V<j;l. Fr. Schultz e: „Kant und Darwin" (1875).

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teleologischer Prinzipien in der Philosophie" vom Jahre 1788.

Wenn die Naturgeschichte uns „die Veränderung der Erdgestalt, imgleichen die der Erdgeschöpfe (PHanzen und Tiere), die sie durch natürliche Wanderung erlitten haben, und ihre daraus entsprungenen Abartungen von dem Urbilde der Stammgattung" lehrt, so würde sie hierbei vermutlich, meint Kant, „eine grofse Menge scheinbar verschiedener Arten zu Rassen ebenderselben Gattung zurück- führen und das jetzt so weitläufige Schulsystem der Natur- beschreibung in ein physisches System für den Verstand ver- wandeln" (II. 441). Art und Gattung sind in der Natur- geschichte, in der es nur um die Erzeugung und die Abstammung zu tliun ist, an sich nicht unterschieden (Wolf. Fuchs. Schakal. Hyäne und Haushund sind also alle von einem und dem- selben Stamm entsprungen) (IV. 226). Ganz ebenso gehören auch alle Menschen, unerachtet ihrer Verschiedenheit, zu einer und der- selben Gattung, sowohl weil man sonst viele Lokalschöpfungen an- nehmen niüfste, eine Meinung, welche die Zahl der Ursachen ohne Not vervielfältigt, als auch, weil sie durchgängig mit einander frucht- bare Kinder zeugen (II. 4)^;") f.). Hätte es ursprünglich ver- schiedene Stämme von Menschen gegeben, ,.so liefse es sich gar nicht erklären und begreifen, warum nur in der wechselseitigen Ver- mischung derselben unter einander der Charakter ihrer Verschieden- heit unausbleiblich anarte." Wenn dies geschieht, wenn die beider- seitigen Eigentümlichkeiten der Eltern in den Kindern wiederum zum Vorschein kommen, „so wird ein jeder eben daraus, dafs eine solche fruchtbare Vermischung stattfindet, auf die Einheit des Stammes schliefsen, wie aus der Vermischung der Hunde und Füchse u. s. w." (IV. 224. 228. 47() f. 4SI).

„Freilich kann man nicht hoffen, jetzt irgendwo in der Welt die ursprüngliche menschliche Gestalt unverändert anzutreffen" (II. 440; IV. 231). Jene Stammgattung der Menschheit müssen wir iür schon erloschen halten und können höchstens aus den vor- handenen Abartungen diejenige aussuchen, mit welcher sie sich am meisten vergleichen läfst (ebd.). Nur Vermutungen lassen sich darüber aussprechen, wie jene ursprüngliche Gattung beschaffen gewesen sein mufs. „Der Mensch war für alle Klimate und für jede Be- schaffenheit des Bodens bestimmt; folglich mufsten in ihm mancherlei Keime und natürliche Anlagen bereit liegen, um ge- legen tlicii entweder ausgewickelt oder zurückgehalten zu werden, damit er seinem Platze in der AV^elt angemessen würde und in dem Fortgange der Zeugungen demselben gleichsam angeboren und dafür

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gemacht zu sein scliiene" (II. 442). „Die Varietät ist zweckmäfsig in dem ursj)rünglicli(*n Stamme belegen gewesen, um die gröfste Mannigfaltigkeit zum Heliuf unendlich verschiedener Zwecke zu be- gründen und in der Folge zu entwickeln'' und scheint eine an neuen Charakteren (äul'seren sowohl, als inneren) schier ..unerschöpfliche Natur" anzuzeigen (IV. 4 7S). Und zwar ist der Natur daran ge- legen, dal's diese Unterschiede auch in die Erscheinung treten : ,.sie will nicht, dafs immer die alten Formen wieder reproduziert werden, sondern alle Mannigfaltigkeit soll herausgebracht werden, die sie in die urs])riingliclien Keime des Menscbenstammes gelegt hatte" (IV. 479). JJarum scheint sie in Ansehung der Varietäten die Zusammen- schmelzung zu verhüten, weil sie ihrem Zweck, nämlich der Mannig- faltigkeit der Cluiraktere, entgegen ist (IV. 47(S).

Wie kam imn diese Differenzierung des ursprünglichen Stamm- typus zustande ? Es ist die ä u f s e r e Beschaffenheit der Erde selbst, welche die Auswickelung ihrer potentiellen Unterschiede bedingt hat, indem sie die Wesen veranlafste, sich ihrer jeweiligen Um- gebung anzupassen. ,.Aus diesem Hange der Natur, dem Boden allerwärts in langen Zeugungen anzuarten. mufs jetzt die Menschen- ijjestalt allenthalben mit Lokalmodifikationen behaftet sein" (IL 449). „Diese Vorsorge der Natur, ihr Geschöpf durch ver- steckte innere Vorkehrungen auf allerlei künftige Umstände aus- zurüsten, damit es sich erhalte und der Verschiedenheit des Klimas oder des Bodens angemessen sei, ist bewunderungswürdig und bringt bei der Wanderung und Ver])flanzun g der Tiere und Gewächse dem Scheine nach neue Arten hervor, welche nichts Anderes als Abartungen und Kassen von derselben (Tattung sind, deren Keime und natürliche A nlagen sich nur gelegentlich in langen Zeitläufen auf verschiedent* Weise entwickelt haben^* (IL 440 f.). Luft, Soinie und Nahrung spiiden hierbei die gröfste Bolle, indem sie den Körper in seinem Wachstum modifizieren (ebd. u. f. IL 437). So bedurfte es m'cht einer besonderen weisen Fügung, die Wesen in solche Orter zu bringen, wo ihre Anlagen pafsten ; ,, sondern wo sie zufälliger Weise hiidvamen und lange Zeit ihre Generation fortsetzten, da entwickelte sich der für diese Erdgegend in ihrer Organisation befindliche, sie einem solchen Klima angemessen machende Keim. Die Entwickelung der Anlagen richtete sich nach den ( )i-tern, und nicht mufsten etwa die Orter nach den schon entwickelten An- lagen ausgesucht werden" (IV. 485).

,,Der Mensch, in die Eiszone versetzt, mufste nach und nach in eine kleinere Statur ausarten, weil bei dieser, wenn die Kraft des Herzens dieselbe bleibt, der Jilutundauf in kürzerer Zeit geschieht,

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der Pulsschlag also schneller und die Blutwärme grr)fser wird. Alle Auswickelung, wodurch der Körper seine Säfte nur verschwendet, mufs in diesem austrocknenden Himmelsstriche nach und nach ge- hemmt werden. Daher werden die Keime des Haarwuchses mit der Zeit unterdrückt, so dafs nur diejenigen übrig bleiben, welche zur notwendigen Bedeckung des Hauptes erforderlich sind. Verm()ge einer natürlichen Anlage werden auch die hervorragenden Teile des Gesichts, welches am wenigsten einer Bedeckung fähig ist. da sie durch die Kälte unaufhörlich leiden, vermittelst einer Vorsorge der Natur allmählich flacher werden, um sich besser zu erhalten. So entspringt nach und nach das bartlose Kinn, die geplätschte Nase, dünne Li])pen, blinzende Augen, das Hache Gesicht, die rötlich braune Farbe mit dem schwarzen Haare, mit einem Worte : die kalmückische (xesichtsbildung, welche in einer langen Beihe von Zeugungen in demselben Klima sich bis zu einer dauei'baften Basse einwurzelt, die sich erhält, wenn ein solches Volk gleich nachher in milderen Himmels- strichen neue Sitze gewinnt" (IL 442 f.)

Die Bassenunterschiede sind also das Besultat vieler Zeu']:uinien, in welchen die Natur ungestört (ohne Verpflanzung oder fremde Vermischung) hat wirken k()nnen (IL 4H7). und diese sind dauer- hafter Art. Insbesondere vererbten sich nämlich diejenigen Eigen- schaften, die zur ]\Iöglichkeit der Existenz der AVesen, mithin auch zur Mciglichkeit der Fort jj flau zung der Art gehörten (IV. 225), während diejenigen, denen keine Gelegenheit zur Ent- faltung geboten wurde, verkümmerten und schliefslich überhaupt ganz erloschen (IL 442; IV. 231). Dafs die Entstehung dauer- hafter Bassenunterschiede aus dem allmählichen sich Befestigen liüssiger Eigenschaften keineswegs undenkbar ist, beweist die That- sache, dafs Ehen, die immer in denselben Familien bleiben, dasjenige mit der Zeit hervorbringen, was man den Familienschlag nennen kann, wo sich etwas Charakteristisches endlich so tief in die Zeugungs- kraft einwurzelt, dafs es einer Spielart nahe kommt und sich, wie diese, forterhält. ,,Auf der Möglichkeit, durch sorgfältige Aus- sonderung der ausartenden Geburten von den einschlagenden endlich einen dauerhaften Faniilienschlag zu errichten, beruhte die Meinung des Herrn von Maupertuis, einen von Natur edlen Schlag Menschen in irgend einer Brovinz zuziehen, worin Verstand, Tüchtigkeit und Bechtschafl'enheit erblich wären'' (IL 437). Das Gleiche aber iindet sich auch im Tierreich: ,,Wenn man unter den vielen Küchlein, die von denselhen Eltern geboren werden, nur die aussucht, die weifs sind, und sie zusammenthut, bekommt man endlich eine weifse Basse, die nicht leicht anders ausschlägt" (VIII. 314). Üherhaupt

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,,\venii man luich den Ursachen der mancherlei einem Volke an- gearteten Eildungen und Naturelle fragt, so darf man nur auf die Ausartungen der Tiere, sowold in ihrer Gestalt, als ihrer Be- nelimungsart acht liahen, sohald sie in ein anderes Klima gebracht werden, wo andere Luft, Speise u. s. w. ihre Nachkommenschaft ihnen uniihnlich machen. Ein Eichhiirnchen. das hier braun war, wird in Sibirien grau. Ein europäischer Hund wird in Guinea un- gestaltet und kahl samt seiner Nachkommenschaft. Die nordischen Völker, die nach Spanien übergegangen sind, haben nicht allein eine Nachkommenschaft von Ki'h-pern. die lange nicht so grofs und stark, als sie waren, hinterlassen, sondern sie sind auch in ein Temperament, das dem eines Norwegers oder Dänen sehr unähnlich ist, aus- geartet'^ (VITT. :^17).

Man sieht, liier spielt überall der Gedanke der Entwickelung dieselbe Holle, wie in der heutigen Naturwissenschaft. Die charak- teristischen Eigentümlichkeiten der gegenwärtigen Lebewesen sind nicht das Produkt eines einmaligen Sch(")pfnngsaktes, sondern sie sind durch Anpassung und Vererbung im Ijaui'e vieler Generaticmen erworben. Die Eeihe der Organismen befindet sich in einem stetigen Flufs, worin den scheinbar so festen Unterschieden der Arten und Gattungen nur (^ine relative und sekundäre Bedeutung zukommt. Bis auf welche Objekte Kant selbst diese entwickelungsgeschichtliche Betrachtung ausgedehnt hat, dafür liegt uns in seiner „Anthropcdogie'" ein sehr merkwürdiges Beisjuel vor. Aus der Thatsache, dafs kein Tier laut seine (Jeburt ankündigt, schliefst er nämlich, auch das Ge- schrei, mit welchem das kaum geborene Kind des Menschen in die Welt tritt, sei ..in der frühen Epoche der Natur in Ansehung dieser Tier- klasse (nändich des Zeitlaufs der llohigkeit) noch nicht*' gewesen, sondern es sei erst in einer zweiten Kpoche, nachdem beide Eltern schon zu derjenigen Kultur, die zum liäusliehen Leben notwendig ist, eingetreten, ohne dafs wir wissen, wie die Natur und durch welche mitwirkenden Ursachen sie eine solche Entwickelung ver- anstaltete. „Diese Bemerkung,^' meint Kant, ..führt weit, z. B. auf den Gedanken: ob nicht auf dieselbe zweite Epoche bei grofsen Naturrevolutionen noch eine dritte folgen dürfte, da ein Orang-Utang oder Schimpanse die Organe, die zum Gehen, zum Befühlen der Gegenstände und zuiu S])rechen dienen, sich zum Gliederbau eines Menschen ausbildete, deren Innerstes ein Organ für den Gebrauch des Verstandes enthielte und durch gesellschaftliche Kultur sich all- mählich entwickelte'* (VIL {)b2 f.).

Wie sehr er nun auch in allen diesen Äufserungen mit der modernen Descendenzlehre übereinstimmt, darin unterscheidet Kant sich

doch in vorteilhafter Weise von den meisten heutigen Vertretern dieser Theorie, dafs er nicht, wie diese, glaubt, ein äufserliclier Mechanismus oder der blinde Zufall sei allein imstande, die Ent- wickelung und Angepafstheit der Organismen an ihre jeweiligen Existenzbedingungen zu erklären. „Der Zufall oder allgemeine mechanische Gesetze können solche Zusammenpassungen nicht her- vorbringen. Daher müssen wir dergleichen gelegentliche Ent- wickelungen als vorgebildet ansehen. Denn äufsere Dinge können wohl Gel e ge nheits-, aber nicht hervorbringende Ursachen von demjenigen sein, Avas notwendig anerbt und nach- artet. So wenig als der Zufall oder phy si seh- m echa- nische Ursachen einen organischen Körper hervor- bringen können, so wenig werden sie zu einer Zeugungskraft etwas hinzusetzen, d. i. etwas bewirken, was sich selbst fortpflanzt, wenn es eine besondere Gestalt oder Verhältnis der Teile ist" (II. 441). Man darf weder einen in das Zeugungsgeschäft der Natur pfuschenden Einlhifs der Eiidnldungskraft gelten lassen, wie er z. B. durch das sog. ,. Versehen der Schwangeren" hervorgerufen werden soll, noch auch den Zufall zum Hervorbringer organischer AVesen machen, weil eine solche Erklärungsart im Grunde nur ,.(lem schwärmerischen Hange zur magischen Kunst" Vorschub leistet, welchem jede, auch die kleinste, Bemäntelung erwünscht kommt (IV. 223).

Der physische erste Ursprung organischer Wesen Ideibt uns immer unvei-ständlieh; schon deshalb kommen Avir um die Annahme teleologischer Erklärungsgründe nicht herum (IV. 481). Indem wir aber die Natur als eine „von selbst zweckmäfsig wirkende" betrachten (IV^ 48;")), so überschreiten w4r damit zwar die Grenzen der Naturwissenschaft, aber keineswegs die Grenzen der Wissen- schaft überhaupt. Kant ist überzeugt, „dafs alles in einer Natur- wissenschaft natürlich müsse erklärt werden, w^eil es sonst zu dieser Wissenschaft nicht gehören \vürde" (IV. 4})()). Dieser Grundsatz also bezeichnet die Grenzen derselben. „Denn man ist zu ihrer äufsersten Grenze gelangt, wenn man den letzten unter allen Firkläi'ungsgründen braucht, der noch durch Er- lab rung bewährt werden kann. Wo diese aufhören und man mit selbsterdachten Kräften der Materie nach unerhörten und keiner Belege fähigen Gesetzen es anfangen mufs, da ist man schon über die Naturwissenschaft hinaus, ob man gleich noch immer Naturdinge als Ursachen n(^nnt, zugleich aber ihnen Kräfte beilegt , deren Existenz durch nichts bewiesen , ja sogar ihre Möglichkeit mit der Vernunft schwerlich vereinigt werden kann,

D r e w 8 , Kants Nuturphilosopliie. 4

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Weil der Re^i^riflP eines organisierten Wesens es schon bei sich führt, (lafs es ''eine Materie sei, in der alles wechselseitig als Zweck und Mittel auf einander in Beziehung steht, und dies sogar nur als System von Endursachen gedacht werden kann, mithin die M.-)glichkeit desselben nur eine teleologische, keineswegs aber physisch- mechanische Erklaiungsart, wenigstens der menschlichen Ver- uui.fl übrig Uifst, so kunn in der Physik nicht nachgefragt werden, wolier d.Min alle Organisierung selbst ursprünglich herkomme. Die Beantwortung dieser Frage würde, wenn sie überhaupt für uns zuganglich ist. offenbar aufser der Naturwissenschaft in der M eta- pl^ysi^k liegen. Ich meinerseits," sagt Kant, „leite alle Organisation von on^^auischen Wesen ((hirch Zeugung) ab und si)ätere Formen (dieser xVrt Naturdinge) nacli (besetzen der alhnählichen Entwicke- lung von ursprünglichen Anlagen, die m der Organisation ihivs Stammes anzutreffen waren. Wie dieser Stamm selbst ent- stanchMi sei, diese Aufgabe liegt gänzlich über den Grenzen aller dem Menschen möglichen Physik hinaus, innerhalb deren ich doch glaubte, mich halten zu müssen" (IV. 491).

lu der Naturwissenschaft hat man sich sorgfältig vor Hypo- thesen zu hüten, die abseits von der Erfahrung liegen, und zu welchen die Hilfe der Geometrie nicht zureicht. I^Ian soll nur diesen Satz nicht dahin übertreiben, als dürfe man sich überhaupt nicht auf das M.-ei' der Spekulation hinauswagen, als müsse man der griHscren Sicherheit wegen sich inmu'r nur an den Küsten halten und nichts zulassen, wa^ nicht aus der Erfahrung sich unmitteU)ar ergiebt. ,,Bei einem solchen Verfahren kann man zwar die Ge- setze der Natur, aber nicht den Ursprung und .lie Ur- sachen dieser Gesetze kennen lernen. Denn wer nur hei den Erscheinungen der Natur als solchen stehen bleibt, dem bleibt die Erkenntnis der ersten Ursachen immer verschlossen, und er gelangt so wenig zur p]rkenntnis des AVesens der Klirper. wie die, welche den Berg immer hidier und höher hinansteigen, doeh niemals den Himmel "mit ihren Händen, greifen werden" (1. A')i)). „Wenn daher auch die Meisten glauben, bei der Naturforschun- ihrer entbehren '/u können, die Helferin hierbei, welche das Licht anzündet, ist doch allein die Metaphysik"' (ebd.).

Als Kant im dahre I7r>(l diese Worte niederschrieb, war er an demjenigen Funkte angelangt, wo das blofse Aufsuchen der Natur- gesetze und die Erklärung der JMscheinungen aus den gegebenen Thatsachen seinem Geist nicht mehr genügte. Es drängte ihn. dem hinter ihnen liegenden Wesen der Erscheinungen nachzusi)iiren, sich Eechenschaft über die Voraussetzungen abzulegen, deren er sich bis

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dahin bei seinen Erklärungsversuchen bedient und damit seine Aufgabe zu Ende zu fiUiren, die er sich mit so kühner Zuversicht in seiner Erstlingsschrift gestellt hatte. Was ihm vorschwebte, war nichts Geringeres, als eine vollständige Umwälzung in der Natur- anschauung seiner Zeit. Die alte physikalische Vorstellung, die alle Bewegungserscheinungen aus Druck und Stofs eines leblosen, ausgedehnten Stoü'es hergeleitet liatte, sollte gestürzt und an ilire Stelle die dynamische Betrachtung gesetzt werden, wie sie der Naturanschauung Newtons zu Grunde la<?. Seine Fruchtbarkeit in praktischer Beziehung hatte das Prinzip bewährt, nachdem es Kant gelungen war. mit seiner Hilfe die Entstehung des Planeten- systems ohne jeden fremden Eingrifl' und künstliche Hilfshypothesen nach rein mechanischen Gesetzen zu erklären. Es kam nur noch darauf an, zu zeigen, wie dasselbe auch theoretisch in sich gefestigt sei; es mufste noch erst das Fundament gelegt werden, auf dem sich der Bau der neuen Anschauungsweise erheben konnte, und dieses lag nicht mehr auf i-ein naturwissenschaftlichem Gebiete, sondern es reichte in die Tiefen der Metaphysik hinab. Den Natur- forschern mufste die Berechtigung entzogen werden, für ihre mecha- nische Anschauungsweise sich noch ferner auf die Metaphysik zu berufen, dadurch dafs jene Anschauung von dieser nicht gebilligt wurde. Die Metaphysiker mufsten gezwungen werden, von ihrem Vorurteile abzulassen, als ob nur eine Körperlehre, wie diejenige des Cartesius, mit den Prinzipien der Naturwissenschaft vereinbar sei. Kant sah wohl ein, dafs er mit seiner eigenen Ansicht nicht würde durchdringen können, wenn er sie nicht mit dem Küstzeug der Metaj)hysik ausstattete. So verliefs er den festen Boden der Natur- wissenschaft und begab er sich auf das Gebiet der Spekulation, um hier die Entscheidungsschlacht gegen die Körperlehre des Oartesius und Leibniz zu schlaijen.

B.

Kaut als Naturpliilosopli.

I. Die Yorkritisclie Natiirpliilosoplnc.

Die Metaphysik, die Kant vorfand und mit der er sich aus- einanderzusetzen hatte , war durchaus rationalistischer Natur. Cartesius hatte die Vernunft, die ratio, auf (h-n Thron üher alle anderen Prinzipien der Erkenntnis gesetzt; er liatte an dem Beispiel seiner mathematischen Physik das Faktum einer Erkenntnis aus reiner Vernunft bewiesen, indem er mittels hlol'ser Analysis und Kliirung von Bei^n-iffen ein Wissen von Thatsachen geliefert hatte. Spinoza liatte die Möglichkeit dieses Faktums begründet. A priori, d. h. vor ihr und ohne alle Rücksicht auf die Wirkliclikeit, können, wie er gezeigt hatte, Urteile, die trotzdem mit der Wirklichkeit übereinstimmen, von uns nur dann gebildet werden, wenn die logische Verknüj)fung der Begriffe und die kausale Verknüpfung der Dinge überall zusammi^ntrc^lfen, wenn mit anderen Worten Denken und Sein identisch sind. Ordo et connexio idearum idem est ac ordo et connexio rerum : mit diesem Satz war die Herrschaft des Ratio- nalismus besiegelt und die Vernunft nicht blofs für die Quelle aller wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern zugleich für den Gegenstand der Erkenntnis, für das Wesen aller erkennbaren Dinge erklärt. Diese Anschauung beruhti^ auf der völligen Vermischung des Logischen mit dem Realen, der Vorstellung mit dem wirklichen Gegenstande. Der rationaHstisclien Metaphysik galt es für selbstverständlich, dals jeder Begriff, sofern er nur keinen \Vidersj)ruch enthielt, zugleich ein Ding repräsentiere. Sie identifizierte daher aucli unbekümmert das logische Subjekt im Urteil mit der realen Substanz, das Prädikat oder das blofse Merkmal an einem Begriff mit der Eigenschaft an einem Gegenstande. Sie hatte von dem Unterschiede zwischen Grund und Ursache, zwischen Folge und Wirkung sowenig eine Ahnung, dafs wir uns heute in ihre Art, die Dinge zu betrachten, nur noch

I. Die vorkritische Naturphilosophie.

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mit Mühe hineinversetzen können. Der Rationalismus hatte nur Eine Methode der Erkenntnis: die Deduktion oder die Ableitung der Urteile aus allgemeinen und notwendigen Prämissen in Form des Syllogismus. Er hatte nur Ein Kriterium der Wahrheit: den Satz des Widerspruchs. Durch Vergleichung ihrer Inhalte nach dem Satz des Widerspruchs und Verknüpfung der Begriffe nach ihrer inneren Zusammengehörigkeit erwuchs ihm die Erkenntnis in der Sphäre des Begriffs, ohne dafs er es für nötig hielt, hierbei die Er- fahrung zu Rate zu ziehen. Nur die Gesamtheit aller so ge- wonnenen Urteile in ihrer systematischen Verknüi)fung entsprach nach seiner Ansicht dem BegriÜ* der Wissenschaft. Allgemeinheit und Notwendigkeit, wie sie aus der syllogistischen Ableitung ihrer Urteile sich ergaben, waren die äufseren Merkmale dieser Wissen- schaft. Die Erfahrungserkenntnis dagegen hatte in den Augen des Rationalisten nur einen untergeordneten Wert, weil die Erfahrung nicht imstande ist, mehr als blofs zufällige und hyj)othetisclie Er- kenntnis darzubieten.

Auch Kant war in dieser allgemeinen Anschauung des Ratio- nalismus aufgewachsen und mit ihm überzeugt, dafs nur die Not- wendigkeit oder die Unmciglichkeit des Gegenteils die Wahrheit eines Urteils verbürgen könne. „Jeder wahre Satz zeigt an. dafs das Subjekt in Beziehung auf das Prädikat bestimmt ist, d. h. dafs es mit Ausschlufs des Gegenteils gesetzt sei ; in jedem \vahren Satze nmfs deshalb das Gegenteil des zugehörigen Prädikats ausgeschlossen sein. Ein Prädikat ist aber ausgeschlossen, wenn ihm die Setzung eines anderen Begriffs vermöge des Satzes des Widerspruchs wider- streitet" (I. H74). Zwar unterscheidet Kant mit Grus ins den Erkenntnisgrund vom Realgrund und läl'st die Einsicht durchschimmern, dafs die realen Vorgänge in der Wirklichkeit durch das Gesetz der Kausalität ganz anders unter einander verknüpft seien, wie die Vor- stellungen in unserm Denken, und daher durcli blofses Denken über die Wahrheit ihrer Verknüpfung auch nichts auszumachen sei. Allein er geht diesem Gedanken, womit der Rationalismus im Grunde auf- gehoben ist, nicht weiter nach und ist sich über die fundamentale liedeutung desselben sowenig klar, dafs sein Denken trotzdem nicht auf- hört, sich ganz und gar in den Bahnen des Rationalismus zu bewegen.

Die Habilitationsschrift Principiorum })rim()rum Cog- nition i s m e t a j) h y s i c a e n o v a d i 1 u c i d a t i o vom dahre I ?:)'). in welcher Kant eine derartige Anschauungsweise bekundet, ver- folgt auch gar nicht eigentlich den Zw^eck , die erkenntnistheore- tischen Prinzipien des Rationalismus zu begründen. Sie ist vielmehr nur ein erster Versuch, mit den logischen und metaphysischen Grund-

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B. Kant als Naturphilosoph.

lagen seiner naturphilosopliischen Ideen Fühlung zu gewinnen. Man hat, wie oben bemerkt wurde, die naturphilosophische Erstlingsschrift des Pliilosophen einer viel zu geringen Beachtung gewürdigt, weil sie für die Entwickelung der erkenntnistheoretisclien Ideen Kants keine Anhaltspunkte bietet. Man sah aber in Kant nur den Erkenntnis- theoretiker und war zufrieden, wenn man seine Entwickelung aus diesem einen Gesichtspunkte rekonstruiert zu haben glaubte. Man hat daher auch jene erste metaphysische Schrift in der Hegel nur vom erkenntnistheoretischen Standpunkt aus betrachtet und darüber ihre Beziehungen zur Natur|)hilosoj)he so gut wie gänzlich übersehen.*) Und doeh stehen die erkenntnistheoretisclien Ausführungen dieser Schrift, die insl)esondere das Verhältnis des Satzes vom zureichenden Grunde zu demj(Miigen des Widerspruchs oder der Llentität be- treffen, schon ihrem äul'scren Umfange nach bei weitem hinter den- jenigen Erörterungen zurück, die ihren Grund in naturphilosophischen Erwägungen haben, und der Kern der ganzen Schrift, die Unter- suchung über den Satz vom zureichenden Grunde, dient wesentlich den Interessen der Naturphilosophie.

Was Kant veranlafste, gerade diesen Satz zum Gegenstande seiner Untersuchung zu machen, w^ar nichts Anderes als die innere Beziehung desselben zum Prinzip des Dynamismus. Dies Prinzip, als dessen Anwalt sich Kant, wie wir sahen, betrachtete, beruhte auf der Möglichkeit der wechselseitigen Einwirkung der Substanzen auf einander, und daher nahm jener die Veranlassung, das Ver- hältnis von Ursache und Wirkung überhaupt einer näheren Prüfung zu unterziehen, welches für ihn trotz seiner erwähnten Abweichung vom Kationalismus mit demjenigen von Grund und Folge zusammen- tiel und seinen Ausdruck fand im Satze des zureichenden oder, wie Kant ihn lieher nennen will, des hestimnienden Grundes.

Wie weit reicht die Geltung des Satzes vom zureiclienden Grunde? Das ist die Frage, die Kant vor allem interessiert. Auf das Absolute, das den Grund seines Daseins nur in sich selber haben könnte, darf der Satz jedenfalls nicht angewendet werden: der BegritV der causa sui ist widersinnig. „Wenn man in der Kette der Gründe zu dem ersten gelangt ist, so ist S(4bstverständlich. dafs dann das Fortschreiten aufhört und dafs die Frage durch Ahschlufs der Antwort vollständig aufgehohen ist" (375). „Was als unbedingt

*) V'<i^l. z. 11 Kiiiio Fischer: Gesch. d. neueren Thilosophie. III. (3. AuH h'^SJ). Puulsen: Versuch einer Entwickelungsfreschichte d. kantisclien Erkenntnistheorie ( 187f)j. Eine rühmliche Ausnahme macht Ct. Thiele: Die Pliih)S(>i)hie Im. Kants nach iin-ein System. Zusammenhange u. ihrer logisch- histor. Entwickelung. Bd. l (^1^82).

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notwendig daseiend dargelegt wird, das besteht nicht wegen eines Grundes, sondern weil sein Gegenteil ganz undenkbar ist. Diese Unmöglichkeit des Gegenteils ist der Grund für die Erkenntnis seines Daseins ; aber an einem vorhergehenden bestimmenden Grunde fehlt es ihm. Es ist; aber dies genügt, von ihm alles gesagt und begriffen zu haben" (ebd.). Trotzdem ist Kant nicht der Ansicht, durch die blofse Aufzeigung der Widerspruchslosigkeit seines Begriffs das Dasein Gottes beweisen zu können. Er bestreitet die Richtig- keit des ontologischen Beweises, wie ihn Oartesius verfochten hat, weil, wenn man in den Begriff Gottes das Merkmal der Existenz hineinlegt, das letztere von jenem zwar ausgesagt werden könne, aber damit nur ein Akt im Denken vollzogen, keineswegs jedoch über das wirkliche Dasein etwas ausgemacht werde. Er selbst zieht die Folgerung, Gott müsse als Grund nicht blofs der Wirk- lichkeit, sondern zugleich auch der Möglichkeit der Dinge notwendig existieren, weil das Mögliche notwendig ist, ohne daran Anstol's zu nehmen, dafs auch dieser Beweis nicht aus der Sphäre des blofsen Begriffs herausfällt und selbst nur eine Modifikation jenes ontologischen

Beweises darstellt.

Worauf es ihm aber wesentlich ankommt, ist, die absolute Geltung des Satzes vom zureichenden Grunde, wenigstens in der Welt der end liehen Dinge nachzuweisen. 0 r u s i u s hatte dessen Wahrheit auf dem Felde der Moral bestritten ; der Wille des Menschen sollte dem Zwange der Notwendigkeit nicht unterworfen sein. Dem gegenüber betont Kant entschieden, dafs die moralische Freiheit auch bei der allgemeinen Geltung jenes Satzes nicht aufgehoben werde. Die freien moralischen Handlungen des Menschen sind von den physischen mechanischen Hand- lungen nur insofern unterschieden, als diese blofs äufsere Antriebe ohne alle bewufste Einsicht, während jene die Gesetze seiner eigenen Vernunft zur Ursache haben. Damit ist die souveräne Geltung jenes Satzes wiederhergestellt. „Kein zufälliges Ding kann eines Grundes entbehren, welcher vorhergehend sein Dasein bestimmt'' (377).

Ist dies der Fall, so kann auch in dem Begründeten nicht mehr als in dem Grunde liegen, weil alles in jenem durch diesen bestimmt sein mufs. Daraus folgt, dafs die Menge der Kealität sich in der Welt nicht verändern und weder zu-, noch abnehmen kann. „Wenn z. B. d(^r Kr)rper A einen andern B durch einen Stofs forttreibt, so tritt eine gewisse Kraft, folglich Realität zu diesem hinzu. Aber eine gleiche Menge Bewegung ist dem stofsen- den K()rper entzogen worden, und deshalb ist die Summe der Kräfte in der Wirkung gleich den Kräften der Ursache" (389). Dafs bei dem Anstofs eines kleineren elastischen Körpers gegen einen

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B. Kant als Naturphilosoph.

grofsereii eine gröisere Summe von Kraft herauskommt, als der anstofsende hatte, ist, wie Kant zeigt, nur eine scheinbare Aus- nahme jener Regel, die auch durcli die Zerstörung der Bewegung durch den Widerstand des Stoffes nicht erschüttert wird. Ebenso- wenig S])richt es dagegen, wenn grofse Wirkungen oft scheinbar aus kleinen Ursachen entstehen. ,,Eiß ^^^ Schiefspulver geworfener Funke erzeugt eine ungeheure ausdehnende Ki*aft. Oder wenn ein anderes Nährmittel ihn begierig aufnimmt, welche Brände, welche Zerstörung der Städte und lange Verwüstungen ungeheurer W^älder bringt er da nicht hervor? Welche grofse Zusammen- fügung von Körpern löst so die feine Erregung eines einzigen Filnkchens! Aber hier wird durch diese feine Erregung die wirk- same Ursache ungeheurer Kräfte, welclie in dem Innern der Massen verborgen gehalten ist, nändich der elastische Stoff der Luft, wie bei dem Schiefspulver, oder der feurigen oVIaterie, wie bei jedem brennbaren Körper, mehr offenbart als her- vorgebracht*' (390). Ja, jenes obige Gesetz gilt sogar aucli von den Kräften der Geister und ihrem Fortschritt zu höherer Vollkommenheit. Die Entwickelung des menschlichen Geistes beruht nicht nuf einem Zuwachs an Realität; nicht der Stoff, sondern nui' die Form der VorstellungcMi verändert sich, indem Vorstellungen ins Bew^ufstsein treten, die vorher nur als unbewufste in der Seele geschlummert haben. Aber freilich reicht das Gesetz auch nur soweit, ,,als alles nach der Ordnung der Natur vor sich geht." Das Absolute ist über der Natur erhaben und vermag mit der letzteren auch derlei (Tcsetze auizuheben (ebd. f.).

Vi(d wichtiger als dies Gesetz von der Erhaltung der Kraft ist die andere Folgerung, die Kant aus dem Satze des zureichenden Grundes zieht: das J*rinzip der Folge (|)rinci])ium successionis). dafs nändich die Substanzen eine Veränderung nur treffen kann, wenn sie mit anderen verbunden sind, und dafs ihre gegenseitige Ab- hängigkeit die beiderseitige Veränderung ihres Zustandes bestimmt. Einer einfachen Substanz, die von aller äufseren Verbindung frei und sich allein überlassen ist, fehlt es gänzlich an einem bestimmen- den Grunde, sich zu veiändern. Sie kann aber auch dann sich nicht verändern, wenn sie mit anderen zwar in Verbindung steht, aber das Verhältnis der letzteren sich nicht ändert. Die Erscheinung einer soIcIhmi veränderten Verbindung ist die Bewegung; aus ilir ents])ringt dii; Folge und die Zeit, Die Kraft dagegen ist nicht sowohl der (irund der Veränderung, denn dann müfste auch die einzelne Substanz, als Träger der Kraft, sich aus sich selbst verändern können sondern sie ist vielmehr als Grund der Bestimmungen an- zuseilen, welche die Substanzen sich unter einander erteilen (393 f.).

I. Die vorkritische Naturphilosophie.

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Damit ist nun das wirkliche Dasein der Körper, „welche eine «gesundere Philosophie gegen die Idealisten nur auf dem Wege der Wahrscheinlichkeit bis jetzt in Schutz nehmen konnte,*' zuerst deut- lich bewiesen. Die inneren Veränderungen der Seele können aus ihrer Natur allein nicht entstehen. Sie weisen daher auf etwas Anderes hin, womit die Seele in gegenseitiger Verbindung steht, den Körper, dessen äufsere Bewegungen dem Wechsel der Vor- stellungen korrespondieren müssen. Alle endlichen Geister sind mit einem Körper versehen, nur der absolute Geist ist körperlos, denn es giebt nichts, wovon er äufserlich bestimmt w-erden könnte : seine Ünbestimmbarkeit beweist auch seine Unveränderlichkeit. Kann aber die Seele, herausgelöst aus der Verbindung mit äufseren Dingen, ihren Zustand nicht veränder!). so wird damit zugleich die prä- stabilierte Harmonie des Leihniz gestürzt, und zwar infolge der iimeren Unmöglichkeit ihrer sell)st. Das ist die logische oder meta- physische Begründung jener W^alirheit. die Newton auf natur- wissenschaftlichem Wegedargethan, und welche Kant durch Knutzens Ermittelung sich selber angeeignet hatte. Nicht die prästabilierte Harmonie, sondern der inÜuxus physicus ist das Prinzip der Be- ziehuntren der Substanzen unter einander, und dieser beruht auf dem Begriff der Kraft, welche die wechselseitigen Bestimmungen derselben hervorbringt.

Indessen mufs noch eine Bedingung erfüllt sein, wenn über- liaupt irgendwelche Beziehungen unter den Substanzen stattfinden sollen. Die einzelnen Substanzen nändich. deren keine die Ursache der andern ist, haben ein abgesondertes Dasein ; sie köimen vor- gestellt werden, ohne dafs es hierzu irgend eines Anderen bedürfte, und man sieht nicht, wie sie zu ihres Gleichen in Beziehung treten sollten. Daher lautet das Prinzip des gleichzeitigen Da- seins (principium coexistentiae) : „Die endlichen Substanzen stehen durch ihr blofses Dasein in keinen Beziehungen zu einander und hahen einen Verkehr mit einander nui* von dem gemeinsamen Prinzi]) ihres Daseins, nämlich von dem gcittlichen \'erstande, soweit als dieser die wechselseitigen Beziehungen entsprechend erhält"' (H9()). Die Substanzen lühren also gar keine von einander al)geson(lerte Existenz. Der Ursprung ihrer Existenz ist nicht ein einmaliges Faktum, sondern ein dauernder Akt, die Schöpfung derselben ist zugleich ihre Er- haltung. Darum bleiben sie in der Gemeinschaft ihres Ursj)rungs beschlossen und sind sie den Bestimmungen des göttlichen Ver- standes unterworfen. Solche Bestimmungen , wodurch die Sub- stanzen sich wechselseitig auf einander beziehen, sind der Ort, die Lage und der Raum. Da diese gänzlich im Belieben Gottes stehen,

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so können folglich die Substanzen auch so bestehen, dafs sie in gar keinem (^rte sind und gar keine Beziehung haben zu den Dingen unserer Welt. Derartige Substanzen könnten trotzdem unter sich durch W'iknüpfung ihrer Bestimmungen zu Welten, wie die unsrige, verbunden sein und dennoch nicht selbst zu unsrer Welt gehören. „Deshalb ist es keine llnmr)glichkeit, dal's in dieser Weise mehre Welten auch in metaphysiscliem Sinne bestehen könnten, wenn es Gott so beliebte" (:iU8). Wie dem auch sei. die Notwendigkeit eines gemeinschaftlichen Prinzii)s, ohne welches die thatsächlich gegebene Verknüpfung der Substanzen nicht verständlich wäre, ist jedenfalls „das offenbarste Zeugnis für eine hikdiste Ursache aller Dinge,-' d. h. für Gott, und zwar für einen einzigen, das alle Beweise aus der Zufälligkeit des Existierenden bei weitem übertrifft (ebd.).

Durch die Gemeinsamkeit ihres Ursprungs wirken die Sul)- stanzen auf einander und setzen durch diese in einander greifenden Wirksamkeiten zugleich den Raum. Jeder Wirkung entspricht aber zugleich auch eine Gegenwirkung. „Wenn diese allgemeine Wirk- samkeit und Gegenwirksamkeit durch den ganzen Umfang des Raumes, in welchem die Körper sich auf einander beziehen, äufserlich in einer gegenseitigen Annäherung sich zeigt, so heifst sie An- ziehung. Sie wird durch die bh»t'se Mitgegenwart bewirkt, wirkt deshalb ni jeder Entfernung und ist die Anziehung vcm Newton oder die allgemeine Schwere. Sie wird daher wahrscheinlich durch dieselbe Verbindung der Substanzen bewirkt, weiche den Raum be- stimmen und scheint deshidb das ursprünglichste Naturgesetz zu sein, dem der Stoff unterworfen ist, und was nur durch Gott, als den unmittell)aren Setzer, olme Unterlafs dauert, wie dies die eigenen Anhänger Newtons annehmen" (ebd.).

Es könnte scheinen, als ob die Zurückführung des physischen Einflusses auf den gemeinsamen Urs})rung der Substanzen keine Verbesserung jener Theorie, sondern nur ein Rückfall auf einen Stamlpunkt sei, der gerade durch Knutzen überwunden worden. Der letztere hatte ja die Krage rein innerhalb der Si)häie des Natürlichen entschieden; wozu also die Hereinziehung jenes deus ex niachma, womit die Theorien des Leil)niz und der Occa- sionalisten wieder aufzuleben scheinen? Wer so urteilt, hat Kant nicht verstanden. Seine Ansicht hat niehts mit der prästabilierten Harmonie gemein, wonach durch eiiK^i einmaligen Akt des gött- lichen Wesens nicht sowohl eine gegenseitige Abhängigkeit, als vielmehr eine Übereinstimmung der Substanzen gesetzt ist. Sie unter- scheidet sich auch gänzlich von den „gelegentlichen Ursachen" eines Malebranche, indem dieselbe einzelne Thätigkeit, welche die

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Substanzen schafft und erhält, sie auch in die gegenseitige und allgemeine Abhängigkeit versetzt, so dafs sie es nicht nötig hat. sich je nach den Umständen bald so, bald anders zu bestimmen. Nach Kant besteht, ebenso wie bei Knutzen. eine wirkliche Ein- wirkung oder ein Verkehr der Substanzen unter einander durch wahrhaft wirkende Ursachen ; die Berufung auf das göttliche Wesen hat eben keinen andern Zweck, als die Möglichkeit einer solchen Einwirkung verständlich zu machen. Das äufsere Geschehen zwischen den verschiedenen Substanzen wird auf ein inneres Geschehen einer und der nämlichen Substanz zurückgeführt. Diese Auffassung ist so sehr eine Verbesserung und wirkliche Vertiefung der knutzenschen Theorie, dafs Kant sogar Bedenken trägt, sie mit dem Namen des physischen Einflusses zu belegen und sie lieber als eine „allgemeine Harmonie der Dinge'' bezeichnet (i)!)!)).

Mit den Prinzipien der Folge und des gleichzeitigen Daseins war der Grund für eine neue Metaphysik gelegt, die als Stütze für die kantische Naturauffassung dienen konnte. „Wenn auf diese Weise diese AV^issenschaft eifrig gepffegt werden sollte, so wird ihr Boden sich nicht so unfruchtbar zeigen, und der Vorwurf einer muL'sigen und dunklen Spitzfindigkeit, welcher ihr von ihren Ver- ächtern gemacht wird, kann dann durch eine reiche Ernte edlerer Erkenntnis widerlegt werden" (ebd.). Die Habilitationsschrift Kants hat keine tiefere Bedeutung, als das metaphysische Fundament seiner künftigen Naturphilosophie zu sein. Es schien jetzt an der Zeit zu sein, die letztere selbst in Angriff zu nehmen und das Gebäude der Naturphilosoi^hie auf diesem neuen Boden der Er- kenntnis aufzurichten.

Kant entschlofs sich, die Elemente seines Dynamismus gleich so fest zu fügen, dafs derselbe gegen alle Angriffe ein für allemal gesichert sei. Er kleidete aus diesem Grunde seine Anschauung in die Form derjenigen Wissenschaft, die der höchsten Gewifsheit fähig ist, der ^lathematik. Denn wenn die Naturwissenschaft erst in dieser Vereinigung ihre höchsten Triumphe feierte, mufste alsdann das Gleiche nicht auch bei der Natur p h i 1 o s o p h i e der Fall sein, welche die Prinzipien jener behandelt? Es schien un- denkbar, dafs die jMathematik nur für die Erscheinung der Natur zureichen, auf ihr Wesen jedoch nicht anwendhar sein sollte, obwohl sie doch, als reine Vernunftwissenschaft, eben den- selben Ursprung hatte und dieselbe Sphäre einnahm, wie die rein rationale Untersuchung über die metaphysischen Prinzipien der Natur.

„Aber wie soll hei diesem Geschäft die Metaphysik sich mit

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B. Kant als Naturphilosoph.

der Geometrie verbinden, da ein (rreif eher mit einem Pferde, als die Transcendentalphilosophie mit der Geometrie sich mciclite zu- sammenspannen lassen? Jene leu<,niet hartnäckig, dal's der llaum ohne Knde teilbar sei, und diese behauptet dies mit derselben Ge- wifsheit, wie ihre übrigen Tjebrsätze. Letztere behauptet, dafs ein leerer Kaum zur freien Bewegung nötig sei; jene läfst dies nicht gelten. Diese zeigt, dafs eine Anziehung oder eine alfiremeine Gravitation, die aus mechanischen Ursachen kaum zu erklären ist, von inneren, den ruliendeu K(irpern einwohnenden und in die Ferne wirkenden Kräften ausgeht, und jene verweist dergleichen An- nahmen unter die leeren Spiele der Einbildungskraft" (I. 4(jl) f.).

In dei" Thnt, hier waren Gegensätze vorlianih^i. die notwendig ilire Ausgleichung finden niulsten, wofern überhaupt von einer Naturj)hilosophie geredet werden sollte. Es mufste Kants wichtigstes Bestreben sein, seine naturphilosophischen Prinzipien so einzurichten, dafs sie weder mit den x\nforderungen der Mathematik, nocli mit denjenigen dvv Metaphysik in Widerspruch g(^rieten. Nur weim diese Aufgabe m befriedigender Weise zu lösen war, konnte die geforderte Verl)indung jener beiden AVissenschaften auch wirklich vollzogen und damit jeder Zweifel an der Ric^htigkeit der nu'ta- physischen Prinzii)ien sell>st aufgehoben werden. So lautete denn der ^Pitel seiner lateinisch geschriebenen Dissertation, mit welcher Kant im .lahre Ir^Ö eine Anstellung an der Universität zu erlanuren suchte^ : .. M e t a p h y s i c a e c u ni l,^ e o m e t r i a i u n c t a (^ usus in philo Sophia naturali. euius specimen 1 continet M o II a (1 o 1 o '^ i a m n h v s i ca, m.*'

,,Keine Meinung hat bei Ermittelung der Elemente die Ver- bindung der Geometrie mit der Metaphysik nudir gehindert als jene vorgefafste, aber nicht genügend geprüfte Annahme, dafs die Teil- barkeit des Paumes, den ein Pilement einninnut, aucii d'w Teilbarkeit des Klementes selbst in substantielle Teile beweise. Man hat dies bisher Tür so unzweifelhaft gehalten, dals di(^ Anhänger der unend- lichen Teilbarkeit des wirklichen Paumes von den i\lonaden durchaus nichts wissen wollen, und dafs umgekehrt die Verteidiger der Monaden es für nöti.i;- gehalten haben, die Eigenschaften des geometrischen Raumes für blofse Einbildungen zu erklären" (4() i). Die Anhänger von Leibniz und W'olif statuuuten einen prinzipiellen LIntersehied zwischen dem physischen und geometrisehen Paum. Sie iiielten den letzteren lilr eine „verworrene Vorstellung"' oliiie irgend widche objektive Realität blofs deshalb, um ihre ]\Ionaden nicht aufgeben zu müssen.

Darin stimmt Kant ihnen bei: ein jeder Kr)ii)ei- niufs an- gesehen werden als zusammengesetzt aus einer bestimmten Anzahl

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ursprünglicher, d urchaus einfacher Teile, S u b s t a n z e n oder M o n a d e n : und ebenso hat der Mathematiker Recht, die unendliche Teilbarkeit des Raumes zu behaupten. Aber wer sagt denn, dafs diese an der Monade ihn^ Grenze finden müsse ? Weil er ins Unendliche teilbar ist. so besteht der Paum nicht aus einfachen Teilen. Aber ebenso- wenig darf die Monade als selbst räumlich angesehen werden. Sie ist zwar im Raum und erfüllt den Raum, ohne jedoch hiermit ihre eigene Einfachheit aufzugeben. Dies ist aber nur möglieh, wenn der Grund der PaunKU'lullung nicht in ihrer blofsen Setzung als Substanz, sondern in ihrer Bez i eh u n g zuaufser ihr befind- lichen Substanzen liegt, oder mit anderen Worten, wenn der Raum ..keine Substanz, sondern nur die besondere Erscheinung der äufseren Beziehungen der Substanzen" ist (ebd.). „Die Monade bestimmt den Raum, in dem sie gegenwärtig ist. nicht durch eine ]\lehrheit ihrer substantiellen Teile, sondern durcli den Umfang ihrer Wirksamkeit, vermöge deren sie die neben ihr befind- lichen iMonaden hindert, sich ihr noch weiter zu n.ähern" (4()r)). Mit dieser Anschauun.ü: kann sich der Geometer sow^ohl. wie der Meta- physiker zufrieden gehen. Denn der Raum der Substanz ist ..der Umfang der äufseren Gegenwart ihres Elementes; wer also den Raum teilt, teilt nur die ausgedehnte Gröfse ihrer Gegenwart. Aber neben dieser ausgedehnten Gegenwart, d. h. neben diesen in Beziehunc^c^n ausgedrückten Bestimmungen der Substanz, hat sie auch innere, ohne welche für jene das Subjekt fehlen würde, dem sie anhafteten. Diese inneren sind al)er nicht im Räume, weil sie eben innere sind: sie werden deshalb auch durch die Teilung der äufseren Bestimmungen nicht iiiiL geteilt, und deshalb kann auch das Subjekt selbst, d. h. die Substanz, dadurch nicht geteilt werden, ßs ist ebenso, als wenn man sagt : Gott ist durch sein thätiges Krhalten in allen erschaffenen Dingen innerlicli gegenwärtig; wer also die Masse der erschaffenen Dinge teilt, teilt auch Gott, w^eil er den Umfang seiner Gegenwart teilt; obgleich man nichts Verkehrteres behaupten kr>nnte'* (ebd. f.). Auch nach Leibniz war die rein intelligible und folglich un- räumliche Monade als solche früher als der Raum, und dieser erst ein Produkt, nämlich die Erscheinung der gegenseitigen Beziehungen der Substanzen unter einander. Allein bei seiner Grundanschauung der prästabilierten llarmouie. wonach es keinen wirklichen Ein- flufs der .Monaden auf einander geben sollte, hatte Leibniz das Wort Krscheinun«,' nur in rein subjektivem Sinne oder als ..ver- worrene Vorstcdlungsarf verstanden, der objektiv, d. h. an sich, ganz andersartige, rein intelli<^nble Beziehun^a'u entsj)rechen sollten (vgl. Herbarts ..intellii^nblen Pauiii"). Kant dagegen nalini das Wort

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in objektivem Sinne unrl setzte damit den Kaum aus der unbestimmten S])biiic der blol's subjektiven Pbiinomeiialität in die Kb^sse der an- sicbscienden oder ])bysiscben Realitäten binaus: die Monaden wirken tbatsilcblicli auf einiuidcr und setzen eben dureb ibre Wirksamkeit den Kaum. Dieser existiert mitbin iranz unal)liiinc;iiL,' davon, ob er von iri^end einem anscbauendcn Sul)jekt ])erzipiert wird.

Eine solcbe Auffassung des Eaumes war aucii Leibniz nicbt fremd gewesen, o])wobl sie in scbroffstem Widerspi'ucli zu seiner Grun(bins(']iauung stand. Denn diese setzte die Unwirklicbkcit alles räunilieli Ausgedelmten, der i\ratei-ie und des Kfirpi^rs. voraus, die nacb ihr bb)rs subjeidive Vorstellungen innerbalb der ]\Ionaden w^aren ; nacb jener dagegen waren die Monaden zwar auch UTU'äundicb. aber ibr Zusammensein im Räume sollte den IJegrift' des Kr)rj)ers ausmacben, und dieser somit eine objektive und meta])bysiscbe Be- deutung haben. Es giobt nichts, was das Verständm's der leibnizscben Lehre mehr erscbwerte als diese doj)j)elte P)edeutung, wie er die Monade auft'afst. Dieser Umstand miifste notwendig die gröfste Ver- wirrung anrichten, sobald die zweite, realistische Auffassung durch Wol ff in die 8cbul))liiloso])bie eingeführt wurde, bevor man nocb allL^emein aufgcliiu-t hatte, die ])rästabilierte Harmonie und die mit ihr zusammenbiingende strengere Auffassung der Monadeidelire zu vertreten. Die letztere vertrug sich ganz wohl mit (bnn Priiizi]) des Mechanismus, wofei-n man nur mit Ijeibniz das physikalische Ge- scbeben als einen blofs subjektiven i*i-ozefs innerbalb dei- Monade auffafste ; aber es war ein olienbarer \\'iders])ruch, dei' nur aus der Vermiscbung der beiden entgegengesetzten Auffassungen hervorging, einen inlbixus physicus von Monade zu Monade anzunehmen und trotz- dem diesen Prozel's nocb für einen rein mechaniscben zu halten. Es w^ar ein unbestreitbares Verdienst von Kant, mit dieser Unklar- heit aufgeräumt und damit, dal's er den wechselseitigen Einfluls der Monaden für dynamisch erklärte, die Konse(]uenzen jener Th(M)rie des inÜuxus ])bysicus auch auf j)hysikaliscbem Gebiete gezogen zu baben.

Jener Vermischunu der beiden entgegengesetzten Auffassungen der ^lonade entsprang im Grunde auch das Vorurteil gegen die Anziehungskraft der Kr)r])er. Bekanntlich hatte Leibniz die letztere bekämpft. F]r meinte, sie fehle gegen das Prinzip des zureicbend(*n Grundes, weil man nicbt angeben kiuine, wie sie möglich sei. Er selbst hatte versucht, die Schwere aus dem Stofse einer besonderen j\Iaterie zu ei'klären, die. im Weltraum verteilt, durch ihre AX'irkuuij^s- art zu.L^leicb (h'r Llrund für die Bewegung (h'r Planeten sein sollte, eine Ansiebt, der aucb sein Scbüler Wol ff sieb angeschlossen hatte,

ohne zu bemerken, dafs eine derartige schwermachende Materie noch viel rätselhafter als die Anziehungskraft Newtons wäre. Wenn die Monaden „keine Fenster" baben und auf einander nicbt sollten wirken kr>nnen, dann konnte ja natürlicb von einer gegenseitigen Anziehung derselben nicbt die Rede sein freilich war dann ebenso gut aucb die Al)stofsung zu verwerfen, und alle Naturerklärung schien überbaupt unmiiglicb zu sein. Aus dieser Scbwierigkeit batte Leib- niz sich nur dadurch retten können, dafs er, wie gesagt, zwar die mechanische Anschauungsweise des D e s c a r t e s beibehalten, aber den ganzen Naturprozefs in die Subjektivität seiner Monaden binein- verlegt, ihn zu einem rein immanenten Gescbeben herabgesetzt und die wirkliche Abstofsung der Kiirper, wüe Descartes sie verstanden, in eine blofs scheinbare verwandelt hatte. Die Annahme einer gegen- seitigen Abstofsung schien unbedenklich, wofern nuin sich nur gegen- wärtig hielt, dafs sie nicht als eine solche zwischen den Monaden aufzufassen, sondern eben nur in ])bysikaliscbem Sinne, d. b. als verworrene Vorstellung, zu verstehen sei. Die Anziebungski-aft da- gegen glich zu sehr dem inlluxus j)hysicus, als dafs man sie auch nur als eine blofs physische hätte gelten lassen können. Die Heftig- keit, womit Leibniz und seine Schule sich hierüber mit den Newtonianern stritten, bat vielleicht darin ihi-en tiefsten Grund, weil man befürchtete, mit der Annahme einer Kraft, welche dort wirkt, wo sie selbst nicbt ist. das System der Monadologie aus den Fugen zu s])i'engen.

Dieser Grund w^urde natürlicb hinfällig, sobald man überbaui)t einmal den influxus physicus zugab. Damit war die Natur von den Fesseln der Subjektivität befreit: der Naturprozefs w'ar wiederum ein o b j e k t i v e r Prozefs. beruhend auf transcendenter Wirksamkeit von Monade zu Monade. Die Kraft, womit ein jedes Körperelement seinen Raum erfüllt, ist die sogenannte U n d u r c h d r i n ^^ 1 i c b - keit. Die Berührung, die man fälschlicher Weise als , .un- mittelbare Gegenwart" definiert, ist nichts Anderes als die gegen- seitige Äufserung der Kraft der Undurchdringlichkeit mehrer Elemente auf einander. Gäbe es nun aber blofs eine Kraft der Undui'cb- drin^dicbkeit, so würde es keine Kr)r])er geben. Denn die Undurch- (hin^lichkeit ist als solche eine abstofsende Kraft; durch sie allein also könnte sich der Zusammenhang der Elemente nur l(»sen : es wäre kein bestimmter Umfang eines Körpers miiglicb. Folglich ergiebt sich schon aus dem blofsen Begrilf des Körpers die Notwendigkeit einer Anziehungskraft : weit entfernt, dafs die letztere nur eine überflüssige Zuthat, eine (pialitas occulta an jeui^ni wäi-e. macht vielmehr erst sie den Begrilf des Körpers möglich. Die Meta])iiysik hat also

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keinen Grund, sich gegen ihre Annahme zu verwahren. Die dyn^^J^^i^che Auffasi^ung der Materie ist das metaphysische Fundament aller Naturerklärung iihcriiaupt. Man niuls annehmen, dals Anziehungs- und Al)stofsungskraft in einer gewissen Entfernung sich gegenseitig ])aralysieren und dadurch die Grenzen des eingenommenen Raumes l)estininien. Fragt man aher nach den Gesetzen, welche die heiden Kräfte hierhei innehalten, so soll die Kraft d(n- Anziehung nach Kant sich umgekehrt, wie die Quadrate, die Abstofsungskraft dagegen, sich umgekehrt, wie die Kuben der Kutfernung vom Mittel- ])unkte ilirer Wirksamkeit verhalten. ..Wenn daher die abstofsende Kraft im kubischen, also in einem viel stärkeren Verhältnis abnimmt, so nrüssen an einem Punkt des Durchmessers die Anziehung und die Al)st()fsung einander die Wage halten. Denn dieser Punkt wird die Grenze der Undurchdringlichkeit bestimmen und den Umfang oder die räundiche Gnifse für die äufsere Berührung; denn wenn die abstofsende Kraft durch die anziehende besiegt ist, so wiikt sie nicht mehr" (4()S f.).

Aus diesen Voraussetzungen folgert Kant, dafs alle Elemente den gleichen Umfang (Volumen) besitzen und deshalb gleiche Räume bei ihrer genauen Ausfiülung immer die gleiche Anzahl von Elementen enthalten müssen und dafs die verschiedene Art der Elemente nur auf den verschiedenen Ötärkegraden ihrer Kräfte be- ruh(\ Diese bestimmte Gröfse, die der Kraft eines jeden Ele- mentes zukommt, ist die Trägheitskraft des Elementes, „ver- möge welcher es in dem Zustande d(>r Bewegung zu beharren strebt" (470). Die Summe (h-r Trägheitskräfte aller Elemente aber, aus denen er bestellt, ist <lie Trägheitskraft des Körpers oder seine Masse. Indem also der Unterschied in (h'r Masse eines Körj)ers nur auf der si)ezitischen Verschiedenheit der Trägheit seiner Ele- mente beruht, so können folglich die einzelnen Körper bei genauer Ausfüllung desselben Raumes dennoch sehr verschiedene Massen enthalten, je nachdem die Elemente mit (Muer griU'seren oder ge- ringeren Trägheitskraft versehen sind. Da nun auf dem Verhältnis der Masse zum Volumen die spezifische Dichtigkeit der Körper beruht, so kann es verschieden dichte Körper geben, ohne dafs man zu ihrer Erklärung der Annaluue eines leeren Raumes bedarf. Man braucht die letztere auch nicht zur Frkläiung der Elastizität. Die spezilische Elastizität eines Körpers ist das Resultat der Ver- bindung der Elastizität seiner einzelnen Elemente, und diese ist selbst nichts Anderes als die abstofsende Kraft der Elemente, so- fern dieselbe bei verschiedenen verschieden ist. Hiernach kann nämlich einer jeden abstofsenden Kraft eine andere stiirkere ent-

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gegenwirken, welche das Element mit seiner ursprünglichen Kraft nicht in derselben Entfernung abzuhalten vermag; sie kann mithin in dessen Raum eindringen, ohne dafs jedoch eine noch so grofse Kraft jemals imstande wäre, ein Element vollkommen zu durch- dringen, weil die Abstofsung eines solchen mit abnehmender Ent- fernung vom Mittelpunkte stetig wächst und folglich an diesem Punkte selbst unendbch grofs ist.

Der leere Raum war der rationalistischen Metaphysik von jeher ein Stein des Anstofses gewesen. Er erschien ihr gleichsam als das Irrationale, das dem Denken keinen Anhalts])unkt gab, und welchem daher mit der Vernunft auch nicht beizukommen war. Descartes, der in seinen „Prinzipien der Philosophie*' die Grundlinien der rationalistischen Naturphilosophie gezogen, hatte die Annahme eines leeren Raumes deshalb von der Hand gewiesen weil Aus- dehnung (Körper) und Raum für iim identisch waren und er aus dem Gesichtspunkte der Naturphilosophie nur die Ausdehnung als Objekt des Denkens gelten lassen wollte. Ebenso hatten auch L e i b n i z und seine Anhänger jene Annahme verworfen, weil sie der lex con- tinui zu widersprechen schien.*) Auch für sie gehörte der leere Raum zu den verworrenen Vorstellungen, er galt ihnen für eine hlofs ])hysikalische Anschauungsweise, um sich die Möglichkeit der Kcirperbewegung vorzustellen. Kant, der diesen Unterschied zwischen dem wirklichen und scheinbaren Geschehen beseitigt und die physi- kalische Wirkung der Monaden auf einander zu einer metaphysischen erhoben hatte, war nicht so glücklich, die schwierifire Vorstelluuir des leeren Raumes einfach dem Subjekt zuschreiben zu können. Auf der anderenSeite war er jedoch selbst viel zu sehr in der Ab- neigung gegen den leeren Raum befangen, als dafs er auch ihm. sowie der AVirkungsweise dei- Monaden, eine Realität aufserhalb der subjektiven Ansehauungsweise hätte zugestehen mögen. Er meinte, bei der Annahme eines leeren Raumes müsse man zur P^rkläruuir der verschiedenen Dichtigkeit der Körper sich mafslosen Ver- mutungen hingeben und den Elementen die mannigfaltigsten Ge- stalten beilegen, welche durch den starken Stofs der Ktirper auf einander und durch das stete Gereibe derselben sich immer mehr verkleinern müfsten (471). Von seinem Standpunkte aus ghiubte er jene Annahme auch deshalb abweisen zu müssen, weil ja der Raum durch die Aktivität der Monaden gesetzt, blofses Accidenz an den Monaden, als Substanzen, war. Da er hiernach nur soweit

*) \'</l. Leihniz: Neue Ahhandhmgen üher den niensclih Verstand, hrsg-. v. C. Schaarschmidt (Phil. Bihliothek Bd. 56). 17 f.

D r 0 w s , Kants Naturphilosophie. 5

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reichte, wie die Sphäre ihrer Wirksamkeit, und nichts war ohne diese Wirksamkeit, so hefürchtete Kant, ein leerer Raum möchte ein Accidcnz ohne Sul)stanz. ein Produkt sein olme einen dassolhe tragenden Produzenten. Er bedachte nicht, dal's aueh die Kraft den Eaum .ja nicht ei^^'ntlich erfüllt, dafs sie ihn zwar durchdringt und auf andere Monaden anziehend oder ahstofsend einwirkt, ohne dafs jedoch weder sie selbst, noch dieMonaden einen Kaum einnehmen und dafs es mithin nur ein uneigentlicher Ausdruck sei, wenn er von einer Ausfüllung des Paumes durch die Kraft gesprochen hatte. Auf diesem Standi)ünkt hat der Gegensatz des vollen und leeren Kaumes überhaupt keinen Sinn. Der Kaum, der von den Kräften umschrieben wird, erscheint nur dem sinnlichen Bewufstsein als ein ausgefüllter; aber der ]\Ietai)liysiker mufs sich darüber klar sein, dafs der kontinuierliche, ausgedehnte Stoff eben nur eine subjektive Anschauungsart ist, dem an sich nur ein Syst(Mn von stofflosen Kräften zu Grunde liegt. Wenn Kant eine dynamische Auffassung der Materie vertritt und trotzdem an einem den Paum auslullenden Stoff festhält, so ist das nur ein Überrest eben derjenigen An- schauungsweise, auf deren Üherwindung gerade seine Absicht ge- richtet ist. Es wird sieh s])äter zeigen, wie dieses Steckenbleiben im entgegengesetzten Standpunkt verhängnisvoll für die ganze kantische Theorie der Materie geworden ist: darum war es nötig, schon hier darauf hinzuweisen, dafs seiner Besorgnis vor dem leeren Kaum eine i]erechtigung nicht zukommt.')

Wir wissen nun. welcher Art (ii» Kräfte sind, auf deren Zu- sammenwirken nicht blofs die mannigfaltigsten Naturerscheinungen, sondern auch die K()r])er selbst heruheii. Wir kennen die metaphysische Natur des Paumes, m dem alle diese Erscheinungen vor sich gehen, und welcher die notwendige Bedingung ihres Zustandekommens, die allgemeine Voraussetzung der Bewegung bildet. Was ist mm die Bewegung selbst, und welcher Unterschied besteht zwischen den Körpern, wenn sie in Puhc und wenn sie m Bewegung sich befinden? Dies war die nächste Krage, die Kant in seiner Abhandlung: ,,Tm. Kants neuer Lehrbegriff der Bewegung undPuhe und der damit verknüpften Folgerungen m den ersten Gründen der Naturwissenschaft" im Jahre I7ö8 erörtert hat. nicht ohne sich a))ermals noch weiter von der allgemeinen An- schauungsweise seiner Zeitgenossen zu entfernen.

Bewegung ist die Veränderung des Ortes eines Körpers; der

*) Vol. hierzu (r. Simmel: Das Wesen d. .Materie naeh Kants l'hysischer Monadologie. Inaug.-Uissert. Berlin 18^1.

Ort aber wird durch die Lage, die Stellung oder durch die äufsere Beziehung desselben gegen andere Körper, die um ihn sind, be- stimmt. ,.Nun kann ich einen Kn-per m Beziehung auf gewisse äufsere Gegenstände, die um ihn sind, betrachten, und dann werde ich, wenn er diese Bezielumg nicht ändert, sagen, er ruhe. Sobald ich ihn aber im Verhältnis auf eiiie Sphäre von weiterem Umfange ansehe, so ist es möglich, dafs eben der Körper zusamt seinen nahen Gegenstäuden seine Stellung in Ansehung jener ändert, und ich werde ihm aus diesem Gesichtsjmnkte eine Bewegung mitteilen. Nun steht's mir frei, meinen Gesichtskreis so sehr zu erweitern, als ich will, und meinen Körper in Beziehung auf immer entferntere Um- kreise zu betrachten, und ich begreife, dafs mein Urteil von der Bewegung und Pulie dieses Kcörpers niemals beständig sei, sondern sich bei neuen Aussichten immer verändern könne'' (IL 1G). Be- wegung und Puhe sind also blofs relativ. ..Ich soll nie- mals sagen: ein Körper ruht, ohne dazu zu setzen, in Ansehung welcher Dinge er ruhe, und niemals sprechen: er bewege sich, olme zugleich die Gegenstände zu nennen, in Ansehuug deren er seine Beziehung ändert'^ (17). Dasselbe Resultat ergiebt sich auch bei der Betrachtung z we i e r Körper, von denen der eine in Ansehung der ihn umgebenden Dinge ruht, der andere aber mit einer be- stimmten Geschwindiirkeit gegen ihn anrückt. Auch hier ist es ganz willkürlich, zu sagen, dafs einer von beiden ruiie und blofs der andere sich bewege, und welcher von ihnen ruhe oder sich bewege. Abstrahiert man nämlich von der äufseren Umgebung und betrachtet man die hier vorgehende Veränderung lediglich in Ansehung der beiden Kcirper seilest, so wird man die Bewegung beiden, und zwai- beiden in ganz dem gleichen Mafse beilegen müssen: .,Ein jeder Körper, in Ansehung dessen sich ein anderer hewegt, ist auch selber in Ansehung jenes in Bewegung, und es ist also unmöglich, dafs ein Körper gegen einen andern anlaufen sollte, der in absoluter Puhe ist. Wirkung und Gegenwirkung ist in dem Stofse der Körper immer gleich'* (U)).

Man hat diese Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung bisher immer aus einer besonderen Naturkraft, der sogenannten Trägheits- kraft, erklärt, auf Grund deren jeder K()r])er bestrebt sein sollte, sich in dem jeweilig von ihm angenommenen Zustande der Puhe oder Be- wegung zu erhalten. Wenn nun das. was man fälschlicher Weise für Puhe 111 Ansehung des stofsenden Körpers gehalten hat, in derThat be- ziehungssveise auf ilm eine Bewegung ist, so leuchtet ein, ,.dafs diese Trägheitskraft ohne Not erdacht sei" und dafs es eine besondere Art der Naturkraft, die ein ruhender Körper im Augen-

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blick des Stofses einem andern entgegensetzt, nicht giebt, und zwar weil die Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung sich el)enso gut aus der Rehitivität der Bewegung erklärt (lll f.). Di<^ Trägheits- kraft hat keine andere Bedeutung, wie die Anziehungskraft aller Materie zur Erklärung der grofsen Bewegungen des Weltbaues bei Newton: sie repräsentiert nändich blofs „das Gesetz einer durcli die Erfahrung erkannten allgemeinen Erscheinung, wovon man die Ursache nicht weifs, und welclu' folglich man sich nicht übereilen mufs, sogleich auf eine dahin zielende innere Naturkraft zu schieben" (20). Aber auch noch „ein anderes willkürliches Gesetz" verschwindet, sobald man den richtigen Begriff der Ruhe und Bewegung hat. Die Verteidiger des gemeinen Begriffes der Bewegung müssen als „hilf- leistende Hypothese" auch noch ein Gesetz der Continuität annehmen, ohne welches sie den Stofs der Kiirper nicht erklären künnen. Wohl- gemerkt handelt es sich nicht um das logische Gesetz der Continuität. denn dies ist gewifs „eine sehr schöne und richtige Regel zum Urteilen." Vielmehr hat Kant nur das physische Gesetz im Auge, dasLeibniz zuerst aufgestellt iint, und welches lautet: ein Kiu'per teilt dem andern keine Kraft auf einmal mit, sondern so, dafs er durch alle unendlich kleinen Zwischengrade von der Ruhe an bis zur bestimmten Geschwindigkeit in ihn seine Kraft üherträgt. Wenn z. B. ein viiUig harter Körper einen anderen gleichartigen und gleich grofsen stöfst, so überträgt er ilnn, wie dies aus der Statik bekannt ist, die Hälfte seiner eigenen Geschwindigkeit. Warum immer nur die halbe? warum nicht die ganze? Die Antwort ist, weil der stofsende Körper so lange den in seinem Wege liegenden drückt und treiht, bis beide gleiche Geschwindii^keit, und wenn beide Massen gleich sind, bis Jeder die Hälfte von der Geschwindigkeit des stofsenden hat, „denn alsdann ilieht der gestofsene Körper alle fernere Hand- lung des stofsenden.'' Allein dabei setzt mnn doch voraus, alle Wirkung des stofsenden auf den gestofsenen Körper geschehe nach und nach vermittelst einer Folge von unendlich vielen kleinen ^lo- menten der Drückung, weil jener sonst seine ganze Bewegung diesem auf einmal erteilen und selbst in Ruhe bleiben würde. Das Schlimme ist nur, dafs unter dieser Voraussetzung eine Wirkung des einen Körpers auf den anderen unmöglich ist. ,,Denn es mag noch so ein unendlich kleines Moment sein, womit er in einem Augenblicke wirkt, und welches sich in einem bestimmten Zeitteilchen zu einer gegebenen Geschwindigkeit häuft, so ist dieses Moment immer eine plötzliche Wirkung, die nach dem Gesetze der Continuität erstlich hätte durch alle unendlichen Grade der geringeren Momente durch- gehen sollen und auch können ; denn es läfst sich immer von einem

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gegebenen Moment ein anderes kleineres denken, aus dessen Sum- mierung jenes erwachsen ist. Also ist seihst das Moment der Wirkung beim Stofse phJtzlicb und dem Gesetze der Continuität zuwider" ('22 f.). Kein Wunder daher, dafs selbst die berühmtesten Naturkündiger, obwohl man jenes Gesetz durchaus aunehmen mufs, ..wenn man sich nicht des gemeinen Begriffes von Bewegung und Ruhe entladen will.'* trotzdem dasselbe nicht einmal als eine Hypothese v/ollten gelten lassen ; denn für etwas Besseres kann man das Gesetz der Continuität nicht ausgeben, ., welches sich niemals beweisen, wohl aher widerlegen läfst'* (21).

So räumte also Kant mit alten Vorurteilen der bisherigen Wissenschaft auf, indem er insbesondere die Trägheitskraft aus der .Metaphysik fortschaffte. Im Grunde, s])rach er damit fn-ilich mir offen aus, was schon die stillschweigende Voraussetzung in der physischen Monadologie gewesen war. Auch hier war ja die Trägheitskraft mitder Kraft der Anziehung und Abstofsungin den einzelnen Elementen seihst identisch gewesen, und es war wohl nur aus der Anlehnung an die herrschende wolftische Metaphysik, worin die vis inertiae eine grofse Rolle spielte, zu erklären, wenn Kant hier üherhaupt noch von einer Trägheits k r a f t oder von einer Anstrengung (,,annititur") des Körpers, im Zustande der Bewegung zu verharren, gesprochen hatte (I. 470). Nunmehr aber war er es satt, innner blofs Material auf die ,.Zwan<,nnühle des wolffschen oder eines andern berühmten Lehrgebäudes*- zu liefern (II. IT)). Hatte er in der all- gemeinen Naturlehre so Grofses im Widers])ruche zu der herrschenden Anschauung seiner Zeit erreicht und (muo vfHlige Revolution auf diesem Gebiete hervorgerufen, so glauhte er nun auch in den rein metaphysischen Fragen sich etwas zutrauen zu kiinnen. Kr fing an, die lästigen Fesseln der Schultradition von sich abzuschütteln, die ihm immer verdächtiger erschien, je näher er sich mit ihr hefafste, und immer deutlicher begann in ihm die Erkenntnis sich Bahn zu Ijrechen, dafs die veränderte Grundansicht über die Pi-inzij)ien der Naturlehre auch eine v()llige Umwälzung in der Metaphysik nach sich ziehen nüifste.

Kants Absicht war, seine dynamische Naturbetraclituug meta- physisch zu begründen und ihr damit erst dc^njenigen Halt zu ver- schaff'en, der sie fähig machte, den Sieg über die alte Anschauungs- weise des Cartesianismus zu gewinnen. Aber was half (li(^ Heran- ziehung der Metaphysik, wenn diese selbst nicht haltbar war? Eine unzweifelhaft gewisse und unbestreitbare Metaphysik war bei den damaligen Meta])hysikern nicht zu finden, und d.irum eben hatte Kant seihst den Versuch gemacht, die Mathematik mit dei* meta-

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l)hysisclien Betrachtung zu verbinden, d. h. eine solche metaphysische Grundansicht aufzustellen, dafs die mathenuitisclien Prinzipien auf sie anwendbar seien, um so der Mctapliysik eine Sicherheit und Exaktheit zu verschaffen, wie sie jene andere Wissenschaft schon längst besafs. Mathematisclie Prinzipien in die Philosophie ein- zuführen war ja an sich keineswegs (^twas ^'eues, man denke nur an die Ethik des Spinoza! ja, der ganze Rationalismus seit Descartes basierte auf einer Verquickung metaphysischer mit mathematischen Prinzij)ien, insofern sie beide aut apriorischem Wege ihre Erkenntnisse zu gewinnen strebten. Indessen hatte der Gebrauch, w(dchen die Philoso[)hie von der Mathematik zu macheu pllegte, bis daliiii docli wesentlich nur in der Nachahmung ihrer Methode be- standen, ohne dafs hiervon ein besonderer Nutzen zu ersehen war. In der Naturlehre war das Gröfste dadurch ei-reicht worden, dafs man angefangen hatte, die Lehren der Mathematik selbst auf die Gegenstände anzuwenden; aber das hatte die Metaphysiker nicht davon abgehalten, an jener Wissenschaft hochmütig vor])eizugehen und überall, wo ihre abstrakten Spekulationen mit den Einsichten jener nicht übereinstimmen wollten, die sicher fu])di<'rten Sätze der Mathematiker zu ignorieren. ,,Die Meta])hysik," klagt Kant, ,, anstatt sich einige von den Begriffen oder Lehren der Mathematik zu Nutze zu machen, hat vielmehr sich (".fters wider sie bewaffnet, und, wo sie vielleicht sichere ( inindlagen hätte entlehn(>n kfhinen, um ihre Betrachtuuf^en darauf zu gründen, sielit man sie bemüht, aus den Begriffen des Mathematikers nichts als feine Erdichtungen zu machen, die aufser seinem Eelde wenig W^ahres an sich haben. Man kann leicht er- raten, auf welcher Seite der Vorteil sein werde in dem Streite zweier Wissenschaften, davon die eine alle insgesamt an Gewifsheit und Deutlicldveit ülieitrilft, die andere aber sich allererst bestrebt, dazu zu gelangen'' (IL 71).

Da ist z. B. der Begriff des unendlich Kleinen, den Leibniz zuerst in die; Matheujatik eingeführt, und welcher sich hier als so besonders fruchtbar erwiesen hat! Die Metaphysiker verwerfen ihn mit einer Dreistigkeit als Erdichtung, dafs man annehmen mufs, sie verständen überhau})t nicht genug dav(m, um sich ein Urteil darüber erlauben zu kiinnen. Lud doch beweist die Natur selbst die Wahr- heit dieses Begriffes und läfst ihn dadurch auch für die Metaphysik als höchst bedeutungsvoll erscheinen. ,,i)enn wenn es Kiätte "-iebt, welche eine Zeit hindurch kontinuierlich wirken, um Bewegungen hervorzubringen, wie allem Ansehen nach die Schwere ist so mufs die Kratt, die sie im Anfangsaugeniilicke oder in Buhe ausübt, gegen die. welche sie in einer Zeit mitteilt, unendlich klein sein'* (IL 72).

Offenbar wirkt auch dies Vorurteil gegen den mathematischen Be- griff des unendlich Kleinen mit, um die Anerkennung des Dyna- mismus zu verhindern. Sollte nicht gerade umgekehrt die Anwendbar- keit jenes Begriffes auf die Prinzipien der dynamischen Natur- anschauung für die Wahrheit dieser letzteren beweisend sein? In Anbetracht solcher dünkelhaften Vorurteile, wie er sie bei den Meta- physikern seiner Zeit erblickt, beginnt Kant überhaupt gegen sie mifstrauisch zu werden und beschliefst er. auch in den Fragen der Metaphysik seinen eigenen AVeg zu gehen: ,.Denn was die meta- physischen Intelligenzen von vollendeter Einsicht anlangt, so müfste man sehr unerfahren sein, wenn man sich einbildete, dafs zu ihrer Weisheit noch etwas könnte hinzugethan oder von ihrem Wahne etwas könnte hinweggenommen werden*' (IL 74).

Zu denjenigen mathematischen Begriffen, gegen deren Aufnahme in ihre eigene Wissenschaft die Metaphysiker sich sträuben, gehört, wie Kant in seiner Schrift : „Versuch, den B egriff der nega- tiv e n G r ö f s e n in die W e 1 1 w e i s h e i t einzuführen" vom Jahre ITü:^ zeigt, auch der Begriff^ der negativen Gröfse. Die Mathe- matik nennt eine Gröfse in Ansehung einer anderen negativ^ ..in- sofern sie mit ihr nicht anders als durch die Entgegensetzung kann zusammengenommen werden, nämlich so, dafs eine in der anderen, soviel ihr gleich ist. aufhebt." In dem Verhältnis -f- Jt inid a ist a die negative Gröfse, wobei zu beachten ist, ,.dafs diese Be- nennung nicht eine besondere Art Dinge ihrer inneren Beschaffen- heit nach, sondern dieses G ege n v e r h äl t n is anzeigt, mit gewissen anderen Dingen, die durch -|- a bezeichnet werden, in einer Ent- gegensetzung zusammengenommen zu werden" (IL 77 f.). ,.AVenn es dem berühmten Herrn D. Crusius beliebt hätte, sich den Sinn der Mathematiker bei diesem Begriffe bekannt zu machen, so würde er die Vergleichung des Newton nicht bis zur Bewunderung falsch gefunden haben, da er die anzieliende Kraft, welche nahe bei den Körpern nach und nach in eine zurückstofsende ausartet, mit den Beihen vergleicht, in denen da, wo die positiven Gröfsen aufhören, die negativen anfangen. Denn es sind die negativen Gröfsen nicht Negationen von Gröfsen, wie die Ähnlichkeit des Ausdrucks ihn hat vermuten lassen, sondern etwas an sich selbst wahrhaft Posi- tives, nur was dem andern entgegengesetzt ist. Und so ist die negative Anziehung nicht die Kühe, wie er dafür hält, sondern die wahre Zurückstofsung"^ (^'0-

Der Grund dieses Mifsverständnisses ist darin zu suchen, <lafs man bisher die zwiefache Natur der Entgegensetzung nicht genügend beachtet hat. Der Kationalismus kennt nur eine logische

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Opposition, welche darin besteht, dafs von ebendemselben Dinge etwas zugleich bejaht und verneint wird ; ihre P'olge ist das reine Nichts (nihil negativuinj nach dem Satz des Widerspruches, z. B. ein Körper, der in Bewegung und in ebendemselben Sinne zugleich nicht in Bewegung ist. Es giebt aber auch noch eine reale Oi)position, wo zwei Prädikate eines Dinges entgegengesetzt sind, aber nicht durch den Satz des Widerspruches; ihre Folge ist auch Nichts, aber in einem anderen Sinne, wie vorher, nämlich niliil privativuni, Zero oder 0, z. B. Bewegkraft eines Körpers nach einer Gegend und eine gleiche Bestrebung ebendesselben in entgegen- gesetzter Richtung, woraus sich als Folge die Kühe ergiebt (Tö f.). Kühe ist also in einem Körper entweder blofs tun Mangel, d. i. eine A'erneinung der l)ewegung, insofern keine Bewegkrat't da ist ; oder eine Beraubung, insofern wohl Bewegknift anzutreffen, aber die Folge, nändich die Bewegung, durch eine entgegengesetzte Kraft aufgehoben ist. Im ersteren Falle handelt es sicli bU^fs um eine logische Ojjposition, denn diese drückt nichts weiter als Abwesenheit aus: sie sagt, dafs etwas nicht vorhanden ist. iin letzteren Falle dagegen liegt eine K e a 1 r e p u g n a n z vor: die Verneinung ist hier die Folge einer an sich durchaus positiven Gröfse, die nur in l^e- ziehung zu einer andern, ihr entgegengesetzten negativ heifst. Nur wenn es l»lofs eine logische Entgegensetzung gäbe, wäre der Begriff der negativen Gröfse in der Metapliysik unzulässig, weil bei der rein logischen Verneinung überhaupt keine Gröfse mitspielt. Da es aber auch eine Kealrepugnanz giebt, so ist jener mathematische Ausdruck ganz wohl anwendbar, denn hier handelt es sich, wie in der Mathematik, um das Verhältnis zweier wirklichen einander entgegengesetzten Gnifsen. „Die Kealn pugnanz findet nur statt, insofern zwei Dinge, als ])Ositive Gründi', eins die Folge des andern

aufhebt-' (TD).

Betrachtet man unter diesem Gesichts])unkte die Undurcli- dringlichkeit des K()rpers, so erscheint sie hiernach als eine waiire Kraft in dessen einzelnen Teilen, vermöge welcher er einen anderen K()rper al)hält, in den von ihm selbst eingenommenen Raum einzu- dringen. J)ie Undurchdringlichkeit ist nicht die Negation der An- ziehung, wie (lei- Kationalismus auf Grund der allein von ihm ge- kannten blofs logiselu^n Opposition behaupten nnifs, sondern, sofern man unter Anziehuni^^ eine Ursache versteht, vermiige deren ein Köri)er andere nötigt, gegen den Baum, den er einnimmt, zu drücken oder sich zu bewegen, ist die Undurchdriiiglichkeit vielmehr eine negative Anziehung, d.h. ein ebenso j) o s i t i v e i* Grund, wie eine jede andere Bewegkral't in der Natur, oder eine wahre Zuriiek-

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stofsung der Körper (82). Auf dieselbe Weise kann man auch die verschiedenartige Wirksamkeit der Pole bei der Elektrizität unter dem Gesiclitspunkte der negativen Gröfse betrachten, ja, es ist zu vermuten „dal's die Verschiedenheit der Pole und die Entgegen- setzung der positiven und negativen Wirksamkeit ebenso w^ohl bei den Erscheinungen der Wärme dürften bemerkt werden. Die schiefe Fläche des Galilei, der Perpendikel des Huygens, die Queck- silherröhre des Torr icelli , die Luftpumpe des Otto Gu er icke und das gläserne Prisma des Newton haben uns den Schlüssel zu grofsen Naturgeheimnissen gegeben. Die negative und jiositive \\'irksamkeit der Materien, vornehmlich bei der Elektrizität verbergen :dlem Ansehen nach wichtige Einsichten, und eine glückliche Nach- kommenschaft, in deren schöne Tage wir hinaussehen, wird hoffent- lich davon allgemeine Gesetze erkennen, was uns für jetzt in einer noch zweideutigen Zusanmienstimmung erscheint*' (90 f.).

,.Ein jedes Vergehen ist ein negatives Entstehen, d. i. es wird, um etwas Positives, was da ist, aufzuheben, ehenso wohl ein wahrer liealgrund erfordert, als um es hervorzubringen, w^enn es nicht ist" (Ü2). So hört eine Bewegung niemals gänzlich oder zum Teil auf, ohne eine Bewegungskraft, die derjenigen gleich ist, welche die verlorene Bewegung hiitte hervorbringen können. Dasselbe findet auch auf psychischem Gebiete statt. „Man empfindet es in sich selbst sehr deutlich, dafs, um einen Gedanken voll Gram bei sich vergehen zu lassen und aufzuheben, wahrhafte und gemeiniglich gröfse Thätig- keit erfordert wird. Es kostet wirkliche Anstrengung, eine zum Lachen reizende lustige Vorstellung zu vertilgen, wenn man sein Gemüt zur Ernsthaftigkeit bringen will*' (ebd.). Die Abstraktion ist eine negative Aufmerksamkeit, d. h. ein wahrhaftes Thun und Handeln, welches derjenigen Handlung, wodurch die Vorstellung klar wird, entgegengesetzt ist; es wird dazu Anstrengung einer Kraft erfordert. Und wie vermöchten wir wohl eine Begierde zu über- winden ohne einen positiven Grund zur Aufhebung derselben? Dabei ist gar nicht nötig, dafs wir uns dieser entgegengesetzten Tliätigkeit zugleich auch immer bewufst seien. ,. Welche bewunderns- würdige Geschäi'tigkeit ist nicht in den Tiefen unseres Geistes ver- borgen, die wir mitten in der Ausübung nicht bemerken, darum weil der Handlungen sehr viele sind, jede einzelne aber nur sehr dunkel vorgestellt wird; man mag unter diesen nur die Handlungen in Erwägung ziehen, die unbemerkt in uns vorgehen, wemi wir lesen, so mufs man darüber erstaunen. Und so ist zu urteilen, dafs das Sj)iel der Vorstellungen und überhau])t aller Thätigkeiten der Seele, insofern ihre Folgen, nachdem sie wirklich waren, wieder

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aufhören^ entgegengesetzte Handlungen voraussetzen, davon eine die Negation der anderen ist" (93). Der Unterschied /wischen den geistigen und kih'perlichen Erscheinungen hetrifVt in dieser Hinsieht nur die verschiedenen Gesetze, welchen jene heiden Arten von Wesen untergeordnet sind, indem der Zustand der Materie niemals anders als durch äul'sere. der eines Geistes aber auch durch innere Ursachen verändert werden kann: die Notwendigkeit der Kealentgegensetzung dagegen bleibt bei diesem Unterschiede immer dieselbe.

Eine Entgegensetzung kann ebenso wohl wirklich, wie nn'iglicli sein. ,. Beide sind reale, d. i. von der logischen Opposition unterschieden, beide sind in der Mathematik beständig im Gebrauche und beide verdienen es auch in der Phih)sophie zu sein" (95). Zwei K()r])er, die auf der- selben geraden Linie in entgegenstehender Richtung sich mit gleichen Kräften von einander entfernen, stehen nur in ])otentialer Entgegen- setzung, weil ein jeder ebenso viel Kraft, wie in dem andern K()rj)er ist, in ihm aufheben würde, falls ei- auf ihn stiel'se. Die Lust, die ein Mensch hat, und die Unlust, die ein anderer bat. stehen aucii nur in ])otentiah^r Entgegensetzung zu einander, wie sie denn auch wirklich geh\gentbch eine die Folge der andern aufheben, indem bei diesem realen Widerstreit oftmals eine dasjenige vernicbtet, was (h r andere seiner Lust gemäls schafft (9()j. ,.ISo liegt der Donner, <len die Kunst zum Verderben erfind, in dem Zeughause eines Eürsten auf bebalten zu eniem künftigen Kriege in drohender Stille, bis, wenn ein verräteriscber Zunder ilm berührt, er im Blitze auf- fährt und um sieb In^r alles verwüstet. Die Spannfedern, die unaut'h()rlich bereit waren, aufzuspringen, lagen in ibm durch mächtige Anziehung gebunden und erwarteten den Eeiz eines Feuer- funkens, um sich zu befreien" (IUI).

Daraus ergiebt sich nun der wichtige Satz: „In allen natürlichen Veränderungen der Welt \vird die Summe des Positiven, insofern sie dadurch geschätzt wird, dafs einstimmige Positionen addiert und real entgegengesetzte von einander abgezogen werden, weder ver- mebrt, noch vermindert" (9{)). Und ferner: „Alle Realgründe des Universums, wenn man dii^jenigen summiert, welche einstimmig sind, und die von einander al)zieht, die einander entgegengesetzt sind, geben ein Facit, das dorn Zero gleich ist" (99).

Kant gesteht, diese beiden Sätze seien für ihn selbst nicht licht genug, noch mit genügsamer Augenscheinlicbkeit aus ihren Gründen einzusehen, um sich näber mit ihnen zu befassen. „In- dessen'', meint er, „bin ich gar sehr überlülirt, dafs unvollendete Versuche, im abstrakten Erkenntnisse problematisch vorgetragen..

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dem Wachstum der höheren Weltweisheit sehr zuträglich sein können, weil ein Anderer sehr oft den Aufschluls in einer tief verborgenen Frage leichter antrifft als derjenige, der ihm dazu Anlafs giebt. und dessen Bestrebungen vielleicht nur die Hälfte der Schwierigkeiten haben überwinden können. Der Inhalt dieser Sätze scheint mir eine gewisse Würde an sich zu haben, welche wohl zu einer genauen Prüfung derselben aufmuntern kann" (99). Diese Ahnung der grofsen Bedeutung, die jenen beiden Sätzen zukommt, ist in höchstem Mafse in Erfüllung gegangen.

Was zunächst den zweiten Satz betrifft, so bildet er den Aus- gang zu dem „Indilferenzpunkt" Schellings und spielt er als solcher in dessen Identitätssystem eine hervorragende Rolle. An sich l)etrachtet. dürfte er allerdings schwerlich haltbar und nur in einer abstrakt monistischen AVeltanschauung, w^e es diejenige Schellings ist, am Platze sein, insofern er aussagt, dafs die Summen aller Realgründe oder die Welt während ihres Prozesses nicht mehr enthalte als vor demselben, und daher hat Kant selbst dm später auch gänzlich fallen lassen. Viel wichtiger ist der erste Satz, der nichts Anderes ist als eine Formulierung des später so berühmt gewordenen Ge setzes von der Erhaltung der Kraft. Bereits Descartes hatte aus der Unwandelbarkeit Gottes gefolgert, es müsse stets die gleiche Quantität der Bewegung bei der Materie erhalten sein, und Leibniz hatte sich dahin ausgesprochen, die Summe der bewegenden Kräfte im Weltall sei konstant. Aber noch fehlte diesem Satze die metaphysische BegrÜJidung (97), denn aus der rationalistisch gefafsten Monadenlehre war er ohne Weiteres nicht herzuleiten, so lange man. wie Leibniz. die Möglichkeit «'inander entgegengesetzter realer Kräfte leugnete, alle Dinge, metaj)hysisch betrachtet, aus Realität und Negation, aus Sein und Nichtsein zusammengesetzt sein liefs und den Grund einer Negation nur darin setzte, dafs überhau])t keine Realität vorhanden sei.*) Wenn es wahr ist, dafs im Weltall keine Kraft verloren geht unbeschadet des beständigen Wechsels von Bewegung und Ruhe, von Thätigkeiten, die entstehen und sich gegenseitig wiederum ver- nichten, wenn auch keine wirklich neue Kraft zu der einmal that- sächlich vorhandenen Summe hinzutritt, dann ist dies nur unter der Voraussetzung zu erklären, dafs alles Entstehen und Vergehen nur scheinbar, nur eine Entfesselung vorher gebundener, eine Bindung aktiver Kräfte ist, dafs die Ruhe nur den Gleichgewichtszustand

*j Vgl. Kants Abhandlung über die Fortschritte der Metaphysik seit beibniz u. Wolll in Deutschland. Ww. VIII. 544.

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dieser letzteren, die Th;itigk(at d:is Übergewicht einzelner repräsentiert oder mit anderen Worten, d u 1" s die ganze AV i r k 1 i c li k e i t nur auf dem Streite entgegengesetzter Kräfte, auf dem Widers})ie l unter ei nander kon f ligierender Kealgründe beruht (lOO). Eine und die nämliche konstante Kräftesumme läuft nach einander die enti^^e^en^esetztesten Krselieinungsformen durch, tritt hier als AVärnie und dort zu gleicher Zeit als Kälte auf, be- tliätigt sich hier in den wilden Zuckungen des Schmerzes und bringt dort den Jubel dei- Tjust heivdr. Das ist die nämliche Anschauung, die erst viel sjuiter auf (ürund zahlreicher P]x|)erimente streng bewiesen und im Zusannnenhange mit der nu-chanischen AN'ärme- theorie näher ausgehihh^t worden ist, und es beweist seinen ahnungs- vollen Scharfblick, wenn Kant gelegentlich die I)emerkung aussj)richt : „Überhaupt scheinen die magnetische Jvraft, die Elektrizität und die Wärme durch einerlei Mittehnaterie zu geschehen" {[)()). *)

Mit dieser Unterscheidung der logischen und realen Rntgegen- setzuni^- und der Erkenntnis. d;ifs der gesamte Welt))rozei's auf dem KontÜkt entgegengesetzt<'r realer Kräi'te beruht, ist Kant luui von neuem auf das nämliche Problem gestofsen, das er sclatn einmal in der Hervorhebung!: des Unterschiedes zwischen doin Erkenntnis- und Jlealgrund in seiner Habilitationsschrift anp^edeutet hatte, ohne jedoch hier zur völligen Klarheit zu gelangen. Auch Crusius hatte diesen Unterschied bereits geiuacht. aber nach ihm wai- der Abend- wind ein Kealgrund von l\egen wölken und zui^deich (un Ideal^^rund. weil man sie daraus sollte erkennen und vermuten kiumen. In Wahrheit aber ist der Kealgrund niemals ein 1 o •: i s c h e r Grund, nnd durch den Wind wird der liegen nicht zulblge der Regel der Jdentitcät gesetzt, so dafs man ihn aus jenem rein logisch erschliefsen köinite (lOö). Was ist er aber, wenn er nicht logisch, wenn ihm auf rein begriiflichem Wege nicht beizukomnuMi ist? ,,Tcli verstehe," sagt Kant, „sehr wold. wie eini' Folge durch einen Grund nach der Kegel der Identität gesetzt wei'de, darum weil sie durch die Zer^diederuni,^ der lie.^riife in ihm enthalten befunden wird. So ist die iS'otwendigkeit ein Grund der Unveränderlichkeit, die Zusammensetzung ein Grund der Tein)arkeit. die Unendlichkeit ein Grund der Allwissenheit u. s. w., und diese A\u-knüpfung des Grundes mit der Eolge kann ich deutlich einsehen. w(m1 dii* Folge wirklich einerlei ist mit einem Tcdlbegritf des (i! rundes und. indem sie schon in ihm beläfst wird, durch denselben nach der Kegel der

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*) Üher die P^rhaltuiiLT d. Kraft bei Kant vi^l. Stadh'i': Kants Theorie d. 3Iaterie (lb«o) 2n7— 218

Einstimmung gesetzt wird. Wie aber etwas aus etwas Anderem, aber nicht nach der Hegel der [ d e n t i t ä t fliefse, das ist etwas, welches ich mir gern möchte deutlich machen lassen" (Hii). Oder wie soll ich es ver- stehen, dafs, weil Etwas ist, etwas Anderes sei? Ein Körper A ist in Bewegung, ein anderer B in der geraden Linie derselben in l\uhe. Die Bewegung von A ist etwas: die von B ist etwas Anderes, und doch wii-d durch die eine die andere gesetzt. „Ich hegreife, wie, wenn ich die Unendlichkeit Gottes setze, dadurch das Prädikat der Sterblichkeit aufgehoben wird, weil es nämlich jener wider- spricht. Allein wie durch die Bewegung eines Körpers die Be- wegung eines anderen aufgehoben werde, da diese mit jener doch nicht im W^iderspruche steht, das ist eine andere Frage. Man vei-- suche, ob man die Kealentgegensetzung überhau])t erklären und deutlich köinie zu erkennen geben, wie darum, weil etwas ist, etwas Anderes aufgehoben werde, und ob man etwas mehr sagen kcuuie, als dafs es nicht durch den Satz des Widerspruchs (oder der Identität) geschehe" (10')). Hier ist oh*enl)ar die Grenze einer r(Mn logisch gearteten Weltanschauung, wie es der Katifuialisnius ist. „Ich lasse," fügt Kant hinzu. ..mich auch dundi die Wörter: Ur- sache, Wirkung. Kraft, Handlung nicht abspeisen. Denn wenn ich etwas schon als eine Trstiche wovon ansidie, oder ihm den iiegrilf" einer Kraft lieilege. so habe ich in ihm schon die Beziehung des Realgrundes zur Folge gedacht, und dann ist es leicht, die Position der Folge naidi dem Satz (Um- Identität einzusehen" (lOö). W\uin von zwei Urteilen das eine ein Geschehen aussagt, welches die L'i- sache vom lidialt des and( ren bildet, und dieses die Wirkung jenes Geschehens zum Inhalt hat, so ist damit ktdne Berechtigung gegeben, hier ein Verhältnis von Grund und Folf^e anzunehnum.

Die Scdii'il't über dii' negativen Grcifsen bezeichnet einen Wende- puidvt in der Entwickelung Kants, ja, sie ist ein Markstein in der philosophischen (Tcdankenc^ntwickt hing iibei'haupt, ein Stofs in das Herz des Bationalismus, an dem er notwendig verbluten mufste. Was bis dahin nur (U'st von ganz Wenigen und Kant selbst geahnt, aber nicht mit di^m vollen Bewufstsein seiner Tragweite ausgesprochen war, das bildet das Frgebnis seiner Untersuchung über die negativen Gröfsen : „Aus l o g i s c h e r Entgegensetzung oder Identität kann läber reale F]ntgegeiisetzung (()j)|)osition. welche zur Aufhebung führt) oder Position keine Finsiclit gewonnen werden. Nun ist die reale Opi)Osition oder Position nichts Anderes als Verur- sachung der Nichtexistenz oder Existenz eines Seienden. Und die logische 0])position oder Position ist die B e g r ü n d u n g

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der Unmöglichkeit oder Notweiidi.i^keit der Bestiminuiig eines Be- ixriffs dui'cli vm Prädikat. Also B (\c^r ii ii d ii ii u: ist iiiebt dasselbe, w i (^ V e r u r s a e h u ii j]^ . und es k a ii 1 1 d a 1 1 c i' reale V^'rn i-sa eli n ni^ aus logisc'her Begründung nicht er ka n n t w v r de n.""';)

Der Unterschied des (xrundes und der Ursac^he. der Folge und der Wirkuni; ist uns heute etwas so Geliiufiijcs. dal's wir uns nur schwer in die Anschauungsweise einer Zeit hineinversetzen kiiunen, für welche seine Fa-keinitnis eine epoclieinachemh» Bedeutung hatte. In dei- Atniospliire (h'r lationalistisclien Denkungsart war diese p]insiclit so sehr (mu i^anz Neues, war sie in der Tiiat eiiu^ wii'k- liclie P]ntdeckung. dafs man sich veranLarst gesehen hat, die Krage aufzuwerfen, wie Kant zu ilii" gtdvommen sei. Historiker der Bhilo- soj)hie, ein 1\ u n o I^' i s e h e r uud ein Zell er. haheu sie auf den Eintlufs H u ni e s geschohen/^''-') was Baulse. n je(k)ch mit Hecht zurückgewiesen hat. Die Annahme jenes Einthisses im Anfang der sechziger Jahre, so dais namentlich die Schrift über die nega- tiven Gr()fsen eine Frucht derselben wäre, ist, wie der letzteie gezeigt hat. nicht nur nicht notwendig, sondern sie ist auch unvc^rcinbai' mit h'oian und Inhalt dieser sowie der nilchstiblgenden Schriften Kants.'"'''''*) Paulsen s(dbst glaubt die Losh'Jsuni,^ Kants von dem wolfüschen Kationalisnins auf seine Auffassung und BchainlhniL,^ des GottesbegrdTs zurücktiihnui zu müssen, sofern Kant bereits in seinei- Habilitationsschrift den (iledanken ausgesprochen hatte, das Dasein Gottes könne aus seinem Begriffe nicht bewiesen werden, worin liegt, dafs es überhaupt unim'vi^dich ist. durch reim^ Vernunft nhov Wii-k- liches etwas auszumachen odei' auf dian W'cire (h'r rein logischen Begi'ündung zui' Frkeiintnis der Hervorhringung vom J)asein durch Verursachung zu g(dangen.-[-)

Dieses Auseinandergehen der Meinuuij^en über den Fin<]jerzeig, wodurch Kant zu seiner berühmten Fnterscheidunii: des Frk(Mintnis- grundes vom Bealgrund gekomme:i ist. entspringt nur (hiher, weil man die fundamentale Bedeutung dcv Xaturphilosojjjiic für di(^ Fut- wickeluni; des Phil()so})hen bisher nicht genügend <,^ewürdigt hat. Wer den treibenden Stachel jener Fntwickeluni,' in der Ausfidnamg und Begründung seiner natur])hdoso])hischen Ideen sieht, der wird

*) l'iiulst'ii: Versuch einer Kntvvickelun^sfjeseliielitc d, kaiitischeii Er- kenntiusttieoiic. 1^9.

**) Fisclier: Gesch. d. ncieT.'ii Phil. III. 17S, 'Jö i. Z.'llcr: Gesch. d. deutsch. Ml l'hih)S()])hie stdt Leibui/ (l'^^T'^J. 4J 7. ***j l'iiulscn: a. a. O. 47—53. t) a. a. U. a.'j Jl.

I. Die vorkritische Naturphih)sophie.

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keinen Augenblick darülxa- in) Zweifel sein, dafs auch nur hier der Punkt zu suchen sein kann, aus dem heraus Kant seine Entdeckung gemacht hat. Wenn die rationalistische Metaphysik ihre Tchaiti- fizierung des Logischen und Kealen, der Begründuiii^ und \^'r- ursachung aufrecht erhalten wollte, so mufste sie sich der Milts- konstruktion einer zeitlosen P]xisteuz dor Dinge bedienen. Aus diesem Grunde hatte 8i)inoza die A'/irklichkeit der zeitlichen Auh'inanderfolge im Kausalprozefs geleugnet und die Zeitlichkeit (ebenso wie die Bäumlichkeit ) für ein Objekt der blofsen Imairination. für eine verworrene Vorstellung^ ^uigeseben. und seitdem war es die allgemein herrschende Vorstellung, dafs die Weh des wahrhaft Seienden oder des Realen eine durchaus intelligihle sei. Mit der Hei-aussetzu])g des j^iumes aus der subjektiven Sphäre der Monade in das objektive Sein und der x\nerkennung des iniiuxu^ ph} sieus als eines zeitlichen Prozesses mufste natürlicli auch jene Annahme fallen. Es war also nui- die KonscMiuenz seines .Dvnamismus, wenn Kant die S])h;ire der rcan logisehen Gedankenentwickelung durch (bejenige des realen Seins beschränkt sein liefs. Die rationalistische Identi- tizierung von Grund und Folge bedingte die Annahme einer intelli- giblen Welt: die Zerst()rung dieser Amiahme hob umgekehrt jene Identifizierung auf und zog damit dem Bationalisnius seinen Boden unter den Füfsen fort. Erkenntnistheoretische Gründe, dir- ihre letzte (^)uelle im Cogito eigo sum des Carte sius gehabt hatten, waren es gewesen, wodurch die Metaphysik bestimmt war; meta- l)hysische Gründe waren es. die jetzt die Erk(Uintnistheorie zu einem neuen Standpunkt lührten.

Die Sehlift über die negativen Gröfsen bezeichnet aucli insofern einen AV^endejuinkt in der Fntwiekelung Kants, als seine Beschäftigung mit der ^«'atur nun mehi' und mehr dem Interesse für erkenntnis- theoretische Fragen Fhttz macht. Kant sagt sich, dafs er seine eigentliche Absicht nicht werde ausführen und die metaj)hysischeii Prinzipien seiner neuen Naturlehre nicht sicher werde begründen können, ohne vorher ühw die Natur des nienschliehen Denkens selbst mit sich im Klaren zu sein, das ihm eben zu jenem Ziel verhelfen soll. „Ich habe,'' so beschliefst er daher seine Schrift über die negativen GWd'seii, „über die Natur unserer Erkenntnis in Ansehung unserer Urteile von Gründen und Folgen nacht^edacht und ich werde das Kesultat dieser Betrachtungen d(a-einst ausführ- lich darlegen. Bis dahin werden diejenigen . deren angemafste Einsicdit keine Schranken kennt, die Methoden ihrer ]^hiloso])hie versuchen . bis wie weit sie in dergleichen Fragen gelangen können*' (J05 L).

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Im gleichen Jülirc \:(};l in welclieiii dir Versuch über die negativen Gnifsen erschienen ist. Imt Kant noch (>ine andere um- fangreiche Schrift lieransgcgehcn. (h'n .. Kin/ig niü g 1 i c li en Be- wcisgr u nd /ii einer Demo nstra t io n des Daseins Gottes." Auf Grund seinc^r erw-ihnten Annahme, dafs Kant zu (hin Inhalte der Schritt iiher die negativen Gnifsen dun-h seine Untersuchung üher den Gottesheweis gekommen sei, ghiuht Paulsen die Ah- fassungszeit des einzig möghelien Beweises vor diejenige jener ersten Schrift ansetzen zu müssen/'^) Ghne auf diese Frage näher ein- zugelien. deren gei-inge Bedeutung liir di(^ Kntwiekehnig Kants von Paulsen selbst zugestanden wird, mag darauf liingewiesen werden, dai's jener innere Grund Paulsi^ns für oine frfdifre Konzeption des einzig m()glic}ien Beweises nicht stichhaltig ist, sobald man das treibende Klement der ktmtischen Kntwickelung nicht in seiner Untersuchung iilier den Gottesbeweis, sondern in seiner >»"atur- philosophie erkannt hat. Dann konnte der Philosoph ganz eh>(uiso gut von dem Gedankeninhalt seiner Schritt ü1)er die negativen Gröfsen zu demjenigen (h's einzig nniglichen Beweisgrundes fort- sclireiten, wie umgekehrt, und es ist gar kein zwingender (4rund vor- handen, die Schritt über die negativen (TnU'sen nur für „eine durch die Betrachtungen, die im einzig nir)gHchen Beweisgrund ausgeführt sind, angeregte Speziahmtersuchung" anzusehen.') Ks spricht aucli nicht dagegen, wenn Kant in (hn* späteren Schrift noch an die iVIiJgbehkeit einer „Demonstration (h's Daseins Gottes" ghiubt, von der man nach seiner Schrift über die negativen Gröfsen (h)cli eigentlich annehmen sollte, auch sie sei mit der Unterscheidung des ]\ealen und des [jogisehen hinfällig gewMtrden.

Wenn es überhaupt unmöglich ist. mittels logisclier Sehlufs- folgerungen zum Ivealgrund zu gehingen, w^ie sollte alsdann der (iiaind aller Gründe, der absolute Healgrund dem menschlichen Denken nicht unerreichbar sein? Allein Kants Vertrauen in die i'ationalistisehe Denk- art war noch nicht im (irund erschüttert. Kr war zu sehr ein Kind seiner Zeit, zu sehr im Banne der wolftischen Metaphysik befangen, um sich auf einmal von einer Ansicht lossagen zu kömien, die er gleichsam mit der Muttermilch eingesogen hatte. Soviel stand fest: die ])isherige Method(\ mit der man sich des Weltzusannneidianges zu bemächtigen versucht hatte, war unzulänglich und keineswegs so einwaiulsfrei, wie die JVIetai)hysiker im Allgemeinen ghtubten. Was sie als sichere ilesul- tate ausgaben, blieb hinter der Wirklichkeit zurück; ihre stolzen Ge- dankenbauwerke, in denen sie die Welt meinten abgel)ildet zu haben,

^) Paulsen: a. a. ( >. Gi Tii.

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stellten sich bei näherem Zusehen wohl gar als blofse Luftschlösser heraus. Aber darum brauchte ihre Methode doch nicht gänzlich falsch zu sein. Vielleicht hatte es bisher nur an einer verkehrten Anwendung derselben gelegen, dafs man nicht weiter gekommen w^ar. Für die Wirklichkeit, in der wir stehen und leben, mag es neben dem reinen Denken noch ein anderes Prinzip der Erkenntnis geben, über dessen Beschaft'enheit sich aber Kant selbst noch nicht klar ist; der Grund der Wirklichkeit kann, wenn überhaupt, nur durch Denken von nns erschlossen werden. Darum unternimmt es Kant, zunächst die Brücke zu diesem Objekt zu schlagen. Durch nichts hatte sich der Rationalismus von jeher insbesondere dem religiiisen Bewufstsein mehr empfohlen, als durch seinen Anspruch, das Da- sein Gottes beweisen zu können. Religiöse Motive und Gemüts- interessen mögen es auch gewesen sein, w^elche die völlige Ab- wendung Kants vom Raticmalismus zunächst noch aufgehalten haben. Aber freilich war der Faden, der ihn mit dessen Anschauungsweise noch zusammenhielt, schon jetzt dünn genug, um nicht zu reifsen, sobald jene Stimme des Gemütes zum Scliweigen gebraclit war und die rein gedanklichen Erwägungen die Oberhand behielten.

Was die Habilitationsschrift Kants nur erst angedeutet hatte, das führt die Schrift über den einzig nniglichen Bew^eisgrund näher aus: seine Ansicht, worauf sich der Rationalismus bisher ganz be- sonders gestützt hat, aus dem blofsen Begrilfe des vollkommensten Wesens die Existenz desselben analytisch erschliefsen zu können,

oder die ontologische Eorin des Gottesbeweises ist jedenfalls nicht haltbar.

Das Dasein ist gar kein Prädikat von einem Dinge, sondern blofs von dem Gedanken, den man davon hat. In einem wirk- lichen Dinge ist nicht mehr gesetzt als in einem bh)fs möglichen; der ganze Unterschied besteht nur in der Wirklichkeit als solchen, und dieser ist nicht begrifflicher Natur. Das Dasein ist die abso- lute Position eines Dinges und unterscheidet sich dadurch auch von jeglichem Prädikate, das als solches immer nur beziehungs- weise auf ein anderes Ding gesetzt wird. „Wenn ich mir vorstelle, Gott spreche über eine mögliche Welt sein allmächtiges Werde, so erteilt er dem in seinem Verstände vorgestellten Ganzen keine neuen Bestimmungen, er setzt nicht ein neues Prädikat hinzu, sondern er setzt diese Reihe der Dinge mit allen Prädikaten absolut oder schlechthin. Die Beziehungen aller Prädikate zu ihren Subjekten bezeichnen niemals etwas Existierendes, das Subjekt müfste denn schon als existierend vorausgesetzt werden. Gott ist allmächtig, mufs ein wahrer Satz auch in dem Urteil desjenigen bleiben, der

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dessen Dasein nicht erkennt, wenn er niich nur wohl versteht, wie ich den Begriff Gottes nehme. AHein sein Dasein mufs unniittell)ar zu der Art gelK'iren, wie sein Begriff gesetzt wird, denn in den Prädi- katen selber wird es nicht gefunden" (IL 118).

Offenbar ist dies nur eine Anwendung des in der Schrift über die negativen Grüfsen gefundenen Resultates auf den Begriff des absolutes Realgrundes oder Gott. Aus diesem, als Begriff, ist sein Dasein nicht zu erweisen : die logische Operation bringt es über blofse Vorstellungen nicht hinaus; die Existenz ist nicht logischer Art und mufs auf andere Weise uns gegeben sein. Indessen ist aus dem Begriffe Gottes selbst sein Dasein auch nicht zu folgern, so läfst sich doch aus dem Begriffe von etwas Anderem beweisen, dafs etwas existiert, was eben nur Gott sein kann. Existierte nämlich nichts, so könnte auch nichts gedacht werden, so wäre mithin auch nicht einmal etwas möglicli. Denn alle Möglichkeit setzt etwas Wirk- liches voraus, worin und wodurch alles Erdenkliche gegeben ist. Dasjenige aber, dessen Aufhebung oder Verneinung alle Möglichkeit aufhebt, ist schlechterdings notwendig. Demnach existiert etwas absolut notwendiger Weise, dessen Begriffszergliederung ergi(4)t, dafs es, als der letzte l^ealgrund aller anderen Möglichkeit, seineni Wesen nach einig, einfach, unveränderlich, ewig, absolut real und geistig, mithin nichts Anderes ist als Gott. Damit ist denn aber auch in der That vollkommen apriorisch, aus blofsen Begriffen ohne Zuhilfenahme der Erfahrung ein wirklicher Beweis für dessen Dasein geliefert, und der Rationalismus ist in seinem wichtigsten Punkte vor der Gefahr gesichert, die ihm aus der Einsicht in die Natur der negativen Gröfse zu erwachsen schien (V2\ ff.).

Freilich ist dieser Rettungsversuch eine That der Verzweif- lung, die sicherlich mehr dem Wunsche, die rationalistische An- schauung m()chte eine Wahrheit sein, als aus begründeter Einsicht entspringt. Es ist ja von vornherein ganz widersinnig, das Dasein des absoluten Realgrundes aus blofsen Begriffen erschliefsen zu wollen, wenn man die UnnK'iglichkeit eines derartigen Schlufs- verfahrens bei den relativen Realgründen einmal eingesehen hat. Das Denken, unfähig im Bereich der endlichen Dinge die Existenz auch nur des unscheinbarsten unter diesen Dingen aus sich heraus- zuklauben, mufs da erst recht versagen, wo es sich um das ursäch- liche Prinzip derselben handelt und der Grund aller Gründe selbst als existierend nachgewiesen werden soll. Das Argument, durch welches Kant die ontologische Beweisart des Descartes zu ver- bessern sucht, beruht daher auch nur, wie dieses, auf einem Fehler im Ansatz selbst und kommt nur durch einen offenbaren Trugschlufs

zustande. Kant nimmt an. Aufhebung aller Möglichkeit und Un- möglichkeit oder Notwendigkeit seien eines und dasselbe, ohne zu bedenken, dafs die Aufhebung wirklich aller Möghchkeit auch alle Notwendigkeit zugleich mit aufhebt und folglich nichts weniger als deren Dasein beweisen kann. Wenn er auf diesen Beweis ein so groises Gewicht legt, wenn er nicht müde wird, zu versichern, der- selbe leiste wirklich, was er versj)richt. die unmittelbare Einsicht in das Dasein des absoluten Wesens aus demjenigen, was seine Not- wendigkeit ausmacht, so zeigt dies nur, wie tief Kant auch jetzt noch im Rationalismus steckte, den er doch durch seine Einsicht in die Natur der negativen Gröfse schon prinzipiell überwunden zu haben schien.

So sehr nun aber auch die Form dieses kantischen Beweises für das Dasein Gottes mit derjenigen in der Hal)ilitationsschrift von ITf);') übereinstimmt, in einem Punkte geht Kant docii über den damaligen Beweis hinaus, insofern er sich nämlich jetzt nicht mehr mit dessen rein logischen Fassung ))egnügt. sondern es unternimmt, den apriorisch geführten Beweis auch a ])osteriori durch Rückschlufs aus der Erfahrung zu bestätigen und zu ergänzen (185). Das scheint uns heute selbstverständlich, aber es ist dies keineswegs für den strengen Rationalisten, für den es einer solchen nachträglichen Be- stätigung aus der Erfahrung eigentlich nicht bedürfen sollte, wofern er sich wirklich aus reiner Vernunft bereits von dem zu Beweisenden vollkommen überzeugt hat. Für Kant lag hierzu aufserdem um so weniger ein Bedürfnis vor, als ja gerade die Einsicht in die Unzu- länglichkeit der gew()bnlichen Erfahrungsbeweise für das Dasein Gottes eine Veranlassung mehr für ihn gewesen war, nach einer besseren Argumentation sich umzusehen. Der physikotheologische Beweis, der von der Vollkommenheit, Schönheit und Harmonie der Welt auf einen absolut vollkommenen und weisen Urheber derselben schliefst, so einleuchtend er dem unbefangenen Denken auch erscheinen und so grofsen Nutzen er in dieser Beziehung auch haben mag. verdient doch nicht eigentlich den Namen eines Beweises. Er kann nur dazu dienen, einen Urheber der Verknü])fungen und künstlichen Zusammen- fügungen der Welt, aber nicht der Materie selbst, auch nicht den Ursprung der Bestandteile des Universums darzuthun ; er führt mit andern Worten nur auf einen Werkmeister, nicht aber auf einen Schö])fer der Welt, der zwar die Materie geordnet und geformt, aber sie niclit selbst hervorgebracht hat, erreicht also nicht den wabren Begriff Gottes (1 (>:')). AVas aber den sogenannten kosmo- logischen Beweis betrifft, der vermittelst des Satzes vom zureichenden Grunde vom zufällig gegebenen Sein aus zu einer absolut notwen-

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digen Ursache dieses Seins emporzusteigen sucht, so ist er nur ein verkappter ontologischer Beweis und daher denselhen Einwänden, wie dieser, unterworfen (200 ff.)- Trotzdem scheut Kant sich nicht, die Erfahrung zur Bestätigung dafür heranzuziehen, um ein ahsolut vollkommenes Wesen als einheitlichen Kealgrund des Weltganzen darzuthun ; spricht er es doch geradezu aus, dafs sein Bestreben auf nichts Geringeres gerichtet sei, als „vermittelst der Natur- wissenschaft z u r E r k e n n t n i s Gottes hinaufzusteigen" (112). Sollte nicht auch diese ungewöhnliche Wertschätzung der Erfahrung nur ein Ausdruck dafür sein, dafs Kant innerlich schon nicht mehr auf konsefjuent rationalistischem Boden, sondern auf dem Punkte stand, ins Lager des Empirismus überzugehen, für welchen die Erfahrung Ausgangs))unkt und Norm des Denkens ist?

Noch eine andere auf das Problem des Absoluten bezügliche Erage hatte die Habilitationsschrift erwogen, die Krage nach dem Verhältnis Gottes zur Welt, und auch diese wird jetzt in der Schrift über den einzig möglichen Beweisgrund wieder aufgenommen und in Verbindung mit dem Problem der Teleologie von Kant zum Gegenstande seiner Untersuchung gemaclit. Dafs die Elemente der Welt nicht stoffliche Atome, sonch^rn lebendige Kräfte seien, hatte die physische Monachdogie bewiesen. Woher der Zusammenhang und die Einlieit unter diesen Kräften, infolge wovon die letzteren nicht bk)L's überhau|)t auf einander wirken. o])wohl doch eine jede von ihnen bei ihrer individuellen Natur eine abgeschlossene Spliäre für sich bildet, sondern auch alle zusammen in der Weise in ein- ander greifen, dafs ihr gemeinschaftliches Resultat einer vernünftigen Überlegung zu entstammen scheint?

Die einheitliche Beziehung, die durch alle Mannigfaltigkeit der Naturerscheinungen hindurchgeht, kann ja nicht geleugnet werden. Man (lenke z. B. nur an die Formen der Geometrie; welche wunderbare Ordnung und Zusammenpassung herrscht nicht schon hier unter den verschiedenen Bestimmungen des Eaunn-s! Alle geraden Linien, die einander aus einem beliebigen Punkte innerhalb eines Ki^eises durchkreuzen, schneiden sich, indem sie an den Um- kreis stofsen, stets in geometrischer Proportion. Alle, die von einem Punkte aufserhalb des Kreises diesen durchschneiden, werden in solche Stücke zerlegt, dafs sic^ sich umgekehrt verhalten, wie ihre Ganzen. Wenn man bedenkt, wie unendlich viel verschiedene Lagen diese Linien annehmen können, und wahrnimmt, wie sie gleich- wohl unter dem nämlichen Gesetze stehen, wovon es ihnen nicht .möglich ist, abzuweichen, dann mufs man darü])er erstaunen, wie ■die Herstelluniif dieser <^anzen Figur so einfach und dennoch so viel

Ordnung und Einheit in ihr herrscht, und das Erstaunen wächst noch dadurch, dafs sich jene Harmonie als eine notwendige aus- weist (186 ff.). Und findet nicht das Gleiche auch in der Mechanik statt? Man erinnere sich, wie selbst die allgemeinsten AVirkungs- gesetze der Materie, sowohl im Gleichgewicht, als beim Stofse, so- wohl der elastischen, als unelastischen Körper, einem und dem nändichen Prinzip der Sparsamkeit unterworfen sind (141 f.). Dies alles ist nicht zu erklären ohne die Annahme einer in den Dinixen selbst liegenden Einheit, von welcher diese sämtlich abhängig sind (IHSff.). „Denn wer wollte dafür halten, dafs in einem weit- läufigen Mannigfaltigen, worin jedes Einzelne seine eigene vr)llig unabhängige Natur hätte, gleichwohl durch ein befremdliches Unge- fähr sich sollte alles gerade so schicken, dafs es wohl mit einander reimte und im Ganzen Einheit sich hervorfände"? (142). Die Be- wegungsgesetze der Materie sind logisch notwendig, aber die innere Möglichkeit der Materie selbst, das Reale, was jener Notwendig- keit zu Grunde liegt, ist nicht unabhängig oder für sich selbst gegeben, sondern durch ein Prinzij) gesetzt, worin das Mannigfaltige Einheit und das Verschiedene Verknüpfung bekommt, und dieses allein ist es, was die systematische Verfassung der Natur hervor- bringt (i4:o.

Li derselben Weise hatte Kant bereits in seiner Naturgeschichte und Theorie des Himmels den Ursj)rung der mechanischen Gesetze auf den göttlichen Willen zurückgeführt und darin zugleich die Erklärung für ihre teleolo^nsche Bethätigungsart gefunden. Wenn er sich aber damals das Verhältnis zwischen Gott und Welt nach Art des Deismus noch wesentlich dualistisch gedacht liatte, in- sofern der von Gott })räformierte Keim der Welt nur dasjenige in seiner Entwickelung zur Erscheinung bringen sollte, was in ihm ein für alle Mal angelegt war, ohne des göttlichen Beistandes weiter zu bedürfen, so waren die Betrachtungen, die er nunmehr als „Kolgen eines langen Nachdenkens-' (IJO) in seiner neuen Schrift vortrug, v(m einem ganz anderen Geist beseelt. Kant hatte sich von der Unhaltbarkeit des Dualismus überzeugt. Sein Gott war gleichsam aus der unnahbaren Kerne der deistischen Transcendenz herabgestiegen und hatte seinen AV'ohnsitz in der AV^'lt selbst auf- geschlagen. Es geht ein gewisser spinozistisclier Zug durch die Schrift vom Beweisgrund Gottes. ,.Gott ist allgeinigsam. Was da ist. es sei möglich oder wirklich, (bis ist nur etwas, insofern es durch ihn gegeben ist. Eine menschliche Sprache kann den Un- endlichen zu sich selbst reden lassen: ich bin von Ewigkeit zu Ewigkeit, aufs er mir ist nichts, olme insofern es

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durch mich etwas ist. Dieser Gedanke, der erhabenste unter allen, ist noch sehr vernachlässigt oder melirenteils gar nicht berührt worden/' meint Kant. „Das, was sich in den Möglichkeiten der Dinge zur Vollkommenheit und Schönheit darbietet, ist als ein für sich notwendiger Gegenstand der göttlichen Weisheit, aber nicht selbst als eine Folge von diesem unbegreiflichen Wesen an- gesehen worden" (194). Man hat in der Regel die Abhängigkeit anderer Dinge blofs auf ihr Dasein eingeschränkt. Das Dasein als solches hängt von der Willkür der ersten Ursache ab; ,. allein was die Vereinbarung so vieler Folgen, die alle mit den Dingen in der Welt in so grofser Harmonie stehen, unter einander aidangt, so würde es ungereimt sein, sie wiederum in einem W^illen zu suchen" (144). Dafs z. B. ilüssige Materien und schwere Kcirper da sind, kann nur dem Begehren eines mächtigen Urhebers bei- gemessen werden ; dafs aber ein Weltkcirper in seinem flüssigen Zustande ganz notwendiger Weise eine Kugelgestalt, d. h. eine solche Gestalt annimmt, die besser als irgend eine andere mögliche mit den übrigen Zwecken des Universums zusammenstimmt, das Hegt in dem Wesen der Sache selbst (14;")), oder es liegt in der Möglichkeit der Dinge; „und da bier das Zufällige, was bei jeder Wahl vorausgesetzt werden mufs^ verschwindet, so kann der Grund dieser Einheit zwar in einem weisen AV e s e n , a b e r nicht ver- mittelst seiner Weisheit gesucht werden" (1 4(i). Ein Wille setzt jederzeit die innere Möglichkeit der Sache selbst voraus; folglich wird der Grund der Möglichkeit oder das AVesen Gottes mit seinem Willen in der gröfsten Zusammenstimmung sein, „nicht als wenn Gott durcb seinen Willen der Grund der inneren Mög- lichkeit wäre, sondern weil ebendieselbe unendliche Natur, die die Beziehung eines Grundes auf alle Wesen der Dinge hat, zugleich die Beziehung der höchsten Begierde auf die dadurch ge- gebenen gröfsten Folgen bat. Demnach werden die Möglichkeiten der Dinge selbst, die durcli die göttliclie Natur gegeben sind, mit seiner grofsen Begierde zusammenstimmen. Und weil sie mit Eine m übereinstimmen, so wird selbst in den Möglichkeiten der Dinge Einheit, Harmonie und Ordnung sein" (135).

Man sieht, hier wird ein metaphysischer Monismus vorfetra^^en der dadurch besonders interessant ist, weil er in ähnlicher Weise wie derjenige des Spinoza, die teleologiscbe Beschaffenheit der Welt nicht aus einer besonderen göttlichen Weisheit, sondern aus der Einheit der Substanz zu erklären sucht. „Es liegen offenbar selbst in dem Wesen der Dinge durchgängige Beziehungen zur Ein- heit und zum Zusammenhange, und eine allgemeine Harmonie breitet

sich über das Reich der M()glichkeit selber aus" (139). Dafs hier- mit die Frage nach der Möglichkeit der gegenseitigen Einwirkung der Monaden auf einander in der That ihre Lösung gefunden hat, kann nicht bezweifelt werden. Die Monaden sind nicht, wie Leibniz behauptet hatte, für sich selbständige Wesen, zwischen denen folg- lich auch ein innerer Zusammenhang nicht möglich ist, sondern sie sind die „Wirkungen" oder Äufserungen (Erscheinungen) einer und der nämlichen Substanz, worin sie den gemeinschaftlichen Grund ihrer Möglichkeit besitzen. Nach Leibniz ist Gott nur eine Monade unter Monaden, mit diesen auf einer und derselben Stufe der Wesenheit befindlich und nur (quantitativ von ihnen verschieden. Aller Einilufs, den er auf die Monaden ausübt, ist daher auch blofs äufserlicher Natur. Sie verhalten sich zu ihm, wie die Schaclitiguren zu einem Spieler, und um nicht beständig in ihre Existenz ein- greifen zu müssen, hat Gott ihnen allen das Uhrwerk der prä- stabilierten Harmonie verliehen, wonach die gleichen Geschehnisse in der gleichen Zeit ablaufen. Auf Kants nunmehrigem Stand- punkt dagegen ist Gott, als absolute Substanz, den einzelnen Monaden übergeordnet. Die letzteren haben den Charakter der Substanz verloren, sie sind zu blofsen Accidenzen herabgesetzt ; alle ihre scheinbare Selbständigkeit ist nur ein Geschenk „von Gottes Gnaden." Gott ist es, der die Monaden erhält und trägt. Mit seiner eigenen Thätigkeit wirkt er gleichsam von innen in sie hinein; was uns, die wir selbst auf Seiten der Monaden stehen, als äufsere Einwirkung verschiedener Wesen auf einander erscheint, ist also nur das innerliche Spiel der Einheit mit sich selbst. Accidenzen können auf einander wirken, Substanzen nicht. Triebe und Begehrungen streiten in einem Subjekt mit einander, weil sie von der Einheit der Seele umschlossen sind; verschiedene Subjekte aber würden einander ewig beziehungslos gegenüberstehen, wenn nicht auch hier ein ähnliches Verhältnis stattfände, wie zwischen der Seele und ihren Äufserungsformen. Es bleibt nichts übrig, als entweder die substantielle, übergreifende Einheit zu leugnen, dann aber auch den influxus ])hysicus als eine metaphysisch unmögliche Thatsache zu bestreiten; oder aber an der realen Einwirkung der Monaden fest- zuhalten, und dann ihnen die eigene Substantialität abzusprechen und diese in die absolute Substanz zu setzen. Die erste Seite dieser Alternative bis in ihre Konse(iuenzen verfolgt und damit zugleich ein für allemal ad absurdum geführt zu haben, darin besteht das Hauptverdienst von Leibniz, und dies ist es, was ihm seine eigentümliche Stellung im Ganzen der philosophischen Entwickelung anweist. Ihm, der als reiner Metaphysik er das W^eltproblem

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in Angriff nahm, kam alles darauf an, die vSubstanzenlehre des Spinoza aus den Angeln zu heben; daher verfiel er in das ent- gegengesetzte Extrem, die absolute Substanz überhaupt gänzlich aus den Händen zu verlieren. Kant jedoch betrat als Natur- forscher das Gebiet der Metai)hysik, um in ihm die Begründung für seine dynamische Körperlehre zu finden; darum mul'ste er auf die Substanz des Spinoza zurückgreifen, weil sie die Dynamik selbst erst möglich machte. „Denn es mülste," wie gesagt, „ein befremdliches Ungefähr sein, dafs die Wesen der Dinge, die, jegliches für sich, ihre abgesonderte Notwendigkeit hätten, sich so sollten zusammenschicken. dafs selbst die höchste Weisheit aus ihnen ein gro fse s Gan zes vereinbaren kcumte" (105). Man mufs sich die Gegensätzlichkeit der Ausgangspunkte beider Denker vergegenwärtigen, um eine objektive Logik der ])hilo- sophischen Gedankenentwickelung darin zu finden, dafs von nun an das Bestreben in der Philosophie immer mehr sich Bahn brach und mit ßewufstsein die Frage zum Gegenstand des Nachdenkens er- hoben ist, wie eine Vereinigung von Leibniz und Spinoza, von Pluralismus und Monismus m()glich sei, olme auf der einen Seite die Einheit der Substanz, auf der andern die Kealität der vielen Monaden einzubüfsen.

Keichte nun die Annahme der absoluten Substanz wirklich aus, um die Vollkommenheit, Schönlieit und Harmonie der Natur zu erklären? Offenbar nimmt Kant dies an und umgelit er mit Ab- sicht die naheliegende Hypothese der göttlichen Weisheit, obwohl er doch Gott als unendlichen Geist hestimmt hat. Der Grund ist klar: Kant mufste eben, als Naturforscher, sehen, die teleologische Beschaffenheit der Welt begreiflich zu inachen, ohne sich theolo- gischer Annahmen zu bedienen. Hatte doch auch die Xaturforschun«^ seiner Zeit schwer genug d;irin gesündigt, dafs sie sich einfach auf die göttliche Weisheit zu berufen ptlegte, wo ihr die Gründe für eine wirkliche Erklärung ausgingen. Die gewöhnliche sogenannte „Physikotheologie", die aus der Natur Beweise für die Grcifse und Güte des G()ttschö])fers zu entnehmen suchte, hatte sich so oft und gründlich blamiert, dafs schon Voltaire mit Hecht sich über sie lustig gemacht und ihren Vertretern /ug(>rufen hatte: „Sehet da, warum wir Nasen haben, ohne Zweifel damit wir Brillen darauf setzen könnten!'' Es ist sehr be(|ueni. überall Zwecke uiul Absichten aufzuspüren, wenn man damit eine Sache sclion zugleich erklärt zu haben glaubt. Aber eine solche Methode ist ganz un})hil()soj)hisch und setzt der Naturforschung unberechtigter Weise Grenzen. „Die erniedrigte Vernunft steht gerne von einer weiteren Untersuchung

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ab, weil sie solche hier als Vorwitz ansieht, und das Vorurteil ist desto gefährlicher, weil es dem Faulen einen V^orzug vor dem un- ermüdeten Forscher giebt durch den Vorwurf der Andacht und der billigen UnterweTfung unter den grofsen Urheber, in dessen Er- kenntnis sich alle Weisheit vereinbaren mufs. Man erzählt z. E. den Nutzen der Gebirge, deren es unzählige giebt. und sobald man deren recht viele, und unter diesen solche, die das menschliche Ge- schlecht nicht entbehren kann, zusammengebracht hat. so glaubt man, Ursache zu haben, sie als eine unmittelbare giUtliche Anstalt anzusehen*' (IL lÖ'J). Sicherlich haben viele Naturerscheiiningen, die nach den allgemeinsten Naturgesetzen immer noch zufällig sind. ihren letzten Grund nirgendwo anders als in der weisen Absicht Gottes. „Aber man kann nicht umgekehrt schliefsen : wo eine natürliche Verknüpfung mit demjenigen übereinstimmt, was einer weisen Wahl gemäfs ist, da ist sie auch nach den allgemeinen Wiikungsgesetzcn der Natur zufällig und durch künstliche Fügung aufserordentlich festgesetzt worden. Es kann bei dieser Art zu denken sich öfters zutragen, dafs die Zwecke der (jesetze. die man sich einbildet, unrichtig sind, und dann hat man aufser diesem Irrtum noch den Schaden, dafs man die wirkenden Ursachen vorbei- gegangen ist und sich unmittelljar an eine Absicht, die nur erdichtet ist, gehalten haf (1()4).

Allen derartigen methodologischen Fehlern entgeht man nur. wenn man die göttliche Weisheit bei Seite stellt, wenn man sich durch die Schönheit und Vollkommenheit der Welt nicht abhalten läfst. die allgemeinen und einfachen Wirkungsgesetze der Materie auch dort an/uwemh^n und eine rein naturwissenschaftliche, d. h. mechanische, Erklärung zu vei'suchen. wo der Gegenstand unmittelbar aus der göttlichen Absicht herzustammen scheint. Nicht als ob damit die g(;ttliche Weisheit überhaupt geleugnet werden sollte auch bei dieser ]\lethode wird aus der Beschaffenheit der Natur gleichwohl auf jene geschlossen, „aber nicht so, dafs sie von der weisen Wahl als ihrer Ursache, sondern von ein m solchen Grunde in einem obersten Wesen hergeleitet wird, welcher zugleich ein (^rund einer grofsen Weisheit m ihm sein mufs, mithin wohl von einem weisen Wesen, aber nicht durch seine Weisheit-' (löl f.). Die Eiidieit des Wesens also ist es, woduirh die Einheit und Vollkommenheit der Natur verbürgt wird. „Die Dinge der Natur tragen sogar in den not- wendigsten Bestinnnungen ihrer inneren Möglichkeit das Merkmai der Abhäni,ngkeit von demjenigen Wesen an sich, in welchem alles mit den Eigenschaften der Weisheit und (lüte zusammenstimmt. Man kann von ihnen Übereinstimmung und schöne Verknüpfung

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erwarten und eine notwendige Einheit in den mancherlei vorteil- haften Beziehungen, die ein einziger Grund zu viel anständigen Ge- setzen hat" (ir)2). Bei dieser Ansicht kann sich, insofern die Folgen der Natur notwendig sind, nimmermehr seihst nach den allge- meinsten Gesetzen etwas ereignen, was Gott mifsfällig ist. Alle Veränderungen der Welt, die mechanisch, mithin aus den Bewegungs- gesetzen notwendig sind, müssen jederzeit darum gut sein, weil sie natürlicher Weise notwendig sind, und es ist zu erwarten, dafs die Folge unverhesserlich sein werde, sohald sie nach der Ordnung der Natur unaushleihlich ist (1:");^).

Die Wichtigkeit dieser Anschauung für die Naturwissenschaft liegt auf der Hand. Sind Wille und Wesen in Gott identisch und ist alle Natur ein unmittelharer AustluCs seines Wesens, dann wird es nicht niitig sein, „dafs daselhst, wo die Natur nach notwendigen Gesetzen wirkt, unmittelhare göttliclie Ausbesserungen dazwischen kommen" {\,)2). Das Wunder, das hisher immer als ein unbegreif- liches Kätsel aufserhalb der Wissenschaft gestanden hat, wird über- flüssig. Es giebt aber zugleich auch keinen Widerstreit mehr zwischer. Teleologie und Mechanismus. Alles, was schiin und zweck- mäfsig erscheint, ist darum nichtsdestoweniger nach mechanischen Gesetzen entstanden. Damit wird der Theologie das Recht entzogen, gegen die mechanische Erklärungsweise Einspruch zu erheben, und der naturwissenschaftlichen Forschung eine Freiheit erobert, die sie nur allzu lange zu ihrem Nachteil enthehrt hat. Um selbst an einem Beispiel zu zeigen, wie die Naturforschung sich in dieser Hinsicht zu verhalten habe, wiederholt Kant in kurzen Zügen seine Kosmogonie in der Hoffnung, die unbegründete Besorgnis beseitigen zu können, als ob die Erklärung der Welt aus allgemeinen Naturgesetzen den boshaften Feinden der Keligion eine Lücke öfl'ne, in ihre Bollwerke einzudringen. „Mein Zweck", sagt Kant, „insofern er diese Schrift betrifft, ist erfüllt, wenn man durch das Zutrauen zu der llegel- mäfsigkeit und Ordnung, die aus allgemeinen Naturgesetzen Hiei'sen kann, vorbereitet, nur der natürlichen AV eltwei sh ei t eia freieres Feld öffnet und eine Erklärungsart, wie diese (in der Kosmogonie) oder eine andere als möglich und mit der Erkenntnis eines weisen Gottes wohl zusammenstimmend anzusehen kann bewogen werden" (ÜJl).

Aber noch mehr! Die Erkeinitnis des einheitlichen W^elt- grundes giebt eine Regel an die Hand, „die Einheit der Natur so sehr wie möglich zu erhalten, d. i. vielerlei Wirkungen aus einem einzigen schon bekannten Grunde herzuleiten, und nicht zu ver- schiedenen Wirkungen wegen einiger scheinbaren gröfseren Unähn-

lichkeit sogleich neue und verschiedene wirkende Ursachen anzu- nehmen" (155 f.). „Man präsumiert mit grofsem Grunde, dafs die Ausdehnung der Körper durch die Wärme, das Licht, die elektrische Kraft, die Gewitter, vielleicht auch die magnetische Kraft vielerlei Erscheinungen einer und ebenderselben wirksamen Materie, die in allen Elementen ausgebreitet, nämlich des Äthers, sei" (lot))- Die erste Entstehung eines Organismus bleibt uns freilich unbegreiflich (157 f.); indessen „man vermute nicht allein in der unorganischen, sondern auch der organisierten Natur eine gröfsere notwendige Einheit, als so geradezu in die Augen fällt*' (llili). Ja, sollte nicht auch in den freien Handlungen der Menschen jene Einheit und Gesetzmäfsigkeit bemerkbar sein, die sich bei ihrem Getragensein von einem gemeinschaftlichem Grunde a priori auch hier vermuten läfst ? Li der That. wenn man beobachtet, wie das Verhältnis der Ehen zu der Zahl der Lebenden ziemlich beständig ist, und wie im Durchschnitt, wenn man grofse Zahlen nimmt, die Zahl der Sterbenden gegen die Lebenden sehr genau in ebendemselben Verhältnis steht, dann kann man sich der Einsicht nicht verschliefsen, „dafs selbst die Gesetze der Freiheit keine solche Ungebundenheit in Ansehung der Regeln einer allgemeinen Naturordimng mit sich führen, dafs nicht ebenderselbe Grund, der in der übrigen Natur schon in den Wesen der Dinge selbst eine unausbleibliche Beziehung auf Vollkommenheit und Wohlgereimtheit befestigt, auch in dem natürlichen Laufe des freien Verhaltens wenigstens eine gröfsere Lenkung auf ehi Wohl- gefallen des höchsten Wesens ohne vielfältige Wunder verursachen sollte" (154).

AVohin man blickt, der oben geführte apriorische Beweis für das Dasein Gottes wird auch a posteriori durch die Betrachtung der Natur bestätigt. Ist nun damit jenes Dasein wirklich bewiesen, und kann sich der Forscher mit diesem Do})})elbeweis zufrieden geben, der ihn dasjenige mit dem Verstand begreifen läfst, was er bisher nur als religiöser Mensch geglaubt hat? Als Kant sich ernstlich diese Frage vorlegte, vermochte er sie nicht unbedingt mit Ja zu beantworten. Der Beweis aus der Natur ist gewifs in seiner Art vortrefflich, schon deshalb weil er so allgemein verständlich ist. Aber schliefslich unterscheidet er sich doch nicht wesentlich von dem sogenannten physikotheologischen Beweis, dessen Mangel oben dar- gelegt wurde. Zur Natur eines Beweises im eigentlichen Sinne fehlt es ihm gänzlich an geometrischer Strenge und unbedingter Folge- richtigkeit in seinen Schlüssen (109. 202). Er ist eben nicht mehr und nicht weniger als höchstens eine nachträgliche Bestätigung eines auf andere Art bereits Bewiesenen; bestenfalls vermag er es zu

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einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu ])rinf^en, iher niemals auch zu einer wirklichen Gewil'sheit. Um diese zu erlanjjjen. mul's man den Weg der Erfahrung verlassen, „mul's man sich auf den bodenlosen Abgrund der Metaphysik wagen, ein finsterer Ozean ohne Ufer und ohne Leuchttürme, wo man es, wie der Seefahrer auf einem un- beschilften Meere, anfangen mufs, welcher, sobald er irgendwo Land betritt, seine Fahrt prüft und untersucht, ob nicht etwa unbemerkte Seestrikne seinen Lauf verwirrt haben, aller Behutsamkeit ungeaciitet. die die Kunst zu schiffen nur immer gebieten mag'' (lOMf.). Hier allein wenn irgendwo kann überhaupt ein solcher Beweis ge-' funden werden, welcher derjenigen Schärfe fähig ist, die man mit Recht von einer Demonstration erwartet. Wenn mir nicht blofs die Wenigsten imstande wären, dem Denker in dieses aufserordentlicii schwierige Gebiet zu folgen! Man mufs es unter solchen Umständen als ein Glück betrachten, dafs auch nur die Wenigsten ein Bedürfnis haben, über ihren Glauben an Gott sich Bechenschaft zu geben. „Die Vorsehung hat nicht gewollt, dafs unsere zur Glückseligkeit höchst nötigen Einsic^hten auf der Spitzfindigkeit feiner Schlüsse beruhen sollten, sonih'rn sie dem natürlichen gemeinen Verstand un- mittelbar überliefert, der, wenn man ihn nicht durcli falsche Kunst verwirrt, nicht ermangelt, uns gerade zum Wahren und Nützlichen zu führen, insofern wir desselben äufserst bedürftig sind" (101)). „Es ist durchaus nötig, dafs man sich vom Dasein Gottes überzeuge; es ist aber nicht ebenso nötig, dafs man es demonstriere*' (205). „Gleichwohl kann man sich nicht entbrechen, diese Demonstration zu untersuchen, ob sie sich nicht irgendwo daibiite ; ein der Nach- forschung gewohnter Verstand kann sich nicht entschlagen, in einer so wichtigen Erkenntnis etwas Vollständiges und deutlich Begriffenes zu erreichen" (lOf)). Sollte auch dieser Weg nicht zum Ziele führen, dann freilich ist das Dasein Gottes völlig unbeweisbar, und es bleibt nichts übrig, als mit der unmittelbaren (jiewifsheit im Gefühl sich zu begnügen, wenn uns der Verstand im Stiche läfst.

Dal's er nun selbst diesen Beweis gefunden habe, davon seheint Kant keineswegs so völlig überzeugt, wie man aus manchen Aufserungen seiner Schrift entnehmen könnte. In der Vorrede, die olfenbar später geschrieben ist als die Abhandlung selbst, verwahrt Kant sich aus- drücklich dagegen, als habe er mehr als „nur die ersten Züge eines Hauptrisses" entwerfen wollen, wonach, wie er meint, ein Ge- bäude v(m nicht geringer Vortrefflichkeit könnte aufgeführt werden, wenn unter geübteren Händen die Zeichnung in den Teih>n mehr Bichtigkeit und im Ganzen eine vollendete Regelmälsigkeit erhielte. „Was ich hier liefere," sagt er, „ist nur der Beweisgrund zu einer

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Demonstration, ein mühsam gesam meltes B auger äte, welches der Prüfung des Kenners vor Augen gelegt ist, um aus dessen brauchbaren Stücken nach den Regeln der Dauerhaftigkeit und der Wohlgereimtheit das Gebäude zu vollführen. Ebensowenig, wie ich dasjenige, was ich liefere, für die Demonstration selber will gehalten wissen, sowenig sind die Auflösungen der Begriffe, deren ich mich bediene, schon Definitionen. Sie sind, ^vie mich dünkt, richtige Merkmale der Sachen, wovon ich handle, tüchtig, um daraus zu ab- gemessenen Erklärungen zu gelangen, an sich selbst um der Wahr- heit und Deutlichkeit willen brauchbar, aber sie erwarten noch die letzte Hand des Künstlers, um den Definitionen beigezählt zu werden" (110).

Das klingt nun allerdings viel weniger zuversichtlich als die Anpreisung des von ihm aufgestellten Argumentes als des „einzig m () glichen" Beweisgrundes für das Dasein Gottes ( 1 1)8 ff'. ). Kants Zutrauen zur a\Ietapliysik ist offe]d)ar stark erschüttert. „Es giebt eine Zeit, wo man in einer solchen Wissenschaft, wie die ^Metaphysik ist, sich getraut, alles zu erklären und alles zu demonstrieren, und wiederum eine andere, \vo man sich nur mit Furcht und Mifs- trauen an dergleichen Unternehmungen wagt" (110). Wie, wenn nun auch jener „einzig mögliche" Beweis so wenig haltbar ist, wie die übrigen Schulbeweise für das Dasein Gottes . wie steht es dann um diese Wissenschaft überhau])t, die den Ansjirucli erhebt, alles auf rein logische Weise zu entwickeln, und die mit ihrem ganzen stolzen A])parat des A priori nicht über die Schwelle der Denk- mciglichkeit hinauskommt? Die Schrift über die negativen Gröfsen hatte gezeigt, dafs den endlichen Bealgründen, den physischen sowohl, wie den psychischen, mit dem blofsen Verstände nicht beizukommen wäre. Damit waren diejenigen Teile der Metaphysik hinfällig geworden, die man als „rationale Kosmologie" und „rationale Psychologie" zu bezeichnen pflegte. Aber noch schien der wichtigste und Hauptteil der Metaphysik, die „rationale Theologie." nicht erschüttert: die Schrift über den einzig möglichen Beweisgrund hatte ja eben keinen anderen Zweck, als diesem ein neues und sicheres Fundament zu geben. Wenn nun auch dies sich als trügerisch erwies, was blieb dann von jener ganzen gepriesenen Wissenschaft noch übrig und welchen Wert konnte sie haben für die Wissenschaft der Natur, die sie begründen und stützen sollte, wenn sie mit ihren eigenen Füfsen in der Luft stand?

Das Vorgeben der Metai)hysik, aus reiner Vernunft, a ])riori das W^eltgerüst vor den Augen des Philosophen erstehen zu lassen, war als eine eitle Prahlerei durchschaut: sie vermochte nicht das

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allgemeine Grundgesetz der Wirklichkeit, das Gesetz der Kausali- tät, anders als rein logisch darzustellen, ja, nicht einmal die hlol'se Existenz konnte hegrifflich von ihr erkannt werden. Nun beruhte aber gerade in der Erkenntnis der Wirklichkeit aus blofsen Be- gritVen das Grundprinzip des Kationalismus. Wenn also diese Er- kenntnisart an die Wirklichkeit nicht heranreichte, wenn die Grund- elemente des realen Daseins im Schmelztiegel der logischen Idee nicht auflösbar waren, dann war ja der Rationalismus selbst unhaltbar, dann mul'ste man sich mit einer Erkenntnis durch Erfahrung be- gnügen, dann hatte folglich jeder seine eigene Erkenntnis, je nach den Erfahrungen, die ihm zu Gebote st^mden. dann gab es keine allgemeine und notwendige, keine objektive Erkenntnis, alles löste sich in ein subjektives Fürwahrhalten auf, dann Kant fühlte, wie ihm der Boden unter den Füfsen entscliwand, wie das ganze Gebäude seiner bisherigen Weltanschauung zusammenstürzte, sobald er an der sch<)])ferischen Kraft des Denkens im Sinne des Rationalis- mus zweifelte. Hing doch an ihr auch das Schicksal der Meta- physik, jener Wissenschaft, olme welche ilim seine naturwissen- schaftliche Weltanschauung der nötigen Begründung zu entbehren schien. Denn wenn die Erfahrung Ausgangspunkt und Norm des Denkens war, dann konnte ja natürlich von einem AVissen dessen, was jenseits derselben ist, nicht die Rede sein, man blieb auf blofse Wahrscheinlichkeiten angewiesen, und der Skei)tizismus behielt das letzte Wort. Kein Wunder, dafs Kant zunächst alles daran setzte, der gefährdeten jVIetaphysik einen neuen Halt zu geben und mit Beiseitelassung aller inhaltlichen Elemente die F o r m dieser Wissen- schaft sicher zu stellen.

Woran lag es, dafs die i\Ieta])hysik eine so ,.unsichere" Er- kenntnis war, dafs hier ebenso viele Meinungen sich gegenüberstanden, wie Köpfe da waren, die mit diesem Gegenstande sich befafsten? Wenn man bedachte, wie die Meta])hysiker bestrebt waren, es den Mathematikern gleich zu thun und diese sicherste und strengste aller Wissenschaften in ihren Dienst zu nehmen, dann konnte man sich über jene Erscheinung wohl verwundern, und es L'ig der Verdacht nahe, ob nicht vielleicht gerade in dieser Heranziehung der Mathe- matik der Grundfehler aller bisherigen Spekulation zu suclien wäre. Bereits in seiner Schrift über die negativen Gröfsen hatte Kant einen doppelten Gebrauch unterschieden, dtMi man in der Welt- weisheit von der Mathematik machen könnte, den einen, der in der Nachahmung ihrer Methode, den andern, der in der wirk- lichen Anwendung ihrer Sätze auf die Gegenstände der Philosophie bestände. Bereits hier hatte er die Bemerkung ausgesprochen, von

dem ersteren sei eigentlich kein Nutzen zu ersehen, so grofsen Vorteil man sich auch anfänglicli davon versprochen habe (II. 71). Nun wandte er diesem Punkte seine Aufmerksamkeit besonders zu und fand in der That die Nachahmung des Mathematikers, der auf einer wohlgebahnten Strafse sicher fortschreitet, „auf dem schlüpfrigen Boden der Metaphysik" als den Grund einer Menge von Fehl- tritten und Irrtümern, die man ganz wolil bei einer genaueren Kenntnis des Wesens beider Wissenschaften hätte vermeiden können (II. 11 f)).

Es war ilmi daher eine willkommene Gelegenheit, sich hierüber näher auszulassen, als die Berliner Akademie im Jahre i:(i;> die Preis- frage nach der Evidenz in den metaphysischen Wissenschaften stellte. Kant beantwortete diese Frage in seiner ,. U n t e r s u c h u n g ü b e r d i e Deutliclikeit der Grundsätze der natürlichen Theo- logie und der Moral"' (17()4), ,.in welcher der Metaphysik ilir wahrer Grad der Gewifsheit samt dem Wege, auf welchem man dazu gelangt,-' bestimmt ward und diejenigen Gesichtspunkte von ihm aufgestellt wurden, Avoraus nach seiner Ansicht eine Erneuerung dieser AVissenschaft von Grund aus möglich wäre. „Wenn erst die Methode feststeht, nach der die höchst m()gHc]ie Gewifsheit in dieser Art der Erkenntnis kann erlangt werden, und die Natur dieser Überzeugung wohl eingesehen wird, so mufs, anstatt des ewigen Unbestandes der Meinungen und Schulsekten, eine unwandel- bare Vorschrift der Lehrart die denkenden Kiipfe zu einerlei Be- mühungen vereinbaren; sowie Newtons Methode in der Natur- wissenschaft die Ungebundenheit der j)]iysischen Hy])othesen in ein sicheres Verfahren nach Erfahrung und Geometrie veränderte*' (II. '2H3).

Seit Descartes und Spinoza, diesen beiden grofsen Be- gründern des Rationalismus in der neueren Pliilos()])hie, war es üblich geworden, „niore geometrico*' rein logisch die einzelnen Sätze auseinander abzuleiten, ohne sich um die Erfahrung zu bekümmern, indem man von der Voraussetzung ausging, alles, was riclitig ge- folgert, deutlich eingesehen und für das Denken ohne Widerspruch sei, müsse eben darum auch mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Wie die Mathematik zuerst Definitionen aufstellt und diese dann willkürlich mit einander verknüpft, um daraus neue Wahrheiten hervorgehen zu lassen, so hatte man es auch in der Metaphysik gemacht. M;in hatte mit souveräner AVillkür sich Vorstellungen gebildet, subtile Begriifsglieder zu Schlufsketten an einander gereiht, und wenn man diese unter einander zu einem Svsteni verbunden hatte, dann hatte man sich unbesehen geschmeichelt, in solchem Netze aus reinen Begriffen die ganze ungeheure Wirklichkeit selbst

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ein^i^efan^en zu haben. Nichts thörichter als diese Einbiklun.c; ! Zwischen den Objekten der Alatheinatik und denen der Metai)hysik besteht ein so fundamentaler Unterschied, dal's, wie Kant saj^^t, nichts der Philosophie schädlicher gewesen sei als die Mathematik, nämlich die Nachahmunp^ derselben in der Methode zu denken (II.^Dl). Die Mathematik schafft sich ihre BegritVe selbst, und zwar in der sinnlichen Anschauunf]^. sie läfst sie durch Konstruktion ent- stehen, z. B. d('n Ke^j^el aus der willkürlichen Vorstellunij eines rechtwinkligen Dreiecks, das sich um eine Seite dreht. So hat sie ein Recht , mit ihnen willkürlich zu schalten ; sie braucht nicht zu besorgen, es m()chte sich etwa in ihnen ein Merkmal finden, dessen Nichtberücksichtigung ihren (Tedankengang schädit^t, weil sie ja vorher selbst in der Definition alle jMerkuiale in sie hineingelegt hat. Der Meta]ihysik werden ihre Objekte von anderswoher ge- geben, ihre Begriffe sind dunkel. unl)estinimt ; daraus folgt, dafs man hier nicht mit F^rklärungen den Anfang machen darf. Vielmehr suche man in seinem Gegenstande zuerst dasjenige mit Sorgfalt auf. dessen man von ilim unmittelbar gewifs ist, auch ehe man die Definition davon hat. Man zeichne diese un- mittelbar gewissen Urteile über den Gegenstand besonders aus und, wenn man sich überzeugt hat, dafs das eine in dem andern nicht enthalten sei, so schicke man sie, wie die Axiome der Geometrie, als die Grundlage zu allen andetai Kolgeruni^^en voran ('J!!:; f.). Hier müssen viele Handlungen der Vergleichung, Unteroi-dnung und P]inschränkung vor sich gehen (21)2); aber schliel'slich wii-d man doch auf gewisse letzte^ Elemente der Erkenntnis stofsen, die einer weiteren Auflösung nicht fähig sind. Diese sind die „unerweislichen Grundwahrheiten-' (28!)), die „ersten materialen Grundsätze der menschlichen Vernunft*' (iU):)). die wii- neben den Regeln der formalen Logik besitzen ; die Metaphysik ist eigentlich nichts Anderes als eine Philosophie über diese ersten Gründe unserer Erkenntnis (29 0- „Es ist das Geschiil't der Weltweisheit, BegrifTe, die als verworren gegeben sind, zu zergliedern, ausfiihrlicli und bestimmt zu machen; der Mathematik aber, gegebene Begriffe von Gröfsen, die klar und sicher sind, zu verknüpfen und zu vergleichen und zu sehen, was hieraus gefolgert werden kiünie-' (2SI{). Die Mathematik also ist scluipferisch, konstruktiv, deduktiv, synthetisch; die Metaphysik dagegen ist induktiv und kann einstweilen nur ana- lytisch sein. Erst „wenn die Analysis uns wird zu deutlich und ausführlich verstandenen Begriffen verholfen haben, wird die Synthesis den einfachsten Erkenntnissen die zusammengesetzte, wie in der Mathematik, unterordnen kiinnen" (2!)<S).

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„Die echte Methode der Metaphysik ist mit der- jenigen im Grunde einerlei, die Newton in die Natur- wissenschaft einführte, und die daselbst von so nutzbaren holgen war. Man soll, heifst es daselbst, durch sichere Er- fahrungen, allenfalls mit Hilfe der Geometrie die Regeln auf- . sucben. nach welcben gewisse Erscheinungen der Natur vorgehen. Wenn man gleich den ersten Grund davon in den Körpern nicht einsieht, so ist gleichwohl gewifs, dafs sie nach diesem Gesetze wirken, und man erklärt die verwickelten Naturbegebenheiten, wenn man deutlich zeigt, wie sie unter diesen wohlerwiesenen Re-(dn enthalten seien. Ebenso in der Metai)hysik : suchet durch sichere innere Erfahrung, d. i. ein umnittelbares augenscheinliches Bewufst- sein. diejenigen Merkmale auf, die gewifs im Begriffe von irgend einer allgemeinen Beschaffenheit liegen, und ob ihr gleich das ganze WY^sen der Sache nicht kennt, so ki'mut ihr (Mich doch der- selben sicher bedienen, um vieles in dem Dinge daraus herzu- leiten" (294).

Wohin man gelangt, wenn man mit Begriffen operiert, die man nicht vollkommen eingesehen und nicht l)is in ihre letzten Bestand- teile zergliedert hat. davon liefert die herrschende Metaphysik eni schlagendes Beispiel, indem sie die unmittelbare Anziehung der Kr.rper in die Ferne leugnet. Was heifst denn das: ein Körper wirkt in einen entfernten unmittelbar? Doch offenbar: er wirkt in ihn unmittelbar, aber nicht vermittelst der Undurchdringlichkeit, nicht durch Berülirung. Die unmittelbare gegenseitige Gegenwart zweier Körper, sagt nun die Metaphysik, ist die Berührung. Wenn also zwei Körper in einander unmittelbar wirken, so berühren sie ein- ander, l'olglieh sind sie nicht entfernt, folglich wirken zwei Körper in der Entfernung niemals unmittelbar in einander. Aber die Definition ist erschlichen. Niclit jede unmittelbare Gegenwart ist eine Be- rührung, sondern nur die vermittelst der Undurchdringlichkeit. Der ganze Beweis ist also in den Wind .irebaut: die Meta])hysik hat zum wenigsten gar keinen Grund, sich wider die unmittelbare Anziehung in die Ferne zu empören (2!)«) f.). Unter diesen Umständen ist es freilich nicht zu verwundern, dafs in ihr trotz ihres Pochens auf die mathematische Methode solche Unsicherheit und Zerfahrenheit herrscht. ,.Die philosophischen Erkenntnisse haben mehrenteils das Schicksal der Meinuu'Ten und sind, wie die Meteore, deren Glanz nichts für ihre Dauer verspricht. Sie verschwinden, aber die Mathematik bleibt. Die Metaphvsik ist ohne Zweifel die schwerste unter a 1 1 e n m e n s c h - liehen Einsichten: allein es ist noch niemals eine

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geschrieben worden'^ (21)1). Nur durcli eine gründliche Um- änderung der Methode, wie sie in ihren allgemeinen Zügen dargelegt ist, darf man hoffen, anch hier zu einiger Beständigkeit zu kommen. Allerdings wird man bei dieser neuen ^Wetluxb^ vor allem lernen müssen, sich zu bescheiden. Man wird dem stolzen Wahn entsagen müssen, durch die Kraft des reinen, von aller Erfahrung freien Denkens iiiit Einem Griff sich m den liesitz der Liisung des AVelt- rätsels setzen zu kihmen. Jene Methode wird einfach und be- hutsam seni (;2^'V). Eine Probe von ihr hatte ja Kant bereits in seiner Schrift über den einzig nuiglichen Beweisgrund gegeben, indem er „aus dem, was durch Beobachtung unmittelbar gewifs ist. zu dem jdlgemeineren Urteil langsam hinaufzusteigen suchte" (II. 14()). Die „N a c h r i c h t v o n d e r E i n r i c h t u n g seine r Y o r - lesungen in d e m W i n t e r h a 1 b j a h i-e von 1 TliT) 1 Tbl)" zeigt, dafs Kant damals auch im mündlichen Vortrage di(^ .Methode der Induktion befolgte. Der natürliche Fortschritt dei- menschlichen Erkenntnis, heilst es hier, ist dieser, „dafs sich zuerst der Verstand ausbildet, indem er durch Erfahrung zu anschauenden Urteilen und durcli diese zu Begriffen gelangt" (lI.HIo). Dem- iremüfs begann Kant damals seinen Vortrag über die Metaphysik mit der emi)irischen Psychologie, „welche eigentlich die metaphysische Erfahrungswissenschaft vom Menschen ist", stieg von da zur Kosmo- logie und Ontologie nebst rationalen Psychologie em])or und endigte mit der rationalen Theologie, als der schwersten und abstraktesten unter allen philoso])hischen Untersuchungen, welche den Ahschlul's der Pyramide bildete, zu dem alle vorangehenden Teile der Pliilosophie nur den Unterbau und das Baumaterial geliefert hatten (11. iiUJf.). Wenn nun auch eine Einsicht in die hetzten Probleme des Daseins auf diesem Wege ganz wohl erreichbar schien : denjenigen Grad von Überzeugungskraft und Gewifsheit. der eine Erkenntnis für die rationalistische Denkungsart jener Zeit erst wertvoll machte und ihr den Charakter des Metaphysischen, des aller gewr)hnlichen Erkenntnis Grund und Halt GebcMiden aufdrückte, konnte jene neue ]\lethode doch nicht gewähren. Man mochte noch so viel Er- fahrungen sammeln, die Begriife derselben analysieren, vergleichen und bestimmen, sobald man aus ihnen Schlüsse zog und diese zu einem Gesamtbild vereinigte, so verliefs man das Eeld der un- mittelbaren Gewifsheit und trieb sich unter lauter AVahrscheinlicb- keiten herum, die immer mehr an Beweiskraft einbürsten. je hiiher der Flug des spekulierenden Verstandes über die Sj)häre der Er- fahrung hinausging. Der llationalismus, der mit Beiseitelassung der Erfahrung sich ganz im Äther des reinen Gedankens bewegte, hatte

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I. Die vorkritische Naturphilosophie.

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in (lieser Hinsicht nichts zu fürchten. Er hovief sich einfach auf die Einheit der Vernunft in allen Menschen, und was er mittels rein logischer Deduktion aus diesem Schachte zu Tage förderte, das mufste folglich auch für alle vernünftigen AVesen in gleicher Weise gültig und notwendig sein. Eine Metaj)hysik dagegen, wie die- jenige, die Kant im Auge hatte, eine .Metaphysik, welche die Ertahrung zum Ausgangspunkt nahm oder doch wenigstens mit Erfahrungselenienten durchsetzt war, eine solche Metaphysik hatte bei der Vieldeutigkeit der Erfahrung keine allgemeingültige Picht- schnur der Erkenntnis mehr, sie entbehrte auch der zwingenden Notwendigkeit in demselben Mafse, wie es die Flüchtigkeit und Veränderlichkeit den- Erfahrungsobjekte that. und hob sich in dem nämlichen Augenblicke selber auf, wo sie dem Kluge ilin^r (TcdankiMi sich hingab. Mit anderen Worten : die Untersuchung über die neue Methode der JVletaphysik hatte nur das Eine klar hewiesen : dafs Metaphysik, als Erkenntnis desÜhersinnlichen von strenger Allgemein- heit und Notwendigkeit, nicht möglich sei.

Während in solcher Weise die kantischen Gedanken durch- einander gährten und der Philosoph immer mehr auf die abschüssige Bahn der Ertahrungsphilos()|)hie getrielx^n wurde, ohne doch mit dem Kationalismus schon in allen Stücken gebrochen zu liahen, verkündete der schwedische Geisterseher Swedenborg, mit jener übersinnlichen Welt, dem Gegenstande der iMetaphysik. selbst in Verbindung zu stehen, und das Wunderhare, der über ihn im Schwünge gehenden Erzählungen hielt damals die gei)ildete W^lt in Aufregung. Auch Kant wurde aufmerksam ; und wenn seine Aufse- rung auch wahr sein mag, er habe hierbei nur der „Nachfrage vorwitziger und müfsiger Freunde", die seine ^1 einung über diese Dinge hören wollten, nachgegeben (II. :)7 ;")).='=) so steht doch zu vermuten, es habe auch noch ein tieferer Grund ihn veranlal'st. sich eingehender mit Swedenborg zu beschättigeii und nähere Erkundigungen üher ihn einzuziehen. Vielleicht hoffte er geradezu, bei ihm Aufschlüsse über jene Welt zu empfangen, in welche einzudringen die Metaphysik sich vergebens abmühte, und dies auf einem Wege, der seiner gegen- wärtigen Denkungsart entsi)rach, nämlich nicht durch reines Denken, sondern durch Erfahrung, unmittelbar. Einen Augenblick mag damals im Geiste Kants die Hoifnung aufgeblitzt haben, Metaphysik und Erfahrungswissenschaft in Eins verschmolzen, den Himmel für den irdischen Blick oÜ'en sehen zu können : in dieser Erwartung mag er sich an Swedenborg gewandt haben um sich enttäuscht

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') Vgl. Kants liritle an Mendelssohn (17ü6j. Vlll. (ITI ii".

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von ihm abzuwenden. In seiner „Triiiini c eines Geistersehers, e r 1 ii u t e r t durch T r ä u m e d e r M e t a ]:> li y s i k " ( I TGG) betitelten Schrift hat Kant vom rein wissenschaftlichen Standpunkt aus aller Geisterseherei ein für alle Mal den i\bsa^^ebrief geschrie})en. aUer- din^T^s wie Windelband feinsinnig bemerkt nicht ohne ein gewisses wehmütiges Bedauern darüber durcliblicken zu lassen, dafs auch seine Hoffnung, auf diesem AVege der geliel)ten Meta})hysik zu Hilfe kommen zu können, in so grausamer Weise zu nichte geworden sei. *) Wenn Kant gk'icliwohl seiner eigenen Person allen Geister- erzählungen gegenüber eine gewisse Zurückhaltung auferlegen möchte und es vorzieht, bei Anhörung derselben zum wenigsten sich „ernst- haft und unentschieden" zu verhalten (II. )\W,). vgl. auch V^TII. ()?.')). so stellt er damit seinem Gerechtigkeitssinne das schönste Zeugnis aus und erhebt er sich auch in dieser Beziehung hoch über das Gros der heutigen Forscher, die über die mystischen Phänomene einfach den Stab brechen, ohne ihnen überhau))t auch nur im Geringsten näher getreten zu sein. Er nimmt in dieser Hinsicht keinen anderen Standi)unkt ein, als wie ihn neuerdings auch Fechner und v. Hart mann vertreten haben, und wie er allein einem Philosophen geziemend ist, solange die Flxperimentalwissenschaft hierübi^r ihr letztes AVort noch nicht gespi'ochen hat. Aus seinem Verhalten gegenüber den mystischen Phänomenen den Philosophen Kant zu einem Sj)iritisten im heutigen Sinne stempeln zu wollen, dazu gehört freilich die ganze Horniertheit und TendtMizmacluTci des modernen Occultismus, der es glücklich fertig gebracht hat, in dieser Absicht die feine Ironie und den übermütigen Spott der ,.Tr;iume eines Geistersehers" für P]rnst zu nehmen. '•'•')

Für die Wissenschaft, die Klarheit und allg(>meiue Beweise verlangt, denen alle vernünftigen Menschen sich zu beugen haben, existieren keine Geister im Sinne Swedenborgs, schon deshalb nicht, weil der Begriff des Geistes keineswegs einfach und widers])ruchs- los ist. Die Annahme einer geistigen Welt, die mit der kiirperlichen in unbewufster Verbindung steht, ist so hyj)othetiseh und trägt S(^ sehr den Stempel der Erdichtung an der Stirn, dafs es sich nicht verlohnt, in ernsthafter W<'ise darauf einzugehen. Es giebt schon eine schlimme Vermutung, und die Philosophie setzt sich in A'erdacht, die sich in so scldechter Gesellschaft betreffen läl'st (II. :)r)r)f.). Aber

*) Windolband: Geschichte der neuen-ii rhilosojdiie Hd. 11(1880). 'J6. Vgl. auch Paulsen: a. a. ( ). iM 1.

**) Kants Psychologie, hrsjr. v. ('. du Frei: Einleitunir. Daji^epfen P. V. L i n d : „Kants mystische Weltanschauung" ein Wahn der modernen Mystik (1892).

1. Die vorkritische Natnri)hilosophie.

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nicht blofs die Geister des S we denborg sind für die wissenschaft- liche Erkenntnis ohne "Wert, die Metaphysik hat sich ül)erhau])t von allen Theorien einer Geisterwelt fern zu halten; denn diese ist nichts als ein blofses ,,Schattenbild der Einsicht", von welchem die Philo- sophie uns überzeugt, ,.dafs es gänzlich aufser dem Gesichtskreise der Menschen liegt/' Die geistigen Wesen sollen Ursachen der körperlichen Erscheinungen sein. Nun wissen wir aber doch, dafs die Philosf)j)hie bei den Verhältnissen der Ursache und \\']rkung, der Substanz, der Handlung u. s. w. die verwickelten Erscheinungen auflöst und sie auf einfachere Vorstellungen zu bringen sucht: ihi- Geschäft ist zu Ende, wenn sie hierbei zu den Grundverh.-iltnissen gelangt ist. „Wie aber etwas kr)nne eine Ursache sein oder eine Kraft haben, ist unmöglich, jemals durch Vernunft einzusehen, sondern diese Verhältnisse müssen lediglich aus der Erfahrung hergenommen werden. Daher dit^Grundbegrifft^ der Dinge als Ursachen, die der Kräfte und HaiKllungen, wenn sie nicht aus der Erfahrung genommen sind, gänzlich willkürlich sind und weder bewiesen, noch widerlegt werden köuinen. Ich weifs wohl, dafs das Deida^n und A\^)llen meinen Körper bewege, aber ich kann diese Erscheinung, als eine einlache Erfahrung, niemals durch Zergliederung auf eine andere bringen und sie daher wohl erkennen, aber nicht einsehen. Dafs mein Wille meinen Arm bewegt, ist mir nicht verständlicher, als wenn Jemand sagte, dafs derselbe auch den Mond in seinem Kreise zurückhalten könnte: der Unterschied ist nur dieser, dafs ich jenes erfahre, dieses aher niemals in meine Sinne gekommen

ist" (:;7.s).

Ich erfahre die Undurchdiinglichkeit. d. h. den Widerstand eines Objekts in dem Eaunie seiner (Gegenwart, und abstrahiere daraus den allgemeinen i^egrifi der Materie. , .Dieser Widerstand, der etwas in dem Eaunie seiner Gegenwart leistet, ist auf solche Weise wohl erkannt, allein darum nicht begriffen. Denn es ist derselbe, sowie alles, was einer Thätigkeit entgegenwirkt, eine wahre Kraft, und da ihi-e Richtung derjenigen entgegensteht, wonach die fortgezogenen Linien der Annäherung zielen, so ist sie eine Kraft der Zurückstofsung. welche der Materie und folglich auch ihren Elementen mufs h(Mg(degt werden'' (:},■)( I). Ebenso lerne ich durch Beobachtung die Kraft der Anziehung an der Materie kennen und schreibe sie dieser als eine Grundkraft zu. „Dieieniüen welche ohne den Beweis aus der Erfahrung in Händen zu haben, vorher sich eine solche Eigenschaft hätten ersinnen wollen, würden, als Thoren. mit Hecht verdient hahen, ausgelacht zu werch^r' (.'^79). Hier aber bin ich nun auch mit meiner Einsicht zu Ende. ,. Denn

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B. Kant als Naturphilosoph.

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nur durch die Erfahrung k;nni man inne werden, dal's Dinu^e der Welt, welche wir materiell nennen, eine solche Kraft hahen. nie- mals a her d i e M ö ^ 1 i c h k e i t d e r s e 1 b e n b e jj^ r e i f e n" QVM)), Man kann noch weiter annehmen, „ein f]^cistii^es Wesen sei nut der Materie innipjst <^e,L?enwärtig, mit der es verbunden ist, und wirke nicht auf diejenigen Kriifte der Elemente, womit diese unter einander in Verhilltnisseu sind, sondern auf das innere Principium ihres Zustandes: denn eine jede Substanz, selbst ein einfaches Ele- ment der Materie, mufs doch irij^end eine innere Thätii^dvcit. als den Grund der äufserlichen Wirksamkeit haben, wenn ich gleich nicht anzugeben weifs. worin solche bestehe" OVM)). Leil)niz suclite diesen Grund in einer Vorstellun<i:skraft, die in allen einzelnen Ele- menten der Matei-ie p^e.u^enwärtig sein sollte. Indessen sieht jeder- mann von selbst, „dafs, wenn man auch den einfachen P]lementar- teilen der Materie ein Vermögen dunkhM- Vorstellungen zugesteht, daraus noch keine Vorstellungskraft der jVIaterie selbst erfolge, weil viel Substanzen von solciicr Art. in einem Giiuzen ver])unden. doch niemals eine denkende Einheit ausmachen können" (:;:>T). Man kann hierüber Vern)utungen anfstellen. aber wissen kann man es nicht, weil jene geistige Einheit, der letzte Grund der Materie, niemals in der Erfaiirung gegeben ist. ,.I)is auf welclie Glieder der Natur Leben ausgebreitet sei, und welche dii^jenigen Grade der- selben seien, die zunächst an die V(>llige Leblosigkeit grenzen, ist vielleicht unm()glich, jemals mit Sicherheit auszumachen. Der Hylozoismus belel)t alles, der Materialismus dagegen, wenn er irenau erwo^jen wird, tötet alles. Mau])ertuis mafs den orga- nischen Nahrungsteilchen aller Tiere den niedrigsten Grad Leben bei; andere riiilosophen sehen an ihnen nichts als tot(» Klumi)en, welche nur dieiHMi. das Hebezeug der tierischen ]\Iaschinen zu ver- gröfsern. Das ungezweifelte Merkmal des Lebens an dem. was in unsere äufseren Sinne fällt, ist wohl die freie P>ewegung, die da blicken läfst, dafs sie aus AVillkür entsprungen sei; allein der Schlufs ist nicht sicher, dafs, wo dieses Merkmal nicht angetroffen wu'd, aiudi kein Grad des Ijchens betindlich sei. Ho er ha ve sagt an einem Orte: Das Tier ist eine Pflanze, die ihre Wurzeln im Magen (inwendig) hat. Vielleicht könnte ein Anderer ebensogut mit diesen Begriffen si)ielen und sagen: Die Pflanze ist ein Tier, das seinen Magen in der Wurzel (äufserlicli) hat" (Ho.S). Alles das sind un- erweisliche Vermutungen, sie haben sogar, als „bestäubte, veraltete Grillen, den Spott der Mode" gegen sich, sind aber darum doch niclit ujigereimt, „vornehndich in dem Urteil desjenigen, der das besondere Leben der von einigen Tieren abgetreiniten Teile, die

I. Die vorkritische Naturphilosophie.

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Irritabilität, die sowohl erwiesene, aber auch zugleich so unerklär- liche Eigenschaft der Fasern eines tierischen Körpers und einiger Gewächse, und endlich die nahe Verwandtschaft der Polypen und anderer Zoo])hyten mit den Gewächsen in Betracht ziehen wollte" i'Söi)). Kant selbst ist überzeugt, dafs Stahl, sofern er die tierisclien Veränderungen gern organisch erklärt, oftmals dei* AVahr- heit näher sei als Boerhave und Andere, welche die immateriellen Kräfte aus dem Zusammenhange lassen und sich bh)l's an die mechanischen Gründe halten, erklärt aber nichtsdestowein'ger vom streng wissenschaftlicln^n Stand j)unkt aus, die Berufung auf ini- nuiterielle Prinzipien sei eine blofse ..Zullucht der faiden Philosophie und darum auch die Erklärungsart in diesem Gesclimack nach aller IVIöglichkeit zu vernu^iden, damit diejenigen Gründe der Welt- erscheinungen , welche aul" den Bewegungsgesetzen der blofsen ]\Iaterie beruhen und welche auch einzig und allein der Hegreiflich- keit fähig sind, in ihrem ganzen Umfang erkannt werden" (ebd.). Alle wirkliche Wissenschaft also ist Erfalirungswissenschaft und führt daher über die Grenzen der Erfahrung aiudi nicht hinaus. Die Naturerscheinungen „lassen nur eine ])hysische F^rklä'rung zu, die zugleich mathematisch ist und zusammen nu'chaniscli ge- nannt wii-d" CA'u). Der Begriif von geistigen Wesen ist wissen- schaftlich unzulässig. „Er kann vollendet sein, aber im negativen Verstände, indem er nändich die Grenzen unserer Einsicht mit Sicherheit festsetzt und uns überzeugt, dafs die verschiedeneu J^r seh e i n u ng en des Lebens in der Natur u Ji d deren Gesetze alles seien, was uns zu erkennen vergiumt ist. das Principium dieses Lebens aber, die geistige Natur, welche man nicht kennt, sondern vermutet, niemals positiv könne gedacht werden, weil keine Data hierzu in unseren gesamten Emj)tindungen an- zutreffen sind, und dafs man sich mit Verneinungen behelfen müsse, um etwas von allem SinnliclaMi so sehr Verschiedenes zu denken, dafs aber selbst die ^Möglichkeit solcher Verneinungen weder atif Erfahrungen, noch auf Schlüssen (?), sondern auf einer Erdichtung beruhe, zu denen eine von allen Hilfsmitteln entblöifste Vermmft ihre Zullucht nimmt" (of)!!). „Alle solchen Urteile, wie diejenigen von der Art. wie meine Seele den Körper bewegt oder mit anderen AV^esen ihrer Art jetzt oder kiniftig im \'erhältnis steht, köuinen niemals etwas mehr als Erdichtungen sein, und zwar bei weitem nicht einmal von demjenigen Werte als die in der Naturwissenschaft, welche man Hypothesen nennt, bei welchen man keine Grundkräfte ersinnt, sondern diejenigen, welche man durch Erfahrung schon kennt, nur auf eine den Er- scheinungen angemessene Art verbindet" (378 f.j.

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B. Kant als Naturphilosopli

T. Die vorkritisehe Naturphilosophie.

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Kant war davon ausp;e^^ai)gen, seiner naturwissenschaftlichen Anschauung durch einen metaphysischen Unterbau den mutigen wissenschaftlichen Halt zu geben. Jetzt zeigt sich, dafs man die Grenzen der Wissenschaft überschreitet, sobald man deu Boden der naturwissenschaftlichen Erklärungsart verläfst. und dal's, wenn es überhau])t ein Metaphysisches hinter dem Physischen giebt. das- selbe für uns doch unerkennbar ist. Er hatte seine aus der Er- fahrung gewonnenen naturwissenschaftlichen Hypothesen nachträglich auch durch die Verimnft begreifen, d. h. a priori ableiten wollen, um sie dadurch in den Kang allgemeingültiger Wahrheiten zu er- heben. Jetzt erkennt er, dafs „die Vernunftgriinde in dergleichen Fällen weder zur Erfindung, noch zur Bestätigung der ^Miiglichkeit oder Unm(')glichkeit von der mindesten Erheblichkeit" seien, und dafs es nur Einen Weg der Erkenntnis giebt, nändich den Wvg a posteriori (;\1[)). Genau genommen, sind freilich bei(k' Wege gleich unzulänglich. „Man mufs wi^son,'' sagt Kant, „dafs alle Erkenntnis zwei Enden hal)e. bei denen man sie fassen kann: das eine a priori, das andere a posteriori. Zwar haben verschiedene Naturlehrer neuerer Zeit vorgegeben, man müsse es bei dem letzteren anfangen, und glauben, den Aal der Wissenschaft beim Schwänze zu erwischen, indem sie sich grausamer Krfahrungserkenntnisse ver- sichern und dann so alhnählich zu allgemeinen und höheren He- griffen hinaufrücken. Allein ob dieses zwar nicht unklug gehandelt sein möchte, so ist es doch n e i weitem nicht g e 1 e h r t u n d philosophisch genug; denn man ist auf diese Art bald auf einem Warum, worauf keine Antwort gegeben werden kann, welches einem Philosophen gerade so viel Ehre macht als einem Kaufmann, der bei einer Wechselzahlung freundlich bittet, ein andermal wieder anzusprechen. IJaher haben scharfsinnige Männer, um diese Un- bequemlichkeit zu vermeiden, von der entgegengesetzten äufsersten Grenze, nändich dem obersten Punkte der Metaphysik angefangen. Es findet sich aber hierbei eine neue Peschwerlichkeit, nändich dafs man anfängt, ich weifs nicht wo, und kommt, ich weifs nicht wohin, und dafs der Fortgang der Gründe nicht auf die Erfahrung treffen will, ja, dafs es scheint, die Atome des Epikur dürften eher, nachdem sie von Ewigkeit her immer gefallen, einmal von ungefähr zusammenstofsen, um eine Welt zu bihlen als die allgemeinsten und abstraktesten Begriffe, um sie zu erklären. Da also der Philo- soph wohl sah, dafs seine Vernunftgründe einerseits und die wirk- liche Erfahrung oder Erzählung andrerseits, wie ein paar I^arallel- linien, wohl ins Unendliche neben einander fortlaufen würden, ohne jemals zusammen zu treffen, so ist er mit den übrigen, gleich als

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wenn sie darüber Al)rede genommen hätten, übereingekommen, ein jeder nach seiner Art den Ausgangspunkt zu nehmen und darauf nicht in gerader Linie der Schlufsfolge. sondern mit einem un- merklichen Clinarnen der Beweisgründe, dadurch dafs sie nach dem Ziele gewisser Erfahrungen oder Zeugnisse verstohlen hinschielten, die Vernunft so zu lenken, dafs sie gerade hintreffen nuifste. wo der treuherzige Schüler sie nicht vermutet hatte, nämlich dasjenige zu beweisen, wovon man schon vorher wufste, dafs es sollte be- wiesen werden. Diesen A\'eg nannten sie alsdann noch den Weg a priori, ob er gleich wohl unvermerkt durch ausgesteckte Stäbe nach dem Punkte a posteriori gezogen war. wobei aber billiger- mafsen, der so die Kunst versteht, den Meister nicht verraten mufs-' (:^lil)f.).

Das klingt nun so sp()ttis(']i und widerspricht so sehr seiner eigenen neuen Methode, dafs Kant an der Möglichkeit der Er- kenntnis überhaui)t einen Au,uerd)lick verzweifelt zu liaben scheint. Kant war offenbar von jener Methode selbst nicht befriedigt und schaute sehnsüchtig nach einem festeren Boden unter seinen h'iifsen aus. Er war am Ende seiner ursprünglichen Bestrebungen angelangt und be- fand sich mitten im Fahrwasser des Skeptizismus, von dessen Wogen er sich mit forttreiben liefs. Die Nichtigkeit der bisherigen ^letaphysik hatte sich ihm in ihrer ganzen Nacktheit «Mithüllt, und doch konnte er sie nicht so schlechthin verwerfen : behauptet er doch selbst, nun ein- mal das Schicksal zu haben, in sie verliebt zu sein, ob er sich gleich von ihr nur selten einiger Gunstbezeugun^en rühmen könne (HTf)). Freilich Wissenschaft vom Übersinnlichen kann sie nicht mehr sein, wenn anders nur eine Wissenschaft dcF Erfahrung möglich ist. Aueh kann si(^ nicht zur Stütze der Reli^n'on und ^loral mehr diencMi und Hüterin des Glaubens sein, wenn (^in und dieselbe Meta})hysik die Sittlichkeit ebenso fördern, wie UnsitthChkeit. Unsinn und Schwärmerei gebären kann. Soll die Metaj)hysik überhaupt noch eine Stellung innerhalb der Wissenschatt. wie früher. behauj)ten, so kann sie mithin nur Wissenschaft des Wissens der P]rl*ahrung, d. h. Erk en n t n i sl e hre, sein. Die Metaphysik mufs ihr Wesen darin setzen, „einzusehen, ob die Aufgabe aus demjenigen, was man wissen kann, auch bestimmt sei. und welches W'rhältnis die Frage zu den Erfahrungsbegriffen habe, (birauf sich alle unsere Urteile jederzeit stützen müssen. Insofern ist die Metai)hysik eine Wissen- schaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft" (ebd.). Wenn sie diesen Weg der Bethätigung einschlägt, so wird sie „die Begleiterin der Wahrheit." Eine solche Meta- physik betrachtet nicht die Gegenstände als solche, sondern deren

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B. Kant aLs Naturi)liil(»s()pli.

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i. JJie vorkritische Naturpliil()soi)hie.

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Yei-lifiltiiis zum inensclilichen V^erstande. Damit ziehen zwar ihre Grenzen sich en.c:er zusammen, aber die Marksteine werden f^elegt, welche die Nachforschung' aus ihrem ei^^entinnlichen Bezirke niemals mehr ausschweifen hissen (^»71). In diesem Sinne schi-eiht Kant an Mendelssohn (im A])ril 17()()): ylch hin soweit entfernt, die Metaphysik selbst, objektiv erwo^^en. für ^M'rini; oder entl)ehrlich zu lialten, dafs ich vornelimüch seit einii^^er Zeit, nachdem ich g]au})e, ihre Natur und die ihr unter den menschliclien Erkenntnissen eigen- tümliche Stelle einzusehen, ül)erzeugt l^n. dal's sogar das wahre und dauerhafte Wohl des menschlichen Geschleclites auf sie an- komme" (VIIT. ()7:i).

Es war niitig, (hifs Kant diese letzten Konse(iuenzen des Empiris- mus zog, mit denen er sich am w^eitesten von seinem ursprünglichen Ausgangspunkt entfernte, um gerade durch das klai'e Eewufstsein dieser Konsequenzen zur Überwindung aucli seines nunmehrigen skeptischen Stand])uid<tes veraiilalst zu werden. Kant mulste erst an sich selbst die ganze Herzensnot des auiVichtigen AVahrlieits- forschers durchkosten, der sich auf ein Meer von Einwanden und Schwierigkeiten hinausgeschleudert sieht, er mufste erst, wie JJes- cartes, an aller Wahrheit sel])st und ihrer Erkennbarkeit für den menschlichen Geist verzweifeln lernen, ehe er unter dem treil)enden Bewufstsein der Notwendigkeit dieser Aufgabe sein grol'ses Werk in Angriff zu nehmen und die unstät umlierirreiide menschliche Er- kenntnis auf den ri(^htigen W\'g zu leit(Mi vei-mochte. Was ihn vor- erst (hizu hewog, dem Skej)tizismus den Hucken zu wenden und sich wied(>rum seinem alten Standpunkte des Kationalismus an- zuniihei-n. (Las war das I^'oblem der Mathematik, das während der ganzen nächsten Zeit im Vordergründe seiner Untersuchungen stand, und zu w(dchem er letzten Endes auch nur wiederum durch naturphilosoj)hische Erwägungen gel'ührt wurde.

Bereits bei der ersten metaphysischen Grundh'gung seiner dyna- mischen Naturanschauung in der Physischen Monadologie war die Mathematik, wie wir gesellen h.aben, mitbestimmend für die be- sondere Ausgestaltung dei" kantischen Monadeidehre gewesen. Das Hauptbestreben K:nits. den Dynamismus Newtons mit den An- schauungen der leibniz-wolfHschen Schule auszusöhnen, schlofs es ja als eine der wichtigsten Aufgaben in sich ein. den Widerspruch zu heben, wie er inbetreff des Kaumes zwischen der mathematischen Physik und der Meta])hysik best;ind. Die Meta])hysiker aus der Schule von Leibniz schrieben dem Kaunie und damit der mathe- matischen Betrachtungsweise blol's ])hysische Bedeutung zu : sie leugneten, dafs er mehr sei als eine rein subjektive Erscheinun'^ weil

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die Monade, metaphysisch betrachtet, einfach, der Kaum dagegen ins Unendliche teilbar sei. Unter der Voraussetzung der prä- stabiiierten Harmonie war alles Physische, wie die Bewegung der Atome im Kaume, ihre Einwirkung auf einander u. s. w,, nur subjektiv bedingt, eine Yorstellungsart, unter der blol's wir die Dinge betrachten, solange wir nicht auf ihr eigentliches AVes(^n retiektieren. Nach Kant dagegen war der Kaum zwar auch Erscheinung, a.ber nicht blofs subjektive, sondern obj ekti ve Erscheinung, bewufstseins- transcendentes Produkt der wechselseitigen Einwirkung der Alonaden auf einander, unendlich teilbar, wie die Mathematik verlangt, un- besclnidet der Einfachheit der ihn ])roduzierenden Monaden. So nahm er eine Art Mittelstellung zwischen der reinen Monadenwelt als solchen und ihrer Erscheinung im Bewufstsein ein. Man konnte ihn mit Leibniz ein „Verhältnis der Erscheinungen" nennen, wo- fern man dies nur nicht in rein subjektivem Sinne verstand. ]\Ian konnte ihn aber auch unter den Dingen an sich aufzählen, insofern er ein Jenseits des Bewufstseins darstellte, welches in diesem gleichsam abgespiegelt wird. Man mulste sich nur gegenwärtig halten, dafs der Raum nur in und an den Dingen (Monaden) wirklich ist und vei'schwindet. sobald man diese letzteren aufhebt. Bei dieser Anschauung gewann die mathematische Betrachtungsweise zugleich objektive Bedeutung: das Physische ward zum J(Miseits des Be- wufstseins, es trat zu seinem Produzenten, dem Metaphysischen, in Beziehung, und wenn es den Kegeln der ]\lathematik sich fügte, so bewies es damit die transcendente (Gültigkeit der mathematischen

Gesetze.

Solange Kant noch auf rationalistisch-dogmatischem Boden stand und es für selbstverständlich hielt, dal's der subjektive ]\aum im Bewufstsein mit dem objektiven Kaum der Dinge draulsen üherein- stimmte, solange schien ihm jene Auffassung keine Schwierigkeiten dar- zubieten. Als er nun aber von seinen natui'])hiloso])hisclien Speku- lationen fort und immer tiefer in das Gebiet der Erkenntnistheorie hinein geriet, als er die Frage, wie unsere Erkeniitnis zustande- kommt, mit dem Empirismus dahin glaubte beantworten zu müssen, dal's alle unsere Vorstellungen aus der Erhthrung stammen, da sah er sich plötzlich vor die Krage gestellt, ob auch unsere Kaumanschauung ein Produkt der Erfahrung sei, und wie, wenn dies der Fall, die A po- diktizität der Mathematik bestehen könne. Dafs die Mathe- matik eine AVissenschaft von strengster Allgemeingültigkeit und Not- wendiLdveit sei, an dieser Grundüberzeugung des Kationalismus hatte Kant niemals gezweifelt. Übertraf doch jene nach seiner Über- zeugung in dieser Beziehung alle anderen Wissenschaften, so dafs sie

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r^. Kant als Naturphilosoph.

ihnen ^rcradezu als Muster dienen konnte. Diese Evidenz der Mathe- matik schien unbe^^reiflich, sohald man den Raum für einen hlofsen Erfahrun-sbegriti* erklärte; Hume hatte -anz Hecht, von diesem Gesichtspunkt aus die Allgeniein-Ülti^rkeit der mathematischen Sätze für die Erfahrungs-egenstände zu bestreiten. „Denn.-' wie Kant in seiner Dissertation „De m u n d i sensibilis atcjue intelligi- bilis forma et principiis" vom Jahre 1770 bemerkt, „wenn alle P]igenschaften des Raumes nur durch die Ei-fahrun^ von äufseren Verhältnissen abgeborgt sind, so bleibt den geometrischen Axiomen keine andere A llge m ei ng ii Itigkeit übrig, als die bh)fs kompara- tiv ist. wie man sie durch Steigerung (Induktion) erhält, d. h. die so weit reicht als die Wahrnehmung, keine andere Notwendig- keit, als wie sie nach den aufgestellten Gesetzen der Natur sein kann; keine andere A b ge m es s en h ei t (praecisio), als wie sie die Willkür erdichtet; ja, man kann wohl noch hoffen, wie es im Em- pirischen zu geschehen pHe,i,-t, dafs man noch einst einen Raum ent- decken werde, der mit ganz anderen ursprüngliclien Eigenschaften versehen, etwa zweilinig oder geradelinig sei" (II. 411).

AV^as war denn ül)erhaupt der Raum als solcher, ganz ab- gesehen davon, wie er in unser Hewufstsein hineinkommt? Die grundle^^ende Voraussetzung des Leibniz war es gewesen, dafs die Thätigkeit der Moiuide in ihrer Vorstellungskraft be^rründet und folglich auch der Raum, als gesetzt durch die vorstellende Thätig- keit der Monaden, in logische oder begritfliche Elemente auflösbar sei. Nun war aber, wie Kant in seiner Untersuchung über die Deutlichkeit der Grundsätze gezeigt hatte, die Mathematik eine synthetische Wissenschaft und unterschied sich eben dadurch von der Metai)hysik. dafs sie ihre Objekte aus der Anschauung entnimmt und sie dabei mit souveräner Willkür unter einander ver- bindet. Kr hatte auch eben dort den Raum, ebenso wie die Zeit, unter den nicht weiter analysierbaren „Grundbegriffen" aufgezählt (II. L^SS), und bereits in seiner Schrift über die; negativen Gröfsen es der Metaphysik zum Vorwurf gemacht, dafs sie den Raum „auf eine ganz abstrakte Art denkt," anstatt sich an die Mathematik zu halten und sich von ihr belehren zu lassen, wenn es sich um „die Natur des Raumes" handelt, „und den ersten Grundsatz, daraus sich dessen Müglichkeit verstehen lälst" (II. 7'J). Mit anderen Worten: der Raum, worin sich die (3bjekte der Geometrie befinden und aus dem sie durch die Anschauung entnommen werden, schien über- haupt nicht begrifflicher Natur zu sein; denn unter dieser Voraus- setzung blieb nicht blofs der synthetische Charakter der Mathematik, sondern auch die Thatsache unerklärlich, dafs sich die Raum-

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I. Die vorkritische Naturphilosophie.

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Vorstellungen nicht begriiYlich analysieren liefsen. obwohl sie doch bei ihrer sinnlichen und anschaulichen Natur noch keineswegs reine Begriffe waren. Dies brachte Kant dazu, dem eigentlichen Wesen des Raumes nachzuspüren. Die Resultate seiner Untersuchung hat er uns in einer kleinen, aber hfichst wichtigen Abhandlung ,.Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Räume" (17()S) mitgeteilt, womit er bereits an die Thüre der kritischen Philoso))hie anklopfte.

Kongruente Figuren und (gegenstände decken sich nicht immer. Ein Schraubengewinde. wx4clies um seine Spindel von der Jiinken zur Rechten läuft, wird in eine solche Mutter, deren Gänge von der Rechten gegen die Linke laufen, selbst dann nicht ])assen, wenn die Dicke der Spindel und die Zahl der Sclii-aubengänge in .i^^leicher Höhe einstimmig wären. Die sphärischen Dn^ecke. die rechte und die linke Hand. überhauj)t die symmetrischen Gliedmafsen des Kcu'pers, die Hand und ihr Bild im Spiegel u. s. w.. sie alle kr>nnen (>iiiander völliir gleich und ähnlich sein, und doch sind die Grenzen der einen nicht auch zugleich die Grenzen der anderen. Die GnUse der Gegen- stände und die Laf^en ihrer einzelnen Teile gegen einander stimmen völlig überein. so dafs die Beschreibung des einen' ganz ebenso auch auf den anderen pafst, und doch besteht zwischen ihnen eine Ver- schiedenheit, die sich der Bestimmuiii,^ des begrifflichen Denkens ganz und gar entzieht und mithin nur „auf einem inneren (Grunde" beruhen kann. Man mufs A nscha u u n i,m' n zu Hilfe nehmen. Be- stimmungen, wie rechts und links, oben und unten, vorne und hinten u. s. w., d. h. man mufs sich auf einen absoluten Raum beziehen, wenn man solche Gegenstände von einander unterscheiden will. „Denn die La^^en der Teile des l^aumes in Hezii^hung auf einander setzen die Gegend voi-aus. nach welcher sie in solcli<'m Ver- hältnis geordnet seien, und im abf^^ezogensten Verstände besteht die (Dregend nicht in (]vv Beziehung eines Dinges im Räume auf das andere, welches eigentlich der Hegriff der Lage ist, sondern in ilem Verhältnisse des Systems dieser La^en zu dem absoluten AVeltraume. Bei allem Ausgedehnten ist die Lage seiner Teile gegen einander aus ihm selbst hinreichend zu ei-k(Mnien : die Gegend aber, wohin diese Ordnun^^ der Teile gerichtet ist. !)ezieht sich auf den Raum aufser demselben, und zwar auf den allgemeinen Raum als eine Einheit, w o v o n j e d e A u s d e h n u n g wie ei n T e i 1 a n - gesehen weiden mufs" (IL 385 f.). Ist dies richtig, dann kann nicht, wie Kant es bis dahin selbst angenommen hatte, der Raum das Produkt der wirklichen Dinge sein und „nur in dem äufseren Verhältnis der neben einander belindlichen Teile der Materie"

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B. Kant als Naturpbilosoph.

I. Die vorkritisclie Natnrphilosopliie.

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bestehen. Dann ist es klar, ..dafs niclit die Restininiuni^^en des Kainnes Fol^^en von den La^^en der Teile der Materie gegen ein- ander, sondern diese Folgen von jener sind, nnd dafs also in der Bescliaffenlieit der Körper Unterscliiedi^ angetrolfen werden können, und zwar wahre Unterschiede, die sich lediglich auf den absoluten und ursprünglichen Raum beziehen, weil nur durch ilni das Yerhiiltnis körperlicher Dinge möglich ist" fi^DI).

Der Kanni ist „kein Gegenstand einer äufseren Empfindung" (.-^91), wäe Hu nie annimmt. Er ist auch nicht, wie Tieihniz be- hauptet, ein „Begriff, der aus der Abstraktion von dem Verhältnis wirklicher Dinge entspringt" (i^SB). Der llaum ist ein „Grund- begriff," der alle P]mplindungen und Gegenstände überhaupt erst nifiglich macht (:>!)!). Er ist eine ,, Realität, welche d(Mn inneren Sinne anschauend ist'* (ehd.). Wir sind ,, durch eine klare Em- pfindung" in den Stand gesetzt, die verschiedtMKMi Richtungen der Lagen eines Körpers, ungeachtet ihrer grolsen äufseren Ahidichkeit, unmittelbar zu unterscheiden (8(SJ)).

Damit hat Kant seine frühere Anschauung aufgegeben und sich aucli in diesem Punkte ganz auf die Seite von Newton und Clark e gestellt. „Ein nachsinnender Leser wir<l den Begriff des Raumes, so wie ihn der iMel'skiinsth'r denkt, und auch Scharf- sinn i g e P h i 1 o s oph e n ihn in den Le hr b egr i f f der N atur- w i s s e n s c h a f t a u f g e n o m m e n h a h e n , nicht für ein blofses Gedankending ansehen" (.'>}) 1). Kant will im Gegensatze zur Metaphysik „den JVIelskiinsthu'u einen übei'zeugcMiden Grund an die Hand geben, mit der ihnen gewöhnlichen Evidenz die Wirklich- keit ihres absoluten Raumes hehaupten zu köuinen." Er will aus „den anschaueuden Urteilen der Ausdehmmg. dei'gleichen die Mefskunst enth.ält" , einen „evidenten Beweis" dafür liefern, „dafs der absolute Raum uriahhängig von dem Da- sein aller Materie und selbst als der erste Grund der Möglichkeit ihrer Zusammensetzung eine eigene Reali- tät habe" (:;8(i).

Befindet sich somit alles Seiende im Räume und ist es eben deshalb selbst räundicher Natur, so gieht es foli^dich keine unräum- liche, intelligibele Welt, wie sie die Voraussetzung aller bisherigen Metaphysik gebildet hatte, so ist die Metaphysik, als Wissenschaft vom Übersinnlichen, ein leeres Spiel der Einbildungskraft, und die Wissenschaft der Natur, von welcher Kant ursprünglich ausgegangen war, und der er nur einen metaphysischen Untergrund verschaffen wollte, zur Wissenschaft schlechthin erklärt. Zugleich findet damit auch der synthetische Charaktei* der Mathematik seine metaphysische Be-

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gründung. Wenn der anschauliche Raum gleichsam die ontologische Bedingung der mathematischen Objekte bildet, so reicht natürlich auf diesem Felde das rein begriffliche Denken nicht aus, so mufs man sich an die konkrete Anschauung wendi'U. um die verschieden- artigen Kombinationen jener Objekte zu verstehen. Und wiMter fällt auch die Besorgnis fort, es möchten uns einmal Gegenstände vor- kommen, die mit den Gesetzen des Raumes etwa nicht üherein- stimmen. Ist der Raum ein unendlicher Behälter, der alles umfafst, und aufser welchem nichts vorhanden ist, dann müssen aucli ,tlle Dinge seinen Gesetzen unterworfen sein, und es kaini keine Er- scheinungen im Räume geben, denen mit der mathematischen Be- trachtuii'isweise nicht beizukommen wäre. W\{ anderen Worten: die Annahme des absoluten Raums löst alle Schwierigkeiten, die der früheren Ansicht Kants über den Raum anhafteten : sie hält die Apodiktizität der Mathematik gegenüber den Angriifen des Empirismus aufrecht, ohne doch prinzipiell einen anderen Standpunkt einzunehmen ; sie erklärt ihre Sonderstellung, welche sie inb)lge ihres synthetischen Charakters allen andern Wissenschaften, insbesondere der Metaphysik gegenüber inne hat. und dies alles, indem sie sich auf die Anschaulichkeit stützt, von der es feststeht, dafs sie allein jene synthetische Natur erm()glicht.

Dennoch verhehlt sich Kant nicht, dafs es auch dieser Annahme des absoluten Raumes „nicht an Schwierigkeiten fehlt" f.")!) 1). Kant hätte nicht se]l)st Rationalist sein müssen, l'iir welchen das sich AVidersprechende auch nicht real sein konnte, um sich In'i (h-m logischen Widersinne einer vollendeten oder gegebenen Unendbclikeit zu beruhigen, wie ihn jene Annahme in sich schlofs. Es ist wahr, er selbst hatte früher in seiner Kosmogonie die Ausdehiunig der Welt und ihre zeitliche Dauer für eine unbegrenzte ausgegeben und in seiner Schi'ift über die negativen Gröfsen hatte er den mathematischen Begriff des unendlich Kleinen denjein"gen Philos()j)hen seirenüber verteidi*j:t. die denselben nur so einfach als einen er- dichteten verwarfen. Indessen hatte es sich dort doch nur um eine ganz allgemeine Behauptung vom Stan(l))unkte der Natur- wissenschaft aus gehandelt, deren meta])hysische Berechtigung er damals noch garnicht hatte prüfen wollen, und hier hatte er jenen Begriff des unendlich Kleinen nur als eine AVafb' d(^r Polemik ge- braucht, um mit ihm die unbegründeten Anmafsungen der Meta- physiker zurückzuweisen. Nun aber sollte dieser Begriff des Unend- lichen selbst eine metaphysische Wahrheit sein, und das vermochte Kant niemals zuzugeben, weil es seiner im Grunde doch immer rationalistischen Denkart widersprach.

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Der anschauliclie Kaum, als die reale Bedingung und gleichsam das Gefäfs. welches alle Dinge in sich hefafst, mufs als unendlich vorgestellt werden und verlangt, dafs auch die Welt unendlich sei und aus unendlich vielen Teilen bestehe, von denen ein iei^dicher

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seihst wiederum unendlich klein sein muls. weil er, als ein im Kaum befindlicher und daher selbst räumlicher, unendlich teilhar sein mufs. Es giebt also unter jener \'()raussetzung im Universum keine (iren/en, weder nach oben, noch nach unten. Es giebt kein Einlaches, woraus die Welt zusammengesetzt wäre, kein Zusammengesetztes, das kein Teil mehr ist und das man d tlier mit dem Namen Welt bezeichnen kiinnte. Auf (h^- aiidei-en Seite mul's die Welt, als der reale Inbegriff aller (einzelnen Dinge, beschränkt und. als ein Zusammen- gesetztes, aus einlachen Teilen l)estehend sein. Es ist denknotwendig, dafs ein Zusammengesetztes, wie die Welt, endlich ist. und dafs die Teile, die irgend ein Zusammengesetztes bilden, auch eine bestimmte Gnifse hnben (TT. 'MH. rJ'J). Nach der Phvsischen Monadologie bestand der Iviirjx^r aus einer bestimmten Anzahl einfacher Teile (ein Satz, der freilich auffälliger Weise in der Dissertation von Kant verwm-fen wird |I1. rj'J|): di(^ Kraft seiner Elemente sollte eine bestimmte sein, und demgemäfs hiefs es in dem neuen Lehrbegrilf der IJewegunj: und Ivuiie: ,. Ks mag ein noch so unendlich kleines iVIoment sein, womit er (der Körper) in einem Augenblicke wirkt, und wcdches sich in einem bestimmten Zeitteilchen zu einer gegebenen G (^schwind ii^dveit hiiuft. so ist dieses ]\b)ment immer eine ]> 1 (i t z 1 i c h e Wirkung" (II. 'i'J). d. h. es besitzt einen ganz bestimmten (irad von Kraft, ohne welclien jene Wirkung überhaupt nicht in (h'e Erscheinung treten würde. Es mufste Kant alles daran gelegen sein, die Endlichkeit des Universums, wenigstens was seine letzten Bestandteile anbetrifft, die Einfachheit (Unteilhar- keit) seiner Elemente und die Bestimmtheit seiner Kräfte, sowohl im Ganzen, als auch im Einzelnen, festzuhalten, weil sie die (Tirund- lage seiner N aturans c h au ung Avar. weil nur unter der \'oraus- setzung einer durchgängigen Bestimmtheit in der Welt die Natur- erscheinungen sich dem iVTafs und der Berechnung unterwerfen liefsen. ,.S()11 das Quantum des in der AVeit vorhandenen Kräfte- vorrats zufolge dem Gesetz der Erhaltung der Jvraft eine konstante Gröfse bilden, so mufs es ein bestimmtes Mafs besitzen, das sich in irgend einem Zahlenwerte ausdiäicken läfst. Das Gleiche gilt von den kleinsten Teilen des Universums, deren jeder seinen konstanten Beitrag zu dem Kräftevorrat des (janzen liefert. Wie kann aber die Welt eine nicht alles Mafs und jede denkbare Zahl überschreitende Quantität von Kraft besitzen, wenn sie sich im

Räume ins Unendliche ausbreitet? Wie kann ein Atom noch eine endliche Masse haben, wenn es doch einen unendlich kleinen Raum einnimmt?" *)

Auf diese Frage gab es nur Eine Antwort: wenn der Kaum wirklich die absolute Voraussetzung alles Seienden bilden sollte, dann mufste die gesamte Naturanschauung Kants unrichtig sein. Dieselbe Annahme, die, wie wir oben gesehen haben, die Natur- wissenschaft auf den Thron über alle anderen Wissenschaften setzte, hob ihren wissenschaftlichen Charakter auf und brachte sie mit sich selbst in Verwirrung. Dieselbe xlnnahme. welche die Anwendbarkeit der Mathematik auf sie metaphysisch begründen sollte, schlug aller metaphysischen AVahrheit ins Gesicht und vermochte nur dadurch einen Bund zwischen Metaphysik und Mathematik zu schliefsen. dafs sie auf die Widerspruchslosigkeit des Seienden verzichtete. Kant sah sich vor die Alternative gestellt, entweder an seiner Auffassung der Mathematik als einer synthetischen und apodiktischen AVissen- schaft festzuhalten, daim aber auch seine Naturanscliauung aufzu- gel)en. die ihm vor allem am Herzen lag; oder die letztere als Wahrheit anzusehen, und dann auf seine Ansicht über das Wesen der Mathematik Verzicht zu leisten, sie wenigstens als ein irrationales Eaktum hinzunehmen, da sie doch aus der Erfahrung nicht strenge zu beweisen, aus blofsen Begriffen nicht zu verstehen war. Das Letztere widersprach seiner rationalistischen Denkart, für welche ein derartiges Faktum gleichbedeutend mit Aufgebung ihrer selbst gewesen wäre; das Erstere wäre ein Strich durch seine gesamte Lebensarbeit überhaupt gewesen und hätte ihn nur der Verzweiflung des absoluten Skeptizismus überlassen.

Soviel war sicher: bei der newtonschen Auflassung des Raumes konnte er nicht stehen bleiben; sie erklärte zwar den synthetisch- apodiktischen Charakter der Mathematik, aber nur auf Kosten seiner naturwissenschaftlichen Weltanschauung. Zu seiner eigenen Raum- auffassung in der Physischen Monadologie aber konnte er auch nicht zurück; sie rettete zwar seine Grundanschauung der Natur, aber vermochte jenes Wesen der Mathematik nicht zu erklären. Vor diesem Abgrund, über welchem er sich schweben sah. rettete sich Kant imr durch einen kühnen Sprung, indem er noch weiter, nändich auf die ursprüngliche Anschauung des Leibniz zurück- griff. Inwieweit hierzu die ,.Nouveaux Essais", die im Jahre ITGf) zur Ausgal>e gelangten, eine äufsere Veranlassung gegeben haben,

*) Dieter ich: a. a. (,). lO'J. P r e w s, Kants Naturphilosophie.

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wird immer mehr oder minder dunkel bleiben.*) Tliatsacbe ist, dafs jene leibnizscbe Tlieorie des liaumes i)ei der Verlegenheit, in welche sich Kant nunmehr durch den Unendlichkeitsbegriff gesetzt sah, unmittelbar nahe lag und als der einzige Ausweg aus dem Dilemma geradezu erscheinen mufste. JJenn auchLeibniz hatte ja eben darum den Raum für eine blofse Erscheinung, die lediglich im und am Subjekt ist, erklärt, weil er nur so eine Möglichkeit gesehen hatte, die unendliche Teill)arkeit des Kaumes, wie sie unter dem Gesichts- punkte der Mathematik erschien, mit der von der Metaphysik be- haupteten Einfachheit der letzten Bestandteile der Materie zu ver- einigen. Die Sätze der Geometrie über die unendliche Teilbarkeit des Raumes schienen nur dann auf die Objekte im Räume anwendbar, wenn diese lediglich Erscheinungen, subjektive Auffassungen von Gegenständen waren, welche dem Gesetz des Raumes selbst nicht unterlagen.

Indessen wenn Kant sich auch damit wie(U,'rum auf die Seite von Leibniz stellte, dafs er den Raum ins Subjekt verlegte: nicht als ein verlorener Sohn kehrte er zu ihm zurück, der eingesteht, gefehlt zu haben und nutzlos auf falschen Wegen umhergeirrt zu sein, sondern bereichert mit der Einsicht, die er inzwischen über die Katur der Mathematik gewonnen hatte, und die ihn zwang, die leibnizscbe Theorie in ihrem Grunde unrzu))ilden. Kach Leibniz war der Raum, wie gesagt, blofs insofern etwas Subjektives, als er eine „Abstraktion aus der Erfahrung,-' ein reines ,,Gesch()pf der Einbildungskraft", eine blofs emi)irisclie und verworrene Vorstellung des ISebeneinanderseins eines Mannigfaltigen war, von dem man nicht wufste, welche Beziehungen ihm eigentlich zu Grunde lagen. Bei dieser Anschauung war nicht einzusehen, warum die auf solche Weise rein erdachten Raumbegriffe auch von den k o n k r e t e n Erscheinungen gelten sollten; die objektive Gültigkeit der Mathe- matik blieb zweifelhaft. Die Mathematik aber ist eine apodik- tische Wissenschaft; als solche mufs sie auf a]) r iorisch en Formen beruhen, wie alles, was Anspruch auf Allgemeingültig- keit und Notwendigkeit erhebt. Sind diese Formen nicht draufsen zu suchen, wie die Unmöglichkeit der Annahme des absohiten AV'eltraums zeigt, so können sie also nur Formen im Subjekt sein. Die Formen der Mathematik aber sind Raum und Zeit, der erstere als Form der Geometrie, die letztere als Form der

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*) Vgl. \Vi ndc 1 1) a ml: Vierteljahrsschrift f. Wissenschaft!. Pliih)sophie T. (1876). 233 23;i. Ders.: ticsch. d. neueren Phil. IL .U) ft. Vaihinger: Comnientar zu Kunts Kritik d. reinen Vernunft (18*.IJ). II. 428 ii".

Arithmetik, insofern ihr Gegenstand, die Zahl, aus der successiven Hinzufügung einer Einheit zu einer anderen entsteht. Mithin sind Raum und Zeit apriorische Formen im Subjekt, denen aufserlialb des letzteren gar keine wirkliche Geltung zukommt. Nach Leibniz war ferner der Raum ein Verstandesbegriff, aus welchem analytisch die Mathematik ablbefsen sollte. Die Matlieniatik aber ist eine synthetische AVissenschaft; da Synthesis jedoch nur in der Anschauung möglich ist. so müssen folglich ihre Formen selbst anschaulich sein. Raum und Zeit sind also a])r i or i seh e an- schauliche Formen im Subjekt, Formen der An- schauung oder reine (von allem Inhalt freie und ihm vorhergehe n de) A n s c h a u u n g e n.

Mit dieser Ansicht legte Kant in seiner Dissertation : De mundi sensibilis u. s. w. den Gi'und zu seiner tr an scen d e n tal en Ästhetik. ,. Der Raum ist nicht etwas Objektives und Reales, keine Substanz, kein Accidenz, kein Verhältnis, sondern etwas S u b j e k t i v e s u 11 d Ideales und tliut sich aus der Natur des Gemütes nach einem unwandelbaren (jesetz hervor: er ist gleich- sam das Schema der Beuu-dnung alles äufscrlich EnipfuiKh'nen'' (II. 410). „Die Zeit ist ni eilt etwas () hj ekti v e s und Reales, keine Substanz, kein Accidenz, kein Verliilltiiis, sondern eine sub- jektive durch die Natur des Gemüts notwendige Bedingung, alles Sinnliche nach einem gewissen Gesetze einanrler beizuordnen, und eine reine Anschauung" (407). Den Raum sich als einen an sich seienden absoluten und unermefslichen Behälter der mr)glichen Dinge vorzustellen, wie es „nächst den Engländern vielen (leonieteni gefällt", das erscheint Kant nunmehr als „ein leeres Gespinnst der Vernünftelei'' und wird, da es wahre unendliche V'erliältnisse ohne i rgendwelche sich zu einander verhaltende Dinge erdichtet, von ihm zur Fabelwelt gerechnet (411). Und ebenso nennt er es einen „albernen Einfall" (commentum absurdissimum), die Zeit sich als ein stetiges VerHiefsen im Dasein ohne irgend ein daseiendes Ding vorzustellen (4()<S). Aber auch seine eigene frühere Ansicht wird von ihm bekänii)ft, wonach der Kaum das Verhältnis der wirklichen Dinge bildete, das ganz verschwinden sollte, wenn man die Dinge aufhebt, wonach er folglich auch nur in wirklichen Dingen zu finden und die Zeit eine von der Folge innerer Zu stände abgezogene Vorstellung sein sollte.

Raum und Zeit sind reine Anschauungen. Ihre Reinheit, als Fulge ihrer Apriorität, macht, dafs die mathematischen Urteile apodiktisch sind, d. h. unbedingte Notwendigkeit und Allgemein- gültigkeit haben. Ihre Anschaulichkeit macht, dafs sie synthetisch

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sind und niemals aus blofsen Begriffen heraus analytisch erschlossen werden können. Beides macht die Möglichkeit der reinen Mathe- matik aus. und zwar der Raum die Möglichkeit der reinen Geometrie, die Zeit dagegen die Möglichkeit der reinen Mechanik. Dal's aber Kaum und Zeit blolse Formen des mensch- lichen Erkenntnisvermögens sind, die aufserhalb des Sul)jekts keine Geltung haben, dies ist es, was die Anwendung der mathematischen Sätze auf die Gegenstände der Erlahrung möglich macht, was macht, dal's es keine Erfahrung geben kann, die nicht mit den Gesetzen der Mathematik übereinstimmt, oder mit andern Worten: was auch die angewandte M a t h e m a t i k , die von der reinen wohl zu unterscheiden ist. zur Wissenschaft erhebt. „Denn die Gegen- stände können den Sinnen unter irgend einer Gestalt nur viu'mittelst derjenigen Kraft des (Temütes erscheinen, wodurch es die Empfin- dungen nach einem unwandelbaren und seiner Natur eingepflanzten Gesetze einander beiordnet. Wenn nun also durchaus kein Objekt den Sinnen gegeben werden kann aufser in Gemäfsheit mit den ursprünglichen Axiomen des Raumes, so mag das Prinzij) derscdben immerhin blofs subjektiv sein: jenes Objekt wird doch mit diesen (Axiomen) notwendig übereinstimmen, w^eil es nur dadurch mit sich selbst zusammenstimmt*' (411). Und ebenso werden ..alle in der Welt wahrnehmbaren Begebenheit(*n. alle Bewegungen und alle inneren Veränderungen notwendigerweise mit den von der Zeit zu erkennenden Axiomen zusammenstimmen, weil sie nur unter dieser Bedingung Objekt der Sinne sein und einander beigeordnet wenden können" (40S f.).

„Die Natur ist also den Grundsätzen der Geometrie in Ansehung aller Eigenschaften des Raumes, die sie darlegt, aufs Genaueste unter- worfen, und zwar nicht nach einer erdichteten, sondern anschaulich ge- gebenen Voraussetzung, als einer subjektiven Bedingung aller Er- scheinungen, durch welche sich je die Natur den Sinnen ofl'enbaren kann" 411). Nur weil etwas blofs dadurch Gegenstand unserer Kr- fahrung werden kann, dafs es uns in den Formen des Raumes und der Zeit erscheint, nur darum können wir a j)riori sicher sein, dafs die ge- samte Natur, als der Inbegritf aller Erscheinungen in Raum und Zeit, den Gesetzen dieser letzteren sich fügen mufs und dafs wir nicht Eine Erfahrung machen werden, ^uf welche die Gesetze der Mathematik nicht zuträfen. Vorher wufsten wir nur, dafs die Natur den Gesetzen der Mathematik unterworfen sei und dafs unsere Erkenntnis derselben erst dann ihre höchsten Triumphe feiere, wenn wir die Mathematik auf die Erfahrung anwenden. Jetzt wissen wir auch, warum dies so ist: weil beide untrennbar zusammengehciren, weil Natur dies nur

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ist als Erscheinung in Raum und Zeit und Mathematik nur als Wissenschaft dieser beiden Formen. Die Erkeimtnis der Natur- erscheinungen ist also selbst Wissenschaft der Natur, und wenn uns jemand das Recht bestreiten wollte, die Mathematik auf jene Erscheinungen anzuwenden, so weisen wir ihn einfacli darauf hin, dafs etwas nur darum zur Natur gehört, weil es sich unter jenen Formen darstellt.

Wenn nun Raum und Zeit subjektive Bedingungen oder Formen sind, unter denen blofs wir die Gegenstände wahrnehmen, aufser- halb unserer Subjektivität ihnen jedoch gar keine reale Be- deutung zukommt, so ist alles, was uns in Raum und Zeit gegeben ist, nicht der Gegenstand, so wie er an s i c h oder al)gesehen von den subjektiven Bedingungen unserer Erkenntnis existiert, sondern nur Erscheinung (phaenomenon). deren wahres Wesen (noumenon) uns unmittelbar verborgen bleibt. Und wenn Raum und Zeit Formen der Anschauung oder anschauliche (nicht begriffliche) Formen sind, so müssen sie, da Anschaulichkeit nur in der Sinn- lichkeit zu finden. Formen der Sinnlichkeit (nicht des Verstandes) sein. Folglich ist alles, was uns in der Sinnlichkeit gegeben ist. weit entfernt, irgendwie ein Ding an sich zu sein, nichts als Erscheinung von blofs suljjektiver Bedeutung.

Auch Leibniz hatte angenommen, die Sinnlichkeit liefere uns nur Erscheinungen. Die Sinnesvorstellungen sollten dasjenige nur in verworrener, unbewufster Weise enthalten, was der Verstand sich klar und deutlich zum Bewufstsein bringt. Verstand man untei- Sinnlichkeit eben nur die Art und Weise der Erkenntnis, soweit sie den sinnlichen Stof^' zum Gegenstande hat. so waren foli^dich nach jener Auffassung des Leibniz Sinnlichkeit und Verstand nur (juantitativ verschieden; es bestand zwisclien ilnuMi nui- ein gradueller Unterschied. Auch die Sinnlichkeit enthielt ja den- selben Inhalt. wi(» der Verstand, nur in verworrener. undeutliclHM* Form. Das ganze Geschält des Verstandes bestand alsdann nui- darin, diesen Inhalt von seinen sinidichen Schlacken zu befreien. ihn aus seinem wahren, rein l)egrifflichen Kern herauszuschälen und ihn damit zugleich auf eine höhere Stufe der Erkenntnis zu erheben. Die Sinnlichkeit gii^bt nach Leibniz den Inhalt, der A'erstand verdeutlicht ihn. Dort erscheint er als ein blofs zufälliirer un-l besonderer, weil er ein Abbild der l)esonder(Mi Rrfihrung ]st: hier dagegen trägt er den Charakter der Allgemeinheit und Notwendig- keit, weil er durch den Läuterungsprozefs der allgemeinen \'ei nunft hindurchgegangen ist Die Sinnlichkeit liefert nur insof -rn hh.fs Er- scheinungen, als sie die Dinge in die sinnliche Foi-m <Mnkh'idet.

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Der Verstand läCst die Din^e, wie sie an sich sind, erkennen und klärt uns über ihr eigentliches Wesen auf.

Dieser Formulierung des Unterschiedes zwischen Sinnlichkeit und Verstand vermochte Kant auf seinem jetzigen Standpunkt nicht beizustimmen, weil sie seiner Ansicht über die Mathematik wider- sprach. Die Mathematik ist eine anschauliche Wissenschaft der Sinnlichkeit. Es giebt also sinnliche Erkenntnis, wie die mathe- matische, die an Klarheit und Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig liifst. Und es giebt auf der andern Seite Verstandeserkenntnis, die höchst verworren und nichts weniger als deutlich ist, man denke nur an die metaphysischen Systeme ! (IL 402.) Die sinnliche Er- kenntnis ist auch nicht blofs zufälliger Art, denn die Sätze der Mathematik sind so allgemeingültig uml notwendig, dafs sie in der Hinsicht sogar alle anderen Wissenschaften übertrifft. Wenn dieser eigentündiche Charakter der Mathematik nur dadurch zu erklären ist, dafs llaum und Zeit reine Anschauungen sind, wenn sie als solche nur Formen der Sinnlichkeit sein können und diese mithin ihre eigenen Formen hat, die sich durch ihre anschauliche Natur von den begrifflichen Formen des Verstandes unterscheiden, dann sind diese nicht ([uantitativ, wie Leibniz will, sondern (}uali- tativ, spezifisch verschieden, dann wandelt sich also der Grad- unterschied zwischen Sinnlichkeit und Verstand um in einen Gegensatz, und es tritt damit die Nötigung hervor, eine neue Bestimmung für die Natur dieser beiden verschiedenartigen Erkenntnis- vermögen aufzustellen.

Die Sinnlichkeit hat ihre eigenen Formen. Sie kann also nicht lediglich Unterlage oder Stoff für die Verstandeserkenntnis sein, die aus diesem nur ihre (be^a-ifflichen) Formen herausschälte. Der Gegensatz von Stoff und Form mufs schon in der sinidichen Er- kenntnis liegen. Dieser Stoff aber kann nur der Aufsenwelt entstammen, sofern sie mit dem Subjekt in Berührung tritt. Die Sinnlichkeit ist selbst nichts Anderes als „die Em])fänglic'hkeit des Subjekts, durch welche es möglich ist, dafs sein Vorstellungszustand durch irgend ein vorhandenes Objekt auf ii-gend eine Weise gerührt werde" (400). Indem die Dinge an sich auf das Subjekt wirken, verursachen sie in ihm unmittelbar die Empfindung; diese ist als- dann der Stoff oder d a s M a t e r i a 1 der Sinnlichkeit, welche das Mannigfaltige der Empfindung in die ihr eigentiindichen Formen des Eaumes und der Zeit einordnet. Nur durch solche Einordnung erbiilt jenes Mannigfaltige den Charakter des Sinnlichen; aber eben damit hört es auch auf, irgendwie ein Abbild der Wirklichkeit zu sein und sinkt zur blofsen Erscheinung herab, deren eigent-

liches AVesen den Sinnen selbst verborgen bleibt. Die Sinnlichkeit spiegelt also nicht, wie bei Leibniz, die Dinge an sich, wenn auch in undeutlicher Weise, ab. Sie ist überliaupt nicht einem Spiegel zu vergleichen, weil sie den Dingen Formen überzieht, welche nur in und am Subjekt sich finden. Nichtsdestoweniger ist die sinnliche Erkenntnis eine durchaus wahre und keineswegs ein Produkt blofs der Einbildungskraft oder der su])jektiven Willkür. Die einzelnen Empfindungen als solche kcinnen zwar in verschiedenen Subjekten verschieden sein und dadurch den Charakter des Zufälligen erhalten (400): aber die Erscheinungswelt in ihrer Gesamtheit ist doch in allen Menschen immer eine und diesell)e, schon deshalb weil sie unter den Gesetzen der Zeit und des lUumes steht und diesen eine über die Grenzen der Individualität hinausgehende allgemeine und notwendige Bedeutung zukommt (404).

Die Verstandeserkenntnis kann sich zwar auf die Sinnlichkeit stützen, indem sie deren anschauliche Erkenntnissse unter ein- ander vergleicht, sie andern anschaulichen Erkenntnissen oder Be- griffen unterordnet u. s. w. ; indessen in dieser blofs logischen Be- thätigung besteht doch nicht das Wesen des Verstandes. Der eigentliche Gebrauch des letzteren ist vielmehr ein realer, d. h. ein solcher, welcher ganz neue Erkenntnisse schafft. Der Verstand ist „das Vermögen des Subjekts, sich dasjenige, was seiner Be- schaffenheit nach nicht in die Sinne fallen kann, vorzustellen" (400). Er ist somit das gerade Gegenteil der Sinnlichkeit und daher auch nicht, wie sie, an äufsere Bedingungen gebunden. Wenn der Sinnlichkeit ihr Stoff von aufsen gegeben werden mufs, so schafft der Verstand sich seinen Inhalt selbst. Die Begriffe, sowohl der Objekte, als der Verhältnisse, die er sich orieht, sind von keinem Gebrauch der Sinne abgezogen und enthalten keine Form der an- schaulichen Erkenntnis als einer solchen (402, 417). Sie sind dem- nach auch nicht Begriffe im eigentlichen Sinne, nicht Abstraktionen aus dem Anschaulichen, sondern reine Ideen, die in der Natur des Verstandes ebenso a priori bereit liegen, wie die Formen der Anschauung in der Sinnlichkeit, zwar nicht als angeborene, aber doch ,.als solche, die aus den dem Gemüte angestammten Gesetzen (durch Aufmerksamkeit auf die Handlungen desselben bei Ge- legenheit der Erfahrung) abgezogen sind", insofern also als „erworbene Begriffe" (403, 4i:0. ^^^''^ ^^i« Verstandesbegriffe rein, d. h. von allen sinnlichen Bedingungen frei, sind, die Sinnenwelt aber eine Welt blofs der Erscheinungen ist. darum eben gehen sie auf die Welt der Dinge an sich. Weil sie a priori sind, darum erheben sie die Erkenntnis der Dinge an sich oder die meta-

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physische Erkenntnis zur w i s s e n s c li a f 1 1 i c h e n Erkenntnis. Wie die Mathematik die apriorische AVissenschaft (h^r Sinnenvvelt auf Grund der reinen Anschauungen darstellt, so die Metaphysik die apriorische AVissenschaft der intelligiheln Welt auf Grund der reinen Verstandesbegriffe (402). Damit ist der Metaphysik von neuem ihr ursprünglicher Charakter als einer Wissenschaft vom (über- sinnlichen gewahrt und die Rückkehr zum dogmatischen Standpunkt eines Leibniz im Prinzip vollzogen, den Kant schon vrdlig über- wunden zu haben schien.

Mit dieser Unterscheidung zwischen der sinidichen und Ver- standeserkenntnis lösten sich nun auch die Schwierigkeiten im Begriffe des UnendHchen, welche die Veranlassung zu der ganzen Gedanken- reihe gaben. Jener Widerspruch nämlich, dafs die ]\I:itiiematik die unendliche Teilbarkeit des Raumes, die Metaj)hysik dagegen das Gegenteil behauptet, ist nicht ein solcher in der Wirklichkeit, sondern nur ein Widerspruch zwischen den beiden verschiedenen Erkenntnisvermögen des Menschen. ,.Ein Anderes ist es, sich bei gegebenen Teilen die Zusammensetzung des Ganzen durch einen abstrakten Verstandesbegriff d en ken : ein Anderes, diesen allge- meinen Begriff durch das sinnliche Erkenntnisvermögen ausführen, d. h. ihn durch deutliche Anschauung in der Anwendung (in concreto) darstellen" (i^Jjf)). Jenes geschieht durch den Be^M'i ff der Zu- sammensetzung überhaupt; dieses beruht auf Bedingungen der Zeit, indem ich nach und nach einen Teil zum andern hinzuthue, und dazu habe ich Anschauung nötig. Ebenso gelange ich zum Begriffe des Einfachen durch Abstraktion; um mir aber eine Anschauung davon zu machen, dazu mul's ich das Zusammengesetzte in der Zeit analysieren. Da nun das unendlich Grofse eben das- jenige ist, dessen Zusammensetzung in der Zeit niemals vollendet ist, das unendlich Kleine aber dasjenige, zu welchem ich niemals durch Analysis in einer endlichen Zeit gelange, so habe ich vom Standpunkte der anschauli('lien oder sinnlichen Erkenntnis aus ganz Recht, die Möglichkeit oder Wirklichkeit dieser Begriffe zu be- streiten. Aber ich habe nicht Recht, was hier unmöglich ist, damit überhaupt für unmöglich zu erklären. „Denn was den Gesetzen des Verstandes und der Vernunft widerstreitet, ist freilich unmöglich, nicht aber dasjenige, was, weil es Objekt der reinen Vernunft ist, nur nicht unter (h^n Gesetzen der sinnlichen Erkenntnis steht. Denn diese ^^Nichtübereinstimmung des sinnlichen und intellektuellen Er- kenntnisvermögens zeigt weiter nichts an, als dafs das Gemüt die vom Verstände erhaltenen allgemeinen Begriffe (iiters nicht im Konkreten ausführen und in Anschauungen verwandeln könne" (.iJJüf.).

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Auf dem Standpunkte der Verstandeserkenntnis bleibt es also gleich- wohl wahr: die K(')r])er sind aus einfachen Teilen (Substanzen) zu- sammengesetzt und die Gesamtheit derselben oder die Welt ist endlich.*) Aber auch die Frage nach der Entstehung der Welt, welche das Verhältnis der letzteren zur Zeit ins Auge fafst, findet ihre einfache Antwort darin, dafs nach den Gesetzen des reinen Verstandes eine jede Reihe von Wirkungen ihr Prinzip hat. wodurch sie ist, d. h. es giebt keinen grenzenlosen Rückgang in der Ver- kettung von Ursache und Wirkung (:)97, 398 f., 42 J f.).

In seinem ,.Xeuen Lehrbegriff der Bewegung und Ruhe- hatte Kant das (physische) Gesetz der Kontinuität aus demselben Grunde verworfen, aus welchem der Eleate Zeno einst die Bewegung ge- leugnet hatte, weil es nämlich bei der kontinuierlichen Wirksamkeit der Kraft durch eine unendliche Zahl von Zwischenmomenten niemals zu einer wirklichen Einwirkung zweier K()r])er auf einander kommen könnte. Dieser Einwand wurde hinfällig, sobald Kant eingesehen hatte, dafs der Begriff der Unendlichkeit überhaupt nur ein blofs subjektiver, nur ein methodologischer HiHs])egriff zur Betrachtung des Verliältnisses der Gnifsen sei, der aus den Formen unserer Sinnlichkeit entspringt, ohne darum die wirklichen Dinge als solche zu berühren. Dann war kein Grund, den Begriff des Stetigen zu leugnen, waren doch Raum und Zeit nur als stetig aufzufassen, und war doch die Zeit seihst nichts Anderes als das ,. Prinzip der Gesetze des Stetigen in den Veränderungen der Welt- (400). So lautete denn ,.das metaphysische Gesetz der Stetigkeit" : Alle Verände- rungen sind stetig oder tliefsen. d. h. entgegengesetzte Zustände folgen auf einander nur durch die Vermittelung einer Reihe ver- schiedener Zwischenzustände. Weil nämlich die beiden entgegen- gesetzten Zustände in verschiedenen Zeitpunkten liegen, von zwei Zeitpunkten aber stets eine bestimmte Zeit abgegrenzt wird, in deren unendlicher Reihe von Momenten die Substanz weder den einen der gegebenen Zustände, noch den anderen und doch auch

*) V^l. jedoch die Worte Kants: „Cum omne quantum at(iue series «luaelibet non cofrnoscatur distincte nisi per coordiriationpiii successivam, concoptus intellectualis quanti et multitudinis opitulante tantuin hoc conceptu t<'mporis oritur et iiuiKiuam pertin^rit ad coni])letudinem nisi synthesis absolvi possit tempore finito. Inde est, (piod infinita series coordinatoruni secundum intellectus nostri liniites distincte comi)rehendi non possit, adeoquo per vitiuiu subrei)tionis videnlur impossibihs" ( 42). Hiernach sollte man annelimen. dafs selbst auf dem Standpunkte der Verstandeserkenntnis eine infinita series coordinatoruni weni«2:stens nicht unmögHch sei, wonach denn Kant inbetrelV dieses Problems es noch nicht zu einer festen Ansicht gebracht hätte.

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nicht gar keinen haben kann, so wird sie sich in verschiedenen Zu- ständen befinden, und so weiter ins Unendliclie" (407).

Die Gesetze des Verstandes reiclien weiter als die Gesetze des Anschauens ; eben darauf beruhte ja, wie wir sahen, die Möglichkeit der Metaphysik, als einer Wissenschaft vom Übersinnlichem, von dem, was selbst nicht mehr anschaubar ist. Freilich trägt die Meta- physik, die Kant hiermit auf seiner neuen methodologischen Grundlage errichtet, keineswegs die Kühnheit und Selbstgewifsheit zur Schau, mit welcher andere metaphysische Baumeister auf Grund ähnlicher Prinzipien ihre Systeme in den Himmel emporzutiirmen strebten. Ihre Dürftigkeit zeigt, dafs der Philosoph nur gerade soviel metaphysisches Material zusammenbrachte, um seiner naturwissen- schaftlichen Weltanschauung einen letzten Halt zu geben, und darum gehen auch seine Andeutungen über diejenigen Grenzen nicht hinaus, innerhalb deren seine metaphysischen Grundlehren sich bereits früher bewegt hatten. Da nichts seiner Einführung der dynamischen Naturanschauung Newtons mehr im Wege stand als das alte leibnizsche Vorurteil gegen den intluxus pliysicus oder die physische Einwirkung der Monaden auf einander, ein Vorurteil, das er bereits in früheren Schriften durch seinen Monismus zu überwinden ge- trachtet hatte, so riclitet er auch jetzt wieder auf diesen Punkt vor allem sein Augenmerk, indem er die Frage aufstellt, ,,wi(» meliren wirklichen Dingen eine gewisse ursprüngliche Beziehung als ursj)rüng- liche Bedingung der mögliclien P^inllüsse und Prinzip der wesent- lichen Form des Weltalls zukommen könne" (4K^). Es genügt nicht, einfach darauf hinzuweisen, dafs alle Din^^e ja in einem und demselben Räume seien, und dieser, ebenso wie die Zeit, gleichsam ein reales und absolut notwendiges Band aller möglichen Substanzen und Zustände bilde. Denn einerseits sind Raum und Z(üt blofse Anschauungsformen des Subjekts und betreffen gar nicht die Bedingungen der Objekte selbst, und andererseits fragt es sich doch immer noch : auf welchem Grunde dieses Verhältnis aller Substanzen beruhe, das, anscliaulich erwogen, der Raum heifst. „Dies ist also der Angel, um welchen sich die Frage wegen des Prinzips der Form der Verstandeswelt dreht, um nämlich klar zu machen, wie es möglich sei, dafs wahre Substanzen in einer wechselseitigen Gemein- scliaft stehen und auf diese Art zu einem und demselben Ganzen geh()ren, das man \V\dt nennt'' (414).

In der blofsen F^xistenz kann das Prinzip der unter ihnen möglichen Wechselwirkung nicht bestehen. „Denn wegen der Sub- sistenz selbst beziehen sie sich nicht notwendig auf etwas Anderes als etwa auf die Ursache von ihnen ; aber das Verhältnis der Wirkung

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zur Ursache ist keine Wechselwirkung, sondern blofse Abhängigkeit" (ebd.). Es mufs also überdies noch ein besonderer Grund vorhanden sein, woraus man die wechselseitigen Verhältnisse begreifen könne. Das ganze Vorurteil gegen die Theorie des physischen Einflusses schreibt sich nur daher, dafs man unrichtiger Weise annimmt, die Wechselwirkung der Substanzen und die übergehenden Kräfte könnten durch ihre blofse Existenz hiidänglich erkannt werden. Aus not- wendigen Substanzen kann das Ganze der Welt aber auch ni(*ht bestehen, .,weil einer jeden ihre eigene Existenz völlig genügt ohne alle Abhängigkeit von irgend einer andern, die auf notwendii^e Dinjxe gar nicht pafst" (ebd.). Keine notwendige Substanz steht in Ver- knüpfung mit der Welt aufser als Ursache mit der AVirkunc:. folg- lich nicht als Teil mit seinen P^rgänzungsstücken zum Ganzen. Die Welt oder das Ganze der Substanzen i)esteht also jedenfalls aus zufälligen Dingen, d. h. die Substanzen, welche die Welt zu- sammensetzen, müssen ihrem Wesen nach zul'ällig sein, (liebt es eine notwendige Substanz als Ursache der Welt, so ist sie mithin ein aufserweltliches Wesen (ens extramundanum) in dem Sinne, dafs sie über alle zufälligen Sul)stanzen übergreift, und ihre Gegenwart in der Welt ist nicht eine örtliche, sondern eine v i r t uale (ebd. f.), ,,d. h. auf einem thätigen Verhältnisse derselben zur Welt beruhende, wodurch sie der (irrund der Wirklichkeit des Raumes selbst und aller Ortlichkeit in demselben ist."*) Die w^eltlichen Substanzen sind also gar keine selbständigen Wesen, sondern Wesen von einem Andern, und zwar alle von Einem, weil sie nur daduich zu ein- ander in wechselseitige Verhältnisse treten kömnen. So erklärt sich auch die Einheit in der Verbindung der Substanzen des Weltalls: sie ist nur eine Folge der Al)hängigkeit aller von Einem. ..Die Form des Universums weist also auf eine Ursache der Materie hin; die Ursache der Allheit ist auch die einzige Ursache aller, und der Baumeister der Welt mufs auch zugleich ihr Sclxipfer sein" (41")). Der menschliche Geist aber vermag darum die Grenzen der un- mittelbaren F]rscheinungswelt zu überschreifen und mittels der reinen Verstandesbegriffe die I)ing(% befreit von ihrer sinnlichen Hülle, zu erblicken, w^eil er nur insofern von dem AufsiM-en afliziert wird und die Welt sich seinem Blick erschliefst, ,,als er selbst mit allen Andern von einer und derselben unendlichen Kraft eines Einzigen erhalten wird" (41()). So liat also Malebranche Recht, zu sagen: „wir schauten Alles in Gott." Da nun der Raum die anschaulich erkannte allgemeine und notwendige Bedingung der Mitgegenwart

*) Tieftrnnk in seiner (anonymen) Ausgabe v. ,,i. Kants vermischten Schriften" (1799). 541.

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Aller, die Zeit dagegen das einzige Unendliche und Unveränderliche ist, worin alle Dinge sind und beharren, so kann man jenen die ,. Allgegenwart der Erscheinung (omnipraesentia i)haenomenon)," diese die „Ewigkeit als Ersclieinung der allgemeineren Ursache (aeternitas phaenomenon)^' nennen. Indessen scheint es Kant rät- licher zu sein, „sich am Ufer der uns durcli die Mittelmälsigkeit unseres Verstandes vergönnten Erkenntnisse zu halten, als sich in das Meer der mystischen Untersuchungen dieser Art zu wagen,-' wo uns nur allzu leicht der orientierende Kompals verloren geht(4l7).

Offenbar hat Kant selbst nicht recht daran geglaubt, in diesen 8ätzen wirklich eine unumstoi'sliche metaphysische Erkenntnis zu besitzen. Oder wie hätte er sonst in seinem Briet' an Lambert (vom 2. September 1770) den Abschnitt, der seine metaphysischen Grundleliren entliält, als „unerheblich" bezeichnen können? (VIII. Güo.) Wie weit entfernt er war, sie selbst für apodiktisch zu halten, geht auch daraus hervor, dafs er am Schlüsse seiner Dissertation die metapliysischen Lehren von einem allgemeinen Kausal- zusammenhange der Weltbegebenheiten, von der Konstanz der Materie und der Einheit in der Welt nicht für reale Thatsachen und Natur- gesetze, sondern für blofs formale Eegeln des su})jektiven Ver- standes angesehen haben will, dafs er sie lediglich als Maximen der Forschung ohne objektiven Sinn betrachtet, die sich „nur durch Anbe(iueraung zur besonderen Natur des Verstandes in seinem freien und weiten Gebrauch empfehlen" (424). Was z. B. den Satz be- trifft, dafs im Weltall alles nach der Naturordnung, d. h. mechanisch, geschehe, so nehmen wir ihn nicht deshalb an, „weil wir etwa im Besitz einer so weitunifassenden Erkenntnis der Weltbe^n'l)enheiten nach allgemeinen Naturgesetzen wären, oder weil wir entweder die Unmöglichkeit oder die geringste hypothetische Möglichkeit des Ül)er- natürlichen einsehen, sondern weil, wenn man von der Onlnun-^ der Natur abgeht, dem Verstände fast gar kein (xebrauch übri^ bleibt und weil die grundlose Berufung auf das fbernatürliche ein Polster der faulen Vernunft ist'' (ebd.). Und ebenso stimmen wir dem Grundsatz, man müsse ohne Not die Pi'inziinen nic^ht vervielfältigen, nicht deswegen bei, „weil wir d'i^. ursacliliche Einheit in der Welt entweder durch Vernunft (!) oder durch Erfalirung einsehen, sondern eben sie ist es. der wir auf Antrieb unseres Verstr.ndes nachforschen; denn dieser denkt ebenso weit in der Erklärung der Erscheinungen vorgerückt zu sein, als es ihm von einem und dem- selben Prinzip zu sehr vielen Bedingten herabzusteigen vergönnt ist-' (ebd.).

Warum sollten denn auch die Grenzen des Verstandes so viel

weiter gesteckt sein als diejenigen der Sinnlichkeit, da sie doch beide ])lofs subjektive Vermögen waren ? Auch die Anschauungsformen waren ja ganz ebenso, wie die Formen des Verstandes, ursprüngliche Besitztümer unseres Geistes, deren wir uns erst bei Cielegenheit der Erfahrung bewufst werden, standen also in dieser Hinsicht hinter jenen nicht nach; wie kommt es, dafs sie trotzdem nur auf Er- scheinungen sich beziehen, die Verstandesfornien dagegen sich un- mittelbar mit dem Ding an sich ])efassen?

„Ich hatte mich," sagt Kant in seinem berühmten Brief an Marcus Herz vom 21. Februar 1772. „in der Dissertation damit begnügt, die Natur der rntellektual- Vorstellungen blofs negativ aus- zudrücken : dafs sie nämlich nicht Modifikationen der Seele durch den Gegenstand wären. Wie aber denn sonst eine Vorstellung, die sieh auf einen Gegenstand bezieht, ohne von ihm auf einiire Weise affiziert zu sein, möglich, überging ich mit Stillschweigen. Ich hatte gesagt: die sinnlichen Vorstellungen stellen die Dinge dar, wie sie erscheinen, die intellektualen, wie sie sind. Wodurch werden uns denn diese Dinge gegeben, w^enn sie es nicht durch die Art werden, womit sie uns aftizieren; und wenn solche intellektualen Vorstellungen auf unserer inneren Thätigkeit beruhen, w oh e r k o m m t d i e U b e r- e i n s t i m m u n g , die sie m i t G e g e n s t ä n d e n h a b e n sollen, die doch dadurch nicht etwa hervorgebracht werden: und die Axiomata der reinen Vernunft ül)er diese Gegenstände, woher stimmen sie mit diesen überein. o h n e d a f s diese Ü b e r e i n s t i m m u n g v o n d e r Erfahrung hat dürfen Hilfe entlehnen? In der Mathe- matik geht dieses an. weil die ( )bjekte für uns nur dadurch Gröfsen sind und als GrÖfsen können vorgestellt werden, dafs wir ihre Vor- stellungen erzeugen kiumen. Daher die Begriffe der Gröfsen selbst- thätig sind und ihre Grundsätze a priori können ausgemacht werden. Allein im Verhältnis der (Qualitäten, wie mein Verstand gänzlich a j)riori sich seilest Begriffe von Dingen bilden soll, mit denen not- wendig die Sachen übereinstimmen sollen, wie er reale Grundsätze über ihre Möglichkeit entwerfen soll, mit denen die Ei-fahrung ge- treu übereinstimmen mufs. und die doch von ihr unabhängig sind, diese Frage hinterläfst immer eine Dunkelheit in Ansehung unseres Verstandesvermögens, wolier ihm diese Übereinstimmung mit den Dingen selbst komme" (VIII. (ihlJ f ).

Zweierlei schien mr)glich, um die V'erschiedenartigkeit in der Anwendung der Denk- und Anschauungsformen auszugleichen : ent- weder die Anschauungsformen bezogen sich, wie die Verstandes- fornien, auf Dinge an sich, oder die Verstandesformen bezogen sich, wie die Formen der Anschauung, blofs auf Erscheinungen. Jenes

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B. Kant als Naturi)hil()soph.

I. Die vorkritische Naturphilosophie.

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war die Ansicht des naiven Realismus, wie er urs])rün^licli auch der früheren rationalistischen Denkweise Kants zu Grunde ge- legen hatte, dieses die Meinung des 8 k e p t i z i s in u s . zwei erkenntnis- theoretische Standpunkte, die beide Kant ja gerade zu über- winden bestrel)t war. Der naive Realismus ineint, die Ding(^ der Aufsenwelt spazierten gleichsam von sell)st ins Bewui'stsein hinein, drückten sich in ihm. wie auf einer Platte von weichem Wachse, ab oder würden von uns gar unmitteH)ar wahrgenommen. Da war es denn freilich kein Problem, weshalb die Vorstellung, wie sie im Subjekt ist, mit dem Gegenstande aufserhalb des Subjekts über- einstimmt, oder wie Kant in jenem Briefe sich ausdrückt : es be- reitete keine Schwierigkeiten, auf welchem Grunde die Beziehung desjenigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand beruht. „Enthält die Vorstellung nur die Art, wie das Subjekt von dem (Tegenstande affiziert wird, so ist's leicht einzusehen, wie er diesem, als eine Wirkung seiner Ursache, gemüfs sei. und wie diese Bestimmung unseres Gemüts etwas vorstellen, d. i. einen Gegen- stand haben kiinne-' (VIII. ()S}>). Indessen wenn hiernach alle unsere Vorstellungen a ])osteriori aus der P]rfalirung entnommen sind, so kann von einem Apriori nicht die Rede sein, so kann es also auch keine notwendige und allgemeingültige P]rkenntnis geben, nicht einmal in der Mathematik, und weit entfernt, dal's man das Jenseits der Erfahrung zu ergründen veriiKichte, ist auf naiv realistischem Standpunkt nicht einmal eine eigentliche Wissenschaft der Erfahrung möglich, wofern man mit dem Rationalismus der Ansicht huldigt, dafs eine Wissenschaft diesen Namen nur dann verdient, wenn ihre Erkenntnisse allgemein und notwendig sind. Überdies schien der naive Realismus auch noch aus anderen Gründen nicht haltbar. Seit Descartes Hobbes und den La-undlej^enden Untersuchungen Dockes stand die Thatsache aufser allem Zweifel, (lafs unsere Vorstellungswelt ein getreues Abbild der Aulsenwelt nicht ist, dafs zum mindesten die sogenannten „sekundären Quali- täten,*' wie Farben, Töne, Gerüche u. s. w., blofs subjektiver Natur, bewuftseinsimmanentes Produkt uns unbekannter Reaktionen der Psyche auf Einwirkung von äufseren Vorgängen sind; ja, der eng- lische Denker Hu nie hatte sogar gezeigt, dal's, selbst unter der Voraussetzung, die einzelnen Erfahrungen als soh'he spiegelten wirk- lich die äufseren Dinge wieder, die inneren Beziehungen zwischen ihnen, wie die Kausalität, doch jedenfalls keine Abbilder sein könnten. Damit war der naive Realismus völlig in Skeptizismus umgeschlagen, und alles schien den jeweiligen Erfahrungen des Subjekts anheini- gestellt. Der naive Realismus liefs doch wenigstens die Erfahrun«

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als solche bestehen und zweifelte nicht daran, unsere Erkenntnis, soweit sie eben reicht, stimme auch mit der Wirklichkeit und ihren Gesetzen überein. Der Skeptizismus zerstiule nicht blofs alle notwendige und allgemeingültige Erkenntnis, hob damit nicht blofs den Begriff der AVissenschaft im rationalistischen Sinne auf. sondern er zerschnitt auch noch das Band zwischen der Vorstellung im Be- wufstsein und den Dingen in der Aufsenwelt und machte den Begriff der AVissenschaft in jedem Sinn zu Schanden, indem er dem Denken die ]\löglichkeit raubte, seine Übereinstimmung mit dem realen Sein konstatieren zu können.

Jetzt zum ersten Male scheint Kant die volle Bedeutung der humeschen Zweifel an der Übereinstimmung des Denkens mit der AVirklichkeit an sich erfahren zu haben, nicht als ob ihm die- selben bisher unbekannt geblieben wären, sondern sie hatten nur keinen wesentlichen EinHufs auf ihn ausgeübt. Bereits im dahre 1 AVd hatte Kant in seiner Schrift über die negativen Gröfsen die Ai)ri()rität des Kausalgesetzes in Zweifel gezogen; er hatte bestritten, dal's es möglich sei, mittels reiner Vernunft den Zusammenhang zwischen Ursache und AVirkung einzusehen. Allein er hatte doch das that- sächliche A'orhandensein eines solchen Zusammenhanges niclit be- zweifelt: es war ihm nicht in den Sinn gekommen, zu leugnen, dafs wirklich die Thätigkeit der an sich existierenden Monaden am Leit- faden einer durchgehenden Kausalität sich abs])ielt. Jetzt wird auch diese Ansicht durch den F]inwand Humes erschüttert, sie erscheint ihm als ein dogmatisches Vorurteil, und er, der schon am Ziele seiner AVanderung zu stehen glaubt, sieht sich nun abermals vor einen Abgrund gestellt, der die gesamten Resultate seiner liisherigen Lebensarbeit auf einmal zu verschlingen droht. Man l)edenke, was für Kant auf dem Spiele stand, wenn das Kausalgesetz wirklich, wie Hume behauj)tet hatte, nur eine subjektive Abstraktion aus der Erfahrung und noch dazu von sehr hypothetischer Art war. insofern die Erfahrung uns niemals einen wirklichen ZusammenliMUg der Erscheinungen, sondern nur eine wiederkehrende Aufeinander- folge gleicher oder ähnlicher Erscheinungen aul'weist. War die Kausalität nur ein subjektives Produkt der Assoziation, entsprungen aus bh)fser Gewohnheit unseres Denkens, dann hatte es ja gar keinen Zweck, nach einer metaphysischen Begründung der Natur- erscheinungen zu suchen, dann gab es ja nicht einmal eine Natur- wiss enschaf t, denn diese basierte ja einzig und allein auf der l'berzeugung von einem objektiven Zusammenhange der Erscheinungen. Die am Schlüsse seiner Dissertation ausgesprochene Ansicht. Kausali- tät und Konstanz der Materie seien blofs subjektive, formale Regeln

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I. Die vorkritische Natiir])hilosophie.

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der Forscliiing, aber nicht ein^entlich reale Weltgesetze, diese An- sicht war für den liationalisten Kant nur die offenbare Bankerott- erkläning seiner metaphysischen Spekulationen, sie war nur das klare Eingestiindnis, dals er sich grundsätzlich auf einem Irrweg befand, und damit sah er sich auf denselben Standpunkt zurück- geworfen, auf dem er vor Abfassung seiner Dissertation gestanden hatte.

Damals hatte er den synthetisch-apriorischen Charakter der Mathematik dadurch gerettet, dafs er Kaum und Zeit, die Formen, innerhalb deren sich alle mathematische Erkenntnis bewegt, als reine Formen der Anschauung ins Subjekt zurückgenommen und sie für die notwendigen Bedingungen erklärt hatte, durch welche das Objekt der Mathematik selbst erst möglich wird. Was hinderte ihn, in derselben Weise auch die Formen des Denkens als Produzenten der Erfahrung aufzufassen, die zwar als solche nur subjektiv sind, aber ein objektives, für Alle gültiges AVeltbild liefern, weil sie a priori überall vorhanden sind? Bei den Anschauungsformen war es immerhin ein kühner Schritt gewesen, Raum und Zeit, diese notwendigen Bedingungen aller äul'seren Wirklichkeit, als apriorische Besitztümer ganz und gar ins Subjekt zu verbogen, ihnen jegliche Geltung aufserhalb desselben abzusi)rechen. Bei den Formen des Denkens stand es von vornherein fest, dafs sie im Subjekt ihre Wurzel hatten, und ihre apriorische Katar war von jeher ein Grund- dogma der rationalistischen Philosophie. Was aber ihren Charakter als formende Bedingungen der Erfahrung betraf, so brauchte man sich ja nur darauf zu besinnen, dafs die Erfahrungswelt sich wirklicli nur durch ihren f o r m a 1 1 o g i s c h e n G e h a 1 1 von der Welt rein subjektiver Phantasieen und blofser Träume unterscheidet, dafs z. B. ohne kausalen Zusammenliang die Welt nur ein regelloses Durcheinander von einzelnen Erscheinungen bilden würde, in welcher wir gar keine vernünftigen Erfahrungen würden nuichen können, und es schien in der That nichts näher zu liegen, als auch die Yerstandesformen ganz ebenso, wie die Formen der Anschauung, für apriorische Bildner der Erfahrung zu erkhiren.

AVie eine apriorische Erkenntnis der Gesetze von Baum und Zeit, die mit den Gegenständen übereinstimmt, möglich ist, weil beide als Formen der Anscliauung a priori und aul'serhalb (k's Subjekts ohne Geltung sind, ganz ebenso auch bei den Formen des Denkens. Ihre subjektiv-apriorische Natur und die Thatsache, dafs sie Formen der Erfahrung sind, ermöglicht es dem Subjekt, a priori etwas über die Erfahrung auszumaclien. Ihr exklusiv subjektiver Charakter bewirkt, dafs die Erfahrung mit dessen apriorischen Vor-

Stellungen und Grundsätzen übereinstimmt. Wie unsere Vorstellungen den Gegenständen entsprechen müssen, falls, wie dies die Ansicht des naiven Realismus ist, jene nur Abbilder der Erfahrung sind, in derselben Weise mufs natürlich eine solche Übereinstimmung auch stattiinden, falls die Erfahrung erst durch die Vorstellungen möglich ist. „Wenn das", sagt Kant in seinem oben erwähnten Briefe, „was in uns Vorstellung lieifst. in Ansehung des Objekts actio wäre, d. i. wenn dadurch selbst der Gegenstand hervorgebracht würde, wie man sicli die göttlichen Erkennt- nisse als die Urbilder der Sachen vorstellt, so würde auch die Konformität dei-selben mit den Objekten verstanden wenhn können. Allein unser Verstand ist durch seine Vorstelhingen weder die Ur- sache des Gegenstandes, noch der Gegenstand die Ursache der Verstandesvorstellungen. Die reinen Verstandesbegrifte müssen also nicht von d(^r Emi)tin(lun,ir der Sinne abstrahiert sein, noch die Emj)tänglichkeit der Vorstellungen durch Sinne ausdrücken, sondern in der Natur der Seele zwar ihre Quelle haben, aber doch weder insofern sie vom Objekt gewirkt werden, noch das Objekt selbst hervorbringen" (VIII. m)). Die Verstandesformen sind an sich nicht produktiv, sie sind es so wenig, wie die Formen der An- schauung, wofern ihnen nicht der Stoff von anderswoher gegeben wird, an dem sie sich betliätigen kiumen. Nun bildeten die Emi)tindungen, als A\'irkungen der Dinge an sich, das Material der Anschauungs- lornien, und weil jene Formen blofs subjektiv waren, so konnte das Produkt aus Emptindun;]^ und Anschauungsform, das Objekt der Sinnlichkeit, auch blols Erscheinung sein. Besteht nun die Er- fahrung selbst aus den sinidichen Vorstellungen und ihren logischen Bezielmngen, ist somit das Objekt der Sinnlichkeit das Material der Verstandesthiiti^keit, dann ])e ziehen sich folglicli auch die Formen des Denkens blo f s a u f Erschei n un ge n , und wij- erfabren durch den Verstand über die Dinge an sich sow(^ni^. wie dun^h die Sinnlichkeit.

So trifft also Kant im J^esidtat mit II u m e zusammen, obwohl ihre beiderseitigen (Gründe die gerade entgegengesetzten sind. Kant ist P n om en al i s t . wie Hume. d. h. für beide ist die Welt blofs Erscheinung: al)er er ist dies nicht aus Gründen des Empirismus, sondern gerade umgekelii-t, um den ]\ationalismus gegenüber den Einwänden des Em])irismus zu behaupten. Hume leugnet die M(»glichkeit einer Erkenntnis dessen, was jenseits der Erfahrung liegt, weil alle unsere Erkenntnis überhaupt nur aus der Erfahrung herstammt, weil sie. mit Kant zu reden, nur a posteriori ist; Kant schränkt die Erkenntnis auf Erfahrung ein, weil nur. w^enn das

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B. Kant als Naturphilosoph.

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iJeiiken in die Grenzen des Bewufstseins eingesi)errt, wenn aucli die Erfaliruntr bloi's unser eigenes Produkt ist. eine apriorische Er- kenntnis der Erfalirung möglich ist. Nach H u ni e ist die Annahme nicht ausgeschlossen, dafs die Gesetze der P>fahrung mit denen unseres Denkens einmal nicht ül)ereinstimmen, es fehlt uns jedes Mittel, um eine solche lU)ereinstimmung aucli nur zu konstatieren, weil Alles hier nur von der jeweiligen Erfahrung abhängt und (his Denken nicht über sich selbst hinaus kann : nach Kant können beide gar nicht auseinandergehen, weil die Gesetze der Erfahrung nichts Anderes als die Gesetze unseres Denkens sind.

Die Denkformen beziehen sicli, wiu die Foi-men der iVnschauung, auf Erscheinungen. Der Augenbhck, in welchem in Kant diese Erkenntnis aufging, ist der Ge))urtsmoment der ,.Kritik der reinen V e r n u n f t"'. ]\Iit ihr war der Grund gelegt zur t r a n s - c e n d e n t a 1 e n Logik, der Lehre von den reinen Verstandes- begrift'en. die neben dei- transcendentalen Ästhetik, als der Lehre von den reinen Anschauungsformen, den wichtigsten I^cstandteil jenes Ej)Oclie machenden Werkes bilden sollte. Einmal durch Hume aus seinem ,.dogmatisclien Schlummer" aufgeweckt, worin er sich befunden . solange ihm die Verstand(!sbegriffe unmittelbar auch für Elemente der äufseren AVirklichkcit gegolten hatten, rastete Kant nicht, bis er sich ihrer Zahl, ebenso wie vorher hei den An- schauungsformen, versichert hatte, um dann vom Giunde aus das Gebäude der Vernunl'tkritik zu errichten, das vor allem auch seiner Natur})hilosoj)hie eine sichere Heimstätte bieten sollte. Die Vollen- dung dieses AV^erkes nahm zwai* noch viele Jahre der angestrengtesten Gedankenarbeit Kants in Ans])i'uch : als es dann aber endlich im Jahre 1781 erschien, da glaubte er auch seine Absicliten. soweit sie die oSaturphilosophii! betrafen, erreicht und seiner dynamischen Naturanschauung eine Grundlage gegeben zu haben, auf der sie für alle Z(äten sicher stehen kiumte.

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II. Die kritisclie Natuipliilosopliie.

1, Die Grundlegung der Naturphilosophie.

a) Die reine .NaturAvissenscliaft.

Die Philosophie hat die Aufirabe. in das Aggre^rat der Rinzel- erkenntnisse und die Vielheit der Sonderwissenschaften Einheit und systematischen Zusammenhang zu bringen. Philosophie ist die einzige Wissenschaft, die systematischen Zusammeidianir. Zusammen- hang verschiedener Erk(Mintnisse in einer Idee, besitzt und eben damit auch alle andern Wissenschaften systematisch, d. h. erst zu Wissenschat'ten im eifrentlichen Sinne macht (111. r)4.S). „Mathe- matik, Naturwissenschaft, selbst die em])irische Kenntnis der ]\Ienschen haben einen Indien Wert als Mittel gnUstenteils zu zufälligen, am Ende aber doch zu notwendigen und wesentlichen Zweck(>n der ]\Ienschheit, aber alsdann nur durch A'ermittelung einer X'ernunt't- erkenntnis aus blofsen Eegrilfen. die, man mag sie benemien. wie man will, eigentlich nichts als Metaphysik ist" (r);")!)). In der Ge- stalt der Metaphysik geht die Philosophie über d(Mi Iidialt der vielen Einzelwissenschaften hinaus und zeigt, wie ihrc^ sämtlichen Ergebnisse in einem letzten Grunde aller Dinge zusammenhängen, aus dem sie auch notwendig abfliefsen müssen. Natürlich k(»nnen diese Bedingungen, die vor und jenseits aller Erfahrun^^ Hegen, nicht selbst von der F]i'fahrung abhangig sein. Denn das empirisch oder a ])ostei-iori auf dem Wege der Erfahrung Gewonnene ist als solches ein Zufälliges und Besonderes; das Fundament aller Er- fahrungswissenschaften al)er mufs seinerseits allen Zulalligkeiten und Besonderheiten eines der Erfahruni^ abcrcnvonnenen Erkeinitnismaterials enthoben sein. Allgemein und notw^endig ist nui- die apriorische Erkenntnis, die unmittelbar aus dem AVesen der allgemeinen Ver- nunft hervorgeht. Soll es fol^dich eine meta])liysische I]e«j^riin- dung der dynamischen Naturansciiauung aeben, so mul's (X'w von Newton übernommene und in der Erfahrung ei'])i-obte Wahrheit unabhängig von der Erfahrung oder a pi'iori. aus reinen Vernunft- begriffen abfi^eleitet werden.

Das war die Aufgabe, die Kant in seiner Physischen Monado-

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B. Kant als Naturphilosoph.

lü<,ne bereits ^^oXö^t zu liaben jjjlaubte, als ihm die Frage aufstiefs. ob es deini überhaupt n)()glich sei. vor alhir Erfahrung und uu- abhiingi^' von ihr eine Erkenntnis zu gewinnen, die trotzdem mit der Erfahrung übereinstimmt. Die Meta])hysik enthält Einsichten, wie diejenige von dem notwendigen Zusammenhange der ^aturbegebenheiten nach (hmi Gesetz der Kausalität, die für die Erfahrung gelten und dennoch ganz ohne sie gefunden sein sollen wer sagt (k-nn. dafs beide restlos in einantk^- aufgehen müssen, der Inhalt der Vernunft und das Gesetz in der Krfabi-ung? I>ilden Erfahrung und Venuinft zwei verschiedene (Tr(d)i(»te, woher alsdann der I*arallelismus zwiscben beiden? Wie kommt die Vernunft dazu, die Erfahrung abzuspiegeln, auf die sie doch keinerlei Jxücksicht nehmen soll? Was macht, dafs die Ph-fahruni^^ dem Vernunftgesetz sich unterwirft, zu (hMii sie doch aul'ser Beziehung stehen soll ? Die bisherige Phih)sophie hatte die Übereinstimmung beider <Mnfach für selbstverständlich angesehen; es war ilir gar nicht in den Sinn gekommen, die widerspruchslos «j^ebildete Vcrnunfterkenntnis kcüinte sich nicht mit der Wirklichkeit (hn-ken. Aber sie hielt auch mit Spinoza an der stillschweigenden \'orausset/ung fest, die eigent- liche Wirklichkeit, (his Objekt der j\Ieta})hysik müsse unräundich, unzeitlich, rein intelli^ibel und foft;bch auch in h)fj:isclie Forimdn auflösbar sein. Kant, der aus der Annahme des inlhixus ])hysi(;us die richtige Konsecpienz gezogen hatte, dafs Raum und Zeit aucii aufserhalb des Sul)jekts (leltung hal)en müfsten. teilte diese Voraus- setzung nicht: darum mufste ihm notwendig (he Übereinstimmung von Denken und Sein zui Frage werden, welche den Aiuhu'eu für S(dbstverstän(Uich galt (vgl. oben S. I.S f.). Darf die ^Fetiiphvsik eine solche rhereinstimmuu^r noch behaupten, wenn sie (hirch ihre all- gemeine Annahme des inthixus j)hysieus die Voraussetzung ni<'ht mehr teilt, worauf jene begrünch't ist? Woher überhau])t das Zusammen- fallen (k'r apriorischen mit der aposteriorischen Erkenntnis? So htutete das Problem, von welchem Kant aU(Mi (»rund hatte, in seinem erwähnten Brief an Marcus Herz zu sagen, dafs es ..in der That den Schlüssel zu dem ganzen (Teheimnisse der bis dahin sich selbst ver- borgenen Metaphysik ausmache" (VIH. (iS!)).

Der Rationalismus beruhte auf der Grundannahnie. es sei najg- lich, den ganzen Inhalt der Erkenntnis analytisch aus blofsen Be- griffen abzuleiten. Dabei kam also gar kein anderes Prinzij) in Frage als der Satz der Identität und der Satz des Widerspruches. Nun ist zwar ebendeshalb das analytische Urteil a j>riori, aber es ist auch rein logisch , ein l)lorses Erläuteiaingsurteil ; es klärt uns zwar über den Inhalt des Begriffes auf, aber es fügt ihm kein

II. Die kritische Naturphilosophie.

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neues Prädikat hinzu, das nicht schon im Subjcdxt selbst enthalten wäre. Der Satz : „alle Kör])er sind ausgedehnt" erweitert unsere Erkenntnis nicht, denn die Ausdehnung geJK'irt so notwendig zum Begriff des Kcirpers, dafs er ohne sie nicht denkb.n- ist. Das synthetische Urteil dagegen ist zwar ein Erweiteiaingsurt^Ml, fügt dem Subjekt thatsächlich einen neuen Begrift" hinzu, wie in dem Satze: ,.alle Kiü'per sind schwer:'' aber es ist, wie Hu nie gezeigt hat, auch gänzlich a ])osteriori und real im Sinne einer Iberein- stimmung mit der Erfahrung nur deshalb, weil es aus der Er- fahrung gewonnen ist. Das analytische Urteil ist nicht das Urteil der Metaj)hysik. denn „ihr ist es gar nicht darum zu thun, iJegriife, die wir uns a j)riori von Dingen machen, blofs zu ziiij^lii'dern und dadurch analytiscli zu erläutern, sondern wir wollen unsere P]r- kenntnis a priori erweitern, wozu wir uns solcher Grundsätze be- dienen müssen, die über den gegeheneji Hegriif etwas liinzutliun" (IIL 40). Das synthetische Urteil al)er geliiü't auch nicht in die Metaphysik, denn diese ist eine Vernunfterkenntnis a })riori.

Giebt es überhaupt synthc^tische Urt(^ile a ])riori? Wenn es keine giebt, diinn giebt es folglich auch keine Metaphysik, keine Naturphilosophie im Sinne einer apriorischen Erkenntnis, dann müssen wir uns mit dem Aggregat von Einzelerkenntnissen be- gnügcMi, das bei seiner blofs synthetischen Natur nicht einmal Wissenschaft heifsen kami. Nun bestand aboT für den I^ationalisten Kant gar kein Zweifel, dafs wenigstens der Mathematik dies.' Khren- bezeichnung in höchstem Mafse zukomme, und das Beis])iel dt^- M;ithematik hatte ihn, wie wir gesehcui haben, (hizu geführt, die A])odiktizität auch gewisse^- allgenu^iner Sätze der Naturwissenschaft gegenüber den Einwänden des Empirismus zu retten. Beine Mathe- matik und reine Naturwissenschaft, wie Kant sie nennt, enthalten beide Sätze, „die teils apodiktisch gewil's durch hlofse Vernunft, teils durch die allgemeine Einstimmung aus der Hilah- rung, und dennoch als von Erfahrun,i( unal)hängig (hrrcligängig erkannt werden. Wir haben also.*' sa^^t Kant in den I^rolegomena" (iTcS;;), „einige wenigstens unbestrittene synthetische Erkenntms a priori und dürfen nicht fragen, ob sie ni(),G:lich sei (denn sie ist wirklich), sondern nur: wie sie moghcli sei. um aus dem Prni/ip der Möglichkeit der gegebenen auch die Mögliclikeit aller übrigen ableiten zu können*' (IV. L>:|). So verwandelt sich die Frage nacli der Übereinstimmung (h'r ai)riorischen und der aposteriorischen Erkenntnis m die andere. (He das Grundproblem der ge- samten Vernunftkritik ausmacht: „Wie sind synthe- tische Urteile a priori möglich?*'

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B. Kant als Naturphilosoph.

II. Die kritische Naturphilüsoi)hie.

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Die Antwort liaben wir früher schon vorweg genommen. „Es sind," lieil'st es in der Kritik der reinen Vernunft, „überhaupt nur zwei Fälle möglich, unter denen synthetische Vorstellung und ihre Gegenstände zusammentrellfen, sich auf einander not- wendigerweise beziehen und gleichsam einander begegnen können: entweder wenn der Gegenstand die Vorstellung oder diese den Gegenstand allein möglich macht. Ist das Erstere, so ist diese Be- ziehung nur em])irisch, und die Vorstellung ist niemals a priori möglich. Ist aber das Zweite, so ist die Vorstellung in Ansehung des Gegenstandes alsdann a priori bestinmiend, wenn durch sie allein es möglich ist, etwas als einen Gegenstand zu erkenneii" (III. 111). Oder wie es an einer andern Stelle heilst: „Es sind nur zwei Wege, auf welciien eine notwendige Übereinstimmung der Erfahrung mit den Begriffen von ihren Gegenstiinden gedacht werden kann : entweder die Erfahrung macht die Begriffe oder diese Be- grilfe machen die Erfahrung möglich. Das Erstere tindet nicht in Ansehung der Kategorieen (auch nicht der reinen sinnlichen An- schauung) statt; denn sie sind Begriffe a priori, mithin unabhängig von der p]rfahrung. Folglich bleibt nur das Zweite übrig, dafs nämlich die Kategorieen von Seiten des Verstandes die Gründe der Möglichkeit aller Erfahrung überhauj»t enthalten*' (13;")). Alle Er- fahrung, so wie sie im Bewufstsein vorhanden ist, „enthält aufser der Anschauung der Sinne, wodurch etwas gegeben wird, noch einen Begriff von einem Gegenstande, der in der Anschauung gegeben wird oder erscheint. Demnach werden Begriffe von Gegen- ständen überhaupt als Bedingungen a priori aller Erfahrungs- erkenntnis zum Grunde liegen ; folglich wird die objektive Gültigkeit der Kategorieen, als Begritfen a })riori, darauf beruhen, dai's durch sie allein Erfahrung (der Form des Denkens nach) möglich sei. Denn alsdann beziehen sie sich notwendigerweise^ und a priori auf Gegenstände der Erfahrung, weil nur vermittelst ihrer ül)erliaupt irgend ein Gegenstand der Erfahrung gedacht werden kann" (112). Sind die reinen Anschauungen, Kaum und Zeit, als Formen der Sinnlichkeit, die notwendigen Bedingungen, unter denen allein uns Gegenstände erscheinen, d. h. empirisch angeschaut und gegeben w^erden kchinen, und mit welchen sie dalier auch not- wendig übereinstimmen müssen, so sind die Kategorieen oder die reinen Formen des Denkens die B e d i n g u n g e n a p r i o r i der Möglichkeit der E r f a h r u n g , weil Erfahrung selbst eine Erkenntnisart ist, die Verstand erfordert, dessen Kegel ich in mir, noch ehe mir Gegenstände gegeben wei'den. mithin a i)riori voraussetzen mufs, welche in Begriilen a priori ausgedrückt wird.

nach denen sich also alle Gegenstände der Erfahrung notwendig richten und mit ihnen übereinstimmen müssen" (IS). Auf den reinen Anschauungen beruht die Möglichkeit der synthetischen Urteile a priori in der Mathematik. Auf den reinen Formen des Denkens beruht es, dafs wir synthetische Urteile a priori über die Gegenstände der Erfahrung machen kcuinen. Der Inbegriff aller Gegenstünde der Erfahrung aber heilst N a t u r (III. 1 9. IV. 44 ). Folg- lich machen die Kategorieen jene reine Naturwissenschaft m()glich, „die a priori und mit aller derjenigen Notwendigkeit, welche zu apodiktischen Sätzen erforderlich ist. Gesetze vorträgt, unter denen die Natur steht" (IV. 44). Weit entfernt, dafs wir alle Natur- gesetze nur aus der Erfahrung entnehmen kihmten und uns mit ihrer hypothetischen Geltung begnüi^^Mi müfsten. mufs die Natur sich vielmehr nach dem Verstände richten, und die Kategorieen sind Begriffe, welche den Erscheinungen, iiiitliin der Natur, als dem Inbegriffe aller Erscheinungen. Gesetze a jjriori vor- schreiben," ohne welche diese selbst nicht m()glich ist (III. 133). „Es ist um nichts befremdlicher, wie die Gesetze der Erschei- nungen in der Natur mit dem Verstände und seiner Form a priori, d. h. seinem Vermr)gen, das Mannigfaltige überhaupt (gemäfs den Kategorieen) zu verbinden, als wie die Erscheinungen selbst mit der Form der sinnlichen Anschauung a priori ühereinstimnien müssen. Denn Gesetze existieren ebenso wenig in den Erscheinungen, sondern nur relativ auf das Subjekt, dem die Erscheinungen inhfirieren, sofern es Verstand hat. als Erscheinungen nicht an sich existieren, sondern nur relativ auf dasselbe Wesen, sofern es Smne hat" (ebd. f.). „Wären die (Gegenstände, womit unsere Erkenntnis zu thun hat, Dinge an sich seihst, so würden wir von diesen gar keine Begriffe a priori haben können. Denn woher sollten wir sie nehmen? Nehmen wir sie vom Oi)jekt, so wären unsere Begriffe blols empirisch und keine Begriffe a priori. Nehmen wir sie aus uns selbst, so kann das, was ))lofs in uns ist, die Beschaffenheit eines von unseren Vor- stellungen unterschiedenen (gegenständes nicht bestimmen, d. h. ein Grund sein, warum es ein Ding geben solle, dem so etwas, als wir in G(Klanken haben, zukomme, und nicht vielmehr alle diese Vor- stellung leer sei. Dagegen, wenn wir es überall mit Erscheinungen zu thun haben, so ist es nicht allein möglich, sondern auch not- wendig, dafs gewisse Begriffe a priori vor der em])irischen Erkenntnis der G'l'genstände vorhergehen. Denn als Erscheinungen machen sie einen Gegenstand aus, der blofs m uns ist. weil eine blofse .Modi- fikation unserer Sinnlichkeit aufser uns gar nicht angetroffen wird" (564). „Erscheinungen sind nur Vorstellungen von Dingen, die nach

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B. Kant als Xat,uri)hilosoph.

dem, was sie an sich sein nKigen, unerkannt sind. Als blofse Vor- stellungen aber stehen sie unter gar keinem Gesetze der Verknüpfung, als demjenigen, welches das verknüpfende Vermögen vorschreibt" (lo4). „So übertrieben, so widersinnig es also auch lautet, zu sagen: der Verstand ist selbst der Quell der Gesetze der Natur und mithin der f ormalen K i nh ei t der Natur, so richtig und dem Gegenstande, nämlich der Erfahi'ung, angemessen ist gleichwohl eine solche Behauptung" {~)^'A). ,.Der reiue Verstand ist in den Kategorieen das Gesetz der synthetischen Feinheit der Er- scheinungen und macht dadurch Erfalirung ihrer Form nach allererst und ursj)rünglich möglich" (r)S4). Eben deshalb ist er nicht blofs ein Vermögen, durch Vergleichung der Erscheiiiun,i,^en sich Regel zu machen, sondern. ,,er ist selbst die Gesetzgebung der Xatur. d. li. ohne Verstand würde es überall nicht Natur, d. h. synthetische Einheit des j\Ianiii«,^faltigen der Erscheinungen nach Eegeln, ge])en"

(58;) vgl. 57(i).

Das ist die ,. veränderte Methode der Denkart", die fundamentale Umkehrung unserer .c^esamten bisherigen Auffassung der Welt, die gewaltigste Kevolution, die jemals ein Denker vollbracht hat, welche Kant selbst mit der That des Copernicus vergleicht. „Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegen- ständen richten; aber alle Versuche, über sie etwas durch Begriffe auszumachen, wodurch unsere Erkenntnisse erweitert würden, gingen unter dieser Voraussetzung zu Nichte. j\Ian versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkonnnen, dafs wir annehmen, die Gegenstünde müssen sich nach unserer Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der ver- langten Möglichkeit einer B]rkenntnis derselben a priori zusannnen- stimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll. Es ist hiermit ebenso als mit den ersten Gedanken des Copernicus bewandt, der, luichdem es mit der Erklärung der Himmelskörper nieht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen mik'.hte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Buhe liefs" (I I f.). Diese Anschauung scheint insbesondere den Naturforschern Schwierigkeiten zu bereiten, insofern sie gewohnt sind, die Natur für ein an sich existierendes Keich von Gegenständen und Begebenheiten anzusehen, welchen sie ])assiv zuzuschauen und deren Gesetze sie demütig zu em])fangen haben, ohne von ihrer Seite etwas hinzuzuthun. Und doch beruht jene Denkart auf dem nämlichen Prinzip, das auch der Naturforscher den Objekten seiner Wissenschaft gegenüber anwendet. „Als G alilei

II. Die kritische Naturphilosophie.

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seine Kugeln die schiefe Fläche mit einer von ihm selbst gewählten Schwere herabrollen, oder Torricelli die Luft ein Gewieht, was er sich zum voraus dem einer ihm bekannten Wassersäule gleich gedacht hatte, tragen liefs. oder in noch sj)äterer Zeit Stahl Metalle in Kalk und diesen wiederum in Metall verwandelte, ind(Mi. er ihm etwas entzog und wiedergab, so ging allen Naturforschern ein Licht auf. Sie begriffen, dafs die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ilirem Entwürfe hervorbringet, dafs sie mit Brin/i])ic'ii ihrer Urteile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur niJtigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten, nicht aber sich allein gleichsam am Leitbande gängeln lassen müsse; denn sonst hängen zufällige, nach keinem vorher entworfenen Plane gemachte Beobach- tungen gar nicht in einem notwendigen Gesetze zusammen, welches doch die Vernunft sucht und bedarf. Die Vernunft nuifs mit ihren Prinzi])ien. nach denen allein übereinkommende Erscheimmgen für Gesetze gelten können, in einer Hand, und mit dem Exp(M'ini(Mit. das sie nach jenem ausdachte, in der anderen an die Natur gehen. zwar um von ihr belehrt zu werden, aber nicht in der (^)u:ilität eines Schülers, der sich alles vorsagen läfst. was der Lehrer will, sondern eines bestallten Richters, der die Zeugen nötigt, auf die Fragen zu antworten, die er ihnen vorle.c^t. Und so hat Physd< die so vorteilhafte Kevolution ihrer Denkart lediglich dem Einfalle zu verdanken, demjt^nigen, was die Vernunft sell)st in die Nalur hmeni- legt, gemäfs dasjenige zu suchen (nicht ihr anzudichten), was sie von dieser lernen mufs. und wovon sie für sich selbst nichts wissen würde. Hierdurch ist die Naturwissenschaft allererst in den sicluTeu Gang einer Wissenschaft .i^^ebracht worden, da sie so viel .hihr- hun(Lrte durch nichts weiter als ein hlofses Herumtappen gewesen

war" (H>)*

Nur dasjenige vermögen wir an den Dingen a ])rioi-i zu er- kennen, was wir vorher selbst in sie legen (1!)). ..Die Ordnung und Kegelmäfsigkeit an den Erscheinun-en. dir wir Natur nennen, hringen wir selbst (unbewufst) hinein, und würden sie auch nicht (bewulster- nuifsen) darin Ünden kihinen. hätten wir sie nicht oder die Natur unseres Gemüts ursprünglich hineingelegt" (r)S2). Wir bildeten uns ein. unser Geist sei eine leere Fläche, auf welche die Zauberlaterne der aufser uns befindlichen Natur ihre Bilder wirlt : jetzt zeigt sich, dafs unser (^eist vielmehr der Sonne gleicht, die aus unerschöpi- licher hülle ihr Licht m den unendlichen Wedtraum hmansstrahlt und Leben. Bewegung und bunte Farbenpracht hervorzaubert. Die ganze Natur ist unser Werk, sowohl die ,Natur m materieller Bedeutung, nämlich der Anschauung nach, als der Inbegrilt der

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Erscheinungen" überhaupt, als auch die „Natur in formell er Be- deutung als der Inbegriff der Regeln, unter denen alle Ersclieinungen stehen müssen, wenn sie in einer P^i-fahrung als verknüpft gedacht werden sollen" (IV. 1)1) vgl. 44 f.). ,. Wir müssen aber empirische Gesetze der Natur, die jederzeit besondere Wahrnehmungen voraussetzen, von den reinen oder allgemeinen Naturgesetzen, welche, ohne dafs besondere Wahrnehmungen zu Grunde liegen, blofs die Bedingungen ihrer notwendigen Vereinigung in einer Erfahrung enthalten, unterscheiden; in Ansehung der letzteren ist Natur und mögliche Erfahrung ganz und gar (4nerlei-' (IV. (kS). r^^'C M()glichkeit der Erfahrung überhaupt ist also zugleich das allge- meine Gesetz der Natur, und die Grundsätze der ersteren sind selbst die Gesetze der letzteren; denn wir kennen (wie gesagt) Natur nicht anders als den Inbegriff der Erscheinungen, d. h. der Vor- stellungen in uns, und können daher das (Jesctz ihrer Verknüpfung nirg<'nd anders als von den (Trundsätzen der X'erknüpfung derselben in uns, d. h. den Bedingungen der notwendigen Vereinigung in einem Bewufstsein, welches die Möglichkeit der Erfahrung ausnuicht, her- nehmen" (IV. i)7). ,:^n( mehre (iresetze aber als die. auf denen eine Natur überhaupt, als Gesetzmiifsigkeit der Klrsclieinungen in Kaum und Zeit, beruht, reicht das reine Verstandesvermögen nicht zu, durch blofse Kategorieen den Erscheinungen a priori Gesetze vorzu- schreiben. Beso n dere Gesetze, weil sie empirisch bestimmte Erschei- nungen betreffen, können davon nicht vollständig abgeleitet werden, ob sie gleich alh^ insgesamt unter jenen stehen. Es mufs F]rfahrung dazu kommen, um die letzteren überhaupt kennen zu lernen; von P]rfahrung aber überhau})t und dem. was als ein Gegenstand derselben erkannt werden kann, geben allein jene Gesetze a priori die Belehrung" (III. KU). Nur auf Erfahrung überhau])t also bezieht sich die reine Naturwissenschaft, und ihren Iidialt bilden die allgemeinen Gesetze der Natur, die durch keine Erfahrung kennen zu lernen sind, weil Erfahrung selbst solcher Gesetze bedarf, die ihrer Möglichkeit a, ))riori zu Grunde liegen. Die Naturwissenschaft im weiteren Sinne dagegen sehliefst auch die empirisch(Mi (besetze in sich ein, und diese ist somit durchaus auf die P]rfahrung angewiesen. „Zwar kihmen empirische (jesetze als solche ihren Ursprung keines- wegs vom reinen Verstände herleiten, sowenig als die unermefsliche iVIannigfaltigkeit der Erscheinungen aus der reinen Form der sinn- lichen Anschauung hinlänglich begriffen werden kann. iVber alle em])iri sehen (besetze sind doch nur besondeVe Be- stimmungen der r (M n e n G e s e t z e d e s Verstandes, unter welchen und nach deren Norm jene allererst möglich sind und die

Erscheinungen eine gesetzliche Form aimehnien, sowie auch alle Erscheinungen, unerachtet der Verschiedenlieit ihrer empirischen Form, dennoch jederzeit den Ikulingungen der reinen Sinnlichkeit gemäfs sein müssen" (III. 583 f.). ,.Ohne Unterschied stehen alle Gesetze der Natur unter höheren (Trundsätzen des Verstandes. ind(^m sie diese nur auf besondere Fälle der P^rscheinung anwenden. Diese allein geben also den Begriff, der die Bedingung und gleichsam den Exponenten zu einer Regel überhaupt enthält: Erfahrung aber gieht den Fall, der unter der Kegel steht" (IIU ![);)).

So gieht es also eine Wissenschaft der Natur, eine not- wendige und vollständige Erkenntnis ihrer Gesetze. „Selbst Naturgesetze, wenn sie als Grundsätze des empirischen Verstandes- gebrauchs betrachtet werden, führen zugleich einen Ausdruck der Notwendigkeit, mithin wenigstens die Vermutung einer i^e- stimmung aus Gründen, die a })riori und vor aller Erfahrung gültig seien, bei sich" (ebd.). Denn „der Verstand schöi)ft seine Gesetze a priori nicht aus der Natur, sond er n schreibt sie dieser vor" (IV. Ö(S). Die Grundsätze imiglicher Erfahrung sind zugleich die allgemeinen Gesetze der Natur, die a ])ri(>ri erkannt werden kiüjuen. Die Vollständigkeit der Erkenntnis aber schreibt sich daher, dafs die. Grundsätze des reinen Verstandes ;iuf den reinen VerstandesbegrifFen oder Kategorieen beruhen und diese es hi/.iou Endes sind, deren Beziehung auf mr.gliche Erfahrung alle reine Verstandeserkenntnis a ])riori ausmacht. Kant aber die Kategorieen. die er, an der Hand der lV)rmalen Logik aus den Urteds- formen entwickelt, in seiner berühmten „Tafel" so vollständig bei- sammen zu haben glaubt, dafs man nur alle ührige apriorische Er- kenntnis davon abzuleiten braucht, um auch in BezuiJ^ auf sie zur Vollständigkeit zu gelangen. Da „gedachte Tafel alle Elementar- begriife des Verstandes vollständig, ja, selbst die Forni eines Systems derselbiMi im menschlichen Verstände enthält, folglich auf alle Momente einer vorhabenden siiekulativen Wissenschal't. ja, sogar ihre Ordnung Anweisung gieht", so wird es also durch sie erst möglich, „den Plan zum Ganzen einer Wissenschaft, sofern sie auf Begriffen a priori beruht, vollständig zu entwerten und sie mathematisch nach bestimmten Prinzipien abzuleiten" (Hl^j. Das „System der Kategorieen macht alle Behandlung (Miies jeden Gegenstandes der reinen Vernunft selbst wiederum systematisch und giebt eine ungezweifelte Anweisung o(hr Leitfaden ab. wie und durch welche Punkte der Untersuchung <le inelaphysischc P>e- trachtung, wenn sie vollständig werden soll, müsse geführt werden; denn es erschöpft alle Momente des Verstandes, unter welche jeder andere Begrilf gebracht werden mufs" (IV. 73).

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Es giebt also eine reine Naturwissenschaft. „Das Systematische, was zur Form einer AV^issenschaft erfordert wird, ist hier vollkommen anzutreffen, weil über die .c^enannteri formalen Bedingungen aller Urteile überhaui)t, mithin aller liegein überhaupt, die die Logik dar- bietet, keine mehr m(>glich sind und diese ein logisches System, die darauf gegründeten Begriffe aber, welche die Bedingungen a priori zu allen synthetischen und notwendigen Urteilen enthalten, eben darum ein transcendentales (d. h. auf Erfahrung gehendes und sie ermöglichendes), endlich die Grundsätze, vermittelst deren alle Er- scheinungen unter diese Begriffe subsumiert werden, ein j)hysiolo- gisches, d. h. ein Natursystem, ausmachen, Avelches vor aller empirischen Naturkenntnis vorhergeht, diese zuerst m()glich macht und daher die eigentliche allgemeine und reine Natur- wissenschaft genannt werden kann" (IV. r)4 f.).

Die ,.physiologischen Grundsätze" des reinen Verstandes, als Inhalt der reinen Naturwissenschaft, drücken diejenigen allgemeinen Bedingungen aus, unter denen alle Gegenstände stehen müssen, um für uns Inhalt der Erfahrung zu werden. Kant hat sie unter dem Titel „Analytik der (Jl ru n d t z(^" vorgetragen, die den bei weitem wichtigsten Teil seiner Kritik der reinen Vernunft aus- macht. Dafs sie sy n t lie t i s che Urteile sein müssen, ist selbst- verständlich, denn nur nut solclien liat es die Vernunftkritik zu thun. Grundsätze aber heifsen jene allgemeinstfMi Naturgesetze nicht blofs deshalb, weil sie die (t runde anderer Urteile in sich enthalten, sondern weil sie selbst nicht in höheren und allgemeineren Erkenntnissen gegründet sind (TIT. 147).

Die Kategorieentafel, in welcher gerade dieser Begriff voran- steht, leitet dazu an, die Erscl Meinungen zunächst unter dem Ge- sichtspunkte der Quantität zu betrachten. Dies führt uns auf die reinen Anschauungen Kaum und Zeit. Wir erinnern uns. dafs alle Erscheinungen insgesamt durch diese Formen gleichsam hin(hirch- gegangen sein müssen, um überhau])t Inhalt unseres Bewufstseins sein zu können, dafs sie diese Formen an sich tragen, selbst räum- licher und zeitliclier Natur sein müssen. Darum lautet din' erste Grundstitz in derjenigen Fassung, die ihm Kant in der zweiten Auflage der Vernunftkritik vom Jahre 17S7 gegeben hat: „Alle A n s c h a u ii n g e n s i n d e x t e n s i v e G r ö f s e n" oder, wie es in der ersten Auflage hiefs: „Alle Ersclieinungen sind ihrer An- schauung nach extensive Gröfsen."

Nur dadurch also empfängt der Inhalt unseres Bewufstseins überhaupt den (Jharakter der P^rscheinung, dafs er uns in den Formen des Raumes und der Zeit sich darstellt. Unsere Sinnlich-

keit zerrt gleichsam das Material der Eui])in)duni]:('ii räumlicli und zeitlich auseinanch^r und bietet es so dem Verstände zur weiteren Bearbeitung dar. Ist aber dies der Fall, dann ist es selbst- verständlich, dafs alle Erscheiiuingen extensive Gröfsen sind, denn dieser letztere Ausdruck bedeutet ja gar nichts Anderes, als was auch schon in dem Begrilf „Erscheinung" enthalten ist. Es mufs dalier billig Wundei' nehmen, den obigen Satz unter den Grund- sätzen des reinen Verstandes aufgeführt zu sehen, ja, es klingt bei- nahe ironisch, wenn Kant ausdrücklich l)eteuert. deiNclbe gäbe unserer Erkenntnis a ])ri()ri „grol'se Erweiterung" (l")iS). Jener Satz ist nichts weniger als ein synthetisches Urteil a ])riori, er ist einfach ein analytisches Urteil, eine leere Tautologie. Was Kant veranlai'st hat, ihn trotzdem unter seine Grundsätze aufzunehmen, das ist die Bedeutung, die er für die mathematische Methode in der Naturwissenschaft l)esitzt. „Denn er ist es allein, welcher die reine jVIathematik in ihrer ganzen iVäzision auf Gegenstände der Erfahrung anwend]>ar macht, welches ohne diesen Grundsatz nicht so von selbst erhellen möchte, ja. auch manchen Widerspruch ver- anlafst hat" (ebd.). Aus diesem Grunde heilst er das Prinzip der Axiome der Anschauung, insofern (hirch ihn die un- mittelhar gewissen (3rrun(lsät/(^ oder Axiome, wiunit die Matlie- matik operiert, erst m()glic)i wiiden. „Die em])irische xVnschauung ist nur durch die reine möglich; was also die Geometrie von dieser sagt, gilt auch ohne Widerrede von jener, und die Aus- flüchte, als wenn Gegenstände dei" Sinne nicht dn\ Hegehi (hn* Konstruktion im Baume (z. B. der unendlichen Teilbarkeit der Linien oder Winkel) gemäfs sein dürfen, mufs we.^falh'U. Denn dadurch s])richt man dem Ilaumc und init ilim zugleich aller Mathe- matik objektive Gültigkeit ;d) und weifs nicht mehr, wai-um und wie weit sie auf P]rscheinungen anzuwenden sei*' (ebd.).

Der obige Grundsatz wiederliolt offenbar nur in anderer Form die Lehre, die schon in der transcendentalen Ästhetik ihren Ausch'uck gefunden hatte, (hifs nämlich von einer uneinge- schränkten Anwendbarkeit der Mathematik auf Gegenstände der Erfahrung nui' dann che Bede sein könne, wenn diese seihst nur Erscheinungen seien. AlsJModilikationen unseres Bewufstseins. müssen sie notwendig unter den formah-n Bedingungen des letzteren stehen, die zugleich die Formen aller mathematischen Erkenntnis hildeii. „Alle Einwürfe dawider siml nur Ghik.-inen einer falsch belehilen Vernunft, die irrigerweise die (legenstände der Sinne von der formalen Bedingung unserer Sinidichkeit loszumachen gedenkt und sie, ol)gleich sie blofs Erscheinungen sind, als Gegenstände an sich

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selbst, (lein Verstände gegeben, vorstellt, in welchem Falle freilich von ihnen n priori gar nichts, mithin auch nicht durch reine Be- grifi'e vom Raum synthetisch erkannt wenlen könnte, und die Wissenschaft, die diese bestimmt, niindich die (iconu^trie, selbst nicht möglich sein wüi-de" (ebd.). ,.Es wird." sagt Kant in den Prolegcmiena, „allemal ein bemerkungswiirdiges Phänomen in der Gescliichte der Philosophie bleiben, dafs es eine Zeit gegeben hat, da selbst Mathematiker, die zugleich Philosophen waren, zwar nicht an der liichtigkeit ihrer geonu'trischen 8iitze, sofern sie l)lofs den llauni beträfen, aber an der objektiven Gültigkeit und Anwen- dung d i eses P) e gri ff es selbst und a 1 1 c i- geometrischen B e s t i m m u n g e n d e r s e 1 b e n auf N a t u r zu zweifeln anfingen, da sie besorgten, eine Linie in der Natur möchte doch wold aus ])hysischen Punkten, mitbin der wahre Kaum im Objekte aus ein- fachen Teilen bestehen, obgleich der Baum, den der (Tcometer in Gedanken hat, daraus keineswegs bestellen kann. Sie ei'kannten nicht, dafs dieser Kaum in Gedanken den i)hysischen. d. h. die Aus(h>hnung der Materie selbst mötglich mache: dafs dieser gar keine Beschaffenheit der Dinge an sich selbst, sondern nui" eine Form unserer sinnlichen Vorstellungskraft sei; dafs alle Geg(4i- stilnde im Baume blofs Erscheinungen, d. h. nicht Dinge an sich selbst, sondern Vorstellungen unser(>r sinnlichen Anschauung seien, und, da der K.aum. wie ibn sich der Geometer deidd, ganz genau die Form der sinnlichen Anschauung ist, die wir a priori in uns finden, und die den Grund der Möglichkeit aller äufseren Krschei- nungen (üirer Form mich) enthält, diese notwendig und auf das Präziseste mit den Sätzen des Geometers, die er aus keinem er- dicbteten Begrilf. sondern aus der subjektiven Grundlage aller äul'seren Erscheinungen, nändicli der Sinnlichkeit selbst zitdit. zu- sammenstimmen müssen. Auf solche und keine andere Art kami der Geometer wider alle Ohikanen einer seicliten Metai)hysik wegen der ungezweifelten objektiven Bealität seiner Sätze gesichei't werden, so befremdend sie auch dieser, weil sie nicht bis zu den (Quellen ihrer Begriffe zurückgeht, scdieinen müssen" (TV. 'U) f.).

Worauf es Kant wesentlicb ankommt, ist, die Natur, als den Inbegriff aller Erscheinungen im Baume, den Gesetzen der räum- lichen Anscliauungsart unterworfen zu s(dien. Es ist aber klar, dafs die matbematische Behandlung der Naturerscheinungen nicht blofs das äufsere Verhältnis der (liegenstände im Kaume, sondern auch ihr Auftreten in der Zeit mit einschliefst; so drückt ja z. B. das wichtige ]\Ionient der Geschwindigkeit iiicbts Anderes aus als das Verhältnis des Weges zur Zeit. Wenn Kant trotzdem nur von der

Eaumanschauung spricht und damit dem Kaum ein(>n Vorzug vor der Zeit giebt, obwohl doch beide, als Anschauungsformen, einander koordiniert sein sollen, so ist der Grund, dafs wold eine reine Wissen- schaft des Kaunies, aber nicht in dem gleichen Sinne auch eine Wissenschaft der Zeit m()glich ist. Es ist dies einer von denjenigen Purikten. welcher gerechte Bedenken gegen die kantische Gleich- stellung der Zeit mit dem Kaum hervorruft, und es ist kein Zufall, dafs Kant in seiner transcendentalen xVsthetik die Parallele in der Be- handlungsweise des Baumes und der Zeit mvht in der irleichen Weise durchgeführt hat. So fehlt z. B. aulfälliger W(dse in der ersten Auflage der Vernunftkritik die ..transcendentale P]rörterung des Begriffs der Zeit," worin Kant, eljenso wie er vorher auf die reine Anschauung des Baumes ,,die Möglichkeit der Geometrie als einer synthetischen Erkenntnis a priori*' gegründet, nun auch, gezeigt hätte, welche Wissenschaft auf der reinen Anschauungsform der Zeit beruht. Es ist zwar nachher insbesondere dundi Schoj)en- hauer und Kuno Fischers Darstellung der kantischen Phihtsophie*) üblich geworden, die Arithmetik als reine Wissenschaft dei- Zeit zur Geometrie in Parallele zu setzen, und K;int selbst hat diese Parallele mehrfach gestreift (z. B. Proleg. S'ij. nulessen scheint er sich hierüber doch nicht völlig klar gewesen zu sein, und keines- wegs s])ielt bei ihm die Aiäthmetik dieselbe grofse Bolle, wie er sie von jeher der Geometrie zuerteilt hat.**) Krst später nach Ab- fassungseiner,. Metaphysischen Aid'aiigsgründeiler Naturwissenschaft." die seine ,.Phoronomie" enthielt, hat Kant auch eine ,.transcenden- tale Erörterung des Begriffs der Zeit*' als besonderen i*aragraplien in seine transcendentale Ästhetik eingefügt, und hier heilst es nach der Bemei'kung. dafs der Begriff der Veränderung inid nnt ihm der Begriff der Bewegung (als Verändeiung des Ortes) nur durch und in der Zeitvorstellung möglich sei : ..Also erklärt unsei- Zeitbegrilf die ]\I()glichkeit so vieler synthetischen Frkenntnis a i)riori, als die allgemeine Bewegungslehre darlegt" (III. (JÖ). Dafs Ka^it in solcher AVeise die Gelegeidieit benutzte, um seiner Phoionomie schon in der Vernunftkritik eine Unterlage zu verschallen und da- mit zugleich die offenbare Lücke in seiner transcendentalen Ästhetik auszufüllen, dies ist ebenso begreiflich, wie es leicht ist, einzusehen, dafs jene Gleichstellung der allgemeinen Bewegungslehre mit der

*j Scho])eiihauor: l"'l)t'i- die 4 fache Wurzel des Satzes vorn zureicheiideu GruiKh' i< :\H. Die Welt als Will<' uiul Vorstellunir Bd. 1. !)0. JI. .V.« i\ K. Fisclier: (lesch. d. neueren Phil. Hd. Hl- :^ Aull. MA. 337. V<rl. dagegen J^'inio Erdnianii: JjOi^ik ( hSl»2). 1. 1"'^ f.

**J C. Th. Michaelis: Üb(>r Kants ZahlheirrilV (lö84j.

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B. Kant als Naturphilosoph.

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reinen Geometrie nicht lialtbiir ist. Denn von der Eewe.crun,c^. welche Raum und Zeit in sich vereini^^t, l)emerkt Kant selbst ausdrücklich, dafs sie die Wahrnehmung von etwas Beweg- lichem voraussetze: ., Im Raum, an sich seihst ])etrachtet. ist nichts Bewegliches; daher das Bewegliche etwas sein mufs, was im J\ a u m e nur durch Erfahrung geliinden wird, mithin ein e m j) i r i s c li es Datum- (III. il). Weder also ist die allgemeine Bewegungslehre eine Wissenschaft hlofs der Zeit, sondern zugh4ch eine solche des Raumes, noch ist sie ,,reine" Wissenschaft, wie die reine Geo- metrie, und damit büfst sie den Anspruch ein. mit dieser auf eine und dieselbe Stufe gestellt zu werden.

Der erste Grundsatz ilriickte die allgemeinste Bedingung aus, unter der überhaupt etwas Gegenstand unseres Bewufstseins sein kann. Ei-scheinungen, als Gegenstände der Wahrnehmung, sind aber niciit l)lofs reine (Idofs formale) Anschauungen, sondern sie enthalten aulser dieser Anschauung noch ,.die ^Materien zu irgend einem Ob- jekt überhaupt (wodurch etwas M\isti(Tendes im ]\aume oder drr Zeit vorgestellt wird), d. i. das Reale der Empfindung, also hlofs subjektive Vorstellung, von der man sich nur bewulst werden kann, dafs das Subjekt afhziert sei. und die man auf ein Objekt überhaupt bezieht, in sich*' (M)^)). Ks müssen Emptindungen als Inhalt zui* Form der reinen Anschauung hinzukommen, damit in unserem Ue- wufstsein ein Inhalt entsteht. Nun ist eine jede Emptiudung einer Verringerung fähig, so dal's sie abnchnuMi und so allmählich ver- schwinden kann. Die Emj)iindung in einem Augenblick entsteht nicht durch successive Svnthesis vieler Emj)findungen. sie ist nicht blofse Zusammensetzung eines Gleichartigen, wie die extensive Gröfse, sondern sie wird als Kinheit apprehendiert. und die Vielheit oder Verschiedenheit entsteht nur durch Annäherung zur Negation -= 0; d. h. es wird ihr ,,zwar keine extensive, aber doch eine Gröfse, also eine intensive (4röfse zukommen, welcher korres])ouilierend allen Ol)jekt(Mi der Wahrnehmung, sofern diese Emplindung enthält, intensive Grbfse. d. i. (unGrad des p]influsses auf den Sinn beigelegt werden mufs" (ebd.). „In allen K r s c h e i n u n ge n hat das Reale, was ein Gegenstand der Rmi)findung ist, intensive GriU'se, d. i. einen (irad." In der ersten Auflage hiefs es: ,,In allen Erscheinungen hat die p]mptindung und das ixeale, welches ihr an dem Gegenstande entspricht frealitas jdiaenomenon) eine inttuisive (iriU'se. d. i. einen Grad*' ( l^S).

Hat der erste Grundsatz alle Gegenstände der äufseren An- schauung oder die räumliche Natur der mathematischen Bestimm- barkeit zugänglich gemacht, so scheint es. als ob nun dieser zweite

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Satz, indem er die inneren Erscheinungen, die lediglich in der zeitlichen Aufeinanderfolge gegeben sind, als der ^Messung fähige Gröfsen darzustellen sucht, die Anwendung der Arithmetik auf die Emptindungen gestatte und damit vielhäclit auch eine mathematische Psychologie (mathesis intensorum) möglich madie. Kant führt ihn auf die Kategorie der Qualität zurück, obwohl es sich auch hier um Grbfsen handelt. Er stützt sich dabei auf die rein zu- fällige Beziehung der Ausdrücke Realität und Negation, die in der Kategorieentafel unter den Begriff der (Qualität befafst wercU^n.

Realität ist dasjenige, was in der em])irischen Anschauung der Empfindung korres})ondiert; Negation dasjenige, was dem Mangel derselben entspricht (l(jO). Demnach besteht zwischen Realität (Emj)findungsvorstellung) und der Null, d. h. dem gänzlich Leeren der Anschauung in der Zeit, ein Unterschied, der eine GnUse hat. ,,da nämlich zwischen einem jeden Grade Licht und der Eiiibteruis, zwischen einem jeden Grade Wärme und der gänzlichen Kälte, jedem Grade der Schwere und der absoluten Leichtigkeit, jedem Grade der Erfüllung des Raumes und dem viillig leeren Räume immer noch kleinere Grade gedacht werden kr>nnen. so wie selbst zwischen einem Bewufstsein und dem völligen Unbewufstsein (psychologischer Dunkelheit) immer noch kleinere stattfinden; dabei- keine W^ahr- nehmung möglich ist, welche einen absoluten Mangel bewiese, z. B. keine ])sychologische Dunkelheit, die nicht als ein Bewufstsein be- trachtet werden könnte, welches nur von anderem stärkeren über- wogen wird, und so in allen Fällen d(^r Em])lln(lung. weswegen der Verstand sog^ar Kni])findungen, welche die eigentliche Qualität der empirischen Vorstellung ausmachen, antizipieren kann vermittelst des Grundsatzes, dafs sie alle insgesamt, mithin das Reale aller Erscheinungen Grade habe, welches die zweite Anwendung der Mathematik (mathesis intensorum) auf Naturwissenschaft ist'" (IV. of). vgl. r)(S). .,So werde ich z. B. den Grad der Emi)iinduugen des Sonnenlichts aus etwa LH)ü,()0() Erleuchtungen durch den Mond zu- sammensetzen und a priori bestimmt geben, d. li. konstruieren

köniRur^ (III. 167).

Es ist sehr eigentündich, wenn Kant uns einzureden sucht, dieser Grundsatz sei a priori gefunden. Er bezeichnet ihn im Unter- schiede von dem Axiome der Anschauung als Prinzip der Anti- zipationen der Wahrnehmung, insofern ,.alle Erkenntnis, wodurch ich dasjenige, was zur empirischen Erkenntnis gehört, a priori er- kennen und bestimmen kann, eine Antizipation" genannt werden k.lnne. Indessen mufs er selbst zugeben : „Da an den Erscheinungen etwas ist, was niemals a priori erkannt werden kann und welches daher auch

D r e w s , Kuntt Naturphilosophie. ^^

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den eigentlichen ITnterschied des Empirischen von der Erkenntnis a priori ausmaclit. nändieh die Enipfindun- (als Materie der AVahr- nehniun.i.^), so folgt, dai's diese es eigentlich sei, was gar nicht antizipiert werden kann. Gesetzt aher, es finde sich doch etwas, was sich an jener Empfindung als Empfindung überliau])t (ohne dafs eine besondere gegeben sein mag), a priori erkennen läfst, so würde dieses im ausnehmenden Verstände Antizipation genannt zu werden ver- dienen, weil es befremdlich scheint, der p]rfahrung in demjenigen vorzugreifen, was gerade die Materie derselhen angeht, die man nur aus ihr schiipfen kann'' (111. ir)llf.). ^'un hat aber Kant selbst an ein solches Etwas nicht geglaubt, denn er vermag die Bemerkung nicht zu unterdrücken: ,,Es hat gleichwohl diese Antizipation der AVahrnehmung liir einen der transcendentalen Betrachtung ge- wohnten und dadurch behutsam gewordenen Naturforscher immer etwas Auffallendes an sich und erregt darin)er einiges Be- denken, dafs der Verstand einen dergleichen synthetischen Satz, als der von dem Grade alles Ixealen in der Erscheinung ist. und mithin d(^r Möglichkeit des ir.neren Unterschiedes der Emplindung selbst, wenn man von ihrer empirischen (^)ualität abstrahiert, anti- zi])iert" (1()4). Ein sehr gerechtfertigtes Bedenken, da. dei' in Krage kommende Satz durchaus nicht a juiori ist. Dal's die Kmplindung einen veränderlichen Grad besitzt, der bis zui Null herabgehen und von ihr wiederum em])orsteigen kann, ist offenbar ein (hircli und chirch aposteriorisches l'rteil ; es beruht nur unfeiner Vergleichung der verschiedenen Em])findungen unter einander. Oh der Eni])llndung. die als solche doch nur subjektiv ist. ein lleales im Gegenstände korresixtndiert, das ist aus apriorischen Gründen erst recht nicht einzu- sehen, es kann nur durch die Erfahrung erkannt werden und bhabt daher stets blofs Hypothese. Es ist daher nicht richtig, wenn Kant sagt: „Alle Empfindungen werden als solche zwar nui- a ])osteriori gegeben, aber die Eigenschaft derselben, dals sie einen (^rad haheii. kann a priori erkannt werden" (K);")). Sie kami so wenig a p^riori, d. h. in diesem Falle abgesehen von aller und jeden i'ealen Basis. (>rkannt werden, wie es überhaupt möglich ist. eine Abstraktion zu machen, ohne etwas zu haben, von dem man abstrahiert. Der zweite sogenannte Grundsatz Kants ist also zwar allenfalls syn- thetisch, aber er ist durcJi und durch (mii)irischer Natur.

,.[n allen Erscheinungen hat das Beah«, was ein Gegenstand der Empfindung ist. intensive GWH'se. d. i. einen Grad." Ist es nicht auffällig, dafs Kant die intensive Gri.lse der Empfindung unmittelbar auch auf das ihr korresi)ondierende lleale überträgt? Die intensive Gröfse ist doch ilirer Definition nach nur ein Moment in

der nlealen Sphäre des Bewufstseins ; es scheint keineswegs gerecht- fertiirt zu sein, sie ohne Weiteres auch dem Ohiekt. dem Gejien- Stande der äufseren Sinne. zuzuschriMben. Selbst ein so eifriger Apcdoget der kantischen Philosophie, wie Stadler, kann sich nicht verhehlen, dafs Kant ,.einer verhänfrnisvollen Unkhirheit Vorschub geleistet" habe, wenn er das reale Koi-relat der Emplindung einfach als intensive Gröfse bezeichnet.*) Das Reale ist docdi nicht uii- niittelhar auch die Empfindung, sondern deren Korndat, genauer die ITrsaclie derselhen. Kant gesteht ja seihst: ..Wenn man diese Kealität als Ursache (es sei der Emplindung oder anderer Idealität in der Erscheinung, z. B. einer \eränderung) betrachtet, so nennt man den Grad der Kealität als Ursache ein ^Moment, z. B. dns Monient der Schwere" (ll>(n. Damit ist also zugi^geben : die Km- l>tindung und das ihr korresj)ondierende Reale sind zum mindesten so verschieden, wie Ursache und Wirkung, womit, wenn es wahr ist, dafs dei- Schlafs von dw AVirkung auf die Ursache immer unsicher bU'ibt, es doch wohl ausgeschlossen scheint, der realen Ursaclie der Em])hndung die Eigenschaft der unmittdhar ucgehenen EmpHndung beizulegen. Indessen wird sicli zeigen. d;ifs für Kunt das ]\eale thatsächlich mit der F]mptindung zusammenfiillt. und daher ist es auch nicht ein blofser Zufall, wenn er schon in der Eormuliei'ung jinies Grundsatzes don Unterscdiied zwischen der Em])iindung und ihrem realen Korrelate verwischt.

Indem niindich Kant d;\s l^^ale mit (h^r Fhn])ilnduiig identifiziert, kehrt sich für ihn das ganze Verhältnis um. wie es bis dahin zwischen jenen beiden (.Tcgensätzen bestanden hatte, und die Be.dität tritt in nnmittelbare Abhängigkeit vom Suhj<dvt. Friihei- war sie die ursprünglichste» Bestimmung der (Tegenstiinde als Dingen an sich selbst gewesen, es hatte an den (legenständen, als aulserhalh des Subjekts befindlichen, gelegen, ob sie uns warm oder kalt, hell oder dunkel u. s. w. erscheinen. Nunmehr sind alle diese scheiidiaren Unterschi(^dc der Realität blofs noch im und am Suhjekt vorhanden : nur deshalh ist d'ws imstamle. jene Unterschiede zu aiitizipiei'en. weil die Realität üherhaujit nur sein eigenes l^rodukt ist. ,. Das Reale dvv Empfindung ist blofs subjektive \'orstellung. von der man sidi nur bewufst wei'den kann, dals das Subjekt afti/iert sei, und die man auf ein Objekt überhaupt bezieht" (If)!!). Wenn wir also von verschiedenen Graden dvs idealen reden, so sprechen wir damit nicht von Dingen an sich selbst denn von diesen wissen wir nichts und keinnen sie also auch nicht nu'inen, sondern wir

') Stadler: Kants Theorie der 3Iaterie. 59.

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konstatieren nur, daCs unsere unbewufste Vorstellun^stluitigkeit die Erscheinungen in v(»rschiedenen Abstufungen der Intensität in unser Bewufstsein projiziert, während die extensive GriW'se der Anschauung bei allen äufseren Erscheinungen immer eine und dieselbe bleibt.

In seiner Schrift über die negativen GniCsen hatte Kant aus- einandergesetzt, dafs die negative GrcU'se keinen oVIangel an Realität, sondern eine entgegengesetzte Kealität bezeichne. Jetzt wird aus der Thatsache, dafs alle Realität in der Wahrnehmung einen Grad hat, zwischen dem und der Negation eine unendliche Stufenfolge immer minderer Grade stattfindet und gleichwohl jeder Sinn einen bestimmten Grad der Rcv.eptivität der Rmplindiingcn haben mufs, geschlossen, es sei keine Wahrnehmung und mithin auch keine Erfahrung möglich, die einen gänzlichen ]\I;ingel alles Realen in der Erscheinung, es sei mittelbar oder unmittelbar bewiese. In beiden Fällen handelt es sich darum. Vorgängen, sowohl physischer, wie psychischer Natur, welche der Rationalismus in blofs logische Be- ziehungen glaubte, verlUichtigen zu kiHinen. den Charakter der vollsten Realität zu wahren, auch dann noch, wenn sie dem unmittel- baren Bewulstsein mit einem jVIangel an Realität behaftet oder überhaupt nicht zu existieren scheinen. Der obige Grundsatz drückt also nur die ins Subjektive verkehrte Wahrheit der Schrift über die negativen Gröfsen aus. dals es keinen absoluten Mangel an Realität, kein absolutes Aufiir»ren der Thätigkeit im Dasein giel)t, worauf und deren IVloditikatioiu-n eben dieses Sein beruht. Es kann einen solchen absoluten IVlangel einfach deshalb nicht geben, weil jene Thätigkeit. welche das Dasein erzeugt, die Thätigkeit des vorstellenden Subjekts ist, und dtis Vernu)gen der Vorstellungen oder der Verstand sich selbst aufgäbe, wenn er sein Funktionieren gänzlich einstellen würde. Solange es einen funktionierenden Verstand giebt, solange giebt es auch Dasein, Realität. W^is auf rati(»nalistischein Stand- punkt, wie die Ruhe, als ein Mangel an Realität erscheint, ist also nur eine subjektive Auffassung unseres Bewufstseins, wie sich dies sofort uns offenbaren würde, wenn unser Bewufstsein für höhere Grade der Intensität emplanglich wäre.

Ist nun der Grundsatz richtig, dann ,.kann aus der Erfahrung niemals ein Beweis vom leeren Räume oder einer leeren Zeit gezogen werden. Denn der gänzliche Mangel des Realen in der sinnlichen Anschauung kann erstlich seihst nicht wahrgenommen werden (weil die reine Anschauung nur in und an der empirischen möglich ist), zweitens kann er aus keiner einzigen Erscheinung und dem Unter- schiede des Grades ihrer Realität gefolgert, oder darf auch zur Kr- klärung desselben niemals angenommen werden. Beinahe alle Natur-

lehrer, da sie einen grofsen Unterschied der (^)ualität der Materie von verschiedener Art unter gleichem Volumen (teils durch das Moment der Schwere oder des GeW'ichts, teils durch das Moment des AV'iderstandes gegen andere bewegte Materien wahrnehmen, schliefsen daraus einstimmig: dieses Volumen (extensive Gn'H'se der Erscheinung) müsse in allen Materien, obzwar in verschiedenem Mafse, leer sein. Wer hätte aber von diesen gröfstentheils mathematischen und mecha- nischen Naturforschern sich wohl jemals einfallen lassen, dafs sie diesen ihren Schlufs lediglich auf eine metaphysische Voraussetzung, welche sie doch so sehr zu vermeiden vorgeben, griiiidelen. indem sie annahmen, dafs das Reale im Räume allerwärts einerlei sei und sich nur der extensiven Gr()fse. d. h. der ]\Ienge nach, unterscheiden krmne? Dieser Voraussetzung," sagt Kant, „dazu sie keinen Grund in der Erfahrung haben konnten, und die also blofs metaphysisch ist. setze ich einen transcendentalen Beweis entgegen, der zwar den Unterschied in der Erfüllung der Räunu^ nicht erklären soll, aber doch die vermeinte Notwendigkeit jener Voraussetzung, gedachten Unterschied nicht anders als durch anzunehmende leere Räume erklären zu können, völlig aufbebt und das Verdienst hat. den Verstand wenigstens in F rei he it z u versetze n . sich diese Verschiedenhoit auch auf andere Art zu denken, wenn die Xaturerklärung hierzu irgend eine Hypothese notwendig machen sollte^' (HVM.). Hat nämlich jedes Reale, das zu einem bestimmten (^)uantum von Materie gehört, seinen Grad, der ohne Verminderung der extensiven Gröfse oder Menge unendlich klein sein kann, so kann eine Ausspannung, die einen Raum erfüllt, z. B. Wärme, ohne im mindesten den kleinsten Teil dieses Raumes leer zu lassen, in ihren Graden ins Unendliche abnehnnni und nichts desto weniger d(ui Raum mit diesen kleineren Graden el)enso wohl erfüllen, als eine andere Ersclieinung mit gröfseren : oder mit anderen Worten: der Unterschied im Gewicht u. s. w. zweier gleidi grofsen Körper beruht dann nicht mehr auf ihrem verschiedenen Gehalt von Materie (Realem), sondern auf der Verschiedenheit der Intensität, womit sich diese an der Konstituierung der betretfenden Kr,r|.er beteiligt. ,.Meine A])sicht-', fügt Kant ausdrückhch binzu, „ist bi-r keineswegs, zu behaupten, dafs dieses wirklich mit der Verschiedenheit der ]yraterie ihrer spezifischen S('hwere nach so bewandt sei. son^lern nur aus einem Grundsatze des reinen Verstandes darzutbun, dals die Natur unserer Wahrnehmungen eine solche Erklärungsart möglich mache, und dafs man fidschlich das Reale der Erscheinung dem Grade nach als gleich und nur der Aggregation und deren extensiven Grr)fse nach als verschieden annehme, und dieses sogar vorgeblicher- mafsen durch einen Grundsatz des Verstandes a priori behaupte'' (U>4).

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B. Kant als Naturphilosopli.

II. Die kritische Naturphilosophie.

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Die Ei^^eii Schaft der Grörsni, wonach an ihnen kein Teil der kleinstni()f]^liche (kein Teil cintach) ist, heilst die K o n t i n u i t iit der- selhen. J^inm und Zeit sind solche qnanta continua. weil kein Teil von ihnen «i^egehen werden kann, ohne zwischen Grenzen (Punkten und Augenhlicken) eingeschlossen zu sein, mithin nur so. dafs dieser Teil selbst wiederum ein liaum oder eine Zeit ist. Bedenkt man, dafs Raum und Zeit die notwendigen Formen aller Erschei- nungen sind, so sind demnach alle Erscheinungen überhaupt kontinuierliche (iriWsen, sowohl ihrer Anschauung nach als extensive, als auch der inneren Wahrnehmung (Empfindung und mithin Kealitiit) nach als intensive GiiUsen (Mil). und nur weil sie dies sind, ist die gesamte Natur (h'i- Mathematik /ug.'inglich. und dürfen wir der B(^sorgnis enthoben sein, es kTuinte uns jemals eine p]rscheinung aufstofsen, die sich in das einmal gewonnene Weltbild nicht einlügen liefsc.

Weil die obigen beiden Grundsätze die Gesamtheit aller Er- scheinungen der Messung und Bereclinung zugänglich machen, so werden sie von Kant auch als „Grundsätze der Anwendung der JVlathematik auf Naturwissenschaft" (IV. r)S) oder kurzweg als „mathematische (Trundsätze" hczeii'hnet. Sie gehen auf Er- scheinungen i h r e r b 1 o f s e n M ö g 1 i c h k e i t n a c ii und lehren, wie dieselben, sowohl ihrer Anschauung, als dem Realen ilirer Wahrnehmung nach, gemäfs den Reg(dn einer mathematischen Synthesis erzeugt werden kTtiinen, d. h. sie sind konstitutive (iliundsätze des reinen Verstandes. I)i<' nun folgendt n Grundsätze machen nicht sell)st gleichsam die Erscheinuiiu:en erst mijglich. sondern sie bringen nur ihr Dasein a priori unter Regeln. Da sie also nur auf das V (m- h ä 1 1 n i s dt's Daseins sich beziehen, so kiunien sie folglich blol's regulative l*rinzipien sein. Kant bezeichnet sie im Unterschiede von den mathematischen atich als ..dynamische" Grundsätze, nicht als ob hei ihnen irgendwie ;in eine (physische) Dynamik zu denken sei, sondern weil sie ilie Ver-bindum;- des Daseins des JVIanni/^faltigen betreffen (IT).')), und zwar indem sie einer jeden Erscheinung ihre Stelle in der Zeil und ihr Verhältnis zu diestn' bestimmen.

,.Da Erfahrung eine Erkenntnis der O 1) j e k t e durch Wahr- nehmungen ist, folglich das Verhältnis im Dasein des Mannigi'altigen, nicht wie es in der Zeit zusammengestellt wiril, sondern wie es ob- j e k t i V i n d e r Z e i t ist, in ihr vorgestellt werden soll, die Zeit selbst aber nicht wahrgenommen werden kann, so kann die Bestimmung der Existenz der Objekte in der Zeit nur durcdi (he Verbindung in (h'r Zeit überhaupt^ mithin nur durch a priori verknüpfende Begritfe geschehen''

(1()5f.). Es mufs gewisse Regeln gelten, die nicht sowohl die An- schauungen als solche erst erzeugen, sondern die Verknüpfung ihres Daseins in einer Erfahrun,c^ betreffen : diese können nichts Anderes als die Bestimmung d e r E x i s t e n z i n d er Zeit n a c h notwendigen Gesetze n sein, unter denen sie allein objektiv 'Miltiüf sind, mithin Erfahrung bilden. Jene allgemeinen (Tcsetze enthalten also die N o t w e n d i g k e i t d e r B e s t i m m u n g d (^ s Da- seins in der Zeit ül)erhaupt, wenn die empirische Be- stimmung in der relativen Zeit objektiv gültig, mithin Eifahrung sein soll (IV. r)S). Kant nennt sie ,.Analogieen der Erfah- rung." „In der Philosophie bedeuten Analogieen etwas sehr Ver- schiedenes von demjenigen, was sie in der ^Mathematik vorstellen. In dieser sind es Formeln, welche die Gleichheit zweier Grr)fsen- verhiiltnisse aussagen und jederzeit konstitutiv, so dafs. wenn zwei Glieder der Proportir)n gegeben sind, auch das dritte dadiu\'h gc- 'reben wird. d. h. konstruiert werden kann. In der Bhilosojdiie aber ist die Analo^de nicht die (ileichheit zweier (luantitativen. sondern (lualitativen Verhältnisse, wo ich aus drei geg.'benen Gliedern nur das Verhältnis zu einem vierten, niclit aber dieses vierte Glied selbst erkennen und a ])riori gtben kann, wohl aber eine Regel habe, es in der Erfahrung zu suchen, und ein Meik- mal, es in derselben aulzufinden. Eine Analogie der Ertahrung wird also nur eine Regel sein, nach welcher aus AValirnelmiungen Einheit der Erlahrung (nicht wie Wahrnehmung selbst als em- pirische Anschauung überhaupt) entsju-ingen soll, und als (Truudsatz von den Gegenständen (der Erscheinungen) nicht konstitutiv, sondern

blofs regulativ gelten'' (IGT f.).

„Erfahrung ist nur durch die Vorstellung einer notwendigen Verknüptung der Wahrnehmungen mög- lich'' oder, wie es in der ersten Auflage der Vernunltkritik heifst: „alle Erscheinungen stehen ihrmi Dasein nach a priori unter Re-eln der Bestimmung ihres Ver- hältnisses unter einander in einer Zeit" das ist der allgemeine Grundsatz, der lür samthehe An;dn,meen der Erfahrun- gilt. Nun sind die nindi der Zeit Beharrlichkeit. Folge undZuoleichsein; fcdglich wird es drei Regeln alUn« Zeitverhitltnisse der Erscheinungen geben, die aller Erfahrung vorangehen und, indem sie einer jeden Erscheinung ihr DascMU in der Zeit be- stimmen, selb.t die Erfahrung, d. h. einen vernünttigen Zu- sammenhang aller Erscheinungen in der Zeit, er.t^mr^ghch machen

''\)er ersten Analogie <ler Erfahrung oder dem Grundsatz

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B. Kant als Naturphilosoph.

II. Die kritische Naturphilosophie.

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der Beharrlichkeit der Substanz, der sich aus der Kate- gorie der Substantialität ergeben soll, ist von Kant die verschieden- artigste Fassung gegeben worden. In der ersten Auflage lautet er : ,. A 1 1 e E r s c h e i n u n gen e n t h [i 1 1 e n das Beharrliche (Substanz) als den Gegenstand selbst und das Wän- de 1 b a i' e als dessen b 1 o f s e Bestimmung, d . h . eine Art, wie der Gegenstand existiert." In der zweiten Aui läge heilst es : ,, B e i alle m Wechsel der E) r s c h e i n u n g e n b e - harrt die Substanz, und das Quantum derselben wird in der K a t u r w e d e r v e r m ehrt, n o c; h v e r m i n d e r t" (!(){)). Aber auch diese Fassung genügt Kant nicht, und er S])richt densel})en Grundsatz ,, bestimmter" dahin aus: ..Bei allen Ver- ä n d e r u n gen i n d e r W e 1 1 bleibt d i e' S u b s t a n z . und n u r die A c c i d e n z e n Wechsel n" (1 T 1 ), insofern unter den letzteren die Bestimmungen einer Substanz verstanden werden müssen, die nichts Anderes als besondere Arten derselben zu existieren sind (172). Der Grund dieser verschiedenen Fassungen ist klar: Kant will den Satz als ein synthetisches Urteil a j)riori hinstellen, weil luir darin seine Bedeutung als eines Grundsatzes des reinen Verstandes beruhen soll; der Grundsatz der Beharrlichkeit der Substanz aber ist analytisch, ja, sogar eine blofse Tautologie. Es ist ja selbst- verstiindlich. dafs, wenn man das Beharrliche in allem AVechsel der Erscheinungen oder das lleale in der Erscheinung, was als Substrat alles \V\H*.hsels innner dasselbe l)leibt. als Substanz bezeichnet, dafs dann die Substanz, als der ,.(Tegenstand selbst," auch in allem AVechsel beharren und folglich das Wandelbare als seine blofse ,,Bestimmung" existieren mufs. ,. Wir können." sagt Kant, „einer Erscheinung nur dabei- den Namen Substanz geben, weil wir ihr Dasein zu aller Zeit voraussetzen" (171): und an einer andern Stelle wird ausdrücklich die Beharrlichkeit als ein „wesentliches und eigen- tündiches Kennzeichen dei* Substanz" bezeichnet (1<^4). Was Ideibt dann von "diesem „so synthetischen" Satz noch übrig, wenn er sich hiermit als eine blofse Definition enti)uj)|)t hat? „In der That," gesteht Kant selbst, „ist der Satz: dal's die Substanz be- harrlich sei, t a u t o l o g i s c h. (!) Denn blofs die Beharrlichkeit ist der Grund, ;^. warum wir auf die Erscheinung die Kategorie der Substanz anwenden" (171). Warum aber dann den Satz an die „Spitze der reinen und völlig a i)riori bestehenden Gesetze der Natur" stellen, die Natur seihst erst möglich machen? man müfste denn etwa behaujjten. „dafs in allen Erscheinungen etwas Beharrliches sei (nändich die Materie resj). das Ich), an welchem das Wandelbare nichts als Bestimmung seines Daseins ist*' (171).

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Dies ist aber wiederum nicht, wie Kant will, durch einen ..trans- cendentalen Beweis" a priori zu erhiirteri. sondern nur a posteriori aus der Erfahrung zu entnehmen, worin allein uns die Materie und das Ich gegeben sind.

„Ich finde." sagt Kant, „dafs zu allen Zeiten nicht blofs der Philosoph, sondern selbst der gemeine Verstnnd die Beharrlichkeit als ein Substrat alles Wechsels der Erscheinungen vorausgesetzt haben und auch jederzeit als ungezweifelt annehmen werden. P]in Philosoph wurde gefragt: wie viel wiegt der Hauch? Er antwortete: ziehe von dem Gewicht des verbrannten Holzes das Gewicht der übrigbhnbenden Asche ab, so hast du das (Trewicht des Hauches. Er setzte also unwidersprechlich voraus, dafs selbst im Feuer die Materie (Substanz) nicht vergehe, sondei'u nur die F'orni derselben eine Ahiind(^rung erleide. Ehenso war der Satz: aus nichts wii-d nichts, nur ein anderei- Folgesatz aus dem Grundsätze^ der Beharr- lichkeit oder viehnehr des immerwiUirenden Daseins des eigentlichen Subjektes an den Erscheinungen" (17nf.). Schon diese allgemeine Übereinstimmung ist für Kant ein (irund. den a])riorischen Urspiaing jenes Satzes zu beliau])ten. Denn aus der F^rfalirung kann er „nimmermehr" gezogen werden, „teils weil sie die ]\laterien (Sub- stanzen) bei allen ihren Veränderungen und Aufhisungen nicht so weit verfolgen kann, um den Stofi" immer unvermindeit anzu- treffen, teils weil der (^rundsatz Notwendigkeit enthält, die jeder- zeit das Zeichen eines Prinzi])s a prioi-i ist" (IV. (S4). HierlxM wird sich nun freilich ein Enipii'ist schwei'lich beruhigen. Er wird mit Laas sagen, ein Anderes sei es, die Notwendigkeit nicht nach- weisen zu kchnien, ein Anderes zu behaupten, dal's sie in der Natur nicht liege.*) Für den Rationalisten Kant fällt beides zusammen, und weil sie nicht anders nachgewiesen werden kann, als wenn jener Grundsatz der Beharrlichkeit auch a ])riori und seihst eine Be- dingung der i\lr)glichkeit der Erfahrung ist. so leugnet er, dafs jener aus der Erfahrung abstrahiert sei. Thatsiichlicli liat ja der Satz von der Konstanz der Mat(>rie den Charakter eines all- gemeinen Naturgesetzes erst erhalten, seitdem er in unserm dahr- hund(>rt durch das Experiment bestätigt worden: er ist mithin nur das Ergebnis methodisch njesammeltei- Erfahrungen. Kant da- gegen hatte ein besonderes Interesse daran, diesen ii'w <h'e ganze Naturerkenntnis so bedeutsamen Satz duicli einen transcendentalen Beweis sicher zu stellen und daber konnte er sich so vrdlig gegen die Unmöglichkeit dieser Absicht verblenden.

*) Laas: Kants Analogieen der Erfalirung (187G). 133.

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B. Kaut als Naturphilosoph.

II. Die kritische Naturphilosophie.

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Ks lie^^t ja nämlich auf der Hand, da ('s di<' .Alaterie, deren absolute Unvernielirbarkeit und Unvennind('r])jirkeit Kant aus dem Begriffe der Substanz beweisen will, die als beharrlich angenommene Substanz nicht ist und daher an den Prädikaten auch keinen An- teil haben kann, welche sieh aus der liehai'rlichkeit ergeben. Sub- stanz soll das absolut Beharrliche sein, das sich im Wechsel seiner Zustünde erbiilt, unentsta.nden und unvergänglich ist. Die Materie aber ist blofs relativ l)eharrlich. denn was wir an ihr kennen, sind lauter V e r b äl t n i s s e. ,. FreiHch macht es stutzig, zu hören, dal's ein Ding ganz und gar aus Verhiiltnissen bestehen solle; aber ein solches Ding ist auch blol's I^] r schei n un g und kann g a r n i c h t d u r c h r e ine K a t e g o v i e e n g e d a c h t w e r d e n : es besteht selbst in dem bloi'sen Verhältnisse von etwas über- haupt zu den Sinnen'' (III. '2:\U). Wo bleibt hier die Beharrlicli- keit? Sie rückt aus dei- immanenten Welt der Erscheinung in die ihr zu (Irunde liegende transcendente Welt hinaus; von der blois sul)jektiven Erscheinung der Materie mufs sie übertragen werden auf das Ding an sich dieser Erscheinung: denn, wie Kant seU)st von den Verhältnissen bemerkt: ,,Es sind darunter auch selbständige und beharrUche, dadurch uns ein bestimmter Gegenstand gegeben wird" ((d)d.). Mit andern Worten: nicht die Materie ist Substanz Materie ist ))lors subjektiver RA-[)räsentant der Substanz für unser IJewulstsein. sie ist nur ,.Substanz in der Ersehcinung" (Mül). ])hänomenale Substanz (substantia pliaenomenon). Ehen diesen (Cha- rakter erhält sie erst durch ihre Bezogenheit zur eigentlichen Sub- stanz. Die eigentliche und wahi'c Substanz jedoch liegt jenseits des Bewulstsems: (bis aber ist die inteUigible Substanz.

So drängt also gerade die Betrachtung des Substanzbegriffes das Denk(>n über die Sphäre der Subjektivität hinaus und zwingt es, in der Welt des Intelliiiiblen den (irund dafür zu sueheii. dals es in der P^.rscheinungswelt ein relativ Beharrliches giebt. Kant dagegen sucht umgekehrt die inteUigible Substanz in das Subjekt hereinzuziehen, w(m1 er nur so ihre Bestimmungen für die Erschei- nungswelt ausbeuten kann. Er si-tzt die relativ beharrliche Materie auf den Thron der eigentlichen absolut beharrlichen Sul)stanz und schmückt sie unherechtigter Weise mit den Prädikaten der letzteren, obwohl doch diese Prädikate für sie ganz und gar nicht passen, weil sie dazu als Erscheinung viel zu luftig ist. Kant hat ganz recht: die zeitliche Reihenfolge der Erscheinungen kihinte nicht wahrgenommen werden, und folglich würde Erfahrung auch nicht mi »glich sein, wenn es nicht ein J>eharrliches im Weichsel gäbe. Aber er kommt nur dadurch dazu, dieses Beharrliche für ein blofs

Subjektives zu halten und es innerhalb der subjektiven Sphäre zu einem absoluten aul'zubauschen, weil er jene apriorische Erwägung sofort auf die subjektive Ei'scheinung r1( r doch blofs relativ kon- stanten ]\Iaterie beziidit. Damit versperrt er sich jedoch die Ein- sicht, dafs das eigentlich oder absolut JJeharrliche hinter der Ei- scheinungsgrenze liegen müsse. Ist tiie Materie das IJehariliche im Wechsel, welches Erfahrung erst m( »glich macht, und ist die Materie blofs subjektiv, dann ist auch das Beharrliche ])lofs subji'ktiv. dann ist die Materie absolut beharrlich oder Substanz, weil es ein anderes Beharrliches hinter dem subjektiven nicht ij^iebt. dann ist aber auch diese Beharrlichkeit tler Materie ajxuliktisch gewifs. weil sie ein apriorisches Gesetz unseres Verstandes ist. Ist da^e,L!;en niclit die Materie das eigentlich Beharrliche, sondern blofs die sui)jektive Erscheinung desselben und empfängt sie alle ihre (relative) Beharr- lichkeit nui- von biei". dann ist auch die Beharrlichkeit mehr als nur „die Art, uns das Dasein der 1 )inge (in der Erscheinung) vor- zustellen" (IT'J). die Materie ist nicht Substanz, und wenn wir trotzd« in ihre Unvernielirbarkeit und Unverminderbarkeit behauj)ten. so fol,::t dies nicht unmittelbar aus dem Begriffe der Substanz, ist nicht ein a])rioriscli-a])odiktisches Gesetz unseres Verstandes, sondern es ist nur eine Abstraktion aus der Erfahrung, welche niclit weiter als die letztere reichen kann. In diesi ni Falle können wir freilich a priori auch nicht wissen, ob die Erhihrung nicht doch vidleicht einmal unseren Erwartungen, soweit sie jene Abstraktion betreuen, widerspricht. Indessen bemerkt hiergegen Ijaas mit Hecht, ..dafs die Natur durch den Jahrtausenden langen Umgang der Menschen mit ihr ein gewisses Anrecht erworben habe, ihrer Uniformität und Stabilität und Gesetzmäfsigkeit zu vei-trauen: dafs jedenfalls der Verdacht und das Mifstrauen. sie könne die empirisch, soweit Auge und Versuch reichen, konstatierte Konstanz der Wcltstotfe und AVeltenergien. so lange wir seihst sind, wie wir sind, fiihig, Erhihrungeii zu verknüpteii, einmal nicht mehr bestätigen, dafs ein solcher Verdacht für jetzt duvvh keine Erfahrung veraiilafst, dem sonstigen sagen wir rationalen, mensehciiangemessenen (^ha- rakter der Natur zuwidi^daufend, auf windige, leere ]\I()glichkeiten gegründet und zu gar nichts Fruchtbarem verwertbar sei."''^j

Der Grundsatz der Beharrlichkeit der S!il)stanz ist nacdi Kant ein synthetisches Urteil a priori, weil er Erfahrung erst niiiglich macht, woraus folgen soll, <lafs Erfalirun.i; blofs subjektive Ei-<(diei- nuna- und nur eine Moilitikation in unserem Bewulstsem ist. Nun hab

eu wir a

her gesehen, dafs jener Grundsatz, soweit er apriorisch

*J Laas: a. a. O. l.J> f.

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B. Kant als Naturphilosoph.

II. Die kritische Naturphilosophie.

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ist, blol's analytisch, ja, nur eine leere Tautologie, soweit er da- gegen synthetisch ist und uns ül)er das thatsächliche Vorhanden- sein eines Beharrlichen im Wechsel der Erscheinun.i^en belehrt, dafs er soweit aucli aposteriorisch ist, d. \\. seine Bestätigung aus der Erfahrung eni])t'aTigen mufs. Damit wird die Folgerung hin- fällig, dal's die Erfahrung blol's aus dem Subjekt stammt, weil die notwendige Bedingung der p]rfahrung (dafs es njimlich etwas Be- harrliches giebt) dem Subjekt ja selbst erst durch die Erfahrung übermittelt wird und folglich schon hinter und jenseits derselben wirklich sein mul's. Demnach scheint einer transsul)jektiven Wirk- licld<cit doch ein noch griilserer Anteil am Zustandekommen des- jenigen, was wir in uns Erfahrung nennen, zugeschrieben werden zu müssen, als dies mit den Prinzi])ien Kants vereinbar ist.

Wenn die Substanz behairt und aller Wechsel nur ihre Bestim- mungen angeht, so ist er folglich nicht eigentlich ein P^ntstehen oder Vergehen von Substanzen, somh rn er ist nur V erän d erung, insofern Veränderung als „Verbindung kontradiktorisch entgegen- gesetzter Prä(lik:ite in einem und demselb*^^n Objekt'' (()(>) nichts Anderes ist als „eine Art zu existunen, welche auf eine andere Art zu existieren eben desselben Gegenstandes erfolgt." „Veränderung kann nur an Sul)stanzen wahrgenommen wei'den, und das P]ntstehen und Vergehen schlechtiiin, ohne dafs es bh)fs eine Bestimmung des Beharrlichen betreffe, kann gar keine mögliche AVahrnehmung sein, weil eben dieses Beharrliche die Vorstellung von dem übergange aus einem Zustande in den anderen und vom Nichtsein /um Sein möglich macht, die also nur als wechselnde Bestimmungen dessen, was bleibt. emi)irisch erkannt werden können-' (IT.'O- Auf diesen Begi'iif der Veränderung bezieht sich die zweite Analogie der Er- fahrung, der „Grundsatz der Erzeugung" oder, wie er in der zweiten Auflage genannt wird, der „Grundsatz der Z(Mt folge nach dem Gesetze der Kausalität." Derselbe lautet in der ersten Auflage: „Alles, was geschieht (anhebt, zu sein), setzt etwas voraus, w o r a u f e s n a c h e i n e r iv e g e 1 folge;" in der zweiten Auflage der Vernunftkiätik dageg<'ii formuliert Kant ihn dahin: „A 1 1 e Vera n der un gen gesch eh vn na c h dem Ge- setze d e r V e r k n ü p f u n g d e r U r s a c h e und W i r k u n g •' (ebd.).

„Man setze, es gehe vor quwy Begebenheit nichts vorher, worauf dieselbe nach einer Kegel folgen mülste, so wäre alle P'olge der W^ihrnehmung bloi's subjektiv, aber dadurch gar nicht objektiv bestimmt, welches eigentlich das Vorhergehende uiul welches das Kachfolgende der Wahrm^hmungen sein niüfste. W'ii' würden auf solche Weise nur ein Spiel der Vorstellungen haben,

das sich auf gar kein (3bjekt bezöge, d. h. es würde durch unsere Wahrnehmungen eine Erscheinung von jeder anderen dem Zeit- verhältnisse nach gar nicht unterschieden werden" (Wl f.). Im Traume z. B. folgen zwar die einzelnen Wahrnehmungen auf ein- ander, aber es besteht keine feste Hegel, die sie unter einander verknüpft, und daher beziehe ich meine Vorstellungen in diesem Falle nicht auf einen Gegenstand und bin überzeugt, es nicht mit wirklichen Begebenheiten, sondern blol's mit den rein subjektiven Gebilden meiner Einbildungskraft zu tliun zu haben. ,.Wie kommen wir dazu, dafs wir unsern Vorstellungen ein Objekt setzen oder über ihre subjektive Realität, als Moditikationen, ihnen noch, ich weifs nicht was für eine objektive beilegen? Wenn wir untersuchen, was denn die Beziehung auf einen Gegenstand unseren Vorstellungen für eine neue Beschält (^idieit gebe, und welches die Dignität sei. die sie dadurch erhalten, so finden wir, dafs sie nichts weiter thue, als die Verbindung der Vorstellungen auf eine gewisse Art notwendig zu machen und sie einer Regel zu unter- werfen; dafs umgekehrt nur da<lurcli, dafs eine gewisse Ordnung in dem Zeitverhältnisse unserer Vorstellungen notwendig ist, ihnen objektive Bedeutung erteilet wird" (179). „Der Begriff aber, der eine Notwendigkeit der synthetischen Einheit bei sich führt, kann nur ein reiner Verstandesbegriff sein, und das ist hier der Begriff des Verhältnisses der Ursache und der AV i r k u n g, wovon die erstere die letztere in der Zeit als die Folge und nicht als etwas, was blofs in d(>r Einbildung vorhergehen k(>nnte, bestimmt" (i;4f.). „Dadurch geschieht es, dafs eine Ordnung unter unsern Vorstellungen wird, in welcher das Gegenwärtige (sofern es ge- worden), auf einen vorhergehenden Zustand Anweisung giebt als ein, obzwar noch unbestimmtes Korrelat dieses Ereignisses, das gegeben ist. welches sich aber auf dieses als seine Folge bestimmend bezieht und es notwendig mit sich in der Zeitreihe verknü|)ft" (ISO). „Also ist nur dadurch, dafs wir die Folge der Krscheinungen. mithin alle Veränderung dem Gesetze der Kausalität unterwerfen, selbst Erfahrung, d. h. emi)irische Erkenntnis, von denselben möglich" (l?:)). „Also ist der Satz vom zureichenden Grunde der Grund möglicher Erfahrung, nämlich der objektiven Erkenntnis der Er- scheinungen in Ansehung des Verhältnisses dersell)en in der Reihen- folge der Zeit" (].S1).

Ist hiermit also die Kausalverknüpfung unter den Erscheinungen auf deren Reihenfolge eingeschränkt, so könnte man eine Gegen- instanz darin erblicken, dafs Ursache und Wirkung auch zu- gleich sein können. „P^s ist z. B. AVärme im Zimmer, die

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JB. Kant als Naturphilosoph.

II. Die kritische Naturphilosophie.

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iiiclit in freier Luft aiic^etrofff^i wird, leb sehe mich nach der Ur- sache um und linde einen geheizten Oten. ^s'un ist dieser als Ur- sache mit seiner Wirkung, dt'r Stuhenwärme, zugleich; also ist hier keine Keihenfolge der Zeit nnch zwischen Ursache und \\ irkung. sondern sie sind zugleich, und das G »setz gilt doch. Der gnifste Teil der wirkenden Ursachen ist mit ihren A\'irkungen zugleich, und die Zeitfolge der letzteren wird nur dadurch veranlafst. dafs die Ursache ihre ganze AV^irkunir nicht in ein(^m AugenV)licke verrichten kann. Aber in dem Augenblicke, da sie zuerst entsteht, ist sie mit der Kausalität ihnu* Ursache jederzeit zugleich, weil, wenn jene einen Augenblick vorher aufgehört hätte, zu sein, diese gar nicht entstanden wäre" ( bS.2 f.). Rs kommt jedoch auf die (Ordnung der Zeit, nicht aber auf ihren Ablauf an. „Die Zeit zwischen der Kausalität der Ursache un i deren unmittelbaren Wirkung k mn verschwindend (sie also zugleich) sein; aber das Verhältnis der einen zur andern bleibt doch immer der Zeit nach besti!nnd)ar. Wenn ich eine Kugel, die auf einem ausgestopften Kissen liegt und ein Grübchen (hirin drückt, als Ursache betrachte, so ist sie mit der Wii-kung zu- gleich. Allein ich unterscheide doch beide durch die Zeitverliältnisse der dynamisch(^n Verknüj)fung beider. Denn wenn ich die Kugel aul" das Kissen lege, so folgt auf die vorige glatte Gestalt desselben das Grübchen: hat aber das Kissen (ich weifs nicht woher) ein Grübchen, so folgt darauf nicht eine bh^erne Kugel" (IS.i).

Dafs alle unsere Vorstellungen, nuigen sie nun, als blofse Produkte der Eiiibiblungskral't, als '^ri'aumvorstellungen u. s. w., aus uns selber stammen oder durch äulsere F^indrücke in uns hervorgerufen sein, eben als Vorstellungen blofs subjektiv sind und gänzlich der Be- ziehung auf einen wirklichen Gegenstand ermangeln, dafs mithin noch ein besonderes Etwas hinzukommen mufs. um ihnen objektive Bedeutung zu erteilen, darin hat K.ant ganz recdit. Die Frage ist, ob die vom \ erstände hinzugefügte Regel der Verknüpfung genügt, um sie üher den Rang bloi's subjektiver Modifikationen in unsert^m Be- wufstsein hinauszuhel)en. Das ,,Pi'inzij) der Aftinität" ist sicherlich objektiv, es ist ein objektives Element in der Gesamtheit der äufseren und inneren Erscheinungen, insofern es, über alle Zufälligkeiten und Launen der beschränkten Subjektivität erhaben, als ein allgemeines (jesetz durch alle Kin/.(dheiten hindurchgreift. Allein in diesem Sinne ist auch das ..(besetz der Assoziation," zu dem Hume die Kausalität gemacht hat. ist au(di die Tiiatsache, dafs alle unsere Vorstidlun.^en in einem verwandtscdiaftlicben A'erliältnis zu einander stehen und sich dem Giade diesei- Verwandtschaft g<'mäfs von s(db>t bervorrut'en, ganz ebenso objektiv, und es erscheint ungerechtfertigt, wie Kant dies

will, hieraus eine Bestimmung für den Unterschied des Subjektiven und Objektiven in unserni Bewufstsein herleiten zu wollen (vgl. 508 f.).

Kant beruft sich auf die Wahrnehmung eines Hauses, die beliebig von dessen Spitze anfangen un<l beim Boden endigen oder von unten anfangen und oben endigen oder auch, von rechts oder links beginnend, das Mannigfiltige zu einem Gesamtbilde ver- einigen kann, und stellt ihr die Wahrnehmung eines den Strom hinabtreibenden Schiffes entgegen , um daran jenen Unterschied in der Auffassungsart zu illustrieren. Dort ist in der Ixeihen- folge der Wahrnehmungen keine Ordnung vorhanden, die eine be- stimmte Zusammenfassung des Mannigfaltigen notwendig bedingte; hier dagegen folgt meine AVahrnehnmng der Stelle des Schiffes unter- halb auf die Wahrnehmung der Stelle desselben oberhalb dem Lauf des Flusses, und es ist unmöglich, diese Reihenfolge umzukehren ; ich bin an die Ordnung in der Eolge der Wahrnehmungen gebunden. Im ersteren Falle erfahre ich nichts von der A'erknü])fung des Mannig- faltigen im Objekt, weil diese hier ganz beliebig ist. Im letzteren Falle ist die subjektive Folge der Api)rehension von der objektiven Folge der Erscheinungen abhängig, die eben deshalb von Kant als „Begebenheit^' bezeichnet wird. ISur deshalb, weil hier eine bestimmte Ordnung gegeben ist, wonach die Apprehension des Einen (was geschieht) auf die des Andern (das vorhergeht) nach einer Hegel folgt, die ich nicht willkürlich zu ändern imstande bin, nur deshalb bin ich überzeugt, in diesem Falle es nicht Ijlofs mit einer subjektiven Folge meiner Wahrnehmungen, sondern mit einem objektiven Vorgang zu thun zu haben, welcher der Willküi- meiner subjektiven \'erknü])fungsart entrückt ist (17b f.)-

Auf das Unzutreffende dieser Beispiele hat bereits Sc h op en - hau er hingewiesen.'') Die Wahrnehmung des Schiffes, das den Stroni hinabtreibt, hat gar nichts vor der successiven Wahrncdimung der Teile des Hauses voraus: beides sind Begebenheiten, deren Er- kenntnis objektiv ist. d. h. eine Erkenntnis von A'eränderungen realer Objekte, wcdche als solche vom Subjekt erkannt werden. Mag die Veränderung eine Lageveränderung des Schiffes gegen den Strom oder eine Veränderung der Lage des perzi])ieren(len Organes sein, wie bei der A\'ahrnehmung des Hauses, in beiden Fällen ist die subjektive Folge der A])prehension durch die objektive Folge der Erscheinungen bedingt. Es liegt nur daran, dafs im letzteren Falle die BcLrebenheit in einem engeren Konnex zu meinem Wilh^i

*) Schupeuhuuer: 4 fache Wurzel § 'SA.

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B. Kant als Xaturphilosopb.

II. Die kritische ^>aturphilosophie.

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steht, wenn ich ihr gegenüber eine gröfsere Freiheit zu besitzen ghiiihe. Wäre das von Kant angegebene Moment wirklich Ausschlag gebend, so niüfste sich mir auch die Wahrnehmung^ der Bewegung des Schiffes als eine blofs subjektive darstelh^n, sobald ich nur be- wurste rmafsen die Krai't besäfse, das Schill auch beliebig strom- aufwärts ziehen zu kfuinen.

Das Bewufstsein der Notwendigkeit in der Reihenfolge der Wahr- nehmungen ist es also nicht, was mich eine Erscheinung als objektiv er- kennen läfst. Es giebt objektive Erscheinungen, bei welchen jenes Bewui'stsein fehlt, und es giebt auf der andern Seite Erscheinungen, wo- bei ich jenen Zwang ganz deutlich empthide. und welche nichts desto- weniger blofs subjektiv sind, man denke nur an die Phantasieen eines Fieberkranken oder an die Aufeinanderfolge der Erscheinungen im Traume, denen das Subjekt ohnmächtig gegenübersteht. Wir zweifeln nicht, dafs aucli in diesen Fällen das Kausalgesetz es macht, dafs diese Erscheinung n.ach jener mit Notwendigkeit eintritt, und trotz- dem würden wir uns irren, wenn wir in solchen Erscheinungen mehr als ein subjektives S])iel unserei" Einbihlungskraft zu haben glaubten. Damit widerlegt sicli die Meinung Kants, als ob das Kausalgesetz nur für die obj e k t i \ e Welt in Geltung stände und Erscheinungen schon deshalb das Prädikat der Objektivität erhalten müfsten, weil sie durch eine Regel notwendig bedingt sind. „Es will uns bedünken/' sagt Ijaas, „als müfste dadurcli ein Bewufstseinszustand entstehen, wie wir ihn empiiäsch nieht antreffen; ein Zustand, in welchem über die zum Stehen gekommene, Verstandesgesetzen unter worl'ene „ob- jektive Welt" ein wirres, luftiges Gewölk von blofs subjektiven und noch successiven Erscheinungen, wie die Dam])fatni()S])häre über den festen Sonnenkern, fortwährend hinhuschte. Nun sind aber auch die willkürlichsten und logisch-chaotischesten JMiantasieen gesetzmäfsig erklärbare Begebenheiten; es steigt in keinem Pewufstsein jemals etwas auf, wovon \\ii' nicht ebenso, wie von jedem Inhalt der so- genannten „objektiven Welt", a priori überzeugt wären, dafs es dem Kausalgesetz gemäfs mit irgend einer gesetzmäfsigen Summe von Bedin<^un,«j^en notwendig verknüpft ist. Und die successiven Ap- prehensionen insbesondere sind, wenn wir die jedesmalige Stellung unseres Leibes, die Stellung der einzelnen perzipierenden Elemente in ihm mit in Anschlag bringen, so gesetzmäfsig ausdeutbar, wie nur immej- die Simultaneitäten der „objektiven Welt,*' die wir danach voraussetzen und durch Reduktionen gewinnen, unter sich. \ov lauter Kürsorge, die Gesetzmäfsigkeit der obiektiven Welt zu retten und gegen alle Skepsis für immer zu stabilieren, hat Kant die Gesetzmäfsigkeit, die, wie w^ir voraussetzen, auch den sub-

jektiven, den psychischen Erscheinungen inne wohnt, mehr als billig und nützlich war, aufser Acht gelassen. "'•^=)

Aber es ist ja gar nicht einmal richtig, dafs selbst die Er- scheinungen der objektiven AV'elt sich überall wie Ursache und Wirkung verhalten und durch das Kausalgesetz zu einer Reihen- folge verknüpft werden, der gegenüber jede andere Folge blofs sub- jektive Willkür ist. Nach dieser Anschauung müfste das Haus, das icli wahrnehme, nur in meinem ßewufstsein vorhanden sein, weil meine Wahrnehmung seines Daches nicht die Wirkung davon ist, dafs ich im Augenblick vorher den Keller wahrgenommen habe. Aber ebenso wenig könnte hiernach die Erscheinung des Schilfes eine objektive sein, denn seine Wahrnehmung an einer bestimmten Stelle des Flusses ist nicht die Ursache davon, dafs ich es gleich darauf weiter unten im Strom erblicke; das Beispiel ist also schon deshalb schlecht gewählt. Die Töne eines Musikstückes folgen ein- ander, und es wäre ein absurder Gedanke, ihre Reihenfolge um- kehren zu wollen; und doch s|)richt hier kein vernünftiger Mensch von Ursache und Wirkung, und doch ist das Erklingen des Musik- stückes ein objektiver Vorgang, nicht eine blofs subjektive Gehörs- halluzination nur im Bewufstsein. Schopenhauer erinnert mit Recht an die Thatsache der Aufeinanderfolge von Tag und Nacht, um die Behauptung Humes zu widerlegen, dafs das Kausalgesetz nur eine subjektive Idee, entstanden durch die gewohnheitsmäfsige Verknüpfung zweier Vorstellungen im Bewufstsein sei. Dasselbe Beispiel widerlegt auch die Meinung Kants, als ob nur da Er- fahrung, d. h. ()l)jektive Erkenntnis, gegeben sei. wo eine kausale Ver- knü])fung zweier Vorstellungen im Bewufstsein vorliegt. „Alle Wahrnehmungen folgen sich in einer nicht willkürlich umzukehrenden Reihenfolge (mit Ausnahme derer von den wirklichen Dingen, auf welche die Macht unseres Willens sich unmittelbar erstreckt), und wie wenige unter unmittelbar auf einander foli^endeii Wahr- nehmungen bezeiclmet der Mensch als Ursache und Wirkung I \'on wie vielen gestehen wir nicht, die Ursachen gar nicht zu kennen, von wie vielen entziehen sie sich für immer unserer direkten Wahr- nehmung und sind uns nur durch kom])lizierte Schlüsse zugänglich, vermittelst derer sie uns zu einer ganz anderen Zeit, wie iln-e Wirkung, und nur in abstrakter Form ins Bewufstsein treten !""*J Die Welt unserer Vorstellungen ist keineswegs, wie dies

*) Laas: a. a. O. 188.

**) V. Hartinanii: Kritische Grundlegung des transcendentalen Kealis- nius (3. AuH. 1S85). 74.

D r e w ö , Kantä Naturphilosophie. 11

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B. Kant als Naturpliilosoph.

IL Die kritische Natur})bilosophie.

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nach der kantischen Annahme der Fall sein niülste, an dem Faden einer durchgehenden Kausalität aufgereiht. Vielmehr ist nur auf franz kurze Reihen die Katecjoric der Kausahtät anzuwenden, und immer wieder reifst dieser Faden plötzlich ah. und die in eine]- Riclitung sich abfolgenden Erscheinungen werden unterbrochen von solchen, die aus einer ganz anderen Richtung zu kommen scheinen, und welche einem ganz verschiedenen Kausalzusammenhang ents])rossen sind. Unsere Yorstellungswelt ist kein einzehier Faden, sondern ein Gewebe aus Fäden der verschiedensten Kausalität, ein buntes Durch- einander und in einander Verschlungensein von Fäden, bei denen ein lückenloser Zusammenhang zwischen den verscliiedenen V'or- stellungen nicht herzustellen ist. Im Hlickfelde unseres Bewufstsoins marschieren die Vorstellungen nicht, wie Soldaten, im Gänsemarsche hinter einander auf, gleichsam nach Einem Ivommandoworte, das sie alle leitet, sondern die Gesamtheit unserer Vorstellungen gleicht in jedem Zeitausschnitte dem Gewühl auf einem Marktplatz, wo die verschiedensten Zwecke die Menschen aus den verscliiedensten Gegenden zusammengeführt haben und bei dem unaufliörliclien Hin und Her von allen Seiten keine Richtung vor der andci-n einen Vorzug hat. Dabei kann von einer Kausalität im kantischen Sinne natürlich nicht die Rede sein. Diese Kausalität, die als eine rein subjektive Funktion unseres Verstandes blofs Erscheinungen im Be- wufstsein mit einander verknüpft und daher als ,.i m m a n en t e Kausalität-^ bezeichnet werden kann, ist einfach deslialb aufser Stande, als Prinzip der Objektivität der Erscheinungen dienen zu können, weil eine solche kausale Verknüpfung von Vorstellungen überhaupt nur in den allerseltensten Fällen nachweisbar ist. Sie soll eine apriorische R>edingung m(")glicher Erfahrung sein : aber die Erfahrung entzieht sich ihrer Botmäisigkeit und zeigt uns eine Mannigfaltigkeit von Verkniipfiingsarten. die ein ganz anderes Gesetz als die immanente Kausalität vermuten läfst.

Nur in Einem Falle könnte man hoffen, mit einer blofs imma- nenten Kausalität auszukommen, die idjer das Geltungsgebiet des rein Vorstellungsmäfsigen nicht hinausreicht: wenn nämlich eine Vorstellung noch als Ursache gcdten könnte, deren AV'irkung erst in einer viel späteren Znt erfolgt, nachdem inzwischen ganz andere Vorstellungsreihen sich abgespielt liätten. wenn mit andern Worten die Beziehung zwischen Ursache und Wirkung k<^ine unmittell)are, sondern eine über die verschiedensten Vorstellungskomplexe hinüber- greifende wäre. Aber gerade diese Annahme wird durcli Kant selbst ausgeschlossen, weil sie dem ,.Gesetz der Kontinuität aller Veränderung" widerspricht, nach welchem jede Ver-

änderung nur durch eine kontinuierliche Handlung der Kausalität möglich ist. Die Ursache l)ringt ihre Veränderung nicht plötzlich (auf einmal oder in einem Augenblick), sondern in einer Zeit her- vor, „sodafs, wie die Zeit vom Anfangsaugenblicke a bis zu ihrer Vollendung in b wächst, auch die Gröfse der Realität (b a) durch alle kleineren Grade, die zwischen dem ersten und letzten enthalten sind, erzeugt w^ird" (bSG). Der Grund dieses Gesetzes ist der, „dafs weder die Zeit, noch auch die Erscheinung in der Zeit aus Teilen besteht, die die kleinsten sind, und dafs doch der Zustand des Dinges bei seiner Veränderung durch alle diese Teile als Elemente zu seinem zweiten Zustande übergehe. Es ist kein Unterschied des Realen in der Erscheinung, sowie kein Unterschied in der Gröfse der Zeiten, der kleinste, und so erwächst der neue Zustand der Realität (= a) von dem ersten an, darin diese nicht ^var (^^ o) durcli alle unendliciien Grade derselben, deren Unter- schiede von einander insgesamt kleiner sind als der zwischen o und a*' (1(S()). In der subjektiven Welt unserer Vorstellungen ist uns nicht ein kontinuierlicher Zusammen) lang von Kausalverliältnissen gegeben, eine neue Bestätigung dafür, dafs die Abfolge unserer V^or- stellungen nicht durch die immanente Kausalität bedingt ist.

Es giebt objektive Vorstellungen, die sich nicht unmittelbar wie Ursaclie und Wirkung zu einander verhalten: mit dieser Einsicht wird dem kantischen Prinzi]) das Urteil gesprochen. Magdasselbe iminer- liin. formell genommen, ein synthetisches Urteil a priori sein: in dem Sinne, in welchem es Kant gebrauclit, ist es nicht zu verwenden; erweist es sich doch völlig unfähig, den Unterschied des Objektiven vom Subjektiven zu bestimmen. Die letzte Unterscheidung hat auf dem kantischen Standpunkt überhaupt keinen Sinn, hier ist alles nur rein subjektiv, ja, letzten Endes blofse Willkür, denn das Kausalgesetz kann nach Kant nichts weiter tliun, als die Ab- folge zweier Vorstellungen zu einer notwendigen machen, aber es kann a ])ri()ri gar nichts darüber bestimmen, welche von beiden Vorstellungen folgt, und w e i cii e vorangeht I Dies ist nur a posteriori aus der Erfahrung zu entnehmen, welche die rein abstrakte, formale ^'atur jenes Gesetzes trst mit einem konkreten Inhalt erfüllt. Ist doch schon der Begriff dei- Verämh'rung seihst nur ein em])irischer und liegt eben deshalb aufseriialh der Grenzen einer Transcend e n tal- p h i 1 o s o !> h i e , d. h. einer solchen Philoso])hie, die es lediglich mit den apriorischen Bedingungen der Erfahrung zu thun hat. ,.Denn dafs eine Ursache möglich sei, welche den Zustand der Dinge ver- ändere d. h. sie zum Gegenteil eines gewissen gegebenen Zustandes bestimme, davon giebt uns der Verstand a priori gar keine Eröffnung.

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B, Kant als Naturphilosopli.

11, Die kritische Naturphilosophie.

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nicht blofs deswegen, weil er die M()^^lic!ikeit davon «^ar niclit ein- sieht, sondern weil die Veränderlichkeit nur i^^ewisse Bestimmnngen der Erscheinungen trifft, wclclie die Krfahning allein lehren kann" (J()2). ,.Wie nun üht-rliaupt etwas verändert werden krmnc. wie es möglich sei, dafs auf einen Zustand in einem Zeitpunkte ein ent- gegensetzter im andern folgen könne, davon haben wir a priori nicht den mindesten Begrifl. Hierzu wird die Kenntnis wirklicher Kräfte erfordert, welche nur empirisch gegeben werden kann. z. I>. der })e- wegenden Kräfte oder, welches einerlei ist, gewisser successiven Er- scheinungen (als Bewegungen), welche solche Kräfte anzeigen. Aber die Form einer jed(Mi Veränderung, die Bedingung, unttn* w(4clier sie nls ein Entstehen eines andern Zustandes allein vorgehen kann, (der Inhalt derselben. <1. i. der Zustand, der verändert wird, mag sein, welcher er wolle), mithin <lie Succession der Zustände selbst (das Gescheliene) kann doch nach dem Gesetze der Knusalität und den Bedingungen der Zeit a ])ri()ii erwogen werden" (l.^f)).

Hier betinden wir uns nun in einem offenbaren Zirkel : das Kausalgesetz soll die Km[»findungen, als (bis Materini unserer Er- kenntnis, nach einer Begel ordnen, genüifs welcher die Erscheinungen in unserm Bewufstsein sich abtnlg(MK anderseits müssen die F]m- pfindungen selbst irgendwie auf die Kausalt'uidvtion unseies \ er- stnndes einwirken. wcMin jene Ordnung eine ])estimmte sein soll, oder icli mülste denn schon imstande sein, a ])riori auch (Um Inhalt der Kausalveikuii]){'ung zu bestinimen. Findet eine solche Mit- beteihgung der Em))tindungen beim Krkenntnisprozefs nicht statt, verhalten sich diese der V^erstandesfunktion gegenüber ])assiv, kommt ihi' nllein ein sjxditanes Wirken zu. welche Garantie hahe icli dann, dafs die Kausalfunktion in ihrer Souveränität nicht einmal die gewöhnliche Ordnung der Erscheinungen umkehrt, was bürgt mir dafür, dal's niciit doch einmal eine bleierne Kug(4 auf das Grübchen im Kissen folgt, da jene Funktion ja gar keine Veranlassung: hat. die Erscheinungen immer in dtT gleicdien Rf'iiienlblge zu verknüpfen, wofern sie dieselhen nur überhaupt in ein Kausalverhältnis setzt? Kant bat diese ganze Theorie nur zu dem einen Zweck erl'unden. um die Allgemeinheit und Notwendigkeit in der Abfolge der Erscheinungen zu verbürgen. Mit der nunmehr dargelegten Kon- seipienz gehen diese beiden Postulate des rationalistischen Denkens völlig in die Brüche.

Die zweite Analogie der Krt'ahrung ist jedenfalls nicht imstande, der Erscheinung den Stempel des Objektiven auCziulrücken. AV^ir können uns danach ein näheres Eingehen auf das kantische Prinzip ersparen. In seiner ..Kritischen Grundlegung des trans-

cendentalen Realismus" hat v. Hart mann die immanente Kausalität so schlagend widerlegt, dal's man sie damit wohl als abgethan betrachten kann.*)

Was macht nun in Wahrheit die Objektivität der Vorstellungen aus, sodafs sie eine gewisse Selbständigkeit im Gegensatz zu den subj<'ktiven Vorstellungen erhalten, von denen es feststeht, dafs sie blofs im Bewufstsein sind, und die wir unserer eigenen Maclits])häre unterworfen wissen? Oft'eidjar spielt die Kausalität dabei eine wesent- liche Rolle; denn w^enn ich jetzt ein Haus und gleich darauf einen Baum wahrnehme, so habe ich die ganz deutliche Kmpfindung, es hier mit einem Kausalzusammenhang zu thun zu haben. Nur das ist falsch, die Ursache mit Kant in der eben vorhergehenden Wahr- nehmung und gleichsam in der Fläch e n d i m ension zu suchen, als ob z. B. in dem angeführten Falle die Wahrnehmung des Hauses die Ursache der Wahrnehmung des Baumes sei. Vielmehr weist eine jede Wahrnehmung in die T ief e ndi m e n s i on zurück, auf ein Etwas, das selbst nicht Wahrnehmung ist und welches sich doch m der AVahrnehmung mit einer Evidenz ankündigt, dafs ich an seiner Existenz nicht zweifeln kann. Betrachtet man mit Kant die f]mpfindungen als das notwendige Material und gleichsam als die primitivsten Bausteine unserer P]rkenntnis. woraus unsere Verstandes- l'unktion erst ein Gesamtbild zusammenfügt, so mufs folglich schon in der Empfindung selbst ein Hinweis auf jenes Etwas ent- halten sein, und dies eben ist es, was die Em))findung zu einer bestimmten, von ieder andern verschiedenen macht. Damit ist aus- geschlossen, dafs irgend eine Funktion in uns willkürlich oder spontan mit (h'in Em])tindungsmateriale schaltet. Die Thätigkeit unseres Verstandes ist selbst durch den Inhalt der Em])tindungen bedingt, die.ser aber i>t auch seinca^seits niclit spontan i'izeugt. sondern er ist das Produkt einei- Einwirkung von aufsen, das dem Bewufstsein aufgedrängt ist. Nach der immanenten Kausalität Kants verhielten sich die einzelnen Emi)tindun^en als solche wie Ursache und Wirkung zu einander. Jetzt erkennen wir, dafs die Emplindungen selbst l)h)fs Wirkungen sind, deren Ursache hinter ihnen in einer Sphäre aufserhalb des Bewufstseins liegt. Die wahre Kausalität also ist nicht (Mue blofs immanente Beziehung zwischen verschiedenen Inhalten des Bewufstseins, welche daher auch keinen Aufschlufs giebt über das. was jenseits des Bewufstseins liegt; sie greift vielmehr selbst in ein Gebiet hinüber, das dem

'■^)V<r] auch V. HartinaMii: Kants Erkenntnistheorie und Metaj)hysik in den 4 Perioden ihrer Entwickelunn^ (lö9ij. IGSth

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ii. Kant als Naturphilosoi)li.

II. Die kritische Naturphilosophie.

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Eewufstsein transcendent erscheint. Diese ist folglich ,.tr.'iiis- cendeiite Kausalität", und ihre Beziehung heilst „trans- cendent al", weil sie den immanenten Inhalt des Bewufstseins mit seiner transcendenten Ursache verbindet.

Niemand hat bekanntlich verächtlicher über den sogenannten gesunden Menschenverstand geurteilt als Kant, indem er ihm alles und jedes Urteil in meta])hysischen Dingen abspricht (IV. 7 f.). Niemand hat aber auch eine gnil'sere Zumutung an ihn gestellt als er, wenn er ihm einzureden sucht, der Zusammeidiang und die Ab- folge der Erscheinungen, die seine „Welt" ausmachen, sei ledig- lich eine Verknüpfung seiner Vorstellungen blofs im Bcwufstsein. Zu welch abenteuerlichen Konsecpuinzen diese Annahme führt, liat v. Hartmann an einem drastischen Heis])iel bewiesen, das allein schon genügend ist, um jene Theorie zu widerlegen/-^) Der naive Mensch, der noch nicht unter dem Einflufs einer sophistischen Spekulation an der tiigliclien Erfahrung irre geworden ist, zweifelt keinen Augenblick daran, es in seinen Vorstellungen mit wirkliclien Dingen zu thun zu haben. Er bezieht seine Vorstellungen uinuittclbar auf Gegenstände aufserhalb seines Bewufstseins und glaubt an ihnen Dinge an sich zu besitzen, die er gleichsam in sein ßewufstsein nur hereingezogen hat. Darin hat er freilich Unrecht, und es ist eben der erste Schritt zur Philosophie, zu erkennen, dafs die Welt un- mittell)ar nur in der Vorstellung existiert und dafs der Inlialt des Bewufstseins, als immanenter, mit der transcendenten Wirklichkeit nicht zu verwechseln ist. Aber lleclit hat er darin, seine Vorst(dlung auf einen Gegenstand zu beziehen, der als solcher auch ganz unab- hängig von seinem Vorstellen existiert, wiewohl er in dieser seiner ihm eigentümlichen b]xistenzform eine ganz andere BeschatVrnlieit besitzen mag, als diejenige, mit welcher er sich ihm als Objekt im Bcwufstsein darstellt. Der naive Mensch wird nicht schwer davon zu überzeugen sein, dafs sein Objekt oder die Vorstellung, als Inhalt seines Bewufstseins, nicht der (TCgenstand selbst, m'cht das Ding an sicli, das als solches eben niemals Objekt werden kann, sondern nur eine E r s c h in n u n g , ein s u b j e k t i v e r II e p r ä s e n t a n t jenes Dinges im Bcwufstsein ist. Al)er er wird sich mit Becht gegen die Annahme sträuben, ein solcher Gegenstand sei überhauj)t nicht vorhanden; es wird ihm dies nicht weniger al)surd voikommen, als wenn man ihm einreden wollte, das Bild im Spiegel sei da auch ohne einen Gegenstand, welcher sich spiegelt. Vor allem aber wird der Naturforscher alle Ursache hal)en, eine solche Beliaui)tung von

'J v. HartiiiaTin: Krit. Grundlegung u. s. w. TS iX.

der Hand zu weisen, denn dieser hat es allein mit jener bewufstseins- transcendenten Wirklichkeit und ihren kausalen Beziehungen zu thun, deren Existenz Kant leugnet, oder die er doch jedenfalls dadurch aufserhalb des Bereiches aller Erfahrung rückt, dafs er die einzige zu ihm führende Brücke, die transcendente Kausalität, nicht anerkennt. Der Naturforscher ist überzeugt, die von ihm gefundenen Gesetze existierten an wirkliclien Gegenständen. Wenn er die Welt in Atome und deren Bewegungsarten auflöst, so zweifelt er nicht daran, in diesen Begriffen einen wenigstens einigermafsen adäquaten Ausdruck für dasjenige zu besitzen, was in der Wirklichkeit vor- handen ist. Jenen Begriffen die Beziehung auf ihr transcendentes Korrelat abstreifen, sie für blofse Abstraktionen von Vorstellungen ausgeben, die selbst wieder nur im Bcwufstsein sind, heifst ihm den Boden untergraben, auf dem er steht, heifst ihm die Luft ent- ziehen, in der er lebt und atmet, heifst mit einem Worte den Naturforscher zum Narren halten und seine fundamentalsten Voraus- setzungen für eitel Wind erklären, ohne die er auch nicht den kleinsten Schritt vorwärts thun kann. Die transcendente Kausabtät ist also keine neue Hypothese, wie die Annahme einer immanenten Kausalität, die alle Naturwissenschaft unmöglich und alle instinktiven Aussagen des gesunden ]\Ienschenverstandes zu einer unbegreiflichen Prellerei des Intellektes macht ; sie ist nur der abstrakte Ausdruck für eine Beziehung, die jeder Einzelne auch ohne philosophische Einsicht als eine real existierende anerkennt, und von deren thatsächlichen Be- stände auch der Philosoph die Annahme der Objektivität seiner Vorstellungswelt selbst dann abhängig macht, wenn er durch ab- strakte Spekulation zu einer ganz anderen x\nsicht gelangt ist und die Überzeugung gewonnen hat, dafs eine solche Beziehung zwischen seiner immanenten Welt des Bewufstseins und einer transcendenten Aufsenwelt nicht möglich sei.

Das i^rinzip. das unsere Vorstellungen erst zu objektiven macht, kann selbst nicht blofs subjektiver Natur sein, weil die subjektive Zuthat einer bestimmten Verknüpfungsart der Vorstellungen doch niemals aus dem Zirkeltanz der Subjektivität hinausführt.^ Es kann aber auch nicht rein transcendenter Natur sein in dem Sinne, dafs es gar keine Beziehung zu dem Inhalt des Bewufstseins hätte, weil das Objektive eben ein Bewufstseinsimmanentes ist und als solches den inhaltlichen Gegenpol zu dem rem Subjektiven bildet. Das Prinzip der Objektivität unserer Vorstellungen kann also nur ein solches sein, das die transcendente Aufsenwelt mit der immanenten Welt des Bewufstseins verbindet, und dieses thut allein die trans- cendente Kausalität, indem sie mit ihrem einen Ende an das Sub-

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B. Kant als Naturphilosoph.

II. Die kritische Naturphilosophie.

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jektive (die Eni])fii)(luiig) aiin;ekiuij)l't ist, mit ihrem andern Ende dagegen in das Gebiet der Dinge an sich liinaiisreieht. Dafs die transcendente Kausalität von dem Ding an sich ausgeht und gleichsam eine Kunde von jenci- Welt in das IJ.nvulstsein h'M'üher- sendet, dies ist es, was die objektive Vorstellung von der subjek- tiven unterscheidet, bei welcher eine solche reale Beziehung nicht vorhanden ist. Dafs sie die Emi)findung als He wu l's t sei n s- moment hervorruft, dies macht, dafs das Objektive doch blol's Vor- stellung ist, dals es als solche von dem Gegenstande wesentlich verschieden und dafs der Eealismus. der sich auf dieser An- schauungsweise aufbaut, nicht der naive des gesunden Menschen- verstandes, sondern der t r a n s ce n d e n t a 1 e Eealismus ist. Weil einer jeden Empfindun- die unsere Seele als Haustein zum Zustandekommen des bewufstseinsimmanenten iM-kenntnisbildes be- nutzt, eine reale Heziehung im transcendenten Gegenstand entspricht, darum ist die objektive Vorstellung bei aHer Subjektivität dennoch ein Abbild oder ein adäcpiater Eepräsentant dessen, was aufserhalb der Grenzen unseres Bewulstseins vor sich gelit und sind wir l)is zu einem gewissen Grade selbst imstande, die wahre EeschatlVnheit des Bewufstseinstranscendenten durch Ausscheidung aller b 1 o f s subjektiven Zuthaten zu erschliefsen. Weil diese Bezieliung eine gesetzmäfsige ist und abhängig ist von der Beschalfenheit der transcendenten Gegenstände, (hirum ist die objektive Vorstellung aller AVillkür enthoben und haben wir die unzweifelhafte Euiplin- dung. nicht selbst die unmittelbare Ursache unserer Vorstelhings- welt zu sein. Weil endlich die Kausalität auch insofern eine transcendente ist, als sie die Bezieliungen der verschiedenen (trans- cendenten) Gegenstände unter einander regelt, wehdie dann selbst wiederum im Bewufstsein reth'ktiert werden, und weil das Wahr- nehmungsvermögen des Einzelnen bei seiner Beschränktheit es immer nur mit einem sehr kleinen und oft wechsehiden Teile der Welt der Dinge an sich zu tbun hat. darum spiegelt die Succession seiner Wahrnehmungsobjekte nur zusammenhangslose EetU'xe von ganz verschiedenen Bruchstücken des unabhängig von seinem Bewufstsein sich abspielenden kausalen Prozesses in der W^'lt der realen Gegen- stände wieder, darum bleibt auch ebenso die Objektivität der Vor- stellungen, wi(? die Universalität des Kausalgesetzes gewahrt, trotz des abrui)ten Charakters unserer Vorstellungswelt und trotzdem wir jene Universalität unmittelbar nicht wahrnehmen. Die transcendente Kausalität löst somit aHe Schwierigkeiten, in die uns die Annahme einer immanenten Kausalität verwickelt. Sie und mir sie allein beantwortet die Frage, wie wir dazu kommen, unsere Vorsteliun^'-en

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für objektiv zu halten; aber freilicli hat sie nur den Wert einer Hyj^othese. weil sie nur mit ihrem einen Ende an die Bewufst- seinswelt geknüpft ist, mit dtun andern dagegen über die Grenzen des Bewufstseins hinausragt. Daher kann sie auch nur auf einem solchen Standpunkt anerkannt werden, der nicht, wie der kantische; nur das Apodiktische für einen der Philosophie würdigen Gegen- stand ansieht.

Wäre die immanente Kausalität das einzige J-'rinzij). das die Abfolge und den Zusammenhang unserer Vorstellungen regelt, so würde in einem Augenblick nur je eine Vorstellung in unserem Bewufstsein sein, ein Zugleichsein verschiedener Vorstellungen wäre dann unmöglich, weil alle unsere Wahrnehmungen, sofern sie ein Kausalverhältnis darstellen, successiv sind. Wenn die Vorstellung A mit der V'orstellung B zugleich ist, so ist dies nur dadurch zu er- klären, dafs nicht blofs A durch sein Kausalverhältnis zu B das letztere hervorrul't, sondern dafs umgekeiirt auch B wiederum auf A zurückwirkt, so dafs mithin die AVahrnehmung des einen auf die- jenige des andern wechselseitig folgen kann. „Folglich wird ein Verstandesbegriff von der wechselseitigen Folge der Bestimmungen dieser aufser einander zugleich existierenden Dinge erfordert, um zu sagen, dafs die wechselseitige Folge der A\'ahrnehmungen im Oi>jekt begründet sei und das Zugleichsein dadui'ch als objektiv vorzustellen." Der „Grundsatz des Z ug 1 ei c h sei n s nach d e m G e s e t z d e r Wechsel w i r k u n g oder Gemeinschaft" ist also selbst eine a priori im Verstände enthaltene Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung, ohne welche uns diese niemals ein Zu- gleichsein verschiedener Dinge zeigen würde. Daraus entspringt die dritte Analogie der Frfahrunir: „Alle Substanzen, sofern sie im Eaume als zugleich wa h rgen oni in e n wcimDmi können, sind in durchgängiger Wechselwirkung" H87 f^'.).

Kant bedurfte Inü seiner Fassung des Kausalgesetzes ein be- sonderes ]*rinzi]). um das Zugleichsein verschiedener A\^lhrnehmungen verständlich zu machen. Aber er täuschte sich offenbar, wenn er meinte, der Grund des ZugliMchseins liege in der Wechselwirkung. Oder wi(^ kann man behaupten, dafs wir nur dasjenige als zugleich seiend wahrnähmen, was in Wechselwirkung steht? AVie vieles von dem, das wir zugleich wahrnehmen, besitzt eine solche wechselseitige Beziehung gar nicht! Der wahre Grund liegt auch hier nicht in der tlächenhaften Beziehung der Vorstellungen zu einander, sondern er liegt in der Tiefendimension, in jenem transcendenten Gebiete, das auf uns wirken, uns afhzieren mufs, damit wir überhaupt irgend

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eine Emptinduiig haben. In Wahrheit also ist die Wechselwirkung von der Kausalität nicht verschieden. Sie ist nurMer allgemeinere, umfassendere Ausdruck üiv jene, sofern sie das Weltgeschehen überhaupt nach allen seinen Richtungen zugleich umspannt, während die Kausalität nur einen abstrakten Ausschnitt unseres Denkens, gleichsam nur den Ausdruck für den Zusammenhang der Welt- begebenheiten nach Einer Richtung im Gegensatz [ym dem nach allen Richtungen sich erstreckenden einheitlichen System von kausalen Beziehungen darstellt.

Die Erhebung der Wechsel\virkun,2^ zu einem besonderen Ver- standesprinzip ist daher auch von jeher bei Anhängern und'Gegnern Kants ein Stein des Anstofses gewesen. Der äufserliche Urs])rung der dritten Analogie der Erfahrung liegt ja offenbar in der Kate- gorieentafel, wo die W^echselwirkung unter den Kategorieen der Relation ihren Platz neben der Kausalität behauptet. Aber dafs Kant überhau])t der Wechselwirkung eine solche Bedeutung zu- gestehen konnte, o])wohl doch auch er sich hätte sagen müssen, dafs sie ihrem Wesen nacli der K;iusalität nicht koordiniert sein kann, das hat doch noch einen tieferen Grund als das blofse „architektonische Bedürfnis" Kants, aus dem man in der Regel seine eigentümliche Stc^hmg zu jenem Begrilf erkläi't hat. ]\Ian hat eben zu wenig im Auge gehabt, wie sehr (bis ganze kantische System in seinen wesentlichsten Punkten bewufst oder unbewufst durch die Rücksiclitnahme auf die Naturj)hiloso})hie bestimmt ist. Kant strebte vor allem darnach, seine natur})hilosophische Welt- anschauung a])riorisch zu begründen, und die Wechselwirkung oder das commercium war ja das Prinzi]). auf welcliem sein Dynamismus beruhte. War dieses sicher gestellt, so katte er gewonnen Sj)iel. Erst wenn ihm gelungen war, der Annahme eines wechselseitigen Einflusses der Substanzen auf einander den Charakter des Hypo- thetischen al)zustreifen. der ilir })is dahin noch immer angehaftet hatte, erst dann war der Sieg des inÜuxus ])hysicus üIxt die prä- stabilierte Harmonie viillig entschieden, erst dann einer Auii'assung des jSaturgeschehens Thor und Tln'ir gecjffnet. die eine Versöhnung zwischen K e w t o n und L e i b n i z h(^rstellte. Wie anders aber konnte die Apodiktizität jener Annahme fester begründet werden, als wenn das Prinzip der Wechselwirkung selbst ein(^ Bedingung der Mög- lichkeit der Erfahrung war? »Nur dasjenige l)estimmt dem Andern seine Stelle in der Zeit, was die Ursache von ihm oder seinen Bestimmungen ist. Also mufs jede Substanz (da sie nur in An- sehung ihrer Bestimmungen Folge sein kann), die Kausalität ge- wisser Bestimmungen in der andern und zugleich die Wirkungen

von der Kausalität der andern in sich enthalten, denn sie müssen in d V n a m i s c h e r Gemeinschaft (unmittelbar oder mittelbar) stehen, wenn das Zugleichsein in irgend einer möglichen Erfahrung erkannt werden soll. Nun ist al)er alles dasjenige in Ansehung der Gegenstände der Erfahrung notwendig, ohne welches die Er- fahrung von diesen Gegenständen selbst unmöglich sein würde. Also ist es in allen Substanzen in der Erscheinung, sofern sie zu- gleich sind notwendig, in durchgängiger Gemeinschaft der Wechselwirkung unter einander zu stehen" (189). Das commercium, die dynamische Gemeinschaft, ist es, „ohne welche selbst die lokale (communio spatii) niemals emi)irisch erkannt werden könnte*' (ebd.). Ohne Gemeinschaft ist jede Wahrnehmung (der Erscheinung im Räume) von der anderen abgebrochen, und die Kette empirischer Vorstellungen, d. i. Erfahrung, würde bei einem neuen (3bjekt ganz von vorne anfangen, ohne dafs die vorige damit im Geringsten zu- sammenhängen oder im Zeitverhältnisse stehen könnte" (lüO).

Substantialität. Kausalität und Wechselwirkung, das sind die drei Grundpfeiler der kantischen Naturphilosophie. Neben diesem Kern der reinen Naturwissenschaft, wie er in den Analogieen der Erfahrung enthalten ist. kommt den drei aus den Kategorieen der Modalität abgeleiteten Gesetzen nur eine mehr untergeordnete Bedeutung zu. Dieselben lauton: ,.Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommt, ist möglich: was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (der E m ]) f i n d u n g) z u s a m m e n h ä n g t . ist wirklich; dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allge- meinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist, ist (existiert) notwendig" (192 f.\

Wenn die übrigen sogenannten reinen oder transcendentalen Naturgesetze Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung waren, so handeln diese drei Gesetze blofs von dem Verhältnis der (legen- stände zum Erkenntnisvermögen. „Die Grundsätze der Modalität sind nicht objektiv synthetisch, weil die Prädikate der Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit den Begriff. v(m dem si.^ aus- gesagt werden, nicht im mindesten vermehren, dadurch dafs sie der Vorstellung des Gegenstandes noch etwas hinzufügen. Da sie aber gleichwohl doch immer synthetisch sind, so sind sie es nur subjektiv, d. h. sie fügen zu dem Begriffe eines Dinges (Realen), von dem sie sonst nichts sagen, die Erkenntniskraft hinzu, worin er entsi)ringt und seinen Sitz hat. Die Grundsätze der Modalität also sagen von ehiem Begriffe nichts Anderes als die Handlung des Er-

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keiintnisvermögeiis. dadurch er erzeiijG^t wird'' (L>04). P]s bleibt unverständlich, mit welchem Recht sie dann noch ,. Grundsätze" heilsen und für reine Xatur^^esetze, d. h. für apriorische BediuiTunrren möglicher Erfahrung, ausgegeben werden können; gehen sie doch letzterer nicht voran, sondern sind erst nachträglich und wer weifs wie spät aus der Erfahrung abstrahiert Kant seihst trägt daher auch Hedenken, sie „Grundsätze" zu nennen un<l bezeichnet sie als ,. F o s t u 1 a t e des e m p i r i s c h e n 1) e n k v n s ii b e r h a u p t" mit Kücksicht darauf, dafs „ein Postulat in dw M:itiieniatik der praktische 8atz" heifst, „der nichts als die 8ynthesis enthält, wo- durch wir einen Gegenstand uns zuerst geben und dessen Begriff erzeugen, z. B. mit einer gegebenen Ijinie aus einem gegebenen Punkte auf einei- Ebene einen Zirkel zu beschreiben" (ebd. f.) eine ganz erzwungene Analogie, die den eigentlichen Ursprung jener Sätze nicht verdecken kann, indem sich nämlich Kant in AVahrheit nur durch die Anordnung in seiner Kategorieentafel veraidafst sah. auch die Korni der Modalität mit einem Inhalt zu bedenken.*)

Eine besondere Betrachtung verdient nur das zweite Postulat. das die Wirklichki^'t dessen, was von uns (M'k,tniit wird, von seiner Beziehung zur Emplindung abhängig macht. Hisher handelte es sich darum, mit welchem Rechte wir überhaupt unsere Vorstellun^^en aut Gegenstände beziehen, die als solche doch unserm unmittel- baren Einflufs entrückt zu sein scheinen. .letzt fragt es sich, mit welchem Rechte wir sie auf wirkliche Gegenstände beziehen und sie dadurch von den idealen Gebilden unserer Phantasie unter- scheiden. Bisher betrachteten wir unsere Vorstcdlungen, sofern sie einer vom Subjekt unabhängigen G e se t z m ä fs i gk ei t unterworfen sind. Jetzt liegt der Schwerpunkt der Betrachtung darin, inwieweit das Subjekt an ihrer Entstehung mit beteiligt ist. Dort also handelte es sich um die Objektivität, hier um die Realität unserer Vorstellungen; beides zusammen oder die objektive Realität macht den Charakter der Erfahrung aus, und diese eben soll in den reinen A'aturgesetzen ihre Erklärung finden.

Es ist die Kundamentalvoraussetzung der Vernunftkritik, dafs zum Zustandekommen unserer Erkenntnis Sinnlichkeit und Verstand gleich notwendig seien. ,. Unsere Erkenntnis entspringt aus zwei Grumhiuellen des Gemüts, deren die erste ist, die Vor- stellungt^n zu emi)fangen (die Rezeptivität der Eindiiicke). die zweite das Vermögen, durch jene Vorstellungen einen Gegenstand zu er-

*J A dickes: Kants Systematik als systemhihleiider Faktor (I«87). 54 f. Ders.: Im. Kants Kritik d. r. V. mit einer Erläuterung u Anmerkungen hrso-. ri889). 233.

kennen (Spontaneität der Begrifte) ; durch die erstere wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird dieser im Veriiältnis auf diese Vorstellung (als bhd'se Bestimmung des Gemüts) ge- dacht. Anschauungen und Begriffe machen also die Elemente aller unserer Erkenntnis aus, so dafs weder Begriffe ohne ihnen auf einige Art korrespondierende Anschauung, noch Anschauung ohne Begriffe eine Erkenntnis abgeben können" (81). „Gedanken ohne Inhalt sind leer. Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es ebenso notwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. h. ihnen den Gegenstand in der Anschauung l)eizufügen), als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. h. sie unter Begriffe zu bringen)" (82). „Wenn also eine Erkenntnis objektive Realität haben, d. h. sich auf einen Gegenstand beziehen und in demselben Bedeutung und Sinn haben soll, so mufs der Gegen- stand auf irgend eine Art gegeben werden können. Ohne das sind die Begrifte leer, und man hat dadurch zwar gedacht, in der That aber durch dieses Denken nichts erkannt, sondern blofs mit Vorstellungen gesj)ielt. Einen Gegenstand geben, wenn dieses nicht wiederum nur mittelbar gemeint sein soll, sondern unmittelbar in der Anschauung darstellen, ist nichts Anderes, als dessen Vor- stellung auf Erfahrung beziehen. Die Möglichkeit der Erfahrung ist also das, was allen unseren Erkenntnissen objektive Realität giebt" (151). „Da keine Vorstellung unmittelbar auf den Gegenstand geht als blofs die Anschauung, so wird ein Begriff niemals auf einen Gegenstand unmittel])ar . sondern auf irgend eine andere Vorstellung von demselben (sie sei Anscbauung oder selbst schon Begriff') bezogen" (98). „Also beziehen sich alle Be- grifte und mit ihnen alle Grundsätze, so sehr sie auch a priori möglich sein mögen, dennoch auf empirische A n s c h a u u n g e n , d. h. auf data zur möglichen Erfahrung. Ohne das haben sie gar keine objektive Gültigkeit, sondern sind ein blofses Spiel, es sei der P]inbil(lungskraft oder des V^erstandes. respektive mit ihren V^orstellungen." Selbst die reine Anschauung, wiewohl sie noch vor dem Gegenstande a priori möglich ist, „kann doch ihren Gegen- stand, mithin die objektive Gültigkeit nur durch die empirische An- schauung bekommen" ('-211).

An der Anschauung und somit letzten Endes an dem Materiale der Empfindung liegt es also, dafs unseren Vorstellungen Realität zukommt. „In dem blofsen Begriff eines Dinges kann gar kein Charakter seines Daseins angetroffen werden. Denn dafs der Begriff' vor der Wahrnehmung vorhergeht, bedeutet dessen blofse M<>gliehkeit ; die Wah r n e h m ung aber, die den Stoff' zum Begriff*

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liei'fi^iebt, ist der einzige Charakter der Wirklichkeit." Man vermag aber auch vor der Wahrneliminij^^ des Dinges, und also komparativ ji priori dessen Dasein zu erkeinien , wenn es nur mit einigen AVahrnehmungen nach den Grundsätzen der empirischen Verknüpfung derselben (nach Analogie) zusammenhängt, z. B. „das Dasein einer alle K<Jrper durchdringenden Materie aus der Wahr- nehmung des angezogenen Eisenfeiligs, obzwar eine nnmittell)are AValirnehmung dieses Stoffes nach der BeschafYenheit unserer Organe unmöglich ist. Denn überhaupt würden wir nach Gesetzen der Sinn- lichkeit und dem Kontext unserer AVahrnebmungeu in einer Er- fahrung auch auf die unmittelbar emi)irische Anschauung derselben stofsen. wenn unsere Sinne feiner wären, deren Grobheit die Form m()glicher Erfahrung überhaupt nichts angeht. Wo also Wahr- nehmung und deren Anhang nach empirischen (Tcsetzen liinreicht, dahin reicht auch unsere Erkenntnis vom Dasein der Dinge*' (lij()f.). Wenn nur die Empfindung, die der Wahrnehmung zu Grunde liegt, nicht selbst etwas blofs Subjektives und Ideales wäre! Weil sie dies ist, so ist nicht einzusehen, was sie zur Realität unserer Vorstellungen beitragen sollte. iVlag immerhin in dem Baumateriale unserer Vorstellungswelt ein Element enthalten sein, das nicht aus der Spontaneität des Verstandes entsprungen und daher dem letzteren als „gegeben" erscheint: insofern es nur ein i'rodukt des Subjekts ist und in rlen Inhalt der subjektiven Elemente sich eingliedert, in- sofern ist und bleibt es doch rein idealer Natur und führt uns in das Gebiet des AV'jrklichen unmittelbar nicht hinüber. ..Denn man kann doch aufser sich nicht empfinden, sondern nur i n sich selbst, und das ganze Selbstbewufstsein liefert daher nichts als lediglich unsere eigenen Bestimmungen" (604). Das Reale äufserer Erscheinungen ist also wirklich nur in der Wahrnehmung und kann auf keine andere Weise wirklich sein" (1)02). „Das Reale der Emplindung ist blofs subjektive Vorstellung" (ir)9), „Veränderung unseres Subjekts, die sogar bei verschiedenen Menschen verschieden sein kann" (()4), und durch deren Zergliederung und Untersuchung wir „auf allen Fall doch nur unsere Art der An- schauung, (1. h. unsere Sinnlichkeit, vollständig erkennen" würden (72). Die Wahrnehmung als solche verbüfgt noch keineswegs die Realität, denn „da können allen^ings trügliche Vorstellungen ent- s])ringen, denen die Gegenstände nicht entsprechen, und wobei die Täuschung bald einem Blendwerke der Einbildung (im Traume), bald einem Fehltritte der Urteilskraft (beim sogenannten Betrüge der Sinne) beizumessen ist" (()()2. vgl. 20f)). „Welchen gegebenen Anschauungen wirklich Objekte aufser mir korrespondieren, und die

also zum äufseren Sinne gehören, welchem sie und nicht der Ein- bildungskraft zuzuschreiben sind, mufs nach den Regeln, nach welchen Erfahrung überhaupt von Einluldung unterschieden wird, in jedem besondern Falle ausgemacht werden" (:^(j). Das blofse Ge- gebensein der Empfindung also genügt für sich allein noch nicht, um unsern Vorstellungen Realität zu verleihen, denn jene kcmnte ebenso gut „durch innere Ursachen gewirkt" (öGT) und also ein blofses Produkt unserer Einbildungskraft sein. Hält es doch Kant selbst nicht für ausgeschlossen, dafs es das Subjekt der Gedanken sei. welches unseren äufseren Sinn so affiziere, dafs er die Vor- stellungen von Raum. ]\Iaterie, Gestalt u. s. w. bekommt (092). Damit wäre denn freilich alles rein subjektiv-ideal und es wäre ganz unm()glich, eine Unterscheidung zwischen realen und idealen Vorstellungen zu trelfen.

Wir sahen oben, dafs der Verstand nicht, wie Kant annimmt, rein spontan funktioniert, sondern selbi^t bedingt ist durch den In- halt der Empfindungen, die erst die Anwendung der besonderen Funktionc^n hervorrufen. Hier zeigt sich, dafs auch die Sinnlichkeit nicht rein passiv, blofse „Rezeptivität der Eindrücke" ist, sondern die Empfindungen selbst erst aus sich gestaltet. Die Empfindung ist nicht ein unmittelbares Erzeugnis der Siinilichkeit in dem Sinne, dafs sie auf der spontanc^i Bethätigung ihrer Funktion be- ruhte; sie ist vielmehr nur als eine Reaktion der Sinnlichkeit auf ein])fangene Eindrücke zu betrachten, die aber als solche doch aus der Natur der Seele selbst entspringt und dieser allein ihre Existenzform als Empfindung zu verdanken hat. Spontan also ist die Entstehung der Empfindung nur in demselben Sinne, wie es die Anwendung der Verstandesfunktionen ist, und rezeptiv oder passiv ist die letztere nicht anders, wie es die Entstehung der Em- pfindung ist. Daraus ergiebt sich die Haltlosigkeit der kantischen Unterscheidung zwischen der Sinnlichkeit und dem Verstände. Kant bildet sich ein, durch Addierung zweier idealen Faktoren, den Verstandesfunktionen und den Empfindungen, einen realen Faktor erhalten zu können. Aber dies mufs notwendig ebenso fehlschlagen, wie es nach unserer obigen Darstellung unnn'iglich ist, aus zwei subjektiven Faktoren, den Vorstellungen und der hinzugefügten Regel der Verknüpfung, einen objektiven Faktor herauszubringen. Wie die Objektivität unserer Vorstellungen nur dadurch gewähr- leistet wurde, dafs sie, obzwar an sich immanente Modifikationen unseres Bewufstseins, dennoch auf transcendente Gegenstände sich bezogen, so kann auch die Realität derselben nur in ihrer Beziehung auf wirkliche Gegenstände begründet sein. Kant hat ganz Recht,

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die Ecnlität unserer Vorstellungen iii der Sinnliclikeit zu suchen, aber liier doch nur iius dem (irrunde, weil in dem Inhalte der Sinn- lichkeit, in der Empfindunij^. die Wirklichkeit und die Welt des Bewufstseins sich gleichsam uri mittelbar berühren. Nur weil die Emj)Hndun;,^ durch Einwirkung der realen Uinge an sich entstanden ist, weil sie gleichsam die Pfoi-tt» bildet, durch welche die letzteren ins Bewufstsein eintreten, nur darum erscheint sie realer als die Vorstellung, die erst aus ihr entsteht. Es ist aber nicht zu ver- gessen, dafs sie, als Empliiidung, selbst schon zum idealen Inhalte unseres Bewnl'stseins gehört und daher nur durch ihre Beziehung anf das Ding an sich der Vorstellung den Charakter der Kealität verleihen kann. Dieselbe transcendente Kausalität also, welche die Vorst(dlungen unserer subjektiven AVillkiir entrückt, hebt sie auch über die Sphäre der blol'sen Idealität hinaus. 1 m Ding an sich, von dem allein jene reale Einwiikung auf das 8ubj(dvt ausgeht, liegt ni(;ht blol's der Grund l'ür die Objektivität, sondern auch für die Kealität unserer Vorstellungen im Bewufstsein; die ,.objektive Realität-' der Erfahrung ist nur deshalb kein leeres Wort, weil die Erfahrung, als Inhalt unseres Bewufstseins, ihr traiiseendentes Korrelat am Ding an sich besitzt.

So ist es also nur Ein Problem, ob ich nach der Realität oder nach der Objektivität meiner Vorstellungeu frage, und daher ist hierauf auch nur Eine Antwort möglich. Kant hat das Problem gewaltsam in zwei Hälften auseinandergerissen, weil er die Sinn- lichkeit s])eziflsch vom Verstände unterschieden hatte. Mit der Einsiclit in die Unhaltbarkeit dieses Dualismus unserer Vorstellungs- vermögen wird auch jene Einheit wieder hergestellt; es handelt sich alsdann nicht sowohl mehr darum, worauf die Objektivität und worauf die Realität unserer Vorstellungen sich gründet, sondern darum, wodurch ül)erhaupt objektive Vorstellungen möglich werden.

Die reine Naturwissenschaft begründet die Gesetze a priori, welche zum \\'( sen der Natur gehören. Auf diesem Standpunkt ist ein Zwt'ifel an den Grundgesetzen der letzteren nic-ht möglich, weil die objektiven Gesetze der Erfahrung nichts Anderes als die subjektiven Bedingungen ihres Daseins im BewuCstsein sind und folglich ein Zweifel an ihrer Realität die Realität des Denkens seihst betreffen würde. Das ist eine Anschauung, derjenigen gerade entgegengesetzt, welche D e s car t es zuerst aufgestellt hat. Der pi-oblematische oder skeptische Idealismus des Descartes, wie Kant ihm nennt, be- hauptet nur die eigene Existenz sei (TCgenstand einer unmittelbaren Wahrnehmung, das Dasein eines wirklichen Gegenstandes aufser mir dagegen sei niemals geradezu in der \\^ihrnehmung gegeben, sondern

nur zu dieser, die eine Modifikation des inneren Sinnes ist, als äufsere Ursache hinzugedacht und mithin nur erschlossen. „Nun ist aber ein Schlufs von einer gegebenen Wirkung auf eine bestimmte Ursache jederzeit unsicher, weil die Wirkung aus mehr als einer Ursache entsprungen sein kann. Demnach bleibt es in der Beziehung der AVahrnehmung auf ihre Ursache jederzeit zweifelhaft, ob diese innerlich oder äufserlich sei, ob also alle sogenannten äufseren AVahrnehmungen nicht ein blofses Spiel unseres inneren Sinnes seien, oder ob sie sich auf äufsere wirkliche Gegenstände als ihre Ursache beziehen" (;)98). Wäre die Natur oder die Materie, als Gegenstand der äufseren Wahrnehmung, blofs erschlossen, wäre sie selbst nur (^ne Vorstellung a posteriori, dann wäre es freilich unuK'iglich, a priori synthetische Urteile über sie zu fallen, dann gäbe es keine Naturphilosophie. „Denn in der That, wenn man äufsere Erscheinungen als Vorstellungen ansieht, die von ihren Gegenständen, als an sich aufser uns befindlichen Dingen, in uns gewirkt werden, so ist nicht abzusehen, wie man dieser ihr Dasein anders als durch den Schlufs von der Wirkung auf die Ursache erkennen könne, bei welchem es immer zweifelhaft bleiben mufs, ob die letztere in uns oder aufser uns sei" (600). ,,Wenn wir äufsere Gegenstände für Dinge an sich gelten lassen, so ist schlechthin unmöglich, zu begreifen, wie wir zur Erkenntnis ihrer Wirklichkeit aufser uns kommen sollen, indem wir uns blofs auf die Vorstellung stützen, die in uns ist" (004). „Nun kann man zwar einräumen, dafs von unseren äufseren Anschauungen etwas, was im trans- cendentalen Verstände aufser uns sein mag, die Ursache sei; aber dieses ist nicht der Gegenstand, den wir unter den Vorstellungen der Materie und körperlicher Dinge verstehen; denn diese sind lediglich Erscheinungen, d. i. blofse Vorstellungsarten, die sich jederzeit nur in uns befinden und deren Wirklichkeit auf dem unmittelbaren Bewufstsein ebenso , wie das Bewufstsein meiner eigenen Gedanken beruht" (600). Wir wissen ja. dafs die Realität blofs in der Empfhidung ist, dafs wirklich nur ist, was mit dieser letzteren zusammenhängt; was kümmert uns die transcendente Ursache unserer Em])findung, da die Materie, mit welcher es die Naturwissenschaft zu tliun hat, uns vollständig in der äufseren Wahrnehmung gegeben ist?

„Der transcendentale Idealist kann die Existenz der Materie einräumen, ohne aus dem blol'sen Selbstbewufstsein hinauszugehen und etwas mehr als die Gewifsheit der Vorstellungen in mir, mithin das cogito ergo suin anzunehmen. Denn weil er diese Materie und sogar deren innere Möglichkeit blofs für Erscheinung gelten läfst,

D r e w s, Kants Naturphilosophie. 12

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die, von unserer Sinnlichkeit abgetrennt, nichts ist, so ist sie bei ihm mir eine Art Vorstellungen (Anschauung), welche äufserlich heifsen, nicht als oh sie sich auf an sich selbst äulsere Gegenstände bezögen, sondern weil sie Walirnehnuingen auf den Kaum be- ziehen, er selbst, der Raum, aber in uns ist" (oUD). Da ist es denn gar nicht mehr bedenklich, das Dasein der Materie ebenso auf das Zeugnis unseres blolsen Selbstbewul'stseins anzunehmen und dadurch lür bewiesen zu erklären, wie das Dasein meiner selbst als eines denkenden Wesens. „Denn ich bin mir doch meiner Vor- stellungen bewufst; also existieren diese und ich selbst, der ich diese Vorstellungen habe. Kun sind aber äul'sere Gegenstände ( Kr)rj)erj blol's Erscheinungen, nritliin aucli nichts Anderes als eine Art meiner Vorstellungen, deren Gegenstände nur durcli diese Vorstellungen etwas sind, von ibnen abgesondert aber nichts sind. Also existieren ebensowohl äulsere Dinge, als ich selbst existiere, und zw^ar beide auf das u n m i tt e ] b n r e Zeugnis meines Selbstbewul'stseins ; nui- mit dem Unterscbiede, dafs die Vorstellung meiner selbst, als des denkenden Subjekts, blol's nuf der inneren, die Vorstellungen aber, welcbe ausgedelmte Wesen bezeiclmen. auch aul' den äul'seren Sinn bezogen werden, leb habe in Absicht auf die Wirklicbkeit äul'serer Gegen- stände ebensowenig nötig, zu schliel'sen. als in Ansehung der Wirk- lichkeit des Gegenstandes meines inneren Shmes (meiner Gedanken): denn sie sind beiderseitig nichts als Vorstellunc^en, deren unmittel- bare AVahrnehmung (l^ewulstsein) zugleicli ein genügsamer Beweis ihrer Wirklichkeit ist*' (ebd.). „Alle äulsere AVahrnebmung also ])eweiset u n mittel b a r etwas W^irkliches im Ixaume, oder i s t vielmehr das Wirkliche selbst, und insofern korres])ondiert unseren äufseren Anschauungen etwas Wirkliches im llaunn^ Freilich ist der Kaum selbst mit allen seinen P^rscheiinini^en, als Vorstellungen, nur in n)ir ; aber in diesem Eaume ist doch .i^deichwobl das Reale oder der Stoff aller Gegenstände äul'serer Anschauung wirklich und unabhängig von aller P^rdicbtung gegeben, und es ist auch unuKiglicb, dafs in diese m R a u m e irgend etwas a u f s e r u n s im trans- cendentalen (mufs beifsen „transcendenten") Sinne gegeben werden sollte, weü der Raum selbst aul'ser unserer Sinnlichkeit nichts ist" (liirj).

Diese unmittelbare AVirklicbkeit der Gegenstände im Rewulst- sein nennt Kant die ,,em }) i r i s c b e Realität" derselben. ,,Also ist der transcendentale Idealist ein emj)irischer Realist und gestellt deriVIaterie, als Erscbeinung, eine Wirklicbkeit zu, die nicht gescblossen werden darf, sondern unmittelbar wahrgenommen wird. Dagegen kommt der transcendentale Realist notwendig in Verlegenheit und

sieht sich genötigt, dem empirischen Idealismus Platz einzuräumen, weil er die Gegenstände äufserer Sinne für etwas von den Sinnen selbst Unterschiedenes und blofse Erscheinungen für selbständige Wesen ansieht, die sich aufser uns befinden, da denn freilich bei unserem besten Bewufstsein unserer V^u'stellung von diesen Dingen noch lange nicht gew^ifs ist, dafs. Avenn die Vorstellung existiert, auch der ihr korrespondierende Gegenstand existiere" (599 f.). Man sieht, hier wird der transcendentale Realismus, der die eigentliche Realität in die Dinge an sich und in die Empfindung nur insoweit verlegt, als sie dui'ch jene hervorgerufen ist und sich auf sie be- zieht, nur desbalb von Kant verworfen, weil nacli ilim die Wirk- licbkeit der Dinge blofs hypotlietisch und niemals unmittelbar zu l)eweisen ist. Es fragt sich alier. ob die Materie, wie Kant es annimmt, so restlos in ibrer unmittelbaren Wahrnehmung aufdreht. Darüber kann ja kein Zweifel bestdien, dafs der Begi'ilf der empirischen Realität, wie Kant ilir, aufstellt, etwas ganz Anderes bedeutet, als was man gewölmlich im Sinne hat. wenn man von der \\ irklicdikeit seiner Vorstellungen redet. Offenbar nämlich ist doch hiermit gemeint, die Vorstellung sei das subjektive Abbihl einer an sich vorhandenen Wirklichkeit. Wir glauben an das J)asein des Dinges unabhängig von dem x\kte des Vorgestelltwerdens und sind überzeugt, es existiere als ein und dasselbe Ding, auch wenn es in den verschiedensten Zeiten zum Gbiekt der Wahruelnnunj]: und in den verschiedensten Subjekten zum Gegenstande des Be- wufstseins wird. „Nui- diese Realität ist es. die den Menschen praktisch etwas angeht, nur diese, deren er sich durch die P]rfahrung zu ver^^ewissern sucht, um sein i)raktisches Verhalten ihr anzupassen ; nur diese eine ist die „empirische Realität" in dem Sinne, in welcliem allein Empirie und Realität ein unmittelbares und instinktives Interesse für den Menschen haben. Jede Anwendung des Wortes .,em])irische Realität" auf eine blofs subjektive Fh'seheinungswelt ohne unmittelbare Identität mit der Welt der Dinge an sich und ohne transcendentale Beziehung auf eine soldie ist ein ungehöriger Wortniilsbrauch, do])pelt unj^^ehörig, weil seine Falschmünzerei zur Verwijrung und Irreleitung bestimmt ist."*) Kant thut so. als ob der von ihm aufg(^stellte Begriff der empirischen Realität allein schon ausreiche, um den subjektiven Idealismus abzuweisen. „Den emjiirischen Idealismus." behauptet er. „als eine falsche Hedenklich- keit wegen der objektiven Realität unserer äufseren Wahiiiehinungen, zu widerlegen, ist schon hinreichend, dafs äulsere Wahrnehmung

*j V. Hartman 11 : Krit. Gruudleg. J9.

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eine Wirklichkeit im Räume unmittelbar beweise, welcher Raum, ob er zwar an sich nur blolse Form der Vorstellungen ist, dennoch in Ansehung aller äul'seren Erscheinungen (die auch nichts Anderes als blolse Vorstellungen sind) objektive Realität hat; imgleichen. dal's ohne AVahrnehmung selbst die Erdichtung und der Traum nicht mciglich seien, unsere ilufseren Sinne also den Datis nach, woraus Erfahrung entspringcMi kann , ihre wirklichen korrespondierenden Gegenstände im Räume haben" iar.y). Als ob an dieser blol's sub- jektiven Realität der äufseren Gegenstände, als Inhalten des Be- wui'stseins, jemals selbst der radikalste subjektive Idealist und Skej)- tiker gezweifelt hätte! Als ob nicht auch unseren Bildern im Traume und in der Einbildung eben die nämliche Re^dität anhaftete! Als ob wir überhaupt auch nur von Dingen reden kr)nnten, wenn ihnen nicht in diesem Sinne Realität zukäme! An der Existenz seiner Vorstellungen als Vorstellungen zweifelt ja kein vernünftiger Mensch, von ihr besitzen wir allerdings ein unmittelbares Bewufstsein. Aber um diese Realität handelt es sich ja gar nicht in der Erkenntnis- theorie, sondern darum, über diese unmittelbar verbürgte Realität unsen^r Vorstellungen hinauszukommen, zu ergründen, ob ihnen auch noch eine andere Bedeutung zukommt. abgeseh(Mi davon, dafs sie in unserem Bewufstsein wirklich sind. Kant selbst bemerkt von <l<'n Vorstellungen des äufseren Sinnes, „dafs sie dieses Täuschende an sich haben, dafs, da sie Gegenstände im Räume vorstellen, sie sich gleiclisam von der Seele ablösen und aufser ihr zu schweben scheinen*' (liOS). Wenn dies nicht irgendwie in den Gegenständen selbst begründet, sondern nur eine Prellerei unseres Verstandes ist. dann sind also doch in dieser Beziehung di(^ äufseren Wahrnehmungen vor unsern inneren Vorstellungc^n in einem ungeheuren Nachteil; denn diese werden wir immer nur für blofs subjektiv halten, bei jenen dagegen kiinnen wir niemals sicher sein, (^s mit der wirklichen Materie und nicht vielmehr mit einer blofsen Traum- oder Phantasie- vorstellung zu thun zu haben, da ja zwischen beiden gar kein Unter- schied besteht.

Das scheint denn auch Kant seihst zu fühlen, und aus diesem Bewufstsein heraus erklärt es sich, wenn er an Stelle der fort- gefallenen obigen P^rörterungen der ersten Auflage in der zweiten Auflage der Vernunftkritik eine besondere .. W i d c i'leg u ng des Ideali smus"' eingeschaltet hat. Die äufsere V'eranlassung gab bekanntlich die F e d e r-G a r v e s c h e Rezension in den ,,G öttingisclien gelehrten Anzeigen" (Januar \]^2), die seinen Standpunkt für Perke- leyismus erklärt hatte. Kant will dem problematischen Idealismus des Descartes gegenüber darthun, dafs innere Erfahrung, weit

entfernt, unmittelbarer uiul ursi)rünglicher als äufsere Erfahrung zu sein, vielmehr allein durch diese möglich sei. ..Alle Zeitbestimmung setzt etwas Beharrliches voraus. Dieses Beharrliche aber kann nicht etwas in mir sein ; weil eben mein Dasein in der Zeit durch dieses Beharrliche allererst bestimmt werden kann. Also ist die Wahrnehmung dieses Beharrlichen nur durch ein Ding aufser mir und nicht durch die blofse Vorstellung eines Dinges aufser mir niiiglich- (1!)8).

Der Beweis ist ein charakteristisches Beispiel für das Un- bestimmte und Schillernde, das einem Verständnis der kantischen Darstellung so sehr entgegen steht, und hat daher auch von jeher zu vielen Mifsverständnissen Anlafs gegeben. Was soll denn eigent- lich mit ihm bewiesen werden? Nimmt man das „aufser mir'' in immanentem Sinne (als sul)jektive Vorstellung des äufseren Sinnes). wie man dies nach dem Zusammenhange der Stelle mit den obigen Auseinandersetzungen der ersten xAuflage notwendig thun mufs, so ist der Beweis eine pure Selbstverständlichkeit: denn er demonstriert etwas mit umständlichen Gründen, woran noch kein Mensch ge- zweifelt hat. und widerlegt etwas, wo überhaupt nichts zu wider- legen ist oder wer brauchte es noch bewiesen zu haben, dafs seine Vorstcdlungen äufserer Gegenstände äufsere Gegenstände vor- stellen? Nimmt man jenes ..aufser mir'" in transcendentem Sinne, verstellt man es so. als habe Kant das Dasein von aufserhalb dor Spliäre unseres Bewufstseins befindlichen Dingen an sich beweisen wollen, dann könnte man darin zwai* eine ..Widerlegung des Idealis- mus" sehen, aber es bleibt unverständlich, wie Kant seinen Beweis auf die Kategorie der Substantialität gründen konnte, die nach seiner ausdrücklichen Lehre nur eine subjektive Denkform und gar nicht imstande ist, über die Existenz von transcendenten Dingen etwas auszumachen. Und doch hat es den Anscdiein, als ob gerade dieses seine eigentliche Meinung sei. Naclnh^m ihm nämlich Jacob i in seinen Briefen über die Lehre des Si)inoza (li«"^ö), sowie vor alh'm in seiner Schrift „David Hume über den Glauhen oder Idealismus uiul Realismus" ( ITS?) entgegengehalten, dafs wir das Dasein von Dingen aufser uns niemals beweisen, sondern nur auf (-Jlauben an- nehmen könnten, kommt er in der Vorrede zui' zweiten Auflage der Vernunftkritik auf seinen Beweis zui"ück und erklärt es für einen „Skandal der Philosophie und allgemeinen Menschenvernunft, das Dasein von Dingen aufser uns (von denen wir doch den ganzen Stoff zu Erkenntnissen selbst für unseren inner(Mi Sinn her haben), blofs auf Glauben annehmen zu müssen und, weim es jemand einfällt, es zu bezweifeln, ihm keinen genugthuenden Beweis ent-

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gegenstellen zu können-' (29). „Weil sich in den Ausdrücken des (obij^^en) Beweises einige Dunkelheit findet," so formt liier Kant den- selben um. ohne jedoch eigentlich etwas Neues hin/tiziitii.uen. Es^ m'lit aber aus der Anreguni,^ durch dacobi hervor, dai's es sich hierbei um die Existenz von transcendenten Dingen handelt, denn nur diese konnte d acobi meinen, als er einen Beweis für die Aufsen- dinge auf rein logischem Wege für unmöglich hielt. Dann aber ist es ein })lum])er Rückfall Kants in den Standpunkt des naiven Realismus^ zu dessen Überwindung ja gerade seine ganze Kritik bestimmt ist, wenn er das Dasein von Dingen nn sich glaubt auf das unniittelbjire Hewufstsein von ihnen stützen zu können.

Olfeid)ar befand sich Kant in einem fatalen Dilemma. Er mufste bestrebt sein, um jeden Preis (be Realitiit der materiellen Aufsendinge aufre(dit zu erhalten, weil daran nicht blofs das Schicksal der Kthik, sondern vor allem auch seiner Xaturphilosopliie bing ; diese Absicht schien die Annahme eines transcendenten Daseins der Materie zu fordern. Aber gerade aus naturphilosophischen Gründen mufste er zugleich die Immanenz der Materie behaupten, weil nur so eine apriorische Erkenntnis von ihr möglieb war. In der „Widerlegung des Idealismus-' laufen beide Annahmen durcheinander, und so schillert sie gleichmiifsig nach beiden Seiten hin. Bei seiner wunderlichen Auffassung des Begriffs der empirischen Realität mochte sicii Kant wohl selbst darüber täuschen, dafs die beiden Annahmen mit einander unvereinbar seien. Er hatte nur Ein Interesse: die Grund- lagen der Naturwissenschaft festzulegen, und darum bekümmerte es ihn nicht, dafs er in demselben Beweise, mit dem er der äufseren Materie den Cbarakter einer unmittelbaren Erkennttiis siciierte, dem Gegenstande des inneren Sinnes oder der Seele eine Zurücksetzung angededien liefs, die aller bisherigen Anschauungsweise schnurstracks entgegenlief.

Bisher hatte man die Seelenlehre oder die „Physiologie des inneren Sinnes*' für wiclitiger als die Körperlehre oder die „Physi()h>gie der Gegenstiinde äufserer Sinne*' angesehen, schon deshalb, weil ihre Erkenntnis eine grrU'sere Sicherheit zu haben schien. Kant dagegen kehrt dies Verhältnis um und meint, es bestehe zwischen ihnen der „merkwürdige Unterschied, dafs in der letzteren Wissenschalt (h)cli vieles a priori aus dem blofsen Begritl'e eines ausgedehnten un- durclidringlichen Wesens, m der ersteren aber aus dem Begriife eines denkenden Wesens gar nichts a })riori synthetisch erkannt werden kann. Die Ursache ist diese : Obgleich beides Erscheinungen sind, so hat doch die Erscheinung vor dem äufseren Sinne etwas Stehendes oder P)leibendes. welches ein den wandelbaren Bestim-

munfjen zum Grunde liegendes Substratum und mithin einen syn- thetischen l^egriif. nämlicli den vom Paume und einer Erscheinung in demselben an die Hand giebt. anstatt dafs die Zeit, welche die einzige Form unserer inneren Anschauung ist. nichts Bleibendes hat, mithin nur den Wechsel der Bestimmungen, nicht aber den be- stimmbaren Gegenstand zu erkennen giebt*' fbOf)). In der Natur- philosophie erkennen wir nicht blofs dessen Bestimmungen, sondern zugleich den Gegenstand selbst. Darum gewinnt die äul'sere An- schauung für Kant eine solche Wichtigkeit, weil sie den Gegen- stand der Naturwissenschaft ausmacht, und betont er, „dafs wir, um die Mötglichkeit der Dinge zufolge der Kategorieen zu vc^rstehen und also die objektive Pealität der letzteren darzuthun. nicht Idofs Anschauungen, sondern sogar immer äufsere Anschauungen be- dürfen" (207). So ist z. P). das Beharrliche, das wir den wandel- baren Bestimmungen in der Natur, als dem Begriffe der Substanz korrespondierend, zu Grunde legen, die äufsere Anschauung der Materie, und ebenso müssen wir, ,,uni V^eränderung, als die dem Begriffe der Kausalität korrespondierende Anschauung darzustellen, Bewegung als Veränderung im Räume zum Beispiel nehmen.*' Denn, „wie es m()glich ist, dafs aus einein gegebenen Zustand(^ ein ihm entgegengesetzter desselben Dinges folge, kann nicht allein keine Vernunft sich ohne Beispiel begreiflich, sondern nicht einmal ohne Anschauung verständlich machen, und diese Anschauung ist die Bewegung eines Punktes im Räume, dessen Dasein in verschiedenen ( )rtern (als eine Folge entgegengesetzter Bestimmungen) zuerst uns allein Veränderung anschaulich macht" (ebd.).

An das dritte Postulat des empirischen Denkens, das von der Notwendigkeit der Erscheinungen geniäfs ihrt^r Abfolge nach dem Kausalgesetze handelt, schliefsen sich als Folgerungen noch einige ,,Naturgesetze" an. die ihre Stellung offenbar nur hier gefunden haben, weil Kant sie anderswo nicht gut unterzubringen gewufst hat. Dieselben lauten: „in mundo non datur hiatus, non datur saltus. non datur casus, non datur fatum." „Diese vier Sätze," meint Kant, „köjiniten wir leicht, sowie alle Grundsätze trans- cendentalen Ursprungs, nach ihrer Ordnung gemäl's der Ordnung der Kategorieen vorstellig machen und jedem seine Stelle anweisen; allein der schon geübte Leser wird dieses von selbst thun oder den Leitfaden dazu leicht entdecken" (2()'2). Leider hat Kant auch nicht den leisesten Wink darüber gegeben, in welchem Verhältnis der hiatus zur Quantität und der saltus zur (Qualität der Kate- gorieentafel stehen s(dl, und so dürfte es selbst dem geübtesten Logiker und Transcendentalphilosophen schwer fallen, eine ver-

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iiüiifti^e Beziehung hier hfrauszufnuhMi. Ein })t'sonclerer Wert kommt jenen „Naturgesetzen*' auch nicht zu. ,.Sie vereinigen sich alle ledi^dich daliin. um in der empirischen Synthesis nichts zu- zulassen, was dem Verstände und dem kontinuierlichen Zusammen- han f,'e aller Erscheinungen, d. i. der Einheit seiner Begriffe, Ah- hruch oder Eintrag thun könnte. Denn er ist es allein, worin die Einheit der Erfahrungen, in der alle Wahrnelimungen ihre Stelle haben müssen, möglich wird" (ebd.).

Damit ist der Inhalt der reinen Naturwissenschaft ersch()pft. Fafst man zum Schlufs noch einmal das Gesamtresidtat ins Auge, so lautet freilich das Urteil dieser sogenannten „reinen*' Wissen- schaft nicht günstig. Die Ableitung ihrer Sätze aus der Kategorieen- tafel ist gesucht, ja, Kant scheint selbst nicht recht an eine wirklicli inn(^re Beziehung der Grundsätze zu den vier Haupttitehi seiner Kategorieentafel geglaubt und dalier ihnen eigene Namen gegeben zu haben; seine Aussage, er iiaue jene Benennungen „mit Vorsicht gewählt, um die Unterschiede in Ansehung der Evidenz und der Ausül)ung dieser (iSrundsätze nicht unbemerkt zu lassen" (104 f.), ist wohl nicht mehr als eiiu^ Veidegenheitsaustlucht. um die *j:ar zu grofse Beziehungslosigkeit zwischen dem Inhalt seiner Grundsätze und der ihnen aufgeklebten Kategorieenetiketten zu verdecken. Dazu kommt, dafs eben die Kategorieentafel ihn verleitet hat. Sätze in den Inhalt seiner reinen Naturwissenschaft aufzunehmen, die teils keine Grundsätze, teils überflüssig sind und daher in diesen Zu- sammenliang am allerwenigsten hineingelniren. Als Grundsätze, die Erfahrung selbst erst schaifen, sollen die von Kant aufgestellten Gesetze „rein", d. h. apriorisch, sein und gar nichts Empirisches in sich enthalten: zugleich aber sollen sie synthetisch sein, in- dem sie die Elemente der Erkenntnis zu einer Erfahrung vereinigen. Nun sind aber jene Grundsätze teils, so weit sie a))riorisch sind, nicht synthetisch, so weit sie synthetisch sind, nicht ajjriorisch. teils, so weit sie jener Anforderung ents2)rechen, sind sie, wie der Grund- satz der Kausalität, einfach falsch. Die reine Naturwissenschaft ist nicht imstande, das Zustandekommen unserer E;'kenntnis und damit die Erfahrung zu (^'klären. Sie scheitert daran, die objektive Realität unserer Vorstellungen begreiflich zu machen umi s])errt uns in den Kiifig unserer subjid^tiven Vorstellungswelt ein. aus dem wir niemals hinauskommen kiumen, und wo uns zu unserer Be- ruhigung nur die unzerstörbare Illusion gegeben ist, es mit wirk- lichen DingcMi zu thun zu halxMi. während wir doch immer und in alle Ewigkeit nur tms selbst und die ^Jotlifikationeii unseres Ge- müts anschauen. Damit beiriebt sich die reine Naturwissenschaft

des Anspruchs, als Grundlage der allgemeinen Naturwissenschaft dienen zu wollen. Denn diese hat es gar nicht mit dem blofs Subjektiven zu thun; die Vorstellungen haben ^\\v sie nur in- soweit Bedeutung, als sie ein transcendentes Sein rej)räsentieren. Erst wo die Welt der Dinge an sich beginnt, da beginnt auch zugleich das Feld ihrer Untersuchungen. Erst wo die Atome und ^loleküle eine selbständige Existenz aufserhalb der Grenzen des Bewufstseins haben, geht der Naturforscher auf Entdeckungen aus. Die Gesetze, die er auf diesem Gebiete findet, sind ihm ein Aus- druck für reale Beziehungen der Dinge unter einander, nicht blofs für ideale Beziehungen unserer Vorstellungen von d(Mi Dingen, Fallen diese Dinge aus dem Bereiche der reinen Naturwissen- schaft heraus, weil ihre Erkenntnis nicht rein, sondern empirisch, ihre Annahme nicht apodiktisch, sondern hypothetisch ist, so giebt es eben gar keine reine Naturwissenschaft, denn die Gesetze, die Kant ihr zuschreibt, reichen iÜjer die Grenzen des Bewufstseins nicht hinaus und berühren daher gar nicht das Gebiet derjenigen Ding(\ die den Begriff der Natur ausmachen.

b) Die transcendenten Prinzipien der Xatur])hilosophie.

«. Die kosmologischen Ideen.

Mit der Einsicht, dafs alle unsere apriorische Erkenntnis sich nur auf mögliche Erfahrung bezieht, waren auch der Naturphilo- sophie ihre Grenzen gesteckt und war eine Reihe von Problemen von ihr ausgeschlossen, die Kant früher im natur])hilos()]>hischen Inter- esse behandelt hatte. So lange Kant noch der Ansicht war. mit dem reinen Denken die Beschaffenheit des intelligibeln Seins er- gründen zu können und die Welt als Dinge an sich betrachtet hatte, so lange hatte es noch einen guten Sinn, zu fragen, oh die AVeit einen Anfang habe in der Zeit und dem llaume nach in Grenzen eingeschlossen sei oder nicht, ob der Körper aus einfachen Substanzen bestehe, oder ob er ins Unendliche teilbar sei. u. s. w. Die Absicht, hierüber zu einer sicheren Eikenntnis zu gelangen, hörte dagegen auf. vernünftig zu sein, sobald man überzeugt war, dafs die Grenzen einer apodiktischen Erkenntnis keine andern als die Grenzen der Erfahrung seien. Der Sache wäre Genüge getlian, wenn Kant allen derartigen Scheineinsichten nun einfach die Thür orewiesen hätte. Allein diese über die Erfahrung hinausgcdienden Erkenntnisse, die alle unter dem Namen des Unendlichkeitsproblems zusammengefafst werden können, hatten nicht blofs an sich eine hohe Bedeutung, so dafs sie unmöglich ganz umgangen werden konnten,

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sie hatten auch Kants Nachdenken zu sehr beschäftigt und gerade auch auf die Ausbildung seiner naturphik)S()i)hischen Ideen einen zu })edeutenden Einthifs gehabt, als dafs er sie nicht einer näheren Untersuchung hätte unterziehen müssen. ^lan erinnere sich, wie der Widerstreit zwischen (k'r matheniatischen Ainiahnie der unend- lichen Teilbarkeit des Raumes und dei' metaphysischen Annalnne der Einfachheit der Substanzen seiner Physischen .Monadologie ihre besondere Gestalt verliehen und ihm die Unterscheidung der un- räumlichen Substanz und ihrer räundichen AVirkunir^^veise an die Hand gegeben, und wie dann später die Unvereinbarkeit (h'r An- nahme eines seienden unendlichen Kaumes mit seiner rationalistischen Denkart ihn dazu bewogen hatte, den Kaum Cnv eine blofs subjek- tive Form der Anschauung zu erklären. Gerade die Antinomie also zwischen Mathematdv und Xaturpliilosophie liatte ihn auf den Weg zun) Kritizismus gebracht. Daraus ging jedenfalls hervor, dafs jene Fragen, die sich an den Begriff des Unendlichen schlössen, doch nicht so gänzlich ohne Wert sein konnten.

Zwar einen positiven Wert konnte ihnen Kant auf seinem jetzigen Stand})unkt nicht mehr zugestehen. Eine dogmatische L()sung der Antinomie war ausgeschlossen. Der Unterschied zwischen mathematischer und naturphilosophischer Anschauungsweise konnte nicht mehr in den Dingen selbst begründet sein; er konnte aber auch nicht aus der verschiedenartigen Natur der Sinnlichkeit und des Verstandes abgeleitet werden, wie Kant dies zuletzt noch in seiner Dissertation versucht hatte, denn alle diese Lösungen setzten voraus, dafs es uns möglich sei, die Dinge zu erkennen und nicht blofs ihre Elrscheinungen. Nach der Dissertation bezogen sich nur die Anschauungsformen auf Erscheinungen, die Verstandes- formen dagegen auf Dinge an sich. Infolgedessen hatte der Ver- stand hier ebenso Hecht gehabt, die Anwendung des Unendlichkeits- begritfes auf die intelligible Welt zu leugnen, wie die Sinnlichkeit, wenn sie dieselbe für die Erscheinungswelt behau])tet hatte. Nach der Vernunftkritik bezogen sich auch die Verstandesbegriffe nur auf Erscheinungen, und daher erschien hier das Unendlichkeits- problem als eine falsch gestellte Frage. Nach der Dissertation waren das Urteil der Sinnlichkeit und des Verstandes beide wahr, nur von verschiedenen Standpunkten aus gesprochen. Nach der Kritik mufsten beide als gleicli falsch erscheinen, weil sie über Dinge handelten, von denen wir nichts wissen k(Hinen. In der Dissertation, wie in der Vernunftkritik, beruhte die Antinomie auf einer Verwechselung des Subjektiven mit dem Objektiven. Allein dort war das Objektive ein Erkennbares, nur dafs es nicht für die

Sinnlichkeit erkennbar war; die Verwechselung beruhte mithin darauf, dafs die Sinnlichkeit ihre Grenzen überschritten hatte. Hier dagegen war auch das Objektive in jeder ^\'eise unerkennbar, und die Verwechselung kam zustande, indem überhaupt der Mensch die notwendigen Grenzen seiner Erkenntnis aufser Acht liefs.

So wurde die Antinomie, wi'e sie ihm vorher zur scharfen Unterscheidung der sinnlichen und der Verstandeswelt verholten hatte, nunmehr zum charakteristischen Ausdruck dafür, dafs wir die Grenzen der Erscheinungswelt nicht überschreiten kcinnen, und darin eben beruhte ihr hoher negativer Wert. Der Widerstreit entgegengesetzter l)ehauptungen über die AVeit, die beide gleich- berechtigt, aber auch beide gleich bedeutungslos erschienen, bewies, w^enn irgend etwas, die Unmöglichkeit, in dieser Hinsicht objektive Aussagen machen zu können. Die Erörterung der kosnujlogischen Fragen diente nicht mehr dazu, die Naturphilosophie mit neuem Inhalt zu bereichern ; sie hatte vielmehr keinen andern Zweck, als die Einschränkung der Erkenntnis auf das Erfahrungsgebiet durch Aufzeigung ihres eigenen AVhlersinnes zu bestätigen. Die falsche Naturphilosophie war nur der dunkle Hintergrund, um die wahre dafür in einem um so helleren Licht erscheinen zu lassen. Sie wurde gleichsain zu einer Art von getreuem Eckart, der dem menschlichen Erkenntnisdrang entgegentritt, wenn er in Gefahr ist, ins J-Jodenlose abzuirren. „Die Antinomie ist bei unserer einge- schränkten Weisheit der beste Prüfungsversuch der Nomothetik um die Vernunft, die m abstrakter Spekulation ihre Fehltritte nicht leicht gewahr wird, dadurch auf die Momente in Bestimmung ihrer Grundsätze aufmerksam zu machen" {'60'6). Beruhte aber jener ganze ^\'iderstreit nur auf einem ßlendw^erk des Verstandes, waren die kosmologischen Betrachtungen hinfällig, \vie sie bis dahin üblich gewesen waren, dann mufste auch die rationale Psychologie und die rationale Theologie demselben Urteilsspruch verfallen. Auch sie, die im W'rein mit der Kosmologie das System der alten Metaphysik ausmachten, konnten nur aus derselben trüben (Quelle stammen, oder mit andein Worten: der falsche Schein der Antinomie n^ufste sich auch auf die übrigen Teile der Metaphysik übertragen und diese selbst nur ein Irrtum sein.

Dafs die Antinomienlehre wenigstens im Geiste Kants schon feststand, noch ehe er die Paralogismen der reinen Vernunft und die Lehre vom transcendentalen Ideal ins Auge gefafst hatte, unter- liegt keinem Zweifel und erklärt sich aus dem naturj)hilosophischen Grundzug seines Denkens, der selbst erst die erkenntnistheoretischen Untersuchungen aus sich hervortrieb. Die Antinomien waren es, die

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in Kant erst die Idee der Dialektik als einer „Logik des Scheins" hervorgerufen haben. ,.01ine Antinomien wäre die Dialektik überhaupt unmöglicli gewesen."*) Mit ilmen konnte sie nur eitel Blendwerk enthalten, und ihre Sätze mufsten so illusorisch sein, wie jene, weil sie von dorther ihren Ursprung hatten: „Es sind S()])liistikationen nicht der Menschen, sondern der reinen Vernunft selbst, von denen selbst der Weiseste unter allen Menschen sich nicht losmachen und vielleicht zwar nach vieler Be- mühung den Irrtum verhüten, den Schein aber, der ihn unaufhörlich zwackt und äfi't, niemals los werden kann" (III. 'JT2 f.). „Der transcendentale Schein hört gkMchwolil nicht auf, ob man ihn schon aufgedeckt und seine xsichtigkeit duich die transcendentale Kritik deutlich eingesehen hat (z. B. der Schein in dem Satze: die Welt mufs der Zeit nach einen Anfang haben). Die Ursache hiervon ist diese, dafs in unserer Vernunft (subjektiv nls ein mensclib'ches Er- kenntnisvermögen betrachtet) Grundregeln und Maximen ihres Ge- brauchs liegen, welche gänzlich das Ansehen objektiver Grundsätze hahen, und wodurch es geschieht, dafs die subjc^ktive Notwendigkeit einer gewissen Verknüpfung unserer Eegrilfe zu Gunsten des Ver- standes für eine objektive Notwendigkeit der Bestimmuni]^ der Dinge an sich selbst gehalten wird. Eine flbision. die '^ur nicht zu ver- mei(k^n ist, so wenig, als wir es vermeiden können, dafs uns das Meer in der Mitte nicht höher sclieine. wie an dem Ufer, weil wii* jene durch hiUiere Lichtstrahlen als diese sehen, oder noch mehr, so wenig selbst der Astronom VfM'hindern kann, dafs ihm dei' ^lond im Aufgange nicht grr)l'ser scheine, ob er gleich durch diesen Schein nicht betrogen wird*' ('Jil)). „Es gi(d)t also eine natürliche und unvermeidliche Dialektik der reinen Vernunft, nicht eine, in die sich etwa ein Stümper aus Mangel an Kenntnissen selbst ver- wickelt, oder die irgend ein So])hist. um vernünftige Leute zu ver- wirren, künstlich ersonnen liat, sondern die der menschliidien Ver- nunft unbintertreiblich anhängt" ("■^MT). Die ti'auscendentale Dialektik, als Lehre von dieser dialektischen Natur unseres Erkenntnisvermögens, wird sich also damit begnügen müssen, ..den Schein transcendenter Urteile aufzudecken und zugleich zu verhüten, d;ifs er nicht betrüge; dafs er aber auch sogar versciiwinde und ein Schein zu sein auf- höre, das kann sie niemals bewerkstelligen" ((dxl. ).

Da die Sätze, die den Inhalt der Dialektik ausmachen, zwar den Charakter der Notwendigkeit an sich tragen, ganz ebenso wie die imnuiuenten Grundsätze der Erfahrung, und dennoch von diesen

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wesentlich verschieden sind, sofern sie transcendent sind, d. h. die Erfahrung überfliegen, so müssen auch sie zwar in dem Erkenntnis- vermögen des Menschen selbst begründet sein, aber doch nicht im Verstände ihren Ursprung haben, als welcher nichts thut, als blofs „Erscheinungen nach synthetischer Einheit buchstabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können" {2\ü). Dieses besondere Erkenntnis- vermögen ist die Vernunft. ..Alle unsere Erkenntnis hebt von den Sinnen an, geht von da zum Verstände und endigt bei der Vernunft, über welche nichts Höheres in uns angetroifen wird, den Stoö' der Anschauungen zu bearbeiten und unter die höchste Einheit des Denkens zu bringen" (247). Wenn der Verstand sich auf jenen Stoff der Anschauung direkt bezieht und aus diesem die Einheit der Erfahrung herstellt, so behält sich die Vernunft allein die absolute Totalität im Gehrauche der Verstandesbegriffe vor und sucht die synthetische Einheit, die in der Kategorie gedacht wird, bis zum Schlech tili n-Un bedingten hinaufzuführen. Sie be- zieht sich also nur auf den Verstandesgebrauch, ,.und zwar nicht sofern dieser den Grund möglicher Erfahrung enthält (denn die absolute Totalität der Bedingungen ist kein in einer Erfahrung brauchbarer Begriff, weil keine Ki'fahrung unbedingt ist), sondern um liim die J\*iclitung auf eine gewisse Einheit vorzusciireiben. von der der Verstand keinen Begrilf hat, und die darauf hinausgeht, alle Verstandeshandiungen in Ansehung eines jeden Gegenstandes in ein absolutes Ganze zusammenzufassen" (204 f. J.

Zur bedingten Erkenntnis des Verstanden das Unbedingte zu bilden, womit deren Einheit vollendet wird, das also ist der Grund- satz oder das Prinzip, in dessen Befolgung die Thätigkeit der \'er- nunft besteht (252). Sie stützt sich aber hierbei ebenso auf gewisse Begriffe, die ihr als Bichlschnur bei ihrem Aulstieg zum [unbe- dingten dienen, wie der Verstand das Mannigfaltige der Anschauung nur gemäls der Einheit der Kategorieen zusammenläfst. Diese not- wendigen Vernunftbegrilfe, die alle Erfahrungserkenntnis als bestimmt durch eine absolute Totalität der Bedingungen betrachten, sind die t ran ce iid en t a 1 e n Ideen. Soweit sie die absolute Totalität in der Svnthesis der Erscheinungen betreifen, nur auf das Un- liedmgte unter den Erscheinungen, d. h. auf die Welt, als Inbegriff alier Erscheinungen, gerichtet sind, werden sie von Kant als A\'elt- begriffe ofler k o s m o 1 ogi s c he Ideen bezeichnet und stellen so „die transcendentaleii Grundsätze einer vermeinten reinen (ratio- nalenj Kosmologie vor Augen, nicht um sie gültig zu linden und sich anzueignen, sondern um sie als eine Idee, die sich mit Er- scheinungen nicht vereinbaren liifst, in ihrem blendenden, aber falschen Scheine darzustellen" (2Ü3 f., oUOj.

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Es ist wertlos, näher dMraiif tMiizugeheii. wie Kant aus ])iirer Liel)hal)erei zur Systematik die Vernunft zum logischen Schlufs- verfahren in Beziehunt,^ setzt und die kosmoh^gisch.en Tihn^n aus der Form des hypotlietischen Schlusses ableitet.''') Da er eine Mehrheit von Ideen vortlndet, so liat er natürlich niclits Fülitjeres zu thnn. als sie in das ,.Prokrustesl)ett" seiner Katef]jorieentatel hineinzuzwängen, wobei es denn wiederum ohne die grr>rsten W'underlickeiton nicht ab- geht und die Kategori(Huitat'el ebenso, wie voidier bei den (inindsät/en des reinen Verstandes, zui* ., Entdeckung" neuer Ideen mil'sbraucbt wird, deren B(^reclitigung an sich nicht einzusehen ist. In der Dissertation waren es drei Pi'obleme gewesen, die sich mit dem Begriit" d(^s Unend- lichen verknüpften. Von ilnuMi hatte sich das erste auf die Zusammen- setzung oder die Elementai'bestandteile der AVeit, das zweite auf die Ausbreitung der letzteren im Ilaumc das dritt«^ endlich auf die Entstehung der AV(dt bezogen. In dem letzteren wai-en selbst wiederum zwei verschiedene Probleme vereinigt gewesen. di(^ Frage nach dem Anfang der Welt, als einem zeitliidien. und die Frage nach ihrem Anhing, sol'crn darunter ein besonderes Prinzip ver- standen wird.**) Als Kant diese beiden Probleme von ein;mder unterschied, sah er sich durch seine Gleichst(dlung des Kaumes mit der Zeit genötigt, das erste von ihnen der Frage nach dvv räum- lichen Ausbreitung der Widt an die Seite zu stellen und beide unter dem Begriff des Weltanfanges zusammenzufassen. Eigentlich hätte er nun das zweite, die Krage nach ihun Welt])rinzip oder der ersten Ursache, aus dem System der kosmologischen Ideen überhaupt ausschalten und (^s dei- Lehre vom transcendentalen Fdeal zuivchnen sollen, da er ja dieser (üne abgesonderte Behandlung zu Teil werden liefs. Allein Kant brauchte seiner Kategorieentafel gemäfs gerade vier Ideen, und so mufste er j'Mie Frage beibehalten, ti'otzdem sie eigentlich gar nicht in die K(>smologie hin<'ingehörte. Wo aber sollte er nun die vierte Idee hernebnu^n. ohne welclie di(^ Pieziehung auf die Kategorieentafel docli uneingesehen bbeb V Kant half sich damit, dafser in der Idee der ersten Ursache eine absolut erste Ursache oder ein not- wendiges Wesen, als (ilrund (h-r Welt, und eine erste Ursache jeder ein- zelnen Erscheinung, die selbst nicht wiederum bedingt ist. d. b. eine ,.transcendentale Freiheit'', unterschied, womit cv nicht blofs seiner eigenen Neigung zur Systematik (icaiüge that. sondern obendrein noch Begriffe gewann, die er sich für den späteren Aufbau seiner Elthik

*) X'^]. liicriiher A.lic, kes: a, a. O. s\) \\, **) V^l. P). Erdina im: Kants Reflexionen O-^'^-Uj '^<>- 142G— 1435, 1505—1500, 1427.

und E.eligions]diiloso])hie einstweilen vorbehalten konnte. Dem gegen- über fiel es nicht in die Wagschale, dafs die Willensfreiheit eigent- lich gleichfalls mit der Kosmologie nichts zu thun hat. Die Ge- legenheit, auch für sie eine tranccndentale Begründung zu gidan. w\'ir zu günstig, und was ihrer Stellung in diesem Zusammenhange an innerer Berechtigung abging, das erhielt sie von aufsen durch den I^eitfaden der Kategorieentafel, deren vier Fehler nun einmal nicht leer bleiben durfte]]. Angesichts solcher Willkürliehkeiten berülirt es freilich seltsam, wenn Kant auch bei dieser Gelegeidieit seine Kategorieentafel mit den Worten anj)reist : ..Zuerst zeigt sich hiei- dvv Nutzen eines Systems der Kategorieen so deutlich und unverkeiinbai". (hifs. wenn es auch nicht mehre Beweistümer der- selben gäbe, dieser allein dire Unentbehrlichkeit im System dei- reinen Vernunft hinreichend darthun würde. Es sind solcher trans- cendenten Ideen nicht mehr als vier, soviel als KLassen der Kate- gorieen" (IV. Sf)). Ein wirklicher Nutzen der Kategoi-ieentafel ist nicht einzusehen: auch die ihr gemäfse Einteilung der Ideen in mathematis(die (..^^^dtbegriffe im engeren Sinne*') und dynamische („transcendente NaturbegrifPe") ist sacblieh ohne Wert (III. :]0() f.). Wenn Kant den letzteren gegenüber eine andere Stellung einnimmt, wie gegenüber den mathematischen Ideen, so schöpft er die Be- rechtigung hierzu nicht, wie er vorgiebt, aus der Kategoi-ieen- tafel, sondern er thut dies einfach der ^Foral und Beligion zu Liebe, die von nun an einen immer gnifseren Einiiufs auf sein Denken gewinnen und ihm bald über die Grenzen der blofsen Naturphilo- so])hie hinaus die Aussicht zu ganz neuen Problemen eWifthen sollten (:\{]X ff.).

iVIan könnte fragen, warum Kant, da er doch das Problem des zeitlichen Weltanfanges behandelt, die Frage nach dem Auih<>ren des Weltprozesses unerörtert gelassen hat. In seinen Voi-- lesungen übcM' ]\l e ta])h ysik . die er gleichzeitig mit der Abfassung der Vernunftki'itik gehalten hat, scheint Kant sich noch für d(Mi })r()gressus in intinitum zu entscheiden.*) In dei" Kritik dagegen wird das Problem, ob auch die absteigende jjinie der Kolgen zu einem gegebenen Grunde endb(di oder unendlich sei, mit den Worten beiseite geschoben, „dafs, da die Folgen ihre Bedingungen nicht möglich machen, sondern vielmtdir voraussetzen, man im F'ort- gange zu den Folgen (oder im Absteigen von tler gegebenen Be- dingung zu dem Bedingten) unbekinnmert sein kann, ob die ]{eihe aufhche oder nicht und überbau])! die Frage wegen ihrer 'rotalität

*J Kants Vorlesungen üher die iMetaijij}\sik, hrsg. v. P ü 1 i t z ( JöJl j. ö4 11.

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gar keine Voraussetzung der Vernunft ist" (29r)). „Die kosnio- lo-ischen Ideen beschäftigen sich mit der Totalität der regressiven Synthesis und g(4ien in antecedentia, nicht in consequentia. Wenn dieses letztere geschieht, so ist es ein wiUkih-liches und nicht not- wendiges Problem der reinen Vernunft, weil wir zur vollständigen Begreiflichkeit dessen, was in der Erscheinung gegeben ist, wohl der Gründe, nicht aber der Folgen bedürfen" (ebd. f.). Das ist freilich eine sehr eigentümliche Abweisung einer Frage, die sich dem unbefangenen Betrachter der Welt mit derselben Entschieden- heit, wie die Frage nach der aufsti'igenden Eeihe der BcHlingungen zu dem gegebenen Bedingten aufdriingt. und die keineswegs erst von der Naturforschung unserer Tage zum Gegenstände ihrer En'h'te- rungen erhoben ist. A dickes macht denn auch mit Hecht darauf aufmerksam, wie der Aufnahme dieses Problems nur cMitgegensteht. „dafs die ganze Dialektik von der Vernunft ausgehen soll, deren S])ezitikum nach Kant ist. zu dem P,edingten das Unbedingte zu suchen, wovon freilich hei dem Fortgänge von den Gründen zu den Folgen nicht die Kede sein kann."*) Kant sagt einmal : ..Wie Gegenstände an sich seihst, wie die Natur der Dinge unter Prinzipien stehe und nach blofsen Begrüben bestimmt werden soll, ist, wo nicht etwas Unm()gliches, wenigstens doch sehr AVidersinniges in seiner Forderung-' (249). Wenn man sieht, mit welcher souveränen Will- kür er seihst seinem einmal gewählten Schema zuliebe mit den Problemen der Naturforschung umspringt, dann ist damit freilich auch seine eigene IVIethode gericiitet, und es ändert hieran nichts, dafs für ihn die Natur niclit eine Welt von Dingen an sich, sondern nur den Inhegritf von subjektiven Vorstellungen bedeutet.

Betrachten wir nun (he Antinomien seihst, so bemüht sich Kant, den antinomischen C>harakter der kosmologischen Ideen dadurch noch einleuchtender zu machen, d;ifs er für Thesis und Antithesis je einen ausführlichen Beweis giebt und hierauf den gn)l'sten Nach- druck legt. ,. Kür die Bichtigkeit aller dieser Beweise verbürge ich mich." heifst es in den Prolegomenen (IV. ST), und in der Kritik der reinen Vernunft sagt Kant: ,.lch habe Ijei diesen einander widerstreitenden Argument(Mi nicht Blendwerke gesucht, um etwa (wie man sagt) einen Advokatenbeweis zu führen, welcher sich der Unhehutsandveit des Gegners zu seinem \'orteil bedient und seine Berufung auf ein mifsverstandenes Gesetz gerne gelten läl'st. um seine eigenen unrechtmäfsigen Ansprüche auf die Widerlegung des- selben zu bauen. Jeder dieser Beweise ist aus der Natur der Sache

*) Ad ick es: a. a. O. lO'J.

gezogen und der Vorteil bei Seite gesetzt worden, den uns die Fehlschlüsse der Dogmatiker von beiden Teilen geben künnten" (III. :K)6). Aber gerade diese Beweise und deren ..Anmerkungen" lassen erkennen, dafs es sich in Thesis und xVntithesis um ganz verschiedene Dinge handelt und dafs folglich eine Antinomie überhaupt nicht vorliegt.

Die These der ersten Antinomie hat Recht: „Die Welt hat einen Anfang in der Zeit und ist dem Räume nach auch in Grenzen eingeschlossen. Eine Ewigkeit, d. h. eine unendliche Reihe auf einander fol^render Zustände der Dinge in der Welt, kann bis zu jedem gegebenen Zeiti)unkte in dieser nicht abgelaufen sein, denn die Unendliciikeit einer Reihe besteht ja eben darin, dafs sie durch successive Synthesis niemals vollendet sein kann. Eben- sowenig kann die Welt ein unendliches gegebenes Ganzes von zu- gleich existierenden Dingen sein, weil alsdann die successive Syn- thesis der Teile einer unendlichen Reihe als vollendet, d. h. eine unendliche Zeit in der Durchzählung aller koexistierenden Dinge als abgelaufen angesehen werden müfste. Das logisch Unmögliche kann nicht real existieren; dieser Beweis, auf den sich Kant bereits in der Dissertation gestützt hatte, läfst erkennen, dafs in der These von der Welt des Realen oder der intelligiheln Welt die Rede ist. Aber gerade deshalb kann auch die Antithese behaupten: ..Die Welt hat keinen Anfang und keine Grenzen im Räume, sondern ist sowohl in Ansehung der Zeit als des Raumes unendlich." Kant hat ganz Recht, dafs in einer leeren Zeit kein Entstehen irgend eines Dinges möglich ist, „weil kein Teil einer solchen Zeit vor einem anderen irgend eine unterscheidende Bedingung des Daseins für die des Nichtseins an sich hat:" und ebenso würde das Ver- hältnis der AV^elt zum leeren Raum „ein Verhältnis derselben zu keinem Gegenstande" sein QU)'). 'MYl). Aber wer sagt denn, dafs jenseits von Zeit und Raum selbst wiederum Zeiten und Räume sein müssen? Wo das Physische aufhört, da beginnt das Meta- physische. Dieser „Ausweg" besteht allerdings „nur darin, dafs man statt einer Sinnen weit sich wer weifs welche intelligible Welt denkt und statt des ersten Anfanges (ein Dasein, vor welchem eine Zeit des Nichtseins vorhergeht) sich überhaupt ein Dasein denkt, welches keine andere Bedingung in der Welt v o r - aussetzt, statt der Grenzen der Ausdehnung Schranke n des Weltganzen denkt und dadurch der Zeit und dem Räume aus dem VVege geht" QM)i) ). Aber was hindert uns, deren Gebiet zu ver- lassen? Doch offenbar nur die Vorliebe für die anschauliche Vor- stellung überhaupt, das Vorurteil, als ob es keine andere Welt

D r e w s , Kants Naturphilosophie. 13

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als nur die sinnliche in der Zeit und im Räume gäbe und jenseits derselben nur das Nichts sein kCrnnte. Kant selbst gesteht naiv: „Es ist hier (in der Antithese) nur von dem mundus phaenomenon die Rede und von dessen Gröfse, bei dem man von gedachten Be- dingungen der Sinnlichkeit keineswegs abstraliieren kann, ohne das Wesen desselben aufzuheben'' (311). Dann aber existiert gar kein Gegensatz zur These, denn in dieser handelte es sich, wie gesagt. um die intelligible Welt, und These und Antithese bestehen ruhig neben einander, vorausgesetzt, dafs es neben der sinnlichen über- haupt noch eine intelligible Welt giebt.

Die zweite Antinomie behauptet in der These: ,.Eine jede zusammengesetzte Substanz in der Welt besteht aus einfachen Teilen, und es existiert überall nichts als das Einfache oder das, was aus diesem zusammengesetzt ist." Der Beweis für diesen Satz ist über- flüssig, denn er ist eine blofse Tautologie. Als zusammen- gesetzte Substanz mufs natürlich die Materie aus einfachen Teilen bestehen, weil sonst, wenn alle Zusammensetzung in Gedanken auf- gehoben würde, überhaupt nichts übrig bleiben würde. Dagegen behauptet die Antitliese: ,.Kein zusammengesetztes Ding in der Welt besteht aus einfachen Teilen, und es existiert überall nichts Einfaches in derselben." Da Kant hier ebenfjdls von „zusammen- gesetzten" Dingen spricht, so geht es selbstverständlich nicht ohne Sophisma im Beweise ab. Kant vertauscht einfach den Begrilf „zusammengesetzt" mit „ausgedehnt" (einen Raum einnehmend) und „beweist" nun natürlich mit Leichtigkeit den tautologischen Satz, dafs es keine einfachen, d. h. unausgedehnten, Elemente geben könne, weil diese, als räundiche , ausgedeimt sind: „Da alles Reale, was einen Raum einnimmt, ein aufserhalh einander befind- liches Mannigfaltiges in sich fafst, mithin zusannncngesetzt ist, und zwar, als ein reales Zusammengesetztes, nicht aus Accidenzen (denn die können nicht ohne Substanz aufser einander sein), mithin aus Substanzen, so würde das Einfache ein substantielles Zusammen- gesetztes sein; welches sich widerspricht" (i)ll). Aber das ist ja eine ganz andere Bedeutung des Wortes „einfach", als wie sie die These angenommen hatte I Diese verstand darunter die letzten Bestand- teile, die übrig bleiben, wenn man die Zusammensetzung der Materie aufhebt; sie fragte nicht, ob dieselben räundich seien oder nicht. Die Antithese dagegen versteht darunter das Unteilbare, und dies ist natürlich im Raum nicht anzutreffen.

IJnzusammengesetzt und unteilbar sind nicht identische Begriffe. Man kann sich ein „Einfaches" im ersten Sinne denken, welches blofs deshalb nicht teilbar ist, weil es überhaupt nicht räundich ist.

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Hatte doch Kant selbst in seiner Physischen Monadologie den Streit zwischen den Mathematikern und Xaturi,hilosophen chidurch zu schlichten gesuclit, dafs er die einfachen Elemente der Materie für Monaden, d. h. für an sich unräumliche AVesen. erklärt hatte, die durch ihre Beziehungen unter einander den Raum und damit die Teilharkeit selbst erst i)roduzieren. Wie darf er jetzt in der Antitliese sich ganz und gar auf die Seite der Mathematikerstellen, nachdem er die höhere Synthese der beiden widerstreitenden An- sichten bereits selbst gefunden hatte, und die Annahme von Monaden einfach als eine „Ungereimtheit" verwerfen? Die Antithese hat ja ganz Recht, das Einfache zu leugnen, denn sie betrachtet es nur als „Objekt einer möglichen Erfahrung": „Hier ist es nicht genug, zum reinen V ers tan d esbegrif f e des Zusammengesetzten de'ii Begriff des Einfachen, sondern zur Anschauung des Zusammen- gesetzten (der Materie) die Anschauung des Einfachen zu finden, und dieses ist nach Gesetzen der Sinnlichkeit, mithin auch bei Gegenständen der Sinne gänzlich unmfighch. Es mag also von einem Ganzen aus Substanzen, welches durch den reinen Verstand gedacht wird, immer gelten, dals wir vor aller Zusammensetzung desselhen das Einfache haben müssen: so gilt dieses doch nicht von dem toten sub- stantiale phaenomenon. welches, als empirische Anschauung im Räume, die notwendige Eigenschaft bei sich führt, dafs kein Teil derselben einfach ist, darum weil kein Teil des Raumes einfach ist^' (815). Die Antithese handelt also nur von Erscheinungen, und da ist allerdings zuzugehen: angeschaut wird das Einfache nicht. „Wir haben von K()r))ern nur als Erscheinungen einen Be- grifl", als solche aber setzen sie den Raum, als die Bedingung der Möglichkeit aller äufseren Erscheinung, notwendig voraus, und die (ol)ige) Ausflucht (der Monadisten) ist also vergeblich, wie sie denn auch in der transcendentalen Ästhetik hinreichend ist abgeschnitten worden." Indessen, fügt Kant hinzu, „wären sie (die Kör})er) Dinge an sich selbst, so würde der Beweis der Mona- disten allerdings gelten" (aif)). Aber gerade dies ist ja die Behauptung der These. „Unser Schlufs vom Zusammengesetzten auf das Einfache," heifst es hier, „gilt nur von für sich selbst bestehenden Dingen" (814). Wo bleibt demnach die Antinomie? Von einem Widers])ruch kann gar nicht die Bede sein, denn auch hier werden ebenso, wie bei der ersten Antinomie, die entgegengesetzten Behauptungen über die Beschaffenheit der Materie in ganz verschiedenen Beziehungen ausgesagt. Es kann nicht die Rede davon sein, wie Kant behauptet, dafs „die Philo-

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Sophie hier mit der Mathematik eliikaniert, weil sie vergifst. dafs es in dieser Fra^^e mir um Ersc h e i n n ii ge n und deren Ke- din^jnn^^ zu tlnin sei" {'MW). Das letztere L,nlt höchstens von der Aiititlieso. es «j^ilt iiherhaujjt nur unter der Voraussetzung, dal's wir es ledi^dieli mit ErscheinuniJ^en zu thun hal)en : al)er dies mul's schon hewiesen sein und kann nicht als Fol.^e (hivon an.c^esehen werden, dais sonst eine Antinomie herauskommt.

Die dritte Antinomie gehört, wie sclion bemerkt wurde, nicht in die Kosmologie hinein. Sie spielt das Problem der KausaUtät. das in der reinen Naturwissenschaft bereits seine Abfertigung ge- funden hatte, auf das Gel)iet des Ethischen hinüber und ist nur der Systematik zu Liebe ei'funden. Trotzdem darf sie nicht über- gangen werden, nicht bh)fs weil die Antithese in der That den Standpunkt der iSaturerkenntnis vertritt, sondern aucli weil sie auf ein Gebiet hinausweist, mit dem es zwar niclit die Naturwissenseliaft, wohl aber die Naturj)hilosophie , als L(>hre von den Prinzipien der Natur, zu thun hat. Die Tiiesis nämlich behau])tet : ,.Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durcli Freiheit zur Erklärung derstdben anzunehmen notwendig;" wohingegen die Antithese lautet: „Es ist keine EVeiheit, sondern alles in der Welt geschicdit hdiglich nach Gesetzen der Natur."

Die Antithese spricht von dem Kausalzusammenhänge der Er- eignisse „in der Welt"; die These dagegen von einer Kausalität, „aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt ab- geleitet werden kcumen." Sie läi'st es in ihrem Wortlaut offen, ob sie hierunter eine innerweltliche oder eine aufserweltliche Kausalität versteht; ihr Beweis aber geht offenbar nur auf die letztere: ..Wenn alles nach blofsen Gesetzen der Natur geschieht, so giebt es jeder- zeit nur einen subalternen, nicmials aber einen ersten Anfang und also überhaupt keine Vollstäntligkeit der Reihe auf der Seite der von einander abstammenden Ursachen. Nun besteht aber eben darin das Gesetz der Natur, dafs ohne hinreichend a priori be- stimmte Ursache nichts geschehe. Also wi(lers])ric]it der Satz, als wenn alle Kausalität nur nach Naturgesetzen nu>glich sei, sich selbst in seiner unbeschränkten Allgemeinheit, und diese kann also nicht als die einzige angenommen werden. Diesemnach mufs eine Kau- salität angenommen werden, durch welche etwas gescbielit, oime dafs die Ursache davon noch weiter durch eine andere vorhergehende Ursache nach notwendigen Gesetzen bestimmt sei, d. i. eine ab- solute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Er-

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schein ungen. die nach Naturgesetzen läuft, von selbst an- zufangen, mithin transcendentale Freiheit, ohne welche selbst im Ijaufe der Natur die Reihenfolge der Ersclieinungen auf der Seite der Ursachen niemals vollständig ist" (:;18). Das alles kann die Antithese ruhig zugeben, ohne sich damit zur These in einen Wider- s])ruch zu setzen. Sie steht auf dem StandpuidU der Erfahrungs- erkenntnis, indem sie „den Zusammenhang und die Ordnung der Weltbegebenheiten" betrachtet, die wir allgemein unter dem Begriff' „Natur" zusammenfassen, und da ist es auch nur wieder eine bh)fse Tautologie, dafs hier irgendwelche Freiheit, d. h. Un- abhängigkeit von den Gesetzen der Natur, nicht stattfindet. „Wenn auch allenfalls ein transcendentales Vermögen der Freiheit nach- gegeben wird, um die Weltveränderungen anzufangen, so würde d i e s e s V e r m ö g e n doch wenigstens nur a u f s e r h a 1 b der Welt sein müssen (wiewohl es immer eine kühne Aninafsung bleibt, aufserhalb dem Inbegriffe aller UKiglichen Anschauungen noch einen Gegenstand anzunehmen, der in keiner nK'igliclien Wahr- nehmung gegeben werden kann). Allein in der W\'lt selbst den Substanzen ein solches Vernuigen beizumessen, kann nimmer- mehr erlaubt sein, weil alsdann der Zusammenhang nacli allgemeinen Gesetzen sich einander notw^endig l)estimmender Erscheinungen, den man Natur nennt, und mit ihm das Merkmal empirischer AVahrlieit. welches Erfahrung vom Traum unterscheidet, gröfstenteils ver- schwinden würde. Denn es läfst sich neben einem solchen gesetz- losen Vermögen der Freiheit kaum mehr Natur denken, weil die Gesetze der letzteren durch die Einflüsse der ersteren unaufhörlich abgeändert und das Spiel der Erscheinungen, welches nach der blofsen Natur regelmäfsig und gleichförmig sein würde, dadurch ver- wirrt und unzusammenhängend gemacht wird" (',V2\. iVJ."^).

Insoweit besteht zwischen These und Antithese gar kein Wider- spruch : die eine beliaui)tet eine transcendentale Freiheit als aufser- halb der Welt funktionierendes Prinzip der Welt, die andere besteht darauf, dafs in der Welt alle Begebenheiten an dem Leitfaden der Kausalität verlaufen. Nun aber begeht Kant, um einen solchen AV^iderspruch herauszubringen, eine offenbare ignoratio elenchi. in- dem er dem Begriff der transcendentalen Freiheit, als aufserweltliciien Prinzi])s, ganz unvermittelt eine völlig andere l^edeutung unterschiebt. In der iVnmerkung zur These nämlich sagt er: „Nun haben wir diese Notwendigkeit eines ersten Anfangs einer Reihe von Er- scheinungen aus Freiheit zwar nur eigentlich insofern dargetlian^ als zur B e g r e i f 1 i c h k e i t e i n e s U r s [) r u n g s d e r W e 1 1 er- forderlich ist, indessen dafs man alle nachfolgenden Zustände

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für eine Abfolge nach blofsen Naturgesetzen nehmen kann. AV'eil aber", so fügt er hinzu, ,.da(]urch doch einmal das Vermögen, eine Reihe in der Zeit ganz von selbst anzufangen. l)e\viesen (ol)zvvar nicht eingesehen) ist, so ist es uns nunmehr auch erlaubt (!), mitten im Laufe der Welt verschiedene Eeilien der Kausahtät nach von selbst anzufangen zu lassen und den Substanzen derselben ein Ver- mögen beizulegen, aus Freiheit zu handeln" (ilL^O). Das ist un- gefähr so, als wenn man sagen wollte: AVeil es unter Umständen (in der Notwehr) erlaubt ist. zu lügen, so ist die Lüge überhaupt kein Unrecht. Ja, Kant glaubt sogar eine solche innerweltliche transcendentale Freiheit in der Erfahrung nachweisen zu können und entblödet sich dabei nicht, das ph'itzliche Aufstehen von einem Stuhle als Akt der transcendentalen Freiheit auszugeben. ,.Wenn ich," sagt er, „viUlig frei und ohne den notwendig bestimmenden EinHuls der Naturursachen (?!) von meinem Stuhle aufstehe, so fängt in dieser Begebenheit samt deren natürlichen Folgen ins Unendliche eine neue lieihe schlechthin an (!). obgleich der Zeit nach diese Begebenheit nur die Fortsetzung einer vorhergehenden lieihe ist. Denn diese Entschliefsung und That liegt gar nicht in der Al)folge blofser Naturwirkung, ist nicht eine blofse Fortsetzung derselben (!), sondern die bestimmenden Naturursachen hören oberhalb derselben in An- sehung dieses Ereignisses ganz auf (?!), das zwar auf jene folgt, abi&r daraus nicht erfolgt und daher zwar nicht der Zeit nach, aber doch in Ansehung der Kausalität ein schlechthin erster Anfang einer Reihe von Erscheinungen genannt werden mufs" (:ViO. ;V22). An- gesichts derartiger Behauptungen mufs man sich allerdings fragen, ob man hier den Philosophen überhaupt ernst nehmen soll. Und das alles blofs, weil die Kategorieentafel eine dritte Antinomie er- forderte ! Diese sophistische Verdrehung der Wahrheit ist ohne Zweifel eines der abschreckendsten Beispiele dafür, zu welchen Ge- waltsamkeiten und Verrenkungen sich Kant durch seinen Hang zur Systematik oft hat fortreifsen lassen. Man kann ihm wahr- haftig keinen besseren Dienst erweisen, als wenn man, anstatt den Lobrednern der transcendentalen Freiheit beizustimmen, diese An- nahme lieber mit Stillschweigen übergeht.

Wenn es eine transcendentale Freiheit giebt, so kann sie erst- lich nur eine aufserweltliche sein, weil in der Welt alle Be- gebenheiten nachweislich unter dem Kausalgesetze stehen, und zweitens kann sie nicht selbst wiederum ,.Gesetz-', d. h. der Vernunft oder dem Zwange der Motivation unterworfen, sein. ,.Denn man kann nicht sagen, dafs anstatt der Gesetze der Natur Gesetze der Frei- heit in die Kausalität des AVeltlaufs eintreten, weil wenn diese nach

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Gesetzen bestimmt wäre, sie nicht Freiheit, sondern selbst nichts Anderes als Natur wäre. Natur also und transcendentnle Freiheit unterscheiden sich wie Gesetzmäfsigkeit und Gesetzlosigkeit" (:>19). Die transcendentale Freiheit ist ,.sel})st blind" (ebd.); man kann für sie nicht wieder einen Grund angeben, weil sie, als der absolute Grund aller Gründe, selbst nicht wieder aus einem Grund ent- springt. Insofern ist ihre absolute Spontaneität gleich dem absoluten Zufall und daher „der eigentliche Stein des Anstofses für die Philosophie" (320). als welche überall den Gründen der Begeben- heiten nachgeht. In ihr kommt eben die Frage nach dem Grund zur Ruhe, der Leitfaden der Regeln, an welchem allein eine durch- gängig zusammenhängende Erfahrung möglicli ist, reifst mit ihr ab, und „ob wir gleich die Möglichkeit, wie durch ein gewisses Dasein das Dasein eines andern gesetzt werde, auf keine Weise begreifen und uns desfalls lediglich an die Erfahrung halten müssen." so kommen wir doch um die Annahme eines solchen absolut ersten Grundes nicht herum, „weil die Möglichkeit einer unendlichen Ab- stammung ohne ein erstes Glied, in Ansehung dessen alles Ul)rige blofs nachfolgend ist. sich nicht begreiflich machen läfst" (320. ?)2\). Der Begriff der Ursache ist ohne den eines verursachenden Wesens nicht denkbar. So schliefst sich die vierte Antinomie, welche die Idee des schlechthin notwendigen AV^esens, als Substrats der absolut ersten Ursache, erörtert, unmittelbar an die dritte an. „Zu der Welt gehört etwas, das entweder als ihr Teil oder ihre Ursache ein schlechthin notwendiges AVesen ist"; und „es existiert überall kein schlechthin notwendiges Wesen weder in der Welt, noch aufser der Welt als ihre Ursache." Der Beweis der These schliefst, ganz wie bei der dritten Antinomie: „Ein jedes Bedingte, das gegeben ist, setzt in Ansehung seiner Existenz eine vollständige Reihe von Bedingungen bis zum schlechthin Unbedingten voraus, welches allein absolut notwendig ist. Also mufs etwas absolut Notwendiges existieren, wenn eine Veränderung als seine Folge existiert" (/)24). Wenn aber dort behau])tet wurde, die erste absolute Ursache sei nur aufserhajb der Welt, so heifst es hier auf ein Mal : „Dieses Notwendige gehört sell)er zur Sinnen welt'^, weil ,.der Anfang einer Zeitreihe nur durch dasjenige, was der Zeit noch vorhergeht, bestimmt werden kann'*, die Zeit aber die Form eben der Erscheinungswelt bildet (ebd.). Es ist indessen eine völlig aus der Luft gegriffene Behauptung, worauf schon oben bei der ersten Antinomie hingewiesen wurde, dafs vor dem Anfang der Zeit selbst wiederum eine Zeit sein müsse. Mag man nun unter der ersten Ursache den Akt, wodurch die Welt zustande

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kommt, oder das sich in jenem Akte betliätigende Wesen verstehen^ in keinem Falle bleibt man innerhalb der zeitlicher Erscheinungs- welt stehen : im ersteren Falle nicht, weil hier die erste Ursache, wie gesagt, Freiheit (blind, gesetzlos, zufällig) ist, die Keihenfolge der Erscheinungen dagegen am Leitfaden der Kausalität verläuft; im letzteren Falle nicht, weil das funktionierende absolute Wesen eben durch seine Funktion die Zeit erst setzt. Nur die Funktion ist eine zeitliche, das Wesen dagegen ist aufser der Zeit, schon deshalb, weil es, als das in allen verschiedenen Momenten der Funktion mit sich Identische, in den Strom des Geschehens sell)st nicht mit eingeht. Sofern jene verschiedenen Momente in einem gesetzmäfsigen Zusammenhange stehen, der sich dem Standpunkt des endlichen Be- schauers als Kausalverhältnis darstellt, insofern hat also die Anti- these ganz Recht, dafs alle Kausalität in die Zeit gehr>rt. Wenn sie aber hieraus schliefst, es müsse also aucii die absolut erste Ur- sache eine zeitliche und mithin in den Inbegriff der Erscheinungen, d. h. die Welt, verilochten sein (iVJf)), so vergil'st sie, dafs es Ursachen eigentlich nur in einer Reihe von koordinierten Erscheinungen giebt^ dafs aber das schlechthin notwendige Wesen der endliclaMi Reihe von Ursachen und AVirkungen übergeordnet und folglich auch nur in uneigentlichem oder übertragenem Sinne als „Ursache*' zu be- zeichnen ist. Es bleibt also dabei, dafs es ein absolut notwendiges Wesen giebt. Aber weder ist dasselbe in der Welt, noch ist es die Welt selbst, weil diese, als der lidjegrilf aller Ursachen und AVirkungen von gleichem Daseinswert, dem Begriff der absolut ersten Ursache wider- S])richt. Scheidet man die unrichtigen Annahmen auf beiden Seiten aus, so besteht also auch hier zwischen These und Antithese gar kein Widers])ruch. Der vierte Widerstreit der kosmologischen Ideen ist so wenig eine wirkliche Antinomie, dafs Kant sich dadurch auch nicht hat abhalten lassen, die Annahme eines absolut notwenden W(\sens, die andernfalls doch hiermit eigentlich abgethan gewesen wäre, in seiner Lehre vom transcendentalen Ideal einer Ijesonderen und voraus- setzungslosen Erörterung zu unterziehen.

Fassen wir die Resultate der Antinomien zusammen, so ist hier also ein Widerspruch nirgends vorhanden, weil die entgegen- gesetzten Behaui)tungen von den gleichen Gegenständen überall in ver- schiedenen Beziehungen ausgesagt werden: in den Thesen handelt es sich um Dinge an sich, in den Antithesen um Erscheinungen. In der ersten Antin(miie hat die These recht, dafs die Welt aktuell (als Ding an sich), sowohl dem Räume, wie der Zeit nach endlich, die Antithese, dafs sie i)otentiell (als Gedankending. Erscheinungj unendlich ist. In der zweiten hat ebenso die These recht, dafs die

Materie, aktuell genommen, aus einfaclien Teilen (Monaden) besteht, die Antithese, dafs sie potentiell oder in Gedanken ins Unendliche teilbar ist. In der dritten hat die These recht, dafs es eine Kau- salität durch Freiheit giebt. aber unrecht darin, diese Freiheit i n den Weltprozefs zu setzen, während sie doch nur im Anfangsgliede liegen kann, das selbst noch nicht zur Welt gehört: die Antithese hat daher recht, die Freiheit innerhalb der Welt zu leugnen, aber unrecht, sie auch im Anfangsgliede auszuschliefsen. In der vierten Antinomie endlich hat die These recht, dafs es ein schlechthin not- wendiges Wesen giebt. aber unrecht darin, es i n die AVeit zu setzen; die Antithese hat recht, dafs es in der Welt kein solches Wesen giebt, aber unrecht, zu behaupten, dafs es auch aufserhalb kein solches ^iiUe. In den zwei ersten Antinomien sind also These und Antithese beide wahr. In den zwei letzten haben These und Anti- these nur zur Hälfte recht, zur anderen Hälfte aber unrecht, so zwar, dafs die übrig bleibenden Behauptungen auf beiden Seiten erst in ihrer Vereinigung die ganze Wahrheit ergeben.

Das ist nun freilich ein ganz anderes Ergebnis, als wie es Kant aus den Antinomien zieht. Die KonsiMpienz seiner subjektivistischen Prinzipien hätte es erfordert, These und Antithese für gleich falsch anzusehen, allein er selbst hleibt nicht einmal hierbei stehen. Nur die beiden ersten ,. mathematischen" Antinomien, so genannt, „weil sie sich mit der Hinzusetzung oder Teilung des (Tleichartig(^n (Räum- lichen und Zeitlichen) befassen", fallen jenem absprechenden Urteil zum Opfer: These und Antithese, behauptet hier Kant, seien beide falsch, weil sie die subjektiven Anschauungsformen des Raumes und der Zeit wie Dinge an sich behandeln (IX. 89 f.). Was dagegen die beiden ,.dynamischen" Antinomi(>n anbetrifft, bei denen das Be- dingte, als Erscheinung, von der Bedingung, als Ding an sich, ver- schieden ist. so erklärt hier Kant These und Antithese für gleich wahr, insofern sich jene auf Dinge an sich, diese dagegen auf Er- scheinungen bezeige (ebd. <I0 ff. III. :U]f) f.). ohne natürlich für diese Inkonsequenz einen anderen Grund zu haben als ein vermeintliches Interesse der Moral.

Das Bestreben Kants, in den AntiiKtinieii eine natürliche Dialektik des menschlichen Verstandes nachzuweisen, hat ihn zu so seltsamen ^lifsgriffen und So])hismen verführt, dafs der weitläuiige Abschnitt über „die Antinomie der reinen Vernunft" zu den wunderlichsten Bestandteilen der Vernunftkritik gehTut. Vorgefafste Meinungen, die ihre Bestätigung erhalten sollten, Anforderui)g(4i des religi()sen und ethischen Bewufstseins, die sich ganz unberechtiger Weise in die kosmologischen Fragen mit eindrängen, und nicht zum wenigsten

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Beweggründe der Systematik vereinigen sicli hier, um ein Gebilde zu- stande zubringen, das man höchstens als eini^hilosophisches Kuriosum bestaunen würde, wenn es nicht Kant zum Verfasser hätte. Bedenkt man, in welcher Hochachtung gerade dieser Abschnitt der Vernunft- kritik lange gestanden hat, welches Ansehen er noch heute vielfach geniefst, wie er nicht selten über die Auffassung der kantischen Prinzipienlehre entschieden und vielen ein untrügliches Zeugnis dafür ist, dafs wir die Grenzen des in der Erfahrung Gegebenen nicht überschreiten können, dann erscheint kaum ein Ausdruck zu stark, um die Antinomienlehre in ihrer Nichtigkeit zu brandmarken. Weit entfernt, eine notwendige, ja „natürliche" Illusion der menschlichen Vernunft zu sein, sind die kantischen Antinomien nur ein am grünen Tische ausgeklügeltes, auf lauter Sophistikationen aufgebautes Bäsonne- ment einer l^hilosophie, der die Unerkennbarkeit des i'berempirischen von vornherein feststeht, und die nun jeden Blick in das einmal abgeleugnete Gebiet sich dadurch zu versperren sucht, dafs sie ein künstliches Gewebe von Trugschlüssen davorliängt. Ob die Welt einen Anfang und eine Grenze ihrer Ausdehnung im Baume habe, ob die Materie, die uns riiumlich erscheint, letzten Phides aus un- räumlichen Monaden besteht, ob es eine Kausalität durch Freiheit oder blofs eine solche durch Naturgesetze, ob es endlich eine oberste Weltursache giebt, oder die Naturdinge und deren Ordnung den letzten Gegenstand ausmachen, bei dem wir in allen unseren Be- trachtungen stehen ])leiben müssen: das sind Fragen, die einer ganz anderen Lösung bedürfen, als einer rein erkenntnistheoretischen, wie Kant sie giebt, Fragen, mit denen sich vor allem auch die Natur- philosophie zu befassen hat, und die man nicht einfach dadurch hei Seite schieben kann, dafs man ihnen einen antinomischen Charakter andichtet.

Überhaupt ist es eine sonderbare Ansicht, nh oh es eine „natür- liche'' Antinomie geben kcüme, die nicht blofs auf einem Mangel an synthetischer Verstandeskraft beruht. Kant führt die kritische Ent- scheidung des kosmologischen Streites dadurch herbei, dafs er zeigt, die Antinomie sei „blofs dialektisch und ein Widerstreit eines Scheins, der daher entspringt, dafs man die Idee der absoluten Totalität, welche nur als eine Bedingung der Dinge an sich selbst gilt, auf Erscheinungen angewandt hat, die nur in der Vorstellung und, wenn sie eine Beihe ausmachen, im successiven Begressus, sonst aber gar nicht existieren'* (.'k')") f.). Als ob die Vernunft sich hierbei beruhigen könnte und diese sogenannte „Aufhebung'* des Wider- spruchs für sie nicht schlimmer wäre als der Widers])ruch selbst, sofern man denselben für objektiv ansieht! Ist es doch die eigen-

tümliche Natur der Vernunft (vielmehr als zu dem Bedingten das Unbedingte zu suchen, worin Kant ihr Wesen sieht), dafs sie bestrebt ist, die Widersprüche aufzulösen und nicht eher sich zufrieden giebt, als bis sie hiermit völlig zustande gekommen ist. Darin besteht ja eben die grofse Wahrheit der hegelschen Dialektik, dafs der Widers])ruch das innerste Brinzip und die treibende Kraft des geistigen Lebens ist, der sich ewig neu erzeugt, um ewig wieder durch die Arl)eit der Idee zermalmt zu werden . und dafs die ganze Entwicke- lung der Vernunft nur in einem fortwährenden Auflösen von AVider- sprüchen sich vollzieht. Gesetzt, es gäbe eine Bealdialektik. d. h. das reale Dasein wäre selbst widerspruchsvoll, so müfste die Ver- nunft sich mit dieser Thatsache einfach zufrieden geben, es bliebe ihr nichts übrig, als mit ihrer subjektiven Funktion dem Gange der objektiven W^idersprüche nachzugehen, um ihn gleich einem S])iegel in sich aufzufangen ; alles müfste sich in ihr ruhig und ohne Kampf vollziehen, da alsdann der Widers])ruch ihr niclit mehr lästig sein könnte. Nur darum, weil die reale Welt keinen \\'ider- sprucli enthält, dieser vielmehr erst durch das subjektive Denken in sie hineingetragen wird, weil also der Widerspruch nichts Objektives, sondern nur einen blofs su])jektiven Faktor darstellt, der eben des- halb vom Denken fortwährend zu überwinden ist. iiui- darum giebt es einen Widerstreit verschiedener Frinzipien, nur darum ist der Kampf, wie im realen Leben der Objekte, so auch im idealen Beiche der Vernunft, die Bcnlingung des Fortschritts, und wird eine Er- kenntnis so lange von der Vernunft noch als eine unvollendete empfunden, als sie noch irgend einen Widerspruch birgt. Wäre der subjektive Widersj)ruch im Denken zugleich ein objektiver, dem auf keine Weise zu entrinnen, und welcher von der Natur des menschlichen Denkens selbst gegeben ist, welche Veranlassung hätte der Mensch dann noch, den Widerspruch als treibendes Brinzip seiner Gedankenarbi'it anzusehen, wie könnte er in ihm einen Hinweis darauf sehen, dafs sein subjektives Abbild dem Urbild der Welt noch nicht adäquat ist? Denn darüber mufs man sich nur klar sein, dafs ein solcher AVidersj)ruch im Denken, so subjektiv er auch unmittelhar uns selbst erscheint, von anderem Staiidj)U]dvt aus gesehen, doch ein objektiver ist, und dafs, wenn es einen objektiven Widersj)ruch nicht geben soll. es auch keine natürliche und unvermeidliche Antinomie im mensch- lichen Verstände geben darf. ,, Alles, was in der Natur unserer Kräfte gegründet ist. mufs zweckmäfsig und mit dem richtigen Ge- brauche derselben einstimmig sein" (4',)^). 288). A\'as kCtnnte es aber Unzweckmäfsigeres geben, als wenn die Vernunft, die uns doch zur Erkenntnis der Welt und zur Auflösung der Widersprüche gegeben

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ist, selbst mit einem unauslüschlichen Widersprucli behaftet wäre? „Die Ideen der Vernunft kihnien nimmermehr an sich selbst dialektisch sein, sondern ihr hhifser Mifsbrauch mufs es allein machen, dafs uns von ihnen ein trüglicher Schein entspringt; denn sie sind uns durch die Natur unserer Vernunft Jiufgegeben, und diesei- oberste Gerichtshof unserer 8])ckulation kann unmr»*,^lich selbst ursj)rüngliche Täuschungen und Blendwerke enthalten*' (450 f).*J

<J. Die Idee der Einheit. Die Entwickelung seiner naturphilosophischen Ideen h;itte Kant ganz von selbst dahin geführt, für die vielheitliche Welt seiner physischen Monaden den Abschlufs in einem einheitlichen Grunde dieser AVeit zu suchen. Die Theorie des wechselseitigen Rintiusses der Substanzen auf einander verhmgte notwendig ein vermittelndes Prinzij). um diesen intluxus verständlich zu machen. Aber auch die wahrgenommene Einheit, Harmonie und Zweckmäfsigkeit der Natur schien unbegrihen ohne die Annahme einer wesenhaften Hinlieit in und über jener Vielheit von Naturgestalten. Es war nicht so sehr ein ethisches oder religi()ses Interesse gewesen, das Kant veranlafst hatte, das Dasein Gottes zu beweisen die Naturphilosopliic ver- langte diesen Beweis; aber freilich verlangte sie ihn auch nur so- lange, als der Hegrifl' der Natur noch o])jektiver Art war, als er noch ein Ding an sich bedeutete. Nachdem Kant seinen Stand- punkt des transcendentalen Idealismus sich erobert und die ganze Natur im Netz der Erscheinungen eingefangen hatte, hei auch dieses Interesse am Dasein Gottes, soweit es rem naturphiloso])hischer Art war. hinweg. Denn die dynamische (Temeinschaft der SuV)stanzen wurde ja nun durch das apriorische Prinzip der Wechselwirkung verbürgt, und die Einheit, die Kant früher als eine objektive ver- standen hatte, war nun keine andere als die subjektive Einheit des Bewufstseins. Vom Standpunkt der Vernunftkritik angesehen, mufste sich auch der absolute Weltgrund zu liner blofsen „Idee" verflüchtigen. Wenn Kant sich trotzdem auf eine umständliche Widerle^uiii^ der Beweise vom Dasein Gottes einliefs, so vertol<^te er dabei theoretisch keinen andern Zweck, als auch äurseilich zu zeigen, „dafs alle Versuche eines blofs spekiilativcMi Gei>i'au(^hs der Vernunft in iVnsehung der Theolo^^ie gänzlich truchtlos und ihn^r inneren Beschaffenheit nach null und nichtig sind : dafs aber die Prinzipien ihres N a t u r g e b r a u c h s ganz und g a r a u f

*) Vf<l. hierzu: v. Hart mann: Kants Erkenntnistheorie u. Metapliysik. [\}7-~jib. Schopenhauer: Die Welt als WiUe u X'orstellung. I. i)«3 ff.

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keine Theologie führen, folglich, wenn man nicht moralische Gesetze zu Grunde legt oder zum Leitfaden braucht, es überall keine Theologie der Vernunft geben könne. Denn alle synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes sind von immanentem Gehrauch; zu der Erkenntnis des lu')clisten Wesens aber wird ein transcendenter Gebrauch erfordert, wozu unser Verstand gar nicht ausgerüstet

ist" (4:n).

Aber, konnte man vom Standi)unkt der Naturi)hilosophie aus einwenden: ist nicht am Ende die sinnenfällige Materie selbst das ursprüngliclie und notwendige Prinzip, das die Vernunft in ihren Beweisen vom Dasein Gottes anstrebt? Diesen Einwand weist Kant mit Beeilt zurück. „Denn es ist nichts, was die Vernunft an dieses Dasein schlechthin bindet, sondern sie kann solches jederzeit und ohne Widerstreit in Gedanken aufheben; in Gedanken aber lag auch allein die absolute Notwendigkeit'^ (420). Jede Bestimmung der Materie, welche das Reale an ihr ausmacht, insbesondere also die Ausdehnung und Undurchdringhchkeit, ist eine Wiikung (Hand- lung), die ihre Ursache haben mufs. und ist daher immer noch abgeleitet.

Es ist unm(),silich. für den absoluten Weltgrund eine ihm kor- respondierende Ansch:uiuiig zu hnden ; er ist nur eine Idee der Ver- nunft. ^^u haben es oben als den Grundsatz der Vernunft bezeichnet, das Mannigfaltige der vom Verstände gelieferten Er- fahrungsgegenstände unter Einen Begriff zusammenzuschauen und damit alle unsere Erkenntnis erst systematisch zu machen. Darin sind eigenthch zwei besondere Reg e 1 n vereinigt: zu jedem Bedingten das Unbedingte zu suchen oder, wenn es sich um das not- wendige Wesen handelt: „zu allem, was als existierend gegeben ist, etwas zu suchen, das notwendig ist, d. i. niemals anderswo, als bei einer a priori vollendeten Ei-klärung aufzuhih-en, sodann aber auch diese Vollendung niemals zu lioffen, d. i. nichts Empirisches als unbedin^^t anzunehmen und sich dadurch fernerer Ableitung zu überheben-' (41lJ).

Die erste dieser Regeln findet in der Praxis ihren Ausdruck in dem Prinzip der Hom ogen ei t . wodurch wir uns ver- anlafst sehen, die Unsumme der verschiedenen Erscheinungen da- durch möglichst einzuschränken, dafs wir durch Vergleichung die versteckte Identität entdecken und sie auf diese Weise nur als verschiedene Äufserungen einer und derselben Grundkral t erkennen. Entia praeter necessitatem non esse multii)licanda : das ist eine alte Schulregel, die besagt, „dafs alle Mannigfaltigkeiten einzelner Dinge die Identität der Arten nicht ausschliefsen, dafs die mancher-

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lei Arten nur als verschiedentliche Bestimmungen von wenigen Gattungen, diese aber von noch höheren Geschlechtern u. s. w. behandelt werden müssen, da(s also eine gewisse systematische Einlieit aller möglichen empirischen Begriffe, sofern sie von höheren und allgemeineren abgeleitet werden können, gesucht werden müsse" (440 f.). „Es war schon viel, dafs die Scheidekünstler alle Salze auf zwei Hauptgattungen, saure und laugenhafte, zurückführen konnten; sie versuchen sogar auch diesen Unterschied blofs als eine Varietät oder verschiedene Äufserung eines und desselben Grund- stoffs anzusehen. Die mancherlei Arten von Erzen (den Stoff der Steine und sogar der Metalle) hat man nach und nach auf drei, endlich auf zwei zu bringen gesucht; allein damit noch niclit zu- frieden, kcuinen sie sich des Gedankens nicht entschlagen, hinter diesen Varietäten dennoch eine einzige Gattung, ja, wohl gar zu diesen und den Salzen ein gemeinschaftliches Prinzip zu vermuten" (441). :Nichts Anderes also als die Idee der Einheit ist es, die den Eorscliergeist nach immer neuen Grundkräften zu suchen an- treibt: nicht als ob diese Idee aus der Natur geschöpft wäre, viel- nu'hr befragen wir die Natur nach ihr und halten unsere Erkenntnis für mangelhaft, so lange sie ihr nicht adäc^uat ist. ,.Man gesteht, dafs sich schwerlich reine Erde, reines Wasser, reine Luft u. s. w. linde. Gleichwohl hat man diese Begriffe davon doch nötig (die also, was die völlige^ Eeinigkeit betriff^ nur in der Vernunft ihren Ursprung haben), um den Anteil, den jede dieser Njiturursachen an der Erscheinung hat, gehörig zu bestimmen; und so bringt man alle iVIaterien auf die Erch'u (gleichsam die hlofse Last), Salze und brennliche Wesen (als die Kraft), endlich auf Wasser und Luft als Vehikel (gleichsam Maschinen, vermittelst deren di*^ vorigen wirken), um nach der Idee eines ]\lechanismus die chemischen Wirkungen der Materien unter einander zu erklären. Denn wiewohl man sich nicht so ausdrückt, so ist doch ein solcher Eintiufs der Vernunft auf die Einteilungen der Naturforscher sehr leicht zu entdecken" (4." Vi). Der zweiten jener genannten Kegeln entspricht das Prinzip der Spezifikation, „welches Mannigfaltigkeit und Verschieden- heit der Dinge, unerachtet ihrer Übereinstimmung unter derselben Gattung, bedarf und es dem Verstände zui- Vorschrift macht, auf diese nicht weniger als auf jene aufmerksam zu sein'^ (442). Pentium varietates non temere esse minuendas. Aus dieser Hegel entspiüngt die systematische Vollständigkeit unserer Erkenntnis, indem sie uns, von den Gattungen anhebend, zu dem JMannigfaltigen, das darunter enthalten ist, den Arten und Unterarten herabzusteigen heilst; ihr Ziel ist nicht Einheit, sondern Ausbreitung der Erkenntnis. „Da

aber auf solche Weise in dem ganzen Umfange aller möglichen Begriffe nichts Leeres ist und aufser demselben nichts angetroffen werden kann, so entspringt aus der Voraussetzung jenes allgemeinen Gesichtskreises und der durchgängigen Einteilung desselben (mithin aus der Vereinigung jener beiden Prinzijiien) der Grundsatz: non datur vacuum formarum, d. i. es giebt nicht verschiedene ursprüng- liche und erste Gattungen, die gleichsam isoliert und von einander (durch einen leeren Zwischenraum) getrennt wären, sondern alle mannigfaltigen Gattungen sind nur Abteilungen einer einzigen obersten und allgemeinen Gattung ; und aus diesem Grundsatze dessen un- mittelbare Folge: datur continuum formarum. d. i. alle Verschieden- heiten der Arten grenzen an einander und erlauben keinen Über- gang zu einander durch einen Sprung, sondern nur durch alle kleineren Grade des Unterschiedes, dadurch man von einer zu der anderen gelangen kann ; mit einem Worte : es giebt keine Arten oder Unterarten, die einander (im Begriffe der Vernunft) die nächsten wären, sondern es sind noch immer Zwisclienarten mciglich, deren Unterschied von der ersten und zweiten kleiner ist als dieser ihr Unterschied von einander" (440). Dieser „Grundsatz der Af- finität" oder dies „Prinzip d er Kont i nu i t der Formen", wie Kant es auch bezeichnet, verpflichtet uns also, bei allen Er- scheinungen den verwandtschaftlichen Beziehungen derselben nach- zuspüren.

Es braucht kaum ausdrücklich hervorgehoben zu werden, dafs alle diese Siitze nicht konstitutiv sind. d. h. dafs sie nichts über die wirk- liche Beschaffenheit der Dinge aussagen. sf>ndern dafs sie alle blofs regulative r Art, blofs „subjektive Grundsätze" sind, „die nicht von der Beschaffenheit des Objekts, sondern dem Interesse der Vernunft in Ansehung einer gewissen möglichen V^fflkommenheit der Erkenntnis dieses Objekts hergenommen worden" (449). Aus diesem Grunde nennt Kant sie auch „Maximen der Vernunft" (ebd.). „Li der That ist Mannigfaltigkeit der Hegeln und Einheit der Prinzipien eine Forde- rung der Vernunft, um den Verstand mit sich selbst in durch- gängigen Zusammenhang zu bringen, sowie der Verstand das Mannigfaltige der Anschauung unter Begriffe und dadurch jene in Verknü])fung bringt. Aber ein solcher Grundsatz schreibt den Objekten kein Gesetz vor und enthält nicht den Grund der Mög- lichkeit, sie als solche überhaupt zu erkennen und zu bestimmen, sondern ist l)lofs ein subjektives Gesetz der Haushaltung mit dem Vorrat unseres Verstandes, „durch Vergleichung seiner Be.^riffe den allgemeinen Gebrauch derselben auf die klemstmögliclie Zahl der- selben zu bringen, ohne dafs man deswegen von den Gegenständen

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selbst eine solche Eiiilielli<,^keit, die der GewiJhnliclikeit und Aiis- breitunpf unseres Verstandes Vorsclini) thue,zu fordern und jener Maxime zugleich objektive Gülti,i]^keit zu geben berechtiget wäre" (201 f.). So begreift sich, wie bei diesem Forscher das Interesse der Mannigfaltigkeit (nach dem l^nnzip der Spezilikation), bei jenem das Interesse der Riidieit (njicli dem Prinzip der Homogeneität oder Aggregation) überwiegen kann. Ein jeder glaubt sein Urteil aus der Einsicht des Objekts zu haben und gründet es doch lediglich auf der gröfseren oder kleineren Anhänglichkeit an (M'nen von beiden Grundsätzen, die eine Eigentümlichkeit seiner besonderen Natur ausmachen. ..Wenn i(di," sagt daher Kant, „einsehende Männer mit einander wegen der Charakteristik der Menschen, der Tiere oder Ptlanzen, ja, selbst der Kih-per des Mineralreichs im Streite sehe, da die einen z. B. besondere und in der Abstammung ge- gründete Volkscharaktere oder auch entschiedene und erbliche Unterschiede der Familien, Kassen u. s. w. annehmen, andere da- gegen ihren Sinn darauf setzen, dafs die Natur in diesem Stück ganz und gar einerlei Anlagen gemacht habe und aller Unterscdiied nur auf äufseren Zufälligkeiten beruhe, so darf ich nur die Be- schaffenheit des Gegenstandes in Betrachtung zielu^n. um zu begreifen, dafs er für beide viel zu tief verborgen liege, als dafs sie aus Ein- sicht in die Natur des Objekts sprechen könnten. Es ist nichts Anderes als das zwiefache Interesse der Vernunft, davon dieser Teil das eine, jener das amlere zu Herzen nimmt oder auch affektiert, mithin die Verschiedeidieit der Maximen der Naturmannigfaltigkeit oder der Natureiidieit, welche sieb gar wohl vereinigen lassen, aber so lange sie für objektive Einsichten gehalten w^erden, nicht allein Streit, sondern auch Hindernisse veranlassen, widche die Wabrheit lange aufhalten, bis ein Mitt(d gefunden wird, das streitige Inter- esse zu vereinigen und die Vernunft hierüber zufrieden zu stellen"

(44!) f.).

Was nun freilieb eine „Eegel" nützen soll, die gar keine andere als eine blofs subjektive Bedeutung hat, davon kann man sich schwer eine Vorstellung machen. Alle unsere Erkenntnis gipfelt darin, ein möglichst adä([uates Abbild der Wirklichkeit zu ij^ewinnen. Wir streben nach Feinheit der Erkenntnis und gehen den Unterschieden der Gattungen und Arten nach in der festen Überzeugung, dafs die Natur diese Unterschiede auch wirklich (uithalte und selbst in ihrem innersten Gefüge systematisch sei. Wenn wir damit unserm Abbild der Welt etwas hinzufügen, von dem es ungewil's ])leibt, ob es in dem Urbild auch wirklich enthalten ibt, wäre es da nicht viel richtiger, die Welt der Erfahrung einfach hinzunehmen, wie sie ist,

anstatt uns ihr Bild am Ende mit Bewufstsein zu verfälschen ? Man sagt uns, die Vernunft gebiete das. Aber welche Garantie haben wir, dafs eben diese sogenannte Vernunft nicht vielmehr die gröfste Unvernunft ist? Wir befinden uns mit unserm Verimnft- inhalt in einem Zwiespalt der Erkenntnis, der alles Andere, nur nicht vernünftig ist. Entweder haben die Ideen und liegein einen Wert : dann müssen sie mehr als blofs subjektiv, nicht blofs von regulativem, sondern auch von konstitutivem Gebrauche sein. Oder sie sind von blofs regulativem Gebrauch : dann haben sie für die Erkenntnis keinen AVert. Es ist nicht wahr, dafs der systematische Zusammenhang, den die Vernunft dem emjiirischen Verstandes- gebrauche geben kann, nicht allein dessen Ausbreitung befcirdere, sondern zugleich auch dessen Richtigkeit bewähre (4;")7). Wenn die Vernunft nur mit sich selbst beschäftigt ist, so hat sie eben auf das Zustandekommen unserer Erkenntnis keinen Einflufs und folglich auch kein Recht, über diese mitzusprechen. Es kann nicht zu- gegeben werden, dafs aus der Idee „nichts Anderes als Vorteil*' entsi)ringe, dafs sie „jederzeit der Vernunft blofs nützen und dabei doch niemals schaden könne*' (458. 4()1). Wenn sie aufserhalb alles objektiven Daseins steht, so kann ihre Stinune nur Verwirrung hervorrufen, Tind man mufs sie im Interesse der Objektivität unserer Erkenntnis schon bitten, nicht mit dreinzureden. Daher ist es bei aller Naivetät dieses Ausspruchs doch ganz richtig, wenn Kant in den Prolegomenen bemerkt, es sei „merkwürdig, dafs die Vernunft- ideen nicht etwa so, wie die Kategorieen, uns zum Gel)rauche des Ver- standes in Ansehung dei" Erfahrung irgend etwas nützen, sondern in Ansehung derselben völlig entbehrlich, ja. wohl gar den Maximen der Verstandeserkeimtnis der Natur entgegen und hinderlich sind*' (!) (IV. 79).

Dieser Zwiespalt zwischen unserem Verstände und der Ver- nunft hat seinen Grund offen])ar nur darin, dafs die Begriffe der einen, ganz ebenso wie diejenigen des anderen, zwar apriorisch sind und dennoch eine ganz verschiedenartige Geltung haben. Dafs die Begriffe des Verstandes eine objektive Geltung haben, kaim schon darum nicht bezweifelt werden, weil sie ja selbst die Bcnlingungen des Objekts sind. Wohl aber liegt die Frage nahe, ob nicht auch die Begriffe der Vernunft (die Ideen) am Ende ganz ebenso auf ein Objekt sich beziehen, dann freilich bei der übersinnlichen Natur ihres Objektes auch nicht mehr apriorisch und daher allgemein und notwendig, sondern blofs hypothetisch sind. Kant selbst wittert hinter dieser Annahme freilich eine „selbstsüchtige Absicht" und hält es für unter der AVHirde der Idee, sie als einen „blofs öko-

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nomisclien Handgriff-' /ai beiiutzoii. mit dem man sich hlofs eine Anzahl von Prinzi])ien erspart (440. 441). Der Würde der Idee soll es nur entsprechen, wenn diese ein „inneres Gesetz der Natur" ist, und dies ist sie wiederum nur. wenn sie a})ri()risch ist, wenn sie niclit auf empirischen, sondern auf transcendentalen Gründen beruht (440. 44()). Allein damit ist. wie gesagt, die Einheit unserer Erkenntnis selbst zerrissen, und wir kommen aus dem Dilemma nicht heraus, dafs, als apriorisch, die Ideen blofs subjektiv, als blofs sub- jektiv, aber ohne Wert für die Erkenntnis sind. Kant seihst gieht zu: „Nun ist nicht das Mindeste, was uns liindert, diese Ideen als auch ol)jektiv und hypostatisch anzunehmen, aufser alh^n die kosmologische, wo die Vernunft auf eine Antinomie stufst, wenn sie solche zustande l)ringen wilL Denn ein Widerspruch ist in ilmen nicht; wie sollte uns (hdier jemand ihre objektive Realität ])estreiten können, da er von ihrer Möglichkeit ebenso wenig weifs, um sie zu verneinen, als wir, um sie zul)ejahen? Gleichwohl ist's, um etwas anzunelimen. noch nicht genug, dafs kein positives Hindernis da- wider ist, und es kann uns nicht erlaubt sein, Gedankenwesen, welche alle unsere Begriffe übersteigen, obgleich keinem widersprechen, auf den blofsen Kredit der ihr (ileschäft gern vollendenden spekulativen Vernunft als wirkliche und bestimmte Gegenstände einzuführen" (4r)">). Hiernach mufs angenommen werden, dafs, wenn ])ositive Gründe hinzutreten, die für die Realität der Ideen sprechen, wir dann auch diese Realität nicht mehr bestreiten können.

Nun langt alle unsere Erkenntnis, von dem em])irisclHMi Materiale der Thatsachen emporsteigend, schliefslich mit Notwendigkeit bei den Ideen an: von ihnen wiederum herniedersteigend, gelingt es ihr, neue Thatsachen und neue (besetze in der Ei-fahrungswelt zu finden. Der physikothecdogische Beweis ..bringt Zwecke und Absichten dahin, wo sie unsere Beobachtung nicht selbst entdeckt hätte, und erweitert unsere Naturkenntnisse durch den Leitfaden einer besonderen Fein- heit, deren Prinzi]) aufser der Natur ist. Diese Kenntnisse wirken aber wieder auf ihre Ursache, nämlich die veranlassende Idee, zurück und vermehren den Glauben an einen höchsten Urheber bis zu einer unwiderstehlichen Ü b e r z e u g u n g '' (424). Vor- nehmlich ist es gerade diese Idee der Einheit, die uns für unsere Erkenntnis unentbehrlich ist. „Denn das Gesetz, sie zu suchen, ist notwendig, w^eil wir ohne dasselbe gar keine Vernunft, ohne diese aber keinen zusammenhängenden Verstandesgehrauch und in dessen Ermangelung kein z u r e i c h e n d e s Merk m a l e m p i r i s c h e r Wahrheit haben würden und wir also in Ansehung des letzteren die systematische Einheit der Natur durchaus als objektiv

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g ü 1 1 i g u n d n o t w e n d i g v o r a u s s e t z e n m ü s s e n" (440). Daher nennt Kant seihst „die Voraussetzung eines AVesens, welches, ob- zwar nicht in der Erfahrungsreihe, dennoch zum Behuf der Er- fahrung um der Begreiflichkeit, Ordnung und Einheit der letzteren willen gedacht wird, eine notwendige Hypothese zur Be- friedigung unserer Vernunft*' (IV. 9i)). Er verhehlt sich auch nicht, dafs der Zusammenhang der Dinge „einen mächtigen Grund abgiebt, die hypothetisch ausgedachte Einheit für nre- gründet zu halten" (III. 446). ja, er läfst es sogar gelegentlich dahingestellt sein, ob nicht am Ende auch Erfahrung „mittelbar unter der Gesetzgebung der Vernunft stehe*' (IV. 112). Es ist aber klar, dafs die Annahme eines einheitlichen höchsten Wesens nur dann zur Erklärung der Thatsachen etwas beitragen und ein „zureichendes Merkmal emjnrischer Wahrheit*' sein kann, wenn sie nicht eine hlofs subjektive Idee, sondern ein wirkliches Sein be- deutet, wenn sie mit andern Worten von konstitutiver Bedeutung ist. Sonach erscheint es beinahe wie F^igensinn, wenn Kant trotz- dem dabei bleibt, die Idee sei „wirkHch nur ein Schema, dem direkt kein Gegenstand, auch nicht einmal hy})othetisch zugegeben wird, sondern welches nur dazu dient, um andere Gegenstande vermittelst der Beziehung auf diese Idee nach ihrer systematischen Einheit, mithin indirekt uns vorzustellen*' (4r)l). Alle Gründe sprechen gegen die blofs subjektive Natur der Idee, und es scheint keineswegs logisch zu sein, ihre hypothetische Geltung als eines konstitutiven Prinzips durch die Berufung auf die Unerkennbarkeit der Dinge an sich widerlegen zu wollen, während doch umgekehrt gerade dieses Dogma durch die Notwendigkeit der Annahme ihrer objektiven Realität aufgehoben wird (T)!)).

Aber freilich „der hypothetische Gebrauch der Vernunft aus zum Grunde gelegten Ideen, als ])rol)lematischer Begriffe, ist nicht so beschaffen, dafs dadurch, wenn man nach aller Strenge urteilen wmII, die AVahrheit der allgemeinen Regel, die als Hypothese angenommen worden, folge; denn wie will man alle mr)glichen Fälle wissen, die, indem sie aus demselben angenommenen Grundsatze folgen, seine A 1 1 g e m e i n h e i t beweisen ?" (4' >S). I )er physikotheologische Beweis ist in seiner Art vortretflich, und es fehlt nicht viel, dafs er seine Absicht auch erreicht. Er verdient daher auch „jederzeit mit Achtung genannt zu \verden*'. „Es würde nicht allein trostlos, sondern auch ganz umsonst sein, dem Ansehen dieses Bew^eises etwas entziehen zu wollen. Die V^ernunft. die durch so mächtige und unter ihrenj^Händen immer wachsende, obzwar nur empirische Beweisgründe unablässig gehoben wird, kann

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durch keinen Zweifel subtiler abgezogener Spekulation so nieder- gedrückt werden, dafs sie nicht aus jeder grüblerischen IJnentschlossen- heit, gleich als aus einem Traume, durch einen Blick, den sie auf die AX'uiider der Natur und der Majestät des Weltbaues wirft, ge- rissen werden sollte, um sich von Gröfse zu Gröfse bis zur aller- höchsten, vom Bedingten zur Bedingung bis zum obersten und un- bedingten Urhebei- zu erheben. Ob wir. aber gleich wider die Vernünftigkeit und Nützlichkeit dieses Verfahrens nichts einzu- wenden, sondern es vielmehr zu empfehlen und aufzumuntern haben, so können wir darum doch die Ansprüche nicht billigen, welche diese Beweisart auf ap od i k t i sc li e Gewifsheit und auf einen gar keiner Gunst oder fremden Unterstützung IxMJiirftigen Beifall machen möchte-' (424). Die Zui-iickführung des vielheitlichen Welt- geschehens auf einen einheitlichen Urheber ist also nur „ein hypothe- tischer Versuch", der. als gelungen, „dem vorausges(4zten Krklärungs- grunde eben durch diese Einheit Wahrscheinlichkeit giebt'' (441); nur apodiktische (S^ewifsheit kommt ihr nicht zu. und daher glaubt sich Kant berechtigt, der Idee überhaupt alle objektive Realität abzusprechen.

Es ist also wirklich nur das Streben nach apodiktischer Ge- wifsheit, woraus die widersi)ruchsv(.lle Stellungnahme Kants zu den Ideen hervorgeht. Nur darum opfert er ihre Objektivität der Apriorität, weil ihm nur an dieser aUein wirklich etwas gelegen ist. „Alles, was a i)riori erkannt werden soll, wird (d.en dadurch für apodiktisch gewifs ausgegeben und muls also auch so be- wiesen werden" (IV. 117). ,.Denn das kündigt eine jede Erkenntnis, die a priori feststehen soll, selbst an, dafs sie fiir schlechthin notwendig gebalten werden will und eine Bestimmung aller reinen Erkenntnisse a priori noch vielmehr, die das Kichtmafs. mithin sidbst das Beispiel aller apodiktischen (philosophischen) Gewifsheit sein soll" (III. !)). Wenn es sich daher um das Dasein eines hiudisten Wesens oder überhaupt um Ideen handelt, so „sehe man sich ja vor, dafs der Beweis die ai)()diktische Gewifsheit einer Demonstration habe. Denn die Wirklichkeit solcher Ideen blofs wahrscheinlich machen zu wollen, ist ein ungereimter Vorsatz, ebenso als wenn man einen Satz der (jeometrie blofs wahrscheinlich zu beweisen gedächte. Die von aller P^rfahrung abgesonderte Vernunft kann alles nur a priori und als notwendig oder gar nicht erkennen ; daher ist ihr Urteil niemals Meinung, sondern entweder Enthaltung von allem Urteile oder apodiktische Gewifsheit. Meinungen und wahr- scheinliche Urteüe von dem, was Dinnjen zukommt, können nur als Erfahrungsgründe dessen, was wirklich gegeben ist, oder Folgen

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nach empirischen Gesetzen von dem, was als wirklich zum Grunde liegt, mithin nur in der Beihe der Gegenstände der Erfahrung vor- kommen. Aufser diesem Felde ist meinen so viel als mit Ge- danken spielen, es müfste denn sein, dafs man von einem unsicheren Wege des Urteils blofs die Meinung hätte, vielleicht auf ihm die W^ahrheit zu finden" (5l.'>f). „Nur in der empirischen Natur- wissenschaft kihmen Mutmafsungen (vermittelst der Induktion und Analogie) gelitten werden, doch so, dafs wenigstens die Mitglichkeit dessen, was ich annehme, völlig gewifs sein mufs" (IV. 117). ,.So ist z. B. der Äther der neueren Physiker eine blofse Meinungssache. Denn von dieser, sowie von jeder Meinung überhaupt, welche sie auch immer sein möge, sehe icli ein. dafs das Gegenteil doch viel- leicht könne bewiesen werden. Mein F'ürwahrhalten ist also hier objektiv sowohl, als subjektiv unzureichend, obgleich es, an sich be- trachtet, vollständig werden kann" (VIII. ÖT). ,. In Urteilen aus reiner Vernunft dagegen ist es gar nicht erlaubt, zu meinen. Denn weil sie nicht auf Erfahrungsgründe gestützt werden, sondern alles a priori erkannt werden soll, wo alles notwendig ist, so erfordert das Prinzip der Verknüj)fung Allgemeinheit und Notwendig- keit, mithin v ö 1 1 i g e G e w i f s h e i t , widrigenfalls gar keine Leitung auf A\'ahrheit angetroffen wird" (IIl {)')'2, VIII. (ili— 72). Daher ,,kann wohl nichts Ungereimter(^s gefunden werden, als in einer Metaphysik, einer Philosophie a u s reiner V e r n u n f t . seine Urteile auf Wahrscheinlichkeit und Mutmafsung griuiden zu wollen'- (IV. 117). ,,W^as die Gewifsheit anbetrifft", sagt Kant in der Vorrede zur ersten Auflage der Vernunftkritik, ,,so habe ich mir selbst das Urteil ges])rochen. dafs es in dieser Art von Betrach- tungen auf keine Vv^eise erlaubt sei. zu meinen, und dafs alles, was darin einer Hy})Othese nur ähnlich sieht, ver- botene W aar e sei, die auch nicht lÜr den geringsten Preis feil stehen darf, sondern, sobald sie entdeckt wird, beschlagen werden mufs" (III. 9. 017). ..Metaphysik mufs Wissenschaft sein, nicdit allein im Ganzen, sondern auch in allen ihren Teilen, sonst ist sie gar nichts, weil sie, als Spekulation der reinen Vernunft, sonst nirgends Halt hat als in allgemeinen Einsichten" (IV. IUI). Sie ist aber nur daduich Wissenschaft, dafs ihre Sätze apodiktische Gewifsheit haben, und diese haben sie wiederum nur dadurch, dafs sie nicht aus der Erfahrung entnommen, sondern a priori, im AVesen des menschlichen Erkenntnisvermcigens selbst begründet sind (IV. TiG. 'Jb).

Auch die bisherige Metaphysik hatte ihre Sätze a priori ab- geleitet: wie kam es, dafs es trotzdem ihrer Erkenntnis gerade am meisten an der Allgemeinheit und Notwendigkeit gebrach? Sie hatte

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sich eben eingebildet, ihre Sätze niiii'sten, weil sie a priori seien, eben deshalb auch objektiv sein, d. h. mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Sie hatte gar nicht daran gedacht, es könne am Ende auch eine blofs subjektive Allgemeinheit geben, ihre synthetischen Frinzii»ien könnten bloi's regulative Geltung für das Subjekt haben. Dal's den Ideen üljer- haupt irgendwelche Allgemeinheit zukam, darin bestand für (\vu Rationalisten Kant kein Zweifel; die Frage war nur. ob ihre Allgemeinheit und ISotwendigkeit auch objektiv sei. d. h. ob sie das Objekt als solches bestimmte. Kant selbst hatte, wie gesagt. nur zwei Möglichkeiten gesellen, um überhaupt eine Überein- stimmung unserer Vorstellung mit der AX'irklichkeit zu erklären : entweder unsere Erkenntnisiunktionen, aus denen die Vorstellung entsteht, richten sich nach den Gegenständen, oder die Gegenstände richten sich nach unseren Erkenntnisfunktionen und werdi^i von ihnen erst hervorgebracht. Der erste Fall kam nicht in Frage, wo es sich, wie in der Metaphysik, um apriorische Erkenntnis handelte^ weil nach ihm die Vorstellungen nur a posteriori entstanden. Der zweite Fall machte eine apriorische Erkenntnis inr>gli('h, [iber er zog den Gegenstand mit Haut und Haaren ins Subjekt hinein und ver- tiüchtigte ihn zu einer i)loi'sen Vorstellung im erkennenden He- wulstsein.

Bereits zu Kants Lebzeiten haben die Anhänger von Leibniz und unter ihnen insbesondere der scharfsinnige Fi stör ins. als Rezensent in Nicolais Allgemeiner Deutschen Bibliotiiek. zur Widerlegung des kantischen Idealismus sich auf die ..dritte Möglich- keit" berufen, die in den sechziger Jahren unseres dahrliunderts eine so bedeutsame Rolle in dem berühmten Streite zwischen Trendelenburg und Kuno Fischer über die ..Lücke*' bei Kant gespielt hat.*) Jene Einwände seiner Rezensenten haben die Veranlassung dazu gegeben, dafs Kant in der zweiten Auflairc der Vernunltkritik die dritte Möglichkeit wenigstens mit einigen Worten berührt hat: ,, Wollte Jemand'', sagt er hier, .^.zwischen den zwei ge- nannten einzigen Wegen noch einen ]\Iitttelweg vorschlagen^ nämlich dafs sie (die Kategorieen) weder selbstgedachte erste Priii- zij)ien a priori unserer Erkenntnis, noch auch aus der p]rfahruiig geschöpft, sondern subjektive, uns mit unserer Existenz zugleich eingepflanzte Anlagen zum Denken wären, die von unserem Urheber so eingerichtet worden, d a f s ihr G e b r a u c h mit d en G e set z en d e r N a t u r , a n w eichen die F r f a li r u n g fortläuft, genau stimmte (eine Art von Fräformationssystem der reinen Vernunft).

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=) Vaihinger: Cominentar II. 1 i2 tV. ,'.11 IV.

so würde (aufser dem, dafs bei einer solchen Hypothese kein Ende abzusehen ist, wie weit man die Voraussetzung: vorbestimmter Anlagen zu künftigen Urteilen treiben möchte) das wider gedachten 3[ittelweg entscheidend sein: dafs in solchem Falle den Kategorieen die Notwendigkeit mangeln würde, die ihrem Begriffe wesent- lich angehört-' (135 f.)- Es kommt nämlich, wie Kant dies auch später seinen Rezensenten in den „^tetaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" entgegengehalten hat, bei der Aniudune einer prästabilierten Harmonie ,,jene objektive Notwendigkeit nicht heraus, welche die reinen Verstandesbegrifle (und die Grund- sätze ihrer Anwendung auf Erscheinungen) charakterisiert, sondern alles bleibt blofs subjektiv notwendig, objektiv aber blofs zufällige Zusammenstimmung, gerade wie es Hume will, wenn er sie blofse Täuschung aus Gewohnheit nennt" (W . HG") f.). Ganz ähnlich heifst es in den Frolegomenen : „Grus ins allein wufste einen .Mittel- weg: dafs nämlich ein Geist, der nicht irren, noch ])et'rügen kann, uns die Naturgesetze ursj)rünglich einge[)tlanzt habe. zVllein da sich doch oft auch trü-^liche Grundsätze einmischen, wovon das Svstem dieses ]\Iaiines selbst nicht wenig Beispiele giebt, so sieht es bei dem Mangel sicherer Kriterien, den echten Urs])rimg von dem unechten zu unterscheiden, mit dem (jebrauche eines solchen Grundsatzes sehr mifslich aus, indem man niemals sicher wissen kann, was der Geist der Wahrheit oder der Vater der Lügen uns eingetlöl'st haben möge" {l\ . ()M). Aber schon viel früher im Jahre ITT'J hatte Kant in seinem Brief an Marcus Herz vom 21. Februar die ..harmonia praestabilita intellectualis"' abgewiesen. „Der deus ex machina ist in der Bestimmung des Ursprungs und der Gültigkeit unserer Er- kenntnisse das F n g e r e i ni t e s t e , was m a n ii u r w ä h 1 e n k a n n , und hat aufser dem betrüglichen Zirkel in der Schlufsreihe unserer Erkenntnisse noch das Nachteilige, dafs er in der Grille (niul's wohl heifsen: Stille) dem andächtigen oder grüblerischen Hirngespinst Vorschub leistet" (Vlll. (iUO).

So tritt auch hier wiederum Kants Al)üeigung gegen die prästabilierte H^irmonie zu Tage, wie sie ihm von seinem Lehrer Knutzen früher eingeplianzt w^ar. Es widerstrebte ihm, zur Fr- klärung des Erkenntnisvorganges einen übernatürlich eingreifenden Gott zu bemühen, so wie sein ganzes IJestreben in der Natur- philosophie darauf gerichtet war, die Annahme der prästa})ilierten Harmonie aus der Welt zu schatfen. Was ihm bei den Monaden unter einander unmöglich schien, das konnte er auch l)ei dem Ver- hältnis des Subjekts zu seinem Gegenstand nicht gelten lassen. Ohne uns weiter dabei aufzuhalten, dafs Kant selbst in einem

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anderen Brief an Herz vom 2i). Mai ITSfl den „deus ex machina" heranzieht, uni die Zusanunenstinmiunf]^ von Sinidichkeit und Ver- stand zu einer Erfahrungskenntnis hegreiflich zu machen, indem er sagt, wir konnten hiervon „weiter keinen Grund als den gi">tt- lichen Urheher von uns seihst angehen" (VIII. 71^). läfst sich gegen jenen Einwand Kants hemerken, dafs wir den Paralhdismus zwischen unsern Vorstellungen und den Dingen keineswegs gerade als prästabilierte Harmonie, d. h. als künstliche, willkürliche Ein- richtung eines traiiscendenten Gottes, aulzufassen brauchen, die von nun an einfacli fortl)esteht. Wie aber, wenn man sich jene Über- einstimmung der Vorstellung mit ihrem Gegenstande im 8inne des Monismus durch die einheitliche Entwickelung eines in aller JVIannig- faltigkeit mit sich seihst identischen Uri)rinzi})s erklärt, das sich im Sein und Bewul'stsein in den gleichen Foi'inen offenbart? Diese Annahme liegt selbst dem 8tand])unkt der Vernunftkritik nicht fern, wenn Kant bemerkt, wie dasjenige, was der F^rsclieinung der Materie als Ding an sich selbst zu Grunde liegt, dem vorstellenden Subjekt „vielleicht so ungleichartig nicht sein dürfte- ('^«^O), und meint, jenes Ding an sich oder das Xoumenon „könnte doch auch zugleich das Subjekt der G e danken sein" ([)i)2). Aber auch wenn man die prästabilierte Harmonie als solche zu- giebt, sind die Einwände, die Kant ihr macht, unberechtigt. Den Kategorieen soll in diesem Falle die Notwendigkeit mangeln; als ob sie weniger notwendig wären, wenn Gott sie gemäfs den existierenden Gegenständen uns gleichsam einpflanzt, als wenn sie selbst diese Gegenstände erst hervorbringen ! Der echte Ursprung der Naturgesetze soll von dem unechten nicht zu unterscheiden sein: man sieht nicht, was Kant hiermit sagen will, da ein in die Irre Gehen der Erkenntnis ja auch auf seinem eigenen Stand] )unkt nicht ausgeschlossen und das einzige Kriterium, um die Wahrheit zu ergründen, ja schliefslich auch bei ihm nur die Erfahrung ist.

In der That l)eweisen diese Einwände Kants gegen jenen erst nachträglich von ihm in Betracht gezogenen ]\Iittelweg, dafs es ihm damit kaum Fernst gewesen und dafs er iU)erhaupt nur notgedrungen „mit einer Mischung von Argerlichkeit und Verachtung" darauf eingegangen ist.*) Der wahre Grund, warum Kant ihn ursprüng- lich aufser Acht gelassen, und warum er auch dann noch, als ihn seine Rezensenten mit Gewalt darauf gebracht hatten, nur so neben- bei und in völlig unzulänglicher Weise sich mit ihm beschäftigt hat. dieser Grund liegt darin, dafs die Annahme einer Übereinstimmung

zwischen den Formen des Seins und denen des Denkens, so viel Wahrscheinlichkeit sie auch besitzen mochte, dennoch blofs eine Hypothese war. und dafs er. als Philosoph, es unter seiner Würde hielt, auf Hypothesen sich einzulassen. Darum war er auch in seiner Dissertation, wo er dasselbe Problem bereits gestreut hatte, an den ,.indagationes mysticas" eines Malebranche und Sweden- borg vorbeigegangen: sie Vxiders])rachen seinem rationalistischen Be- wufstsein und waren in seinen Augen nichts weiter als ein „S})iel- werk von AVahrseheinliclduMt und ^lutmafsung." Wenn hierüber nc>ch irgend ein Zweifel bestand, so hat ihn Kants Schüler dacob in seiner „Prüfung der Mendelssohnscheii Morgenstunden" jedenfalls beseitigt. Hier fordert im Gespräche ein Mitunterredner, um die Korrespondenz zwischen unseren Vorstellungen und den (legen- ständen zu erklären, die Annahme der traiiscendenten (lültigkeit der Anschauuiigsformen . und was erwidert man ihm? „Diese Hypotliese macht Ihrem Scharfsinn alle Ehre, lieber L. Aber wir krmnen hier schon deshalb keine Bücksicht darauf nehmen, weil es eine Hypothese ist."''')

Es ist gut. auf diese und ähnliche Stellen wieder und immer wieder hinzuweisen im Angesicht der Thatsache, dafs über keinen Punkt von seiten der modernen Anhänger Kants ein solches Still- schweigen beobachtet zu werden pilegt. wie über den rationalistischen Grundcharakter der kantischen Philosophie. Man i)tlegt dieselbe als „Kritizismus" mit hochtihienden Worten allen andern philo- sophischen Systemen gegenüber anzupreisen und stellt sie als Muster eines „wissenschaftlichen" Philosophierens hin; aber dafs die ganze Wissenschaftlichkeit dieser Philosophie letzten Endes nur auf einem Begriff von Wissenschaft beruht, an welchen die Kantianer von heute selbst nicht glauben, das halten sie uns, wie auf Verabn^lung. vor, wofern sie nicht gar so weit gehen, es einfach abzuleugnen. Wir sollen in der Vernunftkritik den objektiven Beweis dafür er- blicken, dafs unsere Erkenntnis über die Grenzen der Erfahrung nicht hinausreicht. Und doch hat Kant seihst von seinem trans- cendentalen Idealismus gesagt, er sei „lediglich dazu, um die Mög- lichkeit unserer Erkenntnis a priori von Gegenständen der Erfah- rung zu begreifen, welches ein Problem ist, das bisher noch nicht aufgelöset, ja, nicht einmal aufgeworfen worden" (I\'. \2:\). Nur die Möglichkeit der synthetischen Erkenntnis a priori (d. h. der apodikt'ischen Erkenntnis) war „die eigentliche Aulgabe, auf deren

*) V a i h i 11 «j: e r : Commentar 308.

*) .lacoh: a. a. O. '-'<;. Vgl. hierül)er Vai hinger: Cominentar II. J4o. ;]18

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B. Kant als Naturphilosoph.

Auflösun*,' das Scliicksul der iMetjipliysik i^änzlicli beruht, uml wo- rauf meine Kritik ^uiiz und ^^ir hinauslief. Der Idealismus war nur das einzifje Mittel, jene Auf<,^al)e aul/uKisen" (ebd. l'^f)). Wie getalirlicb freilich dieser Standpunkt sei, der die Dinge für l)l()rsf' Erscheinun^^en, die Welt fiii- ein ,.Spiel unserer Vor- stellun^^en*' erklärte, „die am Knde blofs auf Hestimmun,i,'en des inner»Mi Sinnes auslaufen.-' darüber seheint sieh Kant selbst nieht von Anfang an völlig klar gewesen zu sein. Zwar hatte vv bereits in der ersten Auflage der Vernunftkritik gesagt: „Es folgt natür- licher Weise aus dem Hegriffe eiiHM- F^rseheinung überhaupt, dafs ihr etwas entsprechen müsse, was an sich n i c h t E r s che i n u ng ist. weil Erscheinung nichts für sich selbst und aufser unserer Vorstellung sein kami, mithin wo nicht ein beständiger Zirkel herauskommen soll, das \V^)rt Erscheinung sclion eine Beziehung auf etwas anzeigt, dessen unmittelbare \^)rstellung zwar sinrdich ist. was aber an sich selbst auch ohne die Heschatfenheit unserer Sinn- lichkeit etwas, (1. i. ein von d er S i n n 1 i ch kei t unabhängiger Gegenstand sein mufs" (IIL LMS). „Die nichtsinnliche Ursache unserer Vorstellungen ist uns fränzlich unbekannt, und diese können w^ir daher nicht als Objekt anschauen ; denn dei'gleichen Gegenstand würde weder im Räume, noch der Zeit (als blofsen Bedingungen der sinnlichen Vorstellung) vorgestellt werden müssen, ohne welche Be- dingungen wir uns gar keine Anschauung denken können. Indessen kiumen wir die blofs intelligible Ursache der F^rscheinungen überhaupt das transcendentale Objekt nennen, blofs damit wir etwas haben, was der Sinnlichkeit, als einer Reze})tivität, korrespondiert. Diesem transcendentalen Objekt kiinnen wir allen Umfang und Zu- sammenhang unserer Wahrnehmungen zuschreiben und sagen: dafs es vor aller Erfahrung an sich seihst gegeben sei. Die Erscheinungen al)er sind ihm gemäfs nicht an sich, sondern nur in dieser Erfahrung gegeben, weil sie blofse Vorstellungen sind, die nur als Wahrnehmung(^n einen wirklichen Gegenstand bedeuten, wenn nämlich diese Wiihrnehmung mit allen andern nach den Regfdn der Erfahrungseinheit zusammenhängt" (.'MM). Mit dieser oti'enbaren Anerkennung des Dinges an sich als transcendenten Hintergrundes der Erscheinungen hatte Kant also schon in der ersten iVuflage den nihilistischen K()nse([uenzen seines Standj)unktes vorzubeugen gesucht Kr hatte es sich nicht einfadlen lassen, dafs man ihn trotzdem des Berkeleyanismus beschuldigen k()nnte. A'ach Berkeley waren die Vorstellungen mit den wirklichen Dnigen identisch, und es gab nichts hinter den Vorstellungen. Diese iVn- schauungs weise ihm in die Schuhe zu schieben, war für Kant schon

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IL Die kritische Xatur])hilosophie.

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deshalb ein besonders unangenehmer Vorwurf, weil er die Unter- stellung des Skeptizisnms in sich schlofs. dem Kant durch seinen ganzen kritischen Standpunkt ja gerade hatte entgehen wollen. Hätte die Annahme von Dingen an sich hinter den Erscheinungen, worauf eben der grofse Unterschied zwischen ihm und R(>rkeley beruhte, nicht gar so schlecht in sein eigenes System hinein- gepafst, so hätte er sich gegen jenen Vorwurf wohl am besten dadurch schützen köumen, dafs er sie noch energischer heraus- gearbeitet und sie mit Nachdruck gegen Berkeley hervorgehoben hätte. Aber Kant mochte wohl selbst von der Empfindung nicht ganz frei sein, wie wenig das Ding an sich mit den rationalistischen Grundvoraussetzungen seines Idealismus harmonierte, und dafs er allen Grund habe, gegen dasselbe mifstrauisch zu sein, wofern es nicht sein ganzes System aus den Eugen sprengen sollte. So half er sich damit, zunächst in den Prolegomen gegen den Vorwurf eines Idealismus, wie des berkeleyschen, sich ganz entschieden zu verwahren.

„Der Idealismus," sagt er hier, „besteht in der Behauptung, dafs es keine anderen als denkende Wesen gebe, die übriiren Dinge, die wir in der Anschauuni; wahrzunehmen glauben, wären nur Vor- Stellungen in den denkenden Wesen, denen in der That kein aufser- halb diesen belindlicher Gegenstand korrespondierte. Ich dagegen sage: es sind uns Dinge, als aufser uns befindliche Gegenstände un s er er Sinne . gegeben, allein von dem, was sie an sich selbst sein nn'igen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen, d. i. Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne afhzieren. Demnach gestehe ich allerdings, dafs es aufser uns Körper gebe, d. i. Dinge, die, ol)zwar nach dem. was sie an sich selbst sein möiren. ims gänz- lich unbekannt, wir durch die Vorstellungen kennen, welche ihi- Einilufs auf unsere Sinnlichkeit uns verschalt. mn\ denen wir die Benennung eines Köipers geben, welches Wort also blofs die Er- scheinung jenes uns unbekannten, aber nichts desto weniq-er wirklichen Gegenstandes bedeutet. Kann man dieses wohl Idealismus nennen? Es ist ja gerade das Gegenteil davon" (1\'. o7). „So wenig, wie der, so die Farben nicht als Eigenschaften, die dem Objekt an sich selbst, sondern nui- dem Sinn des Sehens als Modi- tikationen anhängen, will gelten lassen, darum ein Idealist heiisen kann, so wenig kann mein Lehrbegriff idealistisch heifsen. blofs deshalb, weil ich finde, dafs noch mehr, ja, alle Eigenschalten, die die Anschauung eines Körpers ausmachen, blols zu seiner Erschei- nung gehören; denn die Existenz des Dinges, was er-

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II. Die kritische Naturphilosophie.

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scheint, wird dadurch nicht, wie heim wirklichen Idealismus, Ji u f f]^eh oh e n . sondern nur i^^ezeigt. dal's wir es, wie es an sich seihst sei, durch Sinne gar nicht erkennen können" (38). Daher fährt Kant seine Rezensenten hart an und fügt er dem Anhange zu seinen Prolegomenen sogar die „Prohe" eines Urteils von Seiten eines solchen hei. der ihm den Vorwurf des Idealismus gemacht hat, ohne den eigentlichen Sinn seiner Lehre verst:inden zu hahen. „Denn dafs ich seihst dieser meiner Theorie den Namen eines transcendentalen Idealismus gegehen hal)e. kann keinen be- rechtigen, ihn mit dem empirischen Idealismus des Gart es oder mit (hun mystischen und schwärmerischen des Berkeley (wowider und andere ähnliclie Hirngespinnste unsere Kritik vielmelir das eigentliclie Gegenmittel enthält) zu verwechseln. Denn dieser von mir sogenannte Idealismus betraf nicht die Pl\istenz der Sachen (die Bezweiflung derselben aber macht eigentlich den Idealismus in rezipierter Bedeutung aus), d e n n d i e z u h e zweifeln ist mir niemals in den Sinn gekommen, sondern hh)fs die sinnliche Vorstellung der Sachen" (41 f.). So ungereimt es nändich ist, ein Ding nach seiner Beschaffenheit, wie es an sich selbst ist. erkennen zu wollen, so würde es doch ,.eine noch gröfsere Ungereimtheit sein, wenn wir gar keine Dinge an sich sell)st einräumen wollten" (98). „Der Verstand, eben dadurch, dafs er Erscheinungen an- nimmt, gesteht auch das Dasein von Dingen an sich selbst zu, und sofern können wir sagtMi. dafs die Vorstellung solclier Wesen, die den Erscheinungen zu (irunde liegen, nicht allein zulässig, sondern auch unvermeidlich sei" (()^^). flener Idealismus, der wirkliche Sachen (nicht Erscheinungen) in blofse Vorstellungen verwandelt, ist „ein in der That verwerflicher Idealismus" : man könnte ihn den träumenden Idealismus nennen, im Gegensatz zu welchem Kant seinen sonst sogenannten transcendentalen Irh^alismus „hesser" als kritischen Idealismus bezeichnet haben will (4'2). Nach diesen und ähnlichen Aufserungen in den Piolegomenen, auf die er sich nun fortan l)erufen konnte, glaubte Kant von einer stärkeren Betonung des Dinges an sich in der zweiten x^uflage der Verimnftkritik um so lieher absehen zu dürfen, als ja diese An- nahme, aus dem Mittelpunkte des Systems lieraus betrachtet, eigent- lich als störendes Beiwerk erschien. So begnügte er sich damit, in der Vorrede zur zweiten Auflage ein für allemal darauf hin- zuweisen, dafs, wenn auch unsere ganze Erkenntnis sich nur auf Gegenstände möglicher Erfahrung hezöge, gleichwohl dabei doch immer vorbehalten bliebe: „dafs wir ebendieselben Gegenstände auch als Dinge an sich seihst, wenngleich nicht erkennen, doch

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wenigstens müssen denken können. Denn sonst würde der un- gereimte Satz daraus folgen, dafs Erscheinung ohne etwas wäre, was da erscheint" (III. 2.)). d. h. es wäre die ganze Welt nicht Erscheinung, sondern l)lofser S c h e i n. Damit hatte er denn freie Hand bekommen, im Übrigen das Ding an sich mehr zurück- treten zu lassen, um so wenigstens die allzu groben AVidersprüche der ersten Aullage zu verschleiern, wofern man nicht etwa in der neu hinzugekommenen „Widerlegung des Idealismus" einen weiteren Schritt Kants zum Realismus erblicken will, der aber, wie wir dies bereits früher gesehen haben, in seiner schillernden Zweideutigkeit so wunderlicli ausgefallen ist, dafs er ganz ebenso gut auch von den Idealisten in ihrem Interesse ausgebeutet w^erden kann.

Thatsächlicli spielt das Ding an sich bei Kant eine hr)chst unglückliche Rolle: es darf nach den Voraussetzungen der Kritik nicht existieren, schon deshalb nicht, weil es die uns affizierende Ursache der Sinnlichkeit sein soll, das Kausalverhältnis aber nur Geltung im Hewufstsein hat. und ist doch auf der andern Seite wiederum ganz unentbehrlich, um überhaupt den Erkenntnisprozefs verstäiullich zu machen. So taucht es immer nur sporadisch dort auf, wo der Idealismus zu Mifsverständnissen führen kiinnte. um aber sofort wieder, wie in einer Versenkung, zu verschwiiulen, so- bald die logisclie Gedankenentwickelung auf die Bühne tritt.

Der Grund, warum das Ding an sich zu einer so schattenhaften Existenz verdammt ist, liegt darin, dafs es eben auch nur Hypo- these ist. Apodiktisch gewifs ist nur, was unmittelbar in unserer Erkenntnis ist, die Anschauungsformen, Kategorieen, Grund- sätze u. s. w., das ganze auf unserer eigenen subjektiven Seite be- lindliche Material der Erkenntnis, mittels dessen wir diese zustande bringen, und welches wir, indem wir mit ihm operieren, zugleich besitzen. Das Ding an sich jedoch soll ja gerade das aufserhalb unserer Subjektivität Betindliche, das nicht p]rkenntnismäfsige sein, das den Prozefs der Erkenntnis nur anregt, ohne jedoch in den Inhalt des Bewufstseins selbst mit einzugehen. Eben deshalb steht es auch nicht einmal auf einer Stufe mit den Ideen, denen doch w^enigstens regulative Bedeutung zugeschrieben wurde, weil es dem Inhalt der F^rkenntnis unmittelbar nichts hinzufügt. Zwar räumt Kant ein, die Wahrscheiidichkeit einer Hypothese könne wachsen und zu einem Analogon der Gewifsheit werden, „weim nändich alle Kolgen, die uns bis jetzt vorgekommen sind, aus dem voraus- gesetzten Grunde sich erklären lassen. Denn in einem solchen Falle ist kein Grund da, warum wir nicht annehmen sollten, dafs sich daraus alle möglichen Folgen werden erklären lassen. .:AVir ergeben

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B. Kant als Naturphilosoph.

Ulis also in diesem Falle der Hypothese, als wäre sie völlig gewiis, obgleich sie es nur durch Induktion ist" fVITT. 85). Er findet, ,.dafs unser Gedanke von der Beziehung aller Erkenntnis auf ihren Gegenstand etwas von Notwendigkeit hei sich 1" ü h r e . da nämlich dieser als dasjenige angesehen wird, was dawider ist. dai's unsere Erkenntnisse nicht aufs Geradewohl oder heliehig. sondca^n a priori a u f g e w i s s e Weise bestimmt seien, weil, indem sie sich auf einen Gegenstand beziehen sollen, sie auch notwendiger Weise in Beziehung auf diesen unter einander übereinstimmen, d. i. die- jenige Einheit haben müssen, welche den Begriff von einem (TCgen- stande ausmacht" (III. oTO). Dabei kann er uiiter dem ..Gegen- stande*' nur das Ding an sich verstehen, wofern m;in nicht Kant die alberne Tautologie zuschreiben will, die bestimmte \\)rstellun,i( des Gegenstandes mache, dafs ebtMi die Vorstellung desselben bestimmt sei.*J Die Annalime von Dingen an sich ist also eine solche not-

*) 13ieit'iii<j:eii Kriritianer, wolche diese Stelle so interpretieren, krhinen sich zwar mit Recht darauf herufen, diils Kant das Wort Geij^enstand im alljjfemeinen in immanentem Sinne als Gefjenstand in der Erscheinung- ( V%irstellung) versteht (340). Sie übersehen jedoch, wie derselbe bei seinem schwankenden Sprach- gebrauche nicht selten das Wort auch in transcendentem Sinne anwendet fvj^l. seine hiiuli<^e Identitizierutif^ von Gepfenstand und Objekt, Objekt und Oino;- an sich, transcendent und transcendental u. s. w ). Oder wie ander.s konnte Kant l)ehaupten, es sei der „Cre^enstand", welclier das (iremüt auf" «gewisse Weis»» affizierey (öf)). Soll liier mit dem „Geji^enstande" das Vorstellunj^fsobjekt fje- meint sein? Aber dies ist ja nach der pranzen Lehre der Vernunft i<ritik ein Produkt, eine Kombination, eine Synthese^ aus der ^laterie der Anschauunjj: und der fornnerenden Thäti*j^keit des Verstandes, die auf die Anregunji;' des Gemüts hin erst ins Spiel tritt, kann also nitdit selbst wiederum die Ursache dieser Anrey:un<jf sein. Ist es doch nach Kants eiji^enen Worten <x:\n/. selbstverstiindliidi. „dafs die Vorstellunj^fcn äufserer Gej^enstände (die Erscheinune^en) nicht äufsere IJ^rsachen der Vorstellungen in unserm Gemüte sein kclnnen"; ein solcher Ge- danke ist „tr^inz sinnenleer," „weil es niemandem einfaHen wird, das, was er einmal als blofse Vorstellung anerkannt hat, für eine äufsere Ursache zu halten" (t>10)- Er konnte freilich niclit ahnen, dafs eingetleischte Aidiiinger seiner Lehre» ihm diese Ingereimtlnut noch einmal als seine eiorentliche i^Ieinunnf andichten würden, blofs um der Annahme von Dingen an sich zu entgelien. Er glaubte sich vor dieser , gänzlichen Verkennung des wahren Sinnes der Kritik'' ge- nügend sicher, nachdem er zu guter letzt noch in seiner Abhandlung ,, L b e r eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere en t b eh rl ich g em ac ht w erd e n sol 1" ( l79o) auf E b e r- hards Einwürfe mit den Worten geantwortet hatte: „Nachdem er (E be rh a ril i gesagt hat: „Wer (was) giebt d(»r Sinnlichkeit ihren Stoft, nämlich die Em- pfindungen?" so glaubt er wider die Kritik abgesi)rochen zu haben, indem er sagt: „wir mcigen wählen, w^elches wir wollen, so kommen wir auf Dinge au sich." Nun ist ja das eben die beständige Behauptung der Kritik; nur dafs sie diesen Grund des Stoffes sinnlicher Vorstellungen nicht selbst wiederum

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in Dingen, als Gegenständen der Sinne, sondern in etwas Übersinidichem setzt, was jenen zu Grunde liegt, und wovon wir keine Erkenntnis haben können! Sie sagt: die Gegenstände als Dinge an sicli geben den Stoff zu emi^irischen Anschauungen (sie enthalten den Grund, das Vorstellungsvermögen seiner Sinn- lichkeit gemäfs zu bestimmen), aber sie sind nicht der Stoff dieselben (VL.Sll. Angesiclits dieser und der übrigen oben angeführten Äufserungen Kants, die gar nicht mifszuverstehen sind, ist es mir einfach unverständlich, wie Albr. Krause in seiner „Poi)ulären Darstellungr von Im. Kants Kritik d. r. Vernunft" (KS81) leugnen kann, dnfs Kant Dinge an sich, als reale trans- cendente Ursachen unserer Vorstellungen, angenommen habe. Für Krause ist das Ding an t;ich nur ein „Gedankengebilde" von uns, noch dazu ein blofs ver- neinendes (a. a O:i05). Es ist blofs mein „Gedanke von einer Ursache, welcher den roten Schrank einen roten Schrank sein läfst, sodafs dieser rote Schrank mich bestimmt, rot und nicht gell). Schrank und nicht Stuhl zu sehen" (JOb). „Nicht das Ding an sich ist die Ursache, dafs ich diesen (Gegenstand sehe, sondern der wahrgenommene Gegenstand ist es. Die Dinge an sich machen nicht, dafs Etwas rot und leuchtend ist, sondern die Gegenstände, die Sonne oder das Gold z. B. bewirken dies" (ebd.). „Die gedachte Ursache ist das Ding an sich, die wahrgenommene Ursache der Gegenstand. Der Gedanke(!) eines Tisches an sich wäre die Ursache (?), dafs ich an <lieser Stelle, wenn ich sehe, einen Tisch und keinen Stein sehe. Der w a h rge n ommene Gegenstand „Tisch" ist die Ursache, dafs ich hier etwas Haites, Viereckiges, Rotes u. s w. sehe. Wenn man diesen Unterschied," sacrt Krause, „erst begriflen hat. wird man den Gedanken eines Dinges an sich nie melir in der Wissenschaft der Er- fahrung verwerten und auch niclit mein- zweifeln, dafs wir die Gecrenstände an sich se 1 1) st e r ke n n e n k ö n nen , sowie sie sind, a 1 s Gegenstände , auch wenn sie uns im Augenldicke nicht gegenüberstehen und Emi)findung erregen" (111 f.). Das ist ofi'enbar ein Kealisnms. d<"r daiuuk nicht weniger naiV ist, weil er in ein scheinljiir idealistisches Gewand gehüllt ist. Es ist die i)hilosophische Sanktion jener unreflektierten Weltanschauung, die den sinnlichen Stoff, so wie sie ihn wahrnimnit. für real hält, weil sie sich mit den) Koj)f an ihm stöfst. Als ob es nicht gerade die Aufgabe der Er- kenntnistheorie wäre, diesen Irrtum zu heben und das naive Denken über den Unterschied des Gegenstandes und seiner N'orstellung im Bewufstsein, des wirk- lichen und des wahrgenommenen Gegenstandes aufzuklären! Als ob m"cht schon Locke und Descartes gelehrt und die moiierne Bhysik u!ui Sinnes])hysiologie seit .lohannes ]\lüller es ex})eriment(>ll bewiesen hätte, dafs wenigstens die sinnlichen (Qualitäten (Kaiben, Tr»ne, Gerüche u. s. w.) blofs subjektive Zuthaten zu dem Erkeniitnisstofte sind, welche den (Tcgenständen selbst nicht an- haftenl Hat Kant nichts Andei'es als einen derartigt-n ins Idealistische ,.uni- j?ekrem])elten naiven Realismus" o-('](>]nt. Wdiün l)esteht dann noch sein j)iin/,ipi(dler Fortschritt über Ber keley hinaus ; oder ist seine höchst anfechtbare Darlegunir des Erkenntnisprozesses als solche schon eine so ungeheure 'l'hat. dafs sie ihni allein den Vorrang vor allen andern Philosophen sichert? Jene Aiih;tn;ier Kants, die noch sogar Ans])ruch darauf erheben, allein di(^ echte Lehre des Königsberger Weisen zu vertreten, und dabei in ihrem transcendentah'ii Idealis- mus so weit gehen, dafs sie sogar seinetwegen in den naiven Realismus zurück- fallen, bemerken gar nicht, wit^ sehr sie damit niemand anders herabsetzen als gerade Kant. Könnte er es, er würde ihnen mit Recht zurufen : ,.G(»tt schütze mich vor meinen Freunden!"

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wen d i g e Hypotliesc, ohnr welche die iiiilieiv Bestimmtheit der Er- scheinungswelt ein Rätsel bleil)t. Trotzdem kann sich Kant nicht ent- schliel'sen. dem Ding nn sich mehr als ein bescheidenes Plätzchen aulserhalh der Schranken des Systems einzur.äiimen. hlofs weil es nicht a priori und folglich nicht nnt apodiktischer Gewifsheit, sondern nur a posteriori durch Induktion gewonnen und damit ancli nicht würdig ist. in das geweihte Heiligtum der Metaphysik aufgenommen zu werden. Diesen Hochmut (h^s Kationalismus allen Annahmen von hlofs hypothetischem Werte gegenüber und gleichsam rliesen aristokratischen Zug gegenüber dem ,. Pöbel der gemeinen Erfahrung-' und der Induktion, welcher durch die ganze rationalistische Plnlo- sophie hindurchgeht, mufste Kant teuer genug durch den fort- währenden Ärger bezahlen, den ihm der Vorwurf des Skeptizismus bereitet hat. Er hat ihm eigentlich nichts entgegen zu setzen, denn die Prinzii)ien seines Kritizismus versagen diesem Einwand gegen- über, und doch kann er ihn keim^sfalls gelten lassen, ohne di'n Boden aufzugeben, worin sein ganzes System doch schliefslich wurzelt. Daher der heftige, beinahe lei(hMischaftliche Zug. der fast in allen seinen Äufserungen über das Ding an sich hervortritt: man glaubt iormlicii die Erbitterung Kants herauszuln'iren. den In- grimm eines Löwen, den eine gaffende Menge foi)pt. und welcher doch aufser stände ist, sich auf sie zu stürzen, weil ihn die Eisenstäbe seines Käfigs daran hind(Mn.

Wie steht es denn nun um die Gewifsheit derjenigen Erkenntnis, die Kant für würdig gehalten hat. metaphysisch genannt zu werden? Dafs die sogenannten Grundsiitze des reinen Verstandes keineswegs sämtlich synthetische Urteile a priori, sondern zum Teil analytisch und daher zwar unmittelbar gewifs, aber auch .jr-inzlich nichtssagend sind, zum Teil, wie das Prinzip der Antizii)ationen der Wahrneh- mung, aposteriorisch und also blofs hypothetisch sind, dies haben wir früher bereits gesehen. Aber dafs auch die Anschauungsformen, was ihren logischen Geltungswert betrifft, auf apodiktische Gewifs- heit keinen Anspruch machen kihmen. darauf hat schon Pistorius in seiner Entgegnung auf die oben erwähnte Zurückweisung aller Hypothesen von seiten Jacobs hingewiesen: ,,Wenii Jacob (gegen die Annahme der Konformität von Sein und Denken) sagt, dafs er schon darum keine Rücksicht darauf nehmen klmne, weil es eine Hyi)0these sei, so kömmt es mir sehr sonderbar vor, wie er sich überreden könne, dafs seines Lehrers Gedanken über Kaum und Zeit e t w as m e h r a 1 s H y p 0 1 h e s e s e i e n."*) Kant selbst freilich

*) Vaihingen a. a. 0. 3lÖ.

leugnet, dafs seine Lehre blofs eine „scheinbare Hypothese^' sei, die „einige Gunst erwerl)e", und hält sie für „so gewifs und un- zweifelhaft", als jemals von einer Theorie gefordert werden könne, welche zum Organon dienen soll (74. 10. 21). Indessen beweist schon die ganze Art und Weise, wie er zu seiner Lehre von den Anschauungsformen gekomnnui ist, sein anfangs so unsicheres Hin- und Hertasten und Probieren, dafs es sich nur um eine hypothetische Annahme handelt, um insbesondere die ]\Iögliclikeit der reinen und angewandten Mathematik zu erklären. Wäre die ai)ri()rische Natur von Kaum und Zeit, als blofs subjektiver Anschauungsformen, wirklich eine Theorie von so zweifelloser Gewifsheit, wie Kant es darzustellen sucht, hätte sie dann nicht unmittelbar so allgemeine Geltung sich er\verben müssen, wie etwa die mathematischen Axiome oder der Satz des Widerspruchs, an deren AVahrheit ein normal veranlagter Mensch nicht zweifeln kann, sobald er sie sich nur einmal zum Bewufstsein gebracht hat? Bekanntlich steht es aber schlimm um die Aufnahme, welche eben diese Theorie gefunden hat; bildet doch die transcendentale Ästhetik gerade einen der am meisten und am heftigsten angefeindeten Bestandteile des kantischen Systems.*) Aber auch die transcendentale iVnalytik Kants wird schwerlich wohl Anspruch auf apodiktische Gewifsheit machen können. Es ist bekanntlich eine alte Streitfrage, ob Kant überhaupt den apriorischen Bestandteil unserer Erkenntnis auf induktivem Wege durch psycho- logische Selbstbeobachtung und lieilexion, d. h. a posteriori, oder selbst wiederum a pi'iori gefunden luibe, eine Präge, die unter den Neueren am Eingehendsten von J. B. Meyer behandelt ist.*) Wenn Kant seinen Anspruch auf a])0(liktische Erkenntnis aufrecht erhalten wollte, so mufste er natürlich auch bei den Kategorieen darauf bestehen, dafs sie nicht a posteriori, in welchem Falle sie blofs hypothetische Geltung gehabt hätten, sondern a ])riori von ihm gew^onnen seien. Nicht ids ob eine aposteriorische Erkenntnis von ihnen ganz unmöglich wäre: im Gegentiul ! ,. Ein solches Nach- spüren der ersten Bestrebungen unserer Erkenntniskraft, um von einzelnen Wahrnehmungen zu allgemeinen Hcgrilfen zu steigen, hat ohne Zweifel seinen grofsen Nutzen, und man hat es dem berühmten Locke zu verdanken, dafs er dazu zuerst den AVeg eniffnet hat. Allein eine Deduktion der reinen Begriffe a ])riori kommt dadurch niemals zustande, denn sie liegt ganz und gar nicht auf diesem

*) Vj?]. meine Dissertation: Die Lehre von Raiini u. Zcif in der nach- kantisehen ]'hil()S(.})liie (Halle 18ö9).

**) J. B. Meyer: Kants Psychologie (lö79j.

Drew.s, Knuts Xatiiriiliilosophie. 15

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AVege, weil in Ansehung ihres künftigen Gehniudis. der von der Erfalirung giinzlich unabliiingig sein solL sie einen ganz anderen Geburtsbrief als den d(>r Abstanmning von Erfahrungen müssen aufzuzeigen hal)en. Es ist also klar, dafs von diesen allein es eine transcendentale Deduk tion und keineswegs eine empirische geben kiinne, und dafs letztere in Ansehung der reinen Bei]:riife a priori nichts als eitle Versuche sind, womit sich nur derjenige beschäftigen kann, welcher die ganz eigentündiche >.'atur dieser Erkenntnisse nicht l)t'griffen hat*' (IIl. 107 f.)-

Diese J^ehauptung, die Kategorieen selbst auf a])rii)risciiem A\'ege gewonnen zu haben, kontrastiert nun freilich ebenfalls in der eigentümlichsten Weise mit der ganzen P^ntstehung der Yernunft- kritik. Man bedenke (h)c]i. wie spät Kant erst zu seiner Hntdeckung der apriorischen Natur der Kategorieen gekommen ist, wie hinge er über ihre Zahl und ihre nähere Bedeutung mit sich im Unklaren gewesen und wie vielerh'i Versuche er angestellt hat, ehe es ihm gelang, unter der grol'sen Anzahl von mr)glichen Kategorieen die riclitigen herauszufinden und das wurzelhafte Trinzip seinei- reinen Verstandesbegriffe zu entdecken.*) Und wenn vv schliefslich zur Ableitung seiner Kategorieentafcl sich auf die UrtcMlsformen stützte, wie sie die dannüige Logik vorzutragen i)lh'gte, war das etwa keine Ableitung aus der Erfahrung, un<l konnte man eine scdcla^ p]rkenntnis apri(»riseh nennen? Hat doch Kant selbst m der Vorrede zu seinen Prolegomenen, die durch ihre induktive (analytische) DarsteHungsart das Verstiindnis der Vernunftkritik erleichtcin s(dlten, sich in der unzweideutigsten Weise darüber ausges])rochen, wie er nur auf induktivem Wege zu seinem liesultat gekomm(ai ist. ,.Ich gestehe frei: die Erinnerung des David Hume war eben dasjenigen, was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unter- l)rach und meinen Untersuchungen im Vi'ldc der s])ekulativen ]*hiloso])hie eine ganz andere Kichtung gab. Ich versuchte zu- erst, ob sich nicht Humes Einwurf allgemein vorstellen liefse, und fand bald, dafs der Begriif der Verknüpfung von Ursache und Wirkung bei weitem nicht der einzige sei. durch den der Verst;ind a priori sich Verknüpfungen der Dinge denkt, vielmehr dafs .Aleta- })liysik ganz und gar daraus bestehe. Ich suchte mich ihrer Zahl zu versichern, und (hi dieses mir nach Wunsch, näiidich aus einem einzigen Prinzip, gelungen war, so ging icii an die Deduktion dieser Begriffe, von denen ich nunmehr versichert war. dafs sie nicht, wie Hume besorgt hatte, von der Erfahrung abgeleitet.

sondern aus dem reinen Verstände ents] »rangen seien-' (TV. S). Also zunächst Auffindung und dann erst Ableitung der Kategorieen, erst Induktion und dann Deduktion! Danach sieht es um den aj)odik- tischen Charakter der Kategorieenlehre denn freilich nur recht mifslich aus. Vermag doch auch J. B. Meyer, obwohl er mit Kant in den Prinzi])ienfragen ül)ereinstinimt, an die apriorische >,'atur ihrer Erkenntnis nicht zu glau])en.*)

Und wie steht es nun mit der api-iorischen Ableitung der Kategorieen oder der ,.tr anscenden talen Deduktion'' der letzteren selbst? Nach seiner ausdi'ückliclien Definition in den J*rolegomenen, wodurch Kant das Wort vor Mil'sdeutungen seiner ]{ezensenten schützen will, bedeutet transcendental ,,nicht etwas, das über alle Rrfahrung hinausgeht fwie das Wort: transcendent, das er leider stdhst oft genug mit ihm verwechselt), sondeiii was vor ihr (a jtriori) zwar vorhergeht, aber doch zu nichts Mehreni bestimmt ist, als lediglich Krfahrungserkenntnis möglich zu machen" (TV. 121). Transcendental ist also eine Erkenntnis insofern, als sie an sich zwar subjektiv oder immanent ist, aljer sich gleichwohl auf ein Transcendentes bezieht und <ladurch den Begriif des „trans- cendentalen Objekts" ermöglicht (TTT. 217). Tm Hinblick darauf, dafs eben dieses transcendentale (3l)jekt ein Tmmanentes. blofse \ orstellung ist und nur den subjektiven liepräsentanteu od'-r (his vorstellungsmäfsige Ivorrelat des transcendenten Dini^es an sich be- deutet, sagt ]\ant auch mit einer allerdings haeht mifszuversteh*'iiden A\'endung, das A\'ort: transcendental zeige bei ihm niemals eine Beziehung unserer Ei'kenntnis auf Dinge, sondern nui' aufs Er- kenntnisvermög(m an (IV. 42). A\'orauf es ankommt, ist. daf^ nicht dei" Akt unserer Erkenntnis als solcher, sondern nur der aj)rionsche Gegenstand derselbi-n transcendental genannt wird. Dtaii entspi-jeht es, wenn Kant in der ersten Auflage zur Vernunttkritik sagt: ,.Ich nenne alle Erkenntnis traiiscemh^ntal. die sich nicht sowohl lait Gegenständen, sondern mit unseren Begriffen a 2)riori von Gegen- ständen überbau] )i beschäftigt.*' Statt dessen ändert Kant in der zweiten Auflage diesen Ausdruck dahin, dafs transcendental die- jenige Erkenntnis sei, die sich „niit unserei- K r k e n n t n i s a r t von Gegenständen, sofern diese a pi-iori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt"' (III. if)), und in)erträgt dann't jenen Begi'iflf vom Ohjekt der J^rkenntnis auf den Akt unserer Erkenntnis sell)st, der nunmehr als solcher ein apriorischer sein soll. So hatte er auch

♦j V<^1. Ad ick es: a. a. O.

*) J. B. Meyer: n. a. 0. ir.Ofl. Erfalirung (löZJj. 1<JS.

Vir), aueli (/ohen: Kants Theorie der

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B. Kant als Naturphilosoph.

schon in der ersten Auflage gesagt^ „dal's nicht eine jede Erkenntnis a ])riori, sondern nur die, dadurch wir erkennen, dafs und wie ge- wisse Vorstelhmgen (Anschauungen oder Begriffe) lediglich a priori angewandt werden oder möglich sind, transcendeiital ( d. i. die Mög- lichkeit der Erkenntnis oder der Gebrauch derselben a priori) heifsen nn'isse. Daher ist weder der llauni, nocli irgend eine geo- metrische Bestinrniung desselben a priori eine transcend(Mitale Vor- stellung ; sondern nur die (sc. apriorische) Erkenntnis, dafs diese Vorstellungen gar nicht empirischen Urs])rungs seien und die i\rög- lichkeit, wie sie sich gleichwohl auf Gegenstände der Erfahrung beziehen könne, kann transcendental heifsen*' (8;")).

Es ist klar, dafs hiermit die obige Bedeutung des Wortes: transcendental geradezu in ihr Gegenteil verkehrt worden ist; nicht minder klar, dafs eim,' solche apriorisclie Erkenntnis oder das a})rio- risciie Bewufstsein der apriorischen Natur der Kategorieen nichts als ein hölzernes Eisen ist. Wenn die Kategorieen die Erfahi'ung und damit unser Bewufstsein. das doch wohl auch mit zur Erfahrung gehört, selbst erst möglich machen, so können sie nicht mit diesem Bewufstsein unmittelbar, mitliin auch nicht ai)riorisch erkannt werden, es sei denn, dal's man sich zu der logischen Ungeheuerlich- keit versteigen wollte, die Wirkung könne die Ursache ihrer ei^^enen Ursache oder mit ihrer Ursache selbst identisch sein ! Die Kate- gorieen kömien nur durch II ü ck s(; li l u f s aus der Erfahruni? erkaiuit werden: so kommt es, dafs sie in unserem Bewul'stsein auch nur abstrakte H e g r i f f e sind, wie alle unsere aus der Erfahrung abgezogene Erkenntnis. Wären die Kategorieen, soweit wir sie in unserem Bewufstsein unmittelbar besitzen, wirklich mit jenen intellek- tuellen Funktionen, als den produktiven Grundlagen unserer Er- kenntnis, identisch, so dürften sie keine abstrakten Bef^rilfc sein, weil sie als solche nicht produktiv sein könnten. Unsere Kategorieen sind blofs die subjektiven Re])räsentanten, die imninnenten VorsteHungs- bikler der Kategorieen an sich, die selbst transcendent sind und niemals unmittelbar in den Inhalt unseres Bewul'stseins mit eingehen.

Die Kategorieen, als produktive Eunktionen, sind mithin unl)ewurst, und Kants Bestreben, sie a priori abzuleiten, schliefst nichts Geringeres als den Widerspruch in sich ein , mit dem Bewufstsein zugleich hinter der Bühne des Bewul'stseins zu sein.*) EreiHch mufste er die Möglichkeit hiervon anerkennen, weil daran allein die a})0(liktisclie Gewifsheit hing. „Der Leser mufs von der unumgänglichen Not-

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*) v. Hart mann: Kants Erkenntnistheorie u. ^b^taphysik. 124 127, Vurl. auch 2.) 27.

wendigkeit einer solchen transcendentalen Deduktion, ehe er einen einzigen Schritt im Felde der reinen Vernunft ^^ethaii hat. überzeugt werden, weil er sonst blind verfährt und. nacliden] er manniirtaltig umhergeirrt hat, doch wieder zu d er Un w i sse n h e i t zurück- kehren mufs, von der er ausgegangen war" (joil). ßs begreift sich aber jetzt, warum kein Abschmtt dei- W^rnunl'tkritik dem Philosoi)hen nach seiner eigenen Versicherung soviel i\Iühe ge- macht hat, wie gerade die transcendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriife: „das Scliwerste. das jemals zum Behuf der ^Feta- physik unternommen werden koimte-' ([IT. !). TV. S). Mag es ihm. der nach seiner Wanderung durch die öden Gelilde des Skeptizismus in seiner Dissertation von neuem Hoffnun^^ geschöpft hntte. die Pfade einer transcendenten ]\retaphysik einschlagen zu kiumen. nicht leicht geworden sein, dieser Hoffnung auf immer zu entsagen, als er auch die Kategorieen auf die Erfahrung einschränkte, mag es ihm ])ers(»nlich <lie schwersten Kämpfe gekostet haben, zu be- weisen, wogegen seine innerste liberzeuguuij: sich aufbäumte: das eigentliche sachliche Hindernis bei dieser ganzen Arbeit lag doch darin, dafs sie ein Wassersch()j)fen der Danaiden war. Nui- aus diesem Grunde war die Schwieri,c:keit in der That ,.unvermeidHch", derentwegen Kant bei jenem Abschnitt seinen Lesern gegenüber sicli glaubt entschuhligen zu müssen, weil ,,die Sache selbst tief ein- gehüllt*' sei (10!). \^^u). Wäi-e die Darstellunir d<M- transcendentalen Deduktion wc^niger dunkel und inikLar ausgefaUen. als sie es auch nacli der iränzliclien UmarheituiiL!: in der zweiten Aulla^^e dei- \'er- nunftkritik ist, so hätte die Thatsache längst allgemeiner anerkannt sein müssen, wie diese ganze J)eduktion mir durch eine Verweclisehing unseres emj)irischen Bewufstseins von den Kategorieen mit einem apriorischen oder transcendentalen Bewufstsein derselben zustanth' kommt.

Erfahrung ist die gesetzmäCsige Verbindung eines Mannigfaltigen von Vorste] lumpen vermittelst der Kategorieen und eben dadurch zu^^leich objektive Erkeinitnis (IbS). ..Das Mamiiti^laltii^n' dei- Vor- stellungen kann in einer Anschauung begehen werden, (b'e hlol's simdich. d. i. m'chts als E m }) f ä n ij^ 1 i c h k o\t . ist. und die Form dieser Anschauung kann a priori in unserem Vorstellun^^svermögen liegen, ohne doch etwas Anderes als die Art zu sein, wie das Sub- jekt affiziert wird. Allein die Vcr])indung eines Mannigfaltigen ül)erhaupt kann niemals durch Sinne in uns kommen und kann als<» auch nicht in dei- reinen l^'orm der sinnlichen Anschauun^^ zugleich mit enthalten sein : denn sie ist ein Aktus de r S p o n t a n e i t der Vorstellungen, und da man diese zum Unterschiede von

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II. Die kritische Naturphilosophie.

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der Siimliclikeit Verstand nennen niufs. so ist alle Verliindung. es mag eine V^erbindung des Mannigfaltigen der Anschauung oder mancherlei Begriffe, und an der ersteren der sinnlichen oder nicht- sinnlichen Anschauung sein, eine Verstandeshandlung, die^,wir mit der allgemeinen Benennung S y n t h e s i s belegen werden, um dadurch zugleich bemerklich zai machen, dal's wir uns nichts als im Objekte ver- bunden vorstellen ktinnen, ohne es vorher sell)st verbunden zu haben, und unter allen Vorstellungen die Verbindung die einzige ist, die nicht durch Objekte gegeben, sondern nur vom Subjekte selbst ver- richtet werden kann, weil sie ein Aktus seiner Selbstthätigkeit ist*' (114 1.). Diese Synthesis ist rein, sofern sie aller Erfahrung vorher- geht ; sie ist transcendental. sofern sie eine apriorische Bedingung der Erkenntnis bildet; ihr Prinzip aber ist die Einbildungs- kraft, und zwar die p r o d u k t i v e E i n b i 1 d u n g s k r a f t, als ,.ein W'rmögen, die Sinnlichkeit a priori zu bestimmen'' im Unterschiede^ von der re])roduktiven p]inbildungskraft, deren Synthesis lediglich empirischen (xesetzen, nämlich denen der Assoziation unterworfen ist. Diese reine transcendentale Synthesis dei' Einbildungskraft, als eine Bedingung a priori der Mriglielikeit aller Zusammensetzung des Mannigfaltigen in einei' Erkenntnis, erfolgt, wie gesagt, den Kate- gorieen gemäl's und ist eine rein spontane Wirkung d(^s Verstandes auf die Sinnlichkeit und die erste Anwendung desselben aufCiCgen- stände der uns möglichen Anschauung (\27. r)T(S. 134).

,.Aber der Begriff der Ver])indini,n- führt aufser dem Begriffe des Mannigfaltigen und der Synthesis desselben noch den der Ein- heit desselben bei sich. Verbindung ist Vorstellung der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen. Die Vorstellung dieser Einheit kann also nicht aus der Verbindung entstehen, sie nuiclit viel- mehr (hiduich, dafs sie zur Vorstellung des Mannigfaltigen hinzu- kommt, den Begriff der V(4-bindung allererst möglich. Diese Ein- heit, die a priori vor allen Begriffen vorhergeht, ist nicht etwa jene Kategorie der Einheit; denn alle Kategorieen gründen sich auf logische Funktionen in Urteilen : in diesen aber ist schon Verbindung, mithin Einheit gegebener l^egriffe gedacht. Die Kategorie setzt also schon Verbindung voraus. Also müssen wir diese Einheit noch höher suchen, nämlich in demieniuen. was selbst den (irund der Einheit verschiedener Begriffe in Urteilen. mithin der Miiglichkeit des \'erstandes sogar in seinem logischen Gebrauch enthält'' (llö).

„Nun können keine Erkenntnisse in uns stattfinden, keine Ver- knüi)fung und Feinheit derselben unter i'inander ohne diejenige Einheit des Be w u fs t s ei n s, welche vor allen Datis der An-

schauungen vorhergeht, und worauf in Bezieliung alle Vorstellung von Gegenständen allein möglich ist" rr)72). „Alle Anschauungen sind für uns nichts und gehen uns nicht im mindesten etwas an. wenn sie nicht ins Bewufstsein aufgenommen werden können, sie mögen nun direkt oder indirekt darauf einlliefsen, und nur durch dieses allein ist Erkenntnis möglich'' (577). ,.Denn die mannig- faltigen Vorstellungen, die in einer gewissen Anschauung gegeben werden, würden nicht meine Vorstellungen sein, wenn sie nicht insgesamt zu einem Selbstbewufstsein gehörten" fj lö). „Das: ich denke mufs alle meine Vorstellungen begleiten kcumen ; denn sonst würde etw^as in mir vorgestellt wer<len. was gar nicht gedacht werden könnte, w^elches ebenso viel heifst als: die Vorstellung würde entweder unm<)glich oder wenigstens für mich nichts sein. Also hat alles Mannigfaltige der Anschauung eine notwendige Beziehung auf das: ich denke in demselben Subjekt, darin dieses ]\rannigfaltige angetroffen wird" (lir)f.). Ohne jene Einheit des Bewufstseins würde es aber auch überhau})t kein Selbstbewufstsein geben; „ich würde ein so vielfarbiges verschiedenes Selbst haben, als ich Vor- stellungen habe, deren ich mir bewufst bin-' (117). ..Denn (bis empirische Bewufstsein, welches verschiedene Vorstellungen begleitet, ist an sich zerstreut und ohne I^eziebung auf die Identität des Sub- jekts. Diese Beziehung geschieht also dadurch noch nicht, dafs ich jede Vorstellung mit Bewufstsein begleite, sondern dafs ieli eine zu der anderen hinzusetze und mir der Synthesis derselben bewufst bin. Also imr dadurch, dafs ich ein Mannigfaltiges gegebener Vor- stellungen in einem Bewufstsein verbinden kann, ist es mii^licb, dafs ich mir die Identität des Be w u Is t sein s in diesen Vor- stellungen selbst vorstelle" (1 Mi).

„Das Gemüt könnte sich unmöglich die Identität seiner selbst in der iVIannigfaltigkeit seiner V'orstellungen und zwar a priori denken, wenn es nicht die Identität seiner Handlung voi- Auiren hätte, welche alle Synthesis einer transcendentalen Einheit unter- wirft und ihren Zusammenhang nach Kegel a priori zuerst mög- lich macht. Das ursprihigliche und notwendige Bewufstsein der Identität seiner selbst ist also zugleich ein JVwufstsein einer ebenso notwendigen Einheit der Synthesis aller Erscheinungen nach Begriffen, d. i. nach Regeln, die sie nicht allein notwendig rej)rodiizibel machen, sondern dadurch auch ihrer Anschauung einen Gegenstand bestinniu'n" (r)72 f.). ,J^1^ ^^^'^ "^^^* ^^^'^ identischen Selbst bewufst in Ansehung des Mannigfaltigen der mir in einer Anschauung ge- gebenen Vorstellungen, weil ich sie insgesamt meine Vorstellungen nenne, die eine ausmachen. Das ist aber soviel, als dafs

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ich mir einer ursprünglich eu Syntliesis der seihen a priori h e w u 1' s t hin, welche die n r s j) r ü n g 1 i c h e syn- thetische Einheit der A ppe rz ej) t i oii licilst, unter der alle mir ge^^ebenen Vorstellungen stehen, nher unter die sie auch durcli eine Synthesis gebracht werden müssen" (117 f.).

Zugegeben nun, dafs die synthetische Funktion auf dem Grunde eines einheitlichen Substrates vor sich gehen mul's. olme welches sie haltlos in der Lutt schweben würde, zugegeben auch, dal's diese Einheit nicht aus der A'erhindung dei* Kiitegorieen erst entstehen oder überhaupt logischer Natur sein kann, Aveil sie ja selbst ebenso den (irund aller Verbindung, wi(* überhau])t des Logischen bildet, so ist so viel jedenfalls sicher: die A])per- zeption ist mit dem em])iri sehen Hewufstsein nicht identisch. Sie ist, sagt Kaut, diejenige Einheit, durch welche alles in einer Anschauung gegebene iVLinnigfaltige in einen Regrilf vom Objekt vereinigt wird : darum heilst sie objektiv „und mul's von der subjektiven Einheit des Bewui'stseins unterschieden werden, die eine Bestimmung des inneren Sinnes ist. da- durch jenes Mannigfaltige der Anschauung zu einer solchen Ver- bindung empirisch gegeben wird. Ob ich mir des .Mannigfaltigen als zugleich oder nach einander em])irisch bewufst sein kiinne, kommt auf Umstände oder em})irische Bedingungen an. Dabei* die empirische Einheit des Bewui'stseins dnrch Assoziation der Vor- stellungen selbst eine Erscheinung beti'ifft um! ganz zufällig ist. Dagegen steht die reine Form der Anschauung in der Zeit, blofs als Anschauung überhaupt, die eni gegebenes Mannig- faltiges enthält, unter der urs])rünglichen Einheit des Bewui'stseins lediglich durch di(^ notwendige Beziehung des Mannigfaltigen der Anschauung zum Einen: ich denke: also durch die reine Synthesis des Verstandes, welche a ))riori der empirischen zu Grunde liegt, .[ene Einheit ist allein objektiv gidtig ; die empirische Pnnheit der Api)erzeption. die nur von der ersteren unter gegebenen Bedingungen in concreto abgeleitet ist, hat nur subjektive Gültigkeit. Einer verbindet die Vorstellung eines gewissen Wortes mit einer Sache, der Andere mit einer anderen Sache; und die Einheit des Bcnvufst- seins in dem. Avas em})irisch ist, ist in Ansehung dessen, was ge- geben ist, nicht notwendig und allgemein gcdtend*' ( TJO). Man vergleiche auch den Unterscliied zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteil in den Prolegomenen (IV. lii ff.). „Die Apper- zeption und deren synthetische Einheit ist niit dem inneren Sinn so gar nicht einerlei, dafs jene vielmehr, als der (^uell aller V e r b i n d n n g , auf das Mannigfaltige der Anschauungen üherhaupt

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unter dem Xamen der Kategorieen vor aller simdichen Ansdiauun- auf Objekte überhau])t geht, dagegen der innere Sinn die blofse Form der Anschauung, aber ohne Verbindung des Mannig- faltigen in derselben, mithin noch gar keine bestimmte Anschauung enthält, welche nur durch das Bewufstsein der Bestimmung ilvv- selben durch du' transcendentale Handlung der Einhildun-skraft (synthetischer EiniJul's des Verstandes auf den iimeren Sinn) inöglich ist" (12.S). Das Ich in dem: ich deidvc ist also auch mCht das emi)irische Ich oder „das Bewufstsein seiner selbst nach den Be- stimmungen unseres Zustandes bei der inneren Wahrnehnnmg": deini dieses Ich, als die Verbindung mehrer Emptindungen des inneren Simies in der Zeit, ist selbst schon eine Synthese und folg- lich Erscheinung; es ist wand(>lbar und stets wechselnd, weil es in dem Flusse innerer Erscheinungen kein bleibendes und stehendes Selbst geben kann, es ist blofs empirische Apperzepticm. Jenes Ich dagegen ist. wie gesagt, selbst der „C^uell aller Verbindung" und somit auch des empirischen Ich. Es geht aller Erscheinung als Bedingung a priori vorher und macht jene erst mcli^dich; dabei- heilst es transcendentales Ich oder transcendentale Ap])er/ej)tion, „synthetische Einheit des reinen Selbstbewufstseins,*' und dieses Ich ist unwandelbar und numerisch identisch, es bleibt sich in der Erkenntnis des Mannigfaltigen der Identität seiner Funktion hewufst und giebt dadurch den Erscheinungen einen Zusammenhang nach Gesetzen (572).

Gerade auf diesem Unterschiede des transcendcuitahn vom em])irischen Bewufstsein beruht ja die objektive Gültigkeit der Kategorieen und damit die JVIöglichkeit der Eriahrung überhaupt, als einer notwendigen und allgemeinen Verknüpl'ung" des sinnlichen Vorstellungsmateriales. Indem nämlich die verkm'ipl'ende Thätiixkeit der Einbildungskraft nur auf diesem innersten Grunde unserer Er- kenntniskräfte vor sich geht, ist „die Einheit des (transcendentalen) Bewui'stseins dasjenige, was allein die Beziehung der \'orstellungen auf einen Gegenstand, folglich, dal's sie Eikenntnisse werden, aus- macht, und worauf also selbst die i\lr>gliclikeit des Verstandes be- ruht" (Usf.). Ohne sie würden unsere Wahrnehmungen „zu keinei' Erfahrung geluiren, folglich ohne Ohjekt und nichts als ein blindes Spiel der V^orstellungen. d. i. weniger als ein Tiaum sein" (r)7r)). „Die synthetische Klinheit des Bewufstseins ist also eine objektive Bediiijj^ung aller Erkenntnis, nicht deren ich ])lol's seli)st bedarf, um ein Objekt zu erkennen, sondern unter der jede Anschauung stehen mul's, um iür mich Objekt zu werden, weil auf andere Art nnd ohne diese Synthesis das Mannigfaltige sich nicht in einem

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Bewufstsein vereinigen würde" (119). Xiclit darauf beruht die objektive Gültigkeit der Kategorieen, dal's sie apriorisch sind, sondern darauf, dafs sie in einem objektiven Grunde, welcher mit dem individuellen, subjektiven Hewufstsein nicht identisch ist, ihre Wurzehi haben. Dafs die transcendentale Apj)erzei)tion Bewufst"sein ist, macht somit die Verknüpfung des sinnlichen Vorstellungsmaterials möglich. Dafs sie t r anscend en tal ist oder ihre über- individuelle Natur, woraus das empirische individuelle He- wufstsein erst entsteht, bedingt die Allgemeinheit und Not- wendigkeit der Verknüpfung. Weil in das emi)irische Bewufst- sein erst das fertige Prodidvt dieser Verknüi)fiing eintritt, darum erscheint ihm das letztere als ein Äufserliches und b'renides. an dessen Herstellung es sich selbst nicht beteiligt weifs, d. h. das Produkt der Verknüpfung erscheint als Objekt. Weil das trans- cendentale Ijewufstsein mein empirisches Hewufstsein schafft und dadurch zu diesem in Beziehung steht, darum ist das Produkt der Verknüpfung, als in meiner Subjektivität enthalten, mein Objekt, und die Erfahrung ist meine Erfahrung. „Alle Vorstellungen haben eine notwendige Beziehung auf ein mögliches empirisches Bewufstsein; denn hätten sie dieses nicht, und witre es ganz un- möglich, sich ihrer bewufst zu werden, so würde das so viel sagen als: sie existierten gar nicht. Alles emi)irische Hewufstsein hat aber eine notwendige [Beziehung auf ein transcendentales (vor aller besonderen Erfahrung vorluM-gehendes) Bewufstsein, nämlich das Bewufstsein meiner selbst (!) als die ursprüngliche Apper- zeption. Es ist also schlechthin notwendig, dafs in meiner Er- kenntnis alles Bewufstsein zu einem Hewufstsein (meiner Selbst) "•ehiüe. Hier ist nun eine synthetische Einheit des ^I annig faltigen (H e w u f s t s e i n s), die a priori erkannt wird und gerade so den (jrund zu den synthetischen Sätzen a priori, die das reine Denken betrilVen, als Kaum und Zeit zu solchen Sätzen, die die Form der blofsen Anschauung angehen, abgiebt. Der synthetische Satz, dal's alles verschiedene empirische Bewufst- sein in einem einzigen Selhstbewufstsein verbunden sein müsse, ist der schlechthin erste und synthetische Grundsatz unseres Denkens überhaupt. Es ist aber nicht aus der Acht zu lassen, dafs die blofse Vorstellung Ich in Beziehung auf alle anderen (deren kollektive Einheit sie mr>glich macht), das transcendentale

Bewufstsein sei'' (öilf.)-

Man sieht, diese ganze Deduktion beruht blofs darauf, chifs die transcendentale Apperzeption, welche den tiefsten Grund und so zu sagen das Substrat des Erkenntnisprozesses bildet, mit dem

Selhstbewufstsein in seiner abstraktesten Form unmittelbar identisch sein soll. AVeil wir das letztere unmittelbar und gleichsam vor aller Erfahrung besitzen und zwischen ihm und der apriorischen Bedingung unserer Erfahrung kein Unterschied best.'ht. dnrum ist nach Kant ein a])riorisches Wissen dieser apriorischen Bedingung möglich, und soll es mithin auch mr.glich sein, die Kateg()rieel^ deren notwendigen Grund die transcendentale Einheit bildet, aus jenem Selbstbewufstsein a priori abzuleiten. Nun kann es aber keinen gröfseren Irrtum geben, als sich ebizuhilden, das Ich im Selhstbewufstsein sei eine apri(n-ische Vorstellung und habe in dieser Hinsicht vor dem empirischen Ich etwas voraus. AVill man über- haui)t diese beiden von einander unterscheiden, so kann man unter dem letzteren doch nur das Ich verstehen, sofern es mit empirischen Datis behaftet oder auf den Inhalt dvr Erfahrung bezogen ist; in dieser Beziehung aber ist es doch nur gradweise von dem so- genannten reinen Fcli verschieden. l)ei welchem von allem Hcwulst- seinsiidialt abgesehen und das, als die ganz uid)estiinmte und abstrakte Vorstellung Ich, bei allen Menschen eines und dasselbe ist. Nach Kant aber sollen das reine und das emi)irische Ich nicht blofs dem Grade des Abstraktionsprozesses nach, sondern sie sollen spezifisch verschieden sein, sie sollen von einander so verschieden sein, wie die Ursache von der Wirkung, wie der Produzent von soin( iii Pro- dukte, wie das Wesen einer Sache von ihrer Erscheinung.

„Ich bin mir meiner selbst in (h r transcendentalen Syn- thesis der Vorstellungen überhaupt, mithin in dvr ur>pj-üiiglichen synthetischen Einheit der A])perzeption bewufst, nicht wie ich mii- erscheine, noch wie ich an mir selbst bin. sondern nur <lafs ich i)in" (13})). ,.Im Bewufstsein nieiner selbst beim blol'sen Deidvcn bin ich das Wesen selbst, von dem mir aber freilich dadurch noch nichts zum Denken gegeben ist" (2lj()). Damit sucht Kant dem reinen Ich seine Sonderstellung vor dem empirisciien Ich zu wahren, weil es nur so das Sul)strat des Erkeinitnis])iozesses umi zugleich ih'v Produzent des empirischen Ich sein k;nin. Ei* weifs sehr wohl, dafs eine solche Behauptung den (irundpriiizijiien seiner Flrkenntnistheorie widersi)richt. wonach der Hc^gritf der Existenz, als Kategorie, blofs subjektive Geltung hat und es folgh"( li auch nicht m()glich ist. mit ihm auf das (transcendente) ..Wesen" des Erkenntnisprozesses selbst zu stofsen. Er weifs. dafs dieses h/iclistens in einer „intellektuellen Anschauung" UKiglich w-ire, wie sie „allein dem Urwesen, niemals aber einem seinem Dasein sowohl, als seiner Anschauung nach (die sein Dasein in iH'ziehung auf gegebene Objekte bestimmt) abhängigen Wesen zuzukommen scheint" (lü).

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Trot/ilem entliiilt er sich nicht der Beluniptiui«?. die Vorstellung Ich in dem Satze: ich denke sei ,.rein intellektuell, weil sie zum Denken iiherhaupt gehcirt" (2ST). Kant (Mitschuldi^t sich damit, das Denken, für sicli genommen, sei hlol's die logische Funktion und stelle das Suhji^kt des Bewul'stseins keineswegs als Erscheinung dar, blofs darum, weil es gar keine Rücksicht auf die Art (h'r Anscliauung nimmt, oh sie sinnlicli oder intellektuell sei. „AV^eiin ich mich als Subjekt der Gedanken oder auch als Grund des Deidvcns vorstelle, so bedeuten diese Vorstellungsarten nicht die Kategorieen dc^r Substanz oder der Ursache; denn diese sind jene Funktionen des Denkens schon auf unsere sinnliche An- schauung angewandt'' (21)0). „Tch verstehe dai-unter blofs die logischen Funktionen des Subjekts und Prädikats, des Grundes und der Folge, denen gemiifs die Handlungen so bi^stimmt werden, dafs sie zugleich den Kategorieen der Substanz und der UrsaciK^ allemal gemäfs erklärt werden kfinnen, ob sie g 1 e i c h a u s g a n z a n d e r e m Prinzip en ts j)ri ngen" (21)2). Als ob die Kategoi'ieen nicht ebenfalls blofs „logische Funktionen" wären und das blofse Denken als solches von dem Deidvcn in Kategorieen unterschieden werden, ja, sogar mehr leisten könnte als dieses! Es mufs wahrlich schlecht um die Natur eines Prinzips bestellt sein, wenn dasselbe einer so wunderlichen Kechtfertigung bedarf.

Aber w^ozu denn überhau])t noch umständlich beweisen, dafs das transcendentale Ich nicht das reale Suhstiat des Fi'keinitnis- prozessc^s bedeuten und sich dadurch vom empii-ischen Ich nicht unterscheiden kann. Hat doch Kant sell)st diese Annahme in dem Kapitel über die Paralogisuien der reinen Vernunft, eiru'm dei- Itest- begründeten und wertvollsten Abschnitte <ler Vernunftkritik, so gründlich abgefertigt, dafs sie damit ein für allemal erledigt sein sollte! „Nicht dadurch, dafs ich blofs denke, erkenne ich irgend ein Objekt, sondern nur dadurch, dafs ich eine gegebene Anschauung in Absicht auf die Einheit des Bewul'stseins, darin alles Denken besteht, bestimme, kann ich irgend einen Gegenstand erkennen. Also erkenne ich mich nicht s(dbst dadurch, dafs ich mir meiner als denkend bewufst bin, sondern wenn ich mir der Anschauung meiner selbst, als in Ansehung der Fuidvtion (h^s Denkens bestimmt, bewufst bin" (2<S). ,. Das Ich ist also zwar in allen (icdanken ; es ist aber mit dieser Vorstellung n i c h t d i e m i n d e s t e A n s c h a u u n g verbunden, die es von anderen Gegenständen der An- schauung unters c h i e d e. Man kann also zwar wain-iu'hmen. dafs diese Vorstellung bei allem Denken immer wiederum vorkommt, nicht aber dafs es eine stehende und bleibende Anschauung sei,

worin die Gedanken (als wandelbar) wechselten-' (f)«?). Das un- wandelbare mit sich selbst identische Ich ,.ist so wenig Anschauung, als Begriff von irgend einem Gegenstande, sondern die b 1 o fse Form des Bewufsts eins, welches beiderlei Vorstellungen begleiten und sie dadurch zu Erkenntnissen erheben kami. sofern nämlich dazu noch irgend etwas Anderes in der Anschauung gegeben wird, welches zu einer Vorstellung von einem Gegenstande Stoff darreicht" (<;()()). „Das Pewufstsein an sich ist nicht sowohl eine Vorstellung, die ein besonderes Objekt unterscheidest, sondern eine Form derselben überhaupt, sofern sie Erkenntnis genannt werden soll" (2T()). Das Ich ist bh)fs logische Einheit, nur die Einheit im Denken oder das Bewufstsein meines Denkens, „wodurch alhan kein Objekt ge- geben wird, worauf also die Kategorie der Substanz, als die jeder- zeit gegebene Anschauung voraussetzt, nicht angewandt, mithin dieses Subjekt gar nicht erkannt werden kann" (2S(;). Indem ich also im Be^^rif! des Ich das Substrat des Erkenntnisi)rozesses unmittel- bai- zu erfassen glaube, so wird hier ..die Einheit des Bewul'stseins, welche den Kategorieen zu Grunde liegt, für Anschauung des Sub- jekts als Objekts genommen und darauf die Kategorie der Substanz angewandt" (ebd.). ,. Folglich verwechsele ich die münli(;he Ali- straktion von meiner em])irisch l)estiinniten Existenz mit dem vermeinten Bewufstsein einer abgesondert imighchen Existenz meines denkenden Selbst und glaube das Substantiale in mir als das transcendentale Subjekt zu erkennen, indem ich blofs die Einheit des Bewuftseins, welche a.ll(Mn BestimiiKMi. als der blofsen Form der Erkenntnis, zu (i runde li(>gt, in Gedanken habe-' (2(S<)). „Gleichwohl ist nichts natürlicher und vei-fiihrerischer als der Schein, die Einheit in der Synthesis derGdlanken für eine wahrgenommene Einheit im Subjekte dieser Gedanken zu halten. Man kcinnte ihn die Subreption des hy pos tasie r t en Be- wufstseins nennen-' (IJIT).

Diese Subrej)tion hegelit Kant selbst, wenn er den blofsen empirischen Gedanken „Ich" liir das Jjing an sich des Erkenntnis- ju'ozesses oder das ])roduktive Substrat unserer gesamten Vorstellungs- welt ansieht. Unser Denken reicht auch auf der subjektiven Seite nicht weiter als der „innere Sinn", und daher ist es eine trügerische Hoflnung, durch Abstraktion von alh'ii em})irisclieii Bestiinmungen zum Produzenten unseres Innenlebens selbst hinabsteigen zu kr»nnen. Es ist soweit gefehlt, auf diesem Wege von Innen die Schranken der Erscheinungswelt gleichsam unterminieren zu kiüinen, dals viel- mehr auch „die Bestiinmungen des inneren Sinnes gerade auf die- selbe Art als Erscheinungen in der Zeit sich ordnen müssen,

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wie wir die der üulseren Sinne im Kaiime ordnen, mithin wenn wir von den letzteren einräumen, dafs wir dadurch Objekte nur sofern erkennen, als wir äurserlich al'fi/iert werden, wir auch vom inneren Sinne zu^H^stehen müssen, dafs wir dadurcli uns seihst nur so an- schauen, wie wir innerlich von uns seihst afilzicrt werden, d. i. was die innere Anschauun,i»- hetriftt, unser eigenes Subjekt nur als Erscheinung, nicht aher nach dem. was es an sich seihst ist, erkennen " ( 1 '29). ,. D a s B e w u l' s t s e i n seiner seihst ist also noch lange nicht eine Erkenntnis seiner selbst" (130), und dies ,.hat nicht mehr, auch nicht weniger Schwierigkiut hei sich, als wie ich mir selbst überhaupt ein Objekt und zwar der Anschauung und iniu'rer AValinu^limung sein kiume*' frJH). „Das Subjekt der Kategorieen kann dadurch, dal's es diese denkt, nicht von sich selbst, als einem Objekte der Kategorieen. einen BegriiV be- konnnen : denn um dies zu denken, mul's es sein reines Selbst- bewulstsein. welches doch hat erklärt wc^-dcn solh'U. zu Grunde legen" (^Sb).

Dies alles scheint aul'ser Zusammenhang mit unserem eigent- lichen Thema, der Katuri)hih)so))hie, zu stehen; allein es handelt sich zunächst ja gar nicht blol's um die Natur])lnlosoi)hie als solche, sondern vor aUem aucli um die erkenntnistlieoretische Begründung derselben. Kant ist auf dem Wege der >saturj)hiloso})bie zur Er- kenntnistheorie gekommen, er hat sich der HotViiung hing(»geben und viele Andere mit ihm in der \'ernuid"tkritik dit; Fundamente einer ai)odiktischen Xaturerkenntnis aufgerichtet zu hal)en. Da er- scheint es geboten, diese Fundamente selbst einer Prüiung zu unter- ziehen uiul den Wurzeln der kantischen Anschauungsweise bis in ihre letzt«'n Tiefen nachzus])iiren, wenn aiKh'i's wir darüber zur Ge- wifsheit kommen wollen, ob auf diesem Pjoden Kriichte zu erliofVen sind. Hier bedarf aber k(un Punkt einer näheren Rrcirterung als die Gleichset/Aing des transcendentalea mit (h'Ui (unpirischen Ich, wie Kant sich dieselbe in seiner transcendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegrilfe gestattet. Denn nicht blofs ist die letztere eine der schwierigsten Partieen der Vernunftkritik, deren Dunkelheit den springenden J^lnkt an ihr vielfacli verborgen hat, sondern dieser selbst, eben jene Gleichsetzung der beich^i ihrer Natur nach verschiedenen lebe, bildet die tiefste und letzte Quelle, aus welcher der Inhalt der Vernunftkritik gelh)ssen ist. Zielit man diesen Stein unteraus, so fällt das gairze stolze Gebäude in sich zusauunen. Läfst man ihn stehen, so wird man sich auch den Konsequenzen Kants im Wesentlichen nicht entziehen k(uinen. In diesem Falle wird man aber auch einräumen müssen, dafs die Nachfolger Kants,

ein Fichte, Schell in g und Hegel nicht, wie man ihiuMi ge- wöhidich vorwirft, den festen Boden der kantischen Kritik verlassen haben, sondern auf diesem nur weiter fortgeschritten sind, und dafs insbesondere die so übel beleumundete Natur])hil(»sophie Scljel- lings ein direktes Produkt des kantischen Geistes ist. Es ist so billig, ihr vorzuwerfen, wie dies, von den Naturforschern abgeselieu. ganz besonders auch von Seiten der mo(h^rnen Anhänger Kants ge- schieht, es sei Wahnsinn und Vermessenheit, die Naturgesetze aus der „intellektuellen Anschauung," d. h. aus dem AVesen der Ver- nunft, a ])riori ableiten zu wohen. Es klingt so wissenschaftlich, im Gegensatze hierzu auf Kant zu verweisen, der sich derartige „Thorheiten" nicht habe zu Schuhhm kommen lassen, s(uidern sich immer hübsch innerhalb der Grenzen der Erfahrung bewegt habe. J\Ian vergifst nur. dafs auch Kant die (iresetze der Erfahrung aus keinem anderen Grunde a ])riori glaubte ableiten zu kr^iucn. als weil er, li^anz ebenso wie Schell ing in seiner intellektuellen An- schauung, di e e r ke n neu de V ern un f t selbst r d en (i ru nd der Dinge hielt, Aveil er sich einbildete, in dem Gedanken K-h das schöpferische iVinzip der Natur selbst beim Zij)lel erwischt zu haben. AVenn es überhauj)t m(iglich ist. die Pediiigungen des Be- wufstseins a ])riori zu erkennen, und wenn die Natur ebenfalls eine Be- dingung des Bewufstseins ist. warum soll man nicht audi sie a ])riori erkennen? Die \ ernunft ist das AVesen und Prinzi}) der Dinge; aber ist das Ich auch die A^-rnunft? Indem Kant dies stillschweigend annahm, bewies er damit zwar seine Angehörigkeit zum Ivalionalis- mus, aber er hob damit den a])odiktisclien Charakter seiner Er- kenntnis auf.

Gesetzt nämlich, es wäre Kant gelungen, sein System als solclu'S mit apodiktischer Gewifsheit zu demonstrieren: das Gebäude dieser l^hilosophie als Ganzes ruht schliefslich doch auf einem (ilrunde, welcher selbst nicht mehr sicher ist. Schon die Gleichsetzung des Ich mit der sch("»])ierischen A^ernunft, als notwendige Bedini^amg. um die Aj)odiktizität unserer Erkenntnis zu eikläri^n. ist nichts mehr und nichts weniger als eine hlofse Hyjxithese: vollends aber ist es blofs hypothetisch, dafs die schöpferische A'eiiiunft dei" (irund und das Wesen der Dinge sei. Kant i'ühi-t die Alötglichkeit einer apo.iiktischen Erkenntnis zunächst auf die a])riorischen Formen zu- rück. Aber scIkui diese sind keineswegs absolut notwendig und daher auch nicht fähig, ein System von absoluter Notwendigki^t zu tragen, „AVie die eigentümliche Eigenschaft unserer Sinnlichkeit selbst oder die unseres Verstandes und der ihm und allem Deid^en zu Grunde liegenden notwendigen Aj)perzeption möglich sei, läfst

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B. Kant als Naturphilosopli.

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sich nicht weiter aufKiseir' (TV. (u). ,.V()ii der EigentüniHchkeit unseres Verstjuides, nur vermittelst der K ;i te.c^o r i e en und nur gerade durch diese Art und Zahl der seihen Einheit der A])perzeption a priori zu Stande zu hringen. läist sich ehenso wenig tV^ner ein (Irund angehen, als warum wir gerade diese und keine anderen Funktionen zu urteilen hahen, oder warum Zeit und Raum die einzigen Formen unserer miiglichen Anschauung sind-' (III. \2'^). Unsere Sinne kiumten ganz anders eingerichtet sein, ja. andere Wesen als wir hahen vielleicht ganz andere Formen der Er- kenntnis. „Wir kcjnnen von den Anschauungen anderer denkenden Wesen gar nicht urteilen, oh sie an die niindichen Bedingungen gehunden seien, welche unsere Anschauungen einschränken und für uns allgemein .gültig sind" (1)2). Wir kennen nur unsere Art. die Gegenstände wahrzunehmen, ,.die auch n i c h t n o t w v n d i g j e d e m Wesen, ohzwar jtMlem JVIeiischen zukommen muls- (?J). ,,Ks lauls aher gleich anfangs hefremdlich scheinen, dafs die Bedin-^ning, unter der ich üherhaupt denke, und die mithin hlol's eine Beschaffen- heit mein es Suhjekts ist, zugleich für alles, was denkt, gültig sein solle, und dafs wir auf einen empirisch scheinenden Satz ein apodiktisches und allgemeines Urteil zu gründen uns anmafsen können, nämlich dafs alles, was denkt, so heschali'en sei, als der Ausspruch des Selhsthewufstseins es an mir aussagt" ('iili f.). Setze ich also das Ich, wie es die letzte und notwendi.qe Bedingung meiner Erkenntnis hildet, auch hei anderen Wesen voraus und schliel'se daraus auf die Allgemeingültigkeit der aus ihm entsprungenen Erkenntnis, so ist das „nichts weiter als die Uhertragung dieses meinc^s Bewnifstseins auf andere Dinge, welche nur dadurch als denkende Wesen vor- gestellt werden" (ehd.). d. h. es ist ein hlofser Schlut's der Analogie, eine Hypothese, mit wekdier Kant seihst den hlofs hypothetischen Charakter seiner Philosophie zugesteht.

Das Ichhewufstsein ist nach Kant nur eine Form unserer Vorstellungen. Folglich kann das schöpferische Prinzip dieser Vor- stellungen nicht wiederum seihst Bewufstsein sein. Das Bew^ufstsein ist nur eine accidentielle Beschaffenheit am Produkte: der Produzent jedoch fällt nicht unter diese Form, weil er ja vor und jenseits ihrer ist. Das Bewufstsein ist hei seiner rein formalen Wesenheit au l'ser Stande, sieh produktiv zu hethätigen; es mufs seinen Inhalt von andersw^o emi)fangen und ist nur an und mit diesem Inhalt zugleich real. Gesteht man zu. dafs aller Inhalt unserer Erkenntnis aus der \'er- nunft ahlliefst. so ist mithin die Vernunft, als sehöi)ferisches Prinzip unserer Erkemitnis. unhewufst. und nur unsere Erkenntnis seihst, als Produkt ihrer Thätigkeit, ist bewufst. Gesteht man ferner zu,

?

IL Die kritische Xaturpliilosophie. .) ^ i

dafs diese Erkenntnis nur dann allgemein und notwendig sei)i kann wenn Ihre Quelle allgemein und notwendig, d. h. über alle ind,- vuluelle Subjektivität schlechthin erhaben ist. so ist das erkennende Pnnzip m uns nicht eigentlich die individuelle, einzelne, sondern es ist (he allgemeine Vernunft. Nicht darin beruht der Irrtum des Hationahsmus und Kants, den Grund <ler Möglichkeit unserer Er- kenntnis m der substantiellen Vernunft zu suchen, woraus alle Dinge hervorgegangen sind, sondern darin, ihn im leb u. der individuell beschränkten Vernunft zu suchen, aus der auch nur Individuelles und Zufälliges entspringen kann. .Nur .Is erhaben ulior alle Subjektivität oder als absolute Vernunft ist dw Vernunft das Wesen und (hu- (,)uell des Seins und Denkens. Nur deshalb weil sie aus ihr unmittelbar hervor^n-angen sind, sind die Kate- gorieen allgemein und notwendig. So aber ist die Vernunft nicht Bewufstsein, somleni schafft sie dieses erst als eine Form, die dir nur in der Sphäre ihrer individuellen Beschränkung anhaftet und nur für diese wesentlich ist. Die Kategorieen aber, als die f(u-mgebenden Prinzipien des Erkenntnisstoffes, sind mit dem Be- wufstsein unmittelbar nicht zu fassen, weil sie das Prius des Be- w^ufstseins sind.

Auch Kant neiuit die Einbildungskraft, sofern sio die Synthese dc^s EmpÜndungsmaterials zu Vorstellungen vollzieht, eine „blinde, obgleich unentbehrliche Fuidvtion d(U' Seele, olnu^ die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden, der w i i- uns aber selten nur einmal bewufst sind" (<)})). Jene Verknüpfung geht also gänzlich jenseits der Schwelle dt\s Bewufstseins vor sich, sie ist „eine verborgene Kraft in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriife wir der Natur schwerlich jemals abraten und sie unverdeckt vor Augen legen werden" (I-i:)). .la, Kant giebt sogar zu. dafs die reine Aj)perzeption eigentlich noch gar nicht selbst Bewufstsein, sondern hlofs mögliches Bewufstsein sei, indem sie die Vorstellung: ich deidvc erst ..hervorbringt" (IKI).*)

*) Gewisse Kantianer, denen der Gegenstand unmittelbar un<l olnic Rest mit der [)ewui'sten Vorstellun<r desselben /.usanimenlällt, «rlauben oluw Zuliilte- nalnne tler ihnen widerspruchsvoll erscheinenden Hyjxjthese eines konstanten l^inges an sich dem (-reorenstande eine fortdauernde Uealitiit, auch dann, \v(M!m Jener nicht ^r^rade im liewufstsein ist, dadurch sichern /u können, indem sie ^^^^^ ^ii üas „mö<rliche JBewufstsein^' verlejreii. 8ie machen sicli hierbei, wie .lieses 'ibrioens aucli schon Kant selbst n^etliaii hat, die schillernde Bedeutung jenes Ausdrucks zu Nutze, indem sie darunter bald ein Reales verstehen, das als solches natürlich auch imstande ist, dem Gegenstande Realität zu verleihen, bald sich darauf berufen, dafs die Kategorieen der 31odalität ja nur das Ver-

n r e w s , Kants Naturphilosophie. ](j

B. Kant als Natnrphilosoph.

In (1er all,iT^onieiiieii Vernunft, von welcher die individuelle nur eine Einschränkung, eine Krseheinung. ein schwacher A])^lnnz ist, findet, weil sie nicht, wie die unsrige. ein sie heschriinkendes Dr.uilsen sich ^egenüher liat, der (4egensatz von Spontaneität und Ileze])tivit;it nicht statt. 8ie bedarf keines besonderen Aktes der 8vnthesis eines von aufsen gegebenen EnipfindungsstoiTes : vielmehr sind Stoff und Form in ihr nicht getrennt, sind sie zu unniittelbartu* Einheit mit einander verbunden. Die I\at(\gorieeii sind nur .. KN\i;eln fiii- einen Verstand, dessen ganzes Vermögen im Denken besteht, d. i. in der Handlung, die Synthesis des Mainiigfaltigen, welches ihr anderweitig in der Anschauung gegeben worden, zur EiiduMt der Apperzeption 7Ai bringen, der also für sieh gar nichts erkennt, sondern nur den Stoff zur F]rk(umtnis, die Anschauung, die ihm <lui'c]>s ()biekt gegeben w^orden. verbindet und ordnet'' (ri^)). Ein Verstaml, liir welchen die Ivategorieen in dieser Hinsicht bedeutungslos wären, ,.(ler nicht gegebene Gegenstände sich vorstellte, sondern durch dessen Vor- stellung die (regenstände selbst zugleich gege])en oder hervorgebracht würden*', ein solcher Verstand würde dahiu- auch nicht Erscheinungen, sondern die Dinge, wie sie an sich selbst sind, erkennen, er würde anschauen: der unsere kann nur denken und mul's in den SinniMi die Anschauung suchen (117. 1 IIb TJ.!. 'Jlbtf.). Eine solche intellektuelle, d. h. von der Sinnlichkeit befreite. An- schauung kann aber, wie sclion bemerkt, nui" die göttliche Anschauung sein. Es ist daher nichts weniger als eine V'ei- wechselung des göttlichen mit dem menschlichen Deid<en. wenn man das Ichbewufstsein mit der sch(>pferischen Vernunft identiliziert.

Das transcendentale Ich ist kein Ich, sondern es ist nur der substantielle Grund eines solchen. Der Unterschied zwischen dem Ich und diesem substanti(dlen (-irunde der Erkenntnis ist eine solcher zwischen «h'ui Produkt und seinem Produzenten, zwischen der mensch-

liiiltnis zum EtkenMtnisvermö^"en ausdrii. ken und daluT das ]n<"»oli('h(' Bewul'st- seiu aucli nicdit für sich real /u denken stü (\'ii;\. /.. H. AI brecht, Krause: Die (Tcsetze des menschlichen Herzens wis s e n s ch a l't 1. ilar «^-est c 1 1 1 als die formale Loo-ik des r-einen (refülils (l(S;(;)^ {-j \ if,). Es ist aher klar: im ersten Falle, wenn das mti^liche Bewufstsein eine eiun-ne Jiealität l»c- sitzt. die nicht mit derjeniucn des wirklichen zusammenfällt, lenken sie damit nur in die Annahme des bewul'stseinstranscendentcn i)inLj;-es an sich wieder ein, der sie doch gerade entji^ehen wollten; im /.weiten Fall aher sind auch die Gegenstände nu-ht i-eal, sondern })lors hypostasierte ^[(i^lichkeiten. Entweder ist das mögliuh-e Bewufstsein Etwas, dann ist es, als »-in von dem aktuelhMi Bewufstsein Verschiedenes, ein Ding an sich; oder es ist kein Ding an sich, dann ist es nichts und damit auch als Frklärungsprinzij» nicht zu gel)rauchen.

II. Die kritische Naturphilosophie.

24:i

liehen und g(;ttlichen Vernunft, zwischen bewufstem und unbewufstem, diskursiv-abstraktem en<llichen und intuitiv-schcipferischem ai)^oluten Denken. Damit luirt die Hoifimng auf. jemals zu einer solchen unzweifelhaften Gewifsheit zu gelangen, wie sie von Kant iu der Meta])hysik ano(.,strebt wird. Denn nun erscheint es einfach a{> em Widerspruch, mit uns(Tm endliehen, indivi.luclhMi Denken :!ngcmein und notwendig denken zu w-dlcn. weil wir mit uiiserm bewufsten Denken nicht zugleich uid)ewurst denken kchmen , weil unsere diskursiv-abstrakte Deidvopei'ation nicht zugleich intellektuelle An- schauung sein kann. Allgemeinheit und Notwendigkeit oder a])0(lik- tische GcAvifsheit «h'r Erkenntnis ist für uns nur insoweit erreichbar, als die absolute Vernunft vorausgesetzt, dafs es eine solche giebt Ix'i ihi-er Einschränkung zur individuellen Vernunft ihren Charakter als \\'rnuiift bewahrt, d. h. soweit es sich um das rein Formale der Vernunft, meht um ihre Erscheinung in den (unzelnen Objekten handelt; denn diese sind lÜi- das Individuum ein di-aufseu stehendes Sein, eine besondere Realitiit, während sie im V. ihähnis zur allgeuH^inen Vernunft nur Moditikationen. iidialtliche Hestinnnungen dieser selbst darstellen.

Xur wo die V^ernunft imierhalb ihrer eigenen Grenzen bleibt, IUI Gebiet des subjektiven Denkens, mir da ist ein schlecht- hin allgennungültiges, apodiktisches Urteil a j)rioi-i mrjgh'di, mit- hin in deji Wissenschaften der Mathematik uml der Logik, JJafs zwei mal zwei gleich vier oder die Summe der Winkel eines Dreiecks gleich zwei R ist. das sind Sätze, die ein nur halbwegs ver- nünftiger Mensch sowem'g bezweifeln kann, v ie den Satz der Identität oder die W^ahrheit des Satzes vom zureichenden Grunde. Abcj- <lies gilt wohlgenu'rkt nur von der formalen fjDgik inid der rcincMi Mathematik, die v<ui den blofsen Gesetzen des D(udvens als solchen und von gedacTiten Objekten handeln. dei"en spezifische Beschaflen- heit gleichgültig ist; aber es gilt nicht mehr von jenen Wissen- schaften. sol)ald ihre Sätze auf i'eale Objekte angewendet werden. „Ich weifs zwar mit apodiktischer Gewifsheit. dafs es mir unmöglich ist, ein Dreieck, das ich mir denk(\ anders als mit d' r Winkelsumme von KS(V' zu denken; ob aber dieses gesetzmäfsige Veiliältnis eiiu- über die Subjektivität meines (ledaidcens hinausg(diende Realität hat. davon kann ich a j)riori gar ni(;hts wissen, sonchuii nur duich Er- fahrung und In<luktion. Mithin ist z^\•ar die subjektive Deid<- notwendigkeit. der mathematischen Gesetze für micii apodiktisch gewnfs. aber keineswegs ihre reale Gültigkeit, sondern dies( ist nur höchst wahrscheinlich."*) Kant sfdbst gesteht: „Siuniichp

*) V. Hartniann: Krit (irundlg. I3J1".

16'

244

-B. Kant als \aturpliil()S()[)li.

Aiiscliaiiuiin^ ist entweder reine Anscliauun<j^ (Kaum und Zeit) oder empirische Anschauun^^ desjenii^a^n. was im Raum und der Zeit un- mittell);!r als wirklich, durch Kmptinduiig vorbestellt wird. Durch Bestimmunf( der ersteren kiinnen wir Erkenntnisse a priori von Gegenstjinden (in der Mathematik) hekommen. aber nur ihrer Form nach, als Erscheinungen; ob es Dinge gehen kcinne, die in dieser Form angeschaut werden müssen, hleil)t doch dabei noch unausgemacht. Folglich sind alle mathematischen IJegritVe l'ür sich nicht Erkenntnisse; aul'ser sofern man voraussetzt, dal's es Dinge giebt. die sich nur der Form jener reinen sinnlichen Anschauung gemitls uns darstellen lassen. Dinge im Raum und d( r Zeit werden aber nur gegeben, sofern sie Wa h r n e h m u n g c n (mit Empfindung l)egleitete V^orstellungen) sind, mitliin durch em- p i r i s c h e V' orstellung-' ( 1 '21).

F]s war daher einer der verhängnisvollsten Schritte Kants, wenn er trotz seiner ganz richtigen IJnterscheiduiig zwischen reiner und angewandter Mathematik die Frinzipit ii der ersteren unmittelbai- auch auf die letztere übertrug und dieselbe apodiktische Gewif>heit. welche die reine j\Iathen)atik in ihren Sätzen unzweil'elhaft enthält, auch bei der angewandten .Mathematik voraussetzte. Die angewandlt' Mathematik ist eine synthetische Wissenschaft, sofern sie auf der Voraussetzung beruht, dafs die (legenständc in der Wirklichkeit mit den (besetzen der reinen ^lathennitik übereinstimmen; aber sie ist auch eben deshalb nichts weniger als a [)ri()ri, weil diese Über- einstimmung nur durch die Erfahrung und somit h}])()thetisch zu erweisen ist. Die reine Mathematik dagegen ist eine analytischr Wissenschaft, weil ihre Sätze durch ZerglitMlerung aus ih'u voran- gestellten Delinitionen abgeleitet siniL Nui* wril Kant die apriorische und apodiktische Wissenschaft der reinen Mathematik l'ür synthetisch hielt, während sie doch nur analytisch sein kan*n, nur deshalb konnte er dazu kommen, die synthetische Wissenschaft der ange- wandten Mathematik für api-iorisch und apodiktisch zu haltm. während sie doch nur aposteriorisch und hypothetisch ist. Hatte er einmal die apriorisch-synthetische Natur der reinen ^Mathenuitik auf die apriorische Existenz der reinen Anschauungslormen Jxauiu und Zeit gegründet, so mufste er diese jetzt für blofs subjektiv erklären, weil die (Jesetzmäfsigkeit in der angewandten Mathematik natürlich nur dann aprntrisch sich entwickeln liefs, nur dann apo- diktische (Geltung haben konnte, w(^nn die vorausgesetzte i\ealität ihrer Objekte nur die empirische Kealität in der Erscheinung war. Dann aber war es auch nur mehr Ein Schiätt, die Mr>gliclikeit der reinen Naturwissenschaft und der Meta[)hysik, deren synthetisch-

II. Di." kritiseho Xatur])hil()soj)hie.

245

apriorische Natur ihm feststand, ganz in derselbt^n AVeise aus der a])riorischen Natur der Denklormen zu erklären, mdem er ihnen gleiclifalls den Stemi)el des rein Subjektiven aufdrückte. Weil in der formalen AVissenschaft der reinen Mathematik die A])ri(»rität luid ai)odiktische Gewifsheit ihrer Sätze auf dor blnis subjektiven Geltung derselben beruht, darum soll auch in den realen Wissen- schaften der reinen Natuiwissenschaft und Metaphysik die Erkenntnis blofs subjektiv gültig sein, weil sie nur so a])riorisch und aj.o.liktisch sein kann: das ist der Gedankenij^ang. welcher aus der unheil- vollen Verwechselung der realen mit den formalen Wissenschaften entsi)ringt. und worauf die ganze kantische ]^hil()soi)hie sich gründet.*)

Was uns betrifft, so poclien wir nicht mehr auf apodiktische Gewifsheit der Erkenntnis in andern wie den erwähnten blofs for- malen AVissenschaften. (ierade die Naturwissenschaft, in deren Interesse sich Kant in erster liinie um die .Ab'iglichkfM't einer solchen Gewifsheit bemüht hat und der zu Jjiebe er die ganze bisherige AnschauuuG^sweise umgekrem])elt und die Natui' zu einer hlofsen Erscheinung in unserm Bewufstseni verkehrt hat, gerade sie hat sich vielleicht durch nichts ein gröfseres Verdienst um i]iv Philo- sophie erwoi-ben als dadurch, dafs sie ihr I^escheidenheit in l>(>zug auf den (lewifsheitsgrad unserer Erkenntnis freiehrt hat. Es ist nicht richtig, dafs Kant die Mögliclikeit einer apodiktischen Er- kenntnis in realen AVissenschaften bewiesen hätte. AVohl aber hat ei- mittelbar die Einsicht in die Unm(>glichkeit einer s<dciien da- durch herbeiführen helfen, dafs sein ti-anscendentalej- Idealismus diese F'i-age zur brennenden gemaclit und. iiuh^m vv den absoluten Idealismus eines H egel aus sich hervoigetrieben. den R'atioiialisnius selbst ad absurdum geführt hat. Nicht Kant steht am Ende einer Ejjoclie der Philosophie, deren AVesen diT i-ationalistische Doi^matis- mus ist. und di(^ sich von Descartes bis zu.i' A^r-i-nunftkritik er- sti'eckt: der kantische Kritizismus ist seihst nichts Andej-es als ein dogmatischer J-Jationalismus : er ist nui- der Versuch einer neuen Grundlegung dieser Theorie, wie zuei"st Spinoza einen solclien unternommen hatte, nur dafs er in umgekehrter Weise, wie dieser die mit der V^ernunft a, priori zu eikennende Welt nicht in eine intelligible Sj)häre jenseits des Bewufstseins, sondern ins IJewufstsein selbst vtu'legte.

Dei'jenige. der den Kationalismus zuerst ph i 1 o so p li j s c h

*) Vfjl. V. Hai'tTiiann: Kants Ei-koniitMistlieorie u. ^Ictajiliysik 'J7 W

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B. Kant als Naturpliilos()|>h.

II. Di«' kritische NaturphÜDsoiihie.

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AiiscliauuTinr ist entweder reine Anscliaimniy (Raum und Zeit) odf r empirische Anscliauun^r desjeni<ren, was im Raum und der Zeit un- mittelb.!!- als wirklieli, dureh Kmplindung vor^'estellt wird. Durch Bestimmung,' der ersteren krunun wir Erkenntnisse a priori von Gegenstämlen (in der Mathematik) bekommen, aber nur ihrer Form nach, als Krscheinun<T;en ; ob es IJinge geben könne, die in dieser Form angeschaut werden müssen, bleibt doch dabei noch unausgemacht. Folglich sind alle mathematischen F)egrilVe für sich n i c h t E r k (3 n n t n i s s e ; aut'ser sofern man voraussetzt, dafs es Dinge giebt, die sich nur der Form jener reinen sinnlichen Anschauung gemiifs uns darstellen lassen. Dinge im Raum und der Zeit werden aber nur gegeben, sofern sie Wa hr neh m u nge n (mit Empfindung begleitete V^)rstelliingen) sind, mithin (buch em- pirische V orste 1 1 ung " (124).

F]s war daher einer der verhän.^nisvollsten Schritte Kants, wenn er ti'otz seiner ganz richtigen Unterscheidung zwischen reimr uikI angewandter Mathematik dii^ Frinzipi( n der ersteren nnmittelb.'ir auch auf die letztere übertrug und dieselbe a))odiktische Gewil^beit. welche die reine Mathematik in ihren Sätzen unzweifelhaft enthält. auch bei der angewandten M;itiiematik voraussetzte. Die angewandti- Mathematik ist eine synthetische Wissenschaft, sofern sie auf der Voraussetzung beruht, dafs die (legenstände in der Wirklichkeil mit den (jesetzen der reinen j\lathematik übereinstimmen; aber sie ist auch eben deshalb niehts weniger als a priori, weil diese Cber- einstimmung nur durch die Erfahrung und somit hypothetisch zu erweisen ist. Die leine Mathematik dagegen ist eine analytische Wissenschaft, weil ihre Sätze diiich Zergliederung aus den voran- gestellten Definitionen abirfh-itet simL Nur weil Kant die apriorische und apodiktische Wissenschaft der reinen Mathematik für synthetiscii hielt, während sie doch nur analytisch sein kan*n, nur deshalb konnte er dazu kommen, die synthetische Wissenschaft (h r ange- wandten Mathematik für apriorisch und apodiktisch zu halten. während sie doch nur aposteriorisch und hypothetisch ist. Hatte er einmal d'w apriorisch-synthetische ^\atur der reinen Mathematik auf die apriorische Existenz der reinen Anschauungsformen Raum und Zeit gegründet, so mufste er diese jetzt für blofs subjektiv erklären, weil die Gesetzmäfsigkeit in der angewandten Matln^matik natürlich nur dann apriorisch sich entwickeln liefs, nur dann apo- diktische (jeltung iiabi'n konnte, wenn die vorausgesetzte Realität ihrer ()l)jekte nur die em])irische Kealität in der Erscheinung war. Dann aber war es auch nur mehr Ein Schritt, die Möglichkeit der reinen Naturwissenschaft und der Metaphysik, deren syntlietisch-

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apriorische Natur ihm feststand, ganz in derselben Weise aus der ai)riorisclien Natur der Denkformen zu erklaren, indem er ihnen gleiclifalls den Stempel des rein Subjektiven auf.li-iickte. Weil in der formalen AVissenschaft der reinen Mathematik die Ai)riorität und a])odiktische Gewifsheit ihrer Sätze auf der blofs subjektiven Geltung derselben beruht, darum soll auch in den realen Wissen- schaften der reinen Naturwissenschaft und Metaphysik die Erkenntnis blofs subjektiv .i^rülti;,^ sein, weil sie nur so a])riorisch und apoildvtisch sein kann: das ist der Gedankeni^rang. welcher aus der unheil- vollen Verwechselung der realen mit den formaliMi WissenschaftiMi entsi)ringt, und worauf die ganze kantische J^hilosophie sich rundet.*)

Was uns betrifl't. so pochen wir nicht mehr auf ajx.diktische Gewifsheit der Erkenntnis in andern wie den erwähnten blofs for- malen AVissenschaften. (gerade die Naturwissenschaft, in deren Interesse sich Kant in erster Tiinic^ um die Alöglichkeit einer solchen Gewifsheit bemüht hat und der zu Liebe er die ganze bisherige Anschauungsweise umgekrem])elt und die Natur zu einer blofseii Erscheinung in unserm Bewufstsein verkehrt hat, gerade sie liat sich vielleicht durch nichts ein gnifseres Verdienst um ihc J^hilo- Sophie erworben als dadurch, dafs sie ihr Bescheidenheit in Bezug auf d(Mi Gewifsheitsgrad unserer Erkenntnis gelehrt hat. Es ist nicht i'ichtig, dafs Kant die Mciglichkeit einer apodiktischen Er- kenntnis in realen AVissenschaften bewiesen hätte. AV^ohl aber hat ei' mittelbar die Einsicht in die Unmöiglichkeit einer solchen da- durch herbeiführen helfen, dafs sein transcendentaler Idealismus diese Frage zur brennenden gemacht und. indem er den absoluten Idealismus eines Hegel aus sich hervorgetrieben, den J\ati(uialismus sell)st ad absurdum gefiUirt hat. Nicht Kant steht am Eiaie einer Epoche der i-*hilosophie. deren AVesen i](^v i'ationalistische Donrmatis- mus ist. und die sich von Descartes bis zur Vernunftki'itik er- streckt: der kantische Kritizismus ist selbst nichts Andei-es als ein dogmatischer Kationalismus: er ist nur der Ver.sueh einei' Jieuen Grundlegung dieser Theorie, wie zuerst Spinoza einen solchen unternommen hatte, nur dafs er in unii^ekehrtei- Weise, wie dieser die mit der Vernunft a ])i-iori zu erkennende Welt nicht in eine intelligible Sjdiäre jenseits des Bewufstseins, .sondern ins Fx'wufstsein selbst v(>ilegte.

Derjenige, der den l^ationalismus zuerst philosophisch

.si-94.

y</\. V. TI a)t ma 11 11 : Kants Erkenntnistheorie u. JMetapJiysik 27 f.

246

B. Kant als Naturj)hilosn])li.

II. J)ie kritische Naturphiloso2)hie.

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überwunden hat, ist kein anderer als Seh eil in ^. nicht der Schel- 1 in^ der >«'atürphil(»s()])liie, sondern der 8chr»])ier der ..Freiheitslehn^'- und „j)()sitiven Phik)soi)hie-\ deren unbestrittenes Verdienst es bleiben wird, den fundamentalen Kehler der rationalistischen Philosophie zum rrsten Mal in seiiu'm tiefsten Grunde auf^^edeckt zu haben. In diesem Sinne ist das hohe J^x'vvufstsein Schell ings ganz berech- tigt, mit dem er seine ,.positive-- Philosophie der bhMierigen „negativen" Philosophie des Kationalismus entgegen gestellt hat. Angesiclits dessen, dafs Kant darauf ausging, der Naturwissenschait durch seinen Rationalismus ein unerscliiitterliches KundanuMit zu geben und eine apodiktische iiberempirische A'aturphilosoi)hie zu schaffen, erscheint es wie eine Ironie der (ilescbichte, dafs der gnifste A'er- treter dieser idealistischen ^'aturphih)sophie und die Naturwissen- schaft mit ihrer Empirie dem liationalismus den Todesstofs ge- geben haben.

Von jener Zeit her datiert eine neue Epoche in der l'hilo- sopliie, mit ihr ist (bis induktive Zeitalter (hn selben angebrochen. Wir, (he wir m dieser Epoche leben, wir glauben ni(;lit mehr an die Möglichkeit, aus reiner Vernunft auf deduktiv-analytischem Wege den ganzen Inhalt der Erkenntnis ableiten zu können. Die ganze berühmte Erag(.- nach der Miiglichkeit synthetischer Urteile a priori beantwortet sich für uns dahin, dafs es solche Urteile in dem Sinne, wie Kant es meint, als apodiktische Urteile in realen Wissenschatten, ü l) e r h a u !> t n ich t gi e b t , und (hifs wir zu realen Erkenntnissen durcliaus nur auf dem AV'ege der Erfahrung gelangen können. Wir teilen dw Pefiirchtung der Rationalisten nicht, uns an der Erlahrung die Finger zu Ijeschmutzen; wir wissen, dafs die Erfahrung uns zwar nur eine hypothetische Erkenntnis liefern kann, aber wir sehen auch keinen Grund darin, diese Eikenntiiis blofs deshalb abzuweisen, weil sie nicht mehr als wahrscheinlich ist. Darum vermi^gtMi wir auch nicht einzusehen, warum uns der W^eg zu dem Gebiet versperrt sein sollte, das sich nicht unmittelbar auch als Erfahrung ausweist. Wir sind überzeugt, schon auf den untersten Stufen der Erkenntnis es blofs zur Wahrscheinlichkeit bringen zu können und haben (hilier keine Veranlassung, aus diesem ihrem Mangel an ai)odiktisclier Gewifsheit einen prinzi])iellen Ein- wand gegen die oberen Stufen zu lormieren. Die Erkenntnis des Erfahrungsgebietes und der Olgekte der Ideen ist, unter diesem Gesichtspunkt betrachtet, nur g r .-i d u e 1 1 verschieden. Sie weichen nur in der gnifseren oder geringeren W^dirscheinlichkeit von ein- ander ab. und man kann nicht wissen, bis zu welchem Grade auch die übersinnliche Erkenntnis noch anwachsen nia--.

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Ereilich gehört diese Erkenntnis der Ideen nicht in die Natur- wissenschaft hinein. „Naturwissenschaft wird uns niemals das Innere der Dinge, d. i. dasjenige, was nicht Erscheinung ist. aber doch zum obersten Erklärungsgrunde der Erscheinungen dienen kann, entdecken. A])er sie ])r.MUchtdies(^s auch nicht zu ihren ])hysischen Erklärungen: ja. wenn ihr auch dergleichen anderweitig angeboten würde (z. P. Ein- tiufs immaterieller Wesen), so soll sie es doch ausschlagen und gar nicht in den Eortgang ihrer Erklärungen liringen, sondern diese jederzeit nur auf das gründen, was als Gegenstand der Sinne zur Erfahrung gehören und mit unseren wirklichen Wahrnehmungen und Erfahrungsgesetzen in Zusammenhang gebracht werden kann" (IV. 100 f.). Nicht dafs wir die intelligibeln ersten Gi'ünde aller Erscheinungen leugnen ; aber wir dürfen sie doch niemals in den Zusammenhang der Naturerklärung ])ringen (111. iJJ. lY. 71)). „Ordnung und Zweckmäfsigkeit in der Natur mufs wiederum aus Naturgründen und nach Naturgesetzen erklärt werden: und hier sind selbst die wildesten Hypothesen, wenn sie nur physisch sind, erträglicher [ils eine hyperpliysische, d. i. die iJerufung auf einen göttlichen Urheber, den man zu diesem IJehuf voraussetzt. Denn dns wäre ein Prinzip der faulen Vernunft, alle Ursache, deren objektive Realität wenigstens der Möglichkeit nach man noch durcii fortgesetzte Erfahrung kann kennen lernen, auf einmal vorbeizugehen, um in einer blofsen Idee, die der Vernunft sehr be({uem ist, zu ruheir' (HI. r)12). „Die Naturforschung geht ihren Gang ganz allein an der Kette der Naturursachen nach allgemeinen (jesetzen derselben, zwar nach der Idee eines Urhebers, aber nicht um die Zweckmäfsigkeit. der sie allerwärts nachgeht, von demselb(>n abzu- leiten, sondern sein Dasein aus dieser Zweckmälsigkeit. die m dein Wesen der Naturdinge gesucht wird, womöglich auch in dem Wesen aller Dinge in)erhau])t, mithin als schlechthin notwendig zu er- kenneir' (41):")).

Die Untersuchung des Erkenntnisvermögens hat den Glauben an die Möglichkeit einer transceiulenten apodiktischen Metaphysik zerstört. Aber sie hat an deren Stelle die i m m a n e n t e Meta])h vsik gesetzt, die zwar nicht eine Theorie der übersinnlichen ()l)jekte. wohl aber dw menschlichen Erkenntnis ist. Diese Metaphysik üherschreitet nicht die Grenzen der Erfahrung, ist aber nichtsdestoweniger, ganz eljciiso wie die bisherige ^leta])hysik. ..das Inveiitarium aller unserer Re- griffe durch reine Vernunft, systematisch geordnet.*^ (II) oder der Inbegrilf aller Erkenntnisse !t priori, die :ille Erkenntnis überhaupt erst systematisch macht, und in diesem Sinne ,.die Vollendung aller Kultur der menschlichen Vernunft, die unentbehrlich ist.- „Denn

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K. Kaut als Natiir))hilo?o])h.

sie betrachtet die Veniiiiift nach iliren Rh^Dienten und obersten Maximen, die selbst der M ö^rli }, k ^i t einiger Wissenschaften und dem Gebrauche aller zu Grunde lie.i^en müssen-' {')^)^)). Und zwar nmfai'st sie nicht allein die konstitutiven, ihrer Geltung nach objektivei» Prinzipien der Sinnlichkeit und des \'erstandes (die An- schauungsformen, Kategorieen und Grundsätze), sondern auch die blofs regulativen Prinzi])ien der A'ernunft. deren Geltung nur eine subjektiveist (di(> Ideen). Sofern sie sich dieses Unterschiedes zwischen objektiven und subjektiven Prinzi])ien wohl bewufst ist und die Grenzen der Erfahi'ungswelt nicht überschreitet, ist die immanente Meta])hysik Kri tik din- reinen Vernunft, und ,.wer einmal Kritik gekostet hat, den ekelt auf immer alh's dogmatische Gewäsche, womit er vorher aus Not vorlieb nahm, weil stMue Vernunft etwas bedurfte und nichts Besseres zu ihrer Unterhaltung finden konnte. Die Kritik verhiilt sich zur gewöhnliehen Schulmetaphysik gerade wie Chemie zur Alchemie oder wie Astronomie zur wahrsagenden Astrologie. Ich bin dafür gut", sagt Kant ,.dafs IS^iemand der die Grundsätze der Kritik (hirchgedMcht und gefafst hat. jeujals wieder zu jener alten und so])histisclien Scheinwissenschaft zurückkehren werde. Vielmehr wird er mit einem gewissen P]i*gr)tzen auf eine Metaphysik hinaussehen, die nunmehr allerdings in seiner Gewalt ist, auch keinem- voi-bereitenden Kntdeckungen mehr bedarf, und die zuei'st der A^'i'nunft dauernde Befriedigung ver- schaffen kann. Denn d-ts ist ein Vorzug, aufweichen unter allen m()glichen Wissenschaften ]\Ietaphysik aUein .mit Zuversieht rechnen kann, nämlich dafs sie zur VoHendung und in den licharr- liclien Zustand gebracht werden kann, da sie sich weiter nicht ver- ändern dai-f, auch kiuner Vermehrung (hirch neue Ent<leckungen fähig ist; weil die Vernunft hier die (Quellen ihrei" F^rkenntnis nicht in den Gegenstiinden und in ihrer Anschauung (durch die sie nicht ferner eines iVIehren Ixdehrt werden kann), sondern in sich selbst hat, und wenn sie die (irundgesetze ihres Vei'mögms vollständi«' und gegen alle Mifsdeutung bestimmt dargestellt hat. nichts übri"- bleibt, was reine Vernunit a priiu'i erkennen, ja. auch nui- was sie mit Grund fragen krmnte" (IV. jj.M*. TU. :^)l).

Die immanente i\letai)hysik ist die w a h r e Met<iphysik, die trans- cendente Metaphysik der Schule dagegen ist eine falsch e .Metajdiysik. Man kann mit jenem Xiimen auch den Nachweis l)ezeichnen. dafs die bisherige Ontologie. rationale I^sychologie, Kosmologie und Theologie von einer natürlichen und unvermeidlichen Illusion sich haben zum Narren halten lassen, wenn sie Erscheinungen für Dinge an sich gehalten haben. Insofern ist di(^ immanente iMetaphysik zugleich

II. Die kritische Xatui])hil(,sopliie

249

eine Diszi])lin der menschlichen Vernunft. ,.um ihre Ausschweitungen zu bändigen und die Blendwerke, die ihr daher kommen, zu u-r- hüten. Der gnifste und vielleicht einzige Nutzen aller Philosophie der reinen Vernunft ist also wohl nur negativ: da sie nämlich nicht als Organen zur Erweiterung, sondern als Disziplin zur Grenz- bestimmung dient und anstatt Wahrheit zu entdecken, nur das stille Verdienst hat, Irrtümer zu verhüten- (111. :);>(;). W(.,- ],icran nicht genug hat, der nu'ige bedenken, dafs der Nutzen dessen, was man bisher Metaphysik genannt hat, nur scheinbar ein ]H)sitiver ist, indem die Erweiterung unseres theoretischen Vernunftgebrauchs über die Grenzen der Erfahrung hinaus in AV'ahrheit nur eine ebenso grofse Beschränkung unserer ])raktischen Vernunft bedeutet. ..Idi mufste." sagt daher Kant. ,.das Wissen aufheben, um zum Glauhen Platz zu bekommen, und d(^r Dogmatismus der Meta])hysik. d. i. das Vorurteil, in ihr ohne Ki'itik der reinen Vernunft fortzukomm"n, ist die wahre Quelle alles der A^'i'nunft widerstreitemh'u Unglaubens, der jederzeit sehr dogmatisch ist-' ( :>;)). „Duirli diese kann allem dem Materialismus, Fatalismus, Atheismus, dem freigeisterischen Un- glauben, der Schwärmerei und Abergliuben. die allgemein schädlich werden kiuinen. zuletzt auch dem Idealismus und Skeptizismus, die mehr den Schulen gefährlich sind und schwia'lich ins Puhlikuni iiher- gehrn kiümen. selbst die Wurz'd abgeschnitten werden" (21). ..Daher ist eine Kritik, welche die erstere (die Erweiterung unseres Vernunft- gebrauchs) einschränkt, sofern zwar negativ, aber indem sie dadurch zugleich ein Hindei-nis. welches den })raktischen Gebi'.iuch <'i!is(ln-;,tikt oder gar zu vernichten droht, aufhebt, in der That von j)osit i vem. und sehr wichtigem Nutzen, sohald man überzeugt wird, dafs es einen schlechterdings notwendigen pi-aktischeii (jiehi;iuch der reinen \ ernunft (den moralischen), gebe, in welchem sie sich unvernieirljich idier die Grenz<'n der Sinnlichkeit erweitert, dazu sie aber von der spekulativen keim^ Beihilfe bedarf, dennoch ahcr wider ihre Gegen- wirkung gesichert sein muls, um nicht in \\'idcis])rucli mit sich J^elhst zu geraten. Diesem Dienste der Kritik d<'n positiven Nutzen abzusj)reclien. wäre ebenso viel als sagen, dafs Polizei keinen posi- tiven Ntitzen scliaflV'. weil ihr Hau])tgeschäl't doch nur ist. der Ge- waltthätigkeit. welche Bürger von Jb'irgern zu besorgen halten, einen iiiegel vorzuschieben, damit ein jeder seine Angelegenheit ruhig' und sicher treiben könne" (22^. So also weist die theoi-etische Bliiloso])hie ihrer inneren Anlage nach auf die ])r.iktische hinüber, und die his- lierige Metaj)hysik, weit entfernt, aus dem System des Kia'ti/ismus gänzlich ausgeschlossen zu sein, bleiht vielmehr als aufgehohenes Moment bestehen und bildet, als die notwendige Kehrseite der eigent-

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B. Kant nls Naturphilosoph.

liehen Metai)liysik, iiiclit blofs den RclKitten. welclien diese vonius- wirft und neben dem ihr ei^nnier Wert in nni so hellerem Glanz er- strahlt, sondern zu^^leich das Verniittelun^^s^died, das Natur- nnd Müralphilosoi)hie an einander kettet.

Dies war der Boden, auf dem nun die ,,^letapli>sik der Natur" erwachsen sollte, ein Werk, von dem Kant liemerkt, dal's es „bei noch nicht der Hälfte der Weitliiuli'.dveit dennoch un^deich reicheren Inhalt'' haben sollte als die Kritik. ..die zuvih'derst nur die (^(uellen und Bedin^nm.i^en ihrer Möglichkeit darle.gen mul'ste und einen «,^aiiz verwachsenen l>oden zu reimten nnd zu ebnen hatte" (12). Die Kritik „ist ein Traktat von der M(>thode. nicht ein System der Wissenschaft selbst: aher sie verzeichnet j^leiclnvohl den ganzen Umrifs dersell)en, sowohl in Ansehunj]^ ihrer Grenzen, als auch den ganzen inneren Gliedbau derselben" (2 1). „Hier erwarte ich," sap^t Kant, „an meinem Leser die Geduld und Unparteilichkeit eines Richters, dort aber die Willfährigkeit und den Beistand eines M i t h e 1 f e r s ; denn so vollständig auch alle P r i n z i p i e n zu dem System in der Kritik vorgetragen sind, so gehört zur Ausführlichkeit des Systems selbst doch noch, dal's es auch an keinen abgeleiteten Begriffen mangele, die man a ])riori nicht in ljl)erschlag hringeu kann, sondern die nach und nach aufgesucht werden müssen" (12). Die Kritik ist in den Augen Kants ursprünglich nichts Anderes als die m e tap liy s isc he G r u n d 1 ag e seinei* dynamischen Natura u f f a s s u n g. Wir haben jetzt endlicli festen Boden unter unseren Füfsen und wenden uns nun der Betrachtung des Gebäudes zu, das Kant auf dieser Unterlage aufgenclitet hat.

2, Der Ausbau der Naturphilosophie.

ii) Die metai>hysisclien Anfaiigsgrinide der Xatnrwissen-

schiilt.

Die Vernunftkritik s])annte das Netz ihrer G(^wifslieit nur ül)er die Sphäre der sinnlichen Erscheinung aus: sie konnte keine Wissen- schaft vom Ühersinidichen hegründen. In diesem Gebiete aber wurzeln Moral und ililigion und waren damit von der ajxxliktischen Er- kenntnis ausgeschlossen. Kant selbst, als eine durch und durch religiöse Natur, dw mit ihrer Zeit einem enthusiastischen Kultus des ]\loralisehen huldigte, mag im Anfani^- sein(>s kritischen Unter- nehmens W(thl gehöht haben, auch diese beiden auf eine sichere

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II. Die kritische Naturphilosophie.

251

Grundlage stellen zu k()nnen. und es mag ihm harte Kämpfe ge- kostet hal)en, zu sehen, wie die Schranke, innerhalh welcher apo- diktische Gewifsheit mr»glich schien, mitten zwisclien Sinnlichem und Übersinnlichem hindurchging. Aher er tröstete sich, wenigstens seinen unmittelbaren Zweck erreicht und den Begriff der Natur so fest gegründet zu haben, dafs ihm der Skei)tizismus nichts mehr anhaben konnte. Und wenn er auch nicht imstande gewesen war. Gott, Freiheit und Unsterblichkeit unserm AVissen zugänglich zu machen, waren sie nicht dadurch indirekt ebenso gut gesichert, dafs er sie wenigstens in eine Sphäre hinübergerettet hatte, wo ihnen mit dem skeptischen Verstand nicht beizukommen war? Kant zweifelte nicht daran, jMoral und Religion k(")nnten sich hiermit zu- frieden geben ; er hatte dies bereits in den letzten Abschnitten seiner Vernunitkritik weitläuhg auseinandergesetzt. Trotzdem be- unruhigte ihn die Krage, was aus den ethischen Geboten würde, wenn der bisherige Boden einer vermeintlich apodiktischen Erkemitnis vom Übersinnlichen unter ihnen fortgezogen wäre. Wie stellt sich das Moraliicsetz auf dem I>oden des Kritizismus dar? und besitzt es noch Verbindlichkeit ohne Berufung auf die übersinnliche Wdx. die bisher für die Quelle der Verbindlichkeit gegolten hatte? Darüber mufste Kant sich und Anderen vorerst Klarheit verschatb^n. ehe er die Ausarbeitung der Natur])hilosoj)hie mit ruiiigem Herzen unter- nehmen konnte.

Sollen die ethischen Vorschriften nicht blofs praktisclie Begebt von nur relativem Wert, sollen sie, als moralische Gesetze, absolut verbindlich sein, so dürfen sie, ebensowenig wie die allgemeinen Natur- gesetze, sich auf cmj)irische Gründe stützen, sondern müssen rein, apriorisches Besitztum unseres Geistes sein. Diese Erwägung giebt die lde(^ einer Meta])liysik der Sitten als einer reinen Wissenschaft aller a ])rioii in unserer Vernunft liegenden j)raktischen Grundsätze an die Hand, die Kant zunächst zum (gegenstände seines Nach- denkens gemacht hat. Und so wichtig erschien ihm die Sicher Stellung der Moral auf dem neugewonnenen Hcxh-n der Vernunft- kritik, dafs er darüber sogar seine Naturj)hil()sophie eine Zeit lang aus den Augen verlieren und sich ernstlich mit der Absicht tragen komite. zunächst mit dieser Arbeit abzuschliefsen. ehe er irgend etwas Anderes unternahm (vgl. VIIU IM). Wenn die Ausarbeitung seines W^erkes unterblieb und Kant im Jahre JlS.) hlofs eine ,.Griiiid- leguiig zur Metaphysik der SitttMi" lieferte, die sich auf die „Aufsuchung und Festsetzung des obersten Uriii/i])s der Moiali- tät," beschränkte (I\\ ?40), so mag er hierzu wohl durch die Bück- sicht aufsein ursprüngliches Ziel veranlafst sein, das sich ihm immer

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B. Kant als Naturpliilosoph.

wieder in den Vordei\i,n-und driinp^te: die Vollendung seiner Natur- philosophie. J)as Problem der Moralität war somit nicht imstande, den Philosophen von seinem urspiäinglichen Wege ahzuhringen : allein es hinderte ihn doch daran, die beabsichtigte ]\Ieta])hysik der Natur gleich vollständig zu liefern, weil solches eine viel zu lange Zeit er- fordert hätte. Die Ijcgründunt,^ d(^r moralischen und religi()sen Prinzi])ien schien zu dringend, die P^iille an neuen Lh'cn. die ihm während der hingen Abfassungszeit seiner Vernunftkritik zugeströmt war. zu grofs, und bei seinem voi-gcschrittenen Alter Beschränkung zu sehr geboten, als d.ifs nicht der ursprüngliche Gedanke an seine Naturphih)sophic hätte verblassen und neben dem viel bedeutsameren Plane eines vollständit^MMi Systems dov i'(Mni'n Phih»sophie hätte zuiäick- stehen müssen, wie er sich inmmehr in seinem (preist aufbaute, und dessen Sc'hema er bereits in der Kritik in diMu Kapitel ül)er ,.di(' Architektonik der reinen Vernunft'' entworfen hatte.

Kant war zufrieden, vorerst wenigstens einen Teil, und zwar den wichtigsten Teil seiner Naturphilosophie bearbeiten zu kiinnen. um den Faden, der das ganze System verknüpfen sollte, niclit aus den Händen zu verlieren. ..Ehe ich an die vers))ro('hene M('ta])hysik der Natur gelie.*' schreibt er am 1.'). September loSf) an Schütz, „mufste ich vorher dasjenige, was zvvai' eine blofse Anwendung der- selben ist, aber doch einen e m p i i* i s c h e n l^egrilV voi'aussetzt, nämlich die meta])hysisclj(Mi Anfangsgrün(h? der Körperlehre abmacluMi : weil jene Metaphysik, wenn sie ganz ghnchartig sein solL rein sein mufs, uiul dann auch (himit ich etwas zur Hand hätte, worauf, als Heispiele in concreto, icli mich dort beziehen und so den A^)rtrag i'afslich machen ktinnte, ohne doc^h das System dadurch anzuseh wellen, dafs ich diese mit in dassell)e zöge. Diese habe ich min unter dem Titel: metapliysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft in diesem Sommer fertig gemaclit und glaube, dafs sie selbst dem iMathematiker nicht unwillkommen sein W(U'de'' (VTII. TM).

JJie „Metaphysischen A n ia n gsg r ü n d e der Natur- wissenschaft" erschienen im dahre IT^SiJ. Sieht man von den älteren Werken Schwabs ) und Busses**) ab, so ist ibnen eine eingehendere Behandlung neuerdings nur von Seiten Stadlers in seiner Schrift ül)er ,,Kants T h e o i* i e d e i- Matei'ie-' (ISS')) zu

*) S(;liwal): Priit'uiijx d. kuntischeii He^rit'i'e v, d. rmlmclMlriiiorlicJikcit, <h An/iehun;j^ ii. Ziniickstorsmi^ d. Kr)r])('r: nebst einer Darstellnnnr d. Hypothese d. Jjt'sa<:^e ühei- d. meclianischen Ursachen d. alltj^rni. (iravitat ioii ( 18()7j.

*^} Busse: Kants nieta])h. Anlanj^fs^n-. d. Naturw. in ihren Ciründen wider- legt (1828).

II. Die kritische Naturphilosophie.

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Teil geworden. Allein man bedenke, dafs die Nachwelt die Be- deutung eines Philosophen . oft in ganz anderen Dingen sieht, als (hirin, worauf es jenem eigentlich selbst ankam. Dtm inneren Zu- sammenhang der Anfangsgründe mit den übrigen Werken Kants und die Gründe ihrer P]ntstehung hat man bisher so gut. wie gänz- lich, verkannt und ^daubte im Hiid)lick auf ihren Iidialt auch incht veranlafst zu sein, ihnen di(\jenige Würdigung angedeihen zu lassen, auf die sie ihrer Natur nach doch Anspruch haben. Was sich bei Kant psyeliologisch als Liebe zu seinem Schmerzenskind erklärt, das haben Mit- und Nachwelt zum Prinzip erhohen : sie haben ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Vernunftkritik konzentriert, und von der Neuheit ihrer Gedanken und der Fülle der in ihr enthaltenen Ideen sich so sehr blenden lassen, dafs neben dieser hellen Sonne im System alle übrigen Gestirne mehr und mehr an Glanz verloren haV)en. Und (h)ch heifst es niclits Anderes, als das Mittel für den Zweck, die l)lofse Voi bei'eitung für das Werk ansehen uml sich von vorneherein (hn Mafsstab für die Beurteihing der gesamten Leliens- arbeit Kants ül)eriiaupt verrücken, wenn man die metaphysisciien Anfangsgründe nur für einen zufälligen und untergt'ordneten Seiten- si)rofs am Stamnu' der kantischen Philosophie betrachtet.

Die ..Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft" befassen sich, wie schon der Titel sagt, mit dem Begriffe der Natur. „Natur in m a t e r i e 1 1 e r Bedeutung" ist der ,. Inbegriff aller Dinge, sofern sie Gegenstände unserer Sinne, nnthin auch dc^r Krialiiaiim sein können": es wird darunter ,.das Ganze aller Klrscheinungen, d. i. die Sinnen weit mit Aussclilufs aller niclitsinnlichen ( )hjekte", verstanden (IV. :>;J7j. Der transcendental-nlealistische Gesichts- punkt, wonach die Welt nui' in dei- Krscheinung existiert, i>t die Voraussetzung der x\nfangsgründe : nach ihm sind folglich auch alle xVul'serungsn derselben auszudeuten.

Betrachtet man die Natur in dieser Weise als Objekt unserer Sinne, so müssen an ihr der Hauptverschiedenlieit unserer Sinne nach z w ei wesentlich e T eile unterschieden weiden, „deren der eine die Gegenstände äufserer, der andere den Gegenstand des inneren Sinnes enthält; mithin ist von ihr eine zweifache Xatur- lehre. die Köi'perlehre und Seelenlehre, nniglich. wovon die erbte die ausgedehnte, die zweite die denkende Natur in Rrwägung zieht*' (ebd.). Die Natur lehre soll nun aber Naturw issenscliaft sein. Nimmt man das Wort im weitesten Sinne, so heifst „eine jede Lehrt% wenn sie ein System, d. i. ein nach Prinzipien geord- netes Ganze der Krkenntnis, sein soll. Wissenschaft; und da jene Prinzipien entweder Grundsätze der empirischen oder rationalen

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B, Kant als Naturphilosoph.

II. Die kritische ^atnr})hil(iso])liie.

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Verknüpfung der P^rkenntnisse in einem (iranzcn s(Mn kr»nnen. so würde auch di(^ Naturwissenschaft, sie nia^ nun Kitri^erh^lirc oder Seeleidehre sein, in historische oder rationah^ Naturwissenscliaft ein- geteilt werden müssen" (ehd.). Nun liat das Woi't Natur nehen seiner materiellen noch eine formale Bedeutunn^, d. h. es hezeichnet „das erste innere I^i-in/ij) alles dessen, was zum Dasein eines Dinges geh(>rt.'' Darin liegt schon ausgesprochen, dafs zu einer Natur- wissenscliaft nic'it l)h)fs systematische Form, siuidern auch Kr- kenntnis der Gesetze Uiitig ist. welche den Zusammenhang der Kr- scheinun.ücn in ihr hedingen. ..Daher wird die Naturh^hre })esser in historische Naturlehre, W(d(;he nichts als systematisch ge- ordnete Kakta der Naturdinu^e enthält (und wiederum aus Natur- beschreihiing, als eiiKMu Ivlassensystem ders(dl)(Mi nach Ähnlich- keiten, und Naturgeschichte, als einer systematischen Darstcdlung dersr'lhen in verschiedenen Ziuten uiel ( )rtern, bestehen wüi-de). und N a t u !■ w i s s e n sc h a f t eingeteilt werden können" (.'>r)S). insofern die letztere zugleich jene (.Tesetzmäfsigkeit betont. Wenn nun auch dasjenige (janze der Erkenntnis, was systiMnatisch ist. schon darum Wissenschaft, und wenn die Verknüpfung der Ki'kenntnis in diesem System ein Zusammeidiang von (ilründen und Kolgen ist. sogar rationale Wissenschaft heilsen kann, so gehört doch zur Wissenschaft in strengem Sinne noch etwas mehr. ,,E i ge n t 1 i c h e Wissenschaft kann nur diejenige nenaiint werden, deren Gewifsheit a p o d i k t i s c h ist: Erkenntnis, die blol's empirische (Tcwifsheit enthalten kann, ist ein nur uneigentlich sogenanntes Wissen" (el)d.). Die Gesetzmäfsig- keit mufs also nicht hlofs eingesehen. sf)iulei-n si(^ mufs als not- wendig^ erkannt sein. Sind die Gründe und I^rinzi])ien in einem Zusammenhange von Erkenntnissen hlofs empirisch und die (Tcsetze. aus dem^i die gegebenen Eakta dui'ch die Vernunft erklärt w(>rd(Ui. blofs Erfahrungsg<'setze. so fuhren sie kein l^ewufstsein ihrer Xot- wendigk(ut bei sich (sind also nicht ajxxliktisch gewil's): alsdann vei'- dient das Ganze in streni^^em Sinne nicht den Na!n(Mi (uner Wissen- schaft. Chemie z. H. sollte daher eher ..systematische Kunst" als Wissenschaft luufsen (^'l)d.).

Hiernach mufs die eigentliche von der u neigen t lieh so genannten Naturwissenschal't unterschieden werden, indem die erste ihren Gegenstand gänzlich nach Prinzipien ajn'iori, die zweite ilm nach Erfahrungsgesetzen behandelt. Eine Naturerkenntnis von der ersten Art heilst rein, die von der zw(Mten Art dai^^'i^^cn an- gewandte Naturerkenntnis. ,,Da das Wort Natur schon den P)egrilf von (besetzen bei sich fidirt. dieser aber den iJegiäÜ" der Not- wendigkeit aller Bestimmungen eines Dinges, die zu seinem Dasein

gehih'en. bfi sich führt, so sieht man leicht, warum Naturwissen- schaft die l^echtmäfsiiikeit dieser Benennung nur von einem reinen Teil derselben, der nämlich die Prinzipien a |)ri«>ri aller übrigen Naturerkl.äi'ungen enthält, ableiten müsse und nur ki-at't dieses reimen Teils eigentliche Wissenschaft sei, iingh^chen dafs nach Fordei'ungen dei' Vernunft jede Naturlehri^ zuletzt auf Naturwissenschaft hinaus- gehen und darin sich endigen müsse, weil jene XotwtMidigki'it der Gesetze dem Begriife der Natur unzertrenidich aidiängt und t1 iiier durchaus eing(^sehen sein will: daher die vollständigste Fh'klärung gewisser Erscheinungen aus chemischen J*rinzi})ien noch immer eine Unzufri(MleTdieit zurückl-ifst. weil mau von diesen, als zufälligcMi Ge- setzen, die hlofs Erfahrung gelehi't hat, keine Gründe a priori an- gehen kann" (ehd. f.). Dieser reine '^reil, auf den sich allein alle apodiktische (jrewifsheit gründet, ist also seinen J*rinzipi( ii nach in Vergleiehung mit denen, die nui- empirisch sind, ganz ungleichartig. Daher ist es zugleich, „von (ha- gr()l'sten Zuti'äglichkeit. ja. der Natur <ler Sache nach von unerläl'slichei- Ptlicht. in xVnsehung der Methode, jenen Teil abijcsondert und von den anderen iianz unbe- mengt. so viel wie möglich in seiner ganzen Vollständigkeit vorzu- tragen, damit man genau bestimmen kcüine, was die Vernunft für sich zu leisten veianag, und wo ihr Waniögen anhebt, die Beihülfe der Erfahiaingsprinzipien nötig zu hai)en" ('löfl).

K(une Yernunfterkenntnis aus blofsen Begriffen heifst reine Philosophie oder Meta])hysik. D.iher setzt eigentlicdie Naturwissen- schaft jVFe t a ])h y si k der Natui* voraus oder ist diese \icliiichi' selbst. Wenn etwas durch reine Vei'uunff. a piäori erkennen, nicht-; Anderes heifst, als es aus seiner blofsen ]\I o g 1 i ch k e i t (^i- kennen (.'iÖO), so steht einer solchen Wissenschaft oifeid)ar nicht> im Wege, solange es sich, ohne Beziehung auf irgend ein l)estimmtes Erfahrun^sgebiet, mithin unbestimmt in Ansehung der Natur dieses oder jenes Dinges dei- Sinnen>velt. blofs um die Gesetze handelt. die den Begriff der Natur übei-hau))t möglich machen: und dies war der (jegenstand des sogenannten t r a n s c e n d e n t a 1 e n Teiles der Metaphysik der Natur, den Kant bereits uuivr dem adlgemeinen Namen ..reine Naturwissenschaft" in seiner Vernunftkritik abge- handelt hatte, indessen mui's es auch eine' aj)iäorische Erkenntnis der bestimmten Naturobjekte geben, will man nicht bei dieser von vornherein auf Wissenschaftlichkeit verzichten. J)ic Met.iphysik der Natur mufs nicht blofs allgemeine, sie mufs auch besondere metaphysisch(^ Naturwissenschaft (Physik und Psychologie) sein. d. h. sie mufs sich auch mit der besonderen Natur dieser oder jener Art Dinge befassen, von denen ein empirischer Begriff gegeben i>t. und

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B. Kant als Xaturphilosoph.

,,in der jene transceiuleiitalen Prinzipien auf die zwei Gattungen der Gegenstände unserer Sinne angewandt werden'' (.'»(iO). Da erhebt sich wiederum die alte Frage: „Wie kann ieh eine Erkenntnis a priori, mithin Metaphysik, von Gegenständen erwarten, sofern sie unseren Sinnen, mithin a posteriori gegeben sind? und wie ist es möglich, nach Prinzi])ien a priori <]ie Natur ilvv Dinge zu erkennen und zu einer rationalen Physiologie zu gelangen? Die Antwort ist: wir nehmen aus der Erfahrung nichts weiter, als was ncitig ist, uns ein Objekt teils des äufseren, teils des iniu^'en Sinnes zu geben. Jenes geschieht durch den hlofsen BegritV ^laterie (undurchdringliche, leblose Ausdehnung), dieses durch den Begriff eines denkenden Wesen-^ (in der em])irischen inneren Vorstellung: ich denke). Übrigens miifsten wir in der ganzen ^Fetaphysik dieser Gegenstände uns aller empi- rischen Prinzii)ien gänzlich enthalten, die über den Hegriif noch irgend eine Erfahrung hinzusetzen UKichten, um etwas über diese Gegenstände daraus zu urteilen*' (III. ')'u).

Man abstrahiert also hiermit von dem individuellen und sub- jektiven CJharakter der Emptiiidung. die das ( )bjekt erstzum Erfahrungs- objt'kte macht, und gewinnt dadurch ein a 1 1 g e m e i n es Objekt der Erfahrung, von welchem folglich auch ei?i allgemeingültiges Wissen möglich sein mufs. Allein wie läfst sich der Umfang der Erkenntnis bestimmen, deren die Vernunft über diese Geaenstände a {)ri()ri fähig ist? Die Möglichkeit bestimmter Xaturdinge kann ja nicht aus hlofsen Pegrilfen erkannt wt^rden ; denn aus diesen kann zwar die Möglichkeit des (ledankens (dafs er sich seihst nicht widers])reche). aber nicht des Ohjekts, als N a t u r d i n ge s . erkannt werih'U. welches aufser dem (ledankeii (als existierend) ge- geben sein mufs. ,.Also wird, um die .M(;glichkeit bestimmter Naturdinge, mithin um diese a pi'ioi'i zu erkennen, noch erfordert, dafs die dem I>egriffe korrespondierende Anschauung a ])riori gegeben werde, d. i. dafs der Hegriif k o u s t i' u i e r t werde. Nun ist die V\n-nunfterkenntiiis durch Konstruktion der l^egrilfe mathe- matisch. Also mag zwar eine reine iMiilosophie der Natur über- haupt, d. i. diejenige, die nur das. was den Begriff einer Natur im Allgemeinen ausmacht, untersucht, auch ohne Mathenuitik möglich sein, aber eine reine Naturlehre über bestimmte Naturdinge (Körperlehre und Seelenlehre) ist nur vermittidst der Mathematik möglich; und da in jeder Naturlehre nur soviel eigentliche Wissen- schaft angetroffen wird, als sich darin Erkenntnis a priori Ijefindet, so wird Naturlehre nur soviel eigentliche Wissenschalt enthalten, als M a themat ik in ihr angewandt werden kann*' (IV. :j(iO).

II. Die kritische Naturphilosophie.

257

Bekanntlich hat man diese letzte Äufserung dem Philosophen von gewisser Seite hoch angerechnet. „Man hat^', sagt Schaller, „der Behaui)tung Kants: in jeder besonderen Naturlehre sei mir soviel eigentliche Wissenschaft enthalten, als Mathematik darin ent- halten sei, von Seiten der empirischen Physik oft mit grofser Hast seine vollkommenste Zustimmung gegeben, dahei aber jenen Ausspruch in einem Sinne genommen, den er bei Kant gar nicht hat. So sehr auch Kant seinen Prinzipien geniHfs auf eine mathematische Kon- struktion dringt, so soll doch dieser immer eine begriifliche Unter- suchung vorausgehen, und es fällt Kant nicht im Entferntesten ein, die Physik als Wissenschaft in der Mathematik aufgehen zu lassen."*) Einen Begriii" konstruieren heifst ja bei Kant nichts Anderes, als ihn nach seinen räumlichen und zeitlichen A'erhältnissen betrachten und ihn als einen räumlichen zur xlnschauung bringen. Weil es der Chemie an einem solchen konstruierharen Begritt'e mangelt, darum eben schliefst Kant sie aus dem Bereiche der Wissenschaft aus. ,.Solange also noch für die chemischen Wirkungen der Materien auf einander kein Begriff ausgefunden wird, der sich konstruieren läfst. d. i. kein Gesetz der Annäherung oder Entfernung der Teile angehen läfst, nach welchem etwa in Proportion ihrer Dichtigkeiten und dgl. ihre Bewegungen samt ihren Kolgen sich im Baume a priori anschaulich machen und darstellen lassen (eine Forderung, die schwerlich jemals erfüllt werden wird), so kann (Jhemie niclits mehr als systematische Kunst oder Experimentallehre, niemals aber eigent- liche Wissenschaft werden, w^eil die Prinzi])ien derselben blofs empirisch sind und keine Darstellung a priori in der Anschauung erlauben, folglich die Grundsätze chemischer Erscheinungen ihrer Möglichkeit nach nicht im mindesten begreiflich machen, weil sie der Anwendung der Mathematik unfähig sind" (MGO f.).

„Noch weiter aber als seihst Chemie mufs empirische Seeleii- lehre jederzeit von dem Kange einer eigentlich so zu nennenden Naturwissenschaft entfernt bleiheir' (.'{(ij). Schon die Verimnftkritik wollte die empirische Psychologie, „welche von jeher ihren Platz in der Metaj)hysik behauptet hat. und von welcher man in unseren Zeiten so grofse Dinge zur Aufklärung derselben erwartet hat, nachdem man die Hoffnung aufgab, etwas Taugliches a priori auszu- richten-', nicht mehr im Rahmen der Meta])hysik dulden, mdeiu sie schon durch die Idee derselben ausgeschlossen sei. ..Gleichwohl", hatte Kant in der Kritik gemeint, „wird man ihr nach dem Schul-

*) J. Schaller: (Teschichte der Naturphilosophie von Uaco v. V'erulain his aui' unsere Zeit riS4G). II. 240.

nie WS, Kants Naturphilobophie. 17

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B. Kant als Naturphiloso})h.

geV)rauch doch noch iininer (ohzwar nur als Episode) ein I-^lätzcheii darin verstatten müssen, und zwar aus okononiisclien Bewegursachen, weil sie noch nicht so reich ist. dal's sie allein ein Studium aus- machen, und docli zu wiciitig, als dal's nuin sie ganz ausstofsen oder anderwärts anheften sollte, wo sie noch weniger Verwandtschaft als in der Metaphysik antreften dürfte. Es ist also hlofs ein so lange aufgenommener Fremdling, dem man auf einige Zeit einen Aufenthalt vergönnt, his er in einer ausführlichen Anthropologie (dem Pendant zu der empirischen Naturlehre) seine eigene Behausung wird hezieiien können" (II I. f);")/ f.). In diesem Sinne hatte Kant seihst in seinen akademischen Vorlesungen üher Metaphysik die em])irische I*sychol(tgie als ,,metaphysische Erfalirungswissenschaft vom Mensclien" hehandelt (vgl. die Nachricht von der Einrichtung seiner X'orlesuni^en in dem Winterhalhjahr j KiT) (>(), II. '.Mi)): ja. in dem Pi-inzip der Anti- zipation der \\ ahrnehmung hatte ei* sogar den (jirund zu einer Anwendung der Mathematik auf EmpfindumrcMi (mathc^sis intensorum) gelegt, womit sich denn aucli der empirischen l*sych()logie die Aus- siclit auf den Hang einer seihständigen W'issenschal't erölfnet hatte. Die Möglichkeit hiervon liatte Kant zuerst in seinen I^roh-gomeneu angedeutet, um alsdann in der zweiten Auflage der Vernunftkritik auf diesen Punkt nicht weiter zurückzukommen. Es schien demnach, als ob er jene Ansicht auch jetzt noch hilligte, um so mehr als er der empirischen Psychologie auch noch im Jahre 1T<^7 aus den angeführten Giiinden den Ehrenplatz inncrhalh der Metaj)hysik zugestand. Und doch waren im vorhergehenden Jahre die Anfangs- gründe herausgegeben, und Kant schien hier von dem unwissfii- schaftliclien Grundcharakter der emj)irischen Si'elenlehre, der ihr wesentlich anhaften sollte, so sehr überzeugt, dafs er es nicht ein- mal für der Mühe wert gehalten hatte, den von iiim selbst aus- gesprochenen Gedanken einer mathesis intensorum auch übeihau])t nur mit einem Worte zu streifen. Der Psvchologie wird von ihm jede Möglichkeit abgesj)rochen. jemals zum Range einer Wissen- schaft emporzusteigen, und zwar weil Mathematik auf die Phänomene des inneren Sinnes und ihre Gesetze niclit anwendl)ar sei, „man müfste denn allein das Gesetz der Stetigkeit in dem Abilusse der inneren Veriinderungen desselhen in Anschlag l)ring<'n wollen, welches aber eine Erweiterung der Erkenntnis sein würde, die sich zu der, welche die JMathematik der Kr)r])erlehre verschallt, ungefähr so ver- lialten würde, wie die Ijehre von den Eigenschaften der geraden Linie zur ganzen Geometrie. Denn die reine inneie Anschauung, in welcher die Seelenerscheinungen konstruiert werden sollen, ist die Zeit, die nur eine Dimension hat. Aber auch nicht einmal als

II. Die kritische Naturphilosophie.

259

systematische Zergliederungskunst oder Experimentallehre kann sie der Chemie jemals nahe kommen, weil sich in ihr das Manniirfaltige der inneren Beobachtung nur durch blofse Gedankenteilung von ein- ander absondern, nicht aber abgesondert aufhehalten und bebebig wiederum verknüpfen, noch weniger aber ein anderes deidvcndes Subjekt sich unseren Versuchen der Al)sicht angemessen von uns unterwerfen läfst. und selbst die Beobachtung an sich schon den Zustand des beobachteten Gegenstandes alteriert und verstellt. Sie kann daher niemals etwas mehr als eine historische und als solche so viel wie möglich systematische Naturlehre des inneren Sinnes, d. i. eine Naturbeschreibung der Seele, aber nicht Seelenwissenschaft, ja, nicht einmal psychologische Experimentallehre werden^' (3Ü1). Wenn Kant so gerin.i; denkt von der em])irischen Psychologie, wie kann er ihre wissenschaftliche Unselbständigkeit dami noch als eine blofs vor- lautige betrachten? Wc^ni sie prinzipiell unfähig zur Entwickelung ist. mit welchem Kochte k;imi sie dann noch einen Phatz iinierhalb dei- ]\Ietapyhsik beanspruchen? Auf (bese Widersprüche in Kants Auffassung über die empirische Psychologie als Wissenscliaft hat auch schon J. B. Meyer hingewiesen und versucht,'^') sie aus dem damaligen Stande^ der psychologischen Korschung zu erklären. Es ist indessen ganz wohl möglich, dafs Kant sie bein) Durchkorrigieren seiner zweiten AufLige einfach übersehen hat. Sie konnten ihm aber doch nur deshalb verborgen bleiben. w(m1 seine abfällige Ansicht über den wissenschaftlichen Charakter jener Diszi])lin. wie er sie in den metaphysischen Anfaiigsgrün(h^n ausgesi)i-ociien hatte, damals bei ihm selbst noch nicht so tiefe Wurzeln geschlagen hatte, um ihm sofort bei dem B(\griffe einzufallen. Dies würde dann freilich <larauf schliefsen lassen, dafs der Gedanke ihrer \'erwerfung über- haupt nicht in ihm selbst entsprungen, dafs er ihm vielmehr von anderswoher zugeführt sei. und es hat sehr viel Wahrscheinlichkeit, w^enn Itelson in dieser Beziehung auf Ploucquet hinweist, mit welchem Kant auch in der Art und Weise übereinstimmt, wie er in seiner Phoronomie die mathematische Konstruktion der Zusammen- setzung der Bewegungen zustande brin<]jt. '•"•')

Wie dem auch sei. die Lehre von der denkeiiden Natur gehf'irt nicht in den Rahmen der Naturwissenschaft hinein; so schrumpft denn die h^tztere zu einer Lehre von der k ö rp er 1 i cli e n Natur zusammen. Die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissen-

*) J. 15. .Meyer: Kants Psycholof^ie 214fr. 'iOO ff.

■^*) (t. Jtel^on: Zur Geschichte des psychophysiscliL'ii rrohlems in Steins Archiv i. Gesch. d. l'hil. Jid. III. Heft IT. 2<sr) f.

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ii. Kaut als Naturphilosoph.

II. Die kritische Naturphil()S()])liie.

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scliaft eiitbaltcn also blofs die Grundsätze der Körj)erlelire, diese aber auch in absoluter Volls tän d i <j;k e i t , wie sie nur in der Metaphysik erreichbar ist. Der Grund birrvon ist, „dal's in der Metaphysik der Ge.i^enstand nur, wie er l)lors nach den allgenxeinen Gesetzen des Denkens, in an(Un'en Wissenscbai'ten al)er, wie er nach datis der Anschauung (der reinen sowohl, als empirischen) vor- gesti'Ut werden muls. betrachtet wird, da denn jene, weil der Gegen- stand in ibr jederzeit mit allcMi notwendigen Gesetzen des Denkens verglichen werden muls, eine bestimmte Zabl von Erkenntnissen geben muls. die sich viUlig ersch()pt'en liilst. diese aber, weil sie eine un- endliche Mannigfaltigkeit von Ansch;iuuiig('n (reinen oder em])irise]i(Mi), mithin Objekten des Denkens dari)ieten, niemals zur absoluten Vollständigkeit gelangen, sondern ins Unendliche erweitert werden können; wie reine Mathematik und empirische Xaturlebre'' (.■)G.'))« Es ist ja selbstverständlicii : wenn es überhaupt von apriorischen Objekten eine apriorische und somit apodiktische Ei'kcnntnis giebt, <1. h. w(Min es dem BewuTstsein m()glicli sein soll, gleichsam hinter die Koulissen seines eigenen Entstellungsprozesses zu blieken und dessen Maschinerie uinnittelbar wahrzunehmen, so mul's es sie auch vollständig erkennen, und es ist dadurch „doch eben kein grol'ses AVerk" zustande gebracht.

,.Damit aber die Anwendung der Matbematik aul'die K<")rperlelu'e, die durch sie allein Naturwissenschal't werden kann. mr>glich werde, so müssen Prinzi{)i(Mi d e i* Iv n s t r u k t i o n der He^ rille, w eiche zur M ö g 1 i c h k (M t d c, v M a t e r i e üb e r h a u \) t ge- hören, vorangeschickt werdt^n ; mithin wird eine vollständige Zer- gliederung des HegrilVs von einer jMaterie üherbaupt zu Grunde gelegt werden müssen, welches ein Geschält der reinen Philosophie ist, die zu dieser Absicht sieh keiner besonderen Erl'ahrungen, sondern nur dessen, was sie im abgesonderten (obzwar an sich em- pirischen) IjegriÜ'e stdbst antritVt, in Hezieliung aui' die reinen An- schauungen im Ivaume und der Zeit (nach Gesetzen, welclie schon dem Hegrifle der Natur überhaupt wesentlich anhängen), bedient, mithin eine wirkliche Metaphysik <ler körperlichen Natur ist-' (;5(il f.).

Was ist nun dasjenige an der Materie, was wir als An- schauung nach seinen räumlichen und zeitlichen Verhältnissen uns daizustellen haben, um daraus eine a[)riorische Erkenntnis der Materie zu gewinnen? »Jedenlälls kann es nur die Grund- be Stimmung der JMaterie sein, denn alle anderen Bestimmungen derselben sollen dureh Konstruktion erst aus ihr abgeleitet werden. Die Antwort Kants ist ebenso kurz, wie ungenügend. „Die Grund-

bestimmung eines Etwas, das ein Gegenstand äufserer Sinne sein soll, mul's Bewegung sein; demi dadurch alh^n k<'.nnen unsere Sinne affiziert werden. Auf diese führt auch der Verstand alle übrigen Prädikate der ]\Iaterie, die zu ihrer Natur geh(»ren. zurück" (Mlili). Man sieht nicht, mit welchem Rechte Kant die Bewegung heranzieht. Dafs sie nur ein empirischer Begi-ilf ist. Iiat zwar nichts Auffälliges, denn die Möglichkeit einer besonderen Natur- wissenschaft hängt ja eben von der Aufnahme eines enij^irischen Begrili'es ab, und wenn dies die Materie ist, so mufs natürlich auch deren Grundbestimmung blofs emj)irisch sein. Kant selbst gesteht: ..Schliefslicb merke ieh noch an, dafs, da die Peweglichkeit eines Gegenstandes im ]{aum a priori und ohne Belehrung durch Erfahrung nicht erkannt werden kann, sie von mir eben darum in der Kritik der reinen Vernunft auch nicht unter die reinen Verstandesbegrilfe gezählt werden konnte, und dafs dieser Begrili', als empirisch, nur in einer Naturwissenschaft, als angewandter Metaphysik, welche sich mit einem durch Erfahrung gegeb^-nen Begriffe, obwohl nach Prinzi|)ien a priori beschäftigt. Platz finden könne-' (371). Es ist daher kein Widerspruch, wie Schwab und Andere meinen, dafs die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft trotz- dem einen physischen oder emi)irisehen Begriff', wie die Be- wegung es ist, behandeln. ,.Nicht deswegen heilst eine J'hvsik rein, weil sie k(>ine Daten aus der Erfahrung nimmt eine solche Physik giebt es nicht: sondern weil sie über den empirischen Gegen- stand nicht nach em])irischen J^j-inzipien urteilt. Das Aj)riori liegt also nicht im Stoff, sondern in der Korm der Untt-rsuchung; das Verfahren ist rein, nicht sein Gegenstand, das Gesetz, nicht der Begriff der Erscheinung, die Konstruktion des Begrilfs. nicht das J)ing, welches es (?) bezeichnet."*) Bedenklich ist der Tnistand, dafs Kant nicht zeigt, warum gerade die Bewegung Grundliestimmung der empirischen Materie sein soll. Pud warum soll die Bewegung der JVIaterie wesentlich anhaften, da sie doch unmittelbar nur als ein Accidens derselben und folglich im Ver- hältnis zu ihr blofs als zufällig erscheint? Die Naturwissenschaft erklärt zwar alle Erscheinungen letzten End<'s aus Bewegun«^. und insofern ist diese für sie ein notwendiger Beirriff, duj-ch den auch die Annahme einer Materie erst AV^ert erhält. Kant dagegen will auch die Materie erklän^n, er will nicht blofs die einzelnen ^'atur- erscheinungen auf Bewegung der Materie, sondern auch diese selbst auf Bewegung zurückführen, und (h hat er kein Jiecht, sich auf

*) Stadler: a. a. O. 14 f.

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B. Kant als >«atiirj)hilos()ph.

II. Die kritische Naturi)hilosoi)hie.

263

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die Naturwissenschaft zu stützen, für welche die Materie sclion ein Letztes, das selbst nicht weiter ableitbare Substrat der ßewe'^ung, bildet. Wie man also auch über die metaphysischen Anfan«^^sgründe und ihre j^eweise im Einzelnen denken möge, die Voraussetzung, worauf ihre Ilesultate ruhen, schwebt in der Luft, ein Umstand, der gerade nicht geeignet sclieint, die Erwartung apodiktischer Ge- wifsheit ihrer Erkenntnisse von vornherein allzu hoch zu spannen. „Und so ist die Naturwissenschaft durchgängig eine entweder reine oder angewandte Bewegungslehre*' (.')()()). ,,Alle Natur- philosophen, welche in ihrem Geschäfte mathematisch verfahren wollten, haben sich jederzeit (obschon sich selbst unbewul'st) meta- physischer Prinzipien bedient und bedienen müssen, wenn sie sicli gleich sonst wider allen Ansj)ruch der ^letaphysik aut ihre Wissen- schaft feierbch verwahrten*' {H{V2). Sie operierten mit Begriffen, wie iknvegung, P]rfiillung des Raumes. Trägheit u. s. w., olme nach ihrer Beglaubigung zu fragen. Sie nahmen an. (hil's es dergleichen in der äufseren Erfahrung geben müsse und forscliten bei diesen Begriffen nicht weiter nach deren Quellen n priori. Die meta- })hysischen Anfaiigsgriin(h' untersuclien nun alle solchen Begrilfc daraufhin, mit welcbcMii Rechte sie in der Ei'falirung angewendet werden. Zu diesem Zwecke stellen sie dieselben als Anschauungen im Räume dar und zeigen , wie sie nur dadurch auch em- pirische Gültigkeit erhalten, dafs sie a priori konstruierbar sind. Die Anfangsgründe sind somit angewandte Erkenntnis- theorie, deren Aufgabe darin besteht. ,.dal's sie di(^ Ausdrücke, welche sie durch Aufnahme emj)irischer Resultate erhält, zurück- übersetzt in Termini der Lelire von der i\l()glichkeit der Erfahrung. Sie stellt die allgemeinen Ergebnisse der Naturwissenschaft dar im Lichte der Bedingungen der Synthese in reiner Anschauung, als Funktionen der Einheit des Bewul'stseins. Als (iregenstand der Er- fahrung, als Objekt dej- Natur steht die jMaterie unter den Gesetzen der reinen Erkenntnistheorie. Wie diese letzteivn im Einzelnen sich an ihr äufst'rn, was für spezielle Bestimnmngcn sich aus ihnen für die Materie ergeben, das soll untersucht werden ; das ist es jetzt, „was die Vernunft für sich zu leisten vermag*' (:^r)J)), nachdem sie erst das ..Erfahrungsprinzi])" der Bewegung zu Hülfe ge- nommen hat."'")

Es giebt eine i\letaphysik, die nichts Anderes ist. als ein „Wahn, sich Miiglichkeiten nach Belieben auszudenken und mit Begrilfen zu spic^len. die sich in der Anschauung vielleicht gar

-) Stadler: a. a. (). 11. IJ. 1;».

nicht darstellen lassen und keine andere Beglaubigung ihrer objek- tiven Realität haben, als dafs sie blofs mit sich selbst nicht im 'Widersj)ruche stehen*' (8(;2). Eine solche Metaphysik ist jenes Verfahren nicht, sondern es ist wahre Metaphysik. „Alle wahre Metaphysik ist aus dem Wesen des D e n k u ng s v e r m öge n s selbst genommen und keineswegs darum erdiehtet. weil sie nicht von der Erfalii'ung entlehnt ist, sondern enthält die reinen Handlungen des Denkens, mithin B egri ff e und Grund- sätze a priori, welche das Mannigfaltige empirischer Vor- stellungen allererst in die gesetzmäfsige Verbindung bringt, dadurch es empirische Erkenntnis, d. i. Erfahrung, werden kann" (ebd.). Nun ist das Schema einer solchen Verbindung die Kategorieentafel, gemäfs welcher nach der Vernunftkritik das iMannigfaltige der Erfahrung unter bestimmte Gesichtspunkte ge- ordnet wird. Unter die vier Klassen derselben, die der Q u a n t i t ä t, der Qualität, der Relation und endlich der Modalität, müssen sich folglich auch alle Bestimmungen des allgemeinen Be- griffs einer Materie überhaupt, mithin auch alles, was a i)riori von ihr ausgedacht, was in der mathematischen Konstruktion dargestellt oder in der Erfahrung als bestimmter Gegenstand derselben ge- geben werden mag, bringen lassen. Der Begriff' der Materie wird sonach durch alle vier genannten Funktionen der Verstandeshegritie, in vier Hau])tstiicken. durchgeführt werden müssen, wobei in jedem dieser Haui)tstücke eine neue Bestimmung an ihr hinzukommt (363 ff.).

Diese Darstellung hat nun Kant in die Form der mathe- matischen Methode eingekleidet, ohne indessen die letztere mit aller Strenge befolgt zuhaben, „wozu." wie er eingesteht, „mehr Zeit er- forderlich gewesen wäre, als ich darauf zu verwenden hätte" (3()S). Natürlich ist kein Grund, zu bedauern, dafs Kant in der I^>ef()lirun<r jener Methode sich mehr Freiheiten erlaubt hat, als dies die Form der Mathematik eigentlich gestattet. Sind doch seine Ausführungen vielfach schon jetzt so kna])p. dafs man alle Einteilung m Er- klärungen, Lehrsätze, Beweise u. s. w. für eine eingehendere Dar- stellung der Sache gern dahin geben möchte, (hrigens hatte Kant bereits im Jahre 1763 in seiner Abhandlung über die Deutlichkeit der Grundsätze u. s. w. den Unterschied der mathematischen von der j)hiloso])hischen Methode festgestellt und die Anwendung der ersteren auf die philosophische BegriÜswissenschaft verworfen. Um so auffälliger ist es, wie er sich jetzt dazu verstehen konnte, die mathematische Methode in der reinen Naturwissenschaft ..nach- zuahmen." Noch in seiner Vernunftkritik hatte er sich gegen ein

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B. Kant als Naturpbilosoph.

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solches Verfalireii ausgesprochen. „Das grofse Ghick. welches die Vei-imnft vermittelst der ^latheniatik niaclit. hriiii^t ganz natürliclier Weise die Vermutung zu Wege, dal's es. wo nicht ilir seihst, doch ihrer Methode auch aufser dem Falle der Gröl'sen gelingen werde, indem sie alle ihre Begriffe auf Anschauungen hi'ingt. die sie a priori gehen kann und wodurcli sie, so zu reden. ]\Ieister üher die Natur wird; da hingegen reine l^hilosojdiie mit diskursiven B(^griffen a priori in der Natur herum pfuscht, ohne die Realität derselhen a priori anschauend und dadurch heglauhigt machen zu können" (III. 484). Darum hatte Kant hier aUe Gründe noch einmal zu- sammengestellt und dargethan, „dafs Mefskunst und rhiloso])hie zwei ganz verschiedene Dinge seien, oh sie sich zwar in der Natur- wissenschaft einander die Hand hieten, mithin das Verfaliren des einen niemals von dem andern nachgeahmt werden k()nne" (ehd. 4^;")). Wie kam er dazu, diese Hinsicht jetzt zu ignorieren und die wissenschaftliche Sicherheit seiner naturj)hilo- so])hischen Erkenntnis an ihre Einkleidung in das ihr unangemessene Gewand von Definitionen^ Axiomen und Demonstrationen anzu- knü})fen ?

Es ist, wie erwähnt, der empii'ische Begriff d<'r Materie, den Kant durch die a])riorische Darstelhmg seiner Grundhestimmung, der Bewegung, konstruieren will. Nun kann aher, wie er aus- drücklich hehauptet, „ein empirischer Begiiff gar nicht (h^tiniert, sondern nur ex})liziert werden. Denn da wir an ihm nur einige Merkmale von einer gewissen Art Gegenstände (h^r Sinne hahen, so ist es niemals sicher, oh man unter (h'm Worte, das (h'uselhen Gegenstand hezeichnet. nicht einmal mehr, das andere Alal weniger Merkmale desselheii denke" (1II.48I)). Nur solche BegrilVe können definiert werden, die eine willkürliche Synthesis enthalten, welche a ])riori konstruiert werden kann, mithin hat nur die JMathematik Definitionen. „Denn den Gegenstand, den sie denkt, stellt sie auch a ])riori in der Anschauung dar. und dieser kann sicher nicht mehr, noch weniger enthalten als der Begriff, weil durch die Erklärung der Begriff von dem (Tregenstande ursprünglich, d. i. ohne die Er- klärung irgend wovon ahzuleiten, gegehen wurde*' (4S7). AVenn es also wahr ist. dafs ])hilos{)j)hische Definitionen nur als Ex]>ositi<)nen ge gel) euer, mathematische aher als Konstruktionen ursj)rünglich gemachte r Begriffe, jene nur analytisch durch Zerglic^derung (deren Vollständigkeit nicht apodiktisch gewifs ist), diese syn- thetisch zustande g(d)racht werden und also den Begriff seihst machen, dagegen jene ihn nur erklären, so folgt, dal's man in der Philosophie die Dehnition nicht voranschicken kann als höchstens

II. Die kritische ^Naturphilosophie.

265

zum hlofsen Versuche, wofern man nicht etwa Gefahr laufen will, in die Definition etwas hineinzulegen, was in dorn Hegriff als solchen nicht enthalten ist; am wenigsten aher darf man hoffen, aus einer solchen Definition die ganze Wissenschaft mit ajjodiktischer Gewifs- heit ahleiten zu können (ehd. f.). Niclit hesser steht es mit den Axiomen, als den synthetischen Grundsätzen a priori, sofern sie unmittelhar gewifs sind. Nur die Matlu^natik ist der Axiome fähig, „weil sie vermittelst der Konstruktion der Begriffe in der An- schauung des (gegenständes die Prädikate desselhen a priori und unmittelhar vei'knüpfen kann, z. B. dafs drei Puidde jederzeit in einer Ehene liegen" (489). Die Philosophie dagegen „hat keine Axiome und darf niemals ihre Grundsätze a priori so schlechthin gehieten. sondern mufs sich dazu he(juemen, ihre Befugnis wegen derselhen durch gründliidie Deduktion zu rechtfertigen" (ehd. f.). Was aher schliefslicli die Demonstrationen anhetrilft, so verdient nur ein aj)odiktischer Beweis, sofern er intuitiv ist. diesen Namen. „Erfahrung lehrt uns wohl, was da sei, aher nicht, dafs es gar nicht anders sein könne. Daher können emi)irische Beweisgründe keinen apodiktischen Beweis verschaffen. Aus Begriffen a priori (in diskursiver Erkenntnis) k;inn aher niemals anschauende Gewifs- heit, d. i. Evidenz, entsj)ringen. so sehr auch sonst das Urteil a])odiktisch gewifs sein mag. Nur die Mathematik enthält also iJemonstrationen. weil sie nicht aus Bt^griffen, sondern der Kon- struktion derselhen. d. i. der Anschauung, die den Begi-iffen eiit- S])rechenda priori gegehen werden kann, ihre p]rkenntnis ahleitet" (4}K)j. Nun besteht ja zwar das ganze Verfahren der metaphysischen Anfangs- giünde darin, ihre Grundhegriffe anschaulich darzustellen, um ihnen so die Evidenz von mathematischen Bestimnjung(;n zu verschaffen. Allein was sie auf diese Weise konstruirt, das ist doch nicht der Begriff der Materie seihst, sondern es sind nur die aus der Erfah- rung aufgenommenen und durch (diskui'sives) Nachdenken gewonnenen Elemente dieses Begriffes, von denen es doch immer unhestimmt hleiht, oh sie richtig erkannt, und ob folglieh ihre Synthese auch wirklich den Begriff der Materie ergieht. Zudc^m gesteht Kant seihst: in Ansehung der h^tzteren (des Physischen), welches immer nur emj)irisch gegeben werden kann, „kömien wir nichts a priori hahen als unbestimmte Begriffe der Syntiiesis möglicher Emi)findungen. sofern sie zur Feinheit der A])i)erze])tion (in einer möglichen Erfahrung) g(dir)ren'' (4S;)).

Danach verringert sich die Hoffnung noch mehr, aus jenen Begriffen ein Svsteni herstellen zu können, das in seiner Gesamtheit ebenso den Begriff der Materie bestimmt, wie die Mathematik denjenigen des

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B. Kant als Naturphilosoph.

Raumes. Au dieser Tliatsache vermag ()rfenl)ar auch die Nach- aliuiuug der matliematischeu Methode uichts /u äuderu, uud souacli behält die Kritik aui Fjude. Keclit, „dal's es sich für die Xatur der J*iiih).s()|)hie gar nicht schicke, voruehudich im Fehle der reinen Vernunft, mit einem dogmatischen Gange zu strotzen und sich mit den Titehi und Bän(h}rn (U'r Mathematik auszuschmücken, in deren Orden sie (h)ch nicht gehört, ob sie zwar auf schwesterliche Vereinigung mit derselben zu hoffen alle Ursache hat*' (490). Knie solche Einkleidung, wie diejenige in die mathematische Form, kann niemals mehr sein als ein blofs äufserlicher Zierrat, der aber aul' den Inluilt selbst keinen Eiidhifs gewinnen und am wenigsten die Sicherheit der Resultate vermehren kann.*) Mit Recht erinnei't Herl)art in seiner Kritik der kantischen Naturphilosophie daran, dafs auch die JVlathematik nicht durch ihre Methode das geworden sei, was sie ist. „Namenerklärungen, Grundsätze, Anmerkungen und Lehrsätze sind nicht die Form, der irgend eine Wissenschaft ein besonderes Heil verdanken könnte. Namenerklärungen sind gut, um dem Mirsverstehen der Worte oder dem undeutlichen Auffassen zu begegnen : aber sie können die Begriffe weder schaffen, noch auch nur berichtigen. ( Grundsätze gelten höchstens soviel, als ihre Sub- jekte gelten kiinnen ; sind diese mit irgend einem Fehler behaftet, sind sie keine wahren Erkenntnisse, so hilft es nichts, wenn der Satz ihnen auch noch so wohl zu ihnen passende Prädikate beifügt. Lehrsätze samt den Beweisen gelten h(»chstens soviel, wie die (Grund- sätze ; ob aber den Aufgaben der Wissenschaft Genüge geleistet werde, das kann durch sie nicht entschieden werden. Daher ]) f 1 e gen d i e A n m e r k u n g e n d a s B e s t e zusein, o b g 1 e i c h sie nur als Zugaben auftreten. Die sogenannte matliematische Methode dient blofs der logischen Deutlichkeit des Vortrags ; dies Verdienst kann man ihr lassen, obgleich es nicht an sie gebunden ist, sowenig wie ein Buch darum an wahrem Werte verliert, weil ihm etwa Inhaltsanzeige und Register fehlt. Verführerisch aber ist die Einbildung, durch jene Form irgend etwas Wesentliches zu leisten; und davon sieht man die Spur auch in Kants metaphysischen Anfangsgriuiden der Naturwissenschaft."**)

Wenn Kant seinen eigenen früheren Aufstellungen zuwider die mathematisciie Methode in den metaj)h. Anfangsgrinulen angewendet

*) y<x\. Ja «^Melsk i: Wie hat Kant den BegrilT dvv ^laterie aufi^H'fafst. und wie ist diese AutTassunpf /u beurteilen. J^ro^^^ramiii des kgl. kathol. Gym- nasiums /u Ostrowo (1871 72). 'J4 tV.

**j Herbart: Sämtl. Werke. Bd. 111. 44b.

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IL Die kritische Naturphilosophie.

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hat, so mag er hierzu wohl durch den Umstand vc^ranlafst sein, dafs es ihm nirgends mehr auf apodiktische Gewifsheit ankam, als gerade in diesem Teile seines ])hilosoj)hischen Systems. War doch die sichere Begründung seiner naturi)hiloso])hischen Erkenntnis gerade der eigentliche Stachel gewesen, der ihn auf seinem bisherigen Ent- wickelungsgange von Stufe zu Stufe weiter getrieben hatte; lag es nicht nahe, nachdem er mm endlich das Ziel erreicht zu haben glaubte, dafs er die a])odiktische Gewifsheit jener Erkenntnis nicht blofs von ihrer apriorischen Gewinnung abhängig machte, sondern sie auch schon iiufserlich in der mathematischen Form der Dar- stellung zur P]rkenntnis brachte? Die Mathematik war doch einmal das Ideal des Kationalismus, sie war gleichsam identisch mit a])0- diktischer Erkenntnis überhaupt, und Kant war überzeugt, nunmelir eine Grundlage gewonnen zu haben, die an Sicherheit hinter der Mathematik nicht zurückblieb. Darum konnte er vergessen, was er selbst früher gegen die Einkleidung philos()])his(']ier Erkenntnis in die mathematische Form geiiufsert hatte, konnte er. ebenso wie vor 30 dahren, als er seine Physische Monadologie verfafste, und zwar aus denselben Gründen, glauben, dafs seine Naturphilosophie einer solchen F^inkieiduiig „wohl fähig sei und diese Vollkommeidieit auch mit der Zeit von geschickter Hand wohl erlangen k()nne. wenn durch diesen Entwurf veranlafst, mathematische Naturforscher es nicht unrichtig hnden sollten, den ■meta])hysischen Teil, dessen sie ohnedem nicht entübrigt sein kcuinen, in ihrer allgemeinen Phvsik als einen besonderen (ii'undteil zu behandeln und mit der mathe- matisclien Bewegungslehre in Vereinigung zu bringen'' (IV. 368). Allerdings wird man von dieser Meta})hysik gestehen müssen: sie steht bestürzt, dafs sie mit so vielem, als ihr die reine Mathematik darbietet, doch nur so wenig ausrichten kann. „Indessen ist doch dieses Wenige etwas, das selbst die Mathematik in ihrer Anwendung auf Naturwissenschaft unumgänglich braucht, die sich also, da sie hier von der Metaphysik notwendig borgen mufs, auch nicht schämen darf, sich mit ihr in Gemeinschaft sehen zu lassen'' (ebd.).

u. Die Phorononiie. J)er Kategorieentafel gemäfs betrachten die metai)hysischen Anfangsgründe die Materie zunächst unter dem Gesicljtsj)unkte der Quantität. Die reine Naturwissenschaft hesagte im Axiome der Anschauung: „Alle Erscheinungen sind ihrer Anschauung nach extensive Gröfsen.'' Wenden wir diesen Grundsatz auf die Materie, als Gegenstand der Erfahrung, an, so müfsten wir demnach sagen, dafs sie eine extensive Gröfse sei. Daraus hätte sich dann eine

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B. Kant als Naturpliilosoph.

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reine Gröfsenlehre ergeben, die zu untersuchen geluilit hätte, welche Bedingungen die Naturwissenscluift hei der Beohachtung, Messung und Aufzeichnung der (Juantitiitsvcrliältnisse der K()rper einzuhalten hat.*) Diese Anwendung jenes Gi'undsatzes macht Kant nicht. Er will nicht das (Quantum der Materie selbst, sondern mir dasjenige ihres Zustandes unt(4'suclien. ,.Materie". sagt er, ,.ist (his Beweg- liche im J^aume" (.')()!!). Es handelt sich also nicht um die GnU'se des Bewegliclicn. auch nicht um dessen innere Beschaffenheit was sich bewegt, oder das Substrat der Bewegung kann auch ,.iur einen Punkt gelten." Die Betrachtung hat es zunächst hlofs mit der Grundbestimmung der Materie als solchen, der „Bewegung und dem, was in diesei' als Gröfse betraclit(^t werden kann, Ge- sell wi n d i gk tM t und Jlichtung," zu thun, und wenn Kant trotzdem bisweilen der Bezeichnung: Kr)r])er sich bedient, so hebt er ausdrücklich hervor, es geschehe dies niii-, ,.damit der \'ortrag weniger abstrakt und fafsliclu^r sei" (ebd.). Was geleistet wt^den soll, ist also die ,.Konstruktion der Bewegungen überliau))t als Gröfsen" (.">77); und dieses gesciiieht in der JMioronomie oder, wie man sie heute aucli nennt, Kinematik. ,.ln der l^horonomie, da, ich die JVlatcrie durch keine andere Eigenschait als ihre Be- weglichkeit kenne, mithin sie selbst nur als einen Punkt betrachten darf, kann die Bewegung nur als B e sehr e i b u n g ei n e s B a u m e s betrachtet werden, doch so, dafs ich nicht blofs. wi(^ in der Geometrie, auf den Raum, der beschi'ieben wird, sondern auch auf die Zeit darin, mithin auf die Gescliwindigkeit, womit ein Punkt den Kaum beschreibt. Acht habe. Phoronomie ist also die reine Gröfsen- lehre (mathesis) der Bewegungen. Der bestimmte Begriff von einer Grcifse aber ist der Begriff' der Erzeugung der Vorstelhmg eines Gegenstandes durch die Znsammensetzung des (7leichartig(m. Da nun der Bewegung nichts gleichartig ist als wiederum Bewegung, so ist die Phoronomie; eine Lehre der Zusammensetzung d er ]^ e w e g u n g e n e b e n d e s s e l h e n Punkt e s n a c h i h i- e r Bichtung und Geschwindigkeit, d. i. die Vorstellung einer einzigen Bewegung als einer solchen, die zwei und so melire Be- wegungen zugleich in sich enthält, ode^' zweier Benvegungen eben- desselben I^unktes zugleich, sofern sie zusammen eine ausmachen, d. i. mit dieser einerlei sind" (.^TJi).

Soviel also „mufs günzlicli a j)riori und z.war anschauend zum Behuf der angewandten JMathematik ausgemacht werden. Denn die Regeln der Verknii))fung der Bewegungen durch ])]iysisclie

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*) Stadler: a. a. U. 18 1'. .')0 1'

II. Die kritische Naturphilosüphie.

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Ursachen, d. i. Kräfte, lassen sich, ehe die Grundsätze ihrer Zu- sammensetzung überhaupt vorher rein mathematisch zum Grunde gelegt worden, niemals gründlich vortragen" (oTT).

Der Erfahrung nach lassen sich die Bewegungen in der Natur zusammensetzen und zerlegen, ohne dafs wir darüber Aufsehlufs erhielten, wie eine solche Operation möglicli ist. Wir betrachten die Bewegung eines Kr>rpers, die ihm durch zwei von ver- schiedenen Richtungen kommende Stöfse mitgeteilt ist, als die Resultante dieser beiden Bewegungen und k(hinen deren Richtung und Geschwindigkeit bestimmen, wenn wir die Richtung und Geschwindigkeit ihrer Komponenten kennen. Aber woher nehmen wir das Recht zu solcher Bestimmung, und welche Sicherheit haben wir, dafs wir damit auch in jedem Fall die Wahrheit treffen ? Gieht es einen (Trund, so kann er nur in demieniffen lieireii was seihst Bewegung aJlein möglich macht, im Raum, als der a p r i o r i s c h e n B e d i n g u n g d e r E r f a h r u n g. Wir müssen auf diese J-*>edingung und (himit auf das Suhjekt. als Träger der ]{;iuni- anschauung. zurückgehen, um uns der objektiven Gültigkeit dessen zu versichern, was von der Bewegung sich ausmachen läfst. K()nnen wij- diese Bestimmungen aus der Natur des Raumes selbst ableiten, kcinnen wir den Begriff' einer zusammengesetzten Bewegung kon- struieren, d. Ii. „eine Bewegung, sofern sie aus zweien oder mehren gegebenen in einem Beweglichen vereinigt entspringt, a priori in der Anschauung darstellen" (:j7(i). dann, aber auch mir dann hahen wir das Recht, von einer Zusammensetzung der Be- wegungen zu sprechen und dürfen wir sicher sein, dafs uns niemals ein Fall begegnen wird, in welchem die Bewegungserscheinungen in der Natur mit den (Tcsetzen der reinen Mathematik nicht über- einstimmen werden. Eine solche Rechtfertigung und objektive Be- stätigung unserer Naturanschauung ist demnach wesentlich trans- cendentaler Art: wir hetrachten die Bewegung „als Gegenstand einer möglichen Erfahrung" (o77). und untersuchen, wie weit die Geltung der Grundhegriffe reicht, mit denen die angewandte ^Alathe- matik es zu thun hat.

Zunächst was heifst überliaupt Bewegung? Gewöliidich deliniert man sie als Veränderung des Orts, und hiergegen ist auch solange nichts einzuwenden, als es sich nur um Punkte hanck-lt: (h'un der Ort eines Kiu-pers ist ein Buidvt. Nach dieser Erklärung würde sich jedocli ein Köirper nicht bewegen, der, ohne seinen Ort zu ver- ändern, sich wie die Erde, blols um eine feste Achse dreht. Man wird daher nach einer allgemeineren Bestimmung suchen müssen, wobei zu beachten ist, dafs es nicht auf die Bewegung i n einem

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B. Kant als Naturphilosoph.

Diii^c (wie etwa auf die Bewegunfr des l>irres im Fasse), sondern auf die Bowe^unf,^ des Dinges selbst ankomnit: „Das Din^^, was man be- wegt nennt, mufs soferne als Einlieit bctraebtet werden" QWJ). So sagt denn Kant: „Bewegung eines Dinges ist die Veränderung der äufseren Verliii It n i ss(; desselben zu einem gegebenen Kaum" (871). In jeder Bewegung sind R i e b t u n g und G e s c b w i n d i g k e i t zu unterscbeiden. Kant setzt die gewr)lndicbe Detinition beider voraus. Die (iescbwindigkeit ist der Weg, den (be Bx-wegung in der Zeiteinheit besebreibt, eine Bestimmung, die ihren Ausdruck

findet in der Formel C^ = ' , d. b. dir Geschwindigkeit wächst ni

geradem Verhältnis des durcblautcn(ai Raumes und im umgekehrten Verhältnis der angewandten Zeit (874). Die Richtung ist der kürzeste Wea von einem gegebenen Ort zu einem andern. Es

handelt sich hier jedoch nur um die gerade, nicht um die Kreis- bewegung. Genau genommen, ist es dabtM* falsch, von eiiumi Planeten zu sagen, er bewege sieh immer in derselben Richtung von JMorgen ii:e'^eu Abend. „Kin im Kreise bew^egter Körper ver- ändert seine Bichtung kontinuierlich so. dafs er bis zu seiner Eiick- kehr zum Punkte, von dem er ausging, alle in einer Fläche nur möglielien Kichtungen eingeschlagen ist" (/)78).

Viel schwieriger scbeint es. die Seite zu bestimmen, wohin die Bew^egung gerichtet ist. Wodurch unterscheidet si<h iiberhau])t eine Bichtung von der andern? Diese Frage „bat mit der eine Verwandtschaft: worauf l)eruht der innere Unterscliied der SchiHH'ken, die sonst ähnlich und sogar gleich, aber davon eine Spezies rechts, die andere links gewunden ist: oder des Windens der Sclnvert- bohnen und des Hoplens. d(^ren die ersten^i wie ein l*fropl'enzieher odei", wie die Seeleute es ausdriickiai wiinb^n. wider die Sonne, der andere mit der Sonne um ihre Stange laufen? ein Begritf, der sich zwar konstruieren, aber, als Begriff, für sich durcb allgemeine Merkmale und in der diskursiven Erkenntnisart gar nicht deutlich machen lälst und d(a- in den Dingen selbst (z. B. an den seltenen Menschen, bei denen dii^ [jeicheneröifnung alle Teile nach der physiologischen Kegel mit anderen Menseben einstimmig, nur alle Eingeweide links oder rechts wider die ge\v(>liidiclie Ordnung ver- setzt fand), keinen erdenklichen LInters(dii(^d in den inneren Folgen geben kann und dennoch ein wahrhafter matbematischei-, und zwar innerer Fnterschied ist, womit der von dem l.Interscbicde zweier sonst in allen Stücken gleichen, der Kichtuug nach aber verschie- denen Kreisbewegungen, obgleich nicht völlig einerlei, dennoch aber zusammenhängend ist*' (873).

II. Die kritische Naturphilosophie.

271

Kant spielt hiermit auf das bekannte ,.Paradoxon ähnlicher und gleicher, aber doch inkongruenter Dinge" an. worauf ihn bereits im Jahre 17()8 seine Untersuchung über den Unterschied der Gegenden im Kaume geführt hatte. Damals hatte er in ihm einen „evidenten Beweis" dafür erblickt, da fs d e r a b s o l u t e R a u m u n a b h ä n g i g von dem Dasein der Materie und selbst als der erste Grund der ]\f(">glichkeit ihrer Zusammensetzung eine eigene Realität besitze. Fünfzehn dalire s])äter jedoch hatte er in seinen Prolegomenen die gerade entgegen- gesetzte Auflösung des Problems gegeben : „Diese Gegenstände sind nicht etwa Vorstellungen der Dinge, wie sie an sich selbst sind, und wie sie der i)ure Verstand erkennen würde, sondern es sind sinnliche Anschauungen, d. i. Erscheinungen, deren Möglichkeit auf dem Verhältnisse gewisser an sich unbekannten Dinge zu etwas Anderem, nändich unserer Sinnlichkeit beruht. Von dieser ist der Kaum die Form der äufseren Anschauung, und die innere Bestimmung eines jeden Raumes ist nur durch die Bestimmung des äufseren Verhält- nisses zu dem ganzen Räume, davon jener ein Teil ist (dem \vv- hältnisse zum äufseren Sinne), d. i. der Teil ist nur durchs Ganze möglich, welches bei Dingen an sich selbst, als Gegenständen des blofsen Verstandes, niemals, wohl aber bei blofsen Erscheinuniren stattfindet. Wii- können daher auch den Unterschied ähidicher und gleicher, aber doch inkongruenter Dinge (z. B. widersinnig gewundener Schnecken) durch keinen einzigen Begriff verständlich nuichen, sondern nur durch das Verhältnis zur recbten und linken Hand, welches unmittelbar auf Anscbauungen gebt'' (IV. H-)). Diese Stelle hat Kant im Auge, wenn er in seinen meta])hysiFchen Anfangsgründen bemerkt: „Ich habe anderwärts gezeigt, dafs. da sich dieser Unter- schied zwar in der Anschauung geben, aber gar nicht auf deutliche Begriffe bringen, mithin nicht verständlich erklären (dari, non intelligi) läfst, er einen guten bestätigenden Beweisgrund zu (hau Satze abgebe: dafs der Raum überhaupt nicht zu den Eigenschaften oder V^ er h ä 1 tu issen der Dinge an sich seil) st, die sich notwendig auf objektive Begriffe mufften bringen lassen, sondern blofs zu der subjektven Form unserer sinn- lichen Anschauung von Dingen oder Verhältnissen, die uns nach dem, was sie an sich sein mögen, völlig unhckaiint bleiben, gehöre" (IV. /^7H f.). Wir liMben keine Veranlassung, hierauf näher einzugehen und zu untia-suchen, was von einem Argument zu halten sei, mit dem man das Eine so gut, wie sein Gegenteil beweisen kann. ) Kant selbst bemerkt mit Rücksicht auf jenes Problem in

*) \ ailiiii<r(>r: ('oniinentai' II ohS IV. v. Xirchmaiin: Erläuterungen /u den Prolegomenen '.'>[.

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B. Kant als Naturphilosoph.

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seinen x\nfan,i^sfi^rün(len: ,.T)och dies ist eine Abschweifun,!,^ von unserem jetzigen Geschilfte, in welchem wir den Jvaum ganz not- wendig als Eigenschaft der Dinge, die wir in Betracht ziehen, nämhcli körperlicher Wesen behandtdn müssen, weil diese selbst nur Erscheinungen iiufserer Sinne sind und nur als solche hier erklärt zu werden bedürfen" (!)74). Die PhoroiKunie überliifst die Untersuchung, ob der Kaum real im Sinne von Newton und Clarke, oder ob er blol's ideal sei, der Erkenntnistheorie; sie liat es nur mit der Bewegung als solchen zu thun, und da mag sie immerhin den Kaum für mehr als für eine hlofs suhjektive An- schauungsform l)etrachten, wofern sie nur sich gegenwärtig hält, dafs die nähere Bestimmung der Seite, wohin die Bewegung gerichtet ist. sich in Begriffen nicht gehen läfst.

An die Auseinandersetzung der Bewegung schliefst sich n:itur- gemäfs die Bestimmung desjenigen an, was wir unter Kühe zu verstehen haben. Ivant verwirl't auch hier <lie gewohnliche Er- klärung, wonach die i^uhe Mangel der Bewegung sein s(dl, niul zwar, weil dieser, als = 0, sich gar nicht konstruieren lasse ('VIl)). Der wahre Fehler dieser Deünition liegt aber (hirin. dafs die Kühe ebensowenig, wie die Bewegung, ohne eine Zeit g r(W*s e denkbar ist. Um von einem Kcuper sagen zu kinmen. ob er ruhe oder sich be- wege, dazu sind mimlestens zwei Momente erforderlich : denn l)e- w^egnng ist Veränderung. Veränderung aber ist nur als zeitliche real; wo Bewegung unmr)glich ist, kann auch von Kühe nicht ge- sprochen werden. Daher ist es eino sinidose Frage, an deren Be- antwortung Kant umsonst so viel Mühe verschw(^ndet, ob ein Kru|)er an irgend einem Punkte seiner Bewegung in l^uhe oder in Bewegung sei. Hebt man einen einzelnen Moment abstrakt lnn'aus, so kann man höchstens sagen, dals in ihm der K^h-per weder ruht, noch sich bewegt. Dies ist der Grund, warum es heifsen mufs: ,,Kuhe ist die beharrliche Gegenw^al•t an demselben Orte; beharrlicli aber ist das, was eine Zeit hindurch existiert, d. i. dauei't" (^74). Oa nun in jeder noch so grofs anzugebenden Zeit der Iviirper gh^eh- iormig doch nur einiMi Kaum, der kleiner ist als jeder anzugebende Kaum, zurücklegen, mithin seinen Ort ,.1'f.r irgend eine mögliche Erfahrung-' in alle Ewigkeit gar nicht verändern kann, da somit dauernde (4egenwart an demselben Orte oder Kühe und unendlich kleine Bewegung gleichbedeutend siml, so hat jener Begrilf der Kühe überdies auch noch den Vorteil, dafs er „auch durch die Vorstellung einer Bewegung mit unendlich kleiner Geschwindigkeit eine endliche Zeit hindurch konstruiert, mithin zu nachheriger An- wendung der Mathenuitik auf Naturwissenschaft beinitzt werden kann" (iilO).

II. Die kritische Naturphilosophie.

273

Was schliefslich den Kaum betrifft, in welchem die Bewegung vor sich geht, so haben wir ihn in der Vernunftkritik kennen gelernt als die a})riorische Form aller äufseren sinnlichen Anschauung? wohinein die a posteriori gegebene Materie der Anschauung oder die Em])tin(Iungen in das Verhältnis des Nebeneinander geordnet werden. Mit ihr hat jedoch die Phoronomie nichts zu thun; denn die Form der Anschauung oder die reine Anschauung kaim eben als solche von uns nicht wahrgenommen werden. Die Bewegung, als Objekt der Phoronomie, ist schon ein Inhalt der Erscheinungswelt, ist schon empirisch, daher auch nur in einem Kaume darstellbar, welcher selbst Objekt der Erfahrung ist. „In aller Erfahrung mufs etwas empfunden werden, und das ist das Keale der sinnlichen An- schauung ; folglich mufs auch der Kaum, in welchem wir über die Bewegungen Erfahrung anstellen sollen, empfindbar, d. i. durch das. was empfunden werden kann. })ezeichnet sein, und dieser, als der Inbegriff aller Gegenstände der Erfahrung und selbst ein Objekt derselben, heilst der empirische Kaum*' (.Md). „Damit Be- wegung auch nur als Ersc^heinung gegebt^n werden kömie. dazu wird eine empirische Vorstellung des Kaums. in Ansehung dessen das Bewegliche sein Verhältnis verändern soll, erfordert; d(M- Raum aber, der wahrgenommen werden soll, mufs material. mithin dem Begriffe einer Materie zufolge selbst beweglich seiir' (40.^). „Ein beweglicher Kaum aber, wenn seine Bewegung soll wahr- genommen werden können, setzt wiederum einen anderen erweiterten materiellen Kaum voraus, in welchem er beweglich ist, dieser ebenso wohl einen anderen und so fort ins Unendliche'' (370). Bewegung, als Gegenstand der Erfahrung, ist also nur denkbar in Beziehung auf einen materiellen Kaum. Durch Ei'fahrung gelangen wir jedoch niemals zu einem unbi'Wt^glichen (umnateriellen) Kaum, in Ansehung dessen irgend einer 3Iaterie schlechthin Bewegung oder Kühe beige- legt werden könnte, „sondern der Begriff dieser Verhältnisbestimmungen wird beständig abgeändert werden müssen, nachdem man das Beweg- liche mit einem oder dem anderen dieser iiäume in \'erhältnis be- trachten wird-' (4r)5j. Mit andern Worten: alle Bewegung, als Gegenstand der Erl'ahrung, und ebenso alle Kühe ist blofs relativ. „Der Kaum, in dem sie wahrgenommen wird, ist ein relativer Kaum, der selbst wiederum, und vielleicht in entgegengesetzter Kichtung in einem erweiterten Kaume sich bewegt, mithin auch die in Beziehung auf den ersten bewegte Materie in Verhältnis auf den zweiten Kaum ruhig genannt werden kann, und diese Abänderungen des Begriffs der Bewegung gehen mit der Veränderung des relativen Kaumes so ins Unendliche fort*' (.'üO). rVon der Bewegung eines

1) r e w s , Eantä Naturphilosophie.

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B. Kant als Naturphilosopli.

K5rj)ers eine Erfalji'iiiig zu maclieii. dazu Avird erfordert, dafs nicht allein der Kör])er, sondern auch der Kaum. d:irin er sich bewegt, Gegenstände der äulsern P]r(ahrung. mithin materiell seien. Eine absolute Bewegung also. d. i. in Beziehung auf einen nicht materiellen Eauni, ist gar keiner Erfahrung liihig und für uns also nichts (wenn nnin gleich einräumen wollte, dei* absolute Raum sei an sich etwas)" (Ml), r^^n' sind gar nicht imstande, in irgend einer Erfahrung einen festen l^unkt anzugeben, in Beziehung auf welchen, was J^e- wegung und Kühe absolut heifsen sollte», bestimmt wiii'de: dcini alles, was uns auf die Art gegeben wird, ist materiell, also auch beweglich, und (d:i wir im llaum keine äulserste (grenze miiglicher Erfahrung kennen) vielleicht auch wirklich bewegt, ohne dal's wir diese Bewegung woran wahrnehmen können'' (ol'^).

Es giebt also im relativen Kaume keinen für alle p]rscheinungen gültigen I]egriff von Bewegung und Buhe. Daraus folgt, dafs ,.man sich einen Baum, in welchem dieser selbst als bewegt gedacht werden könne, der aber seiner Bestimmung nach von keinem anderen eni])irischen Baume abhängt und daher nicht wiederum bedingt ist. d.i. einen absoluten 1{ a u m , auf den alle relativen Jjewegungen bezogen werden können, denken müsse, in welchem alles Empirische bewn'glich ist, eben darum, damit in demselben all«' Bewegung des Materiidlen, als blofs relativ gegeneinander, als alternativ-wechsel- seitig, keine aber [ils absolute Bewegung oder Buhe (da. indem das Eine bewegt heilst, das Andere, woi'auf in Beziehung jenes bew(^gt ist, gleichwohl als schlechthin ruhig vorgestellt wird) gelten möge. Der absolute Baum ist also nicht als ein Begriff von einem wirk- lichen Objekt, sondern als Idee, welche zur Begel dienen soll. all(! Bewegung in ihm blofs als relativ zu betrachten, notwendig, und alle Bewegung und Buhe mufs auf den ai)Soluten Baum reduziert werden, wenn die Erscheinung derselben in einem bestimmten Kr- fahrungsbegriff (der alle Erscheinungen vereinigt), verwandelt werden soll" (45") f.).

Es mag dahingestellt sein, ol) es ntitig war, um die Bela- tivität der Bewegung verständlich zu machen, den wunderlichen Begriff des beweglichen Baumes einzuführen, anstatt jene einfach aus der Gleichheit aller Orte in einem und demselben festen Baume abzuleiten. Wir kiinnen ja den Ort eines Kih-pers nicht bestimmen, ohne uns hierbei auf andere Orte zu beziehen, und folglich müssen auch in der Bewegung, als Veränderung des Oi'tes. jene Beziehungen wiederum zu Tage treten, (geradezu verhängnisvoll ersch(dnt es aber, wenn Kant, um die Bewegung a priori darzustellen, von einem empirischen Baume spricht. Dieser Begriff wird deshalb eingeführt,

11. Die kritische Naturjihilosopliie.

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weil die Bewegung ein empirischer Begriff ist. Allein wenn dies der Fall ist, und wenn Bewegung nur mr)glich ist in Baum und Zeit, giebt es dann übeidiau])t noch einen apriorischen Baum und eine aj)riorische Zeit ? oder wie sollen wir es uns erklären, dafs aus der Vereinigung dieser beiden Stücke a priori, und das ist ja eben, wie wir bereits früher gesehen haben, die Bewegung, etwas Empirisches entstehen kami? Gewii's ist eine wirkliche j>ewegung nicht denkbar ohne ein Etwas, das sich bewegt, und insofern setzt Bewegung etwas Eni])irisches voraus, d. h. wir lernen die Bewegung nur aus der Wahrncdimung von etwas Beweglichem kennen. Allein wenn Kant Beeilt hat. Baum und Zeit kcinnten vor allei- Ei-fahruni;- \nu uns erkannt werden, wie kommt es. dafs die Synthese der beiden sich einei* sohdien Erkenntnis a priori entziidit. und warum i)Oidit er so sehi' darauf, die Bewegung k()nne blofs ein enij)irischer Begriff sein? Hier scheint ihn seine nur in gewissem Sinne apriorische ^saturj)hilosophie. in wehdie dei* Begriff (h^r Bewegung notwendig hineingehörte, odei' die angewandte Erkenntnistheorie in einen argen Widerspruch zu seiner rein ai)riorischen i\Ietaphysik oder dvr reinen Hrkf^nntnistheorie verwickelt zu haben. Denn jene verlangte, dafs die Bewegung ein empirisidiei' Begriif. diese, dafs sie aprioriscdi sei ; hier galten Jiaum und Zeit für apriorische Bestandteile unseres l^jkenntnisvei-mögens. dort verlangte die Konsequenz, daf^ sie, ganz ebenso wie die Bewegung, nur aus* der Erfahrung zu entiudimen seien.

Weit offener tritt derselbe W^iderspruch in der Art und Weise zu Tage, wie Kant den Raum auffafst. Tn der Vernunftkritik hatte er gesagt: ,. Dei- Baum vor- allen Dingen, die ihn bestimmen (erfüllen oder begrenzen), oder die vicdmehr eine seiner Form g«unäfse empirische Anschauung geben, ist unter dem N a m (mi des ai)so- 1 u t (Ml Baumes nichts Anderes als die blolse M (ig 1 i c h kei t äufserer Erscheinungen, sofern sie entweder an sich existieren (»der zugegebenen no(di hinzukommen können" (111. .'Jl^i). Dei- absolute Raum ist also die t r a n s c e n d e n t a 1 e K o r m d e r S i n n 1 i c h k e i t selbst, und zwar nicht blofs als „F(U-m der Anschauung*', d. h. als unbewufste poteiiti(dle Anlage, die vor aller Erfahrung in uns g(degt ist, sondern s(di(ui als ,.l()rmale Anstdiauung"' oder als ,.r(.:ine An- schauung" (III. \:V2) in der Gestalt, wie sie a ])riori von uns erfafst o(k'r ins Bewui'stsein erhoben wird, und von v.elchei' daher Kant au(di behau})tet hatte, dafs sie ,.als unendlich gegeben" sei. In den Aniangsgi'ünden ist der Baum nicht die Form der Sinnlichkeit, sondern er ist ein ..notwendiger V er n u n ft begriif. mithin nicdits weiter als eine blofse Idee" {W. 40;')). Bi der Vernunitkritik

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B. Kant als Naturphilosoph.

war fler reine ahsolutc Kaum als solcher etwas Wirkliches, und (lieser war schon vor aller Krt'ahrun.i;- da. um ehen auch so von uns erkannt zu werden. Tu den Anfanprs^riinden .i^^elten als wirklich nur die empirischen, relativen Käume. und der reine ahso- lute Kaum ist hlofs eine Ahstraktion aus den viiden relativen Käumen, mithin ein durch und durch aposteriorischer Begriff. ,.Einen ahsoluten Kaum", heifst es hier, „d. i. einen solchen, der. weil er nicht nuiteriell ist, auch kein Gegenstand der Erfahrung sein kann, als für sich ge gehen annehmen, heifst etwas, das weder an sich, noch in seinen Folgen fder Bewegung im al »sohlten Kaum) wahr- genommen werden kann, um der M()glichkeit (U-r Erfahrung wdlen annehmen, die doch jederzeit ohne ihn angestellt werden mufs. Der ahsolute Kaum ist an sich nichts und gar kein ()l)jekt. sondern hedeutet nur einen jeden anderri relativen Kaum, den ich mir aufser dem gcgehcnen jederzeit denken kann, und den icli nur über jeden gegel)enen ins Unendliclie hinausi-iicke als enien solchen, der diesen einschliefst, und in welchem ich den ersteren als bewegt, annehmen kann. Weil ich (h^n erweiterten, obgleich immer noch materiellen Kaum nur in Gedanken liabe und mir vim der Materie, die ihn bezeichnet, nichts bekannt ist, so abstrahiere ich von dieser, und er wird (hiher wie ein reiner, nicht empirisclier und absoluter Kaum vorgestellt, mit dem ich jeden empirischen ver- gleichen und diesen in ihm als beweglich vorstellen kann, der also jederzeit als unbeweglich gilt. Ihn zum wirklichen Binge machen, heifst die logische Allgemeinheit irgend eines Haumes. mit dem ich jeden empirischen als darin eingeschlossen vergleichen kann, in eine physische Allgemeinheit des wirklichen Umfaiiges verwechseln und die Vernunft in ihrer Idee mifsverstehen" (.ITili.). Dieser Widerspruch ist nicht dadurch aus der Wtdt zu schallen, dal's man mit Stadler auch den als unendlich gegebenen Kaiiui in der transcendentalen Ästhetik als Idee auffafst.^'^) Denn die reine Anschauung ist die notwendige Voraussetzung, woiauf die Apriorität und damit die Apodiktizitat der reinen Mathematik beruht; behaui)ten, dafs auch sie nur in Gedanken existiere und nur als Idee unendlich sei, heifst daher dem kantischen Lehrgebäude das Eundament abgraben, ohne welches dessen inneres Gerüst zusammenfällt. Wenn die reine iMathematik \ (erlangt, dafs der reine absolute Kaum als solcher wirklich sei, wenn es für die allgemeine Naturwissenschaft „unvermeidlich'' ist, diesen „sonderbaren I^egrit!'" (Abb) so aufzufassen, als ob er nur durch die unendliche Mi)g-

II. Die kritische Natnriihilosophie.

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lichkeit des P^ortschritts in Gedanken bedingt sei, dann giebt es eben keine solche Naturwissenschaft, oder es läfst sich nichts Verkehrteres denken , als diese mit der ihr absolut heterogenen Mathematik zusammenk()])peln zu wollen. Von zwei sich widersprechenden Vor- stellungen kann nur eine richtig sein. Wenn daher der Begriif des als unendlicli gegebenen Kaumes schon in sich einen Wider- spruch enthält, so werden wir nicht anstehen, dem Kaunie des Physikers vor demjenigen des ]\Iathematikers den Vorzug zu geben, um so mehr als die psychologische Entstehung jenes physischen Kaumes uns ganz wohl verständlich ist und in der Erfahrung sich konstatieren läfst, die Annahme des absoluten Kaumes. als reiner Anschauung, dagegen blofs eine durch nichts bewiesene Voraussetzung zur Erklärung des synthetisch-apriorischen Charakters der Mathe- matik ist. Zugegeben, die Mathematik enthalte wirklich synthetische Brteile a ])riori und verdanke diese Eigentümlichkeit (h^r apriorischen Kuidvtioii des Kaumes in uns. so mufs doch mit Entschiedenheit bestritten werden. (Lifs diese apriorische Funktion zugleich auch von uns a iiriori erkannt werde und die liaumanschauung in unserem Bewufstsein identisch sei mit jener apriorischen Anschauungsform. A dickes hemerkt mit Kecht: „Auch hier zeigt Kant sich wieder als echter K;itionalist, indem er nicht nur eine aj)riorische Form der Anschauung annimmt, sondern auch eine apriorische Erkenntnis dieser aiiriorischen Form, die reine Anschauung.-'*) Kant strebt nach apodiktischer Gewifsheit der Erkenntnis; daher darf ein so wichtiges F^rklärungsprinzi]) dieser aj)odiktisclien (lewifsheit. wie der Kaum, nicht aus der Erfahrung blofs erschlossen, sondern mufs mit dem unmittelbaren Inhalt (hs Bewufstseins seihst identisch sein. Nur aus diesem Grunde stellt er es so dar, als ob die Kaumanschauung in unserem Bewufstsein als solche zugleich die B"dingung des syn- thetisch-apriorischen (yhnrakters der Mathematik, die formale An- schauuii"- zugleich Form der Anschauung und folglich aiicii diese schon reine Anschauung sei. Nur darum, schliefst er, weil der Kaum unendlich erscheint, so sei auch die Bedingung desselben als unendlich gegeben oder die reine Anschauung seihst der ahsolute Kaum. Er b(\-ichtet nicht, dafs die Bedingung der Anschauung nicht auch zugleich Gegenstand der Anschauung sein, das Auge zwar alles Andere gt^wahren, aber sich selbst nicht sehen kann. Er strebt danach, allen Hypothesen aus dem Wege zu gehen und üher- sieht. wie diese ganze Annahme einer apriorischen Erkenntnis auch blofs eine Hypothese ist.

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') Stadler: a. a. O. JG.

*) Adickes: Im. Kants Kritik d. i". \'t'rn. mit Einleitung u. Anmerkungen lirsg. 6JS.

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B. Kant als Natiuphilosopli.

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Diese jji'iuzipielle Verweehselim«^ der iinhewursten potentiellen Form der Anschaiumg mit der hcwnTsten aktuellen Ansehauung selbst, worauf di<' transcendentale Ästhetik beruht, ist das Seiten- stück zu jener früher l)esproeh('nen Verweehseluni,^ der Kate^^orieen, als unbewufster Funktionen, mit der bewul'sten kategorialen Form, wie sie den Kern der transcendentalen Analystik bildet. Beide Ver- wechselungen ents])rin^^en dem l\ationalismus und lassen es mehr als fraglich erscheinen, ob das Str(d)en Kants iil)erhau])t berechtigt ist. die Naturwissenschaft in d(^n Kang einer a)M)diktischen Krkenntnis zu erheben. JechMifalls ist der unendliche liaum des Mathematikers nicht die transcendentale Anschauungsform des ]\aumes sell)st und folglich auch nicht a priori gegeben ; er ist nur ein ai)osteriorisches Produkt der Abstraktion, «^ne p]rweiterung aus den vielen relativen Käumcn der Erfahrung und also mit dem absoluten Kaum des Physikers identisch. Die api'iorische transcendentale Anschauungsform des Paumes aber ist als solche nicht unendlich. Mit dieser Einsicht tiillt zwar nicht der apriorisch-synthetische Charakter der Mathematik, wohl aber der rationalistische Anspruch hinweg, als ob die Erkenntnis der Aprioritfit des mathematischen Urteils zugleich unmittelbar auch Inhalt des Bewufstseins sei und nicht vielmehr a ])Mst('rioii aus dem Gefühle der Notwendigk«Mt des Urteils blofs erschlossen werde.

Alle Bewegung, als (jle^enstand der Erfahrung, ist blofs relativ. und der Kaum, woi'in sie stattfindet, ist materiell ; somit kann eben dieser nuiterielle Kaum selbst wiederum als ruhig odi^- als bewegt vorgestellt werden. Ein Kaum z. P.. m Beziehung w(»rauf ich einen Körper als bewegt ansehe, heifst rulii:^. wenn aufser ihm kein mehr erweiterter und ihn einschliefsender «^^'geben ist, z. P>. die Kajüte eines Schiffes, in welcher ich auf einem Tische eine Ku<i:el sich bewegen sehe. Er heifst bewegt, wenn mir aufser ihm noch ein anderer Kaum, der ihn einschliefst, gegeben ist. So kann ich die Kajüte in Bezug auf das Ufer des Flusses als bewegt, die Kugel aber als ruhig ansehen, wenn sie nändich ebenso viel zurückrollt, als das Schilf sich vorwärts bewegt. Da es nun unmöglich ist, von einem emj)irisch gegebenen Kaume. wie erweitert er auch sei, auszumachen, ob er nicht in Ansehung eines in einem noch gröfseren Umfange ihn einschliefsenden Kaumes selbst wiederum bewegt sei oder nicht, oder da der absolute Kaum für alle m()gliche Erfahrung nichts ist, so folgt hieraus: „H^ine jede Bewegung, als (jegenstand einer m()glichen Erfahrung, kann nach Belieben als Bewegung des Körpers in einem ruhigen Kaume oder als Kühe des Kih'pers und dagegen Bewegung des Kaumes in entgegengesetzter Kichtung mit ^deicher Geschwindigkeit angesehen werden'' (in? f.).

II. Die kritische Naturphilosophie.

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Auf Grund dieses Satzes w^ird es möglich, die Konstruktion einer zusammengesetzten Bewegung zu vollziehen. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal das Problem I Wir sollen die Möglichkeit einer Zusammensetzung von Bewegungen, wie sie in der Erfahrung ge- geben ist, aus den a])riorischen Bedingungen der Anschauung ab- leiten. Daraus folgt, dafs die Begriffe, die hierbei in Frage kommen, nicht selbst die F'rfahrunu' schon voraussetzen dürfen. ,.Zur Kon- struktion d(^r Begriffe wird (»rfordert. dafs die Bedingung ihrer Darstellung nicht von der Erfahrnm,^ entlehnt sei. also auch nicht gewisse Kräfte voraussetze, deren Existenz nur von der Erfahrung abgeleit(^t werden kaim, oder überhau })t. dafs die J>edingung der Konstruktion nicht selbst ein Begriff sein müsse, der gar nicht a priori in der Anschauung gegehen w(M'den kann, wie z. B. der von Ursache und Wirkung-, Handlun«j^ und Widerst:ind u. s. w." (:V]{) f.). (3periert man mit bewegenden Kräften und stellt die Erzeugung einer dritten Bewegung aus zwei bewegenden Kräften dar. so ist das „zwar die mechanische Ausfülirung dessen, was ein BegritT enthält, aber nicht die mathematische Konstruktion der- selben, die nur anschaulich machen soll, was das Objekt (als (Quantum) sei, nicht, wie es durch Natur oder Kunst vermittelst gewisser Werk- zeuge und Kräfte h e r v o r g e b r acht werd(Mi kihme-' (.'>sr)). Die i^horonomie hat es nicht mit einem ..Naturgesetz bewegender Kräfte*' (384), sondern mit den Bedingungen ihrer Zusammensetzung über- hauj)t zu thun. sofern sie a ])riori in der reinen Anschauung sich darstellen lassen. Daher schliefst sie auch die Veränderung. weil diese auf der Beziehung von Ursache und Wirkun^^ beruht, aus ihrer Betrachtung aus und handelt nur ,.von der Mr»glichkeit der geradlinigen Bewegung allein, nicht der krummlinigen. Denn weil in dieser die Bewegung kontinuierlich ^der Kichtung nach) ver- ändert wird, so mufs eine Ursache dieser Veränderung, welche nun nicht der blofse Raum sein kann, herbeigezogen werden-' {:]><:^ f.).

Was wir also anschaulich zeigen sollen, ist, wie zwei gegebene Bewegungen ,.in einer dritten enthalten, mithin mit dieser einerlei*' sein kömnen Ci.S;^). Die völlige Ähnlichkeit und Gleich- heit, sofern sie in der Anschauung erkannt wird, ist die Kongruenz. Folglich beruht alle geometrische Konstruktion der völlit^en Identität auf Kongruenz, und die Zusammensetzung der Bewegungen, um ihr Verhältnis zu andern als Gröfse zu bestimmen, mufs nach den Kegeln der Kongruenz gescliehen (!mSo. 080).

Wir sprechen nur von zwei Bewa^gungen, weil die Lehre der Zusammensetzung aller Bewegungen sich auf die von zweien zurück- führen läfst. „Um die Bewegung zu linden, die aus der Zusammen-

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B. Kant als Naturphilosoph.

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Setzung von mehren, soviel mau will, entspringt, (Uirf man nur. wie bei aller Gröfsenerzeugung, zuerst diejenige suchen, die unter ge- gebenen Bedingungen aus zweien zusammengesetzt ist; darauf diese mit einer dritten verbunden u. s. w." (!i71i). Zwei Bewegungen eines und desselben Punktes, die zugleich an ihm angetrotien werden, lassen sieh nun auf dreifache Art an ihm verbunden denken, wobei die Geschwindigkeit der Bewegung entweder gleich oder un^deich sein kann. Entweder nändich verlaufen sie in ebenderselben Linie und derselben Richtung, d. h. der Winkel, den ihre beiden Kichtungen mit einander bihlen. ist gleidi «). Oder sie verlaufen in dersell)en Linie, aber in en tge gengesetzt er Richtung, d. h. der Winkel ihrer beiden Richtungen ist gleich 2R. Oder endlich sie verlaufen in verschiedenen Linien, d. h. ihre Richtungen schliefsen einen l)eliebig(3n anderen W^iidvtd ein (.'^SO). Dieser letzte Fall ist es, den man unter der l^enennung der zusannnengesetzten Bewegung gewöhnlich allein zu betracliten l)hegt, und insofern auch mit Recht, ,tls er die beich-n andern als Spezialfalh' in sich enthält. Indessen wird dadurch zwar ..wohl eben nicht der Physik, wohl aber dem Prinzi)) der Einteilung einer reinen phih)sophischen W^issen- schaft überhaui)t einiger Abbruch gethan." Man kann näinhch auf diese Weise „nicht wohl die Gröfsenlehre der Bewe^ning nach iiiren Teilen a i)riori einsehen lernen, welches in mancher Al)sicht auch seirien Nutzen hat" (i^Sli).

Betrachten wii- den ersten Fall! Die Linien AB und ab m()gen die (Tieschwindiiikeiten bezeichnen, d. h. die J{äume. weh'he die beiden Bevv( i;ungen in u^leichen Zeiten (lu!chl;iufen. Es scheint nun möglich zu sein, sich diese beiden Geschwindigkeiten einfach dadurch als enthalten in einer dritten vorzustellen, dafs man die Räume AJ> und ab -^^ BC mit einander zn A(.' addiert. Indessen die Bewegung ab soll ja in derselben Zeiteinheit verlaufen, wie AB; BO aber verläuft nicht in dieser Zeit, und xAL ist nicht al»: also stellt auch die doppelte Linie AC, die in derselben ZiMt zurückgelegt wird, wie die Linie ab, nicht die Geschwindigkeit A B -f- ab dar, und die Zusammensetzung zweier Geschwindigkeiti'U in einer Richtung läfst sich in demselben Räume nicht anschaulicli darstellen. Das Gleiche gilt auch für den zweiten Fall. Hier ist schon der Gedank<' un- möglicli, zwei entgegengesetzte Bewegungen in einem uml demselben Räume an ebendemselben Punkte als zugleich anzusehen, denn man kann sich nicht vorstellen. (]afs der Punkt ^deichzeitig sich an Orten betindet, welche immer weiter auseinander rücken; ,.aber die Vorstellung der Unmöglichkeit dieser beiden Bewegungen in einem Körper ist nicht der Begriff von der Ruhe desselben, sondern der

II. Die kritisehc Naturphilosophie.

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Unmöglichkeit der Konstruktion dieser Zusammensetzung entgegen- gesetzter Bewegungen" (rnSr)). Was schliefslicli den dritten Fall betriiTt, so leuchtet ohne weiteres ein. dtd's ein Punkt sich nicht lijleiclizeitig auf den beiden Schenkeln eines AV'itdvels bewegen kann, es sei denn in Linien, welche diesen parallel laufen ; dann aber würde man annehmen müssen, dafs eine dieser Bewegungen in der anderen eine Veränderunij:. nämlicli die Abbringung von der ge- gebenen Baim bewirkte, während die Richtungen 'oeiderseits dieselben blieben, was aber, wie wir gesehen haben, mit dem Charakter der Phoronomie nicht zu vereinen ist.

Das Resultat ist also, dafs es unmöglich ist. die Kiuigruenz mehrer Bewegungen in einem und demselben Raum sicii vorzustellen. ,,Die Teile der Geschwindigkeit sind nicht aufserhalb einander, wie die Teile des Raumes, und wenn jene :ds Gröfse betrachtet werden soll, so mufs der Begriff ihrer Gröfse, da sie intensiv ist. auf andere Art konstruiert werden, als der in der extensiven Gröfse des Raumes-' (^j^s4).

Hier kommt uns nun der obige Satz zu Hilfe, dafs es aller Erfahrung und jedc^' Folge aus der Erfrdirung viUlig einerlei ist, ob ich einen Körper als bewegt oder ihn als ruhig, den Raum aber in entgegengesetzter Richtung mit gleicher Geschwindigkeit bewegt anseluMi will, ob ich sage: ein Kr)r];er bewegt sich in Ansehung dieses gegebenen Raumes in dieser ]<ichtung mit dieser Geschwindigkeit, oder ob ich ihn mir als ruhig denken und dem Räume alles dies, aber in entgeiiengesetztei" KMchtung beilegen will. Stelle ich mir nämlich den Köi-])er A mit der Geschwindigkeit AH im absoluten Räume als bewegt vor und übergel)e dem relativen Raunu' die Ge- schwindigkeit ab in entgegengesetzter Richtung, so ist dies nach jenem Satze ganz dasselbe, als ob ich die letztere Geschwindigkeit dem Körper in der Riclitung Al> erteilt hätte. In derselben Zeit also bewegt sich alsdann der Kr»rper durcli die Summe der i^inien AB -[- BC, in welcher er sonst die Linie AB allein würde zurück- gelegt haben, und seine Geschwindigkeit AH -f- ab ist t'olglich gleich der Summe der gegebenen (Geschwindigkeiten, wie dieses die geo- metrisejie Konstruktion zu leisten hatte. Auf die nämliche Weise brauche ich auch im zweiten Falle, statt dem Körper die entgegen- gesetzte Bewegung AC im gleichen absoluten Räume zu erteilen, dem relativen Räume nur die gleichgerichtete Bewegung CA von derselben Geschwindigkeit beizulegen, die jener völlig gleich gilt und also gänzlich an deren Stelle gesetzt werden kaim. so wird in der That die Kongruenz der beiden entgegengesetzten Bewegungen in der nämlichen Zeit erreicht. Der relative Raum bewegt sich mit (h'rselben Geschwindigkeit in derselben Richtung mit dem Punkte A;

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B. Kant als Naturphilosoph.

IT. Die kritische Naturphilosophie

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der letztere verändert iinthin in diesem Falle seinen Ort in An- sehun,G^ des relativen Kaumes nur um so viel, als di(^ Differenz der Geschwindi,i^dveit(^n in der Riehtung der ^röl'seren beträft und ruht, falls diese beiden (leseliwindi^kfiten einander i^loich sind. Im dritten Falle endlieli. in welehem di(^ beiden l^ewegiingen AC und A I] mit einander den Winkel BAO (Miiscldiersen. mufs ieb ei)ent'alls die Be- wegung AC als im absoluten Räume, anstatt der Bewegung AB aber, die Bewegung des relativen llaumes in entgegengesetzter liiebtung vor sich gehend annehmen. Dann läl'st sich durch eine (anfache Hilt'skonstrtdvtion (vgl. die Figur bei Kant ivS'J) /eigen, dal's, wahrend der Körper die [jinie A() dui-chläutt, der rehttive JAaum und mit ihm der ^^lnkt C die [jinie (Je, gleich und parallel BA. bi'schreibeii mui's. was ganz dasstdbc ist, als ob der Körper in derselben Zeit. in welcher er AC durchbäutt. die Ijinie Ol), gleich und pai'allel AB. durchlaufen hätte. Also ist er im letzten Augenblick im I^mkte D und in dieser ganzen Zeit nach und umcIi in allen Punkten der Diagonallinie AD, welche mithin sowohl die Richtun,i^^ als die Ge- schwindigkeit (k'r zusammengesetzten Bewegung ausdrückt. Damit ist in allen drei Fällen die Bewegung als (Inifse in der Raiini- anschauung konstruiert, „welches nur vermittelst der Bewegung des Raumes, tlie mit einer der zwei gegebenen Bewegungen kongruiert und dadurch beide mit der zusamuHMigesetzten kongruieren, mtiglich ist-' (i^8;")), oder mit anderen Worten: „Die Zusammensetzung zweier Bewegungen eines und desselben Punktes kann nur dadurch gedacht werden, dal's die eine derselben im absoluten Baume, statt der andern aber eine mit der gleichen (Tcschwindigkeit in entg(\gengesetzter Richtung ges(;hehende Bewegung des relativen Kaumes als mit der- selben einerlei vorgestellt wird" (ihSO).

Dal's Kant den Grundgedanken dieser ..Konstruktion'' wahr- scheinlich von Plouc (juet hat, wurde ol)en angedeutet. Man mag über dieselbe deidvcn, w^ie man will, es wird kaum behau])tet w^erden können, dafs mit ihr etwas Wesentliches gewonnen sei. Kant hat offenbar zwei w^irk liehe Bewegungen im Auge. d. h. die, auf einen und denselben Punkt bezogen, als Bewegungen sich darstellen. d. H. V. Kirchmann macht jedoch mit Recht darauf aufmerksam, dafs Kant durch seine Lösung die eine Bewegung in eine blofs scheinbare verwandelt, d. li. in eine solche, die zwar in Bezug auf den relativen Raum als Bewegung erscheint, aber nicht in Bezug auf den absoluten Raum, nach welchem doch die erste Bewegung bemessen ist. ,.Wenn der Körper A sich nach B bewegt, und der Raum BO sich nach A bewegt, so gelangt der Körper A allerdings in derselben Zeit nach 0, in \velcher er ohnedem nur nach B ge-

langt sein würde; allein die Orte B und C sind dann auch in Bezug auf d(^n absoluten Raum nicht mehr verschieden, sondern A ist nach B gerückt und C ebenfnlls nacli B: in Bezug auf den relativen Raum hat A zwar den ]\aum AC durchlaufen, allein in Bezug auf den absoluten Raum, wie Kant sich ausdrückt, hat es trotzdem nur den Weg AB zurückgelegt, weil seine weitere Bewegung nach C in Bezug auf den absoluten Raum nur ein Schein ist. Ganz dasselbe «nlt auch l'ih' die beiden andern Fälle." M Kirch mann zeigt, wie die Zusammensetzung zweier wirkliehen, nach einem Orte im Räume bemessenen In'wegungen nur dadurch zustande konnnt, dafs die ganze Linie AC =- AB -|- BC oder -f- ab als relativer Raiun angesehen und sowohl die Bewegung des Körpers A in diesem Räume, wie die besondere Bewegung dieses relativen Raumes nach AC nach derselben Richtung im absoluten Räume, d. li. naidi C hin, vorgest(dlt wird: „dann ist wirklich das erreicht, was Kant will; es sind zwei wirkliche, d. h. in Bezug auf denselben Ort sich als solche darstellende. Bewegungen vereinigt, wobei A nach B und zugleich durch die Bewegung der Fläche, auf der es sich bewegt, nach C gelangt,-' und zwar nach C. als der wirklichen Fnt- fernung BC = a b von B. nach dem absoluten Raum gemessen. Auf dieselbe Weise kann auch der zweite und dritte Fall berichtigt und auch die zweite Bewegung aus einer wirklichen in «une schein- bare um.^esetzt werden; nämlich wenn man im zweiten Falle die ganze Linie Ui) sich nicht in der Richtung ('A. wie Kant will, sondern in dvr Richtung AC bewegen läfst ; dann kommt A zwar in Rezu'^ auf den relativen Raum. d. h. scheinbar, nach B; allem nach dem absoluten Raum bemessen, ist es in A geblieben (voraus- gesetzt nämlich, dafs AB und P)C. wie Ixn Kant, als gleich gedacht werden), weil B dann mit A zusammenfällt. Dasselbe gilt für den dritten Fall, wcuin der relative Raum ABCD sich nicht in der Rich- tung von B nach A. sondern v(.n A nach B bewegt."^^*)

Hiernach kann noch viel weniger davon die R(Mle sein, Kant habe sich durch seine Phoronomie ein neues Blatt in den Kranz seiner phil()S(»phischen Verdienste eingetlochten. Was von ihr bestehen bleibt, ist im Wesentlichen nur dasselbe, was jener in seinem „ISeuen Lehrbegrilf von Bewegung und Ruhe'' bereits im Jahre 17r)<S vorgetragen hatte, die Einsicht in die relative Beschatfen- heit der beiden Begrilfe Ruhe und Bewegung, und man wird es

*") V. Kirchniann: Erläuterunpren zu Kants Schriften zur Xaturphilo Sophie 39.

♦*) ebd. f.

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B. Kant als Naturpliilosoph.

scliwt'rlich als eine neue Rrkoiintnis bezeichnen können, wenn er im Hinblick :iut' seinen Kritizismus jillgemein betont: „Ein jeder Begriff ist mit demjenigen, von dessen Unterschiede vom ersteren gar kein Beis])iel möglich ist. völlig einerlei und nur in Be- ziehung auf die Verknüpfung, die wir ihm im Ver- stände geben wollen, verschieden*' (IVIS). Damals hatte Kant seine Einsicht einfach aus der Krfahrung geschr.pft : die Erfahrung war das Erste gewesen, und die Erkenntnis nur ein Produkt der Erfahrung; jetzt soll die Erkenntnis selbst das Erste sein, die Er- fahrung soll nur gültig sein von der Erkenntnis Gnaden, und die in der Erfahrung konstatierte Zusammensetzung von Bewegungen soll daraus abgeleitet werden, dafs sie in der reinen Anschauung als m(")glich aufgezeigt wird. D;is FVoblem dies(>r Zusammensetzung, wie es am deutlichsten beim dritten Kall hervortritt, liegt ja darin, wie eine Bewegung in gleicher (ilesch windigkeit und gleicher Rich- tung, und zwar genauer in Linien, die ihrer ursprünglichen Rich- tung j)nr:ilhd sind, aucii dann sich noch erhalten kann, weim sie durch eine andere Bewegung aus ihrer Kichtung gebracht wii'd. Dieses Problem aber kann nicht dadurch gelöst werden, dafs man mit Kant die v'nw Bewegung als eine blofs scheinbare betrachtet. Sieht man gcuiaii zu, so ist es überhaupt verg<'l)lich, nach einem näheivn Grunde jener Erscheinung zu forschen. Die Zusammen- setzung von Bewegungen kann nur in der Erfalirung konstatiert, aber sie kann nicht w(Mter abgeleitet werden, auch nicht aus dem Satze, dafs man auf den ndativen Kaum zurückgreifen müsse, um sich jene Zusammensetzung ziii" Anscliauung zu bringen. „Weil die Erfahrung hit^r sich in allen Källeii gleich bleibt und solche Bewegungen trotz ihrer Verrückung aus der ursprünglichen Bage dennoch ihre Geschwindigkeit und paralleh^ Kichtung beihehalten, so hat man erst hieraus durch Induktion jenen allgemeinen Satz ausgesondert. Indem dieser dem Theoretiker mit der Zeit ganz <'eliluh'' wird, meint er zuletzt in ihm ein Prinzip a ))rioii zu be- sitzen, w^as das erste sei, und dem mithin die wirklichen, in der Natur geschehenden B(^wegungen sich mit Notwendigkeit fügen müfsten. F]s verhält sich mit diesem Satz, wie mit dem von der steten Fortdauer eiiuT einmal begonnenen Bewegung. Beide scheinen uns jetzt selbstverständlich, und man trägt deshalb in der Philo- sophie kein Bedenken, aus ihnen, als dem Prius. die Notwendigkeit abzuleiten, dafs die Natur diese Gesetze einhalten müsse: allein es kr)nnte sehr wohl auch anders sein, und eine Bewegung, die aus ihrer urspriniglichen Lage verrückt würde. kr)iinte sehr wohl auch ganz erlöschen. Wäre dies nach der Erfahrung der Kall, so würde

II. Die kritische Naturphilosophie.

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die Philosophie sehr bald dahin gelangt sein, diesen entgegen- gesetzten Satz als den notwendigen und a priori gültigen aufzu- stellen und die einzelnen Vorgänge als die blofsen Konse(juenzen dieses Prinzips darzulegen."*)

Es ist demnach nichts mit der angewandten Metai)hysik. so- fern sie sich anheischig macht, die in der Erfahrung konstatierte Zusammensetzung von Bewegungen a ])riori aus der Natur der reinen Anschauung abzuleiten. Die Natur bedarf für ihre Erschei- nungen im Besonderen nicht der ausdrücklichen Beglaubigung durch das Subjekt; sie liefert vielmehr diesem selbst erst den Stempel. dvn es ihr nachträglich aufdrücken mag. ohne sich aber rühmen zu können, ihren Erscheinungen damit den Ciiarakter der a])o- diktiscluni Gewifsheit erteilt zu haben. Es ist die Art der falschen Metaphysik, etwas für eine Erklärung aus Gründen a priori aus- zugeben, was sie doch nur a i)Osteriori von der Erfahrung erborgt hat. Eben dies ist auch das Verfahren in Kants Phoronomie. Indem sie uns mit dem Scheine täuscht, als seien mit der Zurück- führung der Bewegungserscheinungen auf die reine Anschauung jene selbst in ihrer Eigentümlichkeit erklärt, hat sie unsere Erkenntnis, anstatt sie zu erweitern, nur auf einen trüglichen Irrweg geführt. Daher wird man die Einkleidung des neuen Lehrbegrilfs von Be- wegung und Kühe in das Gewand des Kritizismus nicht für eine Verbesserung jener früheren Darstellung halten können.

Werfen wir schliefslich noch einen Blick auf die Beziehung der Phoronomie zur allgemeinen Metaj)hysik. so mufs natürlich auch sie, als angewandte Metaiihysik. sich in das Schema (h^r Meta- ])hysik überhaupt einordnen lassen, und zwar, wie oben hereits an- gedeutet wurde, soll sich jene, als reine Gröl'senlehre der Be- wegung, auf die Kategorie der Quantitiit beziehen. Es ist zwar (iigentlich nur ein zufälliger Umstand, dafs man in der Logik eine besondere Art von Urteilen gerade als (juantitative zu bezeichnen l)llegt. Allein hiervon abgesehen, fällt es doch nicht gerade auf. dafs Kant einen Zusammenhang zwischen der Quantität der Urteile und seiner Lehre von der Zusammensetzung der Bewegungen herzustellen suciit. wenn ihn nur seine wunderlit!he Neigung zum Schematisieren nicht dazu verleitet hätte, auch noch die drei Källe seiner Phoro- nomie im einzelnen auf die besonderen Kategorieen der Quantität, die Einheit. Vielheit und Allheit, zu beziehen! ..Diese Bemerkung hat nur m der Transcendentalj)hiloso])liie ihren Nutzen.'' fügt Kant hinzu (i'xSÖ). Es ist schwer, sich vorzustellen, worin dieser ..Nutzen"

^j V. K irchmanii: a. a. <J. 32 1.

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B. Kant als Naturphilosoph.

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l)estelioTi, noch viel schwerer jedoch, (nnzusehiMi. auf welclieu (Tnmd jene He/iehiiii^r sich stützen soll. Im ersten Fall ist ,.Kinlieit der Linie und Richtung'" vorhanden, und auch im dritten Kall mau^ es imm<>rhin f,^estattet sein, von einer ,. Allheit der liichtuni^en sowohl, als der Linien, nach denen die Bewe.i^niuK ^reschehen ma-" zu reden. Aher ^\i) in aller Welt steckt im zweiten Falle die „Vielheit der Kiclitun^en in einer und derselben Linie" (ebd.), da es sich doch Idol's um zwei l^ichtun.iren. handelt? Man sieht, die Uber- einstimmun.i^ ist auch hier ,<,^Mnz zutalli- : die Beziehun-en selbst sind völlig iius der Luft ^a'^niffen und eine rein i)ers(')nliche Spielerei, die weder zur Erkenntnis, nocli zum Verstiiminis der Sache etwas beitrügt.

fl. Die Dynamik. Die I^horonomie hatte die (Quantität der Bewegung untersucht und die ]\laterie scldechthin als das Bewegliche im JJaum bestimmt. Nacli dem Schema der Kategorieentafel hätte man erwarten sollen, dafs Kant nun in derselben Weise die (Qualität der Bewegung vorgenommen hätte. Dabei wäre jedoch die Schwierigkeit entstanden, was unter einer s(dcben zu verstehen sei. Fr betrachtet daher die Bewegung lieber „als zur (Qualität der Materie gehörig" (.Mib) ujid definiert die h^tztere als „das Bi^wegliche, sofern es einen Kaum erfüllt*' (:iS7). Und zweifellos w.ählt ja unser Verst;ind die Rr- füllung des Baumes, um dadurch die Substanz (hs Jxaumes, d. i. die Materie, zu i)ezeichnen: sie ist „das (Charakteristische d<'r Materie, als eines vom Baum unterschiedenen Dinges*' (401). dasjenige, was uns unmittelbar einfällt, wenn wir die Figenschaften der lAfaterie an- geben sollen. Worauf beruht nun diese Eigenschaft, und wie ist es möglich, sie für unsere Anschauung zu konstruieren, um dadurch dem empirischen Gegenstande zugleich eine apriorische Be-

ll. Die kritische Naturphilosophie.

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üründunu' zu verhüllen V

„Einen Baum erfüllen, heilst allem Beweglichen widerstehen, das durch seine Bewegung in einen gewissen Baum einzudring(Mi bestrebt isf (:>S7). Lambert und Andere nehmen einfach an. die Eigenschaft der Baundiillung oder die Solidität, wie sie es nennen, käme jedem existierenden Dinge schcm als solchem zu: es läge schon im Begrilf desselben, jedes andere Ding von der An- wesenheit in dem ihm zugehihägen Baume auszuschliefsen. und so- mit sei es einfach der Satz des Widersi)ruchs, dei- mache, dafs nicht zw^ei Dinge in einem und demselben Baum zui^leich sein klMinten. ,.Allein der Satz des Widerspruchs treibt keine Materie zurück, welche anrückt, um in einen Baum einzudringen, in welchem eine

andere anzutreffen ist" {3^i)). Der Satz des Widersi)ruchs gilt nur im Logischen, aber die Materie ist ja gerade die Unterlage aller Bealität. Der blofse Begriff (]vv Ausdehnung nimmt keinen Baum ein, er schliefst auch keinen andern Körper von dem gleichen Kaume aus. Daher kann der Mathematiker, dei- mit blofs gedachten Körpern operiert, sie beliebig in denselben Ort versetzen: ihm steht es frei, die J^aunierfüllung selbst für v'm erstes Datum dw Kon- struktion des i^egriffs einer Materie anzusehen, ohne dafs er sich darauf einzulassen braucht, dieses Datum auch wiederum zu kon. struieren. J)enn die Materie, womit er es zu thun hat. ist ja die blofs gedachte Materie: ..(hirum aber ist er doch nicht befugt, jenes tür etwas a.ller mathematischen Konstruktion ixanz Unfähiijes zu erklären, um daduich das Zuiaickgehen zu den ersten I^rinzi])ien der Naturwissenschaft zu hemmen-^ (ebd.). Der Naturforscher hat es mit der Wiikiichkeit zu thun, und in deren erkeiintnistheoretischer Begriuidung mufs er aui" denjenigen Punkt im Bewufstsein zurück- gehen, wo das Beale ihm unmittelbar gegeben ist.

Daraus entsj)rang der zweite Grundsatz des reinen Verstandes. Das Prinzij) der A]itizi])ationen der Wahrnehmung lautete: „Li allen Erscheinungen hat das Beale, w^as ein Gegenstand der Em])tindung ist, intensive Gnifse, d. i. (aneii Grad.-' Wir wissen jetzt, welchen Sinn Kant mit diesem Satze verbindet, (lab die B(^liandlung des Satzes in der Kritik der reinen Vernunft noch irgend welchen Zwtühdn Baum, so hat uns besonders der Abschnitt über die l^)stulate des empirischen Denkens vollends über das Verhältnis zwischen dem Bealen und der Eni])linilung aufgeklärt. Die Fm- ])findung ist der unmittelbare Ausdruck für das Beale, nicht so, als ob das letztere unserem Denken noch immer als ein Aufseres gegenübei'stände und einem jeden Unterschied in der Emjitindung ein s(dcher im Bealen als korrespondierend zu denken sei : das Beale soll vielmehr mit der Emj^findung selbst zusammenlliefsen. soll restlos in sie übergehen und damit ein blofser (icMlanke sein, den ich zu jener nur hinzuzulÜgen habe. Daraus folgt, dafs ein nahei-er Aufschlufs über die Materie, als Gegenstand der Natur- wissenschaft, nui- aus der ]) s VC h o 1 ogisch eil Betrachtung der Eni]) findung zu erlangen ist. Um zu erfahren, worauf die Baum- erfüllung der Materie beruht, und durch wtdchen Akt unseres Ver- standes ein solcher Begriff gebildet wird, müssen wir die Eni] »findung untersuchen und sehen, welche Momente sie zur Vollziehung des- f^elben in sich birgt. Wir müssen untersuchen, auf welche Ein- ]iiiiuluiigen die AVahrnehniung der Materie üherhaujit sich gründet: durch die Übertragung der hierbei gemachten (zunächst subjektiven)

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B. Kant als Naturphilosoph.

Erfahrungen anf das Ohjekt der Materie wird sich alsdann eine nähere Bestinnnuni,^ der liaunierfiiUun.ü: der k-tzteren ergehen, die nicht, wie diese, eine (jualitas occulta ist.

>ain können aUe Empfindungen, in denen sich uns die M.iterie offenhart, auf Druck und Stofs zurückgeführt werden. Wir woUen in dem für leer gehaltenen Raum eine Bewegung vollführen und finden einen Wick'rstand, der sich für uns verbindet mit einer Druck- oder Stofsempfindung. Hier ist die psychologische (Quelle des Hegriffs der Raumerfülhmg. Es ist klar: „dafs die erste An- wendung unserer Begril'le von (Tnifsen auf Materie, durch die es uns zuerst möglich wird, unsere äufseren Wahrnehmungen in den Erfahrungshegriif einer Materie, als Gegenstand üherhau])t, zu vrr- wamhdn. nur auf ihrer Eigenschaft, (hidurch sie einen Raum erfüllt, gegründet sei, welche vermittelst des Sinnes des Gefühls uns die Gröfse und Gestalt eines Ausgedehnten, mithin von einem bestimmten Gegenstande im I^aume eiiien Begriff verschaftt, der allem Übrigen, was man von diesem Dinge sagen kann, zum (-J runde gelegt wird" (400). Da also die Materie uns ihr Dasein ,.nicht anders als durch das (liefühl offenhart, mithin nur in Beziehung auf Berührung, deren Anfang (m der Annäherung einer Materie zur anderen) der Stofs, die Fortdauer aber ein Druck heilst, so scheint uns, als ob alle unmittelbare AVii-kung einer i\laterie auf die andere niemals was Anderes nls Druck oder Stofs sein k()nne, zwei ßinllüsse, die wir allein unmittelbar empfinden können" (ebd.). Wir übertragen die Emplindung, die wir selbst in der Berührung mit der .Materie haben, auf die aul'ser uns befind- liche Materie überhaupt und nehmen an, dafs überall, wo zwei Körper sich berühren, die Hemmung ihrer Bewegungen sich in Druck und Stofs vollzieht. Bewegung also ist die vermittelnde Funktion, wodurch wir zu jenen Empfindungen und damit auch zum Begriffe der Materie gelangen. Die Ursache einer Bewegung aber ist bewegende Kraft. Folglich, weini Druck und Stofs allgemeine Bestimmungen der Materie darstellen, wodurtdi ihr Begriff erst zustande kommt, so mufs die letzere ebenso in bewegenden Kräften ihre eigenthche Wurzel haben, wie ihre äufsere Wahrnehmung für uns durch die Thätigkeit der uns unmittelbar bewufsten Kräfte sich

vermittelt.

Offenbar ist dies der Gedankengang, der Kant bei der erk(Mintnis- theoretischen Begründung seines Dynamismus vorgeschwebt hat. Leider hat er ihm selbst keinen näheren Ausdruck gegeben, sondern sich nur auf einige wenige zerstreute Andeutungen beschränkt, die bei weitem nicht ausreichen, um insbesondere den Zusammenhang

II. Die kritische Naturphilosophie.

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der Dynamik mit dem zweiten Grundsatz des Verstandes in das rechte Licht zu rücken. Dazu kommt aufserdem, dafs die Zurück- fülirung der liaumerfüllung der Materie auf eine bewegende Kraft bei der Knapi)heit der mathematischen Darstellungsweise höchst ungenügend ausgefallen ist. ,.Das Eindringen in einen Raum ist eine Bewegung. Der Widerstand gegen Bewegung ist die Ursache der Verminderung oder auch Veränderung derselben in Buhe. Xun kann mit keiner Bewegung etwas verbunden werden, was sie ver- mindert oder aufhebt als eine andere Bewegung ebendesselben Beweglichen in entgegengesetzter Bichtung. Also ist der Wider- stand, den eine Materie in dem Eaum, den sie erfüllt, allem Ein- dringen anderer leistet, eine Ursache der Bewegung der letzteren in entgegengesetzter Richtung-' (.'mSS). Kant beruft sich hierbei einfach auf den „phoronomischen Li^hrsatz*' (ebd.). Aber dieser handelte. wäe wir gesehen haben, von der Zusammensetzung zweier Bewegungen eines und desselben Punktes mit Hilfe des absoluten und des rela- tiven Baumes, was doch wohl etwas ganz Anderes ist als die Ver- minderung oder Aufhebung einer Bewegung durch eine bewegende Kiaft. Mehr als einmal hat ja gerade Kant in der Phoronomie davor gewarnt, die Zusammensetzung von Bewegungen mit der Ver- änderung dieser durch Kräfte zu verwechseln , und gleich im Anfang der Dynamik schärft er noch einmal ein. dafs die dvna- mische Erklärung des Begriffs der Materie die jihoronomisclie voraus- setze, aber eine Eigensclnift ,.liinzuthue''. die sich als Ursache auf eine Wirkung bezieht, nämlich das Vermögen, einer Bewegung innerhalb eines gewissen Baumes zu widerstehen, „wovon in der vorhergehenden Betrachtung gar nicht die Rede sein niufste, selbst nicht. >venn man es mit Bewegungen eines und desselben Punktes in entgegengesetzten Richtungen zu thun hatte-' (;is:).

Es wird also wohl bei Stadlers Meinung sein Bewenden haben: ,. Wir haben hier einfach einen Irrtum, der zwar, in die Au^roij iällend. wie er ist. nicht viel Schaden anrichten kann, immerhin aber eine bedauerliche Lücke in der Kntwickelung verur- sacht.-"') Wer über diese Lücke nicht hinweggelangen kann, wie Schwab.**) oder gar, wie J. H. v. Kirch mann, der Ansicht iiuldigt, die blofse Raumerfüllung der Materie könne schon als

*) Sta(ll(M-: a. a, (J. iu . \^^1. dag-ecren: H. Keferstein: „Die philos. Gruiidlaofcn d. Physik nach Kants „Metaj)h. Ani'an^'-s<rr. d. Naturw." u. dem Manuscript „Uher<rang von d. 3leta})li. Aul'anprscrr. d. Naturw. zur Physik.'' Progr. der h()hereii Hürgerschule vor d, Lüheckerthore zu Hamburg f I.S92). 8. ^=*j Schwah: a. a. O. l'J.

n r e w s, Kants Naturphilosophie. 10

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B. Kant als Naturphilosopli,

soiclie das Eindriiij^jen einer arideren bewegten jMaterie verliindern, es bedürfe dazu überhaupt nicht einer besonderen mit ilir ver- bundenen Kraft,') dem müssen natürhch die ganzen folgenden Ausführungen Kants hinfällig erscheinen. Ein solcher wird dann aber auch zu zeigen haben, wie er bei dieser Annahme über das Paradoxon eines seienden leeren Jlaumes, worin sich alsdann der Stoff bewegen mul's, und die übrigen Unklarheiten und Wider- sprüche der StotYtheorie hinweggelangen will. Vor allem aber wird es seine Aufgabe sein, sich darüber zu erklären, auf welche Weise er sich den Eintritt des realen Stoffes in die ideale Sphäre des Bewulstseins, d. h. das Zustandekommen seiner Wahr- nehmung denkt, ohne dabei in den unzulänglichen erkenntnis- theoretischen Standpunkt des naiven Kealismus zu geraten. Es ist ii freilich keineswegs ohne AV^eiteres klar, dafs der Widerstand gegen eine Bewegung gerade eine bewegende Kraft sein müsse, und es begreift sich, wenn Herbart zu dieser Behau])tung Kants spcittisch bemerkt: ,.So schnell war eine bewegende Kraft ge- schaffen!*'**) Aber man darf nicht vergessen, dafs Kant bereits in seiner Schrift über die negativen Gnil'sen den Widerstand eines Kr)rpers gegen die Bewegkraft eines anderen, dcu- in seinen Baum einzudringen sucht, oder die Undurchdringlichkeit für eine „wahre KrafU' erklärt und gezeigt hatte, dafs sie als „negative Anziidiung'' ein ,.ebenso ])Ositiver Grund sei als jede andere Bewegkraft in der Natur" (vgl. oben S. 72 f.). Wenn er jetzt den Satz aufstellt: „Die Un- durchdringlich k e i t , als die G r u n d e i g e n s c h a f t der Materie, wodurch sie sich als etwas Beales im Baume unseren äufseren Sinnen zuerst offeid)art, ist nichts als das Ausdehnungs- vermiigen der Materie" (400), so war das nur ein neuer Ausdruck für die alte Wahrheit, dafs es in der Natur nicht blol's logische (Opposition, sondern vor allem auch Bealre])Ugnanz giebt: „Die Materie erfüllt einen Baum nicht durch ihre blofse Existenz, sondern durch eine besondere bewegende Kraft" (:^S8).

Diejenige Kraft, wodurch eine Materie Ursache sein kann, andere von sich zu entfernen, oder wodurch sie der Annäherung anderer zu ihr wiik'rsteht, ist eine repulsive oder Zu rück - stofsu ngs kraft (:)(S9), und zwar niuls dieselbe allen Teilen der Materie zugeschrieben werden, weil eben das Wesen der Materie in der Baumerfüllung besteht, und andernfalls der Baum an den betreffenden Stellen leer, d. h. aber überhaupt keine Materie da

*) V. Kirch mann: a. a. 0. 34 ff. **J Herbart: a. a. U. 448.

II. Die kritische Naturphilosophie.

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sein würde. Die repulsive Kraft aller ihre Teile also ist es. worauf die Ausdehnung der IVFaterie beruht, und diese erfüllt somit den Baum durch eine ihr eigene Ausdehn ungs- oder Ex])ansiv- kraft. W^äre der Grad dieser Kraft unendlicli grofs. so würde sie eine solche sein, wodurch in einer endlichen Zeit ein unendlicher Baum zurückgelegt werden würde. AVäre er uncuidlich klein, so würde durch deren unendliche Hinzuthuung zu sich seihst eine jede gegebene Zeit hindurch keine endliche Geschwindigkeit erzeugt werden k(>nnen. Beide Annahmen scheitern an dem Widerspruche einer vollendeten Unendlichkeit. Die Ausdehnun^skraft. womit jede Materie ihren Baum erfüllt, hat demnach ihren bestimmten Grad, über den ins Unendliche sowohl gröfsere, als kleinere mög- lich sind. Hierauf beruht es, dafs die expansive Kraft einer Materie auch als die Elastizität derselben bezeichnet werden kann, inso- fern die letztere im \\'iders])iele einander entgegengesetzter und ver- schiedengradiger Kräfte zu Tage tritt, die sich in ihren ursprüng- lichen Zustand wiederherzustellen strehen, sobald das sie ein- scliränkcaide Hindernis beseitigt ist. Als identisch mit der expansiven Kraft einer Materie, worauf die Erfüllung des Baumes beruht, ist die Elastizität „eine wesentliche Eigenschaft der Materie"; sie ist ur s])rüngl ich , weil sie von keiner anderen Eigenschaft der Materie abgeleitet werden kann (;^90 f.).

Man kann diese Zurückführung der Baumerfüllung der Materie auf bewegende Kraft als richtig anerkennen, man kann auch zu- gehen, die eben erwähnten Folgerungen seien vollkommen logisch daraus abgeleitet, und braucht sie darum doch nicht anzunehmen. Es kommt nämlich alles darauf an. in welchem Sinne man den Begriff der J^aumerfüllung und damit der Ausdehnung der Materie fafst. Die Behau j)tung Kants, ein jeder Teil der Materie sei nur darum Materie, weil er durch seine zurückstofsende Kraft einen I{aum erfüllt, mufs uns stutzig machen und stellt uns vor die Aufgabe, uns zunächst über den kantischen Begriff der Baum- erfüllung klar zu werden. Soviel leuchtet nämlich ein : wenn die Baum- erfüllung eine so wesentliche Bestimmung der Materie ist. dafs ihre Aufhebung den Begriff der IVIaterie selbst aufheht, wenn die Kräfte, welche die Ausdehming tragen sollen, so enge mit dieser verwachsen und gleichsam mit ihi- identisch sind, dafs beide nicht einmal in Gedanken sich trennen lassen, dann kann auch von einem Wider- spiel verschiedengradiger Kräfte, wie sie in der Elastizität vorliegt, von einer Zusammendrückung der schwächeren durch die stärkere Kraft nicht die Bede sein, wie Kant dies aus der verschieden- gradigen Beschaffenheit einander entgegengesetzter Kräfte folgert.

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B. Kant als Naturphilosoph.

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Denn ausgedehnt sein oder einen Kaum erfüllen ist eine nähere Bestimmung des Bej^ritls : einen Kaum e i n n e h m e n ; dies aber heifst niclits Anderes, als in allen P un k ten d es s elhe n unmittelbar gegenwärtig sein (388). Wenn folglich die Materie als solche einen Kaum einnimmt, so mufs sie ihn bereits vollständig er- füllen, und es ist ganz unmöglich, sich vorzustellen, wie eine derartige Materie noch in einen kleineren Kaum sollte zusammen- gedrückt werden können.

Eine Materie, die als solche einen Kaum einnimmt, ausgedehnt ist, widersteht allem Eindringen mit absoluter Notwendigkeit. Das aber ist gerade der mathematische BegrilV der Undurch- dringlichkeit, wonach Materie, als Materie, allem Eindringen schlecht- hin widersteht und einer Zusammendrückung nur insofern fähig ist. als sie leere Käume in sich enthiilt, jene absolute llndurchdring- lichkeit, die mit Kecht von Kant als eine (jualita^ occulta verworfen wird. ]V[athem<atisch soll diese Undurchdrin.ijlichkeit ja eben deshalb heifsen. ,.weil sie iliren mathematischen Kaum, ihren Begriff eines Auseinander von Teilen einfach hypostasiert. ohne ihn i)livsikalisch zu interpretieren."*) Ihr stellt Kant die auf einem physischen Grunde beruhende oder die dynamische Undurchdringlichkeit entgegen, die als eine ausdehnende Kraft, selbst die ausgedehnte Materie überhaupt erst möglich macht. Diese jedoch ist blofs relative Undurchdringlichkeit, weil sie zwar durch ''ine ^röfsere zusammen- drückende Kraft vermindert, aber doch niemals gänzlich aufgehoben werden kann (;]!)o). Eine Materie durchdringt nämlicli in ihrer Bewei^ning eine andere nur alsdann, wenn sie dni-eli Zusaniinen- drückun^^ den Kaum ihrer Ausdehnung völlig auf liebt (:>!)!). Da nun die Widerstandskraft einc^' Materie mit (hni Graden ihrer Zu- sammendrückung proportionieiiich wachsen mufs, so würde zum gänzlichen Durchdringen einer Materie eine Zusammentreil)ung der- selben in einen unendlich kleinen Kaum, mithin eine unendlich zusammendrückende Kraft erfordert, welche alxr selbst uimniglicli

ist (892).

Leider wird nur dieser Unterschied zwischen mathematischer

und dynamischer, absoluter und relativer Undurchdringlichkeit ganz hinfällig, falls man, wie Kant, die Ausdehnung der Materie so un- mittelbar mit ihrem physikalischen Grunde verknüpft. Denn damit kettet man auch die beiden Undurchdringlichkeiten an einander, und die eine hebt immer die Wirkung der anderen auf. Die mathe- matische Undurchdringlichkeit der Ausdehnung wird unverständlich,

II. Die kritische Naturphilosophie.

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*) Stad ler: u. a. O. 77

wenn sie von dynamischen Faktoren getragen wird, und die dyna- mischen Faktoren können sich nicht verändern und die Kelativität der von ihnen repräsentierten Undurchdringlichkeit beweisen, wenn sie schon selbst mit der Ausdehnung und ihrer mathematischen Undurchdringlichkeit verbunden sind. Ein Kaum, der schon in allen seinen Teilen erfüllt ist, kann niclit noch einmal durch andere Teile erfüllt werden. Eine Kraft, die mit der Ausdehnung un- mittelbar verwachsen ist, kann nicht, als Kraft, vermehrt oder ver- mindert werden. Durch die Ausdehnung wird die Kraft fixiert, durch die Kraft die Ausdehnung relativiert oder verflüssigt. Man kann es verständlich finden, wie eine reine Kraft abnehmen und wachsen, eine ausgedehnte Materie bei leeren Zwischenräumen zu- sammengedrückt werden kann; aber es ist gänzlich unverständlich, wie dies bei einer an die Ausdehnung gebundenen Kraft möglich sein soll ohne Zuhilfenahme von leeren Zwischenräumen und ohne dafs die alhu-tliche Erfüllung des Kaumes damit aufgehoben wird. Der Grund dieser Widersprüche liegt nirgends anders als in Kants fundamentaler Auffassung der Materie und des Begriffs der Kaumerfüllung. Es rächt sich hier, was in seiner Darstellung des ersten Grundsatzes des reinen Verstandes nur als eine harmlose Flüchtigkeit erschien, aber durch die Postulate des empirischen Denkens schliefslich zum klarbewufsten Grundsatz erhoben wurde, dafs nämlich Kant die Materie oder das Keale restlos in die Em- pfindung hineinverlegt und sich einbildet, in der bewufsten Wahr- nehmung der ]\laterie unmittelbar schon diese als solche zu besitzen. Die walirgenommene Materie ist selbstverständlich eine ausgedehnte, welche den Kaum kontinuierlich erfüllt: ist sie mit der wirkbchen Materie unmittelbar identisch, dann mufs natürlich auch diese eine aus^-edehnte sein. Aber ich frage : was hat es dann noch für einen Zweck, die KaumerfüUung der Materie auf Kräfte zurückzuführen und ein dynamisches Prinzip an Stelle des mathematischen zu setzen, wenn man dieses letztere darum doch nicht los wird, wenn der unverständbche Begriff der Kaumerfüllung, den man erklären wollte, in dieser Erklärung doch selbst wieder auftaucht? Eine solche Frkliirung unterscheidet sicli in nichts von der bekannten Art der Definition des „idem per idem-, welch.e die Logik in ihrer Lehre von der Definition unter den Fehlern aufzählt. Fs wird ja den Materiabsten gewifs mit Recht zum Vorwurf gemacht, dafs sie die Einheit zweier so grundverschiedenen Elemente, wie es die Kraft und der Stoff sind, in ihrer Materie nicht erklären können. Aber der nämliche Vorwurf läfst sich auch gegen den Dynamismus Kants erheben, und es macht sachlich keinen Unterschied aus, ob man

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11 Kant als Naturphilosoph.

die Materie, als Einheit von (intelligibler) Kral't und (aus^'edehntem) Stoti', für ein transsuhjektives Ding an sich ansieht, wie Büchner, oder ob man sie, wie Kant, im Subjekt festhält und ihr Sein mit ihrem Bewufstsein für identisch erklärt. Dafs die Kritfte, wodurch wir vermittelst Stofs- und Druckemptindungen überhaupt erst zum Bewufstsein der ausgedehnten Materie gelangen, unserer Wahr- nehmung dieser Materie vorangehen und also, wie Kant sich aus- drückt, a priori sein müssen, ist richtig; aber die Frage ist eben, ob es erlaubt ist, die zunächst doch blofs subjektiven Kräfte ohne Weiteres auch auf das Objekt der Materie zu übertragen und diese in ihrer objektiven Beschaffenheit für eine Synthese aus Kiaft und Ausdehnung zu erklären, wie sie es in ilirem subjektiven Dasein für uns, als Gegenstand unserer Wahrnehmung, thatsächlich ist. Dafs aus subjektiv-dynamischen Faktoren das subjektive Wahr- nehmungsbihl eines Ausgedehnten entsteht, lälst sich begreifen ; aber wie aus objektiven Kräften eine objektiv-ausgedehnte Materie er- wachsen soll, das erscheint völlig rätselhaft, und dieser Gedaidve verliert nur dann seine Ungeheuerlichkeit, wenn man, wie Kant, die objektiven und subjektiven IVozesse unklar durcheinander

tliefsen läfst.

Ein Ausweg aus allen diesen Schwierigkeiten ist nur zu ge- winnen, wenn man die Voraussetzung fallen läfst, woraus sie erwachsen sind: den kantischen Begritf der Haumeriullung oder, was dasselbe sagen will, seine unglückliche Ineinssetzung der Em- ptindung mit der Realität. Wir haben bereits früher gesehen, dafs sich ein wirklicher Unterschied zwischen dem Subjektiven und Objektiven, dorn Idealen und llealen nicht fixieren läfst, wenn man nicht zwischen beide das Mittelglied einer t r an sc e nde n t e n Kausalität einschiebt. Man mufs anerkennen, was übrigens auch Kant selbst schon angedeutet hat, ohne es jedoch weiter auszu- führen, weil es ihn von der Unhaltbarkeit seines rationalistischen Grundbestrebens hätte überzeugen müssen man mufs anerkennen, dafs der ideale Emptindiingsinhalt und das ihn bestimmende Reale sich wie Wirkung und Ursache zu einander verhalten, dafs die Empfindung und die aus ihr entstehende Wahrnehmung zw^ar das Reale abschildert und auf dieses hindeutet, aber es selbst nicht ist, so wenig wie das Bild im Si)iegel der Gegenstand, den es darstellt, ist. Hat man auf diese Weise den kantischen BegrilV der immanenten Kausalität als eine haltlose Uiktion durchschaut, dann h()rt damit zwar die JVIaterie auf, ein unmittelbarer Gegen- stand des Bewufstseins und a jjriori von ihm durchschaubar zu sein, sie tritt aus der Sphäre der Subjektivität heraus und wird zu einem

II. Die kritische Naturphilosophie.

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Ding an sich, das als solches nur mittelbar erkannt wird, und ihre transcendenten Eigenschaften können nur mehr a posteriori aus ihren immanenten Spuren im Bewufstsein von uns erschlossen werden, allein es hört damit auch die Notwendigkeit auf, der Materie selbst Be- stimmungen beizulegen, die nur widerspruchslos sich mit einander vereinigen lassen, falls ihnen keine objektive Geltung zukommt. Für den transcendentalen Idealismus Kants ist die Raumerfüllung eine objektive Eigenschaft der Materie als solcher, objektiv nicht blofs im Sinne einer idealen Objektivität im Gegensatz zum sub- jektiven Pole des Bewufstseins, sondern als unabtrennbare Bestim- mung des Realen selbst. Auf dem Standpunkt des transcendentalen Realismus hingegen ist die Raumerfüllung und mit ihr die Aus- dehnung zwar auch eine objektive Bestimmung der Materie, aber dies objektiv bezeichnet hier nur die Stelle im Bewufstsein. wo das an sich Iranssuhjektive Reale sich im Subjekt wiederspiegelt und fällt somit aus der idealen Si)häre des Bewufstseins nicht heraus. Damit ist die Riiumerfüllung, die uns unverständlich erscheint, wenn wir sie dem Ding an sich der Materie selbst beilegen, wirklich in Kräfte aufgelöst. Raumerfüllung (Ausdehnung) und Kraft sind auf zwei verschiedene Sj)hären der Existenz verteilt : die'Raumerfüllung ist ideal, die Kraft real, die Raumeriullung ist ein reines Vor- stellung smo nie nt im Bewufstsein, die Kraft ein Ele- ment im Bereich der Dinge an sich. Die Raumcrfüllung „bezeichnet-' für uns das Dasein der Materie, aber sie ist nicht diese selbst; sie ist das charakteristische Merkmal und der Aus- gangspunkt, von dem aus wir auf den Begritf der Materie geführt werden, aber das Merkmal ist nicht der Gegenständ. Wir würden es nicht anders machen, wie die Kinder, die nach dem Bild im Spiegel greifen, w^enn wir die Ausdehnung mit der Materie ver- wechselten. Das Bild der Materie im Be wu fstsein ist aus- gedehnt und räum er füllend, die Materie selbst ist nichts als Kraft. Bezeichnen wir das Ausgedehnte,'iden,Raum Er- füllende, das Stereometrische mit dem Worte: Stoff, so ist der Stoft^ durchaus nur Vorstellung in demselben Sinne, wie es Farben, Töne. Gerüche u. s. w. sind: er ist nur der subjektive Repräsentant der Materie im und fürs Bewufstsein: was er aber repräsentiert, das ist die Kraft, und diese ist es allein, die in der Realität den Begriff": Materie ausmacht. Materie also ist (transsubjektives) Ding an sich und fällt als solche nicht unmittel- bar ms Bewufstsein ; aber der Stoff tallt ins Bewufstsein, denn er ist nichts als die rein subjektive Form, worin die Materie sich für unsere sinnliche Anschauung offenbart. Materie ist das Reale

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des Stoffs, der Stoff die subjektiv- ideale Erscheinung der Materie. Unser Bewul'stsein zerrt die an sich rein in- tensiven Wirkungen, die es von der Materie erhalt, in die Welt des Extensiven, Ausgedehnten auseinander in derselben Weise, wie es aus den Lult- und Ätherschwingungen die Welt der Time und Farben aufbaut; es kann sich aber hierbei nur der intensiven oder Kraftwirkungen bedienen, weil nur die Welt des Intensiven zu der idealen Sphäre des Bewufstseins in Beziehung treten kann. Wäre also die Materie auch an sich [lusgedehnt, so könnten wir davon doch nie- mals ein unmittelbares Bewufstsein haben, und würde (lies doch für die Rolle, welche die Materie, als vermittelndes IMedium, im AVelt- prozefs spielt, ganz gleicbgültig sein, weil sie ja nur mit ihren Kräften wirksam sein kann. Daher eben ist der Materialismus eine metaphysisch unhaltbare Weltanschauung, weil er die Prinzipien ganz unnötiger Weise vervielfältigt und den ausgedehnten Stoff zu einem Ding an sich erhebt, ohne doch irgend eine Eigenschaft des- selben angeben zu kiuincn. die zur Erklärung der Erscheinungen etwas beiträgt. Der Stofi', welcher dem Materialismus als etwas so Handgreifliches erscheint, dafs er nicht einzuselien vermag, wie man diesen Urtypus alles Plausibeln leugnen könne, dieser Stoff ist m Wahrheit das Aller unbegr ei fli ch ste , er ist das absolut transcendente Prinzip in keinem andern Sinn, wie es das Ding an sich für den Kantianer ist.*)

Der kantische Dynamismus ist selbst Materialismus, weil er im dem Stoff neben der Kraft festhält, und zwar ist derselbe im Gegen-

*) Es ist für eine Theorie der Materie von fundamentaler Wiehtijrkeit, diesen Unterschied zwischen Materie und Stotl zu nuichen. Dafs die beiden Begriffe im gewöhnlichen Leben und selbst in der Wissenschaft meist als WechselbegritVe gebraucht werden, darf für (h-n Philosophen kein Hindernis sein, sie streng zu unterscheiden, sobald es das Wesen der Dinge verlangt. Weder die Engländer, noch die Franzosen sind so glücklich daran, für die Sache, um die es sich handelt, in ihrer Sprache zwei verschiedene Begriffe zu haben; schon daran liegt es, dafs die wahre, d. h. idealistische, dynamische, Theorie der 3raterie nur in Deutschland zuerst konse(iuent ausgebildet werden koiuite, während bei jenen andern Völkern die Identität der BegritVe doch immer wieder dem sinn- lichen Wahrnehmungsbilde des Stoffes das Übergewicht über das unwahr- nehmbare, intelligible, transcendente Wesen der iMaterie verschaift und damit dem llückfall in den Materialismus Vorschub leistet. Aus diesem Grunde sollte man sich doch in der Wissenschaft daran gewöhnen, zwischen jenem Wahr- nehmungsbilde, als dem „Stoff", und dem Wesen oder der transcendenten Ursache desselben als der „Materie", zu unterscheiden, wonach dann freilich diejenige Ansicht, die das Wahrnehmungsbild für eine transcendente Realität betrachtet, streng genommen, nicht eigentlich „iMaterialismus", sondern vielmehr ..Stofl- lehre" heifsen müfste.

U. Die kritische Naturphilosophie.

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satze zum vulgären transcendenten oder objektiven Materialismus bewufstseinsimmanenter . subjektiver Materialismus, weil ihm das Dasein der Materie mit ihrer Vorstellung im Bewufstsein zusammenfällt. Ks ist kein Zufall, dafs der bekannteste Gegner des Materialismus, der Kantianer All)ert Lange, in seiner Ge- schichte dieser Weltanschauung selbst dem Materialismus so sehr zugethan und eingestandenernuifsen aufser Stande ist, von dem rein sinnlichen V'orurteil des Stoffes sich frei zu machen.*) Alle strengeren Anhänger Kants müssen konsecjuenter AVeise Materialisten, wenn auch in jenem kantischen Sinne des Wortes, sein. Daher ist es für den Kantapologeten Stadler mit Kecht eine Frage ,.von grofser Tragweite," ob die Vorstellung eines reinen, d. h. ausdehnungslosen. Kraftcentrums möglich sei : ihre Bejahung würde die Voraus- setzungen der kantischen Pliih>soi)hie selbst aufheben. Kein \\' ander, wenn Stadler seine ganze Dialektik aufwendet, um nachzuweisen, „dafs die Ausdehnung als notwendige Eigenschaft an die Materie gebunden-' sei, was ihm freilich nur gelingt, indem er seine Augen gänzlich vor jenen Widersprüchen verschlielst. die bei dieser An- nahme den Begriffen der Elastizität und der Zusammendriickbarkeit anhaften.*')

Seine falsche Voraussetzung mufs natürlich Kant nui- immei- tiefer in Widersprüche und Schwierigkeiten verstricken. Betrachten wir zunächst, wie er das Problem der Teilbarkeit der Materie er- örtert !

Bei der Teilung der Materie kommt es darauf an, dafs die einzelnen Teile selbst wiederum Materie sind, denn nichts Anderes bedeutet der Begriff der physischen Teilung. Nun ist Materie das Bewegliche im Räume, zugleich aber auch das Subjekt alles dessen, was im Haume zur Existenz der Dinge gezählt werden mag. Dasjenige, was selbst nicht wiederum blofs als Prädikat zur Existenz eines Anderen gehört, das letzte Subjekt der Existenz nennt man Substanz. Materie ist also die Substanz im Kaunie. und materielle Substanz ist dasjenige im Baume, was für sich, d. i. abgesondert von allem Anderen, was aufser ihm im Räume existiert, beweglich ist. Die Teile werden sonach (hinn wiederum Materie heifsen müssen, oder eine physische Teilung der Materie wird alsdann stattfinden, wenn jene selbst Substanzen, d. h. .,wenn sie für sich beweglich und also auch aufser der Verbindung mit anderen Nebenteilen etwas im Räume Existierendes sind" (31i4). Da nun der Raum, weichen

*) Lange: Geschichte des Materialismus. L>. Aufl. Bd. II, insbes. S. 212. 213. '*) Stadler: a. O. 7.3 ii'.

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die Materie erfüllt, ins UnendliclH; iiia theiiiHtiscii teilbar ist, oder da seine Teile ins Unendliche unterschieden werden können, muls auch das Gleiche von der Materie an«,renoninien werden, und da in einem mit Materie erfüllten Kaume jeder Teil desselben rci)ulsive Kraft enth.alt, zurückstöfst und zurückgestofsen wird, so mufs folglieh ein jeder Teil eines durch Materie erfüllten Raumes für sich selbst beweglich, mithin trennbar von den übrigen als materielle Substanz durch physische Teilung sein, oder mit anderen Worten: so weit sich die mathematische Teilung des Raumes, den eine ^Materie er- füllt, erstreckt, so weit erstreckt sich auch die mr)gliclie ])hysische Teilung der Substanz, die ilin erfidlt. ,. Die Materie ist ins Un- endliche t e i 1 b a r . und zwar in Tcih\ deren jeder selbst wiederum materielle Substanz ist'' (ebd. f.).

Dafs die Materie ins Unendliche physisch teil!)ar sei, wird keineswegs schon dadurch bewiesen, weil sie es in mathematischer Hinsicht ist. Es bedarf hierzu vielmehr noch des besonderen Nach- weises, dafs in jedem aller möglichen Teile des erfiÜlten Raumes auch wirklich Substanz sei, die folglich auch, abgesehen von aUen idn-igen, als für sich beweglich existiert. Erst hierdurch wird der mathenuitische zum ])liysischen Lehrsatz und gehört nun als solcher vor das Forum der Philosophie, wo die Matliematik aufhört, eine zuständige Richterin über umzusein: ,. Die Mathematik kann zwar in ihrem inneren Gebrauche in Ansehung der ('hikane einer ver- fehlten Metaphysik ganz gleichgültig sein und im sicheren Besitz ihrer evidenten Hehauptungen von der unendlichen Teilbarkeit des Raumes beharren, was für Einwürfe auch eine an blofsen Begriffen klaubende Vernünftelei dagegen auf die Bahn bringen mag; aliein in der Anwendung ihrer Sätze, die vom Räume gcdten, auf Substanz, die ihn erfüllt, mufs sie sich doch auf Prüfung nach blofsen Begriffen, mitliin auf Metaphysik einlassen" (:)})T. '.W)^)).

Es hiefse den mathenuitischen mit dem nu^taphysischen Stand- punkt verwirren, wenn man etwa gegen diese Annahme einwenden wollte, sie werde dem Mathematiker nicht gerecht, wonach die rei)ulsiven Kräfte der Teile elastischer Materien bei gröfserer oder kleinerer Zusammendiückung der letzteren in einem bestimmten Verhältnis i h r e r E n t f e r n u n g e n v o n e i n a n d e r stehen. Wenn die Materie als solche ausgedehnt oder stofflich und jeder Teil des Raumes mit ihr erfüllt ist, dann kann ja von Entfernung nicht die Rede sein, und die ganze Rechnung des Mathematikers mufs hin- fällig werden, da sie sich auf etwas Unwirkliches bezieht. In- dessen verfehlt man nach Kant gänzlich den Sinn der Mathematik und mifsdeutet ihre Sprache, wenn man das, was zum Verfahren

II. Die kritische Naturphilosophie.

der Konstruktion eines Begriffes notwendig gehört, dem Begriffe im Objekt selbst beüegt. ,,Denn nach jenem kann eine jede Be- rührung als eine unendlich kleine Entfernung vorgestellt werden. Bei einem ins Unendliche Teilbaren (hirf darum noch keine wirk- hche Entfernung der Teile, die bei aller P^r Weiterung des Ixaumes des Ganzen immer ein Continuum ausmachen, angenommen werden, obgleich die Mr)glichkeit dieser Erweiterung nur unter der Idee einer unendlich kleinen Entfernung anschaulich gemacht werden kann-' (:){)()). Ganz anders steht es mit dem Einwand, welchen die Metaphysik von ihrem Standpunkt aus gegen die Annahme der unendlichen Teilbarkeit der .Alaterie erhebt. Kant selbst vermag sich dessen Bedeutsandceit nicht zu verhehlen.

Es wird nändich hierbei eine unendliche Menge von für sich bestehenden Teilen angenommen, „deren Begriff es schon mit Mch führt, dafs sie niemals volleiulet vorgestellt werden könne", d. h. wir sind damit glücklich in den Widerspruch einer vollendeten Unendlich- keit hineingeraten, den Niemand mit Recht so sehr ))ekämj)ft liat. wie gerade Kant. „Man kann wohl von einer endlosen Teilbar- keit des Raumes und auch ihr ihn erfüllenden Materie sprechen: bei solcher entstehen die wirklichen Teile erst in Folge der wirk- lichen fortschreitenden Teilung und haben, als Teile, vorher keinen Bestand, sondern liiefsen bis dahin mit dem gröfseren Räume oder der Materie in Eins zusammen. Allein etwas Anderes ist es. wenn ich, wie Kant es thut, die Materie mit repulsiveii Kräften ihrer Teile ausstatte; dann müssen diese Kräfte, also auch die Teile der Materie, an der sie haften, schon vor der ausgeführten Teilung bestehen, und dann ist der Widerspruch olfen vorhaiuh n, dafs die letzten Teile, deren Unerreichbarkeit in der unendlichen Teilbarkeit ausdrücklich gesetzt ist, dennoch als mit Kräften ausgestattet. d. h. als vorhanden und existieiend. behauptet werden". ^^) Kant mufs die Berechtigung dieses Einwandes vom Standi)unkt der dogmatischen Metaphysik aus zugeben: „Denn ein (ganzes mufs doch alle die Teile zum voraus insgesamt schon in sich enthalten, m die es geteilt werden kann. Der letztere Satz ist auch von eineai jeden Ganzen, als Dinge an sich selbst, angezweifelt gewifs-'^-^-^ (3JJ7).

Wie nun? soll man dem Geometer zum Trotze sagen: der Raum ist nicht ms Unendliche teilbar, oder dem Metaphysiker zum Ärgernis: der Raum ist keine Eigenschaft eines Dinges an sich

*) V. Kirchiiiaiiii: a. a. O. 13.

**) Wobei es freilich unerklärlich bleibt, wie Kant von den nach seiner Meinung pänzlich unbekannten Din.iren an sich „unzweifelhait Gewisses-' aus- sacren kann.

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B. Kant als Natur[)hilosoph.

und also die Materie kein Ding an sich selbst, sondern blol'se Erscheinung unserer äufseren Sinne überiuiupt, sowie der Eaum die wesentliche Form derselhen? Das erste wäre ein „leeres Unter- fangen, denn Mathematik läl'st sich nichts wegverniinftehr' (;i98). Kant entscheidet sich daher für die andere Annahme, dafs Materie und Raum nur subjektive Vorstelhingsarten uns an sich unbekanntei- Gegenstände seien. „Denn was nur dadurch wirklich ist, dafs es in der Vorstellung gegeben ist, davon ist auch nicht mehr gegeben, als soviel in der Vorstellung angetroffen wird, d. i. soweit der Progressus der Vorstellungen reicht. Also von Erscheinungen, deren Teilung ins Unendli(;he geht, kann man nur sagen, dafs der Teile der Erscheinung soviel sind, als wir deren nur gehen, d. i. soweit wir nur immer teilen mögen" (;]\}S). Hier existieren die Teile, als zur fCxistenz einer Erscheinung gehörig, nur in (t e d a n k e n , nämhch in der Teilung selbst. „Nun geht zwar die Teilung ins Unendliche, aber sie ist doch niemals als unendlich gegeben: also folgt daraus nicht, dafs das Teilbare eine unendliche Menge Teile an sich selbst und aufser unserer Vorstellung in sich enthalte, darum weil seine Teilung ins Unendliehe geht. Denn es ist nicht das Ding, sondern nur diese Vorstellung desselben, deren Teilung, ob sie zwar ins Unendliche fortgesetzt werden kann, dennoch niemals vollendet, folglich ganz gegeben werden kann und also auch keine wirkliche unendliche ]\lenge im Objekte (als die ein ausdrücklicher AViderspruch sein würde) beweiset*' (ebd.).

Wir haben hier eine der wenigen Stellen vor uns, wo die meta- physischen Anfangsgründe ausdrücklich auf die Resultate der Ver- nunftkritik sicli stützen, obwohl Kant t'S unbegreiflicher Weise unter- läfst, auf den Zusammenhang dieser Stelle mit der zweiten seiner Antinomieen hinzuweisen. Da wir diese haben verwerfen müssen, so können wir auch in seiner Berufung auf den transcendentalen Idealismus nicht mehr als eine ausweichende Wendung erblicken, wodurch die Schwierigkeiten des in Krage stehenden Problems nicht aufgehoben w^erden. Es heilst nun einmal nicht, einen Widerspruch lösen, wenn man ihn einfach von dem objektiven ins subjektive Gebiet hinüberspielt. Denn der Widerspruch, der, falls er ein objektiver ist, als eine reale Thatsache einfach hingenommen werden müfste, wird zur Unerträglichkeit, wenn und solange er dem Geiste selbst anhaftet. In der Vernunftkritik hatte die kantische Lösung der Antinomie doch innnerhin noch einige Wahrscheinlichkeit; in der Dynamik der metaphysischen Anfangsgründe hat sie auch diese nicht mehr, weil hier Kant jedes einzelne Teilchen des Raumes vorher schon mit repulsiven Kräften ausgestattet hat, und man doch

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nicht annehmen kann, dafs diese, ebenso wie die Teile, erst in dem Augenblick entstehen, wo die Teilung in Gedanken ausgeführt wird. Es hilft daher auch gar nichts, wenn Kant zur Bestätigung seiner Ansicht sich auf Leibniz beruft (H{)!)f. ). Mag dieser immerhin behauptet haben, der Raum samt der Materie enthalte nicht die Welt von Dingen an sich selbst, sondern nur doren Erscheinung und sei nur die Form unserer äufseren sinnlichen Anschauung: den gleichen Sinn, wie Kant, hat er doch jedenfalls nicht mit diesem Satz verbunden, deini Leibniz hat niemals aufgehiüt. eine Welt von realen Dingen an sich und deren begriffliche Erkennbarkeit vorauszusetzen.

Mit seiner Rehauptung, dals die Materie als solche stofflich sei, hat Kant sich thatsächlich in ein Labyrinth verirrt, aus dem er nicht m(dir herausfinden kann. Wie anders nimmt sich gegen diese Hilflosigkeit die spekulative Kühnheit aus. womit er früher in seiner Physischen Monadologie die Schwierigkeiten des Unendlichkeits- Problems zu überwinden wufste ! Damals hatte Kant thatsächlich den Widt'i-spruch zwischen der unendlichen Teilbarkeit des ]\aumes und dem logischen Postulat einer endlichen Anzahl von Substanzen dadurch gelöst, dafs er die Substanz als solche gänzlich vom Räume unterschieden liatte. Er hatte angenommen, das Stoffliche oder die Ausfüllung des R:iunies beruhe nur auf den repulsiven Kräften der Monade, als dem ])unktuellen Sitz der Kraft, teilhar sei also nur die i'äumliche S])häre seiner Wirksamkeit . aber nicht das wirkende bewegliche Subjekt selbst. Jetzt weist er diese Ansicht der Monadisten weit von sich und hehauptet, die Hypothese eines Punktes, der durch hlofse treibende Kraft uihl nicht vermittelst anderer gleichfalls zurückstofsenden Kräfte einen Kaum erfüllt, sei „gänzlich unmöglich*', ja, er unternimmt es sogar, dies durch ein Beispiel zu beweisen. Er meint nänüich. zwischen je zwei Punkten A und a welche den Halbmesser der Si)häre der Wirksamkeit von A bezeichnen, könne, so klein man sich auch diese Entfernung denken möge, immer noch ein drittel- Puid<t c angenommen werden. d(T ebenso den beiden Punkten A und a widerstehen müsse, wie A demjenigen widerst(>ht. was im Punkte a der Sphäre seiner AVirk- samkeit einzudringen trachtet, und zwar weil diese sonst ungehindert sich einaiuler nähern, mithin im J\udvte c zusammentrefien. d. h. den Raum durchdringen wünkm (.SOf) f.). Ohne näher auszuführen, dafs dieser Schluls sich ebenso für den zwischen A und c liegenden Punkt I) und in derselhen Weise bis ins Unendliche wiederhohMi. die An- nahme mithin in den Widers])ruch einer vollendeten Unendlichkeit verwickeln würde, ist sie auch darum schon unhaltl»ar. weil

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ja Tiaoh der Lehre der Monadistei) ii und alle zwisclien ihm und A liegenden i^inkte, lediglich Punkte im Kaum darstellen, mithin schon durch die Katur des letzteren hinreichend von einander unter- schieden und gesondert sind. „Das einzig Tliiitige ist hier die Mon:ide in A ; alle l^mkte im Eaume, der sie umgieht. sind dagegen völlig trüge und hahen für sich weder eine anziehende, noch al)- stoi'sende Kraft; sie sind hlofs von der abstofsenden Kraft der Monade erfüllt und nur vernni^e dieser, nicht vermöge eigener Kraft halten sie andere Monaden von der Ainiälierung zu sich ah. Deshalb ist es falsch, dafs ohne eine repulsive Kraft in c die Punkte A und a sich nähern und in c zusammenfallen würden, und damit fallt der ganze P>eweis gegen die i\Ionadenlehre, die Kant selbst in seiner Dissertation mit grofsem (jeschick verteidigt hat.-'*)

Stadler nennt die Entwickeliing dieser Lehre Kants von der Physischen IVFonadologie zu den metaphysischen Anfangsgründen ,.einen l)e(leutsamen P^rtrag den- kritischen Umwälzung/'*') Wer ihre frühere Darstellung mit dieser Umarbeitung unbefangen ver- crleicht. der wird freilich in dieses Lob nicht einstimmen kiniiien. Bedenkt man, welche ]^)lle früher das Unendlichkeitsproblem m seinem Denken spielte, wie es mehr als einmal an den Wen(lej)unkt(Mi seiner gedanklichen Entwickelung ihm zur Gewinnung der niichst- hr.heren Stufe verhalf, und mit wie sicherem Takte Kant überall mit ihm fertig zu werden wnl'ste, so muls die Art und Weise, wie er ihm jetzt einfach aus dem Wege zu gehen und die frühere geniale Konzeption durch soi)histische (TCgenbeweise in MifsknMÜt zu bringen sucht, einen überaus kläglichen P^indruck machen. Es kann ])ietätslos erscheinen, dies so offen auszusprechen, aber ^'o eine kritiklose Be- wunderung vor den grofsen Leistungen Kants und ein blindgläubiges Nachbeten seiner transeendental-idealistischen Dogmen sich gegen jede andersartige Meinung i)rinzipi(41 ablehnend verhält, da wird die Pietät nur allzu leicht zum äufseren Deckmantel (Muer schwächlichen (lesinnung, und während die falschen Ansichten eines Mannes, wie Kant, pietätvoll beschiuiigt und gehätschelt werden. l)h)fs weil sie das Zeichen seines Geistes tragen, wird dadurch die Wissenschaft auf ihrem Wege aufgehalten.

Die Aufgabe der Dynamik bestand darin, den Begriff der Materie, als des Beweglichen, das den j^aum erfüllt, zu konstruieren, d. h. ihn auf diejenigen Kräfte zurückzuführen, welehe jenen Be-^riff in unserem Verstände zusammensetzen. Jst nun diese Aufgabe mit

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der Aufstellung einer repulsiven Kraft gelöst? Diese Frage müssen wir verneinen. „Die Materie würde durch ihre repulsive Kraft allein innerhalb keinen Grenzen der Ausdehnung gehalten sein. d. i. sich ins Unendliche zerstreuen, und in keinem anzugebenden Ixanme würde eine anzugebende Quantität Materie anzutreifen sein. Folglich würden bei blofs repellierenden Kräften der Materie alle Päume leer, mithin eigentlich gar keine Materie da sein'' (4<HI). Es möchte scheinen, als ob die repulsive Kraft vielleicht könnte ..durch sich selbst eingeschränkt werden." Aber dies ist unmöglich, ,.weil die Materie dadurch vielmehr bestrebt ist, den Raum, den sie erfüllt, kontinuierlich zu erweitern". Die Materie kann auch nicht durch den Baum allein iinierhalh einer gewissen (grenze der Ausdehnung festgehalten werden. ,. Denn dieser kann zwai' den Grund davon enthalten, dafs bei Erweiterung des Volumens einer sich ausdehnenden Materie die ausdehnende Kraft im umgekehrten Verhiiltnisse schwächer werde, aber weil von jeder l)e\\egenden Kralt ins Unendliche kleinere Grade möglich sind, niemals den (irund enthalten, dafs sie irgendwo aufhöre'^ (ebd.).

Aber kann durch die Zeistieuung der Materie ins Unendliche ein leerer Baum entstehen? Diesen Einwand hat Schwab gegen Kant erhoben, wenn er die Entstehung' derartiger leerer l^äume. als im ^\'i(ler- spruche mit der unendlichen ^JVulbarkeit des Baumes, zurückweist. Er sagt: ,.Li der That ist unter der Voraussetzung, dafs die Materie ins Unendliche teilbar ist, eine jede noch so kleine l^)rtion ]\Iaterie, deren Teile eine zurückstofsende Kraft, mithin eine Tendenz haben, sich von einander zu entfernen, eine unversiegbare Quelle von Aus- strömungen, die nach allen Richtungen gehen und sich im un- endlichen Baume verbreiten. Daraus also, dafs die Materie sich ins Unendliche zerstreut, folgt keineswegs, dafs alle J^äume leer und keine ]\Iaterie mehr vorhanden sein werde.*'*) Stadlei- nimmt Kant auch hiergegen in Schutz, indem er bemerkt, der leere Baum werde von diesem ja nur als die Grenze aufgefafst, welcher sicli der Zustand der iVIaterie im Laufe der Zeit immer mehr nähern würde. „Da Materie nicht entstehen kann, so würde das vorhandene t^uantuni der Materie sich mit der Zeit in einen imnu'r gröfseren Baum aus- l)reiten. Das in irgend einem bestimmten Baume gegebene (^)uantum Materie würde daher immer kleiner werden, würde der (Trenze () zustreben, und der betreffende Baum wäre von einem leeren gar nicht mehr zu unterscheiden."**) Allein wenn die ]\raterie als solche

* ) V. K i rchina n n: a. a. O 4J. **) Stadler: a. a. O. öJ.

*) Schwal): a. a. O. ;J7. **j Stadler: a. a. (). 8(i f.

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ausgedehnt ist und den Kaum vollkommen bereits ausfüllt, worin sie sich befindet, so ist ein derarti.cjes Entweichen eines (Quantums Materie aus einem bestimmten Räume eben ganz unmö^^lich, es sei denn, dafs leere Zwischenräume schon vorhanden wären, deren An- nahme ja Kant durch seine Lehre gerade zu umgehen sucht. Dabei vermag Stadler seine Verteidigung Kants auch nur dadurch zu führen, dafs er dessen Worten einen Sinn unterlegt, der in ihnen unmittelbar nicht enthalten ist. So stützt er sich auf das Wort „eigenthch^' bei Kiuit und meint, Kant habe sagen wollen: „es wäre noch Materie da. aber nur nneigentliche, d. h. Materie von unendlich kleiner Masse ; sie würde existieren, aber nur für den X^'rstand. nicht mehr für die Anschauung."*) Diese Einschränkung kann seihst vom Standpunkte des transcendentalen Idealismus aus nicht für zu- lässig gelten. Denn Materie ist nicht Ding au sich, sondern Er- scheinung, ist Gegenstand einer miiglichen Anschauung: ist sie dies nicht, so ist sie überhaupt nicht - eine „uneigentliche Materie,-' die niemals Gegenstand einer irgend wie gearteten sinnlichen An- schauung werden kann, ist cm widersinniger liegritf. und eine Philosophie, die Anspruch darauf erhebt, eine kritische zu sein, wird gut thun, sich seiner nicht zu bedienen. Wenn Stadler zu- giel)t, dafs überhaupt noch ]\laterie da ist. wie unendlich klein auch ihre Masse sein möge, so ist damit die kantische Besorgnis vor einem durch die Zerstreuung der iVIaterie entstehenden leeren llaum für unbegründet (^rklärt. So sieher, wie das Vorhandensein einer Materie für Kant ist, auch dort wo unmittelbar nur leerer Kaum zu sein scheint, so sicher niüfste. vorausges(^tzt, dafs der Begrifl" der Materie überhaupt im Vi rstande einmal feststeht, ihre Existenz behauptet werden, auch wo sie selbst von so unendlich kleiner Masse ist, dafs sie nicht unmittelbar in die Anschauung hineinfällt ; es be- dürfte dann eben nur einer feiner organisierten sinnlichen An- schauungsart, um sie als solche auch wahrnehmen zu kiunu^n.

So zieht die falsche Fundamentalvoraussetzung einer stoiflichen Materie ihre verderblichen Kreise immer weiter und wird auch Schuld daran, dafs die Al)leitung der zweiten Gi-undkraft der Materie nicht als genügend betrachtet werden kann. Aus der Möglichkeit einer Zerstreuung der Materie, welche den Hegriif derselhen zer- stih-en würde, falls sie blol's repulsive Kraft besäfse. schluMst nändich Kant, es müsse neben dieser noch eine andere in entgegengesetzter Richtung der reimlsiven, mithin zur Annälierung wirkende, d. h. eine Anziehungskraft, angenommen werden {:\s\)). „Da nun

•) Ebd. 87,

diese Anziehungskraft zur JMöglichkeit einer Materie, als ^laterie. überhaupt gehört, folglich vor allen Unterschieden derselben vorher- geht, so darf sie nicht blofs einer besonderen Gattunix derselben, sondern mufs jeder Materie überhau])t. und zwar ursprünglich beigelegt werden. Also kommt aller Materie eine ursprüngliche Anziehung, als zu ihrem AVesen gehörige Grundkraft, zu (40 1).

Die iVlaterie ist sonach das Resultat aus zwei Grundkräften. der Anziehungs- und der Al)stofsungskraft. So wenig die Abstofsungs- kraft für sich allein ausreicht, um die den Raum erfüllende Materie verständlich zu machen, so wenig vermag dies auch die Anziehungs- kraft. Wenn bei der Annahme einer blolsen Abstol'sungskraft die Materie sich ins Unendliche zerstreuen und keinen Raum einnehmen würde, so würden infolge einer blofsen Anziehungskraft alle Teile der Materie sich ohne Hindernis einander nähern, sie würden in einen mathematischen l^udvt zusammenfallen, und der Kaum würde eben- falls leer, mithin ohne Materie sein. Die eine Kraft setzt also immer die andere voraus und erfordert sie, wenn sich uns der Begriff der Materie nicht in Nichts verflüchtigen soll. In dw diskursiven Betrachtung war es nötig, jede zunächst für sich allein zu erwägen, um zu sehen, was sie „zur Darstellung einer Materie leisten" könnte. In der Wirklichkeit vermag keine ohne die andere zu sein, weil erst aus ihrem Zusammenwirken die Materie entstehen kann (402 f.).

Damit dafs also beide Kräfte gleich notwendig sind, um den Begriff der Materie zu konstruieren, scheint es nun schwer vereinbar zu sein, dals sie in unserer Betrachtung nicht den gleichen Rang einnehmen. „AVenn Anziehungskrait selbst zur Möglichkeit der M^aterie urs])i'ünglich erfordert wird, warum bedienen wir uns ihrer nicht ebensowohl, als der Undurchdringliehkeit zum <'rsten Kenn- zeichen einer Materie? warum wird die letztere unmittelbar mit dem Begriffe einer Materie gegeben, die erstere aber nicht in dem Be- griffe gedacht, sondern nur durch Schlüsse ihm beigefügt?*' (401). Offenbar nur darum, weil die Zurückstol'sung uns sinniich gegeben ist. Jn den Empfindungen des Druckes und Stofses glauben wir sie uninittell)ar wahrzunehmen, wohingegen die Anziehung uns in keiner Em])Hndung gegeben, das Objekt uns durch sie nicht räumlich hestimmt, ja, bei ihr uns nicht einmal der Ort bekannt ist. aus dem heraus sie ihre Wirksamkeit äufsert. Das ist die Ursache, warum diese „uns als Grundkraft so schwer in den Kopf will," und uns als die nächste Bestimmung der raumertüllenden Materie die Un- durchdringlichkeit erscheint (ebd. f.).

Trotzdem wäre es sehr übereilt, die Anziehung darnm weniger für eine Grundkraft zu halten, weil sie nicht sinnlich gegeben ist.

D r e w ö , Kants Naturphilosophie. 2U

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B. Kant als Naturphilosoph.

Es ist ja ganz richtig, dafs die Repulsion sich uns unmittelbar in der Berührung der Materien offenbart, ja, die Berührung ist schliefslicli auch selbst nur ein Effekt der Undurchdringlichkeit. Berührung in mathematischem Sinne ist die gemeinschaftliche Grenze zweier Räume, die also weder innerhalb des einen, noch des anderen Raumes ist. Diese mathematische Berührung liegt der ])hysischen zu Grunde, aber sie macht sie allein nicht aus. Zu ihr mufs. damit die letztere daraus entspringe, noch ein dynamisches Verhältnis, und zwar nicht der Anziehungskräfte, sondern der zurückstofsenden. d. i. der Undurchdringlichkeit, hinzugedacht werden. ,,Beriihrung im physischen Verstände ist die unmittelbare Wirkung und Gegenwirkung der Undurchdringlichkeit (403), oder sie ist „Wechselwirkung der repulsiven Kräfte in der gemeinschaftlichen Grenze zweier Materien'' (404). Eine solche Wechselwirkung ist, wie wir bereits oben sahen. nur m()glich, wenn die Materie „einen Raum in bestimmtem (irade eriüUt,-' und dies hängt wiederum ab von der Anziehungskraft, welche die Expansivkraft auf bestimmte Grenzen einschränkt. 8o sehr also auch die Repulsion sich in der Berührung unsern Sinnen aufdrängt, darf sie darum doch nicht für ursprünglicher gehalten werden als die Anziehung. Vielmehr mufs diese vor der Berührung vorher- gehen, und ihre AV^irkung mufs folglich von der Bedingung derselben unabhängig sein (404). „Die ursprüngliche Anziehungskraft ist nicht im mindesten unbegreiflicher als die ursprüngliche Zurückstofsung. Sie bietet sich nur nicht so unmittelbar den Sinnen dar als die Undurchdringlichkeit, uns Begriffe von bestimmten Objekten im Räume zu liefern. Weil sie also nicht gefühlt, sondern nur ge- schlossen werden will, so hat sie sofern den Anschein einer ab- geleiteten Kraft, gleich als ob sie nur ein verstecktes Spiel der be- wegenden Kräfte durch Zurückstofsung wäre. Näher erwogen, sehen wir, dafs sie gar nicht weiter irgend wovon abgeleitet weiden kihine, am wenigsten von der bewegenden Kraft der jVIaterien durch ihre Undurchdringlichkeit, da ihre Wirkung gerade das Widerspiel der letzteren ist" (40r)).

Diese; Ausführungen sind .oH'enbar nicht so aufzufassen, als habe Kant sagen wollen, anfangs sei die Anziehung, und nachiier gehe die Berührung erst aus ihr liervor.^'^ ^'^^ "^^^^" "^ ^^'"^ \\\)rte „vor- hergehen-- ist nicht in zeitlichem Sinne zu nehmen ; die Anziehungs- kraft ist auch nicht unabhängig von der Materie, die aus ihr und der Abstofsungskraft entsteht. Das „vor" ist vielmehr logisch oder transcendental zu fassen: „es bezieht sich," wie Stadler sich aus-

*) Wie z. B. Jagielski es thut: a. a. O. 3J.

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II. Die kritische Naturphilosophie.

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drückt, „auf die transcendentale Ordnung der Bemffe in unserm Verstände. Die Berührung ist das Abgeleitete. Die bisherigen Entwickelungen geben uns keine andere Ursache, welche das Ein- dringen von Materie in den Raum einer gegebenen Materie bewirken k()nnte als die Anziehung. Ohne Attraktion würde also gar keine Gelegenheit zui* AVirkuuij: der repulsiven Kräfte, keine physische Berührung stattfinden. IMiysische Berührung, als Erscheinung, ist demnach nur vorstellbar unter der Bedingung der Attraktion, während die J{e])ulsion, als Erscheinung, nur vorstellbar ist unter der Bedingung der Beiaihrung."*) Nichts Anderes will Kant damit sagen, wenn er seine obigen Ausführungen mit den Worten einleitet: „Bei diesem Übergänge von einer Eigenschaft der Materie zu einer andern spezitisch davon unterschiedenen mufs das Verhalten unseres V e r s t a n d e s in nähere Erwägung gezogen werden" (40 1 ). Bedenklich dagegen ist es, wenn Kant von einer Erfüllung des Raumes in bestimmtem Grade s])richt. Dies ist thatsächlicli. wie auch Schopenhauer bemerkt hat. ..ein Ausdruck, dem kein Begriff entsprechen kann : denn Raumerfüllung ist Ausdruck der Extension, (^rad aber der Intension: und eine Extension der Intension ist kein Denkbares."**) Der Grund dieser Verwirrung liegt auch hier nur wieder in Kants Bestimmung der Materie als einer an sich ausgedehnten oder stofflichen. Kant mochte immerhin von ver- schiedenen Graden der zurückstofsenden Ki-aft reden, so lange er diese noch nicht als eine an sich den Raum erfüllende })estimmt hatte. War dies geschehen, so verlor er damit das Recht, statt mit extensiven, hinfort mit intensiven GWifsen zu operieren. Die extensive Gröfse der Raumerfüllung und die intensive Gröfse der sie tragenden und bewirkenden P\^raft sind keine Wechsel hegriffe. Die Kraft kann unendhch grofs, und dennoch der Raum, welchen sie erfüllt, unendlich klein sein ; man denke nur an den mit der Zusammendrückung wachsenden Widerstand der Kräfte I Die Aus- dehnung und die Kraft stehen in gar keinem angebbaren Verhältnis zu einander. Die erstere ist uns })ekannt, die letztere nicht: sollen wir jene doch einmal beibehalten, dann wird es schon das Richtigste seil], den Begriff" einer zurückstofsenden Kraft überhaupt aus dem Spiel zu lassen, die Materie als gleichmäfsig den Raum erfüllenden. d. h. kontinuierlichen. Stoff" anzusehen, woran die Anziehungskraft dann weiter keine als die höchst übertiüssige Rolle spielt, dafs sie

*) Stadler: a. a. 0. 95. **) Schopenhauer: Haiidschriftl. Naehlalts, hrsg. v. E. (irisehach

Bd. 111. 17.

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B. Kant als Natiiri)liil()S(>i)h.

diesen Stoff irmerbalb gewisser Grenzen einschränkt oder an ihm die Kontinuitiit hewalirt. P^ine solche Anschauiini]; wäre dann freilich nicht blol's ein Aufgeben d(a- dynamischen Xatiirl)etrachtung. sondern ein Verzicht auf alle Naturerklärung überhaupt. Denn nnt diesem Kontinuum eines Stoffes, bei dem nicht ai)zusehen ist, aufweiche Weise in ihn hinein Bewegung kommen sollte, ist in der Praxis rein gar nichts anzufangen, es sei denn, dal's man ihn sich doch wieder als einen aus selbständig(>n Teilen bestehenden denkt, um wenigstens dem Prinzip der Individuation nicht gänzlich Hohn zu

sprechen.

Offenbar ist dies nun auch die Ansicht Kants. Oder was Anderes soll damit gesagt sein, wenn er die Zuriickstofsungskraft. vermittelst den^- die Materie einen Kaum erfüllt, als eine Flächen- kraft. d. h. als eine solche Kraft bezeichnet, „dadurch Materien nur in der genieinschaftlichen Khiche der Berührung unmittelbar auf einander wirken können?^' (4().S). ,.I)io Vorstellung Kants ist also die. dals der K()r])er (z. B. eine Gasart) sich aus Baum- elementen von solchen stereometrischen Gestalten zusannnensetzt. dafs zwischen den sich berührenden < )l)erlläcln'n nirgends eme Lücke bleibt (etwa wie elastisch gedachte Bienenzellen ir. eifiem Bienen- körbe)."*) Nun ist aber so viel klar: entweder der Raum zwischen diesen sich berührend(Mi ObiTllächen der IVFaterie ist mit Materie ausgefüllt, d. h. Kants fundanu-ntale Annahme vnwv stofflichen Nat^iir der Materie ist richtig; dann ist die Annahme von für sich existierenden Kaumekuuenten falsch, und wir sind wieder bei .jenem trägen Kontinuum einer Materie angelangt, von der ein Nutzen für die^Erklärung der Thatsachen nicht abzusehen ist. Oder der Baum zwischen den Oberflächen ist leer, die Baumelemente sind that- sächlich durch ihre Obertlächen gegen einander abgegrenzt: dann ist Kants Annahme einer kontinuierlichen h*aunierfiillung ialsch, und es entsteht die Krage, wie die Kraft an der Obertläche eines Kaumelementes lokalisiert sein kann, welches das Nichts zum In- halt hat. Im erstem Falle hülst man die Individuation der Materie, d. h. die ])raktische Brauchbarkeit, im letztern Falle die meta- physische Denkbarkeit derselben ein: denn ein leerer Baum kann keine Obertläche haben, wofern man nicht diese sich als eine stoff- liche Hülle denkt. Dann sind aber die Kräfte wiederum übertlüssig, und die Materie besteht nur in diesem Netze von stoifliehen Hüllen, das sich nach allen drei Dimensionen des leeren Raums /.iigleich erstreckt.

II. Die kritische Naturphilosophie.

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Eine Lösung aus dieser Vv^irrnis von Schwierigkeiten scheint unmöglich. Sie ist aber sofort gegeben, wenn man das A\)rurteil der kontinuierlichen Baumerfüllung aufgiebt. Man braucht alsdann nur die Kraft in dem Mittelpunkt ihrer Wirkungssphäre sich zu denken, von dem aus sie den Baum (oder das Volumen der ihr eignenden Gestalt) nicht durch ihre substantielle Existenz, sondern durch ihre aktuelle Wirksamkeit erfüllt, so hat man nicht blofs die geforderte Individualisierung, sondern auch einen ganz bestimmten Sitz der Kraft, ohne dafs man es darum nötig hat, diesen selbst wiederum als einen räumlichen zu betrachten. ,.Nur dann gewinnt man eine scharfe mathematische Anschauung einer elementaren Kraftvvirkung, wenn man dieselbe als gerade Linie denkt: eine gerade Linie aber braucht zwei mathematische Punkte, um bestimmt zu sein ; der eine Punkt giebt an, wobei- die Kraft wirkt, der andere, wohin sie wirkt. Der Punkt, woher die Kraft wirkt, wird dadurch bestimmt, dafs man die verschiedenen (als ]\adien der Wirkungss])liäre gedachten) Bichtungslinien der Kraft- wirkungen nach rückwärts verfolgt und ihren gemeinschaftlichen Durchschnittspunkt bestimmt.^' ' ) Man mul's einsehen, dafs die Kraft als solche mit dem Baum gar nichts zu thun hat. vielmehr vollkommen unräumlich ist, dafs alle ihre Beziehungen zum Baum und seinen drei JJimensionen nur erst in ihrer Wirksamkeit zu Tage treten können. AVas uns an räumlichen Momenten der Materie gegeben ist, ist daher niclit die Materie unmittelbar, sondern nur ein Moment ihrer Accidenzen, hinter welchem die Materie selbst, als ein absolut stoffloses System von Kräften sub- sistiert. Man mufs mit dem Vorurteil endgültig brechen, als ob die Kraft nur an dem Stoff, als ihrem Träger, haften könne und mit diesem gleichsam herumgetragen würde. ]\Ian mag mit Worten noch so sehr das Gegenteil behaupten: eine solche Annahme führt doch unweigerlich dahin, den Stoff, als das im Bewufstsein un- mittelbar Gewisse, zugleich auch als das metai)hysisch Erste anzu- sehen, neben welchem die Kraft dann blofs noch zu einem sekun- diiren Moment herabsinkt. Eine solche Annahme also stürzt die Kralt wieder von ihrem Thron, in deren Erhebung über den trägen Stoff gerade das Verdienst des Dynamismus bestehen sollte. Die w^ a h r e A u s g e s t a 1 1 u n g eine r d y n a m i s c h e n 'i' h e o r i e der Materie beruht mithin in der Bückkelir zur Physischen Monadologie, nicht in der x^nnäherung an die epi k u r is c h- kartesianische Stoffphilosophie,

*) V. HartniaiiTi: Ges. Stmlion u. Aufsät/.e ( >. Aiiil. K^88). 5J/.

) v. Hartmaiiu: a. a. O. 529.

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B. Kant als Naturphilosoph.

worin sie Kant nur infolge seines falschen erkenntnistheoretisehen Ausgangspunktes, seiner Identifizierung der Sinnesenipfindung mit der Materie, zu finden glaubt.

Freilich, wenn die Kraft aus der immer nur dreidimensional zu denkenden Obertläche ihres Elementes in den Mittel] )uidvt ihrer Wirkungssphäre si(;h zurückzieht, dann kihmen die Wirkungen der abstofsenden Kräfte unter einander nicht mehr P,erührnm:s\virknngen sein. Die stofflich gedachten Kaunielemente konnten nur dadurch auf einander wirken, dafs sie sich an ihren Oberiläclien berührten. Zwischen den für sich bestehenden Kraftcenti-en, die folglich kein Kontinuum mehr büden, kann die Wirkung nur mehr eine Wir- kung in die Kerne sein, und die Frage ist. ob eine solche miiglich ist. Die grofse Masse der heutigen Naturforscher verneint die Frage noch ebenso, wie sie dieselbe zu den Zeiten Kants ver- neinte: aber diese Naturforscher stecken noch ganz und gar im Banne der kartesianischen Stotftheorie. woraus gerade Kant sie befreien wtdlte. Der Naturforscher, der im (Irunde niclits an- erkennt, als seinen Stoh" und dessen Bewegung und hiermit für seine Verhältnisse auch in der Kegel ganz gut auskommt, ist inkompetent, über diese Frage zu entscheiden. Dieselbe kann erst da bedeutsam werden, wo man das Wesen der Kraft erforscht und deren Priorität vor dem trägen, ausgedehnten StoH" erkannt hat. Sie gehört nuthin in die Natur p h i l os ]> h i e . und hier ist sie von einer Wichtigkeit, dafs von ihrer Hntscheidung nicht blofs die nähere Ausgestaltung, sondern selbst die MtigHchkeit einer dyna- mischen Theorie der ^Materie abhängt.

Wie stellt sicli nun Kant zu dieser Frage? Wirkung in die Ferne (actio in distans) ist die Wirkung einer Materie auf die andere aufser dei- Berührung, und zwar ist sie eine unnntt(>lbare Wirkung in die Ferne oder eine Wirkung der Materien aufeinander durch den leeren Kaum, sofern sie auch ohne Vermittelung zwischen inneliegender Materie stattfindet. Eine solche Wirkung in die Ferne übt nun die ursprüngliche und aller Materie wesentliche An- ziehungskraft aus. die, wie wir gesehen liaben. von aller Be- rührung unabhängig, nuthin auch von der ErfiUlung des Raumes zwischen dem Bewegenden und Bewegten unabhängig, d. h. als Wirkung durch den leeren Kaum, ersciieint (404 f.). Ist die Ke- pulsion eine Fläclienkraft, weil vermittelst ihrer Mat«n-ien nur in der gemehischaftlichen Fläche der Beriih.iung unmittelbar auf- einander wirken krmnen. so ist folglich die Attrakticm eine durcli- dringende Kraft, weil vermittelst ihnM- .Alaterie auf die Teile der andern auch über (Ue Fläche der Berührung hinaus imstande

IL Die kritische Naturphilose]>}iie.

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ist, unmittelbar zu wirken. Sie geht durch diese Teile ,.(iuer-- hin- durch, wirkt durch den Kaum hindurch, „ohne ihn zu erfüllen." und ist, als die Kraft der gesamten Materie eines Körpers, der (Quantität derselben proportional, weil sie ja, als ursprüngliche An- ziehung, diese Materie selbst erst möglich macht (408 f.).

In der Vernunftkritik hatte Kant eine solche Kraft geleugnet. Er hatte die Anziehung ohne alle Berührung zu den unerlaul)ten Hy))othesen, den ..leeren Hirngespinnsten'' gezählt, weil sie in keiner Erfahrung unmittelbar gegeben sei. Ganz anders in den ,.Metaphysischen Anfangsgründen"! Man pilegt gegen die Möglich- keit einer AVirkung in die Ferne in der Kegel einzuwenden, es sei widersprechend, dafs eine Materie unmittell)ar dort wirken solle, wo sie selbst nicht ist. ,.Allein es ist so wenig widersprechend, dafs man vielmehr sagen kann: ein jedes Ding im Kaume wirkt auf ein anderes nur an einem (3rte, wo das Wirkende nicht ist. Denn sollte es an demselben Orte, wo es selbst ist, wirken, so würde das Ding, worauf es \virkt, gar nicht aufser ihm sein: denn dieses Aufser- halb bedeutet die Gegenwart an einem Orte, darin das andere nicht ist" (405). Selbst in der Berührung tritt die Wirkung an einem Orte zu Tage, wo weder die eine, noch die andere der beiden sich beridirenden Substanzen ist. Gäbe es keine Wirkung in die Ferne, so wären die rei)ulsiven Kräfte die einzigen, oder doch wenigstens die notwendigen Bedingungen, unter denen allein Materien auf ein- ander wirken könnten, d. h. die Anziehungskraft wäre entweder ganz unnH)glich, oder doch abhängig von der Kei)ulsi(m. was bereits oben als falsch nachgewiesen wurde. ,.Sich unmittelbar aufser der Berührung anziehen, heifst sich einander nach einem beständigen Gesetze nähern, ohne dafs eine Kraft der Zurückstofsung dazu die Bedingung enthalte, welches doch eben so gut sich mufs denken lassen, als einander unmittelbar zurückstofsen, d. i. sich einander nach einem beständigen Gesetze tliehen, ohne dafs die Anziehungs- kraft daran irgend einigen Anteil habe. Denn beide bewegenden Kräfte sind von ganz verschiedener Art, und es ist nicht der mindeste Grund dazu, eine von der anderen abhängig zu machen und ihr ohne Vermittelung der anderen die Möglichkeit abzustreiten" f40G).*)

*) Cxeiren die Behuuptuno, dal's dir WirkuriL;- in »hc Ferne eiiirii Wider- sprucli entlialte, wendet auch v. Hartmann ein: ..Indessen hahe ich niemals l)e«rreifen können, wie man in der actio in distans einen Widersprucli hat finden wollen. Denn mau kennnt nicht weiter als zu den Sätzen: die Atomkraft ist am Orte A und w i !■ k t nui- dann am Orte A, wenn sie auf eine andere Atomkraft wirken kann, wo sie dann nicht hlols diese /.u sich hinzieht, sondern ebensowohl sich zu dieser hintreihl; die Atomkraft wirkt am Urte B und ist

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II. J)ie kritische Natur})hilosophie.

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Wer die Wirkung in die Ferne leugnet, für den giebt es blofs eine scheinbare Anziehung, nämlich nur eine solche durch Ver- mittelung der repulsiven Kriifte, wobei denn freilich der Kiirper, dem ein anderer sich l)lofs darum zu niihern strebt, weil er ander- weitig durch Stofs zu ihm getrieben worden, eigentlich gar keine Anziehungskraft ausübt. Die wah re Anziehung bedarf einer solchen Yermittelung durch die repulsiven Kräfte nicht, und diese mufs notwendig schon deshalb angenommen werden, weil aus der blofs scheinbaren Anziehung oder der Anziehung in der Berührung gar keine Bewegung entspringi^n könnte. Denn Berührung ist Wechsel- wirkung der Undurchdringlichkeit, die mithin alle Bewegung gerade abhält. Gesetzt aber auch, es gäbe blofs scheinbare Anziehung, so müfste ihr doch zuletzt eine wahre zu Grunde liegen, weil Materie, deren Druck oder Stofs statt Anziehung dienen soll, ohne anziehende Kräfte nicht einmal Materie sein würde und folglich die Erklärungs- art aller Phänomene der Annäberung durch blofs scheinbare An- ziehung sich im Zirkel dreht (4()() f.).

Mit Unrecht beruft maij* sicja auf Newton. ,,diesen grofsen Stifter der Attraktionstheorie, " '^"um sich der Annahme der wabren Anziehung zu entschlagen. Newton abstrahierte zwar von allen Hypothesen und stellte es dem Physiker und Meta))liysiker anheim, wie sie die unmittelbare Anziehung der Materien sich erklären w^ollten, aber doch nur. weil er sich einzig mit der mathematischen Seite des Problems befafste. Hätte sich Newton selbst auf den Standpunkt des Physikers gestellt, so bätte auch er niclit undiin gekonnt, eine ursprüngliche Kraft der Anziehung zu statuieren, weil diese Annahme, als eine notwendige Voraussetzung, seiner mathe- matischen Theorie zu Grunde liegt. (3der wie hätte er sonst den Satz aufstellen können, die allgemeine Anziehung der Körper, die sie in gleichen Entfernungen um sich ausüben, sei der Quantität ihrer Materie proj)ortioniert, wenn er nicht annahm, dafs alle Materie, mithin blofs als Materie und durch ihre wesentlicbe Eigen- schaft, diese Bewegkraft ausübe? Dazu kommt, dafs Newton auch den Äther, durch dessen Stofs man die wahre Anziehung der Körper ersetzen zu köuinen glaubt, niciit vom Gesetze der Anziehung ausschlofs. Es blieb ihm mithin gar keine andere

nicht am Orte B. Zu einem Widerspruch gehört aher, dnl's demselben Subjekt dasselbe Prädikat in derselben Beziehung zugleieli zugesj)rochen und ab- gesprochen wird, während man es hier mit den verschiedenen Prädikaten: wirken und sein oder: aktuell sein und potentiell sein zu thun hat (Ges. Stud. u. Auls. o39j.

Materie übrig, um die blofs scheinbare Anziehung zu vermitteln. Newton geriet daher mit sich selbst in Widerspruch, wenn er. ebenso wie seine Zeitgenossen, an deren Begriff einer ursprüng- lichen Anziehung Anstofs nahm. Der Metapliysiker darf sieb hier- durch nicht bestimmen lassen, weil lür ihn jener Begriff ein not- wendiger ist (407 f.).

So nimmt also Kant den Newton gewissermafsen gegen sich selbst in Schutz, indem er die Anziehung als eine reale Kraft (niclit als eine blofs hy])othetische Hilfsannabme für die Kecbimng) vom Standpunkte der Metai)bysik aus verteidigt. Kr lenkt damit nur wieder auf den alten Gedankenweg ein, den er l)ereits in seiner Erstlingsschrift betreten hatte. Schon hier war er völlig sich darüber klar gewesen, dafs eine dynamische Theorie der Materie nur unter der Voraussetzung einer Wirkung in die Ferne möglich sei. wie sie am deutlichsten in der newtonschen Ki-aft der An- ziehung sich offenbart, dafs alle bisherigen (lynamisclien Tlieorieen daran hatten scbeitern müssen, weil sie von dem leibnizsclien Vor- urteil gegen die Anziebung sich nicht frei zu machen wufsten. und dafs auch eine natürlicbe Erklärung der Entstehung des Welt- gebäudes, wie sie der mechanischen Anschauungsweise als Ideal vorschwebt, nur mit Zuhilfenahme der Attraktion erreichbar sei. Es war gleichsam nur die Bestätigung für diesen Satz gewesen, wenn Kant in seiner Naturgeschichte des Himmels tbatsächlich die Entstehung der Welt rein mechanisch aus dem Widersjiiel von An- ziebungs- und Abstofsungskraft erklärt hatte. Aber der völlige Sieg der newtonschen über die leibnizsche Naturanschauung war docb erst mit dem Nachweis vollzogen, dafs die Annahme der Anzieliungs- kraft notwendig sei, weil die letztere zum AVesen der Materie selbst geb(')rte. mochte dieser Nachweis nun vom Standjiunkte der physischen Monadologie oder von demjenigen des transcendeiitalen Idealismus aus geliefert werden. Leibniz hatte die Anziehungs- knift verworfen, weil ihm die Wirkung in die Ferne nicht mit dem \\ esen der Materie vereinbar schien ; Kant zeigt, dafs ohne Wirkung in die Ferne überliaupt keine Materie möglich ist. Es lag nur an seiner falschen Hypostasierung des Stoffes, wenn er die actio in distans blofs für die Anziehungskraft gelten lassen wollte.

Hat man diesen Irrtum durchschaut, so ist kein Grund vor- handen, warum die Abstofsung nicht ebenso wohl in die Ferne wirken sollte, wie dies Kant nur von tler Anziehung postuliert. Der Unterschied der durchdringenden Kraft von der Fläclienkraft ist hinfällig : beide Kräfte wirken durch den leeren Kaum, beide, ohne ihn dadurch (in stofflicher AVeise) zu erfüllen, und auch darin

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ij. Kant als Xaturphilosuph.

Tl. Die kritische Xaturphilosophie.

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stimmen sie mit einander überein, dafs sich die W'irkungsart der

beiden von jedem Teile der Materie niif jeden anderen nnmittelbar

ins Unendliche erstreckt. Kant vcrmap^ auch dies natürlich

nur für die Anziehunj^jskral't zu beweisen. Kine Materie innerhalb

derSi)hare ihrer Wirksunikeit verma-- die letztere nielit zu begrenzen.

weil sie ja, als durchdrin^^ende Kraft, unmittf Ibar. wie durch einen

leeren Eaum, hindurchwirkt. Aber auch der Kaum, worin sie

ihren Einliufs ausübt, kann nicht Grund, sie zu beschränken sein,

weil sie, als intensive GnW'se. einen Grad hat. über d(>n immer

noch kleinere sich denken lassen, mitliin eine gröl'sere Entfernung

zwar den Grad der Attraktion vermindern, aber ilm doch niemals

v()llig aufheben kann (4()!0- ^^^^ ist klar, dafs auch die Ab-

stofsungskraft in dieser Beziehung keine Ausnahme macht, sobald

man sie einmal als Fernwirkung erkannt liat.

J )ie Wirkliciikeit zeigt uns nun aber niemals hlolse Materie, sondern immer nur bestimmte Materie, auf einen fest umgrenzten i\aum be- schränkte materielle (7 egenstände. Die Dynamik würde somit ihre Aufgabe imr halb eriullen, wenn sie nicht anzugeben wüfste, wie ein bestimmtes (^)uantuni von Materie entstehen kann. ,.Da alle ^e«'-ebene Materie mit einem bestimmten Grade der repulsiven Kraft ihren Kaum erfüllen muls. um ein bestimmtes materielles Diiig auszumachen, so kann nur eine ursprüngliche Anzirhung im Kon- flikt mit di)v ursprünglichen Zurückstol'sung einen bestimmten Grad der Rrfüllung des l^lumes nuiglich machen; es mag nun sein, dafs der erstere von der eigenen Anzn'hung der Teile der zusammen- gedrückten Materie untei' einander oder von der Vereinigung der- selben mit der Anziehung aUer Weltmaterie heiTÜhre'' (410). Aus der Anziehungskraft also in Verbindung nnt der ihr entiiegenwirkenden zurückstofsenden Kraft müfste die .Aliiglichkeit eines in einem be- stimmten Grade ert'ülltm Raumes ubirideitet werden: nur so würde der dynamische Begriif der Materie, als des Bewi^glichen. das seinen Kaum in bestimmtem Grade erfüllt, konstruiert werden. ..Aber hierzu bedarf man eines Gesetzc^s des Verhältnisses, so- wohl der ursprünglichen Anziehung, als der ZurückstoCsung, in ver- schiedenen Entfernungen dei' Materie und ihnu' Teile von einander, welcln^s, da es nun hnliglich auf di;üi Unterschiede der Kich- tung dieser beiden Kräfte (da ein Puidct getrieben wird, sich ent- weder andern zu nähern (uha- sich von ihnen zu entfernen) und auf der Grr)fse des Baumes beruht, in den sich jede dieser Kräfte in verschiedenen Weiten verbreitet, eine rem mathematische Aufgabe ist, die nicht mehr in die ]\ret:iphysik gehört, selbst nicht was die Verantwortung betriift, wenn es etwa nicht gelingen sollte,

den Begrifl' der Materie auf diese Art zu konstruieren. Denn sie verantwortet blofs die Richtigkeit der unserer Vernunfterkenntnis vergininten Elemente der Konsti'uktion, die Unzulänglichkeit und die Schranken unserer Vernunft in der Ausführung verantwortet sie

nicht" (41(J).

Nimmt man hierzu noch Kants ausdrückliche „Erklärung'', nicht zu wollen, dafs seine Darlegung des Gesetzes einer ursprünglichen Zurückstol'sung „als zur Absicht seiner metaphysischen Behandlung der Materie notwendig gehörig angesehen, noch die letztere mit den Streitigkeiten und Zweifeln, welche die erste treffen könnten, bemengt werde" (4 I Ö). so erscheint es beinahe unverständlich, wie nnm trotz- dem die folgenden Auseinandersetzungen Kants vielfach ebenfalls für ajunorisch halten und selbst ein Kuno Fischer in seiner Darstellung der kantischen Philosojdiie diesen wichtigen Unterschied zwischen der blofs mathematischen und metaj)hysischen Ausiuhrunn: verwaschen konnte.*) Lediglich als ,.eine kleine Vorerinnerung zum I^ehufe des Versuches einer solchen vielleicht mögliche n Konstruktion" will Kant es angesehen wissen, wenn er sich lierbei- läfst, „das Gesetz des Verhältnisses" der beiden Grundkräfte näher zu bestimmen. Er stützt sich hierbei darauf: von einer jeden auf einen Punkt wirkenden Kraft, könne man sagen, „dafs sie in allen Eäumen, in die sie sich verbreitet, so klein oder grofs sie auch sein mögen, immer ein gleiches (^)uantum ausmache, dafs aber der Grad ilma- Wirkung auf jenen Punkt in diesem Baume jederzeit im umgekehrten Verhältnis des Baumes stehe, in welchen sie sich hat verbreiten müssen, um auf ihn wirken zu können" (411). Kant bezeichnet diesen Satz als das „allgemeine Gesetz der Dynamik" (41 f)) und beruft sich zu seiner Bestätigung auf das Licht, welches sich von einem leuchtenden Punkte allerwärts in Ku<.n']tläclien aus- i)reitet. die mit den (^)uadraten der Entfernung immer wachsen: das (^biantuni der Erleuchtung in allen diesen ins Unendliche gnifseren Kugeltlüchen bleibt hier im Ganzen immer dasselbe, woraus aber folgt, dafs ein in dieser Kugeltläche angenommener gleicher Teil dem Grade nach desto weniger erleuchtet sein müsse, als jene Fläche der Verbreitung ebendesselben Licht(iuantums gnifser ist. Der Mathematiker kann sich dii^se Abnahme des Lichtes bei zunehmender Entiernung dadurch anschaulicli machen, dafs er sich Badiei; von dem erleuchtenden J^unkte nach der erleuchteten Kugeltläche hin ^^ezogen denkt. Mit der Gnifse der KugeHIäche wächst alsdaim der Winkel, m welchem die Iladien auslaufen, wächst zugleich der

*) Fischer: Gesell, d. neueren IMiil. IV. .;. Aull. fl8S?) 20. Vgl. auch V. Ki rchm a II II : a. a. (). -19 1.

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üaum, darin dieselbe Quantität des Lichtes zwischen diesen luidien gleichförmig]^ verbreitet werden soll, und um so kleiner wird folglich auch der Grad ihrer Erleuchtuni,^ (412 f.). Denkt man sicli also alle Punkte, worauf die Anziehungskraft in der gh^ichen Entfernung wirkt, auf einer KugeloberHäche liegen, so niul's nach dorn obigen Gesetz der Grad dieser Kraft um so kleiner sein, je gröl'ser die Obertläche der Kugel ist, woraus denn Kant folgert, die ursprüng- liche Anziehung der Materie wirke in umgekehrtem Ver- hältnis der (y)uadrate der Entfernung*' (il-^.

AV^eit schwieriger ist die mathematische Bestimmung des Ge- setzes für die J^epulsion. Nach der physischen- Monadologie waren es diskrete Punkte, welche durch die ihnen eigene Sphäre der AV"ij-k- samkeit den Teil des zu erfüllenden Kaumes hestimmten. und wobei man daher von Entfernungen reden konnte. Auf dem jetzigen Standpunkt«^ Kants dagegen bildet ja die Materie ein Kontinuum. die sich abstofsenden Materien berühren einander, und es ist folglich gar keine Entfernung der unmittelbar zurückstofsenden Teih'. folglich auch keine gröl'ser oder kleiner werdende Sphäre ihrer unmittel- l)aren Wirksamkeit vorhanden. Hier versagt also das Hilfsmittel des Mathematikers, durch das wir bei der Attraktion das Y(M*h;iltnis der Entfernung zum Grade dei- Kraft uns anschaulich mnchen konnten, weil bei der Berührung der Kaum, worin die Kraft ver- breitet werden mufs, um in der Phitfernung zu wirken, ein kör])er- licher Raum ist. der als erfüllt gedacht werden mufs, und divei'- gierende Strahlen aus einem l\inkte die repellierende Kraft eines k()rperlich erfüllten Baumes unmöglich vorstellig machen können. Indes ist zu beachten, dafs auch bei der Anziehungskraft jene anschauliche Konstruktion doch eben nur ein P)ild, ein Hilfsmittel für das Denken war, das jedoch mit dem wirklichen Sachvei-halte nicht verwechselt werden <lurtte. Der Mathematiker ,,will nicht, dafs man diese Strahlen als die einzig erhHichtenden ansehen solle, gleich als ob immer lichtleeie Plätze, die bei gWHserer Weite gnil'ser würden, zwischen ihnen anzutreffen wären. Will man jede solcher Flächen als durchaus erleuchtet sich vorstellen, so mufs dieselbe (Quantität der Erleuchtung, die die kleinere bedeckt, auf der gröfsern als gleichförmig gedacht werden, und müssen also, um die gerad- linige Bichtung anzuzeigen, von der Fläche und allen ihren Puidvten zu dem leuchtenden gerade Linien gezogen werden" (413). „Man mul's also aus den Schwierigkeiten der Konstruktion eines Begriffs oder vielmehr aus der Mifsdeutung (h^rselben keinen Einwurf wider den Begriff selber machen; denn sonst würde er die mathematische Darstellung der Proportion, mit welcher die Anziehung in verschie-

denen Entfernungen geschieht, ebensowohl als diejenigen, wodurch ein jeder Punkt in einem sich ausdehnenden oder zusammengedrückten Ganzen von Materie den andern unmittelbai- zurückstr)fst, treffen*' (415).

Auch hei der Zurückstofsungskraft kann man sich nämlich dadurch helfen, dafs man sich die Entfernung der nächsten Teile der stetigen Materie von einander als unendlich klein und diesen gröfseren oder kleineren Baum als im gröfseren oder kleineren Grade von ihrer Zurückstofsungskraft erfüllt denkt. Der unendlich kleine Baum ist von der Berührung nicht v(^rschieden : er ist also „nur die Idee vom Baume, die dazu dient, um die Erweiterung einer Materie, als stetiger Gröfse, an schau li ch zumachen, oh sie zwar wirklich so gar niclit begriffen werden kann" (ehd.j. Wir sagen nicht, es sei zwischen den sich berührenden ]\Iaterien in Wirklichkeit ein unendlich kh^ner Raum vorhanden, so wenig wie wir sagen wollten, dal's von einem anziehenden Punkte nach der Kugelohertläche divergierende Strahlen auslaufen; wir stellen uun dies nur in Gedanken so vor und bleiben uns des Unterschiedes wohl bewufst. welcher „zwischen dem Begriffe eines wirklichen Raumes, der gegeben werden kann, und der l'lofsen Idee von einem Räume, der lediglich zur Bestimmung des Verhältnisses gegebener Räume ged;icht wird, in der Tliat aber kein Baum ist, existiert" (4j4\ Dies festgehalten, können wir ,,schätzen" (wiewohl nicht konstruieren), dafs hei der Bepulsion die körperlichen Bäume bestimmend sind inid mithin die /urückstolsendim Kräfte der einander unmittelbar treibenden Teile der Materie in umgekehrtem Verhältnisse der Würtel ihi-er Entfernungen stehen (4lo), womit nichts Anderes gesagt ist als: „sie stehen in umgekehrtem Verhältnisse dei- kötrperlichen Räume, die man sich zwischen Teilen denkt, die einander dennoch unmittelbar berühren, und deren Entt'ernung eben darum unendlich klein genannt werden mufs. damit sie von aller wirklichen Entfernung unterschieden werde" (-±10). Man mul's imr immer irenau die Grundkräfte der Materie von den aus ihnen erst abgeleiteten Klüften unterscheiden, so wird man sich dadurch nicht irre machen lassen, wenn man auf eine Kraft stöfst, welche den angefüln-ten Gesetzen nicht ents])richt (ebd. f.).

detzt begreift sich, wie durcli Wirkung und Gegemvirkung beider Grundkräfte Materie von einem bestimmten Grade der Er- füllung ihres Baumes mciglich ist: die Zurückstofsungskraft wächst bei Annäherung der Teile in einem bei Weitem gröfseren Mafse als die Anziehung; dadurch bestimmt sie die Grenze der Annäherung, über welche keine gröfsere Anziehung möglich ist, mithin auch jenen Grad der Zusammendrückung. der das Mafs der intensiven Erfüllung des Baumes ausmacht (41ijf.).

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B. Kant als Naturphilosoph.

Wir brauchen nicht noch einmal auszuführen, dais von einer Zusaniniendriu'kuni,^ (h'r Materie nnd (hiniit von einer bestimmten Kaumerlulhin,!^^ auf einem Standpunkte überhaupt nicht die l\ede sein kann, der die Materie als ein stoti'liches Kontinuum betrachtet, das jeden Teil des Raumes bereits vollständi,!]^ ausfüllt. Die kantische Materie ist, ^amau betraclitet, der all.i^emeine Urbrei, in weh'liem gar nichts, niclit einmal ein einzelnes Element zu unterscheiden ist; denn die Anziehun,L,^skraft, die jedem einzelnen Elemente, ganz ebenso wie die Abstofsungskraft, zukommen soll, kann doch erst bei einer Zusammenhäufung melirer Elemente ihre einschränkende und be- stimmend«^ Wirkung ausüben, für die HesoiKh^ning des einzelnen Elementes dagegen erscheint sie belanglos, da sie ja bei jedem in d<T gleichen Weise wirkt. (Tie})t es aber für das einzelne Element kein Prinzip der Individuation, dann ist auch ebenso eine Zusammen- häufung mehrer Elemente unm(")glicli. und wir kommen aus dem all- gemeinen Trbrei nicht heraus. Indem Kant die Kiaft vi'dlig in den Stoff hat aufgehen lassen, hat er damit alle Mittel eingebiifst. Unter- schiede innerhall) der Materie zu fixieren: der kontinuierliche Stoff ist die Nacht, die alle Unterschiede ausir»scht. und in der es selbst einem Kant nicht möglich ist, ein Liiht anzuzünden.

Ganz anders stellt sich die Sache dar, wenn ni;ni die Materie nicht als ein (stoffliches) Kontinuum, sondern als das Widers|)iel der Kraftiiul'serungen für sich bestehender, diskreter Monaden be- trachtet. Dann ist ein Zusanimentliefsen der letzteren um so weniger zu besorgen, als ja die Monaden nach dieser Auffassung gar nicht als ]\lona([en. d. h. als substantielle Träger ihrer Kräfte, sondern nur mit ihren Kraft äu fs er u nge n sicii berühren. Dann ist aber auch kein Grund vorhanden, die Kraftäufserung einer jeden einzelnen Monade für ])ositiv und negativ zugleich zu halten; denn wenn die Ausdehnung oder Stofflichkeit kein notwendiges Prädikat der Materie ist und jene auf der Abstofsungskraft beruht, dann hiirt die Monade damit nicht auf, ein Element der Materie zu sein, wenn sie blofs anziehende Wirkung ausübt. Es erscheint jedenfalls einfacher, an- zunehmen, dafs sich die beiden Grundkräfte auf zwei verschiedene Arten von Monaden verteilen, von denen mithin die (une nur An- ziehungskraft, die andere nur Abstofsungskraft besitzt, eine An- nahme, w(dcher auch die moderne Physik sich zuneigt, indem sie die beiden Grundelemente der Materie als K ö r p e r- und A e t h e r - a to m e von einander unterscheidet. Körper- und Ktirperatome ziehen sich an. und es hindert nichts, die kantische Annahme beizubehalten, dafs diese Anziehung im umgekehrt «juadratischen Verhältnis der Entfernung stattündet. Äther- und Atheratome stofsen sich ab. und

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zwar im umgekehrten Verhältnis einer höheren, vielleicht der dritten Potenz ihrer Entfernung. Äther- und Körperatome stofsen sich auf kleine (Molekular-)Entfernungen gleichlalls ab. weil die ahstofsende Kralt des Atheratoms mit Verminderung der Entfernung weit schneller zunimmt, als die anziehende Kraft des Körperatoms. In einer ge- wissen P]ntfernung halten folglich heide sich das Gleichgewicht; darüber hinaus aber mufs die Anziehung überwiegen, wenn nicht infolge der abstofsenden Kraft der Atheratome die Materie sich ins Un- endliche zerstreuen soll.*)

Wie steht es nun um den a])riorischen Charakter der Dynamik, den Kant ihr durch die Konstruktion der Materie aus ihren beiden Grundkräften gesichert zu haben glaubt? Di(^se Frage ist ent- scheidend in den Augen Kants. Denn nur auf apodiktische Ge- wifsheit, die nach seiner Ansicht einzig in ihrer A])riorität begründet ist, kam es ihm ja bei diesem Ausbau seiner naturphilosophischen Prinzipien an , und nur weil ihm dessen apriorisclier Charakter selbst zweifelhaft geworden war, war er iWivr den Standpunkt der Physischen Monadologie hinausgeschritten und hatte er sich zunächst um die Voraussetzungen einer apriorischen Erkenntnis überhau])t bemüht. Zwischen der Physischen ^Monadologie und den ,..Meta- physischen Anfangsgründen" in der Mitte türmte sich das Piesen- werk der Vernunftkritik auf. Welchen Nutzen hatte ihm dies Werk verschafft, und hatte jene Konstruktion der IVIaterie aus ihren Kräften, die er aus den Voraussetzungen der Vernunft kritik heraus vollzogen hatte, wirklich die ersehnte Aj)riorität gebracht?

Wenn der AV^^rt der Dynamik an diesem Mafsstab gemessen wird, so ist derselbe freilich gleich nuli anzuschlagen. Jene ganze Konstruktion der Materie ist so wenig apriorisch, wie es der Grund- satz der Antizipationen der Wahrnehmungen war, worauf sie Kant errichtet hatte. Natürlich ; man erwäge nur. wie Kant zu seinem Dynamismus gekommen war. JJeii ersten Anstofs hierzu hatte er von Newton erhalten; er hatte in dessen Anziehungskraft das Mittel erkaimt, um ihn in sj)ekulativer Weise durchführen zu können. Aber auch über die Bedeutung der J\e])ulsion war er sich erst durch das Studium Newtons klargeworden. In seiner ,, Naturgeschichte des Himmels" hat er diesen Ursprung der beiden Begriffe in naiver Weise selbst enthüllt: er bezeichnet sie hier einfach als „aus der new ton sehen Weltweisheit entlehnt-' (vgl. oben S. 'J3). Also nicht durch einen originalen Denkprozefs hat Kant sie aus den Tiefen der \'ernunft hervorgeholt, sondern er hat sie einlach

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*) v. Halt mann: J'liilo.soi.liic d. l^nlanvufsten (10. Aufl.) II. JO<l— 104.

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von aufseii auf^erioinnien, und er hat keinen aiulereii BeglaubiguiiG^s- scliein dafür als ihre empirische Bestätigung durch die Natur. Erst nachtraglich, nachdem er sie vorher heimlich in diesen Schacht ver- senkt, hat Kant sie in begriill icher Form wieder aus der Vernunft hervorgeholt ; al)er es gehört schon die ganze Befangenheit des Kationalismus dazu, um sie darum weniger für em])iriseh zu halten. Dafs diese ganze Ableitung der (irundkriifte nichts weniger sei als eine a})riorischc Konstruktion im Sinne der Mathematik hat selbst ein so grofser Zauberkünstler des A])rioi-i zugegeben, wie Hegel. „Kants Verfahren,-' sagt dieser, „ist im Grunde analytisch, nicht konstruierend. Er setzt die Vorstellung dei- ^laterie voraus und fragt nun. welche Kräfte dazu gehören, um ihi'e vorausgesetzten lie- stimmuni^^en zu erhalten. Es ist dies das Verfaliren des gewrdinlichen über die Rrfalirung reth^ktierenden Erkenn(^ns, das zuerst in der Erscheinung Bestimmungen wahrnimmt, diese nun zu (Irunde legt und für das sogenannte Erklären dersidben (Trundstoflfe, auch Kräfte annimmt, welche jene Bestimmungen der F]rscheinungen hcM'- vorbringen sollen.'"^') „Ein solches analytisches, retlektieivndes Ver- fahren verdient unmöglich den Xanien einer Konstruktion des Be- i^rill'es, und es kann dasselbe keineswegs d(^n Anspruch machen, uns die innere ]\Iöglichkeit des Hegrifies aufzuhellen, mit der zugleich das Wesen des (Tegensta.ndes erkannt ist, und weh'he uns z. B. bei einer jeden geometrisclien Kiirur mit der vom Geiste selbstthätig vollbrachten Konstruktion derselben entgegenti'itt.""*) ^lit Kecht hebt daher Jagielski hervor, dafs aus diesem Grunde auch den kantischen Beweisen die Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit mangeln, die das sichere Kennzeichen einer jed(Mi Erkenntnis a ])riori bilden, und derentwegen Kant zur Be^naindunu seines Dvnaniismus den ungeheuren Umweg über die Kritik der reinen Vernunft gemacht hatte. Die in der JJvnamik 'Gewonnenen l\esultate können, was ihre Gewifsheit aid)etrifft, sich mit den Lehrsätzen <ler Mathematik nicht messen, sie sind auch jetzt noch irnuKM" blofse Hy))othese]i von einiger, vielleicht hoher Wahrscheinlichkeit und hal)en mithin hierin voi* denen der Physischen Monadologie nichts voraus, ja, sie sind schlechtere liv')othesen als diese, weil sie in der un'i^<'sunden Luft des transcendentalen Idealismus widerspruchsvoll verkrüi)pelt und entartet sind.

I);is scheint ein trauriges Resultat zu sinn, wenn man es mit den gewaltigen Anstrengungen vergleicht, die zu ihm geführt haben.

*) Hejrel: Lo^rik Bd. T. 1. Aull. IJl. \^x\. M^^-Vl^. "'^'*) Jagielski: a. a. O. 'j.».

Aber der Wert einer Philosophie darf nicht immer blofs danach geschätzt werden, inwieweit es ihr gelungen ist. das ihr im Grunde vorschwebende Ziel zu erreichen. Kant hat oHenbar sein eigentliches Ziel verfehlt, aber die Naturphilosophie ist hierbei nicht leer aus- gegangen. In spekulativer Hinsicht steht die Physische Monadologie entschieden über der Dynamik. Aber man bedenke, was es heifsen wollte, der allgemeinen Anschauung eines stoft'lichen Daseins, die beinahe so alt war, wie die Philosophie überhaujjt. so verbreitet, wie der Glaube an Gesi)enster und Dämonen, und die aufserdem an der sinnlichen Wahrnehmung scheinbar eine Stütze hatte, dieser An- schauung einen Dynamismus entgegenzustellen, der ebenso neu, wie unverständlich klang, der alles Bisherige auf den Kopf zu stellen und, weit entfernt, durch die Erfahrung unmittelbar bestätigt zu werden, von dieser vielmehr stets nur widerlegt zu werden schien? Da bedurfte es des Gewichtes eines ganz aufserordentlichen Namens, wie ihn der Verfasser der Physischen Monadologie noch nicht besafs, um eine solche Theorie überhaupt ernsthaft zu ])rüfen, es bedurfte der tiefsten Versenkung des Geistes in sich selbst, wie Kant sie in seiner Kritik der reinen Vernunft anbahnte, damit er sich auch in dem wiederfinden konnte, was bisher am weitesten von ihm entfernt zu sein schien, dem Stoff und dem leblosen Durcheinander der Atome. JJie Natur mufste erst völlig in die Grenzen des Verstandes hereingezogen werden, sie mufste erst ganz in dieser Glut ver- brennen, ehe sie, wiedergeboren aus dem Geiste ein Phr.nix sich aus ihm emporschwingen konnte, nun nicht mehr als toter Stolf, sondern durchseelt von geistigen Kräften.

Mufs die Ableitung der beiden Grundkräfte aus der aprio- rischen Natur unseres Verstandes als verfehlt bezeichnet werden, so ist es selbstverständlich, dafs auch die Beziehungen dieser Kräfte zu den Kategorieen nur äufserlich von Kant ausgetüftelt sein, aber nicht im Wesen der Sache begründet sein kcinnen. Die Dynamik soll die Bewegung „als zur (Qualität der Materie gehörig" be- trachten, und somit mufs Kant sich angelegen sein lassen, die unter dem Titel der Qualität vereinigten Kategorieen in der Dynamik wiederzufinden. Wie er dies fertig bringt, ist wieder einmal charakteristisch für die Art und Weise, wie Kant mit seiner Kate- gorieentafel schaltet. Oder was soll man dazu sagen, wenn er die Repulsion auf die Kategorie der Realität, die Attraktion auf die Negation zurückführt, da das Reelle (Sohde) im Räume „m der Erfüllung desselben durch Zurückstofsungskraft" beruhe, die An- ziehungskraft dagegen in Ansehung des ersteren, als des eigent- lichen Objekts unserer äufseren Wahrnehmung, negativ sei, indem.

D r e w s , Kants Naturphilosophie. 21

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B. Kant als Naturphilosoph.

,,so viel an ihr ist, aller Kaum würde clurcli(lriin,i,n^n. luitliin das Solide iränzlich au^ehoben werden-' (41(0? Als ob nicht Kant gerade gezei.^t hiitte. dal's durch die Zurückstorsung allein ohne Anziehungskraft das Solide durch Zerstreuung ganz ebenso aufge- hoben würde, wie durch die blofse Anziehungskraft! Es ist ja gar kein Grund vorbanden, die eine Kraft für positiver oder negativer anzusehen als die andere, da beide ^deich positiv oder gleich negativ sind. Daher ist es auch l«h)rs(^ Si)i('l(4-ei. wenn Kant die Einschränkung der ]lepulsion durch die Attraktion und ,,die daher rührende Bestimmung des Grades einer Erfüllung des Kaumes'' mit der Kategorie der Limitation in Verbindung setzt (ebd.). Könnte man doch mit demselben fechte bei diesem „Gesetze des Verhält- nisses" der beiden Grundkräfte sich auf die Hehition berufen, wo- mit dann freilich das ganze schöne (lebäude von Beziehungen zur Kategorieentafel über den Haufen geworfen wäre.

Die eigentliche metaphysische Ableitung der Materie erstreckt sieb, wie gesagt, nur auf ihre Grundkräfte. Schon die Erage njich der bestimmten Kaumerfüllung oder der Miigliclikeit des Kr>rpers liefs nur eine mathematische Bebandlungsweise zu. welclie bei der Unsicherheit gewisser Grundannahmen auf absolute Sicherheit keinen Anspruch machen konnte. Aber die Materie ist auch niemals blofs Materie in einer bestimmten kr)ri)erliclien (Testalt, sie hat immer zudeich auch eine bestimmte innere Beschafl'enheit in der Ge- staltung, und es erscheint für die Naturwissenschaft als „die vor- nehmste aller ihrer Aufi^^aben*' (427). diese spezifischen Ver- schiedenheiten zu erklären. Ist eine solche Erklärun^^ auf dem Standpunkt der Dyniimik möglich, und wie wird sich dieselbe ge- stalten? Das ist die Erage, bei der es sich zeigen mnfs, oi) die gefundenen Grundbegritfe für die Praxis fruchtbar, odei- ob sie blofs von rein theoretischer Bedeutung sind, .während die Natur- erscheinungen einer dynamischen Erklärung sj)otten.

Hier hat nun offenbar die mechanische Xiituranschauung beim ersten Anblick „einen Vorteil, der ihr nicht abgewonnen werden kann-' (418). Denn ohne sich anderer Voraussetzungen zu bedienen, als eines durchgehends gleicharti^u'u Stolfes. einer mannigfaltigen Gestaltung seiner Teile (Atome) und zwischen ihnen eingestreuter leerer Zwischenräume, bringt sie es fertig', di(^ ins Unendliche gehende spezihscbe Mannigfaltigkeit der Materien , sowohl ihrer Dichtigkeit, als Wirkungsart nach, nicht blofs mathematisch aus- zurechnen, sondern sogar in der Anschauung darzustellen. Genauer zugesehen ist jedoch dieser Vorteil nur scheinl)ar. Der mechanischen Naturphilosophie kommt es nämlich eigentlich gar nicht auf Er-

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kenntnis des Wesens der Naturerscheinuni^en an. sie ist keine „Experimentalpl)ilosoi)hie'' (42S), sondern ..eine blofs mathematische Physik" (41(S). indem sie mit lauter „unbedingten ursprünglichen Positionen" (4:U)) operiert, die zwar für die Kechnung höchst frucht- bar sind, aber eine metaphysische Bedeutung nicht beanspruchen können. Die absolute Undurchdrin.t.dichkeit des Stoffs, die aller eigenen Kräfte beraubte i\[aterie, die ursprünglichen Konfigurationen des Grundstoffs, mit allem diesen kann der Verstand sich nicht zufrieden geben, w^eil er ihr Wesen nicht einzusehen vermag. Vor allem aber kann er sich mit der Annahme eines leeren Kaumes nicht befreunden, deren jene Anschauung notwendig bedarf, um die s])ezitischen Unterschiede in der Dichtigkeit der Materien zu erklären, und deshalb ist er aufser Stande, die mechanische Naturbetrachtung sich anzueignen.

Wir kennen bereits Kants xAbneigung gegen den leeren Raum, die er von Leibniz und seiner Schule übernommen hatte. Wir haben auch gesehen, welche Gründe ihn in seiner Physischen Monadologie bewogen, die Annahme des leeren Kaumes von der Hand zu weisen (vgl. oben S. lif) f.). Waren dieselben hier wesent- lich meta})hysischer Art gewesen. Gründe, deren Unstichhalti,i.^keit Kant vielleicht selbst noch eingesehen hätte, wäre er auf jenem d()-:matischen Wege fortgeschritten, so fiel diese Mfiglichkeit gänz- lich hinweg, als ihm bei Abfassun.i]: der Vernunftkritik die meta- physischen Grüiah' sich in einen t r an s cend e n t alen Grund verwandelten, ist es wahr, dafs alle Keahtät nur in der Empfindung liegt, und dafs real nur etwas ist, sofern es den Stemjxd der Em- ])findung an sich trägt, dann kann es keine leeren ]{äume geben, weil der leere Kaum, als das Jiealitätslo se , niemals ein Inhalt der Emj)findung werden kann. Damit war das Schicksal des leeren Kaumes besiegelt. In dem Abschnitt über den Grundsatz der Anti- zipationen der Wahrnehmung hatte ihm Kant bereits sein nahes Ende verkündet, und die Dynamik giebt ihm nun den Todesstofs.

Wie früher, so ist Kant auch jetzt noch der Ansicht, die Ein- streuung leerer Käume müs.se „der Einbildungskraft im Eelde der J*liiloso})hie mehr Ereiheit, ja, gar rechtmäfsigen Ansj)ruch ver- statten, als sich wohl mit der Behutsamkeit der letzteren zusammen- reimen läfsf (4bS). ,. Alles, was uns des Bedürfnisses überhebt. zu leeren Bäumen unsere Zuflucht zu nehmen, ist wirklicher Gewinn für die Naturwissenschaft. Denn diese geben gar zu viel Ereiheit der Einbildungskraft, den Mangel der inneren Naturkenntnis durch Erdichtung zu ersetzen. Das absolut Leere und das [d)solut Dichte sind in der Naturlehre ungefähr das, was der blinde Zufall und

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das blinde Schicksal in der metaphysischen Weltwissenschaft sind, nämlich ein Schla^rbaum für die forschende Vernunft, damit ent- weder Erdichtun^^ ihre Stelle einnehme, oder sie auf dem Polster dunkler Qualitäten zur Ixulie gebracht werde" (427). Hätte die dynamische Naturanschauun.t,^ keinen andern Vorzug, als da(s sie die Annahme des leeren Raumes entbelirlich macht, so wäre sie schon dadurch der mathematisch-mechanischen Krklärungsart un- endlich überlegen. Es bedarf ja zu ihrer lieehtfertigung weiter gar keiner Gründe, es genügt vielmehr ,.allein das Postulat der mecha- nischen Erklärungsart: dal's es unmöglich sei, sich einen spezitischen Unterschied der Diehtigkeit der Materien ohne Heimischung leerer liäume zu denken, durch die blofse Anführung einer Art. wie er sich ohne Widerspruch denken lasse, zu widtM'legcn. Denn wenn das gedachte Postulat, worauf die blols nuH'hanische Erklärungsart fufst, nur erst als Grundsatz für ungültig erklärt worden, so ver- steht es sich von selbst, dals man es als Hypotliese in der Natur- wissenschaft nicht aufnehmen müsse, so lange noch eine Möglichkeit übrig bleibt, den spezitischen Unterschied der Dichtigkeiten sich auch ohne alle leeren Zwischenräume zu denken'' (428 f.).

Diese Möglichkeit beruht nun dai-auf. dals die Materie ihren Kaum nicht durch absolute Undurchdringlichkeit, sondern durch rei)ulsive Kriift von bestimmtem Grade erfüllt, der seinerseits in ver- schiedenen Materien sehr verschieden sein kann. Die re])ulsive Kraft ist nur in ihrer Vereinigung mit der Anziehungskraft Materie, die Anziehung aber ist der (Quantität der Materie gemäfs oder be- ruht auf der Menge der Materie in einem geg(d)enen Paume; folg- lich kcinnen bei gleicher Anziehungskraft die Materien trotzdem sehr verschieden sein, oder der Grad der Ausdehnung dieser Materien läfst bei derselben (Quantität der Materie, und umgek(*hrt die (^)uan- tität der Materie bei demselben Volumen, d. i. die Dichtigkeit der- selben, läfst ursprünglich die gröl'sten spezifischen Unterschiede zu (417. 429). Damit ist der Naturwissenschaft geholfen, „weil ihr dadurch die Last abgenommen wird, aus dem Vollen und Leeren eine Welt blofs nach der Phantasie zu zimmern, vielmehr alle Räume voll und doch in verschiedenem Grade erfüllt gedacht werden können, wodurch der leere Raum w^enigstens seine Notwendigkeit verliert und auf den Wert einer Hypothese zurückgesetzt wird, da er sonst unter dem Verwände einer zur Erklärung der verschiedent- lichen Grade der Erfüllung des Raumes notwendigen Pedmgung sich den Titel eines Grundsatzes anmafsen konnte" (417). Die Möglichkeit des leeren Raumes „läfst sich nicht streiten. Allein leere Räume als wirklich anzunehmen, dazu kann uns keine P]r-

II. Die kritische Naturphilosophie.

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falirung oder Schlufs aus derselben oder notwendige Hypothesis, sie zu erklären, berechtigen. Denn alle Erfahrung giebt uns nur kom])arativ-leere Räume zu erkennen, welche nach allen beliebigen Graden aus der Eigenschaft der Materie, ihren Raum mit gröfserer oder bis ins Unendliche immer kleinerer Ausspannungskraft zu er- füllen, vollkommen erklärt werden können, ohne leere Räume zu bedürfen" (4:iU).

AVir sagten früher, die Widerlegung des leeren Raumes von Seiten Kants sei nur ein Kampf gegen Windmülilen. weil er auf einem Standpunkt geführt werde, wo der Gegensatz des leeren und des vollen Raumes ül)erhau])t keine Bedeutung hat. „AVenn Kant statt der mechanischen Raumerfüllung durch den Stoff eine Er- füllung des Raumes durch Kräfte setzt, so widerspricht dies der Natur der Kraft, deren Wesen erfahrungsmäfsig gerade darin besteht, dafs unzählige Kräfte nach allen Richtungen einander durchkreuzen kchinen, ohne sich im mindesten zu stiiren oder zu verdrängen. l)(^r Raum wird deshalb von diesen Kiäften nicht erfüllt odei- einüe- nominell . sondern bleibt trotz ihrer ein leerer. Alan mag ver- suchen, wie Kant thut. die Natur rein dynamisch zu erklären, aber dann mufs man auch die Erfüllung des Raumes ganz bei Seite lassen ; es giebt dann nur Kraftcentren ohne alle Ausdehnung und Kräfte, die von diesen Centren gegen andere Centren abstofsend oder anziehend wirken, wobei weder diese punktuellen Centren, noch ihre Kräfte den Raum erfüllen, sondern wo jene Centren nur mathematische Punkte im Raum einnehmen und die Kräfte den Raum in allen Richtungen durchdringen, oiiiie sich dabei im min- desten zu stiu'en oder zu hemmen. Allein, wie Kant verfährt, die Kraftcentren nach ihrer Natur unbestimmt zu lassen und eine Er- füllung des Raumes durch deren Kräfte zu setzen, sind Unklar- heiten, welche seiner Lehre sowohl die Konse(pienz der mechanischen, wie der dynamischen Naturerklärung entziehen." '•') Wenn es ein Analogon für die Erfüllung des Raumes giebt, so kchmte es imr in der Abstolsungskraft der Atheratome gefunden werden, die alle übrigen Atome nur bis auf eine gewisse Entfernung an sich heran- kommen lassen, worauf eben der Begriii' der Undurchdringlichkeit beruht. Indessen eine eigentliche Erfüllung im stofflichen Sinne findet auch hierbei in AVirklichkeit nicht statt. Noch viel weniger aber kann von einer solchen bei den Körperatomen die J\ede sein, da Körperatome, die nicht durch Ätheratome auseinandergehalten werden, einer vollkommenen Durchdringung und Verschmelzung kein

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*) v. Kirch mann: a a. O. 52 1.

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Hindernis entgegensetzen, sondern frei durcheinander liindurcli- scliwingen würden.'*')

iVuf dem Standpunkte der Physischen Monadologie war die Bekämpfung des leeren Raumes zum mindesten übertlüssig, auf dem- jenigen der Dynamik ist sie geradezu falsch. Denn wenn Kant die Materie auf diesem Standpunkt als einen den Raum kontinuierlich erfidlenden Stotf bestimmt und damit der Annahme des leeren Raumes zu entgehen sucht, so erreicht er. wie wir gesellen haben, das h'tztere nur um den Preis einer Verzichtleistung auf jegliche Erklärung der Naturerscheinungen. Bei jener Voraussetzung ist ja gar keine He- weijunfjr des Stoffs, nicht einmal eine Aussonderung von einzelnen Elementen aus dem allgemeinen Stoffe denkbar: vielmehr mufs erst der leere Kaum hinzukommen, der, als Prinzip der Individuation, nicht bhjfs den Stoff in seine Kiemente sj)altet. sondern auch Be- wegung unter diesen m()glich macht, oder mit andern Worten: der Dynamismus Kants mufs erst wieder in sein (TCgenteil. aus dem er selbst hervorgegangen ist, di(> At(unistik. umschlagen, ehe er als Erklärungsprinzip überhau))t l)rauchbar ist. Soll er trotzdem Dyna- mismus bleiben, so kann er nur a to m i s t i sc h e r Dynamismus sein; ein solcher al)er ist nur unter der Voraussetzung möglich, dafs es eine kontinuierliche Firfiillung des Raumes durch den Stoft' nicht giebt, dafs es üb(>rhaupt keine Erfüllung des Kaumes giebt, und dafs der (xcgensatz des vollen und des leeren Ixaumes nur eine Abstraktion in unserem Bewuistsein ist. hervorgegangen aus der Wahrnehmung des Stoties, der eben nur im Bewuistsein Existenz besitzt.

Niclit darin beruht der Wert des Dynamismus, dafs er eine den Kaum kontinuieilich erfüHende Materie annimmt, somk^rn darin, dafs es Kriifte sind, die nach ihm die Materie bilden sollen. Und ebenso beruht der Wert der Atomistik nicht darin, dafs sie stoff- liche Elemente annimmt, sondern darin, dafs nach dieser Anschauung die Materie^ in diskrete Elemente zerfaUen soll. "'"•') Die Einsicht in die dvnamisclie Natur der Elemente macht die Theorie der Materie zu einer erkenntnistheoretisch- und meta])hysisch haltbaren und reinigt sie von den W^idersprü(;hen, welche der Annahme des stofflichen Atoms anhatten. Die Erkenntnis, dals die Elemente diskrete sind und sozusagen K r a f t i n d i v i d u e n repräsentieren, ermöglicht eine Beziehung ihrer räumlichen Wirkungen auf fest

*) V^l. V. Hartuiann: Phil. d. Tiihew. IL 106.

**) ^gl- l'^echiier: ITher die physikalische u. pliilosophische Atoinenlehre (1855J Cap. 11-lV.

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bestimmte Ausgangspunkte und macht damit die Theorie der Eechnung zugänglich, d. h. zu einer ])raktisch verwendbaren. Kant sucht die Vorzüge der dynamischen und atomistischen Anschauung beide Male an verkehrten Enden und daher verfehlt er notwendig sein Ziel, anstatt sie zu einem atomistischen Dynamismus zu verschmelzen, welcher die metaphysische Annehmbarkeit mit ihrer praktischen Brauclibarkeit vereinigt.

Hiervon abgesehen, dürfte Kants Ansicht über die Atomistik bei denkenden Naturforschern heute kaum noch einem Widerspruch begegnen. Die Atomistik ist eine in methodologischer Hinsicht unschätzbare Anschauungsweise, sofern sie sich damit bescheidet, nur ein ideales Schema, ein Hilfsmittel zu sein, um Mathe- matik auf Erfahrung anzuwenden. Wenn sich der Naturforscher den kontinuierlichen Stoff', wie er ihm in der Anschauung unmittelbar entgegentritt, in einzelne nicht weiter teilbare Elemente zerlegt denkt und diese zu festen Anhaltspunkten nimmt, um sich die (jualitativen Unterschiede in der Natur als (luantitative (räumliche) und daher berechenbare Verhältnisse darzustellen, so ist er in seinem guten Kecht; es ist auch für seine Zwecke einerlei, ob er sich jene Elemente von einer bestimmten Gröfse, oder ob er sie sich blofs als Punkte denkt. Erst wenn er sich den Kang eines Philosophen anmalst, wenn er das l)lofs methodologische Prinzip mit dem rein sachlichen Prinzip verwechselt und verlangt, sein ideales Schema unmittelbar für die Sache selbst zu nehmen, erst dann verfällt die Atomistik der Kritik und mufs sich gefallen lassen, von der Philo- sophie in ihre Schranken gewiesen zu werden, die zu überschreiten, für beide Teile gleich gefährlich ist. Nur ein philosophisch ganz roher Naturforscher, dcmi niemals das Problem der Erkenntnistheorie durch den Ko])f gegangen ist, kam» glauben, an den stofflichen Atomen die letzten Elemente der materiellen A\'elt zu besitzen. Nur ein in den Prinzi])ien der Naturwissenschaft befangener Philosoph, d(>m die unleugbaren Erfol.i^e jener Wissenschaft zu Kopf gestiegen sind, kann sich einbilden, jene Elemente müfsten stoff'lich sein, weil die Naturforschung auf dieser Anschauung zu ihrer Gnifse empor- gestiegen ist. Die Notwendigkeit (^iner scharfen Sonderung der mathematischen und meta])hvsischen Naturerklärung (die schon leise in der Unterscheidung des geometrischen und physischen Kaumes in der Schule von Leibniz und Wol ff anklingt), diese Not- wendigkeit zuerst klar eingesehen, erkannt zu haben, dafs dem Dyna- nismus, als dem eigentlich metaphysischen Prinzip, der Vorrang vor dem (materialistischen) Atomismus gebühre, das ist das grofse und unbestreitbare Verdienst der kantischen Naturphilosophie, welches

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auch dadurch nicht geschmälert wird, dai's Kant selbst vom Aber- glauben an den metaphysischen Seinswert des Stoffes sich noch nicht völlig frei gemacht hat und mit seinem eigenen Dynaniisnms in einer unhaltbaren Venjuickung der reinen Kraft- mit der Kraft- Stofftheorie stecken geblieben ist.

Die wahre, d. h. dynamische, Theorie der Materie kann nicht von der Naturwissenscliaft, sondern nur von der ^Metaphysik gehefert werden. „Und so ist Nachforschung der Metaphysik hinter dem, was dem empirischen Begriffe der Materie zum Grunde liegt, nur zu der Absicht nützlich, die Naturpliilosophie, so weit als es immer möglich ist, auf die Erforschung der dynamischen Krklärungsgründe zu leiten, weil diese allein bestimmte Gesetze, folglicii wahren V^er- nunftzusammeniiang der p]rklärungen hoffen lassen-' {V2^J W). Dies ist aber auch alles, was Metaj)hysik zur Konstruktion des Hegriffs der Materie, mithin zum Behuf der Anwendung der ^lathematik auf Naturwissenschaft in Ansehung der Eigenschaften, wodurch Materie einen Kaum in bestimmtem Mal'se erfüllt, nur immer leisten kann. Sie analysiert die uns unmittelbar gegebenen Eigenschaften des Stoffes und führt sie auf die beiden Grundkni fte. als ihre meta- ])hysischen Ursachen, zurück. „Allein wer will die Möglichkeit der Grundkriifte einsehen?" (4 IN). Sie können nur angenommen wer<len. weil sie zu dem ersten und allgemeinsten Grundbegriffe der Materie überhau])t, dem Begriffe der Baumerfüllung, „unvermeidlich gehören" (ebd.), aber sie selbst noch weiter zu analysieren, ist dadurch aus- geschlossen, dafs sie eben Grundkräfte sind. „Denn es ist über- haupt über dem Gesichtskreis unserer Vernunft gelegen, ursprüng- liche Kräfte a priori ihrer M()glichkeit nach einzusehen : vielmehr besteht alle Naturphilosophie in der Zurückführung gegebener, dem Anscheine nach verschiedener Kräfte auf eine geringere Zahl Kräfte und Vermögen, die zur Erklärung der Wirkungen der ersten zu- langen, welche Beduktion aber nur bis zu Grundkräften fortgeht, über die unsere Vernunft nicht hinauskann •' (121)).

Hiermit ist dem Einwand v()rg(l)eugt, als ob die Zerlegung der Materie in ihre Grundkräfte doch schliefslich keine Erklärung, sondern nur ein anderer Name für die gleiche Sache sei. Nichts wäre verkehrter, als jene beiden Kräfte etwa auf eine Stufe mit den „verborgenen Eigenschaften" der Scholastiker zu stellen. Die Scholastiker waren mit ihrer (jualitas occulta überall zur Hand, wo sie eine Naturerscheinung nicht weiter erklären konnten. Sie fragten nicht, ob verschiedene Erscheinungen nicht unter ein und dasselbe Gesetz sich bringen liefsen ; sie gaben sich auch keine Mühe, tiefer in den Zusammenhang von Ursache und Wirkung einzudringen.

II, Die kritische Naturphilosophie.

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Ungeübt, der Natur selbst Fragen zu stellen, um sich von dieser die Antwort geben zu lassen, blieben sie vielmehr an der Oberfläche der Erscheinungen haften und fühlten sich befriedigt, wenn sie einem Dinge die Kraft derjenigen Wirkung beilegten, die sie dasselbe hervorbringen sahen, also z. B. die Wärme aus einer erwärmenden Kraft, das Licht aus einer Leuclitkraft erklärten u. s. w. Von dieser Art einer sogenannten Natureiklärung ist die Dynamik weit entfernt. Zwar führt auch sie schliefslich auf Kräfte hin, die selbst keine weitere Erklärung zulassen, aber diese Kräfte stehen am Ende einer langen Beihe von Erwägungen, sie bilden das identische Grund- ])rinzip. im Vergleich zu welchem selbst so allgemeine Eigenschaften der Materie, wie die Undurchdringlichkeit, nur als dessen jModifi- kationen sieh darstellen, ja, sie tragen so sehr den Charakter der Notwendigkeit an sich, dafs sie nicht beliebig erdacht, sondern als im Wesen der Vernunft selbst begründet erscheinen. Wenn Kant die Idee der Einheit als den charakteristischen Inhalt der Vernunft bestimmt hat, so kann nun die letztere zufrieden sein : das Gesetz der Homogeneität hat den Natur[)hilosoj)lien durch die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen hindurch zu demjenigen letzten Einheits})unkte hingeführt, worin die Ursachen aller Erscheinungen schliefslich zu- sammenlaufen, den Grundkräften, ohne welche Materie selbst nicht möglich ist. Aber auch dem Gesetze der Spezitikation ist genügt, weil die Besonnenheit den Forscher davon abhielt, alle Kräfte schliefslich in einer einzigen aufgehen zu lassen, die für sich allein zur Erklärung der Materie nicht zureichen würde.

Viel bedeutsamer erscheint ein anderer Einwand. dcMi man dem Dynamismus machen könnte, und der, wenn er berechtigt wäre, den letzteren allerdings mitten ins Herz treffen würde. Im Hinblick darauf, dafs uns ja die Kraft als solche nicht gegeben, sondern nur aus der gesetzmäfsigen Bewegung des Stoffes von uns, als deren Ur- sache, erschlossen ist, kcmnte man nämlich versucht sein, zu glauben, die Kraft sei überhau])t kein wirkliches Prinzip, kein reales Moment im Naturgeschehen, sondern nur eine Vorstellung in unserem Bewufstsein, welcher an sich nur das Gesetz entspricht. In diesem Einwand vereinigen sich die materialistisch gesinnten Naturforscher, denen das immaterielle Prinzij) der Kraft ein geheimer Dorn im Auge ist, mit den auf der Höhe der „Moderne" stehenden Schwärmern für die „reine Erfahrung", welche die einzige x\ufgabe der Wissen- schaft in die getreue Konstatieruiig des Positiven setzen und jegliche Deutung und vergeistigende Auslegung des gegebenen Materials als ein Überschreiten der Grenzen der Wissenschaftlichkeit verpönen. Tritt dann noch gar ein Philosoi)h auf, wie Fechner, der auf

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II. Die kritische Naturphilosophie.

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auch dadurch nicht geschmälert wird, dais Kant selbst vom Aber- ghiuben an den nieta])hysischen Seinswert des Stoffes sich noch nicht völlig frei gemacht hat und mit seinem eigenen Dynaniisnius in einer unhaltbaren Verquickung der reinen Kraft- mit der Kraft- Stofftheorie stecken geblieben ist.

Die wahre, d. h. dynamische, Theorie der Materie kann nicht von der Naturwissenschaft, sondern nur von der Metaphysik geliefert werden. „Und so ist Nachforschung der Metaphysik hinter dem, was dem empirischen Begriffe der Materie zum Grunde liegt, nur zu der Absicht nützlich, die Naturphilosophie, so weit als es immer möglich ist, aui' die Erforschung der dynamischen Erklärungsgründe zu leiten, weil diese allein bestimmte Gesetze, folglich wahren Ver- nunftzusammenhang der Erklärungen hoffen lassen*' (429 f.). Dies ist aber auch alles, was Metaphysik zur Konstruktion des Begriffs der Materie, mithin zum Behuf der Anwendung der ]\Iathematik auf Naturwissenschaft in Ansehung der Eigenschaften, wodurch Materie einen Kaum in bestimmtem Mal'se erfüllt, nur immer leisten kann. Sie analysiert die uns unmittelbar gegebenen Eigenschaften des Stoffes und führt sie auf die beiden Grundkräfte, als ihre meta- ])hysischen Ursachen, zurück. „Allein wer will die Möglichkeit der Grundkräfte einsehen?'' (4 IN). Sie können nur angenommen werden, weil sie zu dem ersten und allgemeinsten Grundbegriffe der Materie überhau])t, dem Begriffe der l^aumerfüllung, „unvermeidlich gehören" (ebd.), aber sie selbst noch weit(T zu analysieren, ist dadurch aus- geschlossen, dafs sie eben Grundkräfte sind. „Denn es ist über- haupt über dem Gesichtskreis unserer Vernunft gelegen, ursprüng- liche Kräfte a priori ihrer Möglichkeit nach einzusehen : vielmehr besteht alle Naturphilosoi)hie in der Zurückführung gegebener, dem Anscheine nach verschiedener Kräfte auf eine geringere Zahl Kräfte und Vermögen, die zur Erklärung der W^irkungen der ersten zu- langen, welche lleduktion aber nur bis zu Grundkräften fortgeht, über die unsere Vernunft nicht hinauskann •' (429).

Hiermit ist dem Einwand vorgebeugt, als ob die Zerlegung der Materie in ihre Grundkräfte doch schliefslich keine Erklärung, sondern nur ein anderer Name für die gleiche Sache sei. Nichts wäre verkehrter, als jene beiden Kräfte etwa auf eine Stufe mit den „verborgenen Eigenschaften" der Scholastiker zu stellen. Die Schohistiker waren mit ihrer (lualitas occulta überall zur Hand, wo sie eine Naturerscheinung nicht weiter erklären konnten. Sie fragten nicht, ob verschiedene Erscheinungen nicht unter ein und dasselbe Gesetz sich bringen liel'sen ; sie gaben sich auch keine Mühe, tiefer in den Zusammenhang von Ursache und Wirkung einzudringen.

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Ungeübt, der Natur selbst Fragen zu stellen, um sich von dieser die Antwort geben zu lassen, blieben sie vielmehr an der Oberfläche der Erscheinungen haften und fühlten sich befriedigt, wenn sie einem Dinge die Kraft derjenigen Wirkung beilegten, die sie dasselbe hervorbringen sahen, also z. B. die Wärme aus einer erwärmenden Kraft, das Licht aus einer Leuciitkraft erklärten u. s. w. Von dieser Art einer sogenannten Natureiklärung ist die Dynamik weit entfernt. Zwar führt auch sie schliefslich auf Kräfte hin, die selbst keine weitere Erklärung zulassen, aber diese Kräfte stehen am Ende einer langen Reihe von Erwägungen, sie bilden das identische Grund- ])rinzij), im Vergleich zu welchem selbst so allgemeine Eigenschaften der Materie, wie die Ilndurchdringlichkeit. nur als dessen Modifi- kationen sich darstellen, ja, sie tragen so sehr den Charakter der Notwendigkeit an sich, dal's sie nicht beliebig erdacht, sondern als im Wesen der Vernunft selbst begründet erscheinen. W^'iin Kant die Idee der Eiidieit als den charakteristischen Inhalt der \'ernunft bestimmt hat, so kann nun die letztere zufrieden sein : das Gesetz der Homogeneität hat den Naturphil()SO])heii durch die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen hindurch zu demjenigen letzten Einheitspunkte hingeführt, w(»rin die Ursachen aller Erscheinungen schliefslich zu- sammenlaufen, den Grundkräften, ohne welche Materie selbst nicht möglich ist. Aber auch dem Gesetze der Spezifikation ist genügt, weil die Besonnenheit den Forscher davon abhielt, alle Kräfte schliefslich in einer einzigen aufgehen zu lassen, die für sieh allein zur Erklärung der Materie nicht zureichen würde.

Viel bedeutsamer erscheint ein anderer Einwand, den man dem Dynamismus machen könnte, und der. wenn er berechtigt wäre, den letzteren allerdings mitten ins Herz treffen würde. Im Hinblick darauf, dafs uns ja die Kralt als solche nicht gegeben, sondern nur aus der gesetzmäfsigen Bewegung des Stoffes von uns, als deren Ur- sache, erschlossen ist, könnte man nämlich versucht sein, zu glauben, die Kraft sei überhaupt kein wirkliches Prinzip, kein reales Moment im Naturgeschehen, sondern nur eine Vorstellung in unserem Bewufstsein, welcher an sich nur das Gesetz entspricht. In diesem Einwand vereinigen sich die materialistisch gesinnten Naturforscher, denen das immaterielle Prinzip der Kraft ein geheimer Dorn im Auge ist, n)it den auf der Höhe der „Moderne" stehenden Schwärmern für die „reine Erfahrung", welche die einzige Aufgabe der Wissen- schaft in die getreue Konstatierung des Positiven setzen und jegliche Deutung und vergeistigende Auslegung des gegebenen Materials als ein Überschreiten der Grenzen der WissenschaftHchkeit verpönen. Tritt dann noch gar ein Philosoph auf, wie Fechner, der auf

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dem soliden Boden der Naturwissenschaft nielit weniger zu Hause ist, wie auf dem klii)])enreichen Meer der Spekulation, und erklärt die Kräfte für „mytliischc^ Wesen", dann ist der f]^ute Hut dieses Begriffs dahin, und es erseheint der hohen Würde der Wissenschaft nicht gemäfs, sich mit ihm (UTentlich sehen /u hissen.

Fechner erhlickt in der Kraftäufseruug nicht eine Folge von Kräften, sondern den unniittelharen Ausdruck des Naturgesetzes selbst. „Kraft ist dei- Physik ül)erhaui)t weiter nichts als ein Hilfs- ausdruck zur Darstellung der (nresetze des Gleichgewichts und der Bewegung, und jede klare Fassung des physischen Krafthegrilfs führt hierauf zurück. Wir sprechen von Gesetzen der Kraft ; doch sehen wir näher zu. sind es nur Gesetze des Gleichgewichts und der Be- wegung, welche heim (Tcgenüher von Materie und ]\Iaterie gelten. Sonne und Krde äulsern eine Anziehungskraft auf einander heifst nichts weiter, als: Sonne und Krde hew^^gen sich im Gegenü üertreten gesetzlich nach einander hin; nichts als das Gesetz kennt der Physiker von der Kraft ; durch nichts sonst weil's er sie zu charak- terisieren."*) „Anstatt dafs also die physische Kraft in den Kiirpern besonders sitze und von dem einen auf den andern hinüherwirke, statt dal's sie an Orten wirke, wo sie nicht ist, statt dafs sie einem K()r])er latent sein k(»nne, um erst hei Zutritt des andern Kr)r|)ers wirksam zu werden, statt dafs sie die Materien konstituiere, kommt alles, was man von ihr aussagen mag, faktisch wie klar begrifflich auf ein allgegenwärtiges Gesetz und dessen Befolg zurück. Sitzt die Kraft irgendwo, so sitzt sie nur im (iresetze : das (iesetz hat zugleich Gesetzeskraft, d. h. was es aussagt, w^ird geleistet."**)

Es bedarf keines grofsen Scharfsinnes, um einzusehen, dafs wir mit dieser Auffassung des Verhältnisses von Gesetz und Kraft üher den Bereich des Mythus nicht hinausgehmgen. Zugegehen, dafs wir die Kraft nicht wahrnehmen, nehnn'n wir etwa (his Gesetz als solches wahr? Was wir w^ahrnehmen ist doch imnu^r nur der Stoff und seine Iknvegung, und wir sprechen von einem Gesetz nur deshalb, weil die letztere in den verschiedensten von uns beobachteten Fällen unter den gleichen Bedingungen imuier auf die gleiche Weise vor sich geht. Das Gesetz ist also nur der zusammenfassende Ausdruck für die bestimmte Art der Bewegung, die in einer sehr grofsen Anzahl von Beobachtungen immer mit sich selbst ideutisch bleibt. Soll die Kraft blol's deshalb ein mythisches Wesen sein, w^eil sie in unsere unmittelbare Wahrnehmung nicht eingeht, so trifft mit-

*} Fechner: a a. ü. G, **) Ebd.

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hin dieser Vorwurf das Gesetz erst recht, denn es ist nicht blofs kein Gegenstand unserer Sinne, sondern überhaupt nur eine rein subjektive Abstraktion. Diese Abstraktion in die objektive AVeit liineintragen und sie zur Ursache der Bewegung und ihrer be- stimmten Erscheinungsform stempehi, das wäre in der That eine Naivität, welche von der mythologisierenden Xaturbeseelung seitens der Kinder und Wilden nicht verschieden ist. Trotzdem muls nicht blofs die Bew^egung seihst, sondern auch die Bestimmtheit und Regel- mäfsigkeit der Bew^egungsarten ihre Ursache haben, und diese ist es eben, die wir mit dem Namen ..Kraft*' bezeichnen, ohne liiermit unmittelbar etwas Anderes ausdrücken zu wollen, als was ei)en in jenem Satz enthalten liegt. Das Gesetz hat zugleich Gesetzeskraft ganz wohl ; aber darum ist doch nicht die Kraft mit dem Gesetz identisch. Wenn die Kraft sich äufsern soll, so mul's sie sich im Sinne des Gesetzes äufsern, aber dafs sie sich äufsert. dafs über- haupt irgend ein Geschehen stattfindet, daran ist doch nicht das Gesetz schuhL sondern die Kraft. Die Ki-aft ist das produktive l^rinzip im Naturgesciiehen. das Gesetz das I^rinzip, welches die Kichtung und die Art der iVoduktion bestimmt. Die Kraft ist konstitutiv, das Gesetz re<j^ulativ. „Beide Aus(haicke bezeichnen zwar das gleiche Datum, näuilicii die Kausalität einer Bewegungs- änderung; allein durch jeden dieser Begriffe wird eine andere Seite desselben Vorgangs herausgehoben. Der Terminus „Gesetz" be- schreibt das Gesamtereignis als die Art einer regelmäfsigen \'er- knüpfung. Der Terminus ..Kraft" sagt von einer Substanz aus. dafs sie an der Regelmäl'sigkeit einer Verknüpfung als Bedingung Anteil habe. Gesetz bezeichnet die Relati(jn als solche. Kraft die Eigen- schaft einer Substanz, ein notwendiges Korrelat zu sein, ivraft ist das unter dem B t^ g r i f f e d er In h ä r e n z g e d a c li t e Gesetz. Wenn ich sage, es findet nirgends ein Durchdringen von Materie statt, so ist das ein Gesetz ; behaupte ich : Materie hat die Eigenschaft, dem Findringi'n jeder anderen Materie in ihrem Kaum zu widerstehen, so setze ich eine Kraft. In den Gesetzen zähle ich die verschiedenen Formen des Geschehens auf; durch die Kräfte beschreibe ich die Grundeigenschaften der Materie."*) Wir müssen durchaus daran festhalten, dafs die Kraft von dem Gesetze prinzipiell verschieden, ja. dafs sie in gewissem Sinne früher ist als das Gesetz. Die Theorie kann sich erst dann zufrieden geben, wenn es ihr ge- lungen ist, alle Eigenschaften der Materie (einschliefslich ihrer Ge- setze) am Ende auf eine möglichst geringe Zahl von Grundkräften zurückzuführen.

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) Stadler: a. a. O. 61 f.

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Die Vorzüge des Atoniismus luU^en sicli somit als blofs schein- bare ausgewiesen; der Dynainisnuis be]iauj)tet. als die h()here An- schauungsweise, das Feld. Jetzt erst können wir der Frage näher treten, ob aus den beiden Grundkrät'ten auch alle besonderen Eigen- schaften der IVIaterie und ihre Gesetze a priori ableitbar sind. Kant ist weit entlernt, die Frage zu bejahen. Zwar haben wir schon früher die Wirkung der durchgängigen r(^j)ulsiven Kraft der Teile jeder gegebenen Materie als ihre ursprüngliche Elastizität durchschaut. In der gh^ichen Weise stellt sich uns die Wirkung der allgemeinen Anzieliung, die alle Materie auf alle und in alle Entfernungen unmittelbar ausübt, als Gravitation und die Bestrebung, in der Richtung der gröfseren Gravitation sich zu be- wegen, als Schwere dar. Aber damit ist auch der XOrrat unserer unmittelbaren Einsicht erschöpft. Schwere und Elastizität sind die beiden einzigen charakteristischen Eig<Mischat'ten der Materie, die a priori erkannt werden kr)nnen. denn auf den Gründen beider beruht die jVIögliclikeit der Materie selbst (410 f.).

„Man hüte sich daher, über das, was den allgemeinen ßegritf einer Materie überhaupt möglich macht, hinauszugehen und die be- sondere oder sogar spezifische Bestimmung und Verschiedenheit der- selben a ])riori erklären zu wollen" (417). Konnten wir doch nicht einmal die Gesetze der beiden Grundkräfte a priori bestimmen ; wie viel w^eniger werden wir da imstande sein, „eine Mannigfaltigkeit derselben, welche zur F^rklärung der spezifischen Verschiedenheit der Materie zureicht, zuverlässig anzugeben" (41(S). Es „darf weder irgend ein Gesetz der anziehenden, noch zurückstofsenden Kraft auf Mutmafsungen a priori gewagt, sondern alles, selbst die allg(Mneine Attraktion, als Ursache der Schwere, mufs samt ihren Gesetzen aus Datis der Erfahrung geschlossen werden. Noch wenigei* wird der- gleichen bei den chemischen Verwandtschaften anders als durch den AV^eg des Experiments versucht werden dürfen" (4'J!)). Nehmen wir das Problem der Kohärenz! „Zusammenhang, w(Min er als die wechselseitige Anziehung der Materie, die lediglich auf die Bedingung der Berührung eingeschränkt ist. erklärt wird, geliört nicht zur Möglichkeit der Materie überhaupt und kann daher a priori als damit verbunden nicht erkannt werden. Diese Eigenschaft würde also nicht nieta])hysisch, sondern ])hysiscli sein und daher nicht zu unseren gegenwärtigen Betrachtungen gehören" (41 1 ). Wenn Kant sich trotzdem näher auf die Besonderheiten der Materie einläfst, so soll (his keine apriorische Ableitung der spezifischen Verschiedenheit der Materie aus ihren Grundkräften sein, von der er ausdrücklich bemerkt, dafs er sie nicht zu leisten vermöge, sondern er will nur

„die Momente, worauf ihre spezihsche Verschiedenheit sich ins- gesamt a priori bringen (obgleich niclit ebenso ihrer Möglichkeit nach begreifen) lassen mufs, vollständig darstellen^' (419). Es kommt ihm nicht darauf an, „Hyj)othesen zu besonderen Erscheinungen, sondern nur das Prinzi]), wonach sie alle zu beurteilen sind, aus- findig zu machen" (427) und an den besonderen Erscheinungen der Natur die „Anwendung" dieses Prinzi])s zu erläutern (419).

Materien unterscheiden sich nun ganz allgemein durch ihre räum- liche Ausdehnung von einander, sie bilden Körper, d. h. sie sind zwischen bestimmten Grenzen eingeschlossen, haben eine bestimmte Figur und einen bestimmten Raumesinhalt (Volumen).

Von gröfserer Bedeutung erscheint die Art und Weise ihrer R a u m e r f ü 1 1 u n g , und zwar kommt liier zunächst die T) i c h t i g - keit in Frage, d. h. der Grad der Erfüllung eines Raumes von bestimmtem Inlialt. Die Atomistik oder das System der absoluten Undiirchdringlichkeit, wie Kant sie nennt, bemifst die Dichtigkeit eines Körjiers nach seinen leeren Zwischenräumen und nennt eine Materie dichter als die andere, die weniger Leeres in sich enthält. Dagegen „im dynamischen System einer blofs relativen Undiirch- dringlichkeit giebt es kein Maximum oder Mniimum der Dichtigkeit, und gleichwohl kann jede noch so dünne Materie doch völlig dicht heifsen. wenn sie ihren Raum ganz erfüllt., ohne leere Zwischenräume zu enthalten, mithin ein Kontinuum. nicht ein lnterru])tum ist; allein sie ist doch in Vergleich mit einer anderen weniger dicht in dynamischer Bedeutung, w^enn sie ihren Kaum zwar ganz, aber nicht in gleichem Grade erfüllt" (419). Trotzdem könnte die Verschiedenheit des Stoffs nur in dem Pralle allein aus dem Gradunterschiede erklärt werden, wenn die Materien im übrigen spezitisch gleichartig w^ären, „so dafs eine aus der anderen durch blolse Zusammendrückuiig er- zeugt werden kann. Da nun das letztere nicht eben notwendig zur Natur aller Materie an sich erforderlich zu sein scheint, so kann zwischen ungleichartigen Materien keine Vergleichung in Anseliung ihrer Dichtigkeit füglich stattfinden" (ebd.). d. h. die Dichtigkeit allein reicht für die Bestimmung des Unterschiedes der Materien nicht zu, und es geht daher nicht an, ihn a priori aus ilir ab- zuleiten.

Nicht minder wichtig, wie die Dichtigkeit der Materien, ist ihre Festigkeit oder der Widerstand, den sie der Trennung ihrer Teile entgegensetzen. Diese findet ihren Ausdruck in dem Begriff der Kohäsion, d. li. der „Anziehung, sofern sie blofs als in der Berührung wirksam gedacht wird" (419). Die Erfahrung läfst die Kohäsion als eine ganz allgemeine Eigenschaft der Materie erkennen, so dafs

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man sie wohl für eine Grundkraft halten kannte. Allein erstens ist sie nicht in der Weise allpfemein. dafs jede Materie (hirch diese Art der Anziehun^^ auf jede andere im Weltraum zu^deicli wirkte, wie dies hei der Gravitation (h'r Fall ist, vielnu'hr wird sie hlofs zwischen Materien ausgeüht, die sich unmittelhar herühren ; sie ist also nicht eine durchdriu^^ende, sondern nur eine Flächenkraft. Sodann richtet auch der Grad dieser Anzieliun^ sich keineswegs nach der Dichtigkeit, und zur V()lligen Stärke des Zus;inunenhanges ist ein vorhergehender Zustand der Flüssigkeit der Materien und der nachmaligen Erstarrung derselhen erforderlich. Dazu kommt, dafs auch durch die allergenaueste Berührung gchrochener fester Materien in ebendenselben Klächen. mit denen sie vorher zusammen- hin,i,'en, eine Wiederherstellung ihrer ursprünglichen Festigkeit nicht ni(')glich ist, und endlich, dafs gewisse Materien, nämlich die starren, obschon sie vielleicht nicht gröfsere. ja. vielleicht gar kleinere Kraft des Zusammenhanges haben, als andere flüssige, dennoch dem Ver- schieben ihrer Teile auf das Nachdrücklichste widerstehen und daher nicht anders als durch «gleichzeitige xAufhehung des Zusammenhanges aller Teile in einer gegebenen Fläche sich trennen lassen. Alles dies läfst darauf schliefsen, dafs wir es in der Kohäsion nicht mit einer Grundkraft, sondern nur mit einer ab.i^n'leiteten Kraft der ^laterie zu thun haben, zu deren Erklärung es doch noch einer anderen Ursache als der blofsen allgemeinen Attraktion bedarf, und dafs insbesondere die M()glichkeit der starren Kr>r])er, so leicht auch die gemeine Naturlehre damit glaubt fertig werden zu können, noch immer ein unaufgelöstes Problem ist, welches die Meta])hysik un- niciglich a priori aus den allgemeinen Eigenschaften der ^laterie ab- zuleiten vermag (420. A2H).

Jedenfalls ist die Verschiedenheit der Aggregatzustände der Materien, d. h. die Bew^eglichkeit ihrer Teile oder die Kraft, womit sie dem Verschieben derselben widerstehen, von dem Grade der Kohäsion unabhängig und daher auf diese nicht zurückzuführen (4"2'J). Nennen wir doch flüssig eine Materie, deren Teile, un- erachtet ihres noch so starken Zusammenhan<^^es unter einander, dennoch von jeder noch so kleinen bewegenden Kraft an einander kiuinen verschoben werden (420). Im Gegensatz hierzu ist ein fester oder starrer Ktü'per ein solcher, dessen Teile nicht durch jede Kraft an einander versciioben werden können, die folglich mit einem ge- wissen Grade von Kraft dem Verschieben widerstehen (ebd.). Während bei dem letzteren die Reibung eine Verschiebung seiner Teile hindert, und, wenn der starre Körper spriule ist, eine solche nur durch Zerreilsung. d. h. durch gänzliche Aufhebung des Zu-

II. Die kritische Naturphilosophie.

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sammenhanges möglich ist, heben in der Flüssigkeit die Attraktionen beiderseitig ihre A\'irkung auf, und daher sind die Teilchen hier so leicht beweglich (421). Aus diesem Umstände erklärt sich auch die Eigenschaft der flüssigen Materien, dafs ein jeder ihrer Teile sich nach allen Seiten mit ebenderselben Kraft zu bewegen trachtet, womit er in einer gegebenen Kichtung gedrückt ist; man braucht sich eben nur des allgemeinen Grundsatzes der Dynamik v.u erinnern, wie alle Materie urs})rünglich elastisch ist und infolge dessen nach jeder Seite des Raumes, darin sie zusammengedrückt ist, mit eljenderselhen Kraft sich zu erweitern, d. h. sich zu bewegen, bestrebt sein mufs, womit der Druck in einer jeden Richtung aus- geübt wird (4'2'J f.).

Mit alledem ist aber das „Moment der Art und Weise noch nicht erschöpft, wie die Materie ihren i^auni erfüllt. Es giebt Unterschiede in dem Verhalten der Materie gegen die von aufsen auf sie einwirkenden Kräfte, welche ihre Gestalt zu verändern be- strebt sind. Damit komnuMi wir auf den Kegriff der Elastizität. Man bezeichnet mit diesem Namen das Vermögen der Materie, ihre durch eine andere bewegende Kraft veränderte Grötfse oder Gestalt bei Nachlassung derselben wiederum anzunehmen, und zwar ist die- selbe entweder expansive oder attraktive Elastizität, je nachdem ob der Kör])er nach der Zusaniniendrückung das vorige gröfsere. od(^r ob er nach der Ausdehnung das vorige kleinere Volumen wieder annimmt. Weil diese Wirksamkeit von äufseren Ursachen abhängt und nur erst an der fertigen jMaterie hervortritt, so darf sie mit jener ursprünglichen Elastizität nicht verwechselt werden, die Materie überhaui)t erst möglich macht. Die attraktive Elastizität ist auch ofTenbar eine abgeleitete Kraft, denn sie beruht nur auf derselben Attraktion, w^elche die Ursache des Zusammenhanges bildet. Die expansive Elastizität kann eine ursprüngliche, sie kann aber auch eine abgeleitete Kraft sein. So hat die Luft eine abgeleitete Elastizität, beruhend auf der mit ihr innig verbundenen Wärme, die Elastizität der letzteren dagegen ist ..vielleicht" ursprünglich. In- dessen ist es in vorkommenden Fällen ol't nicht möglich, mit G^'- wifsheit zu entscheiden, ob eine wahrgenommene Elastizität von dieser oder von jener Art sei (424. 415 1'.).

Ein weiteres Moment, das bei der Betrachtung s])ezitischer Eigenschaften an der Materie in Fra^e kommt, ist die gegen- seitige Einwirkung ihrer Teile auf einander. Diese kann entweder mechanisch (durch Mitteilung ihrer Bewegung) oder chemisch sein; nur die letztere gehört in die Betrachtung der Dynamik. Die Wirkung der Materien auf einander heilst chemisch,

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B. Kant als Naturphilosoph.

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sofern sie auch in Euhe durch eigene Kräfte wechselseitig die Ver- bindung ihrer Teile verändern. Dieser chemische Eintiufs heifst Auflösung, sofern er die Trennung der Teile einer Materie zur WirkuTig hat; er heifst absolute Auflösung oder chemische Durch- dringung, wenn die Auflösung spezitisch verschiedener Materien eine derartige ist, dafs „kein Teil der einen angetroffen wird, der nicht mit einem Teile der andern von ihi- spezitisch unterschiedenen in der- selben Proj)ortion, wie die Ganzen, vereinigt wiire*' (424 f.). Ob es in der Natur eine vollständige Aufl()sung giebt, darauf kommt es nicht an. Hier handelt es sich l)lofs darum, ob sich eine solche denken läfst, und da ist khtr, dafs kein Grund vorhanden ist, warum die Auflösung vor irgend welchen Klümpchen (moleculae) Halt machen und nicht vielmehr so lange fortgehen sollte, bis kein Teil von dem Volumen (h'r Auflr)sung vorhanden ist, der nicht einen Teil des auflösenden ^Mittels enthielte (4'2r). 42()). Offenbar müssen die auf diese Weise verbundenen Materien selbst wieder ein Fvon- tinuuni bilden. Dann aber durchdringen sie einander, insofern beide Materien, und zwar jede dersell)en ganz, einen und denselben Kaum erfüllen, und die Möglichkeit einer vollständigen Aullösung scheint daran zu schiMtern, dafs wir den B(^griff' der Durchdringung der Materien oben als einen unhaltl)aren abweisen mufsten. Indessen gilt dies doch nur von der m(>chanisclien Duichdringung, wovon jedoch die chemische ganz verschieden ist. Widirend nämlich jene darin bestehen würde, dafs bei der Annäherung bewegter Materien die repulsive Kraft der einen die der andern gänzlich überwiegen und die Ausdehnung der Materie völlig aufiieben würde, bleibt l)ei der chemischen Durchdringung die Ausdehnung bestehen, „nur dafs die Materien nicht aul'ser einander, sondern in einander, d. i. durch Intussusception (wie man es zu nennen pih^gt) zusammen einen der Summe ihrer Dichtigkeiten gemäl'sen Raum einnehmen" (42;-)). Hierbei kann das Volumen, welches die Auflösung ein- nimmt, „der Summe der Eäume, die die einander aufir>senden Materien vor der Mischung einnahmen, gleich, kleiner oder auch gröfser sein, je nachdem die anziehenden Kräfte gegen die Zurück- stol'sungen in Verhältnis stehen. Sie machen in der Auflösung jedes für sich und beide vereinigt ein elastisches Medium aus" (426). Aber kommt nicht eine derartige Intussusce])tion euu^r vollendeten Teilung ins Unendliche gleich ? Kant weist diesen P]inwand damit ab, dafs eine solche in diesem Falle doch keinen Widersi)ruch in sich enthalte, „weil die Auflösung eine Zeit hindurch kontinuierlich, mithin gleichfalls durch eine unendliche Reihe Augenblicke mit Acceleration geschieht" und somit die gänzliche Auflösung in einer

IL Die kritische Naturphilosophie.

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anzugebenden oder endlichen Zeit vollendet werden kann (425). Aber er mufs doch zugeben, dafs die Unbegreiflichkeit der chemischen Durchdringung zweier Materien auf Ilechnung der Unbegreiflichkeit der Teilbarkeit eines jeden Kontinuums überhaupt ins Unendliche zu schreiben sei (ebd. f.). Auch hier steht somit der Möglichkeit des Eegriftes nichts entgeg-en. derselbe läfst sich denken, aber nicht anschaulich konstruieren; wir sind also für die Wirklichkeit des Vorganges nur auf das a Posteriori der Erfahrung angewiesen.

Ein näheres Eingehen auf diese Ausführungen ist ohne AVert. Sie lassen zu deutlich die Schwierigkeiten der kantischen Auffassung der Materie als eines individualitätslosen Kontinuums erkennen. Aus blofser einfacher Anziehung und Abstofsung. die gleichsam überall und nirgends sein sollen und nicht auf bestimmte Raumpunkte bezogen sind, lassen sich die komplizierteren Kräfte der Materie nicht begreifen. Der Metaphysiker hat gut sagen, dafs er für die Ableitung des in der Erfahrung gegebenen Materials aus seinen Grundkräften nicht einsteht, und der Apologet des Metaphysikers niag auf das Nachdrücklichste darauf hinweisen, wie jener zwar der empiiischen Naturwissenschaft ihre Aufgabe zeigen, aber diese Auf- gabe nicht selbst lösen wolle, und dafs, was er etwa als Lcisung andeutet, nur „Beispiel der Methode", nicht selbständiges Resultat sein solle.*) AVenn die Grundkräfte des ^reta})hysikers derartige sind, dafs auch mit dem besten Willen nicht einzusehen ist, wie eine reale Beziehung zwischen ihnen und den Thatsachen der Er- fahrung auch überhau])t nur möglich sein soll, und wenn jene „Beisjuele der Methode" nur das Eine deutlich zeigen, dal's die Methode unbrauchbar und daher wertlos ist, dann ist damit nicht blofs der AVert der metaphysischen Resultate in Erage gestellt, sondern man wird es auch der Empirie nicht verübeln können, wenn sie bisher achtlos an ihnen vorbeigegangen ist. Man kann Schaller nur beistimmen: „Es ist nicht zu übersehen, dafs, so hoch wir auch diese Vorsicht Kants schätzen mögen, mit welcher er aus seinen allgemeinen Pi-inzij)ien sieh nicht in das Besondere hiniiberwagt, doch die li)m])irie vollkommen im Rechte ist, wenn sie fordert, dafs sich diese allgemeinen Prinzipien auch als solche bewidiren sollen, dafs also von ihnen aus und durch sie die besonderen Erscheinungen zu beweisen sein müssen. Es ist daher ganz in der Ordnung, wenn die Emj)irie die kantische Naturphilosophie aus ihrer sicheren Sphäre der Allgemeiidieit heraustreibt, die konkreten Erscheinungen des Lichts, der Wärme, des i\Iagnetismus u. s. w. ihr entgegenhält

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*J Stadler: a. a. O. 255.

D r e w s , Kants Naturpliilosophie.

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B. Kant als Natiirphilosoph.

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und sie nun darauf ansieht, was sie aus diesen zu machen im- stande ist."*)

Die Dynamik hwuft sieli in ihrer Olnniiacht darauf, deii Zu- sammenliang zwischen ihren eigenen Prinzipien und der Erfahrung' aufzuzeigen, dazu fühle sie sich, als Metaphysik, gar nicht ver- pflichtet. Man hraiu'ht sie darum nicht zu schelten, aher man ver- lange doch von der Naturwissenschaft nicht, dafs sie nach ihr sich richten und ihre Residtatc im dynamischen Siime modeln solle, so knge jene noch nicht seihst gezeigt hat, was sie leisten kann, und wozu ihre hisherigen Leistungen üherhaupt nützen sollen. Stadler meint freilich, jene Zurückhaltung Kants dürfte der Naturwissen- schaft viel eher Zutrauen (^irtlöl'sen. als sie von dem Studium des Philos()i)hen zurückschrecken, denn nun seien für ihren xVnschlufs Präliminarien entworfen, hei denen ihre l^echte und ihi-e AVürde vollständig gewahrt hleihen.^*) Daraufist zu erwidern : die Natur- wissenschaft hat unmittelhar gar kein Interesse daran, ihre Hypo- thesen so zu gestalten, dafs sie den Anforderungen der Meta])hysik und Erkenntnistheorie genügen; sie zieht ihre Hypothesen von der Erfahrung ah, unlx kümmert dai-um, was der ]\I<^taphysikei' dazu sagen wird, in der ganz richtigen Voraussetzung, (hifs nicht sie sich nach jenem, sondern jener sich nach ihr zu i'ichten hahe. Erst wenn der Naturforscher auf die \'oraussetzungen seiner Hyj)(»thesen und die realen Seinsgrundlagen derselhen retlektiert, eist wenn er mit andern vVorten seihst zum Philosophen wird, erst dann tritt an ihn die Entscheidung heran, oh er die Erscheinungen lieher im Sinne des Dynamismus oder in demjenigen des Atomismus inter- j)retieren soll ; er wird aher, als Naturforscher, dem letzteren so lange unhedingt den Vorzug gehen müssen, als ihm der Dynaniisnnis nur in der kantischen Form hegegnet. Denn jener erklärt doch wenigstens die Naturerscheinungen, wenn er auch den metaphysischen und erkenntnistheoretischen Postulaten nicht gerecht wiid; dieser dagegen stolpert üher jeder konkreten Erscheinung, und was seihst seine metai)hysische und erkemitnistheoretische Begründung an- betrifft, so erscheint auch sie, wie wir gesehen haben, mehr als

fraglich.

Die moderne Naturwissenschaft erklärt ebenso die verschiedenen Aüirrecfatzustände, wie die chemischen Erscheinungen und die be- sonderiai Kräfte der Materie als Aufserungen kombinierter Atom- und ]\Iolekularkräfte, die aus der Vereinigung der Atome zu Mole-

^) Schall er: a, a. ( ). 'J'.tJ f. '*j Stadler: a. a. O. 'J:')."..

II. Die kritische Naturphilosophie.

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külen und den sich hierbei ergebenden Gruppierungsverhältnissen entspringen. Auch ihr sind die letzten Elemente der Materie überall identisch , und ihre Besonderheiten sind weiter nichts als das Resultat der Kombinationen , die auf der Miiglichkeit ihrer Lageveränderung beruhen. So lange der kantische Dynamis- mus an seiner kontinuierlichen Materie festhält, die gar keine Ver- änderung der Lage ihrer Teile und keinerlei Grupi)ierungen zu verschiedenartig gestalteten Molekülen zuläl'st, so lange ist ein Bund zwischen ihm und der Empirie unmr.glich. Treibt ihn aber das Prinzip der Sjiezifikation dazu fort, den Dualismus seiner l)eiden Gruiulkräfte dnliin zu modihzieren , dafs er sie in eine reale Vielheit abstofsender und anziehender Kraftindividuen zerspaltet, dann, aber auch nur dann ist die Möglichkeit einer Vereinigung von Philosoj)hie und Naturwissenschaft gegeben. Jetzt strebt der Kantianis- mus eine solche vergeblich dadurch an, dafs er die Naturwissenschaft lur Prinzipien zu begeistern sucht, mit welchen die letztere nichts an- zufangen weifs. Mit nndern AVorten: der kantische Dynamis- nius mufs erst at om i st i seh e r I)yn:imismus werden, e he er n a t u r w i s s e n s c h a f 1 1 i c h e r I ) y n a m i s m u s sein kann. Zu dieser Einsicht, die er urs])rünglich selbst geteilt hatte, war Kant aufser Stande, sich zurückzufinden, weil er sich den AVeg zu ihr ein für adle Mal durch seine erkenntnistheoretischen Voraus- setzungen versperrt hatte. J\Ian kann daher den letzteren nicht nachrühmen, dafs sie der Naturjdiilosophie einen Vorteil gebracht hätten, wozu sie doch Kant eigentlich aufgestellt hatt(^: im (Tcgen- teil haben sie hier, wie überall, nur dazu !)eigetragen. die Schwieris- keiteii zu vermehren und haben den I*hilosoj)hen auf eine H;i]m gedrängt, wo er niemals zu einer gesunden Naturphilos()])hie ge- langen konnte.*)

;'. Die Mechanik.

Die Phoronomie hatte die Bewegung als ein reines Qu.antum nach seiner Zusammensetzung ohne alle (:j)ualität des Beweglicdien betrachtet. Die Dynamik hatte sodann sie als zur (Qualität der Materie gehörig unter dem Namen einer urs])rünglicli bewegenden Kraft in Erwägung gezogen. Auf das Abweichende von der ur- sj)rünglichen I>estimmung in dieser Wendung des Gedankens würdig an seiner Stelle hingewiesen. Bei der Willkür, womit Kant seine Kategorieentafel handhabt, kann es nicht Wunder nehmen, wenn

*) VVl. hiei'/ii: v. H a rt 111 a ii ii : Phil, d, liihcw, II. DG— llü. Ges. Studien u. Aufs. ."»'.JG .•")]:"),

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B. Kaiil als Natiirphilosoph.

er uuch im dritten Teile der „Metaphysischen Ant'an<;srrriind('- nicht die Eelation der Hewe^nin^r, sondern „die Materie mit dieser Qua- litiit durch ihre eigene Bewegung gegen einander in Relation" betrachtet (r)t)()).

Bislier handelte es sich blol's um die apriorischen Bedingungen, wodurch (k'r Begrii!" der Materie in der Aiiscliauung sich ver- wiikliclit. iJie Untersucliung drehte sich um die Bewegung und die RaumertuUung, wie jede unabhängig von der anderen besteht. Die Phoronomie bekümmerte sicli ])lors um die Bewegung und hatte für die Baumcrliillung nur insofern Interesse, als die Bewegung an einem Bewegten vor sieh geht: ai)er sie hatte es mit dem letzteren so w(4iig zu thun, dafs sie es auch tiu- einen Punkt ansehen konnte. Die Dynamik beschiütigte sich unmittelbar nur mit der Baum- eri'üUung und mit der Bewegung nur mittelbar, sofern die extensive Gröfse der JtaumeriüUung sich auf die intensive (TnU'se der be- wegenden Kratt zurückführen liel's. „Der blol's dynamische B.egrilV konnte die Materie auch als in Buhe beti-acliten : die bewegende Kraft, die da, in Erwägung gezogen wurde, betraf l)lol's die Er- füllung eines Baunu's. ohnt' dafs die Materie, dm ihn erfüllte, selbst als bewegt angesehen werden durfte'' (4olj. Kunmehi" handelt es sicii um die Verbindung der Bewegung mit der Kaumerfiillung. worin beide gleich unmittelbar als Gegenstand der Betrachtung gelten: um die Bewegung, sofern sie ein Accidenz an der iei-tigen Materie, und um die Materie, sofern sie in Bewegung befindlich ist. Es handelt sich nicht mehr um die ganz allgemeine Eigenschaft der Materie, dafs sie eine extensive Gnifse ist, auch nicht um die Rea- lität dieses Begriffs in der Empfindung, wodurch die extensive Gröfse der Kaumerfüllung zur intensiven (Tröfse m Beziehung steht, es handelt sich demnach überhaupt nicht mehi- um die Anschauung der Materie, sondern allein um die Materie, sofern sie ein Objekt der Er fall r u n g ist.

Diese Betrachtung bildet den Inhalt der ]\I<'chanik. Nach ihr ist die Materie „das Bewegliche, sofern es als ein solches bewegende Kraft hat" (ebd.). Damit ist eine ganz andere Be- stimmung gegeben, wie in der Dynamik. Auch hier war von be- wegenden Kräften die Rede, aber „die Zurückstofsungskraft war eine ursprünglich-bewegende Kraft, um Bewegung zu c r t e i 1 e n ; dagegen wird in der xMechanik die Kraft einer in Bewegung gesetzten Mati'rie betrachtet, um diese Bewegung einer andern mitzuteilen" (ebd.). Die Phoronomie mufste vor der Dynamik behandelt werden, obwohl in der Anschauung unmittelbar nur die RaumeifüUung gegeben ist, weil die bewegende Kraft der Dynamik die Bewegung selbst zur

JI. Die kritische Naturphilosophie.

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Voraussetzung hatte. In dergleichen Weise mufste aber auch diese der Mechanik vorausgehen, weil eine bewegte Materie keine bewegende Kraft haben kann als nur vei-mittelst ihrer Zurückstofsung oder Anziehung, worauf und w^omit sie in ihrer Bewegung unmittelbar wirkt, um dadurcli ihre eigene Bewegung einer andern mitzuteilen. Die Begriffe Bewegung und Kraft sind also nicht identisch. Denn „es ist klar, dafs das Bewegliche durch seine Bewegung keine bewegende Kraft haben würde, w^enn es nicht ursprünglich-bewegende Kräfte besäfse, dadurch es vor aller eigenen Bewe<]:ung in jedem Orte, da es sich befindet, wirksam ist, und dafs keine Materie einer anderen, die ihrvv Bewegung in der geraden Linie vor ihr im Wege liegt, gleichmäfsige Bewegung eindrücken würde, wenn beide nicht urs])rüngliclie Gesetze der Zurückstofsung besäfsen, noch dafs sie eine andere durch ihre I^ewegung nötigen könne, in der geraden Linie ihr zu folgen, wenn beide nicht Anziehungskräfte liesäfsen*' (ebd). Genau genommen, mufste also die Mechanik sowohl die Mitteilung der P)ewegung durch Anziehung, wie durcli Al)- stofsung behandeln. Bidessen beschränkt sich Kant auf die Ver- mittelung der Bewegung durch J\epulsion, „da ohnedem die An- wendung der Gesetze der einen auf die der anderen nur in Ansehung der Jlichtungslinien verschieden, übrigens aber in beiden Fällen einerlei ist" (43'J).

Der allgemeine Grundsatz, wonach die Anschauungen sicli zur Erfahrung gestalten, lautete: ..Alle Erscheinungen stehen ilirem Dasein nach a })riori unter Regeln der Bestimmung ihres Verhält- nisses unter einander in einer Zeit." Die Zufälligkeit in der Reihen- folge der Anschiiuungeii mufs (i e se t zmäf sigke i t werden, wenn Erfalirung möglich sein soll, oder mit andern Worten: „Erfahrung ist nur durch die Vorstellung einer notwendigen Wirknüpfung der Wahrnehmungen möglich." Die Xotwendigkeit aber kam nach der Vernunftkritik in die Verknüpfung durch die „Analogien der Erfahrung" hinein. Aufgabe der Mechanik wird es demnach sein, diese Gesetze auf den Begriff der ^Materie anzuwenden, die I^e- wegungen den Analogieen der Erfahrung zu unterwerfen und (l;imit den Zusammenhang ihrer Veränderungen zu einem für unser Be- wufstsein so notwendigen zu gestalten, dafs er allen skeptischen Be- denken gegenüber sicher ist.

Der Begriff der bewegten Materie also ist es, der konstruiert werden soll. Die Frage ist zunächst, wie er sich als Gröfse darstellen, oder wie sich die Mitteilung der Bewegung in einer bestimmten Formel ausdrücken läfst. Auch vor diese Aufgabe sah Kant sich nicht zum ersten Mal gestellt. Sie bildete das Thema s(>iner Er>tlings-

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B. Kant als Naturphilosoph.

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Schrift „Gedanken von der walireii Scliätzuiig der lebendigen Kräft(\" Nur der IJoden war jetzt ein ganz anderer geworden, anf welchem Kant ilire Lr)sung unternahm, und demnach mul'ste auch diese jetzt ganz anders ausfallen.

Der ])estinimte HegritT von einer Gröfse ist nur durcli die Konstruktion des (^)uantunis möglich: diese aher ist nichts Anderes als Zusammensetzung des Gleichgeltenden; h)]ghch ist die Kon- struktion der Quantität einer Bewegung die Zusammensetzung vi(der einander gleichgeltender Bewegungen (A'.V,\). Handelte es sich nun blol's um Bewegung, so wäre das l^rohlem ein ])hoi-()nomisclies : die Gröl'se der Bewegung bestände (hinn nur in dem (Irade der Ge- schwindigkeit und k()nnte konstruiert werden als zusammengesetzt aus gh'ichgeltench'u Geschwindigkeiten. I)(Min „es ist nach den phoronomischen Lehrsätzen (?) einerlei, ob ich einem Beweglichen einen gewissen (ilrad Geschwindigkeit oder vielen gleich Beweglichen alle kleineren Grade der Geschwindigkeit erteile, die aus der durcli die Menge des Beweglichen dividierten gegebenen (-Jeschwindigkeit heraus- kommen'' (4r)!>). Icli hätte mir danach die Quantität einei" Bewegung vorzustellen als zusammengesetzt aus vielen Bewegungen aufser einander, aber doch in einem Ganzen vereinigter beweglicher I^mkte. Indessen ist diese Anschauung schon deshalb unzulässig, weil sie mit dem \\ Csen des Phoronomischen, wie Kant es versteht, doch nicht vereinbar ist. „In der Bhoronomie ist es nicht thuidich, sich eine Bewegung als aus vielen aufserhalb einander belindlichen zusammengesetzt vorzu- stellen, weil das Bewegliche, da es dasellist (»hne alle bewegende Kraft vorgestellt wird, in aller Zusnnnnensetzung mit mehren seiner Art keinen Unterschied der Gröfse der Bewegung giebt, als die mithin blol's in der (Geschwindigkeit besteht" (ebd. f.). Stadler hat wohl Becht, dafs der Hinweis Kants auf die „phoronomischen Lehrsätze" sich eben nicht auf seine eigen«' Bhoronomie. sondern auf die damalige mathematische Bewegungslehre bezieht. ■) In Wahr- heit handelt es sich bei der mechanischen Bewegungsgröfse nicht blol's um die Geschwindigkeit, sondern auch um die bewegten Körper; die (^nil'se der Bewegung der Körper aber ist diejenige, die durch die Quantität der bewegten Materie und ihi-e Geschwindig- keit zugleich geschätzt wird. Es ist mithin einerlei, ob ich die (Quantität der Materien eines Kr)r])ers do])])elt so grofs mache und die (-Jesch windigkeit behalte, oder ob i(;li die Geschwindigkeit ver- doppele und eben <iiese (Quantität der i\Iaterie behaltt? {l'.VJ. 4."1.)). Was ein Kör])er ist. ist klar: wir \eistehen darunter eine

*) Stadler: a. a. O. I.IJ.

11. Die kritische Naturphilosophie.

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Masse von bestimmter Gestalt. AVas aber ist eine Masse? Un- mittelbar genommen scheint dieser Begriff mit demjenigen der (^)uantität der Materie identisch, d. h. er ist di(^ Menge des Beweg- lichen in einem bestimmten Kaum. Allein hier ist eine Einschränkung nötig. Bei einem unterschlägigen Wasserrade wirkt das anstofsende Wasser nicht mit allen seinen Teilen zugleich, sondern nach ein- ander ; diese successive Wirkung kann in der Mechanik nicht zu Grunde gelegt werden (4'^;')). In ihr kann die (^)uantität der Materie nur „Masse*' heifsen. „sofern alle ihre Teile in ihrer Bewegung als zugleich wirkend (bewegend) betrachtet werden, und man sagt, eine Materie wirke in Masse, wenn alle ihre Teile in einerlei Richtung bewegt, aufser sich zugleich ihre bewegende Kraft ausüben*' (432).

Hier stehen wir vor einer Schwierigkeit. Li der Bestimmung der mechanischen Bewegungsgröfse bildet die (^)uantität der Materie ein notwendiges ]\roment. Was aber sollen wir unter der Menge des Beweglichen vorstellen? Da die iNFaterie ins Unendliche teilbar ist, so bleibt folglich die Bestimmung ihrer (Quantität durch die „Menge" ihrer Teile unbestimmt, und es geht überhauj)t nicht an, von „Teilen" der .Materie zu reden. Zwar ist in der Vergleichung gleichartiger Materien die (Quantität der ^laterie „der Gröfse des V'olunuMis ])roportional" (433); allein dies ist nur ein Speziallall, der dem allgemeinen Charakter der Mechanik widerspricht, dafs es ni ihr nicht blol's auf Vergleichung spezitisch gleichartiger Materien, sondern auf Gröfsenmessung ankommt. Lehrte uns doch die Dvnamik die Unmöglichkeit, das Volumen als Mafs fih* die Materie anznsehen. weil bei der verschiedenartigen Zusammendrückbarkeit der ^laterien gleiche Volumina ungleiche (Quantitäten enthalten kininen. Hs ist daher unmö'dich, die IMaterie unmittelbar oder mittelbar durch Ver- gleichung mit irgend einer anderen zu messen ; man mufs sich nach einem indirekten Schätzungsmittel umsehen.

Alle Eigenschaften der Materie müssen auf eine sie tragende Substanz, d. h. anf ein „letztes Subjekt im Räume*' bezogen werden , „welches eben darum keine andere (iröfse haben kann, als die der Menge des Gleichartigen aufserhalb einander.*' I)i(*ses Subjekt wird nur dui-ch die eigene Bewegung der Materie erkannt und bestimmt, und damit ist uns in dov Vielheit der Bewilligungen ein Mal's gegeben, um nach ihm di(^ (Quantität der Substanz, d. h. die ^leiige des Beweglichen, wenigstens auf indirektem Weg(^ ab- zuschätzen (43(j). Offenbar ist nämhch die AVirkung, die ein Kch'per ausübt, der (Quantität seiner Materie i)ro})ortional. Man braucht also nur die (Geschwindigkeiten zweier Materien einander gleich zu setzen, um ihre (Quantität zu bestimmen, oder wie Kant es ausdrückt:

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B. Kant als Naturphilosoph.

IT. Die kritische Naturphilosophie.

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„Die Quantität der Materie kann in Ver^leichun^^ mit jeder anderen nur durch die (Quantität der Bewe^^un^ bei gleicher Geschwindigkeit geschätzt werden'' (A',VJ. A'.V.\).

Damit wäre der Zirkel denn glücklich geschlossen: die (^)uan- tität der Bewegung eines Körpers soll durch die Quantität der be- wegten ^Materie, diese aber durch die (Quantität der Bewegung geschätzt werden! Kant selbst hndet, dals hierin ..etwas Befrt'nid- liches" liege, glaubt jedoch der Unbe(juemlichkeit, dals es mehr als ein ,. vermeinter Zirkel" sei, durch Hinweis auf die Erfahrung sich entziehen zu kihmen. „Die (^(uantität des BeweglicluMi im iiaume ist die (^(uantität der Materie; aber diese (^)uantität (k'r Materie (die Menge des Beweglichen) beweiset sich in der Erfahrung nur allein durch die (Quantität der Bewegung bei gleicher Ge- schwindigkeit (z. B. durchs Gleichgewicht)-' (\',\') f.). Nun ist es ja richtig, (kifs die Bhysik die blasse eines Körpers nacli seinem Gewichte mil'st, und für die Praxis reicht dieses Vei'lähren auch vollkommen aus. Indessen für ein wirkliclies Mafs der Masse kann das Gewicht doch nur so hinge angesehen werden, als man nicht zuirleich auf die Ätheratome reflektiert, die in keiner ]\Iasse fehlen, und welche in das Gewicht einfach deshalb nicht mit eingehen, weil sie eben unwägbar (im])onderabel) sind. Die theoretische Be- sinnung mufs daher auch sie in ihre Formel mit aufnehmen, und gerade Kant kann sich dem gar nicht entziehen, wtäl die ..i\Ieta- physischen Anfangsgriinde*' ja nur die theoretischen Voraussetzungen der Physik erörtern. Er hat daher ganz Kecht. das empirische Moment des Gewichts in seiner allgemeinen Formel beiseite zu lassen und die (^juantität der Materie nur als di(^ Menge des Be- weglichen zu bestimmen. Es ist dies in der That der ,. Fundamental- satz der allgemeinen Mechanik" (434). Das 8chbmme ist nur. dafs er hiermit aus dem fehlerhaften Zirkel gar nicht herauskommt, weil nach seiner dynamischen Theorie der Materie die (Quantität der Bewegung ein ebenso unbestimmter Begriff ist, wie die (Quantität der Materie, und bei der Unendlichkeit der Teile eines jeden K(')r})ers jede jMessung uml Vergleichung zweier Körper unmöglich ist. iS'ur das Gefühl hiervon macht, dafs Kant jenen Fundamentalsatz so „merkwürdig" findet (4.')4).

Dabei sucht er seine eigene Auffassung der JMaterie, wonach sie an sich stofflich sein soll, der Monadologie gegenüber heraus- zustreichen, sofern nur jene die mechanische Bestimmung der Materie nach der Menge des Beweglichen gestatten soll, wohingegen diese auch den „Grad der bewegenden Kraft mit gegebener Geschwindig- keit" ins Auge fassen müsse, „der von dieser Meng(,' unabhängig

wäre und blofs als intensive Gröfse betrachtet werden könnte,*' ohne von einer Menge der Teile aufser einander ahzuiiängen (430). Nicht die Grcifse einer gewissen Qualität an ilir (der Zurück- stofsung oder Anzit4mng) macht die (Quantität der Materie aus, sondern die blofse Menge des Beweglichen; denn nur diese kann bei der gleichen Geschwindigkeit einen Unterschied in der (^)uantität der Bewegung geben. Es widersj)richt dem nicht, meint Kant, dafs die ursprüngliche Anziehung, als Ursache der allgemeinen Gravi- tation, beim Abwiegen doch ein Mafs für die Quantität der Materie und ihrer Substanz abgeben soll. Zwar ist hier nicht eigene Be- wegung der anziehenden Materie, sondern ein dynamisches Mafs zu Grunde gelegt; „aber weil bei dieser Kraft die Wirkung einer Materie mit allen ihren Teilen unmittelbar auf alle Teile einer andern gescliieht und also (bei gleichen Entfernungen) offenbar der ]\renge der Teile ])rop()rtioniert ist, der ziehende Köri)er sich da- durch auch selbst eine Geschwindigkeit der eigenen Bewegung er- teilt (durch den AViderstand des gezogenen), welche, in gleichen äufseren Umständen, gerade der Menge seiner Teile ])ro))ortioniert ist, so geschieht die Schätzung hier, obzwar nur indirekt, doch in der That mechanisch-' (4.')() f.).

Dagegen ist nichts einzuwenden. Wohl aber beschuldigt Kant die ^Monadologie mit Unrecht, dafs sie ein dynamisches Mafs an Stelle des mechanisclien setze, sofern sie allen Stofi" in Kraft auf- löst. Das mag richtig sein für Kants eigene frühere Monadologie, die selbst, wie wir gesehen liaben, das A'orurteil des Stoffes noch nicht gänzlich überwunden hatte und die Ausdehimng abliängi machte vom Grade der Kraft ; aber es gilt nicht von der gereinigten iMonatlologie. d. h. dem atomistischen Dynamismus in dem Sinne, wie wir ihn oben entwickelt hal)en. Dieser Dynamismus bestimmt, ganz ebenso wie Kant, die Masse als die Anzahl der Monaden oder Uratome, d. h. der beharrlichen Kraftelemente, die auch den Grad ihrer Kraft nicht verändern, und dieser Ausdruck ist für ihn ein ganz bestimmter, sofern ihm die Anziihl der Monaden für eine bestimmte und nicht iÜr eine unendliche gilt. Kant jedoch ist zu einer solchen Auffassung überhaupt nicht einmal l)erechtigt, weil nach ihm die Materie ja gar keine.« Elemente in sich enthält. Einem solchen Standpunkt gegenüber ist selbst Kants eigene frühere Monadologie im Vorteil, denn sie hatte doch wenigstens bestimmte Elemente : die Annahme der unendlichen Tt^ilbarkeit der Materie dagegen, die selbst nur wieder aus ihrei- i\uft'assung, als einer stoff- lichen, entspringt, ist nicht blofs widers])i-uclisvoll in sich, sondern sie macht auch eine mechanische Bestimmung der Bewegungsgröfse unmöglich, weil sie dieselbe zwingt, sich im Zirkel zu drehen.

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li. Kaut als Natui'philosoph.

Verf,^leiclit man diese Schätzung der I}ewef:jungsgrörse mit der Erstlin,i,^ssclirit't, so fallt es auf, wie einfach jetzt die Formel ge- worden ist, wodurch Kant das ^lafs der Kräfte zu bestimmen sucht. Damals hatte Kant die Kraft, welcln^ in einom Körper von draufsen verursacht ist, oder die ,.tote-' Stofskraft desselben von dei' in ihm selbst gewirkten Kraft, der „lebendigen*' oder dvr Arbeitskraft des Körpers, unterschieden und die erstere, die nur dem l\(»r))er der MatluMnatik zukommen sollte, mit Cartesius durch (his l^rodukt der .Masse und Geschwindigkeit . die letztere, welche er allein dem Körpei; in (k'r Katar zuschrieb, und die sich in (h'r Überwindung eines stetigen Widerstandes äufsern sollte, mit Leibniz ilurch das Produkt aus der Masse und dem (^Inadrate der (reschwindigkeit bestimmt. Jetzt b<'ilt Kant blols nocli an der ersten K(U*mel des Cartesius fest, offenbar aus keinem aiulern (rrunde, nls weil er die innere (^)uelle der Naturkraft des Kcirpers. die Bestrebung des- selben, seinen Bewegungszustand zu erlialten. (xhu* die ..Trägbeits- ki'aft" nicht mehr für eine besondere Kratt ansah. „A\'ie die (^)uantität der Bewegung eines Körpers zu der eines anderen, so vei'hält sich auch die Gröfse ibrei* Wirkung" (4.') ij. I^^s giebt demnach nur Ein allgemeines Mais tiir die mecbanische Kraft, und dies ist die Bewegungsgröl'se. Kant wendet sicli jetzt sogar aus- drücklich gegen diejenigen, die. wie [jeibniz, blofs die Gröfse eines mit Widerstand ert'idlten l\aumes (z. B. die Höhe, zu welcher ein Kr)r))er mit einer ^a'wissen Geschwindigkeit gegen die Schwere steigen kann) zum Mafse der ganzen Wirkung annehmen, weil sie die (iröfse der Wirkung in der gegebentMi Zeit id)ersehen, worin der K()rper seinen J\aum mit kleinerer (ilescliwiridi^keit zui-ücklegt. Er v(M'wirt"t überhaupt die ^anze frühere Liuterscheidun^ zwischen toten und lebendigen Kriiften und meint, wofern man sie nicht lieber ganz aufgeben wolle, müsse man sie doch in jedem b'alle „schicklicher" verwenden ( tiU). Er vergifst dabei nur, dafs die ver- schiedenartige Bestimmung des Kräftemafses auch ohne die An- nahme einer besonderen Tragheitskraft noch jetzt ihren guten Sinn haben kann, dafs sie aber dann nicht in die ,,]\Ietaj)hysischen An- fani^sgründe", sondern in die Physik hineingehört, weil sie \on der em})irischen Bedini^ung des Widerstandes abhüngig ist, welchen die Kraft zu überwinden hat.

Die erste Analogie der Erfahrung besagte, dal's l)ei allem Wechsel dvv Erscheinungen die Substanz beh;ii-rt und dafs dns (Quantum derselben in der Natur wnuier vermehrt, noch vermindert wird. Die ,.Metaphysischen Anfangsgiainde" wenden diesen Satz auf die Materie an und si)rechen es als „erstes (iesetz der ^lechanik"

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li. Die kritische Naturphilosophie.

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aus: „Bei allen Veränderungen der körperlichen Natur bleibt die Quantität der Materie im Ganzen dieselbe, unvermehrt und un- vermindert" (437). V^ergleicht man die beiden Sätze mit einander. so zeigt sich, dafs zwischen ihnen gar kein Unterschied besteht. F]rinnern wir uns doch, w'ie Kant auch l)ei der Behandlung der ersten Analogie unter Substanz nur die Materie verstand, wie er beide Begrifle als gleichbedeutend ge])rauchte. wie der wesentlichste Zweck, den er bei seiner Aufstellung im Auge hatte, der war. die Konstanz der Materie a priori zu begründen, und wie er die blofse Subjektivität des Substanzbegriües n.ur daduich hatte begreiflich machen können, weil er ihn lediglich auf die blofs subjektive Er- scheinung (hu* Materie bezog! Offenbar hat Kant hiervon selbst eine Ahnung; daher giebt er sich alle Mühe, diese ihm unbe([ueme Identität dov l)eiden Sätze zu vertuschen. Einen andern Zweck kann es kaum haben, wenn Kant bemerkt: „Aus der allgemeinen Metaphysik wird der Satz zu Grunde gelegt, dafs bei allen Ver- änderungen der Natur keine Substanz weder entstehe, noch vergehe, und liiei- wird nur dargetlian. was in der Materie die Sub- stanz sei*' (ebd.). Es soll also noch ein Unterschied bestehen zw^ischen der Materie und der Substanz, und dieser wird näher dahin bestimmt, dafs in jeder Materie „das Bewegliche im Räume das letzte Subjekt aller der Materie inhärierenden Accidenzen'' sei. und dafs nur ,.(lie Menge dieses Beweglichen aufserhalb einander" die (^lumtität der Substanz bedeute (ebd.J. Die Gröfse der .Alaterie der Substanz nach ist also nichts Anderes als die Menge der Sub- stanzen, daraus sie besteht, und weil demnach jeder Teil der Materie selbst wiederum Substanz ist. darum wird jenes Gesetz von Kant auch als „Gesetz der Selbstiindit^keit der ]\rntei'ien"' (h^x subsistentiae) bezeichnet (447). Allein auch so stimmt dieses Gesetz mit jenem früheren Grundsatz der Fhialiruni^ darin überein. dafs sie beide tautologisch sincL Denn wenn man die Substanz als das Unvcr- mehrbare und Unverminderbare deüniei-t und die Menge des Be- weglicben bei der Materie als (^)uantum der Substanz bezeichnet, dann ist es <lurchaus kleine neue Erkt^nntnis. zu sagen, die (Quantität der Materie sei unvei'melirbar und unvcrminderbar : der beliauj)tete Unterschied der beiden Sätze schriim})l't in Nichts zusammen.

jM(>glich wird freilich jene Identitikation dei" Materie mit dem Substanzbegritf nur dann, wenn man. wie Kant voraussetzt, die Substanz sei nur im Räume und nach Bedingung<Mi desselben, folglich als Gegenstand äul'serer Sinne möglich. WVum die Aus- dehnung eine notwendige Bestimmung der Substanz und dieser Bfgrilf nur auf Räundiches anwendbar ist, dann allerdings wird

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B. Kant als Naturi)liilos()])h.

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man aiidi den Teilen der :\Iaterie d<'n Namen Substanz nicht vor- enthalten k(-»mien. weil sie eben Teile „aulserhalb einander-' sind. Hier liegt der (Trund. warum Kant die Psychologie von der Natur- wissenschaft glaubte ausschliefsen zu müssen mit dem Bedenken, dai's sie einer wahrhaft wissenschaftlichen Behandlung, einer a])rio- rischen Konstruktion ihrer Hegriffe nicht fähig sei: sie soll hierzu nur deshall) nicht fähig sein, weil in ihr der Substanzbegrift keine Anwendung finde. Was als Gegenstand drs \unovpu Sinnes betrachtet wird, hat (Mue GriH'se. die nicht aus Teilen aufserhalb einander besteht, deren Teile also auch nicht Substanzen sind, deren Entstehen oder Vergehen folglich auch nicht ein Entstehen oder Vergehen einer Substanz sein darf, deren Vermehrung oder Verminderung daher dem Grundsatz von der Beharrlichkeit der Sui)stanz unbeschadet mr^glich ist (437 f.). Aus dem verschiedenen Grade des Bcwufstseins un.l der Klarheit unserer Vorstellungen folgt notwendig, dafs auch das Verm()gen des BewufstscMiis odei- die^Apperzeption und damit zugleich die sie tragende Suhstanz dei- Seele einen Grad hal)en mufs, der grr)fser oder khäner werden kann, ohne dafs hierbei Teile, die Substanzen wänui, zu entstehen oder zu vergehen hrauchen. Man kann sich vorstellen, dafs die Intensität dieses Vermr)gens der Apperzeption bis zur Null ab- nehmen, ja dafs sie schliefslich ganz verschwinden kann. Es geht uns mithin hier jede Berechtigung ab, die Seeh« als Suhstanz zu betrachten, weil uns das einzige Merkmal dieses Begriffes, nämlich die Beharrlichkeit, fehlt (4.')S).

Ohne sich auf eine nähere^ EWh'tcrung dieser Sätze einzu- lassen, kann man sagen: der Suhstanzbegrilb wenn man ihm schon einmal eine reale Bedeutung zuschreil)t. zwingt notwendig dazu. ihn nicht blo s auf den (legenstand der äufseren Wahrnehmung, sondern auch auf das innerliche Objekt unserer Vorstellungen. Gefühle und Willensakte anzuwenden, mag man nun die Seele als individuelle Substanz oder als absolute Sul)stanz auffassen, welche die individuellen Scheinsubstanzen nur als ebenso viele individuell gesonderte Eunktionengruppen in sich schliefst. Ereilich das Ich Fst nicht diese Suhstanz: das Ich ist „selbst blofs ein (iedanke-S es ist nur ,.das allgemeine Korrelat der Ai)perzeption" und be- zeiclmet, „als ein hh)fses Vorwort, ein Ding von unhe^^timmter Be- deutung! nämlich das Subjekt aller Prädikate ohne irgend eine Bedingung, die diese Vorstellung des Subjekts vmi dem eines Etwas überhaupt unterschiede, also Substanz, von der man, was sie sei, durch diesen Ausdruck keinen Begrilf hat«' (biS). Aber ebenso wenig ist die Materie, als Gegenstaml der äufseren W^ihrnehmung,

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schon selbst Substanz. Sie ist nur das subjektive Korrelat der äufseren Substanz in keinem andern Sinne, wie das Ich das sub- jektive Korrelat oder der Bewufstseinsrepräsentant der inneren oder Seelensubstanz ist. Wenn es anders erscheint, wenn die Materie bei ihrer doch immer nur relativen Beharrlichkeit der Rechnung leichter zugänglich erscheint als die ganz unfafsharen Erscheinungen des Seelenlebens, so li(\gt das nicht daran, weil sie vor diesen den Vorzug der Substanz voraus hätte, sondern es liegt daran, dals die Substanz hei ilireni mattuäellen Dasein in der dreidimensionalen Form des Baumes, bei ihrem seelischen Dasein dagegen nur in der eindimensionalen Zeitform sich offenbart (III. ()();")). Nur weil er bei seinem Begriffe der Substanz iiberhau})t blofs das materielle Sein im Auge hat, weil er jenen Begriff von vornherein nur auf die Materie zugeschnitten hat. nur darum vermag Kant sich in dem Glauben zu wiegen, die Beharrlichkeit der Substanzen hier a priori beweisen zu können, ,.weil bei der Materie schon aus ihrem Be- griffe, nämlich dafs sie das Bewegliche sei, das nur im Räume mciglich ist, ffiefst, dafs das. was in ihr Gröfse hat, eine Vielheit des Realen aufser einander, mithin der Substanzen enthalte, und folglich die (Quantität derselben nur durch Zerteilung, welche kein Verschwinden ist, vermindert werden könne*' (IV. 43<S). Es ist ein Irrtum, (h-r in der J*hilos()])hie die schlimmsten Folgen nach sich gezogen hat, das Ich für die Substanz der Seele selbst zu halten und dabei von seinen materiellen Bedingungen zu abstrahieren. Aber es ist ein mindestens ebenso grofser Irrtum, die substantielle Grund- lage der Seelenfiinktionen zu verkennen und sich einzuhilden. in der M[iterie die Substanz als solche unmittelbar erfafst zu haben. In Wahrheit hat der äufsere Sinn vor dem inneren in dieser Hinsicht nichts voraus als (kui Wunsch des Naturj)hiloso])hen Kant, die Konstanz der Matei'ie a priori zu begründen, während bei ihm ein gleiches Interesse füi' das Ich nicht besteht. Es ist aber ebenso wenig möglich, aus Ijlofsen Begriffen die Unvermehrbarkeit und Unverminderbarkeit der ^Materie zu erweisen, wie aus dem blofsen Gedanken Ich ilie Beharrlichkeit der Seele, als Substanz, gefolgert werden kann. In beiden Fälh^i k()nnen nur E r f a h r u n g s g r ü n d e das eine wahrscheinlicher als das andere machen, eine Waiir- heit, die, was die Materie aiilietrifft, wohl keinem Zweif(d mehr unterliegen düri'te, nat-hdem das Gesetz von der Erhaltiinu der Materie erst durch die moderne Bliysik und (.'hemie experimentell bewiesen ist.

Dafs die Materie nicht Substanz, sondern nur Accidenz ist, wird von Kant selbst zugegeben, wenn er sagt, die Materie bestehe aus

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„lauter Verlialtnisseir' und leu.i,niet, dafs sie der Idee des absolut notwendigen Wesens entspricht. Substanz kann nur das absolut Bebarrlicbe sein, das demnach ursprünglich und notwendig sein mufs : an das Dasein der i\Iaterie dagegen ist die Vernunft durchaus nicht gebunden, man kann es in Gedanken aufheben, ohne dafs einem damit der Boden unter den Füfsen sinkt. Wäre die Materie wii-klich selbst Substanz, dann wäre ja in ihr der höchste und letzte Grund der Einheit empirisch erreicht, dessen ewige IJnfafsbarkeit und Trans- cendenz die Vernunftkritik als der AVeisheit letzten Schlafs ver- kündigt hatte. Es kann ja aber gar nicht die Kede davon sein, dafs die Materie ursprünglich und notwendig wäre, denn Ausd(^hnung und Undurchdringlichkeit, die zusammen den I^eirriff der Materie ausmachen, sind Wirkungen (Handlungen), die ihre Ursache haben müssen, und sind daher immer noch abgeleitet (s. oben 154 f. 'JOi)). „Wo Handlung, mithin Thätigkcit und Kraft ist, da ist auch Substanz, und in dieser aUein mufs der Sitz jener fruchtbaren (^)uelle der Erscheinungen gesucht werden"' (111. 1S8). Wenn also die Sub- stanz Produzent der Erscheinung der Materie ist. dann kann die Materie, als Produkt der Substanz, nicht mit ihr selbst zusammen- fallen. Sie leitet uns dann zwar hin auf die Substanz und re])räsen- tiert die Realität derselben fürs Bewufstsein, aber sie selbst ist nicht Substanz, sie S(^ll)st ist von dieser so verschieden, wie es das Pe- wufstseinsimmanente vom Bewufstseinstranscendentcn ist. ..Materie ist nichts Anderes als eine blofse Form oder eine ^^ewisse Vor- stellungsart eines u n b e k a n n t e n Gegen s t an d es durch die- jenige Anschauung, welche man den äufseren Sinn nennt. Es mag also wohl etwas aufser uns sein, dem diese Erscheinung, welche wir ]^raterie nennen, korrespondiert; aber in derselben (^)ualität als Er- scheinung ist es nicht aulser uns, sondern lediglich als ein Gedanke in uns, wiewohl dieser Gedanke durch genannten Sinn es als aufser uns befindlich vorstellt'' (ITT. OOTj. Daraus geht hervor, dals die eigentliche Substanz überhaui)t nicht unmittelbarer Iidialt unseres Bewufstseins sein kann. Sie ist nur in derSpliäre der Tr anscendenz zu suchen, und es ist (d)enso unberechtigt, die subjektive Erscheinung der Materie für die Substanz zu halten, d. h. das Transcendente in die Immanenz hereinzuziehen, wie es nach Kants eigenen AV5)i'ten ein ,.blofses Tllendwerk"' ist. das, was nur in Gedanken existiert, nämlich die Materie, zur hypostasieren. sie in eben derselben (^)ualität als einen wirklichen Gegenstand aufserhalb dem Subjekt anzunehmen, und damit das blofs Immanente m die Welt des Transcendenten hinauszuversetzen (ebd.). Es ist ein Widersi)ruch, der sich nur aus seinem Streben n:u'li apodiktischer Erkenntms dtu' Naturgrundlagen

und der hieraus entsi)ringenden Bevorzugung des materiellen Seins erklärt, wenn Kant auf der einen Seite behauptet, das absolut Not- wendige sei nur in der Transcendenz zu finden und ddlwv für uns ein unfafsbarer Begriff, und auf der anderen Seite die Substanz, das einzige, was dem Begriffe des absolut Notwendigen entspricht, als die Materie bestimmt, obwohl doch diese nur Erscheinung in unserem Bewufstsein ist. Der Materialismus mag immerhin die Materie für die Substanz ausgeben er kennt ja kein höiieres, absolutes A\''eseii über ihr. Kant dagegen ist hierzu einfach deshall) nicht berechtigt, weil ja die Materie für ihn gar kein Letztes ist. Mit Hecht nennt er es eine „ganz sinnleere" Behaui)tung, die Vorstellung äufserer Gegenstände (die Erscheinungen) könnten nicht äufsere (d. h. trans- cendente) I5\sachen der Vorstellungen in unserem Gemüte sein, „weil es Niemandem einflillen wird. das. was er einmal als blofse Vor- stellung anerkannt hat, für eine äufsere Ursache zu lialteir' (TIT. (;i()). Aber er selbst begeht diese Siindosigkeit, indem er die Sub- stanz, welche der Erscheinung der Materie zu Grunde liegt, un- mittelbar mit dieser Erscheinung identifiziert.

Die Materie ist das TVodukt der Anzieliungs- und der Ab- stofsungskraft und als solche das letzte Subjekt alles dessen, was von dem Inhalt unseres Bewufstseins, soweit es sich auf den äufseren Sinn bezieht, auszusagen ist. T)Hraus folgt, dafs die Kraft, die eben dies Subjekt erst produziert, jenseits des Bewufstseins liegen, trans- cendent sein mufs. Tvcinnen doch die Kräfte als solche überhaupt nicht wahrgenommen, sondern nur indirekt aus den Bewegungen von uns erschlossen weiden, die uns solche Kräfte anzeigen (TU. 1,S5). Wie stimmt es hiermit zusammen, wenn Kant, um die Materie a |)riori zu konstruieren, von Kräften, die also docli selbst blofs aposteriorischer Natur sind, ausgeht, wenn er die a])odiktische Be- schaffenheit der Materie gründet auf den hypothetischen Tiegriif der Kraft y Ist die Kraft ihrer Natur nach etwas Transcendentes, so kann sie, als die Vorstellungen wirkende Ursache unserer Bewufst- seinswelt. jedenfalls nicht bewegende Ivraft sein: denn Bc^wegung ist ja, als T^rodukt von Baum und Zeit, für Tvant eine blofs sub- jektive Vorstellung. Und doch macht Kant die Pewegung zur ^Trundbestimmung der Materie und leitet er deren Eigenschaften aus Bewegungskräften ab !

Tvant befand sich offenl)ar in einer schwierigen Lage. \\'oraul es ihm ankam, war, die dynamische Beschr.ffenheit der Materie zu beweisen : darum bedurfte er t r a n s c e n d e n t e r T\räft(^ : denn die P'roduzenten dieses letzten Subjektes unserer äufseren Tk'griffe konnten nicht selbst wiederum blofs subjektive T^egriffe sein. Er

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1^. Kant als Natiir{)hilosnph.

wollte aber jenen Beweis a ])ri()ri fiiliri'n: darum mursten es be- wegende Kräfte sein: denn nur die Bewegung, als subjektiver Begriff, befs sicli vom Subj(d<t a priori konstruieren. Kant durfte also einerseits die Spliäre der Tmnnmenz niebt verlassen, sofern ja nämlicb die Möglicbkeit einer apriorisebcn Konstruktion natiirbcb nur so weit reicbte, wie die Grenzen der Subjektivität; und er mulste docb andererseits über die Ersebeinungswelt binausgeben. um aui die (Quelle der Mat^'rie zu stofsen. So erklärt sieb das eigentündicbe Scbwanken und Scbillern, das über dieser* Punkt durcb die ganzen ,.Metapbysisclien Anfangsgründe" bindurebgebt und die Yeranbassung zu vieb'ii Eriu-terungen gegeben bat. Die Verteidiger Kants baben «ranz recht, es ein IVlifsvei'ständnis zu nennen, als ol) es sieb bei den Kräften, aus denen die Materie resultiert, um transsubjektive bandeltr. Die Anfangsgründe stellen prinzipiell durebaus auf dem Boden der W'rnunftkritik, d. b. sie baben es ausscbliefslieb luit Fa- scbeinuno-en zu tbun. und die Kraft ist nur an und niciit bmter

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der Erscbeinung.') Aber aueb die (jegner Kants haben Recbt, dals seine ganze Naturpbilosopbie ,.zwiseben einer aprioriscben Tbeone der (nur in unserm Bewufstseiu vorbandenen) Ersebeinungen und einer Tbeorie der (unabliängig von dem Bewul'stscin fuiplindeuder Wesen existierenden, mr)glieber Weise vor der Existenz vmi Organismen bereits bestellenden und die Entstellung der Empfindungen bedingenden) Realität, die allen Naturersebeinungen zu (-i runde liegt, in einer unklaren Mitte scbwebt. .Alan mufs." sagt UcbiM'weg. „beider Lektüre der „Meta])iiysiseben Anfangsgrund«' der Naturwissenschaft" in gewissem Betracht vergessen und doch in anderem lietracbt test- balten. dafs wir naeb der K(mse(iuenz des Systems es nur mit \'or- <nln<>-en zu tbun baben. <lie ])Iofs innerbalb unseres Bewufstseins stattbnden, also bereits physisch bedingt sind und nicht der Existenz empfindender und vorstellender Wesen als Bedingung zu Grunde liegen k()nnen. '''''*)

Einen Ausgleich dieses AVidersprucbes vermochte Kantjiur dann zu finden, dafs er zwar an der subjektiven Natur der Bewegung festbielt, aber die letztere nicht dem transcendenten Pi-oduzenten der Materie selbst zuscbriel), sondern sie nur für die Art und Weise ausgab, wie uns in unserm Bewufstseiu jene transcendente Kraft sich darstellt. „Wenn wir von Anziehung und Abstofsung der Atome sprecben. so müssen wir albu-dings die Bewegungstendenzen

*j Stadler: a. a. (). 'J. **) TTeberwei»-: (inimlrils d. üescli. d. Pliilos. d, Neii/x-il (ü. Autl.J 2üÜ.

11. Die kritische Naturphilosophie,

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oder die positiven und negativen Bescbleunigungstendenzen und die Tendenzen zur Richtungsänderung nur als subjektive Repräsentanten oder als phänomenale Symbole für dasjenige betrachten, was dabei wirklich in den Kräften, als Dingen an sich, vor sich geht; aber wir dürfen auch nicht daran zweifeln, dafs etwas unseren räumliehen Anschauungen unräunilich KoiTespondierendes in den dynamischen Dingen an sieh vorgebt, und wir bleiben deshalb berechtigt, unsere räumlichen und phoronomischen Kraftbestimmungen als korrelative Rei)räsentantcn der Wij-klichkeit zu benutzen, obwohl wir sie als inadäijuat erkennen.- •=) Wir übersetzen also gleichsam die Sprache der Dinge an sich, womit sie sich uns ankündigen, unmittelbar in diejenige unserer subjektiven Erscheinungswelt, und wir wissen nur darum von jenen Dingen unmittelbar nichts, weil wir sie eben nur in unserer Übersetzung kennen lernen. Wir konstruieren die Materie aus Bewegung, obwohl wir ganz genau wissen, dafs sie eigentlicli nicht aus Bewegung zustande kommt, weil es uns eben an iedem andern Mittel fehlt, um uns den Vorgang ihrer Entstehung zu er- klären, und wir müssen ihn uns nur deshalb erklären, weil die von uns angeschaute Materie offenbar nicht ein Letztes sein kann.

Diese Auffassung hat Kant wirklich vorgeschwebt, wie auch aus jener Stelle in der Vernunftkritik hervorgeht, wo er darauf aufmerksam macht, „dafs nicht die Körper Gegenstände an sich sind, sondern eine blofse Erscheinung, wer weifs, welches unbekiinnten Gegenstandes: dafs die Bewegung nicht die Wirkung dieser unbekannten Ursache, sondern blofs die Erscheinung ihresEinflussesaufunsereSinne; dafs folglich beide nicht etwas aufser uns, sondern blofse Vorstellungen in uns seien; mitbin, dafs nicht die Bewegung der Materie in uns Vorstellungen wirke, sondern dafs sie selbst (mithin auch die Materie, die sicli (bidurch kennbar niacbtj blofse Vorstellung sei" (III. (i(KS f.). Leider kann die Kraft nur als transcendente wirklich die produktive Be- dingung der Materie sein; als blofs immanente aufgefafst, ist sie jedoch nicht die wirkliche Kraft, sondern nur unsere Vor- stellung von einer solchen, wobei es liypothetisch bleibt, ob ihr iiberhau})t eine wirkliche Kraft zu Grunde liegt. Diese Schwierig- keiten liat Kant auch wohl selbst empfunden, ohne jedoch vorläufig imstande zu sein, sie aufzulösen. Thatsäcblich behandelt er in den „Anfangsgründen" die Kraft, als ob sie eine transcendente wäre, und scheint es ganz vergessen zu baben. dafs ja die Bewegung blofs im Subjekt ist. Er hatte daher allen Grund, in dieser Schrift so

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*) V. Hart mann: Kants Erkenntnistheorie u. Metaphysik 147. D r e w 8, Kants Naturphilosophie. 23

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B. Kant als Naturphilosoi)h.

wenig, wie möglich, auf die Vernunftkritik Bezui^- zu nehmen und insbesondere über das Verhältnis seiner dynamischen Theorie der Materie zum transcendentalen Idealismus sich auszuschwcigen, ein Umstand, der freilich um so auffälli^^er erscheint, als es sich doch in den „Anfangsgründen" gerade um die näh^TC Ausführung dessen handelt, wozu die Verinmftkritik den Grund hatte legen wollen. Wir werden später sehen, wie Kant sich schliefslich geholfen hat, um die Bewegung als produktives Prinzip der IVIaterie festlialten zu k(umen und dennoch ihre a])riorische Natur nicht aufzugeben. So wie die Dinge in den „Metaphysischen x\nfangsgrüntlen-' liegen, kann von viner klaren Stellungnahme zu diesem Punkte nicht die Jlede sein, und es bleibt daher bei dem früher schon Gesagten, dafs näm- lich die ai)riorische Ableitung der Materie aus der Bewegung nicht als gelungen betrachtet werden kann.

AVenn nun die Kraft nur trancendent sein kann, so kann auch die Substanz oder das Subjekt der Kraftäufserung nur als eine transcendente verstanden werden. Damit widerlegt sich auch auf diesem Wege das Streben Kants, die Konstai>.z der Materie aus dem SubstanzbegriflP beweisen zu wollen. Berechtigt ist an dieser Be- strebung nur soviel, dafs eine Anscluiuung, welche die :\Iaterie in Kräfte auflöst, die Frage nach dem substantiellen Träger dieser Kräfte schlechterdings nicht umgehen kann. Denn der Stoff mag, wie gesagt, immerhin als Substanz betrachtet werden, sofern er für die sich gleich bleibende Unterlage alles Geschehens angesehen wird ; die Kraft dagegen, welche diesen Stoff erst m(")slich machen soll, Hattert als solche haltlos in der Luft und drängt eben damit das Denken unwffigerlich dazu, sie an eine noch hintc^r ihr liegende Substanz anzuknüi)fen.

Wer als Materialist die Materie oder richtiger den Stoff für die Substanz ansieht, der mufs früher oder später konse(iuenter Weise dahin gelangen, die Wahrheit des Sul)stanzbegriffes überhaupt zu leugnen, denn das stoffliche Dasein zeigt höchstens nur eine relative Konstanz, und es ist ganz vergebliche Mühe durch Zer- gliederung des Stoffes jemals zu einem letzten konstanten Elemente zu gelangen, wofern dieses selbst noch stofflich sein soll. Diese Konsequenz wird neuerdings auch von denjenigen Naturforschern anerkannt, die einsichtig genug sind, um sich mit einer ])lump stoff- lichen Auffassung der Materie nicht begnügen zu können, und doch nicht philosophisch genug, um sich zum Dynamismus durchzu- ringen. Die Folge dieses Zugeständnisses ist eine Naturforschung ohne Materie, ein Zurückführen aller Erscheinungen auf Bewegungs- vor^änge, ohne dafs man wüfste, was sich denn eigentlich bewegt,

iL Dit' kritische Naturphilosoi)hie.

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eine Anschauung, die alsdann von den Naturforschern und ihren blindgläubigen Verehrern als der Gipfel alles Tiefsinns angestaunt wird. Es ist verständlich, wie der Naturforscher, als naiver Realist, der in der subjektiven Erscheinung des Stoffes die Materie unmittel- bar selbst wahrzunehmen glaubt, zu einer solchen Auffassung ge- langen und die Wahrheit des Substanzbegriffes leugnen kann ; unter- scheidet er doch seine Vorstellung odt^r die Erscheinung nicht von dem Ding an sich und hat daher von einer Welt hinter der Er- scheinung keine Ahnung. Allein ein Philosoph, der den Irrtinn des naiven Realismus durchschaut hat, der weifs. dafs die Welt und damit auch der St(»ff' unmittelbar nur unsere Vorstellung ist, und der doch zugleich unsern subjektiven Kategorieen transsubjektive Geltung zuschreibt, ein solcher sollte doch billiger Weise davor geschützt sein, dem Substanzbefrriff alle AV'ahrheit blofs deshalb abzusprechen, w^eil er in der Erscheinungswelt allerdings nicht real ist. Wenn es eine Substanz giebt. so kann sie mir transsubjektiv nnd selbst der Grund des Subjektiven sein, wobei es ganz bedeutungslos ist. wie das Sui)jekt selbst zu diesem Begriffe gelangt ist. Ma<]^ der Substanzbegriff im Subjekt immerhin auf psychologischem Wege durch Absti'aktion von den relativ konstanten Erscheinungen ent- standen, und mag dieser Prozefs noch so durchsichtig sein, dadurch wird doch die Realität der Substanz nicht aufgehoben, schon des- halb nicht, weil ohne sie auch die relative Konstanz der Erschei- nuTureii nicht erklärlich wäre. Gäbe es keine Substanz, so könnte ein solches relatives Bestehen höchstens durch Zufall einmal herbei- geführt werden, aber es könnte nicht regelmäfsig. nicht gesetzmäfsig sein, so könnte es überhaupt keine Gesetze in der Natur geben; es müfste dann alles in ihr chaotisch durcheinander fluten. Dafs es Gesetze giebt, unwandelbare, ,.eherne-' Naturgesetze, dafs es nnin^lich ist, sie durch Beobachtung aufzufinden und jederzeit ihre Wirk- samkeit im Naturgeschehen nachzuweisen, das beweist, wie in allem Wechsel der Erscheiimngswelt ein Etwas sein mui's, das sich selbst nicht verändert, wie dieser scheinbar so rastlose heraklitische Flufs des AV^erdens und Vergehens nur der Ausdruck oder die wahrnehmbare Oberfläche eines sich hinter ihm verbergenden Wandel- losen ist, das genügt völlig, um unsere V'orstellunfj der Substanz selbst dann nicht zu widerlegen und uns zur Aufsuchung? dieser Substanz zu veranlassen, wenn der Zweck, den die Natur in allen ihren Gebilden festhält und dem sie durch alle ihre Verwandlungen hindurch nachstrebt, sich als eine blofse Chimäre herausstellen würde. Der Philosoph mag wohl vom grünen Tische aus die Wahr- heit des Substanzbegriffes bestreiten und das Sein in lautere

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B, Kant als Naturphilosoph.

Aktualität aiifl()sen; der unbefangene Mensch bestellt darauf, dafs, wo Handlung ist, auch ein Handelndes, wo Bewegung, auch ein sich Bewegendes, wo Kraft ist, auch eine Substanz sein mufs. Er wird auch einer Aufliisung der M;iterie in lauter Kräfte so lange mit Mifstrauen gegenüberstehen, bis man ihm gesagt liat, an welchem Sein di^se Kräfte haften, und er wird lieber zur gewöhnlichen Auf- fassung der Materie zurückkehren und den Stoff zur toten Unter- lage machen, ehe er sich entschliefst, eine Auffassung sich anzu- eignen, welche ihm nur absurd erscheinen kann.

Mit dieser Frage nach dem „Träger" oder „Sitz" der Kraft stehen wir nun vor demjenigen Punkte, an welchem bisher fast alle Versuche einer dynamischen Auffassung der iMaterie scheitern mufsten, weil sie darauf keine genügende Antwort geben konnten. Dem Naturforscher kann es unmittelbar ganz gleichgültig sein, ob die Kiemente der Materie dynamisch oder stofflich sind, wofern sie nur atomistisch gesondert sind, um Anknii])ftingsi)unkte für die Rechnung darzubieten.*) Aber gerade darum, weil die be- kannteste, die kantische, Dynamik nicht atomistischer Natur ist. und weil es unmitglich scheint, die Kräfte atomistisch auseinanderzuhalten, so lange man nicht ihre Substanz bestimmt, eine ßestimmung der letzteren aber notwendig aus dem Gebiete der Naturwissenschaft als solchen herausführt, gerade darum fällt der Naturforscher, selbst wenn er bereit ist, den Dynamismus im Prinzip anzuerkennen, tliat- sächlich doch immer wieder in den Materialismus zurück und hält er es für wissenschaftlicher, den Stoff zur Unterlage oder zum Sitz der Kraft zu machen, als eirjen Begriff sich anzueignen, der nicht unmittelbar zu den Re(j[uisiten der Naturwissenscliaft gehört. Der Philoso|)h von heute kann nicht anders, als die ])lofs subjektive Natur des Stoffes einräumen; er mufs auch zugeben, dafs es die Kraft ist, welche diesem Stoff' zu Grunde liegt. Allein er steht, wofern er „modern" sein will, viel zu sehr unter dem Banne der Naturwissenschaft, teilt viel zu sehr das Vorurteil des Zeitgeistes gegen die Metajihysik, als dafs er sich nicht hüten s()llt(\ die Sub- stanz jener Kraft genauer zu bestimmen, aus Furcht, damit in die Untiefen jener „Pseudowissenschaft" zu stürzen. Rr hält es noch für wissenschaftlich, das J^ing an sich des Stoffes als Kraft zu be- stimmen, obwohl er damit einen ganz anderen Begriff, wie der Naturforscher, verbindet, aber er hält es nicht mehr für wissen- schaftlich, auch noch hinter diese Kraft zurückzugehen und sie an eine Substanz zu heften, welche selbst nicht mehr Stotf sein

*) Vgl. Fechner: Fichtos Zeitschritt f. Pliil. Bd. XXX (1857), 172.

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kann. Der Naturforscher, der den Stoff in Kräfte auflöst, dreht sich im Kreise, wenn er zur Sul)stanz der Kraft doch schliefslich wieder den Stoff' erklärt; aber er hat die Entschuldigung für ^ich, dafs hieraus seiner Wissenschaft unmittelbar kein Schade erwächst, sofern es ja diese uimiittelbar nur mit der Bewegung zu thun hat. Der Philosoph, der sich scheut, über den Begriff' der Kraft hinaus zu demjenigen der geistigen Substanz fortzuschreiten, blofs um nicht mit dem Zeitgeist in Konflikt zu kommen, der Philosoph bleibt mit seinem Denken auf halbem Wege stehen und er hat gar keine Entschuldigung für sich, weil er sich durch leere Mode- vorurteile nicht abhalten lassen sollte, einen einmal angefangenen Gedankenfaden zu Ende zu spinnen. *)

Aber aucli wer nicht als Naturforscher in eitler Überhebun«^ die Grenzen der Naturwissenschaft für die Grenzen der A\'issen- schaft überhaupt ansieht und nicht durch die M(^inung seiner Zeit- genossen sich beirren läfst. in den gefürchteten Abgrund der Meta- physik hinabzusteigen, pflegt doch noch in den allermeisten Fällen am Ende beim Stoffe wieder anzugelangen, von dem er sich auf dem Wege der Spekulation gerade entfernen wollte.

Ein charakteristisches Beispiel hierfür liefert dagielski, der gleichfills mit der rein subjektivistischen Auffassung der .Alaterie bei Kant sich nicht befreunden kann und von der Notwendigkeit durchdrungen ist, die kantische Dynamik in transcendental-realistischem Siinie auszulegen. Auch er sieht sich damit vor die Aufgabe ge- stellt, die Träger der Kräfte, die Kant nur als „Punkte" oder „Teile" bezeichnet, genauer zu bestimmen, während diese für Kant unmittelbar nur Hilfsbegriffe sind und gerade durch ihre Unbestimmtheit geeignet scheinen, das oben erwähnte Schillern seiner Dynamik zwischen transcendentalem Idealismus und trans- cendentalem Reahsmus zu begünstigen. „Sehen wir", sagt er, ,.jene J'uidvte und Teile des Raumes, die sicli einander anziehen und ab- stofsen, als wirkliche Substrate dieser Bewegung an, nun, dann mag es immer wahr sein, dafs die empirisch vorgefundene Materie ohne die beiden Grundkräfte nicht möglich ist, aber jene Teile und Punkte selbst können nicht anders als materiell sein (!), und in ihnen wird wiederum die Materie als etwas von aufsen Gegebenes, etwas schon Daseiendes in die Konsti-uktion mit aufgenommen. Es mufs also zwar als Verdienst der Dynamik angesehen werden, dafs sie

''"') V<rl, meine Kritik der Philosophie Wundts in: „Die deutsche Sj)eku- latioii seit Kant mit bes. Rücksicht auf das Wesen des Absoluten und der Tersünlichkeit Gottes Bd. II. 47J)— 520.

13. Kant als Natur|)hil()S()})h.

uns die Materie als etwas an und für sich Tlüitiges, nicht erst von aul'sen der Belebung Bedürftiges auffassen lehrte; aber wir

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können ihr uninr^glich einräumen.

dafs sie in der Tliat d'w Kon

struktion des Begriffs der Materie vollständig zustande gebracht habe. Es scheint viehnelir. dafs man zwar nicht in P)ezug auf die Materie überhaupt, aber doch in Hinsicht der Teile und Punkte des erfüllten Raumes, die mit Kräften begabt sind, auf den Stand- punkt des Cartesius zurückgehrn müsse, dem zufolge die Materie nicht aus nichts deduziert werden kann, sondern als gegebene Substanz aus der Erfahrung aufgenommen werden mufs. sodafs eben in dieser ihrer Aufnahme sich das unmittelbare Thun der Materie ausdrückt."*) Wenn die Dynamik kein anderes Verdienst hätte, als dasjenige, welches Jagie 1 sk i ihr einräumt, so hätte sie ebenso trut uuf'ecchrieben bleiben können, denn es ist sachlich ganz einerlei, ob man die Atome als rein stofflich ansieht, odci- ob man ihnen noch aufsi^rdem Kräfte beilegt, ja. es scheint sogar philosophischer, mit dem einen Prinzip des blofsen Stoffes sich /u begnügen, als der Stoff mit der ihm ganz und gar heterogenen Kraft zu veniuicken. weil die Vereinigung und Vermischung dieser beidm Bestandteile im Denken sich gar nicht voHziidien läfst. dagiclski beruft sich zwar für seine Anschauung auf den Naturforscher Dalton und hidt sie für eine „Vereinigung der atomistischen und dyna- mischen Auffassung:"' allein der Naturforscher mag sich seine Be- «Ti-iffc zurechtlcij^en, wie es für ihn und seine Zwecke am besten pafst, darum braucht sie der Philoso])h doch noch lange nicht als richtig anzunehmen. Jene von Jagielski vorgeschlagene An- nahme ist nicht eine „Vereinigung-' der entgegengesetzten Standpunkte, sondern nur wieder die alte wohlbekannte Kraftstofftheorie der frow()hnlichen iMaterialisten, die gerade nur den primitiven Ausgangs- punkt einer wahrhaft ])liilos()phischen Auffassung der jMaterie bildet. Eine solche ist, wie nicht genug betont werden kann, nicht durch irgend einen Kompromifs mit der Stofftheorie, sondern nur durch m()glichste Entfernung von ihr zu gewinnen. Der Stoff ist sozusagen der Schleier der i\Iaya. der uns äfft und trüirt und den Glauben in uns erweckt, als wäre er seihst schon das Wesen der Dinge; man muls ihn erst vollständig zerreifseii und vernichten, ehe man zum eigentlicluMi Wesen der Materie durchzudringen vermag. Der Stoff ist geradezu das Böse in der Natur, dem man nicht vorsichtig genug aus dem Wege gehen kann, um sich zur reinen Erkenntnis des materiellen Daseins aufzu-

♦) Jagielski: a. a. ü. oG.

II. Die kritische Naturphilosophie.

359

schwingen. Man kann sicher sein, solange man es noch mit irgend etw^as Stofflichem zu thun hat. solange ist man noch nicht im Centrum der Erkenntnis. Daher ist bei dem Mangel an philo- so])hischer Bildung unter den heutigen Naturforschern auch nicht zu hoffen, dafs uns eine konse([uente dynamische Theorie der Materie von der Naturwissenschaft geliefert werden sollte, weil der Stoff nur durch philoso])hische Besinnung, insbesondere mit den Waffen der Erkenntnistheorie aus dem Wege zu räumen ist. Von den Philosoj)hen aber wiederum ist solange nichts zu erwarten, als sie in ihrer Abneigung gegen die Metaphysik verharren und sich weigern, den Schritt von der transcendenten Kraft zur geistigen Substanz zu machen. Unter diesen Umständen kann es nicht Wunder nehmen, dafs unter allen modernen Philosophen nur Einer ist, der die genialen Ansätze zu einer dynamischen Theorie der Materie bei Kant "von ihren stofflichen Schlacken gereinigt und durch ein konseijuentes Aus- und ZiKuidedt^dvcn der kantischen Voraussetzungen einen wirklich haltbaren Dynamismus aufgestellt hat. Es ist eine der gröfsten Leistungen E d u a r d v. H a r t m a uns, deren Bedeutung für die Wissenschaft viellei('ht nicht geringer ist als seine Erleuchtung des Begriffs des Unbewufsten, dafs es ihm zum ersten Male wirklich j]:elungen ist, die Schranken zwischen Stoff und Kraft, zwischen kr>rpei liebem und geistigem Dasein einzureifsen, die Materie so völlig in Kräfte aufzulösen und diese Kräfte atomistisch so auseinander- zuhalten, dal's sein Dvnamismus dem naturwissenschaftlichen Bedürfnis sowohl, wie der philosophischen Besinnung, gleich Genüge leistet, und es wird dies Verdienst in keiner AVeise dadurch geschmälert, dafs es von den Zeitgenossen noch so gut wie gar nicht anerkannt, ja, bis jetzt überhaupt noch kaum beachtet ist,*)

Die Materie ist Kraft ; die Sul)stanz dieser Kraft aber ist nicht der Stoff denn er ist erst ilir Produkt und nur eine rein sub- jektive Erscheinung ist auch nicht ein von der Kraft w^esentlich verschiedenes Sein: die Substanz der Kraft ist vielmehr die Ki'aft selbst, sofei-n sie in allen ihren Aufserungen mit sich seihst identisch bleibt.*'') Das scheint eine dürftige Bestimmung zu sein, allein die Dürftigkeit derselben wird verschwinden, sobald wir sie später näher analysieren werden. Der philosophische Wert dieser Bestim- mung aber liegt darin, dafs sie die ]\laterie, die, als Kraft, unser

*) Vgl. auch .1. Kult': Wissenschaft der Krai'teinlieit (Dyiianio-Monisiiius) (1893), der aber seihst nicht am reinen Dynamismus festhält, sondern schliefslich auch nur auf Umwcfren hei dem StotV, als einem transcendenten Sein, wieder anlan^rt. Insbes. Sn ff., 120 IT., 154—168.

**j v. Hartmann: Fhil. d. Unbewufsten II. 477 f.

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ß, Kant als Naturpliilosojili,

II. Die kritische Naturphilosophie.

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eigenes geistiges Wesen verwandtschaftlich herülirt, niclit dadurch uns wieder entrückt, indem sie dieselhe an ein Etwas heftet, wozu wir, als geistiges Wesen, keine Beziehung haben. Wir verstehen nun einmal nicht, wie der räundich-ausgedehnte Stoff unser unräumliches, geistiges Sein in der AVeise sollte beeinflussen kihinen. dafs er in uns die Vorstellung der Körperlichkeit hervorruft. Wir verstehen nicht, wie Körper und Geist auf einander sollten wirken können, wenn beide wesentlich verschieden sind; gemäfs dem Grundsat/-, dafs Gleiches nur auf Gleiches wirken kann, müfstcn wir a priori sagen, dafs wir von der Materie überhaupt keine Vorstellung haben würden wenn sie irgendwie stofflich wäre. Man sieht hier, wie wichtig es für die Natur])hilosophie ist, ein Bündnis mit der Erkenntnistheorie zu schliefsen. Natur (Materie) und Geist sind dicjeni-^^Mi beiden grofsen Gegensätze, in die für uns alles Sein uHmittell)ar zerfällt. Da wir nun mit unserm Denken auf der letztern Seite stehen, so mufs zunächst eine Brücke nach jener anderen Seite geschlagen, es mufs gezeigt werden, wie überhaupt ein Denken über die Natur zustande kommen kann, d. h. aber nichts Anderes, als: die erkenntnis- theoretische Bestimmung der Materie mufs notwendig vorangehen, sie darf nicht aufser Acht gelassen werden, wenn über die Natur philosophiert werden soll, und keine Bestimmung der ^laterie kann richtig sein, sofern sie nicht erkenntnistheoretisch möglich ist. Die naturwissenschaftlich-stoffliche Theorie der Materie ist eben deshalb philosophisch unhaltbar, weil sie die Vorstellung des Stoft'es in uns nicht erklären kann. Denn entweder hat der naive Bealismus Recht: unsere Vorstellung des Stofi'es ist selbst der Stoff: dann ist es unbegreiflich, wie er in unser Bewufstsein hineinkommt oder der transcendentale Bealismus ist im Recht: der Stoff, den w4r wahrnehmen, ist unmittelbar nur unsere Vorstellung, er ist nur der subjektive Repräsentant desjenigen, was wirklich aufserhalb unseres Bewufstseins vorhanden ist; dann kann diese Vorstellung nur durch sell)steigene Funktion unseres Geistes auf Grund äul'serer (materieller) Anregungen in uns entstanden sein, und es bleibt gänzlich unver- ständlich, wie der Geist vom Stoffe sollte irgend eine Anregung empfangen können.

Der eigentliche Ausgangsj)unkt der kantischen Philosophie, derjenige Punkt, womit sie in direktem Gegensatz zu Leibniz trat, und wodurch ihre ganze spätere Entwickelung bedingt ist, war die Einräumung des influxus physicus. Diese JMöglichkeit hatte Kant jedoch nur darum zugestehen können, weil er über den abso- luten Gegensatz von Körper und Geist, wie Descartes ihn auf- gestellt hatte, hinaus und weil er mit Leibniz darin einig war,

I

die Elemente des Daseins eben nur für Monaden, für geistige Individuen ohne irgend welche stoffliche Beimischung zu halten. Die Identität ihrer geistigen Substanz also war das Band, wodurch die Beziehungen der Monaden unter einander vermittelt wurden. Diese Vermittelung bestand nicht blofs für die Wirkung der trans- cendenten Dinge auf das Subjekt, sondern auch für die Wirkung der transcendenten Dinge auf einander. Der Stoff dagegen war auch hier nur ein blofs subjektives Sein, und wenn er trotzdem, wie in der Physischen jMonadologie, in die Si)häre des transcendenten Daseins mit hinübers])ielte, so war das nur der stehen gebliebene Rest einer überwundenen Anschauungsweise, der aus dem Prinzip nicht zu rechtfertigen schien. Als dann Kant in seiner Vernunft- kritik die Transcendenz gänzlich von der Erkennbarkeit ausschlofs und einzig den Phänomenalismus zum Prinzi]) erliob, da mufste freilich auch die Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit des influxus physicus ein wesentlich verändertes Aussehen bekommen. Denn nun bedeutete ja Materie ,. nicht eine von dem Gegenstande des inneren Sinnes (Seele) so ganz unterschiedene und heterogene Art von Substanzen, sondern nur die Ungleichheit der Erscheinungen von Gegenständen (die uns an sich selbst unbekannt sind), deren Vorstellungen wir äufsere nennen, in Vergleich mit denen, die wir zun) inneren Sinne zählen, ob sie gleich ebensowohl blofs zum denkenden Subj.kt, als alle übrigen Gedanken gehören" (TIT. (iOT f.). Solange die Materie noch als ein von unserer geistigen Beschaffen- lieit si)ezifisch verscliiedenes, als transcendentes Sein oder Ding an sich betrachtet wurde, so lange bestand allerdings die Schwierig- keit, wie dieses Ding auf unsere Seele wirken, und wie eine Gemein- schaft der letzteren mit ihr möglich sein sollte. Allein diese Schwieri"-- keit bestand nicht mehr, sobald die Materie für eine rein subjektive Erscheinung und alle Wirkung von Substanzen aufeinander für eine hlofse Tituschung unseres Verstandes erklärt wurde. Denn nun war die Frage ,,nicht mehr von der Gemeinschaft der Seele mit anderen bekannten und fremdartigen Substanzen aufser uns, sondern blofs von der Verknüpfung der Vorstellungen des inneren Siinies mit den Modifikationen unserer äufseren Sinnlichkeit, und wie diese unter einander mxdi beständigen Gesetzen verknüpft sein mögen, so dafs sie in einer Erfahrung zusammenhängen. So hinge wir innere und äufsere Erscheinungen als blofse Vorstellungen in der Erfahrung mit einander zusammenhalten, so finden wir nichts Wider- sinnisches und welches die Gemeinschaft beider Art Sinne befremd- hch machte. Sobald wir aber die äufseren Erscheinungen hyposta- sieren, sie nicht mehr als Vorstellungen, sondern in derselben

8ü2

H. Kant als XHturj)lnl()S()pli.

II

n

Qualität, wie sic^ iii uns sind, auch als aufs er uns für sich hestehendc Dinire. ihre Haiidhin^^cu aber, die sie als Erscheinun,^^t'n ^;cgen einander im Verhältnis zeijjjen, auf unser denkendes Subjekt })eziehen, so haben wir einen Charakter der wirkenden Ursache aul'ser uns, der sich mit ihren Wirkini.^en m uns nicht zusanunenreinien will, weil jener sich blol's auf äufsere Sinne, diese aber auf den iinieren Sinn beziehen: welche, ob sie zwar in einem Subjekt vereinigt, dennoch höchst un,i,deicharti.u^ sind. Da haben wir denn keine anderen äufseren Wirkim,t,a-n als \ er- änderungen des Orts und keine Kräfte als blofs Bestrebunpfcn. welche auf Verhältnisse im Kaume, als ihre Wirkungen, auslaufen. In uns aber sind die Wirkun.i,a'n Gedanken, unter denen kein Ver- hältnis des Orts, Bewegung, Gestalt oder Raumesbestimmung über- haupt statttindet, und wir verlieren den Leitfaden der Ursachen gänzlich an den Wirkungen, die sich davon an dem inneren Sinne zeigen sollten-' (TIT. ()08).

Es ist nun aber in der That ein ..grober transcendentaler Dualis- mus" (IM. (MO. i)\'2)j die blol'se Erscheinung der IMaterie in uns mit ihrem transcendenten Korrelate zu verwechseln. ,.Alle Schwierig- keiten, welche die Verbindung der denkenden Natur mit der Materie trefteti, entspringen ohne Ausnahme lediglich aus jener erschlichenen dualistischen Voraussetzung: dafs Materie als solche nicht Erschei- nung, d. i. blofse Vorstellung des Gemüts, der ein unbekannter Gegenstand entsj)richt. sondern der (legenstand an sich selbst sei, sowie er aufser uns und una})hängig von unserer Simdichkeit existiert" (HL (ill). Diesen Satz kann auch der transcendentale Realist unterschreiben, wofern man nur statt ..Materie" das Wort ,.Stof['-' einsetzt. Allein es scbeint doch fni-lich. ob viel damit gewonnen ist, wenn man, wie Kant, die transcendente Einwirkung bei Seite läfst und damit den inHuxus ])hysicus einfach als eine falsch gestellte Frage al)thut. Der transcendentale Idealismus hat ja freilich scheinbar ein Recht, sich ganz auf die S])häre der Er- scheinungswelt zu beschränken. „Die berüchtigte Krage wegen der Gemeinschaft des Denkenden und Ausgedehnten würde also, wenn man alles Eingebildete absondert, lediglich darauf hinauslaufen: wie in einem denkenden Subjekt überhaupt äufsere Anschauung, nändich die des Raumes (einer Erlüllung desselben, Gestalt und Bewegung) n)öglich sei? Auf diese Krage aber ist es keinem Menschen möglich, eine Antwort zu hnden, und man kann diese Lücke unseres Wissens niemals ausfüllen, sondern nur dadurch be- zeichnen, dafs man die äufseren Erscheinungen einem transcendent(al)en Gegenstande zuschreibt, welcher die Ursache dieser x\rt Vorstellungen

11. Die kritische Naturphilosophie.

363

ist. den wir aber gar nicht kennen, noch jemals einen BegriÜ' von ihm bekommen werden" (IIL ()12). Dafs ein solcher Gegenstand Ursache der Vorstellungen in uns sein könne, ist nicht zu leugnen, „weil niemand von einem unbekannten Gegenstande ausmachen kann, was er thnn oder nicht thun k()nne" (ITL (ill). Allein wenn die Annahme eines solchen Gegenstandes doch einmal nicht zu ent- behren ist. um die Erscheinungswelt verständlich zu machen, was hindert, ihm diejenige Bestimmung auch IxMzulegeii. wodurch allein er aut uns, als denkende Wesen, einzuwirken vermag, was hindert, ihn gleichfalls als ein geistiges Wesen anzusehen und damit wieder auf den Stan(l])iiiikt der Physischen ^lonadologie zurückzukehren. den Kant umsonst zu verleugnen l)estrebt ist und auf den er. sell)st wenn er sich schon im Hafen seines Idealismus sicher wähnt, doch immer unwillkür-lieh wieder zurückgetrieben wii-d? Wir, die wir die Haltlosigkeit des Iranscendentalen Llealismiis durchschaut und den transcendent.'ilen Realismus als den einzigen Standpunkt er- kannt haben, auf welchem Natui'philoso])hie ülxu^haupt möglich ist. wii- haben keine V^eranlassung, das Problem des iniluxus physicus so abzuschwächen und als nicht vorhanden <larzustellen. wie Kant es thun mufs, um die engen Schranken seines JMiänomenalismus nicht selbst zu durchbrechen. Kür uns ist der Stoff kein Stein des An- stofses. (h^nn wir wissen, dafs er nichts ist als eine subjektive Illusion, der an sich nur die Vielheit von anziehenden und ab- stofsenden Kräften oder die Materie im eigentlichen Sinne kor- respondiert, und wir Ijegreifen, wie diese Materie auf uns wirken und die Vorstellung des Stoffes in uns erzeugen kann, weil sie auch selbst ein geistiges Sein und somit ihre Xatur von der unsrigen nicht verschieden ist.

Die zweite AiiMlogie der Erlährung lautete: „Alle \'erände- rungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung von Ursache und Wirkung.'' „Man merke wohl." hatte Kant hierzu in der \ er- uunftkritik gesagt, „dafs ich nicht von der W-ränderung gewisser Relationen überhaupt, sondern von \'eiänderung des Zustand es rede. Daher, wenn ein K()rj)er sich gleichförmig bewegt, so ver- ändert er seinen Zustand ((h'r Hewegung) gar ni(dit : aber wohl, wenn seine Bewegung zu- oder al)nimmt" (IlT. ISf)). D^iuiit ist ausgeschlossen, als würde die A^^-änderung, von welcher jener Giundsatz spricht, in der Anwendung der „Metai)hysischen Anfangs- gründe" zur I>ewegung als solchen; vielmehr handelt es sich hier blofs um die l'x'wegung. „sofern sie entsteht'' (IV. 45:)), oder um die Veränderung der Bewegung. AVas die „Anfangsgründe'' be- trachten, ist nichts Anderes als „der Wechsel einer Bewegung mit

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364

Ji. Kant als Xaturpliilosoph.

einer andern oder derselben mit der Rulie und um^^^ekelirt" (439), und hierzu ist die Ursaelie niiher zu bestiininen.

Diese Ursache kann nicht eine innere sein, denn ,.diL' Materie, als blofser Gegenstand äufserer Sinne, hat keine anderen Bestim- muiii^^en als die der äulseren Verhältnisse im Räume und erleidet also auch keine Veränderungen als durch Bewegung" (ebd.j. Alle Veränderung der Materie hat sonach eine äufsere Ursache, oder anders ausgedrückt: ..Ein jeder Kr)rper beharrt in seinem Zustande der Kühe oder Bewegung in derselben Richtung und mit derselben Geschwindigkeit, wenn er niclit durch eine äufsei'e Ursache genötigt wird, diesen Zustand zu verlassen" (ebd.). Dies ist (bis wahre Gesetz der Trägheit (lex inertiae), das Kant auf solche Weise a i)riori zu begründen sucht. Die ^^iturwissenschaft vor Kant hatte mit diesem Namen das Gesetz der einer jeden Wirkung ent- gegengesetzten gleichen (Dregenwirkung bezeichnet ; sie hatte unter der Träglieit eine besondere Kraft verstanden, vermöge deren der Körper imstande sein sollte, sich in dem einmal von ihm einge- nommenen Zustande (sei es der Ruhe oder der Bewegung) zu be- haui)ten, und noch in seiner „Physischen Monadologie" hatte Kant selbst von einer „vis inertiae" gesprochen und eine bestimmte Gröl'se derselben einem jeden Elemente beigelegt, ohne sich jedoch darüber auszusprechen, ob sie nicht am Ende nur mit den Grund- kriiften der Attraktion und Repulsion identisch sein sollte. Aber schon in seinem ..Neuen Lehrbegritf der Bewegung und Ruhe" hatte Kant die Tnigheitskraft verworfen, sofern sie die Gleich- heit von Wirkung und Gegenwirkung erkliiren sollte, und mehr und mehr hatte er sich seitdem zu der Einsicht erhoben, dafs man überhaupt nicht von einer Trägheits k r a ft , sondern nur von einem Gesetz der Trägheit reden dürfe. Als „Gesetz der Trägheit" kann aber nur je'iier oben ausgesi)rochene Satz, nicht jedoch das Gesetz der Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung bezeichnet werden ; „denn dieses sagt, was die Materie thut, jenes aber nur, was sie nicht tiiut, welches dem Ausdruck der Trägheit besser an- gemessen ist" (4.>!)). Die Trägheit ist ja eben „nicht ein positives Bestreben, seinen Zustand zu erhalten" ; dies kann sie nur bei lebenden Wesen sein, „weil sie eine Vorstellung von einem anderen Zustande haben, den sie verabscheuen, und ihre Kraft dagegen an- strengen" (440).

Die Trägheit der Materie bedeutet sonach nur die Leblosig- keit derselben, als Materie an sich selbst. „Leben heifst das Ver- mögen einer Substanz, sich aus einem inneren Prinzip zum Handeln, einer endlichen Substanz sich zur Veränderung und einer

II. Die kritisclie Naturphilosophie.

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materiellen Substanz ^ich zur Bewegung oder Ruhe, als Veränderung ihres Zustandes, zu bestimmen" (439). Davon kann bei der Materie nicht die Rede sein, denn diese hat kein Inneres. Gerade weil sie leblos ist, kann es eine Wissenschaft der Materie geben, oder anders ausgedrückt: ,.Auf dem Gesetze der Trägheit (neben dem der Beharrlichkeit der Substanz) beruht die Möglichkeit einer eigent- lichen Naturwissenschaft ganz und gar" (440). AVürde man die Materie als belebt ansehen, so fügte man ihr damit ein Moment hinzu, das sich der Messung und Berechnung entzieht: der Hylozois- inus ist „der Tod aller Naturphilosophie" (ebd.j.

Man wird dem ruhig beistimmen k^innen, wofern es sich blofs um die Naturwissenschaft als solche handelt. In der Naturwissen- schaft, deren Aufgabe es ist, alles nur kausal-mechanisch zu er- klären, können ganz wohl die (stofflichen) Atome als ein Letztes angesehen werden, weil sie eben dem Mechanismus zur Unterlage dienen und an ihnen die der Rechnung zugänglichen Verhält- nisse sich realisieren können. Eine ganz andere Frage ist es, ob nicht jener Anschauung dennoch eine Wahrheit zukommt, welche nur die Naturwissenschaft ignorieren mufs, wenn und so lange sie eben Naturwissenschaft l)leil)en will, Gewifs ist es in der Natur- erkenntnis nötig, „zuvor die Gesetze der Materie als einer solchen zu kennen und sie von dem Beitritte aller anderen wirkenden Ur- sachen zu läutei-n, ehe man sie damit verknüi)ft, um wohl zu unter- scheiden, was und wie jede derselben für sich allein wirke" (ebd.). Allein damit ist doch nicht gesagt, dal's Alles nur Materie sein und dafs es keine anderen Gesetze geben krinne, als solche, die bl(»fs das Verhältnis der (stofflichen) Atome zu einander regeln. Die Naturwissenschaft hat es allerdings nur mit der Erschei- nung der Natur zu thun. S(.fern sie (j^egenstand äulserei- A\\ilir-. nehmung ist; ihr Objekt ist die phänomenale Materie, und diese ist freilich blofs äufserlich, ist schlechthin träge und ohne (^'^ene Wirksamkeit; es wäre in der That (^in Widersj)ruch, dieser pliäno- menalen Materie ein Leben zuzuschreiben. Allein wenn es wahr ist. dals jeder Erscheinung ein Erscheinendes, ein Ding an sich zu Grunde liegt, dann ist die j)liän()menale Materie eben nicht die Materie schlechthin, dann fällt auch der Begriff der Naturwissenschaft mit demjenigen der Naturerkenntnis nicht restlos zusammen, ist jene nicht die ganze Naturerkenntnis, dann mufs noch eine Wissen- schait der Materie, als eines Dinges an sich oder als des transcen- denten Grundes der ])hänomenalen Materie, nn'iglich sein, die zur Unterscheidung von der Naturwissenschaft, als der Wissenschaft der phänomenalen Materie, Natur p h i 1 o s o p h i e" genannt werden kann.

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B. Kant als Naturphilosoph.

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Eine Naturpliilosopliie in diesem Sinne wäre nur nnniö^j^lieh erstens, wenn die phänomenale Materie den Hegriff der Materie er- seb()pfte, d. h. wenn es keiii Ding an sich der phänomenalini Materie gäbe, und zweitens, wenn es ein solches zwar gäbe, aber nur als ein gänzlich unbekanntes x. hei dem es ein Widerspruch wäre, es zum Gegenstand einer besonderen Wissenschaft machen zu wollen. Dais beide Annahmen von Kant vertreten werden, indem er je nachdem wie es ihm für seine Zwecke gerade am besten i)afst, l)ald die eine, bald die andere in den Vordergrund schiebt, das braucht liier nicht noch einmal näher ausgeführt zu werden. Schon in der Vernunft- kritik hatte Kant gesagt: „Die Materie ist substantia phaenomenim. Was ihr innerlich zukomme, suche ich in aUen Teilen des Raumes, den sie einnimmt, und in allen Vv^rkungen, die sie ausübt und die frelich nur immer Erscheinungen äufserer Sinne sein kcuinen. Tch habe also zwar nichts Schlechthin-, sondern lauter Komparativ- Innerliches, das selber wiederum aus äufscreii Verhältnissen besteht. Allein das Schlechthin-, dem reinen Verstände nach Innerliche der Materie ist auch eine blofse Grille : denn diese ist eben kein Gegen- stand für den reinen Verstand; das transcendentale Objekt aher. welches der Grund dieser Erscheinung sein mag, den wir Materie nennen, ist ein blofses Etwas, wovon wir nicht einmal verstehen würden, was es sei, wenn es uns auch Jemand sagen kiunite. Denn wir kiinnen nichts verstehen, als was ein unsern Worten Kor- resi)ondierendes in der Anschauung mit sich führt. Ins Innere der Natur dringt Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen, und man kann nicht wissen, wie weit dieses mit der Zeit gehen werde. Jene tnuiscendentalen Fragen aber, die über die Natur hinausgehen, würden wir bei allem dem doch niem;ils beantworten kihinen, wenn uns auch die ganze Natur aufgedeckt wäre, da es uns nicht einmal gegeben ist, unser eigenes Gemüt mit einer anderen Anschauung als der unseres inneren Sinnes zu beobachten-' (1 IL 2M f.). Kant leugnet also zwar nicht den intelligibcdn Grund der uns un- mittelbar nur als Erscheinung gegebenen Materie, ah(T er sucht es so darzustellen, als käme derselbe für die wissenschaftbche Erkenntnis der Natur nicht in Betracht: das letztere, weil ihm nur die i)häno- menale Materie eine apodiktische Erkenntnis zu gewähren scheint, das erstere nur, weil sein gesunder Menschenverstand ihm sagt, dals mit der i)hänomenalen Materie allein der Inhalt dieses Begriffes doch nicht erschöpft sein k()nne. Nur weil ihm blofs die apodiktische Erkenntnis für wissenschaftlich gilt, eine solche aber nur innerhalb der Erscheinung m()glich ist, sucht er, wie wir gesehen haben, den Schein aufrecht zu erhalten, als wären auch die Attraktion und

II. Die kritische Naturphilosophie.

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Repulsion, aus denen die Materie entstehen soll, blofs Kräfte inner- halb der Erscheinungswelt. Und nur weil mit der Einräuniumr einer Innerlichkeit der Materie die Grenze der Erscheinungswelt und damit der apodiktischen Gewifsheit verlassen und das transcendente Gebiet betreten würde, von dem wir höchstens eine Erkenntnis von blofs hypothetischer Geltuiig erlangen kihinten. nur darum leugnet er eine solche Innerlichkeit, als welche der Möglichkeit einer wissen- schaftlichen Erkenntnis widerstreite. Denn es ist ja klar, dafs wenn die Materie beseelt ist. der Sitz dieser Beseeltheit nur in der Trans- cendenz. in der intelligibehi Materie oder in der JMaterie gesucht werden kann, sofern sie den Grund der phänomenalen :\laterie bildet. Ist überhaupt das Streben nach apodiktischer Gewifsheit der Er- kenntnis unberechtigt, so fällt damit auch der Grund hinweg, die Naturerkenntnis auf das Gebiet des blofs Phänomenalen einzu- schränken: dann rücken auch die Attraktion und liepulsion in das Gebiet der Transcendenz hinaus, wo sie allein Bedeutung haben und wirklich die Materie konstituieren können, und die Krage, ob die Materie ein Leben habe, kann nicht aus dem Grunde verneint werden, weil die Materie in uns oder die phänomenale Materie, das stoff- liche Sein, natürlich nur als rein äufserlich sich darstellt.

Da Kant eine intelligible Materie zwar einräumt, aber von ihr nichts zu wissen vorgiebt, so hat er natürlich auch kein Eecht zu der Behauptung: „Die Materie hat keine schlechthin inneren Be- stimmungen und Bestimmungsgründe" (4:)9). Die Zurückfühlung der Materie auf sie konstituierende Kräfte ist schon eine Verinner- lichung derselben, die Kant nur deslialh nicht als solche zum Be- wufstsein kommt, weil er neben diesen Kräften doch immer noch am Stoih^ glaubt festhalten zu müssen und jene ihm d(^shalb zu relativ gleichgültigen ]\romenten verldassen. mit denen er praktisch nichts anzufangen weifs. Der Stoff erweist sich somit auch hier als der Teufel, der, wenn man ihm einmal den kleinen Einger reicht, sofort sich der ganzen Persönlichkeit bemächtigt : einmal zugelassen, nimmt er die ganze Aufmerksamkeit in Beschlag und duldet nicht, dals neben ihm auch den Kräften noch irgend eine tit^fere Bedeutung zukommt. Aber dieses Klebenbleiben am Stoffe verhindert Kant auch, seine Vergeistigung der Materie für die Philosophie im Ganzen Iruchtbar zu machen. Obwohl nämlich die philoso|)hische Bedeutung des Dynamismus gerade darin liegt, dafs er den Unterschied zwischen Kiirper und Geist aufhebt und beide als wesentlich identisch erkennen lälst, womit Naturi)hilosoj)hie im eigentlichen Sinne ül)erhaupt erst niönjlich wird, bleibt Kant nun doch bei der Behauptung stehen: ..Wenn wir die Veränderung der Materie im Leben suchen, so

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B. Kant als Naturpliilosoph.

II. Die kritisclie Naturphilosophie.

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werden wir es auch sofort in einer anderen, von der Materie verschiedenen, ohzwar mit ihr ver})inidenen Suhstanz zu suchen haben" (440). Damit ist denn ehr alte Dualismus von Körper und Geist ^^lücklich wiederhergestellt, ja, sogar zum wissenschaftlichen Grundsatz erhoben, an dessen Überwindung die ganze moderne Pliih)Soi)hie und Naturwissenschaft seit Descartes ihre beste Kraft daran gesetzt haben, und Kant schlägt sich seiher geradezu ins Gesicht und erklärt den Bnidverott seiner gesamten Philosophie, die ja, wie wir gesehen haben, im Grunde keinen andern Zweck hatte und zumeist von dem einen treibenden Gedanken beseelt war. jenen Unterschied zwischen Materie und Geist im Dynamismus aus- zugleichen.

Für den transcendentalen Idealismus Kants liegt der Schwer- punkt der Materie in ihrer subjektiven Erscheinung, d. h. in der phänomenalen Materie, im Stoff, und das Ding an sich des- selben oder die intelligible Materie ist gleichsam nur ein schatten- hafter Abglanz der phiinomenalen, deren Existenz man zwar leider nicht umhin kann, einzuräumen, von welcher man jedoch auch nichts wissen kann, und die somit für die wissenschaftliche Erkenntnis nicht in Hetracht kommt. Im transcendentalen Realismus dagegen, der die Wahrheit des Idealismus und die hi)here Stufe der Er- kenntnis darstellt, liegt gerade umgekehrt der Schwerpuidvt der Materie in der intelhgibeln Materie oder im Ding an sich; die phänomenale Materie (der Stoff) dagegen ist blofs dessen suhjcktives Abbild und kommt nur in ihn^- Eigenschaft als Bewufstseins- repräsentant der eigentli('lien Materie in Frag(\ wenn es sich um eine philosophische Erkenntnis der Materie handelt. Der trans- cendentale Idealismus hat vor dem Realismus das voraus, dafs die Materie, um die er sich allein bekümmert, ihm bei ihrer sinnlichen Sclieinhaftigkeit eine relativ sichere Erkenntnis liefert: aber jene ist auch blofs die Erscheinung der eigentlichen Materie, nicht diese selbst, und der Idealismus bleibt sonach auf dem Standi)unkte der Naturwissenschaft stehen. Der transcendentale Realismus ist dem Idealismus darin überlegen, dafs seine Erkenntnis nur von der eigentlichen Materie gilt, sein Standi)unkt ist also derjenige der Naturphilosophie; allein diese Erkenntnis ist auch' blofs hypo- thetisch, und zwar um so mehr, je tiefer er in das Wesen der Materie eindringt. Die Naturwissenschaft ist hlol'se Flächen- wissenschaft: sie schreitet sicher auf dem festen Boden der sinnlichen Erscheinungswelt dahin, läl'st darum aber auch jedes tiefere Bedürfnis unbefriedigt und gelangt über die Stufe des rein Verstandesmäfsigen nicht hinaus, die von der Ahnung doch jederzeit

als eine blofs einseitige widerlegt wird. Die Naturphilosophie ist Tief en Wissenschaft: sie untersucht das Wesen hinter der Er- scheinungswelt und befriedigt das Gemüt, indem sie ihm den Blick dortliin eröffnet; aber mit dem kümmerlichen Lichte unserer Er- kenntnis vermag sie doch die Tiefe nur spärlich zu erleuchten, und wird daher von demjenigen immer gemieden werden, der nur ein Vergnügen darin findet, in steter Klarheit zu wandeln. Es wäre jedoch ebenso verkehrt, der Naturphilosophie alle wissenschaftliche Bedeutung darum abzusprechen, weil ihre Erkiumtnis blofs hypo- thetisch ist, wie es nur mittelalterliclje Voreingenommenheit beweisen würde, wenn Jemand der Naturwissenschaft einen Vorwurf daraus machen wollte, weil sie sich um das Wesen hinter der Erscheinung nicht bekümmert. Eine jede Wissenschaft hat ihre besondere Auf- gabe und Sphäre; es ist eine Vermengung und Verwirrung zweier ganz verschiedenen Gebiete, die selbst eben nur ihren Grund in deiu unklaren Schillern seiner naturj)liilosophisclien Prinzipien zwischen einer immanenten und einer transcendenten Bedeutung hat, wenn Kant der Materie die Innerlichkeit darum abspricht, weil sonst die Möglichkeit der Naturwissenschaft aufgehoben würde.

Giebt man zu, dafs für den wissenschaftlichen Charakter einer Erkenntnis die apodiktische Gewifsheit keine unerläfsliclie Bediinruuir ist, so fällt auch die Frage aus dem Gebiete des AVissenschaftlichen nicht heraus, was wir unter jener Innerlichkeit uns vorzustellen liahen. und ob wir berechtigt sind, sie „Leben*' zu nennen. Was Leben ist, haben wir gesehen: es gehört dazu ein inneres Prinzip, aus dem heraus eine Substanz sich zum Handeln oder zur Veränderung bestimmt. „Nun kennen wir kein anderes inneres Prinzip einer Substanz, ihren Zustand zu verändern als das Begehren, und injerluiu])t keine andere innere Thätigkeit als Denken mit dem, was davon abhängt. Gefühl der Lust und Unlust und Be- gierde oder AVillen-' (439 f.). Dürfen wir der Materie diese Priidikate zuschreiben? Das ist die Frage, die uns zunächst beschäftigen mufs, um zu einer tieferen Auffassung unseres Gegenstandes zu gelangen. Alle Innerlichkeit der Materie ist Kraft. Die Materie besteht aus einer Vielheit von konstanten, individuell oder atomistisch ge- sonderten (Atom-) Kräften, die teils anziehender, teils abstofsender Art sind. Alle Kraft aber ist ein Immaterielles oder Geistiges und als solches unräumlicher Natur oder, wie Schelling sagt, extensione prior,*) das jedoch nur^am und im Kaume sich und seine innere Wesenheit zur Erscheinung bringt. Dies ist nur so zu

*j Schelling: VVerI<e L ui. 23.

D r e w s , Kants Naturphilosophie.

24

M3"

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B. Kant als Naturphilosoph.

II. Die kritische Naturphilosophie.

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erklären, dafs die äulseren räumliclien Bestimmun.i,^en vorlier innerlicli, oder dals die realen Bestimmungen des Raumes in i d e e 1 1 e r Weise in dem Wesen der Kraft enthalten sind, bevor es dieselben als reale aus sich heraussetzt, und dafs die ganze Äul'serungsweise des unräumlichen (transcendenten) Kraftwesens nur darin besteht, diese ideell-räumlichen Bestimmungen zu realisieren.

Es läfst sich nun die Äufserungsweise des Kraftwesens oder der Monade näher deuten als ein Streben, jene Bestimmungen zur P]rscheinung zu bringen, sofern damit zugleich das Moment der Anstrengung, wie es der Kraft eigentümlich ist, zum Ausdruck gelangt. Die anziehende Atomkraft strebt danach, jedes andere Atom zu sich heranzuziehen, und die abstofsende Atomkraft hält jedes andere von sich ab, indem sie ihm einen Widerstand entgegen- zusetzen bestrebt ist, welcher mit der Annäherung des anderen in zu- nehmendem Mafse wächst. Haben wir diesen ganzen Vorgang einmal als einen an sich geistigen hegrifien, haben wir erkannt, dafs auch das Streben selbst noch vor und jenseits aller räumlichen Be- stimmungen liegt, die erst durch dasselbe gesetzt werden, so kann uns der Vorwurf nichts mehr anhaben, als übertrügen wir unbe- rechtigter Weise unsere eigenen subjektiven Begriffe und Em])fnidiingen in das materielle Sein, wenn wir von einiMn Streben der Monade sprechen. Denn wir sind ja alsdann schon über den blofs räumliehen Begriff des Materiellen hinaus, wir sprechen ja dann gar nicht mehr von den räumhchen Bestimmungen ])l()fs als solchen, die in der Be- wegung zum Ausdruck gelangen, sondern wir sind })ei dem, was alle Bewegung, allen Raum überhaui)t erst möglich macht, und was von uns als ein dem unsrigen verwandtes S(Mn begriffen wurde.

Ebensowenig aber vermag uns das bekannte „Ignorabimus" zu schrecken. Dubois-Rey mond und seines Gleichen haben ganz Recht: der Naturf o rsc li er mufs sich giinzlich der Hoffnung entschlagen, jemals das eigentliche Wesen der Materie und der Kraft ergründen zu können. Wenn es die Aufgabe eben der Naturwissenschaft ist, die Erscheinungen nach dem Prinzip des Mechanismus zu erklären, und sie hierbei als letzte Voraussetzung die Existenz der Materie anerkennen mufs, so ist es unlogisch, diese Materie nun selbst wiederum mechanisch, d. h. mittelst der Annahme einer Materie, erklären zu wollen. Aber wer heifst uns denn, alles trerade nur mechanisch zu erklären? Wer zwingt uns, die Natur nur mit den Augen des Naturforschers anzusehen? Das Bedauern über diese „Grenzen des Naturerkennens-' ist nicht gescheiter, als wenn man sich darüber beklagen wollte, dafs Flüssigkeiten nicht nach Ellen gemessen werden könnten. Sowenig die Elle das

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einzige Mafs für die verschiedenen Gegenstände ist, sowenig ist die Betrachtungsart des Naturforschers aucli die einzig mögliche. Es ist eben die Aufgabe der Naturp h i 1 osop h ie dort einzusetzen, wo die Naturwissenschaft an die Grenzen ihrer eigenen Erkenntnis- art gelangt ist.*)

Dann werden wir aber auch unschwer in jenem Streben dasjenige erkennen, was nach Schoi)enhau e r der substantielle Grund und das eigentliche AVesen der Erscheinungswelt sein soll, den Willen, wie er aucli allem Streben in uns zu Grunde liegt: tragen wir ihn doch ganz unwillkürlich in die Kraftäufserungen der Natur selbst dann noch hinein, wenn uns die abstrakte Reflexion zu überreden sucht, dafs alle Vorgänge in der Natur blofs äufserlicher und stoff- licher Art seien und dafs es ein geistiges Sein hinter den stofflichen Erscheinungen nicht gäbe. AVir begreifen dann, dafs alle Kraft in i h r e m 1 e t z t e n G r u n (1 e Wille sein mufs, AVille. jene räum- lichen Bestimmungen zu realisieren, in denen die Kraft zur Er- scheinung gelangt. AVir haben uns dann blofs noch zu fragen, ob mit dieser einen Bestimmung das ganze Faktum sch(m er- scli()])ft ist.

Schopenhauer und A V u n d t stimmen beide darin überein, das AA'esen der Erscheinungswelt in den Willen zu setzen, nur dafs jener dieses Wesen in abstrakt-monistischem Sinne für ein einziges und die vielen konkreten Besondc^i'ungen desselben für an sich unwirk- liche Scheinindividuen, für blofse Illusionen unseres Intellektes hält, wiihr( iid diesem für das AVirkHche blofs die vielen AA^Uensindividuen gelten, die nur erst in unserni Geiste zur Einheit zusammengefafst werden. Beide ü])ersehen, dafs sie in den Begriff des Willens ein Moment hineintragen, welches in ihm unmittelbar nicht enthalten ist. und welches doch notwendig hervorgehoben werden mufs. wenn ül)erhaupt eine A^iellieit oder eine Besonderuiig des AVillenswesens erklärlich sein soll. Es bedarf ja nur einer geringen psychologischen Besinnung, um sich zu sagen, dafs es, sowenig wie es eine [)lofse Kraft geben kann, die nicht zugleich auch eine ganz bestimmte wäre, sowenig auch ein Streben oder ein AVille möglich ist, der nicht stets Etwas oder die Heraussetzung eines bestimmten Inhalts erstrebte. Es hiefse, die konstituierenden Momente des j)sychologischen Prozesses in uns verkennen, wenn man diesen Inhalt mit der ihn

*) D ubois-Reym ond: f/ljer die C-irreTizeii des Naturerkentiens fl872) V^d. auch dessen Vortraof über ,.Die sieben Weltiätsel (1882J. Da/u v. Hart- mann: Anfjin^re naturwissenschaftlicher Selbsterkenntnis" in Ges. Studiea u, Aufsätze. 445—459.

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realisiprenden Funktion selbst identifizieren wollte. Das Momc^nt des Willens für sich allein läl'st durchaus keine inhaltlichen Unterschiede zu. Der Wille kann stärker oder schwächer sein, d. h. der Grad seiner Intensität kann wechsehi. aber als Wille bleibt er stets mit sich identisch, mag er nun in Gestalt eines Giefs- baches Bäume entwurzeln und Felsen in die Thäler schleudern, oder mag er, als die innerste Triebkraft eines erleuchteten Geistes, neue Gedanken zu Tage fordern und die Welt zu grol'sen Tliateti mit fortreifsen. Der Wille, blofs als solcher oder als Potenz des Wollens, ist etwas rein formales und absolut Leeres, das seine inhaltliche Ertullung ganz wo anders her erhalten mufs. Nur erst durch diese Ertullung wird er bestimmter Wille, und nur erst durch diese Bestimmtheit wird es erkLärlich, wie der Wille in ungezählten Gestaltungen zugleich sich manifestieren kann, ohne damit aufzuhciren, Wille zu sein. Fragen wir. was denn diese inhaltliche Bestimmung des Willens ist, wenn sie denn schon nicht selbst wiederum Wille sein kann, oder in welcher Form wir uns das Objekt zu denken haben, das der Wille zu realisieren bestrebt ist, so brauchen wir nur wieder den Akt des Willens in uns zu analysieren, und es wird uns nicht mehr zweifelhaft sein, dafs der Inhalt des Willens, der als solcher ebenso immateriell und geistig sein mufs, wie der Wille selbst, nur ideale Bestimmtheit, Vor- stellung oder Idee sein kann.

AVille und Vorstellung gehören so notwendig zusammen, wie die beiden Pole eines jVlagneten oder wie der Gegensatz von Subjekt und Objekt im Hewufstsein. Aber sie sind auch an sich so ver- schieden, wie der Nordpol vom Südpol, wie das Objekt vom Sub- jekt. Die Vorstellung giebt an, was geschehen soll: der Wille macht, dafs überhaupt etwas geschieht. Dieser ist „nichts als Wirken oder Thätigsein, reines aus sich Herausgehen, während die Vorstellung reines Beisichsein und Insichbleiben ist."*) Wille und Vorstellung verhalten sich aber auch nicht wie Substanz und Accidenz zu einander : die Vorstellung ist nicht dem Willen über- oder unter- geordnet, oder umgekehrt, sondern beide sind absolut g 1 e i c h b e - r e c h t i g t e , koordinierte Momente und konstituieren erst in ihrer Gemeinsamkeit den Willensakt. Der Eationalismus von Des c a r t e s bis Hegel beruhte auf der Voraussetzung der Miiglichkeit einer Erkenntnis aus reiner Veinunft; er durfte daher gar keine anderen als blofs rationale Momente in der Welt annehmen, wofern deren ganzer Inhalt in Begriffe auflösbar sein sollte. Darum mufste er

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*) V. Hartmann: PhiL d. rnhew. 1. lOG.

auch den Willen aus der Vorstellung ableiten und leugnen, dafs ihm eine eigene Existenz neben der Idee zukomme. Darum konnte aber auch, wie früher bemerkt wurde, erst Schelling der eigentliche Uberwinder dieser Weltanschauung sein, weil er zuerst wieder die dem Logischen entgegengesetzte, alogische Natur des Willens erkannt hat. Der Tiielismus eines Schopenhauer entsprang, psycho- logisch betrachtet, aus einer tiefen Überzeugung von der Wert- losigkeit und der Unvernunft des Daseins. Darum konnte er ])hilo- sophisch aucb erst durch eine Ansicht überwunden werden, die, wie diejenige v. Hartmanns, bei aller Anerkennung des Unlogischen im Dasein auch den Gedanken einer vernünftigen Entwickelung zur Geltung kommen liefs. Wer den Stand])unkt des Eationalismus nicht teilt, der hat gar keine Veranlassung, sich gegen die Anerken- nung des Wilh^is, als eines von der Vernunft ganz unterschiedenen Prinzips, zu sträuben, und es ist nur eine Nachwirkung der ratio- nalistischen Anschauungsweise, wenn er trotzdem den AVillen aus hh)fs logischen Elementen abzuleiten sucht, wie Herbart. Wer nicht von der Wahrheit des schopenhauerschen Pessimismus über- zeugt ist, der hat ebensowenig Grund, die Idee zu unterdrücken und kann dem Vorwurf der Einseitigkeit nicht entgehen, wenn er den Willen als solchen schon für einen idrcll bestimmten ansieht und die Vorstellung daneben nicht zu Worti- kommen läfst. wie Wandt. Die Genauigkeit der psychologischen Analyse verlangt durchaus, den Willen als ein von der Idee seiner Wesenheit nach Anderes zu begreifen, das nur insofern mit ihr identisch ist, als sie beide immaterieller oder geistiger Natur sind. Damit hört aber auch die Mciglichkeit auf das eine JMoment auf das andere zurückzuführen. Aller Wille ist nur als inhaltlich bestimmter, und alle inhaltliche Bestimmung des Willens kann nur die von ihm selbst unterschiedene Vorstellung sein.

Man pflegt es dem ^Materialismus mit Eecht vorzuwerfen, dafs er aus seinen stofflichen iVtomen und deren Bewegung das geistige Dasein nicht erklären könne. Man nmfs jedoch den gleichen Vor- wurf auch gegen eine dynamische Theorie der ]\Iaterie erheben, die zwar die Atome als individuelle Willensakte fafst. aber das Moment der Vorstellung im AV illen nicht beachtet. Eine solche Theorie scheitert, ganz ebenso wie der Materialismus, notwendig an dem Probleme, die Vorstellung aus der reimen Thätigkeit des AVillens abzuleiten. Mag sich der Naturforscher, welcher dem Materialis- nius huldigt, immerhin damit entschuldigen, dafs für seine Zwecke die Bestimmung der Atome als stofflicher wenigstens keine gröfseren Nachteile im Gefolge habe, da er ja nur die körperlichen Erschei-

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niingen yai erklären braucht, mag er sich darauf berufen, dafs er diese körperlichen Erscheinun,£^en doch jedenfalls ausreichend durch sie erklären könne; der Natur])hilos()ph hat gar keine Kntschuldigung für sich, wenn er die Entstehung der Vorstellung aus dem blofsen Willen nicht aufzuzeigen vermag. Da er mit seiner Zurück führ ung der Materie auf Willensmonaden das geistige Gebiet schon einmal betreten hat, so fehlt er. indem er eine so wichtige Seite des geistigen Lebens, wie die Vorstellung, nicht erklären kann, un- mittelbar gegen den von ihm eingenommenen Standpunkt selbst. ganz abgesehen davon, dafs er die Frage olTen lassen mufs, wie und wodurch sich die einzelnen Elemente der Materie unterscheiden sollen, wenn doch ein jedes von ihnen niclits als Wille und daher blofs Intensitätsunterschiede zu zeigen imstande ist. Kommt alle inhaltliche Bestimmtheit des Willens ül)erhaupt nur erst durch die Vorstellung in ihn hinein, so werden wir auch nur in ihr das Prinzip der Indi v id uation oder den Grund dafür zu suclien haben, dafs das Willenselement A von dem Willenselemente B ver- schieden ist. Diese Vorstellung aber kann nichts Anderes enthalten als die j)unktuelle Bestimmtheit des Willens durch sein Verhältnis zu allen übrigen Punkten im Eaume. sofern dieselbe in der Verschiedenheit seiner Entfernungen von ihnen ihren genauen Aus- druck findet.

Wir haben oben den gemeinschaftlichen Durchschnittspunkt aller Kraftäufserungen der Monade als den Sitz der Kraft bezeichnet. Jetzt erkennen wir, was darunter zu verstehen ist. Da AVille und Vorstellung beide unräumlicher ]Satur sind und die Vorstellung den Willen erst zu einem bestimmten, von allen übrii^^en verschie- denen macht, so ist jener gemeinschaftliche Durchschnittspunkt aller Aufseruniien des Atomwillens nicht selbst ein Punkt im Kaume. in dem der AV'ille wohnte und mit welchem er im Räume herumwanderte, sondern er ist „etwas rein Ideelles," um nicht zu sagen „Imaginäres," von welchem v. Hart mann bemerkt, dafs er nur mit einer grofsen Licenz des Ausdruckes der Sitz des Willens oder der Kraft genannt werden könne. „Denn das einzig Räumliche an der ganzen Sache sind die Kraftäufserungen, welche nie und nimmer den gemeinsamen Durchschnittsj)unkt er- reichen, indem dieser immer nur in ihrer i d e a 1 e n Verlängerung liegt. "■•') Sofern der W^ille sich äufsert, in die Erscheinung tritt oder real wird, setzt er bestimmte räumliche Verhältnisse, setzt er überhaupt erst den realen Raum ; aber diese seine Produkte sind

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') V. Hartman n: a. a. O. II. l'il

bestimmte doch nur deshalb, weil seine Realisationen einen gemein- schaftlichen ideellen Durchschnittspunkt besitzen, dessen Lage zu anderen seines Gleichen eine ganz bestimmte ist, und welcher ihn somit erst zum Atom willen stempelt.

So erklärt es sich, dafs wir durch alle vorstellungsmäfsige Zergliederung der Kraftäufserungen in der Natur doch niemals auf das (Zentrum dieser Aufserungen selber stofsen. Alle derartigen Zer- gliederungen bewegen sich innerhalb der Sphäre der räumlichen Realität, das Centrum selbst dagegen liegt im Idealen und ist von uns so wenig jemals zu erreichen, wie es ein müfsiges unterfangen ist, innerhalb der uns gegebenen Erscheinungswelt nach der Substanz, die ihr zu Grunde liegt, zu suchen. Ist schon die Kraft der Materie insofern ein Transcendentes, als sie jenseits der Sjihäre unseres Bewufstseins sich befindet, so ist es der Sitz des Kraft- wesens oder die Monade erst recht, weil sie nicht blofs ien- seits der Sphäre unseres Bewufstseins. S(uidern auch jenseits der Sphäre der Räumlichkeit liegt. Daher ist sie auch nicht mit dem Denken zu erreichen, so lange dieses nicht das Gebiet des Räumlichen überschreitet, d. h. vom naturwissenschaftlichen (blofs vorstellungsmäfsigen) zum metai)hysischen (rein begriti'lichen) Denken wird. Was unter dem Gesichtspunkte des naturwissenschaftlichen Denkens beim Materialismus ein unauflösliches Rätsel bleibt, dafs wir das Atom als stoffliches (räundiches) uns auch müfsten vor- stellen können, wenngleich die wirkliche Wahrnehmung desselben wegen seiner Kleinheit uns verschlossen ist, und dafs doch ein jeder derartige Versuch sofort den Begriff des Atoms vernichtet, das erklärt sich auf dem Standpunkte des Dynamismus ganz einfach durch die metaphysische Erwägung, dafs ja die Monade selbst un- räundich, extensione ])rior ist, und dafs mithin die Kraft der (sinn- lichen) \'orstellung notwendig dort versagen mufs, wo es sich über- hau])t nicht mehr um sinnlich Wahrnehmbares handelt. Es begreift sich aber so auch die Abneigung der Naturforscher, ja, aller sinn- lich denkenden Menschen überhaupt gegen den Dynamismus: sie sind es gewohnt, nur das sinnlich Wahrnehmbare für real zu halten gilt ihnen doch auch das Geistige nur insofern für wirklich, als es den Stoff zur Unterlage hat ! und darum fürchten sie, den Boden der Realität unter den Füfsen zu verlieren, wenn sie durch Zurückführung des Stoffes auf die Kraft nichts mehr haben, woran ihre Vorstellung sich noch klammern könnte. Dem gegen- über kann man immer nur wiederholen, dafs das wahre Sein eigent- lich erst mit dem geistigen Sein beginnt und dafs die vorstellungs- mäfsige (sinnliche) Beschaffenheit derselben, nicht geeignet ist,

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IL Die kritische Naturphilosophie.

wie Czolbe und der Sensualismus meint, als Mafsstab für die Wahrheit einer Erkenntnis zu dienen. ''j

Wenn wir uns also die Monade zu denken haben als einen durch eine bestimmte Vorstellung eingeschränkten (individualisierton) Willen, so fragt es sich, welcher Art diese Vorstellung ist, oder welche Vorstellungen den Inhalt des Atomwillens bilden, wenn er als solcher in die Erscheinung tritt, sich üufsert. Dal's sie räumliche Verhältnisse repräsentieren müssen, ist selbstverständlich, da ja die ganze Äufserungsweise der Monade el)en im Gebiete des blol's Käumlichen sich bewegt. Nach dem Vorangegangenen kann es uns aber auch nicht mehr schwer fallen, den mutmarslichen In- halt dieser Vorstellungen genauer zu bestimmen: denn wir wissen aus der Dynamik, dal's die Monaden beweglich sind und dafs z. B. bei zwei sich anziehenden Monaden die Anziehung im umgekehrten Verhältnis zur Entfernung steht. Die Beweglichkeit der Monade findet ihren Ausdruck in der gesetzmäfsigen Veränderung, w^elche die Entfernungen des idealen Durchschnittspunktes ihrer Wirkungs- linien von allen anderen sedchen idealen Durchschnittspuiikten er- leiden. Wir pflegen dies kurzweg unter dem Begriff der Richtung der Kraftäufserungen zusammenzufassen, d. h. je nach der Ver- schiedenheit jener Entfernungen ist auch die Richtung der Kraft- äufserungen eine andere. Die Verschiedenheit in dem Grade ihrer Anziehung oder Abstol'sung dagegen macht die Stäi*ke der Kraft- äufserungen aus. Beide Kaktoren sind logischer Natur und müssen folglich den in jedem Augenblicke realisierten Inhalt des Atomwillens bilden. Darin nmfs aber auch zugleich schon mit- gesetzt sein, ob das Atom anziehender (Körperatom) oder ab- stofsender Art (Ätheratom) ist (vgl. oben S. })J8f.). „Das Reale sind also immer nur die Kraftäufserungen, die eine gewisse Richtung und Stärke haben, und die Veräncku'ung dieser Richtung und Stärke, während die Durchschnittspunkte etwas Ideales sind und bleiben."'*) Damit überhaupt eine Kraftäufserung stattfindet, dazu niul's die Kraft eine ganz bestimmte sein; aber diese Be- stimmung betrifft doch nur die Kraft an sich, geht jedoch in ihre Aufserung selbst nicht mit ein. Die Kraft, als blol'se Potenz ihrer Aul'serung gedacht, oder die Monade selbst ist uiul bleibt rein transcend en t , oder wenn es gestattet ist, zu sagen über seiend; das Seiende an ihr sind eben nur ihre Aufse-

*) Vgl. die Darstellung u. Kritik Czolhes in meinem Werke deutsehe Spekulation seit Kant" u. s. w. II. 298 IT.

') V. Hart mann: a. a. O. II. 122.

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rungen. und diese sind individuelle Willensakte, deren Inlialt blofs in der Vorstellung des zu Leistenden besteht.

Die Frage liegt nahe, ol) die Vorstellungen des Atomwillens bewufste oder unbewufste sind. Um dies zu entscheiden, mul's man natürlich wissen, auf welchen Bedingungen Bewufstsein überhaupt beruht. Finden sich diese alsdann bei der Monade realisiert, so ist kein Grund, ihr das Bewufstsein abzusprechen, wenn uns dies auch noch so paradox erscheinen sollte. Nun steht so viel jedenfalls fest und wird auch neuerdings von Wundt und der modernen Psychologie zugegeben, dal's wir uns unserer Thätigkeit nur bew^ufst werden an den Objekten, worauf sie sich bezieht, ge- nauer : an den W i d e r s t ä n d e n , die sie findet. J Bewufstsein ist nicht möglich ohne den Konflikt entgegengesetzter Thätig- keiten ; es ist selbst nichts Anderes als das beiderseitige Resultat, das aus dem Gegeneinanderj)rallen solcher Thätigkeiten hervor- springt. Demnach kann auch die Vorstellung, die den Willen erst zu einem individuellen oder zum Atomwillen einschränkt, jeden- falls nicht bewul'st sein, denn sie liegt noch vor und jenseits aller Thätigkeit und dient ja nur dazu, den Grund zu fundieren, worauf alle Thätigkeit überhaupt erst möglich wird. Aber auch die- jenigen Vorstellungen, \velche dieser Thätigkeit ihre Richtung an- weisen, die zu realisierenden Vorstellungen des Atomwillens, die in der Kraftäufserung in die Erscheinung treten, auch sie können an sich imr unbewufste sein, weil sie ja frülier sind als der Kon- flikt, weil der Konflikt ja nur erst durch sie zustande kommt. Die ganze Thätigkeit der Monade ist so m i t u n - bewufst, und dies wäre in der That eine unberechtigte l ber- traguiig ])ersr)nlicher Erfahrungen in das objektive Sein, wenn man ihr ein Bewufstsein der von ihr zu realisierenden Vorstellungen zu- schreiben wollte.

Man sieht, dies Resultat stimmt durcliaus mit demjenigen überein, was uns schon a priori von unserem Gefühl gesagt wird. So lange man die unbewufste \^orstellung noch nicht kannte, so lange mufste man Bedenken tragen, die Materie auf geistige Ele- niente zurückzuführen: denn es schien unmciglieh, ihr bewufste Vor- stellungen u. s. w. zuzuschreiben, wie sie uns nur aus dem höheren Geistesleben der organischen Wesen bekannt sind. That man aber einmal jenen Schritt, dann mufste man notwendig auch auf die

0 Wundt: System der Philosophie (1889) 38G.

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B. Kant als Naturphilosoph.

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unbewufste Vorstellung geführt werden und umgekehrt. Es ist daher von der hiichsten Bedeutsamkeit in der Geschichte der Philo- sophie, dal's der Erliiider der Monadenlchre (Leibniz) zugleich auch der Erste war. der die Existenz und die Wichtigkeit der un- bewufsten Vorstellung für das hewui'ste Geistesleben entdeckte, und dals ,.der Philoso|)h des Unbewufsten" zuerst den Dynamismus rein durchgeführt hat. Hinter diesen beiden Vertretern der unljevvul'sten Vorstellung, denen wenn man von Kant absieht der Dynamis- mus das Meiste zu verdanken hat. müssen alle diejenigen weit zurück bleiben, die zwar die geistige Wesenheit der Atome bt'lmuj)ten, aber sich scheuen, sie als unbewufste aufzufassen. Schopen- hauers Dynamismus scheitert an seiner Hintansetzung der Vor- stellung überhaupt: AVundt verwickelt sich mit seinen Willens- einheiten in die seltsamsten Widersprüche und bleibt in lauter Halbheiten und Unklarheiten stecken, weil er die unbewufste Vor- stellung nicht anerkennt,*)

Wenn nun auch die Thütigkeit der Monade nur als unbe- wul'ste gedacht werden kann, weil sie ja selbst den Konllikt, die notwendige Bedingung zur Entstehung des Bewufstseins, erst hervor- bringt, so fragt es sich doch, ob nicht eben durch jenen Konilikt auch bei ihr eine Art von I>ewufstsein gesetzt werde und damit auch das Geistesleben der Monade dem unsrigen verwandter sich zeigen könne, als es im ersten Augenblick den Anschein hat. Diese Frage wird nun ebenso zu bejahen sein, wie wir es vorlier verneinen mul'sten. die Thätigkeit der Monade selbst als bewufste aufzufassen. Nicht als ob wir den 8atz, dafs Bewufstsein nur aus dem Konilikt ent- gegengesetzter Thätigkeiten entspringt, einfach umkehren und dem- nach schliefsen könnten: folglich setze aller Konilikt entgegengesetzter Thätigkeiten eo ipso auch BewuTstsein: diese allgemeine Fassung ist schon deshalb nicht richtig, weil es Konthkte giebt ohne ein Bewufstsein. Strömen doch in jedem Augenblick die mannigfachsten Eindrücke auf uns ein, ohne dafs sie uns zum Bewufstsein gelangten, weil sie nicht stark genug sind, um den jeweiligen Gleichgewichts- zustand unserer bewufsten \'orstellungen zu erschüttern, oder, wie Fechner sich ausdrückt, weil sie ,.unterlialb der Bewufstseins- schwelle*' bleiben. Man wird auch vom naturwissenschaftlichen Standpunkt aus kaum etwas dagegen einv. enden kiinnen, wenn v. Hartmann diesen BegrilV der Schwelle als Fuidction des inneren Leitungswiderstandes desjenigen Komplexes von Atomen fafst, welcher

II. Die kritische Naturphilosophie.

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die materielle Unterlage des Bewufstseins bildet, worauf sich iener Begriff bezieht. *) Gewisse Reize kommen uns imr deslialb nicht zum Bewufstsein. weil ihre Leitung von einem materiellen Elemente zum anderen eine derartige ist, dafs die sämtlichen in Frage kommenden Elemente nicht in Mitleidenschaft gezogen werden und folglich auch zui- Einheit des Gesamtbewufstseins nicht zusammen- fliefsen können. Daraus folgt, dafs die einfachen Uratome, welche, als letzte Elemente, die Materie konstituieren, jedenfalls keine Schwelle haben, weil sie eben einfach sind und also von einem inneren Leitungswiderstande bei ihnen keine Rede sein kann. Mit dem Wegfall der Schwelle aber fällt bei ihnen auch der (irund hinweg, sie unter Umständen von der Entstehung eines Bewufstseins beim Konflikt mit andern ihres (gleichen auszuschliefsen. Von den Uratom^n gilt thatsächlich der Satz, dafs ein jeder Konilikt hei ihnen auch ein A t o m b e w u 1" s t s e i n auslöst, und die Frage kann nur sein, welche Inhalte wir diesem Bewufstsein zuschreil)en dürfen.

Der primitivste Inhalt des Bewufstseins ist die E m j) f i n d u n g, und zwar entweder Lust- oder Unlustempfindung. Alle Lust- empfindung beruht auf der Vergleichung des gegenwärti<?en mit einem vorangegangenen Zustand oder zweier Zustände, die gleich- zeitig neben einander bestehen (Kontrastlust), setzt also schon ein kompliziertes Gedankenleben voraus, wie wir es der Monade unmög- lich zugestehen können, es sei denn, sie emi)fände rein gefühlsmäfsig den Kontrast als angenehm, wenn sie nach einer längeren Hemmung ihrer Thätigkeit plötzlich wieder frei wird. Jedenfalls aber wird die Monade eine Stcirung ihrer naturgemäfsen Thätigkeit oder den Ivonflikt selbst als Unlust emptinden, und diese Unlust wird um so gröfser sein, je intensiver sie nach der Realisation ihrer unbe- wufsten Vorstellung strebte, und je heftiger dc^mgemäfs der An- prall war, den sie im Konflikt mit andern ihres Gleichen erleiden mufste."^*)

Vergleichen wir dieses Resultat mit dem, was nach Kant in dem Begriff des Lebens enthalten ist, so zeigt sich, dafs alle Be- dingungen beim Atom erfüllt sind, welche dazu berechtigen, ihm ein Leben beizulegen. Das Atom will und denkt, es fühlt Unlust und. wenn man will, auch Ijust. Nur ein „Begehren" im eif^^ent- lichen Sinne haben wir ihm nicht zugestanden, weil alles, was dieser Begriff Berechtigtes aussagen könnte, in demjenigen des Willens

*j Vj^l. mein Werk: „Die deiitsehe Spekulation seit Kant" u. s. w. II. 199-505.

^) V. Hart mann: a. a. O. III. 108 f. **j V. Hart mann: a. a. U. 110—114.

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B. Kant als Naturj)hilosopli.

schon enthalten ist. Wem dies phantastisch erscheinen sollte, der sei daran erinnert, dal's auch moderne Naturforscher, wie Zöllner und Haeckel, die weithlickend genug sind, um auch über die unmittelbaren Eedürlnisse der Naturwissenschaft hinaus zu reHek- tieren, sich gedrungen gefühlt haben, den Atomen eine „Seele" zuzuschrei])en, weil anders die Entstellung des geistigen Lebens sich überhaupt nicht erklären liifst. Denn „es ist unmöglich, dal's aus rein äufserlichen Elementen, die jeder Innerlichkeit enthehren, phitzlich bei einer gewissen Art der Zusammensetzung eine Inner- lichkeit hervorbrechen sollte, die sich immer reicher und reicher entfaltet. So gewifs vielmehr die Naturwissenschaft überzeugt ist, dal's in der Sj)häre der Äufserliclikeit die höheren (organischen) Erscheinungen doch nur Komhinationsresultate oder Summations- phänomene der elementaren Atomkriifte sind, ebenso gewifs kann sie, wenn sie sich einmal ernstlich mit dieser anderen Frage he- schilftigt, sich der Überzeugung nicht verschliefsen, dais auch die Empfindungen höherer Bewufstseinsstufen nur Kombinationsresultate oder Summationsphänomene der Elementarempfindungen der Atome sein können, wenngleich letztere als solche immer unterhalb der Schwelle der höheren Gruj)i)enbewufstseine bleiben."*) Es macht hierbei nichts aus, dafs Haeckel und niit ihm fast alle natur- wissenschaftlichen Vertreter einer Atomseele darum doch die stolV- liche Äufserliclikeit der Atome aufrecht erhalten, weil sie an jene Frage eben nur vom Standpunkte des Naturforschers aus heran- treten und für diesen der Stoff nun einmal unauf hebbar ist. AVorauf es ankommt ist, dafs sie mit dem Begriff der Kraft, die mit dem Stoffe notwendig verbunden sein soll, Ernst machen, anstatt sie, w^ie der gewöhnliche Materialismus, nach Möglichkeit zu ignorieren, weil sie eigentlich nicht in das System hineinpafst, und dafs sie diese Kraft als seelische Innerlichkeit begreifen. „Jedes Atom," sagt Haeckel, „besitzt eine inhärente Summe von Kraft und ist in diesem Sinne „beseelt". Ohne die Annahme einer „Atom- Seele" sind die gewöhnlichsten und allgemeinsten Erscheinungen der Chemie unerklärlich. Lust (?) und Unlust. Begierde und Abneigung, Anziehung und Ahstofsung müssen allen Massenatomen gemeinsam sein; denn die Bewegungen der Atome, die bei Bildung und Auf- lösung einer jeden chemischen Verbindung stattfinden müssen, sind nur erklärbar, wenn wir ihnen Empfindung und Willen beilei]fen, und nur hierauf allein beruht im Grunde die allgemein

II. Die kritist^he Naturpliilosophie.

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angenommene chemische Lehre von der Wahlverwandtschaft." *) Ob diese Lehre Hylozoismus ist, wird davon abhängen, ob man die beseelten Atome als selbständige, für sich substantielle Individuali- täten, d. h. als Monaden im eigentlichen (leibnizschen) Sinne, fafst, oder ob man sie blofs für Modifikationen einer ihnen allen zu Grunde liegenden absoluten Substanz ansieht. Nur bei der ersteren An- schauungsweise wird jener Ausdruck berechtigt sein.

In jedem Falle aber ist es eine ganz unbegründete Besorgnis, als ob die Annahme einer lebendigen Materie, wie Kant nuMiit, den gesetziihäfsigen Charakter des Naturgeschehens aufhöbe. Man be- denke doch, wie Haeckel, der Hylozoist, zugleich einer der eifrigsten Vertreter des kausalen Mechanismus ist, und dies nicht etwa blofs deshalb, weil er neben der Atomseele zugleich an der stofflichen Äufserliclikeit des Atoms festhält, sondern weil der äufser- liche Mechanismus des Naturgeschehens durch die Innerlichkeit der Atome überhaupt gar nicht berührt wird. Gesetzt, die innerliche Geistigkeit der Atome übte auf die äufseren Vorgänge irgendwelchen Einflufs aus, so würden doch bei dem einheitlichen Zusammenhange des Aufseren und Inneren die Gesetze des äufseren Geschehens dadurch ebensowenig Ausnahmen und Eingriffe erleiden, sondern jene Einflüsse würden sich ebenso „innerhalb des Bahmens der naturgesetzlichen Notwendigkeit halten, indem sie mitbestimmend auf das unter gleichen Umständen regelmäfsig wiederkehrende Ver- halten der Atome wirken, aus welchem wir erst das Gesetz al)stra- hieren", wie die Bestimmtheit des geistigen Seins durch die Vor- gänge in der Äufserliclikeit nicht eine willkürliche, bald so, bald anders sich abspielende, sondern eine bis ins Kleinste gesetzmäfsige ist. „Gerade dafs wir," sagt v. Hart mann tiefsinnig, „bei unsern Abstraktionen der Gesetze des äufseren Geschehens bis jetzt nicht imstande sind, das Moment der Innerlichkeit mit in die Formeln einzuführen, gerade dieser Umstand giebt den meisten Naturgesetzen noch eine unserm Verständnis so fremdartige Physiognomie, weil zwar die äufseren Umstände und das äufsere Resultat richtig aufge- zeichnet sind, aber die innerliclie Vermittelung fehlt, welche erst gleichsam die lebendige Seele des im Gesetz ausgedrückten realen Zusammenlninges bildet."**} So mag auch die Psychologie ganz richtig die Gesetze der Ideenassoziation aufstellen: verständlich werden diese Gesetze doch erst, wenn man durch Rücksichtnahme

*) Haeckel: llber die Wellenzeugutifr dei- Lebensteilchen oder die Pericrenesis der Plastidule (l«7o) in den „Gesammelten i)()pul;iren Vortra<>-en aus dem CTcbiete d. Entwickelunfrslelire- Heft U. 49.

*) V. Hart mann: a. a. 0. III. 111.

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J V. Hart mann: a. a. O. III. 113.

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B. Kant als Naturphilüsopli.

auf die äufsereii Vorgänge im Gehirn erkennt, wie die meclianische Bewegung gerade dieser Moleküle gerade diese bestimmten Gedanken- zusammenhänge auslöst. Die Psychologie hat sich glücklich von der rein subjektivistischen Betrachtung der Seelenerscheinungen frei gemacht und im Bunde mit der Naturwissenschaft als physiologische (empirische) oder naturwissenschaftliche Psychologie einen höheren Standpunkt eingenommen. Es wäre an der Zeit, dafs auch die Naturwissenschaft die Einseitigkeit und Beschränktheit des rein naturwissenschaftlichen Standpuid^tes endlich begriffe, um als philo- so])hische Naturwissenschaft oder Naturphilosophie zu einer höheren Stufe der Naturerkenntnis sich em[)orzuschwingen.

Mag nun das primitive Element der Materie äufserlich (stofflich) und geistig zugleicli, oder mag es rein geistig (Monade) sein: das Gesetz der Trägheit, das Kant vor allem durch eine derartige An- nahme gefährdet glaubt, dies Gesetz wird schon deshalb nicht beein- trächtigt, weil es ja gar nicht von den Atomen als solchen, sondern nur von ihrer Verbindung zu K()ri)ern gilt. Man braucht durchaus nicht anzunehmen, die geistige Innerlichkeit sei identisch mit jener sogenannten „vis inertiae". vermöge welcher der K()rj)('r nach Kants früherer Ansicht „bestrebt" sein sollte, sich in seinem jeweiligen Zustande, sei es der Rulie oder der J^ewegung, zu erhalten, oder als ob gar aus ihr ein Vermögen des Körpers gefolgert werden dürfte, die Kraft, die von draiifsen durch die Ursache seiner Be- wegunf:^ in ihm erweckt worden, von selber in sich zu vcrgröfsern, wie Kant es in seiner Erstlingsschrift ang(Miommen hatte. Die Materie ist lebendig nur in ihren P^leuienten (Atomen), die sich anziehen und abstofsen, sich zu Körpern verl)in(len u. s. w. Haben sich diese aber einmal zum Atomkomplex des Kiu'pers ver- einigt und ist damit gleichsam ihre ei<^ene Beweglichkeit gebunden, dann ist n.icht der Körper als solcher beseelt, so wenig wie er als Körper bewufst ist. Es ist somit gar nicht zu hesorgen, dafs eine einheitliche Innerlichkeit des Kr)r[)ers in kaj)rizir)ser Weise die Regelmäfsigkeit seiner Zustandsveränderungen stören könnte, sondern er, als Ganzes, ist dem Gesetz der Trägheit unterworfen : das letztere mag durch die Innerlichkeit seiner Atome mit bedingt sein, al)er es kann von ihnen nicht aufgelioben werden. Die gestofsene Billard- kugel mufs so lange fortrollen, bis sie durch die stetige Reibung auf ihrer Unterlage zur Ruhe gebracht wird ; aller dem entgegen- stehende Wille seiner Atome kann hieran nichts ändern, weil ja bei dem Mangel an Leitung zwischen den einzelnen Atomen, wie er bei der unorganischen Materie besteht, ein einheitHcher Wille des Körpers überhaupt nicht möglich ist. Die Mechanik mag also ruhig ihre

iL Die kritische Naturphilosophie.

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Wege gehen, sie wird durch die Annahme von Atomseelen gar nicht berührt. Der Wert dieser Annahme liegt überhaupt nicht in der Naturwissenschaft unmittelbar, soweit sie eine rein mechanische Theorie der Naturerscheinungen sein will, sondern sie gewiimt erst dami eine wesentliche Bedeutung, wenn die Naturwissenschaft mit der Behauptung auftritt, dafs es überhaupt nur ein rein mecha- nisches Geschehen gäbe. Erst wenn die Naturwissenschaft ihre eigene Erklärungsmethode auch in solchen Fällen anzuwenden sucht, wo mit ihr nie und nimmer etwas auszurichten ist, wenn sie sich anheischig macht, die geistigen Erscheinungen aus der mecha- nischen Bewegung stofflicher Atome abzuleiten, erst dann ist es an der Zeit, sie darauf hinzuweisen, dafs sie sich mit der (Quadratur des Zirkels abmüht, und dafs sie den Wald vor Bäumen niclit sieht, weil sie sicli (juält, etwas erst abzuleiten, was sie doch in jedem einzelnen Atome schon besitzt.

Kommen wir jetzt auf Kants Ableitung der Gesetze der Mechanik aus den Analogieen der Erfalirung zurück, so lautete die dritte Analogie: „Alle Substanzen, sofern sie im Räume als zugleich wahrgenommen werden kcinnen. sind in durchgängiger Wechsel- wirkung." Die „Metaphysischen Anfangsgründe" haben es leicht, bei ihrer Auffassung des Naturgeschehens den Satz dahin zu wenden, dafs alle äufsere Wirkung in der Welt Wechselwirkung sei : giebt es für sie doch blofs Bewegungsänderung, äufseren W^echsel der Lage der Substanzen im l\aume, wobei es selbstverständlich ist, dafs, wenn eine Substanz ihre Lage im Verhältnis zu irgend einer anderen verändert, dafs dann diese letztere in derselben Zeit ihre Lage um ebensoviel zu jener ersteren verändern mufs. Allein Kant will rnelir. An der blofsen Konstatierung einer W'echselwirkung ist ihm mchts gelegen: die AVechselwirkung (actio mutua) soll vielmehr Gegen- wirkung (reactio) sein, damit das mechanische Gesetz dabei herauskommt: „In aller Mitteilung der Beweguii'^ sind A\'irkun^ und Gegenwirkung einander gleich" (IV. 440). Da erscheint es deini allerdings notwendig, dies Gesetz durch eine eingehendere „Konstruktion" zu begründen.

AVie schon bemerkt, war es gerade dieser Satz gewesen, der früher zur Annahme „einer besonderen ganz eigentümlichen Kraft," eben jener Trägheitskraft geführt hatte, die sich blofs darin äufsern sollte, zu widerstehen, ohne einen Körper bewegen zu können (447). Unerachtet diese x4nnahme durch einen so berühmten Namen, wie denjenigen Kepj)lers, gedeckt wird, mufs dieselbe dennoch aus der Naturwissenschaft „gänzlich weggeschafft werden" (44(j) und ist eine solche Kraft „ein Wort ohne alle Bedeutung" (447), „nicht

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allein weil sie einen Widerspruch im Ausdruck selbst bei sieb fübrt, oder auch deswegen weil das Gesetz der Trägheit (Leblosigkeit) dadurch leiclit mit dem Gesetze der Gegenwirkung in jeder mitge- teilten Bewegung verwechselt werden k(>nnte. sondern vornelimlich. weil dadurch die irrige Vorstellung derer, die der mechanischen Gesetze nicht reclit kundig sind, erhalten und bestärkt wird, nach welclier die Gegenwirkung der Kiirper, von der unter dem Namen der Triigheitskraft die Hede ist. darin bestehe, dal's die Bewegung dadurch in der Welt aufgezehrt, vermindert oder vertilgt, nicht aber die blofse Mitteilung derselben dadurch bewirkt werde" (44()). Es ist ja gar nicht einzusehen, wie aus einer solclien Kraft eine Gegen- wirkung sich sollte ableiten lassen. Der bewegende Kcirper müCste ja einen Teil seiner Bewegung blol's dazu aufwenden, um die Träg- heit des ruhenden zu überwinden; das aber wäre für ihn „reiner Verlust." er könnte dann nur mit dem übrigen Teile allein den Körper in Bewegung setzen und würde überhaupt keine Wirkung ausüben, falls ihm etwa gar nichts übrig bliebe. Von einer Träg- heit der Materie kann also im eigentlichen Sinne nicht die Bede sein : das blofse Unvermögen, sich von sell)st zu bewegen, kann nicht die Ursache eines Widerstandes sein (446 f.).

Aber auch aus dem „Begriffe einer lilol'sen ^Mitteilung der Be- wegung," wie Andere wollen, läfst sich das Gesetz der Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung nicht ableiten. Man denkt sich diese Mitteilung wie einen allmälilichen Übergang der Bewegung des einen Körpers in den andern, wobei der bewegende gerade soviel einbüfst. als er dem bewegten erteilt, bis die Geschwindigkeit bei beiden völlig gleich ist wo bleibt da die (Tegenwirkung? Die Bewrgung wandert gleichsam von einem Köri)er in einen anderen, wie wenn „Wasser aus einem Glase in das andere gegossen würde" (44()). Dabei tindet doch keine Gegenwirkung statt, ganz abgesehen davon, dafs die Mitteilung der Bewegung selbst ihrer M()glichkeit nach durch eine solche Annahme nicht erklärt wird (44;)). Die Hypothese einer Transfusion der Bewegungen aus einem Körper in den anderen erklärt auch nicht, warum beim Stol'se absolut liarter Körper der bewegte dem ruhii^H^i nicht in einem Augenblick seine ganze Bewegung überliefern sollt<\ sodafs er nacli dem Stofse selber ruht. Da ein solches Bewegungsgesetz weder mit der Er- fahrung, noch mit der Voraussetzung zusammenstimmt, sofern die Mitteilung der Bewegung ja nur bis zum Ausgleich der Bewegungs- unterschiede beider Körper stattünden soll, so mufs man sich dadurch zu helfen suchen, dafs man die Existenz absolut harter Kör])er leugnet. Das heilst jedoch die Allgemeinheit des Gesetzes aufheben

und gerade seine Zufälligkeit eingestehen, wenn die besondere (Qualität der bewegten Körper mafsgebend für seine Anwendung sein soll. „Wie aber die Transfusionisten der Bewegung," fügt Kant hinzu, „die Bewegung elastischer Körper durch den Stofs nach ihrer Art erklären wollen, ist mir ganz unbegreiflich. Denn da ist klar, dafs der ruhende Körper nicht als blofs ruhend Bewegung bekomme, die der stofsende einbüfst. sondern dafs er im Stofse wirk- liche Kraft in entgegengesetzter H ich tung gegen den stofs enden ausübe, um gleichsam die Feder zwischen beiden zusammenzudrücken, welches von seiner Seite ebensowohl wirkliche Bewegung (aber in entgegengesetzter Richtung) erfordert, als der bewegende Körper seinerseits dazu nöti.ir hat" (44r)).

Dies führt uns zugleich auf die richtige Ableitung jenes Ge- setzes. „Man kann sich garnicht denken, wie die Bewegung eines Ki'irpers A mit der Bewegung eines andern B notwendig verbunden sein müsse, als so, dafs man sich Kräfte an beiden denkt, die ihnen (dynamisch) vor aller Bewegung zukommen, z. B. Zurück- stofsung. und nun beweisen kunn, dafs die Bewegung des Köri)ers A durch Annäherung gegen B mit der Annäherung von B gegen A und, wenn B als ruhig angesehen wird, mit der Bewegung desselben zusamt seinem Baume gegen A notwendig verbunden sei, sofern die Kör|)er mit ihren (ursprünglich) bewegenden Kräften blofs relativ auf einander in Bewegung betrachtet werden" (44(j), Man mufs bedenken, dafs der Widerstand, welchen ein Köri)er einem anderen entgegensetzt, selbst einer bewegenden (re})ulsiven) Kraft entspringt, dafs einer Bewegung nichts widerstehen kann als ent- gegengesetzte Bewegung eines anderen, keineswegs aber dessen l\uhe (447), so kann es nicht mehr schwer fallen, die Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung aus der Relativität der Be- wegung abzuleiten.

Die Phoronomie zeigte, wie es bei der Auffassung einer Be- wegung ganz gleichgültig sei, ob man die letztere dem Körper üdvr ob man anstatt dessen dem Baume eine gleiche, abe^r entgegengesetzte Bewegung zusclireibt; die Erscheinung war in beiden Fällen einerlei. Nun betrachtete aber die Phoronomie die Bewegung eines K()r])ers blofs in Ansehung des Baumes, als Veränderung der Kelation in demselben, sie zog nur seine Geschwindigkeit in Erwägung, weswegen sie ihn auch für einen blofsen beweglichen Punkt ansehen konnte. Das ist in der Mechanik nicht der Fall. Hier kommt zugleich die Quantität der Substanz oder die Masse des Körpers in Frage, und dieser wird nicht mehr blofs in Beziehung auf seinen Raum (nach seiner Geschwindigkeit) gedacht, sondern er wird hier zugleich als

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Ursache der Bewegung eines anderen Körpers betrachtet. Da ist es nicht mehr gleichgültig, ob ich einem der Körper diese oder dem Eaume eine entgegengesetzte Bewegung zuerteile. Zwar ist auch hier die Bewegung relativ: „soviel der eine Körper jedem Teile des anderen näher kommt, soviel nähert sich der andere jedem Teil des ersteren-' (441). Da jedoch das Kausalverhältnis auf beide Kör])er zugleich Anwendung tindet, indem es sich dabei um eine Wechselwirkung handelt, so ist es durchaus ..nicht mehr ])eliebig, sondern

notwendig, jeden der beiden Körper als bewegt anzunehmen, und zwar mit gleicher (Quantität der Bewegung in entgegengesetzter Eichtung" (44:))^ ,.indem kein Grund da ist. einen von beiden mehr davon als dem anderen beizulegen^' (441). Daraus folgt, dafs die Bewegung in diesem Falle auf die beiden Körper nach dem umge- kehrten Verhältnis ihrer Massen verteilt werden mufs, wenn die beiderseitigen Bewegungsgröfsen oder die Produkte aus Masse und Geschwindigkeit sich gleichen solkm. So giebt sich also das mechanische Gesetz, dafs in der Mitteilung der Bewegung A\4rkung und Gegenwirkung dieselbe GriH'se haben.

Um dieses zu veranschaulichen, reduzieren wir. wie in der Phoronomie, die Bewegung auf den absoluten Kaum. Ein Körper A bewege sicli mit der Geschwindigkeit A B gegen einen anderen Kör])er B. der in Hinsicht auf denselben Kaum sich in Kühe be- findet. Denken wir uns nun die (Tt^schwindigkeit A B in zwei Teile Ac und Bc geteilt, die sich umgekelirt wie die Massen B und A zu einander verhalten (Ac : cB B : A). und stellen wir uns vor, A sei mit der Geschwindigkeit Ae, B dagegen mit der Geschwindig- keit Bc in entgegengesetzter Kichtung gelaufen, so kann B nur dann in Hinsicht auf den gegebenen Kaum in Kühe sein, wenn wir annehmen, dafs auch der letztere mit der Geschwindigkeit Bc in entgegengesetzter Kichtung sich bewegt ha])e. d. li. wenn wir die entgegengesetzte Bewegung von A und B mit seiner Umgebung auf den absoluten Kaum beziehen oder wenn wir A mit der Geschwindig- keit Ac im absoluten Raum, B dagegen mit der Geschwindigkeit Bc in entgegengesetzter Kichtung mitsamt dem relativen Kaume uns bewegt vorstellen. Aus der (Tleichheit der Bewegungs(iuanta A . Ac und B . Bc und der Entgegengesetztiieit ihrer Kichtungen ergiebt sich alsdann, dafs die beiden Bewegungen im absoluten Kaum sich gegenseitig aufheben oder dafs die beiden Körper in Hinsicht auf diesen zur Kühe kommen w^erden. Indessen wenn auch die Be- wegung des Körpers B durch den Stofs aufgehol)en wird, so wird doch darum nicht die Bewegung des relativen Kaumes aufgehoben, sondern derselbe fährt fort, mit der Geschwindigkeit Bc in der

Kichtung B A sich zu bewegen. Nun wissen wir aus der Phoronomie, dafs wir mit ganz dem gleichen Kecht auch sagen können: beide Kr)rper bewegen sich nach dem Stofse mit der nämlichen Geschwindig- keit Be in der Kichtung A B. Da mithin der Körper B durch den Stofs das Beweguiigs(|uantum B . Bc gewonnen, der Körper A dagegen das Bewegungsquantum A . Ac verloren hat, diese Produkte jedoch als gleich angenommen wurden, so ist somit durch unsere Konstruktion erwiesen, dal's A\'irkung und Gegenwirkung einander gleich sein müssen (441 f.).

Das Gesetz erleidet keine Abänderung, wenn anstatt des Stofses auf einen ruhigen, ein Stofs desselben Kör])ers auf einen gleichfalls bewegten angenommen wird (442). Schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob es in gleicher Weise sich auch bei der Anziehung zweier Köu-per konstruieren läfst. Kant meint auch hier, die i\lit- teilung der Bewegung dureii den Zug sei von derjenigen durch den Stofs nur der Kichtung nach verschieden, wonach die Materien ein- ander in ihren Bewegungen widerstehen (ebd.). Indessen hält Stadler diese schlichte Übertragung des Gesetzes mit Kecht doch nicht für statthaft, weil man bei der Anziehung nicht in gleichem Sinne von der Mitteilung der eigenen Bewegung reden kann, wie bei der Kepulsion : ..Wenn ein K()rper einer Masse eine Bewegung mitteilt, so kann man doch nicht mehr sagen, dafs er ihm seine eigne Bewegung mitgeteilt habe. Körper, die gegen einamlei- laufen. beschleunigen ihre Bewegung vermöge ihrer Anzieliung; sie erteilen sich also Bewegungen, die ihi-en eignen entgegengesetzt sind."'') Den richtigen Begriff der mechanisehen Einwirkung hat aber Kant auch liir diesen Kall gegeben, wenn er sagt, es gäbe neben d(^m mechanischen ..noch ein anderes, nämlich ein dynamisches Gesetz <ler Gleichheit der Wirkung und Gegenwirkung der i\raterien. nicht sofern eine der anderen ilii'e Bewegung mitteilt, sondern dieser ursprünglich erteilt und durch deren Widerstreben zugleich in sich hervorbringt" (444). Hier haben wir wirklich den Fall der Anziehung voi' uns, und das Gesetz ist leicht zu beweisen in folgender Art: „Wenn die Materie A die Materie B zieht, so nötigt sie diese, sich ihr zu nähern, oder, welclies einerlei ist, jene widersteht der Kraft, womit diese sich zu (^ntf'ernen tracbten möchte. Weil es aber einerlei ist, ol) B sich von A oder A sich von B entferne, so ist dieser AV^iderstand zugleich ein Widerstand, den der Köi-])er B gegen A ausübt, sofern er sich von ihm zu entfernen trachten möchte, mithin sind Zug und Gegenzug einander gleiclr' (ebd.J. Auf

) Stadler: a. a. (). 177.

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dieselbe AVeise läfst sich zeigen, wie das ^^leiche Verliältnis auch beim Druck stattfindet. ,.Weiiii A die ]\hiterie B zurückst()rst,, so widersteht A der Anniiheruiig von B. Da es aber einerlei ist, ob sich B dem A odvv A dem B nähere, so widersteht B auch ebenso viel der Annäherun.i? von A. Druck und Gegendruck sind also auch jederzeit einander gleich" (ebd.). Auch die Druckersch<'inungen sind demnach nur Äufserungsformen der Bewegungsknifte. nur dafs die Bewegungen hier als virtuelle aufzufassen sind.

Man wird dem schwerlich beistimmen können, wenn Kant hier von einem „anderen," und zwar „dynamischen" Gesetz der Gleich- heit von Wirkung und (4egenwirkun.u s])ri(ht. da es sich ja auch in den beiden letzten Füllen nicht um die Existenz der Materie, sondern um (mechanische) Einwirkung der Kih'per auf einander handelt. In jedem Falle stellen die beiden zuletzt erörterten Gesetze nur Besondcrungen des allircmeinen Satzes dar. der von Kant als drittes mechanisches Gesetz hezcichnet wurde, und man wird dalier gut thun, das letztere mit Stadler dahin zu erweitern, dafs man statt „]\Titteilung der Bewegung" sagt: „Tn aller Veriind(>rung der Bewe,^llng sind Wirkung und Gegenwirkung jederzeit einander

gleich."*)

Vergleicht man dieses Gesetz und seine Ableitung mit dem Grundsatz der Wechselwirkung, mit dem es im Zusammenhange stehen soll, so zeigt sich freilich der letztere als ein sehr iiufserlicher. Denn das Gesetz ist gar nicht, wie Kant sich den Anschein giebt. aus der Wechselwirkung abgeleitet, sondei'u es folgt aus dvv Bela- tivität der Bewegung. Wenn bei dem ersten und zweiten mecha- nischen (besetz ein Zusammenhang mit den Analo<]^ieen der Erfahrung wohl vorhanden war, die Gesetze aber selbst nur andere Formulirungeii der Analogien der Erfahrung waren, so ))ringt zwar das dritte ineclia- nische Gesetz etwas positiv Neues, aber es gehört schon ein guter AVilledazu, um es auch nur für einen Spezialfall dQV dritten Analogie ansehen zu können. Diese ganze Ih'ziehung der Gesetze der Mechanik auf das Schema der allgemeinen Metaphysik ist somit auch hier eine rein werth)se Spielerei, mit der alles Andere gewonnen werden mag. nur keine gröfsere Gewifsheit in der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Der Satz der Gleichheit von Wirkung und Gegen- wirkung niufs s(Mne Bestiitigung nach wie vor aus der Erfahrung holen, und wenn er sie hier nicht finden kann, so ist er überhaupt nicht ai)odiktisch zu erweisen.

In Wahrheit bietet die ganze Erörterung dieses Satzes in den

„Metaphysischen Anfangsgründen" absolut nichts Neues, was Kant nicht auch schon im Jahre 1758 in seinem „Neuen Lehr- begriff der Bewegung und Buhe" vorgetragen hatte. Hinzugekommen ist nur. dafs Kant aus ihm jenes „für die allgemeine Mechanik nicht unwichtige Naturgesetz" folgert, dafs ein jeder Kör})er. wie grofs auch seine Masse sei, durch den Stofs eines jeden anderen, wie klein auch seine Masse und Geschwindigkeit sein mag, beweglich sein müsse" (443). Diesen Fall ..vollständiger Übereinstimmung nnt dem vorkritischen Gedankengang" lindet selbst Stadler „be- merkenswert."*) Läge ihm nicht alles daran, die kritische Formu- lierung der Xatur^a^setze als das non plus ultra aller wissenschaft- lichen Erkenntnis anzupreisen, so hätte er ganz die gleiche Bemerkung auch in fast allen ührigen Fällen machen müssen, indem die viel gerühmte „Tiefe der Einsicht," die Kant durch seinen Kritizismus erlangt haben soll, überall mir auf einem trügerischen Schein lie- ruht^ hinter dem m der Kegel sich nur dasjenige verbirgt, was Kant auch schon in seiner vorkritischen Zeit gelehrt hat. Von jenen verhältnismäfsig wenigen Fällen abgesehen, wo Kant auch zu einer inhaltlich neuen Wahrheit gelangt ist, stellt sich bei genauerem Zusehen jene kritische Einkleidung; nur als eine blofse Form, als eine rein äufserliche Dra])ierung heraus, die man ihm lassen oder auch fortnehmen kann, ohne dafs darum der Inhalt an seiner AVahr- heit etwas einbüfst. Dafs Kant es dabei in seiner kritischen Periode vermeidet, auf seine früheren Resultate zurückzukommen, ist gewifs hiu'hst eigentümlich und auch S t a d 1 e r aufgefallen. Aber man braucht dies keineswegs mit dem letzteren auf eine Art von natürlicher „Ab- neigung Kants gegen das Citieren früherer Schriften*' zu schieben,**) wenn man bedenkt, dafs der Philosoph ein Interesse daran hatte, sich und seim; Leser über die völlige Übereinstimmung hinwegzu- täuschen, die zwischen seinen kritischen und seinen vorkritischen Schriften l)estand. Kant niufste durchaus den Schein zu vermeiden suchen, als wären seine llesultate auch noch auf anderm Wege zu gewinnen, wie aus der erkenntnistheoretischen Form ; er mufste es so darstellen, als wäre der Inhalt nur aus dieser Form hervorge- zogen, als wäre er von ihr gleichsam durch deren Begattung mit d(an Begriffe der Materie selbstschöpferisch erzeugt, weil er eben hierdurch seine meta])hysische Begründung empfangen, nur aus diesem Buden seine ajiodiktische Gewifsheit ziehen sollte. Hätte er der Form das schö])ferische Vernuigen abgesprochen, hätte er einge-

^) Stadler: a. a O. 1 T.S.

*) Stadler: a. a. (). 174. **J Stadler: a. a. O. 175.

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II. Die kritische Naturphilosophie.

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räumt, dafs diese Form nur von aufseu mechanisch an den Inhalt herangebraclit und daher auch beliebig von ihm ablösbar sei, so hätte er damit zugegeben, dal's die Vernunftkritik mit Rücksicht auf diesen Inhalt umsonst geschrieben und dafs es völlig aussichts- los sei, von einer solchen Form etwas für den Inhalt zu erwarten. Aufser (h'r Trägheitskraft hatte Kant in seinem ,.Neuen Lelir- begrifi'" noch das physische Gesetz der Kontinuität erörtert. Er hatte es verworfen, ganz ebenso wie jene Kraft, weil es ihm infolge der ihm anhaftenden Unendlichkeitsvorstellung im AV'idcrspruche mit den Thatsachen der Erfahrung zu stehen schien. Später jedoch, als er zu einer richtigeren Auffassung des Unendlichen gelangt war. hatte er auch den IJegrilf des Stetigen in Gnaden wieder aufge- nommen und jenes ,.Gesetz-' in der Vernunftkritik sogar a ])ri()ri abgeleitet. Es war selbstverständlich, dafs die ..Metaphysischen Anfangsgründe'', wie ja überhaupt ihre Aufgabe darin i)estand. die Grundsätze des reinen Verstandes in ihrer Anwendung auf die Materie darzustellen, aucb dem Kontinuitätsgesetze eine Stelle an- weisen mufsten; nur schade, dafs im allgemeinen Schema kein Grundsatz mehr vorhanden war. worauf jenes Gesetz unmittelb.u- hätte bezogen werden können. Schon in der \'crnuuftkritik hatte Kant bei dem Mangel an einer passenden Kategorie das ,.Gesetz der Kontinuität aller "N'eränderung" notdürftig bei seinei- lieiiaiKi- Inng des Kausalgesetzes untergebracht. Demgeinäfs hätte es auch in den ,,Anfangsgrün(U'n*' seine Stelle unter dem zweiten Gesetze der Mechanik erhalten müssen. Allein Kant bedurfte zu seinem Be- weise des dritten Gesetzes, und so niufste es sich gc^fallen lassen, in einer „allgemeinen Anmerkung zur ^Mechanik" abgethan zu werden, was dann leider auch noch in <'iner so schwierigen und dunklen P'orm geschieht, dafs wohl nur die wenigsten ijeser der „Anfangsgründe*^ sich werden die Alühe gegeben liaben. den eigent- lichen Sinn der kantischen Erörterung zu verstehen. Auffallend ist dab(^i aufserdem, dafs Kant jenes Gesetz überhau])t noch besonders glaubt beweisen zu müssen, obne sieb dabei um <lie a])riorisclie Ableitung desselben in der A'ernunftkritik zu kümmei-n. j:i, dafs er den inneren Zusammenhang des meclianischen Kontinuitätsges(^tzes mit dem metaphysischen überliau])t aufhehl, indem er sagt: „Diese lex continui gründet sich auf das Gesetz der Trägheit der Materie. da hingegen das metaphysische Gesetz der Stetigkeit auf alle Veränderung (innere sowohl, als äufsere) ül)erhaupt ausgedehnt sein müfste und alst*) auf den hlofsen Begriff einer \' e r ä n d e r u n g ü her hau]) t. als (jiröfse. und der Erzeugung derselben (die not- wendi"" in einer gewissen Zeit kontinuierlich, sowie die Zeit selbst.

vorginge) gegründet sein würde , hier also keinen Platz findet" (449).

,.An keinem Körj)er wird der Zustand der Buhe oder der Bewegung und an dieser der Geschwindigkeit oder der Bichtung durch den Stofs in einem Augenblicke verändert, sondern nur in einer gewissen Zeit durch eine unendliche Beihe von Zwischen- zuständen, deren Unterschied von einander kleiner ist als der des ersten und des letzten" (ebd.).

Um dieses Gesetz sich klar zu machen, ist es zunächst nötig, zu wissen, welche Merkmale überhaupt bei einer stetigen Ver- änderung zu unterscheiden sind. Kant bezeichnet sie als das ,. Moment der Acceleration" und als „Sollicitation", wovon diese die Wirkung einer bewegendi'u Kraft auf einen Körper in einem Augen- blick, jenes die hierdurch bewirkte Geschwindigkeit bedeutet, „so- fern sie in gleichem Verhältnis mit der Zeit wachsen kann" (447). Eine stetige Veränderung aber wäre nicht nn'iglich, wenn sich nicht die einzelnen Momente in der Bewegung erhielten, weil sonst nicht einzusehen wäre, wie die Beschleunigung durch Summation der Momente entstehen sollte. Also beruht auch die ]\rr)glichkeit der Be- schleunigung überhaupt durch ein fortwährendes ^Moment derselben auf dem Gesetze der Trägheit. Da nun das Moment dem Zuwachs der Beschleunigung in einer bestimmten Zeit entspricht, die Zeit jedoch ins Unendliche teilbar ist und jedem noch so kleinen Zeit- abschnitt ein solches Moment korrespondieren mufs. so folgt der Satz : „das Moment der Acceleration mufs nur eine unendlich kleine Geschwindigkeit enthalten, weil sonst der Kr)rper durch dasselbe in einer gegebenen Zeit eine unendliche Geschwindigkeit erlangen würde." Dies aber ist dadurch ausgeschlossen, dafs ein Unendliches nicht gegeben sein kann ((d)d.). Aus der Gröfse des Moments er- giebt sich auch diejeni<:ie der Sollicitation. weil beide sich wie Wirkung und Ursache zu einander verhalten und folglich auch gleich grofs sein müssen. Es ist hier jedoch ein Unterschied zu machen zwischen der Sollicitation der Materie durch expansive Kraft und derjenigen durch Anziehung. Die erstere ist. wie wir gesehen haben, eine Klächenkraft : sie wirkt nur in der Berührung und das dabei in Wirksamkeit tretende (Quantum von ^Fateric^ ist unendlich klein im Verhältnis zu dem der gegebenen K(")r])er. oder mit anderen Worten : sie ist ..die Bewegung eines unendlich kleinen (^(uantums von ^Materie, die folglich mit unendlicher Geschwindigk(^it geschehen mufs, um der Bewegung eines K«>rpers von endlicher Masse mit unendlich kleiner Geschwindigkeit gleich zu sein" (ebd. f.). Bei der Anziehungskraft dagegen kommt die ganze Masse des

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Körpers in Eetraclit, sofern sich deren Gröfse. als einer durcli- drin^i^enden Kraft, nach dem Quantum der wirkenden Materie richtet. Da nun dieses Quantum eine endliche (-rröfse ist. so mufs folirlich die Sollicitatiou der Anziehung unendhch kh'in sein, wenn (U^s Produkt aus der wirkenden Masse und deren Gescliwindigkeit der bewirkten Beschleuni^nmg. d. li. dem Produkt einer endlichen ]\[asse in eine unendlich kleine Geschwindigkeit, gleich sein soll. Dafs die Geschwindigkeit in diesem Fall unendlicli klein sein mufs, er- giebt sich auch daraus, weil sich keine Anziehung mit einer end- lichen (Geschwindigkeit denkc^i läfst, ohne dafs die Materie durch ihre eigene Anziehungskraft sich selbst d u r cli d r i n ^^ e n niüfste. „Denn der Anziehung, welche eine endliche Quantität Materie auf eine endliche mit einer endlichen Geschwindiixkeit ausübt, mufs eine jede endliche Geschwindigkeit, womit die Materie durch ihre Un- durchdringlichkeit, aber nur mit einem unendlich kleinen Teil der Quantität ihrer Materie entgegenwirkt, in allen l*unkten der Zu- sammendrückung überlegen sein*' (44S). Nui' dadui'ch. dafs die (ileschwindigkeit der Anziehung jederzeit unendlich klein ist. bleibt diese Voraussetzung gewahrt und wird die Sollicitatiou der Zurück- stofsung befähigt, derjenigen der Anziehung das Gleichgewicht zu halten, weil sie beide gleiche Gröl'sen sind.

AVenn sich also herausgestellt hat, dafs der Zuwachs der i>e- wegungsgröfse in einem Augenblick doch nur unendlich klein sein kann, so kann folglich eine endliche Änderung nur dadurch bewirkt werden , dafs sich die ISollicitationen während einer bestimmten Zeit summieren. Damit ist aber auch schon das „meclianische Gesetz der Kontinuität (lex continui mechanica)" bewiesen. ,,Ein bew^egter Körper, der auf eine JVlaterie stöfst. wird also durch deren Widerstand nicht auf einmal, sondern nur durch kontinuierliche Ketardation zur Puhe, oder der. so in Puhe war, nur durch kon- tinuierliche Acceleration in Bewegung, oder aus einem (irade Ge- schwindigkeit in einen andern nur luich derselben Kegel versetzt: imgleichen wird die Richtung seiner Bewegung m eine solche, die mit jener einen Winkel macht, nicht anders als vermittelst aller m()glichen dazwischen liegenden Kichtungen, d. i. vermittelst der Bewegung in einer krummen Linie, verändert*' (449). Kant hat bei dem Beweis des Satzes vor allem den Fall der Repulsion im Auge, fügt aber hinzu, es könne aus einem ähnlichen Grunde, wie bei dieser, auch auf die Veränderung des Zustandes eines Körpers durch Anziehung erweitert werden (ebd.)*)

*) V^l. hierüher, sowie über die Änderung der Richtung Stadler: a. a. O. 205 i'W

Aus diesem Gesetz ergiebt sicli nun die Folgerung, dafs es einen ,.absolut harten^- Kh'per, d. h. einen solchen, ,.dessen Teile einander so stark zögen, dafs sie durch kein Gewicht getrennt, noch in ihrer Lage gegen einander verändert werden könnten," niciit giebt, weil nämlich ein solcher in einem Augenblicke einem mit endlicher Geschwindigkeit bewegten Körper im Stofse einen A\'i(lerstand entgc^gensetzen würde, welcher der ganzen Kraft des Körpers gleich wäre. Nach dem Gesetz der Stetigkeit leistet eine Materie durch ihre Undurchdringlichkeit oder ihren Zusammenhang der Kraft eines Ki'irpers in endlicher Bewegung in einem Augen- blicke immer nur einen unendlich kleinen AV'iderstand: der Wi(h^r- stand des absolut harten K()rj)ers dagegen wäre endlich. „Weil die Teile der ^Nfaterie eines solchen Körpers sich mit einem Moment der Acceleration ziehen müfsten, welches gegen d;is der Schwere unendlich, der Masse aber, welche dadurch getrieben wird, endlich sein würde, so müfste der Widerstand durch ündurchdringlichkeit. als ex])ansive Kraft, da er jederzeit mit einer unendlich kleinen (Quantität der Materie geschieht, mit mehr als endlicher Ge- schwindigkeit der SoUicitation geschehen, d. i. die Materie würde sich mit unendlicher Geschwindigkeit auszudehnen trachten, welches unmöglich ist" (448).

Es ist schwer, mit diesen dunklen Bestimmungen etwas an- zufangen, die nur zeigen, w^ie sehr Kant noch selbst mit den 1 Problemen ringt. Wir lassen sie daher auf sich beruhen und wenden uns lieber gleich dem vierten Hauptstück der „Meta- physischen Anfangsgründe" zu, w^omit sich die apriorische Grund- legung der Naturwissenschaft vollendet.

A. Die Phänomenologie.

Die svntlietischen Grundsätze des reinen Verstandes stellten die Bedingungen auf, unter denen alle Gegenstände stehen müssen, um für uns hdialt der Erfahrung zu werden. Ihre Bedeutung lag darm, dafs sie das Dasein zu einem gesetzmäl'sigen gestalteten. Damit erhoben sie es in die Sphäre des Objekts und machten über- hau])t ein Urteil über Gegenstände uKiglicli. Allein um ein solches Urteil auch in jedem besonderen Falle seinem Werte nach kenn- zeichnen zu können, dazu hatte Kant es für nötig befunden, jenen Grundsätzen auch noch unter dem Namen von „Postuiaten des emj)irischen Denkens ül)erhau])t" gewisse Kegeln beizugesellen, deren Aufgabe nicht so sehr darin bestehen sollte, das Objekt, als viel- mehr das Verhältnis desselben zum Erkenntnisvermögen des Subjekts zu bestimmen und anzugeben, ob ein Urteil möglich, wirklich oder

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B. Kant als XaturphilusDph.

II. Die kritische Naturphilosophie.

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notwendig sei. Eine wie zweifelhafte Rolle diese Kegeln neben den übrigen Grundsätzen spielten, haben wir früher gesehen. Waren sie doch von den letzteren ihrem ganzen AVesen nach versclueden, sofern sie gar nicht, wie diese, zur Möglichkeit der Erfahrung selbst etwas beitrug(>n, sondern erst nachträglich ins Si)iel treten konnten, wenn die Erfahrung als solche schon feststand. Die Postulate des empirischen Denkens bezogen sich auf das gesamte Gebiet der Er- fahrung ü])erhaupt. wie es durch die eigentlich sogenannten Grund- sätze umschrieben war, aber sie fügten diesem Gegenstande keine neue Bestimmung hinzu, sondern beschränkten sich nur darauf, ihn zum urteilenden Subjekt in Beziehung zu setzen. Daraus läfst sich von vornherein entnelimen, dafs wir auch von der Anwendung dieser Kegeln auf das naturwissensehaftliche Objekt, wie sie den „Metapliysisclien Anfangsgründen'^ ihre Methode vorschreibt, keine neuen Aufschlüsse üher dies Objekt erwarten dürfen. ..Das vierte Hauptstück bringt nichts weiter als einen methodisehen Rückblick. Der Denker überschaut das vollendete Werk: er besinnt sich noch einmal auf das Yerhältnis. in welchem die gefundenen Sätze zu seiner erkenntnistheoretisehen Überzeugung stehen. Diese letzte Prüfung ist nicht mehr systematische Pilicht. sondern subjektive Gewissenhaftigkeit; sie ist die Selbstkontrolle streng methodischer Ketiexion.-'-"'^)

W^enn dem so ist, so wäre es logiseli gewesen, diesen letzten Teil den ührigen nicht einfach zu koordinieren, wie Kant es thut. sondern ihn etwa als Anhang zu l)ehandeln, wobei d.inn freilich die Beziehung auf das erkenntnistheoretische Schema in die Brüche gegangen wäre. Aber dieses Schema, das in so un])assender Weise die Postulate auf eine Stufe mit den übrigen Grundsät/eii stellt, dieses Schema ist ja selbst schon sch](^clit und nur durch Kants unglückliche Bezugnahme auf die Katcgorieentafel ent- standen.

Leider richtet diese l^ücksicht auf di-' Katcgorieentafel noch weitere Verwirrung an. Da das vierte Hiuptstück, wie gesagt, eine wesentlich neue Bestimmung nicht enthält, so fällt es nicht auf, wenn es die Alateiäe betrachten soll als ,,dis Bewegliche, so- fern es als ein solches ein Gegenstand der b^rfahiaing sein kann" (4r)()). Auch die vorangegangenen Hau])tstücke haben die Materie unter diesem nämlichen Gesichtspunkt angesehen: die ganze Xatur war ja. den „Metaphysischen Auf ingsgründen" nichts Andei'cs als der „Inbegrilf aller Dinge, sofern sie Gegenstände^ unserer Sinne,

■■) Stadler: a. a. O. VJO f.

mithin der Erfahrung sein krmnen" (357); der Unterschied besteht nur darin, dafs jetzt „ihre Bewegung oder Kühe l)lofs in Beziehung auf die Vorstellungsart oder Modalität, mithin als Erscheinung äufserer Sinne", erwogen werden soll (806). Weil es sieb also um die Bewegung, als Erscheinung, handelt, darum wird diese ganze Betrachtung kurioser Weise von Kant mit dem Namen „Phäno- menologie" getauft. Weil er sie aber in Beziehung zur Katcgorieen- tafel setzen und demgeinäfs mit den vorangehenden Abschnitten auf die gleiche Stufe stellen mufs. darum betitelt er sie ..Meta- physische Anfangsgründe der Pliänoinenologie*', obwohl sie doch gar nicht eine l)esondere Wissenschaft, wie Plioronomie, Dynamik und Mechanik, darstellt, sondern seihst mit zu den Anfangsgründen jener geh<)rt und daher auch nicht eine selbständige Behand- lung erfahren kann. Stadler gieht zu. dafs die Phänomenologie den übrigen W^issenschaften nicht durch die gegebene Überschrift kooi-diniert werden dürfe. Er wird auch kaum leugnen können, dafs Kant zu diesem Schritte nur durch die Art seiner Methode gezwungen sei. Trotzdem bleibt er von der Vorzüglichkeit dieser letzteren überzeugt und sucht er eine ^Methode g(^gen Angritfe zu verteidigen, die zu so handgreiflichen Absurditäten fiüirt.

Erscheinung soll in Erfahrung verwandelt werden. Das ist etwas ganz Anderes als die Verwandlung des Scheins in Wahrheit. „Denn Ix'im Sclieine ist der Verstand mit seinen einen Gegenstand hestimmenden Urteilen jederzeit im S])iele, ohzwar er in Gefahr ist, das Subjetive für objektiv zu nehmen : in der Erscheinung aber ist gar kein Urteil des Verstandes anzutreffeir' (4")!). AVie kann J^e- wegung, die uns unmittelbar nur als Erscheinung gegeben ist. Objekt der Erfahrung werden? Damit üherhaupt etwas Erfahrung werde, dazu ist ncitig, dafs die Erscheinung, die als solche nur dem Subjekt inhäriert, dui-ch den Verstand mit dem BegriiVe der Substanz, als Bestimmung dieser letzteren, verbunden und damit auf ein Objekt Ixv.ogen wird. AVorauf es dal)ei ankommt, ist. dafs das Objekt durch die Erscheinung auch wirklich bestimmt ist. denn sonst kann von F]rlahrung nicht die Rede sein. Es genügt also im vorliegenden falle nicht, die Bewegung einfach an ein Bewegliches anzuknüplen. I>as Bewegliche wird als ein solches nur dann ein Gegenstand der Ei-j'ahrung sein können, „wenn ein gewisses Objekt (hier also ein niaterielles Ding) in Ansehung des Prädikats der Bewegung als bestimmt gedacht wird'' (400). Dies ist nun b(4 der Bewegung unmittelbar nicht (h'r Kall. Bewegung ist Veränderung der l^elation ini Ixanme. Sie drückt eine J)eziehung des Körpers zu etwas aufser ihm Seienden aus. und diese beiden Momente sind so sehr Jvoirelate,

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II. Die kritische Naturphilosophie.

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(lal's nijin keine Aussage von dem einen machen kann, olme damit znf,^leieh auch das I^riidikat des andern zu berühren. Es ist ^leich- i^ülti^^ welclies von beiden man als bewe^^t ansieht, ob man das eine als ruhend und das andere als bewegt betrachtet, oder endlich ob man beide als zu,i:,deich bewegt vorstellt. ,.In der Erscheinung, die nichts als die Kelation in der Bewegung (ihrer Veränderung nach) enthält, ist nichts von diesen P>estimmungen enthalten : wenn aber das Bewegliche, als ein solches, nändich seiner Bewegung nach, bestimmt gedacht werden soll, d. i. zum Behuf einer mr»glichen Erfahrung, ist es niUig, die Hedingungen anzuzeigen, unter welchen der Gegenstand (die Materie) auf eine oder andere Art durch das Prädikat der Bewegungen bestimmt werden müsse" (4;")!). Damit ist die Aufgabe der rhJinomen()h)gie gestellt.

Betrachten wir zunächst die Bewe^gung als Gegenstand der Phoronomie! Die letztere hat gezeigt, dafs eine jede geradlinige Bewegung, als Gegenstand einer mr)glichen Erfahrung, beliebig ent- weder als Bewegung des Körpers in einem ruhigen Baume oder als Ruhe des Kcirpers und dagegen Bewegung des Baumes in entgegen- gesetzter Richtung mit gleicher Geschwindigkeit angesehen werden k(">nne. Daraus geht hervor, dafs eine Kriährung, sofern man darunter eine Erki'nntnis versteht, die das Objekt für alle Erschei- nungen gültig bestimmt, von dieser Art Bewegung nicht nK'iglich ist. Nicht als ob eine solche Bewegung füi- uns überhaupt niclit PJrscheinung sein kiinnte die Erscheinung wird nur in diesem Falle nicht bestimmt. Die Bestimmung, ob ein Korper sich im relativen Raum bewegt und dieser ruht, oder umgekehrt, diese trifft nicht den Gegenstand selbst, sondern sie geht nur auf sein Verhältnis zum Subjekt, ist dem Belieben des Zuschauers überlassen, der seine Entscheidung danach treffen wird, ob er sich selbst in dem näm- lichen Raum als ruhig oder ob er sich in einem andern und jenen umfassenden Raum vorstellt, in Hinsicht auf welchen der Körj)er gleichfalls ruht. Im ersteren Falle wird er sagen, dafs der Kör])er, im letzteren, dafs sich der relative Raum bewegt. Die Entsclieidung erfolgt mithin ,.durch blofsc^ Wahl*'. In der Erfahrung ist jener Unterschied nicht vorhanden. Die Bestimmungen sind in Ansehung des Objekts gleichgeltend und unterscheiden sich nur in Ansehung des Subjekts und seiner Vorstellungsart von einander. „Nun ist dasjenige, was in Ansehung zweier einander entgegengesetzter Prädi- kate an sich unbestimmt ist, sofern blofs möglich. Also ist die geradlinige Bewegung einer IVIaterie im empirischen Räume zum Unterschiede von der entgegengesetzten gleichen Bewegung des Raumes in der Erfahrung ein blofs mögliches Prädikat" (452).

Dafs überhaupt Bewegung wahrgenommen werden kann, dies ist nur möglich, wenn beide Korrelate, der Körper sowohl, wie der Raum, die sich wechselseitig auf einander beziehen. Gegenstände der Erfahrung sind. Der reine oder absolute Raum ist, wie wir bereits aus der Phoronomie gesehen haben, nur eine rein subjektive Idee und niemals in der Anschauung gegeben. Daraus folgt, dafs eine absolute ]]ewegung auch nicht Objekt der Erfahrung sein kann, weil sie einen solchen Raum zum Korrelate haben müfste.

Das ist alles ganz richtig, aber auch bereits so trivial, dafs man blofs der Kategorie der Möglichkeit zu Liebe sich schwerlich damit aussöhnen kann, alte al>gestandene Wahrheiten in so anspruchs- voller Form hinnehmen zu müssen. Man wird gut thun, auch hieran lieber mit Stillschweigen vorbeizugehen, anstatt die inhaltliche Leere dieser Ausführungen dadurch noch offener hervortreten zu lassen, dafs man an ihnen die Vorzüglichkeit der kantischen Methode nachweist.

AVenn die geradlinige Bewegung, wie sie in der Phoronomie betrachtet wurde, von uns nur als möglich beurteilt werden konnte, so fragt es sich, wie es mit der Modalität der Bewegung in Hinsidit der Dynamik steht. Das Schema verlangt, sie als eine wirkliche anzusehen, und in der That beiafste sich ja auch die Dynamik nicht, wie die Phoronomie, mit dem rein subjektiven Abstraktum der Bewegung ohne Rücksicht auf dasjenige, w^as sich bewegt, sondern sie betrachtete das Bewegliche zugleich mit seiner Bewegung, ihr Gegenstand war die Wirklichkeit in ihrer objektiven Bedingt- heit; sie fand, dafs diese AVirklichkeit auf dem Begriff der Kraft beruhe. Giebt es eine Bewegung, die gleichfalls auf eine Kraft bezogen werden mufs, so wird mithin auch diese das Prädikat der Wirklichkeit erhalten, einem Subjekt als wirkliches Prädikat beige- legt werden können. Eine solche Bewegung ist die Kreisbewegung, sowie überhaupt jede k r u m m 1 i n i g e.

„Eine Bewegung, die nicht ohne den F]inHufs einer kontinuierlich wirkenden äufseren bewegenden Kraft stattfinden kann, beweist mittelbar oder unmittelbar ursprüngliche Bewegkräfte der Materie, es sei der xlnziehung oder Zurückstofsung-' (4r>H). „Die Kreis- bewegung ist eine kontinuierliche Veränderung der geradlinigen, und da diese selbst eine kontinuierliche Veränderung der Relation in Ansehung des äufseren l^iumes ist, so ist die Kreisbewegung eine Veränderung der Veränderung dieser äufseren Verhältnisse im Räume, folglich ein kontinuierliches Entstehen neuer Bewegungen. Weil nun nach dem Gesetze der Trägheit eine Bewegung, sofern sie ent- steht, eine äufsere Ursache haben mufs, gleichwohl aber der Körper

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B. Kant als Naturphilosoph.

in jedem Punkte dieses Kreises (nach ebendemselben Gesetze) für sich in der den Kreis berührenden Linie fortzugehen bestrebt ist, welche Bewegung jener äufseren Ursache entgegenwirkt, so beweist jeder Körper in der Kreisbewegung durch seine Bewegung eine bewegende Kraft" (ebd.).

Die geradlinige Bewegung konnte darum nicht das IVädikat der Wirklichkeit erhalten und blieb als solche unbestimmt, weil bei ihr eine doppelte Auffassung mr)glich und jede dieser beiden Auf- fassungen gleichberechtigt war. AVjirum gilt dasselbe nicht auch von der Kreisbewegung, und kann nicht auch diese entweder als Bewegung des K(-)rpers und Ruhe des umgebenden Raumes oder als Ruhe^^des K(h-peis und Bewegung jenes ]{aumes in entgegengesetzter Richtung angesehen werden? Der Grund soll darin Hegen, dafs die Bewegung des Raumes zum Unterschiede von der Bewegung des K(-»rpers „blofs phoronomisch" sei und gar keine bewegende Kraft ihm /ukommc ,Also ist die Kreisbewegung eines Kr>ri)ers zum Unterschiede von der Bewegung des Räumens wirkliche Be- wegung, folghch die letztere, wenn sie gleich der Erscheinung nach mi^ der erstcren übereinkommt, dennoch im Zusammenhange aller Erscheinungen, d. i. der mö-lichen Erfaliruiig. dieser widerstreitend, ^dso nichts als blofser Schein" (ebd.j. Allein hat Kant nicht in seinem Beweise des dritten mechanischen (Gesetzes die Bewegung des Raumes dazu benutzt, um die Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung darzulegen? Sollte diese Bewegung eine wirkliche sein und wurde somit der Bewegung des relativen Raumes bewegende Kraft zugeschrieben, warum soll diese Bewegung zum ,,blofsen Schein-' herabsinken, sohald an Stelle der geradlinigen die Kreis- bewegung tritt? Behaui)tet doch Kant selbst: die relative Bewegung „in Ansehung des äufseren Raumes (z. B. die Achsendrehung der Erde relativ auf die Sterne des Himmels) ist eine Erscln^inuncc. an deren Stelle die entgegengesetzte Bewegung dieses Raumes (des Himmels) in derselben Zeit als jener völlig gleicligeltend gesetzt werden kann" {4b:). Damit würde denn freilich auch die Kreisbewegung der Materie nur als ein nu)p;liches Rriidikat zugeschrieben werden, und das Schema der Wirklichkeit würde unausgefiUlt bleiben, was Kant nun einmal nicht zulassen konnte.

Es soll also mr)glich sein, die Kreisbewegung eines Körpers „ohne idle durch Erfahrung mögliche Vergleichung mit dem äufseren Räume dennoch vermittelst der Erfahrung zu erkennen. Es soll möglich sein, „dafs eine Bewegung, die eine Veränderung der äufseren Verhältnisse im Räume ist, empirisch gegeben werden könne, obgleich dieser Raum selbst nicht empirisch gegeben und

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kein Gegenstand der Erfalirung ist." Das ist ein „Paradoxon", welches „aufgelöst zu werden verdient" (454). Eine Bewegung namhch, die „ohne Beziehung auf den äufseren empirisch gegebenen Raum als wirkliche Bewegung in der Erfahrung gegeben werden kann", scheint eine absolute Bewegung zu sein (457): eine solche aber soll ja kein Objekt der Erfahrung sein. Nun handelt es sich aber hier nach Kant gar nicht um den Unterschied der absoluten und der relativen Bewegung, sondern um den der wahren (wirk- lichen) und der Scheinbewegung. Absolute Bewegung ist Verände- rung der Relation zum absoluten Raum und kann von uns nicht wahrgenommen werden, weil der absolute Raum in der Erfahrung nicht vorkommt. Wahre Bewegung dagegen ist zwar auch nicht durch Beziehung auf einen aufser ihr seienden Raum bestimmbar, konnte also, wenn man sie blofs nach empirischen Verhältnissen zum Raum beurteilen wollte, auch für Ruhe gehalten werden, ist aber, „ob sie zwar in der Erscheinung keine Stellenveränderung, d. 1. keine phoronomische. des Verhältnisses des Bewegten zum (empirischen) Räume zeigt, dennoch eine durch Erfahrung erweisliche kontinuierliche dynamische Veränderung des Verhält- nisses der Materie in ihrem Räume", welche eben dadurch vom Schein sich unterscheidet fehd.j. „Man kann sich z. B. die Erde im unendlichen leeren Raum als um die Achse gedreht vorstellen und diese Bewegung auch durch Erfahrung darthun, obgleich weder das Verhältnis der Teile der Knie unter einander, noch zum Räume aufser ihr phoronomisch, d. i. in der Erscheinung, verändert wird. Denn in Ansehung des ersteren, als empirischen Raumes, verändert nichts auf und in der Erde seine Stelle, und in BezicOiung des zweiten, der ganz leer ist. kann überall kein äufseres verändertes Verhältnis, mithin auch keine Erscheinung einer Bewegung statt- hnden" (ebd.). Dafs aber diese Bewegung, obschon sie im absoluten Räume vorgestellt wird, dennoch keine absolute, sondern nur relative „und sogar darum allein wahre Bewegung sei% das beruht auf der Vorstellung der wechselseitigen kontinuierhchen Entfernung eines jeden Teils der Erde (aufserhalb der Achse) von jedem andern ihm in gleicher Entfernung vom Mittel])unkte im Diameter gegenüber hegenden. Denn diese Bewegung ist im absoluten Räume wirklich, indem dadurch der Abgang der gedachten Entfernung, den die Schwere für sich allein dem Körper zuziehen würde, und zwar ohne alle dynamische zurücktreibende Ursache, mithin durch wirkliche, aber auf den innerhalb der bewegten Materie (nämlich des Centrums derselben) beschlossenen, nicht aber auf den äufseren Raum bezogene Bewegung, kontinuierlich ersetzt wird" (458).

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Die „beständige Verminderung der Anziehung durch ein Bestreben zu entfliehen" (457) oder die Centrifugalkraft ist nur durch die Kreis- bewegung zu erklären. Dieser Beweis ist freilich nur dann stich- haltig, wenn jede andere Ursache für die Fliehkraft ausgeschlossen ist. Das ist aber nicht der Fall, denn man könnte versucht sein, die Centrifugalkraft, welche der Anziehung der Sonne entgegen wirkt, auch aus der abstofsenden Kraft des die Planeten umgebenden Äthers zu erklären. „Dergleichen Hypothesen m(>gen allerdings unwahrscheinlicher sein als die Alileitung der Centrifugalkraft aus der Kreisbewegung ; allein eine volle Gewifsheit für die AVirklichkeit der Kreisbewegung kann daraus offenbar nicht abgeleitet werden, und der Beweis würde überdem nicht allgemein, sondern nur für die Kreisbewegung von Kiirpern gelten, welche nach dem Mittel- punkte dieses Kreises gravitieren."*)

Aus ähnlichen Gründen kann auch der andere Erfahrungs- beweis, den Kant für die Wirklichkeit der Kreisbewegung giebt, nicht als zwingetul angesehen werden. „Wenn ich mir," sagt er, „eine zum Mittelpunkt der Erde hingehende tiefe Höhle vorstelle und lasse einen Stein darin fallen, tinde aber, dafs, obzwar in jeder Weite vom Mittel])unkt die Schwere immer nach diesem hingerichtet ist, der fallende Steüi dennoch vcn seiner senkrechten Richtung im Fallen kontinuierlich, und zwar von West nach Ost abweiche, so schliefse ich, die Erde sei von Abend gegen Morgen um die Achse gedreht. Uder wenn ich auch aufserhalb den Stein von der Ober- fläche der Erde weiter entferne und er bleibt nicht über demselben Punkte der Oberfläche, sondern entfernt sich von demselben von Osten nach Westen, so werde ich auf ebendieselbe vorhergenannte Achsendrebung der Erde schliefsen, und beiderlei Wahrnehmungen werden zum Beweise der Wirklichkeit dieser Bewegung hinreichend sein, wozu die Veränderung des Verhältnisses zum äufseren Räume (dem bestirnten Himmel) nicht hinreicht, weil sie blofse Erscheinung ist, die von zwei in der Tiiat entgegengesetzten Gründen herrühren kann und nicht eine aus aus dem Erklärungsgrunde aller Erschei- nungen dieser Veränderung abgeleitete Erkenntnis, d. i. Erfahrung ist" (457 f.). Soll in der dynamischen Erörterung die Bewegung ohne alle Beziehung zum äufseren Raum, mithin nicht als relative betrachtet werden und hat Kant recht, zu sagen: „wenn aufser einer Materie noch irgend eine andere, selbst durch den leeren Raum getrennte Materie wäre, so würde die Bewegung schon relativ sein" (4[)9), dann sind diese Beispiele schon deshalb schlecht gewählt,

weil ja der fallende Stein nicht selbst ein Teil der Erde, sondern ein Körper aufser ihr ist, somit auch hier die Relativität gesetzt ist.*) Abgesehen aber hiervon, wer steht dafür, dafs sich nicht der (relative) Raum, in welchem sich der Stein bewegt, entweder, wie bei dessen Falle, von Westen nach Osten, oder, wie bei dessen Aufstieg, von Ost nach West bewegt und damit den Stein in diesen Richtungen mit sich fortführt?

Man sieht, wie zweifelhaft hier alles ist, und wie sehr es uns an einem Mafsstab fehlt, um auf die Bewegung das Prädikat der AVirklichkeit anwenden zu können.**) Es ist sicher, dafs der äufsere Grund für Kant, einen solchen Mafsstab aufzustellen, nur in seiner Rücksicht auf das kategoriale Schema lag. Dafs er aber gerade bei der Kreisbewegung eine Ausnahme machte und diese von der Relativität der Bewegung ausschlofs, dazu mag er auch noch durch den besonderen Grund veranlafst sein, weil er die Ansicht des Copernicus von unserem Sonnensysteme vor den Gefahren glaubte schützen zu müssen, die ihr von der Relativität der Bewegung her drohten. Jene Ansicht war eine unumstöfsliche Überzeugung auch für Kant. Sie galt allgemein für so gut begründet, dafs es absurd gewesen wäre, an ihr zu zweifeln. Wenn nun alle Bewegung blofs relativ war, konnte man dann nicht mit dem gleichen Rechte sagen, die Sonne drehe sich um die Erde, wie umgekehrt? Zum mindesten sank damit die allgemeine Annahme auf den Wert einer Hypothese herab, und Hypothesen nach Möglichkeit zu beseitigen, das war ja gerade das Ziel der naturwissenschaftlichen Bestrebungen Kants. Wie glücklich also, wenn es möglich war, der Kreisbewegung wenigstens das Prädikat der Wirkhchkeit zu sichern ! Da offenbarte sich doch wieder einmal der Nutzen der Kategorieentafel, indem sie zu Ergeb- nissen führte, die man ihr nicht hätte zutrauen sollen. Logischer wäre es freilich gewesen, diese ganze Ansicht über die Wirklichkeit der Kreisbewegung schon in der Phoronomie abzuhandeln; allein der Tafel zu Liebe konnte man gerne schon einmal die Logik bei

Seite lassen, wenn sich doch jene als so „fruchtbar" erwies.

Es bleibt noch übrig, die Modalität unseres Urteils in der Mechanik zu betrachten. „Nach dem dritten Gesetze der Mechanik ist die Mitteilung der Bewegung der Körper nur durch die Gemein- schaft ihrer ursprünglich bewegenden Kräfte und diese nur durch beiderseitige entgegengesetzte und gleiche Bewegung möglich. Die Bewegung beider ist also wirklich. Da aber die Wirklichkeit dieser

*) V. Kirchmann: a. a. ü. G6 f.

*) Stadler: a. a. 0. 2.J0. **j V. Kirchmann: a. a. 0. G3 f. D r e w 8 , Kants Naturphilosophie.

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Bewegung nicht auf dem Einflüsse äufserer Kräfte beruht, sondern aus dem Begriffe der Kelation des Bewegten im Baume zu jedem anderen dadurch Beweglichen unmittelbar und unvermeid- lich folgt, so ist die Bewegung des letzteren notwendig" (454).

Wenn alles, was „aus blofsen Begriffen hinreichend erweislich" ist, eben deshalb „schlechterdings notwendig" ist (459), so ist auch die Kreisbewegung nicht blofs wirklich, sondern notwendig, denn Kant hat, w^ie oben gezeigt wurde, auch bei ihr die Wirklichkeit nur aus ihrem Begriffe abgeleitet. Was mit derartigen Bestim- mungen gewonnen sein soll, bleibt unverständlich. Auch der Satz, dafs in jeder Bewegung eines Körpers, wodurch er in Ansehung eines anderen bewegend ist, eine entgegengesetzte gleiche Bewegung des letzteren notwendig sei, ist seinem Wesen nach offenbar nur eine Wiederholung des dritten mechanischen Gesetzes und hier nur mit Bücksicht auf das Schema angebracht. Kant sucht die apo- diktische Beschaffenheit, welche dem „Gesetz des Antagonismus" zukommen soll, auch noch dadurch zu stützen, dafs eine jede Ab- weichung von demselben den gemeinschaftlichen Mittelpunkt der Schvrere aller Materie, mithin das ganze Weltgebäude aus der Stelle rücken würde. Ein geradlinige^ Bewegung des Weltganzen, d. h. des Systems aller Materie, aber würde einem Körper ohne Beziehung auf irgend etwas Äufseres zugeschrieben, es wäre das also eine absolute Bewegung, die schlechterdings unmöglich ist (459).

Zum Sclilufs seiner „Metaphysischen Anfangsgründe" giebt Kant noch einen Bückblick über die verschiedenen Bedeu- tungen des leeren Baums. „Der leere Raum in phoronomisclier Rücksicht, der auch der absolute Raum lieilst, sollte billig nicht ein leerer Raum genannt werden ; denn er ist nur die Idee von einem Räume, in welchem ich von aller besonderen Materie, die ihn zum Gegenstande der Erfahrung macht, abstrahiere, um in ihm den materiellen oder jeden empirischen Raum noch als beweglich und dadurch die Bewegung nicht blofs einseitig als absolutes, sondern jederzeitig wechselseitig als blofs relatives Prädikat zu denken. Er ist also garnichts, was zur Existenz der Dinge, sondern l)l()rs zur Bestimmung der Begriffe gehört, und sofern existiert kein leerer Raunr' (459 f.).

Von dem leeren Raum in dynamischer Hinsicht ist bereits in der Dynamik gehandelt worden. Er bedeutet einen Raum, der nicht erfüllt ist, worin dem Eindringen des Beweglichen nichts widersteht, r; und folglich auch keine repulsive Kraft ihre Wirkung äufsert. Ein solcher kann nun entweder als leerer Raum in der

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Welt (vacuum mundanum) oder als leerer Raum aufs er der Welt (vacuum extramundanum) vorgestellt werden.

Der erste Fall läfst selbst wieder eine doppelte Auffassung zu. Man kann nämlich den leeren Raum in der Welt entweder als zer- streuten Raum (vacuum disseminatum), sofern derselbe nur einen ieil des Volumens der Materie ausmacht, oder als gehäuften leeren Raum (vacuum coacervatum) ansehen, der die Körper, z. B die Weltkorper, von einander sondert. In jener Hinsicht dient der Raum dazu, um die spezifischen Unterscliiede der Dichtigkeit, in der letzteren um die Möglichkeit einer von allem äufseren Widerstände freien Bewegung im Weltraum zu erklären. Dafs die Annahme eines vacuum disseminatum jedenfalls „nicht nötig" sei, ist bereits in der Dynamik auseinandergesetzt worden, denn die Unterschiede der Dichtigkeit konnten nach der dynamischen Theorie auch auf andere Weise erklärt werden. Dafs sie aber auch unmöglich sei, läfst sich zwar aus seinem Begriff allein nach dem Satz des Widerspruches keineswegs behaupten, weil gegen die logische Möglichkeit des Be- griffes nichts einzuwenden ist, aber es könnte doch einen „physischen Grund" geben, welcher gegen seine Wahrheit spräche. „Denn wenn die Anziehung, die man zur Erklärung des Zusammenhanges der Materien annimmt, nur scheinbare, nicht wahre Anziehung, vielmehr etwa blofs die Wirkung einer Zusammendrückung durch äufsere im Weltenraume allenthalben verbreitete Materie (den Ätiierj, welche selbst nur durch eine allgemeine und ursprüngliche Anziehung, nämlich die Gravitation, zu diesem Drucke gebracht wird, sein sollte, welche Meinung manche Gründe für sich hat, so würde der leere Raum innerhalb der Materien, wenngleich nicht logisch, doch dynamisch und also physisch unmöglicli sein, weil jede Materie sich in die leeren Räume, die man innerhalb derselben annähme (da ihrer ex])ansiven Kraft hier nichts widersteht), von selbst ausbreiten und sie jederzeit erfüllt haben würde" (460 f.). Aus demselben Grunde ist auch die Annahme eines leeren Raumes aufserhalb der Welt, d. h. der grofsen W\4tkörper, unmöghch, „weil nach dem Mafse, als die Entfernung von diesen abnimmt, auch die Anziehungs- kraft auf den Äther in umgekehrtem Verhältnis abnimmt, dieser also selbst nur ins Unendliche an Dichtigkeit abnehmen, nirgends aber den Raum ganz leer lassen würde" (41)1).

Was schliefslich den leeren Raum in mechan is eher Hinsicht anbetrifft, so ist darunter jenes gehäufte Leere zu verstehen, worauf die freie Bewegung der AVeltkörper beruhen soll. Allein wenn man annimmt, dafs sj)eziiisch verschiedene Stoffe bei gleicher Quantität unendlich verschiedene Ausdehnungen haben können, so wird auch

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diese Annahme unnötig, „weil der Widerstand, selbst bei gänzlich erfüllten Räumen, alsdann doch so klein, als man will, gedacht werden kann" (ebd.).

Die Frage, ob es einen leeren Raum giebt, hängt also letzten Kndes davon al). wie man sich die „Mögliclikeit der Zusammensetzung einer Materie überhaupt" erklärt (4G0). „Wenn man die letztere nur besser einsähe" (ebd.). und die Art, wie die Materie ihrer eigenen ausdehnenden Kraft Sciiraiiken setzt, nicht ein so „schwer aufzu- schlielsendes Naturgehennnis wäre" (4GI)! In diesem Falle würde man es auch hier zu apodiktischer Gewifsheit bringen; so aber bleibt die Unmögliclikeit des leeren Raumes eine Hypothese, die mit ihrer Voraussetzung steht und fällt. ,.Dafs es indessen mit dieser Weg- schaffung des leeren Raumes ganz hypothetisch zugelit, darf Niemand befremden, geht es doch mit der Behauptung desselben nicht besser zu" (461). Man kann diese Frage dogmatiscli zu entscheiden suchen, wie der Atomismus, aber dann stützt man sich auf lauter meta- physische, und zwar transcendent - metaphysische Voraussetzungen, die auf Sicherheit keinen Anspruch machen können. Aus der Er- fahrung kann, wie schon die Vernunftkritik gelehrt hat. niemals ein Beweis für den leeren Raum erbracht werden. Dabei müssen wir uns beruhigen. Wenn es die Natur der metaphysisclien Körper- lehre so mit sich bringt, „niemals etwas Anderes, als sofern es unter gegebenen Bedingungen bestimmt ist, zu begreifen" (461 f.)» für den leeren Raum es aber „an allen derartigen Bedingungen" fehlt, so bleibt mithin jener Lehre nichts übrig, als „anstatt der letzten Grenze der Dinge die letzte Grenze ihres eigenen sich selbst über- lassenen Vermögens zu erforschen und zu bestimmen" (462).

b- Die Teleologie.

„Jetzt gehe ich ungesäumt zur völligen Ausarbeitung der Metaphysik der Sitten." So schrieb Kant in dem früher bereits erwähnten Briefe an Schütz vom 13. September 178:3 kurz nach Vollendung seiner „Metaphysischen Anfangsgründe" (VIII. 734). Die Ausführung dieser Absicht unterblieb. Die Metaphysik der Sitten erschien erst zwölf Jahre später im Jahre 1797. Statt ihrer liefs Kant 1788, als Seitenstück zur „Kritik der reinen Ver- nunft", seine „Kritik der praktischen Vernunft" erscheinen, obwohl er in seiner „Grundlegung" ausdrücklich bemerkt hatte, wie viel mehr an der Abfassung einer Metaphysik der Sitten ge- legen sei. „Zwar giebt es eigentlich keine andere Grundlage der- selben," hatte Kant gesagt, „als die Kritik einer reinen praktischen

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Vernunft, so wie zur Metaphysik die schon geheferte Kritik der reinen spekulativen Vernunft. Allein teils ist jene nicht von so äufserster Wichtigkeit, als diese, weil die menschliche Vernunft im Moralischen selbst beim gemeinsten Verstände leicht zu grofser Richtigkeit und Ausführlichkeit gebracht werden kann, da sie hin- gegen im theoretischen, aber reinen Gebrauch ganz und gar dialek- tisch ist; teils erfordere ich zur Kritik einer reinen praktischen Vernunft, dafs, wenn sie vollendet sein soll, ihre Einheit mit der spekulativen in einem gemeinschaftlichen Prinzip zu- gleich müsse dargestellt werden können, weil es doch am Ende nur eine und dieselbe Vernunft sein kann, die blofs in der Anwendung unterschieden sein mufs. Zu einer solchen Vollständigkeit konnte ich es aber hier noch nicht bringen, ohne Betrachtungen von ganz anderer Art herbeizuziehen und den Leser zu verwirren" (IV. 239).

Den Grund, weshalb Kant von seinem ursprünglichen Plane abging und zunächst die Kritik der praktischen Vernunft bearbeitete, hat A dick es richtig angegeben. Die Art der Behandlung in den „Metaphysischen Anfangsgründen" wurde zum Vorbild für weitere Arbeiten Kants. „Hier war zum erstenmal ein ganzes Werk mit Erfolg auf Grund der Kategorieentafel aufgebaut. Es mufste Kant reizen, auch seine Ethik in eine systematische Form zu bringen."*) Dafs dabei auch das Verhältnis von Moral und Religion näher entwickelt werden konnte und Gelegenheit gegeben wurde, die aus der theoretischen Vernunft hinausgewiesenen Ideen durch die praktische sicher zu stellen, dies Motiv fiel um so schwerer ins Gewicht, als gerade die Stellungnahme Kants zu den Ideen „der eigentliche Stein des Anstofses" war, der viele nötigte, „lieber die unthunlichsten, ja, gar ungereimte Wege einzuschlagen, um das spekulative Vermögen bis aufs Übersinnliche ausdehnen zu können, ehe sie sich jener ihnen ganz trostlos erscheinenden Sentenz der Kritik unterwürfen" (Kants Brief an Schütz vom 25. Januar 1787. VIII. 735).

Wer nach der obigen Bemerkung Kants in seinem Brief an Schütz erwartet, in der „Kritik der praktischen Vernunft" die geforderte Einheit der letzteren mit der theoretischen Vernunft zur Darstellung gebracht zu sehen, der wird zu seiner Verwunderung finden, dafs Kant sich hierüber in diesem Werke gänzlich aus- schweigt. Erst in seiner „Kritik der Urteilskraft" vom Jahre 1790 ist Kant auf diese Frage näher eingegangen. Danach

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besteht „eine unübersehbare Kluft" zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs unter der sinnlichen Gesetzgebung des Verstandes und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs unter der übersinnlichen Gesetzgebung durch Vernunft, so dafs von dem ersteren zum anderen (also vermittelst des theoretischen Gebrauchs der Vernunft) kein Übergang möglich ist, gleich als ob es so viel verschiedene Welten wären, deren erste auf die zweite keinen Einflufs haben kann" (V. 182). „Das Gebiet des Naturbegriffs unter der einen und das des Freiheitsbegriffs unter der anderen Gesetzgebung sind gegen allen wechselseitigen Einiiufs, den sie für sich (ein jedes nach seinen Grundsätzen) auf einander haben können, durch die grofse Kluft, welche das Übersinnliche von den Erscheinungen trennt, gänzlich abgesondert. Der Freiheitsbegriff bestimmt nichts in An- sehung der theoretischen Erkenntnis der Natur; der Naturbegriff ebensowohl nichts in Ansehung der praktischen Gesetze der Frei- heit, und es ist insofern nicht möghch, eine Brücke von einem Ge- biete zudem andern hinüberzuschlagen" (201). Und doch sollen beide sich gegenseitig beeinflussen. „Der Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen, und die Natur muCs folglich auch so gedacht werden können, dafs die Gesetzmäl'sigkeit ihrer Form wenigstens zur Mög- lichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme" (182). Welches ist der Grund der Einheit des Übersinnlichen, wne es der Natur zu (ii-unde liegt, mit dem, was der Freiheitsbegrift' i)raktisch enthält? Vor diese Frage sah sich Kant naturgemäfs durch den Parallelismus seiner beiden Kritik gestellt, und ihre Beantwortung mufste ihm deslialb so besonders wichtig scheinen, weil der einheitliche Charakter des Systems gegenüber dem Dualismus der theoretischen und der ]jraktischen Vernunft von ihr abhing.

Zwischen dem Wahren und dem Guten in der Mitte steht das Schöne, zwischen Natur und Freiheit die Kunst. Die künstlerische Idee ents})ringt dem freien Spiel der menschlichen Verstandeskräfte und bedarf doch der natürlichen Vermittelung. um sich im Kunst- werk zur Erscheinung' zu bringen. Es lag nahe, nach dieser Kich- tung hin das Bindeglied zu suchen, das die Kluft zwischen dem Natur- und dem Sittengesetz, zwisclien der sinnlichen und über- sinnlichen Welt aufhebt. Diesen Weg vermochte Kant nicht zu beschreiten. Um dem Schönen eine solche Vermittlerrolle einzu- räumen, dazu hätte es der Anerkennung bedurft, dafs eine Be- urteilung desselben nach Vernunftprinzipien möglich sei. Kant jedoch war der Ansicht, und er hatte dies zuletzt noch in der

zweiten Auflage seiner Vernunftkritik wieder ausgesprochen, die kritische Beurteilung des Schönen nach derartigen Prinzipien sei vergeblich, „denn gedachte Regeln oder Kriterien sind ihren vor- nehmsten Quellen nach blofs empirisch und können also niemals zu bestimmten Gesetzen a priori dienen, wonach sich unser Ge- schmacksurteil richten müfste" (III. 56). Ein solches Urteil näm- lich ist blofs subjektiv, es giebt keine Beschaffenheit des Gegen- standes selber an, sondern enthält blofs eine Beziehung der Vor- stellung des Gegenstandes auf das Subjekt, wodurch es in ihm Lust erweckt; und da kann man nicht hoffen, apodiktische Gewifsheit zu erlangen.

Aber man braucht sich ja nur klar zu machen, dafs die Frei- heit nur dann ihre Zwecke in der Natur realisieren, die Natur nur dann dieser Kealisation gleichsam entgegen kommen kann, wenn sie auch selbst der Idee des Zwecks sich unterwerfen läfst. Nicht als ob die Natur wirklich von Zwecken beherrscht wäre es handelt sich ja blofs um die Möglichkeit einer Idee, und somit genügt es schon, dafs die Natur wenigstens dem Begriff des Zwecks nicht wider- streitet. Allein wenn man sich ein solches Reich der Zwecke vor- stellen soll, wie die Ethik befugt ist, es als ihren Schlufsstein hin- zustellen, ein Reich, worin Keiner vor dem Anderen etwas voraus hat, sondern alle selbständige und gleichberechtigte Glieder eines einheitlichen Organismus bilden, wenn man diesen moralischen Glauben haben soll, dann niufs die Natur auch als eine solche wenigstens sich denken lassen, welche selbst zweckmäfsig ein- gerichtet ist. Der Gegensatz von theoretischer und praktischer Verimnft leitet somit von selbst aus der Etliik auf die Naturphilo- soj)hie zurück, worin die Teleologie ursj)rünglich heimisch ist. Der Gedanke eines moralischen Reichs der Zwecke verschmilzt mit demjenigen des natürlichen Reichs der Zwecke zum natur- pliilosoj)hisch en Problem, und von dem Seitenpfade seiner ethischen Spekulationen biegt Kant wieder in seinen ursprünglichen llauptpfad ein.

Man erimiere sich, wie die Teleologie von jeher ein Lieblings- gedanke Kants gewesen, und man wird sich vorstellen können, wie begierig er die Gelegenheit ergreifen mufste, ihr einen Platz im System anzuweisen. Kants tief religiöse Natur liefs es nicht zu, diesen sinnvoll eingerichteten Kosmos lediglich als das Werk blind waltender Kräfte sich vorzustellen. Auf der andern Seite durfte er aber auch, als Anwalt der Naturwissenschaft, dem Mechanismus nicht die Berechtigung absprechen ; er durfte nicht zugeben, dafs der Kausalzusammenhang der Welt irgendwo eine Lücke aufweise.

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B. Kant als Naturphilosoph.

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besteht „eine unübersehbare Kluft" zwischen dem Gebiete des Naturbegriffs unter der sinnlichen Gesetzgebung des Verstandes und dem Gebiete des Freiheitsbegriffs unter der übersinnlichen Gesetzgebung durch Vernunft, so dafs von dem ersteren zum anderen (also vermittelst des theoretischen Gebrauchs der Vernunft) kein Übergang möglich ist, gleich als ob es so viel verschiedene Welten wären, deren erste auf die zweite keinen Einfiufs haben kann" (V. 182). „Das Gebiet des Naturbegriffs unter der einen und das des Freiheitsbegriffs unter der anderen Gesetzgebung sind gegen allen wechselseitigen EinÜufs, den sie für sich (ein jedes nach seinen Grundsätzen) auf einander haben können, durch die grofse Kluft, welche das Übersinnliche von den Erscheinungen trennt, gänzhch abgesondert. Der Freiheitsbegriff bestimmt nichts in An- sehung der theoretischen Erkenntnis der Natur; der Naturbegriff ebensowohl nichts in Ansehung der praktischen Gesetze der Frei- heit, und es ist insofern nicht möglich, eine Brücke von einem Ge- biete zudem andern hinüberzuschlagen" (201). Und doch sollen beide sich gegenseitig beeinflussen. „Der Freiheitsbegriff soll den durch seine Gesetze aufgegehenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich macheu, und die Natur mufs folglich aucli so gedacht werden kiHinen, dafs die Gesetzmäfsigkeit ihrer Form wenigstens zur Mög- lichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nacli Freiheitsgesetzen zusammenstimme" (182). Welches ist der Grund der Einheit des Übersinnlichen, wie es der Natur zu Grunde liegt, mit dem, was der Freiheitsbegrifl' praktisch enthält? Vor diese Frage sah sich Kant naturgemäis durch den Parallelismus seiner beiden Kritik gestellt, und ihre Beantwortung mufste ihm deshalb so besonders wichtig scheinen, w^eil der einheitliche Charakter des Systems gegenüber dem Dualismus der theoretischen und der praktischen Vernunft von ihr abhing.

Zwischen dem Wahren und dem Guten in der Mitte steht das Schöne, zwischen Natur und Freiheit die Kunst. Die künstlerische Idee entspringt dem freien Spiel der menschlichen Verstandeskräfte und l)edarf doch der natürhchen Vermittelung. um sich im Kunst- werk zur Erscheinung zu bringen. Es lag nahe, nach dieser Kich- tung hin das Bindeglied zu suchen, das die Kluft zwischen dem Natur- und dem Sittengesetz, zwischen der sinnlichen und über- sinnlichen AVeit aufhebt. Diesen Weg vermochte Kant nicht zu beschreiten. Um dem Schönen eine solche Vermittlerrolle einzu- räumen, dazu hätte es der Anerkennung bedurft, dafs eine Be- urteilung desselben nach Vernunftprinzipien möglich sei. Kant jedoch war der Ansicht, und er hatte dies zuletzt noch in der

II. Die kritische Naturphilosophie.

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zweiten Auflage seiner Vernunftkritik wieder ausgesprochen, die kritische Beurteilung des Schönen nach derartigen Prinzipien sei vergeblich, „denn gedachte Eegeln oder Kriterien sind ihren vor- nehmsten Quellen nach blofs empirisch und können also niemals zu bestimmten Gesetzen a priori dienen, wonach sich unser Ge- schmacksurteil richten müfste" (III. 56). Ein solches Urteil näm- lich ist blofs subjektiv, es giebt keine Beschaffenheit des Gegen- standes selber an, sondern enthält blofs eine Beziehung der Vor- stellung des Gegenstandes auf das Subjekt, wodurch es in ihm Lust

erweckt; und da kann man nicht hoffen, apodiktische Gewifsheit zu erlangen.

Aber man braucht sich ja nur klar zu machen, dafs die Frei- heit nur dann ilire Zwecke in der Natur realisieren, die Natur nur dann dieser Eealisation gleichsam entgegen kommen kann, wenn sie auch selbst der Idee des Zwecks sich unterwerfen läfst. Nicht als ob die Natur wirklich von Zwecken beherrscht wäre es handelt sich ja blofs um die Möglichkeit einer Idee, und somit genügt es schon, dafs die Natur wenigstens dem Begriff des Zwecks nicht wider- streitet. Allein wenn man sich ein solches Keich der Zwecke vor- stellen soll, wie die Ethik befugt ist, es als ihren Schlufsstein hin- zustellen, ein Eeich, w^orin Keiner vor dem Anderen etwas voraus hat, sondern alle selbständige und gleichberechtigte Glieder eines einheitlichen Organismus bilden, wenn man diesen moralischen Glauben haben soll, dann mufs die Natur auch als eine solche wenigstens sich denken lassen, welche selbst zweckmäfsig ein- gerichtet ist. Der Gegensatz von theoretischer und praktischer Vernunft leitet somit von selbst aus der Ethik auf die Naturphilo- sophie zurück, worin die Teleologie ursprünglich heimisch ist. Der Gedanke eines moralischen Keichs der Zwecke verschmilzt mit demjenigen des natürlichen Reichs der Zwecke zum natur- philosophischen Problem, und von dem Seitenpfade seiner ethischen Spekulationen biegt Kant wieder in seinen ursprünglichen Hauptpftxd ein.

Man erinnere sich, wie die Teleologie von jeher ein Lieblings- gedanke Kants gewesen, und man wird sich vorstellen können, wie begierig er die Gelegenheit ergreifen mufste, ihr einen Platz im System anzuweisen. Kants tief religiöse Natur liefs es nicht zu, diesen sinnvoll eingerichteten Kosmos lediglich als das Werk blind waltender Kräfte sich vorzustellen. Auf der andern Seite durfte er aber auch, als Anwalt der Naturwissenschaft, dem Mechanismus nicht die Berechtigung absprechen; er durfte nicht zugeben, dafs der Kausalzusammenhang der Welt irgendwo eine Lücke aufweise.

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Aus diesem doppelseitigen Bedürfnis entsprang das Streben Kants, zwischen Teleologie und Mechanismus zu vermitteln, wie es bereits in dem Grundgedanken seiner „Naturgeschichte und Theorie des Himmels" hervortrat, um seinen vorläufigen Abschlufs in der Ver- nunftkritik zu finden in der Lehre, dafs die Teleologie nicht ein konstitutives, sondern ein blofs regulatives Prinzip sei, und dafs dem einheitlichen Weltgrund, wodurch sie bedingt ist, nur die Bedeutung einer subjektiven Idee zukomme.

Die Vernunft giebt die Idee des absoluten Wesens an die Hand und berechtigt uns dadurch, die Natur als eine zweckmäfsige an- zusehen. Aber die nämliche Vernunft, die das Mannigfaltige des uns vom Verstände gelieferten Erkenntnismaterials dadurch ordnet, dafs sie uns nötigt, es auf jene Idee zu beziehen, zwingt uns auch, ins Innere der Natur hinabzusteigen, den Besonderungen derselben nach Gattungen, Arten u. s. w. nachzugehen und scheint damit einer einheitlichen Auffassung des Naturganzen auf der einen Seite ebenso zu widerstreben, wie sie dieselbe auf der anderen verlangt. Das Prinzip der Honiogeneität ist der Vernunft nicht weniger eigentümlich, wie das Prinzip der Spezifikation. Wie kann die Vernunft so Entgegengesetztes zugleich gebieten? Wie kommt sie dazu, deren Aufgabe es doch ist, systematische Einheit unserer Erkenntnis herzustellen, das Zustandekommen einer solchen Einheit dadurch zu erschweren, dafs sie uns anweist, nichts als Letztes anzusehen? Woher überhaupt die Spezifikation, da doch der ganze Apparat unserer geistigen \'ermögen darauf ausgeht, die Mannig- faltigkeit der sinnhchen Empfindungen unter einheitliche Beziehungen zu brintren?

Der Verstand gieht die allgemeinen Gesetze der Natur. Er drückt den empirischen Faktoren der Empfindung den Stempel seiner synthetischen Intellektualfunktionen auf und erhebt sie eben damit zu Momenten der Erfalirung. „Allein es sind so mannig- faltige Formen der Natur, gleichsam so viele Modifikationen der allgemein transcendentalen Naturbegriflfe, die durch jene Gesetze, welche der reine Verstand a priori giebt, weil dieselben nur auf die ^Möglichkeit einer Natur (als Gegenstandes der Sinne) überhaupt gehen, unbestimmt gelassen werden, dafs dafür doch auch Gesetze sein müssen, die zwar, als empirische, nach unserer Verstandeseinsicht zufällig sein mögen, die aber doch, wenn sie Gesetze heifsen sollen (wie es auch der Begriff einer Natur erfordert) aus einem, wenngleich uns unbekanntem Prinzip der Einheit des Mannigfaltigen als notwendig angesehen werden müssen" (V. 18ö).

In der Vernunftkritik hatte Kant diese Frage noch bei Seite geschoben. Zwar seien, wie er bemerkt hatte, alle empirischen Gesetze nur besondere Bestimmungen der reinen Gesetze des Ver- standes, allein er hatte ausdrücklich betont, dafs es unmöglich sei, sie aus diesen a priori abzuleiten. Als er nun aber durch die Teleologie darauf geführt wurde, die Stellung des Prinzips der Spezifikation innerhalb der Vernunft ins Auge zu fassen, wo er es früher einstweilen untergebracht hatte, indem er bei der Beziehung der Teleologie zur Idee der Einheit und dem Gegensatze dieser Einheit zum Prinzip der Spezifikation auch auf das letztere auf- merksam wurde, wobei auch noch der Umstand mitgewirkt haben mag, dafs die „Metaphysischen Anfangsgründe" ihre Unfähigkeit hatten eingestehen müssen, die Besonderungen der Materie zu er- klären und dieses Problem ihn seither nicht wieder losgelassen hatte, da lag es nahe, beide Probleme mit einander zu verschmelzen. Es eröffnete sich die Möglichkeit, nicht blofs den Gegensatz der beiden Vernunftprinzipien auszugleichen, sondern auch die obige Frage zu lösen, wie überhaupt die Spezifikation der Naturgesetze möglich sei.

In dem nunmehrigen Zusammenhange der letzteren mit dem Problem der Teleologie konnte es nicht schwer fallen, eine Ant- wort zu finden. Die beiden verschiedenartigen Funktionsweisen der Vernunft, die Homogeneität und die Spezifikation, können nur dann sich nicht gegenseitig auflieben, wenn sie in irgend einem Punkte übereinstimmen, von dem aus betrachtet sie nur als die verschiedenen Seiten eines und des nämlichen Prinzips erscheinen. Dieser Punkt aber kann nur die Zweckmäfsigkeit sein. Die Idee der Einheit legt sich in die Vielheit ihrer Besonderungen auseinander, um sich in der Zweckmiilsigkeit der letzteren zu offenbaren, und die Zweck- mäfsigkeit in der Vielheit der Besonderungen leitet uns auf die Idee der Einheit hin, welche den Schlufsstein unserer systematischen Er- kenntnis bildet. Die Zweckmäfsigkeit ist das gemeinschaftliche Prinzip, das sich nach der einen Seite als Prinzip der Homogeneität, nach der andern als Prinzip der Spezifikation besondert. Damit gewann sie eine ganz andere Bedeutung, wie sie ihr Kant bis dahin zugeschrieben hatte. War sie ihm bisher nur als eine blofse Folge aus der Idee der Einheit erschienen, so trat sie nun als ein selb- ständiges Prinzip dieser letzteren an die Seite, wurde sie nun selbst zum Prinzip a priori, das eine eigene Betrachtung nötig machte.

Hätte Kant den Begrifi' des Zweckes unbefangen betrachtet, so wäre kein Grund gewesen, ihn nicht in seiner Kategorieentafel

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aufzuführen, da er alle Eigenschaften eines reinen Verstandes- begriffes besitzt. *) Aber einerseits hat Kant das ganz richtige Ge- fühl, dafs er alsdann seine früheren Werke gänzlich hätte umarbeiten müssen, und andererseits sollte ja der Zweck dazu dienen, die Kluft zwischen Natur und Freiheit auszufüllen, durfte mithin selbst nicht zu den Naturbegriffen, wie der Verstand sie enthält, gerechnet werden. Dem Verstände glaubte Kant den Zweck schon deshalb nicht zuschieben zu kcinnen, weil er nicht eigentlich wahrgenommen, nicht aus der Erfahrung gezogen, mithin seiner objektiven Realität nach gar nicht eingesehen, sondern von uns nur erschlossen oder zur Erfahrung hinzugedacht werden kann (V, 408. 409. 412. 195). Erweist sich der Zweck hiernach als ein blofs regulatives Prinzip, so scheint er mithin der Vernunft anzugehciren, und Kant vermag auch nicht zu leugnen, dafs der Begriff eines Naturzwecks mit dem Charakter der Vernunftidee insofern übereinstimmt, als die Ursache der Miigliehkeit eines solchen Prädikats nur in der Idee liegen kann. „Aber die ihr gemäfse Folge (das Produkt selbst) ist doch in der Natur gegeben, und der Begriff einer Kausalität der letzteren, als eines nach Zwecken handcdnden Wesens, scheint die Idee des Naturzwecks zu einem konstitutiven Prinzip desselben zu machen; und darin liat sie etwas von allen anderen Ideen Unterscheidendes" (418). Dieses Unterscheidungsmerkmal ist nun freilich keins, da ja das Eigeiitüniliche der Ideen i^anz allgemein darin bestehen soll, den Schein der Konstitutivität bei sich zu füliren. Kant wäre auch wohl niemals auf den Einfall gekommen, dem Zweck eine derartige Besonderheit anzudichten, hätte er ihn eben nicht zur Brücke zwischen Natur und Freiheit benutzen wollen und damit sich selbst in die Zwangslage versetzt gehabt, ihn auch als Freiheits- begrilV nicht gelten zu lassen. Gehörte aber der Zweck weder der Natur, noch der Freiheit, weder der Vernunft, noch dem Verstände an, dann blieb nichts übrig, als einen anderen Platz für ihn aus- findig zu machen, der ihm zugleich eruK »glühte, seine Vermittler- rolle auszuüben.

Der Verstand enthält konstitutive ]*rinzii)ien a priori für das E r k e n n t n i s v e r in ö g e n , die zugleich allgemeine Naturgesetze sind und den Begriff' der theoretischen Vernunft begründen. Die Vernunft enthält ebensolche Gesetze für das Begehrungsvermögen, die Gesetze der Freiheit sind und die Unterscheidung der praktischen Vernunft bedingen. „Da nun m der Zergliederung der Gemüts- vermögen überhaui)t ein G e f ü h 1 d e r L u s t unwiderstehlich gegeben

*j V. Hartmann: Kants Erkenntnistheorie u. Metaphysik 228 ff.

ist, zu der Verknüpfung desselben aber mit den beiden anderen Vermögen in einem Systeme erfordert wird, dafs dieses Gefühl der Lust, so wie die beiden anderen Vermögen nicht auf blofs empi- rischen Gründen, sondern auch auf Prinzipien a priori beruhe, so wird zur Idee der Philosophie, als eines Systems, auch eine Kritik d e s G e f ü h 1 s d e r L u s t u n d U n 1 u s t , sofern sie nicht empirisch begründet ist, erfordert werden" (VI. 880). Es war dies zunächst eine blofse Forderung der Systematik, die aber doch unerfüllbar schien, weil die „Verlegenheit wegen eines Prinzips" (V. 170) nirgends so auffällig war, wie gerade beim Gefühlsvermögen. Oder welches ' andere Gefühl bot noch am ehesten die Gewähr, dafs es. obschon, als Gefühl, rein subjektiver Natur, dennoch einen mehr objektiven Ciiarakteran sich trage als das ästhetische Gefühl? und gerade die ästhetischen Urteile hatte ja Kant aus dem Bereiche der apo- diktischen Erkenntnis ausgeschlossen, weil ihnen die Allgemeinheit und Notwendigkeit zu mangeln schien. Und doch mui's entweder die Einteilung der sogenannten „Gemütsvermögen" in Erkenntnis-, Gefühls- und Begehrungsvermögen, die Grundvoraussetzung des ganzen Vernunftsystems, falsch sein, oder es mufs auch das Gefühl der Lust und Unlust auf einem Prinzip a ])riori beruhen, das ihm seine Selbständigkeit neben den beiden anderen Vermögen sichert.

Diese rein systematischen Erwägungen begegneten sich mit dem Suchen Kants nach einem Platze für die Teleologie. um ihn die Entscheidung treffen zu lassen. Was die Ästhetik für sich allein nicht hatte erreichen können : den Philosophen zum Aufsuchen eines Prinzips a priori für das Gefühlsvermögen zu veranlassen, das brachte die Natur])hilosophie vermittelst des teleologischen Problems zustande. Kant legte sich die Frage vor, ob nicht am Ende die Zweckmäfsig- keit jenes apriorische Prinzip des Gefühlsvermögens sei. und er wird für seiner Person wenigstens dieselbe schon mit Ja beantwortet haben, noch ehe er die innere Beziehung der beiden Prinzipien zu einander entdeckt hatte. Nun galt ihm die Zweckmäfsigkeit für das Prinzip der Besonderungen der Natur. In dieser Ilichtung also niufste ihre Verbindung mit dem Gefühlsvermögen gesucht werden. Die allgemeinen Gesetze der Natur sind der letzteren not- wendig, denn es sind die apriorischen Gesetze des Verstandes, die den Begriff der Natur konstituieren. Die besonderen Naturgesetze dagegen sind blofs bedingt notwendig oder zufällig, und da „läfst es sich wohl denken, dafs, ungeachtet aller der Gleichförmigkeit der Naturdinge nach den allgemeinen Gesetzen, ohne welche die Form einer Erfahrungserkenntnis überhaupt gar nicht stattfinden würde, die spezifische Verschiedenheit der empirischen Gesetze der Natur

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samt ihren Wirkungen dennoch so grofs sein könnte, dafs es für unseren Verstand unmöglich wäre, in ihr eine fafsliche Ordnung zu entdecken, ihre Produkte in Gattungen und Arten einzuteilen, um die Prinzipien der Erklärung und des Verständnisses des einen auch zur Erklärung und Begreifung des andern zu gebrauchen und aus einem für uns so verworrenen (eigentlich nur unendlich mannigfaltigen, unserer Fassungskraft nicht angemessenen) Stoffe eine zusammen- hängende Erfahrung zu machen" (191 f.). Wenn es nun trotzdem gelingt, Einheit der Prinzipien in sie hineinzuhringen, so ist diese Übereinstimmung der Natur mit unserem Bedürfnis blofs zufällig; weil sie aber doch die einzige Bedingung bildet, unter der Natur- erkenntnis möglich ist, so müssen wir eine Zweckmäfsigkeit darin erblicken, dais die Natur unserem Bedürfnis so gleichsam entgegenkommt, und das Bewul'stsein dieser Ubereinstininunig derselben mit unserer auf Erkenntnis gerichteten Absicht ist es, was in uns ein Gefühl der Lust erweckt (193). „In der That, da wir von dem Zusammentreffen der Wahrnehmungen mit den Ge- setzen nach allgemeinen Naturbegritfen (den KategorieenJ nicht die mindeste Wirkung auf das Gefühl der Lust in uns antreffen, auch nicht antreffen können, weil der Verstand damit unabsichtlich nach seiner Natur notwendig verfährt; so ist andererseits die entdeckte Vereinbarung zweier oder mehrer empirischen heterogenen Naturgesetze unter einem sie beide befassenden Prinzip der Grund einer sehr merk- lichen Lust, oft sogar einer Bewunderung, sell)st einer solchen, die nicht aufhört, ob man schon mit dem Gegenstande derselben genug bekannt ist" (ebd. f.). Zwar mufs Kant einräumen, dafs wir an der Einheit der Natur, soweit sie sich auf ihre Einteilung in Gattungen, Arten u. s. w. bezieht, eigentlich keine merkliche Lust verspüren. Auch ist es nicht richtig, dafs die llbereinstimmung unserer Wahr- nehmungen mit der kategorialen Gesetzmäfsigkeit, also z. B. die Entdeckung des Kausalzusamnu'nhanges verschiedenartiger Natur- erscheinungen, unser Gefühl nicht aftiziere. Allein Kant tröstet sich damit, die Lust sei „zu ihrer Zeit" doch einmal dagewesen, sie werde bloTs infolge der Alltäglichkeit nicht mehr bemerkt; und was das zweite anbetrifi't, so durfte er hier einfach ein Lustgetuhl nicht zugeben, wofern nicht sein ganzes Bäsonnement hinfällig werden sollte.

Jedenfalls ist das Gefühl der Lust durch einen Grund a ])riori und für Jedermann gültig bestimmt. Dann hat ja also das Gefühls- vermögen ein Prinzip a priori, was Kant bis dahin stets geleugnet hatte; und wenn auf der Beziehung zu ihm das ästhetische Urteil beruht, dann mufs es ja auch eine „Kritik des Geschmackes"

geben, so gut, wie es eine Kritik der theoretischen und der prak- tischen Erkenntnis gab. Die Ästhetik, die er bisher nur immer als einen der Philosophie unwürdigen Gegenstand bei Seite geschoben hatte, hörte damit auf, ein blofses Feld geistreicher Einfälle zu sein, und rückte, mit dem Pafs der Wissenschaftlichkeit ausgerüstet, in den Kreis der philosophischen Disziplinen ein! Als Kant sich dies klar machte, fing das naturphilosophische Problem an, in seinem Bewufstsein zu ver- blassen, und die Teleologie hatte ihm zunächst nur insofern Interesse, als sie zum Prinzip für eine Kritik des Geschmackes dienen konnte. Auf diesem Punkte seiner Gedankenentwickelung war Kant angelangt, als er in seinem Briefe an Rein hold vom 18. De- zember 1787 schrieb: „Wenn ich bisweilen die Methode der Unter- suchung über einen Gegenstand nicht recht anzustellen weifs, darf icli nur nach jener allgemeinen Verzeichnung der Elemente der Erkenntnis und der dazu gehörigen Gemütskräfte zurücksehen, um Aufschlüsse zu bekommen, deren ich nicht gewärtig war. So be- schäftige ich mich jetzt mit der Kritik des Geschmacks, bei welcher Gelegenheit eine andere Art von Prinzipien a priori entdeckt wird als die bisherigen. Denn die Vermögen des Gemüts sind drei: Erkenntnisvermögen, Gefühl der Lust und Unlust und Begehrungs- vermögen. Für das erste habe ich in der Kritik der reinen (theo- retischen), für das dritte in der Kritik der i)raktischen Vernunft Prinzipien a priori gefunden. Ich suchte sie auch für das zweite und, ob ich es zwar sonst für unmöglich hielt, dergleichen zu finden, so brachte das Systematische, das die Zergliederung der vorher betrachteten Vermögen mich im mensch- lichen Gemüte hatte entdecken lassen, mich doch auf diesen Weg, sodafs ich jetzt drei Teile der Philosophie erkenne, deren jede ihre Prinzipien a priori hat, die man abzählen und den Umfang der auf solche Art mciglichen Erkenntnis sicher bestimmen kann : theoretische Philosophie, Teleologie und praktische Philo- sophie, von denen freilich die mittlere als die ärmste an Bestimmungs- gründen a priori befunden wird" (VIII. 739 f.). Hier giebt also Kant selbst zu, blofs aus systematischen Gründen auf den Gedanken einer Ästhetik gekommen zu sein, die natürlich nun gleichfalls auf dem Prinzi]) der Teleologie beruhen mufste. Es kam jetzt blofs noch darauf an, eine Beziehung des ästhetischen Urteils zur Teleologie ausfindig zu machen, so schien auch für die Ästhetik ein siclieres Funda- ment gewonnen.

Eine solche Beziehung wurde hergestellt, sobald Kaiit das Gefühls- vermögen mit demjenigen unter den sogenannten Erkenntnisvermögen in Verbindung gesetzt hatte, welches bisher noch unberücksichtigt ge-

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blieben war, und dem er docb eine ebensolche Selbständigkeit zuge- schrieben hatte, wie dem Gefühl der Lust und Unlust. Dieses Ver- mögen war die Urteilskraft. Irgend ein Prinzip „mufs sie a priori in sich enthalten, weil sie sonst nicht, als ein besonderes Erkenntnisvermögen, selbst der gemeinsten Kritik ausgesetzt sein würde" (V. 175). Aber ein solches Prinzip für sie zu finden, das unterlag doch ,,grorsen 8cliwierigkeiten", wenn man die Natur dieses Vermr>gens in Betraclit zog (ebd.).

In der Vernunt'tkritik hatte Kant die Urteilskraft als das Vermögen bestimmt, „unter Kegeln zu subsumieren, d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Kegel stehe oder nicht" (III. 138). Der Verstand wendet seine Begriffe a priori auf die Anschauungen, welche die Ein- bildungskraft aus den sinnlichen Empfindungen formiert hat, nicht be- liebig an, sondern vermittelst der „Schemata*', d. li. der Bestimmungen jener Anschauungen in der Zeit, und hierbei ist es die Urteilskraft, welche die Anschauungen den ihnen entspreclienden Begriffen unter- ordnet. Dieselbe Urteilskraft bringt aber auch die Bedingung desSchlufs- satzes unter eine allgemeine Kegel (Obersatz) (III. 21^2) und stellt damit ebenso eine Verbindung zwischen dem Verstände (als dem Vermögen der Begriffe und Kegeln) und der Vernunft (als dem Vermögen der Schlüsse) her, wie sie den V^erstand mit der Ein- bildungskraft, d. h. dem Vernuigen der Anschauungen, verbindet. Die Schwierigkeit beruht nun darin, dafs die Urteilskraft einen Begrifi' angeben soll, „durch den eigentlich kein Ding erkannt wird, sondern der nur ihr selbst zur Kegel dient, aber nicht zu einer objektiven, der sie ihr Urteil anpassen kann, weil dazu wiederum eine Urteilskraft erforderlich sein würde, um unterscheiden zu können, ob es der Eall der Kegel sei oder nicht" (V. 175).

Jedenfalls nimmt die Urteilskraft eine mittlere Stellung zwischen der V^ernunft und dem Verstände ein, ganz ebenso wie das Gefühlsvermögen zwischen dem Erkenntnis- und Begehrungs- vermögen. Dies legt es ohne Weiteres nahe, „nach der Analogie" eine Beziehung zwischen beiden anzunehmen (183). Es „hat das Erkenntnisvermögen nach Begriffen seine Prinzipien a priori im reinen Verstände (seinem Begriffe von der Natur), das Begehrungs- vermögen in der reinen Vernunft (ihrem Begriffe von der Ereiheit), und da bleibt noch unter den Gemütseigenschaften überhaupt ein mittleres Vermögen oder Empfänglichkeit, nämlich das Gefühl dvv Lust und Unlust, sowie unter den oberen Erkenntnisvermögen ein mittleres, die Urteilskraft, übrig. Was ist natürlicher, als zu ver- muten, dafs die letztere zu dem erstem ebensowohl Prinzipien a priori enthalten werde?" (VI. 360). Auch das Gefühl der Lust und

II. Die kritische Naturphilosophie. ^^^

Unlust ist ja nur „die EmpfängHchkeit einer Bestimmung des Sub- jekts," ebenso wie die Urteilskraft sich lediglich aufs Subjekt bezieht und für sich allein keine Begriffe von Gegenständen hervorbringt, „sodafs, wenn Urteilskraft überall etwas für sich allein bestimmen soll, es wohl nichts Anderes als das Gefühl der Lust sein könnte. und umgekehrt, wenn dieses überall ein Prinzip a priori haben soll, es allein in der Urteilskraft anzutreffen sein werde" (ebd. 381). Ist aber dies der Eall, dann mufs auch das Prinzip der Urteilskraft mit demjenigen des Gefühlsvermögens identisch sein, und die Be- ziehung auf das Gefühl der Lust und Unlust, „die gerade das Rätselhafte in dem Prinzip der Urteilskraft ist" (17G), kann nirgendwo anders als in der Zwei;kmäfsigkeit gefunden werden.

Kant brauchte nur die obigen Reflexionen, wodurch er die Zweckmäfsigkeit auf das Gefühlsvermögen bezogen hatte, auch bei der Urteilskraft zu wiederholen, so konnte er seine Vermutung be- stätigt finden. ,. Urteilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken" (185). Dabei sind zwei Fälle möglich : entweder das Allgemeine (die Kegel, das Prinzip, das Gesetz) ist gegeben, und die Urteilskraft hat darunter das Be- sondere zu subsumieren, oder es ist nur das Besondere gege])en, wozu sie das Allgemeine finden soll. In der „Kritik der reinen Vernunft" war die Urteilskraft blofs nach der ersten Eorm l)e- trachtet, sofern sie vor allem die empirischen Anschauungen, als das Besondere, unter das Allgemeine der a])riorischen Naturgesetze bringt. Die Urteilskraft in dieser Weise ihrer Funktion nennt Kant bestimme n d. Die Gesetze, die ihr a priori gegeben werden, tragen den Charakter der Notwendigkeit an sich, weil ohne sie Natur über- haupt nicht denkbar ist. Nun ist aher, abgesehen von jenen allge- meinen Naturgesetzen, die Natur noch auf mannigfache Art bestimmt, und obschon diese Bestimmungen für uns blofs zufällig sind, weil wir sie nicht a priori einzusehen vermögen, so müssen wir sie doch als gesetzmäfsige betrachten, die mithin an sich ebenso notwendig sind, wie die allgemeinen Naturgesetze, wenn anders Erkenntnis möglich sein und ein durchgängige!' Zusammenhang empirischer Erkenntnisse zu einem Ganzen der Erfahrung zustande kommen soll. Wir müssen annehmen, dafs die Natur bei aller Zufälligkeit ihrer Besonderungen dennoch eine gesetzliche Einheit in der Ver- bindung ihres Mannigfaltigen zu einer an sich möglichen Erfahrung enthält, dafs sie mithin für unser Erkenntnisvermögen zweck- mäfsig eingerichtet ist. „Diese Zusanimenstimmung der Natur zu unserem Erkenntnisvermögen wird von der Urteilskraft zum Behuf ihrer Keilexion über dieselbe nach ihren eni})irischen Gesetzen a priori

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vorausgesetzt, indem sie der Verstand zugleich objektiv als zufällig anerkennt und blols die Urteilskraft sie der Natur als transcendentale Zweckniafsigkeit (in Beziehun- auf das Erkenntnisvermögen des Subjekts) beilegt, weil wir, ohne diese vorauszusetzen, keine Ordnung der Natur nach empirischen Gesetzen, mithin keinen Leitfaden für eine mit diesen nach aller ihrer Mannigfaltigkeit anzustellende Er- fahrung und Nachforschung derselben haben würden" (11)1).

Da es sich hier also darum handelt, zu den Besonderungen der Materie ein allgemeines Prinzip zu finden, welchem sie ihre Ent- stehung verdanken, so haben wir es m diesem Falle nicht mit der bestimmenden, sondern mit der reflektierenden Urteilskraft zu thun, so genannt, weil sie über die Verknüpfung der Erscheinungen, die nach empirischen Gesetzen gegeben sind, reflektiert. „Weil nun der Begriff von einem Objekt, sofern er zugleich den rirund der Wirklichkeit dieses Objekts enthält, der Zweck und die Überein- stimmung eines Dinges mit derjenigen Beschalfeidieit der Dinge, die nur nach Zwecken nu.glicli ist, die Zweckniafsigkeit der Form der- selben heilst, so ist das Prinzip der Urteilskraft in Ansehung der Form der Dinge der Natur unter emi)irischen Gesetzen überhaupt die Zweckmäfsigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit; d. i. die Natur wird durch diesen Begriff so vorgestellt, als ob ein Verstand den Grund der Einheit des IVIannigfaltigen ihrer empirischen Gesetze enthalte" (1S7). Ein solcher Verstand wird also nicht als wirklich angenommen. Der BegritY einer Zweckmäl'sigkeit der Natur ist weder ein Naturbegriff, nocli ein Freiheitsbegriff, weil er gar- nichts dem Objekte (der Natur) beigelegt, sondern er ist „nur die einzige Art, wie wir in der Kellexion über die Gegenstände der Natur in Absicht auf eine durchgängig zusammenhängende Er- fahrung verfahr(^n müssen" (190). „Die Urteilskraft hat also auch ein Prinzip a priori für die Möglichkeit der Natur, aber nur in subjektiver Kücksicht in sich, wodurch sie nicht der Natur (als Aut(')nomie), sondern ihr selbst (als Heautonomie) für die Jlellexion über jene ein Gesetz vorschreibt, welches man das Gesetz der Spezifikation der Natur in Ansehung ihrer empirischen Ge- setze nennen könnte" (19'J). Dieses eigentümliche Prinzi]) aber lautet: „Die Natur spezifiziert ihre allgemeinen Gesetze nach dem Prin/.ip der Zweckmäfsigkeit für unser Erkenntnisvermögen" (ebd.), oder wie Kant auch sagt: „Die Natur spezifiziert ihre allge- meinen Gesetze zu empirischen gemäfs der Form eines logischenSystems zum Belnif der U rt ei 1 sk raft " (VI. 385). Es sind nur besondere Formulierungen dieses Prinzips, dafs es in der Natur eine für uns fafsliche Unterordnung von Gattungen

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und Arten giebt, dafs dieselben sich einander wiederum nach einem gemeinschaftlichen Prinzip nähern, damit ein Übergang vonjeiner zu der anderen und dadurch zu einer hölieren Gattung möglich sei, dafs die Mannigfaltigkeit der Naturursachen sich schliefslich auf eine geringe Zahl zurückführen läfst. ' Alle diese Prinzipien, die als „Sentenzen der metapliysischen Weisheit" bei Gelegenheit mancher Eegeln im Laufe dieser Wissenschaft „oft genug, aber nur zerstreut" vorkamen (188, vgl. oben 183. 205 f.) offenbar nur weil Kant sie in seinem Schema nicht unterzubringen wufste das Gesetz der Homogeneität, der Spezifikation, der Kontinuität, die Bestim- mungen über liiatus und saltus u. s. w., sie alle kamen nun endlich zur Buhe und fanden in der Urteilskraft ein sicheres Unter- konunen (1!M).

Damit war nun erwiesen, dafs die Urteilskraft vermittelst des ihr eigentümlichen Prinzips der Zweckmäfsigkeit im selben Ver- hältnis zum Gefühlsvermögen, wie der Verstand zum Erkenntnis- vermögen, wie die Vernunft zum Begehrungsvermögen steht. Auf der Brücke der Teleologie war Kant zur Urteilskraft vorgedrungen und damit auf denjenigen Standi)unkt angelangt, auf dem sich ilim nun auch die Beziehung der Zweckmäfsigkeit zum ästhetischen Urteil offenbaren mul'ste. In der naturwissenschaftlichen Erkenntnis sollte sie in der Angemessenheit der Natur zu unserem Erkenntnis- vermögen beruhen. Nun gehören zum Begriffe der Natur sinnliche Em])Hn(lungen. welche durch die Einbildungskraft zu Anschauungen formiert werden, und Begriffe, sowie liegein. die der Verstand auf die Anschauungen anwendet. Aus dem Gesichtspunkte der Urteils- kraft betrachtet, lag mitiiin hier jene Zweckmäfsigkeit in der Über- einstimmung des Verstandes (iiicl. der Einbildungskraft) mit den systematischen Ideen der Vernunft. Beim ästhetischen Urteil dagegen handelte es sich einerseits nicht um Anschauungen als solclie, da ilim ja nur an dem apriorischen Urteile etwas gelegen und Kant folglich das Material der sinnlichen Empfindungen unberücksichtigt lassen mufste. Es handelte sich andererseits auch nicht um syste- inatische Ideen, da es ja bei jenem nicht um die Gewinnung einer Erkenntnis ankam. Es handelte sich vielmehr um Anschauungen nur insoweit, als sie die blofse Form eines Gegenstandes betreffen, ohne Beziehung auf einen (abstrakten) Begriff. Aus dem Gesichts- punkte der Urteilskraft betrachtet, konnte folglich, wenn anders das ästhetische Urteil durch die in ihm enthaltene Zweckmäfsigkeit ein Gefühl der Lust in uns erwecken sollte, jene nur in der Überein- stimmung der Einbildungskraft mit unserem Verstände, d. h. in der Möglichkeit für unseren Verstand gefunden werden, die ihm von der

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Einbildungskraft dargebotenen Anschauungen unter Begriffe zu sub- sumieren. „Denn jene Auffassung der Formen in der Einbildungs- kraft kann niemals gescheher, ohne dafs die reflektierende Urteils- kraft auch unabsichtlich sie wenigstens mit ihrem Vermögen, An- schauungen auf Begriffe zu beziehen, vergliche. Wenn nun in dieser Vergleichung die Einbildungskraft (als Vermengen der Anschauungen a priori) zum Verstände, als Vermögen der Begriffe, durch eine gegebene Vorstellung unabsichtlich in Einstimmung versetzt und dadurch ein Gefiilil der Lust erweckt wird, so mufs der Gegenstand alsdann als zweckmäfsig für die reflektierende Urteilskraft angesehen werden. Ein solches Urteil ist ein ästhetisches Urteil über die Zweckmäfsigkeit des Objekts, welches sich auf keinem vorhandenen Begrifl'e vom Gegenstande gi-iindct und keinen von ihm verschafft. Wessen Gegenstandes Form (nicht das Materielle seiner Vorstellung, als Empflndung) in der blofson Reflexion über dieselbe (ohne Ab- sicht auf einen von ihm zu erwerbenden Begriff') als der Grund einer Lust an der Vorstellimg eines solchen Objekts beurteilt wird, mit dessen Vorstellung wird diese Lust aucii als notwendig ver- bunden geurteilt, folglich als nicht blofs für das Subjekt, sondern für jeden Urteilenden überhaupt. Der Gegenstand heifst alsdann schön, und das Vermögen, durch eine solche Lust (folglich auch allgemeingültig) zu urteilen, der Geschmack" (1!)G).

Das AV'esentliche dieser ästhetischen Bestimmung, die im Grunde nur auf die bekannte formalistische Erklärung des Schönen als Ein- heit in der IVIannigfaltigkeit hinausläuft, und von Kant in der Aus- führung seiner Asthethik selbst nicht festgehalten wird,*) besteht darin, dafs nach ihr die Zweckmäfsigkeit eine rein subjektiv- formale ist, in der blofsen Harmonie der beiden Erkenntniskräfte, der Einbildungskraft und des Verstandes, liegt und dafs sie. ohne abstrakt herausgehoben und zur objektiven Bestimmung des Gegen- standes selbst gemacht zu werden, eben als diese formale Zweck- mäfsigkeit im Spiel der Kräfte, den Grund des ästhetischen Wohl- gefallens bildet. Daher deflniert Kant die Schönheit auch als „Form der Zweckmäfsigkeit eines Gegenstandes, sofern sie ohne Vorstellung eines Zweckes an ihm wahrgenonunen wird*' (24'i).

Es k()nnte auffallen, dafs Kant bisher nur immer die subjektiv- formale Zweckmäfsigkeit berücksichtigt hatte, obwohl doch die Teleologif» in der Naturi)lnl()S()phie. in der sie ursprünglich heimisch war und der sie im Anfang auch wohl nur hatte dienen sollen, eine objektive und nuiteriale Bolle spielt. Es lag dies aber in dem Gange seiner Gedankenentwickelung begründet, in der ]S'otwendigkeit, in

<) Vgl.

V. Hartmann: Ästhetik I. 1 24.

die er sich versetzt fand, die Teleologie zunächst überhaui)t nur ein- mal in das allgemeine Schema der subjektiven Seelenkräfte einzu- gliedern. Als er jedoch seine nächste Absicht erreicht, als er eine apriorische Grundlage für die Ästhetik gewonnen und in der ästhetischen Zweckmäfsigkeit die subjektivste Fassung dieses Begriffes formuliert hatte, da wandte er sich auch wieder seinem ursprünglichen Aus- gangspunkte zu und stellte er der subjektiven ästhetischen Zweckmäfsigkeit den naturphilosophischen Begriff der objektiven Zweckmäfsigkeit gegenüber.

Die objektive Zweckmäfsigkeit besteht in der „Übereinstimmung seiner Form mit der Möglichkeit des Dinges selbst nach einem Be- griffe von ihm, der vorhergeht und den Grund dieser Form ent- hält" (1<J8). War die subjektive Teleologie recht eigentlich der Bestimmungsgrund des Gefühlsvermögens und unaufhishch mit der Lust ver(iuickt, so konnte freilich Kant der objektiven Teleologie eine gleiche Bedeutung für das Gefühlsvermfigen nicht zugestehen, ohne die ästhetische Beurteilung mit der Erkenntnis der Natur- zwecke zu verwirren. Die objektive Zweckmäfsigkeit ist keine ästhetische, sondern eine intellektuelle Zweckmäfsigkeit, d. h. sie „hat nichts mit einem Gefühle der Lust an den Dingen, sondern mit dem Verstände in Beurteilung derselben zu thun-' (1{)9). Die objektive Zweckmäfsigkeit ist auch kein konstitutives Prinzip, wie die ästhetische Zweckmäfsigkeit es für das Gefühlsvermögen ist (208), sondern sie ist nur ..ein Prinzip mehr," die Erscheinungen der Natur unter Regeln zu bringen, wo die Gesetze der Kausalität nach dem blofsen Mechanismus derselben nicht zulangen (872), ein regulatives Prinzip „zum Behuf der Vernunft," wovon die Urteilskraft Gehrauch machen darf, „nachdem jenes transcendentale Prinzip (der ästhetischen Zweckmäfsigkeit) schon, den Begriff eines Zwecks (wenigstens der Form nach) auf die Natur anzuwenden, den Verstand vorbereitet hat" (2(J0). Das Verhältnis hat sich also gerade umgekehrt: die objektive Zweckmäfsigkeit, die, als nalurphilosophisches Prinzip, die Ästhetik aus sich hervorgetrieben hat, ist jetzt selbst nur ein Prinzip von der ästhetischen Zweckmäfsigkeit Gnaden und mufs sich damit begnügen, unter dem Namen einer K r i t i k d e r t e 1 e o 1 o g i s c h e n Urteilskraft" erst an zweiter Stelle von Kant behnndelt zu werden, obwohl sie im Anfang die Hauptsache gewesen war. Die ästhetische Zweckmäfsigkeit dagegen nimmt in der „Kritik der ästhetischen Urteilskraft" schon ihrem Umfang nach die erste Stelle ein, woher es dann gekommen ist, dafs man dem ur- sprünglich naturphilosophischen Charakter der „Kritik der Urteilskraft" eine viel zu geringe Bedeutung beigemessen hat.

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So stiefmütterlich nun auch Kant in dieser Hinsicht die ohjektive Teleologie gegenüber der subjektiven behandelt, gerade sie ist es doch, welche den Übergang von der Natur zur Freiheit ermöglicht, indem sie die Kluft zwischen beiden überbrückt, deren Vorhandensein Kant den ersten äufseren Anstofs zur Abfassung seiner ,. Kritik der Urteilskraft" gegeben hatte. Zwar läfst sich nicht leugnen, dafs auch die subjektive ästhetische Zweckmäfsigkcit ihr Scherflein zur Überbriickung jenes Gegensatzes beiträgt, indem die von ihr bewirkte ästhetische Lust „zugleich die Empfänglichkeit des Gemüts für das moralische Gefühl befr^rdert" (20H). Allein die Haui)tsache bleibt doch der objektiven Teleologie zu thun übrig, weil sie die Gewähr giebt, dafs [Natur und Freiheit beide auf einander angewiesen sind. „Die Wirkung nach dem Freiheitsbegriffe ist der Endzweck, der (oder dessen Erscheinung in der Sinnenwelt) existieren soll, wozu die Bedingung der Möglichkeit desselben in der Natur (des Subjekts als Sinnenwesens, nämlich als M(?nsch) vorausgesetzt wird. Das, was diese a priori und ohne Rücksicht auf das Praktische voraus- setzt, die Urteilskralt, giebt den vermittelmh'n Begriif zwischen den Naturi)egriifeu und dem FreiiieifebegrilVe, der den Übergang von der Gesetzmäfsigkeit nach der ersten zum Endzwecke nach dem hetzten möghch macht, m dem Begriff einer Zweckmäfsigkcit der Natur an die Hand; denn dadurch winl die Möglichkeit des End- zweckes, der allein in der Natur und mit Einstimmung ihrer Gesetze wirklich werden kann, erkannt" (202).

AVenn man, wie Kant, die Natur i)lofs als subjektive Erscheinung, die Freilieit blofs als Bethätigung des übersinnlichen llealen gelten läfst, wenn man an der Natur ihr übersinnliches Substrat (die Dinge an sich), an der Sittlichkeit ihre sinnliche Vermittelung aufser Acht läfst, so wird damit natürlich eine Klnit zwischen beiden aufgerissen, wie sie zwischen dem Sinnliclien und dem Übersinnlichen besteht; diese Kluft aber vermag auch die Zweckmäfsigkcit nicht zu über- brücken, am wenigsten wenn sie selbst blol's subjektiv ist und. als reguhitives Prinzip, nur eine rein äufserliche Betrachtungsart der Dinge bildet. Versteht man dagegen unter Natur in transcendental- realistischem Sinne den Inbegriff der übersinnlichen Monaden und ihrer Gesetze und erkennt man an, dafs auch die moralischen Wesen nur als natürliche, sittlich hamU'hi können, dann besteht zwar noch ein Gegensatz zwischen den realen Gesetzen der Natur, die wirklich sind, und den idealen Gesetzen der Sittlichkeit, die erst wirklich werden sollen, aber dieser Gegensatz lallt innerhalb der Sphäre des Übersinnlichen selbst und kann auch ganz wohl duich die Teleo- logie gehoben werden, wofern man nur anerkennt, dafs die letztere selbst ein übersinnliches und reales Prinzip ist.

Dafs die Teleologie kein blofs regulatives Prinzip, dafs sie ebenso gut konstitutiv ist, wie die allgemeinen Naturgesetze, zu dieser An- nahme wird Kant sich notwendig selbst dann bequemen müssen, wenn er bei seiner phänomenalistischen Auffassung der Natur beharrt. Denn mögen wir auch, wenigstens was jene allgemeinen Naturge- setze anbetriff't, den Mechanismus des Zustandekonmiens unserer Erkenntnis mit Sicherheit durchschauen können, wie er gleichsam hinter den Koulissen unseres Bewufstseins sich abspielt : wir können nicht undiin, nach einem konstitutiven Prinzip auch für die besonderen Naturgesetze zu suchen, deren Vorhandensein nun einmal nicht zu leugnen ist. Von aufsen können wir jene Gesetze nicht erhalten haben : von dorther empfangen wir ja nach Kant blofs das unge- ordnete Material unserer sinnlichen Emjjündungen ; es müfste ein sonderbarer Zufall sein, wenn jene äufserlichen Gesetze sich so ein- fach in den Grundrifs der allgemeinen Naturgesetze einordnen sollten, welche nachweislich nur aus unserm Innern stammt. Was Ijjeibt übrig, als den Ursprung der besonderen Naturgesetze in eben dem nämlichen Prinzip zu suchen, das auch den Grundrifs der allgemeinen Naturgesetze in uns entwirft? Dafs wir den Prozefs der Spezi- fikation in uns nicht a priori durchschauen können, wie die Funktion der allgemeinen Naturgesetze, und dafs wir darum nicht imstande sind, die Teleologie mit der gleichen Sicherheit für das konstitutive Prinzip der besonderen Gesetze anzugeben, wie wir dies für die all- gemeinen Gesetze von den Kategorien hehau})ten konnten, ist freilich richtig. Aber diese „Zufälligkeit*' der Teleologie gegenüber der Not- wendigkeit der Kategorien beweist doch nicht, dafs sie ein kon- stitutives Prinzip nicht ist, es sei denn, dafs man es mit Kant als Grundsatz hinstellt: „Wahrscheinlichkeiten fallen hier ganz weg, wo es auf Urteile der reinen Vernunft ankommt" (41'^J. Nun hat aber, wie wir dies früher gesehen haben, auch die Erkenntnis der Kate- gorien, ihres Wesens und ihrer Funktionsart, blofs Wahrscheinlichkeit; es war eben der fundamentale Irrtum Kants, zu glauben, dafs er die unbewufste Thätigkeit derKategorialfunktionen mit seinem Bewufst- sein unmittelbar durchschauen könnte. Mögen also auch immerhin die allgemeinen Naturgesetze deduktiv und folglich mit apodiktischer Gewifsheit aus den Kategorien abgeleitet sein : sie bleiben für uns doch nur mehr oder minder wahrscheinlich, d. h. zufällig im Sinne Kants, weil eben ihren logischen Gründen blofs Wahrscheinlichkeit zukommt, d. h. aber der ganze künstliche Gegensatz von notwendigen und zufälligen Naturgesetzen ist überhaupt hinfällig, und es besteht mithin gar kein Grund, die ZweckmäCsigkeit darum von den kon- stitutiven Prinzipien a priori auszuschliefsen, weil sie für uns blofs

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„zufällig," d. h. wahrscheinlich, ist. Mufs aher durch diese Aner- kennung der Zweckmüfsigkeit als eines konstitutiven Prinzips, die garnicht zu umgehen ist, der AVahrscheinlichkeit doch einmal Ein- gang in das System gewährt werden, was kann uns dann noch veran- lassen, die Natur für eine blofse (subjektive) Erscheinung anzusehen, da dieser ganze Phänomenalismus Kants ja nur aus dem Streben ent- standen ist, die Annahme einer blofs wahrscheinlichen Erkenntnis zu umgehen?

Die Zweckmäfsigkeit ist ein konstitutives Prinzip zur Formierung der Erfahrung, und zwar ein unbewufst-konstitutives Prinzip in dem iiiimlichen Sinne, wie es auch die Kategorieen sind. Die Urteils- kraft ist sojuit in ihrer Anwendung des Prinzips der Zweckmäfsig- keit nicht reliektierend, sondern bestimmend; folglich ist auch die Annahme einer objektiven Zweckmäfsigkeit in den Naturerschei- nungen nicht eine rein subjektive Retiexion über dieselben, sondern sie ist die bewufste Heraushebung dessen, was das konstitutive Priiizi]) dieser Erscheinungen vorher unbewufst in sie hineingelegt hat. Gewifs kann die bewufste Reflexion sich hierbei irren und dort auf den Gedanken einer Kinalität geraten, wo doch l)l()fse Kausalität nach mechanischen Gesetzen vorliegt. Gewifs ist diese ganze Annahme einer objektiven Finalität überhaupt ])lofs wahr- scheinlicli. da wir nur den Mechanismus der sinnlichen Erschei- nungen unmittelbar wahrnehmen, die gleichzeitige Zweckverknüi)fung der letzteren jedoch nur mittelbar durch Induktion aus einer ge- w^issen Anzahl von Erscheinungen erschliefsen und folglich ihr nur denjenigen Wahrscheinlich keitsgrad zuschreiben dürfen, welcher der jeweiligen Stufe der Induktion entspricht. Allein die Teleologie aus eben diesem Grunde als objektives Prinzip nicht gelten zu lassen, dazu hat man nur dann ein Recht, wenn man, wie Kant, aHe hy})0- thetische Erkenntnis verachtet, wenn man nur solche Urteile gelten läfst, die aus Prinzipien a priori hervorgehen, d. h. rein formale !^]rkenntnis ohne reale Bedeutung. „Man hat nur die Wahl, ent- weder auf alle reale Erkenntnis zu verzichten und sich mit der formalen der Mathematik und Logik zu begnügen, oder aber sich bei der wahrscheinlichen realen Erkenntnis hypothetischer Induktions- urteile zu bescheiden. Da nun die ganze Entwickelung der modernen Wissenschaft auf letzterer Seite der Alternative steht und da Kant keinen anderen Grund zu seiner entgegengesetzten Entscheidung hat, als das wolftsche Vorurteil, dafs nur a])riorische Wissenschaft von apodiktischer Gewifsheit Phil()S()j)hie heifsen dürfe, so erhellt daraus, wie weit die von den Empiristen zum Uberdrufs wiederholte Be- hauptung berechtigt ist, dafs Kant die blofs subjektive Bedeutung

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des Zweckbegriffs und seinen Unwert als Erkenntnisprinzip ein für alleraal unwiderleglich erwiesen habe."*)

Betrachten wir die objektive intellektuelle Zweckmäfsigkeit selbst, so unterscheidet Kant „die oft bewunderte objektive Zweck- mäfsigkeit, nämlich der Tauglichkeit zur Auflösung vieler Probleme nach einem einzigen Prinzip, und auch wohl eines jeden derselben auf unendlich verschiedene Art", wie sie sich an den geometrischen Figuren zeigt, von der Naturzweckmäfsigkeit im eigentlichen Sinne. Die erstere ist zwar objektiv und intellektuell, allein sie macht doch den Gegenstand selbst nicht möglich, wird uns überhaupt nicht durch einen empirischen Gegenstand, der von ihrem Begriff abhängig ist, gegeben, sondern l)eruht nur auf der (Übereinstimmung der Raumanschauung und des A^erstandes. der a priori die mathematLhen Bestimmungen gleichsam in sie hineinzeichnet. Diese Zweckmäfsig- keit ist also blofs formal (874-378). Die objektive und materiale oder reale Zweckmäfsigkeit dagegen offenbart sich überall dann, „wenn ein Verhältnis der Ursache zur A\^irkung zu beurteilen ist, welches wir als gesetzlich einzusehen uns nur dadurch vermögend linden, dafs wir die Idee der Wirkung der Kausalität der Ursache, als die dieser selbst zum Grunde liegende Bedingung der i\Iöghch- keit der ersteren unterlegen" (379). Aber auch hier ist noch ein Unterschied zu machen zwischen der äufseren und inneren Zweckmäfsigkeit. Jene ist eine rein zufällige Nutzbarkeit oder eine „Zuträglichkeit gewisser Naturdinge für andere Geschöpfe" (ebd.), die blofs relativ ist und daher zu einem absoluten teleologischen Urteil nicht berechtigt (381). Dagegen wenn die Lebensbedingungen gewisser Wesen in anderen Arten von Wesen liegen und sie dieser notwendig zu ihrer eigenen Existenz bedürfen, so wird man auch hierin einen, obschon äufseren Naturzweck sehen müssen, der aber doch nicht zufällig ist; Voraussetzung dabei ist nur, dafs die Existenz desjenigen, was den Nutzen hat, für sieh selbst Zweck der Natur sei, was aber durch blofse Naturbetrachtung nicht auszumachen ist (381).

Von einer wirklichen Naturzweckmäfsigkeit kann man mit völliger Sicherheit nur bei der inneren Zweckmäfsigkeit reden, und d[iher ist auch nur diese der eigentliche Gegenstand der Natur- philosophie und gleichsam der Typus aller zvveckvoll bestimmten Naturerscheinungen überhaupt (388). Dazu gehört, dafs ein Wesen erstens durch FortpHanzung sich selbst der Gattung nach, zweitens durch Wachstum sich als Individuum erzeugt und drittens sich

*) v. Hartmann: Kants Erkenntnistheorie u. Metaphysik 239.

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selbst dadurch erhalt, dai's seine einzelnen Teile in ihrer Fortdauer einander wechselseitig bedingen (388 f.). Mit anderen Worten: als Katurzweck kann etwas nur dann betrachtet werden, w^enn erstlich die Teile ihrem Dasein und der Form nach nur durch ihre Be- ziehung auf das Ganze miiglich sind ; aber so könnte es auch ein Kunstwerk, d. h. -das Produkt einer von der Materie desselben unterschiedenen vernünftigen Ursache sein, deren Kausalität (in Herbeischaflfung und Verbindung der Teile) durch, die Idee von einem dadurch möglichen Ganzen bestimmt wird. Es ist also zweitens erforderlich, dal's seine Teile sich dadurch zur Einheit eines Ganzen verbinden, indem sie von einander wechselseitig Ursache und Wirkung ihrer Form sind (885). Die Form und Verbindung der Teile bringt also aus eigen(>r Kausalität ein Ganzes hervor: umge- kehrt ist es auch wiederum die Idee des Ganzen, welche die Form und Verbindung der Teile bestimmt. Bezeichnet man eine Kausal- verbinduug, die eine Ixeihe von Ursachen und Wirkungen ausmacht^ welche immer abwärts geht, als die der wirkenden oder realen Ursachen (nexus etfectivus); eine Kausalverbindung dagegen, welche, als Keihe betrachtet, sowohl abwärts, als aufwärts Abhängig- keit bei sich führt, als die der Endursachen oder idealen Ursachen (nexus finalis), so läfst sich mithin sagen, etvvas sei Naturzweck dann, wenn die Verknüpfung der wirkenden Ursachen zugleich als Wirkung durch Endursachen beurteilt werden kann. Nun heifst ein jeder Teil, der, wie er nur durch alle übrigen da ist, auch nur um der anderen und des Ganzen willen existiert, ein Werkzeug oder Organ. Also wird nur ein organisiertes, und zwar sich selbst organisierendes Wesen, d.h. ein Organismus, Naturzweck heifsen können (o8G).

Wenn der j\lr)gliclikeit des Organismus eine Idee zu Grunde liegt, die als solche eine absolute Einheit der Vorstellung ist, statt dafs die Materie eine Vielheit der Dinge ist, die für sich keine bestimmte Einheit der Zusammensetzung liefert, so mufs auch der Organismus durch und durch nacli eben diesem Prinzip als Natur- zweck beurteilt, d. h. der Zweck der Natur mufs auf alles, was nur in ihrem Produkte liegt, ausgedehnt werden. In einem Orga- nismus ist nichts umsonst, zwecklos oder einem blinden Mechanismus zuzuschreiben, sondern in ihm ist alles Zweck und wechselseitig zugleich auch .Mittel. „Es mag immer sein, dal's z. B. in einem tierischen Körper numche Teile als Konkretionen nach bloi's mecha- nischen Gesetzen begriffen werden könnten (als Häute, Knochen, Haare). Doch mufs die Ursache, welche die dazu schickliche Materie herbeischafft, diese so moditiziert, formt und an ihre gehörigen

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Stellen absetzt, immer teleologisch beurteilt werden, sodafs alles in ihm als organisiert betrachtet werden mufs. und alles auch in ge- wisser Beziehung auf das Ding seihst wiederum Organ ist" (389 f.). Ist aber dies der Fall, was hindert uns, die Zweckbetrachtung auch auf die Natur als Ganzes auszudehnen, da doch der einzelne Organismus das mikrokosmische Abbild der Natur, als Makrokosmus, ist? Wir haben keine hinreichende Berechtigung, von Zweck- mäfsigkeit zu reden, solange wir die Wesen nur in ihrer äufseren Beziehung zu einander, losgelöst von ihrem Verhältnis zum Welt- ganzen, betrachten; in dieser abstrakten Isolierung kann nur das Individuum an und für sich als Naturzweck angesehen werden. Wenn jedoch das Ganze selbst wiederum Organismus ist, dann werden ja die vorher äufseren Beziehungen der Organismen auf einander selbst zu inneren, und wir gelangen notwendig auf die Idee der gesamten Natur als eines „Systems nach der Regel der Zwecke," welcher nun aller Mechanisums untergeordnet werden mufs. Damit erweitert sich der Satz, dafs in einem (einzelnen) Organismus etwas Zweckloses nicht vorhanden ist, zu dem anderen: „Alles in

der Welt ist irgend wozu gut, nichts ist in ihr umsonst, und man ist durch das Beispiel, das die Natur an ihren organischen Produkten gieht, berechtigt, ja l)erufen, von ihr und ihren Gesetzen nichts, als was im Ganzen zweckmäfsig ist, zu erwarten" (o91).

Und so wäre denn die Zweckmäfsigkeit als ein naturwissen- schaftliches Prinzip erwiesen? Keineswegs; denn die Natur- wissenschaft oder die Physik in weiterem Sinne behandelt nur das- jenige, was wir unserer Beol)achtung oder dem Experimente unter- werfen können, sie hat es also blofs mit der sinnlichen Seite und demnach mit dem Mechanismus der Natur zu thun. Die Be- ziehung der Naturerscheinungen auf Zwecke jedocli, sofern diese eine zur Ursache notwendige Bedingung sein soll, fällt gänzlich aufser- halb ihrer Spiiäre, weil diese Notwendigkeit der Verknüi)fung an der unmittelbaren sinnlichen Seite der Naturerscheinungen nicht aufzuzeigen ist Q]^H)). Wenn es ein Grundprinzip einer jeden Wissen- schaft ist, die Grenzen des ihr angewiesenen Gebietes nicht zu über- schreiten, und die Physik ihrem Wesen nach Erfiihrungswissenschaft ist, so darf sie ein Prinzip nicht als konstitutiv ansehen, das auf dem Wege der Erfahrung umnittelbar nicht zu erhärten ist. Wohl aber kann die Naturwissenschaft dieTeleologie als ein „heuristisches Prinzip" benutzen, um den besonderen Gesetzen der Natur nach- zuforschen (423). Wenn ein solcher „Leitfaden, die Natur zu stu- dieren" einmal aufgenommen ist, so kann sie ferner nicht blofs die einzelnen Erscheinungen, sondern auch die Natur im Ganzen nach

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dieser liegel beurteilen, ,,\veil sicli nach derselben noch manche Gesetze dürften auffinden lassen, die uns nach der Beschränkung unserer Einsichten in das Innere des Mechanismus derselben sonst verborgen bleiben würden" (4 10 f.)- ^ur unentbehrlich ist dies Prinzip im letzteren Pralle nicht, weil uns die Natur im Ganzen als organisiert nicht gegeben ist. Bei den organisierten Wtsen hingegen ist es nicht blofs erlaubt, sondern sogar „unentbehrlich nötig," ist es eine „schlechterdings notwendige Maxime." der Natur den Begriff einer Absicht unterzulegen, „um auch nur eine Erfahrungserkenntnis ihrer inneren Beschalfenheit zu bekommen, weil selbst der Gedanke von ihnen, als organisierten iJingen, ohne den Gedanken einer Er- zeugung mit Absicht damit zu verbinden, unmöglich ist" (411). „Es ist nämlich ganz gewiis, dafs wir die organisierten Wesen und deren innere Möglichkeit nach bloCs mechanischen Prinzipien der Natur nicht einmal zureichend kennen lernen, viel weniger uns erklären können; und zwar so gewil's, dafs man dreist sagen kann: es ist für Menschen ungereimt, auch nur einen solchen Anschlag zu fassen oder zu hoflen, dafs noch dereinst ein Newton aufstehen könne, der auch nur die Erzeugung eines Grashalms nach Naturgesetzen, die keine Absicht geordnet hat, begreiflich machen werde, sondern man mufs diese Einsicht dem Menschen schlechterdings absprechen" (412 f.).

Indessen wenn es auch „ganz unentbelu-lieh ist, selbst um diese nur am Leitfaden der p]rfahriinij^ zu studieren" (422), dafs man bei gewissen Naturerscheinungen in der teleologischen Verknüj)fung der Ursachen und Wirkungen das Prinzip ihrer Möglichkeit erblickt: „es liegt der Vernunft unendlich viel daran, den Mechanismus der Natur in ihren Erzeugungen nicht fallen zu lassen und in der Erklärung derselben nicht vorhei zu gehen, weil ohne diesen keine Einsicht in die Natur der Dinge erlangt werden kann" (423). Die Aufgabe des Naturforschers, als eines solchen, ist es eben, die Natur aus dem Gesichts})unkte des Mechanismus zu betrachten. Der Erfolg beweist, dafs er selbst dort nicht zu verzagen und mutlos allen Ansj)ruch :iuf Natureinsicht in diesem Eelde aufzugeben braucht, wo sein Prinzij) im ersten x\ugenblick nicht hinzulangen scheint. So beruht der Nutzen einer „komparativen Anatomie" nicht blofs darin, dafs sie uns die Gesamtheit der organischen Wesen als etwas einem Systeme Ahnliches erkennen läfst, sondern wir bekommen (ladur(!h sogar einen Einblick in die Entstehung der verschiedenen Arten überhaupt, ohne dafs wir es nötig hätten, übernatürliche Prinzipien dabei zu Hilfe zu nehmen. „Die Übereinkunft so vieler Tiergattungen in einem gewissen gemeinsamen Schema, das nicht allein in ihrem Knochenbau, sondern auch in der Anordnung der übrigen Teile zum

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Grunde zu liegen scheint, wo bewunderungswürdige Einfalt des Grundrisses durch Verkürzung einer und Verlängerung anderer, durch Einwickelung dieser und Auswickelung jener Teile eine so grofse Mannigfaltigkeit von Spezies hat hervorbringen können, läfst einen, obgleich schwachen Strahl von Hoffnung in das Gemüt fallen, dafs hier wohl etwas mit dem Prinzip des Mechanismus der Natur, ohne welches es überhaupt keine Naturwissenschaft geben kann, auszurichten sein möchte. Diese x\nalogie der Formen, sofern sie bei aller Verschiedenheit einem gemeinschafthchen Urbilde gemäfs erzeugt zu sein scheinen, verstärkt die Vermutung einer w i r k 1 i c h e n V e r w a n (1 1 s c h a f t derselben in der Erzeugung von einer g e m e i n - schaftlichen Urmutter durch die stufenartige An- näherung einer Tiergattung zur anderen von derjenigen an, in welcher das Prinzip der Zwecke am meisten bewährt zu sein scheint, nämlich dem Menschen, bis zum Polyp, von diesem sogar l)is zu Moosen und Flechten und endlich zu der niedrigsten uns merklichen Stufe der Natur, zur rohen Materie, aus welcher und ihren Kräften nach mechanischen Gesetzen (gleich denen, wonach sie in Krystallerzeugungen wirkt), die ganze Technik der Natur, die uns in organisierten Wesen so unbegreiflich ist, dafs wir uns dazu ein anderes Prinzip zu denken genötigt glauben, abzustammen scheint" (431 f.).

Der „Archäologe der Natur" kann aus dem Mutterschofse der Erde „anfänglich Geschöpfe von minder zweckmäfsiger Form" hervor- gehen lassen; er kann sich vorstellen, dafs „diese wiederum andere, welche angemessener ihrem Zeugungs])latze und ihrem Verhältnisse unter einander sich ausbildeten, gebären" und dafs auf solche AVeise die Ver.schiedenheit und Mannigfaltigkeit der Arten sich heraus- gebildet habe, wie sie uns heut im Reiche des Organischen entgegen- tritt (4o2). Er braucht dahei nur eine „generatio heteronyma" vorauszusetzen, d. h. die M()glichkeit. dafs ein Produkt entsteht, welches dem Erzeugenden nicht gleichartig ist. Von dieser zeigt uns zwar die Erfahrung kein Beispiel, wonach vielmehr alle Zeugung, die wir kennen, generatio homonyma ist, sie ist jedoch durchaus nicht unwahrscheinlich, „z. P>. wenn gewisse Wassertiere sich nach und nach zu Sumpftieren und aus diesen nach einigen Zeugungen zu Landtieren ausbildeten" (4oo). Dabei mag auch noch diejenige Ver- änderung, „welcher gewisse Individuen der organisierten Gattungen zufälliger Weise unterworfen werden," eine KoUe im Prozesse der organischen Entwickelung gespielt haben ; jedoch ist Kant der Ansicht, wenn ihr so abgeänderter Charakter erblich und in die Zeugungskraft aufgenommen sei, so könne sie nicht füglich anders, denn als „gelegent-

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liehe Entwiekelung einer in der Spezies ursprünglich vorhandenen zweckmäfsigen Anlage zur Selbsterhaltung der Art beurteilt werden" (ebd. Vgl. oben S. 44 50).

Kant ist mithin, wie wir dies schon früher gesehen haben, weit entfernt, mit dem Prinzip des Mechanismus allein auskommen zu wollen. Mag auf dem erwähnten rein mechanischen Wege auch vieles bei der Herausbildung der verschiedenen Arten sich erklären lassen: der Forscher mufs doch der Mutter Natur ,,eine auf alle diese Geschöpfe zweckmäfsig gestellte Organisation beilegen, widrigen- falls die Zweckforni der Produkte des Tier- und Pflanzenreichs ihrer :\Ioglichkeit nach gar nicht zu d<Miken ist" (482). Wenigstens der Anfang des ganzen Entwickelungsprozesses ist ohne Zuiiilfenahme eines teleologischen Prinzips nicht zu erklären ; denn ist schon über- haupt die mechanische Entwickelungsliypothese „ein gewagtes Aben- teuer der Vernunft," so ist es vollends „ungereimt," eine generatio aequivoca anzunehmen, wofern man darunter die Erzeugung eines oriranisierten Wesens durch die Mechanik der rohen unorganisierten Materie versteht" (432. 437). Kant verwirft den Occasionalismus, wonach Gott bei Gelegenheit einer jeden Begattung der in ilir sich mischenden Materie unmittelbar die organische Bildung giebt, wonach mithin jede Zeugung eine neue Schöpfung und der Prozel's der Zeugung nur (Mue äurserliche Formalität ist. Er verwirft ebenso „das System der Zeugungen als blofser Edukte," die involutions- oder Einschachtelungstheorie, w^onach der Keim schon von Anfang an alle individuellen Besonderheiten in sieh enthält, die dann mir bei Gelegenheit des AVachstums in die Erscheinung treten. Beide Annahmen sind hyperphysischer Natur und machen eine natürliche Erklärung der organischen Fntwickelung unmöglich. Dagegen stellt sich Kant auf die Seite des ,. Systems der Epigenesis" oder der Zeugungen als wirklicher Produkte. Nach diesem ist die spezitische Form in den Keimen zwar auch, aber blofs virtualiter j)räformiert, und die Natur wird in ilini als selbst hervorbringend, nicht blofs als entwickelnd betrachtet, iudvm es mit dem kleinstmöglichen Aul'- wande des tjbernatürlicluMi alles Folgende vom ersten Anfange an der Natur überläfst, „ohne aber über diesen ersten Anfang, an dem die Physik überhaupt scheitert, sie mag es mit einer K(4te der Ursachen versuchen, mit welcher sie wolle, etwas zu bestimmen" (437). In dieser Hinsicht schliefst sich Kant an den Naturforscher Blumenbach an und ist mit dem letzteren der Ansicht, dafs zu den allgemeinen Eigenschaften und Kräften der Materie noch ein teleologischer „B i 1 d u n g s t r i e b ," als ininuiterielles, metapliysisches Prinzi]), hinzukommen mufs, wenn anders die Entstehung und Ent-

II. Die kritische Naturphilosophie.

429

Wickelung der organischen Wesen auch nur auf mechanischem Wege möglich sein soll (435—438).

Daraus geht hervor, dafs die mechanische Verknüpfung der Ursachen und Wirkungen nur die Eine Seite des wirklichen Vor- gangs, und zwar dem „absichtlichen Technicismus" der Natur untergeordnet ist. der sich ihrer nur bedient, um seine Zwecke in der Natur zu realisieren. „Denn wo Zwecke als Gründe der Möglichkeit gewisser Dinge gedacht werden, da mufs man auch Mittel annehmen, deren AVirkungsgesetz für sich nichts einen Zweck Voraussetzendes bedarf, mithin mechanisch und doch eine unter- geordnete Ursache absichtlicher Wirkungen sein kann" (427). ..Weil nun aber ganz unbestimmt und für unsere Vernunft auch auf immer unbestimmbar ist, wie viel der Mechanismus der Natur, als Mittel zu jeder Endabsicht in derselben, thue, so wissen wir auch nicht, wie weit die für uns mögliche mechanische Erklärungsart gehe" (ebd.). Für die Naturwissenschaft entspringt daraus die unerläfs- liclie Forderung: „alle Produkte und Ereignisse der Natur, selbst die zweckmäfsigsten, so weit mechanisch zu erklären, als es innner in unserem Vermögen steht" (428.431). Weil jedoch für die Möglichkeit organischer Wesen in der Natur „der blofse Mechanisnms der Natur zur Erklärung dieser ihrer Pro- dukte gar nicht hiidänglich sein" kann (42()), die unendliche Menge derselben uns aber wiederum veranlafst, die teleologische Erklärungs- art auch für das Naturg a nze anzunehmen, daher müssen wir eine „allgemeine Verbindung der mechanischen Gesetze mit den teleo- logischen in den Erzeugungen der Natur" uns denken, „ohne die Prinzipien der Beurteilung derselben zu verwechseln und eines an die Stelle des anderen zu setzen" (427). Wir müssen also „be- hutsam verfahren und nicht jede Technik der Natur, d. i. ein pro- duktives A'ernüigen derselben, welches Zweckmäfsigkeit der Gestalt für unsere blofse Ap])rehensi()n an sich zeigt (wie bei regulären KörpernJ für teleologisch zu erklären suchen, sondern immer so lange für blofs mechanisch möglich ansehen. Allein darüber das teleologische Prinzip gar ausschliefsen und, wo die Zweckmäfsigkeit für die Ver- nunftuntersuchung der Möglichkeit der Naturformen durch ihre Ursachen sich ganz unleugbar als Beziehung auf eine andere Art der Kausalität zeigt, doch immer den blofsen Mechanismus befolgen wollen, mufs die Vernunft ebenso phantastisch und unter Hirn- gespinnsten von Naturvermögen, die sich gar nicht denken lassen, herumschweifend machen, als eine blofs teleologische Erklärungsart. die gar keine Kücksicht auf den Naturmechanismus nimmt, sie schwärmerisch machte" (424).

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B. Kant als Naturphilosoph.

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Man kann das Verliältnis von Mechanismus und Teleologie, als Prinzipien der Erkenntnis, nicht unzweideutiger und treffender zur DarsteUung bringen, als es von Kant in seiner „Kritik der Urteils- kraft'' geschehen ist. So sehr wir auch die kantische Philosophie, und gerade in ihren Fundamenten angreifen mufsten, so rückhalt- lose Bewunderung müssen wir dem Denker zollen, der mit seiner klaren Einsicht in den wesentlichen Unterschied der Naturwissen- schaft von der Naturphilosophie auf diesem Gebiete thatsächlich Grenzen abgesteckt und mit seiner Feststellung ihrer beiderseitigen methodologischen Prinzipien ebenso hoch über seinen eigenen Zeit- genossen, wie über den oftiziellen Vertretern der heutigen AVissen- schaft dasteht. Wären die Naturforscher, die heute die Teleologie mit grofsen Worten totschlagen, auch nur ein wenig tiefer m die Philosophie eingedrungen und lilltten die modi^-nen Philosophen sich bemüht, dem eigentlichen Ziel und Wesen der kantischen Plnlo- sopliie gerecht zu werden, anstatt sich nur für die phänomenalistische und positivistische Seite von Kant zu interessieren, weil diese ihnen bei ihrer eigenen Al)kehr von allem Metaphysischen zufällig gerade sympathisch war, es hätte wahrlich nicht dahin kommen k(")nnen, dafs die Verachtung teleologischer Prinzipien heute geradezu für das Zeichen eines „wissenschaftlichen" Geistes gilt, so hätten wir auch schon längst eine wirkliche Naturphilosophie, die beider spezialistischcn Zersplitterung in der modernen AVissenschaft und der täglich mehr anwachsenden Fülle des Materiales nachgerade wohl von allen Seiten als ein schreiendes Bedürfnis emi^fuiuhMi wird, .letzt besitzen wir z. B. in den Arbeiten Hack eis nur Bruch- stücke einer Naturphilosophie, die keine Philosophie siiul, weil sie bei ihrem Hasse gegen die Teleologie ganz und gar in der Beschränkt- heit des naturwissenschaftliclien Standpunktes befangen bleiben, keine Naturwissenschaft, weil sie ihren Mechanismus zum absoluten (philo- sophischen) Prinzip aufbauschen. Bruchstücke, die in wissenschaftlicher Hinsicht reine jVlonstra sind und daher weder die exakten Forscher, noch die Philosophen befriedigen kihmen. Damit jedoch dem Ganzen der Humor nicht fehle, so sind wir jetzt glücklich auf dem Standpunkt angelangt, dafs von Naturforschern und Philosophen Kant als derjenige gepriesen zu werden ptlegt, welcher der Teleologie den Garaus gemacht habe! Und doch ist niemand mehr als Kant, und zwar gerade im Interesse einer metaphysischen Natur- philosophie bestrebt gewesen, der Teleologie eine objektive AVahrheit zu sichern, und es liegt nur an seinen unglücklichen erkenntnis- theoretischen Voraussetzungen, an die wenigstens von den Naturforschern Keiner glaubt, wenn er dies Ziel nur zum

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II. Die kritische Naturphilosophie. 431

Teil erreicht und die Objektivität des Zweckbegriffes sich ihm unter der Hand in den widerspruchsvollen Begriff einer blofs subjektiven Objektivität umgebogen hat.

Mag es nun um den Zweckbegriff bestellt sein, wie es will so viel ist durch die bisherige Untersuchung jedenfalls bewiesen' dafs er als solcher nicht in die Naturwissenschaft hineingehört. Ob die Naturzweckmäfsigkeit blofs subjektiv gültig, nämlich blofse Maxime unserer Urteilskraft, oder ob sie ein objektives Prinzip der Natur, wonach dieser aulser ihrem Mechanismus (nach blofsen Be- wegungsgesetzen) noch eine andere Art der Kausalität nach End- ursachen zukommt, ob sie ein konstitutives oder blofs regulatives Prinzip, absichtliche oder unabsichtliche Zweckmäfsigkeit ("technica intentionalis oder naturalis) (403) sei, das sind Fragen, w.-lche die Naturwissenschaft zu entscheiden nicht fähig ist. die vielmehr nur auf djm Boden der Metaphysik ausgefochten werden können. Wenn Kant sich hier überall für die letzte Seite der Alternative ent- scheidet und die Teleologie auf das Niveau eines blofs regulativen Prinzips herabdrückt, so tliut er dies, wie gesagt, nur aus dem Grunde, weil der Zweckbegriff in der Erfahrung uns nicht un- mittelbar gegeben und folglich nur mit einer gewissen AVahrschein- lichkeit vorauszusetzen ist. Wir haben aber auch schon hervor- gehoben, dafs dieser Einwand gegen die Teleologie jedenfalls nicht stichhaltig ist. Ebenso wenig ist Gewicht darauf zu legen, wenn er diese Behauptung auf indirektem Wege auch noch dadurch zu begründen sucht, dafs die Annahme der Zweckmäfsigkeit. als eines konstitutiven Prinzips neben dem konstitutiven IVinzip des Mechanismus, eine Antinomie ergebe, die überhaui)t nur zu leisen sei, wenn man jene nls ein bh)fs regulatives Prinzip betrachte (398—401). Hier haben wir es zu offenbar nur mit einer Parallele zu den Antinomieen der Vernunftkritik zu thun, die Kant nur aus systematischen Gründen erfunden hat. als dafs es sich verh)hnte, näher darauf einzugehen.*) AVnndern mufs man sich nur, wie er die Teleologie für ein blofs regulatives Prinzip ausgeben kann, wenn doch das konstitutive Prinzip des Mechanismus ihm, als dem höheren, untergeordnet sein soll. Durch alle derartigen Annahmen wird die Wahrheit nicht erschüttert, dafs auch die Teleologie konstitutiv und dafs sie ein objektiver Faktor im Naturgescheiren ist, wenngleich diese Objektivität wegen ihres unsinnlichen Charakters schwerer aufzuzeigen und über die Bedeutung einer Hypothese nicht hinauskommt.

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*) Vgl. V. Hartiiianii: Kants Erkenntnistheorie u. Metaphysik 246— 1^48.

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B. Kant als Naturphilosoph.

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Der Grund, weshalb die Metaphysik ihrerseits die objektive Natur des Zweckbegriffes anerkennen mufs, liegt darin, weil ohne diese Annahme die thatsiichlich wahrgenommene Zweckmäfsigkeit uns unverständlich bleibt. Der Materialismus eines Epikur und Demokrit, der alle Erscheinungen aus der blofsen Mechanik leb- loser Stoffteilchen hervorgehen läfst, vermag auch nicht einmal den Schein in unserem teleologischen Urteil zu erklären und ist, indem er den blinden Zufall zum Erklilrungsgrunde macht, „so offen])ar ungereimt" (404), dafs nur reiner Unverstand auf den Einfall kommen kann, aus ihn. die zweckmäfsigen Naturprodukte abzuleiten. Man kommt aber auch nicht weiter, wenn man die Leblosigkeit der Materie aufhebt und ihren Elementen Emi)findung und Be- wufstsein beilegt. Der Hylozoismus dreht sich im Kreise, wenn er die Zweckmäfsigkeit der Natur an organisierten Wesen aus dem Leben der Materie ableiten will und dieses Leben wiederum nicht anders als in organisierten Wesen kennt. Überdies mufs diese Annahme einer lebendigen Materie schon an dem W^iderspruche scheitern, dafs Leblosigkeit, inertia, den wesentlichen Charakter der Materie ausmacht (407). Dies Letztere gilt freilich nur für den phänomenalen Begriff der Materie, wie Kant ihn fafst. für die .Materie, als Objekt unseres Bewufstseins. dem sie blofs als toter, ausgedehnter Stoff erscheint, aber es gilt nicht für die Materie, als transcendentes Substrat und Ursache dieser subjektiven Erscheinung; denn da ist, wie wir gesehen haben, die Materie nichts als Kraft, und es ist kein AViderspruch, ihr auch ein Leben zuzuschreiben. Wohl aber hat Kant Recht, dem Materialismus, wie dem Hylozoismus. entgegenzuhalten, dafs sie übersehen, wie in einem zweekmäfsigen Produkte das Ganze das Prius seiner einzelnen Teile sein mufs, dafs sie infolgedessen sich vergeblich abmühen, bei ihrer Annahme einer Vielheit selbständiger Substanzen die Einheit des Organischen rein äufserhch aus einem blofsen Aggregate abzuleiten : „Die Auto- kratie der IVlaterie in Erzeugungen, welche von unserem Verstände nur als Zwecke begriffen werden können" daran ist tViatsächlich niclit zu rütteln „ist ein Wort ohne Bedeutung-' (4:U).

Aus diesem Grunde und um im Interesse der Naturwissenschaft aller Nachfrage nach dem Grunde der Möglichkeit von Natur- zwecken überhoben zu sein, hatte Kant früher in seiner Schrift über den „Einzig m()glichen Beweisgrund'^ sich der Lehre des Spinoza zugeneigt und die zweekmäfsigen Veranstaltungen m der Natur überhaui)t nicht für Produkte, sondern für einem Urwesen inhärierende Accidenzen angesehen, diesem Wesen selbst jedoch, als Substrate der Naturerscheinungen, nicht Kausalität, sondern blofs

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II. Die kritische Naturphilosophie. 433

Subsistenz beigelegt. Auf diese AVeise hatte er zwar die „Einheit des Grundes, die zu aller Zweckmäfsigkeit erforderlich ist" (405) herausbekommen ; allein indem er der allbefassenden Substanz nicht zugleich auch einen Verstand zugeschrieben hatte, war jene onto- logische Einheit darum nicht zugleich auch schon Einheit des Zweckes, sie war nur blinde Naturnotwendigkeit und ebenso un- fähig, die Zweckverknüpfung zu erklären, wie es die blofse Mechanik des Materialismus ist (ebd. f. 484). Es ist gleichgültig, ob Kant Recht hat, jene Ansicht für diejenige des Spinoza auszugeben: mit den Worten des Letzteren würde er sie wohl schwerlich be- legen können. Interessant ist es jedenfalls, zu sehen, wie sich seine eigene Auffassung des Absoluten seit dem Jahre 17G3 verändert hat, nachdem inzwischen durch seine dauernde Beschäftigung mit den Problemen der Erkenntnistheorie und der Moral der Schwerpunkt seines Interesses mehr und mehr von der Natur zum Geiste hinüber sich verschoben hatte. So lange Kant lediglich die Interessen der Naturi)hilosopliie vertrat, hatte er an dem Begriffe eines Absoluten keinen Anstofs genommen, das nur als blinde Notwendigkeit, wie die Naturgesetze, sich bethätigte, und er hatte es gerade als einen Vorzug dieser Anschauung angesehen, dafs sie die Annahme eines göttlichen Verstandes entbehrlich machte. Als er jedoch, tiefer in das Wesen des Geistes eingedrungen, auf dem Umwege der Moral wiederum zu jenem Gegenstande zurückkehrte, da genügte ihm seine frühere xluffassung nicht mehr. Er sah sich schon aus Gründen der Naturphilosophie zu der Anerkennung genötigt, dafs, wenn es ein Absolutes giebt, dies mehr als blofs ontologisclier Natur sein müsse; zugleich aber war er doch auch durch seine Naturphilosophie davor geschützt, das zum Begriffe Gottes vertiefte Absolute im Einklänge mit der deistischen Anschauungsweise seiner Zeit in ein unfafsbares Jenseits der Natur zu rücken.

Die Zweckverknüpfung mufs in einem absoluten Verstände wurzeln und eben dadurch über die Vielheit der Besonderungen herrschend sein. Eben auf diese Annahme führt auch die Erwägung, dafs, wie wir sahen, eine jede zweckmäfsige Naturerscheinung nach zwei verschiedenen Prinzipien beurteilt werden kann und mufs. Dies ist nämlich nur dann kein AV^iderspruch, und die beiden Erklärungs- arten der Teleologie und des Mechanismus können nur dann in der Naturbetrachtung neben einander bestehen, wenn sie in einem einzigen oberen Prinzip zusammenhängen, dessen verschiedene Seiten sie repräsentieren. „Das Prinzip, welches die Vereinbarkeit beider in Beurteilung der Natur nach denselben möglicli machen soll, mufs 111 das, was aufserhalb beiden, mithin auch aufser der mög-

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liehen empirischen Naturvorstellung liegt, von dieser aher doch den Grund enthält, d. i. ins Üher si n nliche, gesetzt und eine jede heider Erklärungsarten darauf hezogen werden" (425). An ehen- demselben Dinge der Natur lassen sich nicht heide Prinzipien gleich- zeiti^r von uns denken. Wir können nicht die mechanische Be- trachtungsart zugleich mit der teleologischen anwenden, die eine RrkUirungsart schliefst die andere aus, und wenn wir ein Naturding nach beiden beurteilen wollen, so müssen wir erst den Gesichtspunkt wechseln, wobei denn jene Prinzipien stets gesondert neben einander herlaufende Reihen hiklen (424). AVenn trotzdem beide gleich- berechtigt und folglich Mechanismus und Teleologie zugleich wirklich sind, so' steht zu vermuten, dafs ihre Vereinigung zu einer einzigen Gedankenreihe nicht an sich, sondern nur für unsern menschlichen Verstand unm()glich sei (431); dafs es folglich ,.blofs eine gewisse Zufälligkeit der Beschaffenheit" unseres Verstandes sei, die uns daran hindert, sie in ilirer Identität zu fassen (418). Daraus würde dann folgen, dafs wir nur von dieser Eigentümlichkeit unseres Er- kenntnisvermögens zu abstrahieren und die wesentlichen Kaktoren des Denkens überhaupt zur Einheit zusammenzufassen brauchten, um uns eine Vorstellung von jenem höheren Prinzip zu machen, welches die beiden für uns verschiedenen Prinzipien als seine Momente in sich

enthält.

Worin besteht nun diese Eigentümlichkeit unseres Erkenntnis- vermögens? Darin, dafs zum Zustandekommen einer Erkenntnis in uns „zwei ganz heterogene Stücke-' gehören. Verstand für Begriffe und sinnliche Anschauuni? für Objekte, die eben diesen Begriffen korrespondieren. Infolgedessen ist es für uns ununii^^änglich not- wendig, Möglichkeit und Wirklichkeit der Dinge zu unterscheiden; denn diese Unterscheidung des blofs Möglichen vom A\'irklichen beruht darauf, „dafs das erstere nur die Position der Vorstellung eines Dinges respektiv auf unseren Begriff und überhaupt das Ver- mögen zu denken, das letztere aber die Setzung des Dinges an sich selbst (auCser diesem Begriffe) bedeutet," sodafs wir also „etwas immer noch in Gedanken haben können, ob es gleich nicht ist, oder etwas als gegeben uns vorstellen, ob wir gleich noch keinen Begriff davon haben" (414 f.). „Unser Verstand ist ein Vermi^gen der Begriffe, d. i. ein diskursiver Verstand, für den es freilich zutallig sein muls, welcherlei und wie sehr verschieden das Besondere sein mag, das ihm in der Natur gegeben werden und das unter seine Begriffe gebracht werden kann" (411)). Notwendig ist an ihm nur seine allgemeine Form, und es besteht eben (bis AVesentliche hcines Funktionierens darin, die Besonderheit des von aufsen emi.fangenen

II. Die kritische Naturphilosophie.

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Stoffes in diese Allgemeinheit seiner apriorischen Begriffe einzu- ordnen. So kommt es, „dafs in der Erkenntnis durch denselben durch das Allgemeine das Besondere nicht bestimmt wird, und dieses also von jenem nicht abgeleitet werden kann" (ebd.). Ihm mufs zunächst in der empirischen Anschauung das Einzelne und Besondere gegeben sein, von dem aus er dann zum abstrakt-Allge- meinen („analytisch-Allgemeinen-') gelangt; er ist folglich aufser Stande, ein reales Ganze der Natur sich anders, denn als Wirkung der konkurrierenden bewegenden Kräfte der Materie vorzustellen (•420). Eine solche Vorstelluiigsart ist die mechanische, die somit die unserem Verstände eigentlich gemäfse ist. „Aber es kommt auf solche Art kein Begriff von einem Ganzen als Zweck heraus, dessen innere Möglichkeit durchaus die Idee von einem Ganzen voraussetzt, von der selbst die Beschaffenheit und AVirkungsart der Teile abhängt, wie wir uns doch einen organisierten Körper vorstellen müssen" (421). Denkt sich jedoch unser V^erstand ein Ganzes als bestim- menden Grund der Verknü])fung der einzelnen Teile, so ist dies nicht das wirkliche Ganze, d. h. dasjenige Ganze, welches die Verknüpfung faktisch vollzieht, sondern es ist nur ein mögliches Ganzes, es ist mit andern AVorten nur die Vorstellung oder Idee des Ganzen, die wir als Grund der Möglichkeit jener Verknüpfung uns vorzu- stellen vermögen, eine ideale, nicht die reale Ursache, die beide somit infolge der eigentümlichen Beschaffenheit unseres Verstandes für uns stets getrennte Begriffe sind (420).

Nun können wir uns aber auch ein von der Sinnlichkeit unter- schiedenes und davon ganz unabhängiges Erkenntnisvermögen, „ein Vermögen einer vcdligen Spontaneität der Anschauung." d. h. einen „Verstand in der allgemeinsten Bedeutung" denken, der mithin nicht diskursiv, wie der unsrige, sondern intuitiv ist (AiÜ). Für einen solchen V'erstand würde jene Zufälligkeit nicht existieren, die für unsern Verstand darin liegt, dafs er eines ihm selbst fremden Stoffes von aufserhalb bedarf, seine ganze Funktionsart wäre vielmehr absolut notwendig, weil er ja nur mit sich selber zu thun hat. Für ihn würden folglich auch Anschauung und Begriif, Möglichkeit und Wirklichkeit nicht auseinanderfallen, sondern es würde für ihn heifsen: „alle Objekte, die ich erkenne, sind (existieren); und die Möglichkeit einiger, die doch nicht existierten, d. i. die Zufälligkeit derselben, wenn sie existieren, also auch die davon zu unterscheidende Notwendigkeit würde in die Vorstellung eines solchen AVesens gar- nicht kommen können" (410). Demgemäfs würde er auch vom konkret- (synthetisch-) Allgemeinen, von der Anschauung eines Ganzen als eines solchen zum Besonderen, vom Ganzen zu den Teilen gehen;

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die M()glicbkeit der Teile (ihrer Beschaffenlieit und Verbindung nach) würde bei ihm wirklich vom Ganzen abhängen. In einem solchen Verstände gäbe es keinen Unterschied zwischen der idealen und realen Ursache, zwischen der mechanischen und teleologischen Verknüpfung : Zweck und Ursaclie wären in ihm Eins, und die Ver- einigung der kausalen und teleologischen Gedankenreihe würde von ihm als etwas Selbstverständliches vollzogen, welche unserm diskursiven Denken ewig unerreichbar ist (418 421).

Giebt es einen solchen intellectus archetypus im Gegensatze zu unserm diskursiven,, der Bilder bedürftigen intellectus ectypus? Wenn es ilm giebt. so wäre die Frage gelöst, wie Mechanismus und Teleo- logie neben einander bestellen und doch sich nicht widersprechen können. Sie wären nändich alsdann nur die herausgesetzten, ver- selbständigten Momente eines und des nändichen l'rinzips der logischen [Notwendigkeit,, ,. welches sich von der einen Seite gesehen als (anscheinend tote) Kaus:dität der mechanischen Natur- gesetzlichkeit, von der anderen Seite als Teleologie darstellt. Was dort gesetzmäl'sige AVirkung einer Ursache genannt wird, heii'st hier beabsichtigte Folge des angewandten Mittels; die Finalität von hinten gesehen erscheint als Kausalität, und die Kausalität, so wie sie mit ihrem Wirken zu einem gewissen (interimistischen) Abschlufs ge- diehen ist, erweist sich hinterdrein allemal als Finalität, wenn man auch während des mechanischen Prozesses gar nichts davon gemerkt hatte.*'*) Wir köimen nur sa^\en: ein solclier Verstand läfst sich blol's denken; die Idee desselben enthält keinen Widerspruch (421). Ja, wir müssen ihn sogar denken (41!i)' er ist eine für uns ..unentbehr- liche Vernunftidee'' (41 f), 423): er giebt den beulen verschieden- artigen Erklärungsprinzipien, die zur v()lligen Erkenntnis der Natur gleich unerläfslich sind, erst ihre objektive Berechtigung, insofern durch ihn „wenigstens die Möglichkeit, dafs beide auch objektiv in einem Prinzip vereinbar sein möchten (da sie Erscheinungen be- treffen, die einen übersinnlichen Grund voraussetzen), gesichert ist" (42(3). Wir sollen die Natur sowohl nach mechanischen, wie nach teleologischen Prinzipien beurteilen, sie also für ein linalkausales System ansehen. „Wenn der archetypische Verstand die Natur als ein einheitliches hnnlkausales System schauend denkt, und alles was er denkt, zugleich als wirklich setzt, dann wird sie eben dadurch auch als reales tinalkausales System geschaffen."**)

Oben liatte uns die zweckmäfsige Beschaffenheit der Natur rein

*J V. Hartmanii: Philosophie d. Unbewufsten III. 46(H'. II. i4.^— 451. **) Ders.: Kants Erkenntnistheorie u. Metaphysik 259.

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als solche zur Annahme eines übersinnlichen Grundes derselben ge- führt, ohne welche die Beschaffenheit der Organismen wenigstens sich nicht erklären liefs. Wir hatten aber auch gesehen, dafs die Frage nach der Einheit in der Zweckverbindung schlechterdings unbeantwortet bleibt, ,.wenn wir jenen Urgrund der Dinge nicht als einfache Substanz und dieser ihre Beschaffenheit zu der spe- zifischen Bescliaffenheit der auf sie sich gründenden Naturformen, nämlich der Zweckeinheit, nicht als einer intelligenten Sul)stanz, das Verhältnis aber derselben zu den letzteren (wegen der Zufälli<T_ keit, die wir an allem, was wir uns nur als Zweck möglich denken) nicht als das Verhältnis einer Kausalität vorstellen" (4:U). AVir sind nun, indem wir unseren Ausgangspunkt von der Erwägung nahmen, dafs Mechanismus und Teleologie in einem gemeinschaft- lichen übergeordneten Prinzip wurzeln müssen, zu einer näheren Vorstellung jener Intelligenz gelangt, die wir der einheitlichen Substanz zuschreiben müssen. Da Kant den Pantheismus nur in der Form des Spinozismus kennt und diesen zur Erklärung des Problems un- brauchbar findet, so bezeichnet er seine eigene Anschauung vom Absoluten einfach als Theismus, obwohl ilm eine genauere Erwäffunf»- dieses Punktes darauf hätte führen müssen, dafs der göttliche Ver- stand, wie er ilm bestimmt hat. nicht bewufst funktionieren, und folglich das Absolute auch nich t Pe rs ön lichkeit sein k ö n n e.

Es ist im Interesse der Naturphilosophie sehr zu bedauern, dafs Kant diese Folgerung nicht selbst gezogen liat, obwohl dieselbe doc'h unzweideutig in seinen Prämissen enthalten ist. Denn das ist ja gerade einer der Haupt.ii^ründe, der die Naturforscher gegen die Natur})hil()S()pliie mifstrauisch macht und sie gegen ;dle Si)ekidation auf Grund naturwissenschaftlicher Pesultate einzunehmen pllegt, dafs sie fürchten, dem theologischen Begriffe des Wunders anheimzufallen, wenn sie die Perscinlichkeit des Absoluten anerkennen. Ein ])ersön- liches Absolutes ist ein willkürliches Absolutes, wenn anders dies Wort einen Sinn haben soll; ein solches aber schliefst alle Natur- gesetzmäfsigkeit aus oder macht sie doch zu einer l)lofs zufälligen Gesetzmäfsigkeit, wobei man niemals sicher sein kann, dal's sie nicht im nächsten Augenblicke aufgehoben oder von Gott durchbrochen wird. Aber selbst abgesehen hiervon, macht der innere Widerspruch, woran jener Begriff leidet, ihn absolut ungeeignet, als abschliefsendes Resultat in einer Wissenschaft zu dienen. Gesteht doch selbst ein Theologe, wie A. E. Biedermann ein: „Die Naturforschung, die als Wissenschaft mit dem Begriff des Naturgesetzes steht und fällt, hat es in allem Einzelnen nur mit dem Naturgesetz und nirgends

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mit dem Willen Gottes zu thun. Diesen setzt der Naturforscher, wenn er zugleich religiös und ein vernünftiger Denker ist, als ein- heitlichen Grund für alle Naturgesetzmäfsigkeit voraus. Thut er es in der Form, Gott habe am Anfang bei der Weltschöj)fung das Naturgesetz gegeben und darnach laufe sie nun mit innerer Not- wendigkeit, so hat er den göttlichen AVillen wohl als persönlichen, aber nicht zugleich als absolut gedacht. Thut er es aber in der Form, dafs er den göttlichen Willen als den in sich einheitlichen durch die Totalität aller Momente des endlichen Daseins sich ver- mittelnden Grund der gesamten Bildlichkeit auffafst, so hat er den göttlichen Willen wohl absolut, aber nicht mehr persönlich gefafst. Nur eins von beiden, aber nicht beides zusammen."*) Der theistische Begriff des persönlichen A bsoluten ist ü b e r h a u p t kein wisse n - s c h a f 1 1 i c h e r , sondern ein vermeintlich religiöser Begriff, der nur deswegen für notwendig ausgegeben wird, weil die lleligion derjenigen, die eine solclie Behauptung auss[trechen, sich zufällig gerade zu dieser Vorstellung bekennt.**)

Sieht man hiervon ab, so kann freilich auch der Theismus, wie Kant ihn nennt, die Möglichkeit der Xaturzwecke, als einen Sclilüssel zur Teleologie, nicht dogmatisch begründen; „denn da müfste aller- erst die Unmöglichkeit der Zweckeinheit in der Materie durch den blofsen Mechanismus derselben bewiesen werden" (407). Wir können die Existenz des Urwesens nicht mit apodiktischer Sicherheit er- harten, weil uns das nur bei Erfahrungsbegriffen möglich ist, das ürwesen uns jedoch nicht in der Anschauung gegeben ist, ja, über- haupt niemals gegeben werden kann (4 ];")), oder weil der „archi- tektonische Verstand" eine ganz andere Art von ursprünglicher Kausalität als die Erfahrungskausalität des Mechanisnms darstellt, eine Kausalität, die gar nicht in der materiellen Natur oder ihrem intelligiblen Substrat (den transcendenten Monaden) enthalten sehi kann (401). Der übersinnliche RealiJ'rund ist, wie schon sein Begriff sagt, transcendent (426), er ist „überschwänglich" (410); nichts- destoweniger ist es eine „unerläfsliche Forderung der Vernunft," ihn als unbedingt notwendig existierend anzunehmen (ebd.). „Objektiv können wir also nicht den Satz darthun : es ist ein verständiges ürwesen, sondern nur subjektiv" für unser Erkenntnisvermcigen (41 1). Aber das genügt auch völlig, um ihn in die Keihe der wissenschaft- lichen Begriffe mit aufzunehmen und ihm auch eine indirekte objektive

*j A. E. Biedermann: Christliche Dugmatik (löGf-. 2. Auli. 1^84—85.) 13d. 11. 463 1.

**) Vgl. mein Werk: „Die deutsehe Spekulation seit Kant" u. s. w.

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Realität zu sichern, wofern wir uns nur nicht mit dem Rationalisten Kant darauf versteifen, hypothetische Annahmen überhaupt aus der Wissenschaft auszuschliefsen. Entschieden unrichtig jedoch ist es, wenn Kant den übersinnlichen liealgrund deshalb als Erklärungs- prinzip verwirft, weil wir uns von ihm ,. nicht den mindesten be- jahenden Begriff machen," „ihn durch kein Prcädikat näher bestimmen" könnten (425). Jener Begriff ist so wenig gänzlich unbestimmt, und Kant selbst hat ihn mit den oben angegebenen Prädikaten so aus- reichend bestimmt, dafs dieser Einwand nicht besser ist, als >venn Jenmnd die Annahme eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen zwei Erscheinungen aus dem Grunde glauben würde, leugnen zu müssen, weil wir ja die Kausalität nicht eigentlich wahrnehmen, sondern dasjenige, was wir wahrnehmen, immer nur die blofse Auf- einanderfolge der Erscheinungen ist (Hu nie).

Wir gingen von der Untersuchung der Natur, als subjektiver Erscheinung, aus und fanden, dafs alles, was Kant an Resultaten zu Tage fördert, nur einen Sinn bekommt, wenn man das Wort Natur in transcendentem Sinne als Reich der Dinge an sich betrachtet, das als solches den bestimmenden Grund und das Wesen der Natur in immanentem Sinne bildet. Wir gelangten auf diesem Wege zu einer (wenngleich hypothetischen) Erkenntnis der transcendenten Welt und bestimmten, indem wir in der Richtung der kantischen Gedanken weiter gingen, das Ding an sich als Monade, d. h. als individualisierten Willensakt, der eine gewisse (auf Raumverhältnisse bezügliche) Vor- stellung (Idee) realisiert. Jetzt erfahren wir, dafs auch die trans- cendente Natur noch nicht das „Wesen" in eigentlichem Sinne ist, dafs also auch die Bestimmung als Monade nur eine vorläufige Geltung hatte, wofern man die Monade als Substanz versteht, dafs es in der transcendenten Natur überhaupt keine Substanzen giebt wir erfahren, dafs auch die transcendente Natur oder das Reich der Dinge an sich nichts weiter als Erscheinung ist, eine Erscheinung, die nunmehr, als Gegensatz und im Unterschiede von der subjek- tiven Erscheinung, nur als ob j ektive P]rscheinung bezeichnet werden kann. '') Das übersinnliche Substrat der Natur, sagt Kant, ist „das Wesen an sich, von welchem wir blofs die Erscheinung kennen" (435. 421 f.). Das eigentliche Wesen, der letzte Grund auch der objektiven Erscheinungswelt, dies ist jenes Ürwesen, worin .Mecha- nismus und Teleologie, subjektive und objektive Erscheinungswelt,

*) Vgl. über den Unterschied der subjektiven und objektiven Erscheinung: V. Hart mann: Krit. Grundig. d. transc. Realismus lo 15. Thilosojjhie d. Unbewufsten II. 171.

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worin überhaupt alle Gegensätze aufgehoben und zur konkreten Einheit zusammengefafst sind, dies ist diejenige Substanz, der gegen- über alle; übrigen Substanzen nur unselbständige Scheinsubstanzen sind, ist mit einem Worte die absolute Substanz, und alles, was wir aufser ibr betrachtet haben, sind nur Modi. Glieder, Funktionen derselben, in denen jene ihren iinieren Reichtum

offenbart.

Solange wir diesen höchsten Begriff nocli nicht gewonnen hatten und das Ding an sich in seiner Isolierung betrachteten, solange erschien uns die lebendige Monade als der Träger alles Seins und der Hylozoismus als der Weisheit letzter Schlufs. Mit der Er- kenntnis, dafs auch die Monade blofs Erscheinung, nicht selbst ein substantielles AVesen ist, sinkt auch der Hylozoismus von seiner vermeintlich aljsoluten Höhe zu einer blofs relativen Bedeutung herab, und wir sehen uns genötigt, die einzelnen Momente, die wir früher an der Monade unterscheiden mufsten, als Momente des all- einen Wesens zu begreifen, das die V^ielheit der Monaden als seine Besonderung in sich entiiält. Nun sahen wir, wie dasjenige an der Monade, was eigentlich iliren Unterschied gegenüber den anderen ^lonadcn ausmacht oder was ihr individuelle Bestimmtheit verleibt, wir sahen, wie dieses principium iudividuationis der Monade die Idee, d. h. die bestimmte Vorstellung ist, die nur sie und keine andere als ihren Inhalt trägt. Diese bestimmte Individiialidee ist, wie sich jetzt zeigt, nicht die Idee eines individuellen Wesens, sondern sie ist eine Idee des Absoluten selbst, und die Gesamtheit aller Tndividualideen der Monaden ist die Universalidee oder abso- lute Idee, soweit sie sich auf die Monaden bezieht, die als solche einen Inhalt der göttlichen Intuition, ein ewiges Objekt des absoluten intuitiven Verstandes darstellt. Die Individualideen stim^men, als Ideen, sämtlich darin überein, dafs sie nur J^irtialideen in der einen absoluten Idee, Bestimmungen eines einheitlichen absoluten An- schauungsnktes ])ihlen. Darum mufs auch ihre Realisation einheitlich ausfallen, und ist die ^atur, auch im Ganzen betrachtet, ein einheit- liches System oder Makroorganismus. Aus demselben (Trunde müssen auch, obwohl doch jede einzelne Monade ihren besonderen Raum realisiert, alle Monaden zusammen nur einen einzigen kontinuier- lichen Raum, nämlich den objektiv-realen Raum aus sich heraus- setzen. Die Materie aber ist darum der Grund und so zu sagen die Unterlage aller Wirklichkeit, weil sie das erste unmittelbare Produkt der einfachsten und darum abstraktesten Partialideen, d. h. der Elementar- oder .Monatlenideen darstellt, worin die absolute Idee sich letzten Endes ghedert.

II. Die kritische Naturphilosophie.

441

So können wir Hegel beistimmen: „Es ist Eine Idee im Ganzen und in allen ihren Gliedern, wie in einem lebendigen Individuum Ein Leben, Ein Puls durch alle Glieder schlägt. Alle in ihr hervortretenden Teile und die Systematisation derselben geht aus der Einen Idee hervor; alle diese Besondern sind nur Spiegel and Abbilder dieser Einen Lebendigkeit, sie haben ihre AVirklich- keit nur in dieser Einheit, und ihre Unterschiede, ihre verschiedenen Bestimmtheiten zusammen sind nur der Ausdruck der Idee und die in derselben enthaltene Form. So ist die Idee der Mittelpunkt, der zugleich die Peri])lierie ist. der Lichtquell, der in allen seinen Expansionen nicht aufser sich kommt, sondern gegenwärtig und immanent in sich bleibt; so ist sie das System der Notwendigkeit, die damit ebenso ihre Freiheit ist."*)

Aber die Monade ist nicht blofs Idee, sie ist ebenso gut zugleich auch W i 1 1 e ; die Idee würde niemals real sein, w^enn sie nicht durch diesen Willen erst zur Wirklichkeit erhoben wäirde. Wir haben früher auseinandergesetzt, wie Idee und Wille gleichsam wie Inhalt und Form sich zu einander verhalten, wie eins ohne das andere nicht wirklich sein kann. Wenn wir uns damals genötigt fanden, diese Momente cds verschiedenartige auseinanderzuhalten und die Monade als die Vereinigung beider sich ergab, so werden wir nuinnehr nicht anstehen, dem Absoluten, als dem Träger der Monade, neben der absoluten Idee zugleich auch den absoluten Willen zuzuschreiben, der die Gesamtheit der einzelnen Monadenwillen in sich schliefst. Was Kant nur aus Gründen der Moral aus dem Begriff des Absoluten folgert, dafs Verstand und Wille seine beiden notwendigen Attribute seien (V. J:U. 148), das haben wir sonach mit dem gleichen Rechte auf dem Boden der Naturphilosophie abgeleitet und sind damit ein für alle Mal davor geschützt, den Begriff des Absolutc^n in einseitiger W^eise blofs als Idee, wie Hegel, oder blofs als Wille, wie Schopenhauer, zu bestimmen. Sind aber Idee und W^ille, die konstituierenden Momente der Monade, beide Bestimmungen im Absoluten selbst, dann erst verstehen w^ir v(;llig, wie die Monade ihrem ganzen Dasein nach im Absoluten hängt, wie die Natur, als das Reich der Monaden, ganz und gar in der Sphäre des absoluten AVesens beschlossen bleibt, ohne jemals aus ihr herausfallen zu können, dann erst ist die Einheit von Natur und Gott wirklich begriffen, die zu erkennen und in Worten auszudrücken, das unbewufste Ziel aller philosophischen Be- trachtung bildet.

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442

B. Kant als Naturphilosoph.

c. Der Übero-ang von den metaphysischen Anfangs- gründen der XaturAvissenschaft zur Physik.

Nach Abfassung seiner „Kritik der Urteilskraft" wandte sich Kant zunäclist der näheren Ausarbeitung seiner praktischen Philo- sophie zu. Die Schrift über „Die Religion innerhalb der Grrenzen der blofsen Vernunft" vom Jahre 1793 enthielt seine Eehgionsphilosophie. und mit der schon erwähnten „Meta- physik der Sitten" brachte er endlich im Jahre 1797 das Ge- bäude seiner Etliik zur Vollendung. Die Ausarbeitung dieser und anderer Schriften, z. B. über den „Streit der Fakultäten," (ITHS) zehrte seine von jeher nur schwachen Kräfte auf. Bereits im selben Jahre 1798 nahm der Pbilosoph in seiner „Anthro- pologie in pragmatischer Hinsicht" vom grofsen Publikum für immer Abschied, nachdem er seine Privatvorlesungen nn der Universität im Jahre 179;"), seine Lehrthätigkeit überhaupt im Jahre 1797 eingestellt hatte.

Überblickt mau, was Kant bis dahin zustande gebracht batte, so glaubt man, vor einem in sich vollendeten Ganzen zu stehen, und K u n o F i s c h e r scheint Recht zu haben : Es ist nicht abzu- sehen, was zu leisten ihm noch übrig geblieben war."*) „Mit der Kritik der reinen Vernunft, der praktiscben Vernuuit und der Urteilskraft waren seit dem Jahre 17!)() die Grundlagen der kantischeii Lehre gelegt und (iüenthch beurkundet. Man braucbt nur die Ein- leitungen zur Kritik der Urteilskraft zu lesen, um sich zu über- zeugen, dafs Kant selbst sein System in der Haui)tsache für ge- scblossen und aus.^ebaut liielt, nachdem er die darin befindliche „Lücke" zwischen der Kritik der reinen und der pr:iktischen Ver- nunft, zwischen seiner Natur- und seiner Freiheitslehre durch die Kritik der ITrteilskraft ausgefüllt hatte."**) Deimoch ist diese Ansicht nur aus einem gründlichen Verkennen des treibenden Prin/ii)S und des ursprünglichen und eigentlichen Zieles der ganzen kantischen Philo- sophie entsprungen. Gerade die „Kritik der Urteilskraft" hätte Fischer vor einem solchen Urteil bewahren sollen. In ihrer „Vorrede" leugnet Kant, dafs eine derartige Kritik in einem „System der reinen Pliilosophie" einen besonderen Teil ausmache und meint, sie gehöre nur zur Vollständigkeit einer Kritik der reinen Vernunft, d. i. unseres Vermögens, nach Prinzi])ien a priori zu urteilen. „Denn", fährt er hier fort, „wenn ein solches System

*) Kuno Fischer: Uesch. d. neueren Philosophie Bd. II I. 84. **) Ders.: „Das Streber- und Oründertuin in der Litteratur: Vade mecuni für Herrn Pastor Krause in Hamburg" (1884) 14.

U. Die kritische Naturphilosophie.

443

unter dem allgemeinen Namen der Metaphysik einmal zustande kommen soll (welches ganz vollständig zu bewerkstelligen, möghcli und für den Gebrauch der Vernunft in aller Beziehung höchst wichtig ist), so mufs die Kritik den Boden zu diesem Gebäude vorher so tief, als die erste Grundlage des Vermögens von der Er- fahrung? unabhängiger Prinzipien liegt, erforscht haben, damit es nicht an irgend einem Teile sinke, welches den Einsturz des Ganzen unermeidlich nach sich ziehen würde" (V. 174 f.). Also auch die „Kritik der Urteilskraft", jLJ^anz ebenso wie die der praktischen und der reinen Vernunft, ist blofse Vorarbeit zum „System der reinen Philosophie" und keineswegs schon die Ausiülirung selbst, woraus sich denn, da jene Ausführung „höchst wichtig" sein soll, der nahe liegende Schlufs ergie])t, dal's Kant bei allen diesen Arbeiten als eigentliches Ziel nur immer jene allgemeine Metaphysik im Auge hatte. So spricht er es denn am Schlüsse jener Vorrede auch geradezu selbst aus : „Hiermit endige ich also mein ganzes kritisches Geschäft. Ich werde ungesäumt zum Doktrinalen schreiten, um, wo möglich, meinem zunehmenden Alter die dazu noch einiger- mafsen günstige Zeit noch abzugewinnen. Es versteht sich von selbst, dafs nach der Einteilung der Philosophie in die theoretische und praktische und der reinen in eben solche Teile, die Meta- physik der Natur und die der Sitten jenes Geschäft ausmachen werden" (ITl). vgl. auch Kants Brief an M. Herz vom 2(). Mai 1 7SJj Vin. 714).

Im xVnfange seiner philosophischen Entwickelung batte Kant, der von der Naturwissenschaft ausging, nur die apriorische Be- gründung dieser letzteren im Auge, und sein Streben ging lediglich auf die (irewinnung einer Naturpbilosophie. Wesentlich im Hin- blick auf diese, die, eben als Pliilosophie, aus lauter apriorischen Sätzen bestehen sollte, stellte Kant seine berühmte Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori und ])eantwortete er sie durch seine pliänomenalistische Theorie. Aber gerade dieser Phäno- menalismus, der die Grundlagen der Moral und Ileligion zu unter- graben schien, rückte ihm zugleich das Problem der Ethik näher und bewirkte, dafs von nun an seinem naturphilosophischen Interesse das ethische an die Seite trat und beide eine durchaus gleichmäfsige Behandlung in einem System aller apriorischen Prin- zipien überhaupt verlangten. Damit sank die Metaphysik der Natur, die ursprünglich gleichsam selbst Substanz gewesen war, neben der Metaphysik der Sitten zu einem blofsen Attribut an jenem System der reinen Philosophie herab, und dieses wurde nunmelir in den Augen Kants zum Absoluten.

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B. Kant als Naturphiloscph.

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Die „Metaphysik der Sitten" zerfiel in die „Metaphysischen Anfangsj> runde der Rcchtslelire" und in die „Metaphysischen An- fangsgründe der Tugendlelire." Beide verhielten sich zur „Kritik der praktischen Vernunft*', wie die „metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft" sicli zur „Kritik der reinen Vernunft" ver- liielten. d. h. sie stellten die Anwendung der allgemeinen theoretischen und praktischen Prinzipien auf die l)esonderen Fälle dar. Und doch bestand hier noch «nn Unterschied. Denn den Prinzipien der praktischen Vernunft lieisen sich die Ersclieinungen des Rechts- lebens und der privaten Tugenden ohne weiteres unt(U'ordnen, so dafs die Darstellung ihrer metaphysischen Anfangsgründe den Begriff einer Metaphysik der Sitten überhaupt erschöpfte; konnte aber dasselbe aucii von den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft behauptet werden? Wie dort in der Metaphysik der Sitten ein System der Rechte und Tugenden errichtet war. so hatte Kant auch in seinen metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft den Begrifi* der Materie a ])riori zu konstruieren und auf mathematisch-mechanischen Prinzii)ien ein ganzes System der Physik aufzubauen versucht; aber w^a- dieser Versuch schon als vollendet zu ^betrachten ? Zur Physik im weiteren Sinne ge- hr)rten doch aucli die organischen Naturgesetze, und von diesen war in jenen Anfangsgründen nicht die Rede gewesen. Allein selbst wenn man die Kritik der teleologischen Urteilskraft, wo Kant den Begriff des Organismus entwickelt und die Zweckbetrachtung auf das teleologische Urteilsvermögen der menschlichen Vernunft ge- gründet hatte, selbst wenn luan diese mit zu den Anfangsgründen rechnete und alles, was sich auf die besonderen Gesetze der Natui- bezog, allgemein als metaphysische Anfangsgründe der Natur- wissenschaft verstand, so erschöpften die letzteren doch noch nicht den Begriff der Metaphysik der Natur überhaupt.

Die „Metaphysischen Anfangsgründe" hatten nur die allgemeinsten Bewegungsgesetze und die allgemeinsten Eigenschaften der ^Materie am Iji^tfaden der alli-emeinen Naturgesetze, wie die reine Natur- wissenschaft sie dargeboten hatte, abzuleiten vermocht, aber sie hatten Halt machen müssen vor den Besonderungen der ^Materie und mit aller ihrer a])riorischen F]rkenntnis wieder die Miiglichkeit der A^^gregatzustände, noch die der Kohiision. lux h die des Chemis- mus u. s. w. einsehen kihinen. Die Kenntnis all dieser Erschei- nuni^en hatte sie vor der Emi)irie erborgen müssen und sie hatte froh sein müssen, wenn sie sich wenigstens hatte sagen kr>TineTi. dafs ihre eigene allgemeine Theorie zu <h r Erfahrung nicht 'Tcradezu im Widerspruche stände. Und doch hatte es die Physik

II. Die kritische lSJalurphilosox)hie.

445

fast ausschliefslich mit jenen Besonderungen der Materie zu thun. und es schien wenig damit für sie erreicht zu sein, dafs die Materie nur ganz im allgemeinen nebst ihren Bewegungsgesetzen a priori ab- geleitet w^ar. Die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissen- schaft standen mit denen der Rechts- und Tugendlehre nicht auf einer Stufe; sie reichten in die Sphäre der Besonderungen nicht hinab. Es klaffte ein Abgrund zwischen Mt^taphysik und Physik, und ehe hier keine „Brücke" geschlagen war. konnte die Meta- physik der Natur nicht als vollendet angesehen werden und war nicht daran zu denken, die sämtlichen bis dahin entwickelten apriorischen Prinzipien zur Einheit eines vollständigen Systems zusammenzufLissen. Dafs Kant in den letzten Jahren seines Lebens mit der Aus- füllung jener Lücke in seinem System beschäftigt war, hat er selbst bestätigt. So klagt er in seinem Brief an Garve vom 21. Sep- tember 1798, dafs es ihm nicht vergönnt sei, „den völligen Ab- schlufs seiner Rechnung in Sachen, welche das Ganze der Philo- sophie betreffen, vor sich liegen und es noch immer nicht vollendet zu sehen" und nennt es einen „tantaHschen Schmerz, der indessen doch nicht hoffnungslos ist." „Die Aufgabe, mit der ich mich jetzt beschäftige, betrifft den ,.Uhergang von den metaphysischen Anfangs- gründen der Naturwissenschaft zur Physik." Sie will aufgelöset sein, weil sonst im System der kritischen Philosophie eine Lücke sein würde. Die Ans])rüche der Vernunft darauf lassen nicht nach; das Bewufstsein des Vermögens dazu gleichfalls nicht ; aber die Befriedigung derselben wird, w^enngleich nicht durch völlige Läh- mung der Lebenskraft, doch durch immer sich einstellende Hem- mungen derselben bis zur hcichsten Ungeduld aufgeschoben."*) Und ebenso schreibt Kant in seinem Brief an Kiese wetter am Pj. Oktober ITDS: „Mein Gesundheitszustand ist der eines alten, nicht kranken, aber doch invaliden, vornehmlich für eigentliche und öffentliche Amtspllichten ausgedienten ]\Iannes, der dennoch ein kleines Mafs von Kräften in sich fühlt, um eine Arbeit, die er unter Händen hat, noch zustande zu Ijringen, womit er das kritische Geschäft zu beschliefsen und eine noch übrige Lücke auszufüllen denkt: nämlich „den l'bergang von den metaphysischen Anfangs- gründen der Naturwissenschaft zur Physik*' als einen eigenen Teil der philosophia naturalis, der im System nicht niangeln darf, aus- ztiarbeiten" (VI IL .Sl3).

Neben diesen Belegen von Kants eigener IJand besitzen wir aber auch noch die Zeugnisse verschiedener Zeit- und Hausgenossen

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^) Altpreufsische Monatsschrift 1^83. 342.

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13. Kant als Naturphilosoph.

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Kants, die uns von jenem letzten AVerk des Philosophen Kunde geben. W a s i a n s k i . der frühere Scliüler und später intimste Haus- freund Kants, derschliefslich alleAno^elegenheiten des letzteren besorgte, berichtet in seinem Schriftchen über „Kant in seinen letzten Lebens- jahren" (1804): „Sein letztes und einziges Manuskript,, das vom Übergange von der Metaphysik zur J'hysik handeln sollte, hat er unvollendet hinterlassen. So frei ich von seinem Tode und von allem dem, was er nach demselben von mir wünschte, sprechen konnte, so ungern schien er sich darüber erklären zu wollen, wie es mit diesem Mjuiuskrii)t gehalten werden sollte. l>;ild glaubte er. da er das Geschriebene selbst nicht mehr beurteilen konnte, es wäre vollendet und bedürfe nur noch der letzten Feile, bald war wieder sein Wille, dals es nach seinem Tode verbrannt werden sollte. Ich hatte es seinem Freunde, Herrn II. W S. (Hofprediger Schultz) zur Beurteilung vorgelegt, einem Gelehrten, den Kant nächst sich sell)st für den besten Dolmetscher seiner Schriften er- klärte. Sein Urteil ist dahin ausgefallen, dafs es nur der erste Anfang eines AVerkes sei, dessen Einleitung noch nicht vollendet, und das der Redaktion nicht fähig sei. Die Anstrengung, die Kant auf die Ausarbeitung dieses AVerkes verwandte, hat den Rest seiner Kräfte schneller verzehrt. Er gab es für sein wichtigstes AVerk aus; wahrscheinlich aber hat seine Schwäche an diesem Urteile grofsen Anteil. ""■•=) Ebenso schreibt Borowski in seiner „Darstellung des Lebens und Charakters Kants*' (1S()4): „Da in Deutschland die Epoche eintrat, in der man seine Spekulation nicht für spekulativ genug erklärte und über ihn hinaus (wie irgend- wo nur vor kurzem gesagt ward) bis zur absoluten Konstruktion des gnifsten Unsinns und Mystizismus hinaufstieg, war sein Kopf nicht mehr iti der Lage, an dem AVirrwarr den mindesten Anteil nehmen zu können. AVohl ihm, dafs er nicht weiter Anteil daran nehmen durfte! Er konnte auch das lange projektierte Werk „Übergang der Tliysik zur Aletaphysik", welches den Schlul's- stein seiner i)hilosophischen Arbeiten sein sollte, nicht beendigen:

antwortete denen, die ihn fragten, was man noch von gelehrten

Arbeiten von ihm zu liofteii liätte: „Ach, was kann das sein. Sarcinas colligerel Daran kann ich jetzt nur noch denken!"**) Die dritte direkte Äurserung ül)er das unvollendete Kantwerk end- lich stammt von doh. Gottfr. Hasse, der in seinen ..Alerk- wiirdigen Äusserungen Kants von einem seiner Tischgenossen" (Jb04)

*) Wasiaiisk i: m. a. O. li) I. **j Borowski: a. a. O. 1S;U'.

II. Die kritische Naturphilosophie. ax-

schreibt; „Schon seit mehren Jahren lag auf seinem Arl)eitstische em handschriftliches Werk von mehr als hundert Foliobo-eu dicht beschrieben, unter dem Titel: „System der reinen Plulosophie in ihrem ganzen Inbegriff", an dem ich ihn oft. wenn ich zum Essen kam, noch schreibend antraf. Er liefs mich es mit Willen mehre Male an- und einsehen und durchblättern. Da fand ich denn, dafs es sich mit sehr wichtigen Gegenständen: Philosophie, Gott. Frei- heit, und wie ich hörte, Iiauptsächlicli mit dem Übergange der Physik zur Metaphysik beschäftige. Dieses AVerk pflegte Kant im vertraulichen Gespräch „sein Hauptwerk, ein chef d'amvre" zu nennen und davon zu sagen, dafs es ein absolutes, sein Svstem vollendendes Ganze, vcillig bearbeitet und nur noch zu redigieren sei (welches letztere er immer noch selbst zu thun hoffte). Gleich- wolil wird sich der etwaige Herausgeber desselben in Acht nehmen müssen, weil Kant in den letzten Jahren oft das ausstrich, was besser war, als das, was er überschrieb, und auch viele AHotria (z. E. die Gerichte, die für denselben Tag bestimmt waren) da- zwischen setzte. Damals hiefs es, dafs es unsrein Herrn Professor Gensichen zur Herausgabe übergeben werden sollte. Jetzt ist es vorläufig dem Herrn Hofprediger Schultz (Kants Kommentator, einem kompetenten Richter) zur Beurteilung kommuniziert, der mich aber versicherte, dafs er darinnen niclit fände, was der Titel verspräche, und zu der Herausgabe desselben nicht raten könne. "'^)

Nach dem Tode Kants am 12. Februar 1804 ging das Manuskript über in den Besitz des Konsistorialrats Schön, der mit einer Tochter von Kants Bruder, Johann Heinrich Kant, ver- lieiratet war. Dieser nahm es als rechtniäfsiger Erbe zu sich nach Dürben in Kurland.**; In die ()ffentlichkeit drang jedoch hiervon keine Kunde, so dafs Schubert, der Herausgeber von Kants Werken, in seiner Biographie Kants im Jahre 1842 das Vorhanden- sein jenes AVerkes zwar erwälmte, sich jedoch veranlafst sah, hinzu- zusetzen: „Dies Manuskript ist aber jetzt spurlos verschwunden."***) Es war ein glücklicher Zufall, der demselben Schubert bei seiner Anwesenheit in Berlin im Oktober ISf)? das verloren geglaubte Manuskript in die Hände spielte. Schubert beeilte sich, über den Fund r)ffentlich Bericht zu erstatten, der im folgenden Jahre

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*) H asse: a. a. 0. 19.

**) Aibr. Krause: Das nachgelassene Werk Immanuel Kants vom Über- gange von den metaph. Anfangsgr. d. Naturw. zur Physik, mit Belegen i.opulär- wissenseliaftl dargestellt (l.s8«) XV. XVI.

***) Kants Werke hrsg. v. Kosenkrantz u. Schubert Bd. XL 'J, JGl.

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B. Kant als Naturphilosoph.

in den „Neuen Preufsischen Provinzial-Blättern«' erschien.*) „Die ganze Ar])eit,'' lieifst es hier, „ist als ein Bruchstück oder eine Vorarheit zu betrachten, über die ich ein vollständiges Urteil ab- zugeben bei der Kürze der mir zur Durchsicht des Manuskriptes vergönnten Zeit mir nicht verstatten mag. Aber der erste Ein- druck scheint ein Urteil zu unterstützen, wie Schultz und

Gensichen es l)ereits vor 58 Jahren gefällt haben."

Noch im selben Jahre verkündigte ein anonymer Artikelfvon H a y m)

in den „Preufsischen Jahrbüchern" als das Ergebnis einer genaueren Durclisicht jener schätz])aren Keste, dafs es sich hier thatsäch- lich um den von Kant geplanten C'bergang von der :\Ietaphysik zur Physik handle: zugleich gab derselbe eine genauere Be- schreibung des Manuskriptes: „Das Ganze, um zunächst bei dem Äufserlichen zu verweilen, besteht aus 12 Konvoluten ungehefteter Foliobogen von festem, grauem Konzeptpapier. Die Bogen, zum Teil äufserst eng und voll beschrieben, sind sorgfältig geordnet und be- zitVert: ihre Zahl wechselt in den verschiedenen Konvoluten von etwa fünf bis zu dreizehn; in einigen befinden sich halbe Bogen: dazwischen liegen zahlreiche Blättchen mit Verweisungen und ander- weitigen Notizen. Als Umschläge dienen akademische Einladungen, Programme, Intelligenzblätter u. s. w., deren Data auf die Gleich- zeitigkeit der Arbeit hinweisen. Auch diese Umschläge sind fast vollständig, wo sich nur eine weifse Stelle finden wollte, und eng beschrieben, wie nicht minder zu jenen Notizen alle zufällig dem Autor in die Hand geratenen Schnit/el Streifen, Briefkouverts u. s. w. aufs Sparsamste benutzt sind. Nun aber hat der Inhalt dieser Bhittchen nichts weniger als einen stetigen Bezug auf das Thema des Werkes. Zuweilen wohl st(")fst man auf Digressionen, die m einem (entfernten Zusammenhang mit demselben stehen, aber viel öfter doch auf ganz selbständige Betrachtungen und Emiälle. Es linden sich Lesefrüchte aus der physikalischen, journalistischen, poli- tischen Tageslitteratur ; es finden sich endlich reine Tagebuchs- und Kalendernotizen, als z. B. Beschlüsse und Erörterungen über Demarchen in akademischen Verhältnissen. Herzenserleichterungen gegen den famosen Lampe, den Diener des Plnh)S(»pheii, Einladungen lind Namen- verzeichnisse von Tischgästen nebst Angabe der zu wählenden Schüsseln, kleine Geldangelegenheiten, milde Spenden. OÜenbar : Alles, was während der vormittägigen Arbeit am Schreibtisch dem Alten durch den (allmählich der Vergefslichkeit verdächtigen) Kopl criii.r. ist hier sogleich schriftlich festgehalten worden, um nur durch

*) a. a. U. 58— Ül.

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IL Die kritische Naturphilosophie.

449

Federzüge von dem übrigen Inlialt gesondert zu werden. Es war. wie Hasse berichtet, die Hoffnung des Alten, die Herausgabe seines Chef d'o'uvre noch selbst besorgen zu können. Damit nun stimmt es durchaus, dafs wir im Gegensatz zu den eben erwähnten Allotriis auch auf Manuskript stofsen, welches entschieden den Charakter des Druckfertigen an sich trägt. Es sind dies Rein- schriften von ganzen Kapiteln, und zwar mehrmals von einer zweiten Hand, mit hin und wieder übergeschriebenen eigen- händigen Emendationen."*j

über den Inhalt des xAranuskriptes will der Verfasser des Artikels sich kein Urteil erlauben, gesteht jedoch: „Unstreitig ist hier die Anstalt gemacht und ein gleichsam ununterbrochener Anlauf ge- nommen zur Lösung der höciisten Fragen, welche die denkende Ver- nunft interessieren können. Es wird bei diesen Versuchen mit jener Gewissenhaftigkeit zu Werke gegangen, die für immer nach Kant genannt zu werden verdient. Kein Schritt wird gethan ohne die strengste, stets wieder von vorn anfangende Rechenschaft vor sich selbst."**) Allein der Verfasser kann zugleich nicht leugnen, wie eben diese Gewissenhaftigkeit den Thilosophen zu endlosen Wieder- holungen geführt hat, wie er immer neuere und schärfere Unter- suchungen anstellt und sich in der Lösung gewisser Aufgaben gar- nicht erschöi)fen zu wollen scheint. „Ebendeshalb jedoch: wie an- ziehend für den Scharfsinn diese mannigfachen Zergliederungen, diese grüblerischen Unterscheidungen sein mögen ~ eben um ihretwillen und mit ihnen scheint die Untersuchung zwar sich zu vertiefen, aber nicht von der zuStelle rücken. Weit entfernt, dafs hier ein extensiver Portschritt und Gewinn oder gar ein höher abschliefsendes Resultat geboten würde: selbst bei den gegebenen xlnalysen wäre sorgfältig zu prüfen, ob und wieviel wir in Kants Werken, namentlich in den „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft^' von dem Inhalt jener Entwickelungen bereits besitzen. Wie dem jedoch sei, selbst blofse Variationen über einige der höchsten Themata der Naturphilosophie müfsten für das Studium der kantschen Lehre, noch mehr für das Verständnis des Geistes ihres Urhebers in holiem Grade instruktiv sein. Es ist derselbe Fall mit dem übrigen Inhalt unseres ^Manuskriptes und vielleicht nicht am w^enigsten mit den schon erwähnten Digressionen und gelegentlichen Äufserungen. Die- selben führen der Sache nach nicht über dasjenige hinaus, was als die Ansicht der kritischen Philosophie hinreichend bekannt ist. Sie

*) Preufs. Jahrbüclier (1858) 81. *♦) Ebd. S->.

D r e w s , Kants Naturphilosophie.

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...^ B. Kant als Naturphilosoph.

sind aber, dünkt uns. ein vorzugsweise ergreifendes Zeugnis dafür, wie sehr diese Ansicht in den, Geiste des Philosophen das Gepräge unwandelbarer Überzeugung erhalten hatte, - um so ergreifender, da es die letzten Fragen alles Daseins, Gott, Freiheit und Unsterb- lichkeit, sind, die hier, an. Rande des Grabes. ini.iuT wieder ge- fragt und immer wieder so beantwortet werden, dafs die Antwort zur neuen Frage wird. Ja. in einigen dieser Aphorismen scheint .km Verfasser eine glücklichere un.l präzisere Formulierung seiner Ansicht gelungen, als da, wo dieselbe im Zusammenhange längerer EntWickelungen vorgetragen wird."*)

Viel mehr als aus diesen allgemein gehaltenen Bemerkungen erfuhr mau aus dem genauen Inhaltsverzeichnis des Manuskriptes, das „ein sachkundiger Verwandter des l'lnl..snpl,en" dem k..n.gs- l,erger Bibli.,tlu.kar Rudolf Reicke mitgeteilt, und welches dieser 11.1 Jahiv l.s(i4 in der „Altiireulsischen Monatsscl.i-.lt ■' veröffent- lichte. Man bekani daraus jedenfalls die Gewifsheit. dafs e... «rofser Teil des Werkes aus blofsen Wiede.liohn.gen bestehe, dals eine Ordnung in ihm nicht vorhanden und keineswegs ein Fertiges gegeben" sei. um es ohne grofse Mühe in den Druck zu geben, und es schien ein schwacher Trost zu sein, wenn Reicke etwaigen hochgesiiannton Erwartungen gegenüber, welche das nachgelassene Kantwerk erregen könnte, sich dal.... äufserte : „Auch etwas Un- fertiges von Kant können wir imiuerlui. noch der Beachtung wert find™, insofern es uns einen Einblick in die geistige Werkstiitte des einst so gewaltigen, jetzt alier von Altersschwäche gebeugten Denkers gewährt."**) Dieser Eindruck wurde in. dahre 18S2 durch Reickes Veröffentlichung eines älteren Schriftstückes nur verstärkt, <las den Titel führt : „Anzeige, den Nachlafs des sei. Kant betreffend." [Nachdem uns ei.ie kurze Übersicht des Hauiitinl.altes gegeben, beifst es hier: „Jedoch luufs man sich nicht vorstellen, dafs jene hundert Bogen diese Materie in einem fortlaufenden Zusainmml.ange enthalten, vielmehr sin.l alle diese Gegenstände sehr oft wiederholt, sodafs das, was wirklich da ist, einzeln genonmic. und i.. gehörige Ordnung gebraclit. kau... zwanzig Bogen betragen würde. H.i. und wieder sind auch Reflexionen über andere Dinge angebracht, •üs z H. über Bufstage, über die Pockeniu.t, über das Fortschreiten der Menschen zum Bessern u. s. w."***) Im selben Hefte der Alt- preufsischen Monatsschrift, in welchem er diese Anzeige veroftent-

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') a. a. I >. 7 i i r. ***) Altpi-. Moiiatsschritt XIX (L-^SJ) 07.

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II. Die kritische Naturphilosophie.

451

lichte, schreibt Reicke, der inzwischen das Manuskript von einer Frau H a e n s e 1 1 , der Tochter des erwähnten Konsistoriah-ats Seh (i n nach dessen Tode zur Aufbewahrung bekommen hatte: „Seitdem ich zuerst über dieses Manuskript auf Grund eines mir mitgeteilten Inlialtsverzeichnisses in der Altpr. Monatsschr. Nacliricht gegeben, sind r: Jahre verflossen; seit IG Jahren ist das ManuskHpt fast ununterbrochen in meinem Verwahrsam gewesen. So sehr icli nun auch Vorjahren noch der Meinung war, es müfste sich eine Dar- stellung gleichsam als Kern aus dem Ganzen herausschälen lassen, so brachte doch bald bei genauerer Prüfung die Frage, welche die rechte Darstellung sei, die Ansicht ins Schwanken. Wiederholt wurde die Sache überlegt, für günstigere Zeit und gröfsere ]Mufse zurückgelegt, zuletzt über anderen Arbeiten vergessen. Jetzt endlich tritt uns die Aufgabe von neuem zwingender als bisher entgegen; aber der Plan, aus den verschiedenen Konvoluten ein Buch zusammen- zustellen, ist aufgegeben ; statt dessen soll das ganze Manuskript in einer Reihe von Artikeln in diesen Blättern erscheinen.^'*)

Dieses Versprechen ist leider nur zum Teil in Erfüllung gegangen. Von den 1:; Konvoluten des kantischen Manuskriptes ist

in der Alt])reufsischen Monatsschrift in den Jahren |,S(S2 84 nur

etwa zwei Drittel zum Abdruck gelangt, und zwar im Bande XTT S. 06—127 das zwölfte Konvolut; S. 25:)— 80.S und 42;')— 479, sowie r)6JJ 62!) das zehnte und elfte Konvolut; im Bande XX S. ;'){)— 122 das zweite Konvolut; S. 842— 37:^ und 4ir)-4r)() das n e u n t e Konvolut ; S. 513 566 das dritte Konvolut: endlich im Bande XXI S. Sl I5f) das fünfte Konvolut; S. :>,0f)-887 und 8S{| 420 das erste Konvolut und 5:^)3— 620 das siebente Kon- volut. Es fehlen mithin das vierte, sechste, achte und dreizehnte Konvolut, deren Verfiffentlichung Reicke zwar zugesagt hat, die aber aus Gründen, welche nicht hierher gehören, unterblieben ist. Aber auch die venJft'entlichten neun Konvolute sind keineswegs in absoluter Vollständigkeit zum Abdruck gelangt: Wiederholungen. die nichts Neues mehr enthielten, sind fortgeblieben, auch einzelne Stichworte und Bemerkungen, die nur für Kant selbst verständlich waren, hat Reicke nicht mit aufgenommen, dafür jedoch in dem, was er giebt, einen so sorgfältigen und alle Eigentündichkeiten so eingehend berücksichtigenden Text geliefert, dafs wir daraus einen vollen Einblick in das Manuskript gewinnen.

AV^is nun den Wert des Manuskriptes in })hilosophischer Be- ziehung anbetrifft, so ist f^r bekanntlich auch neuerdings von den

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verschiedensten Seiten angezweifelt worden. So schrieb Kiino Fischer bereits in der ersten Auilage seiner .Geschichte der neuern Philosophie" Bd. III, die im Jalire 1 8(i0 erschien : „Man mufs sicli den Zustand des Philosophen in seinen letzten Jahren vergegen- wärtigen, wo ihn der Marasmus mit allen seinen Übeln ergriften hatte'und allmählich verzehrte Das Gedächtnis erlosch mehr und mehr, die Muskelkraft erschlaffte, der Gang wurde schwankend, er konnte sich kaum noch aufrecht halten und bedurfte fortwährender Wachsamkeit und Unterstützung. Dazu kam ein beständiger Druck auf den Kopf, den er die Grille hatte, aus der Luftelektnzitat zu erklären, um das Leiden aus äufseren Umständen, nicht aus der Erkrankung seines Gehirns herzuleiten. Die Kraft der Sinne er- losch, die Efslust verlor sich, er war so schwach, dafs er seine ökonomisclien Angelegenheiten nicht mehr verwalten, weder Geld zahlen, noch erhaltene Zahlungen bescheinigen konnte. Zuletzt ver- siegten die Kräfte von Tag zu Tag. Er vermochte nicht mehr seinen Namen zu M-hn-iben, die Buchstaben sah er nicht, die ge- schriebenen vergafs er in demselben Augenblick, die Bilder entfielen seiner YorstclUingskraft. die gew()hnlichsten Ausdrücke seinem Ge- dächtnisse. In diesem Zustande einer allniiihlichen jahrelangen Geistesverwelkung war er so emsig als m()glich mit der Ausarbeitung jenes \\\"rkes beschäftigt, das er mit der YorHebe eines Greises für das späteste Kind bisweilen als sein Hauptwerk bezeichnete.'^*)

Gestützt auf diese Thatsachen und die früheren Urteile des Hof- predigers Schultz und der anderen erwähnten Zeitgenossen Kants glaubte nun Fischer den Wert des kantischen Manuskriptes, „was "die Neuheit des Gedankens, wie die Schärfe und P>ündigkeit der Darstellung betrifft'' ohne weiteres l)ezweifeln zu dürfen. Er kannte ja damals den genaueren Inhalt des Werkes noch nicht, wo der obige Jiericht in den Preufsischen Jahrbüchern eben erst im Jahre 1858 erschienen war. Aber auch die Veröffentlichung des Inhaltsverzeich- nisses durch Ueicke im Jahre bSbi vermochte sein Urteil nicht umzustofseii, sodafs die zweite Auflage seiner Darstellung Kants vom Jahre Ks()!) eine wesentliche Änderung jenes Textes nicht enthielt. Die dritte Auflage des fischerschen Kant erschien zu Ostern 1882. Wenn man bedenkt, dafs die Veröffentlichung des Manuskriptes durch Beicke im Anfange desselben Jahres erst begonnen hatte, und dafs jenes früher v( röti'entlichte Inhaltsverzeichnis niclit eben geeignet war, eine besonders hohe Meinung von dvm nachgelassenen Kaiibverk zu erwecken, so kann man es Fischer kaum zum Vor-

*) K. Fischer: a. a. ü. Sl>.

11. Die kritische Maturphilosophie.

453

wurf machen, dafs er auch jetzt sich noch skeptisch verhielt und sich nicht veranlafst gesehen hatte, seinen Text zu ändern.

Es lag daher gar kein Grund vor, sich üher die Darstellung Fischers in dem Mafse zu entrüsten, wie es Pastor Krause in Hamburg getiian hat, selbst dann nicht, wenn man erwägt, dafs auch Fischers „Kritik der kantischen Philosophie" vom Jahre 1883 das Werk unberücksichtigt gelassen hatte. Zu jener Zeit war ja dessen Verciffentlichung in der Altpreufsischen Monatsschrift noch mitten im Gange, und Fischer glaubte bei seiner Kritik mit Hecht sich nur auf die allgemein zugänglichen und bekannten Zeugnisse des kantischen Geistes, aber nicht auf ein Opus stützen zu müssen, das auf die Fortentwickelung der Philosophie gar keinen Ein- flufs geübt hat. Es lag noch weniger ein Grund vor, den „grofsen Geschichtsschreiber der Philosophie-' patlietisch als einen „Ankläger" Kants hinzustellen, weil er die Mängel und Wider- sprüche bei Kant, sowie er dies bei jedem andern Phi]osoj)hen auch getlian, herausgearbeitet hatte, um daraus die Notwendigkeit einer AVeiterentwickelung von dessen Philosophie zu erweisen und den that- sächlichen Verlauf dieser Entwickelung verständlich zu machen.^') Diese ganze „Schani und Entrüstung," von welcher Krause bei dem oben angefülirten Zweibd F'ischers „gepackt" zu sein be- hauptet,*''^) entspringt nur seiner Meinung, die Gröfse eines Philo- sophen sei vor allem darnach zu bemessen, dafs er sich niemals widersprochen habe, und seiner Ansicht, womit er wohl einzig da- steht, Kant sei dieser „in sich widerspruchslose" Philosoph, welcher das Gebiet der Philosophie so vollständig umgrenzt habe, dafs es un- möglich sei, darüber liinauszugehen.***)

In Anhetracht dessen, dafs die Veröfleiitliehung des . i\l.tnu- skri])tes einen so langsamen Fortgang nahm und aufserdem dasselbe keineswegs vollständig erschien, hatte sich Krause im Jalire 1883 an den preui'sischen Kultusminister gewandt und ihn für eine baldige und unverkürzte Herausgabe des nachgelassenen AVerkes zu interessieren gesucht, f) sich aber dann seihst in den Besitz des Manuskrij)tes gesetzt, um es, wie die Tagesblätter verkündigten, nicht blofs „ganz und unverkürzt" herauszugeben, sondern auch ])hoto- graphieren zu lassen. Beides ist leider nicht geschehen. Statt dessen

*) Alhr. Krause: Iintnanuel Kant wider Kuno Fischer zum ersten Male mit Hülfe des verloren orewesenen kantischen Hauptwerkes: Vom T^horgange von der Metai)hysik zur Physik verteidigt (1.S84). * ) a. a. O. 26. ***) a. a. (). 14. ]2:]ir. f j a. a. 0. 27.

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B. Kant als Naturphilosoi)h.

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hat Krause im Jahre 1884 seine (unter dem Text bereits erwähnte) ,. Anklageschrift" wider Kuno Fischer veröffentlicht und darin, gestützt auf das nachgelassene AVerk, vor allem Fischers Auf- fassung vom Ding an sich y.u widerlegen versucht. Glaubte er doch in jenem Werke eine Bestätigung für seine eigene ganz einseitige und (wenigstens in Hinsicht auf die früheren AVerke Kants) ganz unhistorische Auffassung dieses Kardinalpunktes der kantischen Philosophie zu finden, worauf seine eigenen Fortbildungsversuche dieser Phik)S()phie beruhten, eine Auffassung, wie er sie in seiner ,.P()pulären Darstellung von J. Kants ,.Kritik der reinen Vernunft«' vom Jahre 1882 nälier dargelegt hatte'.^^O (vgl. oben S. 223). Diesen eigentlichen Grund seiner Empörung gegen Fischer hat Krause selbst ausgei)lau(lert. „Es ist," schreibt er in seiner Ver- teidigung Kants, „nicht blois die Liebe zu Imnuinuel Kant, welche mich veranlafst, dieses Unternehmen auszuführen, sondern es ist auch d e r T r i e b d e r S e Ib s t e r h a 1 1 u n g (!). welcher mich dazu zwingt. Meine eigenen AW-rke, insonderlieit „die Gesetze des menschlichen Herzens" bauen sich auf den kantischen Lehren auf. Sind diese unverstanden oder verworfen, so sind es auch die Erkenntnisse, welche die „formale Logik des reinen Gefühles" darbietet."**) Dafs Fischer diesen Angriff nicht auf sich sitzen lassen würde, war bei dem Tone, den Krause gegen iim angeschlagen hatte, voraus- zusehen ; so hatte es sich dieser nur selber zuzuschreiben, wenn die Antwort Fischers in seinem „Vade mecum für Herrn Pastor Krause" nichts weniger als höflich ausfiel.

Wir wären auf diese ganze unerquickliche Angelegenheit nicht weiter eingegangen, wenn sie nicht bei der Beurteilung des nach- gelassenen Kantwerkes docli mit in Frage käme, sofern sich durch das Dazwischentreten Krauses und das Hineintragen seiner eigenen Ideen in die Frage über den Wert des ^Manuskriptes die Zahl von dessen Beurteilern in zwei Lager gespalten hiit, deren Ansichten ziemlich weit auseinandergehen. Da ist es denn niciiL bedeutungs- los, dal's die unendliche Hochschätzung, die Krause dem Manu- skripte zollt, dadurch jedenfalls nicht unverdächtig ist, weil ihm das letztere in mancher Beziehung gelegen scheinen mag. iMan kann es ja Krause nicht verdenken, wenn er für seine eigene AVeltanschauung einen Halt bei demjenigen Philosophen sucht, der gerade bei den Zeitgenossen die höchste Autorität besitzt, und man begreift es,

*j \''^\. auch Krause: Die Gesetze menschl. Herzens, wissenschaltl. dargestellt als d. formale Logik des reinen Gefühls (KsTüj.

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) a. a. O. o.

II. Die kritische Naturphilosophie.

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wie er aus diesem Grunde dazu kommen kann, das nachgelassene Werk in seinem Briefe an den Minister als „die tiefste und folgen- schwerste aller Schriften Kants" zu rühmen. *j Allein man mufs doch Bedenken tragen, dieses Urteil ohne weiteres zu unterschreiben, wenn jenes kantische Werk geeignet sein sollte, den eigenen Schriften Krauses als Deckung zu dienen. Besäfsen wir nur die Veniffent- lichung Beickes, und müfste Jeder seine Kenntnis des Manuskriptes aus dieser einzigen Quelle entnehmen, so könnte man die Sache auf sich beruhen lassen. Da aber Krause selbst „Das nachgelassene Werk Tm. Kants u. s. w. mit Belegen populärwissenschaftlich dar- gestellt" im Jalire 1888 hat erscheinen lassen, und mancher schon der Bequemlichkeit halber nur hieraus dasselbe kennen lernt, so liegt die Gefahr nahe, es möchte eine ganz einseitige und üljer- triebene Vorstellung über das Manuskript zumal in denjenigen Kreisen sich festsetzen, für welche jene ])opuläre Darstellung berechnet ist. eine Vorstellung, die sich eben nur auf das Urteil von Krause gründet.

Auch diese Veröffentlichung nämlich ist leider nicht geeignet, den obigen Verdacht gegen die lleinheit des krauseschen Urteils zu zerstreuen. Statt nämlich, wie er es versprochen liatte, das ganze Werk unverkürzt zum Abdruck kommen zu lassen, hat Krause nur beliebig aus demselben herausgegriffene Stellen veröffentlicht, die auf der linken Seite stehen und hier imr der eigenen rechts abgedruckten populären Darstellung korrespondieren, sodafs es völlig zweifelhaft bleibt, ob die letztere des kantischen Textes wegen, oder ob dieser wegen jener da ist. Dafs hierdurch die historische Kenntnis des nachgelassenen Werkes nicht gefördert wird, ist selbstverständlich. Aber auch die inhaltliche Kenntnis jenes AVerkes bleibt auf dem alten Flecke stehen, weil die eigene Darstellung Krauses viel zu sehr den Stempel ihres Urhebers trägt, als dafs man sie für eine objektive und unbefangene Wiedergabe der kantischen Gedanken ansehen könnte, wie dies auch bereits von Vaihinger und anderen Beurteilern der krauseschen Arbeit ausgesprochen ist. **) Trotzdem besitzt diese Arbeit einen nicht unbedeutenden vorläufigen Wert, weil sie zum ersten IMale eine übersichtliche Gruppierung des kantischen Ideenwustes liefert und das völlig ungeordnete Rohmaterial in eine verhältnismäfsig einfache Disposition gegli(^dert hat, die eine klare Einsicht in dasjenige, was Kant eigentlich beabsichtigt hat, erleichtert. Was aber damit gewonnen ist, das zu ermessen, ist nur

*) Krause: I. Kant wider K. Fischer 2f). **\ V(rl V^aihinoer im Archiv f. Geschichte d. Philosophie Bd. 11.

Heft 1. 37-39.

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B. Kant als Naturi)hilosoph.

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derjenige imstande, welcher sich einmal die Mühe genommen hat. durch den reickeschen Text voll trockenster Auseinandersetzungen mit seiner geradezu lächerlichen Unordnung und Weitschweifigkeit seinem gräl'slichen Satzhau und seinem fortwährenden Wiederkäuen eines und des nämlichen oft ganz nehensächlichen Gedankens sich hindurchzuwürgen, ohne dabei zur Verzweiflung gebracht zu sein. Um sich ein abscldiefsendes Urteil über den Wert des Manu- skriptes und seine Bedeutung für die kantische Philosoi)hie zu bilden, wäre es natürlich vor allem nötig, zu wissen, wann dasselbe abgefafst ist. Darüber vrdHge Gewifsheit zu erlangen, ist jedoch, wie die Dinge gegenwärtig liegen, leider ausgeschh)ssen ; man bleibt auf blofse Vermutungen angewiesen, und es ist daher kein \\'untler, wenn die Ansichten hierüber zwischen recht weiten Grenzen schwanken. Schubert setzt den Anfang der Reinschrift in die Jahre 1795 bis lilJS, ohne irgendwelche Gründe hierfür anzugeben.-^) eine An- sicht, die sich weder stützen, noch widerlegen läfst, weil es ihr eben an jeglichen Beweisen fehlt. Für Fischer ist es ,.aufser Zweifel'^ dal's die hinterlassene Handschrilt aus des ]?hih)s(>i)hen letzten Lebensjahren stammt und jedenfalls nicht vor ITÜS begonnen ist. Aber auch er weifs hierfür eigentlich keinen anderen Beweis als den erwähnten Brief an Garve, sowie die obigen Berichte von Kants Zeitgenossen.^'*) Dagegen nehmen Krause und solche, die ihm nahe stehen,***) das Jahr 1783 als dasjenige au, worin Kant sein letztes Werk begonnen habe, und ihnen hat sich auch v. Ptlug- Hartung angeschlossen, der ebenfalls in seinen „Paläograi)liischen Bemerkungen zu Kants nachgelassener Handschrift*' sich für das nämliche Jahr entscheidet. 7) Die (iründe, weiche diese Ansicht für sich anzuführen hat, sind freilich äufserst schwach. Sie stützt sich lediglieh auf eine Memorialnotiz, die sich auf einem der von Kant benutzten Papierstücke befindet und einen Brief an den nn Sei)tember 1783 gestorbenen Dir. Euler in IVtersburg erwähnt. Wer will aber ausmachen, ob nicht ävv Zettel diese Notiz bereits tnthielt und erst später wieder in Kants Hände gelangt ist, um dann von ihm zur Arbeit verwendet zu werdend

Es ist ja gar nicht einzusehen, wie Kant schon im Jahre 1783 dazu hätte kommen sollen, an ein Werk, wie das in Frage kommende, auch nur zu denken. Die Partieen, die augenscheinlich die frühesten sind, beschäftigen sich ausschliefslich mit dem Übergange von der

*) Schubert: a. a. O. 61.

**) Fischer: „l^as Streber- u. CTründertmii 11. s. w.'* 7. ***) z. B. H. K eierstein: Die Grundhitrcii d. J*hysik u. s. w. 3. t) Archiv i. Uesch. d. I'hil. Bd. II. Hit. I. J^-iiU.

II. Die kritische Naturphilosophie.

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Metaphysik zur Physik. Nun waren aber die „Meta])h. Anfangs- gründe der Naturwissenschaft-' doch erst im Sommer 1785 vollendet. In dieser Schrift war Kant noch aufser Stande, die Besonderuniren der Materie aus ihrem Begriffe abzuleiten und deutet er nur erst schüchtern die Möglichkeit an, wenigstens die Kohäsion mittelst der Ätherhypothese zu erklären (IV. 460). In dem nachgelassenen AVerke dagegen ist der Äther zum allgemeinen Erklärungsprinzip erhoben und der Versuch auf allen Punkten durchgeführt, mit ihm die erwähnte Schwierigkeit aufzuheben. Zugegeben also, dafs Kant auch schon um 1785 die „Lücke" empfunden, dafs er nach einem Prinzip, um auch die Besonderungen der Materie zu erklären, gesucht und sich einzelne Notizen nach dieser Richtuuir hin gemacht liahe, gefunden kann er jenes Prinzip und damit die Idee des Überganges doch nicht vor 17f)0 haben. Fischer macht mit Kecht darauf aufmerksam, dafs die hinterlassene Schrift in einer grofsen Keihe von Stellen, die zu den beachtenswerteren geliören, die „Kritik der Urteilskraft" voraussetzt.*) Es ist sogar sehr wahr- scheinlich, dafs der Grundgedanke seines Werkes ihm nur erst durch die Einleitung seiner „Kritik der Urteilskraft" nahe gelegt ist, wo Kant fast mit denselben Worten die Notwendigkeit eines Über- ganges zwischen Natur und Freiheit betont. Erwähnt findet sich der Titel seines Werkes, worauf zuerst Vai hinger aufmerksam gemacht hat, zum ersten Male in den „Metaphysischen Anfangs- gründen der Tugendlehre" von 171)7, wo Kant bemerkt : „Gleichwie von der Metaphysik der Natur zur Piiysik ein Überschritt, der seine besonderen Regeln hat, verlangt wird, so wird der Metaphysik der Sitten ein Ähnliches mit Hecht angesonnen : nämlich durch Anwendung reiner Pflichtprinzipien auf Fälle der Erfahrung jene gleichsam zu schematisieren und zum moralischen praktischen Gebrauch fertig darzulegen" (VII. 278). Hier ist sogar der Grundgedanke des Überganges deutlich ausgesprochen. Wenn daraus nun auch noch nicht mit Sicherheit zu schliefsen ist, Kant habe um diese Zeit die Abfassung seiner letzten Schrift begonnen, so scheint doch Folgendes Ausschlag gebend : bei der Auffindung jenes Prinzips, wodurch der Übergang erst m{)glich wurde, ist Kant offenbar durch Ficht es Wissenschaftslehre und Becks „Einzig mci^dichen Staiid])unkt. aus welchem die krit. Philosophie beurteilt werden mufs" beeinflufst worden; jene aber erschien zuerst 171J4 und dieser erst 179G, woraus folgt, dafs Kant nicht vor 1797 (98) mit seinem eigenen Werke wirklich den Anfang gemacht haben kann. Die Auseinandersetzungen

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*) Fischer: Das Streher- und (Tründertuni u. s. w. 7.

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ß. Kaut als Naturphilosoi)h.

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Kants über die Möglichkeit eines Überganges, die den interessantesten und wertvollsten Teil des ganzen Manuskriptes bilden und noch am wenigsten iiuf eine Abnahme seiner Geisteskräfte schlielsen lassen. siiul im elfteil und zwölften Konvolut enthalten; und thatsächlich betimU't sich aucli in dem letzteren eine briefhche Mitteilung vom 8. August 1799 (Altpreufs. Monatsschr. XTX. L>()G). Dafs Kant vor der angegebenen Zeit sich ernstlich mit der Ausarbeitung seiner naturphiloso])hischen Ideen befafst haben sollte, wird auch von Vaihinger. wold dem genauesten Kenner des Philosophen, bestritten, und dies scheint auch ausgeschlossen, wenn man die An- zahl und den Umfang seiner \Vovke ins Auge fafst, die er von I7v^(5__i7()7 rreliefcrt hat. wenn man erwägt, dafs Kant seine amt- liche Thätigkeit erst 1797 aufgegeben hat und dann sich vergegen- wärtigt, wie in diesem Jahre seine Arbeitskraft rapide abnalim und das Licht seines (jreistes mehr und mehr sich selbst verzehrte. (Vgl. z. B. Kants Brief an Rein hold v. 21. Sept. 17!) 1. VIII.

757 f.).

So schwierig es nun auch ist, die Zeit, m welcher Kant mit

der Niederschrift seines letzten Werkes angefangen hat, mit Sicher- heit zu bestimmeiK so zweifellos ist es, dafs er noch KSO:;. also in seinem achtzigsten Lebensjahre daran geschrieben hat. Gewisse Notizen, die sich auf Gespräclie mit seinen Tischgenossen beziehen, ermi)gliehcn sogar eine genauere Bestimmung des Datums, an welchem Kant sie niedergeschrieben hat, sofern nämlich diese Gespräche bei Hasse und AVasianski mit Angabe des betreffenden Tages Er- wähnung gefumhMi lialxMi. Solche Notizen finden sich besonders im ersten Konvolute, das seiner Anlage nach oirenl)ar das späteste ist. „Bei keinem der Konvolute", sagt lleicke, „wird man so sehr an den altersscliwachen Kant gemahnt, als bei diesem; keines gewährt einen traurigeren An])!ick als dieses, schon äufserlich, denn nirgend- wo sonst ist" soviel ausgestrichen. iUmt- und zwischengeschrieb.'ii. so dicht und mit so unleserlicher Schrift, dafs das Ganze buntscheckig aussieht und das Auge beim Lesen ermüdet; ebenso ermüdend wirkt auch der Inhalt. Wohl mehr als sechzig mal versucht Kant den Titel für sein W(^rk zu fixieren, dessen Ausführung weit über seine Kräfte ging; im vierten Bogen allein kommen solche Titelversuche wohl gegen dreil'si,i,^ mal vor; noch viel häufiger, mindestens ein- Imn.lertfünf/ig mal mülit er sich ab, eine Definition der Transeendental- philosophii^ zu geben und den Gegenstand derselben zu bestimmen. Die einzige Hrholung in diesem Einerlei gewähren noch die hier und da eingestreuten Allotria,, allerlei zufällige Gedanken über die verschiedensten Gegenstände, wie sie ihm bei seiner Lektüre oder

II. Die kritische Naturphilosophie.

4C)9

bei seinen Gesprächen mit den Tischgenossen aufstiefsen, wirtschaft- liche Notizen und allerhand Sachen, die nicht vergessen werden sollten."*)

Wären die übrigen Konvolute von der gleichen Beschaffenheit, wie dieses, so könnte die Philosophie über das nachgelassene Kant- werk einfach zur Tagesordnung übergehen, und Kuno Fischer hätte Recht, es lediglich als eine ..litterarische Merkwürdigkeit" hinzustellen. Indessen so einfach liegt die Sache nicht. Manche anderen Bestandteile des Manuskriptes zeigen bei aller Unordnung und Verworrenheit einen ganz vernünftigen Gedankengang, der. weil er dem Geiste Kants entstammt, doch w^ohl eine gröfsere Be- achtung verdient hätte, als sie ihm bisher zuteil geworden ist. Kant selbst hat die Schrift für sein „Hauptwerk" ausgegeben, und Krause steht niclit an. ihm beizustimmen und hat alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die Welt von der Bedeutsamkeit des ,.Üher- ganges" zu überzeugen. So viel werden wir schon jetzt nach unserer ganzen Darlegung der Entwickelung des kantischen Geistes sagen können : dafs Kant die hinteiiassene Schrift sein Hauptwerk genannt hat. dies dürfte doch wohl etwas tiefer begründet sein als in der Idofsen „Vorliebe eines Greises für das späteste Kind." Das Werk, dessen Torso uns in der Schrift „vom Übergänge u. s. w\" vorliegt, ist ein Bruchstück jener allgemeinen Meta- physik der Natur, deren Ausführung Kant von An- fang an im Auge hatte, es sollte thatsächlich sein Chef d'ceuvre werden. Ob dieses Ziel erreicht ist. wie Krause annimmt, ob „der Übergang" in der That „die tiefste und folgen- schwerste aller Schriften Kants" ist. oder ob sie blofs ein alters- sclnvaches, sich beständig wiederkäuendes Aggregat ohne tieferen philosophischen Wert darstellt, um diese Frage zu entscheiden, dazu müssen wir uns jetzt eingehender mit dem Inhalt befassen, so weit ein solcher aus dem nachgelassenen Kantwerk herauszu- destillieren ist.

Die ganzen Bemühungen Kants um eine Naturphilosophie haben, wie wir sahen, kein anderes Ziel, als der Naturwissenschaft oder der Physik im weitesten Sinne ein sicheres Fundament zu liefern. Madien wir uns einmal klar, was Physik ist. „Ai^ Wissen- schaft ist sie ein System der Erkenntnis, als Naturwissenschaft eine systematische Erkenntnis von den bewegenden Kräften der Materie, als Physik endlich ein System empirischer Erkenntnis dieser Kräfte" (XIX. 2UI). Da zeigt sich sogleich die ganze Schwierigkeit und

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') Altpr. Monatsschrift XXI. oClO f.

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B. Kant als Naturphilosopb.

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das Problem. Giobt es ein empirisches System? Offenbar ist es ein ^Viderspruch. davon zu reden. ..w(m1 ein jedes System ein Prinzip bedeutet, unter welchem das Mannigfaltige gegebener Vor- stellungen zusammengeordnet ist" (ebd. 293). Physik ist Erfah- rungswissenschaft. „Es ist aber unmi^glich, aus blofs empirischen Begriffen ein System zu zimnu^rn. Es wird jederzeit ein zusammen- gestoppeltes Aggregat von Beobachtungen dieser oder jener Eigen- schaft der Materie bleiben, was zwar ansehnlich, aber doch immer nur fragmentarisch wachsen kann, und in welcher Naturforschung man stille stehen kann, wo num will, weil es an der Idee mangelt, welche ein innerlich begründetes und zugleich sich ^.elbst be- grenzendes Ganze ausmacht*' (XX. lil. XXT. 84).

Bei einem hlofs fragmentarischen Zusammentragen empirischer Elemente ist niemals eine Ülierzeugung von der Vollständigkeit der Arbeit zu erhoffen (XXT. \iY2). Tst die Physik nui- ein solches Aggre- gat — und unter allen em|)irischen Wissenschaften leidet wohl sie gerade am meisten unter diesem Fehler ;/^o ist das ein ,.rbel, was selbst das Aufgefafste, weil es mit dem Übrigen des Ganzen nicht verglichen werden kann, auch das, was entdeckt worden ist. in Gefahr bringt, ob es nicht vielleicht mit dem einerlei sei, was man schon gefunden hat, und überhaupt, daf-. man nie weifs, wie und wonach man suchen soll. Denn bei allem empirischen Aufsuchen, welches num im eigentlichen Sinn(> Xaturforscbung nennt, ist doch zuviuderst nötig, belehrt zu werden, wie und nach welchem l'rinzip num die manigfaltigen bewegenden Kr.äfte der Materie aufsuchen soll'' ((JG). Ximmt man ein solches Piiu/ip aus der Er- fahrung auf, so berechtigt dies trotzdem noch nicht zu dem Aus- spruch: ..Dies oder jenes lehrt die Krfahrung.*' „Denn das empirische Urteil als ein solches kann doch nie als apodiktisch vorgestellt werden. Wenn z. B. in zehn verschiedenen Mischungen, die zum Niederschlag einer Auflösung nach chemischen Regeln ge- hören, man das Experiment gleichsam schon zur Demonstration (um noch nudne Versuche überflüssig zu machen) gediehen zu sein wähnt, so kann man im elften, wo z. B. ein unbemerkt auf die Instrumente wirkender Eintlufs der Luftelektrizität im Spiel ist, wiegen des Erfolges nicht immer die Gewähr leisten, oder ein Arzt den l)eal)sichtigten Fafolg bei (scheinbarlieh) gleichen Individuen und Zutalleu derselben hypokratisch vom Dreifufse vorhersagen, ohne bisweilen in seinen Erwartungen getäuscht zu werden" (XIX. (JJö). Absolute Sicherheit gewährt nur ein apriorisches Pnnzip; daher kann auch die Physik, als System, nicht anders als nach Begriffen a priori zustande kommen.

IL Die kritische Naturphilosophie.

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„Die Xaturforscbung ist kein blindes Herumtappen nach Wahr- nehmungen, die sich fragmentarisch und zufällig einander aggregieren lassen, sondern ist an Gesetze gebunden, nach welchen sie aufge- sucht werden müssen^' (XIX. 2G3). Soll also Physik Wissenschaft und nicht blofs ein gröfseres oder geringeres Aggregat von empirisch aufgesammelten Erkenntnissen sein, so mufs der Xaturforscher es sich zur Aufgabe machen, die bewegenden Kräfte der Xatur, die dem Materiale nach nur empirisch (in der Erfahrung) gegeben werden können, doch nach formalen Prinzipien ihrer Verbindung zu einem Ganzen des Systems zusammen zu stellen (XXI. ,s;)). Der IMiysiker mufs, ehe er sich an die Erfahrung macht, den Bau- abrifs, nicht den Bauanschlag, entwerfen, „obzwar die Materialien dazu doch nach dem Wesentlichen des Bedürfnisses natürlicherweise dabei in Betrachtung kommen, so doch, dafs wieviel für das blofse Bedürfnis, wie viel Aufwand fih- Zierde und Gemächlichkeit ver- wandt werden sollen, auf die Wohlliabenheit des Bauherrn an- kommt*' (XXI. lOof.). Er mufs dies, ,.weil es sonst an einem Leitfaden mangeln würde, sich aus der ]\Ienge der sich darbietenden Objekte herauszufinden" (ebd. I(i4). „Um auch durch Erfahrung die bewegenden Kräfte der Materie in ihrer Verknüpfung zu er- kennen, müssen vorher Prinzipien der Verknüpfung derselben in einem System durch den Verstand zum Begriffe des Objektes vor- hergehen (forma dat esse rei)-' (XIX. 258), und diese Prinzipien müssen demnach a priori gegeben, sie müssen gleichsam das Fach- werk sein, m welches das ICmpirische, w^as die Xaturforscbung liefern mag, nach Prinzipien gestellt w^erden kann (ebd. 2<5. XX. ()7). „Xicht was wir aus dem Aggregat der Wahrnehmungen ausheben, sondern was wir zum Beliufe der Möglichkeit der Erfahrung (folg- lich nach einem formalen Prinzip) hineinlegen, bringt die Wissen- schalt der Physik zustande*' (XIX. 287). ,.Niclit aus Erfahrung, sondern für die Erfahrung nach Prinzipien der Möglichkeit der- selben die Xaturforscbung anzustellen," das ist es, worauf es in der Wissenschaft vor allem ankommt ; ,.denn ohne zu diesem Behuf Grundsätze a priori bei der Hand zu haben, wüfsten wir niclit einmal, wie wir es anfangen sollten, eine Erfahrung zu machen, welche aus einem blofsen Aggregat von AVahrnehmungen nicht hervorgeht, weil ihm die Form der Vereinigung des äufsern Mannig- faltigen zu einem Ganzen (der äufsern Sinnenweltj abgeht, als welche a priori im A'erstande (das cogitabile) angetroffen werden mufs, wemi die Materie, als Gegenstand der äufseren Sinne (das dabile), in einem Lehrsystem der Physik gedacht werden soll" (XIX. 257j.

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B. Kant als Naturphilosoph.

II. Die kritische Naturphilosophie.

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]\Ian hat wohl geglaubt, die Physik dadurch in den Rang einer \\'issenschaft erheben zu kcinnen, dafs man sie gleichsam mit der Mathematik vermählte; und zweifellos verschafft ja die Mathematik den Lehrsätzen der Physik erst apodiktische Gewifsheit. Sie ver- mag aber eben auch nicht mehr als dies. Die Mathematik ist kein Ivai^on, sondern nur ein Organon, ein unschätzbares Instrument, um die Kräfte der ^Materie nach ihrer AVirkungsweise zu berechnen, falls nämlich solche schon gegeben sind, kann doch die ganze Bewegungslehre rein mathematisch abgehandelt werden; allein selbst Kvliite als wirkende Ursachen der Bewegungen aufzufinden und zu ordnen, dazu ist sie ihrer Natur nach aul'ser Stande (XTX. r)!)1 f. XX. 95). Kant macht es daher dem Newton zum Vorwurf und sieht einen AVidersprueh darin, (hifs derselbe sein unsterbliches AVerk „philosophiae naturalis principia mathematica^' betitelt habe, da es so wenig mathematische T^rinzipien der Pliilosophie, wie ])hilos()i)hische Prinzii)ien der Alathematik geben könne (ebd. r^HU. XIX. (i!)f. u. s. w.). was freilich nur eine reine Pedanterie ist, indem er nicht beachtet, dafs im Englischen das AVort Natur- philosophie dasselbe, wie bei uns Naturwissenschaft, bedeutet.

Damit sehen wir uns denn zunächst auf die ,,Metai)hysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft" angewiesen, die als solche selbst phil(»sophisch sind, und müssen untersuchen, ob wir in iluien den gesuchten Kanon besitzen, um die Kräfte der Materie in ein System zu ordnen. Da zeigt sich denn sofort, dafs auch su^ uns im Stiche lassen. D(Min di(^ Kräfte, um welche es sich in der Physik handelt, sind besondere, eigentündiche ; die metaphysischen Anfangs- gründe dagegen umschreiben nur den Kreis der allgemeinsten Be- wegungsgesetze und Beschaffenheiten der Materie, ,.geben jedoeli gar keine besonders bestimmten von der Erfahrung anzugebenden Eigen- schaften" (XIX. 2r)*)). Die Physik ])edarf apriorischer Prinzipien, wenn nicht das zuiallige Aggregat ihrer besonderen ()l)iekte plaidos auseinanderfallen soll; aber sie ist für sich selbst unfähig, diese Objekte in die Fesseln notwendiger Begriffe zu schlagen. Die meta- physischen Anfangsgründe sind ein apriorisches System, sie enthalten lauter Prinzipien, die vor der IVIaterie den BegriiV der letzteren selbst erst m(-)glich machen; aber dies System schwebt gleichsam in der Luft und reicht nicht hinab in die Mannigfaltigkeit besonderer

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eiche den Gegenstand der Physik hMvn. Die Physik kann nicht zur Metaphysik, die Metaphysik nicht zur Physik kommen. Beide sind ganz verschiedene Territorien, zwischen denen eine ,.weite Kl uff besteht, und es ist ein gefährlicher Schritt, von dem einen Ufer zu dem anderen den Sprung zu wagen, um auf dem Boden

der Erfahrung wandeln zu können (XIX. 257). „Gleichwohl aber ist dieses Überschreiten von der Metaphysik zur Physik und das jenseitige Ufer mit dem diesseitigen zu verknüpfen notwendiger An- spruch an den Naturpliilosophen, weil Physik doch das Ziel ist. w^ohin dieser, als dem Zweck, streben mufs. und zu welchem jene Begriffe nur die Vorarbeiten sind*' (XX. 7J. 6:^). „Die metaphysisclien Anfangsgründe der Naturwissenschaft sind nur in Hinsicht auf eine Physik bearbeitet worden, die den Zw^eck derselben ausmacht, und man erwartet also und nie Recht einen Fortschritt zu der letzteren (XX. G2. XIX. 2GT f.). Dazu kommt, dafs jene eine „natürhclie," eine ganz „unvermeidliche," „notwendige Tendenz" zur Physik, sowie die rationale Naturforschung überhaupt zur eigentlichen Naturkunde, haben (XIX. 207. 2()4. 2.S1). Die Philosophie „begehrt" geradezu den Übergang von jener zu dieser AVissenschaft, „ja, was noch mehr ist: dieser Übergang selbst mufs als besondere in ihrem Umfange bezeichnete und in ihrem Inhalte begrenzte Wissenschaft aufgestellt werden kC.nnen" (XIX. 257). AVenn der Übergang unmittelbar nicht möglich ist, so mufs es nocb eine besondere, und zwar a j)riori be.ijjründete Wissenschaft geljen, um eine A^erknüpfung zwischen beiden zu vermitteln, .,welclie dann nicht blofse Erfahrungsjirinzipien (denn die fallen der Physik anlieim), sondern Gründe der Naturerkenntnis enthalten würde, welclie an l)eiden Anteil nehmen" (XX. ()2).

Die Frage, um die es sich in dieser AVissenschaft handelt, kann also dahin formuliert werden: „AVie ist Physik als AVissenschaft möglich?" (4:V2). Zu ihrer Beantwortung kommt es auf nichts weiter an, als auf „die vollständige Aufsuchung ^dler jener Elemente und die systematische Anordnung derselben zu einem Ganzen, ohne welche selbst die Physik ein blofs fragmentarisches Aggregat sein würde" (XX. 74). Der Übergang „antizipiert nur die bewegenden Kräfte, welche a priori der Form nach gedacht werden, und klassi- fiziert das empirisch-Allgemeine, um die Aufsuchung der Bedin- gungen der F^rfalirung zum Beliuf eines Systems der Naturforschung darnach zu regulieren" (XX. 442). Sonach ist er „die Zusammen- stellung (coordinatio) der Begrifi'e a priori zu einem Ganzen möglicher Erfahrung durch Antizipation ihrer Form, sofern sie zu einem empirischen System der Naturforschung (zur Physik) erforderlich ist" (XIX. lO.i). Der Übergang ist „die architektonische Einteilung der bewegenden Kräfte der Materie a priori, als Propädeutik eines Systems der Physik" (XX. 442), indem er überhaupt nur die Prinzipien a priori der Naturforschung enthält (XIX. 21)8): er ist „die Archi- tektonik der Naturforschung," der „Schematismus der Zusammen-

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B. Kant als Naturpliiloso|)h.

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Setzung jener Kräfte" (ebd.) und kann, sofern es ihm' lediglich auf das Formale der Verl)indung der Naturmomente (XIX. 258) oder auf das Formale der Zusammenstellung des Mannigfaltigen der empirischen Vorstellungen ankonnnt (XIX. 2<sO), auch als ,As Mofs Formale des Systems der bewegenden Kräfte der Natur" (XX. HTO), als die allgemeine „Topik" dieser Kräfte bezeichnet werden (XIX. 2() i ).

Es ist klar, dafs eine solche Wissenschaft „nicht mehr eine Metaphysik, aber auch noch nicht Physik" sein kann (XIX. ()()2. 270 f.). Als ein Mittleres zwischen beiden, das gleichwohl die Materie zu ihrem Objekt liat. kann sie nicht einen solchen Begriff' der letzteren zu Grunde legen, der entweder nur der .AIeta])hysik oder der Physik angehr»rt, sondern sie mul's sich auf einen Mittelbegriff stützen, ,. welcher einerseits an einen P»o-riff des Objekts a priori, anderer- seits an die Bedingung dvv M()glichkeit der Erfalinmg. in der dieser Begriff realisiert werden kann,, geknüpft ist" (XX. r)2!) f.)- liegten nun die metaphysischen Anfangsgründe dem Begritle der Materie überhaui)t nur das Prädikat des Beweglichen im Räume bei, so ist der Mittelbegriif des Überganges der Begriff von er Materie, sofern sie bewegende Kräfte hat, oder der Begriff' ,.v(m den bewegenden Kräften der Materie nach besonderen Bewegungsgesetzen (der Hifalirung), deren spezifischer Unterschied aber, als wirkender Ursaehen, sich durch im i^iume miigliche Verliältnisse als Glieder der Einteilung der Bewegung a priori erkennen lälst" (ebd. 030. DiVi 1.).

Kant scheint nicht bemerkt zu haben, dafs diese nändiche Definition der Materie bereits in den ,:Metaphysischen Anfangs- gründen" zur Unterlage der Dynamik gedient hat. und dal's somit die letztere eigentlich in den Übergang gehört. Er bleibt dabei, den Cbergang als eine besondere Wissenschaft auf einen ganz neuen Begrifi" aufbauen zu müssen und teilt darnach die scientifische Natur- lehre (philosophia naturalis) in drei selbständige Teile ein: „1. die metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft, die a priori begründet sind; 2. die nllgeineine physiologische Kräftelehre, welche auf em])irischen Prinzipien (als das Materiale) beruht, deren Ver- bindung aber (mithin das Formale) a priori begründet ist; '^. die Physik, als Bezieliung jener Kräftelelire auf ein dadurcli mögliches System" (XX. WM. WM). 548). Die allgemeine Kräftelehre oder der Übergang ist die physica (physiologia) generalis und ent- hält „blofs die bewegenden Kräfte der Materie, welche zu den Ert'ahrungsgesetzen erforderlich sind" (XXI. SS) und das allgemeine Schema derselben, wohingegen die Physik, als AVissenschaft, die Ein- ordnung der emjiirisch gegebenen Kräfte lu dieses allgemeine Schema darstellt. ..Besondere Systeme für eine besondere Klasse bewegender

II. Die kritische Naturphilosophie.

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Kräfte werden die besondere Pliysik mit ihren Prinzipien (physica specialis) darstellen, bis dann das System der Natur nach ihren mechanischen Kräften einen t'^berschritt zu den der organischen (physica specialissima) unternimmt, deren Form aber und Gesetz über die Grenze der bewegenden Kräfte der blofsen Materie hinaus- liegt, indem die bewegende Kraft in eine nach Zwecken wirkende Ursache gesetzt werden mufs" (XX. 5-)4 f. XX. 8S).

Es ist befremdlich, es scheint sogar unmöglich zu sein, die bewegenden Kräfte der Materie, die uns eben nur in der Erfahrung gegeben sind, a priori, d. h. unabhängig von der Erfalirung, anzu- gelien und zu spezifizieren, wodurch doch die Physik erst zur Wissen- schaft erhoben wird (XIX. 299. 306. 454). „Wenn ich statt Materie (Stoffj bewegende Kräfte der Materie und statt des Objekts, welches bewegbch ist, das bewegende Subjekt nehme, so wird das möglich, was vorher unmöglich schien, nämlich empirische Vor- stellungen, die das Subjekt selbst macht, nach dem formalen Prinzi]) der Verbindung a priori als gegeben vorzustellen" (XIX. 4G0).

Die Physik hat es, als Erfahrungswissenschaft, zunächst nur mit äufseren Wahrnehmungen zu thuii. ,. Wahrnehmungen sind Wirkungen bewegender Kräfte der Materie auf das Subjekt" (XIX. 78. 125. 44S u. s. w.). Wären nun diese Kräfte Dinge an sich selbst. d. h. lägen sie gänzlich aufserhalb der Sphäre des Subjekts, so wäre es allerdings unmöglich, sie a priori zu bestimmen. „Alles, was wir a priori, und zwar synthetisch erkennen sollen, kann nur als Objekt in der Erscheinung, nicht als der Gegenstand an sich selbst beurteilt werden" (X. 441. 305). „Denn nur die Form der em])irischen Anschauung kann a priori gegeben werden" (434. 302). „Erscheinung ist das Subjektive der empirischen Ancchauung und setzt ein cogitabile voraus, was, durch den Verstand objektiv ge- macht, das dabile in der Erfahrung setzt" (451). Nur weil die Erscheinung selbst a priori in der Anschauung gegeben werden kann, bedarf sie eines Prinzips der Einteilung und Klassitlkation a priori, welche aber nur als zur Erscheinung gehörend gegeben ist und in der Zusammensetzung der P^orm nach gedacht wird (304 f.). „Das erste Prinzip der Vorstellung der bewegenden Kräfte der Materie ist also, sie nicht als Dinge an sich selbst, sondern als Phänomene zu betrachten nach dem Verhältnisse, welches sie zum .Subjekt haben" (272 f. 283. 285. 297. 304).

Kraft ist causa litas phänomenon (XX. 93). Ist doch Bewegung eben nur mciglich in Kaum und Zeit, diese aber sind blofs subjektive Formen unserer Anschauung und machen damit auch die Bewegung zu etwas Subjektivem. Wenn daher gesagt wird.

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die Wahrnehmungen seien Wirkungen der bewegenden Kräfte der Materie, so ist dies nicht so zu verstehen, als ob das Subjekt die Affektion von Seiten des Dinges an sich, die als solche ewig unbe- kannt bleibt, nur unter dem ihm geläutigen Bilde der Bewegung auftafste, weil dies eben die einzige Art ist, um sich die ^atur des ii.tluxus physicus verständlich zu machen, - diese Auffassung bestand allenfalls noch in den Metaphysischen Anfangsgründen zu Kecht, obwohl es aucli hier schon zweifelhaft schien, inwieweit dies eigent- lich Kants Meinung wäre (s. o. 353 f.) - die Erscheinung affiziert jetzt wirklich das Subjekt, und 1 hysik ist demnach die Lehre von den Erscheinungen der bewegenden Kräfte der Materie oder „die Lehre von den Erscheinungen, insoiern das Subjekt von diesen Kräften affizi.rt wird'' (XIX. 292). „Es sind zweierlei Arten, Erscheinung von der Sache selbst, das Sub- jektive der Vorstellungsart vom Objektiven zu unterscheiden. Die erstere ist metaphvsisch, die andere physiologisch, und beide

bestehen darin, dafs sie die Art vorstellen, wie das Subjekt affiziert wird" (2Sr)). Von den Dingen .-.Is solchen weifs ich nichts und kann daher auch nichts dariiber bestimmen, wie sie mich, als Subjekt, aftlzieren; von den bewegenden Kiiitten der ^^^-^^^^'^'»^ dagegen weifs ich, dal's sie blol's Erscheinungen, innerliche Modi- fikationen meiner, als des Subjekts, sind; und eben die bewegenden Kräfte in der Erscheinung im Unterschiede von den Ki alten an sich bilden den Gegenstand der Physik.

Sind nun diese bewegench-n ICräfti' der :^raterie nur Erschei- nungen und brin-en sie durch empirische Affektion die Wahrnehmungen in uns hervor, so kann folglich gesagt werden, dafs die letzteren „Erscheinungen von Erscheinungen,- indirekte" oder, wie Kant auch sagt, ..subjektive Ersclieinungen" ün Gegensatze zu den „direkten" oder „objektiven^' Erselieinungen seien, welche .Uireh eben jene bewegenden Kräfte repräsentiert werden und die ihren Ursprung selbst wiederum nur der trans- cendenten Aff'ektion durch die Dinge an sich verdanken. Der Ge-enstand der direkten Erscheinung ist also das Dmg an sich, dei" Ge^^enstand der indirekten ist die direkte Erscheinung (300). Jene können auch als Erscheinungen erster Ordnung, diese als Erscheinungen zweiter Ordnung bezeichnet werden (4:^(i). Dann aber hat die Physik es mit Erscheinungen von Erscheinungen zu ihun, und da sie auf das hinter ihnen liegende Dmg an sich nicht reflektiert, so kann sie die Erscheinungen (d. h. die direkten Er- scheinungen) als Dinge an sich selbst betrachten (28ÖJ, wotern sie sich nur nicht anmafst, hiermit zugleich ein metaphysisches Urteil

II. Die kritische Naturphilosophie.

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auszususprechen : „Die Objekte der Sinne, metaphysisch betrachtet, sind Erscheinungen ; für die Physik aber sind es die Sachen an sich selbst, die den Sinn affizieren" (ebd.). Oder mit andern Worten: „AVas metaphysisch betrachtet, blofs zur Erscheinung gezählt werden mufs, das ist in physiscliem Betracht Sache an sich selbst" (292).

Fallen die bewegenden Kräfte der Materie, als Ursachen der Wahrnehmungen, ins Subjekt hinein, so ist ferner der Akt der Affektion, wodurch im Subjekt die Wahrnelimung entsteht, ganz und gar nur eine Beziehung des Subjekts zu sich selbst. „Das Subjekt affiziert sich selbst" (28(). 288. 44(). 447 u. s. w.). Indem es sich, als Objekt, affiziert, so wird es damit sein eigener Gegen- stand, wird es selbst zur Erscheinung oder macht es sich selbst zum Objekt (290). „Das Subjekt erkennt sich selbst als Phänomen und bestimmt sein Dasein in der Erfahrung durch Apprehension in Eaum und Zeit zugleich als notwendig" (44() f.). Sonach ist also der Gegenstand der Pliysik oder die Erscheinung der Erscheinung nichts Anderes als „Vorstellung des Formalen, wie das Subjekt sich selbst nach einem Prinzij) affiziert und sich, als selbst- thätig, Objekt ist" (29()).

Hiernach bestimmt sich nun auch der Begriff der Kraft. Die Kraft wird nur an der AVirkung erkannt. Ist aber diese A\^irkung nicht ein Empfängnis von aufsen, von einem, was dem Subjekt als ein Fremdes gegenül)ersteht, so ist die Kraft eben nur eine rein „subjektive Modifikation der AVirkung. welche ein Sinnengegen- stand gegen das Subjekt tlmt" (2J)2). oder sie ist nichts Anderes als „der Akt, durch welchen das Subjekt sich selbst in der AN^ihr- nehmung aftiziert" (447. 4(iG. 449). Der Aktion von Seiten des Gegenstandes entsi)richt im Subjekt „die Ap])rehension. als eine Reaktion auf das Bewegbare im Baume (die Materie)" (448). ^'un sind nach dem dritten mechanischen Gesetze AVirkung und Gegenwirkung einander gleich. Folglich kann für die W^irkung, die als solche dem Subjekt doch nur indirekt bekannt ist, einfach die Gegenwirkung, als direkte Bethätigung des Subjekts, an die Stelle treten. Die indirekte bewegende Kraft des äufseren Sinnes in der Xaturforschung wird dadurch zur direkten, dafs das Subjekt „diejenige Bewegung selbst macht und verursacht, durch welche es affiziert wird" (28()). „Die bewegenden Kräfte der Materie sind also das, was das Subjekt selbst thut mit seinem Körper an K()r])ern. Die diesen Kräften korrespondierenden Gegenwii-kungeii sind in den einfachen Akten enthalten, wodurch wir die Körper selbst wahrnehmen" (290 f.). Sonach sind auch die

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Walinieliiiiungen nichts Anderes als mit Bewufstsein verbundene bewegende Kräfte des Subjekts, nicbt insofern es affiziert wird, sondern sieb selbst nftiziert (450. 4Ü1). Walirnebmung baut sich nicbt aus Empfindungen auf, welche dem Subjekt von aufsen ge- liefert werden, sondern sie ist ,eine (Wirkung oder) Gegenwirkung der bewegenden Kräfte, die das Subjekt in der Apprebension an sich selbst zum Behuf der Empfindung ausübt, und wodurch ihm Gegenstände, als das Mate riale der Erfahrung, ge- geben werden, die immer nichts Anderes als empirisch affizierende bewegende Kräfte sein können, wenngleich die Wirkung auch inner- lich ist-' (459).

,J)iesem gemäfs läfst sich ])egreifen, wie es möglich ist, dafs das, was uns nur als emi)iriscb gegeben vorgestellt werden kann, (die unmittelbare Sinnenvorstellung, intuitus) docb als von dem Subjekt selbst gemacht (also mittelbar per eonceptus) und a prioi'i gedacht zum Erfalirungsobjekt gezäblt werden ki'.nne : weil nämhch die Emi)tiiHlung, welcbe die selb st eigene Wirkung d.'s walir- nelimenden Subjekts ist, in der That nichts Anderes als die sich selbst zur Zusammensetzung l)estiinnu>nde bewegende Kraft ist und die Wahrnehmung äufserer Gegenstände nur (He Erscheinung der Automatic der Zusammenfügung der das Subjekt afliziercnden l)ewegen(h^n Kräfte selbst ist" (445). „Nicht darin, dafs das Subjekt vmn (Jbjekt empiriseh (per receptivitatem) aftiziert wird, sondern dafs es sich selbst (per spontaneitatem) afliziert. besteht die :\lr)g- liehkeit des Überganges von den metaphysischc'ii Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik" (45S). „Die Alfektibilität des Subjekts, als Erscheinung, ist mit der Incital.ilität der korres})on- dierenden bewegenden Kräfte, als Korrelat in der Wahrnehmung, verbunden, d. i. dii^ Erseheinungen werden aufgefafst durch die Spontaneität des sich aflizierenden Sul))ekts in der Darstellung nach Gesetzen a priori^' (45H). J^i^' Erscheinungen der bewegenden Kräfte werden a priori erkannt, ehe noch diese selbst gekannt und als besondere Kräftt« anerkannt sind-' {^2^r2). „Weil die bewegenden Kräfte, welche die Ursachen der Wahrnehmungen zum IJrhuf der empirischen Erkenntnis ausmachen, als Erscheinungen a i)riori gegeben sind, so können auch a priori diejenigen aufgezählt und kkssitiziert werden, welche das empirische Aggregat zum^ Hi'huf eines Systems der Sinnenobjekte ausmachen" (44(i). Das Subjekt. welches durch die Materie, als dem InhegrilTder liewegendeii Kräfte, aftiziert wird und an ihm die Erfahi-ung macht, bestimmt ja eben selbst diese Kräfte, die den Stoff zur Erfahrung hergebeii, und ist daher natürlich auch imstande, diese a priori abzuzählen (4G1J. 5.^o).

II. Die kritische Naturphilosophie.

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„Nur dadurch, dafs das Subjekt sich seiner bewegenden Kräfte (zu agieren) und, da in dem Verhältnisse dieser Bewegung alles wechsel- seitig ist, gleich stark auf sich Gegenwirkung wahrzunehmen

welches Verhältnis a priori erkannt, nicht von der Erfahrung ab- hängig ist bewufst wird, werden die entgegenwirkenden bewegenden Kräfte der Materie antizipiert und die Eigenschaften der Mat<Tie festgesetzt" (585). „Die Sache verhält sich also so: Wahrnehmung ist em])irische Vorstellung mit dem Bewufstsein, dafs sie eine solche ist und nicht blofs reine Raumesanschauung. Nun stellt die AV^irkun"- des Subjekts auf das äufsere Sinnenobjekt diesc^n Gegenstand in der Erscheinung vor, und zwar mit dem auf das Subjekt gerichteten bewegenden Kräften, welche die Ursache der Wahrnehmungen sind. Also kann man a priori diese Kräfte bestimmen, welche die AV'ahr- nehmung bewirken, als Antizipationen der Sinnenvorstellungen in der emijirisehen Anschauung, indem man nur die Wirkum,^ und Gegenwirkung der bewegenden Kräfte, deren Vorstellung mit der Wahrmdimung identisch ist. a priori nach Prinzipien der Bewegung überhaupt darstellt, die, als dynamische Potenzen, der V^erstand spezifiziert und nach den Kategorieen klassifiziert" (5S4 f.).

„Erfahrung ist die aktive Verknüpfung empirischer Vor- stellungen unter einem Prinzip ihrer Verknüj)fung a priori aus Begriffen des Subjekts" (470). Es gehört also zu ihr ein formales und ein m.Mteriales Element. ..Das Materiale der Sinnenvorstellunir liegt in der Wahi'iiehmung. d. i. dem Akt. wodurch das Subjekt sich sell)st affiziert und ilun sell)st Erscheinung eines Objekts wird. Das Eornnde ist der Akt der Verknüpfung der AVahrnehmungen zur M()glichkeit der Erfahrung nach der Tafel der Kategorieen. den Axiomen der Anschauung, den Antizii)ationeii der ^^^•l]lrnehn!lln'^, den Analogieen der Erfahrung, uml die Zusammensetzung dieser Prinzipien zu einem System der empirischen Erkenntnis üherliaupt" (582 f.). „Um mithin a priori zu em])irischen Erkenntnissen und zu dem System derselben, der p]rfalirung. zu gelangen, mufs das Subjekt vorher das Verhältnis der bewegenden Kräfte gegen sich selbst in (k^r \"orstellung des inneren Siunes und dem Ai]:ffree:at der AVahrnehmungen dessell)en (subjektiv) fragmentarisch auffassen und 111 Einem Bewufstsein verbinden, welches nicht durch Heruni- tappen unter AVahrnebmungen. sondern systematisch, dem Formalen der Erscheinung des Mannigfaltigen der Anschauung seiner seihst gemäfs geschehen kann, durch welchen Akt der Zusammensetzung (synthetice) es sich selbst nach einem Prinzip, wie es sich erscheint, indem es sich selbst affiziert, zum Objekt macht" (4.'^(). 4'55).

Damit ist nun auch die Frage beantwortet, die dem Uhergange

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ZU Grunde lag: wodurch Physik als Wissenschaft möglich sei. Da- durch niinilich : „dal's der Verstand aus dem Aggregat der Wahr- nehmungen, als einem Ganzen der Erfahrung als System, nicht mehr herausheben kann, als wie viel er selbst hineingelegt hat, und dafs wir die Erfahrung nach einem formalen Prinzip der Zusammen- setzung der empirischen Vorstellungen selbst machen, von der wir wähnen, durch Observation und Experiment gelernt zu haben, indem wir die den Sinn bewegenden Kräfte nicht aus der Erfah- rung^ sondern umj^^ekehrt für diese und zum P)ohuf derselben nach Prinzipien zu einem objektiven Ganzen der Sinnenvorstellungen ver- binden'' (4o2f.). „Üas Ganze der em})irisch(Mi Anschauung kann nicht von aufsen hinein vermittelst der Wahrnehmung, sondern niuls von Innen hinaus, von dem ]\[annigfaltigen in der Erscheinung zu dem Ganzen der empirischen Anschauung durch Zusammen- setzung zu einem System (Ur Wahrnehnumgen (ehr Physik) fort- schreitend gedacht werden, so dafs nur was dor Verstand gedacht liat. der Form der Anschauung gcmiils nach einem Prinzip a priori gemaclit und dann alU'rerst der Sinnenvorstellung als ein Ganzes möglicher Erfahrung gegeben wird: nicht (hifs die Wahrnehmungen, fragnuuitarisch ausgehoben, das Erfahrungsobjekt zuerst konstituieren, sondern sie zuvor nach einem Prinzip der Vereinigung des Mannig- faltigen der emi)irischen Anschauung zum Hehuf der Erfahrung und ihrer ]VI()glichkeit a priori selbstthätig hineingelegt werden'' (44S). „Die Physik mufs ihr Objekt selbst machen nach einem Prmzip der Möglichkeit der Erfahrung, als einem System der Wahrneliniungen, indem sie, die Erscheinungen vereinigend, die (liskursive Allgemeinheit des Aggregats d(M- Widirnehmungen in die intuitive verwandelt, da das Sul)jekt ihm selbst ein Gegen- stand der empirisclien Anschtiuung, d. i. Erscheinung, ist" (4r).S). ,.Erfahrung kann überhaupt nicht gegeben, sondern uiufs ge- maclit werden, und das Prinzip der Einheit derselben im Subjekt macht es miiglich, dafs auch empirische Data als Stoife. wodurch das Subjekt sich selbst affiziert, in das System der Erfahrung ein- treten und als bewegende Kräfte im Natursystem aufgezählt und klassifiziert werden können" (ebd.).

Bisher iialimen wir an, nur das formale Klement, das zum Materialen hin/ukommen inufs, um Erfahrung möglich zu machen, sei a priori gegeben und lediglich im Subjekt selbst enthalten, wohin- gegen jenes materiale Element a i)Osteriori uns durch die Dinge an sich geliefert werde. Jetzt erfahren wir, dafs auch das letztere seinen Ursprung nur im Subjekt hat und dafs es auf ganz die nämliche Weise vom Subjekt a priori hervorgebracht wird, wie wir dies bisher

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nur von dem formalen Elemente wufsten. Bisher also bestand der Erkenntnisprozefs in einem Ineinanderwirken von transcendenten und immanenten Faktoren, indem sich jene auf den rohen Stoff, diese auf die ordnende Form bezogen. Jetzt dagegen heifst es. dafs der nämliche Prozefs sich rein in den Grenzen der Immanenz ab- spielt und dafs die Fäden, die zum Teppich der Erfahrung inein- ander zu weben sind, nur aus dem Subjekt selbst herausgesponnen werden. Bisher kannten wir nur eine Affektion, die trau sc en- den te von Seiten des unräumlichen Dinges an sich. Jetzt wird uns daneben noch eine immanente oder empiri seh e Affektion gebot(Mi, die von jener ganz verschieden ist, die Atiektion durch Dinge im ]{aume. Bisher galt die blofse s in nli ch e Empfindung für das Materiale, das der Verstand in die Form seiner apriorischen Begriffe kleidet. Jetzt soll das Materiale der Sinnenvorstellung in der W a h r - nehmung liegen: „AVahrnehmung ist der Erfahrungsstoff'" (4.'>2. 5(S2 f.), und der Verstand bringt seine apriorischen Begriffe in ein Etwas hinein, das selbst schon mit a])riorischen Elementen durchsetzt ist. Diese Auffassung ist nicht so neu, als sie wohl scheinen kcumte. Bereits in der Vernunftkritik hatte Kant von den Farben gesagt, sie seien „nur Modilikationen des Sinnes des Gesichts, wxdches vom Lichte in gewisser Weise affiziert wird", (III. (33) und davor ge- warnt, dasjenige, was ursprünglich selbst nur Erscheinung ist. oder ,.das Ding an sich selbst im empirischen Verstände" mit den wirk- lichen Dingen an sich zu verwechseln ((34). So sollten z. B. die Regentro])fen nur empirische Dinge an sich, d. i. „empirische Ob- jekte" sein, sofern sie zum Regenbogen im Verhältnis des Grundes zur Erscheinung stehen, als solche aber doch blofs Erscheinungen der wirklichen Dinge an sich darstellen (74), w^orin schon ausge- sprochen lag, dafs es neben der Affektion durch wirkliche Dinge an sieh noch eine solche durch deren Erscheinungen geben müsse. Am deutlichsten aber hatte diese Annahme überall [dort hervorge- schimmert, wo es sich um das unmittelbare Interesse der Natur- philoso])hie gehandelt hatte. Wir sahen, wie Kant bei den Anti- zipationen der Wabrnehmung die Emi)findung unmittelbar mit dem Realen identifiziert und wie er diesem Realen einen „Grad des Einflusses auf unsern Sinn" beigelegt, obwohl er es durch jene Identifikation doch selbst schon für subjektiv und für nichts als eine blofse Vorstellung erklärt hatte. Bestrebt, eine apodiktische Er- kenntnis von der Materie zu gewinnen und damit der Naturwissen- schaft eine philosophische (3rrundlage zu verschaffen, mufste er jener auf der einen Seite jede selbständige Existenz aufserhalb des Sub- jekts absprechen und durfte er doch auf der anderen auch nicht

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leugnen, dals die Materie, als der Grund aller Realität, den Be- dingungen des subjektiven Denkens nicht unterworfen sei, weil er sonst der Naturwissenschaft ihr notwendiges Fundament entzogen hätte. So kam er dazu, einen Begriff der objektiven Realität und überhaupt eine Erkenntnistheorie zu schaffen, die unklar zwischen einer rein sul)jektiv ideaUstischen und einer transceudental realistischen Bedeutung schillert, und diesem Schillern einen geradezu klassischen Ausdruck in der viel umstrittenen Wiederlegung des Idealismus*' zu verleihen, die so überaus bezeichnend für das Dilemma ist, in welches er durch sein vorgestecktes Ziel sich notwendig verwickeln mufste. So konnte er in seinen „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft" einen subjektiven Begriff der Materie deduzieren und trotzdem diese apriorische Deduktion auf jenem, seinem AV(»rt- laute nach auf das transceudente Gebiet bezüglichen und aposteriorischen

Satz aufbauen: „Die Grundbestimmung eines Etwas, das ein Gegen- stand äufserer Sinne sein soll mufs Bewegung sein: denn dadurch allein kihmen diese Sinne aftiziert werden" er brauchte sich ja nur auf die subjektive Natur der Bewegung zu berufen, dann konnte auch die Aifektion nur als empiriseh oder intrasubjektiv verstanden werden, und es bestand gar keine Gefahr, mit diesem Begriff aus dem Gebiete der Subjektivität herauszufallen.*)

Ob Kant wirklich schon in (h^n Metaphysischen Anfangsgründen den Begriü' der emi)irischen Affektion im Sinne hatte, wenn er die Materie aus Bewegungsmomenten zustande konnnen liefs, war aus dieser Schrift selbst nicht mit Sicherheit zu bestimmen. Kant befand sich bei seiner Konstruktion der Materie, wie erinnerlich, in dem schwierigen Dilemma, dafs die produktiven Kräfte der Materie als solche transcendent sein mufsteii, dann aber nicht a i)riori konstruierbar waren, dafs sie aber als a priori konstruierbar, d. h. als blofse Erscheinungen, nicht die produktiven ivräfte der Materie sein konnten. Er liatte sich damals über das Verhiiltnis seiner dynamischen Theorie zum transcendentalen Idealismus ausgeschwiegen und es zweifelhaft ge- lassen, ob die Kräfte zu den Erscheinungen oder zu den Dingen an sich geh(')rten. Jetzt zerhaut er diesen Knoten damit, dafs er sie einüich füi- Erscheinungen erklärt. War der Gedanke der empirischen Aifektion bei ihm früher nur gelegentlich aufgetaucht, und hatte er ihn dazu benutzt, gewisse Schwierigkeiten seiner Theorie mehr zu verhüllen, als aufzuklären, so macht er jetzt mit ihm Ernst und stellt er ihn geradezu an die Spitze seiner Philosophie, nachdem er auch das Prinzi}) der apriorischen Entwickelnng der objektiven Kräfte aus

den eigenen Kräften des Subjekts niclit mehr blofs, wie in der Dynamik, auf die beiden Grundki-äfte der Materie beschränkt, sondern auf die Kräfte der Materie überhaupt ausdehnt (s. o. 301— 854).

So wurde Kant abermals, zum letzten Male, durch naturphilo- sophische Gründe, wenn nicht zu einem neuen Standpunkt, so doch zu einer Modifikation seiner Erkenntnistheorie geführt, die darum nicht weniger eigentümlich ist, weil sie doch nur auf einem schärferen Herausarbeiten gewisser in keimhafter Form schon früher vor- handenen Ansichten beruhte. Dafs es wirklich auch in diesem Falle die Natur])liilosophie war, die seine erkenntnistheoretischen Ansichten beeinflufste, und nicht umgekehrt, das ergiebt auch die Erwägung, wie weit doch im Grunde dieser letzte erkenntnistheoretische Stand- ])unkt. trotzdem er nur eine Koiise(juenz von Kants Grundannahmen darstellt, sich von dem eigentlichen Kerne der Vernunftki-itik ent- fernt. Der Widerspruch zu seiner ursprünglichen Position lag zu sehr auf der Hand, als dafs er Kant selbst nicht hätte auffallen müssen, ja, es bleibt sogar fraglich, ob Kant jene Konsequenz aus seinen Irüheren Grundsätzen überhau])t würde selbst gezogen haben, wenn ihm nicht Fichte und Beck hierin zuvorgekommen wären, die öfter von ihm in seinem nachgelassenen Manuskript erwähnt werden, und deren Eintiufs auf seine eignen Ansichten ganz unver- kennbar ist. Nur weil es sich um Sein und Nichtsein der Natur- philosophie handelt, der Kant jedes Opfer zu bringen bereit ist, acceptiert er den Begriff der emjjirischen Aifektion und untergräbt er damit selbst die Fundamente seines eigenen Lehrgebäudes, au dessen Aufrichtung er sein Leben darangesetzt hatte. Er sieht wohl den Gegensatz dieses neuen Gesichts])nnktes gegen die Vernunft- kritik, aber er zweifelt auch nicht daran, die Annahmen mit einander vereinigen zu kcinnen, die doch sich beide absolut aus- schliefsen. Die vergeblichen Anstrengungen Kants, über den AV^ider- spruch hinwegzukommen, füllen einen grofsen Teil des letzten Manu- skriptesaus. „Daher ist dasOpusPosthumum ein unerquickliches Durch- einander scharfsinniger Konse(iuenzen und seniler Abmülaingen.''* )

- -

Überblicken wir das Vorangegangene noch einmal, so sind folgende Momente bei dem Prozefs, wodurch das Objekt der Physik in uns entsteht, zu unterscheiden. Das erste ist die Affektion des Subjekts durch die Dinge an sich oder die transceudente Affektion. Ihm entspricht, als zweites Moment, die Reaktion von Seiten des Subjekts in den einfachen sinnlichen Empfindungen, die nun das Substrat des ganzen folgenden Prozesses bilden. Das

=*=) Vgl. Vaihinger: iStral'shurger Ahhundhinnun zur Philosophie 07—164.

'*') Vaihiiiger: a. a. O. IbS i.

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dritte ist die Kinordnung dieser Eiiiptiudunsen in die reinen Formen der Anschauung (Raum und Zeit) und damit in die Einheit des l^ewutstseins, ivodurchausden Eni])tindun-en die Wahrnehnumgen (im weiteren Sinne) entstehen. Das vierte ist die Affektion des Suhjekts durch diese Wahrnehmungen, die empirische Affekti^on oder die SelhstafVektion des Sul)jekts. Ihm entspricht, als fünftes Moment, die lleaktion von Seiten des Suhjekts in den Wahr- nehmungen im eigenthchen Sinne. Das sechste endlich ist die Ein- ordnung dieses Stoffes in die Formen des Verstandes und die Zusammensetzung und Verhimhing seiner einzehien Bestandteile zur Rinheit des Systems, woraus die Erfahrung hervorgeht, die nichts Anderes ist als die systematische Einheit aller vorangegangenen Momente (^Tr). ^^^9. 488 f. M\:^ f. 472. r>7:0. .Die reine Anschauung des Mannigfaltigen im Hauine enthält die Form des Gegenstandes in der Erscheinung a priori vom ersten Hange, d. i. direkt. Die Zusammensetzung der AValirnchmungen (Erscheiiiun- im Suljekt zum lieliuf dvv Erfahrung) ist wiederum Erscheinung des so affizierten Suhjekts, wie es sich seihst vorstellt, vom zw(>iten Hange und ist Krscheinung von der Erscheinung der Wahnichmungen in Einem Hewufstsein, d. i. Frscheinung des sich seihst afrizierenden Suhjekts, mithin indirekt •' (4:;<))- J>«^^ ^^''^^e Moment des Prozesses liegt aufser- halh des Suhjekts und hleiht daher auch gänzlich unhekannt. Alle ührigen ^Momente liegen innerhalh des Suhjekts und sind entweder direkt oder indirekt hekannt. Diese Momente sind sämtlich a priori, d. h. sie liegen vor der unmittelharen empirischen Anschauung, und zwar sind sie entweder direkt oder indirekt a priori, je nachdem oh sie dem anschauenden Suhjekt näher oder ferner liegen; so ist z. B. das sechste Moment unmittelhara priori, alle iii)rigen sind eshlofs mittelhar. Bei dieser Anschauungsweise ist natürlich das Ding an sich noch weiter in den Hintergruml geschohen. wi(> es dies schon sonst im kantischen System gewesen war. Es ganz fallen zu lassen, dazu vermag er sich freilich noch immer nicht recht zu entschliefsen; vielmehr nimmt er auch jetzt noch eine metaphysische Einwirkung an ('>S<)). Das Ding an sich ist zwar „nicht ein cognoscibile als intenigihile, sondern x, weil es aufser der Form der Erscheinung ist; aher es ist doch ein cogitabile, und zwar als notwendig, was nicht gegeben werden kann, aher doch gedacht werden mufs, weil es in gewissen andern Verhältnissen, die nicht sinnlich sind, vorkommen kann-' (XXT. 549). Das ist allerdings eine sehr verdünnte und problematische Auffassung des Dinges an sich, bei der nicht ein- zusehen ist, was sie zur Erklärung der Erfahrung leisten soll. Bedenkt man, wie die Möglichkeit des Überganges darauf beruhen

soll, dafs das Subjekt aus sich selbst und allein die Erfahrung macht, so mufste Kant obendrein ein besonderes Interesse daran haben, auch den letzten geringfügigen Einlluis des Dinges an sich nach Möglichkeit zu leugnen, oder ihn doch wenigstens nicht mit in Rechnung zu stellen. Dazu kam, dafs die schwersten Einwände gegen das kantische Lehrgebäude gerade das Ding an sich betrafen, dieses Schmerzenskind des transcendentalen Idealismus, und dafs cm Jacobi, ein Aenesidem, ein Beck und Pichte es ihm nalie genug gelegt hatten, sich gänzlich von ihm loszusagen. Kein Wunder also, wenn sich in dem nachgelassenen Manuskript neben solchen, welche die Annahme einer transcendenten Realität des Dinges an sidi voraussetzen, eine grofse Zahl von Stellen findet, die den rein fiktiven Charakter desselben betonen! So heilst es z. B.: ..Das einem Dinge in der Erscheinung korresjjomlii^rende Ding an sich ist ein blofses Gedankending, aber doch auch kein Unding" (XIX. 574. 575. 573. 578j. ,.Der Begriff von einem Dinge an sich (ens per se) entspringt nur von einem vorher gegebenen, nämlich dem Objekte in der Erscheinung, mithin einer Relation, darin das Objekt im Verhältnisse, und zwar einem negativen Vei- hältnisse betrachtet wird-' (571). „Das x. als das Intelligible, was das Subjekt afliziert, ist nicht ein für sich existierendes gegebenes Diiig oder Sinnengegenstand, sondern das im Verstände liegende ens rationis, was blofs das Verhältnis des realen Grundes (dabile) ist*' (XXI. 585). ,.Das Ding an sich ist nicht ein anderes Objekt, sondern eine andere Beziehung (respectus) der Vorstellung auf das- selbe Objekt. Es ist ens rationis =- x der Position seiner Selbst nach dem Prinzip der Identität, wobei das Subjekt als sich selbst aftizierend, mithin der Form nach nur als Erscheiiiun.i,^ gedacht wird^' (ebd. 551). „Das Ding an sich (obiectum Xonmenen) ist nur ein Gedankending ohne Wirklichkeit, um eine Stelle zu be- zeichnen zum Behuf der Vorstellung des Subjekts, ein verschiedenes Verhältnis der Anschauung zum Subjekt, insofern dieses unmittel- bar vom Objekt affiziert wird, mithin der Gegenstand als Erschei- nung nach einer gewissen spezifischen Form vorgestellt oder die Vorstellungskraft unmittelbar erregt wird*' (554 f. 556. 557. 5()0). ,.Das Objekt an sich (noumenon) ist ein blofses Gedankending, in dessen Vorstellung das Subjekt sich seihst setzt" (55!)). Ganz etwas Anderes ist j'ier ,,Gegenstand an sich"; denn dieser ist „das Sinnen- objekt an sich selbst, aber nicht als ein anderes Objekt, sondern eine andere Vorstellungsart" (XIX. 578). ,.Der Unterschied des Mannigfaltigen der Anschauung, ob es dem Gegenstand in der Er- scheinung oder nach demjenigen, was er an sich ist, vorstellig

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ß. Kant als Naturphilosoijh.

IL Die kritische Naturi)hilosophie.

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macht, bedeutet nichts weiter, als ob das Formale blofs subjektiv, d. i. für das Subjekt, oder objektiv für jedermann geltend gedacht werden solle-' (572). Der Gegenstand an sich entsi)richt der objek- tiven Erscheinung im oben angegebenen kantischen Sinne oder der Ersclieinung vom ersten Range und ist das Objekt der Physik, ohne dal's freilich dieser Unterschied von Kant auch überall fest- gehalten würde.

Man sieht, Kant giebt sich jedenfalls alle Mühe, den Wirklich- keitsgrad des Dinges an sich nach M(')glichkeit herabzudrücken und der Schwerpunkt von der AfiVktion des Subjekts durcli das Ding an sich in diejenige (hucli den Gegenstand an sich zu verlegen. Er sieht nicht, dafs er jene transcendente Affektion gar ni(;ht entbehren kann, weil ohne sie auch der Gegenstand an sich nicht mr)glich ist und sucht die Sache so darzustellen, als ob aucli dieser Gegenstand ganz und gar nur aus der Spontaneität des Subjekts hervorginge. Und doch ist nach seinen eigenen Voraussetzungen der erste Akt des Subjekts die Eeaktion desselben auf die transcendente Affektion, und diese ganze Gegenwirkung, wodurcii das Subjekt zuerst die sinnliche Emi)findung, das materiak' Substrat aller folgenden Operationen, in sich setzt, entspricht genau jener Wirkung durch das Ding an sich und em])fängt erst von diesem ihre eigene Be- stimmung. So sehr hält Kant sein ganzes Interesse nui- auf den Prozefs innerhidb des Subjekts gerichtet, dafs er darüber ganz ver- gifst, wie dieser Prozel's in und mit seinem Anfangsgliede doch lediglich durch den uufsersubjektiven Akt bestimmt wird, und so kompliziert ist hiermit dei* Prozefs geworden, dafs Kant, obwohl das Subjekt seinerseits doch blofs formale Momente zu dem materialen Momente der primitiven Eniptindung hin/uthut. sich einreden kann, es müsse bei (Hesem mebrfacben Operieren des Subjekts mit rein For- malem am Ende doch auch wohl ein materiales Moment lieraiiskommen.

(4e"-enüber der i^ewaltsamen Auscuiuinderreifsung von Sinidich- keit und Verstand, worauf Kant in der Vernunitkritik seine Lehren gebaut hatte, ist es gewifs als ein Fortseluitt anzuerkennen, wenn er in seinem letzten Mamiskiipt behaui)tet, nicht blofs das formale Element der F^rfabrung, sondern auch das materiale, die p]inptindung, werde von uns sfdbst gemacht, sei also nicht blofse Rezeptivität. Indem er jedoch das Ding an sich verleugnet, gewinnt diese richtige Erkenntms den falschen Sinn, als ol) auch die Knii)tindung blofs unser eigenes Produkt sei, als ob überhaupt nichts von aufsen ins Subjekt hinein, sondern alles durch und durch nur aus unserem eigenen Innern komme, was dann freilich noch weit verkehrter ist als jener Grundfehler der Yernunftkritik (09(1. T)}):}. (301). Giebt

es überhauj)t kein Ding an sich, keine Realität aufserhalb der Sphäre des Subjekts, ist die immanente oder Vorstellungsreahtät die einzige, die es giebt, dann allerdings gewinnt der kantische Begriff der objektiven Realität erst seine volle, überragende Bedeutung, dann war es ein blofses Mifsverständnis, wenn Tiedemann Tn seinem „Theätet" vom Jahre I7<j4 die objektiv-reale Gültigkeit des menschlichen AVissens dem transcendentalen Ideahsmus gegen- über glaubte in Schutz nehmen zu müssen: „Die AVirklichkeit dieser Gegenstände kann selbst durch keinen Theätet bestritten werden und ist der Bezweifelung des Idealismus überlegen" (XIX. O^f)). Aber dieser Realismus, der eine Affektion des Subjekts durch den Gegenstand der Wahrnehmung annimmt, der annimmt, dafs unsere Wahrnehmung des Gegenstandes identisch sei mit dem Gegenstande selbst, unterscheidet sich auch nur dadurch mehr vom naiven Realismus, dafs er innerhalb der Sj)häre des Subjekts beschlossen bleibt, und die Überwindung eben dieser kindlichen Anschauungs- weise, das war doch gerade die grofse That der kantischen Ver- imnftkritik gewesen I Es braucht dal)ei gar kein AVort weiter über die ungeheuerliche Voraussetzung verloren zu werden, die diesem idealistischen naiven Realismus zu Grunde liegt, die Voraussetzung nämlich, dafs es die Erscheinung, mithin Vorstellung ist, die das Subjekt aftiziert. un.l dafs, da unsere Vorstellungen doch erst durch die Einwirkung dieser Vorstellungen in uns entstehen, unsere Vor- Stellungen auf uns wirken, noch ehe sie wirklich sind. .Alan ver- kennt das innerste Wesen der Vernunftkritik und setzt Kaut herab. wenn man, wie Krause, diese mehr als absurde Auffassung des altersschwachen Denkers dem Verfasser der Vernunftkritik als seine eigentliche Meinung in die Schuhe schiebt.

Die Kraft, welche das Subjekt in der Reaktion auf die em- pirische Atfektion ausübt, entspricht der Kraft, mit der es auf die transcendente Affektion reagiert, kann folglich für diese an die Stelle gesetzt werden. Oder wie Va i h i n g e r es ausdrückt: ,. Findet zwischen dem empirischen Objekt und dem empirischen Subjekt ein analoges A f fekt ions verh äl tnis statt, wie zwischen dem transcendenten J)ing an sich und dem transcendenten Subjekt, so bringt auch das empirische Subjekt bei jener emj)irischen Affektion formala])riorische Elemente hinzu; und die systematische Darstellung dieser Formen ist dasjenige, was Kant in seinem Opus Posthumum leisten will."*) Drückt man den Grundgedanken des Überganges i^i diesc^r Weise aus, so leuchtet nicht blofs die Xot-

*) Vaihinger: a. a. ü. ibS.

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B. Kant als Naturphilosoph.

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wendigkeit der Annahme von wirklichen das Subjekt affizierenden Dingen an sich ein, sondern es springt auch nunmehr in die Augen, worin der Grundfehler der ganzen Darstellung Kants liegt. Die- selbe steht und fällt nämlich mit der Voraussetzung, dafs das Subjekt, so fern es vom Dinge an sich afflziert wird, das trans- cendentale Subjekt oder das Subjekt, als Träger der direkten Er- scheinung, mit dem Subjekt identisch sei, sofern es von dieser direkten Erscheinung afhziert wird, dem empirischen Subjekt, als dem Träger der indirekten Erscheinung. Denn nur so ist diese letztere Affektion zugleicli eine Selbstaffektion des Subjekts. Es ist nun aber klar, dafs eben jenes nicht der Eall ist.

Kant selbst unterscheidet ein dreifaches Subjekt oder Ich: „Der erste Akt der F^rkenntnis ist das Verbum : Icli bin, das Selbstbewufstsein, da Ich, Subjekt, mir selbst Objekt bin. Hierin liegt nun schon ein Verhältnis, was vor aller Bestimmung des Subjekts vorhergeht, nämlich das der Anschauung zu dem des Begriffes, wo das Ich doppelt, d. i. in zwiefacher Bedeutung ge- nommen wird, indem ich mich selbst setze, d. i. einerseits als Ding an sich (ens per se), zweitens als Gegenstand der Anschauung, und zwar entweder objektiv, als Erscheinung, oder als mich selbst a priori zu einem Dinge konsLituierend, d. i. als Sache an sich

selbst-' (XIX. '7)71 f.).

„Das Bewufstsein meiner selbst ist blofs logisch und führt auf kein Objekt, sondiM-n ist eine blofse Bestimmung (U's Subjekts nacli der Regel der Identität" (XXI. T)!)!)). „Dieser Akt der Ai)per/ei)tion ist noch kein Urteil, d. i. noch keine Vorstellung des Verhältnisses eines (iregenstandes zum Anderen, noch weniger ein Vernunftschlufs: Ich denke, darum bin ich (ratiocinium cogito ergo sum). kein Fortschreiten von einer Vorstellung, als Prädikats, zur anderen, als Bestimmung eines Begriffs, sondern blols das Formale des Urteilens nach der Kegel der Identität; nicht ein i-eales Verhältnis der Dinge, sondern l)lofs ein logisches Verliiiltnis der Begriffe zu einander" (:){)S. ;)})()). Ich bin mir selbst ein Gegen- stand durch den Begriff meiner selbst ist allenfalls ein leeres Frteil, blofs analytisch, das keine Erkenntnis begründen kann (liOÜj. „Das Denkbare (cogitabile) erfordert zum Behuf dei- Erkenntnis ehien Gegenstand (dabile). nändicli was als Anschauung einem Be- griffe korrespondiert: und wenn diese rein. d. i. noch mit keiner Wahrnehmung (empirischer Vorstellung mit Bewufstsein) bemengt ist, ist der Akt. wodurch das Sul)iekt sich selbst zum Objekt macht. m e t a p h y s i s c b" (oSS). Es existiert etwas (apprehensio sinij)lex) : ich bin nicht ]}lofs logisches Subjekt und Prädikat, sondern auch

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II. Die kritische Naturphilosophie. 4-9

Gegenstand der Wahrnehmung, dabile, non soluni cogitabile«' (GOO). „Das logische Bewufstsein führt zum Ilealen und schreitet von der Apperzeption zur Ap])rehension und deren Syntliesis des Mannig- faltigen" (601). „Der erste synthetische Akt des Bewufstseins ist der, durch welchen das Subjekt sich selbst zum Gegenstande der Anschauung macht, nicht logisch (analytisch) nach der Regel der Identität, sondern metaphysisch (synthetisch)-' (593). „Das Subjekt setzt a priori sich selbst durch den Verstand als synthetische Ein- heit des Mannigfaltigen der Anschauung, welche unter den Vor- stellungen von Eaum und Zeit nicht Gegenstände der Auffassung (apperceptiones) sind" (XIX. öTo). Wären sie Gegenstände der Anschauung, so würden sie etwas Existierendes sein, was unsern Sinn affizierte. Sie sind aber nur die blofse Form, worin etwas für unsern Sinn Gegenstand der empirischen Anschauung sein kami fülilff.). keine Dinge an sich. d. i. nicht etwas aufser der Vor- stellung Existierendes, sondern dem Subjekt als einem Akte d e s s e 1 b e n Angehöriges, wodurcli dieses sich selbst setzt, d.i. sich selbst zum Gegenstande seiner Vorstellung macht (;■)()<)). Raum und Zeit sind so gut blofse „Akte des Subjekts selbst und ein Produkt der Einbildungskraft" (XXI. 58G. 595). wie nur durch sie vor aller empirischen Vorstellung mit Bewufstsein syntbetische Sätze möglich sind, welche a j)riori (d. i. mit dem Bewufstsein ihrer absoluten Xotwendigkeit) aller unserer Erkenntnis zu Grunde liegen (XIX. 5ü9). „Der erste Akt des VorstellungsvernKigens, wodurch das Subjekt das Mannigfaltige seiner Anschauung setzt und sich sell)st /um Sinnengegenstande macht, ist also eine synthetische Erkenntnis des Gegebenen (dabile), Baum und Zeit, als des Formalen der Anschauung, und des Ged a ch t e 11 in der Zusammensetzung dieses Mannigfaltigen (cogitabile), insofern es, blofs als Erscheinun- dem Formalen der Anschauung nach a priori vorstellbar ist'' ((i^>>s vgl. auch 57(). (il7. (J;>5. XXL 545). „Der Baum, die Zeit, als An- schauungen, und die Einheit des Bewufstseins, notwendige Einheit, in der Verkniij)fung des Mannigfalti,i,^en derselben ist der notwendige (ursi)rüngliche) Sinnengegenstand" (ülU). „Ich bin mir also sowohl ein (Gegenstand des Denkens, als dei- inneren Anschauung ein Sinnen- objekt. <1. i. dvr Anschauung, aber noch nicht der enii)irisc}ien (AVahrnehmung). sondern der reinen (Kaum und Zeit) als Erschei- nung von etwas, was blofs Form der Zusammensetzung des Mannig- faltigen ist" (XXI. {)[){)). Erst wenn ich in diese Formen des Baumes und der Zeit selbst die Gegenstände des äufseren und des inneren Sinnes gesetzt und das Aggregat derselben zur systematischen Einheit der Erfahrung verknüpft habe, bin ich mir meiner selbst

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ß. Kant als Naturphilosoph.

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iiuch empirisch als Gegenstandes der Wahrnehmung hewufst, ohne dafs es darum üherflüssig wäre, mich selbst vorher oder a priori als Aggregat der Wahrnehmungen zu wissen (GOf). (iOl).

Wenn es hic^rnach den Anschein hat, als oh das metaphysische oder transcendentale Ich zum Inhalte seines Bewufstseins nur die formalen Elemente hat, die allem unsern Denken a priori zu Grunde liegen, das empirische Ich dagegen zu seiner notwendigen Voraus- setzung auch noch der realen Emptiiidungselemente (Wahrnelimuiigen) bedarf, die es zur Einheit der Erfahrung v(Tkniipfen kann, so ist offenbar schon hiermit ein wichtiger Unterschied gegeben. Kant vermag auch nicht zu leugntMi. dal's das transcendentale Ich zum empirisclien sicli wie das Ding au sich zur Erscheinung vorhalte. „Das Bewufstsein seiner selbst (api)erceptio), insoff^rn es aftiziert wird, ist die Vorstellung des Gegenstandes m dw Erscheinung; insofern es aber das Subjekt ist, was sich sell)st aftiziert, so ist es auch zugleich als das Objekt an sich =- x anzusehen" (5S7. -:)■:>:')). ,.I)as Subjekt affiziert sich selbst als Ding ini IvMume und der Zeit existierend; das Subjekt ist hier das Ding an sich, weil es Spon- taneität enthält-' (XIX. 57:0. Kant glaubt nur deshalb mit (liesL>m Ding an sich operieren zu kiinnen. weil er es ja im empirischen Ich auf mittelbare Weise zu besitzen sich einbildet, weil es ja ein und derselbe Akt sein soll, der das Subjekt, als Ding an sich, zu seinem eigenen Objekt und zugleich zur empirischen Erscheinung macht: ,.Xicht Obiectuiu Xoumenon, sondern der Akt des Verstandes, der das Objekt der Sinnenanschauung zum blofsen Phänomen macht. ist das intelligible Objekt*' (ebd.).

Xun leuchtet ein, dal's von einem metapliysischen Ich als Ich nur dann die Rede sein kann, wenn das metaphysische Subjekt schon in und mit seiner eigenen Thätigkeit sich auf sich selbst bezieht, sich selber Objekt ist. Das kann aber niemals geschehen, indem es blofs seine eigenen formalen Momente spontan aus sich heraus- setzt, selbst dann nicht, wenn man davon absieht, dafs nach Kants eigener Annahme, die Form nur wirklich ist im Inhalt. Vielmehr bedarf das Subjekt hierzu einer Einwirkung von aufsen, von einem, was nicht es selber ist, an dem seine Thätigkeit sich gleich- sam bricht und in sich selbst zurückprallt, wie Kant dies bei dem emjnrischen Ich auch selbst voraussetzt. Empfängt es aber eine solche Einwirkung etwa durch das Ding an sich, so ist das Ich, was dabei herausspringt, eben nicht ein transcendentales Icli, sondern es ist schon das empirische Ich. das nach Kant erst durch die Selbstatfektion des Subjekts entstehen soll. Soweit also das Subjekt Spontaneität ist, soweit ist es noch kein Ich, sondern ist es erst die

II. Die kritische Naturphilosophie.

481 thätige Substanz oder der tp^Ip r r^ a

jektive) Vorstellung wie sich i.l \ ^'"'"

Ich in einen. Bewufs't ei„ eCr dT"'?'^'^

Ich ist jedoch in W.hrheit gar kein Ich kel R ' ff ''''''T^'-'^^' absolut u n b e w u f s t e s sT . ^ l r^ -Bewulstse.n, sondern es ist

wurstsein d.ses s:^::::r:i^:T:t:^ :: t '-

so verschieden, wie es dpr Pn^. , 1 . ücshalb ^on diesem

cufu, wie es clei bregenstand m der Vorsfolhmn- .-^ 1 Gegenstande selber i^f n; a 1 voistellung von dem

welche dennoch beide in der Einen Vor^tMI,, Z~'f ^^'^ »"^ sollen cVTin -'V. 1- . Voistellung: Ich entha ten sein

I;..^t. der beiden Ich . .ehla^t.l ^ t^^ „il f^

t des e„.p„..schen bei se.ner Arbe.t .„ belauschen, a be e ^^^•kh h zw« solche Ich in einem nnd demselben Ich vore.nilt so Ware das transcendentale Ich l'ür das emniriscl,,. T ''"'"*'

u^^ewnlst, da. . auch dann noch e' 0^:^ J^l, ^ : '^ J

Kant hat volhg Recht, die ganze Welt in Raun, und Ze>t tls moghchen Gegenstand unseres en.p„,schen ßewulstseins. aus'd Spontanität des transcendentalen Subjekts hervorgehen u hssen a er er hat doch nur insofern Recht, als d.es transc^ulenta Sa t' selbst noch ke,n Bewu.stsein ,st. als es noch n.cht .un, ind, fd e, T ager der en>p„.,sc:hen Ichhcit eingeschränkt ist. Xur als der allein l.ager aller e.nzelnon Subjekte oder als absolutes Subjekt " Spontanität. Als nulividuelles Sub.jekt dagegen oder ,n .se.ner E„ ! chrankung zu,,, substa„tiellen IVager der en.j.inschen Ichhct ist

das transcendentale Subjekt Spontaneität u-ll Rezept.vitä 1.

glech das ersterc, sofern es auch als individuelles Subjekt nicl,t

eben d.uch d,e h„,w„.kung der übngen lndiv,dualitäten besti„„nt S,, n'ekt .' ^"'■""f"r ''''f'^'^ ''- -^«>lute n,it dem relat,ven

h Ib 1 ^ r™'" f "' "■• ''"■ ^""•^ ^^^"ItP'-el-s spiele s,ch ,nner- halb de,- Sphäre des letzteren ab und erscheint er ,hn, bdd als

i-e,ne Spontaneität, bald als Spontaneität gcnischt mit Rezeptivilät

(." der transcendenten Afiekfon). U„d er verwechselt u.ederun,

i>T ews, Kants Naturphilosophie.

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13. Kant als Naturphilosoph.

dies relative Subjekt mit der cnipiriscben Ichheit. Darum bildet er sich ein, der ^aiize Prozei's sei nichts als der Prozefs des Zustande- kommens unserer Erkenntnis. Man brauchte nur der ersteren Ver- wechselung ein Ende zu machen, indem man die Kezeptivität durch das Ding an sich beseitigte, und die Tchheit unmittelbar auf das absolute Subjekt bezog, so war damit der Standpunkt der absoluten Ichheit Fi cht es gegeben.

Kant hat ganz Recht, gegen Fichte zu bemerken: „Eine Wissenschaftslehre überhau})t, iii der man von der Materie derselben (dem Objekte der Erkenntnis) abstrahiert, ist die reine Logik, und es ist ein vergebliches Umdrehen im Kreise mit Begriffen, über diese sich noch eine andere und luibere, allgemeinere Wissenschaftslebre zu denken, welche doch selber nichts als das Scientifische der Fh'- kenntnis überliaupt (die Form derselben) entbalten kann" (XX. 1)4). Er hat ganz Recht, wieder und immer wieder zu betonen, dal's aus dem blofsen Kegrifi" des Ich eine reale oder materiale Erkenntnis nicht herauszuklauben, die intellektuelle Anschauung, in der Begriff und Gegenstand, Denken und Sein zusammenfallen, mir einem absoluten Wesen, aber nicht uns Menschen m()glich sei. Allein er seli)st hat das Ich wie eine solche intellektuelle Anschauung behandelt, er selbst hat geglaubt, in der blol'sen Vorstellung Ich den substantiellen Träger dieser Vorstellung als solchen zu besitzen, er selbst hat aus dieser Voraussetzung bereits in der Vernunftkritik die allgemeinstc^n Gesetze der Xatur a priori abgeleitet, in den Metaphysischen An- fangsgründen aus ihr das Wesen der Materie konstruiert und diesen Versuch in dem nachgelassenen Manuskript sogar auch auf die be- sonderen Kräfte und Eigenscharten der Materie angewendet. Wenn er darin nicht so weit gegangen ist, wie seine Nachfolger, die sich anmafsten, mit ihrem endlichen, individuellen Denken die Schritte des schöpferischen, absoluten Denkens nachmachen zu können, so hat dies seinen Grund nur darin, dal's er selbst docli niemals wirklich aufgehört bat, an eine transcendente Aifektion durch das Ding an sich zu glauben, und dal's er infolge dessen davor geschützt war, das Ich mit dem Subjekt des absoluten Denkens völlig zu iden- tiiizieren. Unter diesen Umständen kann es nur komisch wirken, wenn Krause die kantische „exakte Wissenschaft" gegenüber den tichteschen „Windbeuteleien" herausstreicht mit den Worten : .,Der Ausspruch Schopenhauers ist vollständig richtig: Es giebt keine kantisch-fichtesche Philosophie, sondern es giebt nur eine kantische Philosr)[)hie und eine iichtesche Windbeutelei. Darum müssen die Philosophen lernen, diese Verirrung zu vergessen" (als ob sie die- selbe nicht leider Gottes ! längst „vergessen" hätten oder

II. Die kritische Naturphilosophie. zoo

wieviele unter den modernen Plulosopl,en mag es geben, die Fichte überhaupt gelesen, geschweige denn verstanden hätten?) „und aus dem nachgelassenen Werke Kants sehen, dals sie nicht eine Fort- setzung und Bereiclierung der kantischen Philosophie ist (i) Gewils hat Kant sie n.cht aus Altersschwäche nicht verstanden oder aus btolz ignonert, sondern er hat sie bis ins innerste Herz verstanden, für falsch gehalten und l,is in die fernsten Schluptw.nkel in dem nachgelassenen AVerke widerlegt. Man hat kein Recht, zu sa-en dals man Kant anerkennt, wenn man auf Fichtes Wegen geht •' -*) Der Übergang will die physikalischen Bestimmungen der Materie aus ihrem Grunde ableiten, d. h. er handelt von der Materie ak Basis und Substrat aller derjenigen Besonderheiten, welche deii Cxegc^stand der Physik bil.len. Sind uns in den Wahrnehmungen nur die letzteren gegeben, so versteht es sich von selbst, dafs die Unt..rsuchung ihres Grundes nicht von <leu Wahrnelnnungc.n aus- gehen kann. „Man kann nicht vom Objekt, der Materie im Raum anfangen, als Gegenstande empirischer Anschauung und In- begriff einer unendlichen Menge möglicher Wahrnehmungen in Einer empirischen Anschauung - dem, das wäre schon ein' IJberschritt /ur Physik, als einem System der Erfahrung _ sondern von dem Verstandesbegriffe im Subjekt, sofern dieses sich ein Ganzes der bewegenden Kräfte der Materie denkt" (XXI. Pjr,). Besäfsen wir von dn- Materie blofs eine empirische Erkenntnis, so würde es natürlich auch unmöglich sein, deren bewegende Kräfte a priori abzuleiten. „Wenn wir aber a priori über Erfahrungsgegenstände urteilen wollen, so können wir nur Prinzipien der Übereinstimmung der \orstellung von den Gegenständen mit den Bedingungen der Moghchkeit der Erfahrung von denselben verlangen und erwarten- (AIX. ,:,). Die Frage nach der Existenz der Materie, als Sub- strats der bewegenden Kräfte, die zunächst im Übergange beant- wortet werden mufs. fällt sonach mit der anderen zusammen wie Materie selbst der Grund der Mögli<.hkeit der Erfahrung od,>r wie das oh.iektive Prinzip der Einheit unserer Wahrnehmungen zugleich das subjektive Prinzip der Zusammenstimmung des Mannigfaltigen empirischer Anschauungen zu einer und der nämlichen Erlahrun'' sein kann (XXI. Piü). °

Raum und Zeit, ursprünglich nur Formen der Anschauung, setzen eine Einwirkung durcli bewegende Kräfte der Materie voraus, um auch als Gegenstände der Anschauung für uns bewulst zu werden. Materie ist also „das, was den Raum zum Gegenstand der

*) Krause: Das nachgelassene Werk Im. Kants u. s. w. 70.

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B. Kant als Xaturphilosoph.

Sinne macht," den an sich blols intellip^iblen, denkbaren Eaum zum apprehensiblen, sj)ürbaren Raum erliebt; sie ist gleichsam selbst der „hypostasierte l^aum", „das Substrat aller äuiseren empirischen Anschauung niit Bewufstsein". ohne das es keine Form der An- schauung, als Gegenstand unseres Bewufstseins, mithin auch kein Objekt in diesen Formen und damit überhaupt kein Bewufstsein, noch Erfahrung gäbe (XIX. 294. r)87. 590. 591. 593. 597. 005. 618. XX. 104). Nun ist der leere Raum kein Objekt der Erfahrung. Weder umschliefst ein solcher den erfüllten R;iuni. noch kann er von diesem eingeschlossen werden, weil dei* hlofse Raum, als sub- jektive Form der Anschauung, nicht wirklichen Objekten dieser Anschauung beigeordnet werden darf (XX. 151. XXT. 111). Folg- lich ist der Raum, als Gegenstand der Erfahrung, mit der Materie selbst identisch ; und da es nur Einen Raum, w^ie nur Eine Er- fahrung giebt, so ist mitliin die Materie das Prinzip der jM/iglich- keit einer einheitlichen Erfahrung, und zwar ein wirkliches Ding, dessen Jjegründung zugleich, als der Basis der primitiven Wirkungen der Materie im Raum, „d a s o berste R r i n z i j) d e s Fortgangs der m e t a p h y s i s c h e n A n f a n g s g r ü n d e d e r Naturwissen- schaft zur Physik enthält" (XIX. rili). Diese primitive Materie wird von Kant gewohnlich nls ,.Äther-', häutig auch als ,. Wärmestoff-' („Lichtstoff") bezeichnet, nielit als ob er unmittelbar etwas mit der Wärme zu thun hätte, sondern weil eine seiner Thätigkeiten darin bestehen soll, auch diesen Zustand zu bewirken (XXI. \',U f. I,U)). „Es existiert also ein W'äi-mestoff (abgesehen von der subjektiven Eigenschaft der Wärme), d. i. wii- können nur durch die bewegenden Kräfte der Materie in uns, welche Sinncn- vorstellungen ihrer Gegenstände bewirken, zur subjektiven Einheit der Erfahrung und nicht anders gelangen als durch die Existenz der bewegenden Kräfte, welche den Stoff zur Verbindung derselben in Einer möglichen Erfahrung rege machen" (ebd. \;V2). „Der Wärmestoff ist wirklich, weil der Begriff von ihm die Ges;imtheit der Erfahrung möglich macht; nicht als Hypothese für wahr- genommene Objekte, um ihre I^hänomene zu erklären, sondern unmittelbar, um die Mii^lichkeit der Erfahrung selbst zu be- gründen, ist er durch die Vernunft gegeben-' (XIX. 79).

Kant hat diesen apriorischen Bew^eis für die Existenz des Wärmestolfes in den verschiedensten Wendungen wiederholt und immer wieder mit bestimmteren Formulierungen desselben sich ab- ge(iuält bildete er doch den Grund, der festgelegt sein mufste, ehe er an die Ableitung der besonderen Kräfte denken konnte (XIX. 75—79. 124-127. 293 f. XX. 100— lli. XXI. 105—124.

IL Die kritische Naturphilosophie. ^ox

126—141. 143—147). Trotzdem erschemt ihm selbst zu manchen Zeiten der Äther keineswegs als etwas so Gewisses, wie er ihn in der Eegel hinzustellen sucht. So sehr er nämlich auch im zweiten und zwölften Konvolut betont, der Äther sei „kein hypothetischer, um gewisse Phänomene schicklich erklären zu können, sondern ein' a priori erweislicher Stoff-' (XIX. I2r>. I2G. XX. 102), so wird er doch im elften Konvolut für einen „blofs hypothetischen Stoff^^ erklärt (XIX. o9(S. 604); im neunten Konvolut spricht Kant sogar von der blofsen ,.Idee einer primitiven Materie^ ja, er nennt den Äther geradezu „ein hypothetisches Ding, wohin gleichwohl die Vernunft, um zu einem obersten Grunde der Phänomene der Körperwelt zu gelangen, greifen mufs" (XX. 356. 357. 359. 44U).

Es ist möglich, dafs, wie Kef erst ein meint, der allmähliche Wechsel in Kants Ansichten über den erkenntnistheoretischen Wert des Ätherbegriffs sich erst während der Niederschrift seines Manu- skiij.tes vollzogen hat, so dafs die zuletzt angeführten Stellen auf eine frühere Abfassungszeit hindeuten kr>nnten.*) Dann müfsten sie jedenfalls schon niedergeschrieben sein, noch ehe Kant iiberhaui)t das Prinzip seines Überganges gefunden hatte, weil dieser durchaus auf der Apodiktizität des Wärmestoffes beruht. In jedem Fall scheint Kant auch nach der Auffindung seines apriorischen Beweises nicht ganz von Zweifeln frei gewesen zu sein, ob er es auch mit einem wirklichen Gegenstande zu thun habe: die immer wieder- kehrende Einräunmng, der Beweis müsse allerdings „befremdlich" und „bedenklich-' erscheinen, sieht ganz so aus, als habe er selbst den Verdacht nicht völlig los werden können, die Existenz des AVärmestoffes blofs erschlichen zu haben. Indessen schlägt er alle Bedenken durch die Berufung auf die einzigartige Natur seines Beweises nieder, sofern es sich in ihm um einen Begriif hnndle, der, obwohl ein Einzel[)egriff, dennoch zugleich auch ein Allgemein- begriff sei, oder, wie Kant sich ausdrückt, „nicht eine distributive, sondern kollektive Allgemeinheit der Gegenstände*' bezeichne, „die zur absoluten Einheit aller iiK'iglichen Erfahrung gehören" (XIX. 76. 127). Das ist aber in der That nur der alte ontologische Beweis, der aus dem Begrifl' des absoluten Wesens zugleich dessen Existenz glaubt herausklauben zu k()nnen.

Bewiesen hat Kant, dafs die Entstehung des Bewufstseins nur auf Grund äufserer materieller Einwirkungen möglicher sei; dies ist aber ein Schlufs von der Wirkung auf die Ursache und daher durchaus nicht absolut gewifs. Absolut gewifs ist, dafs die Existenz

'') Kef er stein: a. a. O. .ib

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II. Die kritische Naturphilosophie.

der Materie, als Inhalt des Bewufstseins. nicht fortgeleugnet werden kann; dies stand aber auch schon vor allem Beweisen fest und konnte überhaupt normaler Weise nicht zur Frage werden. Wenn man iVIaterie und Bewufstsein einfach identifiziert, so ist natürlich die Existenz der Materie so gewifs, wie das Bewufstsein; das ist blol's eine Tautologie und keine neue Einsicht. Aber es ist Unsinn, die Materie in diesem Falle noch als „Ursache des Bewufstseins" y.n bezeichnen, weil die Ursache mit der AVirkung nicht uiimittel])ar zusammenfallen kann. Als Inhalt des Bewufstseins ist die Materie nicht Ursache desselben, sondern selbst schon Wirkung (Erschei- nung) derjenigen Materie, welche die Ursache des Bewufstseins ist. Als Ursaclie ist sie nicht Inhalt des Bewufstseins, liegt sie vielmehr vor dem IJewul'stsein und aufserhalb desselben. Als solclie setzt sie mit der Form des Bewufstseins zugleich sich seihst als deren Inhalt, aber nicht als Urbild, sondern nur als Abl.ild, nicht als wirkliche, sondern nur als vorgestellte Materie. Es ist ein Mifsbrauch des Wortes ,. Ursache^', wenn man der Materie, wie sie als Inhalt des Bewufstseins absolut gewifs ist, obendrein noch einen EinHufs auf das Bewufstsein zuschreibt. Der naive Eealismus ma^^ sich das Koj)fzerbrechen darüber ersi)aren, wie überhaupt der In- halt in unser Bewufstsein hereinkommt, er mag annehmen, der letztere sei uns unmittelbar gegeben; aber dann mufs man auch ein wenig Rücksicht auf die Logik von ihm fordern, dann dar!' er auch nicht den Satz vom zureichenden (irunde mit dem der Identit.'it vermengen. Was wir erfahn^n miu'hten, wenn wir nach der Existenz der Materie fragen, ist, ob die Materie noch etwas ist, jiufserdem dafs sie Iidialt unseres Bewufstseins ist. Wir müssen es einfach als eine Geschmacklosigkeit bezeichnen, wenn man uns hierauf um- ständlich beweist, die Materie sei als Inhalt unseres Bewufstseins wirklich. Doppelt geschmacklos aber ist es und nur geeignet, die Phih)Sophie in ]\Iifskredit zu bringen, wenn man diese ])hitte Selbst- verständlichkeit als eine Errungenschaft des ])liiIos()phise}ien Denkens anpreist, wenn man die Naturforscher glauben machen will, es sei damit ein unerschütterliches Fundament für ibre Wissenschaft ge- wonnen. —

Welche Eigenschaften haben wir nun der Materie zuzuschreiben? Natürlich müssen ihre Attribute an der Hand der Kategorieentafel sich aufzählen lassen, ohne dafs jedoch Kant ihre Einordnung in das beliebte Schema selbst vollzogen hätte (NXI. 138). Da der UrstoiV imr die als Gegenstand hingestellte apriorische Form unserer An- schauung ist, so können seine Bestimmungen an dieser Form a priori gleichsam abgelesen werden. Er ist also vor allem Einer und er

48'

ist unendlich, d. h. er grenzt nicht irgendwo an den leeren Raum ; es geht ihm auch keine Zeit vorher, worin er etwa noch nicht existierte. Der AYärmestoff ist ferner ein Kontinuum. Er erfüllt den Raum in allen seinen Punkten, ist überallhin ver- breitet und folglich a 1 1 d u r c h d r i n g e n d (permeabel). Eben des- halb ist er aber auch „kein Gegenstand einer unmittelbaren (objektiven) Wahrnehmung, weil er auf kein Organ durch seine Berührung wirkt: er ist imperceptibel, ein Etwas, das ein „Sinnenobjekt ist, ohne doch so wenig, wie der Raum selbst, in die Sinne, sondern nur in die Vernunft zu fallen" fXXI. V2s. 122). Diese Eigenschaft des Wärmestolfes, dafs der Umfang seiner Wirkung durch keine andere Materie eingeschränkt werden kann, weil er ja selbst durch alle Materie hindurchgeht, bezeichnet Kant auch als die Unsperr- barkeit desselben: der Wärmestoff ist also un sperr bar (in- coercibel) (XX. !J1). Aus demselben Grunde mufs er auch un- wägbar (imponderabel) sein; denn Wägbarkeit ist Gravitation nach einer bestimmten R'ichtung hin: eine solche ist aber bei dem Wärmestüß'e ausgeschlossen, weil er das Universum erfüllt und im Ganzen nach keiner Direktion zu fallen hinstrehen kann (XXI. 148). überhau])t müssen dem Urstoff alh^ diejenigen i)hysikalischen Eigen- schaften abgesprochen werden, die erst durch ihn erklärt werden sollen. Dahin gehört auch dieKohäsion; und so mufs er auch als u n z u s a m m e n h ä n g e n d (incohäsil)el) angesehen werden, als form- lose Masse, die weder fest, noch flüssig ist (XIX. 102. 106). Nur die fundamentalen Kräfte dürfen dem AVärmestoff nicht abgesprochen werden, ohne welche er überhaupt kein Stoff mehr sein würde: die Anziehungs- und die Abstofsungskraft. und zwar müssen diese be- wegenden Kräfte im Akte der Bewegung, agitierend sein; denn wenn er auch kein Gegenstand einer wirklichen Erfahrung ist, so ist er doch durch eben diese bewegenden Kräfte die Bedingung d(^r Erfahrung (XXI. lOS). Diese Bewegung kann natürlich keine ort- verändernde (facultas locomotiva) sein: eine Materie, die schon den ganzen Raum kontinuierlich erfüllt, kann sich durch ihre Bewegung nicht von der Stelle bewegen. Die Bewegung mufs vielmehr eine innerliche (interne motiva), eine Schwingungsbewegung sein, d. h. eine solche, die sich selbst beständig in AVechsel von Anziehung und Abstofsung wiederholt (XX. HG. XXI. 13()). Dafs sie keinen Anfang haben kann, folgt daraus, weil der Begriff eines ersten Bewegers, als der Materialität widersprechend, nicht in die Natur- wissenschaft hineingehört (XX. 102). Man kann sich aber auch nicht vorstellen, dafs sie je einmal aufluirte : ..Denn die Urkräfte der Bewegung können, als ursprünglich agitierend, sich selbst nicht

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ll

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in Stillstaiul bringen, weil dieser Zustand selbst eine Gegenwirkung agitierender Kräfte voraussetzt, und zwar im Akt, nicht blofs im Vermögen, mithin die Hemmung dieser Bewegung in einer allge- meinen lluhe sich selbst widers])richt" (XIX. 103. 453). „Also ist das Quantum der Bewegung immer dasselbe" (ebd.): die Materie ist ihrer Substanz, wie ihrer Beweguni;, nach alldauernd oder inexhaustibel (perennierend) (XIX. 103. XXI. 143).

Damit ist das Fundament gelegt, auf welchem Kant das Elementarsystem der bewegenden Kräfte der Materie glaubt aufbauen zu können. Nach welchem Prinzip mul's nun zunächst die Einteilung dieser Kräfte vollzogen werden? Kant scheint hierbei im Anfang an eine Einteilung nach den fünf Sinnen gedacht zu haben. Er wirft die Frage auf: „Ob nicht die fünf Sinne, als Organe der Em])tindung, das Elementarsystem der Materie an die Hand geben, in welchem die AV^ärmematerie unter den bewegenden Kräften die allgemeine ist?" (XTX. 298. 290. 306). Aber dann gewinnt selbstverständlich die Kategorieentafel wieder die Oberhand, und es heilst von der Einteilung: „Sie kann nicht anders nach einem Prinzip a priori gemacht werden als nach dem System der Kategorieen. Also werden jene Kräfte nach ihrer Ordnung der Quantität, (Qualität, Belation und Modalität aufzuführen sein*' (XIX. (Sl), Diese Ein- teilung ist von Kant mehrfach versucht worden, wobei jedoch das Schema der Kategorieentafel keineswegs überall inne gehalten ist. Er unterscheidet: eigene (vires interne motivae) und mitgeteilte (v. locomotivae). durchdringende und Flächenkraft, anziehende und abstofsende, progressive und oscillatorische, perpetuierliche und transi- torische Kräfte (XX. (u f. 7;3 f.). Interessant ist dabei nur. dafs Kant insofern von seinen Aufstellungen in den „Metaphysischen Anfangsgründen-' abgeht, als er dort die Anziehungskraft nur als fernwirkende Kraft, die Abstofsungskraft nur als eine bei der Be- rührung wirkende Flächenkraft auffai'st, während er hier im Über- gange durch Kombination zweier verschiedenen Gesichtspunkte die Anziehung in der Berührung von der Anziehung in der Ferne, die Abstofsung in der Berührung von der Abstofsung in der Ferne unterscheidet.*)

Ist der sogenannte Wärmestoff die Basis der köri)erlichen Welt, so sind alle wahrnehmbaren Stoffe der letzteren nur „Modi jenes Stoffes. Die Körperbildung durch si)ezifisch verschiedene Elemente bringt nun zusammengesetzte Formen hervor, die aber dem Prinzip der Möglichkeit Einer Erfahrung nicht beigesellt,

*) Krause: a. a. Ü. 138. 139.

II. Die kritische Naturphilosophie.

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sondern untergeordnet sein müssen^' (XXI. 147). Die Materie schlechthin (materia prima) ist der reale Gegensatz der Körper- materie (materia secunda), wie sie den unmittelbaren Gegenstand der Physik bildet. Jene ist unwahrnehmbar und blofs ein Objekt unseres Denkens; diese ist nicht blofs anschaubar, sondern sie ist der einzige Gegenstand aller äufseren Wahrnehmung. Jene ist formlos und eigenschaftslos; diese ist durch und durch bestimmt. Jene ist nicht durch Grenzen beschränkt oder in sich gegliedert;' diese trägt die Grenzen gleichsam in sich selbst: ein physischer Körper ist ja nichts Anderes als „eine Materie zwischen bestimmten Grenzen eingeschlossene, die also eine Figur hat" (IV. 419), oder wie es im Übergänge heilst: ein physischer Körper ist „eine Materie' die durch ihre bewegenden Kräfte ihre Gröfse und Gestalt selbst bestimmt" (XX. 448). Wir brauchen somit nur die a priori gefundenen Eigenschaften der Urmaterie in ihr Gegenteil zu ver- kehren, um unmittelbar auch die Eigenschaften der Körpermaterie zu erhalten. Die Eigenschaften der physischen Körper müssen aus der Urmaterie abgeleitet werden: Wägbai-keit. Si)errl)arkeit. Zu- sammenhängen und Ersch(-)pfl)arkeit setzen bewegende Kräfte voraus, die jenen entgegengesetzt wirken und die Wirkung derselben auf- heben (XIX. 124). „Es mufs also eine imponderable Materie sein, durch deren Bewegung die subjektive Wägbarkeit möglieh ist" (Jü5). „Die Ursache der Cohäsibilität mufs selbst incohäsibel sein" (102). „Das Imponderable, Incoercible, Incohäsible, Inexhaustible enthält die dynamisch bewegenden Kräfte, welche die mechanisch bewegenden, d. i. den Meciianismus der Körper, möglich machen" (<JG). Die W^ägbarkeit wird von Kant unter der Kategorie der Quantität betrachtet. Ein Quantum der Materie ist nämlich das Ganze einer Menge beweglicher Dinge im Baume, und die (^)uantität der Materie ist die Bestimmung dieser Menge als eines gleichartigen Ganzen. Eine solche Quantität kann a})er nicht arithmetisch durch die Zahl der Kcirperteilchen, sie kann auch nicht geometrisch durch deren liaumesinhalt (volumcn) gemessen werden, weil man nicht alle Materie als gleich dicht annehmen darf. Vielmehr ist eine Messung derselben nur dynamisch möglich, nämlich „durch die Gröfse der bewegenden Kraft, welche ein Volumen von Materie in einer und derselben liichtung und Geschwindigkeit der Bewegung auf einen beweglichen Gegenstand ausübt, wobei alle Materie als gleichartig, d. i. nur als Materie überhaupt in Anschlag gebracht wird" (XX. 344). Die Quantität der Materie wird durcli die S c h w e r e gemessen, d. h. durch die bewegende Kraft der Gravitations- anziehung, die, als Anziehung in der Ferne, alle Materie, die sich in

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gleichen Entfernungen vom Mittelpunkte unseres Weltkörpers befindet, mit gleicher Geschwindigkeit im Anfangsaugenblick l)ewegt, und das Mittel, diese Schwere zu bestimmen, ist die Waage. Sind Schätzung der Quantität der Materie und Wägbar keit nach Kant identische Begriffe (XIX. 83), so mufs die Kategorie der Qualität zum Gesichtspunkt dienen, unter welchem die Sperrl)arkeit betrachtet wird. Um was es sich dabei handelt, sind die Aggregatzustände der Materie und ihre l'hergänge, die auf dem Verhältnis der an- ziehenden und al)stofsen(h^n Kräfte zu einander beruhen, und die Wärme als die Ursache jener verschiedenartigen Zustände. Was die Lehre von der Wärme anbetriftt, so hat Kant die ursprüng- liche Annahme einer besonderen imponderablen Wärmematerie all- mählich fallen lassen und die Ursache der AV<ärme in Überein- stimmung mit der modernen Naturwissenschaft in der undulatorischen Bewegung der kleinsten Teile der Materie gefunden.') Wärme ist Abstofsung, die als Fernkraft wirkt. Abstofsung in der Beriüirung oder als Flächenkraft ist die Elastizität, wie z. B. bei der elastischen Flüssigkeit des Dampfes (XX. 4:U). Dieselbe lebendige Kraft, die aus den vibratorischen Stöfsen der Elementarmaterie entspringt, ist es auch, welche die Belation zwischen den verschiedenen Teilen eines materiellen Gegenstandes bestimmt und damit die Erscheinung der Koliäsion, als Flächenanziehung, begründet (XXI. 96). AVas endlich die Modalität betrifl't, so versteht Kant darunter die Notwendigkeit der Materie zur möglichen p]rfahrung und leitet aus ihr die Unveränderlichkeit ilir(^r (^)u;iiitität und die Permanenz der bewegenden Kräfte ah: „perpetuitas est necessitas i)haenomen()n"

(Xix. U2(). XX. m:\).

Kant betont es mehrfach : „Der Übergang mufs ja nicht in die Physik (Chemie u. s. w.) eingreifen. Er antizipiert nur die bewegenden Kräfte, welche a priori der Form nach gedacht werden, und klassi- fiziert das Empirisch-allgemeine nur, um die Aufsuchung der Bedin- gungen der Firfahrung zum Behuf eines Systems der Naturforschung darnach zu regulieren" (XX. 44'i). Leider wird man nicht behaujiten können, dafs er diesen Grundsatz selbst inne gehalten habe. Man mufs schon ganz in Kant vernarrt sein, um angesichts der darge- legten Auseinandersetzungen annehmen zu können, es handle sich hier wirklich um eine P]rkenntnis aus reiner Vernunft. Wenn man an seiner Darlegung der ])hysikalischen Eigenschaften etwas bewundern mufs, so ist es nur die unglaubliche Selbsttäuschung Kants, jene Ansichten wirklich aus den Kategorieen abgeleitet zu haben, während

=) Krause: a. a. (). 17^^ 176.

sie doch ganz offenbar nur aus den Erfahrungsresultaten der Physik gewonnen und erst hinterher mit der Kategorieentafel in eine ebenso willkürliche, wie absonderliche Verbindung gebracht sind. Kein vernünftig denkender Mensch wird ihm Glauben schenken, seine Erklärung der Aggregatzustände und der Kohäsion aus den lebendigen Kräften seiner Urmaterie könne thatsächlich auf apodiktische Ge- wifsheit Anspruch erheben. Kein Physiker wird über die Absurdität hinwegkommen, dafs die Erkenntnis des Wesens jener Eigenschaften der Materie einen gleichen Grad der Sicherheit besitzen soll, wie das so wohl beglaubigte Gesetz von der Erh:iltung der Materie und das ihm verwandte Gesetz von der Erhaltung der Kraft. Hier hat ihn blofs seine Kategorientafel veranlafst, Momente unter einen und denselben Hut zu bringen, die offenbar garnichts mit einander gemein haben. Dabei ist charakteristisch, dafs Kant von dem transcendental- philoso])liischen Prinzij) seines Überganges, den eigenen Kräften des Subjekts, überhaui)t gar keinen Gebrauch macht, sondern die Eigen- schaften der K()rperniaterie einfach aus der Urmaterie erklärt. In der nämlichen Weise könnte auch jeder Andere das Pr(>blem behandeln. der niemals etwas von der Selbstaifektiun des Subjekts geh(')rt hätte. Auf die obigen Darlegungen näher einzugehen, hat darum auch gar keinen Wert in philosojibisclier Beziehung. Kant belegt seine Erklärungsversuche mit zaldreichen Beispielen aus der Erfahrung. Dieselben sollen ..nur zur Erläuterung-' dienen (XIX. (S9); es liegt aber in der Natur der Sache, dafs nicht blofs das Interesse des Lesers sich unwillkürlich von den angeldich ])]iil(>sophischen Aus- einandersetzungen des Überganges auf diesen rein empirischen Teil desselben hinüber verschiebt. Der philosophische Gehalt des Werkes ist seiner ganzen Natur nach so dürftig und rein Ibrmal. dafs schon Kant selbst, was viel sagen will, schwerlich ein Buch daraus hätte machen können, wenn er nicht die leeren Fächer seiner apriorischen Konstruktionen mit dem Inhalt rein empirischen Materiales ausgefüllt hätte. Dafs dabei im Einzelnen manches Interessante mit unterläuft, ist selbstverständlich. Einen Nutzen für seine eigene Wissenschaft wird freilich auch der Naturforscher aus diesen Dar- legungen schwerlich ziehen können, weil sämtliche Erklärungen, die Kant für die Naturerscheinungen giebt, auf der absurden und für die Naturwissenschaft ganz wertlosen Voraussetzung eines absolut eigenschaftslosen, gestaltlosen Kontinuums beruhen, wobei schon das nicht einzusehen ist, wie aus einem solchen überhau])t irgend welche Modifikationen sollten hervorgehen können.

An das Elementarsystem der bewegenden Kräi'te der Materie sollte sich das Weltsystem derselben schliefsen und beide sollten

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unter dem Titel des Überganges von den metaphysischen Anfangs- gründen der Naturwissenschaft zu Pliysik vereinigt werden (XX. 415). Was Kant in jenem Weltsystem eigentlich abzuhandeln gedachte, bleibt ziemlicli unklar. Es scheint, als ob hier auch die Lehre von den Organismen und somit die Teleologie hätte ihre Stelle finden sollen. Indessen erweiterte sich ilim der Plan bald dahin, nicht blofs eine zusammenbängende Darlegung seiner natur])hiloso|)liischen Ideen, sondern eine „Darstellung des absoluten Ganzen des Systems der reinen Philosophie*' zu liefern, eines Systems, das bei dem apodiktischen Charakter, den es seiner Natur nach haben niulste, „Alles und Eines ohne Vermehrung und Verbesserung" sein sollte (XXI. 315). Dieses System sollte handeln „von Gott, der Seele des Menschen und allen Dingen überhaui)t'' (312). Demgemals sollte sich an den l'bergang von den meta])hysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik der „Übergang von der Physik zur Transcendentalphil()so])hie/' an diesen der „Übergang von der Trans- cendentalpbih)sophie zum System zwischen Natur und Freilieit," an diesen endlich der „Beschlufs von der allgemeinen Verknüpfung der lebendigen Kräfte aller Dinge im Gegenverhältnis Gott und Welt" anschliefsen (323).

Wie Kant sich diese einzelnen Teile näher gedacht hat, ist schwer zu sagen. Er gelangte oft'enbar schon bald dazu, sämt- liche Teile unter dem Allgemeinbegriffe der ^Pranscendentalphilo- sophie zu vereinigen: „Das, was die Prinzipien der Logik, Meta- physik. Moral, Physiologie und des Uberschrittes zur Physik in Einem System der Erkenntnis a priori vereinigt enthält, heilst Transcendentali)hih)sophie" (iUvl). „Die metaphysischen Anfangs- gründe der Naturwissenschaft und das Prinzip des Überganges von ihr zur Physik schreitet nun weiter zu einem System der Ideen, wodurch das Subjekt sich selbst a ])riori begründet, und zwar zu dem Eormalen eines Ganzen, als Objekts, welches, als absolute Ein- heit, Transcendentalphilosophie genannt wird und zur Einheit der Erfahrung fortschreitet" (387). Besondere Schwierigkeiten scheint es ihm dabei gemacht zu haben, eine umfassende Definition für den Begriff der Transcendentalphilos()])hie zu linden. Die über einhundert und fünfzig mal unternommenen, unendlich er([uälten Versuche nach dieser Kichtung hin machen einen geradezu erbarmungswürdigen Eindruck. Kaum weniger Mühe bereitete ihm die Auftindung eines Titels für das Werk. Er nennt es „das System der Philosophie in ihrem ganzen Inbegriffe" (41^)) oder auch (wohl in Erinnerung an Ei eilte) „Philosophie als Wissenschaftslehre in einem vollständigen System*' (418) oder „der Transcendentalphilosophie höchster Stand- punkt im System der Ideen : Gott, die Welt und der durch Pllicht-

gesetze sich selbst beschränkende Mensch in der Welt-' (355). ..Gott über mir, die Welt aufser mir, der menschliche Geist in mir in Einem System das All der Dinge befassend" (340) u, s. w. Was uns von dem Inhalt dieses Werkes an Bruchstücken erthalten ist, vermag uns kein Bedauern über seinen unvollendeten Zustand ab- zulocken. Von „Tiefsinn," wie man wohl gesagt hat, ist nirgends etwas zu bemerken: findet sich doch kaum ein wertvoller Gedanke vor, den Kant nicht auch früher schon ausgesjjrochen hätte ; es sei denn, man sähe eine besondere Errungenschaft darin, dafs hier mit Nachdruck die Idee der Persönlichkeit Gottes hervorgehoben wird. Wenn man erwägt, wie Kant von Anfang an den Ausbau der Natur]ihilos()])hie sich zum Ziele gesetzt hat, wie ihm das gewissen- hafte Aufsuchen eines haltbaren Unterbaues für sie die Arbeit immer wieder in die Eerne gerückt hat, und wie er, als er nach einem langem Leben voll unerniüdliclier Thätigkeit und steter Hingabe an sein Lebensziel nun endlich das lange geplante Werk in Angriff nehmen wollte, nicht mehr die Kraft zu seiner Ausführung besafs, so wird man sich der Empfindung einer gewissen Tragik nicht erwehren können. Es ist rührend, zu sehen, wie der Philoso])h noch am Bande des Grabes mit unsäglicher Ausdauer sich abmüht, ein Bauwerk aufzurichten, zu dem er nicht einmal mehi" die Steine zusammentragen konnte. \\'ir brauchen es jedoch nicht zu beklagen, dafs Kant, der nienials die Absicht aus den Augen verloren hatte, eine wissenschaftlich begründete Naturphilo- sophie zu schaffen, noch ehe er dies Werk vollendet hatte, unter der Last des Alters zusammenbrach. Dieser P]iilosoi)h hat in anderer B(vjehung so viel geleistet, er hat auch auf dem Gebiete der Natur- philosophie selbst so mannigfache neue Ideen und fruchtbare K(^ime ausgestreut, dafs er sich thatsächlich ausgelebt hat und dafs er an seiner Bedeutung auch dadurch nichts einbüfst. wenn sein Lieblin^>-s- kmd, die Natur])hilosophie, stets imr ein Torso geblieben ist. Und auch deshalb kr)nnen wir den unvollendeten Zustand dieser Diszii)lin bei ihm verschmerzen, weil, auch wenn der naturphil()Soj)hische Teil seiner Philosophie zum Abschlufs gekommen wäre, die Wissensciiaft dadurch kaum gefördert worden wäre. Was Kant m seinem nach- gelassenen Werke eigentlich anstrebte, das ist thatsächlich nichts Anderes, als was noch bei seinen eigenen Lebzeiten Fichte und vor allem Seh ellin g voll iidct haben, und was heute nisbesondere gerade die Naturwissenschalt nicht mehr anzuerkennen vermag : die rein logische Entwickelung auch der (^)ua]itaten der Natur aus ihren apriorischen Formen im Subjekt - nur dafs jene blamier iii der ganzen Vollkraft ihres Könnens, mit jugendlicher Begeisterung und

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B. Kant als Naturphilosoph.

einer erstaunlichen Genialität das zu Ende geführt haben, was Kant selbst am späten Abend seines Lebens, ein gebrochener Greis, be- gonnen hat. Die Naturphihjsophie Schellings ist die Vollendung der kantischen Naturphilosophie, und insofern ist nicht S c h e 1 1 i n g , sondern Kant selbst der Begründer und Vater derjenigen philo- sophischen Disziplin, die heute als ein abschreckendes Beispiel dafür gilt, wie man Naturerkenntnis nicht trei})en soll. Wer daher in die Verwerfung der schellingschen Naturphilosophie mit einstimmt, der weifs nicht, was er thut. wenn er ihr gegenüber die kantische NaturpliiIoso])hie ausspielt, und umgekehrt: wer den Weg, den Kant in seiner Naturphilosoj)hie, insbesondere in seinem naciigelassenen Werke eingeschhigen hat, für richtig anerkennt, der darf konsequenter Weise auch Schell in g nicht schmähen. Wenn die Verachtung der schellingschen und die Lobpreisung der kantischen Naturphilo- sophie heute Band in Hand gehen, so zeugt das nur von einer ebenso grofsen Unkenntnis Schellings, wie v(m einem gründlichen Mifsverstehen der Absichten und Ziele, die Kant sich bei seinem ganzen i)hilosopliisclien Entwickelungsgang gesteckt hat. \\'ir müssen uns erst von der einseitigen Kantschwärmerei wieder losgenuicht und zu einer gerechteren AVürdigung der nachkantischen Epoche in der Philosophie hindurcligerungen haben, um auch hier den richtigen Mafsstab für die Beurteilung zu finden.

Der erkenntnistlieoretische Apriorismus hat. wozu er doch wesent- lich ausersehen war, der Natur[)hilosophi(^ einen Nutzen nicht ge- bracht, weder nach der Seite einer gnifseren Gewifsheit. noch einer inhaltlichen Bereicherung. D i e ganze kritische N a t u r j) h i 1 o - Sophie Kants ist nur die vor k ritische Naturi)hil()so])hie, gekleidet in die K o r m ein der V e r n u n f t k r i t i k und g e - schaut durcli die Brille des trau scenden tal en Idealismus. Wo sie thatsächlich über ilue ursj)rüngliche Gestalt hinaus geht und wertvolle neue Gedanken zu Tage gefördert hat. wie in ihrer genialen Fassung der teleologischen Idee, da verdankt sie diese Einsichten nicht ihrem methodologischem Prinzip, auch nicht ihrem Standpunkte des transcendentalen Idealismus, sondern hat sie jene nur auf dem allgemeinen AW^ge einer induktiven Sj^ekulation gewonnen. Nur in einem Punkte hat der transcemlentale Idealismus die Naturi)hilosophie wirklich auch dem Inhalte nach gefördert: er hat ilir die strenge Unterscheidung zwischen dem Ding an sich der Materie und ihrer Erscheinung, er hat ihr die Einsicht übermittelt, dafs der räumlich ausgedehnte Stoff als solcher nur eine blofs subjektive Vorstellungsar t ist. Darin liegt in Wahrheit die erkenntnistheoretische Begründung einer dynamischen

II. Die kr? "che Naturphilosophie.

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Auffassung der Materie. Aber diese grofse Einsicht ist durch so viele Mängel und Widersprüche, welche die Beschränkung der Er- kenntnis auf die unmittelbare Erfahrung im Gefolge hat, erkauft, dafs man darüber streiten kann, ob man der vorkritischen oder der kritischen Naturphilosophie den Vorzug geben solle. Wenn das nachgelassene Manuskript, worin Kant sich aus Gründen der Natur- philosophie bewogen gefühlt hat, die letzten Konsequenzen seiner erkenntnistheoretischen Prämissen selbst zu ziehen, die früher zum Teil nur angedeutet blieben, insbesondere eine doppelte Affektion des Subjekts einzuräumen, wenn dieses Manuskript nur die eine Bedeutung hat, di(' Wertlosigkeit des transce n d en t al -

idealistischen Stand j)unktes für die Natu rpji ilosophie zu demonstrieren, so ist seine Veröffentlichung nicht umsonst ge- wesen und verdient es schon deshalb eine allseitige Beachtung.

}

A

Nameurcffister.

Adickes 172, 188, 190, 192,

22(i, 277, 405. Aenesidcmus 475. d'AU^mbert 7.

Baco V. Verulam 257. Beck 457, 473, 475. Berkeley2I8, 219, 221,223. Biedermann, A. E. 437, 438. Blumenbach 428. Boerhave 102. Borowski 2, 3, 446. Büchner 'J94. Button 22. Busse 252.

Cartesius i, 7, 8, 9, 13, 51, 52, 55, 03, 65, 70, 75, 79, 82,95, 106,126, 176,180, 220, 223, 245 346, 358, 360, 368, 372.

Clarke 110, 272.

Clausius 3S.

Cohen 227.

Copernicus 15, 136, 401.

Crusius 53, 55, 71, 75, 76, 215.

Czolbe 376.

Dalton 358. Darwin 4 i, Demokrit 432. Descartes s. Cartesius. Dieterich 3, 113. Dowe 41. Dubüis-Keymoüd 370, 371.

Eberhard 222. Epikur 17, 432. Erdmann, Benno 2, 3, 4, 7. Euler 456.

Fechner 37, 100, 326, 329,

330, 356, 378. Feder 180. Fichte, J. G. 239, 457, 473,

475, 482, 483, 492, 493. Fichte, J. H. 356. Fischer, Kuno 21, 54, 78,

143, 214, 315, 442, 452,

453, 454, 456, 457, 459.

Galilei 73, 136. Uarve 1«0, 445, 456. Gensichen 14, 447, 448. Grisebach 3(>7. Guericke, ( ). v. 73.

Hiidlcy II.

Haeckel 380, 381, 430.

Haensell 451.

Halley 41.

Hansen 36, 37.

Hartenstein 5.

Hartmann, E. v. 100, 161, 166, 179, 204, 228, 243, 245, 308, 309, 311, 319, 326, 339, 353, 359, 371, 372, 373, 374, 376, 37M, 379, 3,^1, iia il8, 423, 431, 436, 452.

Hasse 446, 447, 449, 458.

Haym 448.

Hegel 30, 239, 245, 320,

372, 441. Helmholtz 21, 3ö. Herbart 61, 266, 290, 373. Herder 29. Herschel 15, 20. Herz, Marcus 125,132,215,

216, 443. Hipi)arch 36. Horsley 22.

Humboldt, A. V. 21, 32. Hume 78, 108, HO, 126,

127, V1\S, 130, 133, 158,

161, 165, 1.^1, 215, 226,

439. Huygens 73.

Jacob 217, 224. Jacobi 181, 182, 475. Jagielski 226, 306, 320, 357,

358. Itelson 259.

Kant, Joh. Heinr. 447.

Keferstein 289, 456, 485.

Keppler lv5, 383.

Kiesewetter 445.

Knut/en 1, 2, 3, 13, 57, 58, 59, 215.

V. Kirchmann 21, 271, 282, 283, 285, 289, 290, 299, 302, 315, 325, 400, 401.

Krause, Albr. 223, 242, 442, 447, 453, 454, 455, 456, 459, 477, 482, 483, 488, 490.

Laas 153, 155, 160, 161.

Lambert 20, 124, 286.

Lautre, A. 297.

Laplace, 21, 22.

Leibniz 1, 2, 4, 5, 7, 8, !), 1<», IK 12, 13, 17,51,57, 58,6(1, 61,62,63,65, 68, 70, 75, .S7, 88, 102, 106, 107, los, 110, UM, 114, 115, 117, 118, lli), 120, 170, 214, 301, 313, .123, 327, 346, 360, 378.

Lessinpf 29.

Liebmann 22.

V. Lind 100.

Littrow 21.

Locke 223, 225.

Mainliinder 38. Malcbranehe 58, 123, 217. Mauj.ertuis 47, 102. Mayer, Roh. 35, 36. Mendelssohn IH), lOG. Meyer, .1. B. 225, 227, 259. IMieiiaelis, C. Th. 143. Müller, Juh. 223.

Newtcm 3, 4, 5, 11, I2, 13, 15, \^, 17, Jl, 22,23,2(1, 29, 30, 34, 35, 51, 57, 58, 63, 6S, 71, 73, 95, 97, 106, HO, 122, 131, 170, 272, 312, 31.3, .iiw, 426, 462.

Nicoli.i 'IW.

Namenreorister.

Paulsen, Fr. 54, 78, 80, 100. Fertz 4.

V. PHug-Hartuna 4.%. Fistorius 214, 224. Plouccjuet 259, 282. Foelitz P.M. FopTfieiidorf 41. du Frei 100.

Ileicke 4.50, 451, 452, 458. Heinhold 41.;, 4.5s. Reuschle 21, .36, .37, 41. Hink .39. Hülf .3.59.

Schaarschmidt 65. Scdialler 257, .337, 338. Schellinor 29, 75, 239, 246,

369, 373, 41)3, 494. Schieiden 37. Schön 447, 451. Schopenhauer 21, 143, 151», 161, 204, 307, .371. ;!7.3, 378, 441, 482. Schubert 447, 456. Schütz 252, 404, 405. Schulte 446, 447, 44s, 452. Schnitze, Fr. 44. Schwab 252, 2(11, 289, .303. Simmel 66.

S})inoza 52, 70, 79, m, ^^, 95, 132, 181, 245, 432, 433.

497

Stadler 76, 147, 252, 261,

262, 268, 276, 289, 292,

297, 302, 303, 304, 307,

331, 337, 338, 342, 352,

3«7, 388, 389, .392, 394, 39.5, 401.

Stahl, 10.3, 1.37.

Stein 259.

Swedenl)or<? 99, loo, 217.

Tiedemann 477. Tieftrunk 12.:. Thiele 5i. Torricelli 7.1, 137. Trendelenburg' 214.

Ueberweg 352.

Vaihinger lli, 214, 216, 217, 224, 271, 455, 457, 458, 472, 47.3, 477.

Voltaire 88.

Wasianski i ii;, 4. '»8. Wert her 41. Windelband lOO, Mj. Woltr 1, 2. 6. l.l, 60, 62. Wumlt .357, 371, 37;5, 377, 37ö.

V. Zedlitz 39, 41.

Zellei- 1)^.

Zeno 121.

Zr.llner 21, .3(i. 41. :{S(i,

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