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KANTSTUDIEN.

PHILOSOPHISCHE ZEITSCHRIFT

UNTER MITWIRKUNG VON E. ADICKES, E. BOUTRUUX, EDW. CAIRD, C. CANTONI, J. E. CREIGHTON, W. DILTHEY, B. ERDMANN, M. HEINZE, R. REICKE, A. RIEHL, W. WINDELBAND UND MIT BES. UNTERSTÜTZUNG VON PROF. DR. WALTER SIMON STADTRAT IN KÖNIGSBERG I. PR.

HERAUSGEGEBEN VON

DR. HANS VAIHINGER,

0. Ö. PROFESSOR DER PHILOSOPHIE AN DER UNIVERSITAT HALLE A. 8,

FÜNFTER BAND.

BERLIN, VERLAG VON REUTHER & REICHARD WILLIAMS & NORGATE, 1901. LEMCKE & BUECHNER, LONDON. NEW YORK, H. LE SOUDIER, CARLO CLAUSEN, PARIS,

TORINO,

Alle Rechte vorbehalten.

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INHALT.

Sigwarts Theorie der Kausalität im Verhältnis zur Kantischen. Eine Festgabe zum 28. März 1900. I. VonM. Wartenberg

Kant und der Pessimismus. Von E. von Hartmann

Ein Wortführer der Neuscholastik und seine Kantkritik. Von F. Medicus.

Der Zweckbegriff bei Kant. Von A. Pfannkuche

Die Neue Kantausgabe: Kants Briefwechsel. Von H. Vaihinger

Ein ungedruckter Fichtebrief. Von R. Richter .

Ein Besuch Karamsins bei Kant. Von A. Palme

Über einige Textfehler in Kants Widerlegung des Idealismus. Von E. Wille .

Der Begriff des „transscendentalen Begenstandes“ bei Kant und Schopenhauers Kritik desselben. Eine Rechtfertigung Kants. II. Von M. Wartenberg en

Hat Kant Hume’s Treatise gelesen? Von K. Groos.

Sigwarts Theorie der Kausalität im Verhältnis zur Kantischen. Eine Festgabe zum 28. März 1900. IL Von M.Wartenberg.

Korrekturen und Konjekturen zu Kants ethischen Schriften. Von E. Adickes

Korrekturen zu Kant. Von A. Riehl

Kant und Spinoza. Von F. Heman

1. Kant tiber die mathematische Methode Spinozas (S. 276). 2. Kants Verhalten im Jacobi-Mendelssohnschen Streit (S. 281). 8. Kant gegenüber den Anschuldigungen wegen Spinozismus (S. 286). 4. Kants Polemik gegen Spinoza und Spinozismus (S. 290). 6. Spinoza in Kants Vorlesungen tiber Metaphysik (S. 807). 6. Spinozas Pantheismus und Kants Theismus (S. 319). 7. Nachtrag. Über die Schrift von J. Schultess, Der Pan- theismus Kants. 1900 (S. 886).

Kant contra Haeckel. Erkenntnistheorie gegen naturwissen- schaftlichen Dogmatismus. Von E. Adickes

840

IV

Kants Bestimmung der Moralität. Von R. Soloweiezik . .

Die transscendentale Deduktion der Kategorien in Kants „Kritik der reinen Vernunft“. Von E. Zwermann. . . , .

Zu Iemans „Kant und Spinoza“, Von F. Paulsen. . . . Nachwort: ‘Von Fi Hemanı. . LS Tue à di à

Ultramontane Stimmen über Kant . . . . . .

Papst Leo XIIL, Eneyelien. La Civiltä Cattolica, Tia fondamentale di ‘Kant, 11 Criticismo Kantiano demolitore della Scienza, Processo scientifico del Criticismo Kantiano, La ragione pratica di Kant. —Straub, Gotteserkenntnis. Heinrich, Kos- mol. Gotfesbeweis. Didio, Sittl. Gottesbeweis. Lehmen, Lehrbuch. Gutberlet, Kampf um die Seele. Gietmann- Sörensen, Ästhetik. —Schanz, „Geistige Strömungen. —v.Nostitz- Rieneck, der neuentdeckte Königsberger Friede, Unglauben und Glauben, ‘Autoritiitsglaube und „Idiotismus“, die „sociale Dekompo- sition“ und die „kulturelle Überlegenheit“ des Protestantismus. Cathrein, Sittl. Autonomie.

Recensionen. J, Baumann, Realwissenschaftliche Begründung der Moral, des Rechts und der Gotteslehre. Von F. Krueger. . . . . P. Eltzbacher, Über Rechtsbegriffe, Von F. Schneider. .

€. Stange, Einleitung in die Ethik. I. System und Kritik der ethischen Systeme. Von H. Schwarz 4

Selbstanzeigen.

Stirling, What is Thought? S. 125. Leser, Zur Methode der kritischen Erkenntnistheorie mit bes. Berticksichtigung des Kant- Fries’schen Problems. S. 126. M'Ewen, Kant’s Proof of the Pro-

position: „Mathematical judgments are one and all synthetical“. 8. 128. Marvin, Die Giltigkeit unserer Erkenntnis der objek- tiven Welt. S. 128. Werckmeister, Der Leibniz'sche Substanz- begriff, 8. 129.

Schweitzer, Die Religionsphilosophie Kants von der Kritik der reinen Vernunft bis zur Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft. S. 218. -— Mengel, Kants Begründung der Religion. S. 221. Weerts, Vergleichende Untersuchung der Religionsphilosophie Kants und Fichtes. S. 222. Schmidt, Bei- träge zur Entwicklung der Kantschen Ethik. S, 228. Boette, Immanuel Kants Erziehungslehre, dargestellt auf Grund von Kants authentischen Schriften. S. 224. v. Hartmann, Geschichte der Metaphysik. S. 22. Petronievics, Prinzipien der Erkenntnis- lehre, Prolegomena zur absoluten Metaphysik, S. 227. Kinkel, Beiträge zur Erkenntniskritik. S. 229. Hünigewald, Zum Begriff der „exakten Naturwissenschaft“. S$, 229, Hönigswald, Ernst Haeckel, der monistische Philosoph. 8. 230. Schwarz, Psychologie des Willens (zur Grundlegung der Ethik). S. 231.

Reininger, Kants Lehre vom inneren Sinn und seine Theorie der Erfahrung. S. 478. Schultess, Der Pantheismus bei Kant. S. 479.

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384

215 216

478

V Seite Scheler, Die transscendentale und die psychologische Methode. S. 481. Lindheimer, Beiträge zur Geschichte und Kritik der Nen- kantischen Philosophie. Erste Reihe: Hermann Cohen. S. 481. Ascher, Renouvier und der französische Neukriticismus. S. 488. v. Schoeler, Probleme. Kritische Studien tiber den Monismus. S. 484. Birch-Reichenwaid Aars, Zur psychologischen Analyse der Welt. S. 486.

Litteraturbericht.

Von F. Medicus.

Liebmann, Gedanken und Thatsachen. Heft 2 u. 8. 181. Wartenberg, Kants Theorie der Kausalität mit bes. Borlicksichtigung der Grundprinzipien seiner Theorie der Erfahrung. S. 186. Ziehen, Psychophysiologische Erkenntnistheorie. S. 185. Dimitroff, Die psychologischen Grundlagen der Ethik J. G. Fichtes, aus ihrem Gesamtcharakter entwickelt. S. 187.

Henry, The Futility of the Kantian Doctrine of Ethics. S. 282. Lefkovits, Die Staatslehre auf Kantischer Grundlage. S. 288. Weerts, Vergleichende Untersuchung der Religionsphilosophie Kants und Fichten. S. 284. Deussen, Allgemeine Geschichte der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Religionen. I. Band, 2. Abt.: Die Philosophie der Upanishad’s. S. 236. Jerusalem, Einleitung in die Philosophie. S. 286. Lüdemann, Erkenntnistheorie und Theologie. S. 238. Lipps, Die ethischen Grundfragen. 3. 242. Nikoltschoff, Das Problem des Bösen bei Fichte. S. 244. L’Annee Philosophique, IXme Année. S. 245. Strassburger Gcethevorträge. S. 247. Ulrich, Ch. de Villers. S. 249. Braunschweiger, Die Lehre von der Autmerksamkeit in der Psychologie des 18. Jahrhunderts. S. 250. Kistiakowski, Gesellschaft und Einzelwesen. S. 252.

Bibliographische Notizen.

Zoccoli, Schopenhauers ethische Preisschriften. Wagner, Grund- probleme der Naturwissenschaft, Studien und Skizzen aus Naturw. und Philosophie. I—III. Ribert, Essai d'une philos. nouvelle suggérée par la science . . 268

du Prei, Ausgew. Schriften. I. Hyslop, Kant’s Doctrine of Apper- ception. Marschner, Grundfragen der Ästhetik. v. Gizycki, Gut und Böse. A. v. Hartmann, Pessimismus. Ruyssen, La Guerre et la Paix d'après Kant. Cohen, Jüdische Sittenlehre. Churton-Davids, Kant on Education. Brömse, Philosophisches Denken. Rauschenplat, Idealismus. Attensperger, Frohschaminer. Lyon, Pathos der Resonanz. Gaede, Schiller. Steiner, Welt- und Lebensanschauungen. Zabel, Dramaturgie. Möblus, Asth. Beurteilung der Säugetiere. Dunan, La premiere antinomie de Kant. Hafferberg, Einführung in die Philos, Tienes, Nietzsche. Regout, Kant en het cosmologisch argument, Kant’s diepste gedachte. Milhaud, Le rationnel. Carus, Chinese Philosophy, Lao-tze’s Tao-teh- -King en 486

Zeitschriftenschau . . . . . 266

Speziell: Willmann, Der Neukantianismus gegen Herbarts Pädagogik. S. 256. Flügel, Just, Rein, Herbart, Pestalozzi und Herr Pro- fessor Paul Natorp. 8. 267. Zillig, Zur Frage der ethischen Wertschätzung. S. 257. Van Roey, L'influence du Kantisme sur la ‘Théologie protestante. S. 260. Walgrave, Kant et saint

Vi

Thomas. 8. 261. Fénart, La critique kantienne de toute morale matérielle. S. 261. Festugiöre, Kant et le problème religieux. 268

Neue Kantlitteratur .

Sonstiges neu Eingegangenes . Mitteilungen.

Die neue Kantbtiste in der Berliner Siegesallee. Von H. Vaihinger Erdmanns Ausgabe der Kr. d. r. V. in neuer Gestalt .

Varia.

Die Neve Kantausgabe. Königsberger Kantgeburtstagsteier im Jahre 900. Der Philosophische Kongress in Paris. Der Religionsgeschichtliche Kongress in Paris. Die Stoa Kantiana. Preisaufgaben. Das Helmnoltz-Zeller'sche Kantbild (Mit Ab- bildung) . en Neue Nachrichten über Kants Grossvater. Vom Autographen- markt. —- Chronik . . . ee Vier Preisaufgaben tiber Kant

Register.

Sachregister .

Personenregister . . Besprochene Kantische Schriften Verfasser besprochener Novitäten

Seite

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Sigwarts Theorie der Kausalität im Verhältnis

zur Kantischen. Eine Festgabe zum 28. März 1900, Von M. Wartenberg.

Einer der wichtigsten und unentbehrlichsten Erfahrungsbegriffe, den wir bei der Betrachtung der Wirklichkeit, sowohl im täglichen Leben, als auch in der Wissenschaft, fortwährend in Anwendung bringen, ist der Begriff der Kausalität, des Verhältnisses von Ur- sache und Wirkung. Wie es aber meistens zu geschehen pflegt, dass nämlich der Mensch gerade über dasjenige, was ihm am ver- trautesten und geläufigsten ist, am spätesten reflektiert: so hat man sich auch lange Zeit des Kausalbegriffs, im vollen Vertrauen auf die objektive Gültigkeit desselben, zum Zweck der Erklärung der Er- scheinungen unbedenklich und anstandslos bedient, bis endlich Hume das Bedürfnis empfand, nach der Berechtigung dieses Begriffs zu fragen.

Jedoch nicht direkt und geradlinig ist Hume auf dieses Problem gestossen. Es war nicht so, als hätte er den Begriff der Kausalität aus dem System unserer Erfahrungsbegriffe, wie sie im unreflek- tierten Bewusstsein gedacht werden, herausgehoben und nun unter- sucht, welche Bewandtnis es mit demselben habe, was ohne Zweifel das natürliche und voraussetzungslose Verfahren gewesen wäre. Was Hume veranlasste, den Kausalbegriff einer kritischen Betrachtung zu unterwerfen, war die Frage nach dem logischen Recht des kausalen Schlusses. Auf diese Weise hat das Kausal- problem durch Hume, welcher es zuerst angeregt hatte, von vorn- herein eine ganz bestimmte Fassung erhalten, die für alle folgenden Untersuchungen bis auf die neueste Zeit massgebend gewesen ist.

Hume reflektiert folgendermassen: Bestimmte Perceptionen und gewisse räumliche und zeitliche Beziehungen zwischen denselben bilden den faktischen Inhalt unserer Erfahrung. So lange wir nun bei diesem Erfahrungsinhalt, wie er unserem Bewusstsein in der Form der Wahrnehmungen unmittelbar gegenwärtig ist, es bewenden

Kantstudien V. 1

2 M. Wartenberg,

lassen, stehen wir auf einem vollkommen sicheren Boden; denn gegen das, was als wirkliche Thatsache gegeben ist, lässt sich gar kein Zweifel erheben. Nun begnügen wir uns aber mit dieser unmittel- baren Erfahrung nicht; wir gehen tiber dieselbe hinaus, indem wir von den jeweilig gegebenen Erfahrungsthatsachen auf andere That- sachen schliessen, die unserem Bewusstsein nicht gegenwärtig sind, : von denen wir aber annehmen, dass sie mit jenen verbunden sein werden. Worauf gründet sich nun dieser Schluss? Er gründet sich auf die Voraussetzung, dass zwischen den betreffenden Thatsachen der Erfahrung ein Verhältnis notwendiger Verknüpfung bestehe. Notwendig mit einander verbunden sind aber Thatsachen nur dann, wenn eine kausale Beziehung zwischen denselben stattfindet, wenn sie sich zu einander verhalten wie Ursache zur Wirkung. Der Schluss von Thatsachen auf andere Thatsachen, wodurch wir den engen und beschränkten Gesichtskreis unserer unmittelbaren Erfahrung beständig erweitern und die Gegenwart mit der Zukunft verbinden, ist also ein kausaler Schluss. Welches Recht haben wir nun, diesen kau- salen Schluss zu ziehen? Es ist zunächst klar, dass das Recht des kausalen Schlusses sich nicht auf das logische Prinzip des Wider- spruchs gründet. Denn auf diesem Prinzip beruhen einzig und allein die Beziehungen zwischen den Vorstellungen, die auf keine reale Wirklichkeit hinweisen, aber nicbt die Verhältnisse zwischen den Thatsachen. Jene sind nämlich analytische, diese dagegen synthe- tische Beziehungen. Aus bestimmten Vorstellungen folgen notwendig bestimmte andere Vorstellungen, weil sie in jenen implicite enthalten sind und von denselben nicht ohne Widerspruch getrennt werden können. Aus bestimmten Thatsachen lassen sich aber nicht bestimmte andere Thatsachen analytisch ableiten, weil sie in jenen nicht ent- halten sind, sondern als etwas völlig Neues zu denselben hinzu- kommen; Thatsachen können von einander ohne Widerspruch ge- trennt werden. Der synthetische Charakter der Beziehungen zwischen den Thatsachen der Erfahrung verbietet uns also, aus Thatsachen, die als Wahrnehmungen unserem Bewusstsein unmittelbar gegen- wärtig sind, nach dem Prinzip des Widerspruchs, d. h. a priori, auf andere Thatsachen zu schliessen, die mit jenen verbunden sein werden. Welche Thatsachen mit einander verbunden sind, darüber kann uns nur die faktische Erfahrung belehren. Allein wenngleich die Erfahrung in dieser Hinsicht unsere einzige Führerin ist, so ist sie doch nicht imstande, uns dorthin zu geleiten, wo wir gern an- langen möchten. Die Erfahrung belehrt uns nämlich nur darüber,

Sigwarts Theorie der Kausalität etc. 3

dass in den beobachteten Fällen bestimmte Thatsachen miteinander wirklich verbunden waren; sie sagt aber schlechterdings nichts dar- über aus, dass diese Thatsachen in allen zukünftigen Fällen mit- einander verbunden sein werden und verbunden sein müssen. Die Erfahrung zeigt keine notwendige, sondern eine wirkliche, faktische Verknüpfung zwischen den Thatsachen; sie verbürgt nur sich selbst, weist aber nicht über ihre eigene Sphäre binaus. Wenn nun aber die Erfahrung keine notwendige Verknüpfung zwischen den That- sachen aufzuweisen vermag, so lässt sich das Recht unserer kausalen Schlüsse empirisch nicht begründen. Wir sind nicht berechtigt, zu schliessen, dass, weil in einer Anzahl wirklich erfahrener Fälle be- stimmte Tbatsachen miteinander verbunden waren, dieselben in allen folgenden Fällen miteinander verbunden sein werden. \Wenn aber sonach weder das Prinzip des Widerspruches, noch die Erfahrung der zureichende Grund ist, worauf unsere kausalen Schlüsse ihre Berechtigung zurückführen könnten, so beruhen dieselben überbaupt auf keinem objektiven, sachlichen Grunde. Die quaestio juris der kausalen Schlüsse muss also dahin beantwortet werden, dass kein zureichender logischer Grund sich angeben lässt, der uns sachlich berechtigte, kausal zu schliessen. Und nun die quaestio facti der kausalen Schlüsse! Warum schliessen wir von bestimmten That- sachen, welche uns in der Erfahrung gegeben sind, kausal auf an- dere Thatsachen, die wir nicht wirklich erfahren, von denen wir aber voraussetzen, dass sie mit jenen notwendig verbunden sind, wenn wir doch von Rechts wegen so nicht schliessen dürfen? Die Antwort auf diese Frage ist folgende: Unsere kausalen Schlüsse be- ruhen zwar auf keinem objektiven, logischen Grunde; wohl aber ist ein subjektiver, psychologischer Grund vorhanden, warum wir kausal schliessen. Wir erfahren, dass bestimmte Thatsachen miteinander faktisch verbunden sind. Diese Erfahrung wiederholt sich. Je öfter sie sich nun wiederbolt, desto mehr befestigt sich durch den psy- chischen Mechanismus der Association der Zusammenhang zwischen jenen Thatsachen, desto mehr bildet sich in uns die Gewohnheit aus, dieselben zusammen vorzustellen, so dass wir schliesslich nicht mehr imstande sind, die betreffende associative Beziehung aufzulösen und die Thatsachen von einander faktisch zu trennen. Sobald nun eine von diesen Thatsachen in der Form einer wirklichen Wahrnehmung in den Gesichtskreis unserer Erfahrung tritt, sind wir durch den mechanischen Ablauf der Association genötigt, die andere Thatsache, welche mit jener jedesmal verbunden war, zu derselben in Beziehung 1*

4 M. Wartenberg,

zu setzen, und auf dieser Association beruhen unsere kausalen Schlüsse. Die Vorstellung der notwendigen Verkntipfang, des kau- salen Verhältnisses zwischen Thatsachen der Erfahrung, gründet sich also auf die feste Beziehung, welche der psychische Mechanismus zwischen unseren Perceptionen gestiftet hat, und der kausale Schluss ist das Werk der associierenden Einbildungskraft, die auf denjenigen Bahnen sich bewegt, welche jener Mechanismus geebnet und vor- gezeichnet hat. Was wir also objektive Notwendigkeit nennen, wenn wir behaupten, dass Thatsachen miteinander kausal verbunden sind, ist nichts anderes, als eine subjektive Nötigung, diese Thatsachen jedesmal zu einander in Beziehung zu setzen. Ein zureichender logischer Grund, der uns berechtigte, auf Thatsachen kausal zu schliessen, lässt sich nicht angeben; es lässt sich nur das psycho- logische Motiv aufzeigen, welches uns veranlasst, Thatsachen mit- einander associativ zu verbinden. Daraus folgt, dass es in betreff der Thatsachen der Erfahrung kein eigentliches Wissen, sondern nur eine Wabrscheinlichkeit giebt. Denn wir besitzen keine Erkenntnis, dass Thatsachen, objektiv betrachtet, miteinander notwendig verknüpft sind; wir besitzen nur die Wahrscheinlichkeit, dass dieselben künftig- hin miteinander verbunden sein werden, weil sie früher miteinander verbunden gewesen sind. Unsere gesamte Erfahrung, soweit sie nicht bei dem unmittelbar Gegebenen stehen bleibt, sondern auf Grund kausaler Schlüsse allgemeine Erkenntnisse über Thatsachen gewinnen will, ruht also schliesslich auf einem Glauben, auf dem subjektiven Gefübl der Erwartung, dass die Zukunft der Vergangen- heit gleichen werde, auf einem Glauben, welcher in der psychi- schen Associationsmechanik seine Wurzel hat und ein Kind der Ge- wohnheit ist.

In diesem Zustand befand sich die Frage der Kausalität, als Kant die philosophische Bühne betrat, und durch Humes Unter- suchungen beeinflusst, die Bahn der kritischen Philosophie be- schritten hat.

Das Problem der Kausalität hat Kant von Hume tiberkommen, und diesen Umstand muss man wohl im Auge bebalten. Denn die Kantische Theorie der Kausalität lässt sich in ihrer charakteristischen Eigentümlichkeit schlechterdings nicht verstehen, wenn man sich nicht beständig gegenwärtig hält, dass dieselbe durchaus von Humes Problemstellung abhängig ist und den Zweck verfolgt, dessen Zweifel an der Rechtmässigkeit und objektiven Gültigkeit des Kausalbegriffs zu überwinden. In dieser durchgängigen Beziehung auf Humes Aus-

Sigwarts Theorie der Kausalität eto. 5

führungen sind sowohl die Vorzüge, als auch die Schwächen der Kantischen Theorie der Kausalität begründet.

Das Kausalproblem hat bei Hume die Form der Frage nach dem logischen Recht des kausalen Schliessens angenommen. Dieses Recht konnte Hume in keiner Weise deduzieren; nur die Thatsache, dass wir kausal schliessen, glaubte er erklären zu können, erklärte sie aber in einer Weise, welche den kausalen Schluss als völlig illusorisches und durchaus zweifelhaftes Erkenntnismittel hingestellt hatte. Denn wenn unsere Überzeugung, dass notwendige Beziehun- gen, d. h. kausale Verhältnisse zwischen Erfahrungsthatsachen be- stehen, auf keinem zureichenden objektiven Grunde beruht, sondern Sache des Glaubens, der subjektiven Einbildung ist: was bürgt uns für die Sicherheit unserer kausalen Schlüsse? Welche Garantie haben wir darüber, dass unsere Erwartungen ausnahmslos in Er- füllung gehen werden, dass der Lauf der Dinge mit dem Mechanis- mus der Association jederzeit zusammentreffen und die Erfahrung uns nicht vielleicht Thatsachen vorführen werde, die wir gar nicht erwartet haben? Besitzen wir aber diese Btirgschaft nicht, dann ist die Erfahrungswissenschaft, welche streng allgemeine Sätze über Thatsachen gewinnen will, logisch betrachtet, ein völlig grundloses and unberechtigtes Unternehmen. Denn die rationale Wissenschaft, welche Erscheinungen erklären, d. h. auf gesetzliche Realgründe zu- rückführen will, ruht durchaus auf der Voraussetzung, dass die Er- scheinungen notwendig verknüpft, d. h. dem Gesetze der Kausalität ausnahmslos unterworfen sind. Wenn aber die Richtigkeit dieser Voraussetzung sich in keiner Weise nachweisen lässt, wenn wir nicht imstande sind, für die objektive Gültigkeit des Kausalgesetzer einen zureichenden Grund anzugeben, so schwebt die erklärende Er- fahrungswissenschaft ohne sichere Grundlage haltlos in der Luft und bedeutet ein blindes, rechtloses Verfahren.

Diese Erwägungen musste Kant angesichts der skeptischen Lösung des Kausalproblems durch Hume anstellen. Einfach ab- weisen konnte er aber Humes Bedenken nicht. Denn die Kritik, welche dieser scharfsinnige Denker an dem Kausalbegriff geübt hat, erschien ihm als vollkommen zutreffend. Er sah ein, dass der zu- reichende objektive Grund dafür, dass wir Thatsachen zu einander in notwendige Beziehung setzen, d. h. kausal verknüpfen, weder im Prinzip des Widerspruchs, noch in der Erfahrung liegt, weil zwischen den Thatsachen keine analytischen Verhältnisse besteben, die Regeln aber, die von der Erfahrung abgezogen werden, nur komparative

6 M. Wartenberg,

aber keine strenge Allgemeinheit besitzen. Wenn also die objektive Gültigkeit des Kausalbegriffs und damit das Recht der Erfahrungs- wissenschaft deduziert werden soll, so kann diese Deduktion nur in einer Weise gescheken, welche Hume in seiner Kritik gar nicht in Betracht gezogen hat. |

Die Kausalität war bei Hume eine blosse Regel der Association, eine Tendenz der Einbildungskraft, Vorstellungen zu einauder in Beziehung zu setzen, in derjenigen Ordnung, welche die Erfahrung zwischen den Perceptionen gestiftet und der psychische Mechanismus befestigt hatte. Als solche bedeutete die Kausalität keine streng allgemeine und notwendige Regel, welche Erfahrungsthatsacben ob- jektiv verknüpft und gesetzliche Zusammenhänge zwischen denselben begründet, sondern eine rein subjektive Regel, wodurch die associ- ierende Einbildungskraft bei der Verknüpfung der Vorstellungen in völlig blinder, zufälliger Weise geleitet wird, und deren Allgemein- heit nur soweit reicht, als die Wirksamkeit des psychischen Mecha- nismus der Association sich erstreckt, also keine logische, sondern nur eine psychologische Geltung besitzt.

Dass strenge Allgemeinheit und Notwendigkeit Eigenschaften sind, welche einzig und allein dem Denken zukommen, das hat Hume wohl eingesehen. Aber er glaubte, dass diese Eigenschaften die Thätigkeit des Denkens nur insofern auszeichnen, als dasselbe nach dem formal-logischen Prinzip des Widerspruches verfährt. Nur das- jenige galt ihm für streng allgemein und notwendig, dessen Gegen- teil einen Widerspruch ergab. Von dieser Art sind aber, wie er zu- treffend gezeigt hat, nur die analytischen Beziehungen zwischen blossen Vorstellungen. Dagegen dort, wo synthetische Beziehungen in Betracht kommen, nämlich mit Bezug auf die Verhältnisse zwischen den Thatsachen der Erfahrung, dort richtet man mit dem Prinzip des Widerspruchs nichts aus; denn das Gegenteil einer Thatsache bleibt immer möglich.

Das Prinzip des Widerspruchs kann streng allgemeine und not- wendige Verknüpfungen zwischen Thatsachen der Erfahrung nicht begründen, und darum hat das Denken in der Erfahrung nichts zu schaffen. Das Denken ist eine rein analytische Funktion: es be- thätigt sich in der Zergliederung und Aufeinanderbeziehung der Vor- stellungen; auf dem Gebiete der Erfahrung, wo Thatsachen mit- einander verknüpft werden, herrscht allein die Einbildungskraft mit ibrer synthetischen Funktion.

Allein kann diese Humesche Ansicht vom Wesen des Denkens

Sigwarts Theorie der Kausalität eto. 7

und dessen Funktion zu Recht bestehen? Ist es denn wahr, dass Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit einzig und allein auf das Prinzip des Widerspruches sich gründen? Ist dieses Prinzip in der That die einzige Regel des Denkens? Erschöpft sich denn die Denk- thätigkeit wirklich in der Analysis der Vorstellungen? Diese Fragen verneint Kant entschieden. Er entfernt sich in dieser Hinsicht von Hume, begründet eine neue Auffassung vom Wesen des Denkens und gewinnt dadurch eine neue Grundlage, auf welcher er die Lö- sung des Kausalproblems versucht.

Jedes kausale Urteil drückt eine notwendige Beziehung zwischen bestimmten Thatsachen der Erfahrung aus und beansprucht als streng allgemeiner Satz zu gelten. Jedesmal also, wenn wir Thatsachen kausal beurteilen, bezieht sich unser Denken auf die Erfahrung und tritt als empirisches Denken auf. Weil nun aber zwischen den Thatsachen der Erfahrung keine analytischen Verhältnisse bestehen, so beruht die denkende Aufeinanderbeziehung dieser Thatsachen im kausalen Urteil nicht auf einer Analyse der betreffenden Objekte, und das Prinzip, worauf die Notwendigkeit dieser Aufeinander- beziehung sich gründet, ist nicht das Prinzip des Widerspruchs. Das Denken vollzieht im kausalen Urteil eine Synthese, es verknüpft Thatsachen der Erfahrung, ohne dabei auf eine vorhergehende Zer- gliederung derselben sich stützen zu können. Welches ist nun der Grund dieser Synthese? Derselbe kann nicht in der Erfahrung liegen. Denn die Synthese, welche das Denken im kausalen Urteil vollzieht, bedeutet eine notwendige und allgemeingültige Verknüpfung, eine solche zeigt aber die Erfahrung nicht.

Der Grund dafür, dass das Denken im kausalen Urteil That sachen notwendig und allgemeingtiltig verknüpft, kann nur im Denken selbst liegen.

Die kausale Synthese beruht auf einem synthetischen Prinzip, auf einer Regel der Verknüpfung, welche zum ureigenen Besitz des Denkens gehört und als solche eine streng allgemeine und not- wendige Regel ist. Die Kausalität, als Verhältnis notwendiger Ver- kntipfung, erweist sich also als eine Regel des verknüpfenden Den- kens; Kant nennt sie deshalb einen reinen Verstandesbegriff, im Unterschied von einem empirischen, durch diskursive Thätigkeit des Denkens von der Erfahrung abstrahierten Begriff. Auf diese Weise wurde durch Kant die Kausalität in das erkennende Subjekt verlegt, in Übereinstimmung mit Hume, welcher diese subjektive Wendung bereits vollzogen hatte. Während aber Hume die Kausali-

8 M. Wartenberg,

tät für eine Regel der associierenden Einbildungskraft erklärte, fasst Kant dieselbe als eine Regel des verknüpfenden Denkens und rettet dadurch ihre Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit, Merkmale, welehe Hume ihr konsequenterweise streitig machen musste. Hier wie dort bedeutet aber die Kausalität ihrem Wesen nach ein sub- jektives Element. eine Funktion des erkennenden Subjekts.

Aus dieser subjektivistischen Fassung der Kausalität musste sich nattirlich sofort die Frage nach der objektiven Gültigkeit des Kausalbegriffs ergeben. Wie kann die Kausalität, als reiner Ver- standesbegriff, aus der subjektiven Sphäre, in der sie ursprünglich liegt, heraustreten und zur objektiven Sphäre in Beziehung gesetzt werden, d. h. empirische Geltung für die Gegenstände der Erfahrung erhalten?

Bedeutet sie eine Regel, wonach das Denken Erfahrungsthat- sachen in notwendiger und allgemeingiiltiger Weise verknüpft: wie ist es dann zu erklären, dass diese Thatsachen sich unter diese Regel subsumieren und in kausalen Urteilen verknüpfen lassen?

In welchem Sinne diese Frage zu beantworten sei, darüber konnte Kant nicht den geringsten Zweifel hegen. Diese Antwort war in Kants Voraussetzungen und in der Tendenz. die er verfolgte, bereits implieite enthalten und ergab sich daraus als einfache Fol- gerung. Wenn nämlich einerseits die Kausalität um den Charakter des Verhältnisses einer notwendigen Verknüpfung zu bewahren, für eine Regel des verknüpfenden Denkens erklärt wurde, und wenn andererseits ihre objektive Geltung gegen Humes Skepsis deduziert werden sollte: so blieb nichts anderes übrig. als die Thatsachen der Erfahrung selbst unter die Herrschaft dieser apriorischen Regel des Deukens zu stellen und die Kausalität zur Bedingung der Möglich- keit der Gegenstände der Erfahrung zu machen. Das Gebiet, wo- raul die hausale Funktion des Denkens sich bethätigt. musste er- weitert werden. Nicht: bloss in der Reflexion auf die Gegenstände der Erfahrungswelt, bei der bewussten Verknüpfung gegebener That- sachen der Erfahrung in kausalen Urteilen, durfte das Denken mit seiner Regel der Kausalität funktionieren, sondern es musste eben- norelu in der aller bewussten Reflexion vorangehenden Objektivation der sinnlichen Wahrnehmungen, bei der Gestaltung blosser Erschei- munzen zu Gegenständen der Erfahrung, seine kausale Synthese aus- üben. Durch einen transseendentalen, vor aller Erfahrung ausge- führten Akt den Denkens mussten die Erscheinungen durch die Regel der Kausnltat In notwendiger und allgemeingiiltiger Weise verknüpft

Sigwarts Theorie der Kausalität etc. 9

und dadurch in Gegenstände der Erfahrung umgewandelt werden, damit sie bei der Beurteilung durch das empirische Denken sich unter diese Regel subsumieren und in kausalen Urteilen verkntipfen lassen.

Auf diese „transscendentale Deduktion“ der Kausalität, auf den Nachweis, dass dieser reine Verstandesbegriff für die Erfahrungs- objekte deshalb ausnahmslose Geltung besitzt, weil diese Objekte nur durch denselben möglich sind, hat Kant viel Mühe und Scharf- sinn verwendet. Er suchte zu zeigen, dass wir eine objektive Zeit- ordnung der Erscheinungen, eine objektive Succession derselben, im Unterschied von dem subjektiven, regellosen Ablauf unserer Vor- stellungen, nur in dem Falle zu erkennen vermögen, wenn wir die Auf- einanderfolge der Erscheinungen der Regel der Kausalität unterwerfen. Alles, was objektiv succediert, was eine Aufeinanderfolge im Gegenstande bedeutet, succediert nach einer notwendigen und streng allgemeinen Regel; sämtliche Veränderungen, welche in den Gesichtskreis unserer Erfahrung treten, sind dem Gesetze der Kausalität untergeordnet, und erhalten durch diese Unterordnung ihren gegenständlichen Cha- rakter. Die Kausalität liegt in der Erfahrung, weil sie durch das transscendentale, objektivierende Denken in die Erfahrung hinein- gelegt worden ist. Und weil sie darin liegt, weil die Erfahrungs- objekte, die Veränderungen, den Stempel der apriorischen Regel der Kausalität durchgängig an sich tragen, deshalb lassen sie sich durch das empirische Denken in kausalen Urteilen verknüpfen und zu streng allgemeinen Erfahrungserkenntnissen verarbeiten.

Es ist klar, welche Konsequenz aus dieser Kantischen Fassung der Kausalität für die erkenntnistheoretische Bedeutung und Trag- weite des Kausalbegriffs sich ergeben musste. Auf dem Boden einer realistischen Erkenntnistheorie konnte diese Auffassung der Kausali- tät unmöglich ruhen.

Wenn nämlich das immanente Gebiet der Erfahrung, im rea- listischen Sinne, mit dem transscendenten Gebiet des an sich Seien- den im Zusammenhang stände, wenn die Ordnung der Erscheinungen im Bewusstsein eine getreue Kopie, ein Repräsentant der absolut- realen Ordnung der Dinge an sich wäre: dann könnte eine not- wendige und allgemeingültige Verknüpfung der Erscheinungen durch die apriorische Regel der Kausalität natürlicherweise nicht statt- finden; denn was unabhängig vom Bewusstsein an sich geschieht, kann nicht von den Formen des Bewusstseins abhängig gemacht werden. Um diesem Widerspruch zu entgehen, war Kant genötigt,

19 M Wartenberg,

die Erfahrung im idealistischen Sinne auszudeuten Die Gegen- stände der Erfahrung mussten für blosse Erscheinungen. für Modi- fikationen des Bewusstseins erklärt werden, für Vorstellungen, die in keiner Beziebung zu der absolut-realen Sphäre der Dinge an sich stehen. Die Ordnung, in welcher die Veränderungen als Erfahrungs- objekte geschehen. durfte keine absolut-reale Ordnung der Dinge im transscendenten Gebiet des Seienden bedeuten, sondern musste als blosse Ordnung der Vorstellungen in der immanenten Sphäre des Bewusstseins ausgedeutet werden. Dementsprechend erhielt auch die Kausalität eine durchaus idealistische Fassung. Nicht eine reale Daseinsweise der transscendenten Welt. nicht ein Verhältnis zwischen den Dingen an sich bedeutet die Kausalität, sondern nur eine Vor- stellungsweise, ein Verhältnis zwischen den Erscheinungen als Zu- ständen des Bewusstseins, ein Ordnungsprinzip, wonach unsere denkende Intelligenz die Succession der Erscheinungen in gesetz- licher Weise regelt und zum Gegenstand der Erfahrung gestaltet. Für die Erscheinungen besitzt die Regel der Kausalität ausnahmslose objektive Geltung; aber diese Geltung beschränkt sich auch gänz- lich auf das phänomenale Gebiet unserer Erkenntnis. Über die Er- scheinungen hinaus, ins transscendente Gebiet der Dinge an sich, können wir an der Hand der Kausalität nicht gehen; denn hier verliert dieser Begriff allen Erkenntniswert und wird zur inhaltsleeren Formel.

Wie aus unserer Darstellung hervorgeht, bildet die Kantische Theorie der Kausalität ein System von Gedanken, welche in lücken- loser Konsequenz auseinander organisch sich entwickeln, indem die jeweilig erreichte Stufe des Gedankenganges folgerichtig eine weitere Stufe aus sich hervortreibt, bis schliesslich das Ende eine Wendung erbält, die am Anfang bereits angelegt war. Der Zweck, das Recht der Erfahrungswissenschaft zu begründen, die Möglichkeit streng allgemeiner Erkenntnisse in betreff der Thatsachen der Erfahrung gegen Humes Skepticismus nachzuweisen, erforderte als unentbehr- liches Mittel eine Fassung des Kausalbegriffs, welche Hume zwar als notwendiges Postulat der Erfahrungserkenntnis richtig formuliert und aufgestellt hat, die er aber objektiv nicht begründen konnte. Nur in der Bedeutung einer Regel der notwendigen Verknüpfung konnte der Kausalbegriff jener Forderung genügen. Um aber diesen Charakter wirklich, nicht bloss scheinbar, wie bei Hume, zu er- halten, musste die Kausalität für eine Regel des verknüpfenden Denkens erklärt werden. Dadurch wurde dieselbe in das erkennende

Sigwarts Theorie der Kausalität etc. 11

Subjekt, als eine Funktion desselben, verlegt. Nun ergab sich die Aufgabe, die objektive Gültigkeit dieser subjektiven Form des Be- wusstseins zu deduzieren. Diese Deduktion konnte aber nicht an- ders geschehen, als in der Weise, dass die Regel der Kausalität zur Bedingung der Möglichkeit der Erfahrungsobjekte gemacht wurde. Zu diesem Zwecke mussten aber die bezüglicben Erfahrungsobjekte vom erkennenden Bewusstsein durchaus abhängig gemacht werden, und diese totale Abhängigkeit der objektiven Sphäre von der sub- jektiven konnte nur dann durchgeführt werden, wenn man die Gegen- stände der Erfahrung im Sinne idealistischer Erkenntnistheorie für blosse Erscheinungen erklärte. Auf diese Weise wurde die Kausali- tät zu einer blossen Form der Erscheinungen, zu einem Verhältnis zwischen den Vorstellungen, und verlor alle Bedeutung für die selbst- realen Dinge.

Die subjektivistische Fassung der Kausalität drängte konsequent zu einer idealistischen Ausdeutung derselben. Die Kausalität, für eine Funktion des erkennenden Subjekts erklärt, musste, um von den Objekten zu gelten, diese Objekte in die subjektive Sphäre des Bewusstsein restlos bineinziehen, und verflüchtigte sich dadurch selbst zu einer blossen Vorstellungsweise.

Allein es ist Kant thatsächlich nicht gelungen, die Erfahrungs- objekte restlos in die subjektive Sphäre des erkennenden Bewusst- seins hineinzuziehen, und dadurch seinen Idealismus konsequent durchzuführen. Dass die Gegenstände der Erfahrung blosse Erscheinungen sind, ohne Beziehung zum absolut - realen Sein der Dinge an sich, hat Kant zwar behauptet, aber nicht be- wiesen; er hat diesen Beweis auch garnicht führen können, weil ein realistisches Moment, wie ein Tropfen fremden Blutes, in seine idealistische Erkenntnistheorie sich einmischte und ihm besagte Be- weisführung im Prinzip unmöglich machte. Von der idealistischen Auffassung der Erfahrung war die Durchführbarkeit des transscen- dentalen Apriorismus Kants abhängig. Aber diese idealistische Auf- fassung hätte auch eine vollständig und rein idealistische, ohne Bei- mischung eines realistischen Elements, sein müssen. Die Erfahrungs- objekte hätten auch wirklich blosse Erscheinungen, aus rein subjek- tiven, immanenten Erkenntnisfaktoren gewirkte Bewusstseinsprodukte sein müssen; nur dann wäre eine spontane Ordnung und Verknüpfung solcher Erscheinungen durch eine apriorische Regel des Denkens möglich, und die objektive Gültigkeit dieser Regel in befriedigender, einwandfreier Weise deduziert gewesen.

12 M. Wartenberg.

Diese Voraussetzung trifit nun aber bei Kant nicht zu. Kants Theorie der Erfahrung ist keineswegs auf rein idealistischer Grund- lage aufgebaut, sondern aus idealistischen und realistischen Elementen wasammengenetzt. Die Erfabrungsobjekte sind nicht Produkte aus rein immanenten Erkenntnisfaktoren, sondern sie sind auch in ihrer bestimm- ten Beschaffenheit von einem transscendenten Faktor abhängig. Nur die Form der Erfahrungsobjekte leitet Kant vom erkennenden Subjekt ab; den Inhalt der Erscheinungen führt er auf das Mitwirken des transscendenten Faktors zurück. Er lehrt ausdrücklich, dass Dinge unsere Sinnlichkeit affizieren und dieselbe zur Entwickelung der Empfindungen veranlassen. Der Inhalt der Erscheinungen ist also von den Dingen, wie sie an sich existieren, abhängig; er berubt auf dem transscendenten Faktor der Erkenntnis und bedeutet etwas faktisch (iegebenes, welches das erkennende Subjekt einfach vor- findet, passiv aufnimmt und in keiner Weise ändern kann; er ist das positive, thatsiichliche Element der Erkenntnis, bezüglich dessen das Subjekt sich rein receptiv verhält. Nun soll dieser Inhalt, den Kant für gänzlich formlos erklärt, durch die reinen Formen des Be- wunstseins in bestimmter Weise geordnet werden. Die Empfindungen werden dureh die reinen Anschauungsformen in bestimmte räum- liche und zeitliche Verhältnisse gebracht und dadurch zu An- schauungen gestaltet, und diese Anschauungen werden durch die apriorischen Regeln des Denkens notwendig und allgemeingültig ver- kntpft und dadureh zu Gegenständen der Erfahrung gemacht. In Jedem Erfahrungsobjekt sind also zwei gänzlich heterogene Erkenntnis- elemente zur Einheit verbunden: der Empfindungsinhalt, als fak- tisches, rein empirisches Datum, und die apriorische Form der Auschaunng und des Denkens, welche vom Bewusstsein zu jenem apontan hinzugefügt wird. Allein diese Vereinigung zweier hetero- gener, aus verschiedenen Quellen stammender Erkenntniselemente bedeutet in der Fassung, welche Kant ihr giebt, ein unmögliches Verhältnis. Schon in betreff der räumlichen und zeitlichen Ordnung der Emptindungen durch die reinen Anschauungsformen lässt sich nimmer einsehen, wie ein Inhalt sich soll in Formen bringen lassen, die ihm von Haus aus vollkommen fremd sind. wie es möglich ist, dass ein villig formloses Empfindungsmaterial in einem bestimmten Falle in dieser und in keiner anderen Weise räumlich und zeitlich angeoninet wird. Die Thatsache, dass die Empfindungen jeweilig in einer bestimmten räumlichen und zeitlichen Anordnung auftreten und erscheinen, lässt sich nicht aus der allgemeinen und in dieser

Sigwarts Theorie der Kausalität ete. 13

Allgemeinheit völlig unbestimmten Form des Raumes resp. der Zeit ableiten; will man mit dem Apriorismus der Anschauungsformen nicht vollständig brechen, dann muss man zum Zweck der Erklärung jener Thatsache annehmen, dass die Empfindungen ursprünglich mit bestimmten Lokal- und Temporalzeichen als Begleiterscheinungen auftreten, welche dem Bewusstsein das Motiv und den Leitfaden geben, die Empfindungen auf Grund der reinen Anschauungsformen in einer festbestimmten räumlichen und zeitlichen Ordnung zu grup- pieren. Wie man aber auch Kants transscendentale Ästhetik korri- gieren mag, um aus ihr eine haltbare Theorie zu machen: uns in- teressiert hier in erster Linie Kants transscendentale Logik, die Lehre von der spontanen Verknüpfung der Erscheinungen durch die apriorischen Regeln des Denkens, woraus aus blossen Anschauungen Gegenstände der Erfahrung entstehen, eine Lehre, mit welcher Kants Theorie der Kausalität direkt zusammenhängt. Diese Lehre erweist sich aber bei tieferem Eindringen in die Grundlagen der Kantischen Erkenntnistheorie als vollkommen unhaltbar; sie leidet an einem inneren Widerspruch und muss daran unrettbar zu Grunde gehen. Aus der apriorischen Regel der Kausalität in ihrer abstrakten All- gemeinheit ergiebt sich nicht, in welcher Ordnung die Erscheinungen im besonderen Falle mit Rücksicht auf ihre Aufeinanderfolge in ein notwendiges Verhältnis zu einander gesetzt werden sollen. Ist die Ord- nung, in welcher die Erscheinungen, als Produkte der Sinnlichkeit, succedieren, in der That so völlig unbestimmt, wie Kant annimmt, dann fehlt auch dem erkennenden Bewusstsein jedes Motiv, und jeder Leitfaden für eine besondere Anwendung des Kausalgesetzes, jedes Motiv, um in eindeutiger Weise die Erscheinungen in kausales Ver- hältnis zu einander zu setzen.

Die Ordnung der Succession der Erscheinungen in der An- schauung darf also keine völlig regellose und unbestimmte sein. Dies hat auch Kant selbst eingesehen, wenn er in der Lehre vom Schematismus der reinen Verstandesbegriffe ausdrücklich den Satz aufstellte, dass die Anwendung des Kausalgesetzes auf die Erschei- nungen nur dann möglich sei, wenn die Succession derselben einer Regel unterworfen ist.

Aus dieser Fassung des Verhältnisses zwischen dem Kausal- gesetz und den Erscheinungen, worauf dasselbe sich bezieht, und diese Fassung entspricht allein der Natur der Sache folgt aber, dass die Verknüpfung der Erscheinungen durch die Regel der Kau- salität keine vollkommen eigenmächtige und spontane sein kann, wie

14 M. Wartenberg,

Kant in der transscendentalen Deduktion des Kausalbegriffs durch- zuführen sich bemühte, sondern dass sie am Leitfaden derjenigen Ordnung geschieht, in welcher die Erscheinungen bereits in der An- schauung succedieren, also von der Anschauung abhängig ist.

Das Denken ist mit seiner apriorischen Regel der Kausalität auf ein bestimmt geordnetes anschauliches Material angewiesen, welches von ihm nicht schöpferisch produziert, sondern einfach vor- gefunden wird; es kann seine kausale Funktion nur unter der Be- dingung ausüben, wenn in der Anschauung Erscheinungen bereits nach einer Regel succedieren. Die Anschauung ist aber ihrerseits vom Denken unabhängig, sie gestaltet sich auf eigene Weise. Kant lehrt ausdrücklich, dass die Anschauung der Funktionen des Den- kens keineswegs bedürfe, dass Erscheinungen ohne Funktionen des Verstandes in der Anschauung gegeben werden können. Wenn es sich aber so verhält, wenn einerseits die Anwendung des Kausalgesetzes auf die Erscheinungen nur unter der Bedingung möglich ist, dass in der Anschauung die Erscheinungen nach einer Regel succedieren, und wenn andererseits die Anschauung vom Denken gänzlich unab- hängig ist: dann muss das Denken ruhig abwarten, ob die An- schauung ein entsprechendes Material zur Anwendung des Kausal- gesetzes liefern werde, ob also die Erscheinungen in der Anschauung nach einer Regel succedieren werden. Dass dieses ohne Ausnahme der Fall sein müsse -— und eine Ausnahme darf nicht vorkommen, weil dann die notwendige und streng allgemeine Geltung des Kausal- gesetzes für die Erfahrungsobjekte durchbrochen wäre, dass dieses ausnahmslos der Fall sein müsse, ist nicht im geringsten einzusehen, umso weniger, als ja in der Anschauung ein rein empirisches Ele- ment, nämlich der Empfindungsinhalt, enthalten ist, ein Element, welches auf dem Mitwirken des transscendenten Faktors beruht, dem erkennenden Bewusstsein aufgenötigt und von demselben als einfache, nicht zu ändernde Thatsache vorgefunden wird. Es ist der Grund- fehler der Kantischen Erkenntnistheorie, dass sie Form und Inhalt der Erkenutnis gewaltsam auseinanderreisst, nur auf die Form das Hauptaugenmerk richtet, dagegen den Inhalt nicht gehörig berück- sichtigt, sondern als etwas Nebensächliches in Bausch und Bogen mit einer gewissen Nonchalance behandelt. Auf diesen Inhalt kommt aber alles an; denn die Regel der Kausalität bedeutet als solche eine leere Formel und bekommt erst durch Erfüllung mit einem konkreten, anschaulichen Inhalt wahren Erkenntniswert. Wenn nun aber dieser Inhalt ein empirisches Datum ist, wenn seine bestimmte

Sigwarts Theorie der Kausalität etc. 15

Beschaffenheit von der Art der Affektion unserer Sinnlichkeit durch die Dinge an sich abhängig ist: so ist die Möglichkeit besagter Er- füllung entschieden in Zweifel gestellt. Die Anwendung der Kausali- tät als einer notwendigen und streng allgemeinen Regel auf die Er- scheinungen fordert, dass dieselben in der Anschauung bereits nach einer Regel succedieren; die Ordnung der Succession bestimmter Erscheinungen in der Anschauung muss so beschaffen sein, dass in allen Successionsfällen derselben auf eine bestimmte Erscheinung jedesmal dieselbe und niemals eine andere Erscheinung folgt, weil sonst die Geltung des Kausalgesetzes, welches verlangt, dass Er- scheinungen nach einer schlechthin allgemeinen Regel einander folgen müssen, ausser Kraft treten würde. Welche Erscheinungen aber in der Anschauung succedieren, das ist gänzlich Sache des empirischen Faktors der Erkenntnis, Sache der Empfindung, beruht also im letzten Grunde auf der besonderen Art, wie die Dinge unsere Sinnlichkeit affizieren.

Es hängt also von der Art der Affektion unserer Sinne durch

die Dinge an sich, d. h. vom transscendenten Faktor der Erkennt- nis ab, ob die Erscheinungen nach einer Regel succedieren oder nicht; denn diese Affektion liefert in den Empfindungen den kon- kreten Inhalt, die bestimmten Glieder, ohne welche die Regel der Succession eine leere. abstrakte Formel ist und als solche keinen wirklichen Erkenntniswert besitzt. Die Regel, nach welcher die Er- scheinungen in konkreten Fällen succedieren, lässt sich nicht in völlig autokratischer Weise vom erkennenden Subjekt bestimmen, wie Kant irrtümlich angenommen hat; diese Regel wird vielmehr durch die Erscheinungen, welche ihr den konkreten Inhalt liefern, und ohne welche dieselbe nur eine leere Möglichkeit ist, bestimmt, diese Erscheinungen sind aber ihrer Materie nach durchaus empirische Data und als solche von der transscendenten Welt der Dinge an Sich abhängig, über welche das erkennende Bewusstsein keine Macht besitzt, der gegenüber es sich vielmehr rein receptiv verhält.

Daraus folgt, dass die Anwendung des apriorischen Kausal-

@esetzes auf die Erscheinungen, also die objektive Gültigkeit des- Selben durchaus bedingt ist durch die Art, wie die absolut-realen Dinge unsere Sinne affizieren, also vom transscendenten Faktor der Erkenntnis abhängt. Affizieren uns die Dinge in einer konstanten Ordnung, dann folgen die Erscheinungen regelmässig aufeinander und lassen sich dem Kausalgesetz unterordnen; affizieren sie uns dagegen bald so bald anders, herrscht in der transscendenten Welt

16 M. Wartenberg,

keine konstante, gesetzliche Ordnung der Dinge, dann succedieren die Erscheinungen im regellosen Durcheinander und lassen sich unter das Kausalgesetz nicht subsumieren. Weit entfernt also, die Ord- nung der Succession der Erscheinungen völlig spontan zu be- stimmen, ist die apriorische Regel der Kausalität vielmehr auf eine in der Anschauung faktisch gegebene Ordnung der- selben angewiesen, auf eine Ordnung, welche letzten Endes auf einem transscendenten Grunde beruht und vom erkennenden Bewusst- sein als eine rein empirische Thatsache vorgefunden wird. Wenn

es sich aber so verhält und diese Fassung folgt aus der all- seitigen und konsequenten Durchführung der Prinzipien der Kan- tischen Erkenntnistheorie —, dann kann von einer transscendentalen

Deduktion der Kausalität, wie Kant eine solche versucht hat, natür- lich keine Rede sein. Dass das apriorische Kausalgesetz objektive Geltung für die Gegenstände der Erfahrung besitzen muss, lässt sich nicht nachweisen. Denn wegen der Abhängigkeit des Erfahrungs- inhalts von den Dingen an sich, wegen des positiven, empirischen Charakters desselben, kann unmöglich demonstriert werden, dass die Ordnung, in welcher die Erscheinungen in der Anschauung succe- dieren, eine solche Gestalt annehmen muss, welche die Anwendung des Kausalgesetzes auf dieselben gestattet.') |

Es war vornehmlich das Interesse der Wissenschaft, welches Kant bestimmte, das Kausalproblem zu stellen und eine Lösung des- selben zu versuchen.

Der Kausalbegriff sollte der erklärenden Naturwissenschaft als sichere Grundlage dienen zur Erkenntnis von Naturgesetzen, zur Bildung streng allgemeiner Urteile über die Aufeinanderfolge von Veränderungen, eine Grundlage, welche Hume durch seine skeptische Kritik erschüttert hatte. Dadurch nahm der Kausalbegriff von vorn- herein die Form des Kausalgesetzes, die Bedeutung einer streng all- gemeinen und notwendigen Regel der Verknüpfung an. Kants Pro- blemstellung der Kausalität war also von einem bestimmten Zweck getragen, und seine bezüglichen Untersuchungen erhielten dadurch eine ganz besondere Richtung. Wenn nun aber diese Untersuchungen wie wir gezeigt haben zu keinem befriedigenden Resultat ge- führt haben, wenn es Kant nicht gelungen ist, die objektive Gültig- keit des Kausalgesetzes zu deduzieren: so schien damit der Kausal-

1) Über das Nähere vergl. meine Schrift: Kants Theorie der Kausalität (Leipzig, H. Haacke, 1899), wo ich eine ausführliche Darstellung und eine ein- gehende Kritik der Kantischen Lehre versucht habe.

Sigwarts Theorie der Kausalität ete. 17

begriff überhaupt alle objektive Bedeutung zu verlieren. Sollte ihn dieses Los nicht treffen, dann blieb nichts anderes tibrig, als den Kausalbegriff unabhängig von der Kantischen Problemstellung einer neuen Betrachtung zu unterwerfen.

Allein es hat lange gedauert, bis die Erkenntnistheorie von der Kantischen Fassung des Kausalproblems sich emancipiert und dem- selben eine andere Wendung gegeben hat. Dass die Kansalität eine notwendige Regel, ein Gesetz der Verknüpfung von Ursache und Wirkung bedeute und allein in diesem Sinne zu verstehen sei, haben selbst diejenigen Erkenntnistheoretiker allgemein angenommen, welche sonst nicht auf dem Boden der Kantischen Philosophie standen, ohne sich dessen bewusst zu sein, dass diese Fassung des Kausalbegrifis ganz und gar von der besonderen Aufgabe, welche die Kantische Theorie der Erfahrung sich gestellt hatte, abhängig war, von der Aufgabe, die Möglichkeit der Erfahrungswissenschaft, im Sinne eines Systems von Erkenntnissen der Naturgesetze, zu begründen. Der- jenige Denker, welcher mit dieser traditionellen Auffassung des Kausalbegriffs, welche nachgerade die Form eines Axioms ange- nommen hatte, endgültig gebrochen und dem Kausalproblem eine ganz andere Wendung gegeben hat, ist Sigwart.

Die vornehmsten Eigenschaften, welche diesen bedeutenden Denker, dessen 70. Geburtstag die gelehrte Welt jetzt feiert, aus- zeichnen, sind die Nüchternheit und Unbefangenheit, womit er an die Lösung der Probleme herantritt. Sigwart geht bei seinen Unter- suchungen nicht von vorgefassten Meinungen aus, und es sind nicht be- stimmte Absichten, die ihn dabei leiten, und welche er auf alle Fälle durchzusetzen bemüht wäre. Jeden Begriff, den er untersucht, führt er auf die natürliche Wurzel desselben im gemeinen Bewusstsein zurtick, sucht durch sorgfältige Analyse den Sinn dieses Begriffs, wie er im Sprachgebrauch des täglichen Lebens niedergelegt ist, zu eruieren, verfolgt die Verzweigungen dieses Begriffs und die verschiedenen Fassungen, welche derselbe im Laufe der Zeit, namentlich durch die Wissenschaft erhalten hat, um auf Grund dieser Analyse die einzelnen Elemente der betreffenden Vorstellung begrifflich zu fixieren und logisch zu vollenden. Auf diese Weise geschieht es, dass Sigwart bei seinen Untersuchungen niemals den Boden der Wirklichkeit unter den Ftissen verliert, dass die Fassung, welche er dem betreffenden Problem giebt, niemals eine einseitige, sondern stets eine vielseitige, die Natur des bezüglichen Objekts erschöpfende ist, und dass dem- entsprechend seine auf der unerschütterlichen Grundlage der Wirk-

Kantstudien V. 2

18 M. Wartenberg,

liohkeit aufgebauten Theorien so unerschtitterlich dastehen, wie diese Wirklichkeit selbst, eben weil sie das Wesen der Sache treffen.

Entsprechend seiner Tendenz, die Möglichkeit der Erfahrungs- wissenschaft gegen Humes Zweifel zu begrtinden, nachzuweisen, dass , wir imstande sind, streng allgemeine Erkenntnisse in betreff der Thatsachen der Erfahrung zu gewinnen, hat Kant den Kausalbegriff gleich in diejenige Form gebracht, welche die Naturwissenschaft, namentlich die mechanische Physik demselben gegeben hat. Ein (Gesetz der Verknüpfung von Ursache und Wirkung sollte die Kau- salitüt bedeuten, und nur in diesem Sinne hat Kant dieselbe einer kritischen Betrachtung unterworfen. Damit hängt zusammen der Umstand, dass Kant keinen genügenden Unterschied gemacht hat xwischen zwei Gedanken, die im Kausalbegriff enthalten sind, näm- oh zwischen der Kausalrelation und dem Kausalprinzip. Zwar könnte es scheinen, als habe Kant diese beiden Gedanken sorg- fültie auseinandergehalten; stellt er doch der Kausalität, als einem reinen Verstandesbegriff. den Grundsatz der Zeitfolge nach dem Ge- wetse der Kausalität, als einen synthetischen Grundsatz des reinen Verstandes, gegenüber. Wenn wir aber genauer zusehen, so schliesst der Begriff der Kausalität den Grundsatz der Kausalität bereits in sich ein; der Grundsatz expliziert nur dasjenige. was im Begriff im- plieite enthalten ist. Bedeutet nämlich die Kausalrelation. als reiner Ver- standesbegrift, schon ein Gesetz der Verknüpfung. unter welches die Succession der Erscheinungen in der Anschauung subsumiert werden muss, um dadurch allererst die Geltang einer objektiven Zeitfolge zu erhalten, so ist es natürlich selbstverständlich. dass dieses Gesetz auf das gecamte (rebiet der Erfahrung. deren einzige Bedingung es ist sieh erstrecken mu das also alle Veränderungen nach dem Gesetse der Kausalität gescheben müssen Das Kausalprinzip ist ake bei Kant eine einfache Folserang aus der Kausalrelation. deren Be- gaa vou vuruberein eine wiche Fassung erhalten hat. welche geeignet win sollte. die objektive Gültickeit des Kausalprinzips, worauf es Kant in erster Line ankam. zu berründen. Dass bei Kant der Be cit der kausalen Relanoo und das Kausalprinzip strear renommen, dieelbe Beieutuuc baden. al miteimander vermischt sind. it sehon Sessveciwh in recht charaktrmüwber Weise dadurch xekennzeichnet. dans die traneeudeutae Dedastva des reinen Vertandesbewriffs der Kamalitit sugleit ein Beweis für die cdjeative Cültiykei des Reenisemees der Kaunalitks we

Eine winatemwere Kiarbeis über die weder Rervorrebobeser—

Sigwarts Theorie der Kausalität etc. 19

Punkte und eine saubere Auseinanderhaltung derselben treffen wir zuerst bei Sigwart an. Sigwart scheidet zwischen dem Kausalbegriff in der einfachen, elementaren Gestalt einer Vorstellung des gewöhn- lichen Bewusstseins, und dem Kausalbegriff in derjenigen Fassung, welche derselbe durch die wissenschaftliche Bearbeitung erhalten bat, und er scheidet zweitens zwischen der Kausalrelation und dem Kausal- prinzip. Der Gedanke, dass überhaupt irgend etwas als Ursache zu denken sei, ist früher, als der bewusste Gedanke, dass alles seine Ursache habe; die Vorstellung der kausalen Relation ist die not- wendige Voraussetzung der bewussten Konzeption des Kausal- prinzips. weil natürlicherweise erst feststehen muss, was unter Kau- salität zu verstehen sei, ehe die Allgemeinheit derselben behauptet werden kann. Die Untersuchung über das Kausalproblem hat also damit zu beginnen, den Sinn der Kausalrelation, wie er aller wissenschaftlichen Bearbeitung vorangeht, zu eruieren. Um aber diesen Zweck zu erreichen, dazu besitzen wir kein anderes Mittel, als die Thatsachen des gewöhnlichen Bewusstseins zu Rate zu ziehen, sich darauf zu besinneu, was wir meinen, wenn wir im täglichen Leben vom kausalen Verhältnis reden, also die naturwüchsige Kausal- vorstellung einer Analyse zu unterwerfen.

Indem Sigwart bei seinen Untersuchungen auf die naturwüchsige Kausalvorstellung des gewöhnlichen Bewusstseins zurückgeht, stellt er in völlig voraussetzungsloser Weise die Frage der Kausalität aut ihren natürlichen Boden und gewinnt dadurch eine richtige Orien- tierung über das Problem. Denn jede Untersuchung über ein be- stimmtes Objekt nimmt ihren naturgemässen Ausgangspunkt beim un- mittelbar Gegebenen. Unmittelbar gegeben ist uns aber ein Objekt nur in der ursprünglichen Form einer Thatsache des gemeinen Be- wusstseins. Alle entwickelteren Formen und Fassungen desselben bedeuten etwas Abgeleitetes; sie ruhen auf jener naturwüchsigen Grundlage und können nur dann gehörig verstanden werden, wenn man sich zuvor über diese Grundlage vollkommen klar geworden ist. Mit einer eingehenden Analyse der ursprünglichen, aller wissenschaft- lichen Reflexion vorangehenden Kausalvorstellung hat also die Unter- suchung tiber das Kausalproblem zu beginnen.

Eine eigentliche Analyse des Kausalbegriffs finden wir bei Kant, streng genommen, nicht. Nur gelegentlich, bei der Erörterung der Frage nach dem Ursprung des Kausalbegriffs, streift Kant vorüber- gehend diesen Punkt und hebt die einzelnen Merkmale unseres Be- griffs hervor, um zu zeigen, dass derselbe aus der Erfahrung nicht

2%

20 M. Wartenberg, Sigwarts Theorie der Kausalität eto.

entspringen könne. Was aber Kant hier giebt, ist nicht eine selb- ständige Analyse des Kausalbegriffs, sondern eine Wiederholung der Ergebnisse der Untersuchungen Humes, welche Kant einfach voraus- setzt, um auf ihrer Grundlage seine Theorie aufzubauen. Die Unter- suchungen Humes aber enthalten zwar eine scharfsinnige Analyse des Kausalbegriffs; aber diese Analyse ist nicht voraussetzungslos, sondern geschieht unter einem bestimmten Gesichtspunkt. Was Hume interessierte, war nicht der Kausalgedanke als solcher, sondern die Frage nach der Berechtigung des kausalen Schlusses, Unter diesem Gesichtspunkt hat er den Kausalbegriff analysiert, und so kam es, dass sich ihm die Kausalität unter der Hand gleich zu einem Ver- hältnis notwendiger Verknüpfung, zum Kausalgesetz gestaltet hatte, eine Fassung, die Kant ohne weiteres acceptiert und seinen Be- trachtungen zu Grunde gelegt hat. Ganz anders verfährt Sigwart. Er bringt keine Nebengedanken an seine Untersuchungen heran, er setzt nichts voraus; er stellt sich auf den natürlichen Boden des ge— meinen Bewusstseins, zergliedert sorgfältig den Kausalgedanken im seiner ursprünglichen Form, um auf diese Weise allererst zu er- mitteln, was wir überhaupt im Begriff der Ursache denken. (Schluss folgt.)

Kant und der Pessimismus.

Voh Dr. Eduard von Hartmann.

Privatdozent Dr. Wentscher hat sich in seinem Aufsatze „War Kant Pessimist?“ (Bd. IV. S. 32—49 und 190—201 dieser „Kant- studien“) gegen meine Abhandlung „Kant als Vater des modernen Pessimismus“ gewandt. Er hat dabei leider die 1. Auflage meiner Schrift „Zur Geschichte und Begründung des Pessimismus‘“ benutzt, nicht die zweite, in welcher ich auf meinen Aufsatz „In welchem Sinne war Kant ein Pessimist?“ (in den Phil. Monatsheften 1883, Heft8, wiederabgedruckt in „Philos. Fragen der Gegenwart“, S.112—120) verwiesen habe. In diesem Aufsatz habe ich die Ergebnisse der Diskussionen zusammengefasst, welche durch die erste Auflage ver- anlasst waren. '

Ich hatte behauptet, dass Kant dem irdischen Leben, am Mass- stabe der Glückseligkeit bemessen, einen negativen Wert zuerkenne, und in diesem Sinne irdischer eudämonologischer Pessimist sei, dass er diesen Pessimismus für die diesseitige Welt durch einen teleologischen und evolutionistischen Optimismus überwinde, in seinen Hauptwerken für das Jenseits durch einen transscendenten eudämono- logischen Optimismus in sein Gegenteil verkehre, im Jahre 1791 aber in einen Zwiespalt zwischen Kopf und Herz gerate, der mit einem non liquet für das Jenseits endigt.') Da ich Kants Begründung seines transscendenten Optimismus für misslungen hielt, so blieb für mich als haltbares axiologisches Ergebnis Kants hauptsächlich die Vereinigung von phänomenalem eudämonologischem Pessimismus und teleologischem evolutionistischem Optimismus übrig, wie ich selbst sie vertrete und noch bei keinem anderen Philosophen ausser bei Kant mit gleicher Betonung beider Seiten vertreten gefunden hatte. Deshalb glaubte ich Kant als den Vater des modernen Pessimismus bezeichnen zu können, weil in ihm zuerst das deutliche Bewusstsein

1) „Zur Gesch. u. Begr. d. Pess.“, 1. Aufl. S. 62—68, 2. Aufl. S. 186 —186; . „Phil. Fragen der Gegenwart“ S. 118—115.

29 Dr. Eduard von Hartmann,

aufgetreten ist, dass der teleologische evolutionistische Optimismus den eudämonologischen Optimismus keineswegs einschliesst, dass vielmehr der falsche Schein dieses Einschlusses nur durch den Eudämonismus entsteht und mit der Zerstörung des Eudämonismus verschwindet.

Durch diese Feststellung wird die Frage gar nicht berührt, welcher Massstab zur Wertbemessung der Welt den Vorrang habe. Man kann den Weltwert nach allen möglichen Massstäben abschätzen, nach dem intellektuellen, ästhetischen, ethischen, religiösen, evolutionistischen, teleologischen oder nach dem thelischen des blinden Wollens; immer wird man ihn positiv finden, bis auf den einen, den eudämonologischen. Man kanı diese Massstäbe als selbständige betrachten, man kann sie auch einander unterordnen.') So neigen Kant, Fichte und viele ihrer Nachfolger dazu, den ethischen Massstab als selbständigen und sogar als höchsten zu betrachten, während ich die formalistische Moral Kants durch eine inhaltliche ersetze und den ethischen Massstab dem teleologischen unterordne. Wer irgend einen andern Massstab als den eudämonologischen für den wichtigsten hält, der wird den positiven Weltwert nach diesem Massstabe für wichtiger halten müssen als den negativen Weltwert nach dem eudämonologischen Massstab, also den eudämonologischen Pessimismus für einen untergeordneten Bestandteil in seiner Weltwertung erklären und den absoluten Pessimismus verneinen. Da dies bei Kant der Fall war, so war er keinenfalls absoluter Pessimist, ebensowenig wie er metaphysischer Pessimist war;?) aber dies hindert nicht, dass er in eudämonologischer Hinsicht Pessimist, und als solcher der Vater des modernen, d. h. eudämonologischen Pessimismus war. Wie ich im Gegensatze zu Kant das Verhältnis des teleologischen und eudämonologischen Massstabes auffasse, beide im Absoluten ver- schmelze und dadurch zu einem absoluten metaphysischen Pessimismus gelange, ist von mir anderwärts ausgeführt worden) und gehört nicht hierher, da es mir nicmals eingefallen ist, für diese meta- physischen Ansichten in Kant einen Vorgänger zu suchen.

Wenn Wentscher mit Kant die Sittlichkeit als Selbstzweck und gegen Kant als Daseinszweck und genügenden Rechtfertigungsgrund der Schöpfung betrachtet, und in dem ethischen Massstab den

1) „Zur Gesch. u. Begründung des Pess.“ 2. Aufl. S. 8—4, 17.

2) Vgl. meine „Phil. Fragen d. Geg.“ S. 118-115, 120.

3) ,Kategorienlehre“ S. 492—495; „Ethische Studien“ S. 186—196; „Phil. Fragen der Gegenwart“ S. 102—112.

Kant und der Pessimismus. 23

absoluten Wertmassstab sieht, aus dem allein der Weltwert schlechthin zu beurteilen ist, so ist das seine Ansicht (S. 35—36), die ich nicht teile. Diese Ansicht mag für ihn wie für Kant ausreichen, um ein Nichtsein der Welt für minder wertvoll als ihr Sein überhaupt zu halten und den absoluten Pessimismus zu verwerfen; aber sie berechtigt ihn nicht dazu, auch den relativen Pessimismus in Bezug auf den eudämonologischen Wert der Welt zu verwerfen, allen andern Leuten den Gebrauch des Wortes Pessimismus in dieser bestimmten, beschränkten Relation zu verbieten, denen, die das Wort doch in dem eingeschränkten, eudämonologischen Sinne brauchen, „grobe Erschleichung‘ vorzuwerfen (S. 43, 35), und sie als „unbewusste Eudämonisten“ zu bezeichnen trotz ihrer theoretischen Bekämpfung des Eudämonismus (S. 44, 43). Es ist unrichtig, dass ich den bei Kant nachgewiesenen „eudämonologischen Pessimismus‘ als „ethischen Pessimismus“ in Anspruch nehme (S. 43), und es ist ebenso un- richtig, dass ich dieses Quidproquo durch eine eudämonistische Ethik vermittle und zu Wege bringe (S. 35). Beide „Erschleichungen“ werden mir von Wentscher irrtümlich angedichtet, und es ist ebenso irrtümlich, dass ich diese Umdeutungen Kant unterstelle und durch sie Kants relativen Pessimismus zu einem absoluten zu stempeln versuche.

»Ethischer Pessimismus“ kann bedeuten 1. „pessimistische Ethik“, d. h. eine Ethik, die auf dem natürlichen Fundameut des eudämono- logischen Pessimismus ruht; 2. „moralischer Entrüstungspessimismus“ oder Unwille über das Zurückbleiben der Wirklichkeit hinter dem ethischen Ideal; 3. „evolutionistischer Pessimismus in betreff der Sittlichkeit“, d. h. Unglaube an sittliches Fortschreiten der Menschheit; 4. „eudämonologischer Pessimismus auf dem Gebiete des sittlichen Lebens“, d. h. negative Bilanz der aus sittlicher Bethätigung ent- springenden Lust- und Unlustgefühle; 5. „Pessimismus in Bezug auf den ethischen Weltwert“ oder Negativität der Wertschätzung der Welt am ethischen Wertmassstab.

Dass Kants Ethik auf dem antieudämonistischen Grunde eines eudämonologischen Pessimismus ruht, glaube ich gezeigt zu haben, ebenso dass Kant zum ethischen Entrüstungspessimismus hinneigt, den ich für Sache des subjektiven Gefühls, aber nicht der objektiven Wissenschaft halte. Evolutionistischer Pessimist in betreff der Sittlichkeit ist weder Kant noch ich, sondern er vertritt ebenso wie ich einen teleologisch-evolutionistischen Optimismus, der auch den Fortschritt des sittlichen Lebens einschliesst. (Unmittelbar ist freilich

24 Dr. Eduard von Hartmann,

nur der Fortschritt der sozialethischen Einrichtungen, mittelbar auch der der individualethischen Bethätigung und noch mittelbarer und von geringerem Grade auch der der individualethischen Anlagen). Eudä- monologischer Pessimist auf dem Gebiete des sittlichen Lebens ist so- wohl Kant als auch ich, obwohl aus etwas verschiedenen Gründen; die Pflichterfüllung thut einerseits den natürlichen Neigungen Abbruch (nach Kant immer, nach meiner Ansicht nur teilweise), und liefert keine Lustgefühle als Ausgleich (nach Kaut darum nicht, weil sie überhaupt keine Gefühle liefert, nach meiner Ansicht darum nicht, weil die Lustgefühle, die sie liefert, im Durchschnitt hinter deu Unlustgefühlen, die sie erregt, zurückbleiben). In Bezug auf die Weltbewertung am ethischen Massstabe endlich ist Kant unbedingter Optimist ebenso wie ich, Kant, weil er in der transscendentalen Freiheit die Möglichkeit zur Erfüllung des sittlichen Selbstzwecks sieht, ich, weil ich in der sittlichen Weltordnung einen Ausschnitt der teleologischen sehe und teleologischer Optimist bin. Von diesen fünf möglichen Bedeutungen des Ausdrucks „ethischer Pessimismus*‘‘ kommt aber für Wentschers Zweck nur die letzte in Betracht, obwohl er irrtümlich „ethischen Pessimismus“ und „pessimistische Moral: hierbei als Wechselbegriffe braucht (S. 43).

Wentscher versteht unter Eudämonismus eine Weltanschauung, welche „die Lust oder Glückseligkeit der Geschöpfe zum höchsten und letzten Zweck der Schöpfung erhebt,“ unter „eudämonistischem Pessimismus* das Urieil, dass die Welt diesem Zwecke nicht an- gemessen sei; er führt ferner an, dass ich unter „eudämonologischem Pessimismus“ ausschliesslich die Negativität der Lustbilanz in der Welt verstehe (S. 35). Er hätte hinzufügen können, dass ich bei meiner scharfen Unterscheidung zwischen eudämonologisch und eudämonistisch zwar den eudämonologischen Pessimismus vertrete, aber nicht den eudämonistischen.!) Während er das Uberwiegen der Unlust als wahrscheinlichstes Ergebnis der Erfahrung zugiebt, also die thatsächliche Richtigkeit des eudämonologischen Pessimismus nicht bestreiten will (S. 35). bemängelt er nur die Anwendung des Ausdrucks .Pessimismus“ auf dieses negative eudämonologische Werturteil aus den bereits angeführten Gründen als schief (S. 43). Auch das giebt er zu, dass Kant den Wert der Welt nicht in dem suchte, worauf es der Eudämonismus anlegte, sondern in den sitt- lichen Leistungen, meint aber, dass mit diesem Selbstverstindlichen

ı „Das sittüche Bewusstsein,“ 2. Aufl. S. 9.

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im Grunde nichts gesagt sei (S. 43). Doch vielleicht etwas, wenn man beides verbindet, wenn Kant seine Aufforderung, den Wert nicht in eudämonistischen, sondern in ethischen Bestrebungen zu suchen, dadurch unterstützen zu können geglaubt hat, dass er die Negativität der Lustbilanz und durch sie die Verkehrtheit und Thorheit der eudämonistischen Bestrebungen auch ganz abgesehen von ihrer idealen Wertlosigkeit nachwies. Wenn dieser Nachweis bei Kant vorhanden ist, aber bis zum Jahre 1880 unbeachtet geblieben war, so war es doch wohl nicht ganz überflüssig, dass ich auf diese Seite des Kantschen Gedankenzusammenhanges aufmerksam machte.

Nun bemüht sich aber Wentscher auch zu beweisen, dass Kant den eudämonologischen Pessimismus im Sinne einer negativen Lust- bilanz gar nicht im allgemeinen angenommen habe, sondern nur insoweit, als unser Sinnen und Trachten auf Glückseligkeit angelegt sei (S. 37), oder als unser Verhalten der Naturordnung folge und pathologisch sei (S. 39). Wentscher tritt damit auf die Seite derer, die den gemeinen Eudämonismus auf dem Gebiete des natürlichen Lebens willig preisgeben, um einen verfeinerten, edleren höheren Eudämonismus auf dem Gebiete des sittlichen Lebens aufrecht zu erhalten, und sucht sich hierfür auf Kant als Gewährsmann zu be- ziehen, während nach meiner Auffassung Kant auch diesem ver- feinerten Eudämonismus, als einer noch gefährlicheren Abart des gemeinen, den Todesstoss hatte geben wollen.

Es wird dabei wenig Gewicht auf das formelle Bedenken zu legen sein, dass Kant die Vergleichbarkeit aller Gefühle nur soweit ausdrücklich anerkennt, als sie sich als Bestimmungsgründe des Wollens geltend machen. Denn dieses Zugeständnis in Verbindung mit der Artgleichheit und blossen Grad- und Vorzeichenverschiedenheit aller (S. 38) dürfte für die Vergleichbarkeit aller ausreichen. Die ganze sachliche Einwendung Wentschers reduziert sich auf das Übergewicht der positiven sittlichen Selbstzufriedenheit über das negative Saldo der natürlichen Gefühlsbilanz (S. 40). Nun wird aber der höhere Wert der sittlichen Selbstzufriedenheit nach intellektuellem, ästhetischem, ethischem, religiösem, evolutionistischem und teleologischem Massstab von mir gar nicht bestritten, dieser höhere Wert kommt jedoch für die eudämonologische Bilanz als solche gar nicht in Betracht, sondern nur dasjenige, was die Sittlich- keit an Lust- und Unlustgefühlen liefert. Dass Kant an verschiedenen Stellen die sittliche Selbstzufriedenheit als ein positives Gefühl nicht empirischen Ursprungs oder als Genuss oder Glückseligkeit bezeichnet, .

26 Dr. Eduard von Hartmann,

ist ja richtig; aber er thut dies in einer gewissen Konnivenz gegen das populäre Bewusstsein, um sich seinen Lesern verständlicher zu machen, im Widerspruch mit seinen ausdrücklichen Er- klärungen und im Widerspruch mit dem Geist und Kerngehalt seiner ganzen Lehre.

Wentscher sucht diese Erweiterung des Begriffes Glückseligkeit nachträglich dadurch im Sinne Kants zu rechtfertigen, dass er an Kants Definition desselben als eines Zustandes nach Wunsch und Willen erinnert (S. 47 —48). Aber hierbei entsteht folgende Alter- native: entweder besagt diese Definition bloss, dass das eigne Ver- halten und Zustand dem eignen sittlichen Willen gemäss sei; oder sie besagt, dass eine so zustande gekommene Willensbefriedigung- als Lustgefühl in die Gefühlsbilanz einzustellen sei. Im ersteren " Falle fällt die sittliche Willensgemässheit mit der sittlichen Wert- schätzung zusammen, ohne ein Gefühl zu bezeichnen; im letzteren Falle verstösst sie gegen den Geist der Kantschen Philosophie und ihre ausdrücklichen Erklärangen. Die sittliche Selbstzufriedenheit ist im Kantschen Geiste eine intellektuelle und thelische Wert- schiitzung, die mit Lustgefühl und Glückseligkeit (mit dem Asthetischen lm Sinne Kants) nichts zu thun bat. sondern turmhoch über dieselben erbaben ist, eben wegen ihrer Ungleichartigkeit aber auch nicht in eine und dieselbe Bilanz mit jenen eingestellt werden kann und nicht hinterdrein auch noch mit dem eudämonologischen Wertmass- stabe gemessen werden darf. Deshalb bleibt auch der eudämono- logische Pessimismus bei Kant von ihr unberührt, weil diese ethische Wertschätzung das Saldo der eudämonvlogischen Bilanz nicht alteriert.

Die sittliche Selbstzufriedenheit Kants steht als thätiger Zu- stand der reinen Vernunft von nichtempirischem Ursprung über allen Gefüblen. die nur leidende Zustände der Sinnlichkeit von empirischem Ursprung nach der Ordnung der Natur sind und darum pathologische tleigentliche) Zustände heissen, wobei nicht etwa an etwas Krank- haftes und Anormales im heutigen Sinne des Wortes zu denken ist Dass die natürlichen Gefühle der Befolgung des Gesetzes vorher- gehen ıS. 39. 461 kann nicht wohl als Definition der leidentlichen Gefühle angesehen werden. da einerseits ott genug Gefühle auf- tauchen. wo es zu keiner Willensentschliessung kommt, und andererseits alle Handlunzen in nachfolgenden natürlichen (refühlen ausklingen. Die nicht pathologischen Gefühle aber. vor denen das Gesetz her- gehen muss. damit sie empfunden werden (S. 391. sind eben jene uneigentlichen Gefühle sittlicher Ordnung, die mit diesem Namen von

Kant und der Pessimismus. 27

Kant gar nicht belegt werden sollten. Da Kant den natürlichen Gefühlen, die dem sittlichen Verhalten nachfolgen, gar keine Beachtung schenkt, so darf man wohl annehmen, dass sie in seinen Augen auch dann, wenn er sie beachtet hätte, nicht hinreichendes Gewicht gehabt hätten, um die negative eudämonologische Bilanz in eine positive zu verwandeln.

In Bezug auf den transscendenten Optimismus Kants kann ich

mich kürzer fassen, da derselbe offenbar seinem Herzen und nicht seinem Kopfe entsprungen ist. Dem ganzen Standpunkte der kritischen Philosophie kann es nur gemäss sein, sich in Bezug auf das Jenseits zu bescheiden und jedes Urteils zu enthalten. Sittliche Postulate dürfen niemals dazu dienen, um eudämonologische Wert- urteile über Unerkennbares zu erschleichen, sondern nur darauf ab- zielen, die sittlichen Werturteile von allem eudämonologischen Bei- geschmack zu reinigen und dadurch vor jedem unvermerkten Rückfall in eudämonistische Versuchungen zu bewahren. Auf meinen Nach- weis, dass Kant diese Konsequenz seiner Philosophie später ein- g@esehen und anerkannt hat, ist Wentscher nicht eingegangen. Es ist mir weder entgangen, dass Kants höchstes Gut Glückwürdigkeit and Glückseligkeit in sich vereinigt (S. 190), noch dass Kant das Postulat der Unsterblichkeit unmittelbar nur auf die Unerreichbar- keit vollkommener Glückwürdigkeit im Diesseits stützt (S. 193). Gerade die Vereinigung beider Seiten im höchsten Gut und die mittelbare Erlangung der vollkommenen Glückseligkeit durch die vollkommene Glückwürdigkeit rechtfertigt meinen Vorwurf, dass Kant in seinen Hauptwerken den fürs Diesseits verworfenen WEudämonismus fürs Jenseits mittelbar wieder einzuführen versuche. Dass der Begriff der Glückseligkeit im Jenseits unvermerkt aus seinem erweiterten uneigentlichen Sinn der sittlichen Selbstzufrieden- heit in seinen eigentlichen Sinn als ständiges höchstes Lustgefühl zurtickgleitet, wird kaum zu bestreiten sein; denn eine Ewigkeit ohne andere Gefühle als das wandellose der moralischen Selbst- zufriedenheit ist doch eine gar zu langweilige Aussicht.

Ich muss daran festhalten, dass nach den Kantschen Voraus- setzungen die fortgesetzte Annäherung an Glückwürdigkeit und dadurch auch an Glückseligkeit unmöglich ist. Die Vorlesungen, die er bis in die 90er Jahre gehalten hat, und eine Anmerkung in der ,Religion’ innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft‘‘ (ed. Ros. X, 154—155), zeigen deutlich, dass er an der Unräumlichkeit -und | Unkörperlichkeit der Seelen im Jenseits festhielt, und dass er ihnen

28 Dr. Eduard von Hartmann,

mit dem äusseren Sinn auch die Fähigkeit absprach, einander zu affizieren.') Nun fällt aber mit der Räumlichkeit die Möglichkeit der Individuation und mit der Wirkungsfähigkeit auf andre die Möglichkeit sittlicher Bethätigung hinweg. Es bedarf also, um die Unmöglichkeit sittlichen Fortschreitens im Jenseits zu er- weisen, nicht erst des Wegfalls der Zeitlichkeit, in betreff deren Kant allerdings sich schwankend äussert.

Einerseits sollen nämlich die leibfreien Seelen den „inneren Sinn“ behalten, dessen Form die Zeitlichkeit ist, andrerseits soll der Zustand nach dem Tode gleich dem vor der Geburt zu denken sein, nämlich als geistiger Schlammer ohne Bewusstsein der Welt, oder doch die Welt nicht mehr so anschauen, wie sie erscheint, sondern so wie sie ist. Auch weiss Kant die Antinomie zwischen der Schrecklichkeit veränderungslosen Fortbestandes und der Un- zufriedenheit über das noch unerreichte Ziel bei stetiger Veränderung nicht zu lösen (Werke ed. Ros. X, 420—422). Dies deutet genugsam darauf hin, dass es eine Inkonsequenz von Kant war, den leiblosen Seelen doch noch einen inneren Sinn mit der Erscheinungsform der Zeitlichkeit zuzuschreiben; er gelangte zu dieser Inkonsequenz nur durch die formelle Gegenüberstellung, dass die Tiere bloss äusseren Sinn, die verstorbenen Menschen bloss inneren Sinn haben sollten, eine Gegentiberstellung, deren beide Glieder gleich unhaltbar sind. Kant wäre also besser bei seiner Ansicht v. J. 1766 stehen ge- blieben, wonach das Jenseits auch die Entfernung der Zeitalter auf- bebt. Kant meint, wenn er später, und sei es nach Jahrtausenden, doch sterben solle, so wolle er lieber bald sterben, als noch länger die Komödie mit ansehen („Vorlesungen über die Metaphysik“ ed. Pölitz S. 243). Angesichts der ungelösten Antinomie zwischen Un- zufriedenheit und Stillstand hätte er wohl allen Grund, eine unend- liche Fortdauer noch mehr zu scheuen als eine solche von einigen Jahrtausenden und statt dessen das Jenseits als zeitlose Ewigkeit zu verstehen.

Wentscher glaubt, dass der ethische Idealismus Kants mit der Annahme oder Verwerfung der Freiheit stehe und falle (S. 201); ich bin dagegen der Ansicht, dass Kants Freiheitslehre, nicht nur in seiner eigenen Fassung, sondern auch in jeder möglichen Modi- fikation unhaltbar ist,?) dass aber sein ethischer Idealismus ganz

1) Vgl. meine Schrift „Kants Erkenntnistheorie und Methaphysik in den vier Perioden ihrer Entwickelung“ S. 51—67. 3) „Das sittliche Bewusstsein,“ 2. Aufl. S. 868—891.

Kant und der Pessimismus. 29

unabhängig von seiner Freiheitslehre ist. Ich bin mit Wentscher darin einverstanden, dals der ethische Idealismus wahr ist, und eine höhere Art der Wertschätzung darstellt als der eudämonologische Pessimismus; ich kann ihm aber weder zugeben, dass der ethische Optimismus die Weltwertschätzung nach dem höchstmöglichen Wert- massstab repräsentiere, noch auch, dass die Wahrheit des eudämono- logischen Pessimismus durch ihn irgendwie berührt werde. Ich glaube vielmehr Kants Sinn richtig zu erfassen, wenn ich den eudämonologischen Pessimismus ein Postulat des sittlichen Bewusstseins nenne, weil er für dieses unentbehrliche Voraus- setzung einer eudämonistisch ungetrübten Reinheit des

ethischen Idealismus ist.

Ein Wortführer der Neuscholastik und seine Kantkritik.

Von Fritz Medicus in Halle a. S.

Thomas von Aquino hat die Erkenntnislehre im Anschluss an Aristoteles in einer für immer bleibenden Weise begründet. Der Thomismus ist die philosophia perennis. Aber der Gesichtspunkt, von dem aus Thomas philosophiert hat, ist der eines Dogmatikers. Ein solcher ist nun durchaus berechtigt bei Thomas, der als gläubiger Philosoph zu Gläubigen spricht. Allein, wenn dieser Gesichtspunkt bis heute innerhalb der Scholastik der herrschende geblieben ist, so muss der Nebenerfolg mit in Kauf genommen werden, dass die nicht- katholische zeitgenössische Philosophie am Thomismus vorübergeht, dessen dogmatische Prämissen sie nicht teilt, die sie vielmehr, eben weil sie dogmatisch sind, verwirft.‘

Das ist die Grundanschauung, die Mercier,') der Herausgeber der Revue Néo-Scolastique“, vom Thomismus und seiner Stellung in der Philosophie der Gegenwart hat. Aus ihr ist das vorliegende Buch entsprungen, das ich nicht anstehe als eine bedeutende Leistung an- zuerkennen. Mit grosser Sachlichkeit entwickelt es die Prinzipien der katholischen Philosophie im Gegensatz zu den modernen Theorien, insbesondere zur Lehre Kants. Eine Auseinandersetzung mit dem Kantianismus ist Merciers eigentliches Thema; fast Alles, was sonst noch in dem Buche zur Sprache kommt, steht zu ihm in irgend einer näheren Beziehung.

Demjenigen, der sich vom Standpunkt der kritischen Philosophie aus mit dem Werke beschäftigt, stellt es eine doppelte Aufgabe. Er wird einerseits Stellung zu nehmen haben zu Merciers Kantkritik,

1) D. Mercier, Critériologie générale ou théorie générale de la certitude (Cours de philosophie, Volume IV). Louvain, Institut supérieur de philosophie; Paris, F. Alcan. 18399. (871 pp.)

Ein Wortführer der Neuscholastik und seine Kantkritik. 31

andererseits zu den positiven Anschauungen, die der Philosoph von Louvain den Kantischen Theorien entgegensetzt.

Es giebt in der katholischen Polemik gegen Kant ein Erbübel, das bis jetzt noch nicht hat ausgerottet werden können, dessen Aus- tilgung auch schwerlich eher zu erwarten ist, als bis es bei denen, die sich zu den Freunden der Kantischen Philosophie zählen, gänzlich verschwunden ist: es ist die Meinung, der Kantianismus sei psycho- logisch, subjektivistisch zu verstehen. In den Kreisen der Kantianer wird diese Auffassung freilich erst dann schwinden, wenn man von der (als Vorarbeit ganz gewiss notwendigen) philologischen Durch- forschung Kants zurückgekehrt sein wird zur Behandlung der syste- matischen Aufgabe, die Kant den später Geborenen hinterlassen hat: der Aufgabe nämlich, das System der Erkenntniskritik völlig zu reinigen von den ihm bei Kant noch anhaftenden Resten des alten psychologischen Apriorismus. Wer in dieser Weise zum syste- matischen Problem steht, wird sich naturgemäss zur historischen Frage so stellen, dass er in Kant den grossen Begründer einer methodisch selbständigen Erkenntnistheorie erkennt, wenn er sich auch nicht verhehlen wird, dass die Durchführung dieses Prinzips Kant nicht überall gelungen ist. Aber er wird nicht in Versuchung sein, die Tendenz der Kantischen Erkenntnislehre als psychologisch oder subjektivistisch zu bezeichnen.

Man kann es angesichts der grossen Zerfahrenheit im eigenen Lager den Gegnern Kants nicht besonders verübeln, dass sie ihre Angriffe immer wieder gegen Kants „Subjektivismus“ richten. Immerhin aber wäre es wünschenswert, wenn sie gerade diese Aufgabe, Kants Subjektivismus, wo er sich irgend im Kantischen Lehrgebäude zeigt, zu bekämpfen (d. h. die betreffenden Theorien auf die dem Geist der Kantischen Lehre gemässe objektive Basis zu stellen), den Kantianern überlassen wollten, und wenn sie ihrerseits mit ihren Angriffen, soweit sie diese als gegen Kant gerichtet bezeichnen, gegen jene Lehre ankämpfen wollten, die nach denjenigen Formen des Vorstellens und Denkens fragt, die zum Begriffe der Erfahrung im Verhältnis von Bedingung zum Bedingten stehen, und die eben die genannte Fragestellung für diejenige hält, die allein zur Auf- lösung des erkenntniskritischen Grundproblems geeignet ist, das sie dahin formuliert: Wie ist die Beziehung unserer Vorstellungen auf Gegenstände möglich?

32 Fritz Medicus,

Da auch Mercier keine Auseinandersetzung mit dieser eigent- lichen kritischen Frage bringt, hat er seine Absicht, zum mindesten den Vertretern der objektiven Methode gegenüber, nicht erreicht. Gleichwohl bedeutet sein Buch einen wertvollen Beitrag zur Kant- literatur. So ferne es gegen den psychologischen Apriorismus an- kämpft, kämpft es an unserer Seite, und so ferne es es diesem eine objektire Theorie gegenüberstellen will, sind wir mit ihm einver- standen. Darüber freilich, welcher Art diese objektive Theorie sein muss, gehen die beiderseitigen Ansichten weit auseinander.

Die Aufgabe, die sich Mercier gestellt hat, ist die Untersuchung und Rechifertigung des Bewusstseins der Gewissheit, des Bewusstseins, wahre Urteile mit dem Bewusstsein ihrer Wahrheit fällen zu können. In dieser Aufgabe liegen zwei Probleme, die gesondert behandelt werden: das erste Problem betrifft die objektive Giltigkeit des Urteils, das zweite die objektive Giltigkeit unserer Begriffe!) Die Auflösung dieser beiden Probleme bildet den Inhalt von Buch III and IV, während das erste Buch die Probleme formuliert, und das zweite die Bedeutung des methodischen Zweifels diskutiert.

Gleich das erste Buch, das die kriteriologischen Fragen entwickelt und zu diesem Ende den Begriff der Wahrheit untersucht, giebt Mercier Gelegenheit, auf Kant einzugehen.

Mercier unterscheidet ontologische Wahrheit, die durch den Intellekt vorgestellte Beziehung zwischen den Objekten, und logische Wahrheit, die Übereinstimmung des Urteils mit diesen objektiven Beziehungen. Wenn wir also sagen: wir wollen die Wahrheit er- kennen, so meinen wir damit die ontologische Wahrheit. Wenn wir sie erkannt haben, so kommt unseren Urteilen logische Wahrheit zu. Die logische Wahrheit, die Wahrheit des Urteils ist die Über-

1) Diese Unterscheidung ist, beiläufig bemerkt, durchaus nicht im Sinne der meisten Scholastiker der Gegenwart: Denn der Ausgangspunkt ist bei Mercier der immanente Wahrheitsbegriff. Mercier hat denn auch sofort nach Erscheinen seines Buches von thomistischer Seite eine ganze Reihe von Angriffen erfahren. Er hat dieselben pariert durch die im Eingang dieser Besprechung schon er- wähnte Unterscheidung zwischen seinem mit Rücksicht auf die Gegner des Tho- mismus eingenommenen Ausgangspunkt und der innerhalb des Thomismus üblichen metaphysischen Methode. Der immanente Wahrheitsbegriff ist sonach nur ein vorläufiger, lediglich aus didaktischen Gründen gewählter; die letzte Absicht bleibt auch für Mercier der Nachweis der Übereinstimmung des Denkens mit der „Wirklichkeit“ (,,La notion de la vérité“, Revue Néo-Soo- lastique VI, 4, p. 871—408).

Ein Wortfihrer der Neuscholastik und seine Kantkritik. 38

einstimmung mit der ontologischen Wahrheit, Übereinstimmung mit der vorgestellten Wirklichkeit. Hierbei hat der Terminus „ontologische Wahrheit“ rein immanente Bedeutung: „La vérité est un rapport... Un rapport comme tel n’existe formellement que dans l'intelligence ... La vérité ontologique est un rapport entre deux présentations ob- jectives d'une même chose, ou mieux, entre la présentation objective d’une chose et sa représentation totale ou partielle; . . . elle réside dans le rapport objectif entre les objets de ces deux actes d’appré- hension“ (221. ,Objectif“ heisst hier nichts anderes als „gegen- ständlich“. Es ist ausdrücklich das Attribut von Bewusstseinsinhalten. Ontologische Wahrheit ist dasselbe, was in der kritischen Philosophie „Wirklichkeit“ genannt wird: die nach den Regeln der objektiven Vorstellungsverknüpfung vorgestellte Realität.

Nun aber enthalten unsere Urteile zum grössten Teil (nämlich mit Ausnahme derer, deren Wahrheit unabhängig davon ist, ob es Gegenstände giebt, die ihnen entsprechen, wie dies z. B. bei den mathematischen Urteilen der Fall ist) ein doppeltes: einmal eine Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat und ausserdem die Be- hauptung der Realität des Subjektes mit seinem Prädikat. „De un double problème critériologique. Le premier a pour objet de s’assurer que l’affirmation de la relation formulée entre les deux termes du jugement, le predicat et le sujet, est l’expression du contenu du sujet; il porte sur la conformite de la representation avec le sujet représenté. Le second a pour objet de s’assurer que les deux termes, supposes totalement ou partiellement identiques, ne sont pas de pures fictions mais des réalités“ (39/40). Das erste Problem Mercier nennt es das wichtigere (50) führt zur Frage: „Y a-t-il des synthèses de concepts qui sont motivées = begrtindet]?“ (50), das zweite Problem zu der mit Rücksicht auf Kant wie folgt formulierten Frage: „Connaissons-nous quelque chose des noumènes et, dans l’affirmative, que pouvons-nous en savoir?“ (55.)

Das ist der Hauptinhalt des ersten Buches, so weit er positiver Natur ist. Etwas Wesentliches wüssten wir nicht daran auszusetzen. Die beiden Fragen werden in durchaus klarer Weise entwickelt, und ihre Aufstellung ist völlig berechtigt. Im Grunde sind es die drei kritischen Fragen Kants in die scholastische Terminologie übersetzt. Die erste Frage hat viel Ähnlichkeit mit dem Sinne der beiden Fragen nach der Möglichkeit von reiner Mathematik und reiner Naturwissenschaft und die zweite Frage mit der nach der Möglichkeit der Metaphysik. Man möchte vermuten, dass sich erst bei der Auf-

Kantstudien V. 8

34 Fritz Medicus,

lösung der zweiten Frage, also erst im vierten Buche der „Crite- riologie“ ernstliche Differenzen zwischen der Theorie Merciers und der Kants geltend machen werden. Um so verwunderlicher ist es daher, dass sich Mercier schon in diesem ersten Buche gegen Kants falsche Problemstellung, gegen seine „position vicieuse du problème“ wendet. Kant habe nämlich, so erklärt Mercier (ich ziehe zu dieser Stelle pp. 45--57 die Erörterungen aus dem vierten Buche pp. 353—355 binzu, in denen der Verfasser auf sie zurückkommt), den grossen Fehler begangen, auf der einen Seite die reine Vernunft, auf der anderen die Dinge an sich anzunehmen, die doch an sich mit der Erkenntnis gar nichts zu thun haben; und nun habe er die Frage aufgeworfen: Wie kann es in der reinen Vernunft zur Vor- stellung eines solchen Dinges an sich kommen? Und die Antwort, die Kant auf diese Frage gegeben habe, sei folgende: Die reine Vernunft ist von vorne herein versehen mit bestimmten Gesetzen ihrer Thätigkeit. Diesen Gesetzen gehorcht sie mit blinder Not- wendigkeit (das Wort aveugle findet sich sehr oft in diesem Sinne). So kommt unsere Erfahrung zustande. Diese Erfabrung kann nun aber keine Erkenntnis der Wahrheit sein. Sie ist ja nur das Pro- dukt „d’une synthèse toute subjective, antérieure à l'expérience, fatale et aveugle, qu'il [Kant] appelle un jugement synthétique à priori, et il conclut qu’une raison qui est ainsi faite doit borner ses prétentions à la connaissance de ses modes de penser et renoncer à atteindre la nature des choses. Si, en effet, mes jugements et mes raisonnements ne sont pas des perceptions de rapports qui me sont manifestés, que je constate et que j'accepte en les formulant, si ce sont des fonctions psychologiques [!| dont moi seul je suis à la fois le principe et le témoin, n'est-il pas raisonnable de vivre dans une réserve intellectuelle absolue sur la valeur de la science?“ (53.) So will die Philosophie Kants nicht zu einer Erkenntnis der Wahrheit führen, sondern zum Subjektivismus, zum Skepticismus und zwar der Ausdruck ist so schön, dass man fast bedauern möchte, dass er nicht stimmt zu einem ,.scepticisme tranquille, sûr de lui- même“ (53).

Diese Darstellung ist nun in allen ihren Teilen unkantisch. Zunächst ist Kants Ausgangspunkt nicht einerseits die absolute Welt der Dinge an sich, andererseits „une raison pure, dont la loi d’action serait connaissable par une analyse de la raison elle-même, antérieurement aux actions dont elle doit être le principe ou le siège“ (354). Kants Ausgangspunkt, seine einzige Voraussetzung ist

Ein Wortführer der Neuscholastik und seine Kantkritik. 35

vielmehr die Erfahrung selbst, der Begriff der Erfahrung. Und weiter: Kant fragt nicht: Wie kommt es in der reinen Vernunft zu der Vorstellung eines Dinges an sich? sondern er fragt: Wie ist Er- fahrung möglich? Er giebt darum auch nicht die illusionistische Antwort: Zu einer Vorstellung der Dinge an sich kommt es über- haupt nicht, unsere Vernunft giebt uns keine Erkenntnis der objek- tiven Wahrheit, sondern sie zeigt uns immer nur unsere eigene sub- jektive Wirkungsweise, sie lügt uns fortgesetzt ihre synthetischen Urteile a priori vor, die mit der objektiven Wirklichkeit, der onto- logischen Wahrheit, gar nichts zu schaffen haben. Im Gegenteil ist bei Kant die Überzeugung von der Möglichkeit der Erkenntnis der Wahrheit schon vorausgesetzt in dem Glauben an die Erfahrung, einem Glauben, der nachträglich bestätigt wird, indem als Bedingungen des vorausgesetzten Idealbegriffs der Erfahrung die thatsächlichen Verknüpfungsweisen unserer Vorstellungen aufgezeigt werden. So ist Kants Glaube an die Macht der Vernunft der Glaube des Kritikers. An die Erfahrung nicht glauben, hiesse die Vernunft aufgeben. Die Erfahrung ist also wahr. Und die synthetischen Urteile a priori, nach denen wir beurteilen, ob eine Aussage, die mit dem Anspruch auftritt, Erfahrung zu bieten, auch wirklich Erfahrung ist -- diese synthetischen Urteile a priori missen wahr sein: weil sie die Be- dingungen der Erfahrung sind, ist ihre Wahrheit so gewiss wie die Wahrheit der Erfahrung selbst. Von einer „synthese fatale et aveugle‘ ist aber hier gar keine Rede. Notwendig freilich sind die Formen der Synthese; aber sie sind es im selben Sinne, wie die Conclusio notwendig ist, wenn die Prämissen gegeben sind. Die Notwendigkeit ist nicht im Subjekt begründet, es handelt sich nicht um eine „synthese toute subjective“, sondern ihr Grund ist ein ob- jektiver: er liegt im objektiven Begriff der Erfahrung. Es ist eine Notwendigkeit zum Zwecke der Erfahrung, um die es sich handelt, alsu in so ferne eine teleologische Notwendigkeit im Gegensatz zu der bloss psychomechanischen, rein subjektiven Notwendigkeit, von der Mercier allein weiss. Der Begriff der Erfahrung ist der Zweck der synthetischen Urteile a priori, und diese werden darum von Kant als giltig anerkannt, weil ihre notwendige Beziehung auf diesen Zweck eingesehen werden kann.

Zudem kommt gerade den wichtigsten synthetischen Formen, nämlich den Grundsätzen der Relation (sowie denen der Modalität) überhaupt keine psychomechanische Notwendigkeit zu, sondern nur teleologische (normative). Sie sind nur für den notwendig, der Er-

3*

36 Fritz Medicus,

fahrung, Erkenntnis, Wahrheit will. Der Säugling und der Idiot, die nicht nach Erfahrung streben. verbinden ihre Wahrnehmungen nicht nach diesen Normen. Und wir selbst gehen an tausend Ereignissen vorüber, die darum für uns keine Erfahrungsobjekte werden, weil wir uns nicht die Mühe nehmen, sie nach den „regulativen Grund- sätzen des reinen Verstandes“ zu appercipieren. Das Gebiet dieser synthetischen Formen ist das Gebiet möglichen Irrtums, das Gebiet der Freiheit. Gebrauch von ihnen machen, heisst Wahrnehmungs- inhalte zu Erfahrung machen, heisst Wahrnehmungsinhalte verstehen. Man kann aber Wahrnehmungsinhalte auch unverstanden bleiben lassen, indem man ihnen überhaupt keine Beachtung schenkt, und man kann sie auch missverstehen, indem man sie zwar zu verstehen sucht, es aber nicht vermag, die betreffenden synthetischen Formen in normativer Weise anzuwenden. Solches psychologisch bedingte Miss- verstehen: das verdient recht eigentlich den Namen einer synthese toute subjective, fatale et aveugle. Hier ist jedes dieser Worte an der richtigen Stelle. Aber wir wissen, dass die kritische Erkenntnis- lehre hiernach nicht fragt: ihr Thema sind nicht die psychologischen Synthesen, die nach den psychischen Kausalgesetzen vollzogen werden, sondern ihre Aufgabe ist die Besinnung auf die Erkenntniswerte liefernden Synthesen, die vollzogen werden sollen.

Das zweite Buch untersucht die Bedeutung des methodischen Zweifels. Es beschäftigt sich vorwiegend mit Descartes. Allein wenn es auch kein unmittelbarer Beitrag zur Kantkritik ist, so ist es darum doch für die Kantkritik von nicht geringer Wichtigkeit. Descartes beginnt seine bekannten Untersuchungen mit dem Zweifel an Allem und entdeckt als das Resultat eben dieses Zweifels eine unanzweifelbar gewisse Wahrheit: die Selbstgewissheit des Ich. Mercier greift nun die logische Berechtigung der Descartischen Argumentation an. „Nous voulons nous demander si, après avoir proféré un doute positif général, appliqué à chacun des groupes possibles des con- naissances humaines et fondé sur l'insuffisance des principes mêmes par lesquels nous arrivons à connaître, il y a encore moyen de

sauver une certitude quelconque. A notre avis la réponse négative s'impose. De la position du doute, quoi que l'on fasse, on ne fera jamais sortir que le doute“ (84). Descartes erkauft nach Mercier seine positive Folgerung durch Unlogik. Wäre Descartes konsequent gewesen, so hätte er folgern müssen: Wie kann ich wissen, ob

Ein Wortführer der Neuscholastik und seine Kantkritik. 37

nicht auch die notwendige Beziehung, die ich zwischen meinem Bewusstsein und meiner Existenz zu finden glaube, eine Illusion ist? Allein Mercier tibersieht, dass eine derartige Folgerung unlogisch wäre‘) Denn sie bestreitet das, was sie voraussetzt, nämlich das Ich. Gerade das ist ja der bleibend wertvolle Inhalt der Descarti- schen Aufstellungen, dass sie die Nicht-Wegdenkbarkeit des Ich ans Licht gezogen haben. Was kann es darum für einen Sinn haben, zu fragen: „Ne pourrais-je pas mettre en doute la réalité objective de ma pensée?“ (85.) Die Frage beantwortet sich selbst. Wenn auch alle meine Gedanken falsch sein sollten, so bin Ich doch, der ich sie denke. Mercier führt gegen Descartes aus, dass ein Zweifel an Allem überhaupt unmöglich sei: aber man widerlegt jemanden nicht, indem man behauptet, was dieser bewiesen hat. Und Descartes hat bewiesen, dass der universelle Zweifel nicht durchführbar ist. Mercier hilft sich nun freilich mit der Unterscheidung des positiven und begativen Zweifels. Ersterer sei der Zweifel Descartes’, ein wirklicher Zweifel; letzterer, der von Mercier als berechtigt und notwendig an- erkannte Zweifel, sei blosse Urteilsenthaltung, so lange noch keine entscheidenden Gründe vorliegen, er sei eine „ignorance voulue“ (111). Allein das Bemühen, die Verwandtschaft mit der Descartischen Theorie abzuleugnen, ist ganz vergeblich. Denn es ist schlechter- dngs kein Einwand gegen Descartes, im Anschluss an Aristoteles und Thomas zu erklären: „il est naturel et legitime de tenter un doute uiversel“ (114). „Mais l’eftort pour douter de tout est condamné à tn échec final ... Il y a des propositions dont les termes sont kls que leur mise en présence révéle nécessairement leur convenance ou leur répugnance avec une netteté qui ne laisse place à aucun dute“ (116). Gerade das hat Descartes vorzüglich entwickelt. Was ist nun aber die Tragweite der Descartischen Theorie? Mercier nimmt sie wie eine Einheit, stellt die existence substantielle noi und die nécessité de la connexion entre la pensée et le moi Peresant neben einander, als wären das Wechselbegriffe oder doch Be- griffe, zwischen denen eine nécessité de la connexion bestände (85). In so ferne als Descartes selbst die Sache so aufgefasst hat, ist ja Mercier dazu berechtigt. Vom Boden der kritischen Philosophie aus

macht sich jedoch hier eine scharfe Unterscheidung nötig. EEE

1) Wenn Mercier Descartes vorwirft, er habe sich dagegen erklärt, Evi- dentes als wahr anzuerkennen (85), so stimmt das einfach nicht: Descartes sucht Serade nach etwas Evidentem, und er verwirft die blinde Anerkennung der Vorstellungswelt nur darum, weil er in ihr nichts Evidentes entdeckt.

38 Fritz Medicus,

Der legitime Inhalt des Descartischen Beweises ist der: All unsern Bewusstseinsäusserungen liegt das Ich bereits zu Grunde. In- dem sich das Bewusstsein bethätigt, beweist es seine Existenz. Man vergleiche Kants oft eitiertes Wort: „Das: Ich denke, muss alle meine Vorstellungen begleiten können“ (Kr. d. r. V. B 131). Und der illegitime Inhalt des Beweises ist der: Das Ich, welches ich in meinem Denken finde, die substantia cogitans, ist das aller- bekannteste, das klarste und deutlichste Datum des Bewusstseins und das Musterbeispiel für alle weiteren Erkenntnisse. „Es ist merk- würdig,“ sagt Windelband mit Recht in seiner „Geschichte der neueren Philosophie“ (2. Aufl., I, 179), „dass dieser grosse Philosoph niemals die Decke von den Abgründen der Täuschung gezogen zu haben scheint, welche in dem, was wir unsere Vorstellung von uns selbst nennen, enthalten sind: er geht vielmehr immer von der Annahme aus, als könne es gar nichts Einfacheres und Durch- sichtigeres geben als diese komplicierteste und verdichtetste unserer Vorstellungen, und er will von diesem dunklen Hintergrunde unseres Seelenlebens das Licht auf alles Wissen fallen lassen.“ An diesem Punkte setzt denn auch die Kritik ein, die Kant an Descartes übt. Descartes verwechselt die reine Form des Denkens, das „transscendentale Ich“, mit dem metaphysischen Substrat des Bewusstseins: ersteres hat er gefunden, letzteres glaubt er mit ihm identisch; aber zwischen beiden gibt es keinerlei erkenntnistheoretische Beziehung.

Was ist aber des Näheren der eigentliche Charakter des trans- scendentalen Ich, dieser notwendigen immanenten Voraussetzung alles Denkens? Ist es eine Thatsache? Ist der Satz „Cogito ergo sum“ mithin ein Erfahrungssatz? Es ist mir nicht bekannt, dass bereits darauf hingewiesen worden wäre, dass Kants Stellung gerade zu dieser Frage in den beiden Auflagen der Kr. d. r. V. nicht dieselbe ist. Ich gehe daram in Kürze hierauf ein. Nach der ersten Auflage ist der Satz (versteht sich: so weit er zu Rechte besteht) kein Erfahrungssatz. Er enthält vielmehr bloss die Form der Apper- ception. Ebenso entscheidet sich Kant in dem nach der zweiten Auflage der Kritik (vermutlich 1788) verfassten Aufsätzchen „Be- antwortung der Frage: Ist es eine Erfahrung, dass wir denken?“ „Das Bewusstsein, . . überhaupt zu denken, ist ein transscendentales Bewusstsein, nicht Erfahrung“ (2. Hartensteinsche Ausgabe IV, 500). In der zweiten Auflage der Kr. d. r. V. wird die Frage nicht so einfach entschieden. Hier findet sich mehrfach (vgl. bes. B 420—430) die Erklärung, „der Satz: Ich denke, oder: Ich existiere denkend, ist

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ein empirischer Satz“ (B 428). Allein trotz dieses scheinbar offen- kudigen Widerspruchs kann man wenn man nicht in Wort- klaubereien hängen bleiben will nicht sagen, dass Kant damit thwas von der in der ersten Auflage vertretenen Theorie zurtick- genommen habe; er hat vielmehr nur zu seiner früheren Theorie einen neuen Gedauken hinzugefügt. Es.ist darum auch weder ein Zeiehen von unsicherem Hin- und Herschwanken, wenn er, wie bereits bemerkt, ein Jahr später wieder die Formulierung der ersten Auflage wählt, noch ist es ein Zeichen von Inkonsequenz, wenn B 405 eine Stelle aus der ersten Auflage stehen geblieben ist, wonach der Satz keinen empirischen Inhalt haben darf. Das klingt freilich #amäüehst verwunderlich. Allein man beachte Kants Argumentation, bes. in der Anmerkung B 422f: Das „Ich“, das ich mir zum Be- wsasstsein bringen kann, ist nur die „logische Funktion“, die trans- s=endentale Einheit des Bewusstseins, etwas Ausserzeitliches. Mit | dem Begriff dieses Ausserzeitlichen ist aber kein Dasein gegeben. Der Satz „Alles, was denkt, existiert“ ist falsch: „Denn da würde ie Eigenschaft des Denkens alle Wesen, die sie besitzen, zu not- Wrendigen Wesen machen“ (B 422). Die Beziehung zwischen der t=ansscendentalen Einheit des Bewusstseins und meiner Existenz ist vEelmehr folgende: Der Akt, in dem ich mir mein Ich zum Bewusstsein ange, ist ein Akt empirischer Besinnung und solche Besinnung setzt Rein Dasein voraus (freilich ohne dass mir dieses dadurch als Erkenntnis- gegeben würde). Das Ich ist folglich zwar kein Gegen- SÆ=nd empirischer Erkenntnis; aber die Besinnung auf das Ich, Res Bethätigung des „inneren Sinnes“ ist etwas, das ich æmipiriseh (in der Zeit) vollziehe (vgl. auch $ 25 der transscenden- Een Deduktion). Gewiss ist das reine, von der Erfahrung unab- ige Ich die Bedingung aller Erfahrung. Aber ohne irgend eine Vorstellung würde ich mir dieser Bedingung gar nicht werden können. Auch das Notwendige und Allgemeingiltige Sam ich nur auf empirischem, zufälligem Wege erfassen, weil ich SSuf anderem Wege überhaupt nicht gehen kann. Und in so ferne ast das „Cogito“ ein empirischer Satz. Der ganze Unterschied Æwischen der ersten und der zweiten Auflage ist ein Unterschied im Ausgangspunkt. Geht man aus vom reinen Ich, der notwendigen Bedingung des Bewusstseins, so ist es keine Erfahrung, dass wir denken: denn Erfahrung lehrt keine Notwendigkeit. Geht man aber aus vom empirischen Ich, so erkennt man, dass in ihm die Bedingung liegt, sich des reinen Ich bewusst zu werden; und dann

40 Fritz Medicus,

ist es Erfahrung, dass wir denken. In der ersten Auflage der Kritik geht Kant bei Behandlung des Descartischen Satzes nur vom reinen Ich aus, in der zweiten ergänzen sich beide Betrachtungs - weisen. Und der Grund, aus dem Kant diese Ergänzung gegeben hat ich habe den Punkt vorhin schon gestreift ist der: Kant will den Satz Descartes’ vor ontologischer Missdeutung schützen : aus dem blossen Begriffe des denkenden Wesens kann so wenig wie aus einem anderen Begriffe die Existenz herausgeklaubt werden. Darum ist die Formulierung „Cogito ergo sum“ irreführend. Der Satz ist jedoch richtig, wenn man anerkennt, dass es zuerst einer empirischen Besinnung bedarf, um das „Cogito“ als etwas Wirkliches festzustellen. Damit haben wir den vollen kritischen Sinn des „Cogito ergo sum“, den der grosse Fortsetzer des Des-

cartischen Denkens erst in der zweiten Auflage seines Hauptwerk €S gegeben hat.

Im dritten Buch giebt Mercier die Lösung der ersten seiim®T beiden oben erwähnten kriteriologischen Hauptfragen: Giebt es œ > jektiv giltige Urteilsbeziehungen? Der ganze Abschnitt ist eiwm=* fortlaufende Kantkritik. Von besonderem Interesse sind die Ex =™~ wände, die Mercier gegen die Kantische Moralphilosophie, bez®” gegen deren Verhältnis zu Kants Erkenntnislehre erhebt. Zunäce =" zollt Mercier der im thomistischen Lager offiziellen, von Heïiuric Heine inspirierten Kantauffassung seinen Tribut. Zu dem bekannte # Wort aus der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Kr. d. r. V. „I musste das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen bemerkt Mercier, es sei zu beachten, dass sich diese Stelle in de * ersten Auflage noch nicht findet. „Kant n'a-t-il pas dans l’intes ~ valle entre les deux éditions, de 1781 à 1787, mesuré la portée & © la critique de la raison spéculative au spectacle de ses conséquence = pratiques, jugé de la cause par ses effets? Cela nous paraît vram® semblable“ (140). Die entgegenstehende ,,exégése optimiste“, wonac Kant diese Worte in aller Ehrlichkeit, dem ursprünglichen Sach» verhalt entsprechend, niedergeschrieben habe, erscheint Mercier „pla = ingénieuse que vraie“ (156). Zwar giebt er zu: „Cette suppositiom ingenieuse raménerait à l'unité l'oeuvre des deux critiques du phi losophe allemand. et elle peut invoquer en sa faveur un passagæ siguiticatif de la seconde édition de la Critique de la raison pure- Mais elle ne nous parait pas fondée. La Critique de la raisox2 pratique nous semble bien plutôt la revanche de la conscience morale

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sur les excés du dialecticien“ (193). Seite 343 wird aus dem „nous paraît‘ sogar die schärfste positive Behauptung: Mit Zurückverweisung auf die soeben citierte Stelle heisst es da: „nous avons montré ailleurs le désaccord inévitable [!| entre la Critique de la raison pure et la Critique de la raison pratique‘. Es ist immer eine ge- fährliche Sache, in einer kritischen Besprechung zu sagen: ‚Zwar liesse sich die Theorie des Verfassers auch anders auslegen, als wir thun. Der Verfasser sagt sogar selbst, dass er anders ausgelegt sein will. Und würden wir ihn so auslegen, wie er es wünscht, so würden auch unsere Einwände nicht mehr treffen. Aber jene Forderung des Autors, in der für ihn günstigen Weise ausgelegt zu werden, ist unberechtigt‘ Dass aber im vorliegenden Falle Kants Forderung doch berechtigt ist, ist nicht schwer nachzuweisen. Man braucht bloss Kants Briefe aus der Zeit der Abfassung der ersten Auflage der Kr. d. r. V. durchzublättern, wenn man sich überzeugen will, dass Kant in dieser Zeit nicht blosser „dialecticien‘‘ gewesen ist, sondern dass die „conscience morale“ auch damals stets in ihm lebendig gewesen ist. Ein Rückschlag, den sie erst bewirkt hätte, als das Buch fertig vorlag, wäre aber nur dann verständlich, wenn sich Kant während der Abfassung seiner ersten Kritik überhaupt nicht um ethische Fragen bekümmert hätte. Vollkommen über- zeugend hat sich Windelband zu dieser Frage geäussert in der „Vierteljahrsschrift f. wissensch. Philos.“ 1 (1876/77), S. 228—230, so dass es hier genügen kann, auf diese Ausführungen zu verweisen.

Doch diese Bemerkungen über Kants Tendenzen haben für Mercier nur den Wert einer kleinen Plänkelei. Ungleich wichtiger ist ihm folgender Einwand gegen die erkenntnistheoretische Halt- barkeit der Kantischen Ethik: „Si les noumenes sont tous ineer- tains, pourquoi ce noumène qui est le sujet de la liberté et de la loi morale, ne le serait-il pas?“ (157.) In der That scheint mir hier ein Punkt getroffen, der eingehende Berücksichtigung verdient. Kant schärft ja nun allerdings oft genug ein, dass „nur zum prak- tischen Gebrauche“ den Vernunftbegriffen Realität verschafft würde. Allein die Frage liegt doch immer noch so: Zugegeben auch, dass wir im moralischen Bewusstsein kein noumenales Objekt erfassen, das weiterer theoretischer Bestimmung zugänglich wäre, .so er- halten wir doch die Gewissheit seiner Thatsächlichkeit. Wir erhalten die Gewissheit, dass unserem empirischen Ich ein Ding an sich zu Grunde liegt. Wenn nun die praktische Vernunft keine Illusion ist, und das ist sie doch nicht, so muss diese Gewissheit von der

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theoretischen Vernunft acceptiert werden; unmöglich aber kann die praktische Vernunft zugeben, dass die theoretische trotzdem fortfährt zu behaupten, auch die Existenz dieses Ich an sich sei zweifelhaft Gäbe sie aber (was sie bei Kant nicht thut) die Beweisbarkeit der Existenz des Ich an sich zu, so wäre damit in den universalen erkenntnistheoretischen Phänomenalismus Bresche gelegt. Dass Kant die hier liegende Schwierigkeit nicht eigentlich beseitigt hat, scheint mir unleugbar. Jedoch giebt es eine Phase in der Entwicklungs- geschichte der Kantischen Moralphilosophie, in der sie nahezu völlig vermieden ist. Es ist die Phase, in der Kant die „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ geschrieben hat. Allerdings wird auch hier, nicht zu Gunsten der Klarheit, die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich herbeigezogen; aber sie spielt hier fast nur die Rolle eines rohen Vergleiches für die Unterscheidung von Sinnenwelt und Verstandeswelt (2. Hartensteinsche Ausgabe IV, 299), und diese letztere Unterscheidung besagt etwas wesentlich anderes. Die „Ver- standeswelt oder „intellektuelle Welt“ ist nicht identisch mit der metaphysischen Welt, die den ontologischen Grund der empirischen Realität enthält, sondern sie ist die Idealwelt der Normen. Und die Beziehung dieser intellektuellen Welt auf die Welt der Er- scheinungen ist keine metaphysische oder ontologische, sondern eine teleologische. Ich weiss wohl, dass mir Mercier ein paar Stellen auch aus der ,Grundlegung‘ entgegenhalten kann, auf die sich diese Exegese nicht ungezwungen anwenden lässt; allein es kommt mir hier nur darauf an, zu zeigen, dass der kritische Idealismus durch Merciers Einwand nicht erschüttert wird. Wie die kritische Er- kenntnistheorie vom Begriff der Erfahrung ausgeht, zu dem das thatsächliche, nach psychologischen Gesetzen verlaufende Denken in einer teleologischen Beziehung steht, so geht die kritische Moral- philosophie vom Begriff einer moralischen Welt aus, zu der das thatsächliche Handeln eine teleologische Beziehung hat. (Das that- sächliche Denken und Handeln sind in ihrer Existenz gerechtfertigt, wenn sie den Forderungen des Begriffs der Erfahrung und der moralischen Welt entsprechen.) Betrachte ich mich nun als Glied dieser moralischen Welt, so erfasse ich mich nicht als Ding an sich, sondern ich erfasse nur die moralische Aufgabe, die mir als vernunft- begabtem Wesen obliegt. Ich erfasse in so ferne mein moralisches Ich. Aber dieses moralische Ich liegt, erkenntnistheoretisch be- trachtet, in keiner anderen Sphäre als das erkenntnistheoretische Ich, das ich mir im „Cogito ergo sum“ zum Bewusstsein gebracht

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babe. Zu dem „Ich denke, mithin bin ich“ füge ich hier hinzu: „Ich soll, mithin bin ich“; zur „logischen Funktion“ des Be- wusstseins tritt, wenn wir uns diesen Ausdruck gestatten wollen, sine „moralische Funktion“. Aber so wenig die logische Funktion die substantielle Natur des Bewusstseins hat begründen können, so wenig kann das die moralische; auch sie lehrt uns kein Noumenon kennen, sondern allein unsere moralische Verpflichtung. An die Untersuchungen Descartes’ anknüpfend, können wir sagen: Descartes’ Zweifel zeigt, das wir an Allem zweifeln können, nur nicht an uns selbst, an unserem Bewusstsein, und zwar so wenig wie an unserem theoretischen Bewusstsein, so wenig auch an unserem Werte setzenden, praktischen.

Hinsichtlich des übrigen Inhaltes von Buch III kann ich mich kürzer fassen. Mercier giebt zwar zunächst ein ,aperçu rapide sur les doctrines essentielles de la Critique de la raison pure“ (177 ff.) und dann eine eingehende Kritik des Kantischen Suhjektivismus (207 ff.); aber ich habe dem nach dem bereits Gesagten kaum mehr etwas Wesentliches hinzuzufügen. Teilweise sind die gegen den Subjektivismus erhobenen Einwände sehr treffend, nur treffen sie eben nicht Kant, an den sie adressiert sind. Die erkenntnistheore-

Bedeutung der Kantischen Lehren, der Erkenntniswert des Apriori wird beharrlich totgeschwiegen. Nach Mereiers Auffassung Sieht Kant die Welt durch seinen apriorischen Apparat wie durch “ine blaue Brille hindurch, nennt aber chose bizarre (182) trotzdem dieses Weltbild objektiv. An Stelle der zum Zwecke der

also teleologisch, notwendigen Synthesen werden die »blinden“ Funktionsweisen des Intellekts gesetzt.

In weleher Weise will nun aber Mercier die Probleme, für die ©r die Kantische Lösung ablehnt, behandeln? Welche Theorie stellt er der, wenn auch nicht richtig aufgefassten, Kantischen Lehre von dem synthetischen Urteilen a priori entgegen?

Kants Lehre entspringt der Einsicht, dass die Notwendigkeit, de den Urteilen der Mathematik und reinen Naturwissenschaft zu-

nicht aus der Erfahrung abgeleitet werden kann. Hierauf An wortet Mercier: Gewiss kann die blosse sinnliche Erfahrung keine oe wendigen und allgemeingiltigen Urteile liefern, wohl aber kann dass die sinnliche Erfahrung „de concert avec le pouvoir d’abstraction æ Me généralisation que nous revendiquons pour l'esprit humain“ (208).

zeigt, dass man bei der Betrachtung eines Gegenstandes von desssen Besonderheiten abstrahieren und dadurch einen allgemein-

44 Fritz Medicus,

giltigen Begriff von ihm gewinnen kann. Davon aber, dass diese Abstraktion nur zu komparativer Allgemeingiltigkeit führen kann, wenn nicht ein allgemeingiltiges Gesetz bereits vorausgesetzt ist, davon, dass die Abstraktion, wie sie Mercier im Sinne hat, gar nichts anderes ist als der Versuch, die Wahrnehmungen nach den voraus- gesetzten Normen des Bewusstseins zu Gegenständen von Erfahrungs- urteilen zu formen, sagt er kein Wort. Er scheint überhaupt nicht gesehen zu haben, dass die „dem menschlichen Geiste eigene Kraft der Abstraktion und Generalisation“ eben das in Frage stehende Problem enthält.

Mercier greift nun aber überhaupt die Kantische Unterscheidung von synthetischen und analytischen Urteilen an. Diese Unterscheidung sei von Kant lediglich nach etymologischen Gesichtspunkten getroffen und entbehre die sachliche Berechtigung. Der sachlich berechtigte Gegensatz zum analytischen Urteil sei das Erfahrungsurteil. Nun aber kann Mercier nicht umhin, zwei Klassen analytischer Urteile zu unterscheiden: in die erste Klasse gehören die Urteile, bei denen das Prädikat im Subjekt enthalten ist, in die zweite Klasse die Urteile, bei denen „das Wesen des Subjekts notwendige Voraus- setzung des Prädikats“ ist (211). Und nun versucht Mercier den Nachweis, dass die Prinzipien der Wissenschaft nicht synthetische Urteile a priori sind. Was das Urteil 5 + 7 = 12 angeht, so sei es analytisch, da man ja bloss den Satz des Widerspruchs auf Subjekt und Prädikat anzuwenden habe, um deren Identität einzu- sehen. Man könne sich das ganz deutlich machen, wenn man die sieben Einheiten, deren „collection“ die Zahl 7 ist, und die fünf Einheiten, die zusammen die Zahl 5 repräsentieren, neben einander stellt und so die Zahl 12 auflöst in die Reihe 1+1+1+.... Damit zeigt aber Mercier bloss, dass der Begriff 5 ebenso wie der Begriff 7 selbst schon das Resultat von 5, bez. 7 Synthesen ist, und dass es einer weiteren Synthese bedarf (eben der Nebeneinander- stellung und Addition), um aus ihnen die 12 zu erhalten, und damit die Identität der Synthese von 5 und 7 mit der Zahl 12 einzusehen. Indem ich sage 1 + 1 2, vollziehe ich eine Synthese, und man kann den synthetischen Charakter der Arithmetik gar nicht besser veranschaulichen als eben durch solche Analyse der unseren Zahlen zu Grunde liegenden Synthesen. Der geometrische Satz „die gerade Linie ist die kürzeste zwischen zwei Punkten“ gehört nach Mercier zur zweiten Klasse der analytischen Urteile. Der Prädikats- begriff „kürzeste zwischen 2 Punkten“ könne nämlich nicht definiert

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werden, ohne zugleich den Subjektsbegriff „gerade Linie“ und die notwendige Verbindung zwischen beiden ans Licht zu stellen (219). Der Beweis dieser Behauptung stützt sich darauf, dass Kant fälschlich angenommen habe, der Begriff der geraden Linie enthalte nichts von Grösse, sondern nur eine Qualität, so dass also Subjekt und Prädikat verschiedenen Kategorien angehörten. Mercier argumentiert dagegen: „L’expression ligne droite désigne une quantite. L’adjectif droit n'y désigne pas une qualité, mais une différence spécifique dans le genre quantité [!]. La ligne est une notion de genre; la ligne droite est une espèce du genre ligne; droite est la différence spécifique qui, ajoutée au genre ligne, forme l’espece ligne droite. Done le sujet ligne droite et le prédicat le plus court appartiennent à la même catégorie, à la quantité“ (216). Dass es sich hier um eine Ktinstelei handelt, leuchtet ein. Der Gegensatz zur „geraden Linie“ ist die „krumme Linie“, und so wenig „krumm“ eine differentia specifica im Genus „Quantität“ ist, so wenig mithin im Begriff der krummen Linie eine quantitative Bestimmung enthalten ist, so wenig ist eine solche in dem der geraden Linie analytisch enthalten. Das Kausal- prinzip glaubt Mercier nach dem Satz des Widerspruchs einsehen zu können; er bezeichnet es darum gleichfalls als analytisch (220 ff.). Zu diesem Zweck giebt er ihm folgende Formel, die freilich nicht von Veränderungen spricht, von denen doch das Kausalprinzip zu sprechen hat; dafür spricht sie aber von etwas anderem, wovon das Kausalprinzip nicht sprechen darf, wenn sein Beweis nicht eine Er- schleichung sein soll: „L’ötre contingent exige une cause ou, plus explicitement, l'être existant dont l'essence n'est pas identique à son existence, exige une cause qui le fasse exister“ (221). Da die ganze Beweisführung von dem „zufälligen Wesen“ ausgeht, ist sie natürlich eine petitio prineipii. Merciers Versuch, die synthetischen Urteile a priori durch analytische zu ersetzen, erweist sich demnach bei Prüfung der Einzelfälle als verfehlt. Im Allgemeinen aber sei noch zu all diesen Einzelfällen bemerkt: Wenn Mercier Recht hätte, dass diese Prinzipien der Wissenschaft analytische Sätze wären, so würde sich nicht einsehen lassen, warum sie von der Erfahrung mit Not- wendigkeit gelten. Sie wirden dann zwar an sich genommen richtig sein so richtig wie der Satz, dass der Pegasus ein Pferd mit Flügeln ist —, aber ihre objektive Giltigkeit, ihre Giltigkeit von den Objekten der Erfahrung wäre nicht zu erklären (vgl. Kr. d. r. V. B 314). Denn dieses letztere Problem ist nur zu lösen auf dem Wege der Kantischen Methode.

46 Fritz Medious,

Gegen Schluss von Buch Ill giebt Mercier eingehende Erörterungen tiber die Metageometrie; er glaubt, hier eine zwingende Gegeninstanz gegen den Kantischen Apriorismus gefunden zu haben: „La possibi- lité d’espaces non-euclidiens est inconcevable ou, si elle est conce- vable, c’est que des concepts sont possibles sans l’intuition a priori exigée par Kant. La métagéometrie met ainsi en.évidence l’arbitraire de la doctrine fondamentale de la Critique de la raison pure‘ (273). Ich glaube, das Unberechtigte dieser Auffassung in meiner Abhandlung „Kants transscendentale Ästhetik und die nichteuklidische Geometrie“ im Ill. Bande dieser Zeitschrift, S. 261—300, nachgewiesen zu haben, und begnüge mich darum hier, auf diese Ausführungen zn verweisen.

Das vierte Buch hat zum Thema die metaphysisch-objektive Realität der Begriffe. Nach Kant sei, damit setzt Mercier ein, das Objekt unserer Vorstellungen eine Fiktion, ein Etwas, das seine Existenz einem blind funktionierenden lediglich subjektiven synthe- tischen Urteil a priori verdanke (282). Mercier kennt nur die von Kant überwundene Disjunktion: entweder sind die Objekte metaphy- sische Realitäten, oder sie sind Fiktionen des Geistes, und Kant ist nach ihm ein Vertreter der zweiten „Hypothese“. So hält er dem Kantianismus die Frage entgegen: „Dira-t-on que la science est un roman, les mathématiques une poésie? Il faut pourtant en venir 1a, lorsqu'on prétend que tout objet de représentation intellectuelle m'est que phénoménal. Il n'y a plus, dans ce cas, de démarcation entre le domaine de la science et celui de l’art; de part et d’autre, le même pouvoir créateur du sujet pensant est seul à l’œuvre et la conscience ne devrait jamais nous renseigner qu'une activité

productrice de phénomènes. Un homme d'imagination, en possession de certaines impressions personnelles, pourra les com- biner au gré de sa fantaisie . . .“ (333/4). Noch gründlicher

lässt sich der Charakter der auf eine transscendentale De- duktion gegründeten synthetischen Urteile a priori allerdings kaum verkennen, als es hier geschieht. Hier wird nicht mehr die teleolo- gische Notwendigkeit mit der kausalen verwechselt; hier hört alle Notwendigkeit überhaupt auf, eine Rolle zu spielen: „le gré de Ja fantaisie“ erscheint als Schöpfer der Erscheinungswelt. Und das soll die Kantische Theorie sein. Doch ich müsste fürchten, Mercier Un- recht zu thun, wollte ich die Stelle ernsthaft diskutieren. Im sonstigen Zusammenhang seines Werkes weiss er ja auch, dass es sich bei

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Kants synthetischen Urteilen a priori um notwendige Urteile handelt, wenn er auch die Bedeutung von „notwendig“ nicht richtig bestimmt. Ich glaube darum, annehmen zu sollen, dass diese Stelle dem, hier allerdings etwas weit gehenden, rhetorischen Pathos zuzurechnen ist, und dass Mercier selbst nicht annimmt, hiermit etwas Stichhaltiges gegen Kant vorgebracht zu haben. Ernsthaft gemeint ist jedoch ohne Zweifel der nächste Einwand: Kants Phänomenalismus sei ausser stande, die Verschiedenheit der Begriffe zu erklären, die von ein und derselben Materie ausgelöst werden. „Comment, par exemple, à une même matière donnée, l’entendement appliquerait- il tantôt la catégorie de substance, tantôt celle de cause ou une autre quelconque?“ (334.) Ich kann nicht sehen, dass hier eine Schwierigkeit liegt. Um eine in der Wahrnehmung gegebene Materie zum Gegenstand der Erfahrung zu machen, muss diese Materie kategorial bestimmt werden. Soll diese Bestimmung eine vollständige sein, so muss sie Kantisch gesprochen nach Quantität, Qualität, Relation und Modalität ge- schehen. Jede beliebige Materie muss sich allen diesen Formen kategorialer Bestimmung unterwerfen lassen, und es ist Sache der „Urteilskraft“, diejenigen Kategorien anzuwenden, auf die es in dem gegebenen Falle ankommt, und sie richtig anzuwenden. Macht die Urteilskraft ihre Sache schlecht, was ja oft genug vorkommt, so glaube ich durchaus mit Mercier, dass es ihr „physiquement im- possible“ war, die richtigen Bestimmungen zu treffen; denn auch ich unterschreibe den Satz „Les actes de cognition n'échappent pas à la loi du déterminisme‘ (335). Aber darin liegt doch kein Einwand gegen Kant. Kants Erkenntnislehre fragt gar nicht danach, wie weit es den empirischen Bewusstseinen „physisch“ möglich oder unmög- lich ist, richtig zu denken; sie bemüht sich lediglich, die Normen aufzufinden, bei deren Beobachtung das Denken richtig ist, und tiber- lässt es der gut entwickelten Urteilskraft, diesen Normen zu folgen, und der schlecht entwickelten, ihre eigenen Wege zu gehen.

Ein Hauptargument Kants gegen die metaphysische Realität der Begriffe erkennt Mercier in der Lehre, dass Raum und Zeit richt aus dem Bewusstsein weggedacht werden können, mithin keine metaphysischen Realitäten sind. ,,Cette argumentation repose sur une confusion de l’espace réel et du temps réel, objets d’intuition, avec l'espace imaginé et le temps imaginé, objets de souvenir et auxi- liaires immédiats des concepts. La représentation imaginative de l’espace est consécutive à une première intuition de l’espace réel et en est originairement dépendante; mais l'image persiste après

45 Fritz Medieus.

que ja perception a Gisparu et permet ani à l'esprit la conception abstraite de : <spacr. en l'absence d'objets réels . . . Des images Spatia.es zraäu-ılemeni azramiies se forment dans l'imagination, à Mesun- Que aepioie l'aet sencralisatear. et le flux de ces images suere=ive aise dans l'âme le sentiment dune représentation moefose à cz espace iilimite~ (241, Allein selbss wenn man von eer i. Rats erstem Raumarzument antzedeekten Sebwierigkeit ab- nr WwLi. de Carin Destekt einen reaien kaum einfach anzuschauen «ine seawieri zkeit cm deren Beseitizung sich Mereier gar nicht nemdnat —. = beibt cetk immer die andere erux. dass man auf Giesem psveaolecisenes Wege cur zu eicem Erfahrunesraum gelangt, de seinen! dune representation confase-. Dabei bleibt aber die Hacpisa:3- czverständiich: der Erkenntnziswert der dem Begriff des use_lj®ter Kaum» zeisemt. Dieser Erkenntniswert die Not weniizk-ii cad Alicemeinziltizkeit. ist ein quaiitauv neues Moment, das weder acs den eiszeinen Peneptionen ces ..realen Raums‘ noch acs der auf (srund dieser Perceptionen möglichen Abstrak- fies und (-neraiisation. dem oben besprochenen _pouvoir d’abs- traire et ce réticchir propre à l'esprit bemain- abgeleitet werden kann. Die Vorstellung des Raums ais eines -vaste réceptacle“ 3411 liesse sich zur Not auf sviche Weise erklären. die Giltigkeit der Vorstellung des unendlichen Racms aber nie. Denn eben weil es sieb hier um die Giltigkeit handelt. entzieht sich das Problem wie alle Wertprobleme der psvehoiozischen Erklärung. Mercier unterscheidet den realen Raum vem imarinären Raum. Aber seine Unterscheidung ist nicht durchführbar. weil ich. wenn ich den Raum bloss vorstelle imariniere —. wo ich ihn nie beobachtet habe, wo er vielleicht nie beobachtet werien kann. etwa auf der uns ab- gekehrten Seite des Mondes. doch weiss. dass er dort ist: es ist mir das nicht bloss wahrscheinlich. sondern ich weiss es Das aber ist eine Thatsache. die jeder psychologischen Begriindung unzugänglich bleibt.

Damit sind die Hauptpunkte von Merviers Kantkritik erledigt. Es erübrigt noch eine Priitung der Argumentation. dureh die Mercier zur Erkenntnis der „objektiven- Welt veriringen will Hier ist zu- nächst zu bemerken. dass Mervier selbst die Erkenntnis der Dinge in ihrem état absolu mit Kant für ungereimt erklärt (354 u. 6.). (Freilich stellt er die Sache stets so dar. als befände er sich mit dieser Einsicht im Widerspruch zu Kant. der seine Kräfte am Ver- such, diese ungereimte Aufgabe zu lüsen. verschwendet hätte.) Mercier

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TE

Ein Wortftihrer der Neuscholastik und seine Kantkritik. 49

will vielmehr lediglich die ,,réalité objective des concepts‘ beweisen. Seinem Beweisgange giebt er selbst folgende Formulierung: „L’objet de nos concepts est matériellement contenu dans l'objet de nos sensations. Or, la réalité objective de nos sensations est hors de doute. Done, l’objet de nos concepts est réel“ (327). Hiergegen würde nattirlich kein Kantianer etwas einzuwenden haben; nur wäre zu betonen, dass ,réel“ in der Conelusio keinen anderen Sinn haben darf als ,réalité objective‘ in der Minor, nämlich imma- nenten, empirischen, auf die Erscheinungswelt beschränkten. Allein Mercier will doch etwas mehr beweisen. Er fragt nach der Ursache der Sensationen und findet, da ich die Impressionen doch nicht selbst schaffe (wofür nur stehen dürfte, dass ich kein Bewusstsein davon habe, sie geschaffen zu haben), dass es „hors de moi, une cause active“ giebt, „qui me les fait subir“ (357). Der Fehler, der in dieser metaphysischen Anwendung des Kausalprinzips steckt, ist zar Gentige bloss gelegt in Sigwarts Logik. Die von Mercier ver- tretene Theorie ‚ist einleuchtend eben nur dann, wenn das Dasein der Objekte schon in der Stille vorausgesetzt ist, dessen Annahme sie erklären soll. Sobald man sich aber klar gemacht hat, dass in dem allgemeinen Kausalitätsprinzip niemals liegt, wie beschaffen die Ursache einer gegebenen Wirkung sein müsse, fehlt jede Möglichkeit, nach demselben auf das Dasein einer bestimmten Ursache zu schliessen. Als Prinzip objektiver Wahrheit gedacht, hat aber der Satz in diesem Sinne noch viel bedenklichere Mängel. Denn auch gesetzt, er könnte als allgemeines Axiom gelten, das durch sich selbst gewiss wäre, so ist er für den Schluss auf äussere Objekte nur anwendbar, wenn zugleich der Satz: Ich bin mir nicht bewusst, meine Affektionen selbst hervorgebracht zu haben, beweist, dass ich in der That nicht ihre Ursache bin; er setzt also für seine Anwend- barkeit das Axiom voraus, dass ich nur die Ursache dessen bin, was ich mit Bewusstsein hervorbringe; ein Axiom, dessen apriorische Giltigkeit niemand behaupten wird“ (Sigwart, Logik, 2. Aufl., 1, 417). (Vgl. ferner die vorzüglichen Ausführungen in Edmund Koenigs „Entwicklung des Kausalproblems in der Philosophie seit Kant, li, 391 ff.)

Und nun noch eine kurze Bemerkung tiber die erkenntnistheo- retische Hanptfrage: Wie beziehen sich Vorstellungen auf Gegenstände’? Nach Mercier, wie wir soeben gesehen haben, so, dass die Gegen- stände Ursachen der Vorstellungen sind. (Eine tiefer gehende Theorie habe ich auch in den tibrigen Teilen des Buches nicht finden können.)

Kantstudien V. 4

50 F. Medious, Ein Wortführer der Neuscholastik und seine Kantkritik.

Diese Auffassung ist ja nun sehr einfach, aber sie ist einfacher als das Problem und darum ungentigend. Denn mit welchem Rechte kann nun Mercier annehmen, dass der von der appréhension gegebene concept den Namen eines „concept objectif“ verdient? Wie kann er die skeptische Frage zurückweisen, ob nicht etwa das Medium der Sinnlichkeit das Bild des Gegenstandes fälscht durch einen mécanisme tout subjectif, fatal et aveugle? Ich sehe keine Möglichkeit, wie eine rein psychologische Theorie des Erkennens dieser Frage be- gegnen kann.

Meine Ausführungen über das Buch von Mercier sind eine lange Reihe von ablehnenden Bemerkungen. Ich möchte darum nicht unter- lassen, zum Schluss noch einmal stark hervorzuheben, dass damit kein ungünstiges Gesamturteil begründet sein soll. Der Kantianer ist gewöhnt, in der thomistischen Litteratur zwar nicht selten Schmä- hungen der kritischen Philosophie Willmanns Geschichte des Idealismus ist noch in frischem Andenken aber nur herzlich selten ein ernsthaftes Eingehen auf ihre Probleme zu finden. Hier aber liegt ein ganzes Buch vor, das eine prinzipielle, wirklich wissen- schaftliche, Auseinandersetzung mit dem Kantianismus anstrebt. Darum ist ein solches Buch auch für den Leser fruchtbar, der mit den hier vorgeschlagenen Lösungen der Probleme nicht einverstanden sein kann: denn auch für ihn wird die Folge der Lekttire eine Klärung der Probleme sein können.

Der Zweckbegriff bei Kant. Von Dr. A. Pfannkuche.*)

1. Der Ausgangspunkt.

Mit Kant tritt die Behandlung des Zweckbegriffs in ein durch- aus neues Stadium. Spinoza hatte den Zweckgedanken so radikal geleugnet, wie nur möglich war; die deutsche Aufklärung, fussend auf Wolffs „experimenteller Gotteslehre“, den Gedanken bis ins andere Extrem bejaht. Zwischen beiden Extremen, nur verschieden in der Ntancierung, bewegt sich die gesamte philosophische Be- handlung des Gedankens bis auf Kant, und für beide ist der Zweck lediglich ein metaphysisches Prinzip. Kant entzieht ihm die meta- physische Grundlage und bahnt eine neue fruchtbare Behandlung des Begriffs in zwei Richtungen an, deren klare Sonderung und Ausge- staltung für die wissenschaftliche Arbeit, soweit sie es mit Zweck- begriffen zu thun hat, von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist.

Wie kommt Kant zur Erörterung der Zweckfrage? Kant arbeitete nach Vollendung der Kritiken der theoretischen und der praktischen Vernunft an einer Kritik des Geschmackes, „um die den Gefühlen der Lust und Unlust entsprechenden all- gemeinen Beurteilungsprinzipien aufzufinden“ (Kant an Reinhold, 28. Dezember 1787). Er erkennt jetzt drei Teile der Philosophie,

*) Wir treuen uns, unsern Lesern die Bekanntschaft des Verfassers vermitteln zu können, welcher durch sein mannhaftes Verhalten in der Weingart’schen An- gelegenheit sich jüngst hervorgethan hat. Er handelte als echter Kantianer nach dem Vorbild, das Kant in seiner Kr. d. pr. V. (Methodenlehre) mit den Worten Juvenals so schildert:

» . . ambiguae si quando citabere testis Incertaeque rei, Phalaris licet imperet, ut sis Falsus, et admoto diotet periuria tauro, Summum crede nefas animam praeferre pudori, Et propter vitam vivendi perdere causas.“ Die Redaktion. 4*

59 | A. Pfannkuche,

„deren jede ihre Prinzipien apriori hat, die man abzählen und den Umfang der auf solche Art möglichen Erkenntnis sicher bestimmen kann theoretische Philosophie, Teleologie und praktische Philo- sophie. von denen freilich die mittlere als die ärmste an Bestimmungs- gründen apriori befunden wird.“ Gegen Ostern (1788) hofft er mit dieser „unter dem Titel der ‚Kritik des Geschmackes‘ im Manuskript obgleich nicht im Druck fertig zu sein.“ Der Abschluss dieser Arbeit verzögert sich aber wider Erwarten um über drei Jahre und inzwischen erweitert sich die „Kritik des Geschmackes“ zur „Kritik der Urteilskraft“, von der erstere nur ein Teil ist. Vorher hat Kant bereits eine Abhandlung „über den Gebrauch teleologischer Prinzipien in der Philosophie“ veröffentlicht und einen zuerst durch J. S. Beck, Riga 1794 im Auszuge herausgegebenen Aufsatz „über Philosophie überhaupt“ als Einleitung für die beabsichtigte Kritik des Geschmackes geschrieben. Die jetzt fertig ausgebaute „Kritik der Urteilskraft* bezw. die in ihr enthaltene Teleologie gewinnt nun aber für Kant noch eine neue vorher nicht beabsichtigte Bedeutung: sie liefert ihm „das Verbindungsmittel der zwei Teile der Philosophie zu einem Ganzen“ (Einleitung III, Uber- schrift), die Vereinigung des Gegensatzes zwischen Natur und Freiheit, sinnlicher und sittlicher Welt, theoretischer und praktischer Vernunft.!)

Die Kritik der reinen Vernunft ging bloss auf unser Vermögen, Dinge apriori zu erkennen und beschäftigt sich also nur mit dem Erkenntnisvermégen, mit Ausschliessung des Gefühls der Lust und Unlust und des Begehrungsvermögens und unter den Erkenntnis- vermögen mit dem Verstande nach seinen Prinzipien apriori mit Aus- schliessung der Urteilskraft und der Vernunft. Der Verstand hat sein eigenes Gebiet im Erkenntnisvermögen und ist in der „Kritik der reinen Vernunft“ in seinen sicheren Besitz gesetzt. Die Vernunft, die „nirgends als lediglich in Ansehung des Begehrungsvermögens konstitutive Prinzipien apriori enthält“, hat in der „Kritik der prak-

1) Gegen diese Auftassung der Kr. d. U. als eines , Verbindungsmittels* ist von Stadler in seiner eingehenden, aber nicht ganz einwandsfreien Unter- suchung [Kants Teleologie. Berlin 1874 pag. 25 ff.) Einsprache erhoben. St. stützt sich auf eine inzwischen als irrtümlich erwiesene Bemerkung Rosenkranz’ (Werke I, Vorrede XXXVII), dass der Aufsatz „Über Phil. iiberh.“ erst vier Jahre nach Vollendung der Kr. d. U. abgefasst sei, und glaubt diesen Aufsatz gewissermassen als Korrektur der Kr. d. U. ansehen zu müssen, wodurch die Darstellung von Kants Teleologie u. E. eine in wichtigen Punkten unvollständige geworden ist.

Der Zweckbegrift bei Kant. 53

üschen Vernunft“ ihren Platz erhalten. Bleibt die Urteilskraft und die Beziehung auf das Gefühl der Lust und Unlust.

Ob nun diese, „die in der Ordnung unserer Erkenntnisvermögen wischen dem Verstande und der Vernunft ein Mittelglied ausmacht, such für sich Prinzipien apriori habe, ob diese konstitutiv oder bloss regulativ sind... und ob sie dem Gefühle der Lust und Unlust als dem Mittelgliede zwischen dem Erkenntnisvermögen und Begehrungs- vermögen ... apriori die Regel gäbe: das ist es, womit sich die gegenwärtige Kritik der Urteilskraft beschäftigt“ (Vorr. 4).

Zwischen der theoretischen und der praktischen Philosophie thut

sich noch eine andere Kluft auf: das ist die zwischen den Gebieten der Naturbegriffe (den sinnlichen nach den Gesetzen der me- chanischen Kausalität erklärbaren durch die theoretische Gesetz- gebung des Verstandes) und der Freiheitsbegriffe (den über- sinnlichen, nach den Gesetzen der moralischen Kausalität erklär- baren durch die praktische Gesetzgebung der Vernunft), Ob nun zwar zwischen diesen beiden Gebieten ein Übergang nicht möglich erscheint, so soll doch dieses auf jenes einen Einfluss haben, „nämlich der Freiheitsbegriff den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen, und die Natur muss folglich 80 gedacht werden können, dass die Gesetzmässigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit derin ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme.“ Damit scheint uns der Zweckgedanke sofort in seinem wahrsten innersten Ursprunge erfasst zu sein: er entspringt nicht aus der Betrachtung Zweckvoller Einrichtungen in der Natur, wie vor und nach Kant Vielfach angenommen worden ist; sein Grund liegt einfach in dem Freiheitebedürfnisse des Menschen, das sich ein seinem Wesen ach notwendiges Ziel setzt: Herrschaft über die Natur, und sofern dieses etwas im Menschen unausrottbares ist, will er anders sich in &iner Persönlichkeit behaupten, insofern und soweit hat auch der Weck einen unaustilgbaren und somit apriorischen Bestand.

Damit ist zugleich der Weg gebahnt zu einer rein psychologischen Ableitung des Zweckgedankens und zwar aus dem Willensphänomen. In der That dürfte sich diese Ableitung als die einzig mögliche er- Weisen. Welche Bedeutung dieser Ausgangspunkt für die Gestaltung des Gedankens bei Kant gewinnt, werden wir weiterhin sehen.

Wie nun der Übergang von der Denkungsart nach den Prin- tipien der einen zu der nach den Prinzipien der anderen möglich

und zu bewerkstelligen ist, das zu untersuchen und nach seinen

54 A. Pfannkuche,

Grenzen zu bestimmen, ist die eigentliche Aufgabe der Kr. d. U. Die moralische Ursache ist Endursache (Absicht) oder Zweck; daher ist die einzig mögliche Art, Natur und Freiheit zu vereinigen, die Verknüpfung zwischen dem Natur- und dem Zweckbegriff, und dies geschieht durch den Begriff der natürlichen Zweckmissigkeit: Er- kenntnis der Natur durch den Verstand Verwirklichung der Freiheit durch die praktische Vernunft: Unterordnung der Natur unter die Freiheit durch den Begriff des Zweckes vermittelst der Urteilskraft das ist der zu Grunde liegende Gedanke.

Die verschiedene Funktionsweise und Zuständigkeit des Ver- standes, der Vernunft und der Urteilskraft stellt sich aber näher so: „Der Verstand giebt durch die Möglichkeit seiner Gesetze apriori für die Natur einen Beweis davon, dass diese von uns nur als Er- scheinung erkannt werde, mithin zugleich Anzeige auf ein tibersinn- liches Substrat derselben, aber lässt dieses gänzlich unbestimmt. Die Urteilskraft verschafft durch ihr Prinzip apriori der Beurteilung der Natur nach möglichen besonderen Gesetzen derselben, ihrem übersinnlichen Substrat (in uns sowohl als ausser uns) Bestimm- barkeit durchs intellektuelle Vermögen. Die Vernunft aber giebt eben denselben durch ihre praktische Gesetzgebung apriori die Be- stimmung; und so macht die Urteilekraft den Übergang vom Ge- biete des Naturbegriffs zu dem des Freiheitsbegriffs möglich.“ Oder durch sie wird „die Möglichkeit des Endzweckes, der allein in der Natur und mit Einstimmung ihrer Gesetze wirklich werden kann, erkannt.“

Die Urteilskraft nun, als das Vermögen das Besondere als ent- halten unter dem Allgemeinen zu denken, kann eine bestimmende sein (wenn ihr das Allgemeine, die Regel, das Prinzip, das Gesetz gegeben ist und sie demnach das Besondere darunter subsumiert) oder eine reflektierende (wenn sie zu dem gegebenen Besonderen das Allgemeine finden soll. Wie kann letztere, mit der wir es hier allein zu thun haben, ihre Aufgabe lösen? Sie bedarf dazu eines Prinzips. Der Erfahrung kann sie dies nicht entlehnen, denn es soll eben erst die Möglichkeit der systematischen Unterordnung der empi- rischen Prinzipien untereinander begründet werden. Sie kann es überhaupt nicht anderwärts hernehmen, denn sonst wäre sie nicht mehr reflektierende, sondern bereits bestimmende Urteilskraft, da sie dann das Gesetz, das Allgemeine bereits apriori vorgezeichnet fände. Sie kann sich ihr apriorisches Prinzip also nur selbst geben. Andererseits darf aber die reflektierende Urteilskraft ihr Prinzip nicht der Natur

Der Zweckbegriff bei Kant. 55

vorschreiben, weil die Reflektion über die Gesetze der Natur sich nach der Natur richtet und diese sich nicht nach den Bedingungen richtet, nach welchen wir einen in Ansehung dieser ganz zufälligen Begriff von ihr zu erwerben trachten. Das Prinzip, das allen diesen Anforderungen Gentige leistet, ist nun das der formalen Zweck- mässigkeit, d. h. wir sehen die Natur so an, als ob sie für unsere Erkenntnis geeignet sei, als ob ein Verstand den Grund der Einheit der Mannigfaltigkeit ihrer empirischen Gesetze enthalte.!)

Die formale Zweckmässigkeit der Natur ist also ganz unter- schieden von dem Begriff der praktischen Zweckmässigkeit (der menschlichen Kunst oder auch der Sitten), es ist keine Zweck- mässigkeit der Natur ftir sich, sondern nur eine solche für unser Erkenntnisvermögen, ein Geeignetsein der Natur für unsere Erkenntnis. Über die „Erkennbarkeit“ der Natur ist damit freilich nichts ausgesagt: „Man will nur, dass man, die Natur mag ihren allgemeinen Gesetzen nach eingerichtet sein wie sie will, durchaus nach jenen Prinzipien und den sich darauf gründenden Maximen ihren empirischen Gesetzen nachsptiren müsse, weil wir nur, soweit jenes stattfindet, mit dem Gebrauche unseres Verstandes in der Er- fabrung fortkommen und Erkenntnis erwerben können.“?) Oder m. a W., in der Natur muss für das notwendige Geschäft, zum Be- sonderen, welches die Wahrnehmung bietet, das Allgemeine und zum Verschiedenen wiederum Verknüpfung in der Einheit des Prinzips 20 finden, ein Grund angenommen werden. Dies nennt Kant das „Gesetz der Specifikation der Natur in Ansehung ihrer empirischen

Gesetze.“ Mit dem so kurz skizzierten Prinzip der formalen Zweck- Mässigkeit, als einem transcendentalen Prinzip der reflektierenden rteilskraft, haben wir aber das ist zu betonen nicht den hwerpunkt der Kantischen Zwecklehre erreicht, sondern nur deren usgangspunkt. Das Ziel der ganzen Untersuchung ist die Ver- Roittlung zwischen den Natur- und Freiheitsbegriffen; jetzt ist eine "ligemeine Bedingung apriori aufgestellt, unter der die Natur Objekt Canserer Betrachtung zu werden vermag und zwar weder als eiu Naturbegrift noch als ein Freiheitsbegriff, sondern als ein mittleres: Sin subjektives Prinzip (Maxime) der Urteilskraft. Es ergiebt sich Betzt die naturgemässe Frage: zu welchem Resultate führt dies Prinzip

RD tel

1) of. Kr. d. U. Einl. pag. 28 ff. (cit. nach Rosenkranz). 2) Kr. d. U. Einl. 26.

56 A. Pfannkuohe,

einmal im Gebiete der Naturbegriffe, sodann in dem der Freiheits- begriffe. Wir werden diesen Gang der Betrachtung einschlagen, hoffend dadurch einiges neues Licht auf die Zweckanschauung Kants zu werfen, zuvor aber das von Kant aus der teleologischen Be- trachtung im eigentlichen Sinne Ausgeschiedene zusammenstellen.

2. Das von der teleologischen Betrachtung Auszu- scheidende.

Es ist zunächst hinzuweisen auf den Unterschied, den Kant zwischen den ästhetischen und den teleologischen Urteilen über die Zweckmässigkeit eines Objektes aufstellt. Ein ästhetisches Urteil über die Zweckmässigkeit eines Objektes ist ein solches, das sich auf keinen vorhandenen Begriff vom Gegenstande gründet und keinen von ihm verschafft;!) der Gegenstand ist zweckmässig ohne einen bestimmten (inneren) Zweck; die Urteilskraft in dieser Be- ziehung ist eine rein subjektive. Die Beurteilung geschieht hier durch den Geschmack (ästhetisch, vermittelst des Gefühls der Lust) und dieser bezieht sich nur auf das harmonische Zweckverhältnis zwischen der Form des Gegeustandes und unserem Anschauungsver- mögen. Ein teleologisches Urteil über die Zweckmässigkeit eines Objektes dagegen ist ein solches, das sich auf einen bereits vor- handenen Begriff vom Gegenstande gründet; denn es wird in diesem Falle Zweckmässigkeit der Natur nicht bloss in der Form des Dinges, sondern dieses ihr Produkt selbst als Naturzweck vorgestellt. Als Naturzweck aber ist ein Gegenstand anzusehen, wenn er als zweck- mässig für sich selbst, seinem Begriffe, seinem Wesen, seiner Bestimmung entsprechend vorgestellt werden darf. Die Vorstellung der Zweckmässigkeit dieser Art als einer realen (objektiven, inneren) hat also, „da sie die Form des Gegenstandes nicht auf das Erkennt- nisvermögen des Subjektes in der Auffassung desselben, sondern auf ein bestimmtes Erkenntnis des Gegenstandes unter einem gegebenen Begriffe bezieht, nichts mit einem Gefühle der Lust an den Dingen, sondern mit dem Verstande in Beurteilung desselben zu thun.“*) Die Beurteilung geschieht hier demnach durch Verstand und Vernunft (logisch, nach Begriffen).

Die rein ästhetischen Zweckurteile fallen also für uns fort. Von der eigentlichen teleologischen Betrachtung ist aber ferner noch aus-

1) of. Kr. d. U. Einl. VII. 2) Kr. d. U. p. 84.

Der Zweckbegriff bei Kant. 57

ruschliessen die „objektiv-formale (mathematische) Zweck- mässigkeit sowie die materiale des ntitzlichen Gebrauches oder „die relative Zweckmäseigkeit der Natur zum Unterschiede von der inneren.“ Zirkel, Parabel und andere mathematische Grössen und Figuren sind ohne Zweifel zweckmässig zur Lösung gewisser Aufgaben, zur Gewinnung gewisser Einsichten; ihre Zweckmässigkeit ist eine intellektuelle und darum objektive. Gleichwohl liegt ihre Zweckmässigkeit nicht in ihrem reinen Begriffe, ihrem Wesen, sondern in ihrer Form, sie sind lediglich formal zweckmässig und doch wiederum in keiner Weise ästhetisch. Denn sie sind zweckmässig nicht ohne einen bestimmten Zweck, in der blossen Betrachtung, sondern zu dem Zwecke, den sie erfüllen. Aber andererseits ist diese mathematische Zweckmässigkeit auch nicht teleologisch; denn den mathematischen Grössen fehlt das natürliche raumerfüllende Dasein, sie sind lediglich Konstruktionen, Teleologie im eigentlichen Sinne ist zu ihrem Begriffe nicht nötig. Denn „auf den Begriff einer objektiven und materialen Zweckmässigkeit d. i. auf den Begriff eines (inneren) Zweckes der Natur“ leitet die Erfahrung unsere Urteilskraft „nur dann, wenn ein Verhältnis der Ursache zur Wirkung ZU beurteilen ist.“ In der reinen Mathematik kann aber gar nicht vom Ursache und Wirkung die Rede sein, und die dort gefundene Zw eckmässigkeit daher nicht als Naturzweck betrachtet werden.!) ‚Aber auch bei Beurteilung eines Verhältnisses von Ursache und Wirkung ist nicht unbedingt ein teleologisches Urteil gerecht- ferkigt. Wir können das Verhältnis der Ursache zur Wirkung so als gesetzlich ansehen, dass wir der Ursache die Idee der Wirkung der Ka usalität als die Bedingung der Möglichkeit der Wirkung unter- legen, und zwar auf zweifache Weise: indem wir entweder die Arkung unmittelbar als Kunstprodukt, als inneren (für sich-) Zweck “Rssehen oder als Material für die Kunst anderer möglicher Natur- W€sen, als Mittel zum zweckmässigen Gebrauch anderer Ursachen. Diese letztere Zweckmiissigkeit der Dinge als „Mittel“ heisst Nutzbar- keit (für den Menschen) oder auch Zuträglichkeit (für jedes andere Geschöpf) und kann nur als relativ beurteilt werden. Sie ist zwar Moht bloss eine formale, sondern eine materiale, wird aber gleich- Wohl von Kant von der teleologischen Beurteilung abgesondert und Muss ausgeschlossen werden, will man anders die Teleologie von anthropomorphen Vorstellungsweisen frei halten. Denn die Nutzbar-

1) ef. Kr. d. U. § 62 Anf. Ros. 248.

5% A P'anakucbe.

keit oder Zuträglichkeit eines Dinges für andere ‘die äussere Zweck- mässiekes können wir nar unter der Bedingung als einen Natur- zweck ansehen. das die Existenz dessen. dem es zunächst oder anf entferutere Weise zuiräzlich sei. für sieh selbst Zweck der Nasur sei Dafür aber haben wir. betont Kant. an sich durchaus keinen Gruni. und dies ist überhaupt durch blosse Natarvetrachtung nimmmermehr auszumachen Denn es wäre ein _sehr gewagtes und willküriiches Urteil wenn wir z B. annehmen wollten. dass darum Dünst aus der Lufi in Form des Schnees der in kalten Landem die Saaten wider den Frost schützt. den Lappländern den Verkehr durch Schlitten erleichtert u. = w. berunterfale. dass darum thranertüllte Seetiere u. s w. in den Eiszonen leben damit der Lappländer. Samsjede u. x w. dort die ndtigen Existenzbedingungen finde. «ier weil der Ursache. die alle diese Naturprodukte herbei- shaft die Idee eines Vorteils für zewisse armselige Geschöpfe zu Grund- lieze- Denn man sieht durch blosse Naturbetrachtung nieht ein. .warum überhaupt Menseben dort ieben müssen.-')

Bleibt aiso die materiale Zweekmassizkeit innerer Art übrig. Auf diese kommen wir unten zusprechen Zunächst ist dem Kantischen Gedankenzanze vorgreifend. die Erkenntnis des .Endzweeks der Natur” aus cer teleologisehen Naturbetrachtunz zu eliminieren. Dazwischen. fübrt Kant aus’) besteht ein grosser Unterschied. ob wir ein Ding seiner inneren Form halber. d. h in sich als Naturzweck beurteilen oder ob wir die Existenz dieses Dinges selbst als Zweck der Natur ansehen. bezw. ob wir dasselbe zugleich als Teil und wechsel- seitig als Organ des grossen Weltmechanismus anzusehen befugt sind. Letzteres seht über ersteres weit hinaus: zu letzterem bedürfen wir die Erkenntnis des Endzweckes der Natur. eine Beziehung auf etwas Ubersinnliches. die alle unsere teleologische Naturbetrachtung weit übersteigt: „Denn der Zweck der Existenz der Natur selbet muss über die Natur hinaus gesucht werden Um dies in einem Beispiele zu zeigen. so können wir die innere Form eines blossen Grashalmes seinem ÜUrsprunge nach als bloss nach der Regel der Zwecke möglich nachweisen, verlassen wir aber die Betrachtung der inneren Organisation und sehen nur auf die äussere zweck- mässige Beziehung. wie das Gras dem Vieh. dieses dem Menschen als Mittel zu seiner Existenz diene. so kommen wir zu der Frage, warum es denn nötig sei. dass Menschen existieren: wir gelangen 80 ef Kr. d U. à. 62

3) Kr. d T. Ros. 262.

Der Zweckbegrift bei Kant. 59

zu einer immer weiter hinauszusetzenden Bedingung, die aber als unbedingt, als „Endzweck“ ganz ausserhalb der physisch-teleologischen Weltbetrachtung liegt. Wir urteilen dann nicht mehr teleologisch, sondern theologisch, betrachten das Naturleben dann nicht mehr als Naturprodukt, sondern als gôttliches Kunstprodukt.

Es kann unseres Erachtens kein Zweifel sein, dass diese Frage nach dem Endzweck der Natur für Kant unter das aus der teleologi- schen Naturbetrachtung Auszuscheidende gehört, und dass die Be- deutung des Endzweckes für die teleologische Freiheitsbetrachtung, wie wir sehen werden, mit der teleologischen Naturbetrachtung!) in keinerlei Beziehung steht. Wir bemerken aber gleich, dass auch für letztere hier noch eine Schwierigkeit ungelöst bleibt, die zu vielen Missverständnissen Anlass gegeben hat; wir kommen darauf im mächsten Abschnitt.

3. Das teleologische Prinzip in der Naturbetrachtung.

_ Welche Anwendung findet nun der Zweckgedanke in der Natur- betrachtung bei Kant? Wir haben nach dem transcendentalen Prinzip der formalen Zweckmässigkeit, wie gezeigt, „guten Grund, eine subjektive Zweckmässigkeit der Natur in ihren besonderen Gesetzen zur Fasslichkeit für die menschliche Urteilskraft und der Möglichkeit der Verknüpfung der besonderen Erfahrung in einem Systeme der- sel ben anzunehmen.“ Darüber gehen wir hinaus, wenn wir annehmen, dass Dinge der Natur einander als Mittel zu Zwecken dienen und bre Möglichkeit selbst nur durch diese Art Kausalität hinreichend verständlich wird.“ Dazu haben wir „an sich keinen Grund in der all gemeinen Idee der Natur als Inbegriffs der Gegenstände der Rane.“?) Daraus ergiebt sich, dass, wollten wir der Natur apriori

8 sichtlich wirkende Ursachen unterlegen, mithin die Teleologie Die hit bloss als regulatives sondern auch als konstitutives Prinzip zur AB Jeitung ihrer Produkte gebrauchen, wir diese ihre Gesetzmässig- kit weder apriori mit einigen Gründen präsumieren noch die Wirklich- keit derselben durch die Erfahrung erweisen könnten. „Gleichwohl Wind die teleologische Beurteilung wenigstens problematisch mit Recht zor Naturforschung gezogen, aber nur um sie nach der À malogie mit der Kausalität nach Zwecken unter Prinzipien der Beobachtung und Nachforschung zu bringen, ohne sich anzu- mm

1) Natur im weiteren Sinne Inbegriff der Erscheinungen. 2) ef. Kr. d. U. § 60.

60 A. Pfannkuche,

massen, sie danach zu erklären.“ „Wir haben damit wenigstens ein Prinzip mehr, die Erscheinungen derselben unter Regeln zu bringen, wo die Gesetze der Kausalität nach dem blossen Mechanismus derselben nicht zulangen.“ Wo ist dies der Fall? Oben war für die teleologische Beurteilung tibrig geblieben die materiale Zweckmässigkeit innerer Art. Auf diese führt uns der „eigentüimliche Charakter der Dinge als Naturzwecke“'). Wann ist ein Naturprodukt nicht ein Produkt der menschlichen Kunst als Naturzweck anzusehen? „Als Naturzweck existiert ein Ding, wenn es von sich selbst Ursache und Wirkung ist.“ Wie ist das zu denken? Ein Baum erzeugt einmal nach einem bekannten Natur- gesetz einen andern Baum derselben Gattung, und so erzeugt er sich selbst der Gattung nach; er erzeugt sich aber auch als Individuum im Wachstum. Von einer eigenen Zeugung dürfen wir hier nämlich reden, weil der Baum die Materie, die er aufnimmt, zu einer spezifisch- eigenttimlichen Qualität verarbeitet, die der Naturmechanismus ausser ihm nicht liefern kann; also bildet er sich selbst weiter vermittelst eines Stoffes, der seiner Mischung nach sein eigenes Produkt ist. Endlich können wir auch die einzelnen Teile des Baumes, Blätter, Stamm, Rinde u. s. w. als für sich bestehende Dinge ansehen; denn das Auge des Baumes lässt sich als selbständiges Ding auf einen anderen versetzen; die Blätter sind einerseits Wirkung (Produkt) des Baumes, andererseits aber auch Ursache ein wiederholtes Ent- blättern würde den Baum töten also ist die Zeugung bezw. Er- haltung des Baumes bedingt durch die wechselseitige Funktion seiner Teile als Ursache und Wirkung. Demnach existiert dieses Ding, der Baum, hier als Naturzweck, da er sich in sich wechselseitig als Ursache und Wirkung verhält. Dies ist nicht der Fall bei einem Kunstprodukt, z. B. einer Uhr. Bei einer Uhr ist auch ein Teil zwar um des anderen willen da aber nicht durch denselben: nicht ein Rad der Uhr bringt das andere hervor, noch weniger geht eine Uhr aus der anderen hervor. Die hervorbringende Ursache der Teile und der Form liegt daher auch nicht in ihrer Natur, sondern ausser ihr in einem Wesen, das nach Ideen eines durch seine Kausalität möglichen Ganzen wirken kann. Als „Naturzweck“ vermögen wir demnach nur anzusehen ein organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen; ein organisches Wesen hat also ‚nicht bloss lediglich be- wegende Kraft, sondern besitzt in sich bildende Kraft und zwar

1) Kr. d. U. $ 68.

Der Zweckbegrift bei Kant. 61

eine solche, die sie den Materien mitteilt, welche sie nicht haben sie organisiert.‘ In einem solchen Naturprodukte wird ein jeder Teil, & wie er nur durch alle übrigen da ist, auch als um der anderen und des Ganzen willen existierend, d. i. als Werkzeug (Organ) gedacht ud zwar als ein die anderen Teile wechselseitig hervorbringendes Organ.

Kann nun der Begriff eines Dinges als an-sich-Naturzweckes als ein konstitutiver Begriff des Verstandes oder der Vernunft an- gesehen werden? Die Antwort lautet: nein, denn „eine innere Naturvollkommenheit, dergleichen Dinge besitzen, die nur als Natur- zwecke möglich sind, ist nach keiner Analogie irgend eines uns bekannten physischen, d. h. Naturvorganges denkbar und erklärlich.“ Wohl aber kann der Begriff „ein regulativer für die reflektierende Urteilskraft sein, um nach einer entfernten Analogie mit ünserer Kausalität nach Zwecken überhaupt die Nach- forschung tiber Gegenstände dieser Art zu leiten und ihrem

Obersten Grunde nachzudenken ... das letztere zwar nicht zum Behufe der Kenntnis der Natur oder jenes Urgrundes derselben.“ Damit haben wir das eigentliche Objekt der teleologischen Urteils- kraft gefunden: es ist der Begriff des organisierten Wesens, „in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist,“ in dem „nichts um- sonst, zwecklos oder einem blinden Naturmechanismus zuzuschreiben.“ Die organischen Wesen sind also die einzigen in der Natur, die nur nach dem Prinzip der Zwecke möglich gedacht werden können, die zuerst dem Begriff eines Zweckes der Natur objektive Realität geben und „dadurch für die Naturwissenschaft den Grund zu einer Teleologie, i. einer Beurteilungsart ihrer Objekte nach einem besonderen Pri KXızipe verschaffen.“ Hier erhebt sich nun eine schwierige Frage. Dass Kant den Zw eckgedanken in der Natur lediglich als Beobachtungsprinzip, als F Orschungsmaxime angewandt wissen will, ist völlig klar. Aber Beobachtangsprinzip in welcher Absicht? Zur Aufdeckung eines da x-chgüngigen Kausalkonnexes? Oder zur Auffindung eines mig- lit hen teleologischen Systems in der gesamten Erscheinungswelt? Die Antwort liegt keineswegs völlig klar zu Tage, wie die Kritiken UQd Missverständnisse, die sich gerade an diesen Punkt knüpfen, leigen. Unseres Erachtens liegt das erstere in der Konsequenz des Kantischen Grundgedankens, während sich seine Auseinandersetzung allerdings vorwiegend in der Richtung der letzteren Frage bewegt. Kant hat es abgewiesen, innerhalb der physisch-teleologischen Welt-

62 A. Pfannkuche,

betrachtung das Naturleben als göttliches Kunstprodukt anzusehen. Aber der Begriff des Naturzweckes (der organisierten Materie) führt ihn trotzdem „auf die Idee der gesamten Natur als eines Systems nach der Regel der Zwecke, welcher Idee nun aller Mechanismus der Natur nach Prinzipien der Vernunft untergeordnet werden muss.“ Das Prinzip der Endursachen der Natur ist „unbeschadet des Mechanismus ihrer Kausalität“ nicht zu umgehen. Danach mtissten wir alles in der gesamten Natur nach seinen Zwecken betrachten, nichts als zwecklos ansehen. Wir müssten also auch anscheinend zweckwidrige Dinge, wie z. B. die Moskitomücke von der Seite der Zwecke ansehen, indem diese z. B. dem Wilden gewaltige Stacheln zur Thätigkeit, zur Ableitung der Moräste und damit zur weiteren Kultur an die Hand gäbe. Jedenfalls, meint Kant, ist eine solche Betrachtung nützlich, indem uns die Aufsachung einer solchen teleo- logischen Ordnung der Dinge zu einer belehrenden Aussicht führt, auf die uns die bloss physische Betrachtung allein nicht führen würde. Das dürfte aber klar sein, dass das leitende Motiv zu dieser Betrachtung hin weder ein naturforscherliches noch ein metaphysisches, sondern lediglich ein ethisches ist; wir befinden uns auf der Grenzscheide zwischen theoretischer und praktischer Philosophie. Gegen eine Ver- mengung mit der Theologie und der Metaplıysik wird die Teleologie, soweit sie zur Physik gezogen wird, streng geschützt. Kant sprach davon, als ob die Zweckmässigkeit in der Natur absichtlich sei oder als ob die Idee der Wirkung ihr als Ursache vorschwebe. Sollen wir nun entweder die Natur, d. i. die Materie zu einem verständigen Wesen machen, ihr Absichten in eigentlicher Bedeutung des Wortes unterschieben oder über sie ein anderes verständiges Wesen als Werkmeister setzen? Dies ‚entweder-oder‘“ scheint allein übrig zu bleiben und stand vor Kant unbedingt zur Beantwortung, die, wie sie auch ausfallen mochte, die Teleologie in der einen oder der anderen Weise auf Abwege führte und sie für die Naturforschung in Misskredit bringen musste. Die vorkantische Teleologie war dogmatisch und wurde als solche entweder bejaht oder verneint; für Kant ist sie nicht mehr ein konstitatives Prinzip und somit überwinden wir diese Alternative, indem wir sie streng aus der Physik verweisen und „von der Frage, ob die Naturzwecke absicht- liche oder unabsichtliche sind, gänzlich abstrahieren; denn das würde Einmischung in ein fremdes Geschäft [nämlich das der Metaphysik] sein.“ Die teleologische Urteilskraft kann innerhalb der Grenzen der Physik nicht zur Naturerkenntnis, sondern nur zur Natur-

Der Zweckbegriff bei Kant. 63

betrachtung führen, sie hält sich lediglich an die blosse Natur, d.h. an die Erfahrung und bleibt im Gebiete der Erschei- nungen; was dartiber hinaus liegt, die Frage nach der Beschaffen- heit der zweckthätigen Kräfte, ob es materielle oder göttliche, ab- sichtliche oder unabsichtliche Zwecke sind, lässt sie völlig offen, entscheidet sie weder nach der einen noch nach der anderen Seite.)

Man sollte annehmen, dass Kant danach die metaphysische Zweckfrage gänzlich von der Behandlung ausscheiden, sich mit der Konstatierung eines übersinnlichen Substrates der Natur begnügen und das Zweckprinzip als Forschungsmaxime zur Aufdeckung des Kausalzusammenhanges ausbauen würde. Aber seine Gedanken be- wegen sich noch vorwiegend in der anderen Richtung, wie auch die aufgestellte Antinomie der teleologischen Urteilskraft zeigt: a) alle Erzeugung materieller Dinge und Formen muss als nach bloss mechanischen Gesetzen möglich beurteilt werden; b) einige Produkte der materiellen Natur können nicht als nach bloss mechanischen Gesetzen möglich beurteilt werden, ihre Beurteilung erfordert ein ganz anderes Gesetz der Kausalität, nämlich das der Endursachen. Würden wir diese beiden Prinzipien in konstitutive dogmatische um- Waamdeln, so läge ein unlöslicher Widerstreit vor. Dies ist aber nicht der Fall, wenn wir beide nur als Maximen der reflektierenden Ur-

teillskraft anwenden. Dann haben wir nur die beiden Vorschriften: da musst, soweit du kannst, der Natur nach dem Prinzip des blossen Meechanismus nachforschen und hast die Weisung, bei gelegentlicher Ve -wanlassung, dort, wo die erste Maxime nicht ausreicht, einigen N zatorformen und eventuell der gesamten Natur nach dem Prinzip d&x Endorsachen nachzuforscben. Würden wir nur nach einem dieser Prinzipien die Nachforschung der Natur unternehmen, also die beiden W ahrgenommenen Arten des Kausalzusammenhanges den effektiven Arad den finalen in einen zusammenschliessen, wozu unser dis- Kursiver Verstand nicht imstande ist, was nur ein intuitiver archi- Wektonischer Verstand leisten könnte, so würden wir unweigerlich Nach der hylozoistischen oder theistischen Seite hin in das Gebiet des Übersinnlichen geraten, demnach etwas erstreben, was wir schlechterdings nicht erreichen können.

Man fragt sich nun: wozu hier die Herbeiziehung des archi-

tektonischen Verstandes u. s. w.? Zur nachträglichen Fundierung

1) cf. Kr. d. U. Schluss der Analytik.

64 A. Pfannkuche,

des transcendentalen Prinzips der formalen Zweckmissigkeit? Dazu ist diese Erörterung einerseits unnötig, andererseits durchaus un- zureichend. Für eine ethisch-teleologische Betrachtung leistet sie ebensowenig. Und für ein metaphysisch-teleologisches System die Grundlage zu liefern, dürfte noch weniger in Kants Absicht liegen. Vielmehr dient diese ganze Ausführung, wie die daran anschliessende in der Dialektik der Urteilskraft, lediglich einer Auseinander- setzung mit der metaphysischen Zweckfrage, nicht einer positiven Fundierung derselben. Kant wägt die Wahrscheinlichkeitsgründe, die für die einzelnen aufgeführten Zwecksysteme sprechen sei es für den Casualismus oder Fatalismus, sei es auf der anderen Seite für den Hylozoismus oder Theismus ab, konstatiert die Möglich- keit eines der gesamten Natur zu Grunde liegenden metaphysisch- teleologischen Systems, giebt dem Theismus vor allen anderen Er- klärungsgründen den Vorzug, um dann aber mit dem Ergebnisse abzuschliessen, dass wir das behandelte Prinzip seiner objektiven Realität nach garnicht einzusehen oder dogmatisch zu begründen vermögen, wir also mit dem Begriff nur kritisch, d. b. in Beziebung zu unserem Erkenntnisvermögen verfahren dürfen, „ohne es zu unter- nehmen, über sein Objekt etwas zu entscheiden.“ Darum gehört die Teleologie, streng genommen, keiner Wissenschaft besonders an; sie trägt keinen doktrinalen Charakter, sie gehört zur Kritik und dient im Bereich metaphysischer Fragen lediglich dazu, Übergriffe des reinen Kausalprinzips abzuwehren. Freilich entspricht dieser rein negativen Funktion der Teleologie eine positive Seite, die aber in ganz anderer Richtung sich bewegt. Das aber darf nicht übersehen werden, dass die ganze erwähnte Erörterung mit der positiven Kan- tischen Teleologie nichts zu thun hat und von der Darstellung einer solchen völlig ausgeschieden werden muss.

Ist so der metaphysisch gerichtete Weg für positive Natur- Betrachtung und -Erkenntnis nach Kant durchaus fruchtlos, so bleibt im Zusammenhange mit der gesamten übrigen Anschauung Kants nur übrig, das Zweckprinzip, soweit es als Forschungsmaxime dienen soll, als zur Aufdeckung des durchgängigen Kausalkonnexes dienend aufzufassen. Diese Verwendung kollidiert nicht mit meta- physischen Möglichkeiten für den architektonischen Verstand bilden durchgängiger Kausalkonnex und telcologisches System keine Gegensätze und diese Verwendung allein ist uns unentbehrlich zur Naturerkenntnis cf. die Organismen. Es ist allerdings die Er- örterung über die organischen Wesen nahezu die einzige, in der

Der Zweckbegrift bei Kant. 65

Kant die Anwendung dieser Maxime exemplifiziert hat, wie er denn auch einen eingehenderen Ausbau dieser Maxime als einer logischen Operationsmethode nicht gegeben hat. Dass wir es hier aber mit nichts anderem als einer rein logischen Methode zu thun haben, dirfte einleuchten, wenn wir auf den Ursprung des Zweckgedankens urtckgehen. Der Zweckbegriff wird nach Kant im Grunde psycho- logisch abgeleitet und zwar aus dem Willensphänomen. Die un- mittelbare Anwendung dieses Gedankens auf die Natur ergiebt not- wendigerweise ein teleologisches System in theistischem Sinne; dies wird als zur Naturerkenntnis nichts beitragend abgelehnt. Vielmehr sollen wir lediglich nach Analogie unserer Kausalität nach Zwecken bei gelegentlicher Veranlassung den Zweckgedanken anwenden dürfen, der dann aber die Ursache nicht mehr als an einen substantiellen Träger gebunden denkt wie nach der Ableitung nötig sondern selbst als Vorgang auffasst wie dies bei der stetigen Wechsel- beziehung zwischen Ursache und Wirkung, Mittel und Zweck in organischen Gebilden der Fall ist. Somit hat sich das Zweckprinzip in dieser Form von der ursprünglichen, psychologisch abgeleiteten, weit entfernt und ist nunmehr reduziert auf eine bestimmte logische Betrachtungsweise des Verhältnisses von Ursache und Wirkung gemäss einer entfernten Analogie der Kausalität nach Zwecken. Durch den Gedanken, dass die kausale Erklärung vom Einzelnen zum Ganzen fortschreite, die Zweckerklärung dagegen vom Ganzen auf das Ein- zelne zurückgehe, hat Kant der Ausbildung dieser logischen Maxime den Weg gewiesen, die Wundt in konsequenter Fortsetzung des vor- liegenden Gedankens so vollzogen hat:!) „Sobald in der That die Ursache nieht mehr als ein an einen substantiellen Träger ge- bundenes Vermögen, sondern selbst als ein Vorgang aufgefasst wird, der als die Wirkung anderer vorausgehender Vorgänge zu betrachten ist, so ist in dieser Unterordnung beider Glieder der Kausalreihe mier die gleiche logische Kategorie die Möglichkeit geboten, das Verhältnis jener Glieder umzukehren und auf diese Weise die pro- £ressive Richtung der Kausalität in eine regressive zu verwandeln. Wie dann im ersten Falle aus dem als Ursache vorausgesetzten Er- eigmis das als Wirkung anzunehmende abgeleitet wird, so ist im Weiten die Wirkung als der zu erreicbende Zweck vorausgenommen, WOrauf die Bedingungen aufgesucht werden, welche als Mittel zur Herbeiführung dieses Zweckes sich darstellen. Vom Standpunkte

1) Wundt, System der Phil. Leipzig 1889. S. 821 fl. Kantstudien. V. 5

66 A. Pfannkuche,

der aktuellen Kausalität aus ist also die Zweckbetrachtung lediglich die Umkehrung der Kausalbetrachtung: Ursache und Mittel, Wirkung und Zweck sind zu äquivalenten Begriffen geworden.‘ Wir haben diese Worte ganz angeführt, weil sie uns den einzig möglichen Sinn der teleologischen Maxime Kants in treffender Weise zum Ausdruck zu bringen scheinen. Die rein logische Natur dieser Maxime tiber- sehen zu haben, ist der Grundfebler fast aller gegen dieselbe er- hobenen Einwände. So bei Trendelenburg,') wenn er Kant vor- wirft, dass er die Zweckmässigkeit zu einem blossen Sporn und Stachel des menschlichen Erkennens mache, „damit es einem Nebel- bilde nachjage, das immer weiter in die Ferne zurückweicht;“ dass dieser Zweckbegriff die Dinge notwendig schief projiziere und „nicht eine belebende Regel der Forschung, sondern eine ver- fälschende Zerrung der Ansicht“ sei. So bei Fr. von Birenbach,?) nach dem Kant die Teleologie als heuristisches Prinzip und kritische Maxime nachgewiesen und den richtigen Zweckbegriff wenigstens negativ und abgrenzend bestimmt hat, wozu jetzt als Korrelat in der Wirklichkeit die „objektive immanente Zweckmässigkeit‘ ge- fanden werden müsse und zwar nach B. in hylozoistischem Sinne.

Fassen wir das Ergebnis unserer bisherigen Untersuchung zu- sammen, so lässt sich die Kantische Teleologie, soweit sie bis jetzt herausgeschält, in folgende Punkte fixieren:

1. Der apriorische Ausgangspunkt, das transcendentale Prinzip der formalen Zweckmässigkeit, ein Grundpostulat der reflektierenden Urteilskraft, enthält im Grunde weiter nichts als die philosophische Fassung der Hypothese von der Begreiflichkeit der Natur oder der Annahme, dass die Natur ihre allgemeinen Gesetze zu empirischen specifiziere gemäss der Form eines logischen Systems zum Behufe der Urteilskraft, wodurch wir die Natur als qualifiziert zu einem logischen Systeme ansehen und damit die Form der Natur in Be- ziehung zu unserer Fassungskraft setzen.

2. Unter kritischer Wahrung der Grenzen unseres Erkenntnis- vermögens missen wir, wo wir der gesamten Natur nach ihrem metaphysischen Grunde nachzuforschen unternehmen, diese als ein System nach der Regel der Zwecke ansehen; eine Kollision mit dem Prinzip des reinen Mechanismus ist dabei nicht notwendigerweise zu befürchten. Die Erklärungen für dieses Zwecksystem der gesamten Natur basieren nur auf Wahrscheinlichkeitsgründen. Kant giebt der

1) Logische Unters. Il, 45 ff. 1. Aufl. 2) Gedanken über die Tel. in d. Natur. Berl. 78, pag. 26 f.

Der Zweckbegriff bei Kant. 67

tbeistischen Erklärung den Vorzug vor den übrigen. Der Charakter objektiver Erkenntnis kommt diesen Erklärungsversuchen nicht zu, für die Naturerkenntnis tragen sie nichts bei.

3. Bei allem ist das Zweckprinzip als Forschungsmaxime un- entbehrlich zwecks Aufdeckung des Kausalzusammenhanges und zwar in der Weise einer rein logischen Operationsmethode. Auf jeden Fall bleibt die Naturforschung, was sie nach Kant von Anfang an war: eine Wissenschaft, die ihre Objekte nach den Gesetzen der mechanischen Kausalität zu begreifen sucht.

4. Unabhängig von allen diesen Punkten wird eine ethische Betrachtung der Natur mit selbständiger Befugnis und selbständigen Zielen angebahnt. Diese gilt es in einem besonderen Abschnitte näber darzulegen.

4. Die ethische Teleologie.

Erinnern wir uns an den Ausgangspunkt: Die Kluft zwischen Natur und Freiheit, sinnlicher und sittlicher Welt, theoretischer und praktischer Vernunft, zwischen Naturbegriffen und Freiheitsbegriffen sollte überbrückt werden. Das apriorische Prinzip der formalen Zweckmässigkeit bildete diese Brücke. Zu demselben hatte das Gebiet der Freiheitsbegriffe den Zweckgedanken geliefert und so eine Unterordnung der Natur unter die Freiheit za Wege gebracht. Diese Unterordnung bestand zunächst freilich in nichts anderem als darin, dass eine Grundvoraussetzung für die Erkenntnis der Natur durch den Verstand nach den Gesetzen der mechanischen Kausalität aufgestellt wurde: Tauglichkeit und Geeignetsein der Natur für eine systematische Begreifbarkeit durch den Verstand. Weiterhin stellt sich dabei heraus, dass der Zweck zugleich eine notwendige logische Maxime für das Geschäft des Verstandes liefert. Dies die Aufgabe des Zweckgedankens für das Gebiet der Naturbegriffe. Eine Ver- Mischung beider Gebiete wird sorgfältig vermieden. Andererseits gewinnt jene teleologische Basis für das Gebiet der Freiheitsbegriffe eine neue Anwendung: Tauglichkeit und Geeignetsein der Natur nicht Mr für ihre Fasslichkeit sondern auch für ihre sieghaft zusammen- fassende Nutzbarmachung durch den moralischen Menschen. Weiter- hin kommt der Zweck hier, wo er entsprungen, jetzt erst zu seiner vollen Entfaltung. Die selbständige Basis und Befugnis des moralischen Zwecks steht für Kant ausser Zweifel: „Moralität und ihr unterge- Ordnete Kausalität nach Zwecken ist schlechterdings durch Natur-

Ursachen unmöglich; denn das Prinzip ihrer Bestimmung zu handeln b*

68 A. Pfannkuche,

int tibersinnlich, ist also das einzige Mögliche in der Ordnung der Zwecke, was in Ansehung der Natur schlechthin unbedingt ist und ihr Subjekt dadurch zum Endzweck der Schöpfung, dem die ganze Natur untergeordnet ist, allein qualifiziert.“ Im Rahmen der ersten Betrachtung war die Erkenntnis des „Endzwecks der Natur“ als unmöglich und irreführend abgewiesen worden; denn die Nützlichkeit der Walfische, der Gräser u. s. w. führte uns schliesslich immer

wieder vor die Frage, warum denn Menschen in den Polarregionen

existieren, warum es denn nötig sei, dass Überhaupt Menschen existieren,

und so zu einer immer weiter hinauszusetzenden Bedingung, die als

unbedingt ganz ausserhalb der physisch-teleologischen Weltbetrachtung

lag. Jetzt, im Gebiete der Freiheitsbegriffe, bejaht Kant die Frage,

ob der Menseh als Endzweek der Natur anzusehen sei: „Der Mensch

ist der letzte Zweck der Schöpfung hier auf Erden, weil er das

einzige Wesen auf derselben ist, welches sich einen Begriff von

Zwecken machen und aus einem Aggregat von zweckmässig gebil-

deten Dingen durch seine Vernunft ein System der Zwecke machen

kann!) Nicht als ob wir konstitutiv oder dogmatisch aus der

Betrachtung der Natur oder den Absichten ihres Urgrundes

den Menschen als Endzweck herausklauben könnten. sondem

sofern er, wenn auch nur vermige der reflektierenden Urteilskraft,

so doch faktisch und mit Berechtizung das Ganze der Natur als eine gewisse Organisation und als System nach Endursachen zu begreifen und alle übrigen Naturdinge in Beziehung auf ibn selbst als vin System von Zweeken zu postulieren und zu gebrauchen ver- mag. mit anderen Worten. nicht als Glied des Natarzusammenhangs, sondern als woralisches Wesen, das sich über den Naturzusammen- hang in gewisser Weise zu erheben und so als Gipfelpunkt der Natur sich hinzustellen die Fähiskeit hat. ist er als Endzweck der Natur mit Recht zu beurteilen.

\on bier aus Kann die Natur in zweierlei Weise als Zweck in Resichurg aud den Menschen augesehen wenden: indem ihre Zweck- ter vom der Art ist das sie selbst dureh ihre W oe hans ae der Merseher be friedice un: the Zweek demnaeh die BURN Ro des Metwäen ware. oder les ist die Tauglichkeit und Lara Per RACE sa Ructiel never dace ite Natur i dassertieh and Serge on ide gedraueds wenie:r Kane und ihe Zweek demnach se Avtar US erat et De u nckweloseit des Menschen als

MARS TACE UDO

Der Zweckbegrift bei Kant. 69

letzten Zweck der Natur anzunehmen ist unmöglich. Denn den Begriff der Glückseligkeit entwirft der Mensch sich selbst „und zwar auf so verschiedene Art durch seinen mit der Einbildungskraft und den Sinnen verwickelten Verstand, er ändert diesen so oft, dass die Natur, wenn sie auch seiner Willkür gänzlich unterworfen wäre, doch schlechterdings kein bestimmtes allgemeines und festes Gesetz annehmen könnte, um diesen schwankenden Begriffen und somit den Zwecken, die jeder sich willkürlicherweise vorsetzt, übereinzustimmen.“ Ferner ist seine Natur „nicht von der Art, irgendwo im Besitze und Genusse aufzuhören und befriedigt zu sein,“ sodass das, was der Mensch unter Glückseligkeit versteht, selbst bei noch so hoher Steigerung nie von ihm erreicht werden könnte. Demnach ist von diesem Begriffe der Zweckmässigkeit als Glückseligkeit oder der Zweckmässigkeit im absoluten Sinne, wie sie in der Aufklärungszeit beliebt war, durchaus abzusehen. Der Mensch bleibt immer zugleich Glied in der Kette der Naturzwecke und Mittel zur Erhaltung der Zweckmässigkeit im Mechanismus der tibrigen Glieder.

Erweist sich so dieser Weg, den Menschen als Endzweck der Natur darzuthun als unmöglich, so können wir der Frage auf eine andere Weise näher kommen. „Als das einzige Wesen auf Erden, das Verstand, mithin ein Vermögen bat, sich selbst Zwecke zu setzen, ist er zwar betitelter Herr der Natur, und wenn man diese als ein teleologisches System ansieht, seiner Bestimmung nach der letzte Zweck der Natur, aber immer nur bedingt, nämlich, dass er es ver- stehe und den Willen habe, dieser und ihm selbst eine solche Zweck- beziehung zu geben, die unabhängig von der Natur, sich selbst ge- ntigsam, mithin Endzweck sein könne, der aber in der Natur garnicht gesucht werden muss.“ Der Mensch muss also etwas vermöge seiner Freiheit thun, um Endzweck zu sein; sofern die Natur den Maximen seiner freien Zwecke überhaupt angemessen ist, um als Mittel gebraucht zu werden in Absicht auf den Endzweck, der ausser der Natur liegt, sofern die Natur also sich in ihrer Tauglichkeit für des Menschen freie Thätigkeit nach Zwecken darstellt als Mittel für eine Kultur, ist sie als zweckmässig anzusehen und sofern der Mensch mit Absicht und Willen sie als solche erfasst, bezw. sie zu erfassen imstande ist und zwar allein unter allen in der Erfahrung möglichen Wesen, der Mensch als Noumenon betrachtet, als das einzige Wesen, an dem wir ein tibersinnliches Vermögen (die Freiheit) zu erkennen ver- mögen, kurz der Mensch als moralisches Wesen, und nur als solches ist er mit Recht als Endzweck zu beurteilen. Denn „von dem

70 A. Pfannkuche,

Menschen als einem moralischen Wesen kann nicht weiter gefragt werden: wozu (quem in finem) er existiere? Sein Dasein hat den höchsten Zweck selbst in sich, dem, so viel er vermag, er die ganze Natur unterwerfen kann, wenigstens welchem zuwider er sich keinem Einflusse der Natur unterworfen halten darf.‘

Es ist zu beachten: durch die An- und Übernahme des Imperativs „berrsche über die Natur!“ und durch Ausübung dieser Herrschaft wird der Mensch das, wozu ihn auch die Selbstbetrachtung als des höchstorganisierten Wesens nicht machen könnte: Arbeit ist die Bestimmung aller Menschen auf Erden! Sehen wir auf die Be- gründung dieses moralischen Zwecksystems, so besteht diese im letzten Grunde in einem Gewaltakt des Menschen, aber in einem sittlichen Gewaltakt; denn der Mensch allein vermag Recht und Macht hier zu gleichbedeutenden Dingen zu machen. „Ich will dir erlauben,“ bemerkt Carlyle einmal sehr fein,') .das Recht überall richtig aus- gedrückte Macht zu nennen... Macht und Recht sind von Stunde zu Stunde furchtbar verschieden; aber gebt ihnen Jahrhunderte, um sich zu versuchen und ihr werdet sie gleichbedeutend finden. Wessen Land war denn dieses Britannien? Gottes, der es geschaffen hatte; sein und keines anderen war es und ist es. Wer von Gottes Ge- schöpfen hatte das Recht, darin zu wohnen? Die Wölfe und Büffel? Ja, sie; bis einer mit besserem Rechte sich zeigte. Der Kelte... kam und gab vor, ein besseres Recht zu haben und demgemäss machte er es geltend, nicht ohne Schmerz für den Büffel. Er hatte ein besseres Recht auf jenes Land, nämlich eine bessere Macht, es nutz- bar zu machen... Die Büffel verschwanden; die Kelten nahmen Besitz und ackerten.“

Dementsprechend, dass Kant als den zu postulierenden End- zweck nicht die Glückseligkeit, sondern die Kultur des Menschen ansieht und das Prädikat des Endzwecks abhängig macht von der Thätigkeit des Menschen als moralischen Wesens, kann natürlich

1) Wir möchten bei der Gelegenheit die Bemerkung einschalten, dass Kants Einfluss auf Carlyle von Hensel (Einleitung zur deutschen Ausg. der sozialpol. Schriften, Göttingen 1895) u. E. unterschätzt ist. Richtig ist, dass Carlyle die theoretische Seite der Kantischen Philosophie seiner ganzen Natur nach nie völlig hat verstehen, geschweige denn wlirdigen können, wie auch seine Ausführungen über Kant (Crit. and misc. Essays vol. I. pag 50 ff.) zeigen. Um so mehr aber steht C. in der Entwicklung seiner ganzen Weltanschauung unter dem Eindrucke des ethisch-teleologischen Geistes Kants. Man könnte ihn ge- radezu den Sozial-Philosophen, besser den Sozialpropheten der Kantischen Schule nennen.

Der Zweckbegriff bei Kant. 71

das Charakteristikum des ethisch-teleologischen Wollens nicht in der Beziehung des Willens auf Einzelzwecke, sondern in der Beziehung auf ein Reich der Zwecke liegen. Es ist eingewandt worden, dass dieser Gedanke des Reiches der Zwecke zu abstrakt sei, um als Zielpunkt der Ethik hingestellt zu werden, dass die zu grosse Mannigfaltigkeit und Veränderlichkeit der Zweckordnungen verbiete, diese als eine Idealforderung praktischer Willensbestimmung hin- zustellen, während sie nur ein Grundgesetz bilden könne, nach deren Regeln eine Ordnung der untergeordneten Zwecke vorzunehmen si) Es ist hier nicht der Ort, diese immerhin schwierige Frage anfurollen; sicher ist, dass es der Ansicht Kants entspricht, dass der Wille eine gewisse Unabhängigkeit von der Erfahrung gebraucht, dass er eine Richtschnur der Entscheidung verlangt, wo Erfahrung sie nicht bietet und auf ihren ktinftigen Entscheid nicht gewartet werden kann, dass also das Ziel selbst, in Richtung worauf die Nittel nach dem Leitfaden der Kausalität zu bestimmen sind, vorher feststehen muss. Als unmöglich kann eine solche Zielbestimmung Jedenfalls nicht angesehen werden. Nehmen wir die Kantische Ziel- bestimmung, die Kultur des Menschen, so ist diese einerseits ein so umfassendes und in der Wirklichkeit nie zu erreichendes weitliegendes Idea], andererseits aber auch für die praktische Willensbestimmung 80 greifbar, dass sie allen Anforderungen gerecht zu werden im- Stande scheint.

Wie man übrigens auch über diese Fragen denken mag, wie sehr man auch die Relativität der sittlichen Zweckurteile betonen In ein konkretes Ziel der sittlichen Arbeit für bestimmte Epochen lex Menschheit verschieden bestimmen mag, ob man die objektive Bestimmung des ethischen Endziels für möglich hält oder nicht, sicher St, dass eine rein ethische Zweckbetrachtung sich stets und in allen Fllen als unumgänglich erweisen wird. Dass diese teleologische Behandlungsweise der jeweilig vorliegenden Probleme bereits eine thnlich gut fundamentierte Basis erhalten habe, wie die Methode der einen Kausalbetrachtung, kann man nicht behaupten. Es ist aber ein unumgängliches Postulat der Gegenwart, sie herauszuarbeiten. Mehr wie eine Spezialwissenschaft erkenut die rein naturwissen- schaftliche Methode für ihr Gebiet als unzureichend und betont den kunstgemässen und ethisch-teleologischen Charakter ihrer Disziplin.

1) cf. F. Staudinger, Über einige Grundfr. der Kant. Phil. und P. Natorp,

Ist das Sittengesetz ein Naturgesetz? Anm. zu vorst. Aufs. Archiv für Phil. Il. Abt. IL Bd. Heft 2.

0 A. Pfannkuche, Der Zweckbegrift bei Kant.

Stiess doch die Aufstellung auf der IV. Versammlung deutscher Historiker im Herbst 1896, dass alle grossen Geschichtswerke im Grunde teleologische Konstruktionen seien und sein müssten, nur auf ganz vereinzelten und schwachen Widerspruch. Gewiss, auch die Geschichtswissenschaft wird die naturwissenschaftliche Methode für ihre Arbeit nicht entbehren können; ohne sie stände sie in der Lutt. Ein auf die Dauer unerträglicher Zustand ist es aber, die absolute Alleinherrschaft einer der beiden Methoden behaupten zu wallen; sie können und müssen neben und ineinander arbeiten. Dass sie es können, zeigt Kants Behandlung der Zweckfrage. Sie giebt eine Anleitung. zwischen und in den Wissenschaften einer rein kau- <aten und einer ethisch-teleologischen Behandlungsweise selbständige Hefugnis und Begriindung zu geben. Diese Scheidung wird sich fir uns stets wieder als unabweislich herausstellen, eine Erleichterung jer Diskussion innerhalb der Disziplinen sich aber ergeben, wenn man beide in ihren Grenzen anerkennt und selbständig begrtindet

Die Neue Kantausgabe: Kants Briefwechsel. Von H. Vaihinger.

So ist denn nun der längst erwartete erste Band der neuen Kantausgabe erschienen. Längst erwartet und doch rascher heraus- gebracht, als man eigentlich verlangen kann. Denn es sind erst 4 Jahre verflossen, seitdem die ersten Nachrichten über die neue Ausgabe in die Öffentlichkeit gedrungen sind. Im Februar 1896 sandte die Akademie an Zeitungen, Zeitschriften, Bibliotheken, Archive und Autographensammler Zirkulare mit einem Aufruf, in welchem auf die Wichtigkeit des neuen Unternehmens aufmerksam gemacht und um Teilnahme, insbesondere um Einsendung von bis- ber unbekannten Briefen und Manuskripten Kants gebeten wurde. Bedenkt man die Lässigkeit, mit welcher derartigen Bitten gewöhn- lich entsprochen wird, die Mühseligkeit der Verhandlungen, welche häufig mit den Besitzern von Manuskripten und Briefen geführt werden müssen, den fatalen Umstand, dass nicht selten durch neue Funde der Plan wesentliche Veränderungen erleiden muss, und ähn- liche Schwierigkeiten, so muss man immer noch gestehen, dass der erste Band verhältnismässig rasch gefördert worden ist. Dass dies &eschehen ist, dass tiberhaupt die ganze neue Kantausgabe in Angriff

®&enommen worden ist, ist der unermüdlichen Thätigkeit Dilthey’s zu danken, welcher als Mitglied der Akademie derselben den Plan der meuen Edition vorgelegt und empfohlen hat.!) Wir haben im ersten

1) Über den Fortgang des Unternehmens haben wir regelmässig berichtet. Speziell haben wir die Berichte Diltheys in den alljährlichen Januarsitzungen wiedergegeben. Der erste Bericht vom 28. Januar 1896 findet sich I, 149, der zweite Bericht vom 28. I. 1897 findet sich U, 141 (vgl. IL 885), der dritte Bericht vom 27. I. 1898 findet sich II, 488, der vierte Bericht vom 26. I. 1899 findet sich III, 479, der fünfte Bericht vom 27. Januar 1900 findet sich am Schluss dieses Heftes. Wir selbst haben durch Mitteilung von Inedita, resp. durch Hin- weis auf solche der neuen Kantausgabe mehrfach vorgearbeitet, so I, 144 ff. durch Mitteilung des Briefes von Kant an Reichardt und eines Stammbuchblattes Kants,

74 H. Vaihinger,

Hefte unserer Zeitschrift vom 25. April 1896 (S. 148-—154) uns hierüber schon des Weiteren verbreitet. Dilthey, selbst um die Kantforschung verdient durch die sorgfältige Herausgabe der „Rostocker Kanthandschriften“ und, überhaupt bemüht, das geistige Erbgut der grossen Denker und Dichter unseres Volkes in seiner Ursprünglich- keit zu erhalten, hat mit einem weiten Blick den richtigen Zeitpunkt erkannt für diese neue Ausgabe. Er ging dabei von dem Gedanken aus, dass gerade jetzt eine so grosse Zahl von Gelehrten um die Kantforschung bemüht ist, wie sie in späteren Zeiten vielleicht nicht leicht wieder zu finden ist. Die neukantische Bewegung, wie sie seit etwa 30 Jahren in Deutschland herrscht, ist vertreten durch eine Reihe älterer und jüngerer Forscher, und Dilthey verstand es mit geschickter Hand, dieselben in den Dienst des neuen Unter- nehmens zu stellen, das somit als ein dauerndes ehrenvolles Dokument dieser ganzen neukantischen Ära gelten kann.

In den letzten Jahrzehnten war eine Reihe wichtiger Funde aus dem handschriftlichen Nachlass Kants gemacht worden, der ja s. Z. leider in alle Winde zerstreut wurde. Man hört manchmal das Urteil, nur das, was ein Autor selbst veröffentlicht habe, komme für die Nachwelt in Betracht. Aber nichts ist irriger als dies. Wie stünde es dann mit Leibniz und Hegel, mit Schleiermacher und Krause? Wie wir schon I, 149 sagten, liegen gerade „im Gegenteil, in dem Nichtveröffentlichten, in den Entwürfen und Fragmenten, in den Briefen und sonstigen Handschriften die Wurzeln der Werke, auch oft erst die Schlüssel zu ihrem Verständnis.“ Wenn von irgend jemand, so gilt dies von Kant. Man denke nur z. B. an das Licht, welches auf die Entstehung der Kr. d. r. V. dadurch geworfen worden ist. dass jene Stelle aus den Reflexionen Kants bekannt geworden ist, in welcher er die Antinomien als die Haupttriebfeder seines Kritizismus aufdeckt. Würde man ferner z. B. den Brief Kants an Marcus Herz vom Jahre 1772 nicht kennen, so würde man der ganzen Kr. d. r. V. wie einem Rätsel gegenüberstehen. Wirklich wissenschaftliche Erforschung und wirklich gründliche Erfassung der

so II, 489 durch Hinweis auf Kants Handexemplar der Kr. d. prakt. V., so I, 295 ff. u. I, 487 ff. durch Reproduktion des Briefes Kants an die Kaiserin Elisabeth, so III, 258 ff. durch Hinweis auf den Pillauer Kantfund, so IV, 359 durch Hinweis auf einige bisher unedierte Reflexionen Kants, ferner durch Mit- teilungen vom Autographenmarkt I, 488, II, 888, Il, 602, III, 871, IV, 476 £. Sonstige Mitteilungen brachten wir noch III, 260 und III, 867 (die sog. Hagen- sche Kantsammlung betreffend), ferner III, 371 und IV, 479.

Die neue Kantausgabe: Kants Briefwechsel. 75

grossen Werke der grossen Geister ist doch nur möglich durch Kenntnis der Briefe, der Entwürfe u. s. w., durch die wir in die Quellen und in das Werden und Wachsen jener Werke eingeführt werden. Wie vieles wäre uns an Platon und an Aristoteles ver- stindlicher, wenn solcher Nachlass von ihnen auf uns gekommen wäre! Gewiss, die Wirkung jener Werke ist nicht dadurch bedingt gewesen. Aber das volle wissenschaftliche Verständnis dieser Produkte ist doch nur möglich auf Grund jener Quellen. Von diesem Gesichtspunkte beherrscht, baben schon in den letzten Jahrzehnten zahlreiche Forscher, in erster Linie Reicke, Erdmann, Heinze u. a., eine Reihe von Publikationen aus dem Kantischen Nachlass gemacht, und aus jenen bisher verborgenen Schätzen ist vielfach neues Licht auf Kant und sein Werk geworfen worden. Aber dies alles war an teilweise entlegenen Orten zerstreut, und selbst für den Spezialforscher nicht immer leicht zu erreichen, und so ist es eine höchst dankenswerte That, dass Dilthey, den seine prominente Stellung in Berlin und an der Akademie in erster Linie dazu be- fähigte, ja dazu verpflichtete, jene verschiedenen Kräfte vereinigte und auf einen Punkt konzentrierte. Er verstand es, diese teilweise verschieden gerichteten Kräfte in den Dienst des Ganzen zu stellen. Nach mühseligen und sorgfältigen Vorbereitungen und Beratungen der aus den Herren Dilthey, Diels. E. Schmidt, Stumpf, Vahlen, Weinhold bestehenden „Kantkommission“ wurde zunächst der Plan der Ausgabe festgestellt, welche, wie der Prospekt derselben sagt, »Œie vollständige und reinliche Darbietung alles von Kant Erbaltenen 4€astrebt.“ Nach mancherlei Erwägungen des pro et contra ergab SC h schliesslich als zweckmässigste Gliederung die Scheidung in 4 Abteilungen. _ Die erste Abteilung umfasst die Werke, wie sie von KR zant selbst schon publiziert worden sind, aber entsprechend den =x maligen Verhältnissen leider mit vielen Druckfehlern; so ist denn Xe Hauptaufgabe für diese Abteilung „einen von Versehen möglichst © &reinigten Text darzubieten. Eine weitere Aufgabe für diese Ab- = lung ist, die Varianten der verschiedenen Ausgaben neben einander wa stellen. Kant hat ja, insbesondere bei der Kr. d. r. V., die späteren Ausgaben nicht unwesentlich verändert. Was in den bisherigen Verschiedenen Editionen in dieser Hinsicht geleistet worden ist, musste Vereinigt und dadurch wissenschaftlich nutzbar gemacht werden. Sehr erfreulich ist, dass auch „knappe Erläuterungen“ geboten werden; es sind diese bes. für die naturwissenschaftlichen Schriften

76 H. Vaihinger,

erforderlich, weil der Stand der Naturwissenschaft sich ja seit 100 Jahren ausserordentlich verändert hat. Die Herausgabe der verschiedenen Werke ist an eine Reihe von Forschern verteilt worden, so B. Erdmann, Windelband, Heinze, Adickes, Külpe, Natorp, Kehrbach, Lasswitz, Menzer, H. Maier, Rahts, Schöne.

Die zweite Abteilung umfasst den Briefwechsel. Die Herausgabe hat R. Reicke übernommen. Wie der Prospekt sagt, „konnte hier die in den bisherigen Ausgaben enthaltene Sammlung durch Vereinigung der zerstreut gedruckten und erste Mitteilung der noch ungedruckten Briefe sehr erheblich vermehrt werden“. Die Kundigen wissen, dass das Verdienst hiervon ausschliesslich Reicke gebührt, über dessen Verdienste wir noch nachher zu sprechen haben. Der erste Band umfasst den Briefwechsel bis zum Jahre 1788 inel. Ausser den Privatbriefen werden in dieser Abteilung noch Platz finden der amtliche Schriftverkehr, die öffentlichen Erklärungen, die Verse, die Stammbuchblätter und Ähnliches, sowie ein kritischer Apparat.

Die dritte, von E. Adickes redigierte Abteilung umfasst den ganzen erreichbaren handschriftlichen Nachlass Kants. Aus demselben sind schon früher von B. Erdmann „Reflexionen zur kritischen Philosophie“ und von Reicke „Lose Blätter“ veröffentlicht worden. Dieses Material, vermehrt durch sehr vieles anderes noch nicht gedrucktes, wird hier „geordnet nach sachlichen und chronologi- schen Gesichtspunkten‘‘ neu herausgegeben werden, und es ist zu erwarten, dass dadurch die Kenntnis Kants wesentlich erweitert werden wird.

Die vierte Abteilung steht unter der Leitung von Heinze. (Unter ihm thätig sind Külpe, Schöne und Menzer.) Sie umfasst die Vorlesungen Kants. Es ist bekannt, dass im vorigen Jahrhundert sehr viele Nachschriften von Kants Vorlesungen verbreitet waren. So hat z. B. der Minister v. Zedlitz sich bekanntlich solche ver- schafft. Die Sammlung enthält Physische Geographie, Anthropologie, Encyklopädie, Logik, Metaphysik, Ethik, Religionsphilosophie.

Die Ausgabe umfasst 22 bis höchstens 25 Bände in Oktav. Es ist das Erscheinen von 2—3 Bänden alljährlich in freier Folge beabsichtigt; zunächst gelangen Briefwechsel und Werke zur Ver- öffentlichung.

Es ist vielleicht nicht unzweckmässig, noch zu bemerken, dass jede Abteilung der Ausgabe sowie jeder Band einzeln käuflich ist.

Die neue Kantausgabe: Kants Briefwechsel. 77

Der erste Band des Briefwechsels macht den Anfang der neuen

Kantausgabe. Wir können ihn mit den scheinbar paradoxen Worten begrüssen: Finis coronat opus. Denn hiermit krönt Reicke in der That sein Lebenswerk. Mit einer Treue und Gewissenhaftigkeit ohne Gleichen, mit einer rührenden Hingabe an die Sache hat er seit Jahr- zehnten das Material gesammelt, und nun erlebt er die Freude, dass diese Sammlung den Grundstock bildet zu der neuen monumentalen Kantausgabe. Seine anderen Bemtihungen um Kant konzentrierten sich inmer auf den Punkt, die Briefe von und an Kant in möglichster Vollständigkeit zusammenzustellen. Nun liegt der erste Band dieser Sammlung vor, der die Briefe bis zum Jahre 1788 inclusive umfasst. Der Band enthält nur den reinen Text, und zwar giebt der Abdruck „entweder das Original selbst oder eine gleichwertige Kopie in buchstäblicher Treue wieder; wo keines von beiden mehr erreichbar war, ist der erste Druck zu Grunde gelegt worden.“ Es ist er- freulich, dass durch die Anwendung dieses Grundsatzes der Duft der Altertimlichkeit erhalten geblieben ist. Der kritische Apparat, der die nötigen Erläuterungen bringen wird, wird erst später erscheinen. Es wäre aber Unrecht gegen unsere Leser, wollten wir sie mit einer Übersicht über diesen ersten Band bis dahin warten lassen. Was wir ohne Hilfe des kritischen Apparates schon jetzt mitteilen können, ist des Interessanten genug. |

Der erste Band enthält 320 wirklich vorhandene Briefe von und an Kant und den Nachweis über 100 bisher nicht aufgefundene Briefe. Von jenen 320 Briefen stammen 105 von Kant. Hierbei sind mitgezählt auch die Zueignungsbriefe, die Kant verschiedenen seiner Werke vorangestellt hat. Die Briefe sind streng chronologisch &tordnet. Wir werden im folgenden natürlich nur auf diejenigen Briefe Kants näher eingehen, welche in der allgemein verbreiteten

nsteinschen Ausgabe nicht enthalten sind, auch wenn sie schon anderwärts an weniger bekannten Orten gedruckt sein sollten. Dies gilt auch von den Briefen an Kant, von denen übrigens die meisten heu sind.

I. Bis zum Jahre 1760. Wir besprechen zunächst die Briefe aus der ersten Ent- Wicklungsperiode Kants, also bis zum Jahre 1760. Aus der Kindheit Kants sind keine Briefe auf uns gekommen, Wie das z. B. bei Schiller der Fall ist. Der frühe Tod seiner Eltern trägt wohl hieran die Schuld. Erst aus dem Ende seiner

78 H. Vaihinger,

Studienzeit ist ein Brief erhalten vom 23. August 1749 an einen unbekannten Rezensenten, welchen Kant um eine Anzeige seiner „Gedanken v. d. wahr. Schätzung d. leb. Kräfte“ angeht in der Hoffnung, dadurch „die Welt zu einer genauen und unpartheyischen Untersuchung derer darinn vorgetragenen Gründe aufzumuntern“ (1). Beachtenswert ist der Schluss: „Ich habe noch eine Fortsetzung dieser Gedancken in Bereitschaft die nebst einer fernern Bestätigung derselben andere eben dahin abzielende Betrachtungen in sich be- greifen wird“ (2). Diese Fortsetzung hat Kant, wohl nicht zum Schaden der Sache, später selbst aufgegeben.')

Dieser Brief ist datiert aus Judtschen, wo Kant Hauslehrer war. Aus der ganzen übrigen Hauslehrerzeit ist uns leider nichts mehr erbalten. So sind wir nicht bloss über das äussere, sondern auch das innere Leben Kants aus jener Zeit ganz im Dunkeln. Eine Nachwirkung derselben ist aber zu konstatieren in dem kurzen Briefe vom 10. August 1754 an den Herrn von Hülsen und sein „Fritzchen“.

Der nächste Brief liegt 2 Jahre später. Er ist am 8. April 1756 an König Friedrich IL gerichtet, um denselben „um die durch das Absterben des Seel. Prof. Knutzen erledigte ausserordentliche Profession der logie und metaphysic auf der hiesigen academie an- zuflehen*- (3). Aber der Beginn des 7jährigen Krieges warf schon seine Schatten voraus: die Regierung hatte den Beschluss gefasst, die Extraordinariate nicht mehr zu besetzen. Was hätte Kant wohl gethan, wenn er hätte ahnen können, dass er noch 14 lange Jahre auf eine definitive Anstellung warten musste? Übrigens ist der Brief eine Widerlegung der Schilderung Kants durch seinen späteren Schüler Kraus, welcher behauptet, Kant habe niemals in seinem Leben jemanden um etwas gebeten. Das heilst Kant doch zu sehr nach dem Muster des Philosophen im Platonischen „Theätet“ ideali- sieren. Kant war ein viel zu welterfahrener Mann, um einem solchen nichtigen Stolze zu huldigen. Davon zeugen auch sofort die drei Schreiben aus dem Dezember 1758, in denen er sich um das Kypkesche Ordinariat bewirbt. Das letztere derselben ist an die russische Kaiserin Elisabeth gerichtet und ist in den ,KSt.“ bereits in Band I, Seite 296 (vgl. auch S. 487) veröffentlicht worden.

1) Der Brief bildete einen Bestandteil der Posonyi’schen Sammlung (vgl. „KSt.“ IV, 4, 477); sein Preis war auf 120 Mk. angesetzt. Er befindet sich. jetzt im Besitz von A. Warda in Königsberg i. Pr.

Die neue Kantausgabe: Kants Briefwechsel (1749—1760). 79

Aus dem Jahre 1759 ist uns kein Brief Kants erhalten, wohl aber 3 Briefe von Lindner und 4 von Hamann an Kant. Lindner führt ihm mehrere Schüler „in Philosophia und Mathesi pura“ (6) m und erkundigt sich angelegentlich nach der oft leichtsinnigen Aufführung der verschiedenen an Kant empfohlenen jungen Leute. ch bin erfüllt mit traurigen Ahndungen, so oft ich wen empfehle.“ Er bittet um „avthentike“ Nachrichten, ob die jungen Herren die Collegia besuchen und auch bezahlen (17). Mit Lindner stand Kant auch in litterarischem Austausch, und diesem Umstand verdanken wir einige nicht uninteressante Bemerkungen Lindners über die Ab- handlung von den Winden, von den Erdbeben, insbesondere aber tiber Kants Schrift über den Optimismus vom Jahre 1759. Gegen diese hate Magister Daniel Weymann eine „Dissertatio philosophica de mundo non optimo“ geschrieben vom Standpunkt des Crusius aus, also noch von einem engeren Gesichtskreise aus, als derjenige war, den Kant selbst damals einnabm. Weymanns ,Hauptbatterie“ ist: „dass die beste Welt gegen die Freiheit des göttlichen Willens sey, gerade als wenn es bey Gott beissen müsse: sic volo, sic jubeo, stat pro ratione voluntas“ (22). Lindner steht ganz auf Seiten Kants: „der dtinkt mich, immer besser Gottes Ehre zu verfechten, der seine Weisheit vertheidigt, als der ihm Capricen beilegen will‘‘ (23). Kant selbst hat bekanntlich später diese Schrift, in der That sein Schwächstes Opus, desavouiert. Vielleicht hat dazu beigetragen die Art und Weise, wie Hamann sich über Kants „beste Welt“ lustig machte. Wir können mit vollem Recht sagen „sich lustig machte“. Denn Hamann zeigt sich bier trotz aller seiner Schrullen und Capriolen und „närrischen und wunderlichen Einfälle‘, wie er mit Offenherziger Selbsterkenntnis selbst sagt, im Grunde als der Reifere und Überlegene. Vortrefflich ist folgende Stelle über Gott: „Wenn thm der Pöbel tiber die Güte der Welt mit klatschenden Händen Und scharrenden Füssen Höflichkeiten sagt und Beyfall zujauchzt, Wird er wie Phocion beschämt, und fragt den Kreis seiner wenigen Freunde, die um seinen Thron mit bedeckten Augen und Füssen Stehen: ob er eine Thorheit gesprochen, da er gesagt: Es werde Licht? weil er sich von dem gemeinen Haufen über seine Werke

wundert sieht . . . Ein eitles Wesen schafft desswegen, weil es Sefallen will; ein stolzer Gott denkt daran nicht. Wenn es gut ist, Mag es aussehen, wie es will; je weniger es gefällt, desto besser tes (28). Auch ein anderer Korrespondent namens Dannies findet die Schrift über den Optimismus übrigens „ser krauss“ (31).

80 H. Vaihinger,

Dieselben Briefe Hamanns geben Mitteilungen über eine Schrift, die Kant um jene Zeit plante, eine „Kinderphysik‘, offenbar wieder- um eine Nachwirkung seiner Hauslehrerzeit. Lindner, der praktische Pädagoge, giebt ihm (23) darüber pedantische Ratschläge. Unendlich viel geistvoller ist aber dasjenige, was Hamann darüber sagt, mit dem sich Kant zu diesem Plane verbinden wollte. „Wenn Sie ein Lehrer für Kinder seyn wollen, so müssen Sie ein väterlich Herz gegen Sie haben, und dann werden Sie, ohne roth zu werden, auf das hölzerne Pferd der mosaischen Mähre sich zu setzen wissen. Was Ihnen ein hölzern Pferd vorkommt, ist vielleicht ein gefltigeltes ch sehe. leider, dass Philosophen nicht besser als Kinder sind, und dass man sie ebenso in ein Feenland führen muss, um sie klüger zu machen oder vielmehr aufmerksam zu erhalten“ (27). „Ein philosophisches Buch für Kinder würde so einfältig, thöricht und abgeschmackt aussehen missen, als ein Göttliches Buch, das für Menschen geschrieben“ (19). Hamann schlug Kant vor, die Physik in der Ordnung des mosaischen Siebentagewerkes vorzutragen und macht dazu die Bemerkung: „Da der Plan den Ursprung aller Dinge in sich hält; so ist ein historischer Plan einer Wissenschaft immer besser als ein logischer, er mag so künstlich seyn als er wolle‘ (20). In dieser Stelle spricht sich eine pädagogische Ein- sicht aus, mit der Hamann weit über der rationalistischen Auf- klärungspädagogik stand. Er bekundet seine Einsicht auch in folgendem Satze: „Das grösste Gesetz der Methode für Kinder be- steht also darinn, sich zu ihrer Schwäche herunterzulassen‘ (20). Die rationalistische Pädagogik wollte im Gegenteil die Kinder schon als Erwachsene behandeln. Bei Kant finden sich in seinen späteren Werken Stellen. in denen er jene historische Methode selbst empfiehlt. Er steht darin unter dem Einfluss Rousseaus, aber offenbar hat Hamann ihm dazu den Weg gewiesen. Auch sonst enthalten diese Briefe merkwürdige Stellen, so wenn Hamann sagt: „Die Selbst- erkenntnis ist die schwerste und höchste, die leichteste und eckel- hafteste Naturgeschichte, Philosophie und Poesie“ (8). „Durch Wahrheiten thut man mehr Schaden als durch Irrthümer, wenn wir einen widersinnigen Gebrauch von den ersten machen und die letzten durch Routine oder Glück zu modifieiren wissen“ (12). „Lügen ist die Muttersprache unserer Vernunft und Witzes“ (14). Beachtens- wert sind die Stellen über Spinoza und Hume Seite 13 und 15. Seite 26 sagt Hamann: „Die Natur ist ein Buch, ein Brief, eine Fabel (im philosophischen Verstande) oder wie Sie sie nennen wollen.

Die neue Kantausgabe: Kants Briefwechsel (1760—1770). 81

Gesetzt, wir kennen alle Buchstaben darin so gut wie möglich, wir können alle Wörter syllabiren und aussprechen, wir wissen sogar die Sprache, in der es geschrieben ist Ist das alles schon genug, ein Buch zu verstehen, darüber zu urtheilen, einen Charakter davon oder einen Auszug zu machen?“ (26). Die Stelle erinnert lebhaft an den bekannten Satz aus $ 30 der Prolegomena: „Die reinen Verstandesbegrifie . .. dienen gleichsam nur, Erscheinungen zu buch- stabieren, um sie als Erfahrung lesen zu können.‘ -- Was Hamann von sich selbst sagt, ist charakteristisch für ihn: er sei ein Mensch, ‚dem die Krankheit seiner Leidenschaften eine Stärke za denken md zu empfinden gibt, die ein Gesunder nicht besitzt“ (8). Er verbittet sich, dass man ,.über die Brille seiner ästhetischen Ein- bildungskraft lache, weil er mit selbiger die blöden Augen seiner Vernunft waffnen muss“ (15). Er vergleicht sich selbst mit einem Silen in den merkwürdigen Worten an Kant: „Wenn Sie ein gelehrter Eroberer, ein Bacchus seyn wollen, so ist es gut, dass Sie einen Silen zu Ihrem Begleiter wählen“ (27).

II. 1760—1770.

Mit den 60er Jahren!) tritt Kant in seine zweite Ent- "icklungsperiode, in welcher er von dem Empirismus be- einflusst wird. Aus dem Jahre 1761 ist uns ein kurzer, aber wichtiger Brief erhalten an Borowski vem 6. März, welcher auf jene Wandlung ein interessantes Licht wirft. Kant wohnt medizinischen Operationen bei und sucht die Operation eines blind geborenen Knaben in die Wege zu leiten. Es bezieht sich dies auf die in jener Zeit viel besprochene Frage nach den Gesichtswahrnehmungen der operierten Blindgeborenen und deren Verhältnis zu den Wahr- tehmungsvorstellungen des Tastsinnes ein Problem, das durch

ke in den Vordergrund gerückt worden war. Man vergleiche hierzu den ausführlichen und treffenden Kommentar von Benno Erd- Mann im Arch. f. Gesch. d. Philos. II, 251—254. Sehr bemerkens- wert ist die ethische Wendung, die Kant der Operation giebt mit den Worten: „Dies ist der Fall, wo man nicht anders seine eigene Absichten erreichen kan als indem man die Glückseeligkeit eines andern befördert‘ (32). Über die reiche litterarische Thätigkeit

_ 3) Auffallend ist, dass der 7jährige Krieg in dem ganzen Briefwechsel Me sehr geringe Rolle spielt. Nur Seite 7 und 88 finden sich Anspielungen sf denselben.

Kantstudien V. 6

82 H. Vaihinger,

Kants um jene Zeit erfahren wir aus dem Briefwechsel leider weni; Der Brief an Formey vom 28. Juni 1763 und dessen Antwort vol 5. Juli beziehen sich auf die Preisschrift, die nachher im Jahre 176 veröffentlicht wurde. Bemerkenswert ist die Stelle: .„‚Ich bin vo dieses günstige Urtheil um desto empfindlicher, je weniger dies Piece dazu durch die Sorgfalt der Einkleidung und der Verzierunget hat beytragen können, indem eine etwas zu lange Verzögerung mi kaum so viel Zeit übrig lies, einige der beträchtlichsten Gründe obne sonderliche Ordnung über einen Gegenstand vorzutragen, welcher schon seit einigen Jahren mein Nachdencken beschäftigt hat und womit ich anjetzo mir schmeichle dem Ziele sehr nabe zu seyn“ (391 Aus diesem Grund bittet Kant um die Erlaubnis, „einen Anhang beträchtlicher Erweiterungen und einer näheren Erklärung“ hinz- zufügen, was ihm gestattet wird. Zwei Jahre später beginnt auch der schon bekannte Briefwechsel mit Lambert Der erste Briel Lamberts an Kant, der bisher nach dem Konzept Lamberts gedruckt war, ist nun hier in seiner definitiven Redaktion, wie ihn Kant er- halten hat, mitgeteilt. Die Änderungen sind beträchtlich. Weniger kommt in Betracht, was in dem definitiven Brief hinzugesetzt ist (S. 49 unten u. 50 oben). Dagegen ist das, was weggelassen oder wenigstens bis zur Unkenntlichkeit verkürzt ist, gerade dasjenige, was bisher als das Wesentlichste galt und die Methode der Philo- sophie betrifft (2. Hartensteinsche Ausgabe, Band VIII, S. 653/4). Aus dieser früheren Redaktion musste man zu allerlei Schlüssen aul die Beeinflussung Kants durch Lambert geführt werden. Dies missen nun nicht unwesentlich korrigiert werden. Hauptsächlich fehlt folgender Satz: „Sodann glaube ich, man thue besser, wen! man anstatt des Einfachen in der Metaphysik das Einfache in der Erkenntnis aufsucht.“ Ebenso fehlt der Satz: Raul und Dauer ist kein yenericum; es ist nämlich nur ein Raum wi eine Dauer, so ausgedehnt auch beide sein mögen.“ Lambert ba sich also in dem Briefe zurückhaltender ausgedrückt, als er w sprünglich beabsichtigte. Auch der Brief Lamberts vom 3. Februs 1766 weist Abweichungen vom Text des Konzepts auf; doch sin dieselben nicht von Bedeutung. Der Briefwechsel mit Mendelssohr der im Jahre 1766 geführt wurde, ist unverändert abgedruckt. - Aus demselben Jahre stammt ein Brief von einem gewissen F. Kaulk an Kant in schlechtem Französisch, aber von interessantem Inhal Kaulke, der in Berlin zur Kur weilt, giebt Kant eine Menge vo Mitteilungen über Rousseau, für den sich Kant damals ja besonder

84 H Vaibinger,

wechsels aus dieser Zeit beschlossen. Es hängt das wohl auch da- mit zusammen, dass Kant. wie er im Brief an Herder (70) von sich selbst gesteht, „im Schreiben sehr nachlässig* war. Im Freunde- kreis Kants muss das bekannt gewesen sein; denn Herder schreibt (75): „Ich kenne Ihre Ungemächlichkeit zu schreiben‘, und auch Kaulke sagt in seinem schönen Französisch: ..Vous et moi sont dans le même cas de n'aimer guere à éerire des lettres (561.

Für die Biographie Kants enthält der Briefwechsel der 60er Jahre manches Interessante. Mehrere Briefe beziehen sich auf ein Thema. das in der Korrespondenz des vorigen Jahrhunderts eine grusse Rolle spielte: die _HofMeïster-. Es ist natürlich, dass Kant, der selber diese Stellung eine Zeit lang bekleidet hatte, in dieser Hinsicht Vertrauensmann für viele Familien und Hofmeister wurde. Dahin zielen die Briefe No. 18. 21. 22. 23. 25. Einer der Brief- schreiber. namens Busolt. welcher lateinisch korrespondiert, schreibt ma: _Doles. quod Te mdestia adfect. Te. qui tot curis. tot negotw grauissimis distentus riuis” (S. 334 Kant wird wohl dazu seufzend genickt haben. In dem Briefwechsel spielt die Beschäftigung der „reichen jungen Baron“: saltatio. equitatio. lingua Gallica, studium gladiatoriam. Klavier spielen u. s. w. eine grosse Rolle. Natürlich nimmt auch das .Salarium* und .Honorarium eine gebtibrende Stelle ein Eine Hauptaufgabe war für Kant für adlige Häuser zur ..HofMeister Stelle’ „ein anständiges subjectam* zu _recommen- diren (35). Auch werden solche „reiche junge Barons~ nachher dem „Herrn Magister Kant: empfohlen. wenn sie auf die Universität kommen. Das Idea! ist dabei. dass sie mit Kant ..in einem Hause logiren und an einem Tische speisen“ (381; speziell vom Bruder Kants liegt eine solche Empfehlunr vor. Der betr. Brief beginnt mit dem famosen Satze: „Mein Bruder! Ists denn gar nicht möglich eine Antwort zu bekommen. bald werde ichs machen müssen wie (sellert mit seinem faulen Freunde. ich will dir nächstens, wen dieser Brief eben so glücklich sern wird als seine Vorgänger selbst eine Antwort an mich aufsetzen. Du darfst alsdann nur deinen Nahmen unterschreiben und ihn so wieder zurückgehen lassen, be qvehmer kan ich es wirklich nicht einrichten. Doch dismahl wirstu schen deine Nachlässigkeit überwinden müssen. mein Anliegen is cringend und leidet keinen Aufschub“ (37 38. Eine starke Za- mutung an ..den Herin Magister Kant‘ war aber jedenfalls, wenn er. der selber am Hungertuche nagte. in solchen Empfehlungs schreiben ersucht wurde. den Studenten die Kollegien gratis zu

Die neue Kantausgabe : Kants Briefwechsel (17601770). §5

geben (30). Auch mit Damen stand Kant in Korrespondenz. Dafür zeugt ein amtisantes Briefchen vom 12. Juni 1762 ,,auss dem garten“ (37) von einer gewissen „Jacobin“: „Ich Mache ansprüche auf Ihre gesälschafft Morgen Nachmittag, Ja Ja ich werde kommen, höre ich sie sagen, nun Gutt, wir erwarten sie, dan wird auch meine Uhr aufgezogen werden, verzeihen Sie mir diese erinnerung Meine Fretindin und Ich tberschicken Ihnen einnen Kuss, per Simpatie“. Die Stelle über die Uhr erläutert sich durch die be- kannte boshafte Bemerkung Kants über die Frauen, mit deren Ge- lehrsamkeit es sei wie mit ihren Uhren: sie hätten wohl welche, sie seien aber niemals aufgezogen. Was den Kuss betrifft, so dürfen wir dahinter „nichts Schlimmes“ suchen: denn die betr. Dame ist glücklich verheiratet, wie aus ihrem Briefe vom 18. Januar 1766 hervorgeht; aber mit dem Küssen nahm man es im vorigen Jahr- hundert bekanntlich nicht sehr genau. Sonst ist aus dieser Zeit nur noch die Bewerbung um die Stelle eines „Subbibliothecarii bey der hiesigen Schlos-Bibliothek‘ (46) zu erwähnen, auf welche sich zwei Briefe aus dem Oktober 1765 beziehen. Charakteristisch für die straffe Konzentrierung der Staatseinrichtungen ist, dass zur Bewerbung um eine solche geringe Stelle (60 rthlr.) ein Immediatgesuch an den König notwendig war:') „so ergehet mein allerunterthänigstes An- suchen an Ew: Königl: Majestät mir durch conferirung dieser Stelle so wohl eine erwünschte Gelegenheit zum Dienste des gemeinen Wesens als auch eine gnädige Beyhtilfe zur Erleichterung meiner sehr misslichen Subsistenz auf der hiesigen Academie angedeyen zu lassen‘‘ (46). Kant war ja noch immer „Magister legens auf der Königsbergsch: Universität“, wie er sich einmal unterschreibt (39).

Doch gegen Ende des Jahres 1769 beginnt sich für Kant, der bisher „in beschwerlichen Umständen“ (79) gewirkt hatte, der Hori- zont seiner Aussichten zu bessern. Er ist allmählich ein berühmter Mann geworden. Schon wendet man sich an ihn mit der Bitte um Biographie und Verzeichnis seiner Schriften (76), und vom Oktober dieses Jahres an spielt die Frage der Berufung nach Erlangen. Für Kant lag die Sache etwas peinlich. In Königsberg selbst eröffnete sich durch die langwierige Krankheit des Professors Langhansen „ein sich hervorthuender Anschein einer vielleicht nahen vacance hiesigen Orts“ (79), und gerade zu derselben Zeit kam eine Anfrage

1) Auch zur Dimission von der Stelle bedurfte es später (1772) einer eigenen Eingabe an den König (No. 66).

S56 H. Vaihinger.

von Erlangen. ob Kant einer eventuellen Berufunz Folge leisten würde. Die Berufung wurde hauptsächlich veranlasst durch den Erlanger Kurator von Seckendorf. welchen die Lesung der unver- gleiehlichen Beobachtunzen über das Gefühl des Schönen und Er- babeneo- (52) für Kant eingenommen hatte. Auch war über Kants Persönlichkeit jedenfalls durch einen Hofmeister namens Ziegler, welcher livländische Barone führte, und der von Königsberg kam. Günstiges gemeldet worden ı30 321. Kant erklärte sich zur An- nahme des Kafes vorläufig bereit. Als aber der Ruf im Dezember wirklich an Kant kam. sah er sich doch genötigt, ..die mir zuge- dachte Ehre und Versorgung gehorsamst zu verbitten- (79). Eswar | für ihn nicht leicht, jetzt diese Ablehnung zu motivieren. Aber er war in einer Lage. in welche Professoren nieht selten geraten, und zog sich mit grossem Geschiek aus der Affaire. Genau in dieselbe Lage zeriet er einen Monat später. im Januar 1770, durch eine vor- läufige Anfraze aus Jena (53). auf welche aber die Antwort nicht erbalten ist Zwei Monate später. am 15. März. starb der oben genannte Lanzbansen. Man kann es unter den eben geschilderten Verhältnissen Kant nicht verübeln. wenn er schon am 16. März sich an den Minister von Fürst wendet, von dessen „wohlwollender und weiser Beurtheilung er das vermuthliche Glück seines Lebens“ (87:88) erwartet. und sich dabei auf die Ablehnung der Erlanger Professur beruft. Dasselbe ist der Fall in dem Briet an den König vom 19. März. und schon am 31. März verfügt der König dureh eine Kabinettsordre die Ernennung Kants _zum Professore Ordinario der Loge und Metaphysic bey der Philosophischen Facultaet Unserer Universität zu Aönigsberg in Preussen- (89) mit dem üb- lichen Auftrage. er solle „tüchtize und cescbickte Subjecta zu machen sich bemühen (90)

IL 1770-1781

Mit dem Jahre 1770 beginnt in Kants Leben. wie in singe geistigen Entwicklung eine neue Periode. Es kommt ZU, ne das fruchtbare Jahrzehnt der ‘Ver Jahre. Das Jahr 1770 wy die dem König gewidmete Inauguraldissertation und eine Hn reiche mit ihr zusammenhängende Korrespondenz, von der der is Teil, der Briefwechsel mit Herz, Lambert. Mendelssohn schon Iy0® ist. Neu ist der Brief ven Herz an Kant vom 11. Septemy\ eh

195). Dieser erste Brief von Herz eröffnet zugleich die . zahlreichen Briefe ven Schülern Kants, welche mit ein, ape

+ (

Die neue Kantausgabe: Kants Briefwechsel (1770—1781). 87

Überschwängliche grenzenden Verehrung und Dankbarkeit den ge- nossenen Unterricht rühmen. Herz bedauert freilich, dass sein „theurster Lehrer sich unpässlich befindet“ und meint, er soll die Last seiner Collegien verringern. Ihm sei diese starke Vortrags- thätigkeit schädlich, zumal Kant „mit so vieler Anstrengung“ vor- trage. „Es giebt ja Lehrer in Königsberg die von Morgen bis Abend sitzen u. ihr Mund bewegen, ohne dass sie jemals über ihre Leibesbeschaffenheit zu klagen haben“ (97). Charakteristisch ist folgende Stelle von Herz: „Ohne Ihnen wurde ich noch jezo gleich so vielen meiner Mitbrüder gefesselt am Wagen der Vorurtheile ein Leben führen, das einem jeden viehischen Leben nach zu setzen ist; ich wiirde eine Seele ohne Kräfte haben, ein Verstand ohne Thätig- keit“ u. s. w. (95). Ausserdem enthält derselbe Brief eine anschau- liche Schilderung einer vierstündigen Disputation mit Mendelssohn über Kants Dissertation (96). Neu ist auch der Brief von Sulzer (106ff.), welcher natürlich auch als Leibnitzianer an Kants Begriff von Zeit und Raum Anstoss nimmt, im Übrigen aber eine interessante Frage aufwirft: „Worin besteht eigentlich der physische oder psycholôgische Unterschied der Seele die man Tugendbaft nennt von der, die Laster- haft ist“ (107)? Kant hat leider dieser Frage nie die gebtihrende Aufmerksamkeit gewidmet.

In den 70er Jahren strömt der Briefwechsel reichlicher als früher. Besonders zahlreich sind die Briefe aus den Jahren 1774, 1777 und 1778. Eine Hauptrolle spielt in dieser Zeit der schon bekannte Briefwechsel mit Herz. Neu sind dazu nur einige Briefe von Herz an Kant hinzugekommen; die meisten sind leider verloren. Interessant ist ein Brief vom 9. Juli 1771: Herz hatte durch seinen Freund Friedländer gehört, „dass Sie kein so grosser Verehrer der speckulativen Weltweisheit mehr seyn als Sie es vormals waren“ (119). „Wie, dachte ich, war das also blosse Täuschung von meinem Lehrer, dass er mir bey so mannigfaltiger Gelegenheit den Wert der Metaphisick so sehr anpries“ (119)? Die Schwierigkeit, in welcher Herz sich befindet, entstand durch die schwankende Be- deutung des Ausdruckes „Metaphysik“, die ja bis in die späteste Zeit fordauert. In dem Briefe selbst wird im Anschluss an Kant die Schwierigkeit gelöst, indem Metaphysik als die Lehre von den Grenzen der Erkenntnis definiert wird. Ein anderer Brief von Herz stammt aus dem Jahre 1778, in demselben Ton der Begeisterung wie die früheren. Noch immer ist es Kant, „der beständig im Mittelpunkt meines Kopfs u. meines Herzens sitzt und residirt“

88 H. Vaihinger,

(227). Herz macht Mitteilungen über seine Vorlesungen: „Ich ver- kündige heute bereits zum zwanzigsten mahl ofentlich Ihre philoso- phische Lehren ınit einem Beyfall, der über alle meine Erwartung gehet‘‘ (227). Er bittet Kant um Nachschriften seiner Metaphysik. Hierauf bezieht sich auch ein bisher unbekannter Brief Kants an Herz vom Januar 1779 (S. 230). Ein anderer dankbarer Zuhörer, der aber im Hofmeisterberuf stecken geblieben ist, ist H. G. Wielkes. In einem interessanten Briefe aus Leyden vom 18. März 1771 schildert er anschaulich die holländischen Verhältnisse und erzählt dabei folgende „FratzenGeschichte‘: Swedenborg kam damals öfters nach Leyden. „Daher hat letzthin die Theologische Fakultät (o es giebt hier so gut fromme Narren als in Deutschland) eine förmliche Ambassade an ihn geschickt um ihn fragen zu lassen ob Socrates und Marc aurel im Himmel oder in der Hölle wären. Schwedenborg haf sie alle vorgefunden, allein nach seiner Aussage haben die guten Leute die keine Christen haben seyn können einen besondern Himmel in dem man sich nicht in dem Grade vergnügen kan als in dem Aufenthalt unserer heutigen Seeligen‘‘ (115). Wielkes, der mit Ruhnken, dem Freund Kants, in Verbindung stand, hofft, dass Kant sogar Leyden besuchen wiirde: „Ihr ehemaliger Vorsatz Engelland einmal zu besuchen giebt uns sogar einige Hofnung“ (115). Schade, dass die dadurch mögliche Begegnung zwischen Kant und Sweden- borg nicht zustande gekommen ist. Derselbe Wielkes schreibt später an Kant (1779 und 1780) nicht uninteressante Briefe aus Moskau (S. 241 und 245).

Weit wertvoller ist nun aber die Korrespondenz Kants mit Lavater, welche wohl zu dem Bedeutendsten gehört, was dieser Band bietet. Die Anknüpfung, welche Lavater mit Kant fand, besteht darin, dass ein junger Schweizer, namens Sulzer, in- folge allerlei schlechter Streiche nach Königsberg verschlagen worden war, Soldat wurde und nun von seinen bemittelten Ver- wandten losgekauft werden sollte. Lavater bat Kant um seine Ver- mittlung. In seinem ersten Briefe (8. Februar 1774) stellt er sich gleich als einen langjährigen Verehrer Kants vor und fragt: „Sind Sie dann der Welt gestorben? warum schreiben so viele, die nicht schreiben können und Sie nicht, die’s so vortreflich können? warum schweigen Sie bey dieser, dieser netien Zeit“ (142) u. s. w.? Kant muss ihm darauf von seinem Vorhaben der Kr. d. r. V. Mitteilung gemacht haben.!) In einem zweiten interessanten

1) Darauf, dass Kant damals über dieses sein „vorhabendes“ Werk sich

Die neue Kantausgabe: Kants Briefwechsel (1770- -1781). 89:

Briefe vom 8. April 1774 schreibt Lavater: ,Auf Ihre Critik der reinen Vernunft bin ich a: viele meines Vaterlands sehr be- gierig.“ Im übrigen hat er offenbar den Titel ganz falsch ver- standen als eine Ästhetik nach den Prinzipien der reinen Vernunft. Am Schluss bittet er zu sagen, „ob Sie meine eigentliche Meynung vom Glauben und Gebeth für die Schriftlehre halten, oder nicht“ (159). Dieser sonderbaren Frage verdanken wir die beiden äusserst. merkwürdigen Briefe Kants an Lavater aus dem April 1775: „Sie verlangen mein Urtheil über Ihre Abhandlung vom Glauben und dem Gebethe. Wissen Sie auch an wen Sie sich deshalb wenden? An einen, der kein Mittel kennt, was in dem letzten Augenblicke des Lebens Stich hält, als die reineste Aufrichtigkeit in Ansehung der verborgensten Gesinnungen des Herzens und der es mit Hiob vor ein Verbrechen hält Gott zu schmeichlen u. s. w.“ (167/8). Kant entwickelt dann weiterhin der Sache nach dieselben Ansichten, die er in der „Religion innerh. d. Gr. d. bl. V.“ später aufgestellt. hat. Formell eigentümlich ist dem Briefe die Unterscheidung zwischen der ,Grundlehre des Evangelii“ und der „Hülfslehre“ desselben. Die ,,Grandlehre“, d. h. die Lehre Christi ist der „moralische Glaube‘‘,. d. i. „das unbedingte Zutrauen auf die göttliche Hülfe, in Ansehung alles guten, was, bey unsern redlichsten Bemühungen, doch nicht in unserer Gewalt ist“ (169). Zur „Hülfslehre des Evangelii“ gehören alle „neutestamentische Satzungen“. „Nun fällt es sehr in die Augen: dass die Apostel diese Hülfslehre des Evangelii vor die Grundlehre desselben genommen haben“ . ..; sie haben, „statt des heiligen Lehrers praktische Religionslehre als das wesentliche anzupreisen, die Verehrung dieses Lehrers selbst und eine Art von Bewerbung um Gunst durch Einschmeichelung und Lobeserhebung desselben, wowieder iener doch so nadrücklich und oft geredet hatte, ange-- priesen“ (170). Diese Methode, die „den damaligen Zeiten besser angemessen war als den unsrigen‘“, muss nun aber als „Gerüste wegfallen“ (169). „Ich suche in dem Evangelio nicht den Grund meines Glaubens, sondern dessen Bevestigung‘‘ (171); denn Religion kann mir nichts auferlegen, „was nicht schon durch das heilige Gesetz in mir, wornach ich vor alles Rechenschaft geben muss, mir

nündlich und schriftlich vielfach äusserte, lässt auch der Brief von G. D. Hart- mann schliessen, dem er „so Manches aus der Kr. d. r. V. erzählt hat“ (161). „Mich dtinkt“, sagt dieser Hartmann, „das Resultat von allem, wird die mir immer mehr sich darstellende Grundwahrheit seyn, dass für die ganze Menschen- elasse etwas wahr seyn kann, was für niedere oder höhere nicht ist“ (161).

90 H. Vaihinger,

zur Pflicht geworden ist“ (171). „Diese Glaubenslebre . . . lässt von dem unendlichen Religionswahn, wozu die Menschen zu allen Zeiten geneigt seyn, nichts übrig, als das allgemeine und unbestimmte Zutrauen, dass uns dieses Gute, auf welche Art es auch sey, zu Theil werden solle, wenn wir, so viel an uns ist, uns durch unser Ver- halten dessen nur nicht unwürdig machen“ (172). Lavater dankt kurz für diese „lehrreichen Winke“, aber erst ein Jahr später, ob- gleich er in einigen Stücken anders denkt (177). Interessant ist noch eine Schilderung Lavaters durch den Herzog von Holstein-Beck, welchen Kant an Lavater empfohlen hatte (175).

Weniger fruchtbar, wenn auch nicht uninteressant ist der Brief- wechsel mit Hamann. In zwei Briefen an Hamann vom April 1774 müht sich Kant ab, in den Sinn von Herders Forschungen über „die Älteste Urkunde des Menschengeschlechts“, d. h. die mosaische Schöpfungsgeschichte einzudringen. Es ist eigentlich verwunderlich, dass Kant, der sich später in seiner Anthropologie über Zahlenmystik so lustig macht, und der zu gleicher Zeit in den Briefen an Lavater sich über die „neutestamentischen Satzungen“ so erhaben zeigt, sich mit diesen alttestamentlichen Phantasien Herders so eingehend ab- giebt. (Speziell die 7-Zahl wird von Herder in einer haarsträubenden Weise ausgedeutet.) Es erklärt sich dies nur aus dem allgemeinen Mangel jener Zeit an historischer Kritik. Herder fasst bekanntlich die mosaische Schöpfungsgeschichte nicht als theoretisches Dogma auf, sondern als Specimen göttlicher Didaktik, d. h. als einen „Ab- riss der ersten Unterweisung des Menschengeschlechts* durch Gott selbst also eine originelle Umkehrung jener pädagogischen Be- trachtung Hamanns, die wir oben S. 80 kennen gelernt haben, Im Übrigen lohnt es sich nicht, auf die Sache näher einzugehen nennt doch auch Haym die betr. Schrift Herders „ein wunderliches Werk, die unreifste der theologischen Schriften der Bückeburger Zeit“. Auch die beiden Briefe von Hamann tiber dasselbe Thema sind voll Wunderlichkeiten, obgleich Kant Hamann ausdrücklich ge- beten hatte, „womöglich in der Sprache der Menschen“ zu reden. „Denn ich armer Erdensohn bin zu der Göttersprache der an- schauenden Vernunft gar nicht organisirt“ (148). Bemerkens- wert ist nur noch aus dem zweiten Briefe von Kant eine nicht damit in Verbindung stehende scharfe Äusserung über den Gegensatz zwischen der philologischen und theologischen Behandlungsweise der orientalischen Studien (152 f.).

Im März 1776 beginnt der reiche Briefwechsel, welcher sich

Die neue Kantausgabe: Kants Briefwechsel (1770—1781). 91

auf das Philanthropin bezieht. Diesem gehören folgende Briefe von Kant an: No. 98 (an Wolke), 99 (an Basedow), 103 (an Regge), 109 u. 110 (an Campe), 123 (an Crichton), 125 (an Wolke); ferner folgende Briefe an Kant: No. 100 (von Rode), 104 (von Regge), 105 u. 107 (von Ehrmann), 118 (von Campe) und 129 (von Wolke). Besonders interessant ist gleich der erste Brief von Kant an Wolke in welchem er das Söhnchen seines Freundes Motherby der Anstalt empfiehlt. Er schildert die Erziehung dieses Söhnchens, welche offenbar unter dem Einflusse Kants selbst ganz nach Rousseauschen Prinzipien vollzogen worden war: die Erziehung ist rein negativ, die Natar soll sich ohne Zwang entwickeln, Religion darf nur eine natürliche Erkenntnis von Gott sein, nicht aber Gunstbewerbung u 8 w. Andachtshandlungen kennt das Kind noch nicht. Mit diesen Grundsätzen stimmt Kant ganz dem Philanthropin bei, für welches er bekanntlich sehr eingenommen war. Er ist mit ganzer Seele „Theilnehmer an einer Sache, deren Idee allein das Herz auf- schwellen macht‘ (220). Die Anstalt verdiene „den Danck der ganzen Nachwelt“ (181). Wie sehr ihm die Sache am Herzen lag, beweist der Umstand, dass er sogar seine Arbeit an der Kr.d.r. V. ausgetzt, um eine pädagogische Abhandlung zu liefern (200 u. 203). Das bisher schon bekannte Schreiben an Crichton vom 29. Juli 1778 erhält jetzt eine amüsante Beleuchtung durch den Brief an Wolke vom 4. August 1778: „Dieser sonst gelehre Mann hat sich zeither nicht sonderlich günstig vors Philanthropin erklärt und, da sein Ur- theil, theils durch seine weitläuftige Bekanntschaft, theils die Zeitung, welche er ietzt in seiner Gewalt hat, meiner Ihnen gänzlich ergebenen Gesinnung ein grosses Hindernis in den Weg legen könte, so habe ich, statt des fruchtlosen Controvertirens, das schmeichelhaftere Mittel ergriffen diesen Mann auf Ihre Seite zu ziehen, nämlich dieses, dass ich ihn zum Haupte Ihrer hiesigen Angelegenheiten machte. Dieser Versuch ist mir gelungen. . .. Denn, die, so ihren Beyfall ver- Weigeren, so lange sie nur die zweyte Stimme haben, werden ge- Meiniglich ihre Sprache änderen, wenn sie das erste und grosse ‚ort führen können“ (220/1). Man sieht, Kant war auch im Leben Ein Vertreter der „pragmatischen Anthropologie“. Aus dem Briefe von Rode vom 7. Juli 1776 sei die Stelle angeführt: „Basedow Schreit nun mehr als jemals über die Trägheit der Menschen zu SUten Wercken; und eifert aus allen Kräften wieder die Lehre: dass Man ohne gute Wercke, allein durch eine gute Portion Glauben, S€radesweges im Himmel. eingehen könne“ (182).

92 H. Vaihinger,

Damit haben wir das philosophisch Interessante aus dem Brief- wechsel der 70er Jahre ausgezogen. Aber auch sonst enthält der- selbe Vieles, was für Kants Biographie sowohl als für die Kultur- geschichte jener Zeit von Wert ist. Charakteristisch für den Über- schwang der Zeit ist z. B. ein Briefchen von Feder, das erste und letzte. Aber gleich heisst es: „Nehmen Sie meinen Dank und ewige Freundschaft von mir an“ (235). Ein Jahrzehnt später gründete Feder eine eigene Zeitschrift gegen Kant. Verhältnismässig wenig bieten die vier Briefe vom Minister von Zedlitz (No. 115, 117, 120, 124). Sie beziehen sich auf Nachschriften von Vorlesungen Kants und auf den Ruf nach Halle (,,Sehn Sie ein mal wie viel gute Leute, und dann das (‘entrwm vom gelehrten Deutschland, das bessere Clima als dort an der OstSee“ 213); ferner spricht er S. 219 von der Vorliebe der Studenten für die „Brodt-Collegia“ (219). Auch die Briefe von Kraus (No. 126 u. 134) bieten nur Persönliches. Sie sind aber ein efrreuliches Zeugnis für die warme Liebe, mit welcher die Schüler Kants ihren Wohlthäter verehren. Zumal Kraus hatte besonderen Grund, Kant dankbar zu sein, welcher bestrebt war, seine Hypochondrie zu heben (231, 232). Die Briefe stammen aus Berlin, wo Kraus dem Minister v. Zedlitz über die Kantische Philosophie Mitteilungen machte. „In dem Abglanz dieser beiden erkennen wir Ihr Licht“ schreibt Biester an Kant (237). Aus Berlin ist auch ein anderer Brief eines ehemaligen dankbaren Zuhörers datiert, des Predigers Lüdeke: „Ihnen allein habe ich die aufrichtigste Charte von dem so verwachsenem Gefilde der Philosophie zu danken und es bestätigt mir jezt meine tägliche Erfahrung das, was mir Sulzer sagte, als ich bey meiner Zurtikkunft in Berlin meinen Unwillen darüber aeusserte, dass ich T%eologie hatte in Königsberg studieren müssen „Danken Sie Gott dafür,! was sie an theol. Reich- „tiimern verloren haben, haben sie dadurch gewinnen können, dass „sie einen Kant genüzt haben. Das wird ihnen auch dereinst in „der Theologie viel helfen“ (246/7). Von dem Bruder Kants bietet diese Zeit fünf Briefe (No. 69, 92, 94, 96, 114). Im ersten (aus dem Jahre 1773) klagt er, dass er nun 15 Jahre in Kurland „beim Schul-Joche‘“ sei, nämlich als Hofmeister; 2 Jahre später kann er seinem Bruder melden: „Ich bin an die Mietuusche grosse Schule als Conrector placiret worden“ (172). Ausserdem meldet er ibm in rührenden Worten seine Verheiratung. ‚Ich bin glücklicher als Du mein Bruder. Lass dich durch mein Beyspiel bekehren. Der Celibat hat seine Annehmlichkeit, so lange man jung ist. Im Alter muss

Die neue Kantausgabe: Kants Briefwechsel (1770—1781). 93

verheyrathet seyn, oder sich gefallen lassen, ein mürrisches riges Leben zu führen“ (172/3). „Doch einen solch verhärteten ron wie Du bist, wird mein Beyspiel ehelicher Zärtlichkeit nicht en“ (174). Im Jahre 1778 schreibt er ihm: „Ich bin noch immer or; das heisst auf Zeitlebens, zur galere condemnirt . . . Meine ı küsset Dich so inbrünstig, als es sich nur in Gedancken thun * (206). Eine Rolle spielt in dieser Zeit noch immer die rgung von Hofmeistern. Sehr charakteristisch ist dafür und auch ınderer Hinsicht der Brief der Charlotte Amalie v. Klingspor, v. Knobloch (122). Man wird etwas ernüchtert, wenn man , welche Orthographie diese adlige Dame besass, an welche t sein bekanntes Schreiben über Swedenborg im Jahre 1763 lete. Auch Wielkes bittet Kant von Moskau aus um Besorgung s Hofmeisters. Auch eine „Gouvernantin‘“ sollte der arme Kant rgen! „Mein Vertrauen wird nicht fehlschlagen; von einem schenkenner darf man einen Vorschlag erwarten der alle Wünsche trift“ (204). Der Graf Keyserling verlangt ein Gutachten über Erziehung zweier junger Polen (234). Kant bemüht sich, annte auch sonst unterzubringen. So empfiehlt er einen Herm anovski zum Auditeur (145), einen andern Kandidaten zum prediger (204). Auf eine Militärbefreiungsaffäre bezieht sich Brief No. 102. Seinen Schützlingen giebt Kant auch gerne tische Regeln. So empfiehlt er speziell dem Kandidaten Regge vergl. 199) eine „Dampfmachine, wozu er die Kräuter aus zig so nahe hat und das Seltzerwasser mit Ziegenmilch“ (199). selbst werden vielfach Studenten u. s. w. empfohlen. Hierauf then sich die Briefe No. 68, 89, 106, 137, 147 (vgl. No. 95 u. . Kant muss allerlei Besorgungen machen. So besorgt er n Herrn von Lossow einen Tubus (S. 85) und Brillen (204). Entgelt muss derselbe Herr einem Schützling Kants Empfehlungs- e mitgeben (85). Mit ebendemselben scheint er auch politische irichten ausgewechselt zu haben (S. 86). Es kommen nun rlich auch allerlei litterarische Ansinnen an ihn. Wieland fordert auf, an seinem Mercur mitzuarbeiten (131). Amüsant ist, was land dabei über das Honorar sagt (132). Engel wünscht Beiträge einem „Philosopben* (237 f.). Der Verleger Breitkopf verlangt, wlle seine Abhandlung über die verschiedenen Menschenrassen einem Buche ausarbeiten (211). Auch der Herausgeber eines lenzimmer-Journals belästigt den Geplagten (143). Er soll ferner ichten abgeben über neue Werke und Zeitschriften (S. 144,

94 H. Vaihinger,

vgl 162). Hermes in Breslau verlangt. dass er für Recensionen seiner Predigtentwürfe sorge. Einem Andern soll er Bücher besorgen (205). Ein Anonymus aus Tübingen C. F. R. wünscht Belehrung über den Unterschied des sinnlicb Schönen und verständlich Schönen; nur das erste scheint ihm relativ. das zweite aber absolut. Eine grosse Rolle spielt im vorigen Jahrhundert in der Gelehrten-Korrespondenz die Zumutung. für neue Werke Subskribenten zu sammeln. Darauf zielen die Briefe No. 67. 74. 55. 103. 104. 109. 116, 123, 140. Wenn man bedenkt. dass Kant ein sehr geselliges Leben führte veine Invitation zu einer Spazierfahrt ist erhalten: S. 173), so kann man sich nur wundern. dass Kant in dieser Polypragmosyne noch die Zeit und Ruhe fand. sein grosses Werk zu vollenden, oder viel- mehr. man wundert sich nicht. dass es so lange Zeit zur Vollendung brauchte, und dass es so viele U’'nebenheiten zeigt. Man muss dabet noch bedenken, dass Kant auch nach vielen andern Seiten hia wissenschaftliche Interessen hatte. Zeusmisse dafür sind die Briefe No. 142 und 143, deren ersterer das Stadium naturrechtlicher Werke bezeugt. deren zweiter sich auf die Frage bezieht, ob „Anno 17

das Fahrenheid’sche Thermometer 10—12° unter O stand“ (243).

IV. 1781—1788.

Mit dem Briefe No. 148. der Zueiznungsschrift an den Minister v. Zedlitz. treten wir in das reiche Jahrzehnt der SOer Jahre; in das Zeitalter der Kr. d. r. V. Nea ist der wichtige Brief 39 Marcus Herz vom 11. Mai 17S1 über dieselbe. Darin heisst es u. a. (252)- „Meines Theils habe ich nirgend Blendwerke zu machen gesuch* und Scheingründe aufgetrieben. um mein System dadurch 2% flieken. sondern lieber Jahre verstreichen lassen, um zu einer vo“ endeten Einsicht zu gelangen. die mir vüllig genug than könnte. - Sehwer wird diese Art Nachtorsehung immer bleiben. Denn sie en®“ hält die Metaphysik von der Metaphysik“ eine äufsers® tretfende Kennzeichnung der Kr. d. r. V. In dem Briefe an BiesteF vom 8. Juni I7S1 sprieht er u. a. von den Druckfehlern des Werke und von der Absicht, Erläuterungen zu demselben zu geben.

Mit No. 156 19. August 13811 beginnt der wichtige Brief- weehsel mit Johann Schulte: Kant überreicht ibm ein Recensions- exemplar der Ar. dr \, Es dauert aber über 2 Jahre, bis Schultz die gewünschte Musse fand, die .Critick in ihrem Zusammenhange durvheudenken (328) Er lest Kant seine Reeension zur Prüfung vor, ob er seinen Sinn getroffen habe, und erhebt zugleich die Frage:

Die neue Kantausgabe: Kants Briefwechsel (1781—1788). 95

nist nicht in den 4 Classen der Categorien jede dritte schon ein von den beiden erstern abgeleiteter Begrif?“ (327), was er näher susführt. Kant antwortet in zwei bisher unbekannten Briefen, No. 191 u. 192. Er fordert Schultz auf, seine Arbeit „nicht unter der Menge Recensionen anderer Art gleichsam vergraben“ zu lassen (328), sondern „eine vor sich bestehende piece’ (330) daraus zu machen; er findet in den verständnisvollen Darstellungen von Schultz eine Tröstung „für die Kränkung, fast von niemand verstanden worden zu seyn“ (329).!) In dem Umstand, dass Schultz von selbst auf jene Bemerkung bezüglich der dritten Kategorie kam, findet er mit Recht ein Anzeichen des tiefen Eindringens desselben in die kritischen Fragen; er entwickelt im Zusammenhang damit die Idee einer Ars characteristica combinatoria, deren Nacbwirkung wir in der 2. Auflage der Kr. d. r. V. in dem § 11 unter den „artigen Betrachtungen“ finden. Schultz ist nun freilich der Meinung, „dass gedachte dritte Categorie aus jeder Classe der Categorien weg- genommen, und leztere also um den dritten Theil vermindert werden müsten, indem ich unter einer Categorie bloss einen Stammbegriff verstehe, der von keinem andern weiter abgeleitet ist“ (332). Neu und wertvoll ist die Antwort Kants an Schultz, S. 343 ff. Da „den Gegnern nichts erwtinschteres geschehen kan, als wenn sie Uneinig- keit in Principien antreffen“ (345), giebt er sich grosse Mühe, Schultz davon zu tiberzeugen, dass trotzdem die dritte Kategorie eine selb- ständige Stellung einzunehmen habe. Der ganze Passus ist von fündamentaler Wichtigkeit für die Frage; wir können ihn aber hier leider nicht in extenso abdrucken, sondern müssen den Leser auf die Stelle selbst verweisen. Ein mindestens ebenso wichtiger Brief, gleichfalls eines der wertvollsten Stücke des ganzen Bandes, steht am Schlusse desselben (No. 318). Er ist datiert vom 25. No- Vember 1787. Schultz, mit seinem grossen Werk „Prüfung der Kantischen Kr. d. r. V.“ beschäftigt, hatte Proben davon an Kant Segeben und ihm darin das Bedenken gemacht, „dass Arithmetik She synthetische Erkentnis a priori, sondern bloss analytische ent- Alte“ (528). Kant will durchaus nicht Fehler vertuschen ‚oder Qurch Partheymachen und Beredungen Blendwerke machen, sondern, hier so wie allerwerts, das: Ehrlich währt am längsten zum Wahl- Spruche nehmen‘ (528). Aber da er von der Richtigkeit seiner An- m

1) Charakteristisch ist für das Schwanken in Bezug auf den Ausdruck „Metaphysik“ eine Stelle in dem Briefe No. 192 (S. 829), wenn man sie ver- &leicht mit dem, was Kant in dem Briefe an Garve sagt, S. 818.

Car} H Vaibiager.

sieht überzeugt ist. sucht er auch Schultz diese Uberzengung bei- rabrinzen. Ans seinen ausführlicben Erorterangen sei folgende sruélesende Stelle angeführt: _Von eben derselben Grösse kan ich mir. curch maücherlev Art der Zusammensetzung und Trennung, nerdes aber. sowohl Addition als Subtraction ist Synthesis) einen Bezrif machen. der obiectiv zwar identisch ist ı wie in jeder Aeqvation) subieetiv aber. nach der Art der Zusammensetzung. die ich denke, tm zu ienem Berrife zo celanzen. sehr verschieden ist. so. das cas Unie über der Bezrif. den ich van der Svnthesis habe, aller- dimes titans cebt. indem es eine andere Art derselben ı welche ei- fier uni der Construction acsemessener ist an die Stelle der erstere seut die zieichwoh, immer das Obieer auf eben dieselbe Art siert. == kan ich dareh 3 5 dereh 12 4 durch 2.4 éareh 2? ra siserles Bestomerz einer Grosse = S gelangen. Allen in meinem Gedanken 3 3 war doch der Gedanke 2.4 gar nicht eathalien: eher s> weniz also such der Berrif von 8 welcher mit Werder eineriev Wert bar «52s 9 Derseibe Brief behandelt die wiebüse Frage. 25 die Zabier ais mice Gresenbestimmungen vol der Zeit abbänzen Kant verzeist dies: Sie Zahl ist „eine reine inteuevtuelle Svatiesis die wir ons in Gedanken vorstellen‘. aber zur sinnlichen Arwbacen derselden beide es der sinnlichen Sactession a. s. w Zum Nvhics sei cach ein kleines Billet an Schaitz erwähnt ‘in. acs lem wir sehen im IL Bande der „kSt“. S. 110 einen Passes arzerährt baden Es bezieht sich auf die Mercelssoansehe Mecaiie mit em sehiefen Turm von Pisa.)

Die Briere. die sieh auf den Garre-Federschen Handel wie Resprechuns cer Kr & 7 V in den Güninser Gelehrten Ar teiient berieben, sind sebon Desacıt: Na Ist und 157. Auf der selben Handel nehmen auch 2 Brieie var Spalding Bezug: No. 185 vu 180: vel aueh No 2:

An Meudelsseha hatte Kart >ekacctieh dureh M. Herz ein Exemplar der Nr. dr. \. seßicken iassen : 246. Dass Mendelssohn „Wegen seiner Nervensehwaches vgl NS 40%) das Bach zur Seite legte DST war ebenfalls bekannt iz esem Sinne schreibt Mendiessehn seihst an Kant: olor Aerisis cer reinen Vernunft ist Cte mich ein Ariteriam der Gesundheit. N: oft ich mir sehmeichele, an Krafen sugencmmen zu Saden, wace I: mich an dieses Nerver- saftverzehrende Wera, und ich it rise gaus ohne Hoffnung, es in

Ununmeihar darauf teas cm Biles an Hippel in weichen er Silhouetten vou RR CE ANNE, wit deren Austicug er ater nieht cass mafriedem ist

Die neue Kantausgabe: Kants Briefwechsel (1781—1788). 97

diesem Leben noch ganz durchdenken zu können“ (288). Die lange Antwort Kants an Mendelssohn vom 16. August 1783 ist bekannt. Unter dem 16. Oktober 1785 sendet Mendelssohn an Kant seine „Morgenstunden“: „Ob ich gleich die Kräfte nicht mehr habe, Ihre tiefsinnigen Schriften mit der erforderlichen Anstrengung zu studiren, so weiss ich doch, dass wir in Grundsätzen nicht übereinkommen. . Allein ich weiss auch, dass Sie Widerspruch vertragen, ja dass Sie ihn lieber haben als Nachbeten‘ (389). Derselbe Brief meldet von dem Angriff Jacobis „Über die Lehre des Spinoza, in Briefen an Moses Mendelssohn“. ,,Diese Schrift des Hrn Jacobi ist ein seltenes Gemisch, eine fast monströse Geburt: der Kopf von Göthe, der Leib Spinoza, u. die Füsse Lavater’ (390).') Auf diese beiden Schriften bezieht sich nun ein grosser Teil der weiteren Kor- respondenz.

Die „Morgenstunden“ betrifit ein Brief Kants an Schtitz vom November 1785 (No. 237), wiederum eine der wichtigsten neuen Gaben dieses Bandes. „Obgleich das Werk des wtirdigen M.[endels- sohn] in der Hauptsache für ein Meisterstück der Täuschung unserer Vernunft zu balten‘ sei (405), so sei es doch und eben darum aus- gezeichnet dazu geeignet, eine Bestätigung der Kr. d. r. V. zu hieten; denn die vollendete Prüfung ergebe, „dass hier Illusion sich ein- mische ... Dieses letzte Vermächtniss einer dogmatisirenden Meta- physik‘ sei „zugleich das vollkommenste Product derselben‘ (406). Kant wiederholt hier das schon in der Kritik d. r. V. gebrauchte schöne Bild, dass die Vernunft mit dem Gottesbegriff wie mit einem „Schlusssteine ihrem freyschwebenden Gewölbe Haltung gebe“ (405). Durch Missverstand war die Nachricht verbreitet worden, Kant wolle Mendelssohns ‚Morgenstunden‘ widerlegen. Darauf bezieht sich der Brief von Jakob, „Magister in Halle“ vom 26. März 1786. Er fragt an, ob diese Zeitungsnachricht richtig sei und erbietet sich, nötigen Falls eine eigene Schrift gegen Mendelssohn zu schreiben. Der Brief, der auch das Verhältnis vou Ding an sich und Erscheinung berührt, bietet manches Interessante. „Man sieht die Kritik als ein grosses Thier an, das man zwar fürchtet, dem man sich aber doch nicht anvertrauen mag. Ja die Vorliebe zu dem alten System ist so gros, dass Philosophen von grossen Talenten, wo nicht öffentl. doch heimlich der Kritik das Urteil sprechen, u. weil sie sich vor

1) Ähnlich Biester in einem Briefe an Kant (894): „Wahrlich ein seltsamer Brief! der von Philosophie handeln soll, und mit einer Stelle aus Lavaters engel- reinem Munde schliesst, die das Glauben vorschreibt!“

Kantstudien V. 7

98 H. Vaihinger,

dem Umsturz des Gebäudes, worinnen sie bisher so sicher zu wohnen vermeinten, fürchten; so suchen sie auch andre zu tiberreden, dass dasselbe feuerfest sei, u. man deshalb schon alle Angriffe, a. pr. für kraftlos ansehen könnte. Besonders schreckt man die jungen Leser durch die Beschreibung des undurchsichtigen Vorhangs ab, der vor das Heiligtum Ihrer Gedanken gezogen sein soll“ u. s. w. (414/5). Neu ist auch Kants Antwort an Jakob vom 26. Mai 1786. Er ermuntert Jakob, „die Mühe zu tibernehmen, die Fruchtlosigkeit dieser Arbeit, der reinen Vernunft Grenzen auf dieser Seite zu er- weitern, zu zeigen“ (427), und erbietet sich zu den bekannten „Be- merkungen“, die in Jakobs Buch im Anschluss an die Vorrede ab- gedruckt wurden. Die Antwort von Jakob steht unter No. 256. Sie enthält u. a. die Stelle: „Es schien mir nicht ganz unntitz zu sein, die Resultate der Kritik fasslich zu machen, um dadurch die Begierde auf das Buch selbst zu erregen u. durch Deutlichkeit des Vortrags das Vorurteil des Schweren und Unbegreiflichen zu zerstören. Denn HE E.[berhard] sagt immer noch laut, dass er Sie nicht verstehe und schreckt dadurch alle Junge Leute vom Lesen ab“ (435). Aus demselben Jahr stammt ein weiterer Brief von Jakob, in dem er gesteht (444), „dass ich alles Gute und Wahre, was ich gesagt babe Ihnen schuldig bin“. Er bittet Kant, seinen Einfluss darauf anzuwenden, dass die nunmehr vollendete ,Prüfonæ der Mendelssohn’schen Morgenstunden“ nicht von einem „steife = Dogmatiker“ beurteilt werde; denn von den „Anhängern der alte = Schule“ sei nur „zu offenbar, dass sie leidenschaftlich gegen alle erhitzt werden, was ihre Idole angreift“ (444). Übrigens meldet— Jenisch am 14. Mai 1787 aus Braunschweig, Mendelssohns „Morgens stunden“ würden allgemein belächelt. „Der ein und achzigjährige Jerusalem selbst sagte neulich zu mir: ‚ich bin zu alt, um Kantess# „nach-zuspeeuliren: aber sein Aufsaz in der Berliner Monatschri@## „über das Orientiren ist das Echo meines Glaubensbekenntnisses= „die Mendelsohnschen Beweise a priori sind nur Nekkereyen de— „gesunden Menschenverstandes, der durch die Kantsche Philosophi- - „sich gerächt sieht‘ (462). Vgl. übrigens auch den Brief vor Kraus (S. 461).

Auf die Jacobi-Mendelssohnsche Affaire bezieht sich ein anderer Teil der Korrespondenzen. Schon Schütz ist über die Mis= verständnisse Jacobis, welcher Kant mit Spinoza zusammenstell#1 empört (407), vollends aber Herz gerät ausser Rand und Band : „Was sagen Sie denn zu dem Aufruhr der seit und tiber Moses Toad

Die neue Kantausgabe: Kants Briefwechsel (1781—1788). 99

unter Predigern und Genies, Teufelsbannern und possigten Dichtern, Schwärmern und Musikanten begint, zu dem der GeheimRath zu Pimplendorf das Zeichen gab? Wenn doch ein Mann wie Sie diesem lumpigten Schwarm ein einziges ernsthaftes: stille da!: zuriefe; ich wette, er wirde zerstreut wie Spreu vom Winde“ (408/9). So hetzt er Kant gegen die „gegenwärtigen und vermuthlich noch auf- stehenden unvernünftigen Jacobiten“ (409). Kants Antwort hierauf vom 7. April 1786 ist bekannt. „Die Jacobische Grille ist keine ernstliche, sondern nur eine affectirte Genieschwärmerey, um sich einen Nahmen zu machen, und ist daher kaum einer ernstlichen Widerlegung werth“ (419). Doch stellt er in Aussicht, „etwas in die Berl. M. S. einzurticken, um dieses Gaukelwerk aufzudecken‘. Da diese Absicht aber nicht sogleich ausgeführt wurde, schreibt Biester, der Herausgeber der „Berliner Monatsschrift“ einen grossen, 5 Druckseiten füllenden, Brief an Kant (11. Juni 1786), in dem er es ihm energisch als Pflicht vorhält, gegen die von Jacobi und seinem Anhänger Wizenmann, dem Verfasser der ‚Resultate‘, erregte Gefahr aufzutreten und gegen die „stolze, hochfahrende, diktatorische Art“ (431) der Genieschwärmer, an deren Spitze „der seltsame Jacobi“ steht, „der um sich nur wichtig zu machen sich alles erlaubt“, dessen Ton nachher auch „unedel arrogant, kindisch eitel, verächt- lich egoistisch“ genannt wird (432). Besonders ärgerlich ist Biester darüber, dass Jacobi Kant insofern zum Genossen machen will, als Kants Lehre in Bezug auf den Gottesbegriff in theoretischer Hin- sicht zum Atheismus führe, woraus er die Notwendigkeit ableitet, sich einem schwärmerischen Glauben rtickhaltlos in die Arme zu werfen. Man sieht, dass hier ein wichtiges Kantproblem berührt ist. Eiuige Wochen später hat Biester den gewünschten Aufsatz „Was heisst: sich im Denken orientieren?“ Der Brief, in dem er Kant seinen Dank ausspricht, enthält die charakteristische Stelle: „Die Geniesucht ist an allem diesen Unheil Schuld; u. Ruhm u. Ehre dem Helden, der diese Hydra erlegt!“ (439.)

Mit dem 10. Juli 1784 beginnt: der wichtige Briefwechsel mit Schütz. Er stattet Kant seinen „wahren, innigen und herzlichen Dank ab für die tägliche Nahrung des Geistes“, die ihm die Kr. d. r. V. gewährt (369). „Ihre Werke sind nicht aywvicpata Es To magayonpa, sondern xt7jpata ic dei... Die Critik liegt mir am Herzen. Es haben sich verschiedne Commentatoren angeboten, die es popular machen wollen. Wenn dies unter Ihrer Oberaufsicht ge- schieht, so habe ich nichts dagegen. Sonst aber fürcht ich, dass

7%

100 H Vaibinger.

man Ihr Buch. wie die Bibel. unzälichemal falsch exegesiren und paraphrasiren werde . . . Ich habe in versehiednen meiner Collegien sebon Aufmerksamkeit fähiger Köpfe darauf zu lenken gesucht; und be- sonders Stellen. wie S. 753— 756. =. 312 u f. (bey deren Lesung ich Sie gern hätte adoriren mögen! ihnen vorgelesen- «371/2). Übrigens enthält der Brief auch einige Ausstellunsen an der Kr. d.r. \. Ein weiteres Schreiben von Schütz vom 23. August 1784 bezieht sich auf die Recension der Henierseben _Ideen zur Philosophie der Geschichte der Merschteit- curch Kant Schütz wünscht Kant lances Leben. .um selost sehn zu können. quid arbores a te satae ser! Sean prosmf 13741 Ein weiterer Brief von Sehütz ist datiert vom is. Februar 1755 and berichtet über die Recension: -Hr. Heri. soll sehr empfindlich darüber gewesen seyn. . . . Hätte ich Herders Buch cesehricben. ich winie stolzer auf Ihre Kritik ern. als auf das elende Lobo-wasehe seichter Köpfe . . . Glauben Sie mir Ihr Wers wirkt im NMiien mehr. als Sie vielleicht denken“ 1375 Ein weiterer Brief vom m September 1785: Ich würde versebens Ausdrücke sachen. wenn ich Ihnen die Frende schildem sollte. mit der ich [hre Grondiersung z M. d. NX in die Hände nahn, und das Interesse, mit der ich sie zeiesen. and die Befriedigung mit der ich sie aus der Hand se hade . . . einige Stellen haben mich sams hingerissen™ «3NS$ 5.5) Die rächen beiden Briefe von Schütz stammen aus dem November 1753. Der zweite erzäbit aller-

“Ey

> Weierea Eindruck genie de .Grandiecung zur Metaphrsik der Sitten“ au! weiter: Aresse semsacht Sac à: ekspnt Dayemea war der Widersprucb ia den Fachireisen sebr tus Va S ES Jakob. 458 .Ewerbeck), 4681. Jeniseh „Im rade | sir Masavivsis der Sitten, mein Herr Prof, finit aagieich mehr Widersprach acter fen tWelrèren von meiner Bekanntschaft, 35 thee Crteik, und man will sich nau ‘gin? Shertencem lassen, dass die Natur de Moral auf se tieren Gründen das ashe .. Ihr Rezensent in de deutsenen RiNinides soi Provinz Pistoctis ag’ Femam sevn der Uebersesse! des Hardey wine Resezstoa ihrer vriadage ete. ob sie gleich, bei aller svèe aaa Stream ud uel nic wei lan weil die Köpfe in der Moral nn ema duh Peps ATMS Verses sont views Vatänger zefunden® . Dagege? Baden steh auch sehr omtbuscastisete Selen u. von Hnfeland, S. 889: „Die Vrnadiezung hag memes Fracatuas Jas Vendeus die ganze Sittlichkeit zu erst fest seemiades 4. ade, uml aie wu weäüchiir für umser Geschlecht. von der Spemiiatma a) sur lhasaien oo: mia“ so von Erhard, S. 424: „.sse Metaphy sia der Anten verte ame cams mt Ihnen. ein Wonnegefübl sms wir Ant ae Goeder we os lek ir dee Stunden erinre da ich sie sum enteamal cass nad ieh ro Canon À © V so vortreflich vorbereitét hattes Vet meet S a8 und AU.

Die neue Kantausgabe: Kants Briefwechsel (1781—1788). 101

lei Universitätsgeschichten aus Jena, die sich auf die Kantische Philosophie beziehen (S. 399). Dahin gehört auch die Geschichte im Briefe vom Februar 1786: „Wie fleissig hier die Studenten bey Ibrer Kritik der reinen Vernunft sind, können Sie daraus abnehmen, dass vor einigen Wochen sich ein Paar Studenten duellirt haben, weil einer dem andern gesagt, er verstünde Ihr Buch nicht, sondern müsste noch 30 Jahr studiren eh ers verstünde, und dann noch andere 30, um Anmerkangen dariiber machen zu können“ (407). Mehr Geschiftliches behandelt der Brief vom 3. November 1786. Die beiden nächsten Briefe stammen aus dem März 1787. Ein wichtiger Brief von Schütz ist noch der vom 23. Juni 1788: „Die Lectüre Ihrer Critik der praktischen Vernunft hat mich wahrhaftig beseligt“. Nichtsdestoweniger macht Schütz eingehende Einwände gegen Kants Schematismus in derselben, den er anders gewendet wissen will (514 ff.).

Mit dem 5. März 1785 beginnt der Briefwechsel mit Bering: „Seitdem ich mit Ew. Wohlgeb. Critik d. r. V. bekannt geworden, ist in meinen Vorstellungen eine sehr grosse Veränderung vorge- gangen“ (376), eine Versicherung, welche wir auch von anderen Correspondenten häufig wiederholt finden. Der Brief gipfelt in der Frage: „Da Ew. Wohlgeb. selbst versprochen haben ein System der Metaph. der N. zu liefern und, nach meiner Ueberzeugung es auch nur allein liefern können: so begreiffen Ew. von selbst die Sehnsucht, mit welcher ich jeden Messcatalog, ob dieses Werk heraus- gekommen, durchsucht habe“ (377). Mit einem weiteren Briefe vom 24. September 1785 sendet Bering eine Dissertation an Kant (386). Nen und wertvoll ist Kants Antwort vom 7. April 1786::- „Sie be- liebten mich zu fragen: wie bald wohl meine Metaphysik heraus- kommen möchte. Jetzt getraue ich mich nicht vor zwey Jahren ihre Erscheinung zu versprechen. Indessen wird doch, wenn ich bey Gesundheit bleibe, etwas, was eine Zeitlang ihre Stelle vertreten kann, nämlich eine neue,' sehr umgearbeitete Auflage meiner Critik, in Kurzem (vielleicht nach einem halben Jahre) zum Vorschein kommen... Ich werde auf alle die Misdeutungen, oder auch Un- verständlichkeiten, die mir binnen der Zeit des bisherigen Umlaufs dieses Werks bekannt geworden, Rücksicht nebmen“ u. s. w. (418).') So werde „es beinahe in jedes Einsehenden Vermögen stehen, ein

1) Die 2. Aufl. der Kr. d. r. V. bildet auch sonst mehrfach den Gegen-

stand der Korrespondenz. Vgl. S. 422 und 465 (von Bering), 427 und 472 (an Jakob), 445 f. und 456 (von Schütz), 466 (an Schütz), 472 (von Campe).

19 H Vaihinger.

System der Metaphysik darnach zu entwerfen“ (113). Kant ermahnt Bering. sein Talent zur „Berichtigung der Ansprüche der ihre Grenzen so gern überschreitenden speculativen Vernunft anzuwenden, hiemit aber die immer sich regende Schwarmerey. die jene Ansprüche zu ihrem Vortheil nutzt. niederzudrücken. obne jedoch dem seelen- erbebenden. theoretischen sowohl als praktischen Gebrauche der Ver- nanft Abbruch zu than und dem faulen Scepticism ein Polster unter- zulegen. Sein Vermögen und doch zugleieh die Grenze seines Gebrauchs bestimmt erkennen. macht sicher. wacker und entschlossen. zu allem. was gut und nützlich ist 14181. Bering antwortet am 10. Mai 1736 und meldet am 21. September 1786 das berüchtigte Verbot der Vorlesungen über Kantische Lehrbücher in Marburg.’ Auch sei der philosopbischen Facultät aufgegeben worden. „binnen 'j, Jahre zu berichten: was von des Kants Schriften über- haupt zu halten. insbesondere ob solche zum Scepticissmo Anlas gäben mithin die Gewissheit der menschlichen Erkentniss unter- grüben > (442.1 Der Brief vom 25. Mai 1787 meldet: „Das Ver bott, über Ihre Schriften Vorlesungen zu halten. ist noch nicht auf- gehoben“ (464 f.). Bering ist traurig. dass er beim Durchlesen de Leipziger Messkatalogs „das nicht fand. was ich nun schon so lange gewünscht. nemlich das System der reinen spekulativen und der pracktischen Philosophie. Möchte es Ihnen doch gefallen uns bald damit zu beschenken. Wer sollte es auch ausser Ihnen wagen tin solches zu liefern? (465). In welche Verlegenheit Kant durch diese häufige Frage nach diesem System seiner Metaphysik gebracht worden ist, ist ja hinreichend bekannt. Charakteristisch ist, dass er kurze Zeit darauf. im September 1787. in einem Brief an Jakob einen kurzen Plan zu einem System der Metaphysik hinwirht Derselbe deckt sich natürlich vollständig mit der Kritik d r. V. Es ist deshalb nicht recht verständlich, was Kant damit meint, wenn er sagt, er wolle, wenn er mit der Kritik des Geschmacks „sein kritisches Geschäft“ geschlossen habe, „zum dogmatischen fort schreiten.“

Der Briefwechsel mit Jakob, den wir soeben berührt babel, wurde auch schon bei Gelegenheit der Mendelssohnschen „Morgen stunden“ erwähnt, wo der Brief Jakobs vom 26. März 1786 und die Antwort Kants vom 26. Mai 1736 schon besprochen wurden, sowie die weiteren Briefe von Jakob vom 17. Juli und vom 25. October 1786.

1) Am 28. Mire 1787 erkundigt sich Schütz bei Kant über das „faotın in Marburg“: „list es wirklich wahr, so ist es eine wahre Prostitution“ (466).

Die neue Kantausgabe: Kants Briefwechsel (1781—1788). 103

Ein weiterer Brief von ihm ist datiert vom 28. Juli 1787. Darin heisst es u. a.: „Ich habe nun schon zweimal über Schulzens Auszug privafissime gelesen, u. habe das Vergnügen gehabt zu sehen, dass alle gute Köpte Ihr System glücklich gefasst haben, ob ich gleich noch nicht im Stande bin alle dennoch damit verbundenen Schwierig- keiten wegzuräumen“ (468). Eine solebe Schwierigkeit deutet er in den Worten an: „Mich dünkt doch es hängt noch e. Zweideutigkeit in den Ausdrücken in und ausser, welche die Theorie erschwert“ (470). In demselben Briefe fragt er nach der zweckmässigsten An- ordnung der Vorlesungen über Logik und Metaphysik. Darauf dient der vorhin erwähnte Brief Kants an ihn vom 11. September 1787 als Antwort. Auf Jakob und seine Annalen beziehen sich übrigens auch Briefstellen von Reinhold (S. 499 u. 502).

Der Briefwechsel mit Herz aus dieser Zeit bietet wenig Neues

ausser dem schon erwähnten schönen und wertvollen Briefe von Kant an Herz vom 11. Mai 1781. Von Herz selbst stammt ein Brief vom 25. November 1785, in dem es u. a. heisst: „Ha! das waren Zeiten, da ich so ganz in der lieben ruhigen Philosophie und ihrem Kant lebte und webte, da ich mit jedem Tage mich voll- kommener und gebildeter als den Tag vorher fühlte“ (402). Die Stelle ist insofern interessant, als sie wohl eine der ersten Stellen ist, in welchen der Ausdruck „gebildet“, welcher nachher durch Schleiermacher und Schlegel verbreitet und an Stelle des bis dahin beliebten „aufgeklärt“ gesetzt wurde, vorkommt. Im Übrigen klagt Herz: „Die Zeiten sind vorüber, nun ist alles anders. Das praktische medicinische Leben ist das unruhigste und beschwerlichste für Geist und Körper‘‘ (402). Aus dem Briefe von Herz vom 27. Februar 1786 führten wir schon in anderem Zusammenbange den Ausfall gegen „die Jacobiten“ an. Derselbe Brief enthält folgende Bemerkung über sein Buch „Versuch über den Schwindel“: „Sie sehen, theurster Mann, ich bin kein ganz Abtrünniger von Ihnen, bin vielmehr ein Ueberläofer der noch Ibre Uniform trägt, und bey andern Mächten, nicht Ihren Feinden, Ihren Dienst einzuführen sucht“ (408). Neu ist auch der Brief von Kant an Herz vom 24. Dezember 1787, der aber nichts sachlich Bedeutsames enthält.

Zu den schon bis jetzt bekannten Briefen an Reinhold bieten die nun veröffentlichten Briefe von Reinhold selbst eine willkommene Ergänzung. Besonders schön ist gleich der erste Brief von Reinhold an Kant vom 12. Oktober 1787. Erentdeckt sich ihm als den Verfasser der anonymen Entgegnung auf die Kantische Recension der Herderschen

104 H. Vaihinger,

Ideen, beruft sich aber zugleich auf seine schon begonnenen Briefe über die Kantische Philosophie: Das Studium der Kr. d. r. V. habe eine „heilsame Revolution“ in seinem ,,Gedankensysteme“ vollbracht, durch welche Kant „der grösste und beste Wohlthäter, der je ein Mensch dem andern war und seyn kann“, an ihm geworden sei (475). „Ich abndete, suchte und fand in der Kritik d. r. V. das kaum mehr für möglicb gehaltene Mittel, der unseeligen Alternative zwischen Aberglauben und Unglauben tiberhoben zu seyn. Beyde Seelen- krankheiten babe ich in einem seltenen Grade durch eigene Erfahrung kennen gelernt“ (475). „Ich fragte mich zuweilen selbst, ob es denn nichts weiter als ein stisser Traum sein soll, wenn ich mich berufen glaube, eine der Stimmen in der Wüste abzugeben, welche die Wege des zweyten Immanuels bereiten sollen?“ (476.) Er meldet, dass Ulrich, der früher Kant näber stand, seit seinem eigenen erfolgreichen Eintreten für Kant sich immer mehr zum Gegner Kants aufgeworfen habe. So kündigte Ulrich in diesem Sinne „ein polemisches Kollegium zum Vortheil seiner ovtm¢ orrwv über die Kr. d. r. V. an“ (476) und beschuldigte Reinhold, „mit dem Kantischen Fieber behaftet“ zu sein (477). Interessant ist auch der ausführliche Brief vom 19. Januar 1788. Reinhold freut sich der durch Kant „gestifteten Eintracht zwischen Kopf und Herzen“ (496) eine Zusammenstellung, die im vorigen Jahrhundert bekanntlich sehr beliebt war (vgl. S. 258). Mit Bezug auf den 7. u. 8. seiner Briefe über die Kantische Philosophie, in denen er die griechischen Schulen hinsichtlich der rationalen Psychologie zu entschuldigen suchte, macht er die Bemerkung: „Ich werde in Zukunft noch öfters mit dem Schlüssel der Kr. d. V. der- gleich. Räthseln in der Geschichte des menschlichen Geistes auf— schliessen“ (498). Er macht allerlei interessante Mitteilungen über” Jenenser Universitätsverhältnisse. Dasselbe ist der Fall in dem Briefe vom 1. März 1788.

Aus dem Briefwechsel mit Jenisch wurde schon oben S. 98 u. 100 einiges angeführt. Aus seinem Brief vom 14. Mai 1787 ist folgende Stelle von Wert: „Die Briefe über ihre Philosophie im Merkur haben die eindringlichste Sensation gemacht, und alle philo- sophische Köpfe Teutschlands scheinen seit den Jacobischen Händeln, den Resultaten und diesen Briefen aus ihrer Gleichgtiltigkeit gegen alle speculative Philosophie . . . zu der lebhaftesten Theilnehmung für Sie, mein Herr Prof., aufgeweckt zu seyn“ (462). Ein anderer Brief desselben Korrespondenten vom 25. August 1786 gibt eine interessante Schilderung von Berlin. Es heisst da u. a.: „Von den

| Die neue Kantausgabe: Kants Briefwechsel (1781—1788). 105

; Einwohnern Berlin’s getraue ich mir überhaupt zu sagen, dass hier | dem Beobachter gleichsam eine offene Menschen-natur vor Augen | liegt: die Seelen der Menschen scheinen hier alle mehr nach aussen

mu wirken. So sehr auch ,,Mancherley“ das Motto von Berlin ist, s ist doch dies der Haupt-ton darin. Die Ursachen davon sind klar: u. der neue Hof wird diese Stimmung u. diesen Berlinismus noch mehr befördern, so spricht’s wenigstens alle Welt“ (441). (Über die „Berlinische Denkungsart“ vgl. auch den Brief von Biester vom ll. Juni 1786, S. 431.)

Der Briefwechsel mit Biester, welcher schon mit einem Briefe von Biester vom 11. April 1779 beginnt, weist seitens Kants leider mur einen einzigen Brief auf vom 8. Juni 1781: Vgl. oben S. 94; der Brief enthält auch einige Bemerkungen tiber das Verhältnis seiner „Naturgeschichte des Himmels“ zu Lambert. Von Biester stammen ferner die Briefe No. 220, 231, 238, 242, 255, 257, 300, 307. Sie betreffen die Beiträge Kants zur Berliner Monatsschrift, so besonders 8. 393 „den vortreflichen Aufsatz über die Geschichte der Mensch- keit“ u. 8. w. („Das ist ein Stück der erhabensten edelsten Philo- wphie, die wahrhaft erbaut und die Seele erhebet“) und allerlei Berufungs- und Empfehlungsfragen. (Biester stand mit dem Minister v. Zedlitz in-naher Verbindung.) Derselbe Brief vom 8. November 1785 giebt einige Auszüge aus griechischen Schriftstellern über den Stein Swgpçorsorye, den heilenden Stein, den Minerva auf die Rasen- ' den wirft (vgl. S. 433), welche beweisen, wie sorgfältig Kant auf die Quellen zweifelhafter Nachrichten einging. Den Brief No. 255

Yom 11. Juni 1786 haben wir schon oben erwähnt (vgl. oben S. 99).

Im Briefe No. 300 heisst es: „Ibre Arbeiten bewirken eine allgemeine

Aufklärung der wichtigsten Begriffe u. eine heilsame Revolution in

der Denkart für Welt u. Nachwelt“ (504). Im Briefe No. 307 vom

10. Juni 1788 spricht er „von Ihrer treflichen, Geist-stärkenden und

Herz-erhebenden Kritik der praktischen Vernunft“ (512).

Von Spalding stammen die Briefe No. 185, 189, 298. Er bekennt sich als inkompetent für die Beurteilung der Kr. d. r. V. (313): „Aber der Mensch und der Moralist kann doch auch dem Nicht- Seweiheten ehrwürdig seyn“. Im Briefe No. 298 schreibt Spalding Rach Empfang der Kr. d. pr. V.: „Wenn mich gleich das behauptete Unvermögen der speculativen Vernunft, das Daseyn von etwas Ueber- Sinnlichem zu beweisen, durch die Furcht beunruhiget hat, dass ich Mir damit etwas müsste aus den Händen winden lassen, das ich so

ge in dem sichersten Besitze fest zu haben glaubte und daran

106 H. Vaihinger,

mir zu viel gelegen ist, als dass ich es jemal mit Gleichgtiltigkeit sollte verlieren können, so muss ich es darauf ankommen lassen, ob diese alte Art der Sicherheit von andern besser geschützt werden, oder ich mich mit dem Beweise aus dem Bedürfnisse zu einer immer völligern Beruhigung, familiarisiren kann. Desto mehr bergegen hat das meiner Seele wohl gethan, was Sie, vortrefflicher Mann, in Ansehung des Grundes der Moralität in ein so helles und ehrwürdiges Licht gesetzt haben. Schon in meinen jüngern Jahren konnte ich mich mit dem Glückseligkeitsprincipium in der Sitten- lehre nie recht vereinigen‘ u. s. w. (501). Spalding weiss Kant vielen Dank, dass er „die Tugend in ihrer wahren, nackten und desto ehrfarchtwtirdigern Schönheit, als Recht und Gesetzmässig- keit, auf den ihr gebührenden höchsten Thron fest gesetzt und jeden noch so liebkosenden Usurpator davon verdrängt“ hat (502).

Eine Reihe von Korrespondenten sind nur mit einem Briefe vertreten. So Ulrich, der am 21. April 1785 Kant sein Buch zu- schickte „Institutiones logicae et metaphysicae“. Folgende Frage trifft ins Schwarze: ,,Gesezt, der Gegner räumt mir ein: Nach dem Begriff der Erfahrung, den Sie sowohl in der Critik der r. V. als noch mehr in den Prolegomenen, festgesezt haben, sind die Categorien, z. E. die der Ursache, und der Grundsaz der ursachl. Verbindung, die Bedingungen selbst der Möglichkeit solchartiger Erfahrung; Er läugnet mir aber, dass der Mensch auf Erfahrung in der Bedeutung Rechnung und Ansprüche marhen dürfe, wie soll ich Ihm da kurz und gründlich begegnen?“ (378.) Wie wunderlich klingt’s aber dann, wenn Ulrich erwartet, dass „Ew. Wohlgeb. [diesen Zweifel] vielleicht mit 2 Worten zu heben im Stande sind‘ (378). Leider ist die Antwort Kants ver- loren gegangen, von welcher der Reinholdsche Brief vom 19. Januar 1788 (S. 500) spricht. Das Erfahrungsproblem berührt auch der Brief von Selle No. 293: „Sie, der erste Philosoph Deutschlands, geben meiner Meinung nach, der Sache der Erfahrung, die ohnehin noch gar nicht im Besitz ihrer Rechte war, einen tödtlichen Stoss“ (490). Aus dem Briefe von Hufeland vom 11. Oktober 1785 baben wir schon oben (S. 100) eine Stelle angeführt. Auf ihn beziehen sich auch S. 384 u. 398 (Schütz). Von Erhard stammt der Brief No. 251 vom 12. Mai 1786 aus Nürnberg. Eine Stelle aus demselben über die „Grundlegung z. M. d. S.“ haben wir oben an- geführt (100). Er schildert seine philosophischen Studien, wie er sich mit der ,,wolfianischen Philosophie‘ abquälte und sich bemühte,

Die neue Kantausgabe: Kants Briefwechsel (1781—1788). 107

„die Postulata in den notwendigen Bedingungen unseres Denkens

aufzusuchen, aber nun mangelte mir immer der Erweiss für die

objektive Gültigkeit des Postulats. Ich lies daher die Sache stehen,

und hofte immer jemand zu finden, der mir den Bau einer Brüke

von den Gedenkbaren zum Objektivgültigen erleichterte,

welches die einzige Hinderniss war die mir im Wege stand aber

ich fand niemand. Vor einem halben Jare fieng ich nun durch

den Ruff dazu erwekt an, Ihre Kritik zu lesen. Noch kein Buch

nam ich mit solcher Bitterkeit in die Hand, an Ihnen zum Ritter zu

werden war mein eifrigster Wunsch und Gebet“ u. s. w. (423).

Aber die Antinomien bekehrten Erhard: „Der Lösung dieser [dritten]

Ant: haben Sie auch meine Freundschaft zu danken, denn nun

wurden mir die Augen geöfnet, das Entzüken das ich bey Lesung

derselben empfand werde ich nie vergessen, auf einmal suchte ich

in Ihren Buch nicht mehr nach Irrtümern sondern nach Wahrheit‘

(424). Dazu halte man die Stelle: ,,Vergangnen Februar wurde

ich 20 Jare alt“ (425). Mit einem kurzen Briefe ist auch Bahrdt vertreten (449), welcher sein „System des reinen Naturalismus“ an Kant schickte. Ebenso kurz ist die freundliche Antwort Kants (453). Mit einem Briefe ist auch Formey vertreten, welcher (448) Kant die Nachricht giebt von seiner Ernennung zum Mitglied der Akademie, auch diesmal wieder in französischer Sprache, wie schon im Jahre 1763 (vgl. oben S. 82). Mit einem leider ganz kurzen Brief ist auch Platner vertreten (S. 449). Nur kurz ist ferner der Brief von Magister C. C. E. Schmid (No. 252), dem ver- dienstvollen Verfasser des noch heute sehr brauchbaren Wörterbuches zu Kant. Ebenso kurz ist der Brief von Abel (No. 273). Auch Cäsar ist nur mit einem Briefe vertreten (No. 286). Er erhebt einen Zweifel gegen die Meinung, „dass wir nicht wissen könnten,

ob in den Dingen ausser uns Succession sey, oder nicht‘ (478). Mit

einem Briefe ist auch J. G. Peuker vertreten (No. 288), der sich

gerne in Königsberg habilitiert hätte.

Um so redseliger ist Plessing. Von ihm stammen No. 175,

177 (178 stammt von seinem Vater), 179, 181, 182, 196, 207, 209,

267, 310. Aus Goethes ,, Campagne in Frankreich‘ (Duisburg,

November 1792) ist dieser „wunderliche Mann“ zur Genüge bekannt

als ein selbstquälerischer und selbstgefälliger Mensch ohne Anmut,

aber mit einer ganz eigens beschränkten Selbstigkeit, obne eigent-

lich productives Talent, daher nach wie vor nur mit sich selbst

beschäftigt. Nach der Schilderung Goethes, der ihn in seiner „Harz-

105 H Vaibinger,

reise im Winter‘ dichterisch verwertet hat. kann man einige Sym- patbie mit dem Manne haben. Aber dieselbe geht gründlich ver- loren, wenn man ihn aus diesen Briefen kennen lernt. Man weiss nieht. worüber man mehr staunen soll. über die unerträgliche Auf. dringlichkeit des Patrons oder über die unbegreifliche Langmut Kants. Plessing, aus Belleben im Saalkreise gebürtig.') war nach Königsberg verschlagen worden und wurde da in ..einen Strudel hineingerissen. der ihn zu verschlingen begann- 1336). Er spricht von .Stürmen. die er ausstand* 133S1. und von „dem excentrischen Laufe, in den seine Seele gewaltsam hineingerissen wurde“ (363), und aus dem er sich ..in den rechten Kreislauf zurückarbeitet. Er selbst nennt Kant seinen „SchuzGeist* (306), seinen Erretter und Wohltbäter‘ (337). Er war durch allerlei schlechte Streiche in Schulden geraten. Kant hat ihm Geld vorgeschossen, das Plessing immer wieder nicht zurückgeben kann: hoffen wir, dass es wenigstens im nächsten Bande zurückbezahlt wird! Die Schulden bestanden hauptsächlich in Alimenten, die er zu bezahlen hatte. Auf diese Affaire beziebt sich besonders der 14 Druckseiten lange Brief (S. 352— 366) vom 3. April 1784 jedenfalls kulturhistorisch eines der merkwtürdigsten Denkmale aus dem vorigen Jahrhundert. Fir die Kenntnis Kants hat der Brief insofern ein Interesse, als Kant darin als Gegner des jetzt sogenannten Neumalthusianismus in jeder Form erscheint. ‚Mehrere Anmerkungen über diese zärtliche Sache zu machen“ (553), ist hier nicht der Ort. Der Leser schlägt auf diese Andeutungen hin ohnedies ja wol diese Stellen selbst nach; die Geschichte beginnt mit Seite 301; besonders amüsant ist, wie Pl, der trotz jener Praxis unerwünschte Resultate erzielte, diese durch eine neue Theorie der Generation zu erklären sucht (356). Im Übrigen beschäftigt sich der Briefwechsel mit den phantastischen Anschauungen Plessings über die Ableitung der griechischen Philo sophie aus ägyptischen Mysterien, durch die er aus seinen Schriften als Vorgänger von Gladisch und Roth sich anrtihmlich bekannt ge macht hat. Der Logos wird mit dem Osiris identificiert u. s. ¥. Die Keckheit, mit der diese Ideen bingeworfen werden, wird nur noch übertroffen durch die Feigheit, welche aus den Worten spriebt: „Ich werde suchen, meine Ausdrükke sehr zu mildern und manche

1) Später lebte er, wie aus Goethe bekannt ist, in Wernigerode, tiber da er sehr hart urteilt. In seinem Briefe vom 15. März 1784 nennt er es eine „Ort, wo gesunde Vernunft gänzlich Kontre-Bande ist und lauter Abderiten leben“ (350).

Die neue Kantausgabe: Kants Briefwechsel (1781—1788). 109

meiner wahren Meinungen zu tiberschleiern (: so dass sie nur dem Weisen allein anschauend bleiben :) damit ich mir nicht zu sehr den geistlichen Hass zuziehe und dadurch ganz und gar Schaden an meiner Beförderung leide“ (291). Rührend ist der Zusatz: „dies mussten die Weltweisen von je her thun, und eben daher entstanden die Mysterien‘ (292).

In den Briefen von Plessing ist auch viel die Rede von dem Wiederauftreten von Schwärmerei und Aberglauben. In dem Munde von Plessing würden die Klagen darüber keinen Eindruck machen. Aber da sie sich von den verschiedenen Seiten her erheben und für die Signatur der Zeit charakteristisch sind, so müssen sie bier erwähnt werden. Am 1ö. October 1783 schreibt er: „Leider stehen uns vielleicht traurige Zeiten der Schwärmerei und Unwissen- heit bevor; die Schwärmerei wandelt schon mit mächtigen Schritten heran; es ist nicht jedem bekannt, von welchen Seiten für den menschlichen Geist aufs nene solche Gefahren zu befürchten sind: allein es ist beinahe gefährlich, seine aufrichtigen Gedanken hierüber einem Briefe anzuvertrauen“ (338). Weitere Ausführangen giebt Plessings nächster Brief: „Durch Schwärmerei und Aber- glauben steht uns allerdings (:traurigen Wahrscheinlichkeiten za folge:) wieder grosse Einschränkung der Denk-Freiheit, ja, wohl noch was schlimmers bevor; und alle Rechtschaffne, die die Menschheit lieben, zittern“ (349). Er weist in erster Linie auf die Jesuiten hin. Man erinnert sich ja, dass Nicolai hauptsächlich auf die von diesen drohende Gefahr hingewiesen hat: man hat ihn deshalb oft mit Un- recht ausgelacht. Es heisst weiter: „Wie gross ist mir unser Kinig!') und wie viel hat ihm die menschl. Vernunft zu danken! möchte er doch nur noch 20 Jahre leben können‘ (350). Von seinem Thron- folger wird mit Misstrauen gesprochen (349). Darauf deutet auch S. 366 hin: „schriftlich in Briefen getrauet man sich nicht viel zu schreiben.“ Dasselbe Thema schlägt Biester an S. 393f, 410: „Die Sache der Schwärmerei wird zu arg in den Schriften der modischen Philosophen; Demonstration wird verworfen, Tradition (die niedrigste Art des Glaubens) wird empfohlen, und über Ver- nunft-Beweise erhoben. Wahrlich, es ist Zeit, dass Sie, edler Wieder- hersteller des gründlichen und gereinigten Denkens, aufstehen, und

1) Einen äusserst charakteristischen Beitrag zum Verfahren des Königs bei Besetzung von Pfarreien bietet S. 879 f.: Der König berücksichtigt prinzipiell die Gesuche der Gemeinden um Geistliche. Heutzutage verfährt man leider gerade entgegengesetzt.

110 H, Vaihinger,

dem Unwesen ein Ende machen.“ Eine weitere Fortsetzung bietet Biester S. 430 ff, zunächst im Anschluss an seinen Kampf geges2 Jacobi, aber dann allgemeiner gewendet. Der Brief ist vom 11. Jum à 1786 datirt und weist darauf hin: „Wir erleben wahrscheinlich bale=A eine Veränderung, von der man (wie von allen künftigen Dingen _) nicht wissen kann, ob sie der freiern Denkungsart günstig seix—a wird oder nicht (433, vgl. 439). Dasselbe Thema schlug auc& Herz an: vgl. oben S. 98f. Auch Bering schreibt (442f.): „Die Adspecten scheinen gegenwärtig in Hessen und Preussen nicht mehr der Aufklärung so günstig als ehedem zu seyn, inzwischen von der Wahrheit dass die Natur auf Vollkommenheit arbeitet mit Ew. Wohlgeb. aufs festeste überzeugt, hoffe ich das Beste.“ Beren ss meldet aus Berlin am 5. Dezember 1787: „Noch herrscht hier die selbe Denck und Press Freyheit (485), aber man sieht aus dem Zusammenhang, dass er Befürchtungen hegt. Darauf bezieht sic auch der Brief eines Buchhändlers Meyer, welcher Kant auftordert==. über dieses Thema eine Schrift zu schreiben: ,,Vorztiglich würde eine solche Untersuchung jezt von grossen Nutzen seyn, da wir ancl bei uns eine Einschränkung der Druck und Pressfreyheit mit Rech # zu fürchten haben ... Schwärmer aller Arten würden aus Ihres philosophischen System um so weniger einen Vorwand hernehmes— können, dass wir wegen der Eingeschränktheit unserer Vernunf ® doch Endlich zum blinden Glauben zurückkehren müssten. Den wie ich sicher weiss, bilden sich manche hier wirklich ein, das Kw. Wohlgeb. auf eine versteckte Art darauf zurückwiesen“ (519» Hier wird dasselbe Problem berührt, welches der Brief von Bieste## anschlug (s. oben S. 99). Auch Berens ist überzeugt: „Sie insonder—— heit sind der Mann, der uns das Kleynod der Denckfreyheit bewahre miiste, wenn sie angefochten werden dürfte‘ (526). Dazu vgl. 527 „Ich habe Biester, diesem lieben Mann, versprochen, Ihnen etwa über Denckfreyheit etc. für seine Monaths-Schrift abzulisten.“

Aus der übrigen Korrespondenz sei noch Folgendes hervorge hoben: Eine wichtige Angelegenheit war die Frage nach des Übersetzung der Werke Kants ins Lateinische. Schon im November 1782 ist Johann Bobrik damit beschäftigt (274). Die Sache blieb aber aus unbekannten Gründen stecken. Mit dem 7. Mai 1786 (S. 420) meldet sich Born, der die Übersetzung der Haupt- werke Kants ins Lateinische wirklich später vollendet hat, zu diesem Geschäft. Vgl. S. 447, 467, 507—510 u. 521. Born macht Kant übrigens auch allerlei Mitteilungen, z. B. über Weishaupt und andere

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Die neve Kantansgabe: Kants Briefwechsel (1781—1788). 111

Schriftsteller über Kant. Bemerkenswert ist eine Äusserung tiber Leipzig gelegentlich der Sendung „einiger hiesiger akademischer Ansgeburten“: „Es ist in der That eine Schande für die hiesige Universität, dass so elende Früchte auf unserm Grund und Boden, der izt ganz ein Eigenthum seichter Schwätzer ist, erzeugt werden können‘‘ (509). Solche allgemeine Nachrichten über Universitäten erhielt Kant öfters, so von Reinhold und Schütz über Jena, von Bering über Marburg, von Jakob über Halle, von Richter über Wien; vgl. auch den oben S. 98 erwähnten Beruf von Jenisch aus und tiber Braunschweig. Mehrere Korrespondenten schildern ihre Reiseein- drücke betr. die Verbreitung der Kantischen Philosophie an ver- schiedenen Orten; so erzählt z. B. Berens von einer Reise: Überall „waren Sie und die Würckung Ihrer Critick mein beständiges Augenmerck. Ich fand nirgends eigentliche Cabale dagegen, aber bey den Lehrern Verdrus, ihr altes Gebäude, worin Sie bisher, ibrer Eigenliebe so behaglich, gewohnet, ohne Grund- Mauern zu sehen“ (484). Dann heisst es von Reinhold: „ein gewesener Capuziner oder gar Jesuit, aber ein grundehrlicher scharf- Sichtiger unbefangener Mann, der kürzlich in Berlin gewesen ist, weint, wie mir D: Biester sagt, wenn er hört, dass Ihre fromme Lehre noch nicht allgemein erkandt wird“ (484). Derselbe Berens sagt: „Wir wünschen sebnlich Ihre Moral, die noch in der Welt gefehlet hat. Sie thun recht, Ihren sich selbst gebahnten Weg in der spekulativen Phylosophie zu machen, ohne sich von Ihrem schönen Lauf, durch Nachhinkende, die anderes Interesse als die Warheit haben, aufhalten zu lassen‘ (526). Weiteres aus demselben Briefe siehe oben S. 110; ferneres von Berens s. noch unten.

Die Beziehungen zur Pädagogik, resp. zum Philanthropin treten zurtick. Nur von Campe sind Briefe vorhanden; er hat die Absicht, Kants „neue, von den bisherigen Vorstellungsarten so weit abgehenden Ideen, in ein etwas fasslicheres und populaireres Gewand ZU htillen, um sie, wo möglich, auch für die Capite censos unter den Philosophen begreiflich und annehmlich zu machen“ (472) Also auch eine pädagogische Aufgabe. Im Übrigen war Campe selbst Von der Pädagogik etwas abgekommen. Einen kurzen Brief von Campe siehe auch S. 333. Auf das Philanthropin bezieht sich noch

Sine Notiz von Berens (S. 484) und ein längerer Brief von E. E. Lübeck (491 ff.), der genaue Erkundigung über das „Dessausche Philantropien“ (492) einzieht. Es handelt sich dabei auch um die Krage, ob der Besuch dieser Schule nicht unter dem Verbot fremder

112 H. Vaihinger,

Akademien einbegriffen sei (494). (Za diesem königlichen Edikt vgl. auch S. 511 u. 512. Es bedurfte einer speziellen Erlaubnis des Königs zum Besuch einer fremden Universität!) Pädagogische Fragen berührt ferner ein Brief des Grafen Keyserling, aus dem hervorgeht, dass Kant ein von Professor Mangelsdorff gegrtindetes Institut empfohlen hat (S. 277): ferner insoferne auch die anderen Briefe von Berens (No. 163. 164 u. 171). als sie einen ungeratenen, durch- gegangenen Sohn desselben betrefien: Kant soll sich des „Lauflings“ annehmen (266). Selbstrerständlich muss Kant wieder Hofmeister besorgen. so 5. 342 (für die Familie v. Kevserling). 366 (für die Familie v. Hülsen), ferner S. 372. Die Schwierigkeiten einer Hof- meisterstellang schildert S. 492. und eine Illustration dazu bietet das Schreiben des Hofmeisters L. v. Baczko S. 347, welcher Kant um Rat bittet über die pädagogische Behandlung seines leichtsinnigen Zöglines.. In diesem Zusammenhang sei auch erwähnt die kaltur- historisch ausserordentlich merkwürdige satirische ..Squizze‘“, welche Reichsgraf v. Kevserling S. 277f.!) von dem Leben der jungen Edel- leute entwirft, durch welche ..die biss zum äussersten Grätel ar- gewachsene Menze der adelichen Müssiggänger vermehret“ wird (278) ein wertvoller Beitrag zur Naturgeschichte der .,Edelsten der Nation“. Vel. hierzu den Brief von Schummel aus Liegnitz vom 21. März 1783: ..Wir an unsrer Ritter-Academie bekommen mehrer- theils lauter ungeformte. oder gar wohl missgetormte Blöcke! Desshalb hat auch der König kürzlich an den schlesischen Adel ein scharfe Circulare ergehen lassen. worinn er ihnen ihre elende Privat-Er- ziehung nachdrücklich vorhält und künftig über ihre Kinder ordent- lich Buch und Rechnung halten lassen will (286,7).

Natürlich treten auch jetzt eine Menge litterarischer An- forderungen an Kant heran. Er soll tür Bernoulli Pränume rationen besorgen (262141 er soll Subseribenten sammeln (381, 473) Er soll Gutachten abgeben über Manuskripte (291. 296, 391). Neue

1) Derselbe Brief enthält auch politische Nachrichten. speziell tiber eine damalige Streitfrage zwischen Russland und Kurland, aus der hervorgeht, dass Russland damals auf die historischen Eigentüm!ichkeiten seiner Prorinzen grössere Rücksicht nahm als jetzt. Kant interessierte sich sehr für diese Frage

7) Kant spricht hier ven einem -avertissement-. das er in Botref des Lambertschen Briefwechsels in die Zeitung habe rücken lassen. Hoffentlich lässt sich dasselbe noch für die neue Ausgabe susfindiz machen; ebenso such der S. 264 erwähnte Aufsatz von Kant über „die pestartige Krankheit zus Sibirien.“

Die neue Kantausgabe: Kants Briefwechsel (1781—1788). 113

Schriften werden ihm zugesendet (388, 392, 458, 459, 460, 522). Er soll Recensionen schreiben oder besorgen (292, 334, 371, 373, 375, 379, 385, 397, 398, 447, 456). Er soll Beiträge liefern zu allerlei Zeitschriften (380, 473, 477, 504 u. ü.). Es wird ihm eine Ode auf ihn zugesendet (453). Derselbe Verfasser bespricht aber auch „die schwere Frage der Zeit und des Raums“ (454). Alte Schtiler schreiben an ihn (313, 506, 510). Eine grosse Rolle spielt in dem Briefwechsel auch die Erwähnung der Gegner Kants. Von Ulrich war schon oben die Rede (S. 104). Auffallend, aber nicht unbekannt ist, dass der Angriff von Meiners einen sehr grossen Ein- druck machte. Hierauf beziehen sich z. B. die Briefe von Schütz S. 446 u. 456, der Brief von Plessing S. 450 (der „muthwillige und in der That büses Herz verrathende Anfall“), ferner der Brief von Jenisch (462) und von Bering (465). Auf Tiedemanns Angriff zielt S. 386 f. (Bering), auf Obereit und Heinike S. 385 (Schütz), auf Weishaupt 508 u. 520 (Born), auf Fauth und Maas 509 (Born), auf Tittel S. 438, auf Feder 433, 462 u. 465, auf Platner 444.

Interessant ist, wie successiv immer mehr Kants vorkritische Schriften von den Korrespondenten verlangt werden. Hierauf be- zieht sich der Brief von Hartknoch (S. 388), der Brief von Bering (465), der Brief von Jakob (470) (vgl. den Brief an Jakob S. 471), ferner der Brief von Born (S. 508: „Es ist hier [d. h. in Leipzig] und anderwärts in den Buchläden starcke Nachfrage über Ihre frübern, kleinern Schriften, die sich alle vergriffen haben“), sowie der Brief von Richter (525).

Natürlich berührt die Korrespondenz auch allerlei sonstiges Bemerkenswerte. Der Briefwechsel mit Verleger und Drucker bietet freilich nichts Besonderes: Von Hartknoch stammen die Briefe No. 144, 145, 159.') (Hier werden die Prolegomena als „Auszug der Kritik‘ bezeichnet: man vgl. bierzu den Streit zwischen B. Erd- mann und E. Arnoldt.) Ferner No. 197, 226, 294. Von Spener ist der Brief No. 149, an Spener die Briefe 150 und 152, von Grunert der Brief No. 289. Wie vielseitig die Interessen Kants waren, dafür zeugen auch die Briefe No. 287, 291 u. 296: Kant sucht dem Erfinder eines Spinnrades namens Bötticher die Ausntitzung seiner Erfindung zu ermöglichen charakteristischer Weise verbindet er damit die Hoffnung, ‚mit ihr den Wohlstand, wobey denn gewbbn-

1) Hartknoch scheint ein wahres Muster von einem liebenswiirdigen Ver- leger gewesen zu sein: er sendet Kant mehrfach ein Tönnchen Caviar, Thee, Haselhühner, einen Pelz u. s. w.

Kantstudien V. 8

114 H. Vaihinger,

lich auch bessere Denkungsart sich einzufinden pflegt, ausnehmend zu befördern‘ (479). Natürlich; spielen auch jetzt Empfehlungen von und an Kant eine grosse Rolle, z. B. 379 (Kant empfiehlt Hippels Bruder zu einer Pfarre), 381 (Kant empfiehlt einen armen Studenten zum Alumnat), 394 (Kant empfiehlt Pörschke), 429 (Kant empfiehlt Jenisch; dazu auch 440), 443 (Kant empfiehlt Jachmann und seinen Bruder; dazu auch 470 u. 511), 506 (der junge Graf zu Dohna-Schlobitten wird Kant empfohlen; das erklärt vielleicht, dass diese Familie im Besitz eines Kantbildes ist, vgl. „KSt.“ IV, 356), 518 (ein Vater empfiehlt seinen wenig begabten Sohn an Kant: „er wird noch viel weniger als ich ein grosser Gelehrter werden... Wolte Gott er... bildete sich durch Sitten u. Kenntnisse aller Art zum ersten Mann in seinem Dorf. zu einem tüchtigen Baurer- Professor für den Sonntag aus! Das ist nun das Ziel meiner Wünsche, quod Deus bene vertat!“), 520 (Kiesewetter wird an Kant empfohlen vom Kanzler v. Hoffmann in Halle); vgl. ferner S. 258, 275, 285, 287, 293, 294, 298, 439, 449, 494. Kants Rektoratsangelegenheit vom Jahre 1786 wird behandelt von Kraus (S. 410—412) in zwei Briefen. Derselbe vertraut 428/9 Kant seine Klagen über die Schwierig- keiten seiner akademischen Laufbahn an Von Kraus stammt auch ein Brief S. 264: Er hat das .Gentleman's Magazine“ von Kant ent lehnt. was wiederum darauf hinweist, dass Kant wirklich englisch gekonnt hat (vgl. Phil. Mon. XIX, 502). —- Einen interessanten Einblick in die fragwürdige Art der Aufnahmeprüfungen speziell junger Adliger zur Universität bietet der Brief von Wannowski S. 416. Kants Bruder ist diesmal nur mit einem Brief vertreten: „Deine Critic der gereinigten Vernunft hat hir die Stimmen aller Denker ... Könnte denn wohl dein Broder, nicht auf den kleinen Vorzug Anspruch machen, zum voraus, ehe das publicum Dich liest, unterrichtet zu seyn. womit Du es beschenken wilst? (268/9). Kant werde ja wohl noch nicht auf seinen Lor- beren ausruhen. was er, der alte Schulmeister, mit dem klassischen Citat ausdrückt: „Rude donatus. wirst Du als Autor doch wohl noch nicht seyn." Ein rührendes Briefeben schreibt auch die Schwägerin Kants: „Dencken Sie an uns alle, und Besonders, an Ihre Ihnen mit Wärme ergebene Schwester Maria Kant” 1269). Mit Berufungs- fragen hat sich Kant. wie es scheint, sehr gerne abgegeben (vgl. oben S. 105). Hierauf deuten S. 394, 406. 410. (Biester bildete dabei den Kanal, durch den Kant mit dem Minister verkehrte.) Un- angenehme Missverständnisse entstanden freilich einmal bei der Be setzung der historischen Protessur durch Mangelsdorff (S. 269—273)-

Die neue Kantausgabe: Kants Briefwechsel (1781— 1788). 115

Auf eine Promotionssache (Plessing) bezieht sich S. 289. Kant hat sich auch vielfach Armer und Unglücklicher angenommen. Schon der Briefwechsel mit Plessing gehört hierher. Ferner vgl. S. 254, 300, 313, 466; vgl. auch den Briefwechsel mit Berens (s. oben). So ist es kein Wunder, dass auch mancherlei Bittbriefe an Kant ge- richtet wurden, vgl. z. B. S. 342. Auf häusliche Angelegenheiten beziehen sich S. 340, 367/8 (Hauskauf), 274 (französischer Rotwein; vgl. dazu Berens, der sich rühmt, ‚bey dem grössten Phylosophen den schönsten rothen Wein getrunken zu haben“ 527). Kant giebt auch jetzt noch gerne diätetische Ratschläge. Was er in dieser Be- ziehung durch die Vermittlung von Herz an Mendelssohn S. 253 sagen lässt, ist insoferne sehr interessant, als Kant .an sich selbst gemachte Erfahrungen speziell über die geistige Arbeit zur Abend- zeit mitteilt.

Wie im vorigen Jahrzehnt, so ist also auch jetzt Kant, wie er einmal selbst in einem Briefe an Schultz sagt, von „auswärtigen und einheimischen Zerstreuungen“ (343) in Anspruch genommen. Um so bewunderungswürdiger ist es, dass er trotzdem mit solcher Inten- sität an der Weiterführung seiner kritischen Philosophie arbeiten konnte.

* *

Wir haben damit über den ersten Band und seinen Inhalt aus- weichend Rechenschaft gegeben. Es ist nicht zu viel gesagt, wenn wir das Resultat dahin zusammenfassen: Diese Publikation ist nicht bloss für die Kenntnis Kants von grösster Bedeutung, sondern bietet auch einen ausserordentlich merkwürdigen Einblick in die ganze

Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts. So beginnt die neue Kantausgabe unter den günstigsten Auspicien.

S*

Ein ungedruckter Fichtebrief.

Mitgeteilt von Privatdocent Dr. Raoul Richter in Leipzig.

Osmanstädt, d. 3. August 95. Ich habe Sie, mein verehrter Freund, durch Prof. Woltmann

ersuchen lassen, die Erscheinung der Ithschen Anthropologie in zwei

Theilen, ingleichen die Anktindigung eines Werkes von Spallanzani, davon ich die Anzeige Prof. Woltmann übergeben, bei Haller in Bern in dem Intelligenzblatt der A. L. Z. gtitigst zu besorgen. Sollte es noch nicht geschehen seyn, so wiederhole ich hierdurch mein Gesuch. Durch meine Nachlässigkeit war die Besorgung dieses schon vorigen Winter erhaltenen Auftrages bis jetzt unterblieben; und wenn es jetzt nicht geschähe, so müsste ich mich vor Ith und Haller zu sehr schämen. Für die Kosten, welche Haller zu tragen hat, stehe ich vor der Hand.

Ich erhalte vor einiger Zeit von der L. Z. den Auftrag Kants Kritik der reinen Vft. 3. und 4. Auflage zu recensiren. Ich habe darauf noch nicht geantwortet, weil ich unmittelbar Ihnen schreiben wollte. Ich nehme den Auftrag an unter zwei Bedingungen. Theil müsste ich um Geduld bitten etwa bis Ostern künftigen Jahrs, weil ich ohnedem auch der L. Z. so wichtige Recensionen, als Maimons Logik, schuldig bin. Theils müsste ich vor allen Dingen anfragen, ob eine ganz neue Beleuchtung dieses Werks, wo Dinge zur Sprache gebracht werden, die fast im ganzen Publikum, und # auch bei der L. Z. längst abgemacht scheinen, es aber, meine Meinung nach, gar nicht sind [fehlt Verbum, etwa „erwünscht ist“]. Es ist mir auch ganz neuerlich durch das Studium der Humischen Schriften ganz ein neues Licht nicht darüber, was dem Kantischen System noch fehlt; dies wusste schon Reinhold, und hat es auch in der L. Z gesagt sondern, wozu eigentlich K. dieses Werk bestimmt hate was es seiner Absicht nach leisten sollte, und nicht leisten sollte; und wie er hernach, von diesem Standpunkte aus in der Ktk. det praktischen Vft., und besonders der Urtheilskraft viel weiter getriebe?

Ein ungedruckter Fichtebrief. 117

e, als er bei Verfassung des ersten Werks rechnete [fehlt res „aufgegangen“]. Es versteht sich, dass alle diese Be- n lets" vitjetcacen. werden können; Falk ait der CRE Urheber einer solehen Philosophie gebührt. Ist mit einer solchen Revision der L. Z. gedient, so übernehme ich e Anzeige.

Leben Sie wohl.

Ganz der Ihrige Fichte.

‚Herrn Professor der Rechte Hufeland

zu Gelegentl. Jena.

nder Brief, dessen Original sich in meinem Besitze befindet, soweit ich es ermitteln konnte, zum erstenmale im Druck. Die jung an dieser Stelle rechtfertigt sich durch die interessanten gen Fichtes über Kants kritische Hauptwerke und könnte sogar wertvollen Aufschlüssen führen, wenn es gelänge, die angedeuteten iter zu verfolgen. Der Brief, in der Handschrift anderthalb , auf der Rückseite gesiegelt, ist an den Juristen Hufeland ge- n „Versuch über den Grundsatz des Naturrechts* Kant einst ‚und der in den Jahren 1788—99 an der Redaktion der Jenaischen m Litteraturzeitung Teil hatte. Verfasst wurde das Schreiben jenem kleinen Dorfe bei Weimar, in das Fichte, tief ge- durch die Widerwärtigkeiten, die man ihm in Jena bei seinem Ver- en Ordensverbindungen aufzulösen, bereitet hatte, naten 1795 sich flüchtete. Der im ersten Satze erwähnte ) nn ist der Historiker, 1795—97 Professor in Jena. Die Worte Anthropologie“ sind vermutlich von Hufeland rot unter- ; und an dem Rand der betreffenden Zeile ist „in No. 126, 1794“ mit roter Tinte vermerkt. Thatsächlich findet sich denn auch li ch den 12. November 1794 erschienenen Nummer 126 des lattes der A. L. Z. die in Frage stehende Ankündigung: „Ver- * Anthropologie oder Philosophie des Menschen nach seinen chen Anlagen“ von J. Ith, Prof. der Philosophie, Bern, 1794. Das at umfasst 2 Spalten. Das Werk des italienischen Naturforschers um dessen Anzeige es sich dann weiter in dem Briefe handelt, { Übersetzung von Spallanzanis „Reise in beide Sicilien ÈS der Appenninen“ (Pavia, 1794, 4. Bd.), bei Haller in Bem erschienen. Fichtes Besprechung, fast 2 Spalten lang und in franzö- Sprache, brachte vermutlich auf die Mahnung in unserm Briefe hin Z. am 24. Oktober 1795 in No. 121 des Intelligenzblattes. Leider een lauten die Ergebnisse über die beiden Recensionen

[3 an Er r. V. IH. und IV. Auflage, und der Maimonschen Logik. aq Weder in Br. Z. noch im „Philosophischen Journal“, um diese Zeit

11S Dr. Raval Richter.

das Oryan der Fichteschen Partei. noch in den sonst mir erreichbar 8%

Endet sich eine Spur von diesen Recensionen.!) Über acte Besprechunz des Kantischen Werkes giebt = bedeutsame Wirke: aber wie das Bedeutsame Gentex chur Einblick in die Recension oder sonstige Anhaltspunkte: Was mz neuen Beleucktuzg dieses Werks, wo Dinge zur Sprache

- e. weselen Wuelez

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zctrarkt weriern. die fist dem ganzen Pztlkum und so auch bei der Listerarumeitins lanaet abzemacht scheinen. es aber meiner Meinung nach gar zııhr sinit meint: Usd was mag das „ganz neue Licht” gewesen sein. das an Humeschen? schrifer entrindet. die eigentlichen Absichten

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Ein ungedruckter Fichtebrief. 119

weiter, nach Fichtescher Ansicht auch tiefer, aber zugleich zu dem Fehler der Uneinheitlichkeit hin, den Reinhold schon besonders in der theoretischen Philosophie, als verbesserungsbedirftig hingestellt hatte. Wie gesagt, stelle ich diese Erklärung nur als Vermutung hin.!) Sie beansprucht nichts mehr, als dass ihr gelegentlich besser gegründete entgegengestellt werden. Denn es ist doch wahrlich von hohem Werte, die Meinung eines der gröss- ten Schüler Kants über die psychologischen Beweggründe seines Meisters beim Aufbau der Grundpfeiler seines kritischen Systems zu vernehmen, zumal, wenn diese Äusserung gerade aus der Zeit stammt, in welcher Fichte soeben sein eigenes System als die notwendige Einheit der drei Kantischen Kritiken?) gefunden hatte.

1) Nach Abfassung dieser Erläuterungen finde ich in dem soeben erschienenen Heft 2 und 8. Band IV der Kantstudien den Aufsatz von Prof. Dorner „Kants Kritik der Urteilskraft in ihrer Beziehung zu den beiden anderen Kritiken und zu den nach- kautiseben Systemen“, in welchem die Ansicht im einzelnen vertreten wird, welche ich hier hypothetisch und natürlich nur im allgemeinen Fichte zugewiesen habe. (cf. be- sonders S. 350 des genannten Heftes).

s) Vgl. den Brief Fichtes an Reinhold vom 2. Juli 1795 (also einen Monat vor dem ünsrigen verfasst), in dem es heisst: „Nun hat die von mir aufgestellte Einheit noch das, dass durch sie nicht nur die Kritik der spekulativen sondern auch der praktischen {sc. Vernunft) und die der Urteilskraft vereinigt wird, wie es sein sollte und musste. Vor Kant und Ihnen war keine Wissenschaftslehre möglich; aber ich bin von Ihnen fest überzeugt, dass, wenn Sie Ihr System erst nach Erscheinung der drei Kritiken ge- bildet hätten, wie ich, Sie die Wissenschaftslehre gefunden hätten. Sie hätten ebenso gewiss die Einheit in allen dreien gefunden, als Sie die in der Kritik der spekulativen gernunft, die ebenso wenig angegeben war, richtig auffanden . ...“ Fichtes Leben II,

216.

Ein Besuch Karamsin’s bei Kant.

Mitgeteilt von Anton Palme.

Im Jahre 1789 besuchte der russische Schriftsteller Karamsin (geb. 1766, gest. 1826 den Philosophen Kant in Königsberg. und in seinen berühmten „Briefen eines russischen Reisenden“. die ursprünglich als Privatbriefe an eine Familie gerichtet waren. berichtet er über seine Unterredung mit Kart und den von ihm empfangenen Eindruck Die Briefe erschienen zı- erst im „Moskauer Journal‘, Moskau 1741ff. dann öfters in besonderen Ausgaben. Da nun Karamsin bei seiner epochemachenden Stellung im russischen Geistesleben eine Persönlichkeit von hervorragender Bedeutung ist so wind es glaube ich. far der Leser der .Kantstudien* nicht ohne

mteresse sein, durch die nachfolgende Übersetzung Kant auch einmal in rasüschker Beleuchtung zu seber.

Kizigsberg, den 1% Juni (a St!) 1789. Gestern nachmittag war ich be! dem berükmten Kant, dem tiefsinnigel, scharfen Metaphysiker, der Malebranche, Leïhriz Hume und Bonnet wider- legt. bei Kant, den der jüiishe Sokrates der verstorbene Mendelssohn nicht anders nannte als dez „alles sermaimezier Kant. Ich hatte keine Empfehlungsbrefe an ihre. aber Kibokeit erobert Städte" und so öffnete Sich mir die Thir su einem Arbeitszimmer. Mich empfing ein kleinel, magerer (reis von ausserondentich zarzer und beiler Gesichtsfarbe. Meine ersten Worte waren: Ich Bin cin russscher Eieimann ich liebe gros? Manner + aa mochte Kant meine Vervèrszs bezeugen. Er nötigte mich gleich sum Sitsen und sagte: ich habe Sachez geschrieben. die nicht allen avtallen re nven zur wenige Eeben metarèvéake Feinheiten. Eine halb? Stande etwa sprachez wir dhe; remebiedere Dizze: über Reisen, über China, über neventdeckte Lander. Na usıte 2Zber seine historischen u ras he à Nenstaie saurez weiche æbon allein imstande ZU œin whienen den Speicher eines mensch ches = Gelächtnisses anzufülle. poo} gx ist dies für iin wie die Dectschen sagem. eine ‚Nebensache. Vann brackte SE nich: oboe Sprung, das Gesprich auf die moralisch® Natur des Menschen: ul, was ich won seiner Betrachtangen im Gedicht mis Sbehaiten Rhomnte. ist. ‚Tara iss unser Bestimmung Der Mess: kann nie mit seinem Besitz cane sufrieden sein nnd er NN stets mach zener Erwerbungen. Der

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Ein Besuch Karamsin's bei Kant. 121

Tod findet uns auf dem Wege zu irgend Etwas, was wir noch haben wollen. Giebt man einem Menschen alles, was er wünscht, so wird er in demselben Augenblick fihlen, dass dieses Alles nicht alles ist, Da wir kein Ziel oder Ende unseres Strebens in diesem Leben sehen, so setzen wir ein künftiges, wo sich der Knoten lösen muss. Dieser Gedanke ist für den Menschen um so angenehmer, als hier auf Erden kein entsprechen- des Verhältnis besteht zwischen Freuden und Kümmernissen, zwischen Genuss und Leiden. Ich tröste mich damit, dass ich schon sechzig Jahre alt bin, und dass mein Lebensende bald kommen wird, denn ich hoffe in ein anderes, besseres Leben zu treten. Wenn ich an die Genüsse denke, die ich im Leben hatte, so empfinde ich jetzt kein Vergnügen, aber wenn ich an die Fälle denke, wo ich dem moralischen Gesetz, das mir ins Herz geschrieben ist, entsprechend gehandelt habe, so freue ich mich. Ich spreche vom moralischen Gesetz: nennen wir es Gewissen, das Gefühl für Gut und Böse aber es ist. Ich habe gelogen, niemand kennt meine Lüge, aber ich schiime mich. Wahrscheinlichkeit ist nicht Gewissheit, wenn wir vom künftigen Leben sprechen; aber, wenn wir alles in Betracht ziehen, befiehlt uns die Vernunft daran zu glauben, Und was würde denn auch mit uns geschehen, wenn wir es, so zu sagen, mit unseren Augen erblickten? Wenn es uns sehr gefiele, so könnten wir uns nicht mehr mit dem jetzigen Leben beschäftigen und würden in beständiger Sehnsucht sein; im entgegengesetzten Falle aber hätten wir nicht den Trost, uns in den Bekümmernissen des jetzigen Lebens zu sagen: dort wird es hoffentlich besser sein! Aber indem wir über unsere Bestimmung, über das künftige Leben u. s. f. sprechen, setzen wir schon die Existenz einer allewigen, schöpferischen Vernunft voraus, die alles zum Ziele, alles zum Guten lenkt. Was? Wie? .., Aber hier gesteht auch der erste Weise sein Un- wissen ein. Hier löscht die Vernunft ihre Leuchte aus, und wir bleiben in der Finsternis zurück; die Phantasie allein kann in dieser Finsternis umherschweben und Unverwirkliches erschaffen.“ Verehrter Mann! ver- zeihe, wenn ich in diesen Zeilen deine Gedanken verunstaltet haben sollte!

Er kennt Lavater und hat mit ihm korrespondiert. „Lavater ist liebens- würdig wegen seiner Herzensgüte,“ sagt er, „aber da er eine allzu lebhafte Phantasie besitzt, so wird er häufig von Hirngespinnsten geblendet, glaubt an Magnetismus u. s. w.“ Das Gespräch berührte seine Gegner. „Sie werden sie kennen lernen,“ sagte er, „und werden sehen, dass sie alle gute Menschen sind.“

Er schrieb mit die Titel zweier seiner Werke auf, die ich nicht ge- lesen habe: Kritik der praktischen Vernunft, Metaphysik der Sitten*) und diesen Zettel werde ich aufbewahren als ein heiliges Andenken.

Nachdem er meinen Namen in sein Notizbuch eingeschrieben hatte, wünschte er mir, dass sich alle meine Zweifel lösen möchten; darauf trennten wir uns.

Da habt Ihr, meine Freunde, die kurze Beschreibung einer für mich sehr interessanten Unterhaltung, die gegen drei Stunden gedauert hat,

*) Gemeint sein kann nur die „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“. (D. R.)

122 Anton Palme, Ein Besuch Karamsin’s bei Kant.

Kant spricht schnell, sehr leise und undeutlich, und deshalb musste ich ihm mit Anspannung aller Gehörsnerven zuhören. Sein Häuschen ist klein, und innen ist die Einrichtung nicht gross. Alles ist einfach, mit Ausnahme seiner Metaphysik.

*

Die Wendung des Briefes: „Die Titel zweier seiner Werke, die ich nicht gelesen habe“ lässt zwar für die Vermutung Raum, dass Karamsin andere Werke Kants gelesen habe. Dies trifft aber bei näherer Betrachtung nicht zu. Karamsins Interessen lagen nicht auf metaphysischem und über- haupt nicht auf wissenschaftlich-philosophischem Gebiet, sondern bevor- zugten nach seinem eigenen, an anderen Stellen ausgesprochenen Be- kenntnis die Schöne Litteratur und die populäre Moralphilosophie. Be- stimmend für seinen Entwicklungsgang waren: die Erziehung in dem deutschen Pensionat des Professor Schaden in Moskau, wo er an der Hand von Gellerts „Moralischen Vorlesungen“ in die Philosophie eingeführt wird, Sternes „Empfindsame Reise“ und die Berührung mit dem Sturm- und Drangdichter Lenz, mit dem er eine Zeitlang in Moskau dasselbe Haus bewohnt und dem er die nähere Bekanntschaft mit der neueren deutschen Litteratur und mit Shakespeare verdankt. Schon von Natur mit ausser- ordentlich weichem Gemüt und reichem poetischen Empfinden begabt, be- vorzugt er die ‚Philosophien‘, die der Gefühlsseligkeit den weitesten Spielraum gewähren und sie noch steigern. Er schwärmt für Lavater, mit dem er in Briefwechsel steht und er beabsichtigt, Bonnets „Contemplation de la nature“ zu übersetzen. In seiner späteren Zeit beschäftigen ihn nur noch historische Arbeiten, als deren Ergebnis sein grosses Werk „Geschichte des russischen Staates“ (12 Bände) erscheint.

Bedenkt man nun, dass Karamsin Kants Werke entweder garnicht oder höchstens dem Namen und äusseren Aussehen nach kannte, wie es ‘sein im vorstehenden skizzierter Entwicklungsgang wahrscheinlich macht, so zeigt sich, dass der Bericht des noch nicht 28jährigen Mannes (geb. 18. Dez. 1766) von grosser Treue ist. Die dreistündige Unterredung ist sowohl ein Zeugnis für Kants grosse, persönliche Liebenswürdigkeit, als auch seiner mündlichen Darstellungsgabe.

Über einige Textfehler in Kants Widerlegung des

Idealismus. Von Dr. Emil Wille.

Die Widerlegung des Idealismus (Kr. d. r. V. Aufl. 2. S. 274 ff.) ent- hält gewisse Rätsel, welche nicht durch Annahme von Textverderbnis ge- löst werden können; indessen enthält sie auch einige Fehler des Abschreibers oder des Druckers, welche als solche zu erkennen und zu verbessern sind.

1. S. 276. Gegen Ende des ,Beweises“ lesen wir: „Nun ist das Be- wusstsein in der Zeit mit dem Bewusstsein der Möglichkeit dieser Zeit- bestimmung notwendig verbunden.“ Aus dem Gedankenzusammenhange erhellt, dass das Bewusstsein der Bestimmung meines Daseins in der Zeit und das der Bedingung der Möglichkeit dieses Vorganges gemeint, und daher so zu lesen ist: „Nun ist das Bewusstsein dieser Bestim- mung in der Zeit mit dem Bewusstsein der Bedingung der Möglichkeit dieser Zeitbestimmung notwendig verbunden.“ Jetzt erst verstehen wir den folgenden Schluss, in welchem übrigens gleichfalls etwas einzuschieben ist: „Also ist es auch mit der Existenz der Dinge ausser mir (muss lauten: mit dem der Existenz der Dinge ausser mir), als Bedingung der Zeitbe- stimmung, notwendig verbunden.“ Dass es so lauten muss, ist klar. Denn wenn das Bewusstsein dieser Zeitbestimmung mit dem Bewusstsein ihrer Bedingung verbunden ist, und selbige in der Existenz der Dinge ausser Mir besteht, so muss es mit dem Bewusstsein dieser Existenz verbunden Sin. Dazu kommt, dass nach dem erklärenden Zusatze, mit welchem der Beweis abschliesst, doch ein unmittelbares Bewusstsein des Daseins

anderer Dinge ausser mir sich ergeben soll. Ich möchte noch hinzufügen,

Bedingung der Möglichkeit eine unserem Philosophen sehr ge-

läufige Verbindung ist.

E 2. Anmerkung 1. „Allein hier wird bewiesen, dass äussere Erfahrung 1&entlich unmittelbar sei, dass nur vermittelst ihrer —“ Wohl so: dass ‘Ur äussere Erfahrung eigentlich unmittelbar sei. Denn das Spiel, welches er Idealismus trieb, indem er nur innere als derartig zulassen wollte, wird

Ja „umgekehrt vergolten“.

8. Am Ende der dazu gehörigen Note unter dem Texte: „Denn sich Ch einen äusseren Sinn bloss einzubilden, würde das Anschauungsver- Ögen, welches durch die Einbildungskraft bestimmt werden soll, selbst PPnichten.“ Ich bitte zu bedenken: Die Behauptung, dass man sich auch

124 Dr. Emil Wille, Textfehler in Kants Widerlegung des Idealismus.

einen äusseren Sinn bloss einbilde, würde dasjenige Anschauungsvermögen, dessen Bestimmung durch die Einbildungskraft zu dieser Einbildung er- forderlich wäre, doch nicht „vernichten“, sondern verneinen.

4. Da demselben Zwecke, wie unser Kapitel, der Widerlegung des Idealismus, jene lange Anmerkung am Ausgange der Vorrede des Werkes gewidmet ist, wollen wir auch dort eine Stelle prüfen. „von etwas Be- harrlichem, welches in mir nicht ist, folglich nur in etwas ausser mir —“ Dieses Beharrliche ist nicht in etwas ausser mir, sondern etwas ausser mir. Am Besten ändern wir so: folglich nur von etwas ausser mir abhängt.

Dass weiter unten es nicht heissen darf: „denn diese kann sehr wandelbar und wechselnd sein“, sondern: denn jene darauf habe ich schon früher (in meinem Aufsatze: Verbesserung einiger Stellen in Kants Kr. d. r. V. Philosoph. Monatshefte 1890, XXVI, 899) hingewiesen.

Selbstanzeigen.

Stirling, James Hutchison, (LL. D. Edin.) What is Thought? Or the Problem of Philosophy by way of a General Conclusion so far. Edin- burgh, T. & T. Clark. 1900. (428 pp.)

Apart the bearing as well on philosophy in general as on Fichte, Schelling, and Hegel, what concerns Kant proceeds in this way:

The start is made from causality, which is the spore of the whole Transcendental Philosophy; and that, in the first place, on the part of Kant is a Theory of Perception. In that theory the bed-rock is that Things are known, not in themselves, but in their impressions only; and that thus being within, they are objectified from within by the twelve categories operating mediately through schemata of Time, which are all also within.

The theory in these elements is subjected to inquiry; and the result as given is to this effect. Things are without and as we know them without; nor is it otherwise with Time and Space themselves. The cate- gories are denied as mere secretions of the pigeon-holes of the individual brain or mind; their paucity is contrasted with the infinity of the im- pressions; and principles are by Kant expressiy excluded from them (the categories) which are no less eligible in effect than others preeminently proposed. Time is shown to beincapable of furnishing schemata specially for causality and reciprocity. All apodictic force is withdrawn from the dynamical categories by Kant himself; to whom causality is but an ana- logy, which as such has not the cogency of even Hume's Custom. Kant has missed the import of his own two classes of subjective impressions: the latter as double bring their own constitutive relation. Much occurs bearing on Kant’s whole theory, as well as on causality specially at last; and the whole that concerns Kant concludes with the contrasting views of Noack and Carlyle on his character generally.

As regards the others, Fichte, Schelling, Hegel, I treat them all as working in the quarry of Kant alone; and I really believe myself to tell sufficiently and not without evaluation the complete story of the whole four of them, at least on the theoretical side, which is its entire foundation. Specially for Hegel I indicate his principle or Begriff to have been simply the Ego. The ratio concretely, so to speak, in the Ego, I propose as the Terminus. To this Terminus I hold all philosophy to have been simply working.

Edinburgh. James Hutchison Stirling.

126 Selbstanzeigen.

Leser, Herm, Zur Methode der kritischen Erkenntnistheorie mit besonderer Berücksichtigung des Kant—Fries’schen Pro- blems. Dresden, Bleyl und Kaemmerer, 1900. (VIII und 156 S.)

Der Verfasser ist bestrebt, das verwickelte Wesen der kritischen Er- kenntnistheorie unter dem Gesichtswinkel der Methode zu betrachten. Denn in der Eigenart dieser darf man das Charakteristicum jener finden. Das Erkenntnisschema kommt wesentlich zum Ausdruck an dem Moment des „Objektiven“, welches bei Kant fundamental anders gefasst ist, als bei seinen Vorgängern und in oben genannter Schrift unter dem Begriff des „kritischen Subjektivismus“ zusammengefasst ist. Es soll unter dieser Parole die neue erkenntnistheoretische Ausgangsatmosphäre dargelegt und beleuchtet werden. Denn durch dieselbe sind die erkenntnistheoretischen Probleme, besonders auch des „Objektiven“, in ihrer Eigenart bedingt. Früher, d. h. bis vor Kant lag immer jenes alte naive dualistische Er- kenntnisschema vor, die Nachwirkung eines wirklichen Bildes von meinem Denken und dem im Seelenprozess abzubildenden, jenseits liegenden Sein. Auf Grund dieses Schemas war die philosophische Hauptfrage immer nur die gewesen: wie und mit welchen Seelenkräften können wir jene trans- scendente Welt erreichen, gleichsam hinüberlangen in ein direkt nicht er- reichbares Jenseits? Jetzt dagegen, d. h. mit Kant, lautet die Kardinal- frage zunächst so: welche Erkenntnisse können mit Recht den Anspruch auf Objektivität erheben, in welchen Seelenprozessen habe ich das, was man Erkenntnis der Wahrheit nennt, wann denke, lebe, erlebe ich Wahr- heit? Diese zweite Frage atmet ein ganz neues Leben und bedeutet eine neue noch kaum durchsuchte Fundgrube. Erst wenn man diese neue Atmosphäre mit Energie in ihre tiefen charakteristischen Züge hinein ver- folgt, können viele Probleme, die schon die Renaissance angeschnitten hat, endlich ihren modernen korrekten philosophischen Ausdruck finden. Hier- her gehören auch viele Gedanken der religiösen Renaissance, die in der modernen Dogmatik des reformatorischen Christentums (wenn das Wort „modern“ überhaupt hier am Platz ist) noch durchaus nicht zu diesem modernen philosophischen Ausdruck gekommen sind. Es ist deshalb keines- wegs überflüssig, in einer Monographie dieses neue Kardinalmotiv des Kantischen Denkens vom Standpunkt der Methode aus zu betrachten und in seine Konsequenzen zu verfolgen. Denn es zeigt gerade auch unter dem methodischen Gesichtspunkt neue und wesentliche philosophische Möglichkeiten. So verlangt diese neue Atmosphäre wie eine ganz neue ihr entsprechende Objektivität, so auch eine neue dieselbe gebende Beweis- führung, den „transscendentalen Beweis“ (1. Kapitel).

Aber dieser Beweis ist eine sehr komplizierte Sache, sofern in ihm von Kant nicht genügend gewürdigte Probleme stecken. Ein solches Problem ist u. a. das vom Verfasser im 2. und 8. Kapitel als das Fries'sche be- handelte. Dieses Problem kommt bei Fries selbst in der richtigen, aber zunächst klein und einseitig scheinenden Frage zum Ausdruck, ob die apriorische Erkenntnis Kants auf apriorischem oder aposteriorischem Wege gewonnen würde. Gegenüber der Nichtbeachtung dieses Problems bei Kant, der dasselbe im ersteren Sinne zu entscheiden geneigt scheint, und besonders gegenüber der Auffassung der grossen Epigonen Kants bekennt

Selbstanzeigen. 127

sich Fries durchaus zu dem Entscheid: die Erkenntnis des Apriorischen ist a posteriori Und mit entschiedenem Recht, wenn man mit dieser Fries’schen Frage überhaupt einen richtigen Sinn, den von Fries beabsich- tigten, verbinden will. Diese Frage und ihre Beantwortung ist nun aber keineswegs nebensächlich, sondern von fundamentaler Bedeutung. Denn sie erstreckt in einem tieferen Sinne, als von Kant (von den konstruktiven Denkern ganz zu schweigen) vermutet wurde, ihre bedenklichen Konse- quenzen auf das transscendentale Beweisverfahren, den Brennpunkt der Transscendentalphilosophie. Jenes Problem betrifft nämlich im wesentlichen die Kantische Konstatierung der, wie Kant sie nennt, apriorischen That- komplexe geistigen Lebens. Diese Konstatierung ist methodisch das erste, dem transscendentalen Beweis vorausgehende Moment der Transscendental- philosophie, und ihre ernstliche Beachtung (im 2. u. 8. Kapitel) weist fundamentale Probleme auf, die Kant und seine grossen Epigonen noch gar nicht gesehen haben. In wiefern faktisch dieses Fries’sche Problem der Konstatierung von sehr grosser Wichtigkeit ist, zeigt sich besonders erst durch seinen Einfluss auf das Weitere: Denkt man dann den trans- scendentalen Beweis durch (4. Kapitel), so entdeckt man neben anderen Voraussetzungen, die in besonderer Weise ins Bewusstsein zu heben wären, den ,Kardinalzirkel“. Dieser lässt einmal die vorher bei eben jenem Problem (2. und 8. Kapitel) behandelte Thatsache zu ihrem für die ver- meintliche Stringenz bedenklichen Recht kommen, dass nämlich dem trans- scendentalen Beweis (im gewöhnlich gefassten Sinne) vorausgehen muss eine von dem geistigen Massenbestande in dem sekundär-phänomenalen Sinne des Augenblicksbefundes unseres Seelenlebens ausgehende analytische Methode der Reduktion. Es giebt ja gar keine sogenannten reinen That- sachen unmittelbar zu konstatieren, sondern es ist uns zunächst alles durch das trübende Medium einer empirischen, historisch bedingten Seelen- konstellation gegeben, durch das wir erst vordringen müssen zu den reinen apriorischen Grössen. Die echten, typischen Wirklichkeitsfaktoren, d. h. bei Kant die echten metaphysischen Apriori, sind zunächst immer nur eine Aufgabe, ein Ziel: sie müssen aus dem sekundären Stoff des un- mittelbar Gegebenen erst mühsam präpariert werden. Wenn dem aber so ist, so erhärtet sich dann eben der ,Kardinalzirkel“ bei der darauffolgen- den abschliessenden synthetischen Methode (transscendentalem Beweis im engern Sinne) zum andern darin, dass das Prinzip des transscenden- talen Beweises, welches Kant als ein so leichtes Etwas im Begriff der „Möglichkeit der Erfahrung* zu haben glaubte, nichts anderes ist als der auf analytische Methode ermittelte und ins Ideale erhobene Centralfond des vielleicht zeitweilig bedingten Gesamtgehaltes des Geisteslebens. Es kann also der transscendentale Beweis ohne jene Konstatierung gar nicht vor sich gehen; denn ohne diese fehlt ihm das inhaltliche Prinzip. Erst jener Centralfond bietet uns dasselbe dar; und in der „Möglichkeit der Erfahrung“ wirken deshalb jene konstatierende analytische Methode der Reduktion und diese synthetische der eigentlichen transscendentalen Beweisführung in einer Weise zusammen, die der Fries’schen Entscheidung in tiefer Weise recht giebt. Weiter zeigt sich nun aber, dass Kant bei jenem analytischen Vordringen von dem Augenblicksbefund des Geisteslebens zu

128 Selbstanzeigen.

einer echteren tieferen Erfahrung (bei Kant Konstatierung des metaphysischen Apriori) grosser Dogmatiker war, sofern er die dem damaligen Stande der betreffenden Wissenschaften entsprechende Konstatierung viel zu einfach und unausgeglichen das letzte Wort reden liess,

Diese Methode erleidet aber ein bedenkliches Ende in dem Aposteriori mit seinem Ausblick aufs Ding an sich, welches als Inbegriff grosser nicht gelüster Probleme bedeutendere Perspektiven eröffnet, als man gewöhnlich glaubt. Man scheint diesen Begriff vom formellen Standpunkt einer immanenten Kritik oft mit Recht als einen Eindringling aus Kants philo- sophischem Bau hinauszuweisen; und doch hat Kant durch die energische Verteidigung desselben einem tieferen Bedürfnis freilich in formell ver- alteter Weise Rechnung getragen. Mit dieser formellen Kritik bei An- erkennung positiver Probleme ist aber wohl die Notwendigkeit einer neuen umfassenden Differenzierung der kritischen Grössen ausgesprochen (6. Kapitel).

So will die Schrift im Anschluss an die positive Beleuchtung der Methode der kritischen Erkenntnistheorie zugleich zur Eröffnung einer Reihe problemreicher Perspektiven anregen.

Jena. Hermann Leser.

M'Ewen, Bruce, Kant's Proof of the Proposition: ,Mathe- matical judgments are one and all synthetical“, „Mind“, Oct, 1899.

In considering various criticisms of Kant's Theory of the mathematical judgment, one is often struck by the slender nature of the material used, the nerve of the objections to the theory lying in the production of parti: cular mathematical“ judgments supposed to be overlooked by Kant. ‘The object of the present paper is: 1. to show that the proposition: Mathe- matical judgments are one and all synthetical, is the result of a Perfect Induction, conscientiously worked out in Kant's writings for every possible type of such judgment, 2. to describe this process, and show that Kant realised the perfectness of his own induction, 8. to point out that no other view than this does justice to the logical arrangement of the Critique.

Ardley Stonehaven. Bruce MEwen M. A.

Marvin, Walter T. Dr. phil. Die Giltigkeit unserer Erkenntnis der objektiven Welt. (Abhandlungen zur Philosophie und ihrer Geschichte, herausgegeben von Benno Erdmann.) Halle a. S, Niemeyer. 1899.

In the event we call knowledge there are two elements always present, the object known and the state of consciousness that knows the object. This is true even in selfperception. The object of knowledge is then something other than the consciousness itself. It in short transcends that consciousness; or, in other words, knowledge in making assertions about an object transcends itself, Knowledge is a self-transcending event,

This raises the question against knowledge, whether in this act of self-transcendence it go beyond its data, or premises (called the Given) and so commit an act that would make it invalid, (The direct knowledge, or intuition of the Given is called, with Hamilton, Immediate Knowledge, The interpretation of the Given, or knowledge in its usual meaning is called, with the same author, Mediate Knowledge.)

ae

Selbstanzeigen. 129

Hence the two questions discussed in parts one and two, what is the nature of immediate and mediate knowledge? What is the ultimate datum of knowledge, or the Given? What does knowledge do in transcending itself?

Now as by hypothesis mediate knowledge is an interpretation of the Given, the Given as such is presupposed as a not yet interpreted something. As given then we can apply to it no concept that has intension, for this would be not the Given but an interpretation of it. As such then the concept the Given is a mere abstraction, a summum genus, having infinite extension but no intension.

Therefore the attempt to apply to it any term, e. g. Consciousness, that has intension must be fallacious, In fact all differentiation, even that between consciousness and not-consciousness falls not without the Given but within it, The mutual transcendence of these two does not mean that one is the Given and that the other lies without the Given but that both fall within the Given. In short, knowledge as a self transcending event does not transcend its data in asserting an objective world, It makes a differentiation within its premises.

But what does kowledge do in transcending itself? Upon examination mediate knowledge, or judgment (into which all mediate knowledge can be transformed) presupposes, or there arises at once with it, in all its forms a twofold determination of the Given:

ist. the distinction between the knowing consciousness and the object,

nd. the differentiation of time into past, present and future.

Now the self-transcendence consists in this. It is a present conscious- ness predicting a possible future one, That is upon examination all mediate knowledge is found to be the equivalent of the prediction of its complete proof. This proof consists of facts gotten through perception. Therefore what knowledge does is to predict what falls within possible verification, or what can be gotten from the Given, or in practice we may say, from

As mediate knowledge it goes beyond its premises only when we mean by these premises present perception, but it never even here goes beyond what can become a premise. In all this however it never goes beyond the Given because all these differentiations fall within the Given. In short, theoretically it does nothing inconsistent with its claims. It remains always within possible verification through its data. Mediate know- ledge is therefore valid.

The third part analyzes the three classes of objects, the physical world, the consciousness of other minds, and our own past consciousness and shows into what predictions the knowledge of these objects can be transformed.

New-York. Walter T. Marvin.

Werckmeister, Walther, Dr. phil. Der Leibnizsche Substanz- begriff. Halle, M. Niemeyer. 1899. (69 S.) Verfasser giebt in seiner Studie eine historisch-kritische Darstellung der Entwicklung des Substanzproblems bei Leibniz und zum Schlusse Kantstudien V. 9

130 Selbstanzeigen.

eine Kritik des Leibnizschen spiritualistischen Substanzbegriffes und in Verbindung damit, wenn auch nur in mehr andeutender als ausführen- der Weise, eine Kritik des traditionellen Substanzproblems überhaupt, Verfasser teilt zunächst die Entwicklung des Leibnizschen Substanz- problems in folgende drei Zeitabschnitte: I. Die Zeit vor der Pariser Reise 1661—1671, II. Die Zeit seit Antritt der Pariser Reise bis zur Mitte der 80er Jahre 1672—1685, III. Die Zeit von 1686—1716 und behandelt hier a) die Grundzüge des Substanzbegriffes, b) Besonderheiten desselben. Im I. Teile zeigt Verfasser, wie Leibniz sich von seinem Carte- sianischen Ausgangspunkt mit der Annahme körperlicher und unkörperlicher Substanzen allmählich zu entfernen beginnt, um bis zu Ende dieses Zeit- abschnittes in völlig bewusstem Gegensatz zu Descartes das Wesen des Körpers nicht mehr in der Ausgedehntheit allein, sondern auch in der Be- wegung und diese wiederum in dem spirituellen Element des conatus realisiert zu sehen. Trotz der spirituellen Fassung der Materie im conatus hält Leibniz hier doch noch an der Realität der Ausgedehntheit des Körpers fest. Sieht daher Leibniz offenbar das Wesen der Substanz im Selbständig- Existieren und erfasst das Selbständig-Existieren bei den Substanzen deus und mens humana in der Spiritualität, so fehlt ihm zu Ende dieser Periode noch eine analoge Bestimmung des Selbständig-Existierens für den Körper, Der Leibnizsche Substanzbegriff ist also vor der Pariser Reise noch kein einheitlicher, Die II. Periode, die Zeit seit Antritt der Pariser Reise bis zur Mitte der 80er Jahre, 1672—1685, stellt sich nach den Ausführungen des Verfassers als eine Übergangszeit für die Leibnizsche metaphysische Spekulation dar. Durch die in Paris unter Anregung der Brüder Bernoulli und Huyghens getriebenen mathematischen und physikalischen Studien, deren erstere ihn zur Entdeckung der Infinitesimalrechnung führten, und andererseits durch eingehendere Studien des Cartesianismus kommt Leibniz dazu, sich in immer grösseren Gegensatz zu Descartes zu stellen, indem er scharfe Kritik am Descartes'schen Körperbegriff und Bewegungsproblem übt, also gerade damit innerlich beschäftigt ist, worin sein Substanzbegriff vor der Pariser Reise Einheitlichkeit und feste Stellungnahme vermissen liess. Aber auch in dieser Periode bringt es Leibniz nach Darstellung des Verfassers nicht weiter als zu einem negativen Verhalten gegenüber dem Descartes’schen Kürperbegriff und Bewegungsproblem. Erst in der III. Periode, in der Zeit von 1686—1716, erhält Leibniz endlich nach Ausführung des Verfassers einen einheitlichen Substanzbegriff dadurch, dass er auf Grund seiner physikalischen Studien das Wesen des Körpers nicht wie Descartes in der Ausgedehntheit, sondern allein in der „Kraft“ postuliert und schon hiermit prinzipiell die absolute Realität der Materie als Ausgedehntheit leugnet, von dieser letzteren Notwendigkeit aber sich erst durch den seinen mathematischen Studien und Entdeckungen zu Grunde liegenden Gedanken des Continuitätsprinzips überzeugt und deshalb jetzt auch diesen Schritt thut. So setzt sich der Leibnizsche Substanzbegriff in seinen Grundlinien aus dem Begriff der Kraft und dem der spirituellen Einheit zusammen und stellt sich in der „individuellen Substanz* oder »Monade“ als „geistige Kraft-Einheit* dar, deren Wirkungen dann als «perceptions* schlechthin oder auch als „pereeptions“ und „appetitions“

Selbstanzeigen. Litteraturbericht. 131

von Leibniz nach Analogie geistigen Geschehens gefasst werden. Sodann geht Verfasser noch auf das Verhältnis der Monaden zu einander, die prästabilierte Harmonje und auf ihre für dies Verhältnis in Betracht kom- mende nähere Beschaffenheit ein. Es wird gezeigt, dass Leibniz aus dem Begriff der Kraft die fortwährende Spontaneität und aus dem Begriff der Einheit die Ungeborenheit und Unsterblichkeit der Monaden folgert, die dann je nach ihrer mehr oder weniger vollkommenen Thätigkeit in kon- tinuierlicher Stufenfolge von Leibniz als geordnet gedacht werden. Darauf wird die Leibnizsche Lehre von der prästabilierten Harmonie und die im Leibnizschen Gottesbegriff vorhandene Folgewidrigkeit der metaphysischen Gedanken Leibnizens dargelegt und die Leibnizsche Lehre vom „vinculum substantiale“ und ihre ganze Unzulänglichkeit nachgewiesen. Der Schluss weist mit seiner Kritik zunächst darauf hin, dass Leibniz im Verfolg seines mathematischen Gedankens des Kontinuitätsprinzip kein Recht hat, aus der Sphäre des Räumlichen in die des Unräumlichen hinauszugehen. Sodann wird die Frage kritisch beleuchtet, mit welchem Rechte Leibniz sich alles Unräumliche ohne weiteres als Geistiges vorstellt, und es wird bei dieser Erörterung eine Kritik des Substanzproblems überhaupt dahin gegeben, indem die Voraussetzung des traditionellen Substanzbegriffes, dass es möglich sei, das Wirkliche oder wahrhaft Seiende, auch wie es unabhängig von unserem Vorgestelltsein wirklich ist, in einer der uns entgegen tretenden Formen des Seins entweder in den Bewegungsvorgängen körperlicher Massen oder den Vorgängen geistigen Geschehens zu erfassen, vom Verfasser unter Hinweis auf die erkenntnistheoretische Deutung bestimmter psychologischer Daten verneint wird. Halle a. S. Dr. Walther Werckmeister.

Litteraturbericht. Von F. Medicus.

Liebmann, Otto. Gedanken und Thatsachen. Philosophische Abhandlungen, Aphorismen und Studien. Heft 2 u. 8 Strassburg, Trübner. 1899. (S. 128—800 u. 801—470.)

Dem schon 1882 erschienenen ersten Heft der „Gedanken und That- sachen“ sind jetzt gleichzeitig Heft 2 und 8 gefolgt. Es sind geistvolle und anregende Abhandlungen über naturphilosophische und psychologische Themata. Die schriftstellerische Form ist, wie bei allem, was L. geschrieben hat, meisterhaft.

Heft 2 ist betitelt „Gedanken über Natur und Naturerkenntnis.“ Was ist Natur? Mit dieser Frage setzt das Buch ein. Den „resignierten Versen“ A. v. Hallers über das ,Inn're der Natur“ wird Goethes bekannte Antwort gegenübergestellt, und mit Kant, dem „nüchternen und tiefdenkenden

g*

132 Litteraturbericht.

‘Transscendentalphilosophen* wird die Entscheidung gefällt. Die Hälfte seiner Ansicht hat Kant in dem vielgenannten Wort aus der ,Amphibolie . .* gesagt. Die andere Hälfte lässt sich unschwer dem Gesamttenor der Kr, d. r. V. entnehmen (128 ff.): Empirisch ist uns nur ein relatives und comparatives Inneres zugänglich, nicht ein absolutes. Vorzüglich illustriert werden die beiden Seiten der Kantischen Auffassung, die Betonung unserer Fähigkeit ins relative, und unserer Unfähigkeit, ins absolute Innere einzu- dringen, durch folgende Betrachtung: „Wenn heute Lord Bacon v. Verulam, der Klassiker des reinen Empirismus, mit seinem ausgeprägt utilitaristischen Wissenschaftsideal wiederkäme, so würde er an unserem Jahrhundert der Eisenbahnen, transatlantischen Kabel und Telephone die grösste Freude erleben; er würde in einem Zeitalter, welches die Niagarafälle als Kraft- quellen für gewaltige Maschinen und für elektrische Beleuchtung grosser Weltstidte benutzt, einen glänzenden Triumph seiner Grundsätze erblicken. Sir Isaac Newton hingegen, der sich nach Auffindung der Gravitations- theorie und Begründung der mécanique céleste so vorkam, wie ein am Ufer des unerforschten Oceans mit Muscheln spielendes Kind, würde trotz aller dieser technischen Herrlichkeiten einigermassen deprimiert darüber sein, dass man weder ahnt, was Gravitation ist, noch weiss, worin die Elektrieität besteht. Es sind das eben verschiedene Gesichtspunkte, ver- schiedene Wertmassstäbe!* (130.) Das nun, „was trotz aller Arbeit, alles Scharfsinns, aller experimentellen, theoretischen und technischen Errungen- schaften den eigentlichen, esoterischen Eingang versperrt, ist die wunder- liche Doppelstellung des Menschen zur Natur. Einerseits ist der Mensch Produkt der Natur; andererseits ist die Natur Produkt des Menschen : . . Über den Kantischen Kriticismus mag man so oder anders urteilen, auf jeden Fall hat die Kr. d. r, V.... in ganz klassischer Weise die Wahrheit von der durchgängigen subjektiven Bedingtheit der empirisch-realen Welt zum eindringlichsten Bewusstsein gebracht“ (187).

Sehr charakteristisch und vielleicht für manchen Leser etwas über- raschend ist die (von L. selbst als „sehr paradox* bezeichnete) Behauptung, „dass die Ergebnisse der modernen Naturwissenschaft ohne jeden Zwang oder willkürliche Interpretation in den Rahmen der Aristotelischen Philosophie hineinpassen“ (162). Die Aristotelische Physik wird freilich preisgegeben; hingegen bleibe die Metaphysik „noch immer konkurrenz- fähig“: Verfolgt man das Naturgeschehen seiner zeitlichen Abfolge nach, so erhält man eine natürliche Schöpfungsgeschichte, die mit der gurz Tay beginnt, dem Urnebel der Kant-Laplaceschen Theorie, und die, der De- scendenztheorie entsprechend, zu immer höheren Entwicklungsstufen führt. Und übersieht man in synchronistischem Durchschnitt den gegenwärtigen Gesamtbestand des irdischen Naturgeschehens, so passt wiederum alles zur Aristotelischen Auffassung. Was allein die moderne Wissenschaft in das Aristotelische Schema einzufügen hat, ist der kausale Mechanismus der Höherentwicklung: „Aristoteles fasst das Universum aus teleologischem Gesichtspunkt auf und beachtet den Plan der Welt; die moderne Natur- wissenschaft studiert den mechanischen Kausalnexus des Geschehens, das Getriebe der wirkenden Kräfte und erkennt die Mittel zur Realisierung des Weltplans* (167). Was dann die Betrachtung der Naturgesetze

Litteraturberieht. 133

angeht, so wird hier die Stellung des Kantianismus eingenommen: „Die apriorischen Grundregeln, nach Massgabe welcher ein zusammenhängendes Naturbild in uns zustande kommt, [sind] zugleich die ersten Grundgesetze der Natur“ (174). „Unser Verstand schreibt sie ihr vor, und sie muss gehorchen. Wollte sie solchen offenbar von unserem Verstande diktierten Gesetzen sich nicht fügen, so wäre sie eben nicht Natur, sondern ein irrationales Zauber- und Hexenwerk* (175), Auch einzelnen Naturgesetzen sind eingehende Betrachtungen gewidmet, in denen auch der Naturforscher Kant mehrfach zu Worte kommt (182, 191, 194, 205f.). Ein grosser Ab- schnitt beschäftigt sich mit der Atomistik; das abschliessende Urteil wird unter den Auspieien Kants gesprochen: „Was seit 100 Jahren über, für und gegen Kants transsc. Ästhetik geschrieben worden ist, findet man mit grosser Vollständigkeit verzeichnet in Vaihingers Kant-Kommentar Bd. I und Il. Sie ist zum Zankapfel der Parteien geworden, und es hat sich über sie im Lauf mehrerer Menschenalter eine ganz gewaltige Litteratur- masse angehäuft . . . Soviel aber steht fest, dass unsere Raumanschauung, also die Euklidische Raumform, unmittelbar nur als eine allen Menschen und menschenähnlichen Intelligenzen gemeinsame Anschauungsform, mithin als ein subjektiv bedingtes Bewusstseinsphänomen gegeben ist, von dem keineswegs behauptet werden darf, dass es über die Schranken mensch- lichen Bewusstseins hinaus Geltung besitze und transscendente Realität beanspruchen könne“ (228). Daraus folgt, dass die Berechtigung der Atomistik nicht weiter reichen kann, als bis zu den Grenzen des mensch- lichen Anschauungsvermögens (229). Völlig auf den Kantischen Boden stellt sich L. in dem Abschnitt über „organische Natur und Teleologie“: „Indem . . der Organismus von selber wächst, sich selber hervorbringt, in mehr als einer Hinsicht causa sui ist, indem zu dem teleologischen noch das kausale Wechselverhältnis der Teile hinzutritt, und überdies ein kausal-teleologisches Wechselverhältnis zwischen den Teilen und dem Ganzen obwaltet, gilt Kants wahrhaft geniale Definition: ‚Organismus ist ein Naturprodukt, in welchem alles Zweck und wechselseitig auch Mittel, Ursache und wechselseitig auch Wirkung ist‘ Dies Kunststück macht keine mensch- liche Kunst der Natur nach. Man muss hierüber die tiefgedachten 38 64-68 der Kr. d. Urt. nachlesen“ (286/7). Zu der Frage nach der Lebenskraft bemerkt L. sehr fein: „Das Wort ‚Lebenskraft‘ bezeichnet nicht sowohl einen Begriff, als eine Begriffslücke . . . Eine Begriffslücke ist ein Vacuum; aber keineswegs im Sein, sonderen in unserem Wissen; ein logisches, aber deshalb noch nicht ein metaphysisches Vacuum“ (244) L. neigt zweifellos zum Neovitalismus, wie ihn Hans Driesch, der auch mit Beifall citiert wird, vertritt; doch bleibt er diesem Forscher gegenüber bei Kant, der „weder als Vitalist, noch als Antivitalist . ,, überhaupt nicht als Dogmatiker“ dasteht; Kant „steht auf der überlegenen Höhe der Kritik“ (249). Auch Referent hält dafür, dass Kant aus den in unserem Jahrhundert geleisteten Arbeiten auf diesem Gebiet keinen Anlass ge- nommen hätte, von seiner Auffassung abzugehen, die übrigens von L. (S.247—49) vorzüglich interpretiert und gegen missverständliche Auffassungen geschützt wird. 2 Das andere Heft bringt psychologische Studien. Zuerst eine Abhand-

134 Litteraturbericht.

lung über „die Bilder der Phantasie“. L. weist gleich zu Anfang darauf hin, dass bereits Kant die Bedeutung der Phantasie richtig zu würdigen

hat: „Was wir von der Welt wirklich sehen, mit Sinnen wahr- nehmen, nicht mit Hilfe der Phantasie hinzuimaginieren, verhält sich zu unserer realen Umgebung etwa so, wie das kleine Stück Himmel, welches der Astronom durch die enge Öffnung seines Teleskops erblickt, zu dem ganzen gestirnten Himmelsgewölbe. Was wären wir ohne Phantasie? Augenblickstiere von kaum ausdenkbarer Kümmerlichkeit! Mit Recht nennt Kant die Einbildungskraft ein ‚notwendiges Ingrediens der Wahr- nehmung‘ (Kr. d. r. V., 1. Aufl, S. 120)“ (808). Der zweite Aufsatz handelt vom „Zeitbewusstsein*, und zwar vom psychologischen Standpunkt aus. L. vertritt nun die Anschauung, dass Psychologie und Erkenntnis- theorie heterogene Gebiete sind (864), immerhin aber „berühren sich beide Betrachtungsarten* (346). Infolgedessen fallen manche interessante Streif- lichter auch auf die Kantische Lehre von der Zeit, Das Angeborensein wird entschieden in Abrede gestellt: „der Mensch entwickelt sich . . von untertierischen Anfangsstadien aus durch tierisches Gegenwartsbewusstsein ganz allmählich zur Höhe des Zeitbewusstseins hinauf. Angeboren könnte es demgegenüber höchstens in der von Leibnitz eingeführten Bedeutung heissen, also d’une manière virtuelle“ (860; vgl. 349). Aus welchen psycho- logischen Vorgängen hat es sich nun aber entwickelt? „Nur wenn das Subjekt ... aus der Succession der Zustände heraustritt und diese Succession zu seinem Objekt macht, kann es das Bewusstsein der Zeit erlangen“ (861). Die Frage aber, „wie ein solches Heraustreten aus dem Geschehen und Darüberstehen möglich sein soll“, wird in den folgenden Erörterungen (861—74) immer mehr zugespitzt, aber nicht aufgelöst. Die abschliessenden Worte erklären die Psychologie für inkompetent: „wo sie auf das trifft, was allem Erkennen und so auch der Psychologie selber als condicio sine qua non vorangeht, tönt ihr ein Noli me tangere! entgegen“ (375). Auf die Untersuchung des Zeitbewusstseins greift die sich anschliessende Abhandlung über „die Sprachfähigkeit“ zurück. Warum spricht der Mensch, warum das Tier nicht? Liebmann führt drei psychologische Gründe an: „Erstens die Armut des tierischen Gedächtnisses, zweitens die beim Menschen viel höher gesteigerte Abstraktionsfähigkeit, drittens das Zeitbewusstsein“ (402). Letzteres ist das Wichtigste. Es ist Bo- dingung der Sprachfähigkeit nicht nur insofern, als die in der Zeit auf einander folgenden Worte vom Sprechenden wie vom Hörenden zu einem einheitlichen Gedanken zusammengefasst werden müssen, sondern auch darin zeigt sich seine Bedeutung für die Sprache, dass es in der Identität des Ich selbst begründet ist und erst dem Ich die Möglichkeit giebt, aus der Zeitreihe intellektuell heraustretend sich diese zum Objekt zu machen. Dadurch ist es Vorbedingung der aller Sprache notwendig vorangehenden Einordnung „zeitlich getrennter Einzelheiten in ein Netz sachlicher Kategorien“. So weist das Zeitbewusstsein zurück auf den „letzten, rätselhaften, innersten Grund der Sprachfähigkeit*: die Identität des Ich (405f.). Den Schluss des Heftes bilden die schon 1892 in der „Zeitschrift für Philosophie“, Bd. 101, veröffentlichten „psychologischen Aphorismen“, Auch hier nehmen die letzten Seiten auf das Problem des

Litteraturberieht. 135

Ich Bezug und berühren damit die Fragen der Transscendentalphilosophie (462, 464 ff.).

Die nun vorliegenden 3 Hefte bilden zusammen den ersten Band der „Gedanken und Thatsachen“. Liebmann beabsichtigt also, die philosophische Litteratur mit noch weiteren Beiträgen dieser Art zu bedenken. Man darf mit freudiger Spannung diesen Veröffentlichungen entgegensehen.

‘Wartenberg, M., Dr. Kants Theorie der Kausalität mit besonderer Berücksichtigung der Grundprinzipien seiner Theorie der Erfahrung. Eine historisch-kritische Untersuchung zur Erkenntnistheorie. Leipzig, H. Haacke 1899. (VIII. u. 294 S)

Wartenbergs Buch gehört zu den bedeutsamsten Erscheinungen in der philosophischen Litteratur der jüngsten Zeit. In einem der nächsten Hefte der „KSt.“ wird deshalb Professor Dr. Riehl dem Werke die ihm gebührende Würdigung zu teil werden lassen. Ich beschränke mich in dieser vorläufigen Notiz darauf, in aller Kürze auf den wissenschaftlichen Wert des Buches hinzuweisen, dessen Verfasser mit grossem Scharfsinn die Fähigkeit anziehender Darstellungsweise vereint. Der Inhalt der Abhandlung gliedert sich in folgender Weise: Auf eine Einleitung, die das im Kausalprinzip enthaltene Problem klar legt, folgen zunächst die beiden kürzeren Abschnitte über „die Stellung des Kausalproblems in der Philo- sophie vor Kant“ (7—20) und „Kants Ansichten von der Kausalität in der vorkritischen Periode seiner Philosophie und allmähliche Entwicklung des kritischen Standpunkts* (21—82). Die nächsten umfangreicheren Kapitel sind betitelt „Kants Theorie der Erfahrung nach ihren Grundprinzipien dargestellt“ (82—107), „Kants transscendentale Lösung des Kausalproblems* (107—189) und „Kritik“ (189286). Der Schlussabschnitt (287—294) ent- wickelt die Prinzipien der Sigwartschen Theorie der Kausalität, die Warten- berg als eine abschliessende Lösung der Kausalproblems betrachtet.

Ziehen, Theodor. Psychophysiologische Erkenntnistheorie. Jena, Fischer. 1898. (105 S.)

sbiaugepinkt sit rfi Zishen. das Gegebene. Bmpfindımgen,cnd Vorstellungen sind unmittelbar gewiss. Die Prädikate wahr und falsch haben auf sie keine Anwendung, sondern nur auf Urteile und Schlüsse, bei denen ein Irren möglich ist; so wern geschlossen wird, dass die Empfindungen veranlasst werden von einem Ding und empfunden werden von einem Ich (8). Hält sich bis hierher Ziehen in kritischer Reserve, so wird er dogmatisch, wenn er fortfährt: „Die komplexen Vorstellungen „Ich“ und „Ding“ können keine Realität und nicht einmal einen Sinn haben ausser ihrer Existenz als Vorstellungen“ (4/5) und wenn er des Weiteren erklärt: „Psychisch, bewusst und existierend sind ganz kongruente Begriffe, Esse = percipi“ Woher weiss Ziehen das? Wie kann er es überhaupt wissen, wenn er doch über seine Vorstellungen nicht hinauskommt? Das müsste er aber doch können, wenn er behauptet, dass es ausser ihrem Umkreis keine Dinge giebt. Ziehens Leugnung der Möglichkeit „extra- psychischer Existenz“ ist ein metaphysisches Dogma, eine unberechtigte ‚Verwechslung von Unbeweisbarkeit und Unmöglichkeit. Seite 6 sagt

136 Litteraturbericht,

Ziehen: „Der naive Mensch bezeichnet direkt seine Empfindungen selbst als Dinge“. Das stimmt doch nicht ganz. Es stimmt auch nicht ganz zu dem Satz, den Ziehen ein paar Zeilen weiter unten bringt, und über dessen Tragweite er sich, dem Gesamtinhalt des Buches nach, nicht klar geworden ist, Er sagt nämlich sehr richtig vom naiven Menschen: „Das Ding ist ihm das Ding mit mehreren Eigenschaften“. Damit giebt er aber folgendes zu: Nicht direkt seine Empfindungen selbst bezeichnet der naive Mensch als Dinge, sondern die Zusammenfassung der Empfindungen und ihre Be- ziehung auf einen Gegenstand. Das aber führt zur Position Kants (der Lehre vom transscendentalen Gegenstand). Doch dies nur beiläufig: Für die Grundgedanken des Buches ist es von untergeordnetem Interesse, ob die Analyse des naiven Bewusstseins richtig ist,

Die originellsten Teile der Ziehenschen Erkenntnislehre sind die das Problem der Materie betreffenden Ausführungen. Der Begriff „Materie“ muss natürlich fallen. Die Materie „ist ein metaphysisches und, was schlimmer ist, ein metapsychisches Dogma, das mit den spekulativsten Vorstellungen der älteren Philosophie wetteifert“ (104). An ihre Stelle treten die „Reduktions- bestandteile* oder „reduzierten Empfindungen“: diese werden so gewonnen, dass wir diejenige Komponente der Empfindung vorstellen, welche nach Abzug der Empfindungen unserer Sinnesorgane übrig bleibt, der in jeder Empfindung enthaltenen „»-Komponente“. Die Vorstellungen der Reduktionsbestandteile geben uns die Möglichkeit, die Empfindungen und ihre Veränderungen nach allgemeinen Gesetzen vorzustellen (104, vgl. 88), leisten also für die Naturwissenschaft, was sonst die Materie geleistet: hat. Die Unterscheidung von Reduktionsbestandteil und »-Komponente hat eine gewisse Verwandtschaft mit Kants Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung. Ziehen macht selbst darauf aufmerksam (83, 43, 50f.). Den Hauptunterschied findet er darin, dass seine Reduktionsbestandteile im Gegensatz zu Kants Dingen an sich sowohl den Naturgesetzen wie den Formen der Anschauung unterworfen sind (38 und 50). Besonders die räumlichen Eigenschaften der Reduktionsbestandteile werden einer ein- gehenden Diskussion unterzogen (60ff). Auf Kants Raumargumente geht Ziehen in diesem Zusammenhang im einzelnen ein (68—67). „Sie beweisen bei sorgfältiger Kritik, soweit sie überhaupt beweiskräftig sind, sämtlich nur die ausschliesslich allgemein-intrapsychische Natur der räumlichen An- schauung, keineswegs aber ihre ausschliesslich individuell-psychische Natur. Ersteres behaupte auch ich, letzteres hingegen bestreite ich. Die Beweise Kants und der Kantianer setzen an Stelle dieses Gegensatzes den zwischen „Objektiv“ und „Subjektiv“, welchen ich nicht anerkennen kann“ (58). „Die Vorstellung des Raums ist aus den räumlichen Eigenschaften der Empfindung, die mathematischen Sätze sind aus der vergleichenden Untersuchung der Empfindungen hervorgegangen ; jeder mathematische Satz drückt eine Eigen- tümlichkeit der räumlichen Eigenschaften unserer Empfindung aus. Eben- sosehr muss ich es jedoch auch ablehnen, dass der Raum ein extrapsychisches Reale sein könne. Solche extrapsychischen Realien existieren nicht. Man kann nur fragen, ob die räumlichen Eigenschaften schon dem Reduktions- bestandteil zukommen oder erst durch die Rückwirkung der »-Empfindungen entstehen, und diese Frage mussten wir zu Gunsten der ersten Alternative beantworten“ (57).

Litteraturbericht. 137.

Auch abgesehen von den hier erwähnten, mit dem Standpunkt des Ver- fassers in prinzipiellem Zusammenhang stehenden Punkten werden Kantische Theorien noch vielfach beiläufig herbeigezogen; insbesondere sei noch ver-. wiesen auf die Anmerkung gegen Kants „Widerlegung des Idealismus“ (4/6) und auf die Erörterungen über Kants Kausaltheorie (i9f.).

Übrigens vermag Ziehen seine Lehre von den Reduktionsbestandteilen durchaus nicht von metaphysischen Elementen frei zu halten, Um nicht gezwungen zu sein, die Anwesenheit der »-Komponente zur Bedingung der Existenz überhaupt zu machen, werden die reinen Reduktionsbestandteile selbst für etwas Psychisches erklärt, und zwar im Gegensatz zum Indi- viduell-psychischen für etwas Allgemein-psychisches: sie sind „allgemein bewusste Empfindungen“. Ziehen verfällt hier einer Schwierigkeit, der alle Vertreter der immanenten Philosophie verfallen müssen, sofern sie nicht zur Charybdis des (wenigstens erkenntnistheoretischen oder methodo- logischen) Solipsismus ihre Zuflucht‘, nehmen.

Mit alledem soll jedoch kein ungünstiges Urteil über das Buch ausge- sprochen sein. Es enthält scharfsinnige, in echt wissenschaftlichem Geist nach strenger Methode vorgenommene Untersuchungen. Allenthalben zeigt sich das Streben nach exakter Begründung. Solche Arbeiten sind immer wertvoll; sie behalten ihren Wert auch für den, der die Ergebnisse nicht. annehmbar finden kann.

Dimitroff, Athanas, Die psychologischen Grundlagen der Ethik J. G. Fichtes, aus ihrem Gesamtcharakter entwickelt. Diss. Jena, 1898. (187 S.)

Der scharfsinnige Verfasser, ein Schüler Euckens, will in seiner Dissertation Fichtes Ethik als ein Beispiel dafür hinstellen, dass eine Ver- einigung von absoluter und relativer Ethik möglich ist, ohne jedoch zu verkennen, dass eine endgiltige Versöhnung dieser beiden Auffassungen der Sittenlehre bei Fichte noch nicht vorliegt. Den Gegensatz zwischen absoluter und relativer Ethik definiert Dimitroff dahin: „Jedes philo- sophische System, welches an der Zweiteilung der Philosophie in die theoretische und praktische festhält, welches den Gegensatz zwischen. Sein und Sein-Sollen qualitativ auffasst, muss sich prinzipiell gegen die Einmischung der Psychologie in die Ethik erklären [absolute Ethik]; jedes philosophische System dagegen, welches den Gegensatz zwischen Sein und Sein-Sollen nicht anerkennt, sondern vielmehr das Sein-Sollen als Abdruck. des Seins oder potenzierte Quantität auffast, muss der Psychologie er- lauben, ein Wort in der Ethik zu reden“ [relative Ethik] (28). Gelänge nun eine Vereinigung dieser beiden Standpunkte, so dass einerseits der Unterschied zwischen Sein und Sollen gewahrt bliebe, andrerseits aber das Streben nach Aufhebung dieses Unterschiedes gerechtfertigt wäre, so- wäre die Ethik nicht nur begründet als Wissenschaft von den absoluten Geboten, sondern auch gegründet, indem ihre psychologischen Grundlagen aufgezeigt würden (vgl. S. 28). Und gerade darin erblickt der Verf. den Unterschied und Vorzug der Fichteschen Ethik vor der Kantischen, dass sie eine „Lehre von der Ausführbarkeit des Sollens oder der Möglichkeit der Realisation des kategorischen Imperativs“ giebt (148), während bei

138 Litteraturbericht. Mitteilungen.

Kant die sich hier erhebende Frage unbeantwortet bleibt. Dadurch, dass der Verf, wie ja fast selbstverständlich, die Ethik Kants als Muster- beispiel der absoluten Ethik benützt, ist in seiner Schrift oft von Kant die Rede, besonders auf den ersten 44 Seiten, wo zuerst Kants Stellung zu dem vorliegenden Problem, dann Fichtes Stellung zu Kant zu ein- ‚gehenden Erörterungen Anlass bietet. In diesen Zusammenhängen findet sich manches recht fein Gesagte; so z.B. wenn es S, 10 und 11 von Kants Copernicanischer That heisst: „Das Subjekt hat nicht mehr die Kraft und das Vermögen, die Welt zu umspannen, wohl aber die Kraft und das Vermögen, seine eigene Welt zu erfassen... Wäre Kant noch ‚einen Schritt gegangen, so hätte er einen völligen Weltbankerott gemacht, das hat er aber nicht thun wollen, denn den Punkt des Archimedes fand er in der praktischen Vernunft.«l) Dass Dimitroff er ist Bulgare am Schluss der Vorrede wegen des sprachlichen Ausdruckes um Nachsicht bittet, ist eine Bescheidenheit, die durch den Stil der Abhandlung selbst für überflüssig erklärt wird.

Mitteilungen.

Die neue Kantbüste in der Berliner Siegesallee. fi

Am 22, März sind in der Siegesallee in Berlin in Gegenwart des Kaisers 4 neue ,Markgrafengruppen* enthüllt worden. Die vierte neu auf- estellte Gruppe gehört der neueren Zeit an. Ihren Mittelpunkt bildet önig Friedrich Wilhelm IL, der Neffe und Nachfolger Friedrichs des Grossen. Geschaffen ist sie von Professor Adolf Brütt, von dem auch schon die bekannte originelle Charakterfigur Ottos des Faulen stammt. „Friedrich Wilhelm IL, der stark zur Corpulenz neigte, steht un- gezwungen an einen Baumstamm gelehnt, auf dem sein Mantel ruht; er scheint auf dem Spaziergang einen Augenblick zu rasten; die Hände, die den feinen Lederhandschuh Halten, ruhen gerade vor ihm auf Spazierstock. Auch die Büsten erscheinen mit der Zopfperriicke: rosskanzler v. Carmer, der die preussische Justizreform und das Land- recht vollendet und eingeführt hat, ist als weitblickender Staatsmann auf- fasst. Die zweite Büste zeigt den grossen Denker Immanuel Kant, LE über ein Problem zu grübeln scheint und das Haupt ganz charakteristisch ein wenig geneigt hat. Die Hässlichkeit seiner markanten Zage ist durch die grossen klaren Augen gemildert, sowie durch den Schädel, der sich mächtig über dem kleinen Gesicht wölbt.“ Die Zusammenstellung Kants mit König Friedrich Wilhelm IT. hat

1) In der Schrift „Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Tone u. 8: w.* gebraucht, beiliufig bemerkt, Kant selbst diesen Vergleich des moralischen Gesetzes mit dem von Archimedes vergeblich gesuchten festen Punkte (2. Hartensteinsche Aus- gabe, VI, 479).

Mitteilungen. 139

Eee a Paoli Ein Berliner Witzblatt, ET Moderne We *, No. ingt eine originelle peed ome unter der „Seltsame nebst einigen auf den Ki zielenden Witzworten. Der „Vorwärts“ brachte in seiner No. 66 (vom März) einen eigenen Leitartikel über das Thema unter der hen ur“. Von dem bekannten Standpunkt des Blattes aus wird

Zusammi DS CE AIR ee lischen Entrüstung zurückgewiesen; al Artikel enthält

historischer Unrichtigkeiten. So heisst es u. A.: sich unter

den len das Monument Friedrichs des Grossen erhob, da fand sich an dem Sockel Kant mit Lessing in einer Gruppe zusammen.

Y. ps nigsberger Weisen ber ie Vorlesungen, um sie zu studieren. Auch geistig hat Kant, die edelste Vollendung der Aufklärung, einige Beziehung zu Friedrich dem Grossen“ u. 8, w. enn man jetzt aber den grossen Philosophen, diesen sniper zur ,Neben- jenes ephemeren Fürsten mache, so sei das ein Zeichen des Rück-

Lebensführung, sondern auch durch seine Begünstigung der Schwärmerei und insbesondere durch den Erlass des „Reli; onsediktes‘ und des ,Censur- ediktes* von 1788 unter Mitwirkung der Minister Bischofswerder und Woellner die von Friedrich dem Grossen rte Aufklärung absichtlich und systematisch unterdrückt. Kant freilich liess trotzdem 1793 seine berühmte „Religion innerh. d. Grenzen d. blossen Vernunft“ erscheinen, worauf an ihn jenes vielberufene königliche Rescript vom 1. Oktober 1794 ing, welches in dem Artikel in extenso ab; ckt ist. Es heisst darin ch; „Unsre höchste Person hat on seit geraumer Zeit mit Missfallen ersehen: wie Ihr Eure Philosophie zu Entstellung und Herabwürdigung mancher Haupt- und Grundiehren der heiligen Schrift und des Christentums missbraucht; wie Ihr dieses namentlich in Eurem Buch: „Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft“, desgleichen in anderen kleineren Abhandlungen gethan habt. Wir haben uns zu Euch eines Besseren versehen, da Ihr selbst ein- sehen re) wie unverantwortlich Ihr dadurch gegen Eure Pflicht, als Lehrer der Jugend, und gen Unsre, Euch sehr wohl bekannte, landesväterliche Absichten handelt. Wir verlangen u. s. w.“ Es heisst dann weiter in dem Artikel, durch diesen Konflikt sei der 70jährige Kant in die äusserte ,Gewissensqual* gestürzt worden, und diese seelische Er- schütterung habe wohl den ersten Anstoss für seinen späteren geistigen Verfall gegeben. So sei die Zusammenstellung Kants mit dem König durchaus unpassend u. s. w. u. 5. w.

Diese Auffassung ist in jeder Hinsicht unzutreffend. Diejenige In- stanz, welche die Zusammenstellung Kants mit Friedrich Wilhel IL bestimmt hat, ist historisch sehr viel besser orientirt als der Anonymus des „Vorwärts“. Die ,Hauptwirksamkeit* Kants und seiner Philosophie fällt historisch genau mit der Regierungszeit Friedrich Wilhelms II. (1786— 1797) zusammen, Mit dem Jahre 1786, dem Todesjahre Friedrichs des

beginnt erst die Hauptwirksamkeit der Kantischen Philosophie. Die Kr. d. r. V. ee zuerst fast absolutem Stillschweigen, und erst nach dem Erscheinen der ,Prolegomena* und der Schultz’schen „Erläuterungen“, besonders aber der „Grundle; zur Metaph. d. Sitten“ (1785) beginnen sich die Anzeichen zu mehren, dass Kants Philosophie Eindruck macht. Der soeben herausgegebene erste Band des Briefwechsels Kants, über welchen wir in diesem Hefte referieren, giebt aufs Neue die deutlichsten Zeugnisse für diese übrigens altbekannte Thatsache. Und ebenso ist bekannt, dass etwa le mit dem Jahre 1797 die Blütezeit der Kantischen Richtung vorbei war, denn jetzt wurden Fichte, Schelling, Hegel u. a. die Fahnenträger neuer Richtungen. Aber nicht bloss die Hauptwirksam-

140 Mitteilungen,

keit der Kantischen Philosophie, sondern auch die Abfassung aller werke Kants mit Ausnahme der Kr. d r. V. fällt in die Zeit

auch mit ihren Wurzeln in die Zeit Fri des Grossen zu

Dass dieser letztere als ein Hauptvertreter der Aufklärung aufgeführt wird, ist ebenso zutrefi als es dem über unzutreffend ist und eine rückständige Auffassung undet, dieselbe Bezeichnung auf Kant anzu- wenden, it ist allerdings der Vollender der Aufklärung, aber eben damit, ich ihr Überwinder, Niemand hat dies besser aus; als Windelband in seiner „Geschichte der neueren Philosophie“ (2. Aufl, Bd. Il, S. 2—4 u. 147£) „Kant teilt mit der Aufklärung das Bestreben, im ganzen Umkreis der Din; der menschlichen und der aussermensch- lichen, allüberall der Vernunft ihr Recht zu wahren und ihre Herrschaft. zu sichern; aber er überwindet ihre trockene und kühle Verständigkeit, indem er das tiefste Wesen dieser Vernunft statt in theoretischen Sätzen vielmehr in der Energie der sittlichen Überzeugung sucht“ (a. a. O. 8, 8). „Wenn das 18. Jahrhundert die Vernunftwahrheit in der theoretischen Er- kenntnis zu besitzen meinte, so zerstört Kant diese Illusion, und wenn die Männer, die sich für die Aufgeklärten hielten, diese ihre vermeintliche Er- kenntnis als ein neues Dogma predigten, so tritt Kant dieser Anmassung der ‚Aufklärerei‘ auf das Schärfste entgegen. Gerade durch diesen starren Rationalismus beweist das Zeitalter, dass es kein aufgeklärtes ist“ (147). Es stünde einer philosophischen Zeitschrift schlecht an, auf die „Auf- klärung“ des XVII. Jahrhunderts loszuziehen in derselben Weise, wie dies rer ee eier theologischer Richtungen hieht. Denn die Deutsche Aufklärung hat, Früchte gezeitigt, welche der Deutschen Kultur unverlierbar sind, Aber diese Anerkennung schliesst nicht die Einsicht in die Einseitigkeit jener Zeitrichtung aus, und in der Kantischen Philosophie liegen eben Tendenzen, welche dazu geführt haben, diese Einseitigkeit zu ergänzen durch die Kulturperiode, welche durch die Namen Schiller, Goethe, W. v. Humboldt, Fichte u. s. w. bezeichnet ist.

Und nun zur Hauptsache.

Der Anonymus des „Vorwärts“ sieht in der Zusammenstellung Kants mit Friedrich Wilhelm IL. eine Art nachträglicher Beleidigung, ja „Strafe“ Fanta, weiler of nich gefailon lassen müsse, nen ala Trabant und N obeufgril das Denkmal desselben Fürsten schmücken zu müssen, der ihn in seinem Reskript so hart behandelt hat. Diese Auffassung ist wiederum nur ein Beweis der verbitterten Stimmung der Parteifreunde des „Vorwärts“, welche so oft zur Verkennung der einfachsten Thatsachen führt. Nicht eine nach- trägliche Beleidigung des Philosophen liegt doch offenbar vor, sondern im Gegenteil eine nachträgliche Rechtfertigung desselben. Wenn derselbe Kant, dem der König vorwirft, er habe durch angebliche Ent- stellung und Herabwürdigung des Christentums „unverantwortlich gegen seine Pflicht“ gehandelt u. s. w., nun heute nach 100 Jahren an der Seite desselben Königs in Marmor verewigt wird, wer wird denn dann von der Geschichte desavouirt? Doch offenbar das ominöse Reskript! Denn einen pflichtvergessenen Beamten, als welcher Kant in demselben erscheint, stellt man doch nicht in Marmor an die Seite seines Fürsten! Das Reskript des Königs ist also damit de facto zurückgenommen, gewissermassen in Folge einer appellatio a rege male informato ad regem melius informandum. Also liegt hier in Wirklichkeit eine hochherzige Restituirang vor, welche nach dem Wahlspruch ,Suum cuique“ noch nach 100 Jahren dem ge- kränkten Philosophen zu seinem Rechte verhilft, wohl nicht zum ee unter Anerkennung der gewaltigen moralischen Kraft, welche Kants Philo- sophie nach dem Zeugnis aller Historiker durch ihren kategorischen Imperativ den Freiheitskämpfern von 1818—15 eingeflösst hat, Es sei an die schönen Worte erinnert, weiche der damalige Prinz Friedrich Wilhelm (Kaiser Friedrich IIL), in diesem Sinne bei der Einweihung des neuen Universitätsgebändes in Königsberg am 15. Juni 1852 gesprochen hat:

142 Varia, „Über Kant in seinen Beziehungen zur Mathematik“. „Kant hat sich in unserm Bericht desk Allgemeinen vom 28. April] seit seinen frühen J in spätere grosse Philosoph hierzu als Jüngling, d. h. auf dem Fr: kollegium, fand; denn auf demselben wurde Mathematik ivatim if und war ein fakultativer Lehrgegenstand, genau po Sprache und die Musik. Wie wenig die Mathematik geschätzt wurde, geht aus dem hervor, dass der mathe- Lehrer nur eine Mark für die Unterricht le ielt ,

‘len seiner Schriften. Bis ins höchste Alter hinein beschäftigte sich Kant mit mathematischen Studien, Allerdi wesentliche Probleme der Mathematik hat Kant nicht gelöst, aber für jeden Lehrer sind auch heute noch die strengen Definitionen Kants über das Wesen der mathematischen Begriffe massgebend. Kein heutiges Lehrbuch hat Kant nach dieser Richtung hin übertroffen, namentlich auch in Bezug auf die Definition des Begriffes des unendlich Kleinen. Mit der vollen Schärfe seines Geistes hat Kant die Grenzbestimmungen zwischen beiden Wissenschaften, der Mathe- matik und der Philosophie, für alle Zeiten festgelegt. Er hat Bszeigt, über welche Grenzen namentlich der Philosoph, über welche der Mathe- matiker nicht hinausgehen darf. Es war dies umso wichtiger, als vor Kant und auch nach Kant letzteres vielfach geschehen ist.“ Bohnen- könig für das nächste Jahr wurde Stadtrat Direktor Dr. Dullo, Minister Dr. Hallervorden und Schulinspektor Tromnau,

Der Philosophische Kongress in Paris,

Gelegentlich der Pariser Weltausstellung 1900 wird in den Tagen vom 1—5. August ein ,Congrés international de Philosophie“ stattfinden. Unter den Gelehrten, die das ,Comité de Patronage* bilden, befinden sich u. a. der Herausgeber dieser Zeitschrift und noch zahlreiche den Lesern der „KSt.“ wohlbekannte Namen, z. B. R. Eucken, R. Falckenberg, M. Heinze, P. Natorp, F, Paulsen, A. Riehl, W. Wundt, E. Mach, F. Jodl, E. Zeller, H. Bergson, E. Boutroux, L. Couturat, A, Fouillée, X. Léon, Th. Ribot, G. Tarde, A. Seth, H. Spencer, J. H. Stirling, H. Höffding, J. E, Creighton, J.G. Schurman, C. Cantoni, A. Chiappelli u. v.a. Die Abhandlungen, die auf dem Kongress vor; elegt werden, werden in vier starken Bänden gesammelt als „Bibliothöque ongrès* im Druck erscheinen. Die vier Bände 480 Seiten circa) entsprechen den 4 Sektionen des Kongresses: Philosophie générale et Mötaphysique, Morale, Logique et Histoire des sciences, Histoire de la hilosophie. Aus dem reichen Inhalt der Publikation heben wir die Titel Koigen ler Beitriige hervor: die sich mehr oder weniger auf die Kantische Philosophie beziehen: Bergson, La causalité; PE lisme contemporain; Chiap pelli; Lu fonction présente de la philosophie critique; Dauriac, D'un système des catégories; Shadworth Hodgson, Les notions de cause et de condition réelle; Natorp, Rapport des intuitions spatiales et temporelles avec les représentations intellectuelles; Riehl, pport de la psychologie avec la theorie de la connaissance; Ténnies, Sur la synthèse créatrice; Ruyssen, La guerre et la paix; Simmel, Théorie de la connaissance religieuse; Delacroix, Rôle de la philosophie de Hume dans le Se repernent de la pensée moderne; Delbos, La cri- tique kantienne et la Psychologie; Léon, La morale de Fichte, Der Beitrag des Herausgebers der ,KSt.* bezieht sich nicht auf die Kantische Philosophie; er ist betitelt: La philosophie de Nietzsche.

Varia. 143:

Die 4 Bände werden in höchstens halbjährlichen Abständen vom 1. Dezember 1900 an auf einander folgen. Bis zu diesem Datum kann auf das ganze Werk subskribiert werden; der Subskriptionspreis beträgt entweder 40 Francs, auf einmal zu bezahlen, oder 44 Francs, in Raten von je 11 Francs zahlbar am 1. Mai und 1. Oktober 1900 und am 1. Februar und 4. Juni 1901. Wer subskribieren will, hat per Postanweisung oder Check entweder den Gesamtbetrag von 40 Francs oder den Betrag der bis zum Datum der Subskription verfallenen Raten an M. Xavier Leon, Directeur de la Revue de Métaphysique et de Morale et secrétaire du Congrès international de philosophie, gelangen zu lassen (Adresse: 5, rue de Mézières, Paris). Ausführlichere Prospekte des ganzen Unternehmens sind von derselben Stelle zu beziehen. Für diejenigen, welche die ,Bibliothéque du Congrès“ nicht subskriptionsweise kaufen, stellt sich der Preis der 4 Bände auf 62 Francs 50 Centimes.

Der Religionsgeschichtliche Kongress in Paris.

Bei Gelegenheit der Pariser Weltausstellung 1900 finden ausser dem Philosophischen Kongress noch viele andere wissenschaftliche Kongresse statt. Für einen derselben, den ,Congrès de l’histoire des religions“ hat M. Reville-Paris einen Vortrag über folgendes interessante Thema an- gekündigt: Der Einfluss der Kantischen und Hegelschen Philo- sophie auf die Theologie in Deutschland.

Die Stoa Kantiana. (Nach der Königsb. Allg. Zeitung No. 172 vom 12. April 1900.)

Die im Jahre 1587 von Professor Krüger gestiftete Begräbnisstätte der Königsberger Professoren und ihrer Angehörigen, die seit der Beisetzung Kants in ihr den Namen „Stoa Kantiana“ führte, ist wegen ihrer baulichen Beschaffenheit abgebrochen worden. Schon seit dem Anfang der 60er Jahre datiert ihr Verfall. Kants Grabstätte wurde im Jahre 1878 von Verehrern des grossen Philosophen durch Errichtung einer besonderen Grabkapelle geschützt. Diese Kapelle, unter deren Steinfliessen die Überreste Kants ruhen, ist heute allein noch von der „Stoa Kantiana“ erhalten.

Preisaufgaben.

Die Theologische Fakultät der Universität Giessen hat für das Jahr 1900 folgendes Thema für ihre Preisaufgabe gestellt: Geschichte des Begriffes „Reich Gottes“ seit Kant.

L'Accademia di scienze morali e politiche di Napoli ha deliberato di dare un premio di L. 1500 a chi presenterk la migliore Memoria inedita su questi due temi: L’Estetica di Kant e della scuola romantica, e l'Estetica positivista; La Filosofia del linguaggio nella Patristica e nella Scolastica.

Die kgl. Dänische Akademie der Wissenschaften schreibt die philo- sophische Preisaufgabe aus: Exposé et appréciation du Néo-criticisme en France, particulièrement tel que Charles Renouvier l’a développé. Preis: Goldene Medaille. Die Bearbeitungen müssen vor Ende Oktober 1901 bei dem Sekretär der Akademie, Prof. Zeuthen in Kopenhagen, einlaufen.

Das Helmholtz-Zeller’sche Kantbild. (Mit Abbildung.)

Wir sind in der angenehmen Lage, auch diesmal wieder unsern Lesern die Reproduktion eines Kantbildes bieten zu können, Zwar ist es kein neuer, bisher unbekannter Typus, dem das Bild angehört, aber dasselbe erhält doch ein ganz besonderes Interesse dadurch, dass es hinter einander im Besitze von zwei der hervorragendsten Gelehrten Deutschlands gewesen

144 Varia.

sophie von entscheidender Bedeutung gewesen sind. Das Bild gehörte nämlich dessen Beate:

scheinlich durch BO EB BEREITEN ist, als derselbe in Königsberg Professor war. Näheres über des Bildes HEUER ist nicht möglich gewesen. Nach dem Tode von Helmh cam es sein Freund E. nee zum Andenken, welcher in li i Weise die A ben hat, das Bild in den ,KSt* zu inal ist eines der von Gharies V Vernet gemalten Kant- ar Vernet hat mehrere wesentlich identische Porträts Kants

IN hierüber D. Minden, „Porträts u. Abbildungen I. Kants“, ‚berg,

S. 7f. und die Notiz in den ,KSt.* TH, S. 256.)

Unsere Reproduktion beruht auf einer Photo; En des Bildes in un Grösse des Originals, aufgenommen von Brant im Typus der Vernetschen Porträts ist durch re Stiche talk worden. Aber welch ein Unterschied zwischen einem solchen Stich und einer mechanischen Reproduktion! Unsere Lichtdruckreproduktion Bir die feinen Züge des Originals mit ungleich viel grösserer Schärfe und Deutlichkeit wieder als die Stiche. Jeder Stecher macht eben unwillkürlich gewisse feine Änderungen, welche den Eindruck des oft sehr wesentlich alteriren. Dies ist auch bei den Stichen nach Vernet der Fall, und so dürfen wir sagen, dass wir, obgleich der Typus des Bildes ein bekannter ist, doch durch unsere Lichtdrucl -Reproduktion etwas wesentlich Neues brin,

Der Vernet'sche Typus war in früherer Zeit mehr verbreitet als j wo er durch den Döblerschen Typus einigermassen verdrängt worden ist. So 2. B. schmückt ein Stich RE Ver (von J. H. Lips) neben einem Bild von David Hume die „Geschichte des Skepticismus* von Stäudlin, Ein Beweis der Beliebtheit” des Vernet'schen = us liegt auch darin, dass er in früherer Zeit mehrfach kopiert wurde (vgl. Minden, a. a. O., 8. 7/8). Eine sehr gut gelungene Kopie eines Vernet’ schen Bildes aus dem Jahre 1826 ist auch im Besitz des Buchhändlers Richard Bertling in Dresden, welcher so liebenswürdig war, uns dieselbe zur Ansicht vorzulegen. Der Maler des auf Elfenbein ausgeführten Miniaturbildchens (90 X 46 mm) ist J. B. Broysig, vielleicht ein So! des Malers und Architekten Joh, Adam Bre;

1880 als Direktor der Kunstschule i in Danzig starb. (Vgl. Naglers : lexikon, Bd. II, S.

Wir erhalten rn im letzten Augenblick die Nachricht vom Vor- handensein eines bisher unbekannten weiteren Vernet'schen Originals. Von mehreren solchen berichtet ja eben schon Minden a. a. 0. Dies ist um so interessanter, als feststeht, dass Kant selbst dasselbe einem Grafen Dohna verehrt hat. Möglicherweise ist dies derselbe „j Graf Dohna zu Schlobitten*, über welchen sein Hofmeister SRE im Briefe vom 16. März 1788 (Kants Briefwechsel, Bd. I, S. 506) ausführlich berichtet. (Vgl. oben S. 114, wo auch ein anderes im Besitz der Familie Dohna-Schlobitten befindliches Kantbild (von Senewaldt) erwähnt ist. Vgl.

„KSt.“ IV, 356.) Jenes Vernet'sche Miniaturbild hat sich in der Dohnaschen Familie fortgeerbt und ist vom jetzigen Grafen Dohna-Wundlacken

der 80er Jahre Herrn Hauptmann a, D. Friedrich v. Kall-Lenkeningken, dem Vetter der Gräfin Dohna, einem ausgezeichneten Kant Reine als Gastgeschenk verehrt worden. Herr v. Kall vermachte es testamentarisch dem jetzigen Besitzer, Herm Dr. J. Korn in Wilmersdorf bei Berlin, Geologen an der Kgl. geologischen Landesanstalt. Auch dieses Bild zeichnet sich durch ausserordentlich feine Ausführung und geistvolle ae fassung aus im Gegensatz zu den bekannten Stichen nach Vernet, 5} zu dem in der 1. Hartensteinschen Ausgabe von 1888 enthaltenen saint stich von Karl Mayer-Nürnberg.

Druck von A W. Hayn's Erben, Berlin und Potsdam.

Der Begriff des „transscendentalen Gegenstandes“ bei Kant und Schopenhauers Kritik desselben. Eine Rechtfertigung Kants,

Von Privatdocent Dr. M. Wartenberg in Krakan.

(Schluss.) 4. Beurteilung der Schopenhauerschen Ansicht.

Schopenhauer ist ohne Zweifel ein bedeutender Kritiker gewesen. Er hat oft mit scharfem Blick in den Systemen anderer Denker die schwachen Seiten und Fehler entdeckt und blossgelegt. Dies gilt auch ganz besonders von seiner Kritik der Kantischen Philosophie, einer Kritik, die viel Treffendes und Beherzigenswertes enthält. Was aber Schopenhauer so oft hinderte, das Richtige zu treffen und über fremde Ansichten ein gerechtes Urteil zu fällen, war der Um- stand, dass er so wenig die Fähigkeit besass, an seine Kritik vor- urteilslos heranzutreten, sich in die Gedanken anderer ganz hinein- zudenken und dieselben aus ihnen selbst zu verstehen und zu würdigen. Diese notwendigen Postulate einer richtigen und gerechten Kritik hat Schopenhauer kaum jemals vollständig erfüllt, Vielmehr geht er meistenteils, wenn ihm überhaupt sein hitziges Temperament und seine” persönliche Abneigung gegen bestimmte Richtungen des philosophischen Denkens genug Kaltblütigkeit und Besonnenheit übrig- lassen, um sich wirklich kritisch zu verhalten und es nicht lieber bei masslosen Schmähungen und polternden Ereiferungen bewenden zu lassen, er geht in seiner Kritik von eigenen Theorien aus, betrachtet die Ansichten anderer durch die Lupe seines eigenen Systems, legt dieselben nach dem Muster seiner eigenen Lehren zurecht, will überall nur seine Begriffe und Prinzipien wiederfinden, deutet fremde Gedanken in seine eigenen um und gelangt auf diese Weise zu einer schiefen Auffassung und dementsprechend zu einer ungerechten und falschen Beurteilung derselben. Diese Fehler treten

Kantstudien V. 10

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146 Dr. M. Wartenberg,

auch in Schopenhauers Kritik des Kantischen Begriffs des Gegen- standes der Vorstellung zu Tage.

In Schopenhauers Erkenntnistheorie spielt das Denken die Rolle einer sekundären Erkenntnisart; es bethätigt sich einzig und allein in der Reflexion über den anschaulichen Inhalt. An der Entstehung der Erfahrung beteiligt sich das Denken nicht; denn die Erfahrung liegt bereits in der empirischen Anschauung, die so wenig vom Denken abhängig ist, dass sie vielmehr den Grund und Boden bildet, worauf das Denken mit seiner reflektierenden Thätigkeit ruht. Die Begriffe aber sind nach Schopenhauer lediglich abstrakte, durch diskursive Thätigkeit des Denkens von der Anschauung abgezogene Vorstellungen; sie repräsentieren in abstrakter, nicht anschaulicher Form die gemeinsamen Merkmale anschaulicher Objekte. Weil nun Schopenhauer keine andere Denkfunktion, als die reflektierende, diskursive, keine anderen Begriffe, als die abstrakten, repräsen- tierenden, kennt und anerkennt, darum möchte er diese Auffassung auch bei Kant wiederfinden; und da ihm dieses nieht gelingt, ist er unfähig, den wahren Sinn der Kantischen Lehre zu erfassen, und erhebt gegen dieselbe Einwände, deren Richtigkeit durchaus zu bestreiten ist.

Wenn wir nun im folgenden an die Kritik der Schopenhauerschen Einwände gegen Kants Auffassung herantreten, so wird uns dabei nieht die Frage beschäftigen, wer von beiden Denkern im letzten Grunde mit seiner Lehre von der Möglichkeit einer Erkenntnis der Gegenstände der Erfahrung recht behalte, ob Kant oder Schopen- hauer; es wird uns hier nicht etwa darauf ankommen, nachzuweisen, dass Schopenhauers Erkenntnistheorie falsch, diejenige Kants dagegen richtig sei. Dieses Problem werden wir hier nicht zur Lösung bringen. Vielmehr wollen wir nur zeigen, dass Schopenhauers Ein- wände gegen Kant, vom Standpunkt der Kantischen Erkenntnistheorie aus betrachtet, unbegründet sind, dass die Widersprüche und Un- gereimtheiten, die Schopenhauer in Kants Lehre finden will, in Wahrheit gar nicht vorhanden sind.

Der Grundirrtum Schopenhauers in der Auffassung der Kantischen Lehre von der Thätigkeit des Denkens besteht in der Meinung, die Anwendung der reinen Verstandesbegriffe geschehe nach Kant allein in der Reflexion, also in abstrakter, deutlicher Begriffserkenntnis.')

1) Satz vom Grunde $ 21, WW. hrg. v. Grisebach S. 97. Schopenhauer redet

hier, mit Bezug auf seine Lehre, von der Kausalitit. Was er aber von dieser sagt, ‘gilt in seinem Sinne von allen Verstandesbegriften.

Der Begriff des „transscendentalen Gegenstandes“ eto, 147

Diese Auffassung hat die kritischen Einwendungen Schopenbauers gegen Kants Lehre verschuldet; sie gab dazu den Anlass, dass Sehopenhauer, nachdem er einmal das mgarov wetdos begangen, die erkenntnistheoretische Aufgabe, welche Kant dem Denken zugewiesen, vollkommen missverstanden, daher für widersprachsvoll erklärt und rückbaltlos verworfen hatte. Denn ist das Denken bloss reflektierend, so ist nicht abzusehen, wie dasselbe in etwas anderem sich bethätigen sollte, als eben in der Reflexion über vorhandene Gegenstände, die in der Anschauung liegen; sind die Begriffe Gebilde des reflektierenden, in abstrakten Vorstellungen sich bewegenden Denkens, so ist nicht einzusehen, wie sie etwas anderes sein könnten, als eben abstrakte, von der An- schauung abgezogene Begriffe; es ist nicht zu begreifen, wie das Denken, als reflektierende, also von der Anschauung abhängige und nur auf Grund derselben sich bethätigende Funktion, diese An- schauung von sich derart in Abhängigkeit versetzen sollte, dass es dieselbe dureh Hinzudenken eines ihr korrespondierenden Gegen- standes in Erfahrung umwandelte; es ist nicht zu verstehen, wie ein Gegenstand anders gedacht werden könnte, als in der Form eines abstrakten Begriffs, wie die Verstandesbegriffe die Anschauungen verbinden und ordnen sollten, anstatt von ihnen abgezogen zu werden. Dies sind die Erwägungen, welche der Schopenhauerschen Kritik stillschweigend zu Grunde liegen; und es ist nicht zu verwundern, wenn Schopenhauer bei der Voraussetzung, das Denken spiele in Kants Erkenntnistheorie die Rolle einer bloss reflektierenden, in deutlicher Begriffserkenntnis sich vollziehenden Funktion, Kants Lehre ungereimt und widersprechend findet. Allein wer Kants transscendentale Analytik ohne Vorurteil studiert hat, wer nicht, durch eigene Theorien geblendet, darauf ausgeht, seine Prinzipien bei Kant wiederzufinden, wer ausserdem sich vergegenwärtigt, welchen Zweck Kant in diesem Teil seiner Erkenntnistheorie verfolgte,') der wird finden, dass Kant die reinen Verstandesbegriffe keineswegs „als allein in der Reflexion, also in abstrakter, deutlicher Begrifiserkenntnis vorhanden und möglich“ angenommen, dass er dem Denken keineswegs die Rolle einer blossen Reflexion über den anschaulichen Inhalt zugewiesen hat. Vielmehr soll das Denken in Kants Erkenntnistheorie wie wir bereits im ersten Abschnitt nachgewiesen haben eine doppelte Aufgabe

1) Ich meine den Zweck, Hume zu widerlegen und damit die Möglichkeit der Efahrungserkenntnis, als einer notwendigen und allgemein gültigen Er- kenntnis, zu begründen.

10*

148 Dr, M. Wartenberg,

erfüllen: Als empirisches, auf die Erfahrung mit klarem Bewusstsein sich beziehendes Denken, verhält sich das Denken reflektierend; aber als transscendentales, die Erfahrung bedingendes und schaffendes Denken, verhält es sich objektivierend. Dort reflektiert das Denken über fertige, in der empirischen Anschauung gegebene Erfahrungs- objekte, es bewegt sich in abstrakter, deutlicher Begriffserkenntnis und arbeitet mit klaren Begriffen, hier erzeugt das Denken die Erfahrungsobjekte, es tibt eine vorempirische und vorbewusste, aller Reflexion vorangehende und dieselbe allererst ermöglichende Funktion aus: es verknüpft in der transscendentalen Einheit der Apperception auf Grund der reinen Verstandesbegriffe die anschaulichen Elemente und wandelt durch diese Synthese die blosse Anschauung in Erfahrung um. Diese reinen Verstandesbegrifte sind nun aber nicht Begriffe in der üblichen, von Schopenhauer einzig und allein fest- gehaltenen Bedeutung; sie sind nieht Begriffe, sondern Funktionen, Regeln des verknüpfenden Denkens. Kant hat ja selbst sehr deutlich den Verstand als das Vermögen der Regeln charakterisiert und die reinen Verstandesbegriffe für Regeln der Synthesis der Erscheinungen erklärt;)) er hat in dem Abschnitt über die transscendentale Deduktion der Kategorien zur Genüge gezeigt, welche Aufgabe im Erkenntnisprozess die reinen Verstandesbegrifie erfüllen, dass sie nämlich nicht Begriffe im gewöhnlichen Sinne des Wortes sind, sondern als Regeln der Verknüpfung, als Gesetze des synthetischen Denkens, funktionieren. Diese Fassung der Kategorien, die ihrem Wesen allein adäquat ist, ist auch Schopenhauer nicht entgangen. Er sagt selbst, dass Kant an der soeben angezogenen Stelle die Kategorien „deutlicher als irgendwo“ als Regeln der Synthesis erklärt habe?) Nun, diese Einsicht hätte Schopenhauer die Augen öffnen und seine Interpretation Kants korrigieren sollen. Weil er aber von ‚seiner eigenen Auffassung des Begrifls nicht um ein Haar abweichen wollte, so ist er bei seiner ursprünglichen Meinung, Kant verwende die Kategorien allein in der abstrakten, deutlichen Begriffserkenntnis, geblieben und hat bei seiner Kritik von dieser besseren Einsicht weiter keinen Gebrauch gemacht. Die Kantischen Kategorien sind also keine Begriffe, sondern Funktionen oder Regeln der synthetischen Funktionen des Denkens. Was die- selben ausdrücken, kann freilich auch den Inhalt eines abstrakten Begriffs bilden; aber dann ist dieser Begriff nicht der reine Ver- 1) Kritik der reinen Vernunft, S. 184. 3) Kritik der Kantischen Philosophie, S. 571.

Der Begriff des „transscendentalen Gegenstandes“ ete. 149

standesbegriff selbst, sondern nur dessen Repräsentant in der ab- strakten Form des diskursiven Denkens, er ist nicht die synthetische Regel selbst, sondern nur der Begriff dieser Regel. Der reine Ver- standesbegriff wird in diesem Falle aus der transscendentalen in die empirische Sphäre tbergeführt; er nimmt eine Gestalt an, die ihm als solchem fremd ist, nämlich die Gestalt eines logisch klaren Begriffs; die synthetische Denkfunktion wird zum abstrakten Repräsen- tanten dieser Funktion, das Ursprüngliche wird zum Abgeleiteten. Näher verhält es sich damit folgendermassen: Durch einen transscendentalen, vor aller bewussten Reflexion ausgeführten Akt des Denkens werden die anschaulichen Elemente den reinen Ver- standesbegriffen, als Regeln der Synthesis, untergeordnet, dadurch in notwendiger und allgemeingültiger Weise verkntipft und in Gegenstände der Erfahrung umgewandelt, Als Bedingungen der Erfahrung, als apriorische Regeln der Verknüpfung der Anschauungen, als synthetische Intellektualfunktionen, welche dem Mannig- faltigen der Anschauung einen gesetzlichen Zusammenhang geben, sind also die reinen Verstandesbegriffe noch vor aller Reflexion im anschaulichen Erfahrungsinhalt implieite enthalten. Und weil sie darin implieite enthalten sind, können sie auch expliziert werden: sie können in der Reflexion über den anschaulichen Erfahrangsinhalt, durch diskursive Thätigkeit des Denkens von der Erfahrung abstrahiert werden und in der Form abstrakter, logisch klarer Begriffe in die deutliche Begriffserkenntnis übergehen; ursprünglich transscendentale Funktionen, synthetische Regeln des Denkens, sind sie jetzt empirische Begriffe. Machen wir uns dies an einem Beispiel klar! Die Kate- gorie der Kausalität bedeutet nach Kant eine Regel der Verknüpfung, unter welcher die Aufeinanderfolge in der blossen Anschauung durch einen transscendentalen Akt des Denkens subsumiert und dadurch zu einer objektiven Succession, zur Erfahrung eines Geschehens, gestaltet wird; sie ist in jeder Wahrnehmung eines Geschehens implieite enthalten. Wenn nun das Denken, als empirische Funktion, über die Erfahrung reflektiert, wenn es bei dieser Reflexion bemerkt, dass Erscheinungen nach einer Regel aufeinander folgen, so kann es auf diskursivem Wege diese Regel von der Erfahrung abstrahieren und den Begriff der Ursache bilden, der dann als abstrakter Begriff zum System empirischer, klar und deutlich gedachter Begriffe gehört. Kant sagt darüber wirtlich:') „Es gehet aber hiermit (nämlich

1) a, a. 0. 8, 186.

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mit der Kausalität) so, wie mit anderen reinen Vorstellungen a priori (z. B. Raum und Zeit), die wir darum allein aus der Erfahrung als klare Begriffe herausziehen können, weil wir sie in die Erfahrung gelegt hatten, und diese daher durch jene allererst zustande brachten, Freilich ist die logische Klarheit dieser Vorstellung einer, die Reihe der Begebenheiten, bestimmenden Regel, als eines Begriffs der Ursache, nur alsdann möglich, wenn wir davon in der Erfahrung Gebrauch gemacht haben, aber eine Rücksicht auf dieselbe, als Bedingung der synthetischen Einheit der Er- scheinungen in der Zeit, war doch der Grund der Erfahrung selbst und ging also a priori vor ihr vorher.“ Hier ist der Unter- schied der Kategorie in der Form eines abstrakten Begriffs des diskursiven, empirischen Denkens von der Kategorie als synthetischer Funktion des objektivierenden, transscendentalen Denkens deutlich und scharf ausgesprochen. Diesen fundamentalen Unterschied hat Sehopenhaner, durch seine eigene Auffassung vom Wesen des Begriffs, die er als Norm zu Grunde gelegt hatte, irre geführt, vollständig übersehen; er bat sich nicht klar gemacht, dass die Kantischen Kategorien, als transscendentale, reine Formen des Denkens, un- möglich Gebilde der abstrakten, deutlichen Begrifiserkenntnis, die in der Reflexion sich äussert, sein können, dass diese Form eines ab- strakten Begriffs, wenn die Kategorien darin auftreten, nur eine sekundäre, abgeleitete, keine primäre, ursprüngliche Form derselben ist und sein kann. Denn abstrakte Begriffe, als Gebilde des dis- kursiven, reflektierenden Denkens, sind allemal empirische, aus der Erfahrung gewonnene Begriffe und müssen es sein, weil darin das Wesen des Abstrakten besteht; die Kantischen Kategorien sind aber nicht empirisch, sondern transscendental: darum haben sie mit den abstrakten Begriffen nichts gemein; das Merkmal des abstrakten, in der Reflexion, als deutlicher Begrifiserkenntnis Gedachten, ist ihnen von Haus aus vollständig fremd, und kommt ihnen nur nach- träglich, aus zweiter Hand zu, nämlich dann, wenn sie wie wir gezeigt haben nicht mehr als synthetische Funktionen des Denkens, sondern in der sekundären Form empirischer, von der Erfahrung abgezogener Begriffe auftreten. Schopenhauer schärft ausdrücklich ein, dass bei ihm die kausale Funktion des Verstandes, vermöge welcher die Empfindungen auf äussere Ursachen bezogen werden, wodurch Anschauung empirischer Objekte entsteht, nicht in der Reflexion geschehe, sondern aller Reflexion vorangehe; und er wirft Kant vor, dass dieser die Anwendung der Kategorien allein in der

wer

Der Begrift des „transscendentalen Gegenstandes“ ete. 151

Reflexion, in abstrakter, deutlicher Begriffserkenntnis, geschehen lasse. ‘Nun, wir haben nachgewiesen, dass dieser Vorwurf Schopenhauers unberechtigt ist. Die Anwendung der Kategorien bei Kant geht ‚ebenso aller Reflexion voran, wie die Anwendung des Kausalgesetzes bei Schopenhauer; die Kantischen Kategorien sind ebenso Funktionen, die vur aller Reflexion vollzogen werden, wie das Schopenbauersche Kausalgesetz; in dieser Beziehung findet zwischen Kants und Schopenhauers Erkenntnistheorie keine Differenz statt.

Auf Grund des soeben gerügten Irrtums in der Auffassung des "Wesens der Kantischen Kategorien gelangt dann Schopenhauer zu einer falschen Ansicht über das Verhältnis des Denkens zur An- schauung in Kants Erkenntnistheorie. Was zunächst den Einwand Schopenhauers anlangt, Kant habe das Entstehen der empirischen Ansehanung „ganz unerklärt“ gelassen, bei Kant spaziere durch die ‚Sinne die Aussenwelt „ganz fertig in den Kopf hinein!) und sei „wie durch ein Wunder gegeben“, so ist dieser Einwand durchaus ‚unbegründet. Denn Kant hat ausdrücklich gezeigt, wie die empirische Anschauung entsteht. Dieselbe entsteht, nach den Ausführungen der transscendentalen Ästhetik, durch eine transscendentale Formierung des empirischen, anf Grund einer Affektion der Sinnlichkeit ent- wickelten Empfindungsmaterials durch die reinen Anschauungs- formen, Raum und Zeit, ein Geschäft, welches, wie Kant in dem Abschnitt über die Deduktion der reinen Verstandesbegriffe näher nachweist, die produktive Einbildungskraft besorgt. Von einem fertigen Gegebensein der empirischen Anschauung, von einem Hinein- ‚spazieren der Aussenwelt in den Kopf, kann also bei Kant keine Rede sein; denn die empirische Anschauung ist nicht wie durch ein Wunder einfach gegeben, sondern sie wird vom Bewusstsein erzeugt, sie entsteht als das Produkt aus dem Zusammenwirken empirischer und apriorischer Erkenntnisfaktoren. Wie kam es nun, dass Schopenhauer diesen klaren Sachverhalt, den er doch ohne Mühe aus der Darstellung Kants hätte herauslesen können, übersehen und sich zu einem unberechtigten Vorwurf gegen Kant hat bewegen lassen? Der Grund liegt einfach darin, dass Sehopenhauer in Kants Ausführungen nicht das finden kann, was er in denselben finden möchte, nümlich seine eigene Lehre von der anschanlichen Er- kenntnis, die Lehre von der kausalen Beziehung der Empfindungen

1) Vergl. den 22. Brief an Becker, Schopenhauers Briefe hrsgb. v. Grise- bach, 3. 182.

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auf äussere Ursachen und von der Konstruktion dieser Ur- sachen als empirischer Objekte im Raume. Dies vermisst Schopen- bauer in Kants Lehre; die empirische Anschauung geht bei Kant nicht vom Kausalnexus aus, und weil sie davon nicht ausgeht, weil ihr Entstehen nicht nach dem Rezept Schopenhauers erklärt ist, deshalb ist es für Schopenhauer überhaupt nicht erklärt, und die empirische Anschauung ist ihm wie durch ein Wunder gegeben. Sie ist ihm dies um so mehr, als ja nach seiner Ansicht in der empirischen Anschauung schon die objektive Realität, die Erfahrung mit ihren Gegenständen, enthalten ist; sie ist aber darin enthalten, weil die Empfindungen durch die kausale Funktion des Verstandes auf äussere Ursachen bezogen und dadurch zu anschaulichen Ob- jekten gemacht worden sind. An dieser Lehre hält Schopenhauer fest, sie dient ihm zum Massstab des einzig Richtigen und Wahren ; ja, nicht nur dies: er interpretiert sie sogar in die Kantische Lehre hinein, indem er meint, dass auch nach Kants Überzeugung in der empirischen Anschauung die objektive Realität liege; lehrt doch Kant ausdrücklich, dass in der Anschauung Gegenstände gegeben werden. Wie aber diese Gegenstände in die Anschauung hinein- kommen, das hat Kant nicht gezeigt, sie sind ihm einfach gegeben, auf eine ganz wunderbare Weise. Darum bleibt es dabei, dass Kant das Zustandekommen der empirischen Anschauung nicht erklärt, sondern mit dem nichtssagenden Ausdruck, dieselbe werde uns gegeben, abgefertigt hat. So Schopenhauer. Wie steht es nun da- mit? Ist es denn wirklich Kants Meinung. dass in der empirischen Anschauung als soleher die objektive Realität liegt? Was bedeutet die Behauptung Kants, dass uns in der Anschauung Gegenstände gegeben werden? Versteht man unter objektiver Realität und etwas anderes lässt sich vom Standpunkt des Kantischen Idealismus darunter nicht verstehen die Erfahrung, die Welt realer Dinge und Ereignisse, wie sie im Bewusstsein, durch dessen Formen und Gesetze bedingt, erscheint, so ist nach Kant in der empirischen An- schauung die objektive Realität nicht enthalten. Denn Erfahrung bedeutet bei Kant einen notwendigen und allgemein gültigen, d. h. gesetzlichen Zusammenhang der Erscheinungen. Der empirischen Anschauung als solcher fehlt aber dieser gesetzliche Zusammen- hang der dieselbe konstituierenden Elemente. Die empirische Anschauung ist ja das Werk ausschliesslich sensualer Er- kenntnisfaktoren, die keine Gesetzlichkeit enthalten. Die Empfin- dungen bilden ursprünglich ein völlig formloses, ungeordnetes Chaos;

Der Begriff des „transscendentalen Gegenstandes‘ etc. 153

sie sind nicht einmal geformt, geschweige denn, dass sie in not- wendiger und allgemeingtiltiger Weise geformt wären. Den reinen Anschauungsformen, Raum und Zeit, fehlt ebenfalls das Merkmal der Gesetzlichkeit; sie sind zwar Formen der Anordnung der Empfindungen, aber es liegt in ihnen als solchen keine feste Norm für eine eindeutig bestimmte, gesetzliche Ordnung derselben. So ergiebt sich bw. aus der reinen Anschauungsform der Zeit für sich nicht die objektive Succession; denn zwei Empfindungen können zeitlich so geordnet werden, dass a vorangeht und b nachfolgt, sie können aber auch in der umgekehrten Reihenfolge angeordnet werden; mit Rücksicht auf die Form der Zeit ist das völlig gleicb- gültig, insofern wir in beiden Fällen eine Succession haben; die Objektive Succession muss aber eine eindeutig bestimmte sein, da muss #& notwendig vorangehen, b notwendig folgen; dieser Forderung @entigt jedoch die Form der Zeit als solche nicht, weil sie die Ord- nung der Succession unbestimmt lässt. In der empirischen An- Schauung liegt also keine objektive Realität; denn sie zeigt keinen zmotwendigen, gesetzlichen Zusammenhang ihrer Elemente. Die An- schauungen sind Bewusstseinsbilder von lediglich subjektiver Be- @leutung, aber von keiner objektiven Gtültigkeit; sie sind keine KEerfahrungsobjekte. Nun meint Kant zwar, dass uns in der An- sschauung Gegenstände gegeben werden, aber dieser Satz hat einen zanderen Sinn, als ihm Schopenhauer unterlegt. Denn es ist bei Want streng zu unterscheiden zwischen dem Gegenstand der An- schauung und dem Gegenstand der Erfahrung. Der Gegen- stand der Anschauung ist ein „unbestimmter“ Gegenstand, er ist MErscheinung, die nichts anderes ist, als ein subjektives Bild im MBewusstsein ; er ist Gegenstand in demselben Sinne, in welchem æalles, was Inhalt der Vorstellung ist, Gegenstand genannt werden xann, z. B. ein Phantasiegebilde. Weil er aber ausschliesslich durch æsinnliche Erkenntnisfaktoren bewirkt worden ist, so fehlt den Elementen, die ihn konstituieren, der notwendige Zusammenhang, «lie eindeutig bestimmte, der subjektiven Willkür entzogene Ordnung Mn der Zusammensetzung derselben; daher gilt er nur für das ihn „geweilig vorstellende Bewusstsein, aber er gilt nicht streng allgemein, und er ist deswegen kein Gegenstand der Erfahrung; er ist nur das, mit Rücksicht auf die objektive Erkenntnis der realen Wirk- lichkeit, nichtssagende sinnliche Material zur Bildung eines Gegen- standes der Erfahrung, ein Material, das zwar nicht mehr roh, son- dern bereits geformt und geordnet ist, das aber noch keine not-

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-wendige und allgemeingültige Ordnung erhalten hat. Diese Ordnung kommt in die empirische Anschauung erst hinein durch die streng allgemeinen Regeln des Denkens. Durch einen transscendentalen, vor aller Reflexion vollzogenen Akt des Bewusstseins werden die anschaulichen Elemente diesen Regeln des Denkens unterworfen, ‚erhalten mit Rücksicht auf ihre räumliche und zeitliche Anordnung einen gesetzlichen Zusammenhang, und die nichtssagende „blinde“ empirische Anschauung wird in Erfahrung umgewandelt. Die Erscheinung, als „unbestimmter“ Gegenstand, wird durch die not- wendige und allgemeingültige Verknüpfung der Elemente, aus denen sie besteht, zu einem bestimmten Gegenstande, d. h. zu einer Vor- stellung, die jedem erkennenden Bewusstsein stets in derselben Weise sich präsentieren muss; die unbestimmte, bald so, bald anders sich darstellende räumliche und zeitliche Ordnung der Teile einer Erscheinung wird zu einer eindeutig bestimmten, willkürlich nicht zu ändernden, sondern nur anzuerkennenden Ordnung derselben im Erfah- rungsobjekt. So wird z. B. durch die reine Anschauungsform der Zeit die objektive Succession nicht bestimmt; die Erscheinungen können bald in dieser, bald in einer anderen Reihenfolge suecedieren. Erst wenn die Erscheinungen dem Gesetz der Kausalität, als streng allgemeiner Regel des Denkes, unterworfen werden, erhält ihre Auf- einanderfolge eine eindeutig bestimmte, gesetzliche Ordnung und wird zur objektiven Succession. So stellt sich das wahre Verhältnis des Denkens zur Anschauung in Kants Erkenntnistheorie dar, nicht aber in der Weise, wie Schopenhauer dasselbe aufgefasst hat. Von einer Vermischung der anschaulichen mit der denkenden Erkenntnis, von einem unstatthaften Hineinbringen des Denkens in die An- schauung, was Schopenhauer Kant zum Vorwurf macht, ist bei Kant keine Rede, und diesen Vorwurf kann nur derjenige erheben, der, wie Schopenhauer, die eigentümliche Rolle, welche das Denken in Kants Erkenntnistheorie spielt, gänzlich missverstanden hat. Kant hat die anschauliche und die denkende Erkenntnis nieht vermischt, sondern beide sorgfältig auseinandergehalten. Versteht man nämlich wie es Kant thut unter der empirischen Anschauung die blosse Erscheinung, eine anschauliche Vorstellung, die noch nicht . durch intellektuale Prozesse, durch synthetische Regeln des Denkens, hindurehgegangen und daher noch nicht zum Erfahrangsobjekt ge- stempelt worden ist, so hat mit dieser empirischen Anschauung das Denken nichts zu schaffen, denn sie ist das Werk ausschliesslich sinnlicher Erkenntnisfaktoren. Versteht man dagegen unter der

Der Begriff des ,, dentalen Gegenstandes“ ete. 155

empirischen Auschauung schon die objektive Realität, die Erfahrung mit ihren Gegenständen, die Erscheinungen, die bereits durch die Regeln des Denkens in notwendiger und allgemeingültiger Weise verknüpft worden sind, so ist zwar in dieser empirischen Anschauung das Denken, als wesentlicher Faktor derselben, mit entbalten, aber dann lässt sich nicht von einem unstatthaften Hineinbringen des Denkens in die Anschauung reden. Denn nicht in die Anschauung als solebe wird das Denken hineingebracht, sondern nur in die An- schauung, sofern dieselbe schon die Bedeutung der objektiven Realität, der Erfahrung, gewonnen hat, also nicht mehr blosse An- schauung ist. Wohl ist unsere Erfahrungswelt, oder die Natur, etwas Anschauliches; aber sie ist nicht bloss etwas Anschauliches, sondern auch. etwas Gedachtes, in dem Sinne, dass in ihr Regeln des Denkens liegen, welche den Erscheinungen den gesetzlichen Zusammenhang geben und dieselben zu Gegenständen der Erfahrung machen. Nicht zum Vermögen der Anschauung hat Kant den Verstand unter der Hand gemacht, trotz seiner Versicherung, derselbe sei kein Vermögen der intuitiven Erkenntnis; vielmehr ist bei ihm der Verstand das "Vermögen der Erfahrungserkenntnis, die mit der anschaulichen "Vorstellung keineswegs identisch ist. Nicht blosse Anschauung, sondern Anschauung und Begriff, in dem oben entwiekelten Sinne, konstituieren bei Kant die Erfahrung. Nur derjenige, der da glaubt, in der empirischen Anschauung sei eo ipso Erfahrung enthalten, nur ‚derjenige, welcher das Denken für eine lediglich reflektierende, diskursive Thätigkeit hält und die transscendentale Bedeutung, die Kant demselben zugemessen hat, übersieht, nur derjenige, der die Gedanken Kants durch die Lupe seiner Theorie betrachtet und nach dem Muster derselben zurechtlegt, konnte gegen Kants Lehre vom Denken die Einwände erheben, die wir soeben als unbegründet zurück- gewiesen haben.

Das Problem der Erkenntnis objektiver Realität löst Schopen- hauer in einer anderen Weise als Kant. Nach Schopenhauer werden die Empfindungen durch die kausale Funktion des Verstandes auf äussere Ursachen bezogen und als anschauliche Objekte im Raume konstruiert; damit ist die Erkenntnis objektiver Realität vollendet, Nach Kant werden die Anschauungen, als blosse Erscheinungen ohne objektive Bedeutung, unter streng allgemeinen Regeln des Denkens subsumiert und dadurch auf Gegenstände bezogen. Bei Schopen- hauer liegt die objektive Realität bereits in der blossen Anschauung, während sie bei Kant in der Anschauung liegt, insofern dieselbe

156 Dr. M. Wartenberg,

durch synthetische Funktionen des Denkens in notwendiger und allgemeingültiger Weise verknüpft worden ist, Wie lässt sich nun diese Differenz erklären? Warum glaubt Schopenhauer die objektive Realität so einfach zu haben, während Kant dieselbe durch so kom- plizierte Erkenntnisprozesse erobern muss? Der Grund dafür liegt nach unserer Überzeugung in dem verschiedenen Zweck, welchen die Erkenntnistheorien beider Denker verfolgen. Schopenhauer will mit seiner Erkenntnistheorie etwas anderes erreichen, als Kant mit der seinigen. Das Hauptproblem, welches Schopenhauer lösen will, ist die Frage, wie wir zur Anschauung einer objektiven Welt im Raume gelangen; das Hauptproblem der Kantischen Erkenntnistheorie, der Angelpunkt, um welchen sich alle Untersuchungen Kants drehen, und der Zielpunkt, wodurch dieselben ihre bestimmte Richtung erhalten, ist die Frage nach der Mögliehkeit einer notwendigen und allgemeingültigen Erkenntnis, eine Frage, die Hume in seiner Kritik der Erfabrungserkenntnis gestellt und im skeptischen Sinne beant- wortet hatte. Kant fragt nach den Bedingungen der Möglichkeit notwendiger und allgemeingültiger Urteile über Thatsachen der Er- fahrung, d. h. der Erfahrungsurteile, und findet diese Bedingungen in apriorischen Prinzipien der Urteilsfunktion, in synthetischen Regeln des Denkens. Um nun zu zeigen, dass diese Regeln objektive Gültigkeit besitzen, dass die Erfahrungsthatsachen sich ihnen unter- ordnen und in Erfahrungsurteilen verknüpfen lassen, war Kant genötigt, jene Regeln zu Bedingungen der Erfahrung zu machen; die Kategorien mussten in den anschaulichen Erfahrungsinhalt, als Gesetze der Verknüpfung der Erscheinungen, transscendental hinein- gelegt werden, damit dieser Erfahrungsinhalt, wenn das empirische Denken ihn in der Reflexion beurteilt, sich als den Kategorien kongruent erweise. Ursprünglich Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrungsurteile, wurden die Kategorien durch Kant, in logischer Konsequenz seines Gedankenganges, zu Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrungsobjekte, zu Faktoren der objektiven Realität, ge- macht. So kam es, dass Kant das Denken mit dessen apriorischen Regeln der Verknüpfung in die Erfahrung hineingebracht und die- selbe zu einem komplizierten Produkt aus Anschauung und Denken gemacht hat; er hat dadurch freilich die Erfahrung mit Prinzipien überladen, die in diesem Umfang und in dieser Bedeutung in ihr thatsächlich nicht liegen, er hat die Erfahrung zu etwas anderem gemacht, als was sie wirklich ist; aber die Voraussetzungen seiner Erkenntnistheorie haben ihn dazu gezwungen. Der Zweck, die

hb

Der Begriff des „transscendentalen Gegenstandes“ etc. 157

Möglichkeit einer notwendigen und allgemeingültigen Erfahrungs- erkenntnis zu begründen, die Überzeugung, dass die Bedingungen dieser Möglichkeit in apriorischen Prinzipien der Erkenntnis, die er in seinen Kategorien entdeckt zu haben glaubte, liegen, sie haben ihm diese Lösung des Problems als die einzig mögliche erscheinen lassen. Anders steht die Sache bei Schopenhauer. Das Problem der notwendigen und allgemeingültigen Erfahrungserkenntnis stellt Schopenhauer nicht; er kennt dieses Problem entweder überhaupt nicht, oder er setzt stillschweigend als selbstverständlich voraus, dass dasselbe durch seine Theorie eo ipso gelöst werde. Ihn beschäftigt statt dessen eine andere Frage. Nachdem er die Welt im idealistischen Sinne für blosse Vorstellung erklärt hatte, musste er zeigen, wie diese Vorstellung, als Zustand des Bewusstseins, ihren zuständlichen Charakter verliere und in die gegenständliche Form einer Aussenwelt umgewandelt werde. Dieses Problem löst Schopen- hauer durch seine Lehre von der kausalen Beziehung der Empfin- dungen auf ihre Ursachen ausserhalb des Organismus. Dass nun diese so entstandene Aussenwelt die objektive Realität sei, dass der Verstand durch die kausale Beziehung der Empfindungen auf äussere Ursachen den rohen Stoff der Sinne in die objektive Auffassung einer gesetzmässig geregelten Körperwelt umarbeite, setzt Sehopenhauer als selbstverständlich voraus.!) Ob er aber dies mit Recht thut, ist noch eine Frage. Kant würde ohne Zweifel u. 7. vom Standpunkt des transscendentalen Idealismus, dem auch Schopen- bauer huldigt, mit vollem Recht gegen die Schopenhauersche Lehre eingewendet haben, dass die kausale Beziehung der Empfin- dungen auf Ursachen ausserhalb des Organismus einen Missbrauch der Kausalität in metaphysischer Absicht bedeute, insofern ja die Kausalität nur auf das immanente Gebiet der Erscheinungen anwend- bar sei und gar nicht dazu dienen könne, um Erscheinungen auf etwas kausal zu beziehen, was keine Erscheinung mehr ist, sondern zur transscendenten Sphäre gehört, nämlich auf Ursachen ausserhalb des Bewusstseins. Auch würde Kant eingeworfen haben, dass die Aussenwelt, die Schopenhauer durch den Verstand konstruieren lässt, bei weitem noch keine objektive Realität sei, dass also Schopen- hauers so zuversichtlich ausgesprochene Behauptung, wir gelangen auf Grund der kausalen Beziehung der Empfindungen auf äussere Ursachen zur objektiven Auffassung einer gesetzmässig geregelten

1) Satz vom Grunde, 8. 67.

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Körperwelt, eine petitio prineipii bedeute. Kant würde gesagt haben, dass die anschaulichen Vorstellungen, die in der von Schopenhauer dargelegten Weise entstehen, doch erst Wahrnehmungen seien, aber bei weitem noch keine Erfahrungsobjekte. Denn es ist fraglich, ob das Kausalgesetz dazu ausreichend sei, um die Empfindungen in notwendiger und allgemeingültiger, mit jedem vorstellenden Bewusst- sein tibereinstimmender Weise auf Ursachen zu beziehen, ob der Verstand eines bestimmten Individuums A, wenn er die Empfindungen der Sinne nach aussen projiziert und im Raume lokalisiert, dureh diese Projektion und Lokalisation Bilder erzeugt, die für jedes an- schauende Bewusstsein Gültigkeit besitzen; es ist fraglich, ob die durch Wirksamkeit der kausalen Funktion des Verstandes zustandegebrachte Aussenwelt Schopenhauers diesen eindeutig bestimmten, notwendigen Zusammenhang ihrer Teile zeigen würde, welchen die „gesetzmässig geregelte Körperwelt“ zeigt und zeigen muss. So ist bw. nieht abzusehen, warum die Anschauungen, die durch Vermittelung des Kausalgesetzes entstanden sind, nun auch unter einander, mit Rück- sicht auf ihre Veränderung, kausal verbunden, d. h. gesetzmässig geregelt sein müssen. Könnten doch die Veränderungen in der an- schaulichen Welt im regellosen Durcheinander, ganz entgegen dem Kausalgesetze, succedieren, so dass von einer gesetzmässig geregelten Körperwelt keine Rede wäre. Ob also Schopenhauers Theorie geeignet sei, das Problem der Erkenntnis objektiver Realität zu lösen, ist mindestens sehr fraglich. Um dieses Bedenken riehtig zu verstehen, muss man sich gegenwärtig halten, dass Schopenhauer auf dem Standpunkt des transscendentalen Idealismus steht, dass er einen erkenntnistheoretischen Zusammenhang zwischen der selbst- realen Welt der Dinge an sich und der vorgestellten Welt der Er- scheinungen, ganz im Sinne Kants, leugnet. Für den transscenden- talen Realisten, der diesen Zusammenhang, zum Zweck der Erklärung unserer Wahrnehmungen, hypothetisch annimmt, ist vor- liegendes Problem leicht zu lösen. Denn von diesem erkenntnis- theoretischen Standpunkt aus betrachtet, steht allen vorstellenden Bewausstheiten eine gemeinsame absolut-reale Welt der Dinge gegen- über; diese Welt tritt in gesetzmässige reale Beziehung zu den vor- stellenden Bewusstheiten, und die Wahrnehmungen sind durch immanente Erkenntnisfaktoren bewirkte ideale Rekonstruktionen der realen Ordnung im transscendenten Gebiet, Rekonstruktionen, die durch jene Beziehung vermittelt werden und auf derselben, als ihrem Realgrund, ruhen. Dass bei diesem Sachverhalt von allen an-

Der Begrift des „transscendentalen Gegenstandes“ etc. 159

schauenden Subjekten in tibereinstimmender Weise eine Vorstellung der Welt produziert werde, dass diese ideale Welt, da sie doch eine Reproduktion der gesetzlichen Ordnung der absolut-realen Welt be- deutet, eine gesetzmässig geregelte Kürperwelt sein müsse, das ist leicht zu begreifen, Diese Klarheit und Begreiflichkeit ist aber der Schopenhauerschen Theorie nicht nachzurtihmen. Als transscenden- taler Idealist will ja Schopenhauer von einer gesetzmässigen kausalen: Beziehung zwischen dem vorstellenden Subjekt und den Dingen an. sich nichts wissen; die absolut-reale Welt der Dinge und die ideale Welt der Vorstellungen sind bei ihm, wie bei Kant, disparate Grössen; die Anschauungen lässt er ausschliesslich durch Thätigkeit immanenter Erkenntnisfaktoren, obne Mitwirkung des transscendenten Faktors, entstehen; und da ist es unbegreiflich, wie das blosse Kausalgesetz einen sicheren Grundsatz abgeben soll, um den „rohen“ „niehtssagenden“, chaotischen Stoff der Empfindungen in überein- stimmender Weise auf Ursachen, die ja nirgends sind, zu beziehen und zu einer gesetzmässig geregelten Körperwelt zu formieren. Schopenhauer hat uns in seiner Theorie wahrlich ein Rätsel der Sphinx zur Lösung aufgegeben. In Anbetracht der Schwierigkeiten, die Schopenhauers Theorie bietet, möchte man fragen, ob nicht die Kantische Theorie der Erfahrung, trotz ihrer Unhaltbarkeit, die wir anderwiirts') nachgewiesen haben, doch insofern vor der Schopen- hauerschen den Vorzug verdiene, als Kant sich wenigstens der ganzen Wucht der Schwierigkeiten, aus lediglich immanenten, sub- jektiven Erkenntnisfaktoren eine objektive, gesetzlich geregelte Welt aufzubauen, vollkommen bewusst ist, und daher ein überaus kompli- ziertes, reich gegliedertes System von Erkenntnisprinzipien als Mittel verwendet, um dieses schwierige Problem zu lösen, während Schopen- hauer sich über diese Schwierigkeiten leicht hinwegsetzt und den gordischen Knoten durch ein Machtwort zerhaut, anstatt ihn zu lösen, Denn wenn man mit dem Standpunkt des transscendentalen Idealismus Ernst macht, wenn man die Erkenntnis objektiver Realität ausschliesslich auf immanente Faktoren des Bewusstseins gründet, so dürfte nach unserer Überzeugung Kant mit seiner Theorie, welche auf die Synthese der Anschauungen vermöge streng allgemeiner Regeln der typisch menschlichen Intelligenz, desDenkens, den Nachdruck legt und in dieser Synthese den Hauptfaktor des Objektivationsprozesses der subjektiven Wahrnehmungsbilder sieht, so dürfte Kant sich ent-

1) Vergl. meine Schrift: Kants Theorie der Kansalitit, 8. 265 ff.

160 Dr. M. Wartenberg,

schieden im Vorteil befinden im Vergleich mit Schopenhauer, der aus eitel subjektivem, völlig formlosem Empfindungsmaterial, durch die blosse Anwendung des allgemeinen, leeren Kausalgesetzes wodurch er obendrein mit seiner idealistischen Grundansicht in harten Wider- spruch gerät eine objektive, gesetzlich geregelte Welt hervor- zaubern will. Doch wir wollen und können diesen Gedankengang hier nicht weiter verfolgen. Aus unseren Betrachtungen leuchtet jedenfalls soviel ein, dass Schopenhauer, wenn er über das „Räder- werk“ der Kantischen Kategorien spottet und das Erkenntnisvermögen bei Kant eine „seltsame, komplizierte Maschine“ nennt!) sich damit durchaus im Unrecht befindet. Schopenhauers Erkenntnistheorie zeigt sehr deutlich, dass das Sprichwort: simplex sigillum veri mitunter zu einer recht verfänglichen Maxime werden kann.

Kant lehrt, dass die Erscheinungen, als subjektive Wahr- nehmungsbilder, durch ihre notwendige und allgemeingültige Ver- knüpfung auf Grund der reinen Verstandesbegrifie auf Gegenstände bezogen, d. h. objektiviert werden; er lehrt, dass der Begriff des „transscendentalen Gegenstandes“ dasjenige sei, was den Er- scheinungen überhaupt eine Beziehung auf einen Gegenstand, d, h. objektive Realität, verschaffen könne. Gegen diese Lehre Kants erhebt nun Schopenhauer sein Hauptbedenken. Der Begriff des transseendentalen Gegenstandes, der durch die Kategorien gedacht werden soll, um die empirische Anschauung in Erfahrung umzu- wandeln, erscheint ihm als ein Unbegriff; er ist nach seiner Ansicht eine Konzeption, die mit den Prinzipien der idealistischen Erkenntnis- theorie unvereinbar ist und womit sich auch überhaupt kein gesunder Sinn verbinden lässt. Unvereinbar mit den Prinzipien des Idealismus ist aber der Begriff des transscendentalen Gegenstandes deshalb, weil mit demselben ein Objekt der Erkenntnis eingeführt wird, das unab- hängig vom vorstellenden Bewusstsein an sich existiert, d. h. ein absolutes Objekt, ein Objekt ohne Subjekt ist, während doch der Idealismus, zu welchem sich auch Kant bekennt, unsere Erkenntnis auf Vor- stellungen, welche die einzigen Objekte der Erkenntnis sind, einschränkt; unvereinbar auch deshalb, weil durch den transscendentalen Gegen- stand auf unberechtigte Weise zwischen die Vorstellung und das Ding an sich etwas Drittes eingeschoben wird, während doch der Kantische Idealismus zwischen nichts anderem unterscheidet und unterscheiden darf, als zwischen Vorstellungen und Dingen an sich. Mit dem Be-

1) Kritik der Kantischen Philosophie, S. 564.

Der Begriff des „transscendentalen Gegenstandes“ ete. 161

griff des transscendentalen Gegenstandes lässt sich ausserdem auch kein gesunder Sinn verbinden. Denn gedacht kann etwas doch nur werden in der Form einer allgemeinen Vorstellung, während der transscendentale Gegenstand, den Kant durch die Kategorien zur Anschauung hinzudenken lässt, weil die Anschauung als Einzelvor- stellung auf denselben bezogen wird, etwas Einzelnes und Besonderes sein muss, Dies sind die Einwendungen Schopenhauers gegen den Kantischen Begriff des transscendentalen Objekts. Ob dieselben begrtindet sind, soll im folgenden untersucht werden.

Unter dem Terminus „Gegenstand“ verstehen wir, in des Wortes weitester Bedeutung, alles, was Inhalt der Vorstellung ist, was, im Unterschied von Gefühlen und Wollungen, die einen ausschliesslich subjektiven Charakter an sich tragen, das Bewusstsein in jenem rätselhaften Akt der Selbstdiremtion, der Subjekt-Objekt-Setzung, sich ideell gegenüberstellt. In dieser umfassenden Bedeutung sind Gegenstände nicht minder die Gebilde der Phantasie, als die mathe- matischen Objekte und die Gegenstände der Erfahrung. Bei näherem Zusehen finden wir aber, dass zwischen diesen Gruppen der Gegen- stände ein wesentlicher erkenntnistheoretischer Unterschied besteht. Das Phantasiegebilde charakterisiert sich dadurch, dass seine Be- deutung ganz und gar im Akt des Vorstellens aufgeht, dass es also blosse Vorstellung ist und ausserdem keine andere Realität geniesst; weiterhin dadurch, dass die Art und die Form der Zusammensetzung

Seiner Bestandteile von der Willkür des vorstellenden Subjekts ab- hängig ist. Darum kann das Phantasiegebilde wohl im psycho- logischen Sinne, als Inhalt der Vorstellung, Gegenstand genannt wverden; aber erkenntnistheoretisch betrachtet, kommt ihm keine ©bjektive Bedeutung zu, weil es das blosse Produkt des subjektiven Spiels der Vorstellungen ist. Anders verhält es sich mit den mathe- æwmatischen Objekten. Dieselben stimmen zwar mit den Objekten der Phantasie darin überein, dass sie blosse Vorstellungen sind; sie "unterscheiden sich aber von diesen wesentlich dadurch, dass ihnen Sine festbestimmte, von der Willkür des vorstellenden Subjekts "*anabhängige Natur zukommt. Darum können die mathematischen Objekte nicht bloss im psychologischen Sinne Gegenstände genannt "werden, sondern sie besitzen auch, erkenntnistheoretisch betrachtet, objektive Gültigkeit, welcher Umstand zur Folge hat, dass über

diese Klasse von Objekten eine besondere Wissenschaft, die Mathe-

matik, sich entwickeln konnte, während die Objekte der blossen

Phantasie zwar als psychische Produkte wissenschaftlich untersucht

Kantstudien. V. it

162 Dr. M. Wartenberg,

werden können, aber ihr Inhalt als solcher keine wissenschaftliche Betrachtung gestattet, weil sich über denselben etwas Allgemein- gültiges gar nicht behaupten lässt. Was endlich die Gegenstände der Erfahrung betrifft, so zeichnen sich dieselben, ebenso wie die mathematischen Objekte, durch eine eindeutig bestimmte, der sub- jektiven Kombination nieht unterworfene Natur aus, es eignet ihnen das Bewusstsein des Zwanges zu einer bestimmten Art und Form des Vorstellens; während aber die mathematischen Objekte blosse Vorstellungen sind, nur in der Vorstellung existieren, beanspruchen die Erfahrungsobjekte eine selbständige, vom Bewusstsein unab- bängige Realität; während die mathematischen Objekte nur ideale Gegenstände sind, wollen die Erfahrungsobjekte reale Gegenstände sein: die Beziehung auf eine reale Wirklichkeit, die nicht in der Vorstellung aufgeht, ist das charakteristische Merkmal dieser Klasse von Objekten. Der Begriff dieser Beziehung und damit der Be- griff des Gegenstandes der Erfahrung nehmen nun aber, je nach dem erkenntnistheoretischen Standpunkt, eine verschiedene Bedeutung an. Auf dem Standpunkt des naiven, unkritischen Realismus fallen Vorstellung und an sich seiende Realität zusammen. Der naive Realist ist sich des Untersehieds zwischen seinen Vorstellungen und den davon unabhängig existierenden Dingen gar nieht bewusst; er glaubt die absolut-reale Wirklichkeit in seinem Bewusstsein unmittel- bar zu erfassen; seine Wahrnehmungen hält er für selbständige Realitäten, und diese sind ihm die Gegenstände der Erfahrung. Dasselbe gilt mutatis mutandis vom erkenntnistheoretischen Stand- punkt des absoluten Idealismus, so sehr auch absoluter Idealismus und naiver Realismus auf den ersten Blick im diametralen Gegen- satz zu einander zu stehen scheinen. Denn der absolute Idealist unterscheidet sich zwar vom naiven Realisten dadurch, dass er die Existenz einer Wirklichkeit unabhängig vom Bewusstsein leugnet; weil er aber das Sein für ein blosses Wahrgenommenwerden hält und ein anderes Sein nieht zulässt, so ist auch bei ihm von einem Unterschied zwischen den Vorstellungen und der realen Wirklichkeit keine Rede; vielmehr fallen beide, wie beim naiven Realismus, zu- sammen; nur die Bedeutung des Wortes Realität ist eine andere, als auf dem Standpunkt des naiven Realismus: hier bedeutet Realität absolute Realität, während sie dort nur vorgestellte, relative, vom Bewusstsein abhängige Realität bedeutet!) Auf dem Standpunkt

1) Hartmann hat vollkommen recht, wenn er (Kritische Grundlegung des

transscendentalen Realismus, 3. Aufl. S. 8) den absoluten Idealismus einen um- gekrempelten, auf den Kopf gestellten naiven Realismus nennt.

Der Begriff des „transscendentalen Gegenstandes“ etc. 163

des kritischen oder transscendentalen Realismus fallen Vorstellung und an sich seiende Realität nicht zusammen. Der transscendentale Realist unterscheidet zwischen seinen Wahrnehmungen und der davon unabhängig existierenden Wirklichkeit. Er setzt aber zugleich voraus, dass zwischen der immanenten Sphäre des Bewusstseins und der transscendenten Sphäre der Dinge an sich ein reales, kausales Verhältnis besteht, wodurch die Wahrnehmungen, als Bilder im Be- wusstsein, eine transscendentale Beziehung auf die transscendente Welt ausserhalb des Bewusstseins erhalten und die Bedeutung von Vorstellungsrepräsentanten der absolut-realen Ordnung und Beschaffen- heit der Dinge annehmen. Für den transscendentalen Realisten ist der Wahrnehmungsinhalt der unmittelbare, im Bewusstsein gegebene Gegenstand der Erkenntnis; weil aber dieser Inhalt, wegen der kausalen Beziehung zwischen dem Bewusstsein und der absoluten Wirklichkeit, in letzterer seinen Realgrund hat, so bleibt er kein blosses Wahrnehmungsbild in der immanenten Sphäre des Bewusst- seins, sondern wird auf jene Wirklichkeit transscendental bezogen, und auf Grund dieser Beziehung wird die selbsteigene Natur der Dinge, vermittelst der Wahrnehmung, kausal erschlossen; nur so nimmt der Wahrnehmungsinhalt die Bedeutung des Gegenstandes der Erfahrung an, während er sonst nichts anderes wäre, als ein bedeutungsloses Hirngespinst, ein subjektiver Schein ohne objektive Geltung. Gegenstand der Erfahrung ist also auf dem Standpunkt des naiven Realismus die absolut-reale Wirklichkeit selbst, die mit der Wahrnehmung als identisch gesetzt wird; auf dem Standpunkt des absoluten Idealismus ist Erfahrungsobjekt der Wahrnehmungs- inhalt als soleher, der zwar der Art nach von anderen Bewausstseins- inhalten sich unterscheidet, dessen Realität aber im Vorgestellt- werden aufgeht; auf dem Standpunkt des transseendentalen Realismus endlich bedeutet Gegenstand der Erfahrung den Wahrnehmungsinhalt, insofern derselbe auf die transscendente Sphäre der Dinge an sich transscendental bezogen wird, also der Repräsentant des absolut Realen in Form der Vorstellung ist. Was bedeutet nun „Gegenstand der Erfahrung“ auf dem Standpunkt des transscendentalen Idealismus, dem erkenntnistheoretischen Standpunkt Kants? Welche Bedeutung kann derselbe hier konsequenterweise haben?

Um die Prinzipien seines transscendentalen Apriorismus durch- führen zu können, hat Kant das Erkenntnisproblem im idealistischen Sinne gelöst. Die Existenz einer absolut realen Wirklichkeit leugnet er nicht, er hält vielmehr an derselben ausdrücklich fest;

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164 Dr. M. Wartenberg,

aber die Erkennbarkeit dieser selbstrealen Welt stellt er ent- schieden in Abrede; er schränkt die Erkenntnis auf Erscheinungen ein, die nach seiner Ansicht nichts anderes sind, als Vorstellungen, als Zustände des Bewusstseins, ohne Beziehung zum transscendenten Gebiet der Dinge an sich. Diese phänomenalistische Lösung des Erkenntnisproblems war die notwendige Konsequenz der Voraus- setzungen der Kantischen Erkenntnistheorie. Denn eine spontane Ordnung und Formgebung, welche das vorstellende Bewusstsein durch seine apriorischen Anschauungs- und Denkformen ausübt, durch Formen, in denen Kant die einzigen Bedingungen der Mögliehkeit einer notwendigen und allgemeingültigen Erkenntnis erbliekte, diese Ordnung und Formgebung konnte sich billigerweise nur ein Inhalt gefallen lassen, dessen Realität in der blossen Vorstellung aufgeht. Allein durch diesen Phänomenalismus schien gerade die Erkenntnis objektiver Realität, die Erfahrung, vernichtet zu sein. Denn ist alles das, was wir auf Grund der Erfahrung erkennen, blosse Vorstellung, blosse „Modifikation des Gemüts*: wie kann man dann von einer Erkenntnis objektiver Realität reden? Sind die empirischen Anschauungen nur Zustände des Bewusstseins: wie können dieselben die Bedeutung der Gegenstände der Erfahrung annehmen? Hier stand Kant vor einem schwierigen Problem, hier war die Erkenntnis objektiver Realität in Frage gestellt. Denn konnte es nicht begreiflich gemacht werden, wie Erscheinungen, als Zustände des Bewusstseins, zu Gegenständen der Erfahrung werden, wie dasjenige, was blosser Inhalt der Vorstellung ist, objektive Be- deutung erhalten könne, dann war die Welt unserer Erfahrung in subjektiven Schein verflüchtigt. Wie löst nun Kant dieses Problem? Er löst dasselbe durch seine Lehre von der denkenden Be- ziehung der Erscheinungen auf Gegenstände. Die Erscheinung, als blosse Vorstellung, erhält dadurch objektive Realität, dass der Ver- stand vermöge seiner Kategorien dieselbe auf einen Gegenstand bezieht. Welches ist nun dieser Gegenstand ?

Es ist bereits im ersten Abschnitt dieser Abhandlung ausgeführt worden, dass der Gegenstand, worauf die Erscheinung bezogen wird, nicht das Ding an sich sein kann. Denn von einer Beziehung der Erscheinung auf das Ding an sich kann nur die Rede sein auf dem Standpunkt des transscendentalen Realismus, wo ein realer Zu- sammenhang zwischen der immanenten Sphäre des Bewusstseins und der transscendenten Sphäre ausserhalb des Bewusstseins als bestehend angenommen wird. In diesem Falle nämlich haben die Erscheinungen

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Der Begriff des „transscendentalen Gegenstandes“ ete. 165

ihren Realgrund in den Dingen an sich, sie sind psychische Pro- dukte aus dem gesetzlichen Zusammenwirken immanenter und trans- seendenter Erkenntnisfaktoren, und als solche sind sie nicht blosse Vorstellungen, sondern weisen hin auf die absolut-reale Wirklichkeit; sie können darum auf diese Wirkliebkeit durch einen kausalen Schluss bezogen werden und dadurch objektive Bedeutung erhalten. So verhält es sich aber bei Kant nicht. Die Existenz eines realen Zusammenhanges zwischen dem Bewusstsein und den Dingen an sich leugnet Kant; die Erscheinungen sind nicht Produkte aus dem gesetzlichen Zusammenwirken immanenter und transscendenter Er- kenntnisfaktoren, sondern Erzeugnisse ausschliesslich subjektiver, immanenter Faktoren. Besteht nun aber zwischen der Welt der Erscheinungen und der Welt der Dinge an sich kein realer Zu- sammenhang, kein kausales Verhältnis, so kann zwischen denselben auch kein erkenntnistheoretischer Zusammenhang bestehen. Die Welt der Erscheinungen und die Welt der Dinge an sich sind zwei disparate, von einander völlig verschiedene Welten; die Er- scheinungen weisen nicht hin auf das transscendente Gebiet; sie können darum auch nicht auf dieses Gebiet bezogen werden, um dadureh objektive Bedeutung zu erhalten. Die Beziehung der Er- seheinungen auf Dinge an sich wäre so weit davon entfernt, jenen objektive Realität zu verleihen, dass sie vielmehr eine fortwährende Selbsttäuschung des vorstellenden Subjekts bedeuten würde. Denn eine Selbsttäuschung, eine Prellerei, würde es doch offenbar sein, wenn wir annehmen wollten, dass wir den Erscheinungen, als blossen Zuständen unseres Bewusstseins, dadurch die Bedeutung der Gegen- stände der Erfahrung geben können, dass wir dieselben auf ein Etwas beziehen, was ganz und gar ausserhalb der Sphäre des Er- kennbaren liegt, und womit die Erscheinungen thatsächlich in gar keiner Beziehung und Zusammenhang stehen.

Ebenso wenig wie mit dem unerkennbaren, gänzlich ausser- halb der Grenzen unseres Bewusstseins liegenden Ding an sich kann der Gegenstand, worauf die Erscheinung bezogen wird, mit dem- jenigen identifiziert werden, was Kant das Noumenon genannt hat. Eine solche Identifikation erlaubt der Begriff des Noumenon nicht. Denn das Noumenon ist nach Kant das Ding an sich, als Gegen- stand einer intellektuellen Anschauung. Nun bedeutet aber diese intellektuelle Anschauung keine wirkliche, sondern eine nur mögliche Art der Erkenntnis, insofern die Anschauung, die wir thatsächlich besitzen, nicht intellektuell, sondern sinnlich ist. Darum bedeutet

Mia

166 Dr. M. Wartenberg,

auch das Noumenon keinen wirklichen, sondern einen nur müglieben Gegenstand der Erkenntnis, d. h, Noumena giebt es für unsere, an die sinnliche Art der Anschauung gebundene Erkenntnis thatsächlich nicht. Wenn nun aber das Noumenon kein Gegenstand der mensch- liehen Erkenntnis ist, sondern nur einen wie Kant sagt problematischen Begriff eines Gegenstandes bedeutet, so kann es auch nicht zum Objekt dienen, auf welches Erscheinungen bezogen werden. Diese Beziehung der Erscheinungen auf Dinge an sich als Noumena ist aber auch überhaupt ein unmöglicher, sich selbst widersprechender Gedanke. Denn wäre das Noumenon ein wirk- licher Gegenstand unserer Erkenntnis, dann würde diese Erkenntnis nicht mit Erscheinungen es zu thun haben, sondern Dinge an sich erfassen. Erscheinungen würden dann gänzlich wegfallen, weil ihr Dasein an die sinnliche Art unserer Anschauung, die nunmehr der intellektuellen Platz machen müsste, gebunden ist. Hätten wir aber keine Erscheinungen, würden an Stelle der Phänomena Noumena treten, dann würde auch die Aufgabe, die Erscheinungen auf Gegen- stünde zu beziehen, für unsere Erkenntnis natürlich nicht vor- handen sein,

Aus unseren Betrachtungen folgt, dass der Gegenstand der Er- scheinung nicht in der transscendenten Sphäre der Dinge an sich liegt; denn weder unmittelbar, noch vermittelst der Noumena können Erscheinungen auf Dinge an sich bezogen werden. Ebensowenig aber kann der Gegenstand der Erscheinung in der immanenten Sphäre des Bewusstseins gesucht werden; denn alles, was Inhalt des Bewusstseins bildet, ist an sich nur Vorstellung und ausserdem nichts. Die Beziehung einer Vorstellung auf eine andere Vorstellung könnte jener nur dann objektive Bedeutung verschaffen, wenn die Vorstellung, auf welche wir eine andere beziehen, schon objektive Gültigkeit besässe, also bereits mehr als blosse Vorstellung wäre. Diese objektive Gültigkeit kann aber eine Vorstellung nur durch Beziehung auf einen Gegenstand erhalten, und es ist eben die Frage, welches dieser Gegenstand sei.

Wenn der Gegenstand, worauf die Erscheinung bezogen wird, weder im Bewusstsein, noch ausserhalb des Bewusstseins liegt, so ist klar, dass derselbe überhaupt keine besondere Realität geniesst. Weder absolute, noch relative Realität kommt dem Gegen- stand der Erscheinung zu; jene nicht, denn er ist kein Ding an sich, diese nicht, denn er ist kein besonderer Bewusstseinsinhalt neben der Erscheinung. Er ist kein für sich bestehender, realer

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Beziehungspunkt für die Erscheinung, er steht ihr nicht als etwas Besonderes, in seiner eigenartigen Beschaffenheit von derselben Unterschiedenes gegenüber, weder in der Form eines absolut Realen, noch in der Form eines relativ Realen, eines besonderen Bewusst- seinsinhaltes; er bedeutet überhaupt nichts Wirkliches, sondern nur etwas Gedachtes. Allein da wird man verwundert fragen: Wie in aller Welt kann die Erscheinung dureh etwas nur Gedachtes objek- tive Bedeutung erhalten? Wie kann die Erscheinung, als etwas Subjektives, durch Beziehung auf ein Etwas, das auch nur etwas Subjektives, weil etwas Gedachtes ist, zum Objekt der Erfahrung werden? Wie Kant sich dieses Verhältnis denkt, darüber sollen die folgenden Betrachtungen nähere Aufklärung geben.

Wenn wir eine empirische Anschauung oder, was dasselbe be- deutet, eine Erscheinung analysieren, wenn wir darauf achten, was im erkennenden Subjekt beim Bewussiwerden einer solchen Vor- stellung vorgeht, so finden wir, dass die Erscheinung stets vom Ge- danken an ein Objekt begleitet ist. Die Erscheinung, obwohl sie an sich nichts anderes ist, als ein Zustand im Bewusstsein, wird von uns doch keineswegs als dieser Zustand aufgefasst; vielmehr mani- festiert sich dieselbe in der Form eines selbständigen, vom vor- stellenden Subjekt unabhängigen Gegenstandes. Dieser gegenständ- liche Charakter der Erscheinung ist nicht etwas, was ihr als solcher zukäme, er ist nicht mit dem Dasein der Erscheinung im Bewusst- sein von selbst gegeben; denn die Erscheinung bedeutet ja an sich nur etwas Zuständliches, aber nichts Gegenständliches, sie ist eine Summe von Sinnespereeptionen und sonst nichts. Dieser gegen- ständliche Charakter der Erscheinung wird ihr erst vom Bewusstsein zugesprochen; er ist nicht in der Erscheinung als solcher enthalten, sondern wird in dieselbe durch einen besonderen Akt des Bewusst- seins hineingelegt. Dieses Hineinlegen des gegenständlichen Cha- rakters in die Erscheinung geschieht nun durch die kategoriale Funktion des Verstandes. Der Verstand subsumiert die Erscheinungen unter seinen reinen Begriffen, als streng allgemeinen Regeln des Denkens, verknüpft die sinnlichen Bestandteile der Erscheinungen durch diese Subsumtion in notwendiger und allgemeingtiltiger Weise und macht aus blossen Erscheinungen Gegenstände der Erfahrung. Gegenstände der Erfahrung sind aber die Erscheinungen jetzt deshalb, weil das Mannigfaltige derselben unter Regeln steht, die, als Regeln des Denkens, streng allgemein gelten und daher diesem Mannigfaltigen einen notwendigen, gesetzlichen Zusammen-

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hang geben, worin eben der Charakter der Gegenständlichkeit besteht.

Nunmehr werden wir auch bestimmen können, was Beziehung der Erscheinungen auf Gegenstände bei Kant bedeutet, Dieselbe bedeutet nichts anderes, als die notwendige und allgemeingültige Verknüpfung der Erscheinungen auf Grund ihrer Subsumtion unter reinen Verstandesbegriffen.

Erscheinungen und reine Verstandesbegriffe sind also im that- sächlichen Erkenntnisprozesse zur Einheit verbunden und ergeben in dieser Einheit empirische Gegenstände oder Gegenstände der Er- fahrung. Diese Einheit, obwohl realiter eine untrennbare Einheit, kann in abstracto aufgelöst werden. Alsdann zerfällt der empirische Gegenstand in die Erscheinung und den reinen Verstandesbegriff. Sehen wir nun von der Erscheinung ab und fragen, was nach Abzug derselben von dem Gegenstande übrig bleibt, so finden wir, dass davon nichts weiter übrig bleibt, als der „gänzlich unbestimmte Ge- danke von Etwas überhaupt.“ Denn es bleibt übrig der reine Ver- standesbegriff. Nun ist der reine Verstandesbegriff, an und für sich betrachtet, nur eine Form des Denkens. Es wird durch ihn als solehen kein bestimmter Gegenstand erkannt; denn zur Erkenntnis eines bestimmten Gegenstandes ist neben der Form ein Inhalt erforderlich, den die sinnliche Anschauung liefert. Ein bestimmter Gegenstand kann durch den reinen Verstandesbegriff nur im Verein mit der sinnlichen Anschauung, d. h. der Erscheinung, erkannt werden. Ohne diesen Inhalt der sinnlichen Anschauung bedeutet der reine Verstandesbegriff nur die allgemeine, inhaltsleere Form der Gegenständlichkeit, des Objekt-seins, die Form des Denkens, ein Objekt überhaupt zu erkennen. Der reine Verstandesbegriff als solcher schliesst also nicht die Erkenntnis eines bestimmten Gegen- standes in sich denn diese ist nur beim Vorhandensein eines anschaulichen Inhaltes möglich —, sondern nur den völlig un- bestimmten, weil inhaltsleeren Gedanken an ein Objekt überhaupt, an ein Etwas, von dem sich mangels eines konkreten Inhaltes gar nicht sagen lässt, was es ist, Dieses unbestimmte Etwas, dieses Objekt tiberhaupt, diese allgemeine, inhaltsleere Form des Objekt-seins, ist nun dasjenige, was Kant den „transscendentalen Gegenstand“ genannt hat. Transscendental heisst dieser Gegenstand im Unterschied vom empirischen Gegenstande, vom Erfahrungsobjekt, in dessen Bereich der empirische, anschauliche Inhalt eingeht. Der transscendentale Gegenstand bedeutet an sich kein Objekt der Er-

Der Begrift des „transscendentalen Gegenstandes“ ete. 169

kenntnis, er führt also nur im uneigentlichen Sinne den Namen eines Gegenstandes. Denn die Erkenntnis richtet sich immer auf etwas- Bestimmtes, Objekt der Erkenntnis ist immer nur etwas Bestimmtes; der transscendentale Gegenstand ist aber nichts Bestimmtes, sondern nur ein unbestimmtes Etwas, kein bestimmtes Objekt, sondern nur ein Objekt überhaupt. Die Erkenntnis ist ohne Inhalt nicht möglich; der transscendentale Gegenstand hat aber keinen Inhalt, sondern ist nur die ganz allgemeine, abstrakte Form eines Gegenstandes tiber- haupt, d. h. der Gegenständlichkeit. Durch die Erscheinung, den anschaulichen Inhalt, wird überhaupt kein Gegenstand erkannt; denn die Erscheinung ist nur ein Zustand des Bewusstseins, Durch. den reinen Verstandesbegriff wird kein bestimmter Gegenstand erkannt; denn er drückt nur die Form des Denkens eines Objekts überhaupt aus, sein Gegenstand ist transscendental, und als solcher kein Objekt der Erkenntnis. Erst die innige Vereinigung des empirischen Inbaltes und der transscendentalen Form, der objektlosen. Erscheinung und des transscendentalen Objekts, als eines un- bestimmten Etwas, das durch den reinen Verstandesbegriff aus- gedrückt wird erst diese innige Vereinigung ergiebt Gegenstände der Erfahrung, als bestimmte, wirkliche Objekte der Erkenntnis. Die Erscheinung, als blosser Zustand des Bewusstseins, erhält durch das transscendentale Objekt, d. h. durch die im reinen Verstandes- begriff enthaltene Form der Gegenständlichkeit, gegenständlichen. Charakter, sie wird auf einen Gegenstand bezogen; der transscen- dentale Gegenstand, als das durch den reinen Verstandesbegriff aus- gedrückte unbestimmte Etwas, das Objekt überhaupt, erhält durch. die Erscheinung einen konkreten Inhalt und wird zu einem be- stimmten Objekt der Erkenntnis, zum Gegenstand der Erfahrung. Kant äussert sich darüber folgendermassen:') „Das Denken ist die Handlung, gegebene Anschauung auf einen Gegenstand zu beziehen. Ist die Art dieser Anschauung auf keinerlei Weise gegeben, so ist der Gegenstand bloss transscendental, und der Verstandesbegriff hat keinen anderen, als transscendentalen Gebrauch, nämlich die Einheit des Denkens eines Mannigfaltigen überhaupt. Durch eine reine Kategorie nun, in welcher von aller Bedingung der sinnlichen An- sehauung, als der einzigen, die uns möglich ist, abstrahiert wird, wird also kein Objekt bestimmt, sondern nur das Denken eines Objekts überhaupt, nach verschiedenen modis,*) ausgedrückt,“ 1) Kritik der reinen Vernunft. S. 230.

2) Die verschiedenen Modi beziehen sich auf die verschiedenen Kategorien, von denen jede eine besondere Art, ein Objekt zu denken, ausdrückt.

170 Dr. M. Wartenberg,

Und wieder:') „Dieses transscendentale Objekt lässt sich gar nicht von den sinnlichen Datis absondern, weil alsdann nichts tibrig bleibt, wodurch es gedacht würde. Es ist also kein Gegeustand der Erkenntnis an sich selbst, sondern nur die Vorstellung der Er- scheinungen unter dem Begriffe eines Gegenstandes überhaupt, der durch das Mannigfaltige derselben bestimmbar ist. Eben um des- willen stellen nun auch die Kategorien kein besonderes, dem Ver- stande allein gegebenes Objekt vor, sondern dienen nur dazu, das transscendentale Objekt (den Begriff von etwas überhaupt) durch das, was in der Sinnlichkeit gegeben wird, zu bestimmen, um da- durch Erscheinungen unter Begriffen von Gegenständen empirisch zu erkennen.“?) Was wir soeben auseinandergesetzt haben, wollen wir durch ein Beispiel verdeutlichen, damit diese dunkelste and scheinbar widerspruchsvolle Partie der Kantischen Erkenntnis- kritik gehörig beleuchtet und in das richtige Licht gestellt werde. In der Wahrnehmung einer objektiven Succession, in der Erfahrung eines Geschehens, ist nach Kant neben der in der Anschauung gegebenen Aufeinanderfolge bestimmter Erscheinungen noch der reine Verstandesbegriff der Kausalität entbalten, welcher den aufeinander

1) a. a. 0.S. 232.

2) Es leuchtet jetzt auch von dieser Seite ein, warum der Gegenstand, worauf die Erscheinung bei Kant bezogen wird, d. h. das transscendentale ‘Objekt, nicht das Noumenon sein kann. Denn das Noumenon wäre, wenn es die Bedeutung eines wirklichen Gegenstandes der Erkenntnis hätte, ein inhaltlich bestimmtes, konkretes Objekt der intellektuellen Anschauung. Der transscen- dentale Gegenstand bedeutet aber nur ein gänzlich unbestimmtes, weil inhalt- loses Etwas, das erst durch die Anschauung inhaltlich bestimmt und zum besonderen, konkreten Objekt unserer Erkenntnis gemacht wird; diese An- schauung ist aber bei uns Menschen sinnlich. Die reinen Verstandesbegriffe würden zwar, da sie die allgemeinen Formen des Objekt-seius, die typischen Denkformen, Objekte überhaupt zu erkennen, ausdrücken, auch für die Noumena gelten, aber nur in dem Falle, wenn sie mit einem Inhalt erfüllt wären, den die intellektuelle Anschauung liefern würde. Weil aber die menschliche Erkenntnis einer nichtsinnlichen, intellektuellen Anschauung nicht fähig ist, so mangelt den reinen Verstandesbegriffen, in Ansehung einer nichtsinnlichen Art der Er- kenntnis, ein bestimmter Inhalt. Die Bedeutung der reinen Verstandesbegrifte reicht also weiter, als die Grenzen unserer möglichen Erkenntnis; aber ihr Gebrauch reicht nicht über diese Grenzen, sondern ist nur empirisch, d.h. er beschränkt sich auf die Erscheinungen, als sinnliche Anschauungen, dureh deren konkreten Inhalt der in den reinen Verstandesbegriften enthaltene unbestimmte ‚Gedanke von einem Objekt überhaupt, nämlich der transscendentale Gegenstand, inhaltlich bestimmt und zum wirklichen Objekt der Erkenntnis, zum Erfahrungs- objekt, gemacht wird. Vgl. a. a. 0. S. 284.

Der Begriff des „transscendentalen Gegenstandes“ ete. 171

folgenden Erscheinungen eine eindeutig bestimmte, notwendige Ordnung giebt. Zerlegen wir nun in abstracto diese Wahrnehmung einer objektiven Succession in die Erkenntnisfaktoren, welche die- selbe konstituieren, so erhalten wir einerseits die sinnliche An- schauung einer Aufeinanderfolge zweier Erscheinungen, andererseits den reinen Verstandesbegriff der Kausalität. Die in der sinnlichen Anschauung gegebene Aufeinanderfolge zweier Erscheinungen bedeutet an sich nichts Objektives; denn sie ist nur eine vorgestellte Succession und als solche ein blosser Zustand des Bewusstseins; es fehlt ihr die Beziehung auf einen Gegenstand, d. h. der gegen- ständliche Charakter. Andererseits aber wird auch durch den reinen Verstandesbegriff der Kausalität als solchen kein bestimmtes Objekt erkannt. Denn sehen wir von der anschaulich gegebenen Aufein- anderfolge bestimmter Erscheinungen ab und fragen, was nach deren Abzug von der Wahrnehmung einer objektiven Succession übrig bleibt, so finden wir, dass dieser Rest in dem unbestimmten, weil vom empirischen Inhalt losgelösten Gedanken von einem gesetzlichen Abhängigkeitsverhältnis eines Etwas von einem anderen Etwas be- steht. Was diese Etwasse sind, lässt sich nicht sagen, sie sind gänzlich unbestimmt, weil ohne allen konkreten Inhalt. Sie bedeuten zwar ein Objekt, insofern ihnen der allgemeine Charakter des Objekt- seins, der gesetzliche, notwendige Zusammenhang, in diesem Falle das gesetzliche Abhängigkeitsverhältnis des einen vom anderen, zu- kommt; aber sie bedeuten kein vestimmtes, wirkliches Objekt der Erkenntnis, weil sie ohne Inhalt sind. Sie bedeuten zwei Glieder, die im gesetzlichen, d. h. objektiven Abhängigkeitsverhältnis zu ein- ander stehen; aber diese Glieder sind inhaltlich völlig unbestimmt, und in dieser Unbestimmtheit sind sie der transscendentale Gegen- stand, im Unterschied von dem inhaltlich bestimmten empirischen Gegenstand, der wahrgenommenen objektiven Succession. Die in der Anschauung gegebene Aufeinanderfolge der Erscheinungen und der reine Verstandesbegriff der Kausalität liefern also, wenn sie getrennt von einander betrachtet werden, keine Erkenntnis; denn Anschauungen ohne Begriffe sind blind, d. h. sie besitzen keinen gegenständlichen Charakter, keine objektive Bedeutung, Begriffe ohne Anschauungen aber sind leer, d. h. sie bedeuten kein bestimmtes Objekt, sondern nur ein unbestimmtes Etwas, ein Objekt überhaupt. Erst im Verein mit einander ergeben diese Erkenntnisfaktoren die Erfahrung eines wirklichen Gegenstandes. Die angeschaute Succession der Er- scheinungen erhält durch den reinen Verstandesbegriff der Kausalität,

170 Dr. M. Wartenberg,

Und wieder:‘) „Dieses transseendentale Objekt lässt sich gar nicht von den sinnlichen Datis absondern, weil alsdann nichts übrig bleibt, wodurch es gedacht würde. Es ist also kein Gegenstand der Erkenntnis an sich selbst, sondern nur die Vorstellung der Er- scheinungen unter dem Begriffe eines Gegenstandes überhaupt, der durch das Mannigfaltige derselben bestimmbar ist. Eben um des- willen stellen nun auch die Kategorien kein besonderes, dem Ver- stande allein gegebenes Objekt vor, sondern dienen nur dazu, das transscendentale Objekt (den Begriff von etwas überhaupt) durch das, was in der Sinnlichkeit gegeben wird, zu bestimmen, um da- ‚durch Erscheinungen unter Begriffen von Gegenständen empirisch zu erkennen.“*) Was wir soeben auseinandergesetzt haben, wollen wir durch ein Beispiel verdeutlichen, damit diese dunkelste and scheinbar widerspruchsvolle Partie der Kantischen Erkenntnis- kritik gehörig beleuchtet und in das riehtige Licht gestellt werde. In der Wahrnehmung einer objektiven Suecession, in der Erfahrung eines Geschehens, ist nach Kant neben der in der Anschauung gegebenen Aufeinanderfolge bestimmter Erscheinungen noch der reine Verstandesbegriff der Kausalität enthalten, welcher den aufeinander

1) a. a. 0.8. 282.

2) Es leuchtet jetzt auch von dieser Seite ein, warum der Gegenstand, worauf die Erscheinung bei Kant bezogen wird, d. h. das transscendentale Objekt, nicht das Noumenon sein kann. Denn das Noumenon wäre, wenn es die Bedeutung eines wirklichen Gegenstandes der Erkenntnis hätte, ein inhaltlich bestimmtes, konkretes Objekt der intellektuellen Anschauung. Der transscen- dentale Gegenstand bedeutet aber nur ein gänzlich unbestimmtes, weil inhalt- doses Etwas, das erst durch die Anschauung inhaltlich bestimmt und zum besonderen, konkreten Objekt unserer Erkenntnis gemacht wird; diese An- schauung ist aber bei uns Menschen sinnlich. Die reinen Verstandesbegriffe würden zwar, da sie die allgemeinen Formen des Objekt-seins, die typischen Denkformen, Objekte überhaupt zu erkennen, ausdrücken, auch für die Noumena ‚gelten, aber nur in dem Falle, wenn sie mit einem Inhalt erfüllt wären, den die intellektuelle Anschauung liefern wiirde. Weil aber die menschliche Erkenntnis ‚einer nichtsinnlichen, intellektuellen Anschauung nicht fühig ist, so mangelt den reinen Verstandesbegriffen, in Ansehung einer nichtsinnlichen Art der Er- enntnis, ein bestimmter Inhalt. Die Bedeutung der reinen Verstandesbegrifte reicht also weiter, als die Grenzen unserer möglichen Erkenntnis; aber ihr Gebrauch reicht nicht über diese Grenzen, sondern ist nur empirisch, d. h. er beschränkt sich auf die Erscheinungen, als sinnliche Anschauungen, durch deren konkreten Inhalt der in den reinen Verstandesbegriften enthaltene unbestimmte Gedanke von einem Objekt überhaupt, nämlich der transscendentale Gegenstand, inhaltlich bestimmt und zum wirklichen Objekt der Erkenntnis, zum Erfahrungs- objekt, gemacht wird. Vgl. a. a. 0, 8. 284.

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Der Begriff des „transscendentalen Gegenstandes“ eto. 171

folgenden Erscheinungen eine eindeutig bestimmte, uotwendige Ordnung giebt. Zerlegen wir nun in abstracto diese Wahrnehmung einer objektiven Suecession in die Erkenntnisfaktoren, welche die- selbe konstituieren, so erhalten wir einerseits die sinnliche An- schauung einer Aufeinanderfolge zweier Erscheinungen, andererseits den reinen Verstandesbegriff der Kausalität, Die in der sinnlichen Anschauung gegebene Aufeinanderfolge zweier Erscheinungen bedeutet an sich nichts Objektives; denn sie ist nur eine vorgestellte Succession und als solche ein blosser Zustand des Bewusstseins; es fehlt ihr die Beziehung auf einen Gegenstand, d. h. der gegen- ständliche Charakter. Andererseits aber wird auch durch den reinen Verstandesbegriff der Kausalität als solchen kein bestimmtes Objekt erkannt. Denn sehen wir von der anschaulich gegebenen Aufein- anderfolge bestimmter Erscheinungen ab und fragen, was nach deren Abzug von der Wahrnehmung einer objektiven Succession tbrig bleibt, so finden wir, dass dieser Rest in dem unbestimmten, weil vom empirischen Inhalt losgelösten Gedanken von einem gesetzlichen Abhängigkeitsverhältnis eines Etwas von einem anderen Etwas be- steht. Was diese Etwasse sind, lässt sich nicht sagen, sie sind gänzlich unbestimmt, weil ohne allen konkreten Inhalt. Sie bedeuten zwar ein Objekt, insofern ihnen der allgemeine Charakter des Objekt- seins, der gesetzliche, notwendige Zusammenhang, in diesem Falle das gesetzliche Abhängigkeitsverhältnis des einen vom anderen, zu- kommt; aber sie bedeuten kein bestimmtes, wirkliches Objekt der Erkenntnis, weil sie ohne Inhalt sind. Sie bedeuten zwei Glieder, die im gesetzlichen, d. h. objektiven Abhängigkeitsverhältnis zu ein- ander stehen; aber diese Glieder sind inhaltlich völlig unbestimmt, und in dieser Unbestimmtheit sind sie der transscendentale Gegen- stand, im Unterschied von dem inhaltlich bestimmten empirischen Gegenstand, der wahrgenommenen objektiven Succession. Die in der Anschauung gegebene Aufeinanderfolge der Erscheinungen und der reine Verstandesbegriff der Kausalität liefern also, wenn sie getrennt von einander betrachtet werden, keine Erkenntnis; denn Anschauungen ohne Begriffe sind blind, d. h. sie besitzen keinen gegenständlichen Charakter, keine objektive Bedeutung, Begriffe ohne Anschauungen aber sind leer, d, h. sie bedeuten kein bestimmtes Objekt, sondern nur ein unbestimmtes Etwas, ein Objekt überhaupt. Erst im Verein mit einander ergeben diese Erkenntnisfaktoren die Erfahrung eines wirklichen Gegenstandes. Die angeschaute Suecession der Er- seheinungen erhält durch den reinen Verstandesbegriff der Kausalität,

172 Dr. M. Wartenberg,

worin die allgemeine Form des Abhängigkeitsverhältnisses eines Etwas von einem anderen Etwas enthalten ist, eine notwendige, gesetzliche Ordnung, und der reine Verstandesbegriff der Kausalität empfängt durch die angeschaute Succession einen bestimmten Inhalt. Die unbestimmten Glieder des gesetzlichen Abhängigkeitsverhältnisses, welches durch die Kategorie der Kausalität ausgedrückt wird, werden durch die Anschauung der Aufeinanderfolge zweier Erscheinungen, etwa des Sonnenscheins einerseits und der Wärme des Steins anderer- seits, inhaltlich bestimmt, und es wird auf diese Weise der gänzlich unbestimmte Gedanke von einem Etwas überhaupt zu einem be- stimmten Objekt, der transscendentale Gegenstand zu einem empi- rischen Gegenstand, das blosse gesetzliche Abhängigkeitsverhältnis unbestimmter Etwasse von einander zur Erfahrung einer gesetz- mässig geregelten, objektiven Suecession bestimmter Erscheinungen gemacht.

Wenn wir nun das Resultat, zu dem wir durch unsere Be- trachtungen gelangt sind, mit der Kritik, welche Schopenhauer an dem Kantischen Begriff des transscendentalen Gegenstandes geübt hat, vergleichen, so müssen wir sagen, dass diese Kritik, trotz dem in ihr sich bekundenden Scharfsinn, sachlich gänzlich verfehlt ist. Sie beruht auf einem groben Missverständnis und einer handgreiflichen Verdrehung des wahren Sinnes der Kantischen Lehre.

Schopenhauer behauptet, der transscendentale Gegenstand bei Kant sei eine mit den Prinzipien der idealistischen Erkenntnistheorie unverein- bare Konzeption; denn er bedeute ein Objekt der Erkenntnis, welches unabhängig vom vorstellenden Bewusstsein an sich existiere, d. h. ein absolutes Objekt, ein Objekt ohne Subjekt sei. Kant habe zwischen der Vorstellung und dem Gegenstand der Vorstellung unterschieden, was unbegründet sei, insofern die Vorstellungen selbst Gegenstände seien und andere Gegenstände es gar nicht gebe; er habe unberechtigter- weise zwischen die Erscheinung und das Ding an sich etwas Drittes eingeschoben, einen „Zwitter“, zusammengesetzt aus unvereinbaren Merkmalen, nämlich aus dem, was dem Ding an sich, und aus dem, was der Erscheinung zukommt, aus dem Merkmal der vom Subjekt unabhängigen Existenz einerseits und aus dem Merkmal des Objekt- seins anderseits, Allein diese Argumentation Schopenhauers trifft nieht zu. Denn die einzigen Objekte unserer Erkenntnis sind, nach Kants ausdrücklicher Lehre, die Erscheinungen, welche durch die notwendige und allgemeingültige Verknüpfung ihrer Bestandteile zu Gegenständen der Erfahrung werden. Der transscendentale Gegen-

Der Begriff des „transscendentalen Gegenstandes“ ete. 173

stand aber ist kein Objekt der Erkenntnis an sich selbst, er bedeutet nicht etwas Besonderes, von der Erscheinung Unterschiedenes, worauf unsere Erkenntnis sich richtete; er ist nur der begriffliche Rest, der vom Gegenstande der Erfahrung nach Abzug des konkreten sinn- lichen Inhaltes der Erscheinung übrig bleibt, nämlich der gänzlich unbestimmte, weil inhaltsleere Gedanke von einem Etwas überhaupt, von einem Objekt im allgemeinen, d. h. von der allgemeinen Form des Objekt-seins, der Gegenständlichkeit. Der transscendentale Gegen- stand bedeutet nicht etwas, was unabhängig vom vorstellenden Sub- jekt an sich existierte, was zwischen der Erscheinung und dem Ding an sich in der Mitte schwebte, an den Bestimmtheiten beider teil- nehmend. Es ist nieht so, als hätte es Kant leid gethan um das schöne, liebe Ding an sich, das er für unerkennbar erklärt hatte, und als wollte er im transseendentalen Gegenstand einen „nächsten Anverwandten“ des Dinges an sich schaffen, damit dieses doch irgendwie unserer Erkenntnis zugänglich gemacht werden könnte. Es war auch nicht ein „altes, eingewurzeltes, aller Untersuchung abgestorbenes Vorurteil“,') ein Rest des naiven, unkritischen Realismus, was Kant zur Annahme dieses „absoluten Objekts“ bestimmte. Von alledem kann keine Rede sein. Denn der transscendentale Gegen- stand ist nicht etwas, was unabhängig vom vorstellenden Subjekt an sich existierte, was ein realer Beziehongspunkt für die Erscheinung wäre; er bedeutet ja nichts Wirkliches, sondern nur etwas Gedachtes. Er ist nur die Vorstellung eines unbestimmten Etwas, eines Objekts überhaupt, das durch die reinen Verstandesbegriffe ausgedrückt wird und abgesehen von denselben überhaupt nichts bedeutet. Er ist also vom vorstellenden Subjekt durchaus abhängig und steht in dieser Beziehung mit allen anderen Vorstellungen auf derselben Stufe; er ist selbst eine Vorstellung, nur eine unbestimmte, weil mit keinem konkreten Inhalt erfüllte Vorstellung. Wohl hat Kant zwischen der Erscheinung, als blosser Vorstellung, und dem Gegen- stand der Erscheinung unterschieden, aber in einem ganz anderen Sinne, als Schopenhauer meint. Denn nicht deshalb hat Kant die Erscheinung vom Gegenstand der Erscheinung unterschieden, um diesen als etwas Selbständiges, an sich Seiendes, jener gegenüber- zustellen, sondern nur deshalb, um die Erkenntnisfaktoren ausein- ander zu halten, welche die Erfahrungsobjekte konstituieren, nämlich die Erscheinung ohne gegenständlichen Charakter einerseits und den

41) Kritik der Kantischen Philosophie, 8. 564.

174 Dr. M. Wartenberg,

Begriff eines Gegenstandes auderseits, der im reinen Verstandes- begriff enthalten ist und durch denselben in der Form eines un- bestimmten Etwas, eines Objekts überhaupt, ausgedrückt wird. Nicht das transscendentale Objekt ist bei Kant Gegenstand der Erfahrung, insofern dasselbe in seiner Unbestimmtheit überhaupt kein Gegen- stand der Erkenntnis an sich selbst sein kann; Gegenstand der Erfahrung ist vielmehr die Erscheinung, aber im Verein mit dem reinen Verstandesbegriff, der das transscendentale Objekt, den Be- griff des Gegenstandes, die allgemeine Form der Gegenständlichkeit, in sich schliesst und diese Form der Erscheinung aufdrückt.

Wenn man Schopenhauers Lehre von der Erkenntnis objektiver Realität mit der Kantischen vergleicht, so kann es nur Wunder nehmen, dass Schopenhauer an Kants Lehre von der Beziehung der Erscheinungen auf Gegenstände so grossen Anstoss genommen hat, da er doch selbst in ähnlicher Weise die Erkenntnis objektiver Realität begründen wollte. Kant spricht von der Beziehung der Erscheinungen auf Gegenstände, Schopenhauer redet von der Be- ziehung der Empfindungen auf ihre Ursachen. Bei Licht betrachtet, ist der Unterschied zwischen den Lehren beider Denker kein wesent- licher. Und wenn Schopenhauer Kant vorwirft, dass dessen Lehre mit den Prinzipien des Idealismus nicht übereinstimme, so könnte man mit ebensoviel Recht auch ihm diesen Vorwurf machen. Man könnte einwenden, dass Schopenhauer den idealistischen Boden ver- lasse, insofern er in den Ursachen der Empfindungen in die Er- kenntnistheorie einen realistischen Faktor einführe, ein Etwas, was nieht im Bewusstsein, sondern ausserhalb des Bewusstseins liege, also auch gewissermassen ein Objekt ohne Subjekt sei. Und wenn Schopenhauer sich gegen diesen Einwand damit verteidigen würde, dass er erklärte, die Ursachen der Empfindungen, die er meine, bedeuten nicht etwas, was unabhängig vom vorstellenden Subjekt an sich existiere, sondern seien nur durch den Verstand und für den Verstand, der diese kausale Funktion der Beziehung ausführe, ebenso kann sich Kant gegen den Vorwurf Schopenhauers mit der Entgegnung verteidigen, dass die Gegenstände, worauf er die Erscheinungen beziehen lasse, nicht die Bedeutung selbständiger Realitäten hätten, sondern nur durch den Verstand und für den Verstand etwas bedeuteten. Ja, die Verteidigung Kants würde mehr Recht für sich beanspruchen können, als die Verteidigung Schopen- hauers, Denn die Lehre von der kausalen Beziehung der Empfin- dungen auf ihre Ursachen führt notwendig über die immanente

Der Begrifi des ,,transscendentalen Gegenstandes“ ete. 175

Spbäre des Bewusstseins hinaus und setzt Ursachen, die nicht Er- seheinungen sind, sondern etwas Transscendentes bedeuten, wenn man nieht die Ungereimtheit begehen will, ein und demselben, nämlich den Empfindungen, die Bedeutung der Wirkung und der Ursache zugleich zu vindizieren, während die Kantische Lehre von der Beziehung der Erscheinungen auf Gegenstände ganz im imma- nenten Gebiet des Bewusstseins bleibt und bleiben darf, insofern diese Gegenstände nichts anderes sind, als Begriffe von Objekten überhaupt, die in den Kategorien zum Ausdruck gelangen, und die Beziehung der Erscheinungen auf die Gegenstände nichts anderes bedeutet, als die Subsumtion derselben unter jenen Begriffen. Der Vorwurf, den Prinzipien der idealistischen Erkenntnistheorie untreu geworden zu sein, trifft also Schopenhauer, nicht aber Kant. Schopenhauer behauptet, mit dem Begriff des transseendentalen Gegenstandes bei Kant lasse sich kein gesunder Sinn verbinden, er sei ein widerspruchsvoller Begriff; denn gedacht könne etwas nur werden in der Form einer allgemeinen Vorstellung, während der transscendentale Gegenstand, der durch die Kategorien gedacht und worauf die Erscheinung als Einzelvorstellung bezogen werde, not- wendig etwas Besonderes und Einzelnes sein müsse. Allein dieser Einwand würde nur in dem Falle zutreffen, wenn der transseenden- tale Gegenstand ein besonderes Objekt der Erkenntnis wäre. Das ist er aber, wie wir nachgewiesen haben, nicht. Der transscenden- tale Gegenstand wird nicht als besonderes Objekt durch die reinen Verstandesbegriffe gedacht, weil er, von den sinnlichen Datis der Erscheinung gesondert, keinen Inhalt hat, also nichts übrig. bleibt, wodurch er gedacht werden könnte. Nur in inniger Vereinigung mit dem konkreten Inhalt der Erscheinung bekommt der transscenden- tale Gegenstand die Bedeutung eines wirklichen Objekts der Er- kenntnis. Abgesondert von diesem Inhalt wird er durch die reinen Verstandesbegriffe zwar gedacht, aber nicht als ein besonderes, bestimmtes Objekt, sondern nur als allgemeine Form des Objekt- seins, der Gegenständlichkeit, als der Begriff einer streng allgemeinen Regel, unter welcher das Mannigfaltige der Erscheinung steht. Er wird also in der Form einer allgemeinen Vorstellung gedacht, die eben wegen ihrer Allgemeinheit kein besonderes, einzelnes Objekt, keinen bestimmten Gegenstand bezeichnet, sondern zu einem solehen erst wird, wenn sich ihm der anschauliche Inhalt der Erscheinung beigesellt. So liegt also bei Kant im Erfahrungsobjekt der an- schauliche Inhalt der Erscheinung und die im reinen Verstandes-

176 Dr. M. Wartenberg, Der Begriff des „transse. Gegenstandes“ ete.

begriff gedachte allgemeine Regel des Denkens, unter welcher jener Inhalt subsumiert wird, die aber, von der Erscheinung getrennt, keine Erkenntnis eines Gegenstandes bedeutet, sondern nur den Begriff eines Objekts überhaupt, den gänzlich unbestimmten Gedanken von einem Etwas überhaupt, d. h. das transscendentale Objekt. Wir glauben nachgewiesen zu haben, dass die Einwände Schopenhauers gegen den Begriff des transscendentalen Gegenstandes bei Kant unbegründet sind. Wir haben gezeigt, dass dieser Begriff mit den Prinzipien des transscendentalen Idealismus Kants wohl vereinbar ist und auch an sich einen vollkommen gesunden Sinn hat. Eine andere Frage ist freilich, ob es Kant gelungen ist, durch seine Theorie das Problem der Erkenntnis objektiver Realität, das Er- fahrungsproblem, in befriedigender Weise zu lösen. Auf diese Frage können wir hier nicht eingehen. Wir bemerken nur, dass wir die- selbe verneinen müssten. Es scheint uns ein unmögliches Unter- nehmen zu sein, die Erkenntnis objektiver Realität lediglich auf immanente Erkenntnisfaktoren, unter Ausschluss des transseendenten Faktors, gründen zu wollen. Unsere Erkenntnis, soweit dieselbe auf Erfahrungsobjekte sich richtet, will eine selbständige Realität treffen, ein Seiendes, das unabhängig vom erkennenden Bewusstsein an sich existiert. Leugnet man einen Zusammenhang zwischen der Welt unseres Bewusstseins und der bewusstseinstransseendenten Welt, hält man die Gegenstände unserer Erfahrung für Produkte ausschliesslich immanenter Faktoren der Erkenntnis, erklärt man dieselben für blosse Vorstellungen, die mit den Dingen an sich nichts zu thun haben: dann kann man billigerweise auch nicht von einer Erfahrungs- erkenntnis reden, mögen auch die Erscheinungeu durch Gesetze des Denkens in notwendiger und allgemeingültiger Weise verknüpft sein.

Hat Kant Hume’s Treatise gelesen?

Von Karl Groos in Basel.

Eine Frage als Überschrift verspricht gewöhnlich die Lösung eines Problems. Hier verhält es sich umgekehrt: während man all- gemein die Annahme, dass Kant das Hume’sche Hauptwerk nicht gelesen habe, als feststehendes Resultat der Forschung ansieht, sind die folgenden Mitteilungen vielleicht geeignet, nicht für die Wahr- echeinlichkeit, aber doch für die Möglichkeit der entgegengesetzten Annahme Raum zu schaffen und so jenem scheinbar gesicherten Resultat vorläufig wieder ein kleines Fragezeichen anzuhängen. |

Es giebt zwei sehr auffallende Parallelen zwischen Kant unc Hume’s Treatise. Auf die erste hat schon B. Erdmann!) auf- merksam gemacht, ohne jedoch durch sie in der Überzeugung irre zu werden, dass Kant den Treatise nicht gelesen habe; die andere ist meines Wissens bis jetzt noch nicht beachtet worden.

Gleich im Anfang der Kantischen Schrift über den „Einzig mög- lichen Beweisgrund etc.“ 1763) steht ein Abschnitt, der die Über- schrift führt: „Das Dasein ist gar kein Prädikat oder Determination von irgend einem Ding.“ Die hier entwickelte und kurz darauf noch einmal wiederholte Ansicht stimmt in so ttberraschender Weise mit Ausführungen des Treatise überein, dass B. Erdmann in dem schon erwähnten Aufsatze (S. 228) drei fast gleichlautende Äusserungen beider Philosophen nebeneinander setzen konnte. Sogar das von Kant gewählte Beispiel (Julius Caesar) steht schon im Treatise. Erdmann selbst hält einen thatsächlichen Zusammenhang für aus- geschlossen. Hier sei nur vorläufig erwähnt, dass einer seiner Gründe, nämlich der Hinweis auf die Verschiedenartigkeit der ganzen Argumentation, in der sich die so merkwtirdig analogen Stellen finden, mir hier nicht zwingend zu sein scheint. Wenn er sagt {S. 223), nur für den Kompilator seien Gedanken wie Papierstreifen,

1) „Kant und Hume um 1762“. Arch. f. Gesch. der Philos. I (1888). Kantstudien V. 12

178 Karl Groos,

die lediglich das Gedächtnis aneinanderklebe, so wird man dem doch entgegenhalten dürfen: aber Gedanken, die einmal das Interesse erregt haben, in einen anderen, neuen Zusammenhang zu verflechten, eben das ist Sache des schöpferischen Geistes.

Bei der zweiten Parallele handelt es sich um Kants Ocean- gleichnis, durch das er das Verhältnis von Dogmatismus, Skepticismus und Kritieismus so glücklich verdeutlicht hat: der dogmatische Philo- soph fährt unvorsichtig hinaus in das „uferlose Meer“, den „weiten und stürmischen Ocean;“ der Skeptiker wagt sich überhaupt nicht aufs Wasser; der Kritiker aber besteigt sein wohlausgerüstetes Sehift und fährt besonnen den Küsten des Landes entlang. Dieses Gleich- nis scheint zuerst 1763 in der Vorrede zum „Einzig möglichen Be- weisgrund‘ aufzutreten, wo Kant die Metaphysik einen „bodenlosen Abgrund“ und einen „finsteren Ocean ohne Ufer und ohne Leucht- türme“ nennt; es wiederholt sich dann später in mancherlei Variationen (vgl. Vaihingers Kommentar, I, 39f.). In der Ein- leitung der Prolegomena wird nun das Bild speziell auf den Skepti- eismus angewendet (Schulz 36f.), und da sagt Kant, dass Hume (er nennt direkt seinen Namen) noch nichts von der Möglichkeit des Kritieismus ahnte, „sondern sein Schiff, um es in Sicher- heit zu bringen, auf den Strand (den Skeptieismus) setzte, da es denn liegen und verfaulen mag.“ Hume selbst aber führt im Treatise am Schluss des ersten Buches (Ed. von Green und Grose I, 544) aus, ehe er sich weiter in „those immense depths of philosophy“ hinauswage, halte er Umschau, und da komme er sich vor wie ein Mensch, der schon an mancher Sandbank aufgefabren und beim Passieren einer Meerenge mit knapper Not dem Schiffbruch ent- ronnen sei, nun aber trotzdem in demselben leckgewordenen Boot die Erdumsegelung anzutreten wage. Diese Überlegung könne ihn fast dazu bringen, „lieber auf dem kahlen Felsen zu Grunde zu gehen, auf dem er sich gegenwärtig befinde“ („gegenwärtig d. bh, am Schluss des erkenntnistheoretischen Teils), „als sich auf den grenzenlosen Ocean hinauszutrauen, der sich ins Unermessene ausdehnt.“ („to perish on the barren rock, on which I am at present, rather than venture myself upon that boundless ocean, which runs out into immensity).“ Dieses Gleichnis wird in dem „Essay“ nicht wieder aufgenommen nur an einer Stelle (Essays, ed. von Green und Grose, II, S. 84) wird ganz allgemein von dem „boundless ocean“ des Zweifels und der Unge- wissheit (in Fragen der metaphysischen Theologie) gesprochen. Und

Hat Kant Hume’s Treatise gelesen? 179

Beattie, an den man in erster Linie denken könnte, weist zwar in seinem „Versuch über die Natur und Unveränderlichkeit der Wahr- heit“ (deutsch 1772) auf das packende Gleichnis Hume’s hin (S. 196), variiert auch das Bild von der Meerfahrt an zwei anderen Stellen (S. 109, 352), ohne aber die oben angeführte spezielle Anwendung zu bringen, die ja allein als auffallend bezeichnet werden muss.

Für einen Leser, der nur im Allgemeinen von der engen Be- ziehung zwischen Kants und Hume’s Philosophie unterrichtet wäre, würde nun wohl kaum ein Zweifel bestehen, dass hier ein direkter Zusammenhang vorhanden ist. In Wahrheit liegt aber die Sache so, dass sehr schwerwiegende Gründe gegen Kants Lektüre des Treatise angeführt worden sind. Wenn diese Gründe volle Beweis- kraft besitzen, so kann in jenen starken Analogien selbstverständlich bloss ein (allerdings merkwürdiger) Zufall erblickt werden. Es scheint mir aber, dass die Argumente, die man vorgebracht hat, doch nicht so unersehütterlich sind, um dem Hinweis auf die beiden Parallelen alles Interesse zu nehmen.

Es sind vor allem zwei Gründe, auf die man sich gestützt hat, Erstens wird es bezweifelt, ob Kant überhaupt englisch verstand (Jakobs Verdeutsehung des Treatise erschien erst 1790). Erd- mann glaubt seine Unkenntnis des Englischen sogar zur Gewissheit erheben zu können (a. a. O. S. 63f.). „Kants Schriften“, sagt er „bekunden schon seit 1755 eine nicht geringe Kenntnis der eng- lischen Litteratur. Er eitiert jedoch, von lateinisch Geschriebenem abgesehen, nur solehe Werke, die in Übersetzungen vorlagen, die letzteren direkt, wo er seine Quelle ausdrücklich angiebt. Eine Be- stätigung liefert der Umstand, dass Hamann seine Übersetzung von Hume’s Dialogen zwar Kant (und Hippel) ‚zur Durchsicht‘, jedoch einem anderen (Prof. Kreuzfeld) ‚zuletzt‘ giebt, ‚um sie mit dem Eng- lischen zu vergleieben.‘ Nicht minder beredt endlich ist Jachmanns Schweigen in der Notiz: ‚Von den neueren Sprachen verstand Kant Französisch‘.“ Von diesen Erwägungen ist wohl die erste und dritte am wichtigsten. Was nun den Ausspruch Jachmanns betrifit, so ist dadureh doch nicht völlig ausgeschlossen, dass Kant zur Not ein englisches Buch bewältigen konnte; mtisste ich meine eigenen Sprach- kenntnisse angeben, so würde ich die italienische Sprache auch nieht nennen, obwohl ich ein italienisches Werk aus meinem Fach mit einiger Mühe zu lesen vermag. Ebensowenig kann ich in dem ersten Argument einen wirklichen Beweis erkennen, da die ange- führten Thatsachen schon durch eine gewisse Mühe beim Lesen der

12*

180 Karl Groos,

Originale erklärlich sind; dazu kommt, dass Kant in seiner Abhand- lung über die Vulkane im Mond auf eine Veröffentlichung im „Gentle- man’s Magazine“ verweist. Hierauf hat Vaihinger in einer Recension (Philos. Monatshefte, XIX, 1883, S. 501f.) aufmerksam gemacht und gegentiber ganz ähnlichen Bedenken, wie sie Erdmann hervorhebt, doch die Möglichkeit verteidigt, „dass Kant des Englischen ziemlich mächtig war.“ Derselbe hat auch neuerdings in seiner Besprechung des Ersten Bandes des neu herausgegebenen Kantischen Briefwechsels auf eine Stelle hingewiesen, nach welcher Kraus von Kant das ,,Gentleman’s Magazine“ entlehnt hat (KSt V, 114). Diese Frage ist also, so sehr die Bedeutung von Erdmanns Aus- führungen anerkannt werden muss, noch nicht mit völliger Sieherheit beantwortet.

Viel schwächer ist aber die Position des zweiten Hauptgrundes, den man z. B. bei Riehl (,,Kriticismus* I, S. 69) entwickelt findet, Kant, sagt man, hat nicht nur die allein im Treatise behandelte Substanztheorie Hume’s ignoriert, sondern es auch direkt aus- gesprochen (Prolegomena, ed. Schulz S. 31, vgl. 35, 91), „Hume sei hauptsächlich von einem einzigen Begrifie der Metaphysik aus- gegangen, nämlich dem der Verknüpfung der Ursache und Wirkung“. Ob Kant die Hume’sche Substanztheorie völlig ignoriert hat, lässt sich bezweifeln; ich persönlich habe wenigstens den Eindruck, dass jene Wendung in Kants Paralogismen, die von der Möglichkeit redet, an Stelle der absoluten Einheit des denkenden Subjekts eine bloss „kollektive Einheit“ anzunehmen (Kehrbach 301), an Hume's „bundle or collection“ erinnert; und ich finde ausserdem, dass die bald darauf folgenden Ausführungen, wo gesagt wird, wir können niemals ausmachen, ob das Ich (ein blosser Gedanke) nicht eben sowohl fliesse als die übrigen Gedanken, die dadurch aneinander gekettet werden (Kehrbach 309), recht stark an die Lehre des Treatise anklingt, wonach die Vorstellung von der persönlichen Identität „entirely from the smooth and uninterrupted progress of the thought along a train of connected ideas“ herrührt (Treatise, ed. Green and Grose, I, 541). Wie dem auch sei, jedenfalls ist es bemerkenswert, dass Kant an der oben angeführten Stelle sagt, Hume sei „hauptsächlich“ von einem einzigen Begriff der Metaphysik ausgegangen. Noch viel bemerkenswerter aber ist es, und damit komme ich zu meinem Hauptbedenken, dass Beattie’s Streitschrift, mit der Kant vertraut war, wiederholt mit grosser Lebbaftigkeit und einmal mit ausführlichen Citaten auf Hume’s Kritik

Hat Kant Hume’s Treatise gelesen? 181

des Substanzbegriffes eingeht, wobei sowohl die , Bündeltheorie“ als die „Flusslehre“ (um kurz die beiden Hauptgedanken zu bezeichnen) zur Darstellung kommen (a. a. O. 203f, vgl. 60, 63, 67f., 349). Man hat Beattie’s Schrift herangezogen, um Kenntnisse Kants zu erklären, die er sonst nur aus dem Treatise haben könnte (vgl. Vaibingers „Kommentar“, I, 347); hier aber müssen wir sagen: wenn die Kenntnis Beattie’s Kant nicht an dem oben geschilderten Ver- halten hinderte, so ist dieses Verhalten auch kein zwingender Be- weis gegen die Lektüre des Treatise selbst.

Ich komme so zu dem Resultat, dass die Möglichkeit von Kants Kenntnis des Hume’schen Hauptwerks nicht vollständig ausge- schlossen ist, und dass infolgedessen jene Analogien doch einiges Interesse verdienen. Mehr zu behaupten liegt mir fern. Vielleicht können genauere Kenner der Litteratur meine Bedenken mit geringer Mühe beiseite schieben, und der Erfolg dieser kurzen Mitteilung wiirde dann eben darin liegen, dass die bisher geltende Überzeugung auf noch zuverlässigere Grundlagen gestellt würde. Vorläufig aber scheint es mir angezeigt, das Problem als noch nicht endgültig ge- löst zu betrachten.

Sigwarts Theorie der Kausalität im Verhältnis zur Kantischen. Eine Festgabe zum 28. März 1900.!)

Von M. Wartenberg, Privatdocent der Philosophie an der Universität Krakau.

(Schluss.) 4

Um den Sinn des Kausalgedankens in möglichst klarer und fasslicher Weise zu eruieren, müssen wir uns an die einfachsten Fälle halten, in welchen uns kausale Verhältnisse in der Erfahrung ent- gegentreten. Tbun wir dies, so ist vor allem zu konstatieren, dass es immer konkrete, einzeln existierende Dinge sind, zwischen welchen wir kausale Beziehungen als vorhanden annehmen. Die Ursache ist worauf die Sprache deutlich hinweist ursprünglich immer eine Sache, ein konkretes Ding. Dieses Ding richtet sein Thun auf ein anderes Ding, es wirkt auf dasselbe ein, und das Ergebnis dieses Wirkens ist eine bestimmte Veränderung dieses zweiten Dinges, eine Veränderung, die wir als Wirkung bezeichnen. Das kausale Ver- hiltnis stellt also im konkreten Einzelfalle einen in der Zeit sich vollziehenden Vorgang dar, welcher in drei Phasen zerfällt: in die Thätigkeit eines Dinges als Ursache, in das Treffen dieser Thätig- keit auf ein zweites Ding und in die Veränderung dieses Dinges. Betrachten wir nun, wie es gewöhnlich unter dem unmittelbaren Ein- druck zu geschehen pflegt, Anfangs- und Endpunkt jenes Vorgangs, vergleichen wir die Zustände vor und nach dem Wirken, so ergiebt sich, dass das Wirken der Ursache und die Vollendung der Wirkung oder des Effekts zeitlich auseinanderfallen; erst wirkt die Ursache, und dann erfolgt die betreffende Veränderung als Wirkung. In

1) Der erste Teil dieser Abhandlung wurde dem hochverdienten Meister der Logik an seinem 70. Geburtstage vom Herausgeber der ,,Kantstudien“ als Festschrift persönlich überreicht.

Sigwarts Theorie der Kansalität im Verhiiltnis’ zur Kantischen. 183

diesem Sinne folgt also die Wirkung auf die Ursache, und die Kausalität bedeutet zunächst ein zeitliches Verhältnis der Succession. Allein diese zeitliche Folge erschöpft nicht den Sinn der Kausalität. Wenn wir vom „Wirken“ eines Dinges auf das andere reden und dieses Moment des Wirkens ist im Kausalgedanken als integrierender Be- standteil, als wesentliches Merkmal desselben enthalten —, so meinen wir damit nicht, dass zwei Vorgänge, nämlich die Thätigkeit des einen Dinges, das Wirksamwerden der Ursache und die Veränderung eines anderen Dinges als Wirkung, einander nur folgen. Dieser zeitliche Zusammenhang zweier Veränderungen ist am kausalen Ver- hältnis ohne Zweifel dasjenige, was allein Gegenstand der unmittel- baren Wahrnehmung ist. Zu diesem zeitlichen Zusammenhang kommt aber noch ein weiteres Moment hinzu, welches das Wesen der Kau- salität allererst vollendet, nämlich das Hineingreifen der Thätigkeit eines Dinges in die Sphüre des anderen. Die Veränderung, welche ein Ding erfährt, ist nicht von selbst erfolgt, während ein anderes Ding als Ursache seine Thätigkeit ausübte; zwischen jener Ver- änderung und dieser Thätigkeit nehmen wir vielmehr einen inneren Zusammenhang an, indem wir meinen, dass die Ursache durch ihr Wirken auf das betreffende Ding einen Zwang ausgeübt und das- selbe zu der Veränderung bestimmt und genötigt hat. Wie entsteht nun dieser Gedanke des Wirkens? Wie kommen wir dazu, zwischen jenen beiden Veränderungen einen inneren Zusammenhang zu be- haupten, da wir doch thatsächlich nur einen äusseren Zusammen- hang, eine zeitliche Folge derselben, wahrnehmen? Hume, welcher diese Frage sich vorgelegt hat, beantwortete sie dahin, dass es die regelmässige Wiederholung der Succession zweier Veränderungen sei, was uns dazu bestimme, dieselben in kausales Verhältnis zueinander zu setzen, die nachfolgende Veränderung von der ihr regelmässig vorangehenden abhängig zu machen, jene als unter dem Einfluss dieser entstanden zu denken. Allein diese Antwort trifft nicht zu. Denn so wichtig dieses Moment der regelmässigen Succession ist, um im einzelnen Falle zu bestimmen, was als Ursache und was als Wirkung zu betrachten sei, so wenig ist sie doch dazu geeignet, den Gedanken des Wirkens zu erzeugen, der eben mehr enthält, als blosse Suecession. Wie soll die einfache Wiederholung ein völlig neues Element unserer Vorstellung hinzufügen, von welchem in den einzelnen Fällen, die sich wiederholen, keine Spur vorhanden wäre? Geben wir also diesen Erklärungsversuch auf und betrachten wir diejenigen konkreten Fälle, in welchen uns das Wirken am deut-

184 M. Wartenberg,

lichsten sich zu präsentieren scheint. Was finden wir in solchen Fällen? Wir finden eine räumliche und zeitliche Kontinuität von Veränderungen, die an verschiedenen Dingen geschehen. Wir be- merken, dass diese Veränderungen unmittelbar aneinander sich an- schliessen, dass die Veränderung des einen Dinges, welche auf die Veränderung eines anderen folgt, mit letzterer im lückenlosen Zu- sammenhang steht. Nun ist dieser Zusammenhang zunächst nur ein äusserer, weil einen anderen, als äusseren Zusammenhang die That- sachen der Wahrnehmung nicht aufweisen können. Diese Thatsachen sind aber in den betrachteten Fällen von der Art, dass wir unmöglich bei ihnen als dem Letzten stehen bleiben können; es liegt in ihnen das Motiv, welches uns veranlasst, über die unmittelbare Wahr- nehmung hinauszugehen, und dem wahrgenommenen äusseren Ver- bältnis der betreffenden Veränderungen ein nicht wahrgenommenes inneres Verhältnis zu substituieren. Weil nämlich die Veränderungen in der Wahrnehmung unmittelbar aneinander sich anschliessen, weil ein kontinuierlicher Zusammenhang zwischen denselben besteht, so stellt sich auf Grund dieser bestimmt gearteten Wahrnehmung unab- weislich das Bedürfnis ein, sich über diesen Zusammenhang Rechen- schaft zu geben, den Grund dieses kontinuierlichen Charakters der Veränderungen zu finden. Wir nehmen wahr, dass an die Thätigkeit des einen Dinges die Veränderung des anderen unmittelbar sich an- schliesst. Wir machen also successiv zwei Wahrnehmungen, die aber wegen ihres kontinuierlichen Zusammenhangs gesondert voneinander gar nicht vorgestellt werden können, sondern zum Gesamtbild eines Vorgangs miteinander verbunden sind, eines Vorgangs, welcher aus zwei unmittelbar aufeinanderfolgenden Phasen besteht, Angesichts einer so gearteten Wahrnehmung regt sich sofort unser begründendes, Einheit und Zusammenhang suchendes und stiftendes Denken, und deutet diesen kontinuierlichen Vorgang dahin aus, dass es die Thätig- keit des einen Dinges als fortgesetzt in der Veränderung des zweiten betrachtet, diese auf jene als ihren Grund zurtickführt. Das in der Wahrnehmung zusammen Aufgefasste wird vom Denken auf einen einheitlichen Grund bezogen; was ursprünglich nur äusserlich zu- sammenhing, wird jetzt in inneren Zusammenhang gebracht, indem der Grund für die kontinuierliche Fortsetzung der Veränderung des einen Dinges in der Veränderung eines anderen in dem ersten ge- funden wird, dessen Thun in das zweite tibergreift. So wird also im Gedanken des Wirkens nichts anderes gedacht, als „der reale Grund zu der Zusammenfassung zur Einheit,“ und die Vorstellung

Sigwarts Theorie der Kausalität im Verhältnis zur Kantischen. 185

der kausalen Relation erweist sich als „eine Synthese zusammen- hängender Veränderungen im Gedanken Eines Grundes“, eine Synthese,. welche unser einheitliches, kontinuierliches Bewusstsein zwischen zwei in der Wahrnehmung unmittelbar aneinander sich anschliessenden Veränderungen vollzieht.

Bleiben wir hier eine Weile stehen, um uns zu vergegenwär- tigen, was wir gewonnen haben. Indem Sigwart auf die natur- wüchsige Kausalvorstellung des gewöhnlichen Bewusstseins zurück- geht und dieselbe seinen Untersuchungen zu Grunde legt, fasst er die Kausalität in der Bedeutung des Wirkens, bringt sie in Beziehung zum Begriff der Substanz und stellt dadurch ihren ursprünglichen, wahren Sinn wiederher. Diese Bedeutung hat die Kausalität unter dem Einfluss der zersetzenden Kritik Humes verloren. Hume hat. zwar gesehen, dass im kausalen Verhältnis das Moment der Kraft oder Wirksamkeit thatsächlich enthalten ist. Weil er aber diese Vor- stellung der Kraft in keiner Weise rechtfertigen konnte, so hat er die Kausalität auf das Verhältnis regelmässiger Succession reduziert; Ursache war ihm das unabänderliche Antecedens, Wirkung das un- abänderliche Sequens. Auf denselben Babnen bewegt sich auch. Kants Auffassung. Kant verbindet zwar ursprünglich mit dem Begriff der Kausalität einen vollkommen richtigen Sinn. Als er nämlich gelegentlich die Merkmale hervorhebt, welche in diesem Begriff ge- dacht werden, da weist er ausdrücklich darauf hin, dass dem Ver- bältnis der Ursache und Wirkung eine besondere „Dignität“ an- hängt, insofern die Wirkung nicht blos zu der Ursache hinzukommt,. sondern durch dieselbe gesetzt ist und aus ihr erfolgt. Und noch im Anhang zur „transscendentalen Deduktion“ des Kausalbegriffs bringt Kant die Kausalität mit dem Begriff der Substanz in Be- ziehung, indem er den Satz ausspricht, dass die Kausalität auf den Begriff der Handlung, diese auf den Begriff der Kraft, und dadurch. auf den Begriff der Substanz führt. Allein diese richtige Begriffs- bestimmung der Kausalität ist auf Kants weitere Untersuchungen ohne jeden Einfluss geblieben. Der Kausalbegriff, den die Kritik entwickelt und zu dem ihrigen macht, ist ein ganz anderer. So- bald nämlich die Kausalität im subjektivistischen Sinne als reiner Verstandesbegriff in die Sphäre blosser Vorstellung verlegt und dem-: entsprechend im idealistischen Sinne auf blosse Erscheinungen, deren Zeitfolge sie a priori bestimmen sollte, eingeschränkt worden ist: da ist auch von jener gertihmten Dignität jede Spur verschwunden, und die kausale Relation wurde zu einem blossen Verhältnis unabänder-

186 M. Wartenberg,

licher, gesetzlicher Aufeinanderfolge bestimmter Phänomene, zur regel- mässigen Suceession, wofür sie bereits Hume erklärt hatte. Wesentlich ‚anders steht die Sache bei Sigwart. Hier ist das Moment des Wir- kens das wesentlichste Merkmal der Kausalität, dasjenige, ohne welches das kausale Verhältnis jede Bedeutung verliert. Dass Dinge aufeinander wirken und einander zur Änderung ihrer Zustände be- stimmen: dies ist der ursprüngliche und wahre Sinn der Kausal- relation, welcher ihr in keiner Weise geschmälert werden darf, weil sie sonst überhaupt jedes angebbaren Sinnes beraubt sein würde. Jedesmal,. wenn wir zwischen zwei in der Wahrnehmung zusammenhängenden Veränderungen eine Synthese denkend stiften, wenn wir die folgende Veränderung auf die vorhergehende als ihren Realgrund zurück- führen, jedesmal ist der Gedanke des Wirkens, der realen Kraft- äusserung und Kraftbeziehung, des Eingreifens der Thätigkeit des einen Dinges in die Sphäre des anderen, in unserem Bewusstsein lebendig und kann schlechterdings nicht eliminiert werden. Der Kausalgedanke beruht auf einer Synthese des Bewusstseins, wodurch zusammenhängende Veränderungen auf einheitlichen Grund bezogen und in inneres Verhältnis zu einander gesetzt werden. Diese Synthese ist aber nichts anderes, als die Zurückführung einer Veränderung, die an einem Ding geschieht, auf die Thätigkeit, welche ein anderes Ding ausübt, also auf das Wirken desselben.

Ohne den Gedanken des Wirkens hat demnach die kausale Synthese und dementsprechend die Kausalität überhanpt gar keine Bedeutung.

Dass im Kausalgedanken ein rationales Element enthalten ist, dass die Vorstellung der kausalen Relation nicht auf der blossen Wahrnehmung beruht, sondern in der Form einer spontanen Synthese des erkennenden Bewusstseins zu der Wahrnehmung hinzukommt, um dieselbe zu vollenden: darin stimmt Sigwart mit Kant überein. Aber diese Übereinstimmung betrifft nur den allgemeinen Gedanken, dass die Kausalrelation als eine Synthese des Denkens, d. h. als apriorisches Element der Erkenntnis, zu betrachten sei. Über das nähere Wie, über die besondere Form und Bedeutung dieser Synthese, weicht dagegen Sigwarts Auffassung von der Ansicht des Kritikers der reinen Vernunft ganz wesentlich ab.

Kant sieht in der Kausalität eine notwendige und streng all- gemeine Regel, ein Gesetz der Verknüpfung der Erscheinungen, eine Form des Denkens, welehe „im Gemüte bereit liegt,“ um den kon- kreten Inhalt der Erscheinungen eigenmächtig zu ordnen und zum

Sigwarts Theorie der Kausalität im Verhältnis zur Kantischen. 187

Erfahrungsobjekt zu stempeln. Die Ordnung der Suceession der Er- seheinungen in der Anschauung, an sieh vollkommen unbestimmt, soll erst durch Anwendung des apriorischen Kausalgesetzes objektiv bestimmt und dadurch zur Erfahrung einer Veränderung des Gegen- standes gemacht werden.

Ganz anders verhält es sich bei Sigwart. Eine fertige Form des Denkens, ein Gesetz der Verknüpfung, ein reiner, im erkennenden Subjekt bereit liegender Verstandesbegriff, welcher die Ordnung der Succession der Wahrnehmungen allererst objektiv bestimmen sollte, ist die Kausalität bei Sigwart nicht. Die Ordnung, in welcher Veränderungen succedieren, ist uns in der Wahrnehmung als Thatsache der Erfahrung gegeben; wir nehmen wahr, dass auf die Thätigkeit des einen Dinges die Veränderung eines zweiten folgt. Wir fassen diese Aufeinanderfolge unmittelbar als einen objektiven Vorgang, als ein Geschehen auf, und bedürfen keiner Regel der Kausalität, um erst zu bestimmen, welche Wahrnehmung vorangehen und welche nach- folgen soll. Die objektive Zeitordnung der Veränderungen ist ein rein empirisches Datum; in dieser Beziehung ist die Erfahrung vom Denken gänzlich unabhängig; die objektive Suecession der Wahr- nehmungen wird nieht vom erkennenden Subjekt aus durch eine apriorische Regel der Kausalität bestimmt, sondern sie wird als ein- fache Thatsache vorgefunden und erscheint unmittelbar, ohne jede Funktion des Denkens, als ein Gegenstand der Erfahrung. Allein wir nehmen nicht ebenso wahr, dass von zwei aufeinanderfolgenden Veränderungen die eine von der anderen abhängig ist; wir nehmen nieht wahr, dass die Veränderung, welche an einem Ding vorgeht, unter dem realen Einfluss der Thätigkeit eines anderen Dinges ent- standen ist. Das Wirken eines Dinges auf ein anderes, das Über- greifen der Aktion des ersteren in die Sphäre des letzteren, kurz: der kausale Zusammenhang, das innere Verhältnis der betreffenden, in der Wahrnehmung suecedierenden Veränderungen ist kein empi- risches Datum. Der Gedanke des Wirkens, der realen Abhängigkeit der nachfolgenden Veränderung von der vorangehenden, ist das ra- tionale, apriorische Element, welches vom erkennenden Subjekt zu der Wahrnehmung hinzugesetzt und in dieselbe denkend hineingelegt wird, um ihr die Bedeutung eines kausalen Verhältnisses zu geben. Diese Ergänzung der unmittelbaren Erfahrung, diese Ausdeutung des wahrgenommenen äusseren Zusammenhanges zweier Veränderungen im Sinne eines inneren Zusammenhanges derselben, geschieht jedoch ganz und gar nach Anleitung durch die Erfahrung und in durch-

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188 M. Wartenberg,

gängiger Beziehung auf dieselbe. Das Denken tritt nicht, wie bei

» Kant, mit einem fertigen Kausalbegriff, mit einer im Gemüt bereit liegenden Regel der notwendigen Verknüpfung an die Wahrnehmungen heran, um dieselben in völlig spontaner, autokratischer Weise zu modeln und zu rangieren, es drückt ihnen nicht eigenmächtig den Stempel seiner apriorischen Gesetze auf: das Denken lässt sich von der Erfahrung leiten, es gebt mit ihr solidarisch Hand in Hand und deutet die Wahrnehmungen in demjenigen Sinne aus, welchen die Erfahrung bereits unmissverständlich nahegelegt hat. Dass ein Ding in Aktion gerät, seine Thätigkeit auf ein anderes Ding riehtet und daraufhin dieses Ding sich verändert: dies ist der Inhalt der un- mittelbaren Erfahrung, das wird als Thatsache wahrgenommen, ohne jedes Zuthun des Denkens. Diesen empirischen Wink benutzt das Denken. Weil die Veränderung, welche ein Ding erfährt, an die Thitigkeit, welche ein anderes Ding äussert, kontinuierlich sieh an- schliesst, deshalb führt das Denken, um diese Kontinuität zu recht- fertigen und in befriedigender Weise zu erklären, jene Veränderung auf diese Thätigkeit als ihren Grund zurück und fasst dieselbe als unter der Einwirkung der letzteren entstanden auf. Das Ding, welches die Thätigkeit austibt, erhält jetzt die Bedeutung der Ur- sache, die Veränderung, welche an einem anderen Ding vorgeht, die Bedeutung der Wirkung, und der wahrgenommene Vorgang gilt jetzt als kausales Verhältnis. Die kausale Verknüpfung der Wahr- nehmungen durch das Denken ist also nichts anderes, als eine be- sondere Art der Beurteilung und Ausdeutung eines vorgefundenen empirischen Thatbestandes, der Ausdruck unseres begründenden, Einheit und inneren Zusammenhang stiftenden Denkens. Die Kausa- lität ist keine besondere Kategorie, keine fertige Form, welche die Wahrnehmungen annehmen müssen; sie ist vielmehr das gemein- schaftliche Produkt aus den beiden Erkenntnisfaktoren, Erfahrung und Denken, von denen jeder seinen Beitrag zu dieser Vorstellung liefert.

Aus der Kantischen Fassung der Kausalität ergab sich not- wendig die Aufgabe, die objektive Gültigkeit des Kausalbegriffs zu deduzieren. Wenn nämlich die Kausalität für einen reinen Ver- standesbegriff, für eine apriorische, im erkennenden Bewusstsein wurzelnde Regel der notwendigen Verknüpfung erklärt wurde, dann musste nachgewiesen werden, dass und wie diese subjektive Form des Denkens Gültigkeit für die Objekte der Erfahrung erhalten könne. Eine solehe Deduktion ist auf dem Standpunkt Sigwarts

Sigwarts Theorie der Kausalität im Verhältnis zur Kantischen. 189

vollkommen überflüssig. Hier ruht ja die Kausalität nicht als fer- tige Form im erkennenden Subjekt; vielmehr ist es die Erfahrung, welche durch die bestimmte Beschaffenheit der Wahrnehmungen dem Denken die Veranlassung, den entsprechenden Wink giebt, sich be- gründend und verkntipfend zu bethätigen und die Wahrnehmungen in ein inneres, kausales Abhängigkeitsverhältnis zu einander zu setzen. Wo die Erfahrung das entsprechende Objekt bietet zur kau- salen Beurteilung, da stiftet das Denken zwischen den Wahrnehmungen kausale Zusammenhänge; wenn dagegen ein solches Objekt in der Erfahrung sich nicht findet, dann bat das Denken keine Veranlassung, sich kausal beurteilend zu äussern, und die kausale Synthese unter- bleibt.

Aus Sigwarts Auffassung des kausalen Verhältnisses ergiebt sich als notwendige Konsequenz, dass diesem Begriff eine wesentlich andere erkenntnistheoretische Bedeutung zuerkannt werden muss, als Kant demselben vindiziert hatte. Kant hat im Interesse der Durchführung der Prinzipien seines transscendentalen Apriorismus die Kausalität im idealistischen Sinne auf das immanente Gebiet der Erscheinungen, als blosser Vorstellungen des Bewusstseins, einge- schränkt und geleugnet, dass dieselbe eine Geltung für das trans- scendente Gebiet des an sich Seienden besitze; nicht eine reale Daseinsweise der Dinge, wie sie unabhängig vom Bewusstsein existieren, sei die Kausalität, sondern eine blosse Vorstellungsweise, eine Form des erkennenden Bewusstseins. Diese idealistische Aus- deutung der Kausalität konnte aber nur dadurch ermöglicht werden, dass Kant das Moment des Wirkens, welches er bei seiner Definition der Kausalität als wesentliches Merkmal in diesen Begriff aufge- nommen hatte, später aus demselben wieder eliminiert und die Kausalität als blosses Verhältnis regelmässiger Succession gefasst hat. Ganz anders steht die Sache bei Sigwart. Es ist gerade das Moment des Wirkens, was Sigwart bezüglich des kausalen Ver- hältnisses mit allem Nachdruck und mit vollem Recht betont; das Wirken vollendet ihm erst das Wesen der Kausalrelation; das Wirken hält er für die von Kant sehr richtig hervorgehobene, aber leider nicht festgebaltene „Dignität“, welche dem ursächlichen Verhältnis anhängt. Entsprechend dieser Auffassung kann nun aber die Kausalität nicht mehr für eine blosse Vorstellungsweise, für eine Form des er- kennenden Bewusstseins erklärt werden, sondern sie muss notwendig die Geltung einer Daseinsweise der selbst-realen Dinge, einer Form des vom Bewusstsein unabhängigen Seienden erhalten. Die idealistische

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Ausdeutung der Kausalität muss der realistischen den Platz räumen. Denn wenn ausdrücklich betont und daran festgehalten wird, dass das Verhältnis regelmässiger Succession das Wesen der Kausalität nicht erschöpft, das vielmehr dasjenige, was wir Ursache nennen, ‚jedesmal ein Ding ist, welches durch seine Thätigkeit in die Sphäre eines anderen Dinges eingreift und hier eine Veränderung bewirkt: so ist ohne weiteres klar, dass die Kausalität nicht mehr die Be- deutung eines blossen Verhältnisses zwischen den Erscheinungen als Bewusstseinsinhalten haben kann, vielmehr im Sinne eines realen, in der Welt der Dinge wirklich sich vollziehenden Vorgangs gefasst werden muss. Der Gedanke des Wirkens der Dinge aufeinander führt notwendig über die immanente Sphäre des Bewusstseins ins transscendente Gebiet des Seienden. Die phänomenalistische Auf- fassung der Kausalität, die Kant vertreten hat, kann auf dem Stand- punkt Sigwarts nicht mehr gelten; vielmehr nimmt hier die Kausalität notwendig die Bedeutung einer ontologischen Kategorie an. Allerdings erfahren wir nicht, dass Dinge aufeinander wirken; wir erfahren nur, dass Veränderungen aufeinander folgen. Indem wir aber die Zustandsänderung, welehe wir an einem Ding wahrnehmen, auf die Thätigkeit eines anderen Dinges als den Grund derselben denkend zurückführen, und durch diesen Gedanken des Wirkens die unmittel- bare Erfahrung rational ergänzen und ausdeuten, greifen wir damit über die immanente Sphäre des bloss Vorgestellten hinaus und setzen das so gestiftete kausale Verhältnis als existierend im Gebiet des an sich Seienden.

Mit dem Begrift der Kausalität in der Bedeutung des Wirkens hängt der Begriff der Kraft aufs innigste zusammen. Auf diesen Zusammenhang hat auch Kant in seiner Definition des Kausalbegrifis richtig hingewiesen. Da es ihm aber mit dieser Definition nicht recht Ernst gewesen ist, da er dieselbe nur als traditionelles Ver- mächtnis bingenommen hatte, um sie dann stillschweigend wieder preiszugeben und in Übereinstimmung mit seinem Idealismus einen anderen Kausalbegriff, nämlich den phänomenalistischen, einzuführen, so hat er sich auch weiter keine Mühe genommen, über den Begriff der Kraft nähere Aufklärung und Rechenschaft zu geben. Dieser Forderung musste aber Sigwart, der gerade den Kausalbegrifl, welchen Kant aufgegeben hatte, für den richtigen erklärt, Genüge leisten.

Was bedeutet Kraft, und wie gelangen wir zu dieser Vor- stellung? Kraft bedeutet einen dauernden Zustand der Wirkungs- fähigkeit, ein Vermögen, welches ein Ding besitzt, und wodurch es

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befähigt wird, auf andere Dinge zu wirken. Das Ding wirkt, weil ihm die Kraft, als Fähigkeit des Wirkens, innewohnt, und es wirkt dadurch, dass es diese Kraft äussert. Die Momente des Wirkens und der Kraft sind also unzertrenulich miteinander verbunden. Als aktuelle Kraftäusserung, als einmaliger Impuls, fällt die Kraft mit dem Wirken zusammen; die Kraftäusserung, das Wirken, setzt aber die Kraft als bleibende Potenz, als dauernden Zustand der Wirkungs- fähigkeit eines Dinges voraus. Welches ist nun der Ursprung dieser Vorstellung der Kraft? Wie kommen wir dazu, Dingen Kräfte zu- zusehreiben? Diese Frage ist sehr wichtig; denn erst durch Be- antwortung derselben gewinnen wir eine vollständige Einsicht in das Wesen unserer Kausalvorstellung,

Es ist dargelegt worden, dass die Vorstellung des Wirkens, das wesentliche Merkmal der Kausalität, nicht von der Erfahrung stammt, sondern ein rationales, apriorisches Element unserer Er- kenntnis bedeutet. Wenn nun aber der Begriff der Kraft mit dem Begriff des Wirkens aufs innigste zusammenhängt, insofern die Kraft nichts anderes bedeutet, als die Fähigkeit des Wirkens, so könnte es scheinen, dass auch die Vorstellung der Kraft aus der Erfahrung nicht entspringen könne. Allein dieser Schluss wäre doch nicht ganz zutreffend. Bei genauerem Zusehen zeigt es sich nämlich, dass die Vorstellung der Kraft allerdings auf empirischer Grundlage ruht; nur reicht die Erfahrung als solebe nicht aus, um diese Vorstellung in ihrer charakteristischen Eigentümlichkeit in uns zu erzeugen.

Es ist nur eine geringe Besinnung erforderlich, um einzusehen, dass die Thatsachen der äusseren Erfahrung, die Vorgänge in der Aussenwelt, an sich betrachtet, keine derartigen Merkmale aufweisen, die geeignet wären, in uns den Gedanken entstehen zu lassen, dass den Dingen Kräfte innewohnen. Alles, was wir bezüglich der Vor- giinge in der Aussenwelt erfahren, beschränkt sich auf die Wahr- nehmung der Aufeinanderfolge von Veränderungen; von Kräften, welche die Dinge besitzen, und wodurch sie jene Veränderungen bewirken, erfahren wir, so lange wir nur Zuschauer der Vorgänge ausser uns sind, absolut nichts. Allein wir sind nicht bloss passive Zuschauer der Vorgänge, die ausser uns sich abspielen: in uns selbst besitzen wir in unserem Wollen eine unversiegbare Quelle des Wirkens. Wir vollziehen Willensakte, führen dadurch bestimmte Bewegungen unserer Leibesglieder aus, und werden auf diese Weise zu Ursachen von Veränderungen in der Aussenwelt. Jedesmal nun, wenn wir einen Willensakt ausführen, sind wir uns unserer Thätigkeit,

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unserer Aktivität bewusst, wir erleben die Kraft unseres Wollens. Der Ursprung der Vorstellung der Kraft ist also die innere Er- fahrung unseres eigenen Wollens. Allein man würde doch irren, ‘wenn man meinen wollte, dass auf diesem Wege der Begriff der Kraft, in seiner eigentlichen, vollen Bedeutung, gebildet werde, Das ist niebt der Fall. Denn die Kraft, die wir erfahren, wenn wir dureh unser Wollen eine Handlung vollziehen, ist nicht die bewirkende Kraft, sondern nur ein Zustand unseres Bewusstseins, ein Gefühl der Anstrengung unseres Wollens. Dass die betreffende Bewegung meiner Glieder durch meinen Willensakt bewirkt werde, das erfahre ich nicht; ich erfahre nur die Aufeinanderfolge dieser beiden Ver- änderungen. Die Bedeutung eines bewirkenden Moments erbält das in meinem Willensakt enthaltene Kraftgefühl erst dadurch, dass ich die wahrgenommene Bewegung der Glieder auf den darauf gerichteten Willensakt als ihren Grund zurückführe, also zwischen den beiden Thatsachen der Erfahrung, die an sich betrachtet in keinem inneren Zusammenhang mit einander stehen, denkend eine Synthese stifte. Somit erweist sich die Vorstellung der Kraft, in der ihr wesentlich zukommenden Bedeutung eines wirkenden Moments, als das Produkt aus der inneren Erfahrung unseres Wollens und dem die Thatsachen dieser Erfahrung rational ausdeutenden begründenden Denken. Nun ist die Vorstellung der Kraft, die wir in der soeben dargelegten Weise gewinnen, doch erst die Vorstellung einer einmaligen Kraft- äusserung, eines einzelnen Willensimpulses; die Bedeutung eines Vermögens, eines dauernden Zustandes der Wirkungsfähigkeit, hat sie dadurch noch nicht erhalten. Da wir uns aber bewusst sind, dass wir Handlungen vollziehen können, sobald wir nur wollen, da wir wissen, ‘dass aus unseren Willensakten jedesmal bestimmte Handlungen hervorgehen, so schreiben wir uns ein dauerndes Ver- mögen des Wirkens zu; wir führen die einzelnen Willensimpulse, die momentanen Willensakte, auf eine Willenskraft zurück, die als bleibendes Vermögen ihnen zu Grunde liegt und durch dieselben in Wirkung gesetzt wird. Auf diese Weise konzipieren wir den Begriff der Kraft, als eines dauernden Zustands der Wirkungsfähigkeit, der in den einzelnen Kraftäusserungen sich aktualisiert. Nachdem wir so auf Grund der denkenden Ausdeutung der Thatsachen der inneren Erfahrung, der Willensvorgänge, den Begriff der Kraft ge- bildet haben, übertragen wir denselben auf die Thatsachen der äusseren Erfahrung, auf die Vorgänge, die in der Welt ausser- halb unseres Bewusstseins sich abspielen. Wir deuten dieselben

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anthropomorphistisch, wir schreiben den Dingen nach Analogie unseres Wollens Kräfte zu, wodurch diese Dinge wirken und Veränderungen hervorrufen. Indem wir zwischen den wahrgenommenen Vorgängen in der Aussenwelt kausale Synthesen begründen, legen wir gleichsam in diesem Akt unseres kausalen, begründenden Denkens Kräfte in die Dinge hinein und bereichern auf diese Weise die Thatsachen der äusseren Erfahrung durch ein Element, welches zwar nicht in seiner vollen Bedeutung, aber doch bis zu einem gewissen Grade in der inneren Erfahrung unserer Willensvorgänge als Thatsache gegeben ist. Die Kausalität unseres Wollens dient uns somit zum Muster, nach welchem wir alle übrigen ursächlichen Verhältnisse beurteilen und unserem Verständnis nahe bringen.

So sind denn in Sigwarts Auffassung der kausalen Relation alle diejenigen Momente, welche Kant ursprünglich als wesentliche Merk- male des Kausalbegriffs angeführt, die er aber später aus demselben eliminiert hatte, wieder zu ihrem Recht und zur vollen erkenntnis- theoretischen Geltung gekommen. Der Kantische Satz, dass die Kausalität auf den Begriff der Handlung, d. h. des Wirkens, diese auf den Begriff der Kraft, und dadurch auf den Begriff der Substanz führt, ist durch sorgfältige Analyse begründet und als wahr anerkannt. Nachdem aber dieses geschehen ist, konnte Kants idealistischer und phänomenalistischer Standpunkt, auf welehem jener Satz vollkommen unverständlich war, in der Frage der Kausalität nicht mehr aufrecht erhalten werden; die Kausalität musste die Be- deutung eines bloss vorgestellten, gedachten Verhältnisses zwischen den Erscheinungen als Bewusstseinsinhalten verlieren und wurde zu einem realen, seienden Verhältnis zwischen den Dingen, wodurch ihr wahrer Sinn wiederhergestellt worden ist.

Die Analyse der ursprünglichen, aller wissenschaftlichen Reflexion und Bearbeitung vorangehenden Kausalvorstellung hat die einzelnen Elemente, welche in dieser Vorstellung liegen, herausgehoben und ihren Sinn klargelegt, Nunmehr ergiebt sich die Aufgabe, diese Elemente logisch zu fixieren und zu vollenden, um dieselben in unzweideutiger, strenger Fassung auf einen festen Begriff zu bringen.

Die Auffassung der Kausalität in der Bedeutung des Wirkens machte es Sigwart möglich, eine wichtige, das kausale Verhältnis betreffende Frage in befriedigender Weise zu lösen, nämlich die Frage nach dem Zeitverhältnis zwischen Ursache und Wirkung. Bei Kant finden wir bezüglich dieser Frage keine eindeutige, sondern

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eine zweideutige, schwankende Antwort. Auf dem Standpunkt des Kantischen Phiinomenalismus, wo die Kausalität ein blosses Ver- hältnis regelmässiger Succession der Erscheinungen bedeutet, hätte besagtes Zeitverhältnis konsequenterweise dahin bestimmt werden müssen, dass in allen Fällen der kausalen Relation die Ursache das vorangehende, Wirkung das nachfolgende Glied sei, beide also in verschiedene Zeitpunkte fallen. Nun will aber Kant Fälle finden, in denen Ursache und Wirkung nieht aufeinander folgen, sondern zugleich sind. Um diese merkwürdige Erscheinung mit seiner Fassung der Kausalität als eines Verhältnisses regelmässiger Succession in Übereinstimmung zu bringen, statuiert Kant einen Unterschied zwischen der Zeiturdnung und dem Zeitablauf und meint, dass der Ordnung in der Zeit nach die Ursache immer früher sei, als die Wirkung, auch wenn keine Zeit zwischen beiden verlaufe. Allein durch diese Wendung hat Kant mehr Verwirrung als Klarheit in unsere Frage hineingebracht und das Problem umgangen, anstatt es wirklich zu lösen. Diese Lösung giebt erst Sigwart.

Bleiben wir bei der unmittelbaren Wahrnehmung, betrachten wir den Moment, wo die Ursache wirkt, und die Veränderung als bewirkten, fertigen Zustand, dann folgt ohne Zweifel die Wirkung auf die Ursache, beide fallen in verschiedene Zeitpunkte. Erst wirkt die Ursache, und dann erfolgt die Wirkung. Wenn wir aber be- denken, dass ja die betreffende Veränderung als Wirkung eben durch die Aktion der Ursache bewirkt wird, wenn wir den Moment in Betracht ziehen, wo ein Ding als Ursache durch seine Thätigkeit in die Sphäre eines anderen Dinges eingreift und hier den Beginn einer Veränderung hervorruft: dann müssen wir sagen, dass Ursache und Wirkung zeitlich nicht auseinanderfallen, sondern in denselben Zeitpunkt zusammenfallen. Die Aktivität der Ursache und das Ent- stehen des Effekts, das Wirken der Ursache und der Beginn der Wirkung sind streng gleichzeitig, sie fallen in denselben Zeitpunkt.

Kant behauptet, dass, weil einerseits jede Veränderung ihre Ursache hat, und weil anderseits die Veränderung, als Übergang eines Dinges aus einem Zustand in den anderen, nicht plötzlich, sondern kontinuierlich, in einer Reihe stetig aneinander sich an- schliessender Phasen, in einer Zeit geschieht, die Ursache in der ganzen Zeit, in welcher die Veränderung als Wirkung vorgeht, ihre Kausalität beweise, jede Veränderung also nur durch eine konti- nuierliche Handlung der Kausalität möglich sei. Das Wirken der Ursache dauert von dem Moment an, wo die Veränderung beginnt,

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bis zu demjenigen, wo diese Veränderung als fertiger Effekt zum Abschluss gekommen ist; cessante causa cessat effectus.

Allein diese Kantische Auffassung trifft nicht zu.

Es muss zunächst bemerkt werden, dass die Frage, ob die Ursache während der ganzen Zeit, in welcher die Veränderung vorgeht, wirkt oder nicht, auf dem phänomenalistischen Standpunkt Kants vollkommen gegenstandslos ist. Wer nämlich die Kausalität für ein blosses Verhältnis zwischen den Erscheinungen als Bewusst- seinsinhalten betrachtet, der darf vom Wirken der Dinge aufeinander nicht reden, und der braucht auch dementsprechend unsere Frage gar nicht zu stellen. Wenn aber Kant es trotzdem gethan hat, so geschah dies aus dem Grunde, weil er den ontologischen Kausal- begriff, den er zu Gunsten des phänomenalistischen, welcher allein mit seinem erkenntnistheoretischen Standpunkt vereinbar ist, gern preisgeben möchte, doch in Wahrheit nicht loswerden kann, sondern immer wieder in denselben zurtickfällt Sehen wir von dieser Inkonsequenz ab, so erweist sich die Kantische Lösung des in Rede stehenden Problems als unzutreffend.

Wenn ein Ding als Ursache auf ein anderes Ding wirkt und hier eine Zustandsänderung bewirkt, so beschränkt sich die Dauer des Wirkens auf den momentanen Akt, wodurch das Ding, welches die Wirkung erleidet, unter dem Einfluss der Kraft des wirkenden Dinges bestimmt wird, aus dem Zustand, in welchem es sich vor dem Wirken befand, in einen anderen überzugehen. Der Akt des Wirkens vollendet sich darin, dass durch ihn der Anstoss zum Beginn der Veränderung gegeben wird. Die weitere Veränderung die auf den Akt des Wirkens folgt, ist nicht mehr unmittelbarer Effekt der wirkenden Ursache, sondern nur ein mittelbarer, nämlich die notwendige Folge dieses Effekts. Demnach muss in dem durch das Wirken der Ursache hervorgebrachten Effekt zweier- lei unterschieden werden: dasjenige, was aus dem Wirken der wirkenden Substanz hervorgeht, und dasjenige, was aus dem Beharrungsvermögen der die Wirkung erleidenden Substanz folgt. Die Veränderung, welche ein Ding durch das Wirken eines anderen Dinges erfährt, setzt sich also zusammen aus der unmittelbaren, dem Wirken gleichzeitigen Veränderung und aus der Fortentwicklung des durch dieses Wirken eingeleiteten Veränderungsprozesses, in welchem das betreffende Ding unabhängig von weiterer Einwirkung von selbst beharrt.

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Aus diesem Umstand ergiebt sich eine weitere wichtige Folgerung.

Das gewöhnliche Bewusstsein ist geneigt, das Ding, welches durch das Wirken eines anderen Dinges eine Veränderung erfährt, als den rein passiven Schauplatz zu betrachten, auf welchem das wirkende Ding in despotischer Omnipotenz seine Kraft ausübt, Das Ding, welches wirkt, gilt als rein thätig, das Ding, auf welches gewirkt wird, als rein leidend, und die bewirkte Veränderung, der hervorgebrachte Effekt, soll seinen Grund ausschliesslich in der wirkenden Substanz haben, welche als die eigentliche und vollständige Ursache desselben angesehen wird. Allein diese Auffassung trifit das Wesen des kausalen Verhältnisses nicht. Wenn nämlich, wie oben ausgeführt worden ist, die Aktion der Ursache und das Werden des Effekts streng gleichzeitig ist, und wenn anderseits der hervor- gebrachte Effekt zusammengesetzt ist aus demjenigen, was unmittel- barer Erfolg des Wirkens der wirkenden Substanz ist, und dem- jenigen, was aus dem Beharrungsvermögen der die Wirkung er- leidenden Substanz hervorgeht: so ergiebt sich, dass der Grund der bewirkten Veränderung keineswegs ausschliesslich in der einen Substanz liegt, sondern ebensosehr in der anderen Substanz ge- sucht werden muss. Die Veränderung, welche die Substanz B erfährt, ist nicht der alleinige Effekt der Thätigkeit der Substanz A, vielmehr das Produkt aus dem gemeinschaftlichen Thun beider Substanzen, von denen jede ihren Beitrag zur Hervorbringung derselben liefert. Das kausale Verhältnis zwischen zwei Substanzen, woraus eine bestimmte Veränderung als Wirkung hervorgeht, ist also nicht das Verhältnis eines einseitigen Thuns und eines ein- seitigen Leidens, vielmehr eine gegenseitige dynamische Beziehung der Substanzen zueinander, vermüge welcher diese Substanzen in ihrer Verhaltungsweise sich nacheinander richten, die Art ihres Thuns einander wechselseitig bestimmen und durch ihr Zusammen- wirken die betreffende Veränderung hervorrufen.

Somit erweist sich die Kausalität, ihrem Wesen nach, als ein Verhältnis der Wechselwirkung zwischen zwei Substanzen. Auch Kant redet von Wechselwirkung; aber er betrachtet dieselbe für eine besondere, von der Kausalität verschiedene Kategorie. Wäre Kant tiefer in das Wesen der Kausalität eingedrungen, hätte er das kausale Verhältnis einer eingehenden, voraussetzungslosen Analyse unterworfen, hätte er, in Übereinstimmung mit dem Sprachgebrauch, in welchem immer eine Fülle richtiger Beobachtungen, wenn auch

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meist nur in unreflektierter Form, niedergelegt ist, das Moment des Wirkens in den Vordergrund gertickt, wäre er bei seinen Unter- suchungen den Weg, welchen Sigwart eingeschlagen hat, gegangen: dann würde sich ihm ergeben haben, dass Kausalität und Wechsel- wirkung nicht zwei verschiedene Verhältnisse, sondern ein und das- selbe Verhältnis bedeuten. Statt dessen glaubte Kant, durch Humes Auffassung des kausalen Verhältnisses irre geführt, Kausalität und Wechselwirkung als besondere Verhältnisse voneinander trennen zu müssen, und er hat sich dadurch den Weg zur Gewinnung des richtigen Kausalbegriffs versperrt. Kant hat den einbeitlichen Kausal- gedanken in zwei Momente zerlegt, die er als verschiedene Verhält- nisse betrachten zu müssen geglaubt hat, die aber im Gegenteil voneinander gar nicht getrennt werden können, sondern miteinander innigst zusammenhängen und im Verein den wahren Begriff der Kausalität ergeben. Kant bat die Kausalität vom Begriff der Substanz faktisch losgelöst und dieselbe als blosses Verhältnis der regelmässigen Succession gefasst; erst im Begriff der Wechsel- wirkung führt er den Substanzbegriff ausdrücklich ein, indem er behauptet, dass Substanzen, sofern sie zugleich sind, im Verhältnis der Gemeinschaft oder Wechselwirkung miteinander stehen. Nun, diese Gedanken enthalten ohne Zweifel Wahrheit, aber gesondert voneinander enthält jeder nur die halbe Wahrheit; denn was Kant hier als besondere Verhältnisse hinstellt, sind in der That nur die beiden unselbständigen Momente im Kausalgedanken, Momente, aus deren Vereinigung erst der wahre Begriff der Kausalität sich ergiebt. Ohne Zweifel ist das Moment der Succession der Veränderungen ein wesentliches Merkmal der Kausalität. Aber dieses Merkmal erschöpft nicht das Wesen des kausalen Verhältnisses. Dasselbe wird viel- mehr erst durch das Moment des Wirkens vollendet, dieses führt aber notwendig auf den Begriff der Substanz. Nun hat uns die strenge Fassung des Gedankens des Wirkens zu der Einsicht geführt, dass das Wirken als Verhältnis des Zusammenwirkens, der Wechsel- wirkung zwischen zwei Substanzen betrachtet werden muss. Im Akt des Wirkens treten also die Substanzen in das Verhältnis der Gemeinschaft oder Wechselwirkung zueinander, und neben dem Moment der Succession, das im kausalen Verhältnis lieg, kommt das Moment der Gleichzeitigkeit zu seinem Recht, insofern die Aktion der Ursache und das Werden des Effekts als streng gleichzeitig gedacht werden müssen, während die Weiterentwicklung des Effekts auf den Akt des Wirkens folgt. So sind also in Kants Erkenntnis-

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theorie alle Momente des Kausalgedankens thatsächlich enthalten. Aber diese Momente liegen hier im konfusen Durcheinander und sind in ihrer Bedeutung nicht gehörig gewürdigt und nicht in das richtige Licht gestellt. Es bedurfte erst des eminenten Scharfsinns Sigwarts, um diese Momente voneinander zu sondern, zueinander in das riehtige Verhältnis zu setzen, ihre Bedeutung klar zu legen, und da- durch den wahren Kausalbegriff zu bilden.

Die Einsicht, dass die Kausalität ein Verhältnis der Wechsel- wirkung zwischen den Substanzen bedeutet, führt zu einer Umbildung des ursprünglichen, populären Kraftbegriffs. Nach der gewöhnlichen Auflassung bedeutet die Kraft einen dauernden Zustand der Wirkungs- fähigkeit einer Substanz, eine bleibende Eigenschaft, welche der Substanz ein für allemal zukommt und dieselbe befähigt, in die Sphäre anderer Substanzen eigenmächtig einzugreifen und hier Ver- änderungen zu bewirken. Allein diese Auftassung kann jetzt nicht mehr als richtig gelten. Wenn nämlich, wie sich uns soeben gezeigt hat, der Grund einer bestimmten Veränderung als Wirkung nicht ausschliesslich im Wirken der einen Substanz, sondern in dem gemeinschaftlichen Thun, in dem Zusammenwirken beider Substanzen, die im Akt des Wirkens in dynamische Beziehung zueinander treten, gesucht werden kann: so muss die Kraft ihre ursprüngliche Bedeutung einer Eigenschaft der Substanz aufgeben und wird not- wendig zu einem Relationsbegriff. Die Kraft, als Fähigkeit des Wirkens, kommt der Substanz nicht zu, wenn man dieselbe als isoliert von anderen Substanzen betrachtet, sondern sie kommt ihr nur zu, insofern die Substanz in einer bestimmten Beziehung, in einer Relation zu anderen Substanzen steht. Einem Ding für sich kommt nicht die Macht zu, in die Sphären anderer Dinge in völlig autokratischer Weise verändernd einzugreifen; nur auf Grund einer dynamischen Beziehung zu anderen Dingen, nur im Verhältnis zu denselben, aus welchem ein gemeinsames Thun der Substanzen, eine Konkurrenz derselben zum Zweck der Hervorbringung eines bestimmten Effekts resultiert, kann ein Ding sich als Ursache wirkend bethätigen.

Kants phänomenalistischer Kausalbegriff, welcher die Ursache für eine regelmässig vorangehende, die Wirkung für eine regel- mässig nachfolgende Veränderung erklärt hatte und vom Wirken der Dinge aufeinander eigentlich nichts wissen wollte, durfte und musste konsequenterweise ein Moment unberücksichtigt lassen, welches Sigwarts substantieller, ontologischer Kausalbegriff, welcher die

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Ursachen als konkrete, seiende Dinge auffasst, die durch ihr Zu- sammenwirken die Veränderung als Wirkung hervorbringen, nicht übergehen konnte, sondern als ein weiteres wichtiges Moment im Begriff der kausalen Relation ausdrücklich hervorzuheben ge- nütigt war. Wir meinen den Unterschied zwischen der wirkenden Ursache (causa efticiens) und der Bedingung (causa oceasionalis), unter welcher diese Ursache wirkt,

Wir haben gesehen, dass der Grund des Wirkens in die Kraft, als den dauernden Zustand der Wirkungsfähigkeit eines Dinges, ver- legt wird. Die strengere Fassung und Präeisierung des ursprüng- lichen Kraftbegriffs liess uns dann die Kraft als eine dynamische Beziehung der Substanzen zueinander, als ein Verhältnis zwischen ihren beiderseitigen Naturen, erscheinen, ein Verhältnis, welches, da es im Wesen dieser Substanzen seinen Grund hat, als unveränderlich und dauernd bestehend angesehen werden muss, Dass bestimmte Dinge bestimmte Wirkungen hervorbringen, liegt also im Wesen dieser Dinge, in der Natur ihrer wirkenden, konstanten Kräfte, dau- ernd begründet. Nun bringen aber die Dinge ihre Wirkungen nieht immer hervor; bestimmte Wirkungen sind mit bestimmten Ursachen nieht immer verbunden, wie etwa innerhalb unserer Gedankenwelt

* bestimmte Folgen mit bestimmten Gründen ewig zusammen sind: die Dinge wirken nur, wenn sie in bestimmte, veränderliche Relationen zueinander treten; „diese Relationen enthalten die Bedingungen der Wirkungsfähigkeit konstanter Kräfte, dasjenige, wovon es abhängt, ob und welche Veränderungen aus den im Begriff der Kraft gedachten wesentlichen Beziehungen der Dinge folgen.“

Dieser wichtige Unterschied zwischen der wirkenden Ursache und der Bedingung, unter welcher dieselbe wirkt, führt zur voll- ständigen Eruierung und abschliessenden Präeisierung der im kau- salen Verhältnis enthaltenen zeitlichen Bestimmungen. Der in der Kraft, d. h. in dem wesentlichen Verhältnis der Dinge zueinander, liegende Grund der Veränderung besteht dauernd, ist also von den Unterschieden der Zeit unberührt; aber die Relationen der Dinge, die Bedingungen, unter welchen konstante Kräfte wirken und Ver- änderungen hervorbringen, wechseln, sie sind bald vorhanden, bald nieht vorhanden, also den Unterschieden der Zeit unterworfen. Da nun der Grund des wechselnden Verhaltens der Dinge nicht in dem- jenigen liegen kann, was unveränderlich ist, also nicht in der kon- stanten dynamischen Beziehung der Dinge zueinander, sondern in demjenigen, was sich verändert, d. h. in den Relationen der Dinge,

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so ist man geneigt, als den Grund des wechselnden Geschehens, als die Ursache der Veränderung, nicht in erster Linie die Dinge zu betrachten, sondern ihre Relationen. Thut man dieses, dann muss man ohne Zweifel sagen, dass die Ursache dem Eintreten der Ver- änderung als Wirkung vorangeht; denn die Veränderung ergiebt sich erst, nachdem die Dinge in bestimmte Relation zueinander getreten sind. Bedenkt man aber, dass diese Relation nicht das eigentliche, die Veränderung hervorbringende Prinzip ist, sondera nur die uner- lässliche Bedingung darstellt, unter welcher Dinge wirken und durch ihre’ gemeinsame Aktion die betreffende Veränderung erzeugen, dann muss man, gemäss den früheren Ausführungen, anerkennen, dass Ursache und Wirkung, oder genauer das Wirken der Ursache und das Werden des Effekts streng gleichzeitig ist.

Die Analyse des Kausalbegriffs und die logische Bearbeitung und Präeisierung der in ihm enthaltenen Elemente haben zu dem Resultate geführt, dass die Kausalität wesentlich in dem Sinne zu fassen ist, dass aus einem bestimmten Verhältnis der Substanzen zueinander, einem Verhältnis, welches im Wesen der Substanzen begründet ist, und daher als unveränderlich gedacht werden muss, aus einer bestimmten konstanten dynamischen Beziehung zwischen den Substanzen, auf Grund ihrer, unter bestimmten wechselnden Be- : dingungen stattfindenden Wechselwirkung bestimmte Veränderungen als Wirkungen sich ergeben.

Aus der konsequenten Fassung und Durchführung dieses Ge- dankens ergiebt sich nun als notwendige Folgerung der Satz, dass dieselben Ursachen unter denselben Relationen, als Bedingungen ihres Wirkens, immer dieselben Wirkungen hervorbringen. Denn aus der Konstanz der wirkenden Kräfte folgt notwendig die Kon- stanz ihrer Wirkungsweisen. Ist die Kraft, d. h. das wesentliche Verhältuis der Substanzen zueinander, etwas Unveränderliches, dau- ernd Bestehendes, dann kann diese Kraft, solange die Bedingungen ihrer Wirkungsfähigkeit dieselben bleiben, nicht im bunten Durch- einander bald diese, bald eine andere, sondern sie muss stets die- selbe Veränderung bewirken. Der Zusammenhang zwischen den Veränderungen und den Ursachen, welche dieselben bewirken, muss demnach als ein gesetzlicher aufgefasst werden, in dem Sinne, dass aus dem dynamischen Verhältnis bestimmter Dinge zueinander unter denselben Relationen stets und überall die nämlichen Effekte hervor- gehen.

In diesem Begriff des Gesetzes, in welchen wir das kausale

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Verhältnis fassen, vollendet sich unsere Einsicht in die Notwendigkeit des Geschehens. Diese Notwendigkeit, welche ursprünglich in der Form einer blossen Nötigung, eines äusseren Zwanges, welchen die wirkende Substanz der die Wirkung erleidenden Substanz anthut, gedacht wird, vertieft sich in der fortschreitenden logischen Ent- wicklung des Begriffs und erscheint als eine solche, der beide Sub- stanzen vermöge ihrer Natur gleichmässig unterworfen sind, nämlich als innerer Zusammenhang ihrer Wesensbestimmtheit, und äussert. sich, entsprechend der Unveränderlichkeit der Substanzen und ihrer Kräfte, in der Konstanz, mit welcher unter gleichen Bedingungen der gleiche Effekt eintritt. Dadurch aber, dass wir die Veränderungen auf gesetzliche Realgründe, auf konstant wirkende Ursachen zurück- führen, gewinnen wir, wo uns diese Reduktion gelingt, erst eine Ein- sicht in die reale Notwendigkeit des Geschehens. Denn erkennbar und begreifbar ist diese Notwendigkeit, wie Sigwart mit Recht sagt, nur in der Form allgemeiner Regeln, unter denen der einzelne Fall steht, nur dort, wo dieselbe Konstanz der Verknüpfung im Sein stattfindet, welche auf logischem Gebiete die Verknüpfung unserer Gedanken beherrscht, wo also eine Kongruenz realer und logischer Notwendigkeit möglich ist. Diese Kongruenz ist aber in der Form. der kausalen Gesetze, denen die Veränderungen unterworfen sind, verwirklicht. Denn in derselben gesetzlichen Weise, mit derselben. Konstanz, mit welcher in unserem Denken bestimmte Folgen an bestimmte Gründe geknüpft sind, gehen auf dem Gebiete des realen Geschehens bestimmte Wirkungen aus bestimmten Ursachen hervor.

Diese Erwägungen leiten bereits über zur Betrachtung des Kausal- prinzips.

Wir haben in der Kausalität eine Synthese erkannt, wodurch unser Denken wahrgenommene Veränderungen auf gesetzliche Realgründe zurückführt, aus welchen dieselben mit Notwendigkeit hervorgehen. Diese kausale Synthese übt das Denken zunächst nur dort aus, wo: in der Erfahrung thatsächlich solche Wahrnehmungen sich finden, welche dem Denken von selbst die Veranlassung geben, sich kausal verknüpfend zu bethätigen. Allein unser Denken beschränkt sich. nicht auf dasjenige, was die Erfahrung als unmittelbare Thatsache- von selbst bietet; das Denken geht vielmehr, vermöge einer natür- lichen Tendenz, die ihm innewohnt, ausdrücklich darauf aus, kausale Synthesen zu vollziehen : es sucht ursächliche Zusammenhänge im wirklichen Geschehen und ist bestrebt, sämtliche Veränderungen auf gesetzliche Realgründe zurückzuführen, um dieselben dadurch als.

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notwendig zu begreifen. Der einfache Kausalgedanke, dass in der Wirklichkeit überhaupt kausale Zusammenhänge zwischen den Ver- änderungen sich finden, wird zum Kausalprinzip verallgemeinert, wonach sämtliche Veränderungen notwendig eintretende Erfolge ge- setzlich wirkender Ursachen sind.

Kant hielt das Kausalprinzip für einen Grundsatz von apodik- tischem Erkenntniseharakter, für ein streng allgemeines Naturgesetz, dessen Gewissheit völlig a priori besteht. Dass alle Veränderungen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung ge- schehen: dieser Satz sollte ein streng allgemeines und notwendiges Urteil, ein Axiom bedenten. Allein es ist Kant wie wir früher gezeigt haben nicht gelungen, die behauptete Allgemeinheit und Notwendigkeit des Grundsatzes der Kausalität zu beweisen. Seine transscendentale Deduktion des Kausalprinzips, der vermeintliche Nachweis, dass das Gesetz der Kausalität deshalb für alle Erfahrung ausnahmslose Geltung besitzt, weil diese Erfahrung, d. bh, die Er- kenntnis objektiver Successionen, nur durch dieses Gesetz möglich ist, musste als gescheitert angesehen werden. Wenn wir uns Kants Terminologie bedienen, so konnte der Grundsatz der Kausalität nur als regulatives Prinzip gelten, als Leitfaden, wonach wir ursächliche Zusammenhänge in der Erfahrung suchen, aber er konnte nicht die Bedeutung eines konstitutiven Prinzips beanspruchen, er konnte nicht verbürgen, dass auf dem gesamten Gebiet der Erfahrung kausale Verknüpfungen zwischen den Veränderungen sich ausnahmslos finden müssen.

Sigwart ist unseres Wissens der erste Denker, welcher den Versuch, das Kausalprinzip als einen apodiktischen Satz hinzustellen und dessen objektive Gültigkeit zu deduzieren, als völlig vergeb- liches Bemühen klar erkannt und endgtiltig aufgegeben hat. Das Fundament, worauf Sigwart das Kausalprinzip stützt, ist daher von demjenigen, welches Kant demselben geben wollte, wesentlich ver- schieden.

Sigwart formuliert das Kausalprinzip im engen Anschluss an Leibniz, welcher diesen Grundsatz zuerst ausdrücklich aufgestellt hat. Danach soll für alles, was wirklich ist und geschieht, ein zu- reichender Grund vorhanden sein, warum es so und nicht anders ist und geschieht; alles soll seinen Grund haben, woraus es mit Not- wendigkeit hervorgeht. Dieser Satz bedarf noch einer näheren Er-

Der Gedanke, dass alles seinen Grund hat, woraus es nofwen-

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Sigwarts Theorie der Kausalität im Verhältnis zur Kantischen. 208

dig hervorgeht, kann in dieser uneingeschränkten Fassung nicht aufrecht erhalten werden. Denn in diesem Falle würden wir bei der Zurückführung des Gegebenen auf Realgründe einem unver- meidlichen regressus in infinitum verfallen, das Seiende in lauter Relativitäten und Derivate auflösen, und es bliebe kein Raum übrig für ein absolutes, einfach und schlechthin Seiendes übrig, Ein solches einfach Seiendes muss aber angenommen werden. Denn jeder Grund, woraus etwas als notwendig erkannt wird, zerfällt in ein Seiendes, das vorausgesetzt wird, und in das Verhältnis des Zu- sammenhangs mit seiner Folge, durch welchen diese notwendig ist. Bei einem einfach Seienden, das nur anzuerkennen ist, nach dessen Grunde aber nieht mehr gefragt werden darf, muss also unsere Er- kenntnis schliesslich stehen bleiben. Was in letzter Instanz als dieses schlechthin Seiende angesehen werden soll, ob im pantheisti- schen Sinne eine absolute Substanz, aus welcher alles einzeln Seiende als Modifikation derselben hervorgeht, oder im theistischen Sinne ein transscendenter Weltgrund, welcher alles Einzelne ins Dasein gesetzt hat, das ist eine metaphysische Frage, welche das Kausalprinzip als solches nicht berührt. Dieses muss nur dahin näher bestimmt und restringiert werden, dass unser Suchen nach Gründen, woraus das Gegebene als notwendig begriffen wird, schliesslich ein einfach Seiendes voraussetzen muss, nach dessen Grunde man nicht weiter suchen darf.

Fragen wir nun, was unter dem Grund zu verstehen sei, woraus ein Seiendes notwendig hervorgehen soll, so ist klar, dass das Kausalprinzip in seiner Allgemeinheit über die besondere Art dieses Grundes nichts aussagt. Mit dem Ausdruck „Grund“ wird nur ganz allgemein das Begründetsein eines Etwas in einem anderen Etwas vorausgesetzt, nicht aber die Art und Weise dieses Begriindetseins bestimmt.

Betrachten wir die Dinge als etwas einfach Daseiendes und fragen nur nach dem Grund desjenigen, was aus der Natur dieser Dinge folgt, so kann dieser Grund bald im Wesen der Substanzen, bald in ihren Verhältnissen zueinander gesucht werden. Im ersteren Falle ist der Grund, im Sinne einer inneren, immanenten Ursache, ein Ding, welches vermöge seines Wesens eine Reihe beharrender und wechselnder Zustände aus sich selbst entwiekelt; im letzteren Falle ist der Grund, im Sinne einer äusseren, transeunten Ursache, eine solche wechselseitige Beziehung der Dinge zueinander, aus welcher unter bestimmten Bedingungen notwendig bestimmte Ver-

204 M. Wartenberg,

änderungen dieser Dinge sich ergeben, In welcher Richtung in konkreten Einzelfällen der Grund gesucht werden muss, ob etwas auf eine immanente, oder auf eine transeunte Ursache zurückzu- führen ist, das richtet sich ganz und gar nach der besonderen Natur der beztiglichen Objekte. Das Kausalprinzip kann darüber schlechter- dings nichts Allgemeingültiges bestimmen.

Fragen wir nun, welches Recht wir besitzen, das Kausalprinzip als einen streng allgemeinen und notwendigen Satz, dem das Seiende ohne Ausnahme entsprechen muss, zu behaupten, so erteilt uns Sigwart die Antwort, dass dieses Recht, rein logisch betrachtet, sich in keiner Weise ausreichend begründen lässt. Der Satz, dass sämt- liche Zustände und Veränderungen, die wir auf Substanzen als deren Träger beziehen, sei es im Wesen dieser Substanzen, sei es in ihrem gesetzlichen Verhältnis zueinander ihren zureichenden Realgrund haben, woraus sie mit Notwendigkeit hervorgehen: dieser Satz ist weder ein Axiom, ein selbstevidentes, keines Beweises bedürftiges Urteil, noch lässt er sich aus irgendwelchen axiomatischen Prinzipien als notwendige Folge deduzieren. Die Erfahrung aber reicht wegen ihres beschränkten Umfangs zur Begründung des Kausalprinzips nicht aus. Die Geltung eines allgemeinen und denknotwendigen Prinzips kann also der Grundsatz der Kausalität nicht beanspruchen. Nur durch das Wesen unseres Denkens, welches gesetzmässig ist und in der Einsicht in die Notwendigkeit des Seienden sich befrie- digen will, welches nicht eher zur Ruhe gelangt, als bis es ihm ge- lungen ist, das thatsächlich Gegebene als die notwendige Folge eines gesetzlichen Realgrundes zu erkennen: nur durch das Wesen unseres Denkens lässt sich die Tendenz, das Seiende als notwendig zu begreifen, als eine schlechthin allgemeine legitimieren. Freilich ist diese Legitimation weit davon entfernt, eine wirkliche Demon- stration der objektiven Gültigkeit des Kausalprinzips zu sein. Denn daraus, dass unser Denken den Zweck verfolgt, das Seiende als notwendig zu begreifen, ergiebt sich nicht, dass dieses Seiende als notwendig begreifbar ist, dass es also solche Zusammenhänge zwischen bestimmten Folgen und bestimmten Gründen aufweist, welche das Denken in demselben sucht und finden möchte. Eine Kongruenz zwischen Denken und Sein, zwischen den Formen unserer Intelligenz und dem Lauf der Dinge, lässt sich nicht demonstrieren, Dem Denken bleibt nichts anderes übrig, als vom Seienden zu for- dern, dass es ihm ein seinen Tendenzen entsprechendes Objekt bietet. Und so erweist sich denn das Kausalprinzip als ein Postulat

Sigwarts Theorie der Kausalität im Verhältnis zur Kantischen. 205

unseres Strebens nach Erkenntnis des Seienden, als eine Forderung, welche das Denken im Interesse dieser Erkenntnis an die Wirk- lichkeit stell. Der Grundsatz der Kausalität steht ohne Zweifel a priori fest; aber nicht in der Form eines denknotwendigen Satzes, sondern nur in der Form einer notwendigen Forderung, welche aus dem Wesen unseres Denkens unmittelbar sich ergiebt. Als Postulat ist aber das Kausalprinzip kein schlechtweg theoretischer Satz, son- dern es wurzelt letzten Endes in unserem Wollen, zu dessen Zwecken auch die Erkenntnis des Seienden gehört. Es ist der Ausdruck unseres zwecksetzenden, auf die Erkenntnis der Wirklichkeit gerich- teten intelligenten Willens, und dieser Zusammenhang mit dem Wollen giebt ihm diejenige charakteristische Eigenttmlichkeit wieder, die es als rein theoretischer Satz verlieren müsste. Theoretisch lässt sich die Allgemeingültigkeit des Kausalprinzips nicht erweisen, der Grund seiner Gewissheit ist nicht die logische Notwendigkeit; wir hätten also, rein logisch betrachtet, keinen zureichenden Grund, an der Wahrheit dieses Satzes so zuversichtlich festzuhalten. Weil wir aber die Wirklichkeit erkennen wollen, weil wir den Zweck haben, das Gegebene als notwendig zu begreifen, so besitzt das Kausalprinzip, welches uns als unentbehrliches Mittel zu diesem Zweck dient, in unserer Überzeugung jenen Grad von Festigkeit und Gewissheit, der ihm aus rein theoretischen Gründen nicht zukommt.

Wenn wir Sigwarts Auffassung des Kausalprinzips mit derjenigen Kants vergleichen, so ist dieser Vergleich so recht dazu geeignet, unser üibermässiges Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der mensch- lichen Erkenntniskräfte auf ein sehr bescheidenes Mass zu reduzieren und das Gefühl der Bescheidenheit in uns zu erwecken. Ver- schwunden ist die stolze Zuversicht, welche Kants rationalistische Erkenntnistheorie beseelte, und die er in dem Satza zum Ausdruck brachte: Der Verstand schöpft seine Gesetze (a prieri) nicht aus der Natur, sondern schreibt sie dieser vor. Freilich dieser Satz konnte nur solange als wahr gelten, als man mit Kant an der idealistischen Grundansicht festhielt, wonach die Natur nicht eine Welt der Dinge an sich ist, sondern nur eine durch Formen und Gesetze des erkennenden Bewusstseins durchgängig bedingte Er- scheinungswelt, die mit der Sphäre des an sich Seienden in keinem Zusammenhang steht. Nachdem man aber mit dieser Auffassung, die Kant selbst nicht imstande war konsequent durchzuführen, ge- brochen hatte, sobald man im Geiste der realistischen Erkenntnis-

206 M. Wartenberg, Sigwarts Theorie der Kausalität etc.

theorie das Dasein einer vom Bewusstsein unabhängigen Welt aner- kannte, die nach eigenen Gesetzen geregelt ist, mit dem erkennenden Bewusstsein im kausalen Zusammenhang steht und in den Wabr- nehmungen als Objekt unserer Erkenntnis des Wirklichen sich dar- stellt, konnte natürlich davon nicht mehr die Rede sein, dass unser Denken der Natur die Gesetze ihres Verhaltens a priori bestimme. Dann liess sich aber auch die Kongruenz zwischen Denken und Sein nicht mehr als notwendig demonstrieren. Es blieb nur die Forderung übrig, dass das Seiende so beschaffen sein solle, dass dem Denken, welches das Gegebene als notwendig begreifen will, die Möglichkeit gegeben werde, seinen Zweck zu verwirklichen. Dass aber die Natur dieser Forderung unseres Denkens thatsächlich ent- gegenkommt, dass es uns in der That gelingt, das Gegebene auf gesetzlich wirkende Realgründe zurückzuführen und dadurch als notwendig zu begreifen: dieser Umstand weist auf eine vernünftige Ordnung der Dinge hin, welche die geforderte Kongruenz zwischen Denken und Sein ermöglicht.

Korrekturen und Konjekturen zu Kants ethischen Schriften.»

Von Erich Adickes.

I. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten.

Hb S. 248. Ki S. 18. „Zum Objekte als Wirkung meiner vorhaben- den Handlung kann ich zwar Neigung haben, aber niemals Achtung, eben darum, weil sie bloss eine Wirkung und nicht Thätigkeit eines Willens ist.“ Nach „Achtung“ könnte man versucht sein, der grösseren Deutlich- keit und Sprachrichtigkeit wegen „vor ihm“ resp. „für dasselbe“ (sc. das Objekt) einzuschieben. Doch ist die Auslassung der beiden Worte und die daraus resultierende Ungenauigkeit ganz Kantisch. Statt „weil sie bloss“ muss es aber heissen: „weil es bloss“. Bezieht man das „sie“ auf „Achtung“ oder „Neigung“, so giebt der Satz keinen Sinn. Die Beziehung auf „Wirkung“, welche einen Sinn giebt, ist selbst für Kants Sprachgebrauch zu hart und gezwungen. Ersetzt man ,sie“ durch „es“, so bezieht sich letzteres auf „Objekte“, und der Sinn ist: Vor dem Objekt kann ich niemals Achtung haben, weil es eine blosse Wirkung meines Willens ist, ein Gegen- stand der Achtung aber „niemals als Wirkung mit meinem Willen ver- knüpft“ sein darf; der alleinige Gegenstand der Achtung, das Moralgesetz, ist „bloss als Grund mit meinem Willen verknüpft“ (übernächster Satz), insofern mein Wille unmittelbar durch das Gesetz bestimmt wird; ander- seits darf Kant von der Achtung auch behaupten, dass sie (im Gegensatz zum Objekt) „Thätigkeit eines [besser vielleicht: meines?) Willens“ ist, insofern sie ein „durch einen Vernunftbegriff selbstgewirktes Gefühl“ ist und wir uns das Gesetz (den Gegenstand der Achtung) selbst auferlegen.

Hb S. 248. Ki S. 18/9: „Nur das. . .„ was nicht meiner Neigung dient, sondern sie überwiegt, wenigstens diese von deren Überschlage bei der Wahl ganz ausschliesst, kann ein Gegenstand der Achtung sein.“ Zu bessern dürfte an den gesperrt gedruckten Worten auf jeden Fall sein. Aber wie? „Überschlag“ kann zweierlei bedeuten: 1. Neigung der Zunge einer Wage nach einer Seite hin, 2. vorläufige, ungefähre Berechnung. Der vorangehende Ausdruck „überwiegt“ legt die erstere Bedeutung

1) Zusammengestellt infolge der Aufforderung des Herausgebers der „Kantstudien* am Schluss des Heftes IV, 4 (S. 480: „Druckfehler bei Kant. Eine Aufforderung zur Mitarbeit“). Hb = Hartensteins chronolog. Ausgabe 1867. Bd. IV. V. Kb = Kehrbach. Ki = v. Kirchmann.

208 Erich Adickes,

nahe. Nun kann nicht Etwas die Neigung „von deren Überschlage bei der Wahl ausschliessen,“ wohl aber kann Etwas den Überschlag der Neigung ausschliessen. Ich lese deshalb statt „diese von deren Überschlage“: „dieser ihren Überschlag“. Wollte Jemand an der zweiten Bedeutung festhalten, so könnte er statt „deren“ lesen: „dem“. Doch wäre dann das „wenigstens“ nicht berechtigt, da das „ganz ausschliesst* gegenüber dem „überwiegt“ eine Steigerung, keine Herabminderung enthalten würde. Man müsste dann schon annehmen, dass der Abschreiber oder Setzer eine völlige Verwirrung angerichtet hätte und dass ursprünglich etwa zu lesen gewesen wäre: „sondern diese von der Wahl ganz ausschliesst, wenigstens sie bei deren (sc. dem bei der Wahl stattfindenden] Überschlage überwiegt“.

Hb S. 259. Ki S. 82/8. „Aus dem Angeführten erhellt: ... dass es nicht allein die grösste Notwendigkeit in theoretischer Absicht, wenn es bloss auf Spekulation ankommt, erfordere, sondern auch von der grössten praktischen Wichtigkeit sei, ihre Begriffe und Gesetze aus reiner Vernunft zu schöpfen, ... ja den Umfang dieses ganzen praktischen oder reinen Vernunfterkenntnisses, d. i. das ganze Vermögen der reinen praktischen Vernunft zu bestimmen“. Die Konstruktion der Worte „es nicht allein... erfordere“ ist entschieden falsch. Entweder müsste das „es“ fehlen, was jedoch wegen der Worte „von der grössten... . sei* nicht geht, oder es müsste statt „Notwendigkeit* etwa „Aufmerksamkeit“ stehen, was wiederum dem Sinn nicht genug thut. Es ist möglich, dass Kant die Worte „nicht allein .... sondern auch“ erst später in sein Ms. eingeschoben hat, und dass dabei die Konstruktion Schiffbruch litt. Statt „ihre Begriffe und Gesetze“ muss es heissen: „diese Begriffe und Gesetze“, statt „praktischen oder reinen“: „praktischen aber reinen“. Ähnlich, wenn auch umgekehrt Hb S. 256. Ki S. 29: „aus reiner, aber praktischer Vernunft“, In Kants Manuskripten ähnelt sich das „oder“ und „aber“ oft so sehr, dass man aus dem Zusammenhang erraten muss, welches Wort gemeint ist.

Hb S. 262. Ki S. 86 Wird die Handlung „als an sich gut vorge- stellt, mithin als notwendig in einem an sich der Vernunft gemässen Willen, als Prinzip desselben, so ist er [sc. der Imperativ] kategorisch“. Statt „in einem“ besser: „für einen“. „Als Prinzip desselben“ muss auf „Handlung“ bezogen werden; das giebt aber keinen Sinn, da ja erst durch das Prinzip bestimmt wird, welche Handlung stattfinden soll. Man könnte die drei Worte nach Vernunft einschieben: „ein der Vernunft (als Prinzip desselben) gemässer Wille“; dann müsste „desselben“ sich auf „Wille“ beziehen, was sehr hart wäre; als Prinzip des Willens könnte die Vernunft allenfalls bezeichnet werden, da die „objektiven Prinzipien“ des Willens ihr entspringen. Richtiger ist es, die Worte nach „ist er“ einzuschieben: „so ist er, als Prinzip desselben, kategorisch“. Der kategorische Imperativ wird oft als Prinzip des Wollens (formelles, apodiktisches etc.) bezeichnet.

Hb S. 268. Ki S. 87. Eltern „sorgen für die Geschicklichkeit im Gebrauch der Mittel zu allerlei beliebigen Zwecken, von deren keinem sie bestimmen können, ob er nicht etwa wirklich künftig eine Absicht ihres Zöglings werden könne, wovon es indessen doch möglich ist, dass er sie

Br

Korrekturen und Konjekturen zu Kants ethischen Schriften. 209

einmal haben möchte“: Wegen des Gegensatzes zwischen „möglich“ und „wirklich“ muss das „nicht“ vor „etwa“

Hb S, 268. Ki S. 48 Anm. „mit dem Begriffe des Willens als eines vernünftigen Wesens“. Das „als“ muss wegfallen.

‘Hb S. 269. Ki S, 44. „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“. Statt „durch die“: „von der“. Falls nicht ein blosser Druckfehler vorliegt, wird Kant diejenige Formel des kategorischen Imperativs im Sinn gelegen haben, die im übernächsten Absatz folgt. Da soll die Maxime durch meinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden können. Aber der „Wille“ dieser Formel kommt in der ersten schon als Verbum „wollen* vor. Kant müsste mit einander vermengt haben: 1. die Maxime, welche zum allgemeinen Gesetz werden soll, 2. den Willen oder Willensentschluss (= die principielle Maxime), bei jeder Handlung festzustellen, ob die be- sondere Maxime der betreffenden Handlung auch zum allgemeinen Gesetz werden kann, Ist also das „durch die“ nicht blosser Druck- oder Schreib- fehler, so liegt unklares Denken vor. Was Cohen (Kants Begründung der Ethik S. 198) in die Stelle hineingeheimnisst hat, kann ich mit dem besten Willen nicht in ihr finden.

Hb S, 277. KiS. 658. „....das aus der Vorstellung dessen, was not- wendig für jedermann Zweck ist, ein objektives Prinzip des Willens aus- macht“. Entweder statt „ausmacht“: ,macht*, oder wahrscheinlicher statt „aus der“: „als“ (kaum: „auf Grund der“).

Hb S. 278. Ki S. 54. Er „kann unmöglich in meine Art, gegen ihn zu verfahren, einstimmen und also selbst den Zweck dieser Handlung enthalten“, Wegen des „also“ muss zwischen diesem Wort und „selbst“ ein „nicht“ eingeschoben werden.

Hb S. 279. Ki S. 56/66. „Dieses Prinzip der Menschheit und jeder vernünftigen Natur überhaupt, als Zwecks an sich selbst, ist nicht aus der Erfahrung entlehnt, . .. weil darin die Menschheit nicht als Zweck des Menschen (subjektiv), d. i. als Gegenstand, den man sich von selbst wirklich zum Zwecke macht, sondern als objektiver Zweck, der, wir mögen Zwecke haben, welche wir wollen, als Gesetz die oberste einschränkende Bedingung aller subjektiven Zwecke ausmachen soll, vorgestellt wird, mithin aus reiner Vernunft entspringen muss“ Die von mir ge- sperrten Worte bilden einen, natürlich sinnlosen Satz. Die letzten 6 Worte sind vielleicht erst nachträglich eingeschoben und dann aus Versehn an die jetzige Stelle geraten. Sie müssen zwischen „soll“ und „vorgestellt* stehn. Subjekt zu „entspringen muss“ ist dann der Ausdruck „objektiver Zweck, der“.

Hb $. 288, Ki $. 61. „Diese Handlungen bedürfen keiner Empfehlung von irgend einer subjektiven Disposition . . ., keines unmittelbaren Hanges oder Gefühles für dieselbe; sie stellen den Willen, der sie ausübt, als Gegen- stand einer unmittelbaren Achtung dar, dazu nichts als Vernunft gefordert wird, um sie dem Willen aufzuerlegen, nicht von ihm zu erschmeicheln.“ „Dieselbe“ geht natürlich auf „diese Handlungen“ und müsste also in den Ausgaben, welche im Nom. und Accus, Pluralis von „derselbe“ dieschwachen Formen gebrauchen, in „dieselben“ verwandelt werden. Statt „dazu“; „da.“

Kantstudien V. 14

210 Erich Adiokes,

Hb S. 287. Ki S. 66. ,Moralität ist das Verhältnis der Handlungen zur Autonomie des Willens“. Nach „Verhältnis“ zu ergänzen: „der Über-

Hb S, 295. Ki S. 76. „Es ist nicht genug, sie [die Freiheit] aus gewissen vermeintlichen Erfahrungen von der menschlichen Natur darzuthun (wie- wohl dieses auch schlechterdings unmöglich ist und lediglich a priori dar- gethan werden kann).“ Vor „lediglich“ einzuschieben: „sie“.

Hb 8. 800. Ki 8. 81. ,Dahingegen die Vernunft unter dem Namen der Ideen eine so reine Spontaneität zeigt, dass er dadurch weit über alles, was ihm Sinnlichkeit nur liefern kann, hinausgeht.“ Statt „er“: „sie“; statt ,ihm*: „ihr“.

Hb S. 808/4. Ki S. 85/6, „Daher wird es der subtilsten Philosophie eben so unmöglich, wie der gemeinsten Menschenvernunft, die Freiheit wegzu- vernünfteln. Diese muss also wohl voraussetzen“ etc. „Diese“ bezieht sich auf „subtilste Philosophie.“ Indem Kant das Wort „diese“ gebraucht, sieht er über die Worte „eben so“ „wie der gemeinsten Menschenvernunft* hinweg. Deutlicher wird der Zusammenhang, wenn man für „diese“: „jene“ setzt.

Hb S. 805/6. Ki 8. 88, ,.. . Prinzipien einer intelligiblen Welt, von der er wohl nichts weiter weiss, als dass darin lediglich die Vernunft das Gesetz gebe, imgleichen da er daselbst nur als Intelligenz das eigentliche Selbst ist, jene Gesetze ihn unmittelbar und kategorisch angehen, so dass, wozu Neigungen und Antriebe . . . anreizen, den Gesetzen seines Wollens, als Intelligenz, keinen Abbruch thun können, sogar, dass er die erstere nicht verantwortet und seinem eigentlichen Selbst nicht zuschreibt.“ Zwischen „imgleichen“ und „da“ könnte der Deutlichkeit wegen „dass“ eingeschoben werden. Der Sinn ist natürlich: von der intelligiblen Welt kann der Mensch nur zweierlei wissen, 1. dass reine Vernunft allein dort Gesetze gibt, 2. dass diese Gesetze ihn unmittelbar und kategorisch angehen. Statt „Abbruch thun können“ muss es heissen: „Abbruch thun kann“; (oder „könne“); Subjekt zu „kann“ ist der ganze Satz „wozu Neigungen und An- triebe anreizen“. Statt „sogar“: „so gar“ = so sehr, in dem Maasse. Der Ausdruck „die erstere“ bezieht sich auf „Neigungen und Antriebe“ und müsste also in den Ausgaben, welche beim Adjektiv und Zahlwort mit vorgesetztem Artikel im Nom. und Accus. Plural. die modernen schwachen Formen gebrauchen, in „die ersteren“ verwandelt werden.

Hb S. 806. Ki S. 89. „Dieser Gedanke „. . macht den Begriff einer intelligiblen Welt ... notwendig, aber ohne die mindeste Anmassung, hier weiter, als bloss ihrer formalen Bedingung nach, d. i. der Allgemeinheit der Maxime des Willens, als Gesetze, mithin der Autonomie des letzteren, die allein mit der Freiheit desselben bestehen kann, gemäss zu denken.“ Vor „hier“ ergänze: „sie“ (nämlich die intelligible Welt). Nach „Gesetze“ (Dativ und Apposition zu „Allgemeinheit“) kann man sich „nach“ wieder- holt denken; der Sinn wäre dann: die formale Bedingung der intelligiblen Welt besteht in dem Gesetz, dass bei jeder Handlung die Maxime des Willens muss verallgemeinert werden können. Möglich ist natürlich auch, dass die Dative „Allgemeinheit“ und „Gesetze“ schon unter dem Einfluss der Präposition „gemäss“ stehen, Am wahrscheinlichsten ist mir aber,

Korrekturen und Konjekturen zu Kants ethischen Schriften. 211

dass die Worte „als Gesetze“ von Kant erst nachträglich eingeschoben sind, wobei er auf den Casus nicht genau achtete. „des letzteren“ muss man, wie der Wortlaut jetzt ist, auf „Gesetze“ beziehen. Gemeint ist aber natürlich Autonomie und Freiheit des Willens. Statt „letzteren“ müsste also „ersteren“ gesetzt werden. Der Ausdruck „letzteren“ wird ver- ständlich durch die Annahme, dass die Worte „als Gesetze“ erst später eingeschoben sind. Statt „Gesetze“ hiesse es aber besser „Gesetzes“ (Apposition zu ,Maxime“). Der Sinn wäre dann: die formale Bedingung der intelligiblen Welt besteht darin, dass bei jeder Handlung die Maxime des Willens muss verallgemeinert werden können, so dass diese Maxime eben damit zum objektiven allgemeingültigen Gesetz wird.

IL Kritik der praktischen Vernunft.

Hb 8. 6. Kb S. 4. KiS.4. „Wird man aber jetzt durch eine vollständige Zergliederung der letzteren inne“. Statt „der letzteren“ ist zu lesen: „des letzteren“ (sc. des praktischen Gebrauchs).

Hb S. 16, Kb S. 16/7. Ki S, 16 (Schluss der Einleitung). „...da denn die Grundsätze der empirisch unbedingten Kausalität den Anfang machen müssen, nach welchem der Versuch gemacht werden kann, unsere Begriffe von dem Bestimmungsgrunde eines solchen Willens, ihrer Anwendung auf Gegenstände, zuletzt auf das Subjekt und dessen Sinnlichkeit, allererst fest- zusetzen.“ „Ihre Anwendung“ ist schwer verständlich. Dem Zusammen- hang nach kann „ihrer“ sich allein auf „Grundsätze“ beziehen und muss als abhängig gedacht werden von den Worten „unsere Begriffe von“. Besser ist wohl, statt „ihrer“: „ihre“ zu lesen und „ihre“ auf „Begriffe“ zu be- ziehn („ihre Anwendung“ = Objekt zu „festzusetzen“!). Die Worte „Grund- sätze Willens“ enthalten ja eine kurze Inhaltsangabe des 1. Hauptstücks; „Begriffe von dem Bestimmungsgrunde eines solchen Willens“ geht speziell auf die §§ 5—8. Und es giebt durchaus Sinn, wenn ich Kant durch die Lesart „ihre“ sagen lasse, dass er im 2. Hauptstück die Anwendung seiner näher bezeichneten Begriffe „auf Gegenstände“, im 3. „auf das Subjekt und dessen Sinnlichkeit“ festsetzt.

Hb S. 20. Kb 8. 22. Ki 8. 20 ($ 1 Anm.). Statt „objektive Nötigung der Handlung“ ist zu lesen: „o. N. zur Handlung.“

Hb S. 29. Kb S. 82. Ki S. 31 ($ 4. Anm.). „Es ist daher wunderlich, wie, da die Begierde zur Glückseligkeit, mithin auch die Maxime, dadurch sich jeder diese letztere zum Bestimmungsgrunde seines Willens setzt, all- gemein ist, es verständigen Männern habe in den Sinn kommen können, es darum für ein allgemein praktisches Gesetz auszugeben.“ Das letzte „es“ ist unverständlich; man müsste das Wort schon auf den ganzen Ge- danken beziehn, dass die Begierde zur Glückseligkeit allgemein ist. Besser ist: „sie“ (sc. die Maxime).

Hb S. 80. Hb S. 84. Ki S. 82 ($ 5). „Wenn aber auch kein anderer Bestimmungsgrund des Willens.“ Deutlicher und genauer wäre es, wenn stünde: „Wenn nun ferner kein.“ „... unabhängig von dem Natur- gesetz der Erscheinungen, nämlich dem Gesetze der Kausalität, beziehungs- weise auf einander.“ Die letzten drei Worte stünden besser direkt nach

14*

212 Erich Adickes,

„Erscheinungen“, Vielleicht ist der Ausdruck „nämlich -— Kausalität“ ein nachträglicher Einschub Kants, der aus Versehn an die falsche Stelle ge- raten ist.

Hb S. 81. Kb S. 35. Ki S. 34. „Wir können uns reiner praktischer Gesetze bewusst werden . . ., indem wir auf die Notwendigkeit, womit sie uns die Vernunft vorschreibt, und auf Absonderung aller empirischen Be. dingungen, dazu uns jene hinweist, Acht haben“ Besser: „womit die Vernunft sie (sc. die praktischen Gesetze) uns vorschreibt“. Ferner: „darauf uns jene (sc. die Vernunft, nicht etwa die Notwendigkeit!) hinweist.“

„da aus dem Begriffe der Freiheit in den Erscheinungen nichts erklärt werden kann.“ Statt „kann“ besser: „darf“, weil nicht „ausmacht“ folgt, sondern „ausmachen muss.“

Hb 8. 88. Kb S. 86/7. Ki S, 85 ($ 7). „Reine, an sich praktische Ver- nunft ist hier unmittelbar gesetzgebend. Der Wille wird als unabhängig von empirischen Bedingungen, mithin als reiner Wille, durch die blosse Form des Gesetzes als bestimmt gedacht.“ Statt „reiner Wille* muss es heissen: „freier Wille.“ Der vorhergehende Ausdruck „reine Vernunft* hat vielleicht den Schreib- oder Druckfehler nach sich gezogen.

Hb S. 84. Kb S. 88. Ki S. 87 7. Anm. zur Folgerung). „einen reinen, aber ... keinen heiligen Willen.“ Statt „reinen“ ist auch hier „freien* zu lesen.

Ab S. 42, Kb 8. 47. Ki 8. 46, „sonst müssten wir uns ein Gefühl eines Gesetzes als eines solchen denken, und das zum Gegenstande der Empfindung machen, was nur durch Vernunft gedacht werden kann.“ „als eines solchen“ muss verändert werden in: „statt eines solchen.“

Hb S. 49, Kb S, 55/6. Ki S. 55. „wenn der Wille nur für die reine Vernunft gesetzmässig ist.“ Der heutige Sprachgebrauch würde erfordern: „vor der reinen Vernunft,“ gleichbedeutend mit: wenn er sich nur vor ihrem Forum als gesetzmässig erweist.

Hb 8, 50. Kb S. 57. Ki S. 56. „Also kann die objektive Realität des moralischen Gesetzes durch keine Deduktion, durch alle Anstrengung der theoretischen, spekulativen oder empirisch unterstützten Vernunft, bewiesen, und also, wenn man auch auf die apodiktische Gewissheit Verzicht thun wollte, durch Erfahrung bestätigt und so a posteriori bewiesen werden, und steht dennoch für sich selbst fest.“ Statt „alle Anstrengung“ ist zu lesen; „keine Anstrengung,“ statt „durch Erfahrung“: „auch durch Erfahrung nicht,“

Hb S. 54. Kb S. 61. Ki S. 61. „Wie ist nun hier praktischer Gebrauch der reinen Vernunft mit dem theoretischen ebenderselben in Ansehung der Grenzbestimmung ihres Vermögens zu vereinigen?“ Statt „hier praktischer“ ist zu lesen: „dieser praktische“. Der vorhergehende Satz des Kantischen Textes ist schwer zu konstruieren; sein Gerippe wird durch folgende Worte bezeichnet: „An dem moralischen Prinzip haben wir . . . aufgestellt . . . und den Willen (wie er... sei) [gedacht], mithin das Subjekt dieses Willens nicht bloss . . . gedacht, sondern ihn auch . . . bestimmt, also . . . erweitert,“ Das grammatische Subjekt zu „gedacht, bestimmt, erweitert“ ist also jedesmal „wir“,

Hb S, 60. Kb 8, 69. Ki S, 68 (letzter Satz des 1. Hauptstücks). „wo man tibersinnliche Wesen nach einer Analogie annimmt und so der reinen

Korrekturen und Konjekturen zu Kants ethischen Schriften. 218

theoretischen Vernunft durch die Anwendung aufs Ubersinnliche, aber nur in praktischer Absicht, zum Schwärmen ins Überschwängliche nicht den mindesten Vorschub giebt.“ Deutlicher und logischer wäre: „annimmt, ohne doch der reinen . . . Überschwängliche den mindesten Vorschub zu geben.“

Hb 8. 69. Kb 8. 79. Ki S. 79. „da diese nur Gedankenformen sind . .. diese hingegen.“ Statt „diese“ muss es ,jene“ vor „hingegen“ heissen.

Hb 8. 76. Kb S. 86/7. Ki S. 85/6 (letzter Satz des 2. Hauptstücks). „dahingegen der Empirismus die Sittlichkeit in Gesinnungen (worin doch, und nicht bloss in Handlungen, der hohe Wert besteht, den sich die Mensch- heit durch sie (sc. die Sittlichkeit!] verschaffen kann und soll), mit der Wurzel ausrottet, und ihr ganz etwas Anderes, nämlich ein empirisches Interesse . . . statt der Pflicht unterschiebt, überdem auch, eben darum, mit allen Neigungen, die (sie mögen einen Zuschnitt bekommen, welchen sie wollen), wenn sie zur Würde eines obersten praktischen Prinzips erhoben werden, die Menschheit degradieren, und da sie gleichwohl der Sinnesart aller so günstig sind, aus der Ursache weit gefährlicher ist, als alle Schwärmerei.“ Bei der Konstruktion dieses Satzes hat Kant sich zuletzt ganz verhaspelt. Zwischen „und“ und „gleichwohl“ müssen die Worte „da sie“ wegfallen, so dass der Zwischensatz besagt: „Neigungen, die die Menschheit degradieren und gleichwohl der Sinnesart aller so günstig sind.“ Der Hauptsatz behauptet dann, dass der Empirismus 1. die Sittlich- keit in Gesinnungen ausrottet und ihr etwas ganz Anderes unterschiebt und 2. mitsamt allen Neigungen weit gefährlicher ist, als alle Schwärmerei. Man könnte auch versuchen, die Konstruktion dadurch aufzubessern, dass man nach „mit allen Neigungen“ etwa einschiebt, „gut Freund ist,“ aber die Beziehung der Worte „und, da sie . . . sind, aus der Ursache weit gefährlicher ist“ auf das Vorangehende („dahingegen der Empirismus ... gut Freund ist“) wäre dann sehr hart.

Hb S. 76. Kb S. 87/8. Ki S. 86.... es folgt, „dass die Triebfeder des menschlichen Willens. . . niemals etwas Anderes als das moralische Gesetz sein könne, mithin der objektive Bestimmungsgrund jederzeit und ganz allein zugleich der subjektiv-hinreichende Bestimmungsgrund der Handlung sein müsse, wenn diese nicht bloss den Buchstaben des Gesetzes, ohne den Geist desselben zu enthalten, erfüllen soll.“ Statt „sein könne“ muss es heissen: „sein dürfe.“ Es handelt sich nicht um thatsächliche Verhältnisse, sondern um ein Ideal, nicht um ein Sein, sondern um ein Soll: um die Frage, wann eine Handlung wirklich moralisch ist. Die Frage wird doppelt beantwortet, 1. negativ: die Triebfeder darf nicht kann!] nichts Anderes als das Moralgesetz sein, 2. positiv: der objektive Bestimmungsgrund muss auch der subjektiv-hinreichende sein.

Hb S. 77. Kb S. 88. Ki S 87. „auf welche Art das moralische Gesetz Triebfeder werde, und was, indem sie es ist, mit dem menschlichen Be- gehrungsvermögen . . . vorgehe.* Statt „sie es“ ist zu lesen „es sie“, sc. indem das moralische Gesetz als Triebfeder figuriert. „sie es“ ist sinnlos; „es sie“ ist zwar kein schönes Deutsch, aber man kann sich doch wenigstens etwas dabei denken.

Hb S. 78. Kb S. 89. Ki S. 88. „Nun gehört der Hang zur Selbst-

214 Erich Adiokes, Korrekturen und Konjekturen u. s. w.

schätzung mit zu den Neigungen, denen das moralische Gesetz Abbruch thut, sofern jene [sc. die Selbstschätzung] bloss auf der Sittlichkeit beruht.“ Statt „Sittlichkeit“ ist zu lesen „Sinnlichkeit.“

Hb S. 79. Kb S. 90. Ki S. 89. „Nun schliesst das moralische Gesetz .. . den Einfluss der Selbstliebe auf das oberste praktische Prinzip gänzlich aus, und thut dem Eigendünkel, der die subjektiven Bedingungen des ersteren als Gesetze vorschreibt, unendlichen Abbruch.“ Statt „des ersteren“ ist zu lesen „der ersteren“ sc. der Selbstliébe. Aus letzterer wird Eigen- dünkel (nach dem vorhergehenden Satz des Textes), sobald sie sich gesetz- gebend macht, d. h. eben: sobald sie (oder ihre Steigerungsform: der Eigendünkel) ihre subjektiven Bedingungen als Gesetze vorschreibt.

Hb 8. 97. Kb S. 112. Ki S. 111. Der Philosoph kann „keine An- schauung (reinem Noumen) zum Grunde legen.“ In der Klammer muss es heissen: „von einem Noumenon.* Vielleicht hatte Kant geschrieben: „v. einem,“ woraus dann beim Abschreiber oder Drucker „reinem“ wurde.

Recensionen.

Julius, Professor an der Universität Göttingen. Real- wissenschaftliche Begründung der Moral, des Rechts und der Gotteslehre. Leipzig, Dieterich, 1898. (VII u. 295 8.)

Das Buch handelt „über das Prinzip der Moral“, über „den Begriff von Recht und Staat“ und über „eine Gotteslehre“ durchweg „auf Grund der realen Wissenschaften.“ Schliesslich werden „einzelne Hauptbegriffe aus Moral und Recht“ in bunter Folge erörtert. Zahllose Thatsachen, Behauptungen, Theorien sind ohne genügende Kritik neben einander gestellt. Einen neuen prinzipiell fördernden Gedanken wird man schwerlich finden, Ethisch empfiehlt der Verf. „das Mittelmass als das Beste“, wie es „unter der Leitung der Vernunft“ nach Aristoteles „durch Gewöhnung und Übung fest“ werde. Vernunft ist ihm „das höhere Geistige, durch welches die reale Wissenschaft und die darauf beruhende Naturbeherrschung, die Technik, zustande gebracht worden ist.“ Auf weiten psychophysischen und physio- logischen Um wegen wird der Leser zu Gemeinplätzen geführt, wie der: „Die moralischen Tugenden, d. h. die aus den Trieben entwickelbaren heilsamen Handlungsweisen für sich und für andere bedürfen daher der intellektuellen Tugenden (Aristoteles), heutzutage der wissenschaftlichen Einsicht.* Kant ist einer der wenigen Schriftsteller, an denen der Verf. Kritik abt, Seine Freiheitslehre ist durch die reale Wissenschaft endgültig widerlegt. Sein schlimmster Fehler war seine Voraussetzung der „Unabhängigkeit des Geistigen vom Physiologischen*. Ob Kant durch Versuche über die Wirkungen des Alkohols und dergl. sich hätte genötigt gesehen, in diesem Punkte umzulernen? Baumanns Hinweis auf die durch Gehirn- veränderungen bedingte ,Gedankenflucht* bei dem greisen Kant selbst (8. 192) ist überflüssig und nicht sehr geschmackvoll. Das Kapitel über Staat und Recht führt uns durch die ganze Weltgeschichte, Es wird eingeleitet durch eine wahre Flut von Notizen über das Leben der Naturvölker, „Die Bakairi*, so erfahren wir, „brasilianische Waldindianer, sind völlig nackt, aber sittlich.“ Das Hauptergebnis dieses Abschnitts ist: „Der Mensch lebte mindestens in einer Horde; in dieser kleineren oder grösseren Gemeinschaft herrschte, was wir einen Comment nennen, eine Art und Weise im Zusammenleben sich zu benehmen. Der Inhalt dieses Comments war sehr verschieden und kann sehr verschieden sein, es geht so und so und so.“ Die realwissenschaftliche Gotteslehre bleibt von Kants Erkenntnistheorie durchaus unberührt. Kant hat die Existenz des

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Dinges an sich „nie bezweifelt“. Zwar wissen wir nicht, „wie ein Gedanke ist, wenn ernicht gedacht wird,“ oder ein Gefühl, „wenn es nicht empfunden wird.“ „Aber darum können wir doch in unserem Vorstellen uns allerlei Gedanken darüber machen, mit mehr oder weniger Grund.“ Gott als „schöpferische einheitliche mathematisch-mechanische Intelligenz“ ist für den Verfasser bewiesen durch die Begreiflichkeit der Natur; die anorganische Welt ist für diesen Gottesbeweis viel besser geeignet, als die organische mit ihren vielen Unzweckmässigkeiten und Unbegreiflichkeiten, als da sind Bakterien, Krankheiten, Mücken, Wanzen und ähnliches. Die Un- sterblichkeitshoffnung braucht auch der nicht aufzugeben, der mit der realen Wissenschaft den Charakter als eine „Resultierende des Gesamt- körpers“ ansieht. Die „realwissenschaftliche Unsterblichkeit“ besteht darin, dass das „formale Ich, das formale Geistige“ in „neue Verleiblichungen eingehen“ kann. „Religion im eigentlichen Sinne“ ist „Vorstellung eines Gegenstandes, an welchen Gefühl der Zuversicht und des Vertrauens sich anschliesst, entweder dauernd (Indianer) oder vorübergehend (Neger), sei dieser Gegenstand, was er sonst wolle.“ Die Kunst hat, realwissenschaft- lich betrachtet, eine recht bescheidene Daseinsberechtigung: als „erholendes und ausruhendes Spiel des Geistes von der stets etwas austtengenden Wirklichkeitsauffassung.* Das letzte Kapitel giebt kurze Antworten auf eine grosse Anzahl wichtiger Lebensfragen, zuletzt in der Form kategorischer Imperative. Der erste dieser Imperativelautet: „Freue dich des realwissen- schaftlichen Verfahrens.“ Kiel. Felix Krueger.

Eltzbacher, Paul, Dr., Privatdozent in Halle a. S. Über Rechts- begriffe, Berlin, J, Guttentag, 1900. (84 S.)

Jeder, der einmal in der Wildnis rechtsphilosophischer Erörterungen oder der Definitionen des allgemeinen Teils der juristischen Systeme sich umgeschaut hat, wird dankbar die vorliegende Schrift begrüssen, welche sich die Aufgabe gestellt hat, die grundlegende Frage nach dem Wesen des Rechtsbegriffs zu beantworten. Die sichere Methode Kantischer Er- kenntniskritik hat auch hier zur Klärung der wissenschaftlichen Thätigkeit verholfen, zur Feststellung dessen, was Gegenstand und Mittel der Rechts- wissenschaft seien. Eltzbacher erörtert zwei Dinge: Das Wesen der Rechtsbegriffe und die Klassifikation der Rechtsbegriffe. Da der Verfasser sich an Philosoph und Jurist wenden muss, so wird sich der Philosoph nicht ärgern dürfen über die Breite des zweiten Teils, der Jurist nicht über die des ersten. Der Philosoph vermisst vielleicht auch eine genauere kritische Berücksichtigung der rechtsphilosophischen Teile derphilosophischen Systeme, doch wird er sich über dieses Bedenken hinwegsetzen mit dem Bemerken, dass ein sachlicher Gewinn aus jener Berücksichtigung nicht entstanden sein würde, da die erkenntniskritische (Kantische) Philosophie Grundlage der Untersuchung ist.

Jede Wissenschaft ist ein System von Begriffen. Die Definition des Begriffs eines Gegenstandes macht denselben zum Spezialeigentum einer bestimmten Wissenschaft. Der methodische Gesichtspunkt einer sicheren Definition ihrer Begriffe muss der Rechtswissenschaft noch gezeigt werden:

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Dies ist die Aufgabe Eltzbachers. Bei Lösung dieser Aufgabe ist zunächst die auch bei Kant herrschende Unklarheit über das Wesen des Be- griffs überhaupt zu beseitigen. Die Form, in welcher wir die Wahrnehm- ungen erfassen, ist die Vorstellung. Die letzte Form, in welcher wir die Gesamtheit aller Wahrnehmungen erfassen, ist die Idee der Wahrnehmungs- einheit. Diese ermöglicht die Erkenntnis der Wahrnehmungen, indem sie dieselben durch die Einordnung in den einheitlichen Zusammenhang zu notwendigen Wahrnehmungen macht. Die Idee aber dieser notwendigen Erfassung von Wahrnehmungen gemäss der Idee der Wahrnehmungseinheit ist der „Gegenstand“, und die Vorstellungen von demselben sind die Ver- suche, die bezügl. Wahrnehmungen als notwendige zu erfassen. Diejenige Vorstellung nun von einem Gegenstande, welche sich nach dem jeweiligen Stande unserer Erkenntnis am meisten der Idee nähert, welche der Gegen- stand bedeutet, ist der Begriff des Gegenstandes. (Hierin ist der Fortschritt der Wissenschaft begründet.) Wenn nun die Rechtsbegriffe von andern Begriffen unterschieden werden sollen, so ist zu beachten: Sie sind die Begriffe der Rechtswissenschaft, letztere aber die Wissenschaft von den Rechtsnormen; folglich sind die Rechtsbegriffe Begriffe von Rechtsnormen, und das unterscheidet sie von andern Begriffen, so von dem des sozialen Phänomens, welches doch ohne das Dasein der Rechtsnormen nicht denk- bar ist. Die Unklarheiten der Definitionen von Rechtsbegriffen beruhen jedoch hauptsächlich auf der mangelnden Scheidung der drei Teile der Rechtswissenschaft, nämlich: 1. der Wissenschaften von einer speziellen Rechtsordnung (etwa derjenigen Preussens), 2. der Wissenschaft von einem Rechtskreise (etwa der Gesamtheit europäischer Rechtsordnungen) und 8. der allgemeinen Rechtswissenschaft, welche prinzipiell (wenn auch that- sächlich meist nicht) die Gesamtheit aller Rechte betrachtet (in welchem Sinne die sog. „vergleichende Rechtswissenschaft“ thätig ist). Diesen drei Teilen der Rechtswissenschaft entsprechen die drei Arten der Rechtsbegriffe. Die scharfe Trennung der drei Begriffsarten ist von der grössten Bedeutung für die Rechtswissenschaft; denn unter dieser Bedingung kann der häufige Fall nicht mehr vorkommen, dass Rechtsinstitute übereinstimmend be- schrieben aber ganz verschieden definiert werden. Die Wichtigkeit ins- besondere der Begriffe der Wissenschaften von einem Rechtskreise leuchtet ein, wenn man bedenkt, dass das Verständnis neu geschaffener Rechts- normen einer einzelnen Rechtsordnung (etwa solcher des B.G.B.) in zahl- losen Fällen sich darauf gründet, dass ihre Definition mit Rücksicht auf die entsprechenden Begriffe der Wissenschaft von einem umschliessenden grösseren Rechtskreise vorgenommen wird (etwa im Hinblick auf das deutsche Recht). „Auf den Begriffen der Wissenschaft von einem Rechtskreis be- ruht die Einheit und der Zusammenhang zwischen den Wissenschaften der verschiedenen einen Rechtskreis bildenden Rechtsordnungen.* Ebendasselbe trifft mutatis mutandis auf die Begriffe der allgemeinen (oder „vergleichen- den“) Rechtswissenschaft zu. Die Notwendigkeit der Dreiteilung der Rechts- begriffe wird am deutlichsten bewiesen durch die Folgen, welche der Mangel dieser Teilung für die Rechtswissenschaft gehabt hat, Ihnen ist ein besonderer Abschnitt (S. 62 ff.) gewidmet. Mit Hilfe des so ge- wonnenen einheitlichen Gesichtspunktes für die juristische Begriffsdefinition

218 Recensionen Selbstanzeigen.

stellt Eltzbacher die Begriffe des (sog. ,subjektiven“) Rechts und der Rechtsgattung fest. Das ,Recht“ ist die begünstigende Seite eines Rechts- verhaltnisses, welch letzteres seinerseits der nach Abscheidung der rechts- begründenden, -ändernden und -vernichtenden Thatsachen verbleibende, aus den begünstigenden und den belastenden Elementen bestehende Rest einer Rechtsnorm ist. Mehrere nach gemeinsamen Eigenschaften zusammen- gefasste Rechte bilden eine „Rechtsgattung“. Eltzbacher schliesst seine Erörterungen mit dem Hinweis darauf, „dass man die Rechtsbegriffe in den Wissenschaften von einer Rechtsordnung nicht so gut wie möglich, in den Wissenschaften von einem Rechtskreise nur mangelhaft und in der allgemeinen Rechtswissenschaft beinahe gar nicht geordnet hat.“

Die Eltzbachersche Schrift bildet nach zwei Richtungen hin eine Er- gänzung der Stammlerschen Rechtsphilosophie, soweit diese in desselben kritischer Sozialphilosophie („Wirtschaft und Recht“) enthalten ist. Für die Rechtsphilosophie wird die einheitliche Ordnung der Rechtsbegriffe auf Grund des Stammlerschen Begriffs der Rechtsnorm näher präzisiert: Be- griffe der allgemeinen Rechtswissenschaft, innerhalb dieser dann die Be- griffe der Wissenschaften von einem Rechtskreise und ebenso weiterhin der Wissenschaften von einer einzelnen Rechtsordnung. Für die juristische Dogmatik wird zu der Stammlerschen Definition des „objektiven“ Rechts diejenige des ,subjektiven® Rechts hinzugebracht. Hervorgehoben zu werden verdient der Umstand, dass Eltzbacher die bei Stammler gegebenen Elemente zur Definition der Rechtsnorm für seine (Es) Aufgabe scharf zusammenfasst. Mit der (S. 82) vorgenommenen negativen Definition der Konventionalnorm bin ich nicht einverstanden, jedoch ist dieselbe ohne Bedeutung für die Erörterung.

Halle a8. Dr. Fritz Schneider.

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Gohweitser, Albert, Dr. Die Religionsphilosophie Kants von der Kritik dor reinen Vernunft bis zur Religion innerhalb der (irensen der blossen Vernunft. Freiburg i. B., J. C. B. Mohr (Paul Mistnuk) 1899. (826 S.) (Die Citate beziehen sich auf die Ausgabe von Eh, Houlum),

Dur Vorfnuer hatte ursprünglich die Absicht, die Entwicklung des Kreilieltmbeggriffon in dem Verlauf der Kantischen Philosophie von der Kritik der ıminen Vernunft bis zur Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft: au untersuchen. Schon während der Vorarbeiten zu dieser Unter-

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suchung drängte sich ihm jedoch die Erkenntnis auf, dass zwischen der Entwicklung des Kantischen Freiheitsbegriffes und der Entwicklung seiner Religionsphilosophie ein so enger und notwendiger Zusammenhang besteht, dass die Untersuchung über die erstere notwendig zu einer Darstellung der letzteren führen muss. So erklärt es sich, dass in der Darstellung der Kantischen Religionsphilosophie der Verfasser überall vom Freiheitsbegriff ausgeht und nachzuweisen sucht, wie jede Verschiebung im Kantischen Freiheitsbegriff eine andere Form der Religionsphilosophie zur Folge hat.

Aus der Untersuchung des religionsphilosophischen Planes der trans- scendentalen Dialektik ergiebt sich, dass hier die Grundlagen einer Religions- Philosophie gelegt werden, die auf drei „Ideen“ beruht. Der Kanon der reinen Vernunft (Kr. d. r. V. S. 605—628), welcher gleichsam die praktisch- religiöse Ausleitung der Kritik der reinen Vernunft bildet, nimmt auf diesen religionsphilosophischen Plan gar keine Rücksicht. Er bietet auf S, 608 und 609 (Kr. d. r. V.) eine Lösung des Freiheitsproblems, welche die Frage nach der transscendentalen Freiheit noch gar nicht als bekannt voraussetzt, sondern sich in vorkritischen Gedankenkreisen bewegt. Der Kanon der reinen Vernunft ist eine vorkritische „religionsphilosophische Skizze“, welche in der Zusammenstellung der Kritik der reinen Vernunft Aufnahme ge- funden hat, ohne dass für diese Thatsache eine ausreichende Erklärung gefunden werden kann.

Die Religionsphilosophie des kritischen Idealismus beruht, nach dem Plane der transscendentalen Dialektik, auf drei „Ideen“, welche durch das praktische Interesse realisiert werden. Dieser Plan ist nicht zur Ausführung gekommen, denn die Kritik der praktischen Vernunft bietet nur scheinbar eine Religionsphilosophie, welche auf drei Ideen oder auf drei Postulaten beruht. In Wirklichkeit bietet die Kritik der praktischen Vernunft nur eine Idee (die Idee der Freiheit), auf welcher sich zwei Postulate aufbauen (Un- sterblichkeit und Dasein Gottes). Eine Gleichsetzung von Idee und Postulat ist unmöglich. Der ethische Gehalt der Postulate ist viel bedeutender als der der Ideen; die Postulate sind aus dem praktisch-moralischen Bedürfnis entsprungen, während die Ideen Grössen des theoretischen Vernunftgebrauchs sind, welche der praktische Vernunftgebrauch dann übernimmt, um ihnen Realität zu verschaffen. In der Idee halten sich das theoretische und das ethische Element das Gleichgewicht; im Postulat hat das ethische Element die Idee schon über die Grenzen des kritischen Idealismus hinausgezogen.

Der Fortschritt in der Kantischen Religionsphilosophie ist also bedingt durch die sittliche Vertiefung, welche sie erlebt; so kommt es, dass die Kritik der praktischen Vernunft nicht mehr die Religionsphilosophie des kritischen Idealismus darstellt, sondern schon in der Hinbewegung über ihn hinaus begriffen ist. Sofern sie sich aber noch in dem Gegensatz der intelligiblen Welt und der Erscheinungswelt bewegt, zeigt die Kritik der praktischen Vernunft eine gewisse Gedankenarmut. Sie vermag den teleo- logischen Gedanken keine Stelle anzuweisen; zugleich ist es ihr unmög- lich, die Bedeutung der sittlichen Gemeinschaft in der Religionsphilosophie zur Geltung kommen zu lassen. Die Kritik der praktischen Vernunft stellt in der Entwicklung der Kantischen Religionsphilosophie den Engpass dar, durch welchen sich das Gedankenheer Kants aus dem Lande der vor-

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kritischen Unentwickeltheit zur nachkritischen Vollendung hindurchbewegen muss.

Die religionsphilosophische Bedeutung der Kritik der Urteilskraft wird

unterschätzt. Sie bildet aber das notwendige ! zwischen der Kritik der praktischen Vernunft und der Religion innerhalb | der Grenzen der blossen Vernunft. Ohne die Bedeutung der Kritik der Urteilskraft nach dieser Seite hin zu würdigen, kann man die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft nach der Kritik der praktischen Vernunft überhaupt nicht verstehen.

Die Schwierigkeit, die sich der religionsphilosophischen Würdigung der Kritik der Urteilskraft entgegenstellt, ist zunächst eine litterarische. Die Kritik der ästhetischen Urteilskraft soll das ästhetische Element in der Kantischen Religionsphilosophie wieder zur Geltung bringen. Sie leistet dies aber nur in ganz unvollkommenem Masse. Es liegt ihr nämlich eine frühere ästhetische Kantische Schrift zu Grunde, welche als „Kritik des Geschmacks“ angelegt war; sie bietet keine allgemein ästhetische Unter- suchung, sondern beschränkt sich auf das Schöne und das Erhabene. So ist die Kritik der ästhetischen Urteilskraft, trotz einzelner wertvoller An- sätze, nicht imstande, dem ästhetischen Elemente in der Kantischen Reli- gionsphilosophie diejenige Stellung zu sichern, welche ihm in dem religiösen Denken Kants zukommt.

In der Kritik der teleologischen Urteilskraft verschiebt sich der Mittel- punkt der bisherigen Kantischen Religionsphilosophie. Bisher war das moralische Vernunftwesen in seiner Isoliertheit Subjekt der religionsphilo- sophischen Aussagen. Von jetzt an wird in steigendem Masse die Be- deutung der moralischen Gemeinschaft betont. Subjekt der welche die Teleologie vollendet, ist die moralische Menschheit als solche. Das einzelne moralische Subjekt kommt nur in Betracht, sofern esmit der moralischen Menschheit in Gemeinschaft steht. Dadurch verliert das moralische Interesse an der Unvergiinglichkeit der Einzelexistenz an Be- deutung. Die Idee der Unsterblichkeit vermag nicht mehr sich dem Zu- sammenhang organisch einzugliedern. In der Ethikotheologie steckt jedoch noch ein Element, das sie unaufhérlich wieder in den alten Gedankengang zurückzwängt: es ist der Glückseligkeitsbegriff, welcher aus der Kritik der praktischen Vernunft herübergenommen ist, wo die religionsphilosophische Gedankenreihe nach dem isolierten Subjekt orientiert ist. So bleiben die religionsphilosophischen Gedanken der Ethikotheologie unvollendet; sie bewegen sich in einer gewissen Spannung, indem die Aussagen sich bald auf die moralische Menschheit, bald auf das isolierte moralische Subjekt beziehen.

Diese Spannung ist in der Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft überwunden. Durch die sittliche Vertiefung und Vollendung der Freiheitsfrage (von dem Radikal-Bösen in der menschlichen Natur) verliert die Frage nach der Fortdauer des Einzelwesens, was sie noch an ethischem Interesse besass. In dem Verlauf der Kantischen Religionsphilosophie stehen die sittliche Freiheitsfrage und die ethische Unsterblichkeitsfrage in einem solchen Verhältnis, dass die vollendete ethische Vertiefung der ersteren das ethische Interesse der letzteren vollständig absorbiert. Das

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moralisch-religiöse Subjekt existiert nur in Hinsicht auf die moralische Ge- meinschaft, und alle Grössen, welche sich nicht nach dieser Beziehung ‚orientieren können, werden wertlos; dies ist der Fall mit dem Glückselig- keitsbegriff und der damit verbundenen Auffassung vom höchsten Gut als der synthetischen Einheit von Tugend und Glückseligkeit. Der Gottes- begriff wird neu orientiert: er steht im Zusammenhang mit dem „ethischen gemeinen Wesen“, indem der Begriff des ethischen Gesetzgebers die Vor- aussetzung der ethischen Gemeinschaft und der Möglichkeit ihrer Vollendung bildet. In diesem Zusammenhang ist Gott moralischer Weltherrscher nur, insofern er als moralischer Gesetzgeber mit der moralischen Menschheit, dem einzig denkbaren Endzweck der Welt, in Verbindung steht.

Dies sind die tiefen Gedanken der Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft, wenn man von der dogmatischen Sprechweise dieser Schrift absieht. Sie ist modern; die Kritik der praktischen Vernunft gehört einer vergangenen Zeit an. Letztere richtet unsern Blick starr auf das Jenseits; die religiös-moralische Entwicklung auf Erden ist ein Vorüber- gehendes; eine moralisch-religiöse Wertung irdischer Zustände und Ent- wicklungen ist der Kritik der praktischen Vernunft unmöglich. Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft hingegen wird durch ihre Gedanken gezwungen, bürgerliche, politische und soziale Zustände und Entwicklungen als Güter zu werten. Darin besteht ihre sittliche Tiefe, ihr Fortschritt und ihr moderner Charakter.

Hält man nun die „Religionsphilosophische Skizze“ der Kritik der reinen Vernunft und die in ihren ethischen Grundgedanken begriffene Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft nebeneinander und betrachtet ‚die Entwicklung, die zwischen diese beiden Punkte füllt, ist es da nicht gerechtfertigt, in der Entwicklung der Kantischen Religionsphilosophie eine Priformation der Entwicklung der Religionsphilosophie im neunzehnten Jahrhundert zu erblicken?

Strassburg i. E. (Thomasstift). Albert Schweitzer.

Mengel, Wilhelm, Dr. phil. Kants Begründung der Religion. Ein kritischer Versuch. Mit einem Vorwort über die Beziehungen der neueren Dogmatik zu Kant, Leipzig, Engelmann, 1900. (X u. 82 8.)

Im Centrum der Fragen, die eine Kritik der Kantischen Religions- philosophie beschäftigen können, steht das Problem der Begründung der Religion, in dessen Behandlung Kant Wegweiser geworden ist für jede wissenschaftliche Selbstbesinnung über Grund und Grenzen der religiösen Gewissheit. Nahezu alles andere an Kants religionsphilosophischen Ge- danken ist zufolge der Bedingtheit durch die geistige Atmosphäre seines Zeitalters von lediglich historischem Interesse gegenüber der Art, wie Kant den allgemeinsten Ideengehalt des religiösen Bewusstseins auf die unveränderlichen Bedingungen der Vernunfterkenntnis und die allgemeinsten Postulate des menschlichen Gemüts zurückführt. Für die Kritik dieses Kantischen Unternehmens, welches man kurz als seine religionsphilosophische Methode bezeichnen könnte, scheidet eine Seite der Sache völlig aus, nämlich die Stellung des Problems: Kant ist es gewesen, der zuerst die heute allgemein anerkannte Wahrheit zu wissenschaftlicher Klarheit er-

hoben hat, dass die Wahrheiten der Religion nicht in das Bereich einer theoretischen Metaphysik fallen, sondern sich nur vor einem praktisch be- dingten Nachdenken rechtfertigen lassen. Die andere Seite dagegen, die Lösung des Problems, bedarf u. E. einer kritischen Untersuchung. Für mich handelt es sich dabei nicht darum, den Nachweis zu erbringen, dass sich die kritische Philosophie als solche unfähig erweise, die Grundfrage jeder religiösen Weltanschauung in einer das religiöse Bedürfnis befriedigen- den Weise zu lösen, sondern zu prüfen, ob die von Kant gegebene Lösung mit Kants Voraussetzungen selbst zusammenstimme, die ihrerseits wieder zu diesem Behufe erst bis in ihre Konsequenzen zu entwickeln sind. Er- kenntnistheoretisch ergiebt sich für eine solche Kritik der Widerspruch einer absoluten Setzung des ,Dinges-an-sich*. jenes letzten Restes „trans- scendenter Metaphysik“, mit der immanenten Methode und damit der Zu- sammenbruch des Unterbaues der religiösen Ideen, sofern die absolute Realität des ,Dinges-an-sich* auch für Kant die unerlässliche theoretische Basis bildet für die praktische Realisierung der sittlichen und religiösen Ideen. In dieser apriorischen Überzeugung, welche den solidarischen Zu- sammenhang des theoretischen und sittlich-religissen Bewusstseins zum Ausdruck bringt, zeigt sich Kant tiefer als seine modernen Nachfolger auf religionsphilosophischem Gebiet, auch Kant würde der Vorwurf ihres ge- nialen Führers treffen: „Es muss für manche Menschen ein eigentümlicher Reiz darin liegen, von Gott etwas apriori zu wissen.“ Gegen den Begriff des höchsten Gutes, das Hauptinstrument der Kantischen Religionsphilo- sophie, führe ich nicht nur die üblichen ethischen, sondern auch er- kenntnistheoretische Instanzen an und versuche die Motive aufzufinden, denen dieser Fundamentalbegriff seine Einführung in die kritische Philo- sophie verdankt.

Dass die Kantische Religionsphilosophie die moralische Welt erkenntnis- theoretisch bestimmen müsse, dass m. a. W. eine Auflösung der religions- philosophischen Gedanken Kants in eine kritisch-idealistisch und in eine rein ethisch orientierte Reihe zum mindesten sich nicht auf Kants Inten- tionen selbst berufen kann, ist mir zweifellos trotz der umfassenden Arbeit von Dr, Albert Schweitzer („Die Religionsphilosophie Kants von der Kr. d. r. V. bis zur Rel, i. d. Gr. d. bl. V.*, Freiburg i. B., 1899); das Durchschnitts- bild der Kantischen Religionsphilosophie wird sich m. E. nicht verschieben zu Gunsten der „Rel. innerh. d. Gr. d. bl. V.*

Gera. Wilhelm Mengel.

Weerts, H. Vergleichende Untersuchung der Religionsphilo- sophie Kants und Fichtes. Erlanger Diss. (In Kommission bei G. Fock in Leipzig) 1898. (82 S.)

Eine vergleichende Untersuchung der religionsphilosophischen Ansichten beider Denker beansprucht zunächst ein historisches Interesse. Sind bei der Denkarbeit Kants nach seinen eigenen Aussagen religiöse Motive mit im Spiel gewesen, so haben sie in noch höherem Grade das Denken Fichtes regiert. Da nun letzterer sich die genuine Fortbildung der Kantischen Philosophie zur Aufgabe gemacht hat, so fragt es sich nicht bloss, wie sich die religionsphilosophischen Endergebnisse unserer Denker zu einander

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Selbstanzeigen. 223

verhalten, sondern es wird auch die Eigentümlichkeit ihrer Resultate durch ‚eine geschichtlich-demonstrative Darlegung des religionsphilosophischen Entwicklungsganges unter Berücksichtigung der allgemeinen Prinzipien ihrer Systeme verständlich zu machen gesucht. Es wird nachgewiesen, dass, während Fichte sich ursprünglich in Kantischen Bahnen bewegte, die Um- und Fortbildung seines Systems auch das religionsphilosophische Lehrgebäude wesentlich verändert hat. Kants Religionsphilosophie ist in ihrer Endgestalt rationalistisch und moralistisch, während Fichte bei der Mystik anlangt. Fichtes Weltanschauung ist durch und durch eine reli- giöse; auch die Kantische gewinnt erst durch die religiöse Betrachtungs- weise einen befriedigenden Abschluss.

Es ist lehrreich, zu sehen, wie K. und F. versucht haben, die Religion mit allgemeinen Denkgründen in Verbindung zu bringen. Bei Fichte kommt schliesslich das eigenttmliche Wesen der Religion als des unmittelbaren Verhältnisses des Endlichen zum Absoluten mehr zu seinem Recht, als in der rationalistischen Religionslehre Kants, die die Gottheit gleichsam nur im Hintergrund erscheinen lässt. Ansätze zu einer tieferen Erfassung jenes Verhältnisses sind allerdings auch bei Kant sporadisch vorhanden.

Arle (Kreis Norden). H. Weerts.

Schmidt, K. Beiträge zur Entwicklung der Kantschen Ethik. Marburg i. H. Elwert. 1900. (105 8.)

Die Kantsche Ethik kreist um zwei Centren; die auf Freiheit ge- gründeten Begriffe der Persönlichkeit und der Gemeinschaft. Aller Betrachtung der Entwicklung seiner Ethik, die nicht bloss Kuriositäten- sammlung sein will, sondern in sich und durch sich beitragen zur Auf- hellung der Sache, ist dadurch der Gesichtspunkt bestimmt,

Wird die Frage nach der Entwicklung seiner Ethik so gefasst, so scheint die Ausbeute, die wir aus der vorkritischen Zeit erwarten dürfen, gering. Denn erst in der Kritik der reinen Vernunft treten diese beiden Fundamentalbegriffe schüchtern auf.

Indessen muss hervorgehoben werden, dass sie einen dritten Begriff voraussetzen, in dem sie zusammenhängen und durch den sie bestimmt werden: das ist der Begriff der Gesetzlichkeit. Die Ethik, die um die Begriffe der Persönlichkeit und der Gemeinschaft kreist, muss also die Frage nach der Gesetzlichkeit der Handlung aufwerfen; nicht nur welches sie sei, sondern wie sie überhaupt möglich sei; wie sie sich verhalte zu der Naturgesetzlichkeit; und wie vor allem die Freiheit, die alle Fesseln sprengt, diesem herben Begriff des Gesetzes sich füge, ohne dabei sich selbst zu verlieren und aufzugeben.

Hier sehen wir nun schon breiteres Feld: der Begriff der Gesetzlich- keit ist für Kants Entwicklung überhaupt der entscheidende; wir dürfen erwarten, dass er auch für die seiner Ethik nicht ohne Wirkung geblieben sein möchte.

Von hier ergiebt sich die Stellung zu einer anderen Richtung, die nicht die Gesetzlichkeit des Handelns zum Problem der Ethik macht, sondern das Aufsuchen von Motiven für ein sogenanntes gutes Handeln und alle Moral aufbaut auf dem „moralischen Gefühl“; d. h. seine Stellung

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zu der Schule der englischen Moralphilosophen, Shaftesbury, Hutcheson, Hume. Es ist die verbreitete Ansicht aller, die einen Versuch der Ent- wicklungsgeschichte seiner Ethik gegeben haben, dass er dieser damals neuen Richtung sich angeschlossen, das moralische Gefühl als das Prinzip seiner Ethik angenommen habe.

Der erste Teil dieser Arbeit soll demgegenüber nachweisen: dass der Begriff der Gesetzlichkeit für die Entwicklung seiner Ethik der be- stimmende ist. Der zweite Teil soll den Ausbau des Begriffs der Gesetz- lichkeit zu den Begriffen der Persönlichkeit und der Gemeinschaft in der Kritik der reinen Vernunft geben, wodurch die Ausführungen der vor- kritischen Schriften erst ihre Beleuchtung erhalten. Auf Grund der in der Krit. d. r. Vern. gegebenen Unterscheidung der „Prinzipien der Sittlichkeit“ von der „Befolgung“ derselben wird eine neue Interpretation des Fragments 6 gegeben, woraus sich, mit Vaihinger, die Datierung desselben in die Zeit um 81 ergiebt.

Marburg. K. Schmidt,

Boette, Werner. Immanuel Kants Erziehungslehre, darge- stellt auf Grund von Kants authentischen Schriften. Langen- salza, H. Beyer & Söhne, 1900. (99 S.)

Wer nach dem Studium von Kants Hauptwerken zu den kleineren Schriften des Philosophen übergeht, der kann sich bei der von Rink her- ausgegebenen Schrift „Immanuel Kant über Pädagogik“ gleich dem Ver- fasser nicht dem Eindruck verschliessen, dass diese Schrift nicht direkt von Kant herrühren könne, Es fehlt in der von Rink herausgegebenen Abhandlung. überall die sichere, konsequente Gedankenentwicklung, die sonst sämtliche Schriften des Philosophen so unvergleichlich auszeichnet und dem Leser im Studium selbst das wohlthuende Gefühl erweckt, dass alle Gedanken aus einem Prinzip mathematisch genau entwickelt werden, Die Kontrole des Rink an den sicheren Schriften Kants ergab nun das überraschende Resultat, dass Rink Kants Gedanken unkritisch oder nur halb wiedergiebt, und dass er sogar in den Fehler verfällt, den Philosophen das Gegenteil von dem sagen zu lassen, was sich sonst in den sicheren Schriften Kants findet. Dies wird in der Einleitung der Abhandlung nach- gewiesen, und es sei hierzu bemerkt, dass nicht alles Material, was gegen Rink zu Gebote stand, verwendet worden ist.

Es entstand darnach die Frage, welche Gedanken und Wünsche der echte Kant über Erziehungslehre gehabt habe. Dass er ein so wichtiges Fach gar nicht bedacht haben sollte, war nicht gut anzunehmen, und es war ebenso unwahrscheinlich, dass die Gedanken eines so grossen Syste matikers, wie es Kant war, in diesem Fach kein einheitliches Gepräge tragen sollten. Indem nun daraufhin die sicheren Schriften Kants unter- sucht, und die Stellen, die sich über Erziehung ausliessen, verglichen wurden, so ergab sich wiederum das erfreuliche Resultat, dass sich Kant drei Stufen des Unterrichts für die moralische Bildung vorgestellt hat. Auf der ersten Stufe soll im Kinde das Wohlgefallen am Guten durch Beispiele erweckt werden, auf der zweiten Stufe wird die Urteilskraft des Schülers durch die Vergleichung von Beispielen herausgefordert, auf der dritten Stufe

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vollendet sich die Erziehung, indem der Lehrling auf die Grösse der in ihn gelegten moralischen Anlage hingewiesen wird und hierdurch zu einer Persönlichkeit reift. Den so in drei Stufen aufsteigenden Bau einer prak- tischen Erziehungslehre weist der erste Teil der Abhandlung nach.

Weil ferner von den Darstellern der Kantischen Pädagogik dem Philo- sophen bisher immer der Vorwurf gemacht worden war, er hätte weder ein System der Erziehung auf Grund seiner Philosophie gekannt, noch auch nur die hingeworfenen Gedanken an sein System der praktischen Philo- sophie anzuschliessen gewusst, so ergab sich die weitere Aufgabe, den Zusammenhang von Kants Erziehungslehre mit dem gesamten kritischen System Kants nachzuweisen. Der zweite Teil der Abhandlung unternimmt den Beweis, wie konsequent Kants Gedanken über Erziehung aus dem gewaltigen System hervorwachsen. Hierbei ist das Hauptgewicht auf die Entwicklung des Begriffs der transscendentalen Freiheit gelegt. Die trans- scendentale Freiheit ist nicht, wie Herbart meint, nur Wind, sondern sie gehört zur Persönlichkeit des Menschen. Wie wichtig derselbe Begriff sogar für die Erziehung sei, wird in einer späteren Abhandlung nachge- wiesen werden.

Es blieb endlich noch übrig, die Stellung Kants zu dem Erziehungs- wesen seiner Zeit zu bestimmen. Nach seinem System musste der Philosoph den Grundfehler seiner Zeit, alles auf die Bewirkung der eigenen Glück- seligkeit anzulegen, auf das schärfste tadeln und im Gegensatz dazu den kategorischen Imperativ als die allein giltige Norm aller Erziehung auf- stellen. Dass Kant wirklich so geurteilt und gefordert habe, führt der dritte Teil der Abhandlung durch. Zugleich wird nachgewiesen, dass Kant sehr wohl die Schwierigkeiten erkannt hat, die durch den natürlichen Hang und die Neigungen des Menschen einer Erziehung in Kants Sinne ent- gegenstehen.

Friedewald i. H. Dr. Werner Boette.

von Hartmann, Eduard. Geschichte der Metaphysik. Leipzig, H. Haacke, 1899/1900. Teil I: „Bis Kant“ (XIV u. 588 S.); Teil II: „Seit Kant“ (XIII u. 600 S.).

In diesem Buche habe ich versucht, eine vergleichende Darstellung des theoretischen Grundgerüstes der philosophischen Systeme von Thales bis zur Gegenwart zu geben. Eine solche in zwei Bände zusammenzudrängen, konnte nur bei Beschränkung auf den eigentlichen Gegenstand und unter Ausscheidung aller biographischen und bibliographischen Mitteilungen so- wie aller litterarhistorischen und kulturgeschichtlichen Beziehungen gelingen, wenn das Eindringen in die Tiefe der Probleme gewahrt bleiben sollte. Auf die Klarstellung der Zusammenhänge zwischen Vorgängern und Nach- folgern und auf die Kontinuität der Entwicklung habe ich besonderes Gewicht gelegt. Der Kantischen Philosophie ist selbstverständlich ihre geschichtliche Stellung als Schlussstein im Gewölbe der philosophischen Richtungen des 18. und als Eckstein für den Weiterbau des 19. Jahr-

Kantstudien V. 15

296 Selbstanzeigen.

hunderts angewiesen. Den zweiten Teil bildet eine Zusammenfassung der philosophischen Ergebnisse des letzten Jahrhunderts, der Kant als Ausgangs- punkt vorausgeschickt ist. Die Darstellung der Kantischen Philosophie ist wesentlich ein Auszug aus meiner Schrift „Kants Erkenntnistheorie und Meta- physik in den vier Perioden ihrer Entwicklung“ v. J. 1894. Der dort auf 266 Seiten behandelte Stoff ist jetzt nach den hauptsächlichen Ergeb- nissen der früheren Untersuchung auf 48 Seiten zusammengedrängt und 18 Seiten über die unmittelbare Schule Kants, hauptsächlich bezugnehmend auf die Entwicklung der Kategorienlehre, hinzugefügt. Die vorkritischen Perioden des Kantischen Entwicklungsganges sind in dieser verkürzten Bearbeitung nur flüchtig angedeutet (S. 1—5), um den Raum für die ge- schichtlich wichtigere kritische Periode nicht zu beengen, und zugleich dienen noch diese ersten fünf Seiten dazu, die Beziehungen Kants zu seinen Vorgängern auseinanderzusetzen.

Da der Herausgeber dieser Studien meine angeführte frühere Schrift im „Archiv für Geschichte der Philosophie“ Bd. VIII, Heft 8, S. 484—488 mit einigen Einschränkungen zustimmend beurteilt hat, soweit es die Dar- stellung der kritischen Periode und den Übergang von der vorkritischen zu ihr betrifft, so könnte ich seine Ausstellungen an meiner Behandlung der vorkritischen Perioden, welche in dem neuen Buch ganz zurücktritt, auf sich beruhen lassen. Doch möchte ich die Gelegenheit zu einigen Be- merkungen im Interesse der Sache nicht unbenützt lassen.

Vaihinger wirft mir vor, dass ich die Periode bis 1769 gar nicht ge- gliedert habe. Auf S. 2 meiner Kantschrift habe ich die von anderen versuchte Gliederung dieser Vorstufe angeführt, aber die Rekonstruktion verschiedener Phasen meinerseits abgelehnt wegen Unzulänglichkeit des verfügbaren Materials und wegen geringeren Interesses dieser Periode, die der massgebenden kritischen doch am fernsten steht. Vaihinger tadelt mich ferner, dass ich für die Darstellung der Periode von 1769—1776 haupt- sächlich die Pölitzschen Vorlesungen zu Grunde gelegt habe, während doch deren Ontologie auf die Jahre 1788—1791 zu datieren sei, und dass infolgedessen meine Ausführungen von S. 15--75 jeglichen Halt und Wert verlören. Zunächst reicht die Darstellung der Ontologie bei mir nur von S. 15—45, während auf S. 46—75 die Kosmologie, Psychologie und Theo- logie nach Pölitz behandelt ist, deren Quelle sicherlich in die Mitte der 70er Jahre zu datieren ist. Gerade für die Ontologie stützt sich aber meine Darstellung nicht bloss auf Pölitz, sondern auch auf die Kantische Dissertation, die ich wegen ihreı Kürze und Bekanntheit nur nicht überall nach Stellen zu citieren nöthig fand. Dass die spätere Herkunft der Pölitzschen Quelle für die Ontologie mir nicht durch ein Versehen entgangen ist, geht doch wohl daraus hervor, dass ich nur für die ältere der beiden Handschriften die Erdmannsche Datierung auf 1774 anführe (S. 16). Die i, J. 1894 erschienenen Veröffentlichungen von Heinze und Arnoldt über Kants Vorlesungsmanuskripte konnte ich bei meiner Arbeit noch nicht benutzen, finde aber auch jetzt nicht, dass meine Ergebnisse durch sie berührt werden.

Ich bin von der Annahme ausgegangen, die wohl von den meisten Kantforschern geteilt wird, dass Kant die persönlichen Glaubensmeinungen

Selbstanzeigen. 227

seiner vorkritischen Periode mündlich immer noch vorgetragen hat, trotz- dem er sie in seinen kritischen Werken als problematisch aus der Philo- sophie ausgeschaltet hatte, und dass unter der oberflächlichen kritischen Retouche, die die Vorlesungen in späteren Jahren erfahren haben, der dogmatische Kerngehalt seiner Herzenstiberzeugung als Untergrund durch- schimmert. Daraus scheint mir aber zu folgen, dass man auch die aus späterer Zeit. stammenden Vorlesungen in allen den Punkten, wo sie von seinem kritischen Lehrstandpunkt abweichen, unbedenklich als Quelle für den Zusammenhang der Ansichten seiner 70er‘ Jahre verwerten darf. Eine aktenmässige Sicherheit ist für dieses Verfahren freilich nicht vorhanden, wohl aber eine Wahrscheinlichkeit, die in allen den Punkten ausreicht, wo nicht ein aktenmässiger Gegenbeweis aus richtig datierten Schriftstücken zu führen ist. Vaihinger hat in seiner Besprechung keinen Punkt angeführt, in welchem die von mir befolgte Richtschnur mich irre- geleitet hätte. Solche Berichtigungen würde ich mit Dank annehmen, ihnen aber auch keine grössere Tragweite beimessen als für die Punkte, für welche ihr Nachweis geführt ist, und im Uebrigen an meinem Grund- satz festzuhalten mich berechtigt glauben. Gross-Lichterfelde. E. von Hartmann,

Petronievics, Branislav, Dr. Prinzipien der Erkenntnislehre. Prolegomena zur absoluten Metaphysik. Berlin, Ernst Hofmann & Co. 1900. (VI u. 184 8.)

Meine Erkenntnistheorie stimmt ihrem Zielpunkte nach mit der Kanti- schen überein, unterscheidet sich aber ihrem Ausgangspunkte nach voll- ständig von derselben. Kant will den Empirismus mit dem Rationalismus versöhnen und glaubt dies auf die Weise zustande zu bringen, dass er unsere unmittelbare Erfahrung in zwei wesentlich verschiedene Bestand- teile, den aposteriorischen Erfahrungsstoff und die apriorische Auffassungs- form teilt. Dies thut er auf Grund seines Begriffs der intellektuellen An- schauung, welcher Begriff in Wahrheit den letzten Quellpunkt der Kantischen Erkenntnistheorie darstellt, indem er die intellektuelle Anschauung nur dem Urwesen zuschreibt. Für den anschauenden Verstand sind Kategorien gar nicht nötig, da fällt Form und Inhalt des Denkens zusammen, der sensuale Verstand aber, der nicht wie der intellektuale absolut selbst- thätig ist, weil er durch äussere Gegenstände affiziert wird, muss sub- jektive Auffassungsformen besitzen, in die er den von aussen gegebenen Inhalt aufnimmt. Eben deshalb kann aber auch der Erfahrungsinhalt des sensualen Verstandes nicht Ding an sich, sondern blosse Erscheinung sein (d. h, Schein, der sich auf Sein bezieht). Für Kant scheint es ein Axiom zu sein, dass der intellektuelle Verstand nur dem einen Urwesen angehören kann, er hat sich gar nicht die Frage vorgelegt, ob überhaupt ein solches einziges Urwesen denkmöglich seit Er wäre sonst nicht zu jener wunderlichen Annahme der Erscheinungsnatur unserer unmittelbaren Erfahrung gelangt, sondern er hätte eingesehen, dass ein einziges Wesen als denkendes Wesen gar nicht existieren kann, dass denkende Wesen nur in einer Vielheit existieren können, und dass sie nichtsdestoweniger ihrem Erfahrungsinhalte nach jenem Typus der intellek-

15*

228 Selbstanzeigen.

tuellen Anschauung entsprechen können. Dies ist der Ausgangspunkt meiner Erkenntnislehre. Ich zeige, dass unsere Erfahrung absolute Realität die unumgängliche Voraussetzung der absoluten Erkenntnis bildet. Der Begriff der Erscheinung, des Scheins, der Vorstellung ist ein widersprechen- der Begriff, weil er das Zusammenfallen von Sein und Nichtsein bedeutet. Nur wenn dieser Begriff vollkommen vernichtet wird, ist eine

des Skepticismus möglich. Hier liegt der Punkt der Versöhnung zwischen Empirismus und Rationalismus. Wenn die absolute Realität der unmittelbaren Erfahrung anerkannt ist, dann ist damit eo ipso die Immanenz der logischen Grundformen in der Erfahrung anerkannt. Ich zeige, dass es in der Er- fahrung Thatsachen giebt, die der bisherige Empirismus in seinem blinden Hass gegen den Rationalismus übersehen hat, und in denen der Ursprung der transscendenten Erkenntnis liegt. Als grundlegende Thatsache dieser Art betrachte ich das Zerfallen aller Erfahrungsthatsachen in einfache und zusammengesetzte: die einfachen Erfahrungsthatsachen sind mit Kategorien identisch, und da haben auch die Denkgesetze ihre Grund- lage. Ich zeige weiter, den neuesten ,reflexionslosen“

gegenüber, dass unter Erfahrung nur die unmittelbare Erfahrung des indi- viduellen Bewusstseins verstanden werden kann, und bestimme zum ersten- male, meiner Ansicht nach, genau den Umfang dieser Erfahrung, indem ich dieselbe auf den jeweiligen Gegenwartsaugenblick des bewussten Indi- viduums beschränke. Dadurch ist die zeitliche Transscendenz unseres Ich ebenso ein Problem geworden, wie dies für die räumliche Transscendenz der Aussenwelt in Bezug auf das Ich schon längst anerkannt ist. Die zeitliche Transscendenz lässt sich aber nur unter der Voraussetzung der Erfahrbarkeit unseres Ich, als der einheitlichen Bewusstseinsform der Bewusstseins- inhalte, statuieren. Ich behaupte also, Kant gegenüber, dass die Einheit unseres Bewusstseins nicht bloss formale, durch die Vorstellung „Ich denke* ausgedrückte Einheit (Kants transscendentale Einheit der Apperception) sei, sondern dass dieselbe eine reale und als solche erfahrbare Wesenheit ist. Ich bestimme aber zugleich die Art und Weise dieser Erfahrbarkeit: die Bewusstseinsform wird nicht auf dieselbe Art und Weise wie der Bewusst- seinsinhalt erfahren, sie ist nicht vollkommen immanent wie der letztere, sondern halb immanent, halb transscendent. Ich zeige, dass es noch solche halb immanente, halb transscendente Erfahrungsthatsachen giebt, und glaube, durch den Begriff derselben etwas Fruchtbares in die Erkenntnislehre ein- geführt zu haben. Weiter löse ich das Problem der Aussenwelt, diesen gordischen Knoten der Erkenntnistheorie, auf die einfachste Art und Weise durch die Voraussetzung der allgemeinen Natur des Willens, der nicht zu den Bewusstseinsinhalten sondern zu der Bewusstseinsform gehört, Ich führe zugleich das Kausalprinzip auf die Willensthitigkeit zurück, Dann betrachte ich die Natur des Denkens als psychischer Funktion; in dieser Untersuchung lege ich besonderen Wert auf meine Widerlegung des ab- strakten Vernunftvermügens (wodurch zugleich das Kantische konkrete Vernunftvermögen widerlegt ist) aus meinem Grundprinzip, welche Wider- legung ich als stringenten Beweis desjenigen betrachte, was Berkeley bloss behauptet hat. Am Ende ist das Problem des Verhältnisses zwischen

Selbstanzeigen. 229

Denken und Sein behandelt, und dieses Problem auf Grund meines Haupt- prinzips formuliert, wodurch eine ganze Schar von metaphysischen Systemen widerlegt ist. Der Hauptzweck meiner Arbeit ist die Wiederherstellung der absoluten Metaphysik; nur die Basis meiner Erkenntnistheorie ist empi- ristisch, ihre Spitze aber durchaus rationalistisch. Ich glaube, ebenso wie Kant, den Empirismus mit dem Rationalismus versöhnt zu haben: während aber bei Kant das Resultat dieser Versöhnung die Verurteilung der ab- soluten Metaphysik war, ist dus Resultat meiner Versöhnung die Aufrich- tung derselben, Belgrad. Dr. Branislav Petronievies,

Kinkel, Walter, Beiträge zur Erkenntniskritik. Giessen 1900. (94 8.)

Die Schrift erörtert in vier Aufsätzen einige wichtige Punkte der Er- kenntniskritik, In der ersten Abhandlung sucht der Verfasser (im Anschluss an Cohen) die Methode der theoretischen Philosophie festzustellen, um so- dann in einer zweiten Abhandlung die Lehre Kants vom Raume, der Zeit, und den Kategorien von neuem zu prüfen. Hier kommt der Verfasser zu dem Resultat, dass man die Zeit nicht in demselben Sinne eine Form der Sinnlichkeit nennen darf, wie den Raum, sondern dass vielmehr die Zeit, als die allgemeinste Form der Erfahrung, in engem Zusammenhange mit der transscendentalen Apperception steht, so dass sie als die gemeinsame, übergreifende Form für Sinnlichkeit und Verstand angesehen werden muss. Dabei zeigt sich, dass auch nur unter dieser Bedingung Kants Lehre vom transscendentalen Schematismus der reinen Verstandesbegriffe von Wider- sprüchen frei ist. Was nun die Kategorientafel angeht, so glaubte der Verfasser, eine Kritik derselben (im Einverständnis mit Cohen und Stadler) nur von den „Grundsätzen“ ausgehend geben zu dürfen, wobei sich dann aber auch einige der Kategorien Kants als entbehrlich erwiesen. Die letzten beiden Aufsätze behandeln die vielumstrittenen Probleme des „Dinges an sich“, der Anwendbarkeit der Kategorien und des empirischen und trans- scendentalen Ichs, wobei der Verfasser im wesentlichen den Standpunkt Kants einnimmt.

Giessen. Walter Kinkel.

Hônigswald, Richard. Zum Begriff der „exakten Naturwissen- schaft“. Eine kritische Studie. Zweite revidierte Ausgabe. Leipzig, Eduard Avenarius, 1900. (60 S.)

Wissenschaftlicher Terminus und Schlagwort beide wurzeln in dem dem menschlichen Geiste eigenen Prinzipe der Ökonomie. Diese ist ver- nünftig und erspriesslich, so lange das unvermeidliche Opfer an Genauig- keit zum nächsten Zweck jeder Ökonomie, zur Ersparnis von Arbeit, im Verhältnis steht; und sie schlägt um in sinnlose Verschwendung, wenn dieser zweite ökonomische Faktor den ersten überwuchert,

Ein Produkt solcher Ökonomie ist nın das Schlagwort, in der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Fälle ein ohne jegliche Berücksich- tigung der Opfer an Genauigkeit ökonomisch weiter reduzierter technischer Terminus, das beliebte Ausdrucksmittel der lediglich auf eine Herabsetzung

230 Selbstanzeigen. der Arbeit gerichteten Denkökonomie des bequemen, aber von der „popu- larisierten* Wissenschaft dennoch belehrten, d. h. mit den Lautzeichen der Technicismen bekannt gemachten Durchschnittsmenschen. ee eines solchen Schlagwortes, dessen Grenzen Gründen immer unbestimmter werden, wächst ins Mass- er sein Begriffsinhalt wird immer dürftiger.

Allein, auch im Bereiche der Terminologie einer Wissenschaft wird sich der gleiche Prozess abspielen müssen, dann, wenn ibre Termini nicht dem wohlbekannten Begriffsmateriale des eigenen Forschungsgebietes ent- lehnt sind, ein Fall, der bei der immer zunehmenden Arbeitsteilung und der damit einhergehenden allmählichen Entfremdung oft selbst auf einander angewiesener Forschungsgebiete immer häufiger wird.

So wird auch der Begriff der „exakten Naturwissenschaft* in der Naturwissenschaft selbst zum Fremdling, um besonders in den mathematischen Erwägungen von Haus aus weniger zugänglichen biologischen Wissenschaften endlich zur Bedeutungslosigkeit des Schlagwortes herabzusinken.

Nur durch eine scharfe Analyse dieses für die naturwissenschaftliche Methodologie so überaus bedeutungsvollen Begriffes kann dem gesteuert werden. Eine solche in der, hier in zweiter, revidierter Ausgabe vorliegen- den kritischen Studie zu versuchen, schien dem Verfasser derselben eine nieht wertlose Aufgabe. Er glaubte damit einen doppelten Zweck verfolgen zu können: den mehr speziellen, zur Theorie der naturwissenschaftlichen Methodik durch Aufsuchung der Grenzen der Anwendbarkeit der Mathe- matik auf die das Objekt der Naturwissenschaft bildenden sinnlich-räum- lichen Phänomene einen bescheidenen Beitrag zu liefern; und den allgemeineren, im Grunde genommen doch jeder methodologischen Be- trachtung mehr oder weniger eigenen, den vom synthetischen Grundzug unserer Zeit mehr als je geforderten Zusammenschluss der zum guten Teil aus bloss heuristischen Rücksichten getrennten Wissensgebiete zu fördern, Die erstere Aufgabe führte ihn zu einer Eliminierung der für die moderne experimentelle Psychologie so äusserst wichtigen , Empfindungs- intensität“, welcher er als einem bloss begrifflich-sprachlichen Bestim- mungselement keinerlei psychische Selbständigkeit zuzuerkennen vermochte, und zu einer von diesem Gesichtspunkte aus unternommenen Würdigung der Bedeutung angewandter Mathematik überhaupt, insbesondere aber ihrer Beziehungen zur Biologie. Und eine konsequente Verfolgung des Ergebnisses dieser Untersuchung leitete, ganz in Übereinstimmung mit der zweiten oben erwähnten allgemeinen Aufgabe dieser Studie, zu weit über das Gebiet methodologischer Betrachtungen hinausreichenden Erwägungen erkenntniskritischen Charakters hinüber, deren Spitze sich, ganz im Geiste der Vernunftkritik, hauptsächlich gegen den um die (mathematische) Mechanisierung der Erscheinungswelt vorzüglich inter- essierten dogmatischen Materialismus richtet,

Wien. R. Hönigswald.

Hônigswald, Richard. Ernst Haeckel, der monistische Philo-

soph. Eine kritische Antwort auf seine ,Weltritsel*, Leipzig, Eduard Avenarius, 1900. (161 S.)

Selbstanzeigen. 231

Die vorliegende Arbeit hat sich eine kritische Untersuchung der philo- sophischen Grundlagen zur Aufgabe gemacht, auf welchen Ernst Haeckels letztes grösseres Werk „die Welträtsel“ ruht.

Von dem erkenntniskritischen Standpunkte aus, zu welchem sich der Verf. nach einem kurzen historischen Rückblick mit Entschiedenheit bekennt, musste in erster Linie der Centralbegriff der Haeckelschen Naturphilo- sophie, seine „Universal-Substanz®, deren Identität mit Spinozas „Sub- ‘stantia“ er mit dem allergrössten Nachdrucke betont, als eine dogmatische Konstruktion aufgezeigt werden. Die zahlreichen geringschiitzenden Äusse- rungen Haeckels über jedweden Dogmatismus vermögen an diesem Sach- verhalte nichts zu ändern und deuten nebst vielen anderen Symptomen auf den bemerkenswerten Umstand hin, dass sich auch Haeckel dem er- kenntniskritischen Einschlage unserer Zeit nicht in dem Masse zu ent- ziehen imstande war, als es seine begeisterte Hingabe an den dogmatischen Monismus Spinozas erfordert hätte. In dieser schwankenden Auffassung von dem gegenseitigen Verhältnis von „Physik“ und „Metaphysik“, wie sie aus dem geschilderten Sachverhalte notwendig resultieren musste, spiegelt sich Haeckels unklares Verhältnis zu Kant, dessen falsch inter- pretierte Lehre ihn zu einer erkenntnistheoretisch, wie methodologisch völlig haltlosen Anschauung über Wert und Wesen der Hypothese ver- leitet. Aber auch sein Spinozistischer Monismus zeigt die verhängnis- vollsten Tücken, ja seine heftigen Ausfälle gegen das demselben entlehnte Forschungsprinzip des psychophysischen Parallelismus schaffen zwischen ihm und Spinoza einen geradezu unüberbrückbaren Gegensatz; denn seine ‚eigentliche Metaphysik, der Materialismus macht ihn wohl ganz und gar gegen seine Neigung für jeden wahren Monismus unempfind- lich, wie ihm sein Dogmatismus das klare Erfassen der Bedeutung eines „heuristischen Prinzips“ unmöglich macht. Er ist Dogmatiker, Materialist und Dualist. Unter konsequenter Weiterverfolgung des Kantischen Gedankens, sucht Verf. den dogmatischen Begriff eines „Dings an sich“ völlig zu eliminieren, um dann von diesem kritisch geläuterten Standpunkte aus Haeckel gegenüber zu einem vertieften Begriff der Natur- wissenschaft zu gelangen.

Wien. R. Hônigswald.

Schwarz, Hermann, Psychologie des Willens (zurGrundlegung der Ethik). Leipzig, Engelmann. 1900. (VIII u. 891 8.)

Die heutige Willenspsychologie gleicht der vorkantischen Erkenntnis- theorie. Damals die falsche Lehre von den angeborenen Ideen gegenüber der ebenso falschen Leugnung eigener Verstandesthätigkeit. Heute die falsche Lehre von angeborenen Trieben (Wille zum Leben, zur Macht u. dgl.) gegenüber der ebenso falschen Auflösung alles Wollens in Fühlen und Vorstellen. Damals begründete Kants rationalistischer Aprioris- mus einen neuen Standpunkt in der Erkenntnispsychologie. Der Versuch desselben Philosophen, mit seinem rationalistischen Apriorismus auch das Gebiet des Willens, insbesondere des sittlichen, zu umspannen, musste missglücken. Nicht die apriorischen Gesetze der Vernunft, sondern eigene apriorische Gesetze herrschen im Willensleben. Den letzteren Gedanken,

232 Selbstanzeigen. Litteraturbericht.

den eines voluntaristischen Apriorismus, sucht der Verfasser durch- zuführen und sich damit sowohl über den oben angedeuteten willens- psychologischen ,Nativismus* wie „Empirismus“ zu erheben.

Halle a. S. Hermann Schwarz.

Litteraturbericht.

Von Fritz Medicus.

Henry, F. A. The Futility of the Kantian Doctrine of Ethics. „International Journal of Ethics“ (Burns Weston), Philadelphia, X, 1, Oktober 1899. (S. 78—89.)

Der Verf. des vorliegenden Aufsatzes versucht, zunächst Kants Ethik in ihrer theoretischen Begründung anzugreifen und zu entkräften und sodann die moralisch bedenklichen Konsequenzen aufzudecken, die sich überdies aus dieser gefährlichen Lehre ergeben. Er macht den bekannten Einwand geltend, Kants Forderung der Tauglichkeit zu einer allgemeinen Gesetzgebung setze bereits das allgemeine Wohlergehen der Menschheit („the general welfare“, „the well-being of society“) als Ziel voraus (75), womit er bloss beweist, das ihm der durchaus überanthropologische, in der objektiven Vernunft begründete Charakter der Kantischen Moral- philosophie nicht zum Bewusstsein gekommen ist, obgleich Kant oft genug hierauf hinweist. Übrigens zieht sich dieses anthropologisch-psychologische Missverständnis durch die ganze Abhandlung hindurch, So macht es sich sofort wieder bemerklich, wenn uns (76) versichert wird, in seiner dritten Formulierung werde der kategorische Imperativ aus der „Konstitution der menschlichen Natur“ abgeleitet. Davon ist aber gar keine Rede: völlig apriori wird abgeleitet, dass ein Vernunftwesen niemals bloss als Mittel ‚gebraucht werden dürfe, und hieraus ergiebt sich die Kantische Formulierung durch unmittelbare Folgerung. Es bleibt also dabei: „The nature of man can throw no light upon the ground of moral obligation“ (76); denn der Grund der moralischen Verpflichtung liegt in der überindividuellen, der objektiven Vernunft, nicht aber in der menschlichen Organisation. Des Weiteren wird dann ausgeführt, in der Kantischen Autonomie erhielten wir zwar einen bedeutungsvollen Terminus, aber unter Verlust seiner wahren Bedeutung; Autonomie des Willens und moralisches Gesetz seien unvereinbare Widersprüche in der Kantischen Lehre; und dergleichen Flachheiten mehr. „And, now, if theoretically the Kantian doctrine of Ethics turns out incomplete, inconsistent, and unsatisfactory, practically it encounters these two objections, that it aims only at a spurious righteous- ness, and it fails even in that aim“ (88). Jetzt erfahren wir, dass Kants

Litteraturbericht. 233

Moralphilosophie auf blosse Legalität abziele. Denn das moralische Gesetz soll ja nach Kant der einzige Bestimmungsgrund der moralischen Handlungen sein; ein Gesetz kann aber nur befehlen, dass die Menschen recht handeln, nicht aber dass sie gut sind (88), und „by the works of the law shall no flesh be justified“ (84). Es lohnt sich nicht, hier zu wider. legen; es genügt, das Kuriosum anzuführen, dass Kant, der scharfe Kritiker des bloss legalen Handelns, mit hohlem Pathos hier zum Vertreter der Moral der „Scribes and Pharisees“ (86) gestempelt wird. „And if Kant's law-worship recalls that of the Pharisees, it is because he, like them, has lost sight of the giver of the law“ (86). So endigt denn Henry damit, der in ihrer „futility* aufgezeigten Kantischen Ethik die theonome Moral und eine ansehnliche Reihe schlecht gedeuteter Bibelsprüche gegenüberzustellen.

Lefkovits, Moritz, Dr. Die Staatslehre auf Kantischer Grundlage. (Berner Studien z. Philos. u. ihr. Gesch, Bd. XIV.) Bern, Steiger & Co., 1899. (75 S.)

Die Schrift ist eine mit eigenen Gedanken des Verfassers durchsetzte Darstellung der Kantischen Lehre vom Staat. Die einleitenden Ausführ- ungen in Kants „Rechtslehre* und der Abschnitt vom Staatsrecht, aus dem jedoch mehrere nicht im engeren Sinne hierher gehörige Erörterungen (&. B. „Vom Straf- und Begnadigungsrecht“) ausgeschieden sind, bilden die Grundlage der Arbeit. Dass mit ihr eine fühlbare Lücke in der Kant- litteratur ausgefüllt sei, wird man nicht behaupten können. Denn wer Kants Staatslehre noch nicht kennt, kann auch nach Lektüre der Abhand- lung nicht wissen, wie viel von dem, was er gelesen hat, eigentlich Kantische Anschauung ist. Und wer Kants Staatslehre schon vor der Lektüre der Schrift kennt, lernt durch die Lektüre wenig Neues. Einiges findet er eingehender ausgeführt, wohl auch einige bei Kant nicht erörterte minder wichtige Fragen eingefügt, und namentlich den Zusammenhang mit der Freiheitslehre in allen Teilen deutlich aufgezeigt. Allein wenn Kant auch diesen Zusammenhang nicht in dieser eingehenden Weise dar- legt, so hat doch wohl noch nie ein Leser der Rechtslehre an dessen Vorhandensein gezweifelt, um so weniger, als Kant selbst seine Rechts- lehre mit einer „Einleitung in die Metaphysik der Sitten“ beginnt, in der gerade diese ethische Grundlage prinzipiell entwickelt wird. Der Haupt- fehler der L.'schen Arbeit ist der, dass der Leser über die Art des Zu- sammenhanges mit der Kantischen Staatslehre aus dem Buche selbst nicht das Mindeste erfährt. Um festzustellen, wo der Verf. bloss das von Kant schon Gesagte darstellt, und wo er den Faden selbst weiter spinnt, giebt es kein anderes Mittel als die Vergleichung mit Kant selbst, Zum aller- mindesten wäre ein orientierendes Vorwort am Platze gewesen. Doch sollen die Vorzüge der Schrift, klare und eindringende Behandlung des Stoffes, nicht verkannt bleiben. Im Unterschiede von Kant ist die Ver- teidigung der Republik die Hauptabsicht der Schrift. Die hierher zielenden Ausserungen Kants (Rechtslehre § 52) haben infolgedessen eine viel ein- gehendere Begründung erfahren; vgl. den Schluss der L’schen Schrift. Infolge dieser speziellen Tendenz sind konsequenter Weise auch die

234 Litteraturberieht.

übrigen Staatsformen eingehender besprochen als bei Kant. Besonderen Wert legt der Verf. auf die Klarlegung des Unterschiedes zwischen Republik und Demokratie 20). Ausserdem ist zu bemerken, dass der von Kant ja auch schon ausgesprochene Staatsabsolutismus (A. a. O. § 49, Allgemeine Anmerkung, A) von Lefkovits ungleich stärker hervorgehoben wird: es ist der Gedanke, der sich durch das ganze Buch hindurchzieht.

Weerts, Johann Heinrich Theodor. Vergleichende Unter- suchung der Religionsphilosophie Kants und Fichtes. Erlanger Diss. Norden, 1898. (82 S.)

„Der Umstand, dass in der Gegenwart eine Rückkehr zu idealistischen Überzeugungen stattfindet, legt es nahe, eine vergleichende Untersuchung der Religionsphilosophie Kants und Fichtes vorzunehmen. Religiös-ethische Fragen sind das treibende Interesse der Denkarbeit Kants gewesen, wie er es denn als einen unschätzbaren Vorteil seiner Untersuchungen be- zeichnet, allen Einwürfen wider Sittlichkeit und Religion auf alle künftige Zeit ein Ende gemacht zu haben. Und Fichte, der sich die genuine Fort- bildung der Kantischen Philosophie zur Aufgabe machte, hat bereits in seiner Erstlingsschrift das religionsphilosophische Gebiet bearbeitet. Auch weiterhin haben religiöse Motive seinem Denken die entscheidende Richtung gegeben“ (1/2). Nachdem der Verf. in der angegebenen Weise seine Arbeit gerechtfertigt hat, tritt er ein in die Vergleichung der Religions- lehren der beiden Philosophen. Im Anschluss speziell an Falekenberg (28) konstatiert er „in der Entwicklung des Fichteschen Denkens einen stetigen Fortschritt“: in der „Anweisung zum seligen Leben“ sieht er „in religions- philosophischer Hinsicht die reife Frucht seiner Denkarbeit“ (a, a. O). Die genannte Abhandlung Fichtes und Kants „Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft“ sind die Schriften, an die sich Weerts vor- zugsweise hält, ohne indessen die übrigen Arbeiten der beiden Denker auszuschliessen. Von der „Religion innerh. , .“ nimmt er an, dass sie durch Fichtes „Versuch einer Kritik aller Offenbarung“ beeinflusst sei (20). Die bedeutungsvolle religionsphilosophische That Kants erkennt der Verf. in der Ablösung der rationalen Gotteslehre durch die Moral- theologie (17; vgl. 28f). „Kant hat den wichtigen Gedanken, dass die Moral der Realgrund, das Fundament der Religion ist, prinzipiell begründet. Wo die sittliche Gesinnung fehlt, stellt sich statt der Religion Furcht vor einem höchsten Wesen und vor der Zukunft ein, weil die Vernunft wenigstens ihre Möglichkeit einräumen muss“ (28). Fichte ist hierin Kant gefolgt. Während aber Kant zu keiner inhaltlichen Scheidung zwischen Religion und Sittlichkeit gelangt, indem ihm Religion nichts anderes ist als die Erkenntnis aller Pflichten als göttlicher Gebote, überwindet Fichte diesen anfangs auch von ihm festgehaltenen Standpunkt und kommt damit zu einer Religionsmetaphysik, die ihm eine innigere Auffassung des Ver- hältnisses zwischen Mensch und Gott ermöglicht. Damit hängt es zu- sammen, dass bei Kant die Moral, bei Fichte das Metaphysische zum Prinzip der Auslegung der Bibel wird. Auf der anderen Seite verschwindet infolge der Fichteschen Religionsmetaphysik der qualitative Unterschied zwischen gut und böse: „Für Fichte ist die Sünde, deren Wesen Kant in

Litteraturbericht.

235 seiner tiefsinnigen Abhandlung über das radikale Böse gewürdigt hat, das Nichtsein, ein leerer Wahn“ (31). „Religiöse Motive haben, wie bei keinem anderen Philosophen der Neuzeit, das Denken Fichtes regiert. ‘Wer wollte daran Anstoss nehmen? Ist es doch immer der ganze Mensch. nicht bloss sein Verstand, der auf Welt- und Menschenleben sein absicht- liches Nachdenken richtet. Fichtes Weltanschauung ist durch und durch eine religiöse. Auch die Kantische Weltanschauung gewinnt erst durch die religiöse Betrachtungsweise ihre Vollendung“ (81). Die mit vieler Wärme geschriebene Abhandlung schliesst mit den Worten: „Kant und Fichte, diese Sterne erster Grösse am Himmel der Philosophiegeschichte, sind leuchtende Beispiele dafür, dass Religion und Wissenschaft keines- wegs unversöhnliche Gegensätze sind.“

Deussen, Paul. Allgemeine Geschichte der Philosophie mit besonderer Berücksichtigung der Religionen. I. Band, 2. Abteilung: Die Philosophie der Upanishad's Leipzig, Brockhaus. 1899, (XII und 868 S.)

Der 1894 erschienenen 1. Abteilung des breit angelegten Deussenschen Werkes folgt nun als Fortsetzung die Philosophie der Upanishad's, des Vedänta. Sie setzt ein mit einem schroffen Idealismus, erstarrt aber dann durch Accommodation an überkommene Traditionen und an die empirische Anschauungsweise zu einem Realismus, „der dem semitischen nichts nach- giebt“ (157); gleichwohl besteht als unaufgehobenes Moment der ursprüngliche Idealismus fort (der erst vom atheistischen Saükhyasysteme fallen gelassen wird). In dieser eigentümlichen Erscheinung der Verquickung heterogener Bestandteile, in dieser unabsichtlichen Accommodation an die empirische Weltansicht, sieht D. einen „Schlüssel, welcher geeignet ist, nicht nur die Entwicklung der Upanishadlehre, sondern auch viele analoge Erscheinungen der abendländischen Philosophie innerlich zu erschliessen. Denn eine Ein- kleidung metaphysischer Intuitionen in empirische Erkenntnisformen ist nicht nur in Indien, sondern auch in Europa von jeher geübt und auch dadurch nicht um ihr Ansehen gebracht worden, dass Kant das Unberechtigte des ganzen Verfahrens aufdeckte“ (VII). Man wird in dieser Bemerkung eine Rechtfertigung der eingehenden Behandlung zu erkennen haben, die die indische Philosophie hier erfährt. Denn auch wenn Deussen in den späteren Bänden die Frage nach der Beeinflussung der Griechen durch die Denker des Orients in positivem Sinne entscheiden sollte, so würde doch eine solche ausführliche Behandlung der Inder ohne Zweifel durch die Forderung der Continuität der Darstellung allein noch nicht begründet sein, Dazu kommt freilich noch die persönliche Wertschätzung, die der Verfasser der Philosophie des Ostens zollt.

Analogien mit Kantischen Gedanken deckt Deussen gerne auf. „Der eigentliche, tiefste Grundgedanke des Platonismus und des Kantianismus“: das deutliche Bewusstsein davon, „dass die ganze empirische Realität nicht, das wahre Wesen der Dinge ist, dass sie, in Kants Worten, nur Erscheinung

236 Litteraturbericht.

ist und nicht Ding an sich,“ ist auch schon der Grundgedanke der Upani- shadlehre (89), zugleich das Leitmotiv aller Philosophie (881). Dreimal tritt in der Geschichte der Philosophie dieser Gedanke mit Klarheit hervor (in den Upanishad’s, bei Parmenides und Platon, bei Kant und Schopenhauer): und diese drei „aus verschiedenen Zeiten und Ländern stammenden und völlig von einander unabhängigen Lehren ergänzen, erläutern und bestätigen sich gegenseitig“ (41/2). Aber nicht nur das Hauptthema aller Philosophie ist hiermit angegeben, sondern auch die Voraussetzung aller Religion (42). „Alle grossen Lehrer der Religion in alter und neuer Zeit, ja auch noch heute alle die, welche einer Religion im Glauben anhängen, [sind] gleich- sam unbewusste Kantianer* (42). Denn die „drei höchsten Heilsgüter der Menschheit, Gott, Unsterblichkeit und Freiheit, sind nur dann haltbar, wenn die Welt blosse Erscheinung und nicht Ding an sich ist* (42). Be- sonders charakteristisch für die, durch dieSchopenhauersche Erkenntnistheorie bestimmte, Kantauffassung Deussens sind die Ausführungen über die Ent- wicklung des Begriffs Avidyd (68f.): Ursprünglich ist die Bedeutung rein negativ. Avidyä ist der Zustand des Nichtwissens, in dem sich der Mensch, so lange er auf dem Standpunkt des Erfahrungswissens steht, dem wahrhaft Seienden, dem Brahman, gegenüber befindet. Später wird der Begriff positiv, indem er die Behauptung ausdrückt, dass das empirische Wissen ein Falschwissen ist, eine Täuschung, eine Mäya. „Dies ist ein sehr merkwürdiger Schritt; es ist derselbe, welchen Parmenides und Platon thaten, wenn sie die Erkenntnis der Sinnenwelt für blossen Trug, für sidwha erklärten, welchen Kant that, wenn er bewies, dass die ganze empirische Realität nur Erscheinung ist und nicht Ding an sich“ (68/9). Auch an anderen Stellen wird mehrfach die indische Lehre, dass das Brahman der empirischen Gesetzlichkeit nicht unterworfen ist, zu einer Parallele mit der Kantischen Philosophie benutzt (187, 189, 204). Mitunter würde allerdings korrekter an Kants Stelle Schopenhauer genannt; so wenn es (187) heisst: „Wir wissen jetzt durch die Kantische Philosophie, dass alle empirische Ordnung der Dinge den Gesetzen des Raumes, der Zeit und der Kausalität unterworfen ist“. Interessant ist die (S, 284 ge- zogene) Parallele der indischen Seelenwanderungstheorie zu Kants Un- sterblichkeitslehre: „Auch der bekannte Beweis Kants, welcher die Un- sterblichkeit auf die nur in unendlichem Annäherungsprozess erreichbare Verwirklichung des uns eingeborenen Sittengesetzes gründet, würde nicht für eine Unsterblichkeit im herkömmlichen Sinne, sondern für die Seelen- wanderung sprechen“.

Jerusalem, Wilhelm. Einleitung in die Philosophie. Wien und Leipzig, W. Braumüller. 1899. (VIII und 189 S)

Das Buch ist durch seinen umfassenden Inhalt und durch seine leicht verständliche Sprache wohl geeignet, in die Beschäftigung mit philo- sophischen Problemen einzuführen. Diesem pädagogischen Zwecke ent- sprechen auch durchaus die jedem einzelnen Abschnitt am Schlusse bei- gefügten Litteraturangaben, die in geschickter Auswahl gerade das ent- halten, was den Studierenden nach der hier gegebenen vorläufigen Orien- tierung weiter zu führen geeignet ist. Der Inhalt des Buches ordnet sich

Litteraturbericht. 237

in der Weise, dass nach den einleitenden Erörterungen über Bedeutung und Stellung der Philosophie die einzelnen Disciplinen in folgender Reihenfolge besprochen werden: Psychologie, Logik, Erkenntniskritik und Erkenntnistheorie, Metaphysik oder Ontologie, Ästhetik, Ethik, Sociologie und Philosophie der Geschichte, Pädagogik. In der sich noch anschliessen- den „Schlussbetrachtung“ fasst Jerusalem die Hauptresultate des Buches zusammen mit scharfer Hervorhebung der eigenen Auffassungen, ohne dass jedoch diese persönliche Stellungnahme in den vorhergehenden Ab- schnitten gerade zurückgetreten wäre. Diese bereits aus den früheren Publikationen des Verfassers bekannten eigenen Anschauungen sind, wie er sie selbst charakterisiert „die genetische, die biologische und die sociale Betrachtungsweise des psychischen Geschehens“ (168). In Zusammenhang hiermit steht auch seine Stellung zu Kant. Jerusalem stellt ihn sehr hoch: er entnimmt ihm das Motto seines Buches, er citiert ihn weit häufiger als irgend einen anderen Denker, und zwar fast immer zu- stimmend. Doch bewegen sich seine Gedanken in ganz anderem Geleise. Bezeichnend dafür ist, dass er sich ablehnend verhält gegen Kants Nati- vismus. Aber Kant hat weder „angeborene Formen der Sinnlichkeit* (61) noch ein „angeborenes Sittengesetz“ gelehrt (188; vgl. 143: „Eine aus- geprägte Form des Nativismus ist die Ethik Kants, wonach sogar das Sittengesetz selbst angeboren ist“). Dieser prinzipielle Gegensatz zur Kantischen Methode offenbart sich gleich in dem von der Psychologie handelnden Abschnitt, wo es z. B. heisst: „Nur auf psychologischer Grund- lage kann heute der Philosoph die Grenzen des menschlichen Erkennens abstecken, nur mit Hilfe der Psychologie die Formen finden und ver- stehen lernen, in die sich unsere Erkenntnisse notwendig kleiden müssen“ (29). Auch in der ,Urteilsfunktion*, die der Verf. „als die durch Erfahrung gewonnene, aber doch ganz allgemeine fundamentale Apperception* an die Stelle von Kants transscendentaler Apperception setzen will, kann Referent keine glückliche Fortbildung der Lehre Kants erblicken. Denn erstens würde durch diese psychologische Funktion die transscendentale nicht ent behrlich gemacht, und zweitens würde mit ihr eine Willensmetaphysik eingeschwärzt, da wir, nach Ansicht des Verfassers, diese allgemeine Urteilsfunktion derart bethätigen, dass „wir jeden Vorgang zunächst auf ein Willenscentrum beziehen“ (78). Dieser völlig unbeweisbare meta- physische Hintergrund der „fundamentalen Apperception* erscheint in heller Beleuchtung bei dem Thema „Wechselwirkung“ (99. Überhaupt ist Jerusalem trotz vielfacher Betonung der Notwendigkeit empirischer Forschung kein grundsätzlicher Feind der Metaphysik oder, wie er lieber sagen will, Ontologie. Nicht ohne Hinblick auf jenen „Mittelpunkt, dem die Philosophie immer wieder zustrebt, und um welchen sich die anderen philosophischen Diseiplinen gruppieren“ (177), ruft er die Philosophie zurück zu „ihrer alten Aufgabe, Weltanschauungslehre zu sein“, den Blick auf das Ganze zu richten, ohne doch dabei das Einzelne zu vernachlässigen, Er rekurriert dabei auf das Beispiel, das Kant in der „Naturgeschichte des Himmels“ gegeben hat (176). In den Citaten aus Kant und in den Be- sprechungen einzelner Kantischer Probleme bekundet sich übrigens trotz des methodischen Gegensatzes, der grösser ist, als Jerusalem glaubt, oft

238 Litteraturbericht.

ein feines Verständnis. Ich erwähne beispielshalber die Unterscheidung von Schein und Erscheinung (58, 60) oder die Würdigung der Lehre vom uninteressierten Wohlgefallen (109 und 112). Namentlich aber weiss der Verfasser die Bedeutung Kants in der Geschichte der Philosophie sehr gut zu schätzen: „Nach Kant ist es nicht mehr möglich, beim Dogmatis- mus stehen zu bleiben. Man braucht Kant durchaus nicht überall und in jeder Beziehung zuzustimmen, aber man muss unbedingt Stellung zu ihm nehmen. Man muss die von ihm aufgeworfenen Fragen erledigen, ehe man zu positiven Aufstellungen schreitet. So wie man nach Savigny wissenschaftliche Rechtsstudien nicht mehr anders als historisch betreiben, wie man nach Darwin Organformen nicht mehr anders als entwicklungs- geschichtlich und biologisch betrachten darf, so ist es nach Kant nicht mehr erlaubt, anders als kritisch Philosophie zu treiben* (46).

Seite 147 findet sich der Satz: „Die indischen Büsser, welche tausend Jahre fasten, ebensolang auf einem Fusse stehen, erregen durch ihre un- geheure Willenskraft die allgemeinste und grösste Bewunderung.“ Hierzu © kann Referent nur bemerken, dass er sich mit dem Verf. einig weiss in der Bewunderung solch gewaltiger Leistungen.

Lüdemann, H. Erkenntnistheorie und Theologie. „Protestan- tische Monatshefte“, Jahrgang 1897 u. 1898, Berlin, Reimer,

Die Aufgabe der Theologie, die im religiösen, speziell im christlichen Bewusstsein im Entwurf vorliegende Gesamtweltanschauung darzulegen und zu rechtfertigen, trifft bezüglich einer ganzen Reihe von Problemen mit der Aufgabe der Metaphysik zusammen, Infolgedessen ist die Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit der Metaphysik für die Theologie von. entscheidender Bedeutung. Der Verf. giebt in seinen vorliegenden höchst scharfsinnigen und anregenden Ausführungen zunächst eine Auseinander- setzung mit den von Biedermann, Ritschl und Lipsius zu dieser Frage eingenommenen Stellungen. Biedermann hält fest an einer philosophisch gerechtfertigten Metaphysik innerhalb der Theologie; Ritschl hält Meta- physik für unmöglich und setzt an ihre Stelle eine besondere theologische Erkenntnisweise religiösen, nicht wissenschaftlichen Ursprungs und Charakters; Lipsius stellt philosophische und theologische Spekulation neben einander und sucht durch die Vereinigung beider eine einheitliche Weltanschauung zu gewinnen. Diesen 3 Standpunkten stellt der Berner Theologe seinen eigenen gegenüber, der „das theologische Erkennen lediglich als einen Spezialfall derjenigen Art von denkender Orientierung auffasst, welche vom inneren Selbsterleben des Subjekts überhaupt ausgeht, und von diesem als dem Archimedischen Punkte aus eine dem Wesen unseres uns unmittelbar anschaulichen Geistes analoge Welt gewinnt“ (1897, S. 7). Nachdem Lüdemann schon im Verlauf der Kritik von Bieder- mann, Ritschl und Lipsius vielfach diesen eigenen Standpunkt beleuchtet hat, giebt er in den letzten Abschnitten eine zusammenhängende Dar- stellung. Zuvörderst entwickelt er hierbei (1898, S. 88 ff.) die Kantische Erkenntnislehre in ihren Grundzügen. Den Nachweis der blossen Idealität von Raum und Zeit hält er durch „die genialen Ausführungen“ der transsc. Ästhetik für erbracht (91). Allein die Phänomenalität all unserer Erkennt-

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nisobjekte giebt er nicht zu. Schon der Gedanke an das „Reale der Empfindung“ (94) führe uns dazu, eine Realität anzunehmen, die nicht mehr zeiträumlich-mechanischer Natur ist, die sich aber freilich unserer Forschung entzieht. Wenn nun aber auch Raum und Zeit als Seinsformen nicht angenommen werden können: wie steht es mit den Kategorien? Sind auch sie nur subjektive Erkenntnisformen, wie das Kant zu lehren scheint? (L. vernachlässigt den Unterschied zwischen Kategorien und Grundsätzen des reinen Verstandes: erstere sind nach Kant keineswegs auf die Er- scheinungswelt eingeschränkt, wohl aber die letzteren, die jedoch die Regeln angeben, nach denen allein wir die Kategorien anwenden können.) Die Kategorien sind, wie aus Kants eigenen Bestimmungen ge- folgert werden muss, „Auffassungsformen des endlichen Verstandes über- haupt, denen die ganz allgemeine Bedeutung zukommt, dass nur in ihnen jeder endliche Geist das ihm zu Gebote stehende Anschauungsmaterial zu einer für ihn durchsichtigen Ordnung zusammenzufassen vermöge*“ (99). Nur für einen schöpferischen Verstand würden die Kategorien ihre Be- deutung verlieren. Um nun das Wesen der Kategorien, von dessen Erkenntnis er den Ausweg aus der blossen Phänomenalität erwartet, zu prüfen, untersucht L. Kants Lehre vom Ich-Erkennen. Er greift Kants Meinung an, dass uns auch das Ich nur als Erscheinung gegeben sei, weil wir es nur in der subjektiven Anschauungsform der Zeit auffassen könnten. Kant gerate hier in einen Selbstwiderspruch, „da er innerhalb einer Unter- suchung, die so energisch wie möglich dem Selbsterkennen gewidmet sei, in einer Theorie des Erkennens nämlich, zu dem Resultat gelange, das Ich sei als unerkennbar allem transsubjektiven fremden Sein gleichzustellen, also selbst als transsubjektiv zu betrachten“ (129). Ich möchte Kant gegen diesen Einwand in Schutz nehmen. Dass das Ich, das Subjekt, etwas Transsubjektives sein soll, sieht freilich wie ein Widerspruch aus. Allein man beachte, dass hier „Subjekt“ etwas wesentlich anderes bedeutet als „subjektiv“ in der Verbindung ,transsubjektiv“. Das Adjektivum „subjektiv“ bedeutet hier nur das dem empirischen Bewusstsein Gegebene, das Substantivum „Subjekt“, das „Ich“, bedeutet hingegen das meta- physische Substrat des Bewusstseins. Darin aber, dass dieses metaphy- sische Substrat des Bewusstseins dem Bewusstsein nicht anschaulich gegeben sein kann, liegt ganz gewiss kein Widerspruch. Kants Unter- suchung ist zwar „dem Selbsterkennen gewidmet“, aber nicht dem Erkennen des metaphysischen Ichs, Selbsterkennen ist bei Kant das Erkennen der Funktionsweisen des normativen Bewusstseins, nichts weiter: ich erkenne lediglich, nach welchen Gesetzen sich mein Bewusstsein bethätigen muss, wenn es Erkenntniswerte gewinnen will. Das so erkannte normative Bewusstsein ist nun zwar etwas Zeitloses, etwas der Zeit Übergeordnetes, etwas notwendig und darum ewig Giltiges. Aber es ist nicht ein meta- physisches Ich. Von einer Existenz dieses normativen Ichs kann über- haupt nicht gesprochen werden: es hiesse das zur Platonischen Lehre von den hypostasierten Ideen zurückkehren. Von meinem metaphysischen Ich erfahre ich in der Selbsterkenntnis nach Kantischer Methode nichts. Diese Bedeutungen des Ichbegriffes scheint mir nun L. nicht nur bei der erwähnten Behauptung des „Selbstwiderspruches“ bei Kant zu ver- j

Litteraturbericht. 241 Des Weiteren entwickelt L. seine Theorie in folgender Weise: In der Selbstanschauung erfassen wir das wahre Wesen der Kategorien, oder: in den Kategorien erfassen wir das Wesen des Ichs (188). Durch Analogie- schluss lässt sich folgern, dass das Wesen des Seins überhaupt sich durch das Wesen der Kategorien interpretieren lassen muss. „Wie wir, so müssen auch die Dinge sein, mit denen wir es in Wahrheit zu thun haben* (188). „Das Ich kennt Thatsache und Wesen der Kausalität nur aus sich selber“, und „wie alles, was das Ich von seinem eigenen Sein und Leben weiss, ein Wissen um unzweifelbar wahres Sein ist, so ist auch die Kausalität eine eminent objektive Erkenntnis. .. Diese in mir selbst wahrgenommene Kausalität aber ist geistiger Natur“ (185). Für die Auffassung fremden Seins bin ich jedoch an die Formen von Raum und Zeit gebunden, in denen sich das an sich lebendig-dynamische Sein veräusserlicht. Will ich das erscheinende Sein verstehen, so muss ich darum von der erlebten, der wahren Kausalität abstrahieren: ich muss sie aller teleologischen Merkmale entkleiden und sie zu einer ganz indifferent mechanisch wirkenden depotenzieren, Entsprechendes gilt von der Kategorie der Substanzialität und den Kategorien der Qualität (185). Kant habe im Bewusstsein dieses Umstandes seine Lehre vom Schematismus ausgebildet (hier macht sich wieder die Vernachlässigung der Kantischen Unterscheidung von Kategorien und Grundsätzen fühlbar), die jedoch ihren Zweck verfehle, An Stelle des Zeitschemas will L. den naturwissenschaftlichen Begriff des Atoms gesetzt wissen (186), Der Hauptfehler der transsc. Dialektik sei der, dass Kant hier durchgehends gegen eine Metaphysik kämpfe, in der die depotenzierten Kategorien auf wahres Sein angewandt würden, wobei sich naturgemäss Widersprüche einstellen (188). Die wahren Ideen der letzten Realitäten wie Gott, Seele, Welt lassen sich nur gewinnen, „wenn wir ausschliesslich den in unserm geistigen Selbsterleben gelegenen Direktiven folgen“ (189). Die von Kant mit Recht kritisierte Metaphysik macht den Fehler, Erscheinungssein für wahres Sein zu halten. Aber es giebt noch eine Metaphysik anderer Art. Wie die mechanische Kausa- lität das Grundwesen der zeiträumlichen Erscheinung ist, so ist die teleologisch-wollende Kausalität das Grundwesen des wahren Seins. Mit Unrecht habe Kant das naturwissenschaftliche Sein „als das einzige Gebiet wirklichen Erkennens behandelt und der teleologischen Betrachtungsweise nur das Gebiet des moralisch begründeten praktischen Glaubens zugewiesen. Unsere Selbstanschauung belehrt uns anders. Sie zeigt uns, dass der Zweck, weit entfernt nur im moralischen Handeln hervorzutreten, vielmehr die durchstehende Form der uns selbst eignen kausalen Aktivität über- haupt ist. Und das berechtigt uns, dies teleologisch geartete Wollen... . in seiner einheitlich-geistigen Natur als Grundwesen alles Seins tiberhaupt zu betrachten“ (191).

Dies sind die Grundzüge von Lüdemanns spiritualistischer Metaphysik. Wenn sich auch Referent aus den oben angedeuteten Gründen nicht ent- schliessen kann, den hier gezeigten Weg zu beschreiten, so verkennt er darum doch nicht, dass die vorliegende Arbeit mit vielem Scharfsinn abge- fasst ist, und dass sie eine grosse Reihe von Gesichtspunkten bietet, die

Kantstudien V. 16

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nicht nur dem Theologen, sondern auch dem Erkenntnistheoretiker und Ethiker Anregungen zu fruchtbarer Weiterarbeit geben können.

Lipps, Theodor. Die ethischen Grundfragen. Zehn Vorträge. Hamburg, Voss. 1899. (808 S.)

Das in hohem Masse beachtenswerte Buch beginnt mit Kantischen Gedanken: als den Gegenstand der Ethik bezeichnet es die „giltige“ Moral im Gegensatz zu der „da und dort geltenden“ (2). Ohne jedoch die Frage nach dem Kriterium der Sittlichkeit gleich hier in Angriff zu nehmen, wendet sich Lipps zunächst zum eigentlichen Thema des ersten Vortrags: „Egoismus und Altruismus“, einer Bekämpfung der egoistischen Moral. Neben die egoistischen und die altruistischen Motive, die Sachwertgefühle, stellt der zweite Vortrag, betitelt: „Die sittlichen Grundmotive und das Böse“, die Persönlichkeitswertgefühle, die eigentlichen ethischen Grundgefthle. Das Böse wird auf zwei Quellen zurückgeführt: „die Schwäche von Motiven und den Irrtum oder die Täuschung, vor allem die Selbsttäuschung“ (66). Im 8. Vortrag „Handlung und Gesinnung“ wirft der Verf. die Frage nach dem Objekt der sittlichen Bewertung auf, und die Antwort weist auf die Gesinnung. „Gehorsam und sittliche Freiheit“ ist die Überschrift des 4. Vortrags. Hier wird das Verhältnis von Autonomie und Heteronomie besprochen. Fragen von aktuellem Interesse (die auch in anderen Abschnitten mehrfach Erörterung finden) werden hier unter den Gesichtspunkt der sittlichen Forderungen gestellt: Heteronomie tötet die gute Gesinnung, an deren Stelle sie „gute Werke“ erzeugt, die in Wahrheit schlecht sind (98). „Menschen können sittlich irren... Verpflichte ich mich zu blindem oder unbedingtem Gehorsam, so verpflichte ich mich also, gegebenen Falles auch ehr- und gewissenlos zu handeln. Und dies ist ehr- und gewissenlos“ (95). Völlig im Sinne Kants halten sich auch die Ausführungen über Theonomie: „Der Gehorsam gegen Gott ist entweder egoistisch, und damit nicht sittlich; oder er ist sittlich, und dann ist er nicht eigentlicher Gehorsam, sondern Selbst. gesetzgebung“ (105). Auf das am Anfang des Werkes aufgestellte Thema, die Frage nach den Kriterien des Sittlichen, kommt der 6. Vortrag „Das sittlich Richtige* zurück. „Sittlich richtig ist der Willens- entscheid, gegen den das Gewissen endgiltig, d. h. auch wenn es ein voll- kommen erleuchtetes Gewissen ist, keine Einsprache erheben kann“ (112). Hier kommt Kants Unterscheidung von Pflicht und Neigung in Betracht, die Lipps (120f.), abgesehen von ihrer rigoristischen Seite, anerkennt. Lipps versteht, im Gegensatz zu Kant, unter Neigung (als der unsittlichen Triebfeder des Handelns) nur das, was die Neigung zum Guten in ihrer Wirksamkeit beschränkt, „oder allgemeiner gesagt, das, wodurch die mög- lichen menschlichen Zwecke verhindert werden, so, wie es in ihrer Natur liegt, oder so, wie sie es ihrer objektiven Beschaffenheit nach vermöchten, unser Wollen zu bestimmen“ (122). Der Begriff „objektive Beschaffenheit“ der möglichen menschlichen Zwecke ist allerdings wohl in diesem Zusammenhang nicht einwandfrei; und wenn Lipps das sittliche Handeln abhängig sein lässt von einer „Betrachtung der Zwecke unter dem Gesichtspunkt ihres reinen und vollen objektiven, durch keine

Litteraturbericht. 243 subjektiven Faktoren getrübten Wertes“ (128/9), so ist das in so fern bedenklich, als eine Betrachtung der Zwecke nach bestem Wissen und Gewissen nicht nur allen Ansprüchen der Ethik genügen dürfte, sondern auch psychologisch allein erreichbar ist. Lipps’ Theorie führt zu einer Intellektualisierung der Tugend: „Ich müsste, wenn ich vollkommener sittlicher Gesinnung mich sollte rühmen können, Alles kennen und Alles geniessen können, für jede Freude und jedes Leid, das Menschen treffen kann, empfänglich und empfindlich sein“ (180). Demgegenüber hält es Referent für keinen kleinen Vorzug der Kantischen Ethik, dass sie die sittliche Höhe völlig unabhängig macht von der intellektuellen. Nach der von Lipps (vgl. bes. von S. 118 an) vertretenen Theorie ist jedoch die Ein- sicht in die „objektiven Werte“ ein Faktor, der wesentlich ist für den Grad der sittlichen Gesinnung, zu der er in direkt proportionalem Verhältnis steht. Dass indessen die „objektiven Werte“ nicht der Massstab der sittlichen Gesinnung sind, giebt jedoch Lipps selbst an späterer Stelle im Grunde zu. Er schreibt S. 195 f.: „Wir sind keine .. (se. an Einsicht] vollkommenen Wesen. Wir bleiben demnach der Möglichkeit des unlösbaren sittlichen Zweifels, also des sittlichen Irrtums ausgesetzt... . Dies wäre übler, als es ist, wenn die Handlungen oder die einzelnen Willensentscheide der eigentliche Gegenstand der sittlichen Beurteilung wären. Aber wir wissen, sie ist es nicht. Sondern das eigentlich sittlich Wertvolle oder Unwerte ist der gesamte Mensch, die Gesinnung. Und das Gute der Gesinnung besteht nicht darin, dass wir das Rechte treffen, sondern darin, dass wir es ernstlich und ehrlich wollen. Irren wir trotz- dem, und sehen dies ein, so werden wir den Irrtum beklagen; aber unser Gewissen spricht uns frei. Das Höchste, was vom Menschen gefordert werden kann, ist die volle Gewissenhaftigkeit.“ Das ist sehr schön. Die „volle Gewissenhaftigkeit* ist aber doch wohl identisch mit der „voll- kommenen sittlichen Gesinnung“, die indessen bei Lipps Seite 130 in Gefahr steht, selbst zu etwas Objektivem gemacht zu werden, Kantischer als Kant selbst, d. h. konsequenter in der Durchführung des prinzipiellen Gedankens (dass nicht die Werke, sondern der Wille, aus dem sie fliessen, gut oder böse sind) ist manches in dem 6. Vortrag „Die obersten sittlichen Normen und das Gewissen“, Kant hat bekanntlich das „vermeinte Recht, aus Menschenliebe zu lügen,“ unbedingt bestritten, Lipps aber bemerkt, nach- dem er einen Fall des Konflikts zwischen Menschenliebe und Wahrhaftig- keit zu Gunsten der ersteren entschieden hi ‚Auch hier würde die Lüge mich bedrücken. Ich würde auch hier die Lüge als solche, wegen der inneren Schädigung, die ich mir damit zufüge, verurteilen und sittlicher- weise verurteilen müssen. Aber ich würde trotzdem das Bewusstsein haben, recht gehandelt zu haben. Auch bei der Lüge ist eben der eigent- liche Gegenstand der sittlichen Bewertung nicht die That, sondern das Ganze der Gesinnung, aus welcher sie im gegebenen Falle erwächst* (147). Hervorgehoben sei auch die in diesem Abschnitt gegebene Ver- teidigung des Formalismus der Kantischen Ethik. Der 7. Vortrag handelt vom „System der Zwecke“. Absoluter sittlicher Zweck ist nur der „Persönlichkeitswert“; Kant nennt ihn „Würde“ (164f). Er ist das Gute gegenüber den einzelnen Gütern. Als „das schönste und wahrste Wort, 16*

244 Litteraturbericht.

das bei Kant sich findet,“ citiert L. den Satz vom Anfang der „Grund- legung zur Metaph. d. Sitten“: „Es ist überall nichts in der Welt, ja über- haupt auch ausser derselben zu denken möglich, was ohne

für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“ (166). Von den Organismen aus Persönlichkeiten, den „sozialen Organismen“ Familie und Staat, handelt der 8. Vortrag; die hochinteressanten Aus- führungen stehen durchaus auf Kantischer Grundlage. Der 9. Vortrag be- schäftigt sich mit der „Freiheit des Willens“. Hier tritt L. mit Energie für den Determinismus ein, die notwendige Voraussetzung der sittlichen Verantwortlichkeit. Im Anschluss daran behandelt der 10. Vor- trag „Zurechnung, Verantwortlichkeit, Strafe“, Charakteristisch ist der dieses Thema abschliessende Gedanke: „Man ist vielleicht stolz auf die sicher funktionierende Rechtspflege. Aber was wir anstreben sollen, das sind nicht die Triumphe der Rechtspflege, sondern dass die Rechts- pflege zu Triumphen keine Gelegenheit mehr habe... Die Aufgabe, auf die schliesslich alles abzielt, ist die sittlich-soziale, die Aufgabe der sittlichen Kultur“ (807). Das ist auch die Forderung, die Kants Ethik mit Nach- druck erhebt, Mit der Anknüpfung an Kants Formulierung der philo- sophischen Grundfragen: „Was können wir wissen? Was sollen wir thun? Was dürfen wir hoffen?“ schliesst das inhaltreiche und anregende Buch ab. Mit der 2. Frage hat sich sein ganzer Inhalt beschäftigt. Auf die 8. geben die letzten Zeilen eine kurze Antwort; sie lautet wie das Resultat von Kants Geschichtsphilosophie: Wir dürfen hoffen, „dass das Gute, das wir an unserem Teile zu verwirklichen uns bemühen sollen, im Ganzen der Welt, obzwar in endlosem Fortschritt, zur vollen Verwirklichung ge- langen werde* (308).

Nikoltschoff, Wassil. Das Problem des Bösen bei Fichte, Diss. Jena. 1898. (82 S.)

Die sorgsam gearbeitete Dissertation ist eine historisch-kritische Ab- handlung über Fichtes Lehre vom Bösen und hat die Tendenz der Recht- fertigung jenes ethischen Idealismus, der am frühesten vom Christentum, mit philosophischer Schärfe und Deutlichkeit zuerst von Kant und Fichte gelehrt worden ist, Dass es Kantische Gedanken sind, die die Grundlage der Fichteschen Ethik ausmachen, wird vom Verf. in gebührender Weise betont. In dem einleitungsweise voraufgeschiekten geschichtlichen Über- blick über die Entwicklung des behandelten Problems sind dem „grossen Kritiker der Vernunft, der die ethischen Grundgedanken des Christentums erneuerte und dessen Lehre von dem radikalen Bösen in Zusammenhang mit seiner praktischen Philosophie brachte“, die Seiten 9—18 gewidmet, die eine gute Darstellung dieses Teiles der Kantischen Ethik enthalten. In dem folgenden Hauptabschnitt wird zunächst (14—18) geschildert, wie in der Philosophie Kants die Keime liegen, aus denen Fichtes Lehre er- wächst. „Je mehr aber Fichte in den Geist der Kantischen Philosophie eindringt, je mehr er sich von der Erhabenheit des Systems überzeugt, desto mehr befestigt sich in ihm die Ansicht, dass dieses System nur nach einer Bearbeitung und Umgestaltung alle Ansprüche befriedigen könne. Fichte... merkte, dass Vieles bei Kant nur angedeutet sei, was man erst

Litteraturberieht. 245

beweisen sollte, und war der Meinung, dass man die Kantische Philosophie nicht buchstäblich nehmen dürfe“ (17). Es folgt nun die Darlegung der Fichteschen Theorie. In dem Schlussabschnitt (64—82) wird dann unter- sucht, welchen Anspruch Fichtes Lehre auf unsere Beistimmung machen darf, als Vorfrage aber erst das interessante Thema aufgegriffen: ist eine streng wissenschaftliche Erklärung des Bösen möglich? Auch hier giebt Nikoltschoff zunächst eine Übersicht über die Hauptversuche, das Böse zu erklären. Er widerlegt zunächst die Theorien, die das Böse mit dem Übel identifizieren, es so in Zusammenhang mit der Welt bringen und von hier aus (metaphysisch) erklären wollen, und geht dann (70f.) auf den von Kant eingeschlagenen Weg ein, das Böse moralisch zu fassen und es in Zusammenhang mit der Freiheit zu bringen. Der Verf. meint, dass, wenn überhaupt ein Weg zum Ziele führte, es nur dieser sein könnte. Zu einer streng wissenschaftlichen Erklärung des Bösen käme man jedoch auch hier nicht, weil nämlich die Freiheit keine unbestreitbare Thatsache ist. Nikoltschoff ist hier in vollkommener Übereinstimmung mit Kant, von dem er einen Ausspruch citiert, in dem die Unerforschlichkeit des ersten Grundes der Annahme guter oder böser Maximen betont wird. Zuletzt wendet sich dann der Verf. zur Beurteilung der Lehre seines Philosophen, dem er in der Grundauffassung beistimmt, und den er mit Recht den grössten Ethikern zuzählt, dessen Hinausgehen über Kant er jedoch nicht durchweg billigt (vgl. 79).

L’Année Philosophique publiée sous la direction de F. Pillon. Neuvième Année 1898. Paris, F. Alcan. (Bibliothèque de philosophie contemporaine.) 1899. (816 p.)

Renouvier hat im Jahre 1872 eine Zeitschrift „La Critique philoso- phique“ begründet, die zuerst wöchentlich, später monatlich erschien. Sie war das Organ des von ihm ausgegangenen französischen Neokritieismus und erschien bis 1889. Der thätigste Mitarbeiter des Altmeisters, Fr. Pillon, ist seit 1890 der Herausgeber des Organs dieser Schule, das jedoch nicht mehr im eigentlichen Sinne Zeitschrift ist, sondern unter dem oben ange- führten Titel als philosophisches Jahrbuch erscheint, Alle bisher erschienenen Bünde werden eröffnet mit Beiträgen von Renouvier und bringen ausserdem Abhandlungen von Dauriac und Pillon. (Der vorliegende Band ist der erste, der die Arbeit eines weiteren Autors, Hamelin, enthält.) Renouvier hat hier neben erkenntnistheoretischen und metaphysischen auch mehrfach teligionsphilosophische Fragen behandelt. Auf den im 8. Jahrgang (1897) erschienenen Artikel „De l'idée de Dieu“ haben die KSt. bereits im vorigen Heft S. 128 aufmerksam gemacht. Hier seien noch besonders hervor- gehoben die von Pillon in den Jahrgängen IU—VII veröffentlichten be- deutsamen Studien zur historischen Entwicklung des Idealismus.

Der neueste Jahrgang enthält folgende Beiträge: Ch. Renouvier, Du principe de relativité; O. Hamelin, La philosophie analytique de l'histoire de M. Renouvier; L. Dauriac, L'esthétique criticiste; F. Pillon, La critique de Bayle: Critique du panthéisme spinoziste. Ein etwas mehr als die Hälfte des Buches füllender, von Pillon verfasster Litteraturbericht „Bibliographie philosophique française de l'année 1898“ giebt eingehende

246 Litteraturbericht.

Referate über ungefähr 120 in französischer Sprache erschienene philo- sophische Schriften.

Für die Kantlitteratur sind von den diesmaligen Beiträgen besonders die von Renouvier und Dauriac von Bedeutung.

Renouvier, der unermüdliche, behandelt eines seiner Lieblings- themata, den Begriff des Unbedingten: Das Gesetz der Relativität, das, wie schon W. Hamilton gegen Kant gezeigt hatte, die oberste Kategorie ist, von der alle anderen Kategorien nur besondere Anwendungsweisen darstellen (5), hätte Hamilton zwingen sollen, das Unbedingte überhaupt aus der Philosophie zu verbannen. Hamilton thut dies jedoch nicht, sondern er verhält sich zu dem Problem im Grunde ebenso wie Kant, d.h. er erkennt dessen Antinomien an. (Der Unterschied, dass Hamilton die einander kontradiktorisch widersprechenden Sätze gleich unbegreiflich findet, während Kant sie als gleich beweisbar bezeichnet, ist unwesentlich.) Renouvier kommt damit auf eine Prüfung der Kantischen Antinomien. Wie schon in früheren Abhandlungen entscheidet er sich für die Thesis: „Nous l’admettons, parce que ce n’est pas une contradiction de l’admettre, mais bien une obligation pour en éviter une“ (9). Es giebt kein Unbe- dingtes und kein aktuelles Unendliches. Kants schlimmster Fehler ist der: „Il a suspendu le monde à l'Inconditionné. C'est à la faveur de cette chimére que tous ces philosophes et leurs disciples ont pu croire l'infini en acte compatible avec la réalité; l'absolu a reçu l'infini pour développe- ment dans leurs doctrines. Mais quand on part du principe de relativité, on trouve le principe de contradiction pour la règle souveraine imposée à son application et à la fonction logique de l'esprit. La pensée qui tient à se comprendre pose partout des termes premiers, des origines, des limites, et exclut le déterminisme universel“ (19).

Dauriacs Aufsatz ,L'esthétique criticiste“ verdient in hohem Grade die Beachtung der Ästhetiker. Renouvier, der Begründer des „kantisme de gauche“ (76) hat sich mit den Problemen der Ästhetik nur beiläufig in seinem „Victor Hugo“ befasst. Eine Würdigung dieses Buches und im Anschluss daran die Grundlinien einer Theorie der Ästhetik sind der Inhalt der vorliegenden Abhandlung.

Renouviers Kriticismus ist bekanntlich streng phänomenalistisch, „un kantisme sans noumènes“ (76). Die ,esthétique criticiste* stellt sich darum in den schärfsten Gegensatz zur Platonischen. ,L'esthétique de laquelle dérive le Victor Hugo est rigoureusement phénoméniste et, par même, conforme aux principes de la doctrine que M. Renouvier est venu apporter parmi nous“ (52). Selbstverständlich besteht ein grosser Unterschied zwischen Renouviers, bez. Dauriacs Ästhetik und der in Frankreich herrschenden positivistischen Ästhetik, die gleichfalls den Anspruch erhebt, phänomenalistisch zu sein, es aber nur ist „par prétérition“ (68). Die Auseinandersetzung mit dem Positivismus nimmt einen grossen Teil der Abhandlung ein. Das schwierige Problem, das sich der phänomena- listischen Ästhetik stellt, liegt in der Thatsache der idealistischen Kunst. Wie ist der Idealismus möglich, wenn man nicht (Platonisch) das Trans- scendente irgendwie herbeiziehen darf? Zur Andeutung der von Dauriac gegebenen Lösung seien folgende Sätze citiert: „Au fond, l'idéaliste ne

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voit que ce qui est, tout comme le réaliste. La différence entre l'un et l'autre est dans les éléments de la réalité retenus par le regard et confiés au souvenir. Au réaliste, rien n'est indifférent de ce qui est humain. L'idéaliste, lui, s'intéresse à peu près exclusivement aux actes et aux attitudes par lesquels se traduit, sinon notre grandeur, du moins notre supériorité relative... (C'est pourquoi un grand peintre peut idéaliser son modèle et, malgré tout, faire un portrait ressemblant“ (71/2).

Besonders von p. 76 an hat die Abhandlung besonderes Interesse für die Probleme der Kritik der Urteilskraft. Dauriac geht auf die Stellung Renouviers zu Kant ein; er erhebt wie letzterer die Frage nach apriorischen Urteilen in der Ästhetik. Giebt es ein objektiv Schönes? Gewiss giebt es Schönes nur für den Menschen, pour l'homme, aber darum nicht nur durch den Menschen, par l'homme (77/8). „Ce n'est donc point l’homme qui crée la beauté: il la découvre et la dégage, rien de plus“. ,Je ne m'émeus pas en présence d'une chose belle, je me sens ému . .. Mais l'émotion .. n'est-elle pas une garantie de son objectivité?“ (78). Aber andere Menschen bleiben ungerührt vor demselben Kunstwerk, das mich ergreift. ,Leur indifférence n'est-elle pas une garantie de la nature exclusivement subjective de mon émotion?“ (79), So kommt D. zu einer Antinomie, ähnlich der von Kant in der „Dialektik der ästhetischen Urteilskraft“ aufgestellten. Dauriacs Lösung geht dahin, dass die Ästhetik allerdings mit Recht den Anspruch auf allgemeine Anerkennung ihrer Urteile erhebt. Thatsächlich bezögen sich denn auch die Unterschiede im ästhetischen Verhalten der einzelnen Menschen nicht so sehr auf die Qualität, als auf die Intensität und die Dauer der ästhetischen Wirkung (82). Es giebt eben feiner und weniger fein organisierte Naturen, guten und schlechten Geschmack. „Et alors la généralité, sinon l'universalité de nos jugements esthétiques trouverait son explication naturelle“ (82).

Strassburger Goethevortrige. Zum Besten des für Strassburg ge- planten Denkmals des jungen Goethe. Strassburg, K. J. Trübner. 1899. (197 S.)

Das kleine Büchlein gehört um seines Zweckes willen zu den Werken, die ein Anrecht darauf haben, gekauft zu werden. Es gehört aber nicht zu denen, die nur gekauft sein wollen. Denn schon die Numen der Vor- tragenden, sämtlich Mitglieder des Lehrkörpers der Kaiser Wilhelms-Uni- versität, bürgen dafür, dass der geringe Beitrag, den der Käufer zu dem Goethedenkmal leistet, kein Opfer ist: wer es nach dem Kaufe liest, empfängt ungleich mehr, als er gegeben hat; die wirklichen Geber sind die Autoren der Vorträge. Einen Überblick über den vielseitigen Inhalt, der das Spezial- interesse des Litteratur- wie des Kunsthistorikers, des Physikers wie des Philosophen, namentlich aber das eines jeden Goetheverehrers rege machen muss, gewähren die Einzeltitel, die hier folgen mögen. Ernst Martin, Goethe über Weltlitteratur und Dialektpoesie; Rudolf Henning, Der junge Goethe; Eugen Joseph, Goethe und Lili; Wilhelm Windel- band, Aus Goethes Philosophie: Adolf Michaelis, Goethe und die Antike; Jacob Stilling, Über Goethes Farbenlehre; Theobald Ziegler, Goethes Faust. Ziegler hat seine schwere Aufgabe, über den Faust in

248 Litteraturbericht.

einem Vortrage zu sprechen, ohne der Gefahr zu verfallen, nur Bekanntes zu bringen, aufs Glücklichste gelöst durch die originelle Fragestellung, „ob Goethe von Anfang an die Rettung Fausts beabsichtigt oder ob er ihn, wie das Vorspiel sagt, mit bedächt'ger Schnelle vom Himmel durch die Welt zur Hölle habe führen wollen“ (179). Die hier behandelten Faust- probleme zeigen sich infolgedessen „in weniger geläufigem Lichte‘, und auch der gründliche Faustkenner wird darum gerne den fesselnden Aus- fübrungen folgen, Enger sind selbstverständlich die Beziehungen zur Philosophie in Windelbands Vortrag, Der feinsinnige Historiker der Philosophie bewährt seine Fähigkeit, den Heroen des Denkens in der Be- handlung ihrer Probleme bis zum Ende zu folgen, auch Goethe gegenüber, der „gegen die Philosophie jene Abneigung hat, die zumeist der grosse Künstler gegen die Ästhetik, die das wissenschaftliche Genie gegen die Logik, die der grosse Staatsmann gegen die politische Theorie hat: Gran, teurer Freund, ist alle Theorie, Und grün des Lebens goldner Baum.

Und doch gehört Goethe der Philosophie und ihrer Geschichte an (91). Denn als eine jener „gewaltigen Erscheinungen der Geschichte, in deren Leben und Schaffen sich eigenartig Welt und Menschen spiegeln, gehört er zu den lebendigen Quellen, aus denen die Philosophie zu schöpfen hat“ (98). Aus der Fülle des sich darbietenden Materials greift Windelband die Frage nach der Stellung des Menschen im Universum (94) heraus und macht sie zum Mittelpunkt seiner Ausführungen. Goethes Philosophie, wie sie sich vornehmlich in den grossen Lebenswerken, dem Wilhelm Meister und dem Faust niedergelegt findet, ist Lebensweisheit, und als deren höchstes Ideal nennt Goethe die Entsagung. Von ihr spricht er z. B. in „Dichtung und Wahrheit“ mit Beziehung auf Spinozas Philosophie, von ihr redet der Nebentitel der „Wanderjahre“. Entsagung bedeutet den Verzicht auf das „Schwelgen im Allgemeinen, im Fühlen und Sehnen“ (104), sie bedeutet die Selbstbefreiung des Individuums durch Arbeit: sie ist „in ihrem positiven Sinne Thätigkeit“. „Was Goethe vorahnend in seinen beiden Lebens- werken gezeichnet hat, ist dasselbe, was Kant und Fichte gefordert haben, wenn sie denStandpunkt der philosophischen Weltansicht ausdertheoretischen Vernunft in die praktische verlegen wollten“ (107/8). So bleibt Goethe auch nicht eigentlich bei der Spinozistischen Alleinheitslehre stehen: er ist von ihr, „wie er es selbst nennt, zu einem Comparativ fortgeschritten, worin er den wahren Lebensinhalt des Universums bei den in der Entwicklung ihrer ursprünglichen Anlage thätigen Einzelwesen sucht“ (109/10), Auf interessante und zugleich wenig beachtete Beziehungen zu Kant weist ferner hin der Vortrag „Über Goethes Farbenlehre* von dem Ophthalmo- logen Stilling. Der Vortrag hat apologetische Tendenz. Im Gegensatz zu der heutigen „von dem dogmatischen Materialismus beherrschten“ Natur- wissenschaft sucht Stilling in den Bahnen seines Fachgenossen Classen, aber weiter noch als dieser gehend, Goethes Farbenlehre als die Konsequenz der Kantischen Lehre aufzuweisen, wonach die anschauliche Welt zunächst weiter nichts ist als unsere Vorstellung (150f.). „Dem Physiker von heute ist die Farbe identisch mit Ätherschwingungen, der Physiologe sucht ihre Erklärung in hypothetischen Nervenprozessen ... Goethe aber hatte den

Litteraturbericht, 249

grossen Kantischen Gedanken verstanden. Ihm war die Farbe schon ein Teil unseres Empfindungsvermögens und die physikalischen Bedingungen nur der äussere Anlass“ (150/51). Den physikalischen Teil der Goetheschen Theorie, die Lehre von der Entstehung der Farbe durch Kombination von Licht und Finsternis giebt Stilling allerdings preis, ohne indessen auch hier Gedanken von bleibendem Wert zu verkennen. Jedoch „der physiologische Teil enthält geradezu die Grundlagen der modernsten Anschauungen, und die bis jetzt noch so gut wie isoliert dastehende Farbenpsychologie wird für alle künftigen Versuche in dieser Richtung das erste Vorbild bleiben* (154). Die Anschauung, dass über die Goethe-Schopenhauersche Farben- lehre die Akten noch nicht geschlossen sind, hat hier einen beredten An- walt gefunden, und die Art und Weise, wie er sein Plaidoyer führt, macht dieses zu einer Kantstudie im engeren Sinne.

Ulrich, O. Charles de Villers. Sein Leben und seine Schriften. Ein Beitrag zur Geschichte der geistigen Beziehungen zwischen Deutsch- land und Frankreich. Mit einem Bildnisse Villers’. Leipzig, Dieterich. 1899. (VIII u. 98 S.)

Dem den Lesern der „KSt.“ wohlbekannten Franzosen ist in der vor- liegenden Monographie ein Denkmal gesetzt worden, für das wir Ulrich nur dankbar sein dürfen, „Einen der edelsten Fremden, die je den deutschen Boden betreten haben“, nennt er ihn im Vorwort, und er bleibt in der Schrift, die sich durchgehends als das Resultat sorgfältiger Forschung dar- stellt, den Beweis für die Berechtigung dieser Charakteristik nicht schuldig. Wie in den „KSt.“ III, 1ff. bereits mitgeteilt ist, ist Villers’ Lebensziel auf eine Vermittlung zwischen deutschem und französischem Geist gerichtet gewesen. Schon als junger Mann aus seinem Vaterland vertrieben, hatte er Deutschland als ,la terre de la loyauté et de la véritable humanité“ (6) schätzen gelernt. Zwei später unternommene Reisen nach Paris brachten ihm nur um so deutlicher zum Bewusstsein, wie innig das Band geworden war, das ihn mit dem „Adoptivvaterlande seines Mannes- alters“ verknüpfte. So setzte er sich die Aufgabe, die Segnungen deutschen Geisteslebens auch seinen Landsleuten zu teil werden zu lassen. In diesem Streben übersetzte er deutsche Dichter, besonders Goethe, „dessen Werke er als den Gipfel der deutschen Kultur“ verehrte (48), und arbeitete er an der Verdrängung der flachen und deshalb auch nur gering genchteten französischen Philosophie jener Zeit, die unter dem Zeichen Condillacs stand, durch den Kantianismus. Anfangs schrieb er zu diesem Zwecke für den in Hamburg erscheinenden und von den französischen Flüchtlingen viel gelesenen „Spectateur du Nord“. „In einem trefflichen Aufsatze erhob er seine Stimme für den des Atheismus angeklagten Fichte, und in drei Abhandlungen (Notice littéraire sur M. Kant; Vues de Kant sur la manière dont devrait être écrite l'histoire universelle; Critique de la raison pure) bemühte er sich, seinen Landsleuten einen Überblick über die Grundlagen und einige Hauptgedanken der Kantischen Philosophie zu geben“ (9). Die letztgenannte Schrift war es, die er an Kant selbst schickte, und die dieser durch Rink neu herausgeben liess (,KSt.* III, 1). Zwei Jahre später (1801) erschien dann Villers' Hauptwerk, die „Philosophie de Kant, ou Principes

250 Litteraturbericht.

fondamentaux de la Philosophie transcendentale*, die den durch die früheren Arbeiten aufmerksam gemachten Franzosen „den Zugang zu der neuen Gedankenwelt* erschloss (10). „Während des Ringens mit dem schwer zu bewältigenden Stoffe wuchs sein Selbstvertrauen und

werde. Kants Philosophie, so hoffte er, sollte die Franzosen zu jenem hohen und reinen Streben emporheben, das, soweit es ül möglich ist, den Menschen aus den Banden der Sinnlichkeit befreit“ (16). Die Schrift blieb auch nicht ohne Erfolg: „seit. der Zeit wurde die deutsche Philosophie vielfach in französischen Zeitschriften besprochen“ (17). Napoleon selbst wurde auf Villers aufmerksam und beauftragte ihn mit der Anfertigung des in den „KSt.“ mitgeteilten,Apercu rapide.“ ,Bonapartes Verfahren bei dieser Gelegenheit ist bezeichnend für die Art und Weise, wie er sein Interesse an wissenschaftlichen Fragen bethätigte. Le premier consul de tonte l'Europe, so schreibt Villers nach der Rückkehr von Paris an einen Freund, a très peu de tems à perdre, et l'on ne m’accordait que quatre pages pour lui dire de quoi il était question, et quatre heures pour y songer“ (18). Wie aus dieser Stelle hervorgeht, befand sich Villers, als er den Auszug für Napoleon schrieb, gerade in Paris; er war zu vier- monatlichem Aufenthalt aus Lübeck dorthin gereist. In diesem Zusammen. hang macht Ulrich in einer Anmerkung (19f.) auf eine nicht uninteressante, aber wenig bekannte Thatsache aufmerksam: „Es ist ein eigentümliches Zusammentreffen, dass Heinrich von Kleist, der fast zu derselben Zeit wie Villers in Paris eingetroffen war, fast gleichzeitig mit ihm der Hauptstadt Frankreichs den Rücken wandte, um sich über Frankfurt nach der Schweiz zu begeben, wo er den Kämpfen der Welt zu entfliehen und als Landmann den bisher vergebens gesuchten Frieden zu finden hoffte. Auch der deutsche Dichter hatte einst davon geträumt, Kants Philosophie nach dem ‚meugierigen‘ Frankreich, ‚wo man von ihr noch gar nichts weiss‘, zu verpflanzen, aber dieser Gedanke war ihm, wie die meisten anderen Lebens- pläne, rasch verflogen, und als er sich nach Paris aufmachte, war er aller Wissenschaft längst überdrüssig.* „Die ideale Aufgabe, der V. sein Leben gewidmet hat, die Hingebung, mit der er deutsche Wissenschaft und Kunst erforschte, und die Treue, die er trotz bitterer Erfahrungen unserm Volke bewahrte“ (III), hat Ulrich „zu eingehender Beschäftigung“ mit dem Manne „ohne Furcht und Vorwurf“ (69) gelockt, dem wenige Tage vor seinem Tod ein Brief (von Ersch in Halle) das Zeugnis gab, dass er „sich in kritischen Zeiten dentscher benahm als mancher geborene Deutsche“ (68): er hatte sich allzeit benommen wie einer, dem es ernst ist mit seinem Kantianismus. Wenn auch die feinen Züge auf seinem Bilde von nichts reden als von Güte und Liebenswürdigkeit, so verbarg sich doch hinter der offenen Stirn und den grossen Augen ein mutiger Geist, dessen trotzige Kraft hervorbrach, wo immer die Möglichkeit war, kämpfend einzutreten gegen Niedrigkeit und Brutalität.

Braunschweiger, D. Die Lehre von der Aufmerksamkeit in der Psychologie des 18. Jahrhunderts. Leipzig, Haacke, 1899. (VII u. 176 S.)

Litteraturbericht. 251

Der Verf. behandelt das Problem der Aufmerksamkeit „zwischen den beiden Marksteinen in der Geschichte der Philosophie, Leibniz resp. Wolff einerseits und dem durch Aufstellung seines Kriticismus zum philosophischen Reformator gewordenen Kant anderseits“ (11). Er hat in gründlicher Arbeit mit grossem Fleiss das in der philosophischen Litteratur jener Zeit verstreute Material gesammelt. Um eine Übersicht über die Gesamt- leistung zu gewinnen, hat er jedoch nicht die Lehren der einzelnen Philosophen gesondert dargestellt, sondern einen Durchschnitt gegeben, ndem er das gefundene Material nach sachlichen Gesichtspunkten zu einem System der Lehre von der Aufmerksamkeit im Sinne der Psychologie des 18. Jahrhunderts zusammenstellte. Damit wurde der Vorteil einer zusammenhängenden Darstellung erreicht, während im anderen Falle der Leser zwar wohl erfahren würde, welches die Stellung der einzelnen Denker zu dem Problem gewesen ist (was bei dem einen oder anderen immerhin interessant wäre, sich übrigens mit Hilfe des sorgfältigen Registers leicht feststellen lässt), dafür aber sich in den weitaus meisten Fällen mit der Wiedergabe einiger dürftiger Bemerkungen begnügen müsste, Was speziell Kant angeht, so wäre eine zusammenhängende Darstellung seiner Lehre wünschenswert, zumal der Artikel „Aufmerksam- keit“ sowohl bei Mellin wie in Schmids Wörterbuch fehlt. In Braun- schweigers Buch wird Kant des öfteren eingehend besprochen ein Beweis, dass die bezeichnete Aufgabe nicht unfruchtbar sein würde, Einige der besonders interessanten Stellen seien hier in Kürze erwähnt: Über Kants psychologisches Interesse trotz seiner Gegnerschaft gegen die rationale und seiner Geringschätzung der empirischen Psychologie vergl. 8. 151. 8. 22f. finden sich Ausführungen über Kants Bekämpfung der in der Wolffischen Schule geläufigen Unterscheidung von Verstand und Sinn- lichkeit (oberem und unterem Erkenntnisvermögen) nach dem Gesichts- punkt der Deutlichkeit und Undeutlichkeit. Diese Unterscheidung steht in naher Beziehung zur Theorie der Aufmerksamkeit: Bei Wolff hat letztere die Aufgabe, Vorstellungen klar und deutlich zu machen, gehört also zum oberen Erkenntnisvermügen. Bei Kant ist sie kein blosses Ver- mögen, sondern eine Thätigkeit des Gemüts, das Bestreben, sich seiner Vorstellungen bewusst zu werden (88). Beachtenswert sind die Erörterungen über das Verhältnis von Abstraktion und Aufmerksamkeit (110—115), das verschieden aufgefasst wurde, bald als ein gegensiitzliches, bald aber auch so, dass die Abstraktion als Handlung der Aufmerksamkeit selbst erscheint, „Kant sieht in der Abstraktion nicht etwa blosse Unterlassung oder Versäumung der Aufmerksamkeit, sondern einen wirklichen Akt des Erkennt- nisvermügens, eine Vorstellung, deren ich mir bewusst bin, von der Verbindung mit anderen in Einem Bewusstsein abzuhalten“ (118). Eine dem Abstrahieren verwandte Erscheinung ist die einem absichtlichen Bestreben entspringende Zerstreuung. „Dieses Bestreben ist allerdings seinem Inhalte, Begriffe nach vielmehr ein Abstrahieren, doch finden wir gerade bei Kant zum Unterschiede von seiner Abstraktion die Bezeichnung distractio für unwill- kürliche und dissipatio für willkürliche Zerstreuung, welche er als Ab- kehrung der Aufmerksamkeit von gewissen herrschenden Vorstellungen durch Verteilung derselben auf andere ungleichartige bezeichnet, Dieses

:

252 Litteraturberieht.

willkürliche ‚sich zerstreuen‘ wendet z. B. ‚ein Geistlicher an, der seine memorierte Predigt gehalten und das Nachrumoren derselben im Kopfe verhindern will. Dieses ist denn auch z. T. ein künstliches Verfahren der Vorsorge für die Gesundheit seines Gemüts‘. Doch wird ausdrücklich davor gewarnt, sich nicht zu viel zu zerstreuen, um nicht ‚zerstreut‘ zu sein“ (141/2). Besonders spricht sich Kant aus diesem Grunde gegen das Romanlesen aus (142).

Kistiakowski, Th. Gesellschaft und Einzelwesen. Eine metho- dologische Studie. Berlin, Liebmann, 1899. (X u. 205 8.)

Eine höchst anregende Studie über die Methode zunächst der Sozial- wissenschaft. Die Behandlungsweise des Themas ist jedoch eine derartige, dass sie überall auf die allgemeinsten Grundlagen der Wissenschaftslehre zurückgreift und darum keineswegs bloss für den Soziologen Interesse hat. - Die Soziologie bietet eigentlich, infolge davon, dass es ihr noch sehr an einer Methode fehlt, nur die tauglichsten Beispiele zur Entwicklung der methodologischen Forderungen überhaupt. „Die moderne Soziologie steht ihrem inneren Werte nach nicht höher als die Astrologie oder Alchemie des Mittelalters. Sie ist eine einfache Übertragung fremder Ideenreihen auf das Gebiet der sozialen Erscheinungen* (44).

Platon hat die Analogie zwischen Staat und Mensch aufgestellt. Er hält die Ähnlichkeit für selbstverständlich und verzichtet darauf, sie zu prüfen. Das Gleiche gilt von Hobbes und Montesquieu. Erst im 19. Jahr- hundert geht man daran, die Vergleichung durchzuführen und ihre Geltung und Bedeutung zu untersuchen. Man operiert nicht mehr mit den speziellen Begriffen Staat und Mensch, sondern mit den generellen Gesellschaft und Organismus. Damit verschiebt sich der Schwerpunkt der Untersuchung von der ethisch-rechtlichen Bedeutung des Staates und seinen äusseren Merkmalen nach den funktionellen Eigenschaften und Thätigkeiten der Gesellschaft (20f). „Allein diese aktive Auffassung der Gesellschaft als eines lebenden Wesens, zusammen mit der Hineinziehung eines weiten Gebietes der sozialen Erscheinungen in die Untersuchung ist der einzige Vorzug der organischen Theorie. Denn die Bezeichnung der Gesellschaft als eines lebenden Wesens giebt eigentlich noch keine Aufklärung über dieselbe. Sie scheint eine nichtssagende Tautologie zu sein, weil das Leben der Gesellschaft als einer aus Menschen bestehenden Kollektivein- heit selbstverständlich ist. Probleme entstehen erst dann, wenn die Fragen aufgeworfen werden, worin die Eigentümlichkeiten dieses Leben bestehen, nach welchen Regeln oder Gesetzen es verläuft, und wie man die Substanz, in der das Gesellschaftsleben vor sich geht, definieren muss. Die Beant- wortung aber gerade dieser drei entscheidenden Fragen über die Natur der Gesellschaft durch die organische Theorie ist sehr mangelhaft und im höchsten Grade widerspruchsvoll“ (21). In eingehender Weise zeigt Kistiakowski die methodologischen Fehler der organischen Theorie auf, die das bereits mitgeteilte harte Urteil begründen, Gegenüber jener „Übertragung fremder Ideenreihen“, jener Ignorierung dessen, dass man „nur bildlich von einer Mechanik oder Physiologie des sozialen Lebens sprechen“ kann (48), wird der Begriff des sozialen Gesetzes entwickelt,

Litteraturbericht. 253

Von hohem Interesse sind die dann folgenden Erörterungen über die Be- ziehungen zwischen Staat und Gesellschaft. In diesen feinen Unter- suchungen wird der juristische Begriff des Staates dem gesellschaftlichen Begriff gegenübergestellt. Dieser Abschnitt bringt tiefgehende logische Auseinandersetzungen über die Lehre vom Begriff, Die Gesellschaft wird dahin bestimmt, dass sie in den inneren Vorgängen oder in dem gesell- schaftlichen Prozess selbst besteht; „nur die Menschen und die Wechsel- wirkung zwischen ihnen bilden die Gesellschaft“ (88). Die Hauptmomente dieses gesellschaftlichen Zusammenhanges hatte bereits Kant richtig bestimmt: es sind die entgegengesetzten Prozesse der Attraktion und Repulsion. „Kant lehrte schon, dass ebenso Anziehungs- wie Abstossungs- prozesse den Ursprung und die Natur jeder Gesellschaft bilden, und nannte den Zustand, der aus der gegenseitigen Wirkung dieser beiden sozialen Kräfte entstanden ist, die ungesellige Geselligkeit. Dem Antagonismus, der Ungeselligkeit und Unvertragsamkeit, wie er sich ausdrückt, schreibt er besondere Bedeutung zu, indem er auf sie das Hervortreten jedes Talentes und alles Eigenartigen oder alles dessen, was das Leben besonders wert- voll macht, zurückführt“ (86/7). „Aus diesen beiden ursprünglichen Grund- prozessen entsteht jede Gesellschaft, und hier tritt die Frage auf: Worin besteht die Einheit dieses neugeschaffenen Gesamtwesens?* (87). Auch zur Beantwortung dieser Frage hat Kant bereits einen wichtigen Schritt gethan, Er vergleicht (in der „Idee zu einer allg. Gesch. in weltbürgerl. Absicht“) „die Gesellschaft und die Beziehungen zwischen den Einzelnen in derselben mit einem Walde und den Bäumen“ (88) und weist damit darauf hin, dass es sich darum handelt, die Gesellschaft als eine „Kollektiv- einheit“ zu verstehen. Das giebt wieder zu ausführlichen logischen Er- örterungen Anlass, in deren Verfolg sich der Verf., der überhaupt in seinem ganzen Buche eine staunenswerte Belesenheit verrät, mit grossem Scharf- sinn mit den einschlägigen Theorien der Logiker, Soziologen und Statistiker auseinandersetzt. Als den charakteristischsten Zug jedes Kollektivwesens bestimmt Kistiakowski die Umwandlung des Charakters des isolierten Dinges. „Kant braucht seinen Vergleich der Gesellschaft mit dem Walde eben in diesem Sinne, indem er zeigt, dass die Bäume in einem Walde durch die Zusammendrängung und gegenseitige Verengerung der freien Ent- wicklung viel gerader und höher wachsen, ebenso wie die Talente und das Emporsteigen der einzelnen Individuen durch die gesellschaftlichen Antagonismen gespornt werden“ (182), Durch diese in Wechselwirkung erfolgende Umwandlung erst werden die Exemplare der zoologischen Species „Mensch“ zu Repräsentanten der Gattung Zÿor molrexér (184). Also nicht von Natur, wie Aristoteles sagte, „ist der Mensch ein gesellschaft- liches Wesen, sondern erst durch die Gesellschaft ist er ein solches geworden“ (140). Hingegen besteht Kants Wort zu Recht: „Der Mensch hat eine Neigung, sich zu vergesellschaften; weil er in einem solchen Zustand sich mehr als Mensch, d. i. die Entwicklung seiner Naturanlagen fühlt“ (140/1). Mit dieser Thatsache, dass der Mensch in der Gesellschaft sein Wesen verändert, stellt sich nun die Aufgabe, das aus der Wechsel- wirkung der Menschen entstandene Neue, die Gesamtheit, das Kollektiv- wesen selbst zum Objekt der Forschung zu machen, seine Funktionen und

954 Litteraturbericht.

Eigenschaften zu untersuchen. Wir gelangen damit zum Begriff des allge- meinen Geistes. Hier gilt es jedoch genau zu unterscheiden: Der allge- meine Geist bedeutet entweder ein Ganzes oder Kollektivum, zu dem sich die einzelnen Geister als Teile verhalten, oder aber er bedeutet eine Norm für alle einzelnen Geister und steht dann zu seinen Wirkungen in den individuellen Bewusstseinen im Verhältnis des Gattungsbegriffs. „Es ist zum Zweck der Erkenntnis unbedingt notwendig, bei der Erforsch- ung des allgemeinen Geistes die begrifflich so entgegengesetzten Gebiete desselben streng von einander zu trennen. Je nachdem, ob der Gesamt. geist in allgemeinen Gefühlen und Bestrebungen sich geäussert oder in den ethischen, rechtlichen, logischen und ästhetischen Vorschriften, die für alle in derselben Weise gelten, sich niedergeschlagen hat, sind verschiedene methodologische Gesichtspunkte für die Erforschung der sozialen Erschein- ungen erforderlich“ (155). „Diese Unterscheidung wurde auch früher in der Staatswissenschaft z. T. anerkannt, aber nur von den normativen Wissenschaften der Ethik und Rechtswissenschaft ausgenutzt ... Dagegen wurde die Unvergleichbarkeit der beiden Äusserungen des allgemeinen Geistes von der genetisch verfahrenden Wissenschaft ausser Acht gelassen. Nur hinsichtlich der Sittlichkeit tritt ihre prinzipielle Ausscheidung aus dem Komplex aller anderen psychischen Funktionen und Thätigkeiten schon bei Kant auf. Bei ihm werden die Imperative des unbedingten Sollens in den schärfsten Gegensatz zu dem ganzen Getriebe des natür- lichen Motivationsmechanismus gebracht. Hier liegt die tiefste Einsicht in die Art der Wirkung der zum allgemeinen Bewusstsein gelangten und niedergeschlagenen moralischen Werte ... Die moderne Psychologie folgt ganz den methodologischen Grundsätzen Kants, wenn sie das Auftauchen der Lust- und Unlustgefühle, die primitivsten Reflexbewegungen, die ersten Ausserungen des Willens wie die Entstehung der dunklen Wünsche und zuletzt sämtliche seelische Funktionen und Zustände im Individuum ganz unabhängig von allen ethischen Beurteilungen oder vom logischen Billigen und Missbilligen, nicht ihrem Werte nach, sondern in ihrem kausalen Zusammenhange als Erscheinungen für sich untersucht“ (156/8). Leider kann ich auf die sich hier anschliessenden ausserordentlich interessanten Erörterungen über Hegel und Herbart an dieser Stelle nicht näher ein- gehen; auch nur kurz hinweisen auf die vortreffliche Kritik des Begriffes „Volksgeist“, dessen methodologische Wertlosigkeit K. überzeugend dar- thut. Mit der abschliessenden Beantwortung der schon S. 87 aufge- worfenen Frage nach dem einheitlichen Charakter der Gesellschaft be- schäftigt sich der letzte Abschnitt des Buches. „Die Einheit der Gesell- schaft besteht in der Schaffung verschiedener Gruppen von Personen, die in ihrem Gefühlsleben assimiliert sind, und in der weiteren Ausgleichung zwischen diesen Gruppen. Dem Charakter der Einheit nach ist also der gesellschaftliche Geist, der die Gesellschaft erst zusammenbindet, dem Einzelgeist sehr ähnlich. Denn die Einheit des Einzelbewusstseins stellt sich uns zuerst als ein System von Vorstellungs- und Gefühlsgruppen dar, die nach bestimmten Gesetzen associiert und appercipiert sind, ausserdem aber noch durch übergreifende Beziehungen in innigen Zusammenhang geraten. Dem entsprechend hat die moderne Psychologie einen methodo-

Litteraturbericht. Zeitschriftenschau. 255

logisch ganz richtigen Weg eingeschlagen, wenn sie diese Bewusstseins- funktionen als solche und ihre blosse Assoziation ohne Seele untersuchen wollte. In ihren Spuren muss auch die Gesellschaftswissenschaft wandeln, indem sie sich die Erforschung des gesellschaftlichen Zusammenhanges ohne Staat und ohne alle äusserlich bindende Formen als Aufgabe stellen muss. Man darf jedoch nicht vergessen, dass das nur ein methodologisches Mittel . . ist, und es deshalb nicht erlaubt ist, etwa . . die Seele selbst ... zu leugnen“ (197/8). „Kant lehrte, dass die Synthese nicht in den Dingen selbst oder in den Beziehungen und Verhältnissen zwischen ihnen enthalten, sondern im menschlichen Bewusstsein als deren spontane Funktion be- gründet ist. Es giebt jedoch noch ein Subjekt, dem die Synthese als von ihm erzeugt und nur ihm angehörig zukommt, und das ist der Staat“ (199/200). Insofern ist die alte Analogie zwischen Staat und Mensch besser als die neue zwischen Gesellschaft und Organismus. Allein wissenschaft- licher Wert kommt solchen Analogien überhaupt nicht zu; sie verwischen nur zu leicht wirklich vorhandene Unterschiede und wirken dadurch den Absichten der Wissenschaft direkt entgegen.

Referent möchte nicht verfehlen, noch ausdrücklich darauf aufmerksam zu machen, dass der vorliegende Bericht die Aufgabe hat, die Beziehungen des Kistiakowskischen Buches zur Kantischen Philosophie zu charakteri- sieren, und darum nicht als eine hinreichende Skizze des reichen Inhaltes dieser wertvollen Schrift angesehen werden kann, deren geometrischer Ort doch nur an der Peripherie der Kantlitteratur zu suchen ist.

Zeitschriftenschau.

Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik (herausg. von R. Falckenberg). Leipzig, Pfeffer.

Bd. 115, 1 (1899). Paulsen, Noch ein Wort zur Theorie des Parallelismus. v. Hartmann, Zum Begriff der Kategorialfunk- tion. 9: Kants Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand. Busse, Jahres- bericht über die Erscheinungen der anglo-amerikanischen Litteratur der Jahre 1894/95. 28f.: In der Besprechung von J. Seth, „A Study of Ethical Principles“: Kants Freiheitslehre. 29: Unsterblich- keitspostulat. 84: In der Besprechung von Fowler, „Logic deductive and inductive“: Kants synthetische Urteile a priori. Neuendorf, LotzesKau- salitätslehre. 188: Gegensatz von Lotzes Kausaltheorie zur Kantischen. 45: Fichtes Kritik der Kantischen Kausaltheorie. 47f.: Kants Theorie des Erkenntnisprozesses. 78: Beziehungen des Lotzeschen Occasionalismus zu Kant.

Bd. 116, 2 (1900. König, Die Lehre vom psychophysischen Parallelismus und ihre Gegner. 172: Kants Lehre vom Substanz- begriff. Stern, Die Theorie der ästhetischen Anschauung und

256 Zeitschriftenschau.

die Association. Volkelt, Nachtrag zur „Psychologie der ästhe- tischen Beseelung.* Siebert-Corben, Das Verhältnis des hypo- thetischen Urteils zum kategorischen näher untersucht im Zweckurteil. 212: Kant. 216: Trend er Kantischen Relationskat ie. Tonnies, Zur Einleitung in die RE oe

R. a re von Woltmann, ,'

wusstseins“, , 264, 266, 268: Kant. Ries von Krue; „Der Begriff des absolut Wertvollen als Grundbegriff der PRE 272: Kant. Siebert, Besprechung von Müller, „System der 288: Kants Raumtheorie. Elsenhans, ee Steinbeck, „Das Verhältnis von A Sa ee eorie*. a Kant. Töwe, Besprechung von Lorenz, ,Entwicklungsgeschichte d. Metaph. Le haare 0a: (Kank =" Verländer, Bestterkung von, Hafferberg, „Sch Erläuterungen zur Kr. d. r. V.* hhorn, Besprechung von Romundt, „Die Verwandtschaft moderner Theologie mit Kant“. :

Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie (herausg. von P. N Leipzig, Reisland.

„4 ba get ee zu einer Theorie der Zeit- vorstellung. IV. , 892 ff, 899, 408f.: Kant. Diinges, Die Zelle als Individuum. Vierkandt, Bemerkungen zur Frage des sittlichen Fortschritts der Menschheit.

XXIV, 1. Cohn, Münsterbergs Versuch einer erkenntnis- theoretischen Begründung der Psychologie. Posch, Ausgangs- unkte zu einer Theorie ie Zeitvorstellung V. 87, 45: it. Riegel, Ueber einige Entdeckungen der Naturwissenschaft in ihyerherkenstnistheosetinch an. Wirkun ic ihr. Kant TapikeRmht Weltentstehungstheorie. 66: Kants naturwissenschaftliche Bildung. 57/8: G. Bruno und Kant. 68: Kant-Laplace’sche Theorie. Barth, Fragen der Geschichtswissenschaft: I. Unrecht und Recht der organischen Gesellschaftstheorie. 72: Kants Entgegensetzung des Organischen gegen das Mechanische. 78: „Innere“ und „äussere“ Teleologie nach Kant. 74: Kants Lehre von der inneren Teleologie be- einflusst durch Aristoteles’ Auffassung der Form. 75: Heuristischer Wert der Teleologie. 77f.: Übereinstimmung der Biologie mit Kants Definition des Organismus. 88ff.: Diese Definition Kants angewandt au! die Gesell- schaft. Riehl, Zum 17. Februar. Richter, Besprechung von Rickert, „Fichtes Atheismusstreit und die Kantische Philosophie“ („KSt,“ IV, 187 ff.).

Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik (herausg. von O. Flügel und W. Rein). Langensalza, H. Beyer & Söhne.

VI (1899), 2. Lobsien, Über den Ursprung der Sprache. Will- mann, Der Neukantianismus gegen Herbarts Pädagogik. Eine in der bekannten Art und Weise des Verfassers gegen Natorp gerichtete Polemik. 108: „Der Kantische Standpunkt, den Natorp bei seiner Kritik einnimmt, entbehrt solcher Vorzüge |se. „des bleibenden Wertes und der historischen Bedeutung“) durchaus, Es giebt kaum ein zweites Moral- system, das so sehr ein Kind seiner Zeit gewesen wäre und den Erkennt- nisschatz des Gebietes so wenig bereichert hätte, wie die Kantische Moral.“ Der Hauptinhalt des Aufsatzes besteht in verständnislosen Ausfällen Kants Lehre von der Autonomie. Im Jahre 1874 hat derselbe Will- mann Kants Pädagogik (herausg. v. Rink 1808) neu herausgegeben und mit einer ausführlichen Einleitung und mit Anmerkungen versehen; am Anfang seiner Einleitung zählt er Kants Werk zu den „wichtigsten päda- gogischen Schriften“. Um so komischer berührt es, wenn in dem vor- liegenden Aufsatz S. 106 zu lesen ist: „Eine Pädagogik Kants lässt sich ja der Herbarts schon darum nicht entgegenstellen, weil es keine solche

iebt und geben kann.“ Geyser, Die psychologischen Grundlagen es Lehrens. Barchudarian, Besprechung von Grot, „Die Grund- momente in der Entwicklung der neueren Philosophie“. 168: Kant.

Zeïtsohriftenschan. 257

VI, 4. Fligel, Just, Rein, Herbart, Pestalozzi und Herr Professor Paul Nat: a

1 orp. Sr Nato: Aufbau der Er uf tischer Grundlage, “Bade: jas Sittenpesetz als Norm des lens. 269: Kant und Copernicus. 270: „In Natorps Auslegung wiederholt Kant

le 279: Kants und Herbarts Ethik. : Autonomie des Willens und kate- ischer Imperativ. 812ff.: Autonomie des Willens. (Natorps ausführ- Hehe Antwort findet sich in der „Deutschen Schule“ III, 1899, H. 7 u. 8. Wir werden in anderem Zusammi über dieselbe berichten.)

VI, 5. Sehen, Traditionelle Lieder und Spiele der Knabe und Mädchen zu Nazareth. Agahd, Die Erwerbsfähigkeit schul- pflichtiger Kinder im deutschen Reich. Natorp, Entgegnung (Gegen die Flügelsche Kritik in Heft VI, 4).

VI, 6. Flügel, Kant und der Protestantismus (mit einem Nach- trag). Wir kommen auf diese Abhandlung zurück. @loatz, chung von Marcus, „Die exakte Aufdeckung des Fundaments der Sittlichkeit und Religion und die Konstruktion der Welt aus den Elementen des Kant“.

VII (1900), 1. Zillig, Zur Frage der ethischen Wertschätzun, mit Bezugnahme auf die Schrift von Dr. Felix Krueger: Der Beer des absolut Wertvollen als Grundbegriff der Moralphilosophie. L 3: einer Besinnung auf Kant beginnen die eigentlichen Untersuchi mit einer Besinnung auf Kant schliessen die überall zu ernstem Nachdenken anregenden Ausführungen der Schrift“. 4—8: Kruegers Kantkritik. 18: Kants Begriff des absoluten Sollens. 14: Kants „Form des Willens“ und Kruegers „absolut Wertvolles“. 17: Kants Begriff der Kultur, 18: Ein „innerer Vorzug der Schrift“ ist „die ehrliche Besinnung auf Kants Be-_ deutung für die Moralphilosophie; endlich ist die Schrift noch mittelbar ethisch wertvoll, indem sie . . . das Grundgebrechen der Ansichten der Neueren, ihre gänzliche Armut an ethischem Weri, gerade durch den

tz zu Kants sittlicher Auffassung erst recht zu Gefühl bringt.“ Tews, Heilpädagogische Anstalten. Kowalewski, Besprechung von Salits, „Darstel und Kritik der Kantischen Lehre von der Willens- freiheit“ und von Wartenberg, „Kants Theorie der Kausalität®.

Jahrbuch für Philosophie und spekulative Theologie (herausg. von E. Commer). Paderborn, Schöningh.

XIV (1899), 1. Glossner, Scholastik, Reformkatholicismus und reformkatholische Philosophie. Il. (Über Josef Müller.) 18: Kants Stellung zur Metaph 19: Kant u. Hegel. 20f.: Müllers Polemik gegen Kant. 32: Kants Scheidung der Empfindung in Materie und Form. 42: Gegen Kants Moralphilosophie. 48: Kants „Verstandesformalismus“ Mini, Das Wesen der Quantität, Commer, Fra Girolamo Savo- narola.

XIV, 2. y. Tessen-Wesierski, Thomistische Gedanken über das Militär. I. Grabmann, Streiflichter über Ziel und Weg des Studiums der thomistischen Philosophie mit besonderer Bezug- nahme auf moderne Probleme. 147: „Nicht die Rückkehr zu Kant, dem Philosophen des Protestantismus, wie dieselbe neuerdings dureh Vaihinger, Vorländer und Adickes proklamiert wurde, wird der im Argen lie, len deutschen Philosophie fi und Rettung bringen, einzig und allein der Anschluss an St. Thomas, den Philosophen des Katholicismus, bedeutet Rettung und Erlösung für die moderne Philosophie.“ Glossner, Zur neuesten philosophischen Litteratur. I. (Kuno Fischer, yer weg-Heinze, H. Wolff, Spicker, Braig.) 162, 165: Kant, 178, 180f.: Neu- kantianer, 181f.: Dogmatismus und Kriticismus. 188: Kants Ableitı der Kategorien und Ideen. 186ff.: Kategorientafel. 189f.: Grundsätze d. r. Verstandes. 198, 196: Kant. : Autonomie, Glossner, Ein zweites Wort an Professor Dr. Braig. 250: „Gerade die schmähliche Abhiingig-

1) Auch als Separatausgabe erschienen (Langensalza, Beyer, 59 8.) Kantstudien V. 17

schauung

RE ER TR TE mit Erfol aufnehmen à zu et SP | = XIV, 8. Quaestiones Quodlibetales. Ursache und Ver-

ursachtes. von Holtam, Die Natur der Seelensubstanz und ihrer Potenzen. Glossner, Zur neuesten Ge ee Litteratur. II. (T. Pesch.) 298: „Dem Naturforscher, der wahrhaft,

licher und ischer Bildung strebt, dürfte mit dem Studium von Peschs ,Institutiones Philoso] Naturalis‘ weit besser gedient sein, als mit dem Kants oder irgend neueren noch so ten Philoso] Me

von Miaskowski, Erasmiana. ARTE ie von Vorländers Aus-

be der Kritik der reinen Vernunft; Salits, Darstellung und Kritik der Kantischen Lehre von der Wil iheit; Lipps, Ethische A Marcus, Die exacte Aufdecku: les jament Sittlichkeit und

Deutschthümler, Über Schopenhauer zu Kant; Wartenberg, Kants Theorie der Kausalitat.

Philosophisches Jahrbuch (herausg. von C. Gutberlet). Fulda, Aktien- Druckerei.

IX (1896), 4. Schütz, Der Hypnotismus. Ue Die mathe- matischen Schriften des Nik. Giisnnus Bach, Zur Schätzung der lebenden Kräfte, I. 412, 417: Kant. Geyser, Die philoso- phischen Begriffe von Ruhe und Bewegung in der Körperwelt u. s. w. Besprechung der ,Kantstudien*.

XI (1898), 1. Gutherlet, Die „Krisis in der Psychologie“. Geyser, Der Begriff der Körpermasse. Pfeifer, Über den Begriff der Auslösung und dessen Anwendbarkeit auf Vorgänge der Erkenntnis. Dentler, Der Noös nach Anaxagoras. Bach, Zur Geschichte der Schätzung der lebenden Kräfte. IL

XII (1899), 2. Cathrein, Der Begriff des sittlich Guten. Geyser, Wie erklärt Thomas v. Aquin unsere Wahrnehmung der Aussenwelt? Svorcik, Übersichtliche Darstellung und Prüfung der philos. Beweise für die Geistigkeit und die Unsterblichkeit der menschl. Seele. 156f.: Kants moralischer Beweis. 160: Sones eee Kritik der Paralogismen. 168ff.: Gegen Kants moralischen Beweis. Bach, Zur Geschichte der Schätzung der lebenden Kräfte, IL 171, 172: Kant. Müller, J., Komik und Humor. Gutherlet, Zur Psychologie der Veränderungsauffassung. Gutberlet, Besprechung von Goldschmidt, „Kant und Helmholtz“,

XII, 8. Straub, Kant und die natürliche Gotteserkenntnis. I. Wir werden auf die Abhandlung zurückkommen.) Rolfes, Moderne

nklagen gegen den Charakter und die Lebensanschauungen Sokrates‘, Plato's und Aristoteles. Bach, Zur Geschichte der Schätzung der lebenden Kräfte. IV. -— Mausbach, Zur Begriffsbe- stimmung des sittlich Guten. L 818: Kants kategorischer Imperativ, Schanz, Besprechung von Lipps, „Die ethischen Grundfragen“. Braig, Eine Antwort (an M. Glossner).

XU, 4. Gutberlet, Zur Psychologie des Kindes L

Die Nachwirkung von Gundissalinus’ „de immortalitate animae".

Zeitschriftenschan. 259

Straub, Kant und die natürliche Gotteserkenntnis. IL Maus- bach, Zur Begriffsbestimmung des sittlich Guten. II.

XIII (1900), 1. Ziesche, Die Lehre von Materie und Form bei

Bonaventura, Gntberlet, Zur Psychologie des Kindes. II. Die Lehre des hl. Hilarıus von Poitiers (und Tertullians) über

die Entstehung der Seelen. Deshl. Augustinus Lehre über die Sinneserkenntnis. I fi Besprechung von Ziegler, „Glauben und Wissen". 11: Kants Kritik der Gottesbeweise. Adlhoch, Besprechung von P. Stern, „Einfühlung und Association in der neueren Ästhetik“. #7 u. 79: Kants Lehre von Subjektivität des ästhetischen

Urteils. Gutherlet, Besprechi von F. Schulze, „Stammbaum der Philos“. 82f.: ee ee und Metageometrie.

484: Kants Postulate d. pr. V. Cogswell, The Classification of the Seiences. Watson, Besprechung von Shadworth Hodgson, „The Metaphysics of Experience“. 514: Kant, Sharp, Besprechung von Eleu- Gherepulog: „Klik der rein ati ‚gesctessband in Ver fine Kants Rechtsphilosophiet.

VII, 6. Ladd, The Philosophical Basis of Literature. 577: Kant. Caldwell, v. Hartmann's Moral and Social Philosophy. IL The Metaphysic. Davies, The Concept of Substance. 605, 608, 619, 616ff,: Kants Substanzbegriff (bes. erste Analogie d. Erf. u. erster Paralogismus). Singer, Besprechung von Renouvier, „La nouvelle monadologie“. 641: Kants sittliches Ideal. Taylor, Besprechung von Barth, „Fragen der Geschichtswissenschaft". 646: Kants Lehre von Frei- heit und Naturgesetzlichkeit. Tufts, Besprechung von Goldschmidt, „Kant und Helmholtz“,

IX (1900), 1. Mead, Suggestions towards a Theory of the Philosophical Disciplines. Thilly, Conscience. 24: Kant. Heidel, Metaphysics, Ethics and Religion. Paulhan, Contempo- trance h Fhilnsophr. 46 Bat: Reno dent der Net UE

IX, 2. Me@ilvary, Society and the Individual. 185: Indivi- dualismus bei Kant. Rogers, The Hegelian Conception of Thought. I.

Self-Love and Benevolence in Butler's Ethical System. 170f. ants Antieudämonismus. 183: Übereinstimmung Butlers mit Kant. = ae Selbstanzeige von „The Relation between Human Consciousness and its Ideal as Conceived by Kant and Fichte“ („KSt.“ IV, 286ff.).

The Monist (Editor: Dr. P. D Chicago, The Open Court Publ. Co.

X, 1 (1899). Cornill, The Polychrome Bible. Green, The Poly- chrome Bible. Carus, The Bible. Lioyd Morgan, Psychology Budithe:Ngo.- Sergi The Man of Genina;— dre: a Deraan of Philosophy in France. 181: Neokriticismus. Besprechungen von Salits, ,Darstellung und Kritik der Kantischen Lehre von der Willens- freiheit“, Lipps, „Die ethischen Grundfragen“, W. M. Washington, „The Formal and Material Elements of Kant’s Ethics“,

X, 2 (1900). Le Conte, A Note on the Religious Significance of Science. Hering, On the Theory of Nerve-Activity. Bruce Halsted, De Morgan to Sylvester. Keyser, On Psychology and Metaphysics. Being the Philosophical Fragments of B. Riemann. 2084: Antinomien. 214: Kant. Suzuki, Agvaghosa, the First Advocate ohtheMabayane Buddhiem. Caras, the Pood of Lite and the Sacrament.

17*

260 Zeitschrittenschau, Journal of Ethics (Editor: 8, Burns Weston). Philadelphia,

1805 Arch St, 1 (1899). Sidgwick, The Relation of Ethics to Sociology. Dar American Democracy a Religion. e

Moral Aspect of Consumption, Smith, The Ethics of Religious

Conformity. Henry, The Futility of the Kantian Doctrine of

Ethics. Vgl. oben Seite 232. Mae The Peace that Cometh of

Haas tendine: A en for Necessitarians. da Hus-

von Sullivan, ity as a ion‘ : Kant.

panei Chapman, The Ende of the Indestrial Organism.

Wi The Historical and Ethical Basis of Monogamy.

Robertson, The Ethics of Opinion-Making. 185f.: Kants zum

i Fr m Cultus, Rashdall, The Ethics of For iveness. TREE = e Rights of Animals. Thil e Moral Law.—

Bes yang von Miss Churton's pei Übersetzung von Kants

+ Pa

Mind Pas G. F. Stout). London, Williams and Norgate. jew Series. VIII, 82. October 1899. Hodgson, Psychological Philosophies. Spiller, Routine Process. Tönnies, Philosophical Terminology, IL 475: „Kant, who recoined the Veran for his ends with the test freedom, still remained to a Ii extent dependent upon what he had received from the books of the Wolffians, as we may see it of adding the Latin rendering in a parenthesis to the German term.“ 488: Kants Begriff der regulativen Idee. Stratton, The Spatial Harmony of auch and Sight. Me Ewen, Kant's Proof of the Proposition, „Mathematical Judgments are One and All Syn- thetical*. (Vgl. die Selbstanzeige oben 8. 128.)

New Series IX, 88. January 1900. Stout, Perception of Change and Duration. Sidgwiek, Criteria of Truth and Error. 18. ff: Kants Ablehnung eines allgemeinen Kriteriums der Wahrheit. 17 f.: Kants „Grenzbestimmung“. Bann A Defence of Phenomenalism in Psychology. Tönnies, Philosophical Terminology, II 50£.: Die Kr. d. r. V. u. die philos. Terminologie. Knox, Green's Refutation of Empirioiem. 71: Kante Lehre, „that the understanding makes nature.“ Mae Coll, Symbolic Reasoning. III. Le Marchant Douse, On Some Minor Psychological Interferences.

Revue de Métaphysique et de Morale (Secr.: M. X. Léon). Paris, Colin & Cie.

VII (1899), 5. Le Roy, Science et Philosophie (Suite). 551: Aprio- rismus. Chartier, Sur ld Mémoire, LIL Wilbeis, La Méthode des sciences physiques. I. ;

VIL, 6. Dunan, Déterminisme et Contingence. 655ff.: Ding an sich. 657ff.: Gegen Kants Trennung von Ding an sich und Erscheinung. 668f. Raum und Zeit. Russell, Sur les axiomes de la Géométrie. Le Roy, Science et philosophie (Suite).

VIII (1900), 1. Brunschvieg, La vie religieuse. Contu Sur une définition logique du nombre. Le Roy, Science et Philo- sophie (Suite et fin). Poinearé, Sur les principes de la Géométrie 151: Kantianer. Lechalas, À propos de la Nouvelle Monadologie (Renouvier).

Revue Néo-Scolastique (Dir.: D. Mercier). Louvain, 1, rue des Flamands. VI (1899), 3. Nys, Etude sur l'Espace. 284: Kant. DeMunnynek, L'hypothèse scientifique. I. De Craene, La Connaissance de l'Esprit. Kanfmann, La finalité dans l'Ordre moral. I. VI, 4. De Munnynek, L'hypothèse scientifique. IL Kaufmann, La finalité dans l'Ordre moral. II. Mercier, La Notion de la Vérité. 888: Kriticismus. 885: Kants Subjectivismus, Van Roey, L'in-

Zeitschriftenschau. 261

fluence du Kantisme sur la Théologie protestante. 404—406: Durch seinen Subjectivismus ist Kant der des Protestant

407—411: Flüchtige Skizze einiger theolo, en Schulen: Herder und Schleiermacher, die Hegelschen Schulen (Baur, Feuerbach, Hase), Ver-

PE Ritschl wird nicht

(1900), 1. Mercier, Le bilan AR EU du XIXe siècle. 1.8: Kants Einfluss auf V. Cousin. 11 ff.: Kants i 16: Neukantianismus. 20f.: Kantianismus und Positivismus. 22: a 28f.: Kants Phinomenalismus. 29.: Fries, Bouterwek, Herbart. Piat, La Substance d'après Leibniz. 57: Kant. Legrand, Deux pré- curseurs de l'idée sociale catholique en France. De Maistre et de Bonald. Walgrave. Kant et saint Thomas. Bericht tiber Paulsen, „Kant der Philosoph des Protestantismus“ „KSt.“ IV, 1ff. Ws Aus- führungen schliessen mit den Worten: „Seul, saint Thomas peut tenir tête au Kantisme, Ja néo-scolastique au eritieisme, car seule la néo-scolastique possède des cadres assez larges pour faire place dans sa synthèse aux recherches scientifiques, sans affaiblir en rien la puissance organique de ses doctrines fondamentales“ (104). De Craene et D, Mercier, Le com- mencement du siècle.

Revue Thomiste (Dir.: R. P. Coconnier, O. P.) Paris, 222, Faubourg Saint-Honoré.

VII, 4. Sehlineker, L'Averroïsme latin au XIILe siècle. Darley, L'Action de la Volonté libre et la Conservation de l'Énergie. De Munnynek, Encore la Conservation de l'Énergie. Fo Jugement et Vérité, Gardeil, Les Ressources du Vouloir. m Le Transformisme et le programme officiel de Palé- SE Mandonnet, Jean Tetzel.

Vil, 5. Pégnes, Du rôle de Capréolus dans la défense de Saint-Thomas. Froget Les Dons du Saint-Esprit. Montagne, Origine de la Société. Baudin, L’Acte et la Puissance dans Aristote (suite), Besprechung von Vorländers Ausgabe der PE d. r. V, mit dem nara ters Zusatze: Are catho- iques ni t pas que In Critique de La Raison pure est à UInden“

vit 6. Hurtaud, Lettres de Savonarole aux princes chré- tiens pour la réunion d'un Concile. Sehlincker, Une nouvelle critique des dix catégories d'Aristote. 675, 678, 682, 689: Kant. Folghera, La notion: de la Vérité. Hngon, Les vœux de religion contre les attaques actuelles.

Annales de Philosophie Chrétienne (Directeur: M. l'abbé Ch. Denis). Paris, Roger et Chernoviz.

67e Année. Juillet 1897. Ch. Huit, Le Platonisme pendant la Renaissance. de Margerie, La philosophie de M. Pouillée.

Août 1897. Thonverez, La philosophie de Spir, 586 fi Lehre von Raum und Zeit. Grosjean, Besprechung von Cress morale de Kant“.

Septembre 1897. de Margerie, La philosophie de M. Fouillée.

68° Année. Janvier 1898. ae la Barre, 8. J, Points de départ scientifiques et connexions logiques en physique et en méta- physique. Comte Domet de Vorges, Les certitudes de l'expérience,

Févr.-Mars 1898. Fénart, Michel, La critique kantienne de toute morale matérielle!) Der Verf. sucht ÇA die Unrichtigkeit der Kantischen Behauptung, dass alle materiellen Bestimmungsgründe des Wollens eudämonistisch seien, darzuthun; die Argumentation stützt sich

. 1) Von demselben Verf. findet sich in der gleichen Zeitschrift XXXVIIT, 3 (1808) ein Artikel über „La Theorie Kantienne de la Liberté, und XXXVI, 5-0 (1898) ein solcher über „Les Postulats de la Raison Pratique“. Die betreffenden Hefte sind uns leider nicht zugegangen. elbe ist der Fall mit dem Aufsatz vou A. Potvin, Kantisme et réalisme (Oc

1807)

243 Leitschriftenschau

auf Thatsachen der Payrnoiogte. Weiter aber sell: Fenar den Sax auf dass =3 aicht einmal rehtig sei. den Eodamonismos Sir ınzeeizmer zur Begrimiung der Morai zu halten uni sucht denseiben ‘dures Vezedunz des Begriffs der Glickseiigkeit zu beweisen Bea La iesciae+ rule Dis Abhandunz nimmer mehrfach auf Kame Bezug Wir citieren ‘nigemie schöne Meie: „. . ia morale moderne est un soleil Jui ser eve a Benissberz mais on ne reconnait pas assez qu'il avait In ‚ieja en Gailiee Limperatif racégoriine. imi aussi doit pouvoir ètre erize en maxime ımi- verselle. la morale est desormais la zrande niveleuse. Ü sembie em ume que depuis Rance ia sensibilité morale je l'homme se scit afinee. mie tourne plus wolontiers vers le dedans poar éeoater La Toix de sa omscence et 3a nm sit devenne » dstinete ... Loimactif moderne enremt qe voix qui ini parie plus bast que cous les autres motifs et „= rare par cette question: Sil ns avait 1e des êtres comme toi ju atviemirat- il de l'humanité '* 3401. P. Bimet. La morale de Descarses Fig La vie de L'esprit Ben Bexprechung von Boutrorx. ~Emnies d'histoire de ia philosopaie~.

Avril 1596 Cremie. à un p> ilosophe „ui a demiaire . ex:- stenre de Dieu Leroy. Le mouvement rdéaliste <e:22 WA Fouillée. Ermem. Nécessicé de l esprit critique en 5223+3312 Die Abhandlang. Le mehrfach auf Kant Bezuz nimmt. behandeit tie Page nach der Méglichkeit der Erkenntnis der Dinze an sich Bes Bespreca- ung von Milhaad. „Le ratinnnel-.

Durrh tie ganze Rethe der genannten Hefte ziehe ach eine Around phiqne a Christian isme.iı Der Ausgang<punkt des Verfassers =

mang erwähnt Août 1597. 5 S 564). Beachtenswerte Bemerkunzen iner en Wissen»chaftibegriff des mit Pseudoscholastik verquickten Preuiokanzunis- mus finder sich Janvier 1996 S 451 Die T mz der Artikeisere = der Sachweis. dass die katholische Apologetik nar zew.ııeı kann. wenn sie sich die Errungenschaften der myderı=zu Philosophie zu Nutze macht „Les mots sabjectivisme. kantisme. idéalisms. ont la magique puissance de mettre certains écrivains ati inımes au désespoir. Ils montrent par la qu'ils nont pas la momidre n:cecn de l'esprit philssophique*. 30 spottet Denis schon im 2 Kapitel sAcds IWW“. S. 53 and ähnlich klingt der Sekluwabsehnitt (Février-Mars 1386. S. 637 ff: der immerhin bedeutsamen Kundgebung der originellen V erfissers. Die Aufsätze von Denis sind auch separat in emer Buchausgabe erschienen bei F. Alcar in Paris 14 Fres.. Einer Ankündigung dieser Buchazsrabe entnehmen «ir folgende bemerkenswerte Charakteristik des Werkes

„Le problème religieux na jamais été débattu avec plus tac ccention

ue dars ces derniers temps. MM. Balfocr. Brunetiére. Scailles. A. Sabacer.

Mary. Arreat. L Dugas. Eocken. 6. Blondei G Govau Ficsertre, ete. ste. cnt donré de solutions souvent contradictoires. mais Deaımıias trés remamuables et sui révélent la perplexité des esprits.

U restait aun précre catholique. bien placé pour cena les opinions en corflic. exprimät la doctrine de l'Egl:se en se mettast Zettement sur le terrain de ses ,antagoaistes. On remarjcera comment l'abte Denn dégaze Vidde cethedoxe is Surzaturel des confusions fréyientes iat Vobscurcissen: et .2: la mé:rnnaissent

Avec l'asbé Denis. ce jue Renan a : La „eritigue“. Fezetre + as l'étude Poise Poi ue da CEnstianisme nel à et Li n'apparait pe celui-ci sen portera plus mal! Son travail est évidemment ie Eu rat

N Wir maciec toi dieser Geisgeabeis auf cin- in demseiben Geist geschnûüeme Broschére vin Devis aufmerksam: „Le Surnaïures ses abus 2€ on contre fans Las Ua Littérature. a Phi:-sopr:- == la Science “CS MPOTAÎNES" Bulletin de ‚a Ligue aa mai» eoutre [’A:zheisme, Pesrier 1898. Lise Abba !lınz ist erschiener im Verlag von Jmeph André et Cie. in Paris.

Zeitschriftenschau. 263

d'un grand effort d'adaptation du Dogme orthodoxe aux méthodes philoso- phiques contemporaines.“ 69e Année, Avril 1899. Cronslé, Les égarements du bon sens public à propos de ,l'Affaire*. de Stoleisme et chri- stianisme. Sonry, Le sens des couleurs dans la série or, anique. Thonve La vie de Descartes d'après Baillet. I. a Gin, Le en ei la science. =, En ee LD Mai 1899. Festugiére, Kant et le problème religieux. ii Artikelserie (vgl. Juin und Août 1899) giebt zuerst einen Überblick über den Entwicklungsgang der Kantischen ilosophie mit starker Betonung seiner Kontinuität. „Voilä peut-être au point de vue ont et artistique la plus grande beauté de l'œuvre de Kant: il a réalisé les progrès de son génie la loi de continuité“ (180). Es folgen dann we Analysen us, ‚On

folgender Schriften: Betrachtungen über den Optimismus, ig möglicher Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, Über das Miss- lin; aller philos, Versuche in der Theodicee, Das Ende aller Dinge. welt corbien it, en vieillissant, s'était rapproché de la religion chrétienne, comme aussi il en avait bien saisi l'esprit et comme à son contact il s’etait adouei. Il atténue sa doctrine refrognée du devoir pénible et de la vertu chagrine; il revient à une morale moins tendue, moins contractée, si l'on peut dire, plus humaine et par suite plus vraie. Il reconnait que l'on ale Aroit et le besoin d'aimer son devoir, que la loi du devoir peut devenir une loi d'amour; et loin de regarder cet amour comme la négation vertu, il comprend enfin qu'elle en est au contraire le complément néces- saire, l'entier épanouissement, Car si la crainte et le respect sont le commencement de la sagesse, l'amour seul peut en être la fin“ (Août 1899, 8,602). Leseeur, Les phénomènes spirites, Thouverez, Le vie de Descartes d'après Baillet. II. de Margeri Stoïcisme et christia- nisme. II. Griveau, Le vertige esthétique en face de la nature.

Juin 1899. Grosjean, Les fondements philosophiques du

socialisme, I. Huit, Le platonisme dans les temps modernes. de

, Stoïcisme et christianisme. Charaux, Le beau, l'art et la pensée. Laberthonniere, Les idées et les hommes: la vie de l'esprit et le catholicisme.

Juillet 1899. Lechartier, Les principes des morales contem- oraines. I. 876 ff.: Kant. 888 ff,: Renouvier. Li nt, L'apologétique ans les oraisons funèbres de Bossuet, Aux, e surnaturel et

la science. Denis, Un programme épiscopal.

Août 1899. Lechartier, Les principes des morales contem- oraines. 615: Kant, Comte de Verges, evue des Revues. 590:

Besprechung von Paulsen, „Kant der Philosoph des Protestantismus* (,KSt * IV, 1 ff). Sept. 1899. Eacken, La conception de la vie chez S. Au- ustin, (personne eines Abschnittes aus den „Lebensanschauungen Sn Denker) Remy. Le lobo frontal eed DER RES Piat, L'influence de Socrate. Leseeur, De la valeur apologétique des faits surnaturels. Denis, Les contradicteurs de Lamennais. 70° Année. Oct. 1899. Denis, Les soixante-dix ans des Annales. Seyer, Le spinozisme de Malebranche. Bernardin, Une nou- velle étude sur Voltaire. Lechartier, Théodore Jouffroy d'après M. Ollé-Laprune, Novembre 1899. de la Barre. La morale de l'ordre. I, Huit, Le Platonisme dans les temps modernes, III. Grosjean, Les fondements philosophiques du socialisme, VL Décembre 1899. Bazaillas, Une réaction contre l'intellec- tnalisme (Ollé-Laprune). 269f.: Kant. Ferrand, Mémoire, sensibilité et conscience. Lesewur, Ceux qui ne croient pas au miracle, Denis, Les contradicteurs de Lamennais, IV. 888f.: Kants Lehre vom Primat d. prakt. V. Bulliot, Les données immédiates de la con- science (Bergson).

264 Zeitschriftenschau. Sonstiges neu Eingegangenes.

Janvier 1900. Besse, Théologie et évolution. Laberthonnière, Pour le Dogmatisme moral. 425: Kant. Prévost, Connexité des phénomènes Te Occultisme, spiritisme et magnétisme vi Bes ung von Naville, „Les

i ‘ies négatives“. 482f.: Kants Ethil

Février 1900. Thouverez, La vie de Descartes d'après Baillet. VI. Grosjean, Les fondements philosophiques du socia- lisme. VIL Denis, Les contradicteurs de Lamennais. V.

Fran Filozofiezny (Philosophische Rundschau). Warszawa, ulica za 46,

IL, 4. Kozlowski, Psychologische Quellen Aigen Natur-

esetze. II. 7: Kants Raumtheorie. 11: Kants Lehre von den afficiren- len Gegenständen. 12: Raumtheorie. 18: Kant und Renouvier. 25: Kant. Grabski, Einleitung zur Methodologie der politischen Ökonomie. II. Balicki, Die sociologischen Grundlagen des Utili- tarismus. Kozlowski, Selbstanzeige von „Schillers Philosophie und das Gedicht Die Künstler.“

DI, 1. Rubezynski, Neuplatonische Studien. Abramowski, Einige Worte zur Methode des Studiums psychischer Einheiten. Zeromski, Briefe von Trentowski an Lelewel und an Kröli- kowski. Hoyer, Die Bedeutung der anatomischen Elemente des Nervensystems.

Ceskä Mysl (Der tschechische Gedanke) (herausg. von Fr. Cäda, Fr. Drtina, Fr. Krejei). Prag, Laichter.

der beige! französischen Inhaltsangabe enthält das erste Heft dieser neugeg.ündeten tschechischen Zeitschrift die folgenden Auf- sätze: Vorwort der Redaktion. Hostinsky, Über experimentelle Ästhetik. Kramir, Die Grundlagen der Metaphysik. Krejel, Plauderbriefe über die Philosophie der Gegenwart. Radl, Über die tschechische Naturphilosophie,

Sonstiges neu Eingegangenes.

tz, K. 0. Einführung in die moderne Psychologie I. Osterwieck (Harz), Zickfeldt 1899.

Bollack, Leon. La Langue Bleue. Paris, Bolak 1899.

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Sonstiges neu Eingegangenes. 265

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268 Bibliographische Notizen. Korrekturen zu Kant.

Bibliographische Notizen. Dr. Ettore G. Zoccoli hat eine italienische Übersetzung der beiden i hauers veranstaltet (M Vincenzi an i, 1898). In ausführlichen Einleit Beyer, e auch a Beziehungen Schopenhauers zu 3 ie Kantische Frei- heitslehre ist (S. 41ff.) sehr eingehend und ee ach

terisieren folgende Worte (I, 17): „Durch den gigantischen Geist Kants ist die Philosophie auf eine Entwicklw: fe gebracht worden, von der man sie nicht mebr herabstossen kann. Wie immer die weitere Entwick- lung des philos. Denkens verlaufen mag, Kants prinzipieller Standpunkt der philosophische Kriticismus kann so wenig m ignoriert werden, als ein Astronom heutzutage noch auf das ptolemäische m zurück- zugreifen vermöchte. Kant hat durch seine Geistesthat der Philosophie eine wenn auch langsame Fortentwicklung gesichert.“ Als No. IIT der „Studien und Skizzen“ ist kürzlich erschienen: „Über das Problem der an- borenen (apriorischen) Vorstellungen“, eine fast zu populär gghalteng usführung über dieses wichtige Grundproblem. Der Vert. weist die ange- borenen Vorstellungen im Sinne Descartes’ mit den schon von Locke ent- wickelten Gründen zurück, hält aber fest an den apriorischen Vorstell: im Sinne Kants: Es gibt keine Vorstellvngsinhalte, welche nicht aus Erfahrung gewonnen würden, dagegen gibt es Vorstellungsformen, welche als unmittelbare Functionen unserer Organisation anzusehen sind.

In dem beachtensweiven Werke von Léonce Ribert, Essai d'une philosophie nouvelle suggérée par la Science ais, F. Alcan 1898) findet sich S, 40ff. eine eingehende Besprechung der Kantischen Antinomienlehre. Speziell die 1. Ant. wird ei end zu en gesucht. Die Erbschaft der Kantischen Anschauungsformen will der Verfasser nur cum beneficio inventarii antreten; dagegen den Verstandesformen will er reellen Wert zuschreiben, Die Kantische Freiheitslehre, sowie dessen Kosmogonie werden 817 ff, und 489 ff. kritisch besprochen; ebenso der kategor. Imperativ S. 809 ff.

Korrekturen zu Kant. Von A. Riehl.

Kritik der reinen Vernunft. A. 102 (Z. 4 v. u.) muss es heissen, „so gehört die produktive Synthesis der Einbildungskraft“ statt, wie die Ausgaben haben, „reproduktive“; nur jene gehört zu den transscen- dentalen Handlungen des Gemüts.

A 124 lese ich (2. Absatz, Z. 8) „Vermittelst deren bringen wir das Mannigfaltige der Anschauung mit der Zeit einerseits und mit der Be- dingung der notwendigen Einheit der reinen Apperception andererseits in Verbindung“ und beziehe mich dafür (abgesehen davon, dass die gewöhn- liche Leseart falsch konstruiert ist) auf S. 128 unten „alles Bewusst- sein gehört ebensowohl zu einer allbefassenden reinen Apperception, wie alle sinnliche Anschauung als Vorstellung zu einer reinen inneren An- schauung, nämlich der Zeit“.

Korrekturen zu Kant. Mitteilungen. 269

B 182 ist das: und in der folgenden Stelle falsch gesetzt; es muss

m. E. gelesen werden „weil sie dasjenige Selbstbewusstsein ist, was, in-

dem es die Vorstellung: Ich denke hervor] die alle anderen muss

iten können, in all Bewusstsein ein und ist und von keiner

iter begleitet werden kann“ statt des bisherigen Textes „und in allem etc."

ne Originalausgabe, S. 96 in der Anmerk. zu 95 muss es heissen: le sind also Grössen“ statt „grösser“.!

8.165 (Z.8 v. u, Erdmanns Ausgabe) muss es heissen „eines einfachen immateriellen Wesens“; denn S. 170 letzte Zeile steht richtig: „Wir sollen uns denn also ein immaterielles Wesen etc.* statt dessen drucken die A ben „einfachen materiellen Wesens*.

ich lese ich S. 141 „so kann die Frage, ob die Körper in der

Natur (als Erscheinungen des äusseren Sinnes) ausser meinen Gedanken

als Körper existieren, ohne alles Bedenken verneint werden“. Die Leseart

„ohne alles Bedenken iu der Natur verneint werden“ giebt keinen Sinn.

„in der Natur“ ist eben aus der Zeile gesprungen. ann man auch lesen „ausser meinen Gedanken in der Natur als Körper“,

Mitteilungen.

Erdmanns Ausgabe der Kr. d. r. V. in neuer Gestalt.

Benno Erdmanns Ausgabe der Kr. d. r. V. ist in 5. „durchgängig revi- dierter* Auflage erschienen und zwar im Verlage von Georg Reimer in Berlin (Auflage 1—4 waren von L. Voss in Hamburg verlegt worden). Da auch die neue Gesamtausgabe der Werke Kants, welche von der Akademie veranstaltet wird, in demselben Verlage erscheint, könnten Unkundige leicht zu der Meinung verführt werden, diese Ausgabe der Kr. d. r. V. von B. Erd- mann bilde einen Bestandteil jener Gesamtausgabe, um so mehr als ja bekannt ist, dass die Kr. d. r. Ÿ. auch in dieser Gesamtausgabe von dem- selben Herausgeber redigiert werden wird. Vor diesem Irrtum bewahrt den Kundigen aber schon ein Blick auf die Lettern: Die neue Gesamt- ausgabe der Akademie wird in Fraktur, d. h. in deutschen Lettern gesetzt, dagegen die nun schon in 5. Aufl. erscheinende Erdmannsche Ausgabe der Kr, a r. V. ist in Antiqua, d. h. in lateinischen Lettern gedruckt. Diese ist also offenbar ein selbständiger Vorläufer für jene.

Diese 5. Auflage der Erdmannschen Edition der Kr. d. r. V. ist aber kein blosser Abdruck der 4 vorhergehenden. Im Gegenteil: dieselbe ist nach verschiedenen Seiten gründlich umgestaltet worden.

rdmann hat mit staunenswertem Fleiss die beiden ersten Original- auflagen nochmals durchgängig, in einzelnen Abschnitten ausserdem noch die 8., 4. und 5. Originalausgabe verglichen. Die Mühe, der er sich damit unterzogen hat, ist nicht ohne interessante Resultate geblieben. Erdmann hat bei seiner Arbeit gefunden, dass die Überlieferung, die 8. bis 7. (letzte) Original- auflage seien sämtlich der zweiten nachgedruckt, falsch ist: vielmehr ist jeder dieser Auflagen lediglich die unmittelbar vorhergehende zu Grunde gelegt worden ein Verfahren, das zur Folge hatte, dass sich in jede Neuauflage einige neue, wenn auch nicht sehr bedeutende Mängel einschlichen, die sich dann in die folgenden forterbten. Da nun Rosenkranz, Hartenstein, v. Kirchmann, Adicts Vorlinder fir den Text der 2. Auflage auf den (irriger- weise für damit identisch Ba) Text der 5. Originalausgabe zurück- gingen. ist os gekommen, dass sie in thre Editionen mehrfache Ungenauig- eiten aus der 8., 4. und 5. Auflage herübernahmen.

Eine weitere Frucht der neugemachten Kollation von At und A? (so bezeichnet Erdmann die beiden ersten Auflagen, die man sonst öfters als A und B unterscheidet) ist folgende: alle sprachlichen Einzel-Differenzen zwischen den beiden ersten Originalausgaben hat Erdmann in der vor-

270 Mitteilungen.

liegenden neuen Publikation zum‘ erstenmal auf Grund exakter Durch- forschung vollständig aufgezeichnet. oo

Ferner hat sich Erdmann der mühsamen und entsagungsvollen Arbeit unterzogen, die sämtlichen von den Herausgebern in ihre Texte aufge- nommenen und von den Emendatoren vorgeschlagenen Änderungen mit alleiniger Ausnahme der „gänzlich gegenstandslosen“ in dem Anhang zur Textrevision aufzuführen, um alle diese Vorschläge „für den kritischen Leser nutzbar zu erhalten“ (Vorwort S. V). Der Anhang hat infolgedessen die Stärke von 115 Seiten erhalten; er ist dieses grossen Umfanges halber als selbständige Broschüre veröffentlicht worden unter dem Titel: „Bei- träge zur Geschichte und Revision des Textes von Kants Kritik der reinen Vernunft. Anhang zur fünften Auflage der Ausgabe von Benno Erdmann“ (Berlin, G. Reimer, 1900).

Der erste die Geschichte des Textes behandelnde Abschnitt dieses Anhanges giebt genaue Mitteilungen über das Verhältnis der Original- ausgaben zu einander und bringt insbesondere den Nachweis, dass sich Kant thatsächlich bloss um die beiden ersten Auflagen dieses Werkes be- kümmert hat, wie schon Hartenstein richtig vermutete, dass hingegen die Rosenkranzsche Meinung falsch ist, die 5. Auflage sei „besonders zu be- nutzen, weil sie die letzte war, die unter Kants Auspicien gedruckt ist“ (Rosenkranz in Kants Werken III, S. XVI). Der übrige Inhalt dieses Ab- schnittes behandelt die Fragen, aus welchen Gründen ein diplomatischer Abdruck der Urtexte unzweckmässig ist, und weshalb der Text der 2. Auf- lage zum Grundtext zu nehmen sei.

Der zweite Abschnitt des Anhanges betrifft die Revision des Textes. Er berichtet zunächst über die seit Mellin (1794) vorgeschlagenen Emen- dationen und über die von den bisherigen Herausgebern hinsichtlich der Textgestaltung beobachteten Prinzipien, sodann über die sprachlichen (orthographischen, interpunktionellen) Unterschiede des Textes der ersten von dem der zweiten Originalausgabe und über die in dieser Hinsicht in der vorliegenden neuen Ausgabe befolgten Regeln. Darauf folgt das aus- führliche, fast 100 Seiten umfassende Verzeichnis der Korrekturen und Konjekturen. einschliesslich aller Varianten der beiden ersten Original- ausgaben. Eine Reihe von Anmerkungen bezieht sich auf Kants Sprach-

ebrauch. Zahlreiche Stellen sind in Anmerkungen interpretiert: diese Inter retationen gehen vielfach über rein sprachliche Erläuterungen zu sachlichen Erläuterungen weiter. Auf die wichtigsten dieser sachlichen Erklärungen (im Ganzen 82) ist im Text der Kr. d. r. V. selbst an den betreffenden Stellen durch die Ziffern 1—82 hingewiesen; im Vorwort des Herausgebers zum Textbande selbst wird man aber auf diese Einrichtun nirgends aufmerksam gemacht; nur in der Anhangsschrift findet man un zwar erst auf S. 17 einen leider nicht sehr deutlichen Hinweis auf die an sich sehr dankenswerte neue Einrichtung.

Für die neue Auflage hat das eingehende Textstudium Erdmanns den Erfolg gehabt, dass sie einen viel konservativeren Text bietet als alle anderen modernen Ausgaben, während bisher gerade die Erdmannschen Editionen sehr radikal verfuhren, indem für sie der Gesichtspunkt mass- gebend war, „den Sprachgebrauch Kants dem durchschnittlich herrschenden Sprachgebrauch unserer Feit so weit anzupassen, dass die Aufmerksamkeit der Leser durch die veraltete Darstellungsform des Autors vom Inhalt möglichst wenig abgelenkt wird“ (Anhang zur 8. Aufl. S. 655). Diese Modernisierungen sind in der neuen Auflage mit Recht auf das allergeringste Mass eingeschränkt. Und ebenso wie in stilistisch-formaler Beziehung ist auch hinsichtlich der sachlich bedeutsamen Konjekturen die neue Auflage äusserst zurückhaltend geworden. Was diesen letzteren Punkt betrifft, so war übrigens bereits in der 8. Auflage der Anfang gemacht worden, die „weit- gehenden Emendationen zurückzunehmen“ (vgl. Anhang z. 5. Aufl., S. 18 und 8. Aufl., Vorwort, S. XII). .

Uber die einzelnen Anderungen, resp. Nicht-Anderungen des Kant- textes durch den Herausgeber zu reden resp. zu rechten, ist hier nicht

Mitteilungen, 271

der Ort. Er wird aber natürlich selbst nicht erwarten, dass alle seine Vor- schläge allgemeine Billigung finden: für individuelle Abweichungen wird hier, wenn irgendwo, stets Spielraum bleiben. Dass der Herausgeber jetzt das Prinzip „konservativer Textkritik“ schärfer als früher betont, ist aber nur zu billigen: ob dasselbe aber notwendig mit der „Feststellung des ursprünglichen Textes“ (vgl. Textband, Vorwort d. Herausgebers, S. IV) identifiziert werden darf, ist doch nicht so ganz einleuchtend: gemeint ist damit doch wohl der ursprünglich von nt selbst schriftlich fixierte Text, wie er dem Setzer resp. Drucker vorgelegen hat. Die Aufgabe wäre also: Elimination aller Druckfehler, resp. aller Setzerfehler. Aber wie stünde es denn dann mit den Schreibfehlern, welche Kant wohl wie jeder andere Autor, ja vielleicht mehr als der Durchschnitt derselben gemacht hat, wie ja Erdmann selbst im Anhang S. 6 u. 7 ausführt? Wir können heute, mangels des verloren gegangenen Manuskriptes, natürlich nicht mehr fest- stellen, welche eventuellen Fehler auf dieRechnung desSetzers, welche auf die des Autors selbst, und endlich, welche auf die seines Abschreibers zu setzen sind: aber bei manchen Fehlern ist der Gedanke nicht abzuweisen, dass ein lapsus calami von Kant selbst schon vorliegt. Dass ferner manche Verbesserungsvorschläge „die Stilführung Kants sowie den damaligen Sprach- gebrauch nicht genügend berücksichtigen“, ist im Einzelnen zutreffend, be- sonders in Bezug auf frühere Emendationen; die Ausdehnung des Vorwurfes aber auf alle Lebenden (vgl. Textband, Vorwort des Herausgebers, S. III/IV) ist zu weitgehend: die philologisch Geschulten unter den Emendatoren haben jene Forderung sehr wohl berücksichtigt. -

Ein weiterer bemerkenswerter Unterschied der neuen Auflage nicht nur von den früheren Auflagen von Erdmanns eigner Ausgabe, sondern auch von sämtlichen anderen Ausgaben besteht darin, dass sie keine Supplemente enthält: auch die umfangreichen, im Einzelnen gar nicht mehr vergleichbaren Bearbeitungen der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe sowie der Kritik der Paralogismen der ersten Originalausgabe sind nun un- mittelbar unter dem Text der 2. Auflage, also auf denselben Seiten wie der letztere, abgedruckt. Erdmann hat diesen Bruch mit der bisherigen Gewohnheit vollzogen, um für die Interpretation Hindernisse wegzuräumen, die ja doch eine unmittelbare, augenfällige Vergleichung deı beiden Texte erfordere. Er kam auf die Idee dieser parallelistischen Anordnung „bei Gelegenheit von philosophischen Übungen“ und glaubt durch dieselbe jene notwendige Vergleichung des Textes beider Auflagen zu erleichtern. Der Gebrauch wird ja bald zeigen, ob diese Hoffnung zutrifft. Die Unter- scheidung des Textes der beiden Auflagen durch zwei verschiedene Lettern- gattungen hätte die Vergleichung nicht verhindert, die Unterscheidung aber sehr erleichtert. Erdmann hat auf dieses Expediens wohl aus den- selben ästhetischen Gründen verzichtet, aus denen auch die Akademie- ausgabe dieses zweckmässige Hilfsmittel betreffs der Briefe von und an Kant abgelehnt hat. Zweckmässigkeit und Schönheit stehen hier leider im Konflikt. In wissenschaftlichen Angelegenheiten sollte aber die Zweck- mässigkeit stets der Schönheit vorangehen.

Auf jeden Fall aber ist auch diese neue Ausgabe eine willkommene Probe von der unermüdlichen Arbeit des Herausgebers auf dem Gebiet der Kantischen Philosophie, das ihm schon so ausserordentlich Vieles verdankt. Speziell der neue „Anhang“ wird in Zukunft ein unentbehr- liches Handbuch jedes Lesers der Kr. d. r. V. bleiben.

272 Varia. Chronik.

Varia.

Neue Nachrichten über Kants Grossvater.

Johannes NS der schon mehrfach À AS i Funde zur te von Kants acht hat (wal LE

SET den Du terme von Kants Gross voter mehr und Geschichte der Familie Kant ein; it ist. Sembritzki berichtet über seine diesmaligen Entdeckungen in „Altı . Monatsschrift“ XXXVII, Heft 1 und 2. Wir entnehmen diesem Bericht die folgenden Angaben:

seiner Wanderschaft etwa 1670 in Memel niedergelassen. Sein Meistersti ‘ick

‚werk ae pelea erklärt sich die Angabe des Philosophen, dass sein in Tilsit gewesen sei: er hatte dies wohl daraus ge- schonen, due de der Meisterbrief, den man in der Familie aufbewahrt haben it ausgestellt war. Hans Kant richtete sich auf der Schloss- faneit ‘Ledergasee’,, die 1692 den Namen „Friedrichstadt“ bekam, seine Werkstatt ein und heiratete bald darauf. Durch seine Frau kam er in leid- liche kleinbürgerliche Verhältnisse: ihm gehörten nun ausser dem Ertrag seines Handwerkes zwei Häuschen und ein Ackerstück, Die Taufe seines Sohnes Johann Georg fällt, wie das Kirchenbuch beweist, nicht auf den 3. Januar 1683, sondern in die letzten Tage des Dezembers 1682. Nach dem bis jetzt als letztes bekannten Kinde Hans Kants von 1685 ist dann lange darauf noch ein Spätling eingetroffen, ein Sohn namens Christian, getauft am 80, August 1702. Den Todestag Hans Kants hat Sembritzki nicht auffinden können; er schliesst daraus, dass er an der Pest gestorben ist, während welcher Zeit (Sept. 1709 bis Ende 1710) die Eintragungen unregelmässig sind. Fest steht jedoch, dass er vor 1725 estorben ist, da nach einer Eintragung im Feldbuche in diesem Jahre das fhm gehörige Grundstück von Pr ittwe Kanten“ an einen gewissen Waldeier verkauft wurde.

Vom Autographenmarkt.

Das Antiquariat Leo Liepmannssohn in Berlin bietet in seinem Kata- log 148 (1900) folgendes Kantautograph zum Preise von 80 M. aus: en händiger Brief mit Unterschrift (I. Font Acad. h. t. Rector).

12. Aug. 1786. */, Seite fol. Kurzes Schreiben an den Ainister Le Besetzung der mathematischen Professur an der Universität.

Chronik.

Unser Mitarbeiter Dr. P. Menzer, der in den ,Kantstudien* seine Arbeit über den Entwicklungsgang der Kantischen Ethik veröffentlicht hat, hat sich am 28. Mai ds. J. an der Universität Berlin habilitiert. Die An- trittsvorlesung behandelte das Thema: „Bedeutung der Entwicklungs- idee im System Kants.“

Ferner hat sich unser Mitarbeiter Dr. M. Wartenberg an der Uni- versität Krakau habilitiert und wird seine Lehrthätigkeit im Winter- semester mit einer Vorlesung über die Kantische Philosophie eröffnen.

Endlich hat sich Dr. Branislav Petronievics, welcher über mehrere seiner Schriften in den „Kantstudien* in Selbstanzeigen referiert hat (vgl. II, 186, IV, 326, V, 227), an der Hochschule Belgrad habilitiert und ist vor kurzem zum a. o. Professor der Philosophie an derselben ernannt worden.

Drack von A, W. Hayn's Erben, Berlin und Potsdam.

Kant und Spinoza.

Von Friedrich Heman in Basel.

Kant und Spinoza haben das eigentümliche Geschick gemein- sam, dass sie sich noch nicht ausgelebt haben im Denken der Philo- sophierenden. So oft man es auch versucht hat, sie wie Gestorbene zu begraben und ihnen auf dem Kirchhof der Philosophiegeschichte marmorne Denkmäler zu setzen, sie sind immer wieder erwacht und auferstanden, haben Sarg und Grabstein gesprengt und sich aufs neue lebendig erwiesen. Oder wären es doch nicht sie selbst? Sind es vielleicht nur schattenhafte Gespenster, die unter ihrem Namen in den Köpfen der Nachwelt ihren Spuk treiben? Fast möchte man es glauben, wenn man da und dort behauptet, die beiden seien Arm in Arm einherschreitend ihnen erschienen. Wie dem aber auch sei, es ist immer ein Beweis daftir, dass die Philo- sophie jener grossen Geister noch nicht ad acta gelegt werden kann; dass die Probleme, die sie beschäftigten, noch immer ungelöst uns drücken; dass man noch keine endgiltige Lösung dafür gefunden hat; dass, wenn ihre Lösung auch nicht als zureichend und zweifel- los kann angenommen werden, der zweifellose Wahrheitsgehalt, der doch auch darin steckt, noch nicht zur vollen Wirkung gekommen ist. Kant und Spinoza kommen unter uns nicht zur Ruhe, weil ihre Philosophie noch immer treibende Fermente zur Fortbildung unseres Denkens und Erkennens enthält, die sich noch nicht ausgewirkt haben.

Wenn es aber sicher ist, dass beider Philosophie solche Fermente enthält, und weder Kant noch Spinoza für abgethan gelten dürfen, so entsteht allerdings die Frage, wie verhalten sich denn diese beiden selber zu einander? Sind sie in den Punkten, die für unser heutiges Denken von Wichtigkeit sind, unter sich selbst einig oder nicht? Sind es dieselben Elemente ihrer beiden Systeme oder

verschiedene, die wir zu beherzigen haben? Kantstudien V. 18

274 Friedrich Heman,

Nun ist kein Zweifel, dass es das Erkenntnisproblem ist, das uns von Kant her nicht zur Ruhe kommen lässt. Dagegen ist es Spinozas Theorie vom Verhältnis Gottes zur Welt, die am mächtigsten unsern Geist bewegt. Für unser heutiges Denken sind diese beiden Probleme am wichtigsten. Sie waren es auch für Kant und Spinoza, nur mit dem Unterschied, dass Kant das Erkenntnis- problem in das Centrum rüekte und von hier aus das andere Problem zu lösen suchte; während für Spinoza das Verhältnis Gottes zur Welt im Mittelpunkt des Systems und zugleich an der Spitze desselben steht und von da aus auch das Erkenntnisproblem seine Lösung findet. Dieser formale und methodische Unterschied beider Systeme ist schon von ganz bedeutender Wichtigkeit, schliesst aber noch keine materiale Gegensätzlichkeit der Systeme ein. Inhaltlich könnten beide Philosophen in vollem oder teilweisem Einklang oder wenigstens unter einander nicht im Widerspruch und Gegensatz stehen. Dadurch würde das Gewicht ihrer Gedanken für uns be- deutend verstärkt, und die Verwertung ihres Denkens für unsere Bedürfnisse wesentlich erleichtert. Und dies sind die treibenden Motive und Gründe, warum einige gerade in unserer Zeit uns mit besonderem Eifer dieses Einklanges zwischen beiden zu versichern suchen.

Ganz anders verhält sich die Sache, wenn die Philosopheme beider Denker im Gegensatz und Widerspruch stehen. Da beginnen die grossen Schwierigkeiten. Wir müssen ja voraussetzen, dass beide Denker mit gleicher Konsequenz ihre Systeme durchgearbeitet haben, dass es also nicht Zufall und Willkür ist, wenn jeder von seinen Prinzipien aus zu andern Resultaten bezüglich jener Probleme ge- kommen ist. Wenn Kant von seiner Erkenntnistheorie aus dazu kommt, Gott und die Welt und ihr Verhältnis ganz anders zu be- stimmen, als Spinoza, dann werden wir wohl, je mehr wir von Kants erkenntnistheoretischen Prinzipien anerkennen, umsoweniger mit Spinoza gehen können in der theologischen Frage. Und umge- kehrt, je mehr uns Spinozas theologische Prinzipien anziehen, um so konsequenter werden wir auch Kants erkenntnistheoretische Prin- zipien verwerfen müssen. Es scheint unmöglich, dass wir beiden Denkern die gleiche Bedeutung für die Philosophie der Gegenwart zuschreiben, wenn sie sich beide etwa prinzipiell widersprechen und der eine das verneint, was der andere bejaht.

Das Verhältnis Kants zu Spinoza ist aber immer noch nicht klar gestellt. Weder ist ausgemacht, wie Kant über Spinozas

Kant und Spinoza. 975

Philosophie geurteilt hat, noch wie die Systeme beider sich zu ein- ander verhalten. Ja nicht einmal das ist festgestellt, wie weit und wie genau Kant mit Spinozas Schriften bekannt und vertraut war. Alle diese Fragen bedürfen noch einer endgiltigen Behandlung. Ihre Lösung wird nicht ohne praktische Bedeutung für die Philo- sophie der Gegenwart sein. Wir möchten dazu wenigstens einen Beitrag liefern.

Doch wird nicht wobl thunlich sein, die drei Fragen gesondert zu behandeln, da sie zu eng mit einander verflochten sind und wir genötigt wären, bei jeder der Einzelfragen doch wieder immer auf dieselben Urkunden zurückzugreifen. Lohnender wird sein, in historischer Folge alle die Stellen in Kants Schriften zu betrachten, in denen er mit oder ohne Namennennung von Spinoza, seinen ein- zelnen Gedanken und seinem System als ganzer Gedankenrichtung redet. In einem abschliessenden Kapitel mögen dann noch die all- gemeinen und besonderen Ideengänge zur Sprache gebracht werden, die sachlich zur Entscheidung der Hauptfrage ins Gewicht fallen. |

Das Verhältnis Kants zu Spinoza hat in neuester Zeit Dr. Max Grunwald in seiner preisgekrönten Schrift , Spinoza in Deutschland“, Berlin 1897, in dankenswerter Weise skizziert, wie es im Zusammen- hang seiner Arbeit geschehen konnte, ohne jedoch Kants Vorlesungen über Metaphysik oder gar das opus posthumum zu berlicksichtigen. Aber auch die aus den bekannten Schriften Kants entworfene Skizze giebt weder ein vollständiges Bild des Verhältnisses, noch kann sie für eine die Frage endgiltig entscheidende Antwort genommen werden, noch bietet sie auch nur hinreichende Gesichtspunkte dafür. Von früheren Schriften sind zu nennen eine Abhandlung von Prof. Reiff in der Zeitschr. f. Phil. u. philos. Kritik, 29. Bd. 1856, S. 181—223. Sie ist aber unvollendet geblieben, indem der zweite Artikel nicht erschien. Ferner: Spinoza und Kant door Dr. H. J. Betz, ’s Gravenhage 1883.

I. Kant über die mathematische Methode Spinozas.

Als Kant seine Kritik der reinen Vernunft schrieb, lag Spinoza, den sogar ein Bayle den ,Systematiker des Atheismus“ genannt hatte, noch ganz unter dem Bann der Theologen und Philosophen. Niemand, der seinen Namen unbefleckt erhalten wollte, mochte mit dem Maledietus, dem Erzketzer, etwas zu thun haben.

Die Lobsprüche, welche ein Dippel und Edelmann ihm zollten,

18*

276 Friedrich Heman,

waren nicht geeignet, besonnene Männer für Spinoza einzunehmen. Auch Jacobi hatte noch nicht verraten, welche Sympathie einen Lessing mit Spinoza verbunden hatte. In der öffentlichen Meinung galt es als eine schwere Verdächtigung, jemanden des Spinozismus zu zeihen und man liebte es, missliebige Schriftsteller in den Geruch des heimlichen Spinozismus zu bringen, um sie mundtot zu machen. Spinoza war das Gespenst, womit man alle schwachen Köpfe leicht zu schrecken vermochte, und sogar ein Leibniz hatte es für geraten gefunden, seine persönliche Bekanntschaft mit Spinoza möglichst zu vertuschen, Daher als 1785 der Jacobi-Mendelssohnsche Streit seine Wogen bis nach Königsberg trieb und man Kant gerne hineingezogen, gar zum Schiedsriehter gemacht hätte, zog es Kant vor, des üftern seine geringe Kenntnis der Spinozistischen Denkweise und Philosophie als Grund anzugeben, um aus dem kompromittierenden Spiel ge- lassen zu werden!) Hamann konnte an Jacobi schreiben: „Kant ist mit Ihrem Vortrag und dem Inhalt der ganzen Aufgabe sehr zu- frieden. Aus dem System des Spinoza hat er niemals einen Sinn ziehen können“. Und wiederum: „Kant hat mir gestanden, den Spinozismus niemals recht studiert zu haben“, Des- halb fasst Grunwald seine Ansicht über Kants persönliche Stellung zu Spinoza und dem Spinozismus ums Jahr 1785 dahin zusammen: „Doch zu dem Kernpunkt der Frage, zu Spinoza selbst, hatte Kant noch immer nicht bestimmte Stellung genommen, da er ihn eben- sowenig wie Jacobis Schrift über ihn verstehen zu können offen bekennt.“2)

Nach Kants eigenen Aussagen gegenüber Hamann scheint aller- dings kein anderes Urteil gefällt werden zu können, denn die Ver- sieherungen Kants entsprechen gewiss der Sachlage. Kant hatte bisher eigentlich noch keine Veranlassung gehabt, sich eingehend in Spinozas System zu vertiefen und es gründlich durchzuarbeiten. Gleichwohl dürfen wir nicht vergessen, dass es hier für Kant von Vorteil war, seine Unkenntnis Spinozas nachdrücklich zu betonen und vielleicht sogar schärfer auszudrücken, als in Wirklichkeit der Fall war. Nach seinen Äusserungen an Hamann könnte man sogar vermuten, dass Kant seine Kenntnisse über Spinoza gar nicht aus direkter Quelle geschöpft habe; jedoch scheint mir das durchaus nicht der Fall zu sein. Denn wenn auch Spinozas in keiner der vorkritischen Schriften Erwähnung gethan wird, und auch die

1) Vgl. Grunwald a. a. 0. S. 138 2) a. a. 0. 186

Kant und Spinoza. 277

Kr. d. r. V. den Namen Spinozas nicht ausspricht, so enthält gerade die Kritik d, r. V. eine längere Stelle, welche sich in erster Linie auf niemand anders denn auf Spinoza beziehen kann und welche beweist, dass, wenn er auch behaupten durfte, ihn „niemals recht“ studiert zu haben, er ihn doch aus der ersten Quelle kannte.

Diese Stelle steht gleich im ersten Abschnitt des ersten Haupt- sticks der transseendentalen Methodenlehre. Die wichtige auf Spinoza beztigliche Stelle scheint bisher ganz übersehen worden zu sein. Der Abschnitt handelt von der Disziplin der reinen Ver- nunft im dogmatischen Gebrauch und behandelt die Frage, ob die Philosophie sich des mathematischen Beweisverfahrens bedienen könne und dürfe.

„Die Mathematik,“ heisst es hier, „giebt den glänzendsten Beweis einer sich ohne Beihilfe der Erfahrung, von selbst glücklich erwei- ternden reinen Vernunft. Beispiele sind ansteckend, vornehmlich für dasselbe Vermögen, welches sich natürlieherweise schmeichelt, eben dasselbe Glück in anderen Fällen zu haben, welches ihm in einem Falle zu teil geworden. Daher hofft reine Vernunft im trans- scendentalen Gebrauche sich ebenso glücklich und gründlich erweitern zu können, als es ihr im mathematischen gelungen ist, wenn sie vor- nehmlich dieselbe Methode dort anwendet, die hier von so augen- scheinlichem Nutzen gewesen ist. Es liegt uns also viel daran, zu wissen, ob die Methode, zur apodiktischen Gewissheit zu gelangen, die man in der letzteren Wissenschaft mathematisch nennt, mit derjenigen einerlei sei, womit man eben dieselbe Gewissheit in der Philosophie sucht, und die daselbst dogmatisch genannt werden müsste“. Kant legt nun den Unterschied zwischen philosophischer und mathematischer Erkenntnis dar: die erste ist Vernunft- erkenntnis aus Begriffen, die andere aber Konstruktion der Begriffe. Die erstere betrachtet das besondere nur im allgemeinen, die zweite das allgemeine nur im besonderen, ja im einzelnen.

Der wesentliche Unterschied zwischen Philosophie und Mathe- matik besteht nicht in einem Unterschied der Materie der Erkenntnis oder der Gegenstände, sondern in der Form der Erkenntnis, Man darf also nicht sagen, die Philosophie habe es mit der Qualität der Dinge, die Mathematik nur mit der Quantität derselben zu thun, Denn dieser Unterschied ist nieht der Grund, sondern nur die Folge ihrer verschiedenen Form und Methode.

Die Philosophie setzt Erfahrung voraus und abstrahiert daraus Vernunftbegriffe. Die Mathematik setzt Vernunftbegriffe voraus und

278 Friedrich Heman,

konstruiert daraus ihre Gegenstände. Ein Kegel kann anschaulich konstruiert werden aus blossen Begriffen ohne empirische Beihilfe; aber die Farbe dieses Kegels wird zuvor in die Erfahrung gegeben sein müssen. Den Begriff der Ursache kann ich aber überhaupt in keiner Weise in der Ansehauung darstellen, als in einem Beispiel, das die Erfahrung an die Hand giebt.

Die Ursache dieser verschiedenen Lage, in der sich der Philosoph im Gegensatz zum Mathematiker befindet, liegt darin, dass es beim Philosophen nicht auf analytische Sätze ankommt, die durch blosse Zergliederung der Begriffe erzeugt werden können (hierin würde der Philosoph ohne Zweifel den Vortheil über seinen Nebenbuhler haben), sondern auf synthetische, und zwar solche, die a priori sollen erkannt werden, Die Methode des Philosophen besteht in dem diskursiven Vernunftgebrauch nach Begriffen; die des Mathematikers in dem intuitiven durch Konstruktion der Begriffe. Es giebt also einen doppelten Vernunftgebrauch, weil in der Erscheinung, in der uns alle Gegenstände gegeben sind, zwei Stücke sind: die Form der Anschauung (Raum und Zeit), und damit hat es die Mathematik zu thun; hier kann alles a priori erkannt und apodiktisch bestimmt werden; und die Materie (das Physische) oder der Gehalt, der der Empfindung korrespondiert, und dieser kann nur empirisch, nicht a priori gegeben werden. Hier können wir nichts a priori haben, als unbestimmte Begriffe der Synthesis möglicher Empfindungen und damit kommen wir zu keinem apodiktischen Erkenntnis, Die An- wendung der mathematischen Methode auf Philosophie kann nur von Leuten ausgehen, welche noch nie über das Wesen der Mathe- matik und ihrer Methode philosophisch nachgedacht haben. Es kommt ihnen der spezifische Unterschied des reinen Vernunftgebrauehs von dem andern, der sich auf Konstruktion und Anschauung im Raum bezieht, gar nicht zu Sinn. So Kant.

Offenbar wird diese Auseinandersetzung und Polemik in erster Linie auf Wolff und die Wolffianer und in zweiter Linie auf Descartes selbst zu beziehen sein, der zuerst die Philosophie nach mathematischer Methode behandelt wissen wollte, ohne doch selbst eine scharfe und konsequente Anwendung derselben in seiner Philosophie auch nur zu probieren, geschweige zu stande zu bringen und durehzuführen,

Was nun aber weiter folgt, kann sich unmöglich weder auf Descartes noch auf Wolff beziehen, sondern einzig und allein auf Spinoza. Denn Kant widerlegt hier die Methode, in der Philosophie von Definitionen und Axiomen auszugehen und auf Grund dieser

Kant und Spinoza. 279

die eigentliche Demonstration zur Anwendung zu bringen. Dies ist die spezifische Eigentümlichkeit von Spinozas Ethik, Niemand vor ihm noch nach ihm hat diese Methode so strikte und konsequent angewendet. Kant aber hätte sich wohl können genügen lassen, die mathematische Methode im allgemeinen von der Philosophie aus- zuschliessen, wenn nicht eben Spinoza sie mit solcher Genauigkeit und Konsequenz zur Anwendung gebracht hätte, Ausser Spinoza ist es niemand je eingefallen, ein philosophisches System auf Defi- nitionen und Axiome mittels Demonstration aufzubauen. Hätte Kant bloss vom Hürensagen aus zweiter Hand es gewusst, dass Spinoza auch Definitionen und Axiome verwende und seine Sätze durch Demon- stration erhärte, so würde er auch nur im allgemeinen sich dagegen erklärt haben. Die ausführliche und eingehende Widerlegung dieser Methode beweist aber, dass er sie genau muss gekannt und durch- schaut haben, und dies konnte er nur, wenn er sich aus Spinozas Ethik direkt darüber instruiert hatte,

Wenn nun Kant seine recht weitläufige Widerlegung der drei Hauptstticke der mathematischen Methode, auf denen die Gründlich- keit der Mathematik beruht, mit den Worten beginnt: „Ich werde mich damit begnügen, zu zeigen, dass keines dieser Stücke in dem Sinne, darin sie der Mathematiker nimmt, von der Philosophie kann geleistet, noch nachgeahmt werden“, wenn er dann Stück für Stück durehnimmt und des Langen und Breiten die Unbrauchbarkeit eines jeden zur Gewinnung philosophischer Erkenntnisse nachweist, so müssen wir fragen, was hätte denn Kant noch mehr leisten können oder zu leisten gewillt sein können? Warum drückt er sich so aus: „ich werde mich begnügen?“ Dies kann nur den einen Sinn haben, dass er darauf verzichten will, speziell und direkt an Spinoza das Unzulängliche dieser Stücke nachzuweisen, Ein andrer hätte vielleieht geglaubt, weil Spinoza allein und einzig diese Methode und ihre Stücke so strikte und konsequent zur Anwendung gebracht habe, so sei er auch verpflichtet, direkt an Spinoza sein argumentum ad hominem zu geben. Darauf verzichtet Kant und begntigt sich mit einer allgemeinen aber gründlichen und ausführlichen Widerlegung. Wir müssen es aber Kants Charakter zutrauen, dass er sich nicht so ausgedrückt und von „begnügen“ geredet hätte, wenn er aus Unwissenheit gar nicht imstande gewesen wäre, speziell an Spinoza selbst seinen Nachweis zu liefern. Er hielt es aber nicht für der Mühe wert, Spinoza selbst einzuführen, weil eben damals Spinoza nichts galt, und so konnte er sich „damit begnügen“, ohne spezielles

280 Friedrich Heman,

Eingehen auf Spinoza, die Methode Spinozas im allgemeinen, aber doch mit aller Gründlichkeit zu widerlegen.

Dass ihm aber innerlich doch immer Spinoza vor Augen schwebt, dafiir haben wir deutliche Anzeichen. Nachdem Kant nämlich ge- zeigt, dass zwar in der Mathematik genaue und ganz bestimmte und vollkommene Definitionen möglich seien, dagegen in der Philo- sophie es zwar auch auf Definitionen als Ziel jeglicher Untersuchung abgesehen sei, der Philosoph aber eigentlich doch nur Explikationen, Expositionen, Deklarationen zu geben imstande sei und zwar sowohl betreffs empirischer Begriffe wie auch der Begriffe a priori, so folgert er sofort, dass „man“ es also in der Philosophie nicht der Mathe- matik nachthun und Definitionen ,,vorausschicken“ dürfe. In der Philosophie können Definitionen nur das Werk schliessen, nicht aber „anfangen“. Wer möchte da nicht ergänzen: „wie Spinoza thut‘? Denn nur Spinoza ist der ‚man‘, der so gethan hat und von dem Kant redet.

Was die Axiome anlangt, so müssen sie synthetische Grund- sätze a priori sein, sofern sie unmittelbar gewiss sind. Die Mathe- matik kann unmittelbar zwei Begriffe synthetisch a priori ver- knüpfen, weil sie vermittelst der Konstruktion der Begriffe in der Anschauung sich der Gewissheit des Grundsatzes versichern kann. In der Philosophie aber muss ein drittes vermittelndes Erkenntnis vorhanden sein, wenn man über einen Begriff hinausgehen und ihn mit einem andern verknüpfen will. Ein synthetischer Grundsatz bloss aus Begriffen kann nie unmittelbar gewiss sein. Also giebt es in der Philosophie nur diskursive Grundsätze aber keine Axiome. Die Philosophie hat also keine Axiome und darf niemals ihre Grund- sätze a priori „so schlechthin‘ gebieten (man ergänze: wie Spinoza thut), sondern muss sich dazu bequemen, ihre Befugnis wegen der- selben durch gründliche Deduktion zu rechtfertigen, welche eben bei Spinoza wieder gänzlich fehlt.

Endlich weist Kant nach, dass die Beweisart der Demon- stration apodiktische Gewissheit nur dann bietet, wenn sie zugleich intuitiv ist, d. h. wenn sie anschauende Gewissheit, d. h. Evidenz bietet. Dies ist nun nur in der Mathematik der Fall, weil hier jeder Beweis zugleich anschaulich konstruierbar ist. Aus Begriffen a priori aber kann niemals anschauende Gewissheit entspringen, so sehr auch sonst das Urteil apodiktisch gewiss sein mag. „Aus allem diesem folgt nun, dass es sich für die Natur der Philosophie gar nicht schicke, vornehmlich im Felde der reinen Vernunft, mit einem dog-

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matischen Gange zu strotzen und sich mit Titeln und Bändern der Mathematik auszuschmticken, in deren Orden sie doch nicht ge- hört, ob sie zwar auf schwesterliche Vereinigung mit ihr zu hoffen, alle Ursache hat. Jene sind eitle Anmassungen, die niemals ge- lingen können, vielmehr ihre Absicht rückgängig machen müssen.“ „Dogmata sind noch lange keine Mathemata.“ Diese scharfe Zurecht- weisung gilt doch wohl in erster Linie jenen offnen und geheimen Lobpreisern Spinozas, welche auf die Unwiderleglichkeit des Spino- zismus pochten, weil hier alles durch Demonstration apodiktisch ge- wiss aus Definitionen und Axiomen abgeleitet sei.

So scharf bis in ihre Einzelheiten hinein der mathematischen Methode in der Philosophie zu Leibe zu gehen, wäre Kant wobl kaum zu Sinne gekommen, wenn er diese Methode nicht eben bis in ihre Einzelheiten bei Spinoza angewandt gesehen hätte. Ausser Spinoza hatte sie aber nie jemand so bis in ihre Einzelheiten verwandt. Um diese Widerlegung schreiben zu können, muss doch wohl Kant eine direkte Kenntnis Spinozas besessen haben.

II. Kants Verhalten im Jacobi-Mendelssohnschen Streit.

Aber eben weil Kant das ganze Verfahren und philosophische Gebaren Spinozas, seine Art und Methode zu philosophieren ver- werfen und für falsch und irrig halten musste, so folgt daraus, dass er sich mit dem Inhalt und Gehalt dieser Philosophie nicht weiter einzulassen gewillt war, und dass er glaubte, sich das ein- gehende Studium dieses Systems, das ja doch ganz grundleglich falsch erbaut sei, ersparen zu dürfen. Für Kant war Spinoza ein Dogmatiker, d. h. ein Vernünftler, wie alle anderen; der Inhalt seiner Philosophie hatte darum für ihn von vornherein keinen beson- dern Wert, weil er ihr jede Gewähr und jeglichen Anspruch auf Wahrheit und Gewissheit absprechen mufste. Es ist also ganz richtig, was Hamann schreibt, Kant habe aus dem System des Spinoza niemals einen Sinn ziehen können und er habe ihn niemals recht studiert. Der Grund war, weil ihm Spinozas System auf un- kritischer, falsch dogmatischer Grundlage ruhte und von Grundsätzen ausging, die, weit entfernt apodiktische Gewissheit zu besitzen, ebenso gut falsch wie wahr sein konnten.

Diese Stellung Kants zu Spinoza bestimmte auch genau sein Verbalten im Jacobi-Mendelssohnschen Streit. Die Sache war immer heikler geworden, weil man vom ursprünglichen Fragepunkt immer weiter abgeirrt war. Zuerst hatte man sich nur dartiber ge-

989 Friedrich Heman,

stritten, ob Lessing sich wirklich und im Ernst und ganz auf Spinosa’s Seite gestellt und sich als Spinozist bekannt habe. Bald aber (drehte sich die Frage darum, was von Spinoza und dem Spinoxismus überhaupt zu halten sei, Das hat Vielen damals Ver- unlassıng gegeben, Spinoza genauer zu studieren. Und wenn man nun von den verschiedensten Seiten Anstrengungen machte, Kant für eine der beiden Parteien zu gewinnen, oder gar auch, ihn zum Schiedsrichter über den Spinozismus und seinen Wert zu stempeln, no ist zwar begreiflich, dass Kant das alles von sich wies und nicht bloss seine „Neutralität“ wahrte, sondern auch seine sachliche Un- kenntnis offen eingestand. Aber bei der Bedeutung, welche der Streit annahm, und dem Aufsehen, das er erregte, hätte er doch jetzt Veranlassung genug gehabt, seine ehrlich eingestandene Un- wissenheit zu beseitigen und wie so viele andere damals thaten, sich eingehend mit Spinozas Gedanken zu beschäftigen. Aber er hat es erst ziemlich später gethan. Von der formalen Unhaltbarkeit des Aufbaues nnd der Methode des Systems hatte er sich ja schon früher überzeugt. Das war ihm einstweilen genug, das hatte sein Urteil bestimmt, und dabei blieb er nun einstweilen, und glaubte dadurch vorläufig alles weitern Eingehens auf Spinoza überhoben zu sein. Es war ihm garadezu widerwärtig, dass Jacobi von Lessings Spinozismus und vom Spinozismus überhaupt so viel Aufhebens machte, da dieser eigentlich doch nur die Absicht dabei hatte, seine eigene Person recht in der Nähe des Lessingschen Genies zu rücken. Daher schrieb Kant 1786 an M. Herz: „Die Jacobische Grille ist keine ernstliche, sondern nur eine affektierte Genieschwärmerei, um sich einen Namen zu machen und ist daher keiner ernstlichen Widerlegung wert.“ Um so weniger schien dies der Fall, als ihm der Spinozismus als dogmatische Vernünftelei überhaupt keiner ernst- lichen Widerlegung wert schien. Da Kant, der den vollständigen Erkenntnisunwert jeglichen metaphysischen Dogmatismus so genau erkannt und so gründlich in seiner Kritik der reinen Vernunft nach- gewiesen hatte, alle dogmatischen Metaphysiker für immer abgethan glaubte, so mochte er auch mit Spinoza darin keine Ausnahme machen. Wer alle dogmatische Metaphysik für Vernünftelei erklärt, deren Beweise haltlos sind und ebenso gut durch Gegenbeweise widerlegt, wie behauptet werden können, deren Wahrheit man also doch nie gewils werden kann, dem wird auch die Philosophie Spinozas gleichgiltig, und weil keiner Widerlegung, auch nicht ein- mal des eifrigen Studiums wert sein. Dass aber Kant Spinozas

Kant und Spinoza. 283

Philosophie für pure Vernünftelei erklärt hat, das findet sich klar in den Bemerkungen Kants zu L. H. Jakobs Prüfung der Mendels- sohnschen Morgenstunden. Da schreibt Kant: „Räumt man der reinen Vernunft in ihrem spekulativen Gebrauch einmal das Ver- mögen ein, sich über die Grenzen des Sinnlichen hinaus dureh Ein- sichten zu erweitern, so ist es nieht mehr möglich, sich bloss auf diesen Gegenstand einzuschränken; und nicht genug, dass sie als- dann für alle Schwärmerei ein weites Feld geöffnet findet, so traut sie sich auch zu, selbst über die Möglichkeit eines höchsten Wesens (nach demjenigen Begriffe, den die Religion braucht) durch Ver- nünfteleien zu entscheiden, wie wir davon an Spinoza und selbst zu unserer Zeit Beispiele antreffen, und so durch angemassten Dogmatismus jenen Satz mit eben der Kühnheit zu stürzen, mit welcher man ihn errichten zu können sich gerühmt hat.“ Zer- legen wir Kants Gesamturteil über Spinoza in die einzelnen, darin enthaltenen Urteile, so ergiebt sich folgendes: 1. Spinoza macht von der Vernunft einen spekulativen Gebrauch über die Grenzen der Sinnlichkeit hinaus zur Erweiterung der Einsichten; dies ist a) un- erlaubt und b) erfolglos, weil doch keine wirkliche Einsicht erreicht wird; 2. bei Spinoza ist der Schwärmerei ein weites Feld geöffnet; damit zielt Kant auf Spinozas mystisch-schwärmerischen amor intellectualis dei; 3. Spinozas Philosopheme sind nur Vernünfteleien, weil Anmassungen der schwärmenden Vernunft; 4. das stärkste Bei- spiel solchen angemassten Dogmatismus, der doch nur Vernünftelei ist, bietet Spinozas Gotteslehre, durch die er die Kühnheit hat, den religiösen Dogmatismus zu stürzen, indem er die Unmöglichkeit eines persönlichen, wollenden und nach Absichten und Zwecken weise handelnden Gottes zu beweisen sucht; 5. Spinozas Spekulieren, das durch metaphysische Beweise auf den Umsturz des religiösen Dogmas hinausläuft, hat nicht mehr Wert als das Gebaren derer, welche mit metaphysischen Beweisen das religiöse Dogma errichten und verteidigen wollen. Der Gerichtshof der Kritik der reinen Ver- nunft giebt also seinen Spruch dahin ab: es ist verlorene Mühe, sich mit Spinoza weiter abzugeben und über Wahrheit oder Irrtum des Spinozismus streiten zu wollen, denn Spinozas ganzes System ist eine angemasste Ueberschreitung der Grenzen der reinen Vernunft, Der Verfasser der Kritik wünscht also mit der ganzen Streitigkeit nieht weiter behelligt, sondern in Ruhe gelassen zu werden.

Ganz denselben Standpunkt nimmt daher der genannte Schüler Kants, L. H. Jakob, in seinem Aufsatz über Mendelssohns Morgen-

284 Friedrich Heman,

stunden ein. Es ist ganz und gar Kantisch gedacht und sogar durchsichtiger und verständlicher ausgedrückt, als Kant zu schreiben pflegt, wenn Jakob sich dahin äussert: „Auch gegen den Spinozismus lässt sich gar nicht dogmatisch zu Felde ziehen, so dass man ihm etwas Positives entgegensetzen könnte. Wir können ihm bloss das Unzureichende seiner Beweise zeigen, und er mag sein spekulatives System noch so fein ansgesponnen babe, so wird es sich doch nie über das Ansehen einer Hypothese erheben können, weil wir schon apriori allem, was die Vernunft ersinnt, seinen gewissen Platz anweisen können, indem alles, was Verstand ohne Erfahrung erdenkt, objektiv nichts ist, unerachtet kein einziger Widerspruch in dem erdachten System ist, Kommt es aber blofs darauf an, transscendentale Hypothesen auszubecken, so werden sich genug erfinden lassen, die wir andern Dogmatikern entgegensetzen können; und wenn sonst moralische Zwecke es erfordern, die eine der andern vorzuziehen, so werden uns keine Grübeleien daran verhindern können“. Was Kant „Ver- nünfteleien“ genannt hat, das nennt Jakob etwas weniger derb „Hypothesen“. Solcher „Hypothesen“ kann man die Menge „aus- heeken“. Unter den vielen, möglichen transscendentalen Hypothesen, die einander widersprechen können, eine auszuwählen und zu bevor- zugen, könnten uns nur „moralische Zwecke“ veranlassen, d. h. wenn die Moral dadurch gefördert würde, wenn sie also moralischen Wert hätte. Diese ganz im Sinn und Geist Kants gemachte Äusse- rung Jakobs führt uns tiefer. Wir stossen hier auf die Frage, welchen moralischen Wert Kant dem Spinozismus zugeschrieben habe? Wir werden darauf zurückkommen müssen. Hier aber schon sehen wir, dass Kant und die Kantianer dem Gedanken Spinozas keinen besonders fürderlichen Wert für die Moral der Menschen zu- zuschreiben geneigt schienen, sonst hätte dies sie damals veran- lassen müssen, wenigstens diesen Wert für Spinoza in die Wagschale fallen zu lassen und im Interesse der Moral sich des Spinoza anzu- nehmen. Wir werden an seinem Orte auf die Gründe dieser auch rücksichtlich der Moral ablehnenden Haltung gegen Spinoza ein- gehen müssen. Hier genügt es zu konstatieren, dass Kant dem Spinozismus in erster Linie von erkenntnistheoretischem Standpunkt aus jeden wirklichen Erkenntniswert absprach, und in zweiter Linie ihm auch keinen so hohen moralischen Wert beilegte, um sich näher mit ihm zu befassen.

Dem spekulativen Scharfsinn und der logischen Gewandtheit dagegen, über welchen der Spinozismus und die Spinozisten ver-

Kant und Spinoza. 285

fügten, wollte auch Kant alle Anerkennung zu teil werden lassen, nur sei damit nichts in der Sache selbst geholfen. „Es würde dem Spinozisten leicht fallen, schreibt daher Jakob weiter, sich gegen alle dogmatischen Behauptungen des Herrn Mendelssohn zu retten und sogar die Lücken, die er wahrzunehmen glaubt, vollkommen auszufüllen, ob er gleich dadurch für die Realität seines Systems nichts gewinnen würde, da er auch nur als ein rechter Dogmatiker in dem grundlosen Ocean der leeren Ideen Fuss fassen will, welches doch ganz unmöglich ist.“') Damit ist gesagt: die logische Continuität, Lückenlosigkeit und Widerspruchlosigkeit des Systems Spinozas darf nicht als Beweis und Garantie seiner Wahrheit angeführt werden, wie Jacobi und die Spinozisten thaten, denn man kann auch logisch ganz korrekt, lückenlos und widerspruchfrei schwärmen und Hypo- thesen aushecken, denen keine Realität zukommt,

Aus unseren Erörterungen geht nicht bloss hervor, welche Stellung Kant im Jacobi-Mendelssohnschen Streit eingenommen hat, sondern auch, was er überhaupt vom Spinozismus hielt. Nicht die Unbekanntschaft und das Nichtverständnis der Philosophie Spinozas hielt ihn ab, Partei zu ergreifen in diesem Streit, sondern seine wohlerwogene und wohlbegründete kritische Stellung, die jede dog- matische Metaphysik a priori für eine angemasste Grenzüberschreitung der Vernunft erklärte, welche doch keine neuen, sichern Einsichten zu bieten imstande sei. Eben darum hielt er es für überflüssig, sich näher mit den Einzelheiten des Systems zu beschäftigen, zumal da ihm auch keine moralischen Zwecke es erforderlich scheinen liessen, den spinozistischen Dogmatismus dem seiner Gegner vorzuziehen.

III. Kant gegenüber den Anschuldigungen wegen Spinozismus.

1. Aber Kants Gegner sorgten dafür, dass er nicht so leichten Kaufs davonkomme. Wollte man einem Gegner einen gewichtigen Schlag versetzen oder wenigstens eins anhängen, das ihn in der öffentlichen Meinung diskreditiere, so brauchte man ihn nur als Spinozisten zu verschreien. Mit einiger Konsequenzmacherei war ja das keine so schwierige Sache. Es war kaum ein bedeutender Philosoph, den man nicht des heimlichen Spinozismus beschuldigt hätte, Auch die Freunde Spinozas übten diese Praxis gelegentlich, um zu erweisen, dass ihr Heros die tibliche Verachtung doch nicht so eigentlich verdiene. Warum hätte Kant dieser Anklage entgehen sollen?

1) Siehe beide Stellen abgedruckt bei Grunwald, S, 135 u. f.

286 Friedrich Heman,

Gerade als Jakobs Schrift erschien, veröffentlichte in der „Allgemeinen deutschen Bibliothek“ Nicolais (66. Bd. L Stück S. 92) ein Kritiker und Rezensent, Sg.') unterschrieben, eine gewandt und scharfsinnig geschriebene, wenn auch mit vielen Missverständnissen durchsetzte und an Konsequenzmacherei reiche Abhandlung über die Kantische Kritik der reinen Vernunft. Sie kntipfte an die schon 1784 erschienenen „Erläuterungen über des Herrn Professor Kant Kritik der reinen Vernunft von Job. Schultze“ an. Er setzt ausein- ander, dass nach Kant nur in der Sinnenwelt von Succession und Mannigfaltigkeit die Rede sein könne, weil die Sinnlichkeit die Dinge in den Anschauungsformen von Raum und Zeit auffassen müsse. In der Noumenalwelt gäbe es kein Mannigfaltiges und kein Successives, so wenig wie Anfang und Ende oder irgend eine Be- grenzung, weder unendliche Teilbarkeit, noch unteilbare Teile. Alles dies sei nur Schein und Täuschung sowohl als die Einbildung, dass wir uns selbst für wirkliche Substanzen halten. „Es giebt vielmehr, wofern überall etwas existiert, nur eine einzige Substanz und diese ist das einzige Ding an sich, das einzige Noumenon, nämlich die intelligible oder objektive Welt. Diese begrenzt sich selbst, dies ist die Sphäre, die keinen Anfang noch Ende hat. Dies ist das einzige Ideal der reinen Vernuuft. Also würden und müssten dieser Theorie vom Schein und Reellen zufolge die Ideen der reinen Ver- nunft ungefähr so angegeben werden, wie sie Spinoza angegeben bat. . .. So fände also, wenn Zeitbestimmungen und alle sich darauf bezichenden Vorstellungen bloss scheinbar und subjektiv sind, die Vernunft alle ihre Forderungen in Spinozas System befriedigt, und sie würde nach einer solchen Befriedigung unbillig sein, wenn sie nun noch nach einer besonderen Gottheit forschen wollte, wenigstens fordert nunmehr das Interesse der Wahrheit keine Gottheit, als die Verstandeswelt.“ Der Verfasser gesteht selbst, dass „das nur Fol- gerungen seien, die des Herrn Kant Theorie in einem gehässigen Lichte darstellen. Aber zur Widerlegung derselben thut es doch an sich nichts, wenn sich auch aus derselben eine Deduktion des Spinozismus herausbringen liesse, deren er sich, soviel bekannt ist, noch bisher nicht zu rühmen gehabt hat. Wahr ist es, es sind nur Folgerungen, und dass sie gehässig scheinen, das thut mir leid, und sie sollen insofern auch nichts wider die Kantische Theorie beweisen.“?)

1) Nach Vaihinger ist die Sg. unterzeichnete Rezension von Pistorius verfasst. Siehe Vaihingers Kommentar zu Kants Kr. d. r. V. II S. 148. 2) À. a. O. S. 97 u. 98.

Kant und Spinoza. 287

Die mala fides in diesem Gerede ist unverkennbar. Zuerst prahlt der Mann damit, dass er der erste sei, der aus Kant Spinozismus deduziere, dann versichert er, wie leid es ihm thue, dass Kant dadurch in ein gehässiges Licht gestellt werde, und wie diese gehässige Deduktion auch so gar nichts gegen Kant beweisen wolle. Aber gerade diese Versicherungen offenbaren die wahre Absicht seiner Deduktion, zumal, da er Kant auch noch die Insinuation des Atheismus macht.

Auf diese perfide Konsequenzmacherei, deren Prämissen erst noch hätten richtig gestellt werden müssen, hat Kant selbstverständ- lich nicht reagiert. Er mochte wohl auch der Meinung sein, dass der Rezensent in der gleichzeitig erschienenen Schrift Kants: „Was heisst sich im Denken orientieren? 1786“ und in der Schrift Jakobs und den von Kant selbst beigefügten „Bemerkungen“ schon die hin- reichende Erwiderung und Abfertigung erhalten habe.

2. Wie Kant nämlich in einem Brief an Jacobi vom Oktober 1789 angiebt, war von verschiedenen Orten die Aufforderung an ihn ge- richtet worden, sich „vom Verdacht des Spinozismus zu reinigen“. „Wider seine Neigung“ sah er sich also zu einer Erklärung seiner wissenschaftlichen Stellung Spinoza gegenüber „genötigt“. Ohne sich auf die Materie des spinozistischen Systems einzulassen, zeigte hier Kant in einer längern Anmerkung, wie er von seinem erkenntnis- theoretischen Standpunkt aus Spinozas System nicht nur nicht an- erkennen, sondern von vornherein ganz und gar verwerfen müsse. im Text nämlich hat er den verhängnisvollen Missgriff Mendelssohns und Jacobis getadelt, von denen der Eine mit Berufung auf den gesunden Menschenverstand, der Andere auf Glauben und Gefühl den vernunftfeindlichen Satz aufgestellt hatten, der spinozistische Gottes- begriff sei zwar der einzige, der mit allen Grundsätzen der Vernunft übereinstimme, aber er sei dennoch zu verwerfen. Dazu macht er nun die Anmerkung, es sei kaum zu begreifen, „wie gedachte Ge- lebrte in der Kritik der reinen Vernunft Vorschub zum Spi- nozismus finden konnten“ und nun zählt er 4 Gründe auf, durch welche ein unausgleichlicher Gegensatz zwischen seinem und Spi- nozas System besteht: 1. Die Kritik beschneidet dem Dogmatismus

gänzlich die Flügel der Spinozismus ist so dogmatisch, dass er sogar mit dem Mathematiker wetteifert.!) 2. Die Kritik beweist,

dass die Tafel der reinen Verstandesbegriffe für alles unser Denken

1) Hier sagt also Kant selber, dass seine Polemik gegen die mathematische Methode in der K. d. r. V. ganz speziell Spinuza treffe (siehe oben Absch. I S. 276 u. fl.).

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Kant und Spinoza. 289

„einen Spinozismus“ involvieren. Merkwürdigerweise nämlich war Kant selber der Meinung, das bedeute schon soviel wie eine Wider- legung desselben und zwar sogar eine Widerlegung ex concessis. Wenn daher Kant jenes Rezensenten Vorwurf des Spinozismus irgend- wie für gewichtig und ernstlich und nicht für bloss sophistische Per- fidie angesehen hätte, hätte er sicherlich nicht unterlassen, sich da- gegen zu verteidigen. Er hätte diesen Vorwurf nicht auf sich sitzen lassen. Denn in der That, auch einem Kant schien der Spinozismus Wahrzeichen einer schlechten Philosophie zu sein und ein übles Licht auf den zu werfen, der dieses Prädikat wirklich verdiene. Das ergiebt sich deutlich aus einem im Jahr 1789 geschriebenen Brief Kants an Marcus Herz. Dieser hatte ihm ein Manuskript Mai- mons zur Einsicht übersandt. Kant schreibt nun, ihm scheine Mai- mon darthun zu wollen, dass man nach Leibniz-Wolffschen Grund- sätzen ganz wohl annehmen könne, dass Sinnlichkeit vom Verstand gar nicht spezifisch verschieden wäre, und dass die Synthesis a priori nur darum objektive Giltigkeit habe, weil der göttliche Verstand, von dem der unsrige nur ein Teil, oder der, nach Maimons Ausdruck, mit dem unsrigen einerlei sei, selbst Urheber der Formen und der Möglichkeit der Dinge der Welt (an sich selbst) sei. Er, Kant, zweifle zwar sehr, dass dies wirklich Leibnizens oder Wolffs Meinung gewesen sei, obwohl man sie wirklich aus ihren Erklärun- gen von der Sinnlichkeit im Gegensatz zum Verstand folgern könne. „Die, so sich zu jener Männer Lebrbegriff bekennen, fügt er hinzu, werden es schwerlich zugestehen, dass sie einen Spinozismus an- nehmen, denn in der That ist Herrn Maimons Vorstellungsart mit diesem einerlei und könnte vortrefflich dazu dienen, die Leibnizianer ex concessis zu widerlegen.“ Also wenn die Leibnizianer zugestehen würden, dass sie einen Spinozismus annehmen, könnte man sie ex eoncessis widerlegen. Warum? Weil nach damaliger allgemeiner Meinung Spinozismus = Atheismus war, dieser letztere aber als un- pbilosophisch und längst widerlegt galt. Wer irgendwie „einen Spinozismus“ konzediert, ist daher des Atheismus überführt, und sein ganzes System ist widerlegt.

5. Daraus ergiebt sich zweierlei für Kants Anschauungen: 1. Auch nach Kants Ansicht lehrt Spinoza den Atheismus; Spinoza hatte sich ja nach Kants wörtlichem Ausdruck sogar „zugetraut, selbst über die Möglichkeit eines höchsten Wesens (nach demjenigen Begriff, den die Religion braucht) durch Vernünfteleien zu entscheiden“ und hatte sich gegen die Möglichkeit des religiösen Gottesbegriffs

Kantstudien V. 19

290 Friedrich Heman,

entschieden. Spinozas Deus sive Natura war auch für Kant Atheis- mus im religiösen Verstand. Spinozist sein heisst darum auch für Kant religiöser Atheist sein. 2. Atheismus aber war auch nach Kants Ansicht eine schlechte Philosophie. Nicht weil Kant damals noch mit den Wolffianern geglaubt hätte, er sei längst widerlegt, sondern weil er nach den Grundsätzen der Kritik ebensowenig, wie der Theismus bewiesen oder beweisbar war; er war für Kant sogut wie der Theismus nur Dogmatismus, also Vernünftelei. Aber jeden- falls eine schlechtere, minderwertige Vernünftelei als der Theismus, der für Kant moralischen Wert hatte und ein Postulat der prak- tischen Vernunft und unentbehrlich für die Moralität, also, wenn auch nicht theoretisch, so doch praktisch beweisbar und als Postulat der Freiheit und Glückseligkeit bewiesen war. Denn, wie Kant durch Jakob erklärt hatte, unter den verschiedenen, sich wider- sprechenden metaphysischen Hypothesen eine auszuwählen und zu bevorzugen, können uns nur moralische Zwecke veranlassen. Und Kant bevorzugte zeitlebens den Theismus aus Gründen der prak- tischen Vernunft um der Moralität willen. Hätte man also etwa auch ihm wirklich in Bezug auf den Gottesbegriff „einen Spino- zismus“ nachweisen können, er hätte seine eigene Philosophie für ex concessis widerlegt gehalten und selber verdammt als eine schlechte, weil moralisch wertlose.

Mit all dem ist zwar noch nieht bewiesen, dass Kants Philo- sophie nicht vielleicht doch, so gut wie die Leibnizens, Elemente ent- hält, welche als zum Spinozismus führend gedeutet werden könnten und damit verwandt sind. Aber das ist doch bewiesen, dass Kant sich dessen jedenfalls nicht bewusst war, dass er dagegen pro- testiert und einen Spinozismus in seinem System nicht konzediert hätte. Kant wollte gewiss in keiner Hinsicht weder Spinozist sein, noch dafür gelten.

IV. Kants Polemik gegen Spinoza und Spinozismus.

1. Im Jacobi-Mendelssohnschen Streit hatte sich Kant neutral gehalten. Aber diese Neutralität bezog sich nicht auf Spinoza, son- dern auf Jacobi und Mendelssohn. An Jacobi gefiel ihm nicht die affektierte Genieschwärmerei und an Mendelssohns Polemik gegen den Spinozismus und an seiner ganzen Philosophie hatte Kant zu tadeln, dass sie ja doch auf demselben dogmatisierenden Boden stehe, auf dem Spinoza steht, also gegen Spinoza nichts auszurichten imstande- sei. Mit Jacobis Glaubensstandpunkt hätte Kant sym-

Kant und Spinoza. 291

pathisieren können, wenn nur nicht Jacobi im selben Atem er- klärt hätte, dass vom philosophischen Gesichtspunkt aus sich Spino- zas Philosophie nicht anfechten lasse; dass alle Philosophie spino- zistisch, atheistisch, nihilistisch sei und sein milisse; dass das philosophische Denken notwendig zu spinozistischen Resultaten kommen müsse. Mit Mendelssohn teilte Kant die innere Antipathie gegen Spinozas Philosophie, aber Mendelssohns schwächlicher Ratio- nalismus und naiver Dogmatismus, der sich nicht zu einem Ver- ständnis dessen, was die Kritik der reinen Vernunft wollte, aufzu- schwingen vermochte, konnte Kants Beifall natürlich ebensowenig gewinnen, wie Jacobis Ansichten ihn gewannen. Wegen der Männer, die den Streit führten, und ihrer Kampfesweise wollte und musste Kant neutral bleiben. Als er sich aber doch zur Sache äusserte in der Abhandlung, die Jakobs Schrift beigefügt war, da findet sich kein Wort zu Gunsten Spinozas oder des Spinozismus, sondern lauter Zurtickweisung und Verurteilung: „Angemasster Dogmatismus“, „Feld für Schwärmerei‘, „Kühnbeit, den Theismus stürzen zu wollen“. Aus Kants Worten spricht unverholene Antipathie des Gemüts und herbe Strenge des Urteils. Es ist nun charakteristisch für Kants Geist und Gemüt, Denkweise und Persönlichkeit, dass er zeitlebens weder seine Stimmung noch sein Urteil über Spinoza und den Spinozismus geändert hat. In keiner einzigen unter allen seinen Schriften findet sich ein freundliches, wohlwollendes, geschweige denn ein bei- stimmendes, lobendes Wort über Spinoza oder den Spinozismus; im besten Falle redet er davon mit objektiver Kälte, Es ist zweifel- haft, ob Kants intellektuelles Urteil über Spinozas Philosophie allein die antipathische Stimmung des Gemüts hervorgerufen, oder ob um- gekehrt die Antipathie gegen Spinozas Denkweise seinem intellek- tuellen Urteil die eigentümliche Schärfe verliehen hat. Kant, der das Primat der praktischen Vernunft behauptet, und Fichte, der den Grund auch der wissenschaftlichen Denkweise auf die Willens- riehtung zurtickfiihrt, veranlassen mich zur Meinung, dass Kants Animosität gegen Spinoza und Spinozismus hauptsächlich in Kants Charakter und Willensrichtung ihren Grund habe. Spinoza und Kant sind eben zwei gleich grosse und tiefe Denker und doch grundverschiedene Geister. Diese zwei Geister entquellen ganz ver- sehiedenen Gründen und wachsen aus ganz verschiedenem Natur- boden. Und auch die Geister sind nicht imstande, den natürlichen Bodengeruch abzulegen, dem sie entstammen.

Von nicht geringem Interesse ist es nun aber, zu beachten,

19°

292 Friedrich Heman,

welche Gedanken Spinozas Kant am meisten Anlass geben, um auf Ihn mit tadelndem Finger hinzuweisen. Es sind hauptsächlich die drel Glaubenspunkte, die Kant am meisten am Herzen liegen: Gott, Freoibeit, Unsterblichkeit. „Denn“, sagt Kant in seinen Vorlesungen her Metaphysik, „Gott, Freiheit, Unsterblichkeit sind die drei Ob- jekte, die ein praktisches Interesse mit sich führen und um derent- willen Metaphysik unternommen ist.“ (Siehe Heinze, Vorlesungen Kunts über Metaphysik aus drei Semestern. Leipzig 1894. S. 698 14. Bd. der Abhandl. der phil.-hist. Klasse der k. Sächs. Ges. der Wiss. No. VI) Überraschend ist nur, dass unter diesen Punkten nicht auch die Tugend erscheint, mit deren Begriffsbestimmung bei Spinoza Kant in keiner Hinsicht übereinstimmen konnte. Auch sehr viele andere Punkte ihrer gegensätzlichen Denkart sind von Kant nicht berührt worden. Warum? Hieraus dürfte man vielleicht am ehesten schliessen, dass Spinozas System doch nur nach seinen all- gemeinen Umrissen sachlich Kant bekannt war; wie denn auch auf- füllig ist, dass bei Kant kein einziges wörtliches Citat aus Spinoza vorkommt. Letzterem steht freilich entgegen, dass Kant auch andere Philosophen, von denen oder gegen die er redet, wie Leibniz, Wolff, Berkeley, Hume nicht wörtlich einzuführen pflegt, deren Schriften er doch ganz gewiss gekannt hat. Viel auffälliger und verdächtiger ist, dass es manchmal geradezu den Anschein gewinnt, Kants Hin- weis auf Spinoza hätte füglich unterlassen werden können und trage eigentlich nichts zu den Sachen selbst bei, von denen Kant gerade redet; er nenne wirklich nur Spinoza, um ihm wieder eins versetzen zu können. Dies ist's, was in uns den Verdacht einer dauernden Antipathie Kants gegen Spinoza erweckt.

2. In der kritischeu Beleuchtung der Analytik der reinen praktischen Vernunft handelt es sich vorzüglich um die Begründung und Rechtfertigung der Kantischen Lehre von der intelli- giblen Freiheit. Kant will nachweisen, dass seine Theorie die einzig mögliche ist, während alle andern unausweichlichen Schwierig- keiten unterliegen. Wenn man nämlich annimmt, Gott als all- gemeines Urwesen sei die Ursache auch der Existenz der Sub- stanz, dann ist der Mensch in seiner substanziellen Ganzheit ab- hiingig von einer Ursache, die gänzlich ausser seiner Gewalt ist und von der die ganze Bestimmung der menschlichen Kausalität ab- hängt. Der Mensch ist dann nur ..Marionette’ oder „Automat“ des höchsten Wesens. und man kann dem Fatalismus nicht entgehen. Diesem Fatalismus weicht man aus, wenn man unterscheidet und die

Kant und Spinoza. 293

Notwendigkeit der Kausalität und den Mechanismus auf die Sinnen- welt einschränkt, während die intelligible Welt, in der die Bestim- mungen von Raum und Zeit nicht gelten, auch nicht der Kausalität mit ihrem Mechanismus und ihrer Notwendigkeit unterworfen ist. So kann Freiheit bestehen. In der intelligiblen Welt, die nicht in Raum und Zeit besteht, gilt Kausalität durch Freiheit, und in diesem Sinne kann dann Gott auch der Urheber und Schöpfer des Menschen als Dinges an sich sein; in der Sinnenwelt aber gilt die Kausalität der Notwendigkeit, ihr Urheber kann nicht Gott sein. „Es wäre ein Widerspruch, zu sagen: Gott sei ein Schöpfer von Erscheinungen.“ Also kommt die Unfreiheit, die Notwendigkeit und der Mechanismus in dieser Sinnenwelt nicht von Gott, sondern von der Existenz der Sinnenwelt in Raum und Zeit. Es ist also sehr naiv und wenig scharfsinnig, wenn Mendelssohn den Unter- schied zwischen intelligibler Welt und Sinnenwelt in Raum und Zeit nicht macht, und dennoch dem von Gott geschaffenen Menschen, der in dieser Sinnenwelt existiert, Freiheit zuschreibt und ihn nicht will abhängig sein lassen von der alles bestimmenden Kausalität Gottes. Diese Freiheit und Unabhängigkeit des Menschen von Gott ist dureh- aus unbegründet und ungerechtfertigt. Gehört Raum und Zeit zu den Bestimmungen des Menschen als solchen, d. h. auch als Dinges an sich, dann ist unmöglich, dass er irgendwie von den Bedingungen der Zeit und des Raumes, von der Notwendigkeit des Handelns, ausgenommen sei. Dann verfährt Spinoza viel konsequenter, der Raum und Zeit als wesentliche Bestimmungen auch des Urwesens, der Substanz, setzt. Sind nämlich Raum und Zeit Bedingungen des Menschen als solehen, dann müssen sie auch Bedingungen dessen sein, was das eigentliche Wesen, die Substanz des Menschen ist, und das ist bei Spinoza das Urwesen selbst. Woher nimmt denn Men- delssohn die Befugnis, Raum und Zeit dem Menschenwesen als solchem zuschreiben zu wollen, während doch der Urheber dieses Menschenwesens davon frei sein soll? Und im selben Atemzug schreibt er dem Menschen Freiheit zu, während er ihn doch dem Raum und der Zeit, dem Grund aller Notwendigkeit, unterworfen sein lässt. Man muss wie Spinoza konsequenter sein: Raum (und Zeit) kommt dem Urwesen zu, daher auch dem vom Urwesen abhängigen * Menschen, daher umsehlingt dieselbe Notwendigkeit die Substanz und ihren Modus. Freiheit ist also unmöglich in der gewöhnlichen inkonsequenten Schipfungstheorie, wonach der über Raum und Zeit erhabene Gott, der die alles bestimmende Weltursache ist, den

294 Friedrich Heman,

Menschen in Raum und Zeit erschaflt, der dann doch von seinem Schöpfer frei und unabhängig sein soll. Das ist alles inkonsequent: 1. eine Wirkung wird gesetzt, die gegenüber ihrer Ursache frei sein soll; 2. die Ursache soll nieht in Raum und Zeit sein, die Wirkung soll es sein; 3. aus Raum und Zeit ergiebt sich notwendig der Naturmechanismus, aber der Mensch in diesem Raum und dieser Zeit soll doch von diesem Mechanismus frei sein. Will man kon- sequent sein und doch nicht der alle Freiheit vernichtenden Kon- sequenz Spinozas verfallen, dann muss man Kants Theorie an- nehmen, dass Raum und Zeit nur Bedingungen der Sinnenwelt und ihrer Erscheinungen sind, wo allerdings keine Freiheit statthaben kann, dass aber die intelligible Welt und das intelligible Subjekt über Raum und Zeit erhaben sind, und da kann Freiheit (Kausa- lität durch Freiheit) ihre Stätte haben,

Also Spinoza wird hier nur als abschreckendes Beispiel ge- nannt. Wenn man nieht Kantianer ist, muss man Spinozist sein, um wenigstens dem Vorwurf des inkonsequenten Denkens zu ent- gehen. Aber damit man ja nicht glaube, Kant wolle wirklich Spinoza loben und empfehlen, so setzt er verächtlich hinzu: „Der Spinozismus, unerachtet der Ungereimtheit seiner Grundidee“,

Worin besteht denn diese Ungereimtheit? Das merken wir deutlich, wenn wir auf den Anfang dieser Auseinandersetzung achten. Nach Spinoza ist Gott nicht die Ursache der Existenz der Substanz, sondern Gottist die Substanz selbst, Deus sive natura, Gott und Substanz sind identische Begriffe Aber Kant betont; „Der Satz, Gott ist Ursache der Substanz, ist ein Satz, der niemals darf aufgegeben werden, ohne den Begriff von Gott als Wesen aller Wesen und hiermit seine Allgentigsamkeit, auf die alles in der Theologie ankommt, zugleich mit aufzugeben.“ Also des Spinozismus Ungereimtheit besteht darin, dass Gott das Wesen aller Wesen und doch mit der Substanz identisch sein soll, während Kants Behaup- tung dahin geht: Gott kann nur das Wesen aller Wesen sein, wenn er Ursache der Substanz ist. Das ist's, worauf in der Theologie alles ankommt. Den Satz, der nie darf aufgegeben werden, hat Spinoza geleugnet, und das Gegenteil behauptet, also ist seine ent-

+ gegengesetzte Grundidee ungereimt.

Diese „Ungereimtheit der Grundidee“ des Spinozismus ist der tiefste Grund der Kantischen Antipathie gegen Spinoza. Darauf kommt Kant immer und immer zurück, denn dieser Grundgedanke ist für ibn der Grundfehler, der ihn immer wieder zur Polemik reizt.

Kant und Spinoza. 295

3. Das zeigt sich denn auch in der Kritik der Urteilskraft $ 73. Hier werden Epikur und Spinoza als die Vertreter eines dogmatischen Idealismus angeführt, der die objektive Realität von Zweckursachen als solchen in der Natur leugnet. Objektiv und wirklich findet sich demnach keine von einer absichtlich zweck- setzenden Ursache herrübrende Zweekmässigkeit in der Natur vor. Epikur nun behauptet, dass unter den unzähligen Bewegungen in der Natur auch solche seien, welche zufällig und absichtslos Resultate erzeugen, welehe in gewisser Hinsicht zweckmiissig nicht bloss scheinen, sondern sind. Aber diese zweckmässigen Naturdinge sind doch nur Produkte einer absichtslosen „Kasualität“, einer blossen Mechanik, keiner Technik. Aber bei dieser Ansicht bleibt unerklärt, wie in uns auch nur der Schein einer absichtlichen Teleologie und Technik der Natur entstehen konnte; wie sind dann überhaupt unsere teleologischen Urteile möglich? Wie kommen wir dazu, solche zu fällen, da überall nur Mechanismus herrscht und gilt? Herrscht in der gesamten, auch in der organischen Natur nur Mechanik, dann auch im Menschen; dann ist auch im menschlichen Leben und Han- deln keine wirkliche zwecksetzende Ursache thätig, sein Handeln ist auch nur zufällig zweckmässig; dann auch das Urteilen des Menschen; dann wäre es ganz unerklärlich, dass dem Menschen einfallen könnte, auch absichtlich teleologische Urteile fällen zu wollen.

Nicht besser ist's mit Spinozas Theorie bestellt. Der „will uns aller Nachfrage nach dem Grund der Möglichkeit der Zwecke der Natur dadurch überheben und dieser Idee alle Realität nehmen, dass er sie überhaupt nicht für Produkte, sondern für einem Urwesen in- härierende Accidenzen gelten lässt, und diesem Wesen, als der Sub- stanz jener Naturdinge, in Ansehung derselben nicht Kausalität, son- dern bloss Subsistenz beilegt, und (wegen der unbedingten Notwen- digkeit desselben, samt allen Naturdingen, als ihm inhärierenden Accidenzen) den Naturformen zwar die Einheit des Grundes, die zu aller Zweckmässigkeit erforderlich ist, sichert, aber zugleich die Zu- fälligkeit derselben, ohne die keine Zweckeinheit gedacht werden kann, entreisst und mit ihr alles Absichtliche, sowie dem Urgrunde der Naturdinge allen Verstand wegnimmt.“ „Der Spinozismus leistet aber das nicht, was er will. Er will einen Erklärungsgrund der Zweekverknüpfung (die er nicht leugnet) der Dinge der Natur an- geben, und nennt bloss die Einheit des Subjekts, dem sie inhärieren.“ „Aber die ontologische Einheit ist darum doch noch nicht sofort Zweckeinheit und macht diese keineswegs begreiflich. Die letztere

296 Friedrich Heman,

ist nämlich eine ganz besondere Art derselben, die aus der Ver- knüpfung der Dinge (Weltwesen) in einem Subjekt (dem Urwesen) gar nicht folgt, sondern durchaus die Beziehung auf eine Ursache, die Verstand hat, bei sich führt und selbst, wenn man alle diese Dinge in einem einfachen Subjekte vereinigte, doch niemals eine Zweckbeziehung darstellt; wofern man unter ihnen nicht erstlich innere Wirkungen der Substanz, als einer Ursache, zweitens eben- derselben, als Ursache durch ihren Verstand denkt.“ Also Spinoza kann die Teleologie in der Natur, die er nicht leugnet, darum nicht erklären, weil sein Urwesen 1. zwar die Substanz, aber nicht 2. die Ursache der Naturdinge, und 3. nicht die Ursache, die Verstand hat, ist. Also wieder ist es „die Ungereimtheit der Grundidee des Spinozismus“, die ihn an der Erklärung auch des Problems der Teleologie hindert. Und ganz dieselben Gedanken wiederholt Kant am Schluss des § 80. Spinoza nimmt eine Substanz an, die aber keine Kausalität hat; aber um die Zweckmässigkeit der Dinge zu erklären, bedarf es 1. einer einfachen, 2. einer kausalen und 3. zugleich „intelligenten Substanz“.

4. In eben dieser Stelle bezeichnet Kant den Spinozismus als Pantheismus. Es ist ihm die Theorie, welche ‚einen obersten Grund der Möglichkeit sucht, ohne ihm einen Verstand zuzugestehen.“ Die Pantheisten „machen das Weltganze zu einer ewigen allbefassenden Substanz oder (welches nur eine bestimmtere Erklärung des vorigen ist) zu einem Inbegriff vieler, einer einzigen einfachen Substanz inhärierenden Bestimmungen (Spinozismus).“*

Dieser Pantheismus Spinozas wird aber von Kant nicht als Akos- mismus aufgefasst, sondern als Atheismus, weil diesem „obersten Grund aller Möglichkeit“ „kein Verstand“ zukommt. Wir haben aber gehört, dass nach Kant in der Theologie alles darauf ankommt, dass Gott als Kausalität und als Verstand bestimmt wird. Dieser Satz darf nicht aufgegeben werden: Dies ist die Ungereimtheit der Grund- idee Spinozas. Dass für Kant Pantheismus = Atheismus ist, das ist aus der folgenden Stelle zu ersehen, in der Spinoza von Kant genannt wird.

5. In der 1793 erschienenen zweiten Auflage der Kritik der Urteilskraft führt nämlich Kant am Schluss des § 87 noch ein- mal beispielsweise Spinoza an. Kant sagt: „Wir können einen recht- schaffenen Mann annehmen, der sich fest überzeugt hält, es sei kein Gott und... auch kein künftiges Leben.“ Als Beispiel solchen Mannes fübrt er nun Spinoza an, indem er hinter dem Wort Mann

Kant und Spinoza. 297

„(wie etwa den Spinoza)“ einfügt. In der ersten Auflage lautet der Satz ganz gleich, wie in der zweiten, nur ohne das Einschiebsel. Dieser Zusatz hätte ganz gut wegbleiben können, denn er stürt mehr den Zusammenhang, als dass er ihn klärt, weil der Leser sich erst fragen wird, ob Spinoza wirklich solch ein Mann gewesen sei. Aber warum führt Kant hier Spinoza als solchen Mann an? Einfach durch Gedankenassoeiation. Kant ist so gewohnt, sich Spinoza als einen rechtschaffenen Atheisten, der Gott und Unsterblichkeit leugnet, zu denken, dass, wenn er von einem solehen Manne reden will, ihm unwillkürlich Spinoza einfällt. Das ist charakteristisch für Kants Ansichten über Spinoza und Spinozismus, Den Mann selbst hält er für sittlich rechtschaffen und unantastbar, was nicht alle seine Zeitgenossen thaten, aber, wie alle diese, hält auch Kant das System für Atheismus, denn der Substanz Spinozas fehlen die beiden Prädikate, welche gerade die wesentlichsten des Gottes- begrifts sind: Kausalität (Allmacht) und Intelligenz (Weisheit). Eine Substanz ohne diese Prädikate kann nicht „Gott“ sein. An diesem Gottesbegriff hat Kant zeitlebens festgehalten; ihn stellt er so noch unzähligemale in seinen allerletzten Aufzeichnungen auf.

6. Von ganz besonderer Wichtigkeit ist aber nun die Stelle in der 1790 erschienenen Schrift Kants: Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll, denn hier spriebt sich Kant prinzipiell über Spinozas Substanz in ihrem Verhältnis zu den Aceidenzen (den Dingen) aus. Er thut es in einer eigens dieser Sache gewidmeten Anmerkung, und höchst interessant ist, wie er es thut. Im Texte ist von Spinoza nicht die Rede und eigentlich auch keine direkte Veranlassung dazu, denn es handelt sich wesent- lich um ein Dogma der Leibnizischen Philosophie, das Eberhard gegen Kant und seine Kritik ausgespielt hatte. Es ist der Satz Leibnizens: Substanz ist Kraft. Warum Eberhard diesen Satz Leib- nizens beizog, und was er damit gegen Kant beweisen wollte, da- rauf brauchen wir nicht genauer einzugehen; es würde dies zu weit von unserer Sache abführen. Genug, Eberhard hatte sich darauf berufen, dass man aus dem blossen Begriff der Kategorie „Substanz“ sehon eine Erkenntnis schöpfen könne, nämlich die, dass sie Kraft sei, also seien Verstandesbegriffe ohne Anschauung doch nicht so leer, wie Kant behaupte. Statt dass nun aber Kant, wenn er jenen Satz bestreiten wollte, auf Leibniz, den Urheber desselben, zurück- gegangen wäre und gegen Leibniz polemisiert hätte, erwähnt er

298 Friedrich Heman,

Leibnizens mit keinem Wort, sondern greift weiter zurück auf Spinoza, um auf diesen den Vorwurf, die metaphysischen Begriffe „Substanz“ und „Kraft“ konfundiert zu haben, zu wälzen. Kant weiss recht wohl, dass nicht Spinoza den Satz: „Substanz ist Kraft“ aufgestellt hat, darum wählt er, wo er von der angerichteten Konfusion redet, kluger Weise die Redeform: „ganz so, wie Spinoza es haben wollte“ Er will damit sagen: die Verwechslung und die Vertauschung der Begriffe „Substanz“ mit „Kraft (Ursache)“ und „Aceidens (Inhärenz)“ mit „Wirkung“, das ist ganz im Geist und Sinn Spinozas; der hat den Anstoss zu dieser Konfusion gegeben, er hat diesen Satz „Sub- stanz ist Kraft“ zwar nicht aufgestellt, aber die stete Verwechslung und Vertauschung von „Inhärenz“ und „Wirkung“, die ist in seinem Sinn, deren macht sich Spinoza nach Kant fortwährend schuldig. Darum ist eigentlich Spinoza der Urheber des „in seinen Folgen der Metaphysik sehr nachteiligen Satzes“ „Der Satz: das Ding (die Substanz) ist eine Kraft, statt des ganz natürlichen: die Sub- stanz hat eine Kraft, ist ein allen ontologischen Begriffen wider- streitender Satz.“ Also hier muss Spinoza den Sündenbock für Leibniz abgeben. Hier wäre direkter Anlass gewesen, gegen Leibniz die ganze Polemik zu richten, weil hier nur von dem Satz: „Substanz ist Kraft“ direkt die Rede ist. Statt dessen greift Kant auf eine Folge aus diesem Satz, nämlich wenn Substanz Kraft, dann ist Accidenz = Wirkung, und polemisiert gegen Spinoza, der diese Verwechslung „recht so haben wollte“,

Auf den ersten Anblick möchte darin eine arge Gehässigkeit und mala fides gegen Spinoza von Seite Kants gefunden werden können. Man möchte sagen, Kant habe gegen den allverehrten, grossen Leibniz offen zu polemisieren sich nieht getraut und daher die Sache aufs Konto des allgehassten Spinoza geschrieben. Aber so ist es doch nicht ganz. Es ist zwar allerdings ein wenig stark, dass Kant selbst da, wo er gegen einen von Leibniz allein und zu- erst direkt ausgesprochenen Satz direkt polemisiert, Leibniz auch nicht einmal nennt, so streng hätte sich Kant an seinen in der Ein- leitung der Schrift ausgesprochenen Vorsatz nicht zu halten brauchen: „Am besten ist es also: Wir lassen diesen berühmten Mann aus dem Spiel“ Hat er den berühmten Leibniz aus dem Spiel gelassen, so hätte er eigentlich erst recht auch den vielgeschmähten Spinoza aus dem Spiel lassen sollen, von dem garnicht direkt die Rede sein konnte. Aber es ist nun einmal so bei Kant: bei allem Verkehrten, Irrtümlichen, das ihm aufstösst, füllt ihm gleich Spinoza ein, und der kriegt die Prügel, die der andere verdient hat.

Kant und Spinoza. 299

Also wir müssen zugeben: die Gelegenheit, gegen Spinoza zu polemisieren ist wieder einmal vom Zaun gerissen, und das zeugt von tiefer Antipathie gegen Spinoza.

Was hat Kant gegen Spinoza einzuwenden? Das, dass er „die allgemeine Abhängigkeit aller Dinge der Welt von einem Urwesen, als ihrer gemeinschaftlichen Ursache, indem er diese allgemein wirkende Kraft selbst zur Substanz machte, ebendadurch jener ihre Dependenz in eine Inhärenz in der letzteren verwandelte.“ Eine Substanz hat wohl, ausser ihrem Verhältnisse als Subjekt zu den Accidenzen (und deren Inhärenz) noch das Verhältnis zu eben denselben, als Ursache zu Wirkungen; aber jenes ist nicht mit dem letzteren einerlei. „Die Kraft ist nicht das, was den Grund der Existenz der Aceidenzen enthält, (denn den enthält die Substanz), sondern ist der Begriff von dem blossen Verhältnis der Substanz zu den letzteren, sofern sie den Grund derselben enthält, und dieses Verhältnis ist von dem der Inhärenz völlig verschieden“ Nach Kant identifiziert Spinoza die blosse Inhärenz mit der Dependenz; dies ist falsch. Nicht weil etwas einer Substanz inhäriert, ist es auch seiner Existenz nach von der Substanz verursacht und gesetzt als ihre Wirkung, sondern es ist nur gesetzt als ihr Aceidenz. Substanzen können auch Aceidenzen haben, deren Existenz nicht von der Substanz, der sie inhärieren, verursacht ist. Z. B. bei der Bild- säule Kaiser Wilhelms inhäriert die Gestalt dem Marmor als Aceidens der Substanz, trotzdem ist die Gestalt des Marmors nieht auch Wirkung desselben, sondern Wirkung des Künstlers, also einer andern Substanz. Nur unter Umständen, d. h. wenn die Substanz die nötige Kraft hat, kann ein Accidens der Substanz zugleich ihre Wirkung sein. Also ist es falsch, Accidens und Dependenz schlecht- hin zu indentifizieren. Im Begriff der Substanz liegt nur das Merkmal: Subjekt der Inhärenz, aber nicht der Begriff der Kraft, d. b. der Ursache einer Wirkung. Eine Substanz kann Kraft haben, aber sie ist nicht als solehe schon Kraft. Ein Aceidens, das einer Substanz inhäriert, ist nur dann Wirkung dieser Substanz, insofern und wenn dieser Substanz die erforderliche Kraft zu- kommt. „Der Satz: das Ding (die Substanz) ist eine Kratt, statt des ganz natürlichen: die Substanz hat eine Kraft, ist ein allen ontologischen Begriffen widerstreitender und in seinen Folgen der Metaphysik sehr nachteiliger Satz.“ Dies ist in der That richtig. Logisch sind Substanz und Ursache zwei ganz verschiedene Begriffe, die ganz verschiedenen Inhalt haben, also nicht identifiziert werden

wo Friedrich Heman,

durien Bs ist logische Konfusion, SR schlechthin vereinerleit.

Aber trifft denn dieser Vorwurf wirklich Spinoza? Wir glauben wit nichten; vielmehr trifft er nur Leibniz; dieser hat die Kraft für das Grundwesen der Substanz erklärt und gesagt: Die Substanzen sind Kräfte, und die Kräfte sind das Substanzielle jedes Dings. Er nimmt viele Substanzen an, deren jede ihre eignen Kräfte hat. Da muss freilich gefragt werden, ob ein Aceidenz wirklich Wirkung dieser Substanz ist, der es inhäriert, oder Wirkung einer andern Substanz auf jene erstere. Da ist Inhärenz noch nicht an sich schon Dependenz.

Ganz anders aber bei Spinoza. Er hat gleich im Anfang seines Spekulierens ja bewiesen, dass es nur eine einzige Substanz giebt, der alle Dinge der Welt als Aceidenzen (Modi) inhärieren. Giebt es nur eine Substanz, dann giebt es auch nur ein e Ursache (Kraft); dann sind alle Accidenzen (Modi) zugleich auch Wirkungen dieser einen Kraft, welche der einzigen Substanz zukommt. Die eine Substanz ist zwar logisch betrachtet nicht als solche Kraft, aber sie hat alle Kraft, weil sie die einzige Substanz ist und nur Substanzen Kräfte haben können, Also sind alle Aceidenzen sowohl Inhärenzen, als auch Dependenzen der einen Substanz, die alle Kraft hat. Also ist es keine Konfusion, sondern ganz richtig, wenn Spinoza jegliches Aceidens zugleich als Wirkung dieser einen Substanz, ausser der nichts ist, was Kraft hat, auffassen würde, Bei Spinoza könnte nicht nur, sondern müsste sogar Substanz = Ursache und Inhärenz Dependenz sein, weil die Substanz nur eine und alle Aceidenzen sie allein zur kräftigen Ursache haben. Spinoza könnte Inhärenz und Dependenz indentifizieren, ohne dass er die Kon- fusion begeht, mit Leibniz zu sagen: Die Substanz ist Kraft. Die Substanz ist Ursache aller Dinge, weil sie allein alle Kraft hat.

Aber wir müssen noch einen Schritt weiter gehen. Die Sub- stanzen haben Kräfte, und Kräfte kommen nur den Substanzen zu, Woher aber haben die einzelnen Substanzen ihre Kräfte? Da nach der Logik und Ontologie mit dem Begriff der Substanz noch nicht der Begriff der Kraft gegeben ist, und somit die Substanzen nicht an sich Kräfte sind, sondern nur Kräfte haben können, so müssen wir allerdings fragen: woher kommen den einzelnen bestimmten Substanzen ihre einzelnen bestimmten Kräfte? Wenn sie den Sub- stanzen nicht an sich, kraft ihres Substanzseins zukommen, so müssen sie ihnen anders woher zukommen. Darum betont Kant, wie wir

Kant und Spinoza. 301

oben gehört haben, so stark, dass wir Gott als die Ursache der Existenz der Substanzen bestimmen müssen, Nach Spinoza aber ist Gott nicht Ursache der Substanz, sondern er ist selbst die Substanz, folglich hat er auch alle Kraft und Kräfte (Kausalität) nicht von einem andern, sondern durch sich selbst. Ihm ist es daher nicht aceidentell, Kraft zu haben, sondern substanziell kommt ihm alle Kraft zu. Für ihn ist es wesentlich, alle Kraft und Kausalität zu besitzen: die eine Substanz ist zugleich die einzige Kausalität, In Gott ist Substanz Ursache und Ursache Sub- stanz. Wenn also Spinoza wirklich gesagt hätte: Die Substanz ist die Kraft, so hätte er (in seinem Sinn verstanden) ganz recht geredet, da zwar nicht logisch, aber der Wirklichkeit nach in Gott beides identisch ist. Falsch ist dagegen, wenn Leibniz nun ontologisch die Substanzen für Kräfte und Kräfte für Substanzen erklärt und behauptet, das Wesen der Substanzen seien Kräfte und Sub- stanzsein sei Kraftsein. Was nur der göttlichen Substanz zu- kommt, weil sie die alleinige Substanz ist, hat Leibniz allen Sub- stanzen zugeschrieben, nämlich nicht bloss Kraft zu haben, sondern Kraft zu sein. Kant aber ist der Meinung, nicht erst Leibniz, sondern schon Spinoza habe diese Verwechslung verschuldet oder wenigstens „recht so haben wollen“.

Übrigens ist es ganz gut möglich, dass Leibniz wirklich durch Spinoza auf den Gedanken gekommen ist, die Substanzen schlecht- hin für Kräfte zu erklären, und was nach Spinoza nur von der einen, göttlichen Substanz gilt, auf alle Substanzen zu übertragen. Kant hätte uns somit auf die Quelle der Leibnizschen Idee geführt. Aber Irrtum Kants ist es, Spinoza zum Mitschuldigen der Verwechs- lung zu stempeln und ihm einen Satz anzudichten, der „allen onto- logischen Begriffen widerstreitet.“ Kant sieht und versteht eben Spinoza hier nur durch die Leibniz-Wolffsche Brille. Er erkennt nieht, dass selbst wenn Spinoza dasselbe gesagt hätte, was Leibniz gesagt hat, es doch im Munde Spinozas einen ganz andern Sinn hätte, als in dem Leibnizens.

Kant wäre aber nicht darauf gekommen, Spinoza für den intellektuellen Urheber des Leibnizschen Satzes: Die Substanz ist Kraft, zu erklären, wenn er sich nicht doch mit Spinozas System genauer bekannt gemacht hätte. Gerade dass er hier dem Leibniz den Spinoza substituiert, beweist, dass, was Kant im Anfang der 1780er Jahre gesagt hatte, er habe Spinoza niemals recht studiert, für 1790 nicht mehr gilt. Mittlerweile hatte er sich doch in Spinoza

302 Friedrich Heman,

umgesehen. Dass Kant um 1790 herum sich mehr mit Spinoza be- schäftigt haben muss, geht nicht bloss aus unsrer Stelle hervor, sondern noch mehr aus den (von Heinze veröffentlichten) „‚Vor- lesungen über Metaphysik“, welche Kant in diesen Jahren hielt, und in denen Spinoza des üftern genannt wird,

7. Vorher haben wir aber noch eine Stelle aus einer von Kant selbst edierten Schrift zu betrachten. Es ist die 1794 veröffentlichte Schrift: Das Ende aller Dinge. Hier nimmt er Veranlassung, uns die Genealogie des Spinozismus auseinanderzusetzen. Er stammt in allerletzter Linie aus der Mystik. Der „nachgrübelnde Mensch‘ sucht nämlich nach einem erreichbaren Endzweck des Weltlaufs und Menschenlebens. Darüber gerät er in die Mystik (denn die Ver- nunft, weil sie sich nicht leicht mit ihrem immanenten d. i. praktischen Gebrauch begnügt, sondern gern im Transscendenten etwas wagt, hat auch ihre Geheimnisse). In der Mystik aber versteht die Ver- nunft sich selbst nicht, noch was sie will, sondern schwärmt lieber, als dass sie sich, wie es einem intellektuellen Bewohner einer Sinnenwelt geziemt, innerhalb der Grenzen dieser eingeschränkt hält. „Daher kommt das Ungeheuer von System des Laokiun von dem höchsten Gut, das im Nichts bestehen soll: d. i. im Bewusstsein, sich in den Abgrund der Gottheit, durch das Zusammenfliessen mit derselben und also durch Vernichtung seiner Persönlichkeit ver- sehlungen zu fühlen. Daher dann der Pantheismus (der Tibe- taner und andrer östlicher Völker) und der aus der metaphysischen Sublimierung desselben in der Folge erzeugte Spinozismus; welche beide mit dem uralten Emanationssystem aller Menschenseelen aus der Gottheit (und ihrer endlichen Resorption in dieselbe) nahe verschwistert sind.“ Eine saubere Herkunft das! Die Urmutter ist die Mystik, d. h. die ausschweifende, schwärmerische Vernunft, die selbst nicht weiss, was sie ist und was sie will. Von ihr ist das uralte Emanationssystem geboren; dessen Erzeugnis ist das Unge- heuer von System des Buddhismus; mit diesem nahe verschwistert ist der Pantheismus, aus dessen metaphysischer Sublimierung in der Folge der Spinozismus geboren ist. Welch ein Skandal, einer so kompromittierenden Sippe anzugehören und solche Urgrossmutter zu besitzen und mit allerlei Ungeheuern verschwistert zu sein! Kant kann eben dem Spinoza unter keinen Umständen seinen Pantheismus d. h. Atheismus, welcher die Persönlichkeit Gottes und die persün- liche .Unsterblichkeit des Menschen leugnet, verzeihen! Das ganze System ist ihm verhasst, weil er es für verderblich hält, und dies ist es, weil es Pantheismus, d. i. Atheismus ist.

Kant und Spinoza. 303

8. Aber diese Stelle giebt uns noch einen wertvollen Aufschluss darüber, wie Kant den Pantheismus Spinozas aufgefasst hat. Un- zweifelhaft ist ihm, dass der Spinozismus nur metaphysisch subli- mierter Pantheismus ist. Aber es ist kein im landläufigen Sinne emanatistisch zu verstehender Pantheismus, denn er ist mit dem uralten Emanationssystem nicht identisch, sondern nur „nahe verschwistert“. Diese Bestimmung ist auffallend und beweist, dass Kant doch Spinoza genauer studiert und gekannt hat, als die meisten seiner Zeitgenossen, welche alle kurzer Hand den Spinozismus durchaus emanatistisch aufgefasst haben gleich dem des Giordano Bruno. In diesem Stück ist Kant scharfsichtiger: Er glaubt zwischen Pantheismus und Emanationssystem einen Unterschied machen zu müssen. Er ist ihm ein sublimierter Pantheismus. Worin besteht nun aber der Unterschied zwischen dem Spinozismus und dem nur „nahe verschwisterten“ Emanationssystem? Pantheismus ist die Theorie, nach welcher Gott und die Welt nicht wahrhaft verschie- denen Wesens, sondern ein und dasselbe Wesen sind. Gott ist das Wesen, die Substanz, die Einheit der Dinge; die Welt der Dinge ist die Erscheinung des Wesens, die Modi der Substanz, die Vielheit aus der Einheit. Das eine Wesen, die eine Substanz ist in un- getrennter Einheit Gott und stellt sich in der gesonderten Vielheit als Welt dar, so dass Gott in allen Dingen und alle Dinge in ihm sind. Ausser Gott giebt es kein Wesen und keine Substanz und alles, was ist, ist nichts ohne Gott und besteht nur als Manifestation des göttlichen Wesens, als Erscheinung der göttlichen Substanz. Die Emanationslehre aber ist nun die Theorie von der Art, wie die Dinge aus Gott hervorgehen, wie die Manifestationen und Er- scheinungen des Wesens sich bilden, wie die Substanz sich zu Modis gestaltet. Alle pantheistischen Systeme bestimmen dieses Werden der Dinge aus Gott als ein Herausfliessen, Ueberfliessen, emanatio, effluxus, éxeÿgo; die Substanz ist die Quelle (fons), aus der wie Ströme (rivuli) die Dinge hervorfliessen. „Denke dir eine Quelle,“ sagt Plotin, „die keinen Anfang weiter hat, sich selbst aber den Flüssen mitteilt, ohne dass sie erschöpft wird durch die Flüsse, vielmehr ruhig in sich selbst beharrt.“ Bei diesem Ausfliessen des Besondern aus dem Allgemeinen, des Niedern aus dem Höhern, des Unvollkommnen aus dem Vollkommnen, des Endlichen aus dem Un- endlichen findet auch ein stufenmässiges Abnehmen der Vollkommen- heiten der Ausflisse statt; wie die Stärke der Sonnenstrahlen in der grösseren Entfernung abnehmen; so kommt in der Reihe der

304 Friedrich Heman,

Emanationen das Bessere zuerst, aus welchem das Geringere sich bildet und so fort bis herab zum Schlechtesten. Die Welt ist also der Ausfluss der überquellenden Überfülle der Gottheit.

Die Emanationslehre ist demnach nur ein Theorem innerhalb des Systems des Pantheismus, kein selbständiges, dem Pantheismus koordiniertes System. Der Pantheismus besitzt keine andre Er- klärung für das Werden der Dinge, als die emanatistische; Gott ist die natura naturans und die Welt ist die natura naturata, die aus Gott geflossen ist, wie das Wasser aus der Quelle. Ausser der Emanationstheorie giebt es ja nur noch die Kreationstheorie, und die muss der Pantheismus gänzlich ablehnen. Der Pantheismus kann also das Werden Gottes zur Welt gar nicht anders, wie als Emanation bestimmen. Und alle Emanation setzt Pantheismus voraus, Um so auffälliger ist, dass Kant sagt, Pantheismus und Spinozismus seien beide mit der Emanationslehre nur „nahe verschwistert“. Er kann sich also einen Pantheismus denken, der nicht die Emanationslehre involviert, und der Spinozismus ist ihm solcher Pantheismus. Wenn nämlich der Pantheismus die Dinge überhaupt nicht als „geworden*, sondern einfach als ,seiend in Gott betrachtet, dann fällt die Emanation weg. Die Eleaten z. B. verzichteten überbaupt darauf, das Werden aus dem Sein abzuleiten und die Beziehung der Welt der Meinung zum allein und wahrhaft Seienden zu erklären. Es lässt sich nämlich denken, dass die Welt der Dinge, die zwar unter sich wechseln, entstehen und vergehen, überhaupt ungeworden ist und von Ewigkeit her mit Gott in Gott besteht. Gott ist also nie ohne die Welt gewesen, so wenig als eine Welt ohne Gott sein kann. Die Substanz ist ja nur Substanz, sofern in ihr Aceidenzen inhärieren, und sie kann nicht ohne die Aceidenzen existieren, so- wenig als die Aceidenzen ohne Substanz. Substanz und Aceidens sind durchaus korrelative Begriffe, von denen der eine den andern voraussetzt, und beide können auch nur miteinander sein und be- griffen werden. Nicht ist die Substanz zuerst und hernach kommen die Aceidenzen hinterdrein, sondern beide sind zugleich, und nieht wirkt die Substanz ihre Aceidenzen, sondern sie trägt sie in sich und ist in ihnen, Ein solcher, das Werden der Dinge aus Gott abweisender und das Hervorgehen aus Gott leugnender Pan- theismus scheint Kant der Spinozismus zu sein; darum ist er mit dem emanatistischen Pantheismus nur nahe verschwistert, aber nicht mit ihm eins.

Kant kann durch nichts anderes veranlasst worden sein, den

Kant und Spinoza. 305

Spinozismus so zu klassifizieren, als dadurch, dass Spinoza des üftern erklärt, dass die Dinge in Gott liegen mit derselben Notwendigkeit und derselben Ewigkeit, wie in der Natur des Dreiecks liegt, dass seine Winkel gleich zwei Rechten sind. Nach Spinoza ist ja nicht zuerst Gott und dann erst die Welt; sondern Gott und Welt sind gleich ewig. Gott ist nur das logische Prius der Welt, aber nicht der Zeit und der Wirklichkeit nach. Die Dinge fliessen nicht aus Gott oder der Substanz heraus, sonst wären Gott und Welt ver- schieden und zweierlei der Wirklichkeit nach, wie die Quelle etwas anderes ist, als die ihr entströmenden Flüsse; dann gäbe es zweierlei Wirkliches, die Substanz und die ihr emanierten Dinge. Aber es giebt nur Ein Wirkliches und Seiendes, das ist Gott, die Sub- stanz, die Natur oder was dasselbe sagen will, die Welt der Dinge, denn die Substanz ist das Wirkliche in den Dingen, und die Dinge sind wirklich in der Substanz. Gott und Welt, Substanz und Dinge, Natura naturans und Natura naturata sind bloss unterschieden, aber nicht geschieden, und nur zweierlei dem Begriff nach, aber nicht zweierlei der Wirklichkeit nach. Gott wirkt nicht die Welt aus sieh heraus, die Substanz entlässt nicht aus sich ihre Modi, aber des- wegen ist weder bloss die Gottheit, als ob die Welt nur Schein und Unwirkliches wäre, noch ist bloss die Natur, als ob nicht auch Gott wäre. Sobald man die Dinge als emaniert aus der Substanz auffasst, kommt eine Spaltung und Scheidung in das Verhältnis. Das wahre Verhältnis Gottes zur Welt und der Welt zu Gott ist viel intimer, als der Begriff der Emanation gestattet, Gott ist ja nicht ausser den Dingen und die Dinge sind ja nicht ausser Gott, sondern in Gott, wie er in ihnen; also können sie auch nicht aus Gott ema- nieren; sie sind und bleiben ihm immanent, wie er ihnen immanent ist und bleibt.

Wenn Kant nicht tiefer und schärfer, als seine Zeitgenossen Spinoza gekannt und aufgefasst hätte, so wäre er nicht dazu ge- kommen, die Emanation für etwas dem Spinozismus zwar Verwandtes, aber doch für etwas Anderes als diesen zu erklären. Kant stimmt sehon ganz mit unserm heutigen Verständnis Spinozas überein, während Lessing, Herder und Goethe sich über diesen Unterschied zwischen Spinoza und Giordano Bruno noch nicht so klar waren. Er hat sieh dadurch nicht täuschen lassen, dass sich Spinoza auch der altbräuchliehen von Scotus Erigena stammenden Ausdrücke be- dient natura naturans und natura naturata; ihm schliesst das aktive „naturans“ nur das aktuelle Sein, nicht das Aktivwerden, Wirken ein;

Kantstudien V. %

306 Friedrich Heman,

und das passive „naturata“ bedeutet ihm bloss das passive Sein, nieht das Gewordensein. Die Substanz ist das begründende Sein, das tragende; die Dinge sind das begründete, getragene Sein. Nach Kant gehört der Spinozismas zu der Art Pantheismus, die das Wer- den und Entstehen der Welt nicht zu erklären braucht, weil sie die Welt für ungeworden, ungeschaffen und unemaniert bestimmt, Wie es kein Werden in Gott giebt, so giebt es auch kein Werden aus Gott, sondern nur ein Sein in Gott und durch Gott.

Übrigens liegt diese scharfe und präzise Auffassung des Spino- zistischen Pantheismus oder des Verhältnisses der Substanz zu ihren Modis schon der Stelle in der Kr. der Urteilskraft $ 73 (siehe oben No. 3) zu Grunde. Der Grund, warum Spinoza die Teleologie der Dinge und der Welt nicht erklären kann, ist ja der, weil bei Spinoza ihr Verhältnis zur Substanz nur das der Inhärenz und nicht das der Dependenz ist, weil sie nicht eigentliche Wirkungen der Substanz, sondern nur Folgen derselben sind, weil die Substanz nieht ihre wirkende, sie schaffende Ursache, sondern nur ihr tragender Grund ist, weil sie nicht aus Gott emaniert sind, sondern nur schlechthin in Gott existent sind.

Wenn Kant sich nicht mit Spinoza genau beschäftigt hätte, hätte er ihn wohl auch nicht so genau und viel genauer, als alle seine Zeitgenossen, verstehen können. Wenn er sich aber mit ihm ge- nauer beschäftigt hat, so ist es an einem Kant nicht verwunderlich, dass er ihn philosophisch präzis und richtiger verstanden hat, als seine Zeitgenossen. Wenn er nun aber die Emanationstheorie vom Spinozismus ausschliesst, so ist er deswegen doch nicht in den Fehler Hegels gefallen, der diesen Pantheismus Spinozas darum glaubte als Akosmismus verstehen zu müssen; er bezeichnet ihn im Gegen- teil ganz richtig als religiösen Atheismus, weil der religiöse Gottes- begriff notwendig eben die Merkmale des allschaffenden Willens und des allwissenden Verstandes einschliesst und fordert.

Dass übrigens Spinoza selber den Anlass zum emanatistischen Missverstand seines Systems gegeben habe, ist Kant gar wohl be- wusst gewesen. Spinoza redet so oft von der Allmacht Gottes, dem Wirken Gottes, nennt die Dinge so oft von Gott gewirkt, gebraucht sogar den Ausdruck, die Dinge fliessen aus Gott (efluunt), dass ein weniger scharfsichtiger Leser ihn leicht emanatistisch verstehen und sich über den wahren Sinn von Spinozas Theorie täuschen musste, Ebendeswegen hat ja Kant ihm vorgeworfen, er habe es „recht so

Kant und Spinoza. 307

baben wollen“, dass man die Inhärenz als Dependenz auslege und damit konfundiere.

Aus den behandelten Stellen der Kantischen Schriften ergiebt sich mit hinreichender Klarheit, dass Kant die Philosophie Spinozas genauer gekannt und richtig verstanden hat. Es ergiebt sich auch, wie wenig Sympathie er für diese ganze Denkweise hatte, sowohl was die Form als auch den Inhalt dieser Spekulation anlangte. Es hat sich kein Punkt gezeigt, wo Spinoza und Kant zusammen- stimmen; und es hat den Anschein, als ob das Kant ganz erwünscht sei, und ibn das Gegenteil unangenehm bedrückt haben würde. Nur durch Konsequenzmacherei hat ein Rezensent Kants Ding an sich mit der Substanz Spinozas zusammengebracht; aber Kant hat nicht für der Mühe wert erachtet, auf solehe Sophisterei einzugehen. Dieser Punkt muss aber doch noch aufgeklärt werden.

V. Spinoza in Kants Vorlesungen über Metaphysik.

1. Hier müssen wir erst ein Wort über die Vorlesungen sagen (vergl. auch dazu Zeitschr. für Phil. und philos. Kritik 114. Bd, S. 272—276, wo ich schon Einiges darüber geäussert habe). Es kommen hier nur die von Heinze edierten in Betracht, weil nur in ihnen Spinoza erwähnt wird und zwar speziell Beilage V; aber das zu Sagende gilt von den gesamten Vorlesungen Kants über Meta- physik, die Heinze herausgegeben hat. Sie tragen so, wie wir sie besitzen, durchaus einen anderen stilistischen Charakter als Kants eigene Schriften. Der Gedankenreichtum Kants und der engver- knüpfte Gedankenzusammenhang, die überreiche logische Gedanken- assoziation und logische Gedankenkombination verursachen, dass der Kantische Stil in seinen Schriften nicht allein die langen Perioden und den kompliziertesten Satzbau liebt und ohne ihn gar nichts zum Ausdruck bringen kann, sondern auch dass Kant dieses komplizierten Gedankenandranges oft gar nicht Herr werden kann. Die Ge- dankenhäufung in einer Periode führt nur allzu häufig zu stilistischen Gedankenentgleisungen, zu den allerschlimmsten Anakoluthen und zu Zwischensätzen in Klammern, welehe sowohl das Verständnis überhaupt ausserordentlich erschweren, als auch die verschiedensten Interpretationen des Gesagten ermöglichen. Kants Schreibart macht den Eindruck eines gewaltigen Wildbachs, dessen Wogen, einander überstürzend, daherbrausen, so dass die Welle, die in dieser Sekunde noch auf der Oberfläche im hellen Sonnenstrahle glitzerte, in der nächsten schon von anderen verschlungen und in die Tiefe gezogen

20*

308 Friedrich Heman,

scheint. Was im Beginn des Satzes im Mittelpunkt des Bewusstseins steht, wird durch die vielen erklärenden, einschränkenden, erweiternden und umschreibenden Zwischen- und Nebensätze so verdunkelt und zurückgedrängt, dass sehr häufig der Hauptgedanke der ganzen Periode sich nur sehr schwer wieder über die Schwelle des Bewusst- seins heben lässt, Kant verlangt von seinen Lesern, dass sie die Enge ihres Bewusstseins tiberwunden haben und gleichzeitig ein halbes Dutzend und oft noch mehr Gedanken neben einander in gleicher Klarheit erfassen und behalten können. Man schlage nun die Vor- lesungen auf, so wird man zu seinem Erstaunen das pure Gegenteil finden: lauter kurze, einfache Sätze von ein oder zwei Linien, wenige Neben- und Zwischensätze, keine langen Perioden und keine Anakoluthe. Wohl aber frappiert es, wie abrupt die kurzen Sätze nebeneinanderstehen. Jeder einzelne Satz ist klar; aber zwischen ihnen gähnt oft eine Kluft. Es ist schwer, sie innerlich zu ver- knüpfen, und es bedarf dazu vermittelnder Gedanken, die nicht da- stehen. Das beweist zunächst, dass es keine wörtlichen Nieder- schriften dessen sind, was Alles Kant mündlich redete, sondern dass der Schreiber sich nur die Hauptgedanken notierte, die er aus dem Redefluss Kants herausschöpfen und klar erfassen konnte. Die Nieder- schrift wimmelt von Sätzen, die Kant gewiss nicht so, wie sie da stehen, gesagt haben kann.') Es sind auch viele Sätze, die in ihrer Allgemeinheit, ohne die Einschränkungen und Erläuterungen, die Kant in seiner Rede damit verband, entweder gar nichts besagen oder geradezu missverständlich sind. Eine solche sprungweise Auf einanderfolge kurzer Gedankenausdrücke kennt weder das eng: verkettete Kantische Denken noch der Kantische Stil. Dazu kommt dann, dass der jugendliche Nachschreiber vieles offenbar nicht genau oder geradezu missverstanden hat. Doch war es durchaus kein un- geschickter Nachschreiber, denn überwiegend das Meiste ist doch gut getroffen; er hat richtig die Hauptgedanken herausgemerkt und niedergeschrieben, so dass wir sagen müssen, im grossen und ganzen erhalten wir Kantische Gedankendarlegungen im Umriss und Auszug, und können uns ein Bild der Kantischen Vorlesungen daraus rekonstruieren, Im einzelnen aber wird das Gegebene, wie Vaihingeı schon in seinem Kommentar zur Kritik d. r. V. 1.$. 22 sehr riehtig von den von Pölitz herausgegebenen Vorlesungen bemerkt, „allerding: mit Vorsicht zu gebrauchen“ sein.

1 ZB 8. 708: „Gott als Substanz wird gegen die Pantheistas be hauptet.“

Kant und Spinoza. 309

2. Ganz besonders interessant ist nun aber die Wahrnehmung, dass in diesen Vorlesungen Kant, ohne Spinoza zu nennen, zuweilen doch spinozistische Gedanken ins Treffen führt, um die Haltlosigkeit der dogmatischen Metaphysik zu erweisen. Nehmen wir das Beispiel auf Seite 702. Die dogmatische Metaphysik bezeichnet Gott als ens realissimum; zu diesen Realitäten gehört auch unstreitig die Ver- nunft „Gott hat alle Realitäten in sich, mithin auch Vernunft, also ist das ens realissimum auch eine intelligentia, aber das folgt nicht. Gott kann realissimum als Grund sein und kann Grund von der Vernunft der Weltwesen sein, ohne selbst Vernunft zu haben.“ „Wir geben Gott einen Verstand. Diesen Begriff haben wir aus unserem Vermögen; aber wir geben Gott einen andern Ver- stand.“ „Er soll nicht von der species des Menschen sein: dann wissen wir gar nicht, wie wir den Verstand (Gottes) denken sollen.“ „Sagen wir, Gott babe einen anschauenden Ver- stand, so ist dies soviel als hölzerner Wetzstein.“ Dass Gottes Ver- stand keine Ähnlichkeit mit dem unsrigen habe, und wir keine Idee davon uns machen können, das haben schon alle Mystiker gesagt, aber dass Gott wohl Grund der Vernunft in der Welt sein könne, ohne selbst Vernunft zu haben, das hat erst Spinoza dargelegt. Ganz dieselbe Argumentation wendet Kant dagegen an, dass wir Gott auch Willen zuschreiben. „Ein Mensch, der etwas will, ist immer mit seiner Zufriedenheit vom Objekt des Willens ab- hängig. Lässt man diese Schranken weg, so fällt auch der Wille weg.“ Wir können also nicht sagen, Gott habe einen Willen, ohne eine Limitation in Gott zu setzen. „Sagen wir, Gott habe eine völlige Selbstzufriedenheit, so können wir uns schleehterdings keinen Willen denken.“ Hier hätte Kant wohl Spinoza nennen dürfen; er nennt ihn wohl darum nicht, weil er nicht den Schein der Übereinstimmung mit Spinoza wecken will. Denn es ist ja nieht Kants eigentliche Meinung, dass Gott weder Verstand noch Wille zuzuschreiben sei, sondern er will nur nachweisen, dass „was Gott sei, kein menschlicher Verstand sagen kann“, und jeder Be- bauptung mit ebenso guten Gründen auch die entgegengesetzte könne gegenlibergestellt werden.

Ebenso spinozistisch sind die Darlegungen S. 721—722, „Wie Gott Ursache von einer Substanz sein könne, dies übersteigt allen Begriff. Accidentien können wir wohl als causata er- kennen, aber nicht die Substanzen.“ „Der Begriff Substanz als Ursache einer Substanz ist uns völlig anerreichbar. Wir müssen

310 Friedrich Heman,

die Substanz jederzeit voraussetzen, und dann nur von den accidentibus reden, Die Substanz wird nicht, sondern sie ist. Von jeder Substanz können wir die Möglichkeit nicht weiter begreifen, wir können Gott als Substanz denken und die Dinge in der Welt auch als Substanzen, aber wir können durch blosse Kategorien und syn- thetische Urteile nichts weiter herausbringen und annehmen, dass eine Substanz die andere hervorgebracht habe.“ „Ich kann mir nur per analogiam Gott als die Ursache von Substanzen denken, da ich in der Welt sehe, dass etwas Ursache von accidentibus sein kann, aber an sich lässt sich da nichts einsehen. Im Moralischen nehmen wir Gott als Ursache an, aber nur um der Moral willen.“ Spino- zistisch ist hier der Gedanke, dass die Substanz nicht wird, son- dern schlechterdings ist, und ein Werden, Erschaftenwerden yon Substanz undenkbar ist. Gleichwohl wäre es ein Irrtum, wenn wir deswegen Kant irgendwie spinozistische Denkweise zuschreiben wollten, denn 1. bezweckt die ganze Darlegung ja nur wieder den Nachweis, dass wir von Gott kein Wissen und Erkennen haben können und daher ihn auch nicht als Schöpfer erkennen können, und 2. glaubt Kant ja doch, wie er ausdrücklich beifügt, „um der Moral willen“, dass Gott Ursache (Schöpfer) der Substanzen sei. Dass er einen spinozistischen Gedanken ins Feld führt, geschieht nur um der Polemik gegen die dogmatische Metaphysik willen; nicht weil er Spinoza beistimmt.

8 Wir betrachten nun die Stellen, in welchen Kant wirklich Spinoza mit Namen nennt.

Die erste steht S. 706 und ist sehr kurz, aber schwer ver- ständlich, weil der Nachschreiber in recht missverständlicher Weise Kants Ausführungen zusammengedrängt hat. Das Verständnis öffnet sich uns erst, wenn wir den ganzen Abschnitt, dessen Schluss die Stelle bildet, zur Erklärung herbeiziehen. Die Stelle lautet: „Schliesse ich aus dem Begriff eines entis realissimi auf das Dasein desselben, so ist dies der Weg zum Spinozis- mus Das verstehen wir zunächst so, dass Kant sagen will, der ontologische Gottesbeweis sei der Weg zum Spinozismus, dieser sei die letzte Konsequenz, die sich aus dem ontologischen Gottesbeweis ergebe. Auf den ersten Blick erscheint diese Behauptung Kants recht rätselhaft, denn weder Anselm noch Descartes noch Leibniz, welche Kant als Vertreter dieses Beweises aufzählt, hatten eine Ahnung davon, dass, wer sagt: Gott ist das ens realissimum = omnitudo realitatum, Existenz ist eine realitas, also kommt Gott

Kant und Spinoza, 811

wesentlich und wirklich Existenz zu, nun auch wie Spinoza sagen müsse: die Dinge der Welt sind modi der einen Substanz. Wie ist das möglich, dass letzteres die Konsequenz aus ersterem ist? Wir müssen zurtickgehen auf das, was Kant (S. 703) entwickelt hat: „Die Verwechslung des conceptus originarii mit dem ente originario macht grosse Verwirrung in der Metaphysik. Der ursprüngliche Begriff eines durchgängig bestimmten Dinges muss (soll heissen : darf) keine Negation enthalten; denn sonst ist er abgeleitet. Con- ceptus originarius ist der, der lauter Realitäten hat, aber hieraus lässt sich nicht schliessen, dass es auch ein Ding wirklich gebe, was diesem Begriff korrespondiere, sonst machen wir zur Sache selbst, was nur Begriff der Sache ist.“ „Das ontologische Argument soll beweisen, dass ein ens metaphysice perfectissimum (i e. realissi- mum) auch wirklich existiere“.,.. „Dies war ja bloss die Müglich- keit meines Begriffes bewiesen; aber aus der Möglichkeit des Be- griffes, d. b. dass ich mir ein solches Wesen denken kann, folgt ja gar nicht, dass ein solches Wesen auch wirklich sei und solche Realitäten neben einander habe.“ Und Seite 705: „Gott selbst kann aus blossen Begriffen sein eignes Dasein nicht erkennen. Wir haben wohl einen Begriff von der absoluten Notwendigkeit der Ur- teile, aber nicht von der absoluten Notwendigkeit der Dinge.“ Kant will sagen: Wir können uns zwar den Begriff eines durchgängig bestimmten, alle Realitäten vollkommen umfassenden Wesens, den Begriff eines ens realissimum machen, aber nun zu glauben, oder daraus schliessen zu wollen, dass ein solches Wesen existiere, richtet grosse Verwirrung in der Metaphysik an. Warum? Weil der Be- griff des entis realissimi „der conceptus originarius von Wesen über- haupt ist, der allen übrigen Begriffen von Dingen zu Grunde liegen soll.“ Wir betrachten nämlich alle Begriffe von Dingen als Ein- schränkungen, Negationen und Limitationen des Begriffs des ens originarium oder realissimum; sie sind derivativ, abgeleitet aus dem Urbegriff des völlig bestimmten, notwendigen Wesens. Seite 706 heisst es: „Der Inbegriff aller Realitäten wird gleichsam als das Magazin angesehen, aus dem wir die Materie zu den Begriffen von allen Wesen hernehmen. Das Böse nennen die Philosophen das formale, das Gute das materiale. Dies formale kann bloss die Ein- schränkung aller Realität bedeuten, wodurch Dinge mit Realitäten und Negationen, d. h. limitierte Dinge herauskommen. Aller Unter- schied der Dinge wäre ein blosser Unterschied der Formen.* Gott wäre also die Materie aller Dinge; die Dinge seine

812 Friedrich Heman,

Limitationen, seine Einschränkungen, seine Formen und Modi. Ist dies nicht der Weg zum Spinozismus ? Sagt nicht Spinoza Gott sei die Substanz, die Dinge seine Modifikationen ? Obgleich wir uns also den Begriff eines ens realissimum, eines Inbegriffs aller Begriffe bilden können, dürfen wir doch nicht glauben oder gar be- weisen wollen, es gebe solch ein Wesen; denn giebt es solch ein Wesen, dann verhalten sich die anderen Wesen zu ihm, wie Modi- fikationen zur Substanz; sie sind Limitationen seines Wesens; sie sind in ibm als seine Formen, und er in ihnen als ihre Substanz. Wer also beweisen will, es gebe ein ens realissimum im Sinne eines Inbegrifts aller Möglichkeiten, aus dessen Begriff, als dem Urbegriff aller Begriffe, sich die Begriffe aller andern Dinge ableiten lassen, der ist auf dem Weg zum Pantheismus Spinozas, nicht weil er aus dem Begriff Gottes seine Existenz beweisen will, sondern weil er von einem pantheistischen Gottesbegriff, Gott sei der Inbegriff aller Möglichkeit als Realitäten, ausgeht. In diesem Gottesbegriff, will Kant sagen, steckt schon der Pantheismus Spinozas. Denn dieses ens realissimum ist bei Licht betrachtet nichts anderes und kann nichts anderes sein als Spinozas substantia, natura naturans, deren Modi die natura naturata ist. Wenn daher auch Spinoza kein Ver- treter des ontologischen Gottesbeweises ist, so ist doch sein onto- logischer Substanzbeweis ganz analog dem Anselmschen Gottesbeweis. Auch Spinoza beweist aus dem Begriff der Substanz ihre Existeuz. Wir können daher sagen: wie vom ontologischen Gottesbeweis der Weg zu Spinozas Substanz führt, so giebt es auch einen Weg von Spinozas Substanzbegriff zum ontologischen Beweis. So rätselhaft und paradox also auch Kants Behauptung klingt, dass Anselms Gottes- beweis der Weg zum Spinozismus sei, so ist sie doch richtig, denn das ens realissimum verhält sich zu den entibus limitatis wie die Substanz zu ihren Modis.

Wir mögen hier Kants Scharfsinn in Konsequenzmacherei be- wundern, aber billigen können wir sie darum doch nicht. Denn auch Kant kann ja den Begriff des ens realissimum nicht entbehren. Er glaubt zwar seinen Kopf aus der Schlinge ziehen zu können, wenn er (Seite 703 bei Heinze) distinguiert, man dürfe unter dem ens realissimum nicht das Aggregat der Realitäten verstehen, son- dern müsse es als Grund derselben auffassen. Auf diese Weise glaubt er hier der pantheistischen Konsequenz entgehen zu können. „Bei ente entium, gedacht als originarium, muss man sich die Omnitudo realitatum nicht denken als Aggregat, sondern als

Kant und Spinoza. 313

Grund.“ Aber S: 713 (siebe unten No. 4) sagt er, dass des. Spinoza Pantheismus sich gerade dadurch von dem des Xenophanes unterscheide, dass Spinoza Gott als Urgrund der Dinge, Xenophanes- aber als Aggregat der Dinge hestimme, und ebendeswegen sei Spinozas Pantheismus Pantheismus der Inhärenz. Also nützt seine Unterscheidung nichts. Ist Spinoza, der sagt: Gott ist der Urgrund der Dinge der Welt, Pantheist, so entgeht Kant auch nicht dem Vorwurf des Pantheismus, wenn er sagt, das ens entium, die omni- tudo realitatum sei nur als Grund der Dinge zu verstehen, nicht als ibr Aggregat. Übrigens lässt uns Kant auch hier durchaus nicht im Zweifel, was alle derartigen metaphysischen Begriffe, wie ens entium, ens originarium, ens realissimum für einen Erkenntniswert haben, denn er erklärt ausdrücklich (Seite 703) im selben Atemzug, wo er sagt: „Es ist daher von der grössten ‚Wichtigkeit in der Onto- theologie, Gott nicht als Aggregat sondern als Grund der Realitäten anzunehmen: Was Gott ist, weiss niemand . . . . Als Grund ist er unerforschlich. Seine theoretische Vorstellung ist daher nur möglich nach der Analogie der Erkenntnisse der Gegenstände der Sinne, sonst fällt man in Anthropomorphismen.“ „Alle Realitäten, die wir Gott beilegen können, sind von der Sinnliehkeit affiziert. Wir nehmen also Gott als den Grund aller Realitäten an.“

Aber es muss noch Eins bemerkt werden. Kant hat vorher eine Reihe von sehr zutreffenden und teilweise originellen Einwürfen und Widerlegungen gegen den ontologischen Gottesbeweis vorgebracht, welche bei Heinze zwei volle Grossoktavseiten füllen. Gleichsam um noch den letzten Trumpf dagegen auszuspielen, beschliesst er seine Auseinandersetzungen mit dem abschreckenden Hinweis, dieser Beweis sei „der Weg zum Spinozismus“; also muss es gewiss ein falscher, schlechter Beweis sein! Wenn alle anderen Gegenbeweise bei seinen Hörern nieht einschlagen, dieser wird seinen Eindruck nicht verfehlen!

4. Auf Seite 713 findet sich nun, wie schon angedeutet, eine- Klassifikation des Spinozismus und seine Definition im Unterschied von anderem Pantheismus. Der Spinozismus ist eine besondere Art des Pantheismus. Dieser ist entweder Pantheismus der Inhärenz und dies ist der Spinozismus, oder er ist Pantheismus des Aggregats und dies ist der des Xenophanes. Bei Spinoza ist Gott der Urgrund von allem, was in der Welt ist; bei Xenophanes ist er ein Aggregat von allem, was in der Welt ist, „Ich kann sagen alles ist Gott und dies ist das System des Spinozism, oder, das All ist Gott,

34 Friedrich Heman,

wie Xenophanes sagte.“ „Spinoza sagt: die Welt inhäriere der Gottheit als Aceidens, die verschiedenen Wirkungen jener wären. daher die Weltsubstanzen (muss wohl heissen: Weltdinge), an sich wäre aber nur eine Substanz. Und gleich im Anfang dieser Er- klärungen sagt Kant: „der Spinozism ist schwer als Monotheism (ist wohl gemeint: als religiöser Theismus) und doch als Pantheism zu erklären.“ Nach diesen Erklärungen kommt nun aber die Polemik. „Gott kann nicht ens mundanum, also auch nicht Weltseele sein, weil er nicht mit der Welt in influxu mutuo oder in commereio sein kann, denn Gott ist extra Spatium et tempus.“ Offenbar ist hier Kants Polemik auf ihre knappste Form zusammengedrängt. Wir missen sie analysieren, um sie zu verstehen. Wenn sich Gott zur Welt verhält, wie die Substanz zu den ihr inhärierenden Acci- denzen, so steht Gott mit der Welt in influxu mutuo und in commercio, wie eben Substanz und Inhärenz ein Wechselverhältnis ausdrücken. Das Wechselverhältnis ist das, dass Gott der Welt und die Welt Gott immanent ist. Dann ist Gott nicht von der Welt verschiedene Substanz, sondern eben Substanz der Welt. Dann ist Gott weder ens extramundanum noch ens supramundanum, sondern ens mundanum, ein Weltwesen, d. h. ein Wesen, das zu- gleich die Welt ist, weil diese nur sein Aceidens ist. Gott kann aber nicht ens mundanum sein. Warum nicht? Weil Gott ausser Raum und Zeit ist. Die Welt ist in Raum und Zeit, Gott aber ausser Raum und Zeit, also ist Gott ein ens extramundanum und supramundanum. Also ist der Spinozismus falsch und irrig; denn in diesem System ist der Raum (Ausdehnung) gerade das erste uns bekannte Attribut Gottes, in dem sich Gottes Wesen ausdrückt.!) Darum ist Gott bei Spinoza ein ens mundanum, denn wie er nicht extra spatium ist, so ist er auch nicht extra mundum. Ist er nicht extra mundum, dann auch nicht supra mundum, sondern in mando, und dann sind Gott und Welt im Wechselverhältnis von Substanz und Aceidens. Es ist also falsch, Gott und Welt als Substanz und Accidens zu bestimmen. Das Richtige ist, Gott als von der Welt verschiedene Substanz zu bestimmen, welche zugleich Grund der Welt ist. Nur so ist Gott ens supramundanum, Spinoza be- stimmt Gott aber nur als Urgrund der Welt, der zugleich Substanz der Welt ist. Dies ist hier Kants Argumentation gegen Spinoza. Spinoza macht Gott zu einem ,,Weltwesen“, und darum ist sein Pan-

1) Vgl. unten No, 5.

Kant und Spinoza. 315

theismus eigentlich Atheismus und daher, wie am Anfang gesagt, schwierig mit dem Monotheism zu vereinigen.

Aus diesen Darlegungen wird hervorgehen, wie gründlich Paulsen (Immanuel Kant, VII. Band von Frommanns Klassikern der Philosophie Stuttg. 1898, S. 257) diese Stelle missverstanden bat, wenn er, wohl auf Grund dieser Stelle, als die Kant und Spinoza gemeinsame religiöse Anschauung ihnen einen Pantheismus zuschreibt folgenden Inhalts: „Gott ein supramundanes Wesen, dem die Wirk- lichkeit immanent ist.“ Dies ist weder Anschauung Kants noch An- schauung Spinozas. Denn naeh Kant ist wohl Gott supramundan, aber ebendeswegen nicht der Welt immanent, und nach Spinoza ist Gott der Welt immanent, aber ebendeswegen nicht supramundan. Beides in eine Anschauung vereinigen zu wollen, heisst denn doch allzu Widersprechendes zugleich aussprechen und ausgleichen wollen. Was über der Welt ist, ist ja nicht in der Welt, und was in der Welt ist, ist ihr nicht tiber. Derartiges wie supramundane Imma- nenz oder immanente Überweltlichkeit findet sich schlechterdings weder in Kants, noch Spinozas Denkweise und Schriften, auch nicht an unsrer Stelle, die allerdings wegen der mangelhaften Darstellungs- weise des Nachschreibers missverständlich ist. (Vgl. Zeitschr. f. Phil. und philos. Kritik, Bd. 114, S. 276 u. f.).

5. Wir kommen zur letzten Stelle, wo in den Vorlesungen vom Spinozismus die Rede ist. Sie steht Seite 720, und auch hier sind die Aussagen Kants wieder kurz und bündig in sehr abrupter, unzu- sammenhängender Form aneinander gereibt, ein Zeichen, dass der Nachschreiber vieles ausgelassen hat.

„Metapbysisch bonum heisst das, was Realität hat. Gott als metaphysice summum bonum betrachtet, ist Stoff aller Möglichkeit. In dieser Vorstellung liegt immer etwas anthropomorphistisches, und sie nähert sich genau dem Spinozismus.“ Es ist ein alter Satz der Scholastik, dass jedes Seiende als solches nach dem Mass seiner Realität, d. h. Vollkommenheit ein bonum sei. Das Summum bonum ist der Inbegriff aller Vollkommenheit und Realität. Ein solches ens ist nur Gott. In ihm liegt also der Stoff, die Materie zu allen möglichen Realen und ihrer Vollkommenheit; ja er ist als ens realissimum dieser Stoff. So betrachtet trägt aber der Begriff Gottes nach Kant 1. immer etwas anthropomorphistisches an sich, und 2. „nähert sich diese Vorstellung genau dem Spinozismus.“ Denn ad 1. Die Realitäten, als deren Inbegriff wir Gott vorstellen, sind von den Vollkommenheiten und Eigenschaften des Menschen abstrahiert, und

316 Friedrich Heman,

wie vollkommen wir sie auch vorstellen, sie behalten etwas menschen- ähnliches, und somit wird die Vorstellung Gottes in Ähnlichkeit menschlicher Vollkommenheit aufgefasst, also anthropomorpbistisch. „Legen wir Gott, heisst es Seite 703 z. B., Verstand bei, das ein Faktum, mithin Phänomen ist, so ist dies Anthropomorphism, Ver: stand ist das Vermögen zu denken. Denken ist eine eingeschränkte Art des Erkenntnisvermögens, es geschieht durch Abstraktion. Legen wir daher überhaupt Gott realitates, phaenomena bei, so ist das An- thropomorphism. Wir kennen aber keine anderen Realitates als diese, also künnen wir von Gottes Realitäten gar keinen Begriff haben. , .. Seine theoretische Vorstellung ist daher nur möglich nach der Analogie der Erkenntnisse der Gegenstände der Sinne, sonst fällt man in Anthropomorphismen.“ Ad. 2. Schon früher (S. 706) hat Kant entwickelt: „der Inbegriff aller Realitäten wird gleichsam als das Magazin angesehen, aus dem wir die Materie zu den Be- griffen von allen Wesen hernehmen.* Daraus folgt aber, dass die Einzelwesen, die Dinge der Welt nur Limitationen und Modifikationen der göttlichen Realitäten sind; dann ist Gott die Substanz, das Mate- riale der Dinge und die Dinge sind nur das Aceidens, das Formale derselben, und dies ist in der That Spinozismus. Soweit also hat diese Stelle mit der auf Seite 706 (siehe No. 3 dieses Kapitels) denselben Sinn und ist nur eine Wiederholung des dort Gesagten. Was dort direkt gegen den dogmatisch-metaphysischen Begriff des ens realissimum eingewendet worden ist, das sagt jetzt auch Kant gegen den Begriff des summum bonum, weil er den Begiff des ens realissimum involviert.

Unmittelbar an das vorige, aber ganz unvermittelt schliesst sich dann ein ganz andrer Vorwurf gegen Spinoza. „Wenn ich Raum und Zeit als Prädikate, als Beschaffenheiten der Dinge an sich selbst nehme, so entsteht der Spinozism augenblicklich.“ Schon 1788 in der Kritik der praktischen Vernunft (siehe oben Kap. IV, 2) hat Kant gesagt, Spinoza verfahre ganz konsequent, wenn er Raum und Zeit auch den Dingen als notwendige Prädikate zuschreibe, weil sie ja auch notwendige Prädikate Gottes nach ihm sind. Mendelssohn dagegen verfabre inkonsequent, indem er diese Prädikate nur dem Menschen als solchem und wesentlich, aber nicht auch Gott wolle beigelegt wissen. Hier in unsrer Stelle sagt Kant nun ganz allgemein: wer Raum und Zeit als Beschaffenheiten der Dinge an sich selbst nimmt, verfällt bei konsequentem Denken augenblicklich dem Spinozismus. Warum? Sind Raum und Zeit

Kant und Spinoza. 317

wirklich Prädikate der Dinge an sich, so kommen sie ihnen not- wendig zu. Kommen sie dem Wesen der Dinge notwendig zu, dann kommen sie auch dem Wesen aller Wesen notwendig zu, auch Gott, denn Raum und Zeit sind dann intelligible und wesentliche Be- schaffenheiten alles Seienden. Kommen sie aber Gott zu, dann ist Gott der unendliche Raum, die unendliche Ausdehnung, in welcher alle endlich räumlichen Dinge sind; und das ist Spinozismus. Diesen Gedankengang drückt der Nachschreiber folgendermassen aus: „Raum und Zeit aber als Beschaffenheiten der Dinge an sich selbst wären notwendig, sie sind also unabtrennliche Bestimmungen des not- wendigen Wesens, und alle Dinge existierten in Gott, Dies ist der Spinozism. Notwendige Bestimmungen können jedoch (sie!) nur dem notwendigen Wesen d. i. Gott zukommen.“ Zwischen Kant und Spinoza besteht also der allerschroffste, kontradiktorische Gegensatz: Spinoza sagt: die Substanz hat das Attribut der Ausdehnung, d. h. sie subsistiert nur in körperlich, räumlich ausgedehnten Dingen. Körperlichkeit und Räumlichkeit sind eine wesentliche Beschaffenheit der Dinge als Modi der Substanz unter ihrem Attribut der Aus- dehnung aufgefasst. Es giebt keine Dinge, die nicht körperlich und räumlich sind, weil es zum Wesen der Substanz gehört, ausgedehnt zu sein. Daram sind die Dinge in Gott und Gott in den Dingen. Kant dagegen sagt: Gott ist ausser Raum und Zeit. Daher kann Gott nieht Schöpfer von Dingen sein, denen Raum und Zeit als wesentliche Beschaffenheiten zukommen. Gott kann nicht Schöpfer von Dingen sein, die in Raum und Zeit sind. Gott ist Schöpfer der intelligiblen Welt, der Dinge an sich, die ausser Raum und Zeit sind. Raum und Ausdehnung sind phänomenal, sind kein Attribut Gottes, sondern nur menschliche Anschauungsform, die nicht in Gott, sondern nur im Menschen existiert. Beide Weltanschauungen sind gleich konsequent, weil gleich entgegengesetzt. Was Spinoza affirmiert, negiert Kant, und was Spinoza leugnet, das setzt Kant. Dies wird im Sehlusskapitel eingehend darzulegen sein.

Aus diesen Erürterungen geht deutlich hervor, dass auch in seinen mündliehen Vorträgen sich Kant tiber Spinoza und sein System nicht günstiger und sympathischer geäussert hat, wie in den von ihm selbst edierten Schriften. Er benutzt in seinen mündlichen Vor- trägen „Spinoza und den Spinozism“ geradezu als Popanz und Schreek- gespenst, um seine Hörer teils von gewissen Gedanken abzuschrecken (ontologischer Beweis), teils um für seine eigne Theorie (Raum und Zeit nur Anschauungsformen) Propaganda zu machen. Kants

818 ‘Friedrich Heman,

Stimmung gegen Spinoza war so, dass es ihm selbst am verdriess- lichsten gewesen wäre, „wenn er irgend etwas mit Spinoza gemein gehabt hätte; er war überzeugt, sein eignes System, seine kritische Philosophie sei der schroffe Gegensatz sowohl der Form, wie dem Inhalt nach zu des Spinoza dogmatischer Metaphysik.

Aber auch ein Kant konnte sich dem Gang der Ereignisse und dem Lauf der geistigen Entwieklung in Deutschland nicht entziehen. Diese Entwieklung zeitigte am Ende des Jahrhunderts eine andere Wertschätzung Spinozas. Lessing in seinem Gespräch mit Jacobi hatte den ersten Anstoss gegeben. Die grossen Geister der Zeit aber wandten sich nun Spinoza immer offener, immer enthusiastischer zu. Herder, Goethe, Schleiermacher erbauten sich am spinozistischen Evangelium von der Gottheit, die alles in allem ist, und verkündeten es laut aller Welt. Der junge Schelling aber war es, der den ge- waltigen Umschwung in der Philosophie bewirkte, dass der lang ge- hasste, geschmähte und verachtete Denker nun an die erste Stelle gesetzt wurde und alle Denker der Vergangenheit an Ruhm und Einfluss überstrablte. 1797 erschienen seine Ideen zu einer Philosophie der Natur, 1798 die Schrift Von der Weltseele, 1799 Erster Entwurf eines Systems der Naturphilosophie, 1800 die wichtigste: System des transscendentalen Idealis- mus, alle durchhaucht vom Geist Spinozas. Dem gewaltigen Ein- druck, den diese Schriften machten, konnte sich auch der greise Denker, der Anfänger und Begründer der Denkbewegung, aus der Schelling herausgewachsen war, nicht entziehen. Die letzten, frag- mentarischen Aufzeichnungen Kants aus den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts und den allerletzten seines Lebens geben dafür Zeugnis, Hier wird Spinoza öfter genannt, als in allen seinen früheren Werken und Vorlesungen miteinander und zwar in ganz anderer Weise, wie vordem. Spinoza erscheint ihm in andrer, neuer Beleuchtung. Zwar bleibt Spinoza sein Gegner, aber nicht einer, den er verachtet und hasst, sondern den er übertreffen möchte durch ein System, das die Grundidee Spinozas zurechtstellen und damit den Spinozismus auf- heben sollte. Dazu wäre freilich eine Geisteskraft erforderlich ge- wesen, die dem achtzigjährigen, am Rand des Grabes stehenden, nicht mehr zu Gebote stand. Es war ihm nur noch vergünnt, den Grundgedanken anzudeuten, auf dem das neue Gebäude sich erheben sollte. Es soll dies in einem besonderen Artikel nachgewiesen werden. Unsre jetzigen Erörterungen schliessen wir mit einer zu- sammenfassenden Darstellung des Verhältnisses, in welchem Spinozas System zur Denkweise Kants steht.

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Kant und Spinoza. 819

VI. Spinozas Pantheismus und Kants Theismus.

Dogmatismus und Kritizismus stehen in keinem andern Ver- hältnis, als in welchem Feuer und Wasser stehen; es sind einander ausschliessende und negierende Gegensätze. Wenn das metaphysische Feuer des Dogmatismus gross, hell, warm auflodert, um alle Dinge des Himmels und der Erde in die Glut eines rationalen Gedauken- systems zu versetzen, so kommt der erkenntnistheoretische Kritizis- mus, um mit kaltem Wasserstrahl die Glut dämpfen und das Feuer zu löschen. Oder hat Kant sich anders zu Spinoza verhalten, als wie Wasser zu Feuer? Feuer und Wasser lassen sich nicht vergleichen; so auch nicht der Dogmatiker Spinoza mit Kant, dem Kritiker. Bezeichnen Dogmatismus und Kritizismus zwei entgegen- gesetzte, sich ausschliessende Formen und Methoden des Denkens, so ist bei ihnen alles, was sich auf die Form und Methode des Denkens bezieht, nicht nur in einem unausgleichbaren, sondern ge- radezu unvergleichbaren Gegensatz, Feuer lässt Wasser verdunsten und Wasser löscht Feuer, das ist die einzige Gleichung. Dem Dog- matiker ist die Gotteserkenntnis die klarste und deutlichste, wahrste und gewisseste, allein adäquate; für den Kritiker giebt es überhaupt kein Wissen und Erkennen der Gottheit und was wir von ihr aus- sagen, ist unberechtigtes Schwärmen, unsere Gedanken und Worte haben nur den Wert unzutreffender Analogien. Dem Dogmatiker ist die Erkenntnis der Sinnendinge nur eine inadäquate, verworrene, un- deutliche und unwahre; dem Kritiker die allein wahre, uns zukömm- liehe, unserem Anschauen und Denken allein mögliche, auf die unser Verstand mit seinem Inventar allein eingerichtet ist. Dem Dogmatiker ist die erste und höchste Idee nicht bloss das durch sich selbst erkennbare und gewisse, sondern auch das, dessen Sein durch sich selbst gewiss ist, dem Kritiker ist auch die höchste Idee nur ein Hirngespinst, von dem wir nicht wissen können, ob ihm in Wirklichkeit etwas entspricht. Des Einen Denken beginnt mit fest bestimmten Begriffen, der Andere dagegen behauptet, sie sind erst das erstrebte Endziel des Denkens. Spinoza und Kant verhalten sich wie Feuer und Wasser.

Aber die tiefersehenden Naturforscher sagen, Wasser sei nur gebundenes Feuer, im Wasser stecke dasselbe Element, das alle Dinge der Welt in verzehrender, heisser Glut auflodern lässt. Das- selbe Element, mit andern Stoffen sich verbindend, erscheint als Feuer, im Wasserstoff sich bindend erscheint es als Wasser. Steckt in Kant und Spinoza nieht doch vielleicht auch nur ein und dasselbe

320 Friedrich Heman,

Denkelement, derselbe Ideengebalt nur in gebundner, versteckter Form? Lassen sich nieht vielleicht Spinozas Pantheismus und Kants ‘Theismus doch vereinen? Das ist's, was schon lange einige be- haupten, was der Recensent Sg. schon Kant vorgeworfen, was Paulsen neuerdings als erfreuliche Thatsache berichtet hat. Wie steht es damit? Das muss untersucht werden.

Betrachten wir zu dem Zweck die drei sachlich wich Probleme der Philosophie; wie denken Spinoza und Kant tiber Gott, die Welt und den Menschen? An diesen Problemen muss ihre Übereinstimmung oder ihr Gegensatz zu Tage treten,

Spinozas ganze Gotteslehre liegt in den drei Worten „Deus sive natura“, während Kants Gotteslehre sich wohl ausdrücken lässt in dem Satze: „die oberste Ursache der Natur, sofern sie zum höchsten Gut vorausgesetzt werden muss, ist ein Wesen, das durch Verstand und Willen die Ursache (folglich der Ur- heber) der Natur ist, d. i. Gott.“ (Kritik der prakt. Vern. II, Dialektik II, Hauptstück V, das Dasein Gottes als ein Postulat.) Auch für den gewandtesten Dialektiker wird es ein aussichtsloses Unter- nehmen sein, die Anschauungen beider Männer auszugleichen und die Gegensätze zu überbrücken. Was soll denn das heissen: „Kants Stellung ist auf Seiten des Theismus, allerdings eines den Anthro- pomorphismus entschieden abstreifenden und dem Pantheismus sich annähernden Theismus“ (Paulsen, Kant S. 257)? Auch die ältesten christlichen Theologen, Kirchenviiter und Scholastiker haben sehon gesagt, dass die Prädikate, die wir dem Gottesbegriff beilegen, ihm nicht proprio sensu sondern analogia zukommen, und das sagt auch Kant; was soll also das „allerdings“ bedeuten? Kant thut damit nicht mehr und nicht weniger, als alle Theologen vor ihm gethan haben; er ist Theist, wie alle vor ihm. Und dann, wenn alle Anthropomor- phismen abgestreift sind, nähert man sich damit dem Pantheismus? Diese Zulage würden sich ein Augustin und Thomas von Aquin mit- samt allen protestantischen Scholastikern recht sehr, und genau ebenso Kant verbeten haben. Und gut ist's, dass zu Kants Zeit der schöne Begriff und Ausdruck „Panentheismus“ noch nicht gebildet war, wir möchten hören, wie der Kritiker Kant in seinen Vor- lesungen über Metaphysik die Lauge seines Spottes über „das supra- mundane Wesen, dem die Wirklichkeit immanent ist“ ausgegossen hätte. Und was hätte erst Spinoza über diesen terminus horribilis et dietu et cogitatu geurteilt? Hätte er wirklich geglaubt, das sei ein mit dem seinen kongruenter oder ihm sich nähernder Gottesbegriff?

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Kant und Spinoza. 321

Man versuche nur, diesen Gedanken: „supramundanes Wesen, dem die Wirklichkeit immanent ist“, ins Spinozistische zu übersetzen! Deus sive natura, also: natura supranaturalis, eui natura inest, Gott eine übernatürliche Natur, der die Natur immanent ist! Das ist's ja gerade, wodurch Spinoza sich von allen Theisten unterscheidet, dass sein Gott eben gar nichts übernatürliches, über die Natur hinaus- gehendes, sie überragendes an sich hat, sondern die reine Natur selbst, die Natura naturans ist, die keine Haaresbreite über der Natur natura naturata, steht, sondern sie selbst ist. Oder steht die Substanz über den wirklichen Attributen, die in ihren modis sind? Ist sie etwas anderes als diese modi, so dass diese ihr nur immanent, aber nicht sie selbst wären? Hat die Substanz noch etwas, irgend eine Wirklichkeit, ein Sein, eine Fähigkeit, eine Kraft oder irgend etwas, das sich nicht voll und ganz in der Wirklichkeit ausdrückte? Etwas, das über den wirklichen Attributen stünde? Sind die Attribute mit ihren modis nicht die ganze, volle Wirklichkeit der Substanz selbst? Die Attribute sind die einzige Wirklichkeit, in der die Substanz subsistiert, sie hat garnichts drüber hinaus, wo- durch sie ihre Attribute überragte. Die Attribute aber = der Summe aller Modi Welt, Nach Spinoza geht Gott in der Welt und die Welt in Gott ohne Rest auf. Es bleibt Gott nichts Supra- mundanes oder Supranaturales, Wir können also mit jener schönen Redensart nichts anfangen; Spinoza zuerst und dann Kant würden sich unmutig von diesem Gemengsel mit moderner Reklameetiquette abwenden. Der Gott, der Verstand und Willen hat, der die Natur teleologisch, willentlich and absichtlich so weise eingerichtet hat, dass die Tugend ihren Glückseligkeitslohn findet, ist ein absolut anderes Wesen, als die Substanz, „ad cujus naturam neque in- telleetus neque voluntas pertinet“, in deren Natur mit ewiger Not- wendigkeit ohne Freiheit und Erkenntnis, modo geometrico der nexus eausarum et rerum begründet ist. Spinozas Gott und Kants Gott haben nichts gemein als den flatus voeis, den Hauch und Klang des Wortes, Um alle Unterschiede aufzuzählen, müssten wir die ganze Gotteslehre beider Denker darstellen; wir wiirden finden, dass sie Punkt für Punkt im Widerspruch stehen, besteht ja für Kant „die Ungereimtheit der Grundidee“ Spinozas eben in seiner Gottesidee.

Wenden wir uns zum kosmologischen Problem. Was ist hier die Frage? Niehts andres als: ob diese unseren Sinnen gegebene

Erfahrungswelt, die Gesamtheit aller Sinnendinge, die materielle Kantstndien V. 21

322 Friedrich Heman,

Natur in ihrer sichtbaren, greifbaren Existenz wirklich seiend sei oder nicht? Wie antworten Spinoza und Kant auf diese Frage? Dies ist nicht so leicht zu sagen. Hier kommt ja alles darauf an, wie man die Antworten beider Philosophen versteht, und darüber ist ja so lange schon Streit gewesen, Wer darlegen will, was beide Philosophen über das Sein der Dinge geurteilt haben, der setzt sich dem Vorwurf aus, er habe ihre Antworten missverstanden. Wir müssen dieses Risiko auf uns nehmen; das geht einmal nieht anders.

Wir werden uns aber bemühen, nur allgemein Zugestandenes, oder was wir dafür halten, über die kosmologischen Ansiehten beider Philosophen vorzubringen.

Seit der vortrefilichen Darlegung der Spinozistischen Philosophie durch Kuno Fischer ist allgemein zugestanden, dass Spinozas Theorie von den Dingen als modis der Substanz nicht darf idealistisch und phänomenalistisch erklärt werden. Die Substanz ist das objektiv real in sich selbst Seiende. Die Substanz aber subsistiert in ihren unendlichen Attributen, welche daher ebenso real sind, wie die Sub- stanz selbst, denn in den unendlichen und ewigen Attributen drückt sich die Wesenheit der Substanz aus. Die Attribute sind in keiner Weise bloss unsere Auflassungsweise der Substanz, so dass sie ihr nur in unserer Anschauungs- und Erkenntnisweise zukämen, sondern die Attribute sind die unendlichen und ewigen Seinsweisen, Formen und Gestalten der Substanz, in denen sie ist; und weil sie in ihnen sich ausdrückt, darum müssen wir sie auch und können sie auch nur in und durch ibre Attribute erkennen. Die uns erkennbaren Attribute sind Ausdehnung (Körperlichkeit) und Denken (Geistigkeit). Sie sind real, weil die Substanz in ihnen subsistiert. Die Ausdehnung existiert aber nur in ihrem unendlichen und ewigen Modus, der Gesamtheit aller Körper, und das Denken existiert nur in seinem unendlichen und ewigen Modus, der Gesamtheit aller Geister. Daher müssen die einzelnen Modi, in denen die Substanz da ist, ebenso objektiv. real sein, wie die Substanz mit ihren Attributen ist, “Was aus der notwendigen und unendlichen Modifikation eines göttlichen Attributs folgt (und das sind die einzelnen Dinge und Geister), existiert not- wendigerweise so real, wie die Substanz. „Es giebt ausserhalb des Verstandes nichts als Substanz oder, was dasselbe heisst, deren Attribute und Modi.“ „Nichts existiert in Wirklichkeit, als Substanz und Modi, und die letzteren sind nichts anderes, als Affek- tionen der Attribute Gottes.“ Aus diesen Sätzen folgt die Realität der Modi, d. h. die Realität der Einzeldinge der Welt, der Körper

Kant und Spinoza. f 323

und der Geister. Sie sind so real, weil sie Affektionen der Attribute sind, in denen die Substanz wirklich ist. Wären die Modi nicht Wirklichkeit, so wären auch die Attribute nicht wirklich und demnach auch die Substanz selbst nieht. Die Einzelwesen, Körper und Geister, sind zwar endlich und vergänglich, aber die unendliche und ewige Reihe dieser endlichen Einzelwesen bilden die unendlichen und ewigen Modi, in denen die unendliche und ewige Substanz real ist, Somit sind die Dinge die notwendige und reale Erscheinungs- weise der Substanz. Aber Phänomene können die Einzeldinge nur heissen, weil die Substanz wirklich in ihnen sichtbar und erkennbar wird, und das Wort Phänomene hat hier den Sinn von Manifestation. Die Welt der Dinge ist die Manifestation der Substanz, real durch die sie bewirkende und in ihnen seiende Substanz. Dagegen dürfen die Dinge nicht Phänomene heissen im Sinne von Imaginationen. Denn sie sind keine blossen Imaginationen unseres schauenden und vorstellenden Intellektes, denen in Wirklichkeit nichts entspräche, Die Dinge sind Affektionen der Attribute der Substanz, aber eben deswegen können sie nicht blosse Affektionen unseres Intellektes sein. Als blosse Vorstellungen unseres Intellektes wären sie nur ideal, als Manifestationen der Substanz sind sie real. Ein Phänomen ist real, wenn es Manifestation eines Realen ist; es ist ideal, wenn es blosse Imagination eines Realen ist. Die Welt ist real, weil sie Wirkung Gottes, nicht Wirkung unseres Intellekts, weder unserer Phantasie noch unseres Verstandes, ist.

Aber die Welt ist nicht bloss nieht unsere Imagination, sondern sie ist auch nicht blosse Imagination Gottes, so dass nur Gott real, die Welt aber ideal in Gott, Produkt der Phantasie und Anschauung Gottes wäre. Denn dies beides kommt Gott = natura = sub- stantia nicht zu. Die Körper sind nicht Gedanken, Anschauungen, Phantasien Gottes, sondern Modi seines realen Attributs der Aus- dehnung, reale Wirkungen, d. h. Folgen der Substanz, unter dem Attribut der Ausdehnung betrachtet. Die Geister aber sind das reale Denken Gottes, reale Ideen, reale Wirklichkeiten und Folgen seines Wesens, unter dem Attribut des Denkens betrachtet, Die Körper und die Geister haben dieselbe Realität, weil beide ihr Wesen und ihre Substanz in Gott haben und in beiden gleichermassen die Sub- stanz ist und beide kraft der Attribute reale Wirkungen, d, h, Folgen der Substanz sind. Weil eben dem Denken Gottes dieselbe Realität, d. h, dieselbe objektive Wirklichkeit zukommt, wie der Ausdehnung und den Körpern, daram sind die Gedanken und Ideen Gottes wirk-

21%

324 Friedrich Heman,

liche Geister, Realitäten, nicht blosse Idealitäten. Der Mensch ist also objektiv real als Körper und als Geist, beide haben gleiche Realität. Die Körperlichkeit, der Leib des Menschen ist nicht weniger real als seine Seele und diese nicht weniger als sein Leib Alles Existierende hat objektive Realität, denn alles Existierende ist Modus der Ausdehnung und Modus des Denkens Gottes, dem alle Realität zukommt. Man kann in keiner Weise Spinoza zum Idea- listen und Phänomenalisten machen, Das hat Kuno Fischer dureh- schlagend und endgiltig nachgewiesen.

In einem andern wichtigen Punkte aber können wir uns mit Kuno Fischer nicht einverstanden erklären, sondern glauben uns auf Kants Seite stellen zu müssen, der hier das Richtige scheint getroffen zu haben im Verständnis Spinozas, Wir haben früher (Kap. IV, 6) gesehen, wie Kant Spinoza dafür verantwortlich macht, dass Leibniz die Substanz für Kraft erklärt. Spinoza sagt von der Substanz nie aus, dass sie Kraft sei, aber er sei schuld, dass man beständig die Inhärenz in Dependenz verwandle, und wenn einer die Dinge als Kraftwirkungen der Substanz auffasse, so sei das „ganz, wie Spinoza es haben wolle.“ Spinoza kann die Substanz nicht als Kraft be- stimmen, weil ihr damit eine Determination, eine besondere Be- stimmung, beigelegt würde; aber omnis determinatio est negatio; die Substanz, als Kraft bestimmt, wäre mit einer Negation behaftet, die Substanz muss aber aller Bestimmungen und Negationen bar sein, um das unendlich Seiende zu sein. Nach Spinoza kommt es also der Substanz nieht zu, Kraft zu sein, und wenn er doch immer von der unendlichen Macht Gottes redet und von den unendlichen Wirkungen Gottes, der alle Dinge wirkt, so ist das efficere nur ein eonsequi, wirken = folgen, notwendige Folge sein, denn Gott bewirkt die Dinge nicht anders, als wie das Dreieck seine drei Winkel wirkt, und bewirkt, dass diese gleich zwei Rechten sind. Indem er aber immer statt consequi und consequentia doch efficere und effectus sagt, so „will“ er eben das Missverständnis haben, Bei Spinoza ist das efficere doch offenbar keine Thätigkeit, nicht einmal Emanation, sondern einfache logische oder genauer mathematisch- geometrische Folge, aber er redet immer so, als wäre es ein Thun Gottes. Das ist's, was Kant Spinoza vorwirft.

Kuno Fischer nun erklärt sowohl die Substanz Spinozas für Kraft, als auch die Attribute. Sie sollen die Kräfte sein, durch welche die Dinge gewirkt werden. „Ist Gott die Ursache aller Dinge, so sind diese die Wirkungen Gottes, so ist Gott nicht bloss

/ Kant und Spinoza. 325

ihre inwohnende, sondern zugleich ihre wirksame, ihre erzeugende Ursache. Wirksame Ursache ist Kraft. Gott ist die alleinige Ursache, daher ist auch er allein die alle Erscheinungen hervorbringende, in jeder auf bestimmte Art thätige Kraft; es giebt zahllose Erscheinungen, daher zahllose Kräfte, in denen die Wesensfülle Gottes besteht: Substantia constat infinitis attributis. Die Attribute Gottes sind seine Kräfte. Was könnten sie anders sein?“!) Spinoza, so wenden wir gegen Fischer ein, nennt Gott unzähligemale die Ursache aller Dinge, aber nie nennt er ihn die Kraft, und auch die Attribute nennt er nie die Kräfte Gottes. Es kann etwas Ursache sein, ohne Kraft zu sein; jedenfalls ist nach Spinoza wenigstens das Dreieck die kraftlose, unthätige Ursache seiner drei Winkel, denn das Dreieck ist keine Kraft und hat keine Kraft; Helena war die Ursache der Zerstörung Trojas, aber nicht durch ihre Kraft, Der Gott Spinozas ist so wenig durch seine Kraft die Ursache aller Dinge, als der Gott des Aristoteles durch Kraft die Ursache der Bewegung aller Dinge ist; wie der Gott des Aristoteles der unthätige, unbewegte Beweger ist, so ist der Gott Spinozas die unthätige, nicht durch Aktivität wirkende, nicht Kraft seiende Ursache der Welt, so wenig ist er Kraft, als das Dreieck durch Aktion oder Kraft seine Winkel wirkt. Erst bei Leibniz ist die Substanz auch die Kraft.

Aber auch die Attribute sind nicht die Kräfte Gottes. Wir leugnen nicht, dass an sich nichts im Wege stünde, die Attribute so aufzufassen; ja das System würde dadurch bedeutend an Klarheit und Bestimmtheit gewinnen. Denn es lässt sich nicht leugnen, wie schon Kant daran Anstoss nahm und sich ärgerte, dass Spinoza immer efficere statt consequi sagt, und causa immer als Realgrund statt bloss als Erkenntnisgrund, ratio, gebraucht und immer von den Wirkungen Gottes redet, wo er nur Konsequenzen aus Gott meint, so muss sich auch heute noch jeder Leser Spinozas daran stossen und ärgern. Das alles fiele weg und die Sache erhielte erwünschte und befriedigende Klarheit, wenn wir die Attribute als die Kräfte der Substanz und Gottes erklären dürften. Auch macht die gewandte Darstellung Fischers die Sache sehr plausibel. Gleichwohl hat Fischer mich nieht überzeugen können, und es bleiben schwere Be- denken dagegen zurück. Warum, das läge ja so nahe, nennt denn Spinoza selbst nirgends die Attribute klar und deutlich Kräfte? Wir finden nirgends den Gedanken weder ausgesprochen noch auch

1) K. Fischer, Gesch. der nenern Philosophie 1, 2. 8. 366, 3. Aufl. 1880,

326 Friedrich Heman,

nur angedeutet: Gott = Urkraft; die Attribute = die unzähligen Einzelkräfte. Wie viel Schwierigkeiten wären gehoben, Missverständ- nisse beseitigt, wie viel lichtvolle Klarheit gewonnen, wenn Spinoza auch nur ein einziges Mal klar und deutlich und unzweideutig Gott die Urkraft und die Attribute die Kräfte nennen würde. Der Polemik Kants gegen Spinoza wäre die Spitze abgebrochen; denn ist Gott Kraft, dann kann er auch Wille sein, und die Kräfte sind dann seine ein- zelnen Willensakte; dann kann er auch Verstand haben, und damit füllt die „Ungereimtheit der Grundidee“ weg. Aber so wenig Substantia = Urkraft, so wenig sind die Attribute Einzelkräfte, Es wäre zu schön gewesen! Fischer begründet seine Behauptung folgender- massen: Spinoza sage: „Gott, sofern er in zahllosen Attributen besteht, ist in Wahrheit die Ursache der Dinge, wie sie in sich sind.“ „Das heisst: Gott als Inbegriff der Urkräfte ist die Ursache der Dinge, sofern sie wirksamer Natur sind,“ Ich leugne nicht: Kräfte sind Ursachen und Ur- sachen können Kräfte sein. Aber nicht jede Ursache ist Kraft; es giebt Ursachen, die nicht Kräfte sind, und das System Spinozas verträgt keine Ursachen, die Kräfte sind, Seine Ursachen sind our rationes, obgleich Spinoza, wie Kant richtig gesehen und getadelt hat, es „recht so haben will“, dass man die rationes mit eausae efficientes verwechsle und die Inhärenz zur Dependenz umwandle. „Bei Spinoza besteht, sagt K. Fischer, die Substanz, die gleich Gott ist, in einer Welt von Kräften.“ Nein, so ist's bei Leibniz, aber bei Spinoza besteht sie nor in einer Welt von Gründen, denn die Dinge folgen aus Gott, wie die Konsequenz aus der Ratio, oder vielmehr sie bestehen in Gott, wie die Winkel im Dreieck, „Die Attribute in der Lehre Spinozas sind demnach nicht Substanzen oder Atome, sondern Kräfte oder Potenzen,“ sagt Fischer; aber sie sind weder Sub- stanzen noch Kräfte. Fischer beruft sich auf eine früher (S. 225—226 seines Werkes) angeführte Stelle, wo Spinoza selbst die Attribute Kräfte nenne, Die Stelle steht in Spinozas kurzgefasster Ab- handlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück; aus dem Lateinischen übersetzt, Buch Il, Kap. 19. Wir wissen nicht, welcher der heiden holländischen Übersetzungen Fischer sein Citat entnommen hat. Fischer behauptet, aus der Einheit Gottes und der Natur folge, dass es nur eine Ausdehnung giebt, die in der Natur selbst wirke und alle ihre Modifikationen, Bewegung und Ruhe, die Körper und ihre Zustände hervorbringe. Die Ausdehnung sei demnach ein wirksames Vermögen oder Kraft. „Und dasselbe, was wir hier von der Ausdehnung gesagt haben, wollen wir auch von dem Denken

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und von allem, was ist, gesagt haben.“ (Bloss dies ist das Citat aus Spinoza). ,Man behalte diese Stelle wohl im Auge, fährt Fischer fort, in der Spinoza unzweideutig lehrt: Dass Denken und Ausdehnung, wie die Attribute überhaupt, wirksame Vermögen oder Kräfte sind.“ Sehen wir aber das Citat an Ort und Stelle nach, so lautet es im Schlusssatz zwar so, wie Fischer eitiert; aber die ganze Stelle besagt etwas ganz anderes und kann nicht dafür als Beweis genommen werden, dass bei Spinoza die Attribute Kräfte seien. Spinoza will beweisen, dass es in der Natur reale Körper gebe. „Dies zu zeigen wird uns nicht schwer sein, sagt er, nachdem wir bereits wissen, dass Gott und was Gott ist, den wir als ein Wesen von unendlichen Attributen definiert haben .... Da wir ferner schon bewiesen haben, dass das unendliche Wesen wirklich ist, so folgt zugleich, dass dieses Attribut (der Ausdehnung) auch etwas wirkliches sei.... Deshalb, fährt dann Spinoza fort, ist nun zu bemerken, dass alle die Wirkungen, welche wir von der Ausdehnung wirklich ab-. hängen sehen, diesem Attribut beigelegt werden müssen, wie die Bewegung und Ruhe. Denn sofern diese Wirkungs- kraft nicht in der Natur wäre, wäre es unmöglich, wenn schon viele andere Attribute in derselben wären, dass jene sein könnten; denn wenn etwas wiederum etwas hervorbringen soll, so muss darin etwas sein, mittelst dessen es mehr als ein Anderes jenes Etwas hervorbringen kann. Dasselbe, was wir hier von der Ausdehnung sagen, wollen wir auch vom Denken, und von allem, was es giebt, gesagt haben.“ Dies sind die Worte Spinozas in der Über- setzung Schaarschmidts (siehe v. Kirchmann, Phil. Bibl. 18. Bd. S. 85—86). Es käme alles darauf an, wie das Wort „Wirkungs- kraft“ im verlornen lateinischen Urtext gelautet hat. In keinem Fall vis, sehr wahrscheinlich aber causa efficiens. Causa efficiens ist aber noch lange nicht identisch mit vis. Spinoza nennt unzählige- male Gott die allmächtige Causa efficiens aller Dinge, aber er nennt ihn nie die Kraft, vis. So sind auch die Attribute im Sinne Spinozas zu verstehen als causae efficientes, aber darum darf man sie doch noch lange nicht Kräfte nennen. Es ist gänzlich unberechtigt, aus der deutschen Übersetzung ,Wirkungskraft“ den Schluss zu ziehen: also nennt Spinoza die Attribute Kräfte. Übrigens geht auch aus der Übersetzung Schaarschmidts deutlich hervor, was unter dieser „Wirkungskraft“ zu verstehen ist. Denn im Satze vorher hat

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ganz ungenau, wenn K. Fischer sagt, Spinoza nenne die Dinge in Rücksicht darauf, dass sie Modifikationen oder Aceidenzen der Sub- stanz seien, ,,Affektionen der Substanz.“ Das thut Spinoza nie, Die Dinge sind Modifikationen, welehe die Attribute erleiden, denn Modifikationen sind Limitationen, Einschränkungen, und dies ist ein Afficiertwerden. Die Dinge sind Affektionen, ,Erregungen“!) der Attribute; nämlich die Körper sind Affektionen, welche das Attribut der Ausdehnung erleidet, und die Geister sind Affektionen, welche das Attribut des Denkens einschränken. Spinoza sagt: Eth. I, Lehr- satz 25, Zusatz: „Die einzelnen Dinge sind nur die Affektionen der Attribute Gottes oder der Zustände, wodurch die Attribute Gottes sich auf eine feste und bestimmte Weise darstellen.“

Die Attribute können also nimmermehr Kräfte sein, welehe die Dinge aktiv bewirken, d. h. ins Dasein setzen, sondern sie erleiden es, dass Dinge aus ihnen folgen. Die Attribute verhalten sich zu den Modi, den Dingen, nicht aktiv, sondern passiv. Das Dreieck bewirkt nicht aktiv, thätig als Kraft seine drei Winkel, sondern es trägt sie als Zustand in sich; drei Winkel zu haben, ist seine feste bestimmte Weise, oder die drei Winkel sind die Affektionen des Dreiecks, die es an sich leiden muss. Bei Spinoza findet sich in Wirklichkeit nicht die geringste Spur davon, dass die Attribute Kräfte seien. Eine Kraft afficiert ein Anderes; was aber selbst afficiert wird, ist nicht Kraft und kräftig, sondern Potenz und leidend, Zwischen Gott und den Dingen findet nicht das Verhältnis statt, wie zwischen Kraft und Wirkung, causa efficiens und efleetus. sondern nur wie zwischen substantia und aceidens, oder inhaerens, So hat auch Kant das System Spinozas verstanden, denn, wie wir oben Kap. IV, No. 6 gehört haben, wirft er Spinoza vor, dass er „die allgemeine Abhängigkeit der Dinge von einem Urwesen, als ihrer gemeinschaftlichen Ursache, indem er diese allgemein wirkende Kraft zur Substanz machte, ebendadurch jener ihre Dependenz in eine Inhärenz verwandelte.“ Kant tadelt es eben an Spinoza, dass er statt Gott als Kraft zu bestimmen, ibn nur als Substanz auflasse und daher die Dinge nicht als Kraftwirkungen Gottes (Dependenz) sondern nur als Inhärenzen und Aceidenzen der Substanz bezeichnen könne, und dann doch „ganz so haben wolle,“ dass man die blosse Inbärenz mit Dependenz verwechsle und konfundiere.

1) „Erregungen“ übersetzt v. Kirchmann, aber affectio heisst der Vor- gang oder Zustand, in welchem ein Wesen ist, dem etwas angethan wird, Die Erregung folgt erst aus dem Vorgang des Afficiertwerdens.

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Es ist aber sehr wichtig, zu konstatieren, dass nach Spinoza die Welt und die Dinge nicht wirkliche Kraftwirkungen Gottes, sondern nur der göttlichen Substanz inhärierende Accidenzen, Konse- quenzen des Wesens Gottes sind. Denn wäre die Welt die Kraftthat Gottes, dann liesse sich vielleicht ein Weg von Spinoza zu Kant finden, wie sich ein Weg von Leibniz zu Kant findet. So aber nicht.

Wir haben also bei Spinoza zweierlei bezüglich der Welt ge- funden: |

1. die sinnlich erfahrbare Körperwelt ist so real, wie die Geisterwelt und beide so real wie Gott und die Substanz selbst;

2. die Körper und Geister sind nicht Kraftwirkungen Gottes, sondern nur Konsequenzen seines Wesens und Affektionen seiner Attribute.

Was lehrt nun aber Kant über die Welt? Spinoza ist ganzer und voller Realist; Kant dagegen stellt einen transscendentalen Idealismus auf, der ihm nur gestattet, empirischer Realist zu sein oder, deutlicher und passender ausgedrückt, er kann nur Phänome- nalist sein. Kant scheidet nämlich die Welt in einen mundus sen- sibilis und einen mundus intelligibilis. Jenes ist die mit den Sinnen erfahrbare, in Raum und Zeit sich darstellende Erscheinungswelt, die eben nur für unsere Sinnlichkeit real ist, ausser unsern Sinnen und ohne sie aber gar nicht ist, der also keine objektive Realität zukommt, weil sie nur unsere Anschauungsweise, das Produkt unserer Sinnlichkeit und unseres Verstandes ist. Der mundus intelligibilis aber ist die Ideenwelt, die Geistwelt, deren Archetypus Gott ist. Sie ist die wirklich seiende, objektiv reale Welt, aber leider kann unser Intellekt, obgleich sie intelligibel heisst und ist, doch von dieser realen Welt auch nicht das Mindeste erkennen, weil unserem Intellekt die Fähigkeit dazu, nämlich die nötige intellektuelle Anschauung fehlt und wir statt dieser nur die sinnliche besitzen. Will unsere Vernunft doch in diese Welt eindringen, so gerät sie ins Schwärmen und Vernünfteln. Es bleibt ihr nur ein auf moralischen Gründen ruhender Vernunftglaube davon übrig.

Man könnte nun vielleicht sagen, die Scheidung der Welt in zwei Welten, wie Kant sie vornimmt, sei doch etwas Ähnliches, wie Spinozas Körperwelt und Geisterwelt. Der Unterschied ist nur der: bei Spinoza ist die Körperwelt so objektiv real, wie die Geisterwelt, bei Kant ist sie nur Erscheinung unserer Sinnlichkeit und unseres

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Verstandes. Der Körperwelt Spinozas kommt Raum und Zeit wirklich zu als objektive Beschaffenheit, denn der Raum als Ausdehnung ist ein ewiges, notwendiges Attribut des Seienden selbst, d. i. der Substanz; bei Kant sind Raum und Zeit nur unsere Anschauungs- formen und haben mit Gott nichts zu schaffen, und kommen den Dingen in Wirklichkeit nicht zu. Was aber Spinozas Geisterwelt anlangt, so sind die Geister für die Vernunft so klar und deutlich erkennbar, wie die Körper, und die Geister sind so real in Raum und Zeit und so vergänglich in Raum und Zeit, wie die Körper denn der ordo idearum entspricht genau dem ordo corporum, und der Geist ist nur die reale Idee des dazu gehörigen Körpers, während bei Kant das Noumenon ausser Raum und Zeit und mit dem Phäno- menon in keiner erkennkaren Verbindung steht. Spinoza und Kant stimmen auch bezüglich der zwei Welten nur im flatus vocis über- ein; jeder versteht etwas ganz anderes darunter.

Aber um so ôfter und um so stärker betont man seit lange, dass doch Kants Ding an sich im Grunde nichts anderes, als Spi- nozas Substanz sei. Hier sei doch Kant, wenn nicht wirklicher Spinozist, doch auf dem Weg zum Spinozismus. Ist diese Rede zu- treffend’?

Das Ding an sich gehört zum eigentümlichen Inventar des mannigfaltigen Kantischen Gedankenhausrats und dieses alte Inventar- stick versieht vielerlei Dienste. Gleich im Anfang der Kritik der reinen Vernunft taucht es im Gesichtskreis auf. Hier wird es ge- dacht als das, was die Sinnlichkeit affiziert und die Empfindungen, den Stoff unserer Anschauungen, erregt, woraus dann Sinnlichkeit und Verstand die empirischen Dinge, die Sinnendinge, bilden. An andern Orten zeigt es sich als das, was hinter den Erscheinungen als ihr transscendentaler Grund liegt, was wir einräumen und an- nehmen müssen, obgleich wir uns bescheiden, dass wir nichts von ihm wissen können. In der Lehre von der Freiheit kommt es wieder zum Vorschein, da ist es identisch mit dem Vernunftwesen, das zusamt dem Sinneswesen den Menschen ausmacht. Und noch eins ist daran wunderbar: bald taucht es in der Mehrzahl als Dinge an sich, aber viel öfter in der Einzahl auf als „das Ding an sich“, als ob es überhaupt nur als einziges vorhanden wäre. Erscheint es in der Mehrzahl, dann ist's, als ob hinter jeder empirischen Einzelerscheinung, hinter jedem einzelnen Sinnending ein Ding an sich vorhanden sei, das ihm entspräche als seine intelligible Wesenheit und noumenale Wirklichkeit, und dann bildet die Vielheit

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kann, weil die Dinge ja nur Wirkungen, Limitationen und Affektionen der Attribute der Substanz sind. Daher kann man Kants Ding an sich ganz gut und ohne Schaden gänzlich über Bord werfen und negieren, ohne dass dadurch die Sinnenwelt Schaden leidet, dagegen kann man in keiner Weise der Substanz entbehren, um die Dinge nach Spinoza zu begreifen, die Welt der Dinge ist unmöglich so- wohl für das Sein wie für die Erkenntnis ohne die Substanz.

Ferner: Spinozas Substanz ist das wahrhaft und notwendig Seiende, das nicht nichtseiend gedacht werden kann. Kants Ding an sich ist eine Vernunftidee, ein Grenzbegriff, von dessen Sein, Dasein und Wesen und Beschaffenheit wir absolut weder etwas wissen noch sagen künnen.

Weiter: Spinozas Substanz ist das in sich und aus sich selbst Seiende, vom Ding an sich wissen wir nicht, von wannen es ist, Kant glaubt und versichert uns, Gott sei der Archetypus und Schöpfer des Dings an sich und der intelligibleh Welt, der durch seine in- telligible Anschauung das Ding an sich zugleich denkt und schafft.

Endlich: Spinoza kann seine Substanz mit der Gottheit identi- fizieren, weil es Gott zukommt, die erste und einzig wirksame und direkte Ursache der Dinge zu sein; dagegen Kant konnte es nicht einmal im Traum einfallen, sein Ding an sich Gott zu nennen, weil es das überflüssigste und unpraktischste Ding von der Welt ist, ein Lüekenbüsser zur Verdeckung unserer Unwissenheit; er nennt es euphemisch: Grenzbegrifl. Gesetzt aber, es wäre möglich, Kants Ding an sich mit Spinozas Substanz für einerlei zu halten und da- rum zu vertauschen, so würde Spinozas Pantheismus durch das Ding an sich ebenso ruiniert, wie Kants Theismus durch die spinozistische Substanz über den Haufen geworfen würde. Denn Spinozas Substanz und Kants Ding an sich reimen sich eben nicht zusammen. Aus der Konfundierung dieser beiden heterogenen Grundbegriffe würde die heilloseste Konfusion unter allen übrigen Gedanken entstehen. Der deutschen Philosophie und insbesondere der erhofften Meta- physik ist daher mit derartigen Ratschlägen und Vorschlägen, Spi- noza und Kant unter einen Hut bringen zu wollen, nieht gedient. In seinen letzten Lebensjahren hat Kant selbst ganz andere Gedanken gehegt, als solche Ausgleichsgedanken, um zwar nicht die Gött- lichkeit der Natur denn das hätte er nie zugegeben wohl aber die Innenweltlichkeit resp. Immanenz Gottes im Menschengeist zu behaupten. Diese Idee sollte den Grundgedanken eines neuen Systems des transscendentalen Idealismus bilden, das Kant plante,

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334 Friedrich Heman,

Damit hoffte er eine bessere Immanenz Gottes in der Welt aufzu- stellen als Spinoza. Diese Immanenz Gottes sollte nicht naturalistischer Pantheismus sein, sondern, indem sie nur die Immanenz Gottes im Menschengeist, in der Persönlichkeit, im Ich als moralischem Wesen, behauptet, die Überweltlichkeit Gottes d. h. die Erhabenheit Gottes über der Welt, als blossem Produkt des Menschengeistes, wohl zu- lassen. Damit gedachte Kant den Spinoza positiv zu überwinden. Dies ist das philosophische Vermächtnis Kants in seinem opus post- humum.!)

Dies führt uns zum letzten Vergleichspunkt, Was sagen Spi- noza und Kant vom Menschen?

Nach Spinoza ist der Mensch ein Naturwesen aus Körper und Geist bestehend, wie die andern Naturwesen, befasst in die unver- briichliche Kette des Kausalnexus, dem alle Modi der Substanz unterliegen, ohne Freiheit und ohne eigene Wesenheit, daher auch ‚ohne andere Bedeutung im Weltganzen, als wie die aller übrigen Weltwesen: Manifestation der Substanz zu sein. Er unterscheidet sich von den Tieren durch das Selbstbewusstsein und die Vernunft, die ihm eine adäquate Erkenntnis Gottes und der Welt ermöglichen, Durch diese Erkenntnis kann er sich einerseits von den Leiden- schaften befreien, andererseits zur intellektuellen Gottesliebe erheben, die ihn von der Todesfureht befreit, ja seiner Seele, die an sieh so sterblich ist, wie der Leib, eine gewisse Unsterblichkeit verleiht, weil, wie Spinoza sagt, wenn die Seele sich mit Gott, der unyer- änderlich ist und bleibt, in Liebe vereinigt, sie dann mit demselben wird unveränderlich bleiben müssen, denn sie ist dann ein Teil der aus Gott unmittelbar entspringenden unendlichen Vorstellung Gottes?)

Ein ganz anderes Wesen ist aber der Mensch nach Kant. Er gehört als Vernunftwesen schon jetzt der intelligiblen, über Raum und Zeit erhabenen ewigen Welt an, und obwohl als Sinnenwesen in einer blossen Phänomenalwelt lebend, hat er die Aufgabe, kraft seiner intelligiblen Freibeit, nach welcher er kann, was er soll, auf Erden in einem Reich Gottes die Sittlichkeit zu verwirklichen. Dabei sind von Gott beide Welten, die ewige und die zeitliche, gesetz- mässig schon so auf einander eingerichtet, dass die zeitliche Tugend im Jenseits ihren ewigen Glückseligkeitslohn finden wird,

1) In einem zweiten Artikel soll der beziigliche Teil des opus post. be- sprochen werden, da hier Kant ganz ausserordentlich oft den Namen Spinozas nennt.

2) Vgl. Spinozas Kurzgefasste Abhandl. von Gott, dem Menschen und dessen Glück. II, Kap. 28 u. Anhang Kap. 2.

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Wenn beide Philosophen darin einig sind, der Menschenseele eine gewisse Unsterblichkeit zu sichern, so unterscheiden sich doch beide darin fundamental, dass nach Spinoza der einzige Weg zu diesem Ziel die adäquate Gotteserkenntnis, dagegen nach Kant die aus Achtung vor dem Gesetz erfüllte Pflicht ist. Der Hauptunter- schied in der Gesamtauffassung des Menschen bei beiden Philo- sophen ist der, dass der Mensch bei Spinoza nur ein vergängliches Naturprodukt, bei Kant aber von Hause aus eine für ein ewiges Geistesleben geschaffene sittliche Persönlichkeit ist. Auch hier giebt es keinen Ausgleich der entgegengesetzten Anschauungen.

Wenn daher auch Kant in seinen Schriften nie gegen den „Spinozism‘‘ polemisiert hätte, so müssten wir doch die gewaltige Differenz zwischen beider Philosophen Grundanschauungen kon- statieren, eine Differenz, die so gross ist, dass auch in den heson- deren Konsequenzen, in welche beider Denker Ansichten auslaufen, geradezu nirgends sich Übereinstimmung findet, und nur durch ver- schiedene Umbiegungen der Ansichten beider sich oberflächliche Ähnlichkeiten herausfinden lassen.

Welche Konseauenz ergiebt sich aber nun aus unsern Dar- legungen für die Thesis, von welcher unsere Untersuchungen aus- gegangen sind, nämlich dass die Theoreme beider Denker Fermente für das philosophische Denken der Gegenwart seien? Doch offenbar in erster Linie die Konsequenz, dass es ebenso unthunlich wie un- möglich ist, einfach in eklektischer Weise aus den Systemen beider einzelne Lehren herauszuschneiden, um sie in einer neuen Theorie zusammen zu schweissen, also etwa aus Spinoza das Theorem von der göttlichen Substanz und ihrer Immanenz in der Welt und von Kant seine phänomenalistische Erkenntnistheorie oder überhaupt seinen vieldeutigen ‚Idealismus‘. Fermente können die Theoreme beider Philosophen nur in der Weise sein, und das ist die zweite Konsequenz dass sie das Denken der Gegenwart anregen, um die genannten Probleme in neuer Weise so zu untersuchen, dass eben nicht so einseitige unausgleichbar sich widersprechende Lösungen derselben resultieren, wie die sind, auf welche jene beiden Denker verfielen. Die dritte Konsequenz ist aber die, dass, wie die neuen Lösungen auch ausfallen mögen, sie jedenfalls so gründlich in der Durchführung, so befriedigend im Eindruck, so überwältigend in der Konseguenz sein müssen, wie die sind, welche Spinoza und Kant von ihren einseitigen, sich widersprechenden Standpunkten und Prin- zipien aus gegeben haben.

Kant und Spinoza. 337

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der ja nicht speziell das Verhältnis Kants zu Spinoza schildern will, auch nicht die spezielle Frage untersucht, ob in Kants System Spinozismus zu finden sei oder nicht, sondern nur im allgemeinen nach verborgenen, pantheistischen Ideen in Kants System sucht, für den thut es gar nichts zur Sache, ob Kant selbst sympathisch oder antipathisch dem Spinoza gegentiber stand. Er hätte sich darum die irrttimlichen Bemerkungen darüber ersparen können; denn was er sonst vorbringt, gentigt vollständig, um den Leser zu überzeugen, dass eine solche pantheistische Ausdeutung und Ergänzung Kants, wie er sie giebt, gar wohl möglich ist und ihren hinreichenden Grund in den Ideen hat, mit denen Kant in seinem System operiert. Aber es sei ausdrücklich gesagt: „in den Ideen, mit denen Kant operiert.“ Denn es muss bestritten werden, dass dies gerade spezifisch „Kantische Ideen“ sind und dem „Kantischen System“ eigen seien. Kants System, wie der Verfasser thut, pantheistisch auszudeuten und zu ergänzen, was dazu fehlt, ist ganz gut möglich genau aus demselben Grund und genau aus denselben Ideen, wonach die Araber schon des Aristoteles System mit Fug und Recht pantheistisch interpretiert haben Wenn das Pantheistische und damit Verwandte im spezifisch Kantischen läge, dann wäre es doch offenbar nicht gut möglich, Kant dennoch nicht zu den „berufenen Vertretern“ des Pantheismus zu zählen, wie doch auch der Verfasser nicht thun will Kant aber konnte Zeitlebens ein Feind alles Pantheismus sein und bleiben, weil das ihm, seinem persönlichen, Denken, seiner Gesinnung und seinem Gedankensystem Eigentümliche durchaus unpantheistisch, vielmehr streng theistisch war. Dagegen wenn man die Ideen, mit denen auch Kant operiert, von ihren spezifisch Kantischen Schalen und Hülsen befreit, wenn man „in die Tiefe“ dieser Ideen hinabsteigt; das, was „verborgen“ darinsteckt, enthüllt und dann noch die nötigen „Kombinationen“, „äussersten Konsequenzen“ und „Ergänzungen“ an- bringt dann, aber auch nur dann stösst man genau, wie bei Aristo- teles, so auch bei Kant auf die Idee, welche zugleich auch Grund- und Eckstein alles Pantheismus ist. Es ist die Idee der Vernunft (voös', Bei Aristoteles wie bei Plotin, bei Kant wie bei Hegel liegt das pantheistische Element darin, dass die Vernunft das xai vo nay des Systems ist. Diese Vernunft ist das Absolute, das Göttliche, Ewige an sich und zugleich das Göttliche, Ewige in der Welt und das Gött- liche, Ewige, Unbedingte im Menschen; sie ist das Wesen aller Wesen, welche nur Wesen und Sein haben, sofern dieses Unbedingte, die Vernunft, in ihnen ist, Was nicht Vernunft ist oder Vernunft Kantstudien V. 22

338 Friedrich Heman,

an sich bat, ist überhaupt nicht und hat kein Wesen, sondern ist nur scheinende Erscheinung. Vernunft aber ist ein Allgemeines, Eines, tiberall seiner Natur nach Gleiches und Identisches, was sich nicht teilen und trennen lässt, Ist die Vernunft, der voüs, die rénaic vorjosws das eigentlichste Wesen Gottes und zugleich das eigentlich Göttliche und Wesenhafte des Menschen, ist der Mensch nur als Vernunftwesen, nicht als Sinnenwesen, wirklich seiend und wahrer Mensch, dann ist Mensch Gott und umgekehrt, dann feiert die Gottheit im Menschen ihre Selbstdarstellung. Ist die Welt zu scheiden in eine Vernunftwelt und eine bloss scheinende und erscheinende Sinnenwelt und ist die erstere nur die wahre, seiende, die ewige, göttliche Welt, dann ist auch die Welt = Gott. So ist Gott = Mensch Welt, denn das Wesen von allem ist die Vernunft, das Eine. Ist Freiheit = Autonomie der Vernunft als praktischen, dann ist das freie Vernunftwesen, der Mensch, Herr seiner selbst und der Welt und bedarf keines Gottes; er ist wie Gott, und es ist ein „Fehler“, noch einen besonderen Gott ausser und über dem Menschen zu statuieren. Die Idee Gottes ist nur eine nach aussen geworfene Projektion, ein Spiegelbild des eigenen, autonomen, freien, vernünftigen Ichs. Gott ist Alles in Allem, weil Alles in Allem die Vernunft ist,

Mit Scharfsinn und Geschick hat nun Schultess die interessante chirurgische Operation an Kant vorgenommen und vollzogen, die Kantische Haut, Muskeln und Fleischteile sorgfältig abzuschälen, bis endlich nur die Knochen des Vernunftgerüstes tibrig blieben und zu Tage traten, welche die pantheistische Struktur und Kompo- sition an sich tragen. Freilich bedurfte es dann dabei doch noch der mannigfachsten Kombinationen und Ergänzungen, um die ent- deekten disjecta membra poëtae zu einem zusammenhängenden, ganzen Skelett des Pantheismus zusammenzufügen, und es ging dabei nicht ab, ohne auch gerade solche Fleischteile des Systems, welche spe- zifisch Kantische Physiognomie trugen, für „Inkonsequenzen“ und „Fehler“ Kants zu erklären.

Seit Anaxagoras aber liegt fast jedem philosophischen System, das nicht purer Materialismus ist, die „Vernunft“ als materiales Prinzip zu Grunde; die Vernunft aber, weil allgemein und eins, ist pan- theistisch veranlagt, darum wird man auch die meisten Systeme pantheistisch deuten und „einen gewissen Pantheismus“ und mindestens „Verwandtschaft“ mit solehem entdecken können. Und weil seit Anaxagoras auch fast kein System der pantheistisch veranlagten Vernunft entbehren konnte, ist Jacobi zur Behauptung verführt worden, alle Philosophie sei von Haus aus pantheistisch und könne gar nicht

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anders, sondern müsse naturnotwendiger und konsequenter Weise zum Pantheismus führen, Jedenfalls hätte Jacobi an der Schultess’schen Dissertation mit ihren pantheistischen Resultaten seine helle Freude gehabt, und Kant selbst würde vielleicht etwas betroffen, aber so energisch, wie möglich, erklärt haben, was bei dieser Sektion her- auskomme, sei eben durchaus nicht mehr sein System, sondern eine alte pantheistische Vernunftschablone, die man jedem unterschieben könne, der von der Vernunft Gebrauch mache.

Eins aber würde auch Kant zugegeben haben, nämlich, dass der Verfasser richtig herausgefunden und schön ins Lieht gestellt habe, worin eigentlich das allzeit behauptete „Göttliche“ des Menschen bestehe. Bisher seit Heraklit habe man dieses Göttliche in der Vernunft des Menschen nur sofern, als sie Intelligenz, theoretisches Vermögen, sei, gefunden; er aber (Kant) weise es nach in seiner praktischen Vernunft und in der sittlichen Freiheit seines intelligiblen Wesens. Dadurch allein sei der Mensch gottverwandt, heilig und eines ewigen Lebens würdig. Dies nun uns dargelegt zu haben, sei ein dankenswertes Verdienst des Verfassers um sein (Kants) System, Er müsse sich aber nichts destoweniger jene „äusserste Konsequenz“ verbitten, wonach der Verfasser schliesse, dass durch eben diese Gottverwandtschaft „die Grenze zwischen Gott und dem Menschen fliessend“ erscheine und der letztere angesehen werden müsse, „als die vollkommenste Selbstdarstellung Gottes“ (S. 28). Ein besonnener Schluss daraus werde nur der sein, dass das menschliche Bewusstsein und die vernünftige Persönlichkeit des Menschen die Offenbarungs- stätte Gottes oder, um einen Schellingschen Ausdruck zu gebrauchen, das „Gottsetzende in der Welt“ sei; denn er (Kant) müsse konsequent und konstant verneinen, dass mit seiner Idee Gottes als dem „Ideal der reinen Vernunft“ eine Entwicklung vom Unbewussten zum Bewusstsein, vom Unpersönlichen zur Persönlichkeit verträglich sei weil ,,das Unbedingte“, das die menschliche Vernunft allem Bedingten vorauszusetzen sich gedrungen fühle, selbst nieht die unbedingte Bedingung alles Bedingten sein könnte, wenn ihm nicht auch wesent- lich und ewig schon „Verstand und Wille“, „Absicht und Technik‘ zukäme. Sein System zeige also trotz allem keine Neigung zum Pantheismus. Im übrigen erkenne er geziemend an, wie sehr -der Verfasser sich in seine (Kants) Schriften hineingearbeitet habe, denn er komme ihm sogar im Stil der ungefügen, langgestreckten Perioden (S. 31, 41 und 67 finden sich Sätze von 17—20 Zeilen) fast gleich. Dem Ähnliches würde vielleicht Kant erwidert haben.

29%

Kant contra Haeckel. Erkenntnistheorie gegen naturwissenschaftlichen Dogmatismus, Von Erich Adickes in Kiel.

Motes a Hacckeis Weiträtsef (8. 430).

Seit Büichners „Kraft und Stoff“ (1855), der Bibel des Materialismus, ist kein philosophisches Werk in deutscher Sprache veröffentlicht, das einen so durchschlagenden Erfolg gehabt hätte, wie E. Haeckels „Welträtsel“ (1899). Büchners Schrift erschien 1898 in 20. Auflage. Von den „Welträtseln“ waren nach Mitteilung des Verlegers (E. Strauss in Bonn) in wenigen Wochen vier starke Auflagen (10000 Exemplare) vergriffen, Viele bedeutende gedankenvolle philosophische Werke sind in den letzten 50 Jahren geschrieben, darunter manche von bleibendem Wert auch für kommende Jahrhunderte. Trotzdem: die meisten unter ihnen mussten sich mit einer beschränkten Anzahl von Lesern begnügen. Von Haeckels „Welträtseln“ gilt Ciisars ,,veni, vidi, viei“. Und nicht ein kleines populäres Büchelchen fand solch rasche Verbreitung, sondern ein respektabler Band von 473 S. gr. 8°, vollgepfropft mit Fremdwörtern und durchaus nicht arm an Detailgelehrsamkeit. Das giebt zu denken,

Zum Teil hat dieser Erfolg seinen Grund ohne Zweifel darin, dass Haeckel Naturforscher ist. Wir stehen im Zeichen der Natur- wissenschaft. Von ihr erwarten weite Kreise „der Weisheit letzten Schluss“. Und wenn nun ein Mann von der wissenschaftlichen Be- deutung Haeckels voll Siegeszuversicht verspricht, die Welträtsel nicht nur aufzugeben, sondern auch zu lösen: wie sollte da nieht die gläubige Menge staunend aufhorchen!

Dazu kommt’ ein Weiteres! Naturwissenschaft und Philosophie, einst eng verbunden, sind feindliche Geschwister geworden. Klafter- tief zeigte sich der Spalt, der beide trennt, beim Sturz der spekulativen Philosophie. Seitdem arbeitet man von beiden Seiten daran, die Verbindungsbrücken wieder herzustellen. Aber bisher ohne ent-

Kant contra Haeckel. B41)

scheidenden Erfolg! Auch jetzt noch herrscht oftmals bittere Fehde, wo gegenseitige Anregung und Befruchtung am Platz wäre: Desto’ gespannter ist die Aufmerksamkeit, wenn aus dem naturwissensehaft- lichen Lager heraus eine Stimme sich erhebt und eine neue Welt- anschauung verkündet.

Auch Büchner war Naturforscher. Doch Haeckel erhebt sich: weit tiber ihn: er hat neue Wege eingeschlagen, reiche Anregungen sind von ihm ausgegangen, wichtige Resultate verdankt man seiner’ Arbeit. Beide Männer drängte es zu Synthesen, der intellektuelle Einheitstrieb war stark in ihnen entwickelt, mit einem Prinzip suchten sie die ganze Welt zu umfassen. Und trotzdem: als Philosophen sind beide vollständige Nullen!

Wie kommt das? Sie sind ganz und gar von dem einen Triebe erfüllt. Über dem Bedürfnis nach Einheit vergessen sie die in der Welt faktisch herrschende Vielheit und übersehen die Sehwierigkeiten, welche sich ihrer Weltformel eben wegen deren Einfachheit entgegenstellen. Beide sind echte Dogmatiker: in die einmal gefasste Meinung sind sie völlig verrannt. Mögen die Gegen- instanzen noch so zahlreich sein, mögen sie sich in der nächst- liegenden Erfahrung noch so stark aufdrängen: sie werden nicht beachtet, die Augen beider Forscher sind wie geschlossen für alles, was mit ihren Theorien nieht in Übereinstimmung steht. Möglichkeit oder gar Notwendigkeit einer Generalrevision ihrer Ansiehten liegt für sie ganz ausserhalb des Gesichtskreises. Hypothesen werden zu Dogmen, die Grenzen zwischen Möglichem und Wirklichem ver- wischen sich, und selbst das Unmögliche erscheint als notwendig, wenn es in den Zusammenhang ihres Denkens passt. Mit der Sonde gesunder Kritik die schadhaften Stellen ihres Systems aufzusuchen, verstehn sie nicht.

Und vor allem, es fehlt ihnen das, was zwar nicht gentigt, einen zum Philosophen zu machen (dazu gehören noch manche andere Sachen!), was aber, wenigstens heutzutage, die ganz unentbehrliche Vor- bedingung für jedes Philosophieren ist: die erkenntnistheoretische Durchbildung. Dass es Grenzen für das menschliche Erkennen giebt, und zwar sehr enggesteckte, unüberschreitbare, wissen sie wohl von Hörensagen, aber ihr Denken hat dies Wissen nicht in sich aufgenommen, seine Siegesgewissheit ist dadurch nicht herabgestimmt. Und wenn Haeckel sich auch dann und wann etwas reservierter ausdrückt, so sind das doch nur flüchtige Anwandlungen von edler Bescheidenheit oder greisenhafter Schwäche, die auf jeden Fall '

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342 Erich Adickes,

das Ganze seiner Denkungsweise durchaus nieht zu modifizieren vermögen und sofort verschwinden, wenn es bei den Einzelfragen zur Entscheidung kommt. Dann ist des Rätsels Lösung doch stets entweder schon in Haeckels Hand oder steht wenigstens in naher Aussicht; die naturwissenschaftliche Forschung ist durch keine Schranken eingeengt, es giebt für sie kein undurchdringliches Dunkel. Auch nur ein „Ignoramus“ zu sprechen, fällt Haeekel schwer: ein „Ignorabimus“ würde ihm nicht weiser Selbstprüfung, sondern feigem Misstrauen in die eigene Kraft oder träger Zufriedenheit mit halb Erreichtem zu entstammen scheinen.

Für so manches, was ein Jeder, der im philosophischen Denken auch nur einigermafsen geschult ist, als Binsenwahrheiten betrachtet, geht Haeckel (ebenso wie Büchner) jedes Verständnis ab. Vor allem für die Fundamentalerkenntnis, dass die uns nächstliegende Erfahrung die geistige ist, dass nicht materielles, sondern psychisches Geschehn das uns Bestbekannte und primär Gegebene ist. So kommt es denn, dals ihre Weltanschauungen nicht, wie andere Weltanschauungen, Aufrisse sind, denen an sich ein wirkliches Gebäude entsprechen könnte, dass sie vielmehr Pläne darstellen, auf Grund deren nirgends, nicht einmal in einem Wolkenkuckucksheim, einen Bau aufzuführen möglich wäre, Pläne, bei denen das Dach in der Erde ruht, während die Grundmauern hoch oben in den Lüften schweben.

Das ist der Grund, weshalb man die Unhaltbarkeit ihrer Systeme erweisen kann: sie zählen nicht unter die zwar nicht demonstrierbaren, eben darum aber auch nicht widerlegbaren Welt- anschauungen. Sie können, wie ich zeigen werde, ad absurdum geführt werden auf Grund erkenntnistheoretischer und methodologiseher Erwägungen. Und diese Erwägungen sind nicht meine Erwägangen: sie sind Gemeinbesitz der ganzen modernen Philosophie, soweit sie überhaupt eine wissenschaftliche Fundamentierung für die Glaubens- überzeugungen ihrer Metaphysik anstrebt. Meine Darlegungen können deshalb den Anspruch erheben, nicht für Bedenken eines einzelnen Philosophen oder gar für Grillen eines Feindes der Naturwissenschaften gehalten zu werden. Im Namen der wissenschaftlichen Philo- sophie möchte ich Haeckel widerlegen, ja sogar im Namen der eigentlich führenden Geister auf naturwissenschaftlichem Gebiet, soweit ihre Gesamtansicht erkenntnistheoretisch orientiert ist,

Meine Hauptargumente sind zwar nicht erst von Kant in die philosophische Betrachtung eingeführt. Aber er hat sie in besonders eindringlieher Weise geltend gemacht und nicht wenig dazu beige-

Kant contra Haeckel. 343

tragen, dass aus ihnen „ewige Wahrheiten“ wurden, die heutzutage unter allen Wissenden als etwas durchaus Selbstverständliches gelten. Deshalb habe ich meinem Aufsatz den Titel „Kant contra Haeckel“ gegeben. Nicht als ob ich die einzelnen Ansichten Kants denen Haeckels entgegenstellen und für jene eintreten wollte. Das könnte ich in sehr vielen Fällen gar nicht, weil ich sie nicht zu teilen vermag. Ich will durch den Titel nur andeuten, dass meine Haupteinwände nicht auf mich als Einzelpersönlichkeit zurtickgehn, dass sie vielmehr schon durch Kant zum Gemeingut der ganzen modernen wissenschaft- lichen Philosophie geworden sind, als deren Sprecher ich bloss auftrete,

Im Mittelpunkt meiner Ausführungen steht der Nachweis, dass es unmöglich ist, aus der Materie und ihren Bewegungen das geistige Leben zu erklären; dass die ganze materielle Welt (also die Welt der Naturwissenschaft) nur eine Welt von Erscheinungen ist und die Materie, die Körperlichkeit nichts als eine Schöpfung unseres Geistes; dafs es darum unsinnig ist, die Materie zum Ausgangspunkt zu nehmen und aus ihr die geistigen Erscheinungen ableiten zu wollen.')

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Läse Haeckel meine Einwände, so würde er wahrscheinlich missbilligend oder gar indigniert fragen: „Was soll das mir? Ich bin doch kein Materialist!* Er könnte mich auf seinen Vortrag vom Jahre 1892 verweisen, wo er sich bitter darüber beklagt, dass gegen seine „monistische Ansicht des Verhältnisses von Kraft und Stoff, von Geist und Materie“ so häufig der Vorwurf des Materialismus erhoben werde. „Ich habe schon früher wiederholt dargethan, dass mit diesem vieldeutigen Schlagworte gar nichts gesagt ist; man könnte an seine Stelle ebensogut das scheinbare Gegenteil ‚Spiri- tualismus‘ setzen. Jeder kritische Denker, der die Geschichte der

1) Der hier abgedruckte Aufsstz bildet den ersten Teil einer Broschtire, die unter dem Titel „Kant contra Haeckel* gleichzeitig im Verlag von Reuther & Reichard erscheint. In zwei weiteren Kapiteln führe ich aus, 1, dass Haeckel das, was ihm am meisten am Herzen liegt: Einheitlichkeit der Weltanschauung auch auf anderem, philosophischerem Wege hätte erreichen können; 2. dass ausser- halb der Erscheinungswelt für die Naturwissenschaft und für die Wissenschaft überhaupt leerer Raum ist, dass es vom Transscendenten kein Wissen, sondern nur Glauben giebt, dass darum auch Haeckel ein Gläubiger und sogar ein Erz- gläubiger ist, trotz all des Hohnes und Spottes, mit dem er jeden Glauben ver- folgt. Das Schlusskapitel endlich enthält einige Betrachtungen fiber den wundersamen Erfolg der „Welträtsel“, seine Ursachen und seine Bedeutung als Zeichen der Zeit.

344 Erich Adiokes,

Alasapie kennt, weiss, dass solche Schlagworte in den s ystemen die verschiedenste Bedeutung annehmen . . . und,

en anes tox ea EE ee oder „der, ‚Einheits-Philosophie‘; für ihn ist ein ‚immaterieller, lebendiger . ebenso undenkbar, als eine ‚tote geistlose Materie‘; in jedem Atom ist beides untrennbar verbunden“).

Ich meine doch, die Geschichte der Philosophie lehrt etwas Anderes. Sie zeigt zwar klar, dass mit den kurzen Bezeichnungen auf „—ismus, —ist, —ianer“ oftmals grosser. Miss- uch getrieben ist, aber anderseits auch nicht weniger klar, dass „Monismus“ gerade eines der vieldeutigsten Schlagworte, „theoretischer Materialismus“ dagegen ein relativ bestimmter, fest begrenzter Be- griff ist. Womit nicht geleugnet werden soll, dass er im Lanf der Entwicklung Schwankungen und Fortbildungen unterworfen gewesen ist, Fr. A. Lange hat uns in vortrefilicher Weise ihre Geschichte geschrieben. Aber das Gemeinsame überwiegt doch bei weitem das, was die verschiedenen Begriffsbedeutungen von einander trennt, Durch alle Wandlungen hindurch hat sich eine gewisse Summe von Merkmalen als bleibender Kern erhalten.

Ein Zwiefaches kommt vor allem in Betracht. 1. Für jede Art des Materialismus ist die Welt ohne innere Einheit, ohne Sinn, ohne Zweck, ohne Plan; das Ganze wie das Einzelne, Leben und Tod: nichts hat tiefere Bedeutung. Eine stetig fortschreitende Ent- wicklung in aufsteigendem Sinn giebt es nicht. Wohl überlebt, das Zweckmässige. Aber wie lange? Das ganze organische Leben ist, ja nur eine Episode; ist sie beendet, dann giebt es wieder nur Un- belebtes, wie es in der Unendlichkeit der Vergangenheit vor Ent- stehung des ersten Organismus nur Unbelebtes gab. Und das geistige Leben? Es ist noch viel, viel nichtiger und flüchtiger. Nicht das eigentliche Wesen der Welt haben wir in ihm zur erblicken, sondern einen Ausnahmefall, eine Abnormität, zwar durchaus gesetzmässig entstanden, aber doch eine Seltsamkeit, die zum Andern nicht so recht passen will. Dem kurzen Spiel einer Eintagsfliege ist es vergleiehbar, schwebend tiber dem Meer der Ewigkeit und Unendlichkeit (Buchner). Daher ist es ohne dauernde Früchte, Ja, die geistigen Schöpfungen

1) Haeckel: Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft. Glaubensbekenntnis eines Naturtorschers, vorgetragen am 9. Oktober 1892 in Altenburg beim Töjährigen Jubiläum der Naturforschenden Gesellschaft des Osterlandes. 8. verb. Aufl. Bonn. 1899. S. 26/7. (Von mir eitiert als M, die „Welträtsel“ als W.)

Kant contra Haeckel. 345

sind noch vergiinglicher als die materiellen Dinge, denn von diesen. bleibt doch wenigstens die Materie, mögen die Formen, welche sie annimmt, noch so sehr wechseln. Aber Gedanken, Ideen was, bleibt von ihnen? Sie werden verweht, als wären sie nimmer da- gewesen. Nur soweit sie sich materiell darstellten und verkörperten, auf Papier durch Tinte und Druckerschwärze, oder in Stein und Eisen, Farbe und Thon; soweit bleibt wenigstens die Materie ihrer Verkörperung. Und indem sie allein bleibt und beharrt durch tausend und aber tausend neue Gestaltungen und Zusammensetzungen hindurch, legt sie ein beredtes Zeugnis ab für ihre Suprematie über jene Welt des Geistes, auf die der Mensch so stolz ist. Den letzten Grund hat diese Suprematie darin, dass 2. alles Geistige durch Materie verursacht ist. Es ist eine Wirkung, welche hier und dort bei besonderen Konstellationen der Materie sich zeigt. Nicht nur, dafs es Geistesleben da allein giebt, wo Materie ist dann wäre, ein Parallelismus zwischen beiden denkbar. Der Materialismus. behauptet mehr: das Psychische soll in direkter Abhängigkeit von der Materie stehen.

Wird die materialistische Weltanschauung ganz streng durch- geführt, so darf als wirklich nichts angenommen werden ausser bewegter Materie und leerem Raum. Und das Nächstliegende ist, die Materie atomistisch zu denken: ihre letzten Teile also nur durch Grösse und Form verschieden, ohne irgend welche innern Qualitäts- unterschiede. Aus der mannigfaltig verschiedenen Lage, Anordnung und Bewegung der einzelnen Atome müsste dann die ganze viel- gestaltete, bunte, leuchtende, tönende Welt erklärt werden.

In dieser starren unerbittlichen Konsequenz, bei der die Tollheit doch wenigstens noch Methode hätte, ist der Materialismus nie aufgetreten, selbst im Altertum nicht. Damals kam er ihr am. nächsten. Aber den Atomen wurde auch verschiedene Schwere an- gedichtet: angeblich ein blosser Quantitätsunterschied wie Grüsse; und Form, in Wirklichkeit aber ein innerer Qualitätsunterschied oder, wie wir heute uns auszudrücken pflegen, die Wirkung einer Kraft: der Anziehungskraft.

Was im Altertum sich nur heimlich einschlich, wird heutzutage mit Pomp empfangen: neben der Materie ist jetzt die Kraft ein Grundpfeiler des Materialismus. Und die Materialisten ahnen nieht einmal, dass sie damit im Grunde schon ihr ganzes System prinzipiell aufgeben. Kraft wirkt in die Ferne, wirkt also auch da, wo die Materie selbst nicht ist, wenn sie auch nur von irgend

an

346 Erich Adickes, welcher Materie auszugehn vermag. Streng mechanistisch = der Materialismus dann, wenn allein Druck ct ia

Unbekannte, was wir mit dem Ausdruck „Kraft“ bezeichnen, ohne

es zu erklären) bewegungserteilend wirkten. Aber seit Newton hatte sich (trotz Newton!) unsere Naturwissenschaft an Kräfte so ge- wöhnt, dass man den Gegensatz zwischen Mechanismus und Kraft- wirkung nicht mehr empfand. Erst neuerdings versuchen Manche (Faraday, Maxwell, H. Hertz) die streng mechanistische Denkungs- weise wieder aufzunehmen und damit zu der alten Parole der An- schaulichkeit bis ins kleinste hinein zurückzukehren, während sich freilich zu gleicher Zeit die energetische Schule in gerade entgegen- gesetzter Richtung bewegt.

Echte Materialisten aber sind die modernen Kraft- und Stofl- Männer zweifelsohne, wenn auch einige von ihnen, darunter sogar Büchner, eine andere Bezeichnung vorzögen. Die Kräfte, zu deren Annahme sie sich gezwungen sehen, sind die allgemeinen chemisch-physikalischen der ganzen Natur. Und dieselben sollen nieht etwa innere Qualitätsunterschiede in den Atomen begründen: sie wirken nur bewegungserteilend und sind notwendig, nur um die Bewegungserscheinungen zu erklären. Bewegte Materie und leerer Raum: das ist also auch heute noch für den Materialisten das Einzige, was wirklich existiert. Nur dass die Materie mit Kräften als mit Bewegungsprinzipien ausgestattet gedacht wird. Aber nicht aus diesen Kräften als aus etwaigen Innenzuständen der Materie ent- wickelt sich Empfinden, Denken und Selbstbewusstsein, sondern allein gewisse, seltene Verhältnisse der Lagerung und Zusammensetzung der kleinsten Teilchen erzeugen das gesamte geistige Leben. Der materialistische Standpunkt wird erst da verlassen (dann aber auch sofort und grundsätzlich), wo die Materie als denkend oder empfindend gedacht wird oder wenigstens als mit Innenzuständen versehn, die sich in allmählicher gesetzmässiger Entwicklung zum Empfinden und Denken erheben. Wo das nicht zutrifft, wo die Materie empfindungslos ist und bar an qualitativ verschiedenen Innenzuständen, wo also aus der äusseren Konstellation der Atome alle Mannigfaltigkeit und Viel- gestaltigkeit der Welt, das ganze geistige Geschehn eingerechnet, hervorgehn soll: da ist echter Materialismus, auch wenn seine strenge Konsequenz durch Zulassung des Kraftbegriffs aufgegeben wird.

Das ist eine Erkenntnis von fundamentaler Wichtigkeit: in ihr besitzt man ein Schibboleth, die Geister zu scheiden. An diesem Maass- stab gemessen, giebt sich Haeckels Monismus als Materialismus zu

Kant contra Haeckel. 347

erkennen, wenn auch der Unklarheit des ganzen Haeckelschen Denkens entsprechend als ein Materialismus, der jeden Augen- blick in andere Anschauungsweisen übergeht.

Den Kern aller Probleme bildet für den Materialisten das Ver- hältnis des Psychischen zum Physischen. Da ist sein „bieRhodus, hie salta!* Andere Standpunkte könnten ihr Ignoramus eingestehn: der Materialismus ist verbunden zu erklären, zu beweisen, anschaulich darzustellen. Denn er will ja nicht nur eine mögliche Hypothese sein, er behauptet vielmehr mit völliger Gewissheit, dass nichts existiert als die Materie und ihre Kräfte, dass aus ihr und ihren Konstellationen alles abzuleiten ist.

Freilich, gerade so gut könnte er erklären wollen, wie aus Brot Körner werden, statt aus Körnern Brot, oder wie Lettern Gedanken hervorbringen, wo doch Gedanken in Lettern nur ihre Verkörperung finden. Erklären, wo in Wirklichkeit das Gegenteil von dem statt- findet, was man erklären will, ist eben ein unmöglich Ding. Da wird man sich denn nicht wundern, wenn der Materialismus, statt die Ent- stehung des Psychischen aus dem Physischen anschaulich und be- greiflich zu machen, es bei allgemeinen Redensarten bewenden lässt, und wenn noch dazu diese Redensarten unklar und verschwommen sind und teilweise stark von einander abweichen, Wo das Problem auf den Kopf gestellt wird und in der Sache selbst deshalb Un- klarheit herrschen muss, da kann man nichts Anderes erwarten als schwankende und schillernde Ausdrücke.

Auf drei Typen lassen sich die verschiedenen Äusserungen der Materialisten tiber die Abhängigkeit des Psychischen vom Phy- sischen zurückführen, und alle drei Typen trifft man sehr oft in einem und demselben Werk friedlich neben einander in lieblichster Verwirrung.

Es wird behauptet: 1. Empfindung-Gedanke sind Eigenschaften der Materie, welche dieser aber nur unter gewissen besondern Um- ständen zukommen; 2. sie sind in Wirklichkeit Bewegungen und erscheinen uns nur als etwas Anderes, Geistiges; 3. Bewegung bringt Empfindungen und Gedanken als ihre Wirkungen hervor.

Alle drei Behauptungen finden sich bei Haeckel. Selbst in diesem Dureheinander bewährt er sich also als getreuen Vasallen des Materialismus. Bevor ich hierfür Belegstellen anführe, bedarf das Aushängeschild der Welträtsel, der Monismus, dieser „klare und un- zweideutige Begriff“, noch der Erörterung.

Was sagt das Wort? Doch nur, dass die betreffende Welt-

348 Erich Adickes,

ansehauung auf irgend welche Einheit Wert legt und sich damit in Gegensatz zu irgend welchem Dualismus oder Pluralismus stellt. Aber welcher Art diese Einheit ist? auf welche Gebiete sie sich bezieht? ob sie Materialismus oder Spiritualismus ein- oder aus- schliesst? darüber ist aus dem Begriff „Monismus‘“ nichts zu ent- nehmen,

Faktisch, in der näheren Ausführung, handelt es sich bei Haeckel um eine dreifache Art von Einheit: 1.um die Einheit von Gott und Natur: sie wird von Haeckel behauptet, ist aber, wie sich gleich zeigen wird, in seinem System in Wirkliehkeit nieht vorhanden, da dasselbe nur die Natur, aber nichts Göttliches kennt; 2. um die Einheitlichkeit in der Weltentwieklung: hier liegt seine Foree, aber der Preis, den er zahlt, ist ein unnötig hoher; alles Wertvolle an den betreffenden Behauptungen Haeckels kann man aufrecht erhalten, ohne seine Voraussetzungen, Folgerungen und Unklarheiten zu teilen; 3. um die einheitliche Konstitution des Weltalls: hier kann überhaupt nicht von Monismus, sondern nur von Dualismus die Rede sein.

Zwar, offiziell führen die „Welträtsel“ sich ein als Erneuerung. des Spinozistischen Systems. Sie „halten test an dem reinen und unzweideutigen Monismus von Spinoza: Die Materie, als die un- endlich ausgedehnte Substanz, und der Geist (oder die Energie), als die empfindende oder denkende Substanz, sind die beiden fundamentalen Attribute oder Grundeigenschaften des allumfassenden göttlichen Weltwesens, der universalen Substanz“ (W. 23). Also die Materie eine Substanz und zugleich die Eigenschaft einer Substanz! Ein zünftiger Philosoph würde schon durch diesen einen Ausdruck völlig gerichtet sein! Bei Haeckel muss man, was Bestimmt- heit, Klarheit, Adäquatheit der Begriffe betrifft, von vornherein Ernst machen mit dem Wort; Lasciate ogni speranza voi ch’ entrate.

Daher halte ich mich bei solchen „Kleinigkeiten“ der Termino- logie nicht, lange auf, sondern stelle nur fest, dass 1. die Gleich- setzung von Geist und Energie (S. 249: Geist = die allumfassende” denkende Substanz-Energie) durchaus nicht spinozistisch ist und dass 2. einer der wichtigsten Glaubensartikel Spinozas: seine einheitliche unendliche Substanz (ens absolute infinitum) von Haeckel aufgegeben wird: aus beiden Gründen ist die Beziehung auf jenes System ganz unberechtigt und unangebracht.

Zwar kehrt sie öfter wieder, aber eine falsche Behauptung wird durch häufige Wiederholung nicht richtiger. S. 250 ist der „Geist“

Kant contra Haeckel. 849

schon völlig verschwunden: da sind für Haeckels „gereinigten Monis- mus“ „Materie (der raumerfüllende Stoff) und Energie (die bewegende Kraft)“ die beiden „untrennbaren Attribute der einen Substanz“. Und die „eine Substanz“ folgt dem Geist bald nach. Sie entpuppt sich bei näherer Betrachtung als eine blosse Summe des Existierenden: die Gesamtheit des vorhandenen Stoffes und der vor- handenen Kraft. Gott kann bezeichnet werden „als die unendliche Summe aller Naturkräfte, als die Summe aller Atomkräfte und aller Atherschwingungen“. Wie wohl müssen sich die Anhänger der monistischen Religion unter ihrem Papst Haeckel fühlen, der ihnen mit so liebenswürdigem Entgegenkommen freie Auswahl unter all diesen schönen Dingen gestattet. Denn „auf den Namen kommt es nieht an“, nur „auf die Einheit der Grundvorstellung, auf die Einheit von Gott und Welt, von Geist und Natur“ (M. 33).

Aber wo ist hier denn eine Einheit? Ich sehe nichts als eine Summe. Wenn ich mir ein Dutzend Hyacinthenzwiebeln kaufe, sie vor mir fein säuberlich auf dem Tisch ausbreite und mit den Ziffern 1—12 etikettiere: werden sie dadurch zu einer Einheit? Bei einer wahren Einheit müsste das Ganze doch wenigstens ideell den Teilen vorhergehn. Soll die eine Substanz (Gott oder die , Natur“) Materie und Energie als zwei untrennbare Attribute an sich aufweisen, so muss sie doch entweder auch unabhängig von diesen beiden Attri- buten, für sich, existieren oder ihnen wenigstens realiter zu Grunde liegen und ideell vorhergehn: sie darf nicht vollständig in ihnen aufgehn, kann nicht ganz und gar identisch mit ihnen sein. Bei Haeckel ist weder das Erste noch das Zweite, ja nicht einmal das Dritte der Fall. Für ihn ist Gott überhaupt nichts realiter Existierendes, er ist nur eine Idee, nur eine Benennung, er existiert nur in unserem Gehirn, wenn wir alles Vorhandene (Stoff und Materie) in Gedanken zusammenfassen und mit einem einheitlichen Namen belegen. Seine Begriffe von Gott, Natur, einheitlicher Substanz haben also keine andere Funktion und keine andere Bedeutung als unsere Zahlen und Maassbegriffe, wie z. B. Dutzend oder Schock, Liter oder Aar. Eben darum hat aber Haeckels Anschauungsweise mit der Spinozas auch nicht die entfernteste Ähnlichkeit. Spinoza betont die Einheit und Einheitlichkeit seiner Substanz so sehr, dass die Einzel- dinge darüber ihre Selbständigkeit verlieren. Bei Haeckel ist der letzteren Selbständigkeit so gross, dass von Einheit überbaupt nieht mehr die Rede sein kann.

Nicht Monismus und Pantheismus müsste er seine Weltanschauung

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3%: Erieh Adickes.

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Kant contra Haeckel. 851

dacht ist es ferner, wenn Haeckel die drei transscendenten Welträtsel du Bois-Reymonds (Wesen von Materie und Kraft, Ursprung der Bewegung, Entstehen der einfachen Sinnesempfindung und des Bewusstseins) durch seine „monistische* Auffassung der Substanz für „erledigt“ hält (W. 18).

Das Gewissen scheint freilich unserm Philosophen doch etwas zu schlagen, wenn er der Welt diese frohe Botschaft verkündet. Denn auf derselben Seite 18 hören wir: „die monistische Philosophie wird schliesslich nur ein einziges, allumfassendes Welträtsel anerkennen, das Substanz-Problem‘. Und damit sind wir zu einer kleinen Gruppe von Stellen gekommen, in denen sich zu Spinozismus und Materia- lismus noch ein dritter Standpunkt gesellt: Kantischer Kriticismus. Wahrlich, eine reichbesetzte Tafel! Schade nur, dass Gerichte zu- sammengestellt sind, die in einem philosophischen Magen nicht zu- sammenpassen wollen. Kantischer Kriticismus (oder allgemeiner: er- kenntnistheoretische Betrachtung) hätte die Grundlage des ganzen Werkes bilden müssen. Aber freilich! Dann wäre es ungeschrieben geblieben. Darum bringt Haeckel die meisten derartigen Stellen vorsichtiger Weise nur in Anmerkungen oder Schlussbetrachtungen. Da hören wir denn auf einmal, dass er in der „Grundfrage von dem Zusammenhang von Materie und Kraft“ eine „noch [!] wirklich vorhandene Grenze des Naturerkennens bereitwillig anerkennt‘‘, dass uns das „eigentliche Wesen der Substanz immer wunderbarer und rätselhafter wird, je tiefer wir in die Erkenntnis ihrer Attribute, der Materie und Energie, eindringen, je gründlicher wir ibre unzähligen Erscheinungsformen und deren Entwickelung kennen lernen“. „Was als ‚Ding an sich‘ hinter deu erkennbaren Erscheinungen steckt, das wissen wir auch heute noch nicht. Aber was geht uns dieses mystische ‚Ding an sich‘ überhaupt an, wenn wir keine Mittel zu seiner Erforschung besitzen, wenn wir nicht einmal klar wissen, ob es existiert oder nicht? Überlassen wir daher das unfruchtbare Grübeln tiber dieses ideale Gespenst den reinen Metaphysikern‘ (M. 40. W. 437/8).

Fürwahr, Haeckel hat seinen wahrsten Beruf verfehlt: er hätte Verwandlungskünstler werden sollen, und die „phänomenalsten“ Erfolge wären ihm sicher gewesen. Welch’ unübertreffliche Kunst in dieser kleinen Stelle! Wirklichkeitsfrob beginnt sie mit dem „eigent- lichen Wesen der Substanz“, das ja immerhin etwas Rätselbaftes sein mag, aber doch zweifelsohne wirklich existiert. Dann wird es zum Ding an sich, ohne zunächst auch nur einen Schatten von Realität

—nN 352 Erich Adickes,

"einzubissen. Aber plötzlich erhebt sich ein leichter Nebel "Bühne, das Ding an sich wird mystisch, schon weiss man recht, ob es überhaupt existiert, und hocus poeus : entschwunden ist es als „ideales Gespenst“,

Aber nur auf kurze Zeit! Denn bald taucht es an Ort wieder auf, und zwar diesmal in der Gestalt des n

„Drohend schwingt er seine Hippe“, um dem ganzen schen Monismus den Garaus zu machen. „Von deutung“, hören wir, „werden stets Kants kritische PE Erkenntnistheorie bleiben, der Nachweis, dass wir das eigentliche tiefste Wesen der Substanz, das ‚Ding an sich‘ (— oder den ‚Zu- sammenhang von Materie und Kraft‘ —) nicht zu erkennen ¥ i unsere Erkenntnis bleibt subjektiver Natur; sie ist bedingt durch Organisation unseres Gehirns und unserer Sinneswerkzeuge und ver- mag daher bloss die Erscheinungen zu begreifen, welche uns die Erfahrung von der Aussenwelt übermittelt“ (M. 40).

Eine sehr interessante Stelle, die uns in einen bodenlosen Ab- grund von Unklarheit schauen lässt! Dass der „Zusammenhang von Materie und Kraft‘, also eine blosse Relation, identisch ist mit. da so vielumstrittenen und in so heisser Sehnsucht gesuchten Ding an das ist eine Entdeckung, ebenbürtig der früher (S. 348) a teilten, durch welehe die Materie aus einer Substanz zur Eigenschaft einer Substanz gemacht wurde. Mit dem Monismus ist es jetzt endgültig vorbei. Denn vermögen wir den Zusammenhang von Stoff und Kraft nicht zu erkennen, so ist er eben für uns nicht vorhanden. Hinter den Erscheinungen, im Ding an sich, mag verborgene Ein- heit sich finden. Die Erscheinungswelt, in deren Grenzen wir | gebannt sind, zeigt auf jeden Fall nur Zweiheit: Stoff und Kra zwar stets verbunden, aber ohne dass wir die Art ihres Verbunden- seins erkennen oder begreifen könnten.

Was aber die Hauptsache ist: haben wir es überall nur mit subjektiv bedingter Erkenntnis, nur mit Erscheinungen zu thun, dann wird dem Materalismus der Boden völlig entzogen. Haeckel sägt mit dem Zugeständnis, das er Kant in der eitierten Stelle macht, selbst den Ast ab, auf dem er sitzt. Lieber hätte er Kant ganz ignorieren sollen, als an einem so prinzipiellen Punkt eine Nachgiebigkeit zeigen, deren Tragweite er nicht einmal ahnt. Er gliche dann dem Berausehten, der allein nüchtern zu sein glaubt unter lauter Trunknen: „rechter Hand, linker Hand, beides vertauscht“. So aber ist er wie ein Don Quixote, der seine eigne Geschichte liest und, statt aus

wo : .

Kant contra Haeckel. 353

seinem Traumleben zu erwachen, sie noch weiter kolportiert und aus ihr Begeisterung zu neuen Heldenthaten schöpft.

Und lieber Kant gar nicht nennen, als seine Ansicht so ent- stellen! Unsere Erkenntnis ist nach seiner Lehre behauptet die obige Stelle durch die Organisation unseres Gehirns bedingt und kann „daher“ bloss Erscheinungen begreifen. Möchte Haeckel doch bei seinem Kollegen Liebmann in die Schule gehen und dort lernen, was „Erscheinungen“ sind! Ist etwa das Gehirn keine Erscheinung? ist es etwa das Ding an sich? oder, was ja nach Haeckel dasselbe sein müsste: finden wir im Gehirn den gesuchten Zusammenhang von Materie und Kraft? Ist das aber nicht der Fall, ist auch das Gehirn nur eine Erscheinung: wie kann dann unsere Erkenntnis bedingt sein durch ein Etwas, das in Wirklichkeit von ihr, von unserer Art aufzufassen abhängig ist? Alles was erscheint, ist erst durch uns, durch unsere Erkenntnisfunktionen. Und diese Er- kenntnisfunktionen sollten wieder in Erscheinungen bestehn? Ja, ja, Haeckel hat Recht: „konsequentes Denken bleibt eine seltene Natur-Erscheinung“ (W. 439). +

Doch bevor ich diese Gedankenreihe weiter verfolge und in ihrer ganzen siegreichen Kraft gegen den Materialismus zur Geltung bringe, will ich, um Haeckels Materialismus, den er selbst ja nieht wahrhaben will, zu erweisen, einige seiner Äusserungen über die Abhängigkeit des Psychischen vom Physischen anftihren, nach den drei oben (S. 347) aufgestellten Typen geordnet. Und ist die quaestio facti erst erledigt, so wird auch die quaestio juris leicht zu entscheiden sein: es wird sich zeigen, wie unfähig jeder Materialismus ist, aus der Materie und ihren chemisch-physikalischen Kräften Empfindung und Bewusstsein abzuleiten,

IL

Mit Vorliebe bezeichnet Haeckel die Seele als eine Funktion des menschlichen Organismus, Vernunft und Verstand, Denken und Be- wusstsein als Gehirnoperationen, als Funktionen der Ganglienzellen der Grosshirnrinde. Das Gehirn ist demgemäss das Werkzeug des Bewusstseins und aller höheren Seelenthätigkeiten, das wichtigste Organ des Seelenlebens; es heisst auch direkt Seelenorgan und Denkorgan.

Häufig wird man bei diesen Ausdrücken an den dritten Typus denken müssen: Funktion ist gleich Leistung oder Bethätigungsweise, und es wird also behauptet, dass die betreffenden Organe (genauer:

Kantstndien V. 28

354 Erich Adickes,

die Bewegungsvorgänge in denselben) die einzelnen psychischen Akte hervorbringen. An anderen Stellen aber scheinen jene Ausdrücke besagen zu wollen, das Psychische stehe zu den materiellen Organen in einem Eigenschaftsverhältnis: indem die Materie sich zu diesen komplizierten Organen verbinde, gewinne sie neue Eigenschaften, die geistigen. So wird das unbewusste Gedächtnis als eine „allgemeine höchst wichtige Funktion aller Plastidule‘ bezeichnet, zugleich heisst es aber auch: die Plastidule „besitzen Gedächtnis“ (W. 139). Ganz klar liegt der erste Typus vor, wenn das Psychoplasma als Träger der Seele (W. 128) oder materielle Basis aller psychischen Thätigkeit (W. 105) bezeichnet und der Zellkern der materielle Träger psychischer Spannkräfte (!) genannt wird. Als Sitze der Vorstellungen gelten besondere Seelenzellen (W. 134, 138), zugleich sind diese letzteren Elementarorgane des Willens (W. 149). Alles Psychoplasma ist unbewusst-empfindlich (W. 129), jede lebendige Zelle besitzt psychische Eigenschaften. Eine solche Eigenschaft, von der nur unentschieden bleibt, wo sie in der aufsteigenden Stufenreihe der Wesen beginnt, ist auch das Bewusstsein: „die subjektive Spiege- lung der objektiven inneren Vorgänge im Neuroplasma der Seelen- zellen“ (W. 198f., 149).

Zu andern Zeiten setzt Haeckel an Stelle des Attributsverhält- nisses das der Identität: alles geistige Geschehn ist in Wirklich- keit Bewegung und erscheint uns nur als etwas Anderes. Das ist der zweite der drei oben aufgeführten Typen. Da heisst es denn z. B.: „Wie man früher die leuchtende Flamme durch einen besonderen Feuerstoff, das Phlogiston, erklärte, so die denkende Seele durch eine besondere gasförmige Seelensubstanz. Jetzt wissen wir, dass das Flammenlicht eine Summe von elektrischen Aether-Schwingungen ist, und die Seele eine Summe von Plasma-Bewegungen in den Ganglienzellen‘“ (M. 45).

Bei unserem Tode gehen „die komplizierten chemischen Ver- bindungen unserer Nervenmasse in andere Verbindungen durch Zer- setzung über, und die von ihr produzierten lebendigen Kräfte [d. i. Empfindungen, Gedanken etc.] werden in andere Bewegungsformen umgesetzt‘ (M. 24). Bei den Pflanzen kann „die Reizleitung [also ein Bewegungsvorgang!]| ebenso als ‚Seelenthätigkeit‘ bezeichnet werden, wie die vollkommenere Form derselben bei Nerventieren“ (W. 183). Bei den niedersten Organismen (den Chromaceen) beschränkt sich „die Seelenthätigkeit auf Lichtempfindung und chemische Um- setzung, wie bei einer ‚empfindlichen‘ photograpbischen Platte“

Kant contra Haeckel. 355

(W. 446). Bei den Bakterien erscheinen die „differenten Funktionen der Empfindung und Bewegung in einfachster Form als chemische und physikalische Prozesse. Die Plasma-Seele, als mechanischer Naturprozess, offenbart sich hier als ältester Ausgangspunkt des tierischen Seelenlebens“ (W. 447).

Daneben findet sich natürlich auch der dritte Typus, der relativ klarste Ausdruck der materialistischen Theorie: Psychisches ist die Wirkung physischer Vorgänge. Die oben besprochenen Wendungen vom Gehirn als dem Seelenorgan und der Seelenthätigkeit als seiner Funktion gehören teilweise hierher. Andere Beispiele: „Die Arbeit des Psychoplasma, die wir ‚Seele‘ nennen, ist stets mit Stoffwechsel verknüpft“ (W. 128). Die Nervenzellen „bewirken“ Vorstellen und Denken (W. 268). „Das Bewusstsein ist in gleicher Weise, wie die Empfindung und der Wille der höheren Tiere, eine mechanische Arbeit der Ganglienzellen, und als solche auf chemische und physi- kalische Vorgänge im Plasma derselben zurückzuführen“ (M. 23).

Nach Ausweis dieser Stellen, die sich leicht um ein Bedentendes vermehren liessen, ist also Haeckels Theorie des Geistigen eine rein materialistische. Und ebenso wie Büchner und verwandte Geister, die auf Kosten der Klarheit und Bestimmtheit Popularität erkaufen, zeigt auch Haeckel schon dureh den Gebrauch so verschiedener, einander teilweise widersprechender Ausdrücke seine Verlegenheit, sobald es gilt die Theorie im einzelnen durchzuführen und die Ab- hängigkeit des Psychischen vom Physischen anschaulich darzustellen.

Was diese Herren behaupten, ist an sich unbegreiflich. Frucht- los bleibt daram natürlich auch ihr Bemühen, es begreiflich zu machen Es ist, wie wenn jemand ein Badebassin auspumpen und mit Heu füllen liesse, sich dann auf das Heu legte, mit Beinen und Armen um sieh stiesse und meinte, er schwimme. Die Materialisten stellen die Sache direkt auf den Kopf, schneiden sich jede Möglich- keit einer Erklärung ab und verlangen dann, man solle blosse Be- hauptungen und Postulate als Erklärungen und Beweise hinnehmen.

« Psychisches lässt sich nie aus Pbysischem ableiten. Diesen Satz zu erhärten, soll meine nächste Aufgabe sein.

II.

Man hat versucht, die Unbestimmtheit in den Wendungen des ersten Typus durch Bilder zu verschleiern: Bewusstsein, Gedanken seien mit dem Leuchten des Phospbors oder faulen Holzes zu ver- gleichen. Nur unter besonderen Umständen komme der Materie die

356 Erich Adiokes,

Eigenschaft des Leuchtens zu: so tauche auch nur hier und da, unter günstigen Vorbedingungen, Bewusstsein auf.

„Wenn man’s so hört, micht’s leidlich scheinen.“ Aber sieht man sich die Sache etwas genauer an, so verliert das Gleichnis allen Wert. Was heisst Ding? was heisst Eigenschaft? ®

Ich reibe zwei Stücke Holz: sie werden heiss, Da haben also zwei Dinge eine neue Eigenschaft bekommen. Aber was ist denn dies Ding, Holz genannt, nach naturwissenschaftlicher Ansicht? Eine Masse von „Dingen“, ein Konglomerat von Atomen,') die in bestimmter Weise zu Molekülen verbunden sind; und diese Mole- küle sind in fortwährender Schwingung begriffen. Infolge des Reibens ändert sich die Intensität der Schwingungen. Ihre Gesamt- heit verursachte zuerst gewisse Atherbewegungen, die in mir eine schwache Temperaturempfindung erregten. Durch das Reiben wird die auf mich ausgestrahlte Bewegung intensiver; die unmittel- bare Folge ist eine veränderte Temperaturempfindung: ich nenne das Holz jetzt heiss.

Das ist der „eigentliche“ Vorgang nach naturwissenschaftlicher Auffassung. In Wirklichkeit ist also nicht ein einheitliches Ding da, an dem verschiedene Eigenschaften wechseln. Sondern es giebt nur Bewegungen kleinster, mit einander in bestimmtem Zusammen- hang stehender Teilchen. Die Form und Art dieser Bewegungen ändert sich; damit ist auch die Einwirkung der ausgestrahlten Be- wegungen auf uns eine andere: wir sagen, das betreffende Ding hat sich verändert, es hat eine neue Eigenschaft bekommen.

Ähnlich ist es mit dem Leuchten des Phosphors. Für sich allein leuchtet Phosphor nicht, sondern nur in Verbindung mit Sauerstoff. Und was ist das Neue, das dieser Verbindung entspringt? Ein langsamer Oxydationsprozess wird eingeleitet, d. h. es finden mole- kulare Umlagerungen statt, durch welche der Äther in schnelle Schwingungen versetzt wird. Und diese erscheinen in unserm Bewusstsein als Leuchten. Was also in der Natur vorgeht, sind wieder nur Bewegungsänderungen. Auf sie allein geht überall das Auftauchen „neuer Eigenschaften“ zurück.

In Wirklichkeit sagt also die Wendung des ersten Typus nichts, als dass bewegte Materie, die zwar im allgemeinen nieht psychisch thätig ist, es unter besonderen Umständen (bei gewissen sehr

1) resp. von Energie- oder Krafteentren. Aber dieser Unterschied zwischen

atomistischer und dynamischer Naturauffassung spielt hier, wo es sich nur um ein Verständnis der Begriffe „Ding, Eigenschaft“ handelt, keine Rolle.

Kant contra Haeckel. 357

komplizierten, äusserst wandelbaren Lagerungsverhältnissen) werden kann. u Wie aber eine solche Wandlung vor sich gehen könne, bleibt völlig unbegreiflich. Jedes einzelne Atom ist empfindungslos, es ist nur Träger chemisch-physikalischer Kräfte, die für den Materia- listen nieht Innenzustände unbestimmter Art sind, sondern nur die eine Bedeutung und Aufgabe haben, Bewegungen hervorzubringen. Und bei einer gewissen Kombination von Atomen sollen nun auf einmal, ganz unmotiviert und unvermittelt, Innenzustände auf- treten: Empfindungen, Vorstellungen, Bewusstsein?

Es wäre das auf jeden Fall das Wunder der Wunder. Denn was für Vorzüge kann eine grössere Summe von Atomen vor dem einzelnen Atom oder ein paar Atomen voraushaben? Doch nur die Kompliziertheit der Bewegungen und Lagerungsverhältnisse! Aber von da zu Innenzuständen führt kein Weg! Nur quantitativer, nicht quali- tativer Art sollen ja der Voraussetzung gemäss die Unterschiede zwischen den einzelnen Atomen (resp. Atomverbindungen)sein : nur Unter- sehiede der Grösse, Gestalt, Lagerung, Geschwindigkeit, Bewegungs- art, Bewegungsrichtung dürfen in Frage kommen. Und vollends alle unkontrolierbaren, unqualifizierbaren Innenzustände sind ausdrücklich ausgeschlossen; die Kräfte der Materie sind nur zugelassen, um Bewegung hervorzubringen resp. zu erklären.

Infolgedessen kann nun aber auch nie und nimmer eine Brücke geschlagen werden, die uns von der bewegten Materie und ihren chemisch-physikalischen Kräften zu Qualitätsunterschieden, geschweige denn zu Bewusstseinszuständen führte, Vielmehr: alle Qualitäts unterschiede würden schon ein Bewusstsein voraussetzen, welches sie auffasst, oder genauer: welches sie zu dem macht, was sie nicht an sich sind, als was sie uns aber erscheinen. Die ganze Welt des Materialismus wäre im besten Fall tot und stumm: ein blosses System ununterbrochener, rastloser Bewegungen —, bis das erste Bewusstsein käme. Mit einem Schlage gäbe es dann Qualitätsunter- schiede, freilich nur in der Auffassung dieses Bewusstseins. Statt des Systems blosser Bewegungen wäre die tönende, leuchtende, farbenglühende Welt da.

Aber das Bewusstsein selbst? Es wäre wie aus einer andern Welt hereingeschneit, Aus der Materie würde es nicht zu erklären sein: so wenig und noch weniger als die Qualitätsunterschiede, die allein sein Werk wären. Ist es dem einzelnen Atom unmöglich, zu empfinden und bewusst zu sein: so vermag auch die kompli-

358 Erich Adickes,

zierteste Lagerung und Bewegung vieler Atome daran nichts zu ändern.

Will der Materialist auf seinem Standpunkt beharren, so muss er versuchen, diesen prinzipiellen Einwand zurtickzuweisen. Dann ist er aber genötigt, die unbestimmten Wendungen des ersten Typus aufzugeben und sich entweder zum zweiten oder zum dritten Typus zu bekennen. Er wird behaupten müssen, entweder dass Bewegung Empfindungen und Bewusstsein hervorbringt, oder dass alle psychischen Vorgänge in Wirkliehkeit, an sich, nichts sind als eine eigenartige Bewegungsform und uns nur etwas Anderes zu sein scheinen,

Dies Letztere ist ein klarer entschiedener Standpunkt. Ja, noch mehr! Er kann nicht widerlegt werden; ebenso wenig wie der konsequente Solipsismus. Für diesen giebt es höchstens eine Wider- legung: man sperrt den Solipsisten in ein Tollhaus. Und in die Gegend ungefähr gehört auch der Materialist, wenn er obige Be- hauptung im Ernst und im Bewusstsein ihrer Tragweite aufstellt. Denn seine Begriffsverwirrung hat dann einen Grad erreicht, der eine Radikalkur als notwendig erscheinen lässt. Bei Haeckel läuft die Formel nur so mit dureh, neben andern, und wahr- scheinlich ist er sich nicht einmal recht dessen bewusst, was sie besagt.

Die Formel klingt, als hätten die Materialisten von Kant gelernt. Zwischen Erscheinung und Ding an sich unterscheiden sie. Aber das Ding an sich ist die bewegte Materie; die Erscheinung das Bewusstsein. Unwillkürlich fragt „man“: wem oder wo erscheint die’Bewegung so? Die Antwort könnte nur lauten: in einem Bewusst- sein, Diese Frage und die einzige Antwort, die es darauf gieht, gentigten eigentlich schon, um den Materialisten ad absurdum zu führen, wenn er Gründen überhaupt zugänglich wäre. Aber er sieht nichts mehr als seine Materie, blickt nicht rechts, blickt nicht links, und vor allen auch nicht in sich. Und so kommt er denn dazu, die Welt völlig umzukehren. Das Einzige, was uns überhaupt direkt gegeben ist, unsere Bewusstseinszustände: sie sollen eine zufällige Beigabe sein. Das wahrhaft, objektiv Seiende ist allein die Materie und ihre Bewegung: alles Psychische ist „bloss“ etwas Subjektives, Selbst- bewusstsein im „objektiven“ Sinn würde nur bei einem Menschen vorhanden sein, der die Gehirnbewegungen fühlte oder mit einem inneren Auge gleichsam sähe. Empfindungen haben und denken könnte er ja nebenbei auch noch, wenn es denn durchaus nötig

Kant contra Haeckel. 359

ist. Die eigentliche Sache, der objektive Vorgang würde auf jeden Fall dadurch in keiner Weise berührt.

Wenn nur um von erkenntnistheoretischen Überlegungen hier ganz zu schweigen! die innere Erfahrung nicht wäre! Klar und unzweideutig sagt sie: Empfindung ist nicht Bewegung, sondern etwas ganz Anderes, Eigenartiges, das durchaus nicht mit Bewegungen, Umlagerungen und Ahulichem verglichen, geschweige denn. identi- fiziert werden kann.

Doch: „was schiert mich die innere Erfahrung!“, antwortet der Materialist; „ich behaupte ja eben, dass sie blosse Erscheinung ist, eine subjektive Auffassung von Vcrgängen, die in Wirklichkeit ganz anders geartet sind.“

Aber dann müsste uns doch wenigstens die Entstehung dieses Scheins erklärt werden, der uns so sehr äfft, dass wir denkend, fühlend, empfindend von den eigentlichen Vorgängen, den Bewegungen, auch nicht das Geringste merken. Kant spricht ja auch von Erscheinungen giebt uns aber doch wenigstens eine prinzipielle Lösung des Rätsels, wie das Ding an sich uns in einer Weise erscheinen kann, die von der eigentlichen (zeit- und raumlosen) Art seiner Existenz so weit abweicht. Woher die „subjektive Auffassung“ mitten unter lauter Bewegungszuständen? Der Materialist muss die Antwort schuldig bleiben. Die erste Wahrnehmung, so gerinfügig sie gewesen sein mag, würde für ihn eine Verdoppelung der Wirklichkeit bedeuten. Vor ihr war nur Bewegung, mit ihr tritt etwas ganz Neues ein: die Bewegung ist nicht nur, sie wird auch wahrgenommen, empfunden. Welch unermesslicher Abstand für den, der die That- sachen vorurteilslos erwägt und, statt sie zu meistern, sich von ihnen leiten lässt! Es handelt sich um zwei ganz getrennte Welten. Wüsste der Materialist im Gehirn Bescheid wie in seiner Studier- stube: er sähe doch nur eine endlose Kette von Bewegungen, aber keinen Punkt, wo das plötzliche Auftauchen dieses „Scheins“ von Bewusstsein und Empfinden irgendwie erklärlich würde, keine Bewegung, von der begreiflich wäre, weshalb nun mit ihr auf ein- mal subjektive Auffassung und Wahrnehmung verbunden ist.

Doch alle diese Erwägungen werden den Materialisten von echtem Sebrot und Korn nicht hindern, nach wie vor mit Büchner das Denken „als eine besondere Form der allgemeinen Naturbewegung* anzusehn, „welche der Substanz der centralen Nervenelemente eben so charakteristisch ist, wie die Bewegung der Zusammenziehung der Muskelsubstanz oder die Bewegung des Lichts dem Weltäther.“ Auch

Kant eontra Haeckel. 361

erklärt (resp. das in die Erläuterung als bekannt aufgenommen, was erst erläutert) werden soll. Denn das Leuchten findet ja nur in irgend einem Bewusstsein statt: denkt man sich jedes Bewusstsein weg, so ist es auch mit dem Leuchten vorbei, und es bleibt nur noch Bewegung übrig. Wie es möglich ist, dass die vom Phosphor ausgestrahlte Bewegung mir als Leuchten, d. h als Bewusstseins- zustand, als Empfindung erscheint: das will ich ja gerade wissen.

Es bleibt noch der dritte Typus zu besprechen. Dabei kann ich mich kurz fassen: die prinzipiellen Gründe, die ich bisher vor- brachte, haben auch hier ihre Geltung; ein neuer kommt allerdings noch hinzu.

Berüchtigt ist Vogts Sekretionsgleichnis (in seinen „Physio- logischen Briefen“ 1847): dieGedanken stünden etwa in demselben Ver- hältnis zum Gehirn wie die Galle zur Leber oder der Urin zu den Nieren. Dagegen erhob sich in gewissen Kreisen ein Entrüstungs- sturm; eine Herabwürdigung des Höchsten, eine Beleidigung aller besseren Gefühle nannte man den Vergleich. Sehr mit Unrecht! Denn was machte es unsern Gedanken, entstünden sie wie der Urin dureh Absonderung. Bedeutung haben sie durch das was sie sind, nicht durch die Art ihrer Entstehung und Abstammung. Thöricht, nieht unwürdig hätte man Vogts Sprache nennen sollen. Thöricht, weil sie materielle Ausscheidungen (von Drüsen, Organen), also im letzten Grunde Bewegungserscheinungen, gleichstellt mit psychischen Vorgängen.

Und da sind wir wieder bei dem Kardinalpunkt angelangt: so wenig Gedanken und Empfindungen an sich Bewegungen sind und

nur subjektiv als psychisch erscheinen, ebensowenig vermag die Bewegung etwas Psychisches hervorzubringen. Es giebt keinen Kausalzusammenbang, der vom Materiellen zum Psychisehen hinüber- führte. Bewegte Materie bleibt in alle Ewigkeit und überall bewegte Materie. Nie kann sie aus sich heraus Innenzustände hervorbringen, mag ihre Anordnung und Bewegung noch so fein und kompliziert sein. Bewusstsein und Bewegung sind etwas toto genere Verschiedenes. Man kann das Reich der Bewegung nach allen Seiten hin durch- streifen: nirgends trifft man in ihm auf Bewusstsein,

Wären alle Rätsel der Gehirnanatomie und -physiologie gelöst, könnte man dem kindlichen Gehirn sein Horoskop stellen und jede Bewegung darin bis zum späten Tod des Greises berechnen: das Rätsel der Empfindung bliebe dasselbe wie zuvor, auch nichtum einen Sehritt wäre man seiner Lösung näher gerückt. Und nichts in den

362 Erich Adickes.

Nervenbewegungen verriete. dass noch etwas Anderes da ist, als blosse Bewegung.

Es wäre vergeblich. wollte ich diesen Gedanken noch weiter er- lantern und viel an ihm berumerklären. Der gute Wille des Lesers muss das Seinige thun. Es gilt sich von der Erkenntnis durebdringen zu lassen und sie ganz zu Ende zu denken: bewegte Materie mit ihren rein äusserlichen Quantitäts-. Lagerungs- und Bewegungsverbalt- nissen einerseits, Bewusstsein. Innenzustände anderseits sind durch eine solche Kluft von einander getrennt. dass keine Brücke von hüben nach drüben führt. Wer diese Grundtbatsache begriffen hat, und sich vor Augen hält. was alles in ihr liegt und aus ihr folgt: für den ist der Materialismus ein überwundener Standpunkt. Er hat nor ein mitleidiges Lächeln. wenn er behaupten hört. es sei ge- lungen. Empfindung aut Bewegung zurückzuführen. Eber noch würde er der Botschaft Glauben scbenken. den Danaiden sei es geglückt, ihr Fass zu füllen.

Und der Materialist wenn er sich Einwänden überhaupt zu- gänglich zeigt. —- wird wenigstens zugeben müssen. dass er sein Versprechen nicbt hat halten können. Er wollte eine durchaus ver- ständliche Weltanschauung entwerfen, mit nur wenigen Ignoramus und ohne jedes Iguorabimus. Sein Ruhmestitel sollte eine anschaa- liche Erklärung des psycbischen Lebens sein. Und was bietet er uns statt dessen? Blosse Behauptungen. Postulate, die das Wunder in Permanenz erklären würden!

Und noch zu einem zweiten Zugeständnis könnte der Materialist an diesem Punkt gezwungen werden. Er zieht ja angeblich nur die natürlichen. unvermeidbaren Konsequenzen moderner Natur- forscbung. In Wirklichkeit verstösst seine Behauptung, Bewegung bringe Empfindung und Bewusstsein hervor, gegen die wahre Natur- forschung: gegen das Gesetz von der Erhaltung der Energie. Bei der Produktion oder „Sekretion“ der psychischen Elemente müsste Bewegung aufhören und ibre kinetische Energie verlieren, ohne in irgend eine Form von potentieller Energie überzugehn. Bewegung würde nicht etwa nur momentan sistiert. wie wenn ich einen Stein auf das Dach werfe. Bleibt er liegen. so verwandelt sich seine kinetische Energie in Lagenenergie; sowie er aber ins Rollen kommt, geht diese wieder in jene über. Bringt dagegen eine Bewegung Psychisches hervor. so hört sie für alle Zeiten auf, Bewegung zu sein; sie nimmt eine andere Form der Existenz an und kann nie wieder in Bewegung zurückverwandelt werden. Und ich begreife

Kant contra Haeckel. 363

nicht, wie ein Mensch, der an naturwissenschaftliches Denken ge- wöhnt ist, und weiss, auf welcher Grundlage die neuere Natur- wissenschaft ihre Siege errungen hat, wie der sich das völlige Aufhören einer Bewegung und den gänzlichen Verlust kinetischer Energie vorstellen kann!

Vielleicht sucht man einen Ausweg in der Behauptung, die Empfindung sei nur ein Nebeneffekt, so dass Bewegung zwar immer wieder Bewegung, aber als Nebeneffekt zugleich auch Empfindung hervorbringe. Aber war ursprünglich niehts Empfindungs- äbnliehes, keinerlei Innenzustand in der Materie, geht also die Empfindung aus blosser Bewegung hervor, so muss auch beim Schaflen der Empfindung Bewegung resp. Energie verloren gehn, Sei auch der Verlust nur minimal: das Prinzip wäre durchbrochen, und auch das Minimale würde sich im Lauf der Jahrtausende aufsummen. Nirgends in der Welt bewegter Materie giebt es eine Wirkung, die nicht in der Ursache irgend welche Energie verschlingt.

Die Sache hat noch eine Kehrseite, die dem Materialisten noch unangenehmer sein dürfte. Wie mechanische Energie verloren ginge, so oft Bewegung Empfindung hervorbringt, so müsste auch mechanische Energie neu erstehn, wenn ein Gedanke oder Entschluss den Körper in Bewegung setzt. Es würde eine Bewegung erfolgen, die ihre Ursache nicht in einem vorhergehenden Bewegungsvorgang, sondern in einer psychischen Thatsache hätte. Diese psychische That- sache wiese ja zwar wieder zurück auf eine frühere Bewegung als auf ihre Ursache. Aber zwischen dieser Bewegung als Ursache und jener Bewegung als Wirkung des psychischen Faktums gäbe es keine irgendwie wahrscheinliche Gleichung: die Kontinuität in der Welt der bewegten Materie wäre durchbrochen. Zwischen zwei Bewegungs- zustände schöbe sich ein Etwas ein, das einen von der Bewegung toto coelo verschiedenen Charakter trüge.

Und nicht minder verschieden wäre es von den chemisch- physikalischen Kräften. Denn sie sind nichts als quantitativ be- stimmbare und messbare Bewegungserreger, die psychischen Elemente dagegen sind quantitativ nicht bestimmbare oder messbare Innen- zustände, die an sich nichts mit Bewegungen zu thun haben, selbst wenn sie dieselben unter Umständen nach sich ziehen könnten. Wollte der Materialist den psychischen Elementen, abgesehn von ihrer Existenz als Innenzuständen, auch noch in derselben Weise wie den chemiseb- physikalischen Kräften die Fähigkeit zuschreiben, Bewegungserreger zu sein, so würde er sie damit in eine Reihe mit diesen Kräften

Kant contra Haeckel. 365

Das ist Spinozas Standpunkt. Und auch bei Haeckel finden sich Gedankenreihen, welche auf ihn hinführen. Im zweiten Kapitel werden sie uns beschäftigen.

Zunächst gilt es, den Kampf gegen den Materialismus zu Ende zu führen. Bisher versuchte ich zu erweisen, dass der Materialist die Versprechungen, welche er macht, in keiner Weise erfüllt. An die Stelle des Dualismus, den die Erfahrungswelt mit ihren beiden Seiten der Natur und des Geistes bietet, will er einen Monismus setzen, indem er das Psychische aus dem Physischen ableitet. Aber diese Genesis müsste er erklären, fasslich, anschaulich machen. Nichts von alledem! Zu je bestimmteren Auskünften man ihn zwingt, desto undurchdringlicher erscheint das Rätsel, desto grösser werden die Schwierigkeiten, die sich seiner Theorie in den Weg stellen. Die Kluft, welehe die komplizierteste Bewegung von dem einfachsten psychischen Zustand trennt, bleibt immer gleich gross. Und der Materialist muss entweder baren Unsinn vertreten, indem er das Gewisseste was wir haben: unser Bewusstsein zu einer rein subjektiven Erscheinung herabsetzt, oder er muss zugeben, dass bei ihm die Stelle von Erklärungen blosse Behauptungen einnehmen, die gerade das, was der Gegner für unmöglich hält, und erklärt oder bewiesen haben will, ohne Beweis einfach postulieren und zudem mit dem Grundgesetz der heutigen Naturwissenschaft in Widerspruch stehn.

IV.

Jetzt ist es an der Zeit, das schwerste Geschütz aufzufahren. Psychisches kann nicht aus Physischem hervorgehn, hiess es bisher. Im Gegenteil: alles Physische geht aus Psychischem hervor, die Materie ist ein Werk unseres Geistes, sie existiert nur als Bewusstseinszustand: so lautet die neue These,

Um sie zu erweisen und um so dem Materialismus vollends den Garaus zu machen, bedarf es Erwägungen prinzipiellster Art, die man unter dem Stichwort des erkenntnistheoretischen Idealismus zusammenzufassen pflegt. Teilweise waren sie schon der antiken Philosophie bekannt. Heutzutage bringt man sie vor allem mit Kants Namen in Verbindung.

Der erkenntnistheoretische Idealismus stellt sich dem Realismus entgegen. In beiden Lehren haben wir nicht eindeutig bestimmte Stand- punkte vor uns. Mannigfache Nüaneierungen sind möglich, so dass die beiden Gegensätze bald sich nähern, bald weiter auseinander treten.

366 Erich Adickes,

Die gewöhnliche Ansicht des gesunden Menschenverstandes ist ein „naiver“ Realismus, dem zufolge die Gegenstände der äusseren Erfahrung durchweg unabhängig von uns und unsern Vorstellungen existieren und der Hauptsache nach an sich gerade so sind, sie uns erscheinen: farbig, tönend, weich, süss, In kin existenz der körperlichen Welt (ausser uns in unserer Vorstellung) findet der naive Realist keine Schwierigkeit. Ja, es kommt ihm nicht einmal zum Bewusstsein, dass er eine solehe Doppelexistenz behauptet: das Wahrnehmungsproblem ist für ihn nicht vorhanden, geschweige denn eine Wahrnehmungstheorie. Wie die Gegenstände in uns, in unsere Vorstellung hineinkommen: darüber wird nieht nachgedacht. 4

Die Physiologie der Sinnesorgane hat dieser Anschauungsweise für immer die Berechtigung entzogen (vergl. S. 381). Seitdem man die Subjektivität der Sinnesqualitäten erkennen gelernt hat, ist jeder wissenschaftliche Standpunkt gezwungen, dem Idealismus Kon- zessionen zu machen. So ist denn der heutige naturwissenschaftliche Realismus auch der Ansicht, dass alle Sinnesqualitäten nur in uns ihr Dasein haben, während es in der körperlichen Welt draussen nichts als Atome (resp. Kraftcentren) und deren Bewegungen giebt. Vom Materialismus unterscheidet sich dieser Standpunkt dadurch, dass nach ihm die körperliche Welt nieht Ein und Alles ist. Vielmehr erkennt er auch die Existenz des Psychischen an, ohne sieh über den Zusammenhang desselben mit der materiellen Welt eine Theorie zu bilden; eine solche liegt über die Grenzen der Naturwissenschaft hin- aus und würde stets philosophisch (erkenntnistheoretisch oder meta- physisch) sein.

Im Gegensatz dazu sagt der Idealismus: die ganze körper- liche Welt ist nur in meinem Bewusstsein, sie ist nur meine Vorstellung, und wie die ganze Welt, so auch jeder einzelne Gegenstand in ihr. Primär das Psychische, das Materielle sekundär, jedes körperliche Objekt nur durch und für ein Subjekt: das ist das Grunddogma des Idealismus.

Die weitere Frage wäre dann: was entspricht dem Körperlichsein im Dinge an sich, abgesehen von unserer Art, es anzuschauen? Darauf giebt es mehrere Antworten, je nachdem, wieweit man sich in den idealistischen Gedankengängen vorwagt. Man kann mit Kant auch Raum und Zeit für blosse Vorstellungsformen erklären, kann mit gewissen unter seinen Nachfolgern sogar dem Ding an sich jede extramentale Existenz absprechen, kann aber auch die Dinge

WM x

Kant contra Haeckel. 367

an sich als in Raum und Zeit befindliche bewegte Kraftcentren betrachten.

Ausgeschlossen ist dagegen für jeden, der die Probleme wirklich durchdacht hat, dass der Materie auch abgesehn von unserer Art vorzustellen Realität zukommt, dass also die Dinge an sich körperlich sind (vergl. S. 380—2). Bleibt der Materialist doch, allen Gegen- instanzen zum Trotz, bei diesem Aberglauben, so müsste er wenigstens das Zugeständnis machen, dass wir in der angeblichen materiellen Welt der Dinge an sich kein Faktum vor uns haben: sie wäre nur erschlossen. Gegeben wäre die Materie nur als Bewusstseinszustand, als Vorstellung; erschlossen und damit un- sicher wäre ihre Existenz ausserhalb unseres Bewusstseins, Und dem Materialismus würde auch dann ein Ende gemacht durch die Überlegung, dass es im höchsten Grade unwissenschaftlich ist, das einzig Gewisse, Sichere, was uns gegeben ist, aus dem abzu- leiten, was wir bestenfalls als wahrscheinlich erschliessen könnten,

Aber dieser „beste“ Fall ist eben ein irrealer Fall. Er- scheinung setzt etwas voraus was erscheint, ein Ding an sich: darin bin ich mit Kant einverstanden. Dies Ding an sich ist räumlich und zeitlich bestimmt; Raum, Zeit und Bewegung sind also nicht nur unsereVorstellungsweisen, sondern haben auch transscendente Gültigkeit: darin weiche ich von Kant ab und nähere mich dem naturwissen- schaftlichen Realismus. Aber alle Körperlichkeit, alle materielle Raum- erfüllung ist ein blosses Produkt unseres Vorstellungsvermögens; die Materie, der Abgott der Materialisten, ist nichts als eine Schöpfung unseres Geistes.

Diesen meinen idealistischen Standpunkt, soweit er in Gegen- satz nieht zu Kant, sondern zum Materialismus steht, will ich jetzt kurz begründen,

Dass die Welt an sich nicht tönt, leuchtet und im Glanz der Farben prangt, dass der Tisch, an dem ich sitze, an sich nicht hart und bräunlich ist, der Zueker nicht süss, die Rose nieht duftet: das alles wird der Materialist gern zugeben. Auch ihm ist die Wahrheit nicht mehr verborgen, dass unsere Sinnesqualitäten weder den Dingen noch ihren Kräften, noch den Veränderungen ähneln, die mit ihnen vorgehn.

Ja! gerade aus dieser Erkenntnis sucht er eine Stütze für seinen Standpunkt zu gewinnen. Das „an sich“ all dieser Erscheinungen ist eben angeblich bewegte Materie. Nur unsere Sinne empfinden Farben und

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Kant contra Haeckel. 369

Dinge, die wir je mit Augen sehn künnten, sondern Hilfs- begriffe, um Theorien entwerfen und. Formeln veranschaulichen zu können.

Diese drei Behauptungen sollen jetzt weiter ausgeführt und be- gründet werden.

Ad 1. Man ziehe einmal von den primären Qualitäten, wie die Körperwelt sie bietet, alles ab, was von den Sinnen herstammt! Was bleibt übrig? Ich meine: nichts! Bei einem Blindgeborenen kann zwar, wie die Erfahrung zeigt, nicht nur das räumliche Orien- tierungsvermögen, sondern auch die Raumvorstellung hoch entwiekelt sein. Selbst in Mathematik und Physik vermag er eventuell Hervor- ragendes zu leisten. Aber. die unentbehrliche Vorbedingung sind dabei die Empfindungen seines Haut- und Muskelsinnes. Nur vermittelst ihrer entsteht ihm dasGebilde des dreidimensionalen Raumes, sowie der Gegenstände in ihm. Denkt man sich einen solchen Blindgeborenen vom Schlag gerührt, verlüre er infolgedessen alle Sinnes- und Vitalempfin- dungen (vor allem also auch die Haut- und Bewegungsempfindungen), behielte aber noch eine Zeitlang die Fähigkeit vorzustellen und zu denken: so wäre für ihn die objektive räumliche Welt um ihn her- um, und sein eigener Körper mit ihr, völlig entschwunden. ‚Sie wäre wie Vineta, die versunkene Stadt: nur die Erinnerung würde noch von ihr melden. Und der arme Patient bestünde in seiner, eignen Vorstellung nicht mehr „aus Körper und Geist“, sondern sein Dasein ginge auf in seinem Selbstbewusstsein und dessen Zuständen oder Inhalten. Unter ihnen gäbe es keine räumlich lokalisierten mehr, wohl aber noch Erinnerungsbilder an räumliche Dinge. Und auch diese Erinnerungsbilder würden ganz und gar auf seinen früheren Haut- und Bewegungsempfindungen beruhn,

Alle primären Qualitäten gehen eben auf Empfindungsinhalte zurück, ja, bestehn nur in ihnen. Körperliche Ausdehnunggund ma- terielle Raumerfüllung sind nichts als eine Kombination von Em- pfindungen der Farbe, Weichheit, Härte ete. In ihrer Abhängigkeit von unserer Subjektivität sind die primären Qualitäten um nichts besser gestellt als die sekundären. Sowie es keine Farbe ohne Auge giebt, so auch in derKörperwelt keine Undurchdringlichkeit ohne Hautsinn, Selbst in unsern Erinnerungs- und Phantasiebildern sind wir durehweg von dem Material unserer Sinnesempfindungen abhängig. Wohl können wir, z. B. beim Gedanken an geometrische Figuren oder stereometrische Objekte, ganz von Farbe, Undurchdringlichkeit ete. abstrahieren. Sobald wir uns aber körperliche Ausdehnung und materielle Raum-

Kantstadien V. 24

N

erfüllung anschaulich vorstellen wollen, missen wir sie uns als Empfindungsinhalte denken. Das würde auch von dem angeblichen Kern oder Gerüst der Erfahrungswelt, den Atomen, gelten. Auch sie kann man sich nur rauh oder glatt, weich oder hart, und der Sehende wenigstens farbig vorstellen. Könnte ein Mensch sie je wahrnehmen: dann nur mit diesen Eigenschaften. Etwas Kürperliches ohne die letzteren (also auch obne Farbe!) ist für mich ebensowenig anschaulich vorstellbar wie ein Gebäude, das weder aus Stein noch aus Holz noch aus sonst irgend einem Material wäre.

Der naturwissenschaftliche Realismus lässt verschiedenartige Bewegungen als Reize unsere Nerven trefien und auf Grund davon in letzteren die Empfindungen entstehn, Und dabei ist er geneigt, beides für gleich wirklich und thatsächlich gegeben zu halten: Bewegungen (Reize) und Empfindungen. Aber weit gefehlt! Nur eins von den beiden ist ursprünglich und wirklich, ist Thatsache, ja sogar die einzig wirkliche Thatsache, die Urthatsache: die Em- pfindung nämlich und mit ihr die ganze Bewusstseinswelt. Bewegungen und Reize sind wirklich zunächst nur als Vorstellungen, als Be- wusstseinsinhalte, nicht als Bewusstseins-(Empfindungs-)erreger. Ob Bewegungen und Reize eine Bedeutung für sich, ausserhalb der Bewusstseinswelt, also transscendente Gültigkeit haben, ist eine Frage für sich. Eine solche Gültigkeit wäre auf jeden Fall keine Thatsache: sie wäre nur erschlossen, und zwar auf Grund eines Schlusses von der Wirkung auf die Ursache. Nun sind aber mehrere derartige Ursachen möglich und vorstellbar; so wahrscheinlich also auch ein solcher Schluss gemacht werden kann, er behält doch immer etwas Problematisches an sich.

Also das Gegebene, woraus unsere ganze Erfahrungswelt sieh aufbaut, sind Empfindungen unbekannten Ursprungs. Sie sind eben da und bilden das Material auch für die primären Qualitäten. Mit innerer Notwendigkeit verbinden wir die Empfindungen verschiedener Sinne zu dem, was wir äussere Gegenstände nennen. Nicht etwa weil wir Härte und braune Farbe an dem Tisch vor uns verbunden sehen, vereinigen wir beide Eigenschaften in unserm Bewusstsein mit einander. Dieser Tisch ist ja erst unser Produkt; das Material, aus dem er besteht, sind unsere Empfindungen. Und zwar gilt das vom ganzen Tisch: nicht etwa nur von der Aussenseite, sondern auch vom „Kern“, auch vom „Gerüst“, um welches wir die sinnlichen Eigenschaften nach Meinung des naturwissenschaftlichen Realisten gleichsam herumlegen,

370 Erich Adickes,

Kant contra Haeckel. 371

Vielleicht schüttelt letzterer hier verwundert den Kopf, mitleidig lächelnd ob dieser Verblendung. Weiss denn der idealistische Philosoph nicht, wird er fragen, dass wir die Luftschwingungen darstellen und sehen können, die als Reize das Gehirn treffen und dort in den Nerven gewisse Veränderungen hervorbringen, die ihrerseits wieder

Nun, lieber Realist, warum stockst du? Wolltest du etwa fort- fahren: „die Empfindungen produzieren?‘ Dann würde dies dein Stocken beweisen, dass man bei dir noch nicht alle Hoffnung auf- zugeben braucht, das Paradoxon des Idealismus werde noch einmal eine Wiedergeburt deines Denkens herbeiführen. Denn die Worte, die du unterdrücktest, würde nicht mehr der naturwissenschaftliche Realist, sondern der Materialist gesprochen haben! Und dein Stocken zeigt, dass dir das grosse Rätsel des Bewusstseins wenigstens zu dämmern beginnt. Und darum bist du auch vielleicht fähig, die Tragweite der Antwort zu ermessen, die deinem Einwande jede Be- deutung nimmt und dein mitleidiges Lächeln in Beschämung wandelt. Auch dein Gehirn ebenso wie die Gehirne aller übrigen Menschen samt allen Nerven drin sind ja doch nur deine und meine Vor- stellungen, sind Bewusstseinsinhalte und aus Empfindungen aufgebaut so gut wie der Tisch, vor dem ich sitze. Mögen also tausende von Bewegungen mein Gehirn treffen: sie sind und bleiben sämtlich in alle Ewigkeit meine Vorstellungen; ebenso wie das ganze Gehirn, in dem sie Veränderungen hervorbringen, sind sie mein Produkt, meine Schöpfung, mein Bewusstseinsinhalt, Und diese meine Vorstellungen sollten, wenn ich z. B. bei einer starken Kopfwunde einen Teil meines Gehirns im Spiegel besehn könnte, in mir erst die Empfindungen hervorbringen, auf denen sie selbst aufgebaut sind?

Das wäre denn doch vollendeter Nonsens! Vielmehr: was der naturwissenschaftliche Realismus mit seiner Wahrnehmungstheorie eigentlich bezweckt, ist nicht, Vorgänge darzustellen, die sich in unserer Erfahrungswelt abspielen, sondern Vorgänge in der trans- scendenten Welt der Dinge an sich. Nicht mein Gehirn müsste er sagen wird von Bewegungen (Reizen) getroffen, sondern das dem Gehirn zu Grunde liegende Ding an sich. Und das Etwas, von dem die Bewegung ausgeht, sowie das Etwas, das, in Schwin- gungen versetzt, die Bewegung vermittelt: sie sind nicht Gegenstände unserer Erfahrungswelt, sondern Dinge an sich.

Will man in dem Etwas Atome sehen gut, dann besttinden die Dinge an sich aus Atomen. Aber wahrgenommen würden diese

{

= | 372 Erich Adickes,

Atome nicht, sie wären in keiner Wirkliehkeit aufzuweisen: sie wären erschlossen, als Ursachen der Erscheinungswelt. Ebenso dann auch die Atome, die dem Gehirn zu Grunde lägen! Was wir als Gehirn vor uns sehen, das körperliche Organ, ist durch und durch unser Produkt, es kann auf uns nicht einwirken, kann in uns nichts erregen, sowenig wie Tisch und Stuhl vor uns. Es ist nur ein Teil, ein Objekt unseres Bewusstseins, nie und nimmer sein Schöpfer oder auch nur sein Organ. Wohl sein Werk, aber nie sein Werkzeug! Da- gegen was dem Gehirn zu Grunde liegt als Ding an sich: das mag in anderer Beziehung zu meiner Bewusstseinswelt stehn. Aber wir kennen es nicht! wir können nur Rückschlüsse darauf machen!

Die Atomlehre des Realismus ist wenigstens bei vielen seiner Vertreter ein soleher Rückschluss. Ein wie unglücklicher, un- wahrseheinlicher: das wird sich unter 3. (S. 375 ff.) zeigen. Zunächst gilt es nachzuweisen, dass, wie der ganze Inhalt der Erfahrungs- welt unsere Schöpfung ist, so auch

2. ihre äussere Form: der Raum, Die Lokalisation der Empfindungen im Raum ist unser Werk, ist eine Wirkung unserer geistigen Organisation. Damit wird durchaus noch nieht der Frage präjudiziert, ob der Raum nicht zugleich auch etwas Objektives, den Dingen an sich Zukommendes ist. Ich bejahe diese Frage und bin der Meinung, dass unsere räumliche Welt die Rekonstruktion einer extramentalen räumlichen Welt ist, keine völlige Neuschöpfung.

Aber zunächst ist auf jeden Fall das räumliche Anschauen eine Funktion unserer Psyche. Der transscendente Raum ist uns nicht gegeben und kann uns nie gegeben werden, wir können ihn darum auch nie mit unserm Bewusstseinsraum daraufhin vergleichen, ob beide übereinstimmen. Wir können auch nie letzteren nach ersterem formen. Gegeben sind uns allein Empfindungen, Bewusst- seinszustände und-inhalte. Unsere meisten Empfindungen tragen von vorn- herein einen räumlichen Exponenten an sich: indem sie uns zum Be- wusstsein kommen, sind sie auch schon ausser uns im Raum ge- ordnet. Die Härte eines Tisches empfinde ich nicht erst in mir, sondern sogleich ausser mir; der operierte Blindgeborene sieht Licht und Farben sofort ausserhalb seines Auges, wenn auch noch nicht in „richtiger“ Weise lokalisiert. Aus diesen Empfindungen bauen wir unsere Erfahrungswelt auf: sie ist also ganz unser Werk, unser ist auch die Art, wie wir die Empfindungen der verschiedenen Sinne mit einander verbinden und sie zu dem räumlichen Gebilde verschmelzen

Kant contra Haeckel. 378

lassen, das wir „Gegenstand“ nennen. Bei diesem Zusammen- schweissen folgen wir keinem bewussten Plan, keiner vorgefassten Absicht, ebensowenig lassen wir uns von unserer Willkür leiten: alles geschieht gesetzmässig, aber nach uns unbekannten Gesetzen. Die Verbindung der Empfindungen und ihre Form wird uns gerade so aufgedrängt und aufgezwungen wie die Empfindungen selbst. Wir geben uns weder das Eine noch das Andere: Beides empfangen wir, haben wir, „finden“ wir „in“ uns. Im höchsten Grade thätig, sind wir doch zugleich auch empfangend. Aber die Quelle, woher uns das wird, was wir empfangen, kennen wir nicht. Der Zwang, aus dem Rohstoff der Empfindungen diesen oder jenen Gegenstand zu formen, tritt nicht von aussen her an uns heran, etwa von den Gegenständen der Bewusstseinswelt wie wäre das möglich, da sie ja erst infolge dieses Zwangs entstehn! —, er liegt vielmehr in uns, ist in und mit den Empfindungen gegeben.

Wir also sind es allein, die den Empfindungen ihre räumliche Stelle bestimmen, ohne uns dieser Thätigkeit bewusst zu sein. Und was uns dabei leitet, künnennur qualitative Unterschiede der Empfindungen sein. Räumlich geordnete Empfindungen: das wäre eine contradictio in adjeeto. Denn wie könnte etwas Psychisches ausgedehnt, im Raum neben einander sein! Räumlich geordnete Reize im Gehirn, etwa wie das Netzhautbild im Auge: das wäre wenigstens vorstellbar. Aber helfen würde es nichts, denn auch mein Gehirn ist ja zunächst our meine Vorstellung, ist ein Teil resp. ein Gegenstand meines Be- wusstseinsraums, den ich geschaffen habe mit allem was darin ist. Und wollte der Realismus für Gehirn das setzen, was er eigentlich meint: das dem Gehirn zu Grunde liegende Ding an sich: was wäre gewonnen? Sobald die Vorgänge in der als räumlich angenommenen Welt der Dinge an sich, die mir als Empfindungen erscheinen, in meiner Bewusstseinswelt sich wiederspiegeln, würden und müssten ja auf jeden Fall alle räumlichen Bestimmtheiten verschwinden, und nur qualitative Unterschiede könnten überbleiben. Also auch der Realist, der dem Raum transscendente Gültigkeit zuschreibt, muss zugeben, dass zum Aufbau unserer Bewusstseinswelt und zur Lokali- sation der Empfindungen in unserm Bewusstseinsraum uns keinerlei Andentungen räumlicher Art gegeben sein können. Die einzigen Merkmale, von denen unsere Psyche sich bei der Lokalisation, ihr selbst unbewusst, leiten lässt, müssen qualitative Unterschiede sein. Unser ganzer Bewusstseinsraum ist also unsere Schöpfung. Der Tisch vor mir giebt mir so wenig Anweisung, wie und zu welcher

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>74 Erieh Adi:zes.

Gestalt ich die verschiedenen Empüniunsen der Harte und Farbe mit einander zu verbinden habe. das er vielmehr mit alles seinen Eiren- sebaften erst durch diese Verbindung entsteht und assserkalb meines oder eines dem meinen ähnlieken Bewusstsein; tberkampt keine Existenz hat.

Die räumliebe Anrinong und damit der zanze Baum. sind zı- nächst eben wie die Emptindunzen nichts als das Symbol eines an sich seienden Unbekannten und zewisser Eigenschaften an ihm. Bei den Empfindungen giebt der naturwissenschaftliche Realismus meistens die völlige Verschiedenheit dieser Symbole von den Eigen- schaften der Dinge an sich. auf die sie hinweisen. zu Zwischen dem Grün. das meinem Auge erscheint. und der Eigenschaft der Dinge an sich. welebe in der Sekunde die 600 Billionen —Athersehwin- gungen bervorbringt. besteht keine grössere Ähnlichkeit als zwischen meinem Gedanken und den sprachlichen Lauten. durch die ich ihn bezeichne. Dasselbe könnte an sich sehr wohl auch bei der räum- lieben Anordnung der Fall sein: auch hier braucht keinerlei Ahnlich- keit zu bestebn zwischen unserer Art räumlich anzuschaun und den Eigenschaften der Dinge an sich, die wir auf diese Art symbolisch darstellen. Kant bebauptet das. Ich kann ihm hierin. wie gesagt. nicht folgen, bin vielmebr der Ansicht. dass unser Bewusstseinsraum die Rekon- struktion eines transscendenten Raums ist. in dem sich ganz unab- hängig von unserm Bewusstsein die Welt der Dinge an sich be- findet, die auf das mir (auch meinem Gehirn) zu Grunde liegende Ding an sich einwirkt Das ist meine Annahme. die nie bewiesen werden kann, die für mich aber deshalb den höchsten Grad von Wahrscheinlichkeit besitzt, weil das so entstehende Weltbild mir weniger Schwierigkeiten zu bieten scheint als die andern. Jede Be- bauptung über die Dinge an sich bleibt innerhalb des Gebiets blosser Hypothesen: denn jede gründet sich auf einen Rückschluss von der Wirkung (den Empfindungen) auf ihre unbekannte Ursache. Derartiger Ursachen sind viele denkbar. Fichtes und Berkeleys Ansichten, die das extramentale Dasein der unbelebten Natur überhaupt leugneten, sind nicht streng widerlegbar.

Die transscendente Gültigkeit unserer räumlichen Anschauungs- weise gebe ich also dem naturwissenschaftlichen Realismus zu. Aber um so mehr muss ich betonen, dass der Raum, der uns umgiebt, in dem wir leben, sehen, fühlen, schmecken, stossen und gestossen werden, schieben und geschoben werden, allein unsere Schöpfung ist. Dass unsere Empfindungen qualitative Unterschiede an sich tragen, die sich auf

Kant contra Haeckel. 375

die räumliche Anordnung der Dinge an sich beziehn und vermöge deren es uns möglich wird, diese an sich seiende räumliche Anordnung in unserm Bewusstseinsraum zu rekonstruieren: das alles ist eine nachträg- liche Hypothese, aufgestellt, um unser Weltbild zu erklären, um Ursachen für das zu denken (vielleicht auch nur zu „erdenken“), was uns allein direkt gegeben ist: für unsere Bewusstseinswelt. Jenen Raum der Dinge an sich können wir so wenig jemals sehen und fühlen wie die Dinge an sich, die in ihm sind, Jene ganze transscendente Welt ist nur eine Annahme, eine Art, wie wir gedrungen werden, uns jenes grosse X vorzustellen, eine Annahme, die für den Einzelnen die grösste Wahrscheinlichkeit haben mag, aber schliesslich doch immer nur eine Annahme. Und nicht einmal die einzig mögliche: Andere haben andere aufgestellt, Bestenfalls also, wenn wirklich die Welt der Dinge an sich meinen Erwartungen entspräche und räumlich wäre: sie könnte nie und nimmer für mich zu etwas unmittelbar Gegebenem werden.

Und welcher Art sie sein mag: meine Erfahrungswelt wird dadurch gar nicht tangiert. Nirgends ragt die eine in die andere hinein, beide sind ewig geschieden. Die ganze Erfahrangswelt ist nur in meinem Bewusstsein vorbanden, ist auf Empfindungen aufgebaut, besteht aus ihnen und kann mir deshalb nie Anlass zu Empfindungen werden. Sie wird empfunden, aber erregt keine Empfindungen, so wenig die vom Künstler geschaffene Marmorgruppe diesem erst die schöpferische Idee inspirieren kann. Sie kann auch keine Einheit geben, weder sich selbst noch meinen Empfindungen. Nicht ent- nehme ich den Gegenständen rings um mich her die Einheit meiner Empfindungen; sondern erst, indem ich letzteren Einheit gebe, schaffe ich die Wahrnehmungsgegenstände. Empfindungen, Bewusst- sein: das ist das primär und allein Gegebene; Reize und Dinge an sich, von denen sie ausgehn, Bewegungen in einem extramentalen Raum, in denen sie bestehen: alles das ist mir nicht direkt gegeben, sondern nur als Ursache hinzugedacht,

3. Was sagt nun schliesslich das idealistische Prinzip über die naturwissenschaftliche Atomlehre?

Eins ist sicher: wenn Büchner behauptet: „Die Atome der Alten waren philosophische Kategorien oder Erfindungen, die der Neuen sind Entdeckungen der Naturforschung* so sprieht er wie der Blinde von der Farbe. Atome „entdeekt“: wie stolz das klingt! Als ob man sie sehen und fühlen, mindestens aber doch Farbe, Gestalt, Gewicht, Zahl genau bestimmen könnte! Und wie weit ist man davon entfernt, gerade heutzutage; wie geneigt gerade die

376 Erich Adickes,

leitenden Geister, auch hier sich zu bescheiden, wenn sie nicht gar die Atome, diese „Entdeckung der Naturforschung“ völlig verwerfen.

Von welcher Seite man die Atome auch betrachten mag: gegeben, in irgend einer Erfahrung vorhanden sind sie nicht, Bestenfalls wenn sie überhaupt existieren sind sie er- schlossen.

Ihr Gebrauch kann ein doppelter sein. Entweder will man vermittelst ihrer nur die Vorgänge in der körperlichen Erseheinungs- welt auf einfachste Weise konstruieren oder man glaubt in den Atomen die Dinge an sich vor sich zu haben.

Im ersten Fall gehört zur körperlichen Erscheinungswelt natürlich auch mein ganzer Körper inkl. Sinneswerkzeuge und Gehirn, und der Atomismus hat, wenn man seine Ziele so weit wie möglich steckt, die Aufgabe, die sämtlichen Phänomene in dieser Körperwelt (inkl. die Vorgänge in meinem Gehirn) als Bewegungen von Atomen dar- zustellen. Alles Psychische bliebe gänzlich aus der Berechnung. Mögen zu gewissen Gebirnvorgiingen psychische Begebenheiten in unveränderlicher funktioneller Abhängigkeit stehn („Funktion* in matbematischem Sinn verstanden!): für den Atomisten wäre das Psychische nieht vorhanden. Es reichte an keiner Stelle in sein Gebiet hinüber, bloss mit Bewegungen, mit kinetischer oder poten- tieller Energie hätte er zu thun.

Nur in dieser Beschränkung vertreten gerade die Meister vom Fach heutzutage den Atomismus und die mechanische Weltauffassung. Ja, Manche, wie z. B. H. Hertz (Prinzipien der Mechanik, S, 45), sind sogar geneigt, das Gebiet der Mechanik mit dem der unbelebten Natur zusammenfallen zu lassen und also der belebten Welt eine Ausnahmestellung zu geben.

Was sind denn nun für diese streng wissenschaftlichen Theorien (im Gegensatz zu der Haeckelschen oder einer ähn- lichen materialistischen Metaphysik!) die Atome? Entdeckungen der Neuzeit? Wahrlich nicht! Nicht einmal erschlossene Wirklich- keiten, sondern Hilfshegriffe, Rechenpfennige, Abstraktionen, von nicht grösserer Realität als der völlig luftleere Raum oder der aus- dehnungslose Punkt oder die völlig elastischen resp, unelastischen Körper, mit denen die mathematische Physik rechnet. Man will Formeln deuten, eine Theorie entwerfen können: dazu glaubt man kleinster materieller Teilchen zu bedürfen; und das ist dann der Grund, weshalb man die Atome nicht entdeckt oder demonstratiy

Kant contra Haeckel. 377

nachweist, sondern sich erdenkt und die erdachten hypothetisch verwertet.

Alles Rechnen mit Atomen ist gleichsam eine Übung am Phantom. Nie wird die Wirklichkeit ganz und gar dadurch erfasst, nie geht sie restlos in ihm auf, Gerade diejenigen Physiker, die am meisten in die Tiefe gedrungen sind und die methodologisch-erkenntnistheore- tischen Probleme ihrer Wissenschaft energisch in Behandlung ge- nommen haben, sind sich der Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit voll bewusst. Offen erkennt Hertz in der Einleitung zu seiner Mechanik an, dass alle physikalischen Theorien stets nur Bilder der wirk- lichen Vorgänge sind; nicht Rekonstruktionen, sondern Zeichen oder Symbole der eigentlichen Ereignisse, Ein Philosoph, ein Erkenntnis- theoretiker würde tauben Ohren gepredigt haben: auf den genialen Physiker hört man und lernt sich bescheiden. Zwar ist man auch heute durchaus noch nicht allgemein geneigt, sich mit Kirchhoff auf den rein phänomenologischen Standpunkt zu stellen und von der Mechanik nur zu verlangen, dass sie die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen in einfachster Weise vollständig beschreibe, statt auch ihre Ursachen zu ermitteln. Aber auch der Hauptvor- kiimpfer der „alten klassischen Theorie“, L. Boltzmann, sieht sich ge- zwungen, Hertz zuzugeben, dass auch seine Atomistik nur ein Bild ist. Wie er meint: von allen bisherigen Theorien das klarste und einfachste Bild, aber immerhin doch nur ein Bild neben möglichen andern Bildern. Und der beste Erfolg wird nach seiner An- sicht dann erzielt werden, „wenn man stets alle Abbildungsmittel je nach Bedürfnis verwendet, aber nicht versäumt, die Bilder auf jedem Schritte an neuen Erfahrungen zu prüfen.“') Damit spricht Boltzmann einen Gedanken aus, für dessen Richtigkeit die ganze bisherige Ent- wicklung der Atomistik Zeugnis ablegt: die Auffassung vom Wesen der Atome ist in fortwährender Wandlung begriffen, und es ist sicher, dass nie ein endgültiger Abschluss erreicht werden kann.

Nie! Denn was ist die Grundlage der Atomistik? Haupt- sächlich doch wohl unser Bedürfnis, das im Wechsel Beharrende zu erfassen, oder, wenn es mit dem Erfassen nichts ist, wenigstens zu denken, zu erdichten. Daraus folgt aber unmittelbar, dass die Atome

1) Boltzmann: Über die Entwickelung der Methoden der theoretischen Physik in neuerer Zeit. (Vortrag, gehalten auf der Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte zu München, 1899.) Abgedruckt in: Naturwissensch, Rundschau, 1899, No. 3941.

Kant contra Haeckel. 379

Eigenschaften beigelegt. Kein Wunder! Es sind ja keine Wirklich- keiten die Wirklichkeit ist nur eine es sind ja, wie Hertz sagt, nur Bilder. Bilder der Wirklichkeit aber kann es mehrere, kann es viele geben, das eine besser, das andere schlechter, manche aber auch gleich gut. Welche Eigenschaften ein gutes Bild haben muss, setzt Hertz mit mustergültiger Klarheit auseinander: es muss zulässig, richtig und zweekmässig (deutlich und einfach) sein. Oft gentigt ein Bild diesen Anforderungen, wenn es auf eine bestimmte Gruppe von Erscheinungen angewandt wird; ausserhalb dieses Ge- bietes ist es wenig oder gar nicht zu brauchen. Aber der Physiker, der sich gerade mit jenen Erscheinungen beschäftigt, schneidet ihnen zu Liebe seine ganze Theorie so oder so zu, wie etwa ein Drama- tiker sich am Charakter seiner Heldin versündigt, um einer be- stimmten Tragödin die Rolle auf den Leib schreiben zu können.

So kommt es, dass die Lehre von den Atomen bei den verschie- denen Forschern oft ein so ganz verschiedenes Aussehen zeigt. Der Eine glaubt an Atome und leeren Raum, der Andere lässt trotz der Atome den Raum kontinuierlich erfüllt sein. Diese halten die Atome für Körper von einer gewissen, wenn auch unendlich kleinen, immer- hin messbaren Grösse, jene (Ampere, Fechner ete.) leugnen jede Ausdehnung: für sie sind die Atome nur unteilbare Punkte. Woran sich Faradays Ansicht anreihen liesse, nach der die Atome einfache Krafteentren sind. Und damit wären wir mitten in der dynamischen Naturauffassung, wie Kant und Andere sie vertraten: keine letzten diskreten Massenteilchen, sondern kontinuirliche Raumerfüllung. In gewisser Weise wieder auferstanden ist der Dynamismus (wenn er überhaupt je gestorben war) in der heutigen energetischen An- schauungsweise, die von den vier alten Grundvorstellungen der Mechanik: Raum, Zeit, Masse, Kraft die beiden letzten beseitigt, um an ihre Stelle die Energie zu setzen, wie anderseits Hertz die Vierzahl auf eine Dreizahl reduziert, indem er die Kraft völlig zu eliminieren und durch verborgene Massen und Bewegungen zu ersetzen sucht.

Ein wunderbares Bild bietet sich uns also. Was die Materie, das schöpferische Prinzip des Materialismus, ist? kein Mensch weiss es. Die Popularisierer des Materialismus freilich behaupten es zu wissen, sie thun, als wäre ihnen nichts bekannter als der Stoff. Aber die Wissenschaft, von der allein man genaue, vorurteilsfreie Auskunft erwarten darf, weist nur ein grosses leeres weisses Blatt auf. So trifft denn auch für unsere Tage noch Voltaires Wort zu, das die Materie als ein être presque inconnu bezeichnet,

Kant contra Haeckel. 381

bleibt ihm, wie mir scheint, nur eins übrig: er muss behaupten, dass den Dingen an sich auch das zukommt, was wir sekundäre Eigen- schaften nennen; sie müssten an sich blau oder grün sein, hart oder weich, tönend und duftend, salzig oder bitter, Unsere sämtlichen Empfindungen dürften nicht nur unsejre Art sein, das unbekannte X anzuschauen, nicht nur Symbole für etwas an sich ganz. Unbe- stimmtes: sie müssten vielmehr ebenso viel Eigenschaften der Dinge an sich darstellen. So etwas Ähnliches sah Czolbe sich gezwungen anzunehmen: Licht- und Schallwellen leuchten und tönen sehon an sich.

Aber zu welch seltsamen Konsequenzen würde das führen! Es miisste danach das Ding an sich wirklich grün sein, seine Grüne würde dann wieder die Ursache für die Entwicklung gewisser Ätherschwingungen sein, die unser Auge treffen, und in unsern Nerven gewisse Veränderungen hervorrufen, und diese Veränderungen müssten schliesslich von uns wieder als ein grüner Gegenstand em- pfunden werden, der sich an derselben Stelle des Raumes befindet wie das grüne Ding an sich.

Entschieden ein sonderbarer, wenig wahrscheinlicher Vorgang! Eine prästabilierte Harmonie, noeh wundersamer als die Leibnizens! Man könnte versuchen, sie mit Darwinschen Ideen zu stützen: solehe Harmonie sei zweckmässig, und im Kampf ums Dasein hätten die- jenigen Wesen den Sieg davon getragen, die ihrer teilhaftig waren. Sehr schön! Aber das Unbegreifliche ist ja gerade das erste Ent- stehn einer solehen Harmonie mit all den ihr anhaftenden Wunder- lichkeiten, nicht ihr Fortbestehn. Und dann! Warum sollte sie zweckmässiger sein als eine nur symbolische Erkenntnis? Worauf es ankommt, ist doch nur, dass unser Empfindungsleben sich gesetz- mässig abspielt, wodurch uns die Möglichkeit gegeben wird, aus der Vergangenheit Schlüsse auf die Zukunft zu ziehen, sie vorherzusehn und die „Natur“ zu beherrschen. Das ist jedoch ebenso gut möglich, wenn unsere Sinnesqualitäten nur eine symbolische Bedeutung haben und Zeichen (aber in gesetzmässigem Zusammenhang stehende!) für etwas Unbekanntes sind.

Den Ausschlag giebt eine ganze Reihe von Thatsachen aus dem Gebiet der Sinnespbysiologie: sie nötigen einem in unwiderstehlicher Weise das Zugeständnis ab, dass unsere Sinnesempfindungen nicht auch zugleich Eigenschaften der Dinge an sich sein können. Ich erinnere an Kontrastwirkungen, perspektivische Verschiebungen, Sinnes- und optisch-geometrische Täuschungen, Hallucinationen und die Erscheinungen bei hypnotischen Zuständen, an Reiz- und Unter-

42 Erich Adicken,

schiedsschwellen, an die spezifische Energie der Sinnesorgane, an die ktinstlichen Veränderungen unserer Eindrücke durch Mikroskop, Fernrobr und andere Instrumente. Mit vollster Bestimmtheit kann behauptet werden, dass die einzelne Empfindung von dem gesamten Empfindungs- und Bewusstseinszustande abhängt, in den sie als Teil eingebt. Nicht nur äusserer „Reiz‘‘ und Sinnesorgan sind von Einfluss: die momentane Beschaffenheit unseres ganzen psycho-physischen Wesens macht sich geltend. Ein und dieselbe äussere Veränderung kann zu verschiedenen Zeiten in ganz verschiedener Weise empfunden werden und zum Bewusstsein kommen.

Der Materialist denkt sich seine Welt durchzogen von allen miglichen Bewegungen. Aus ibnen sundern unsere Sinne einige in gewissen Zablenverbältnissen stehende aus und wandeln sie um. Mit Recht sagt Fr. Alb. Lange: unsere Sinne sind Abstraktions-Apparate. Man denke sich ein Wesen mit eignen Sinnesorganen für Magnetismus, Elektrieität, Gravitation, für Röntgen-, Kathoden- und Becquerel- strahlen: wie so ganz anders wäre dessen Weltbild!

Nimmt man alles dies zusammen, so wird man zugeben müssen: die Zeiten des extremen Realismus sind entschwunden und kehren nieht wieder, Ein wissenschaftlich denkender Mann wird heute nieht mehr die Behauptung wagen, die Welt um uns herum, gerade so wie wir sie sehen, hören, schmecken, riechen und tasten, sei die Welt der Dinge an sich.

Und auch der Materialist von heute wird für die Materie, sein Ding au sich, wohl nur die sogenannten primären Eigenschaften reklamieren wollen. Dass Undurchdringlichkeit, Räumlichkeit, Be- wegung den Dingen an sich zukommen, ist auch mir wahrscheinlich. Die Körperlichkeit aber, die materielle Raumerfüllung ist meiner Ansicht nach rein phänomenal. Sie beruht ganz und gar auf Empfin- dungen, alles Körperliche ist Bewusstseinsinhalt, ist von den sekun- dären Eigenschaften gar nicht zu trennen. Wie könnte man sich ein materielles Atom ohne Härte oder Weiche, wie könnte ein Sehender es sich ohne Farbe anschaulich vorstellen?! Nehmt der Materie die Sichtbarkeit Hörbarkeit Hühlbarkeit: und ihr nehmt ihr alles Nur von den Sinnesqualititen bekommt sie ihre Resonderteit, ihre sämtlichen Eigenschaften sind Empfindangsinhalte. Mit den letzteren steht und fällt sie. Eine Welt ohne unsere Sinnes- ysalläten bat auch keinen Raum für die Materie.

Wii man sich also uber die Din an sich Vorstellungen wacheD, so mUS man annehmen dass sie den Raum ausfüllen nicht

Kant contra Haeckel. 383

durch Körperlichkeit, nicht dadurch, dass sie in jedem Raumteil ihrer Sphäre materiell da sind, sondern dadurch, dass sie in jedem Raumteil wirken. Ihre Ausgedehntheit würde nur eine Folge von qualitativ bestimmten Innenzuständen, nur ein anderer Ausdruck für die von ihnen ausgehenden Kraftwirkungen sein: sie wären als Kraft- centra zu denken, und das Wesentliche an ihnen wäre nicht, wie beim Materialismus, Raumerfüllung und Bewegung, sondern das unbekannte Innere,

Ich fasse die Resultate der letzten Seiten kurz zusammen. Der Materialismus ist aus der Reihe möglicher Weltanschauungen, die weder streng zu beweisen noch strikte zu widerlegen sind, auszu- scheiden. Leute ohne kritische Selbstbesinnung mögen sich zu ihm bekennen. Und da es nie an ihnen fehlen wird, wird auch der Materialismus nicht aussterben. Aber für den „Wissenden“, d. h. den in erkenntnis-theoretischen Überlegungen Geschulten ist er nicht nur höchst unwahrscheinlich, sondern, direkt unsinnig, aller gesunden Vernunft Hohn sprechend. Was die Herren Materialisten in Aus- sicht stellen, erfüllen sie nicht: eine Theorie des Psychischen ver- mögen sie nicht zu geben. Vielmehr: wo sie erklären sollten, behaupten sie nur, oderes wird ihnen gar das Bewusstsein zu bloss subjektivem Schein. Die Existenz des Psychischen ist der Stein des Anstosses, an dem jeder Materialist scheitert, mag er sein Schifflein wenden und drehn, wie er will. Nichts hilft über die Thatsache hinweg, dass unsere Empfindungen und Bewusstseins- zustände das uns Nächstliegende und Bestbekannte, das allein direkt Gegebene sind. Der Gütze des Materialisten ist ein echter Fetisch, den er selbst gemacht hat: die Materie, der das Bewusstsein ent- stammen soll, existiert allein innerhalb des Bewusstseins, Ein Ding an sich kann sie nieht sein; denn alle ihre Eigenschaften be- stehn aus Empfindungsinhalten und deren Kombinationen. Nicht unser Geist ist von ihr: sie ist von unserm Geist abhängig; er schafft sie, nicht sie ihn.

Wer das einsieht, derkann nicht anders, als in der materialisti- schen Theorie einen der Höhepunkte der Absurdität erblicken. Bewusstsein aus der Materie ableiten wollen, das ist ein ähnliches Kunststück, wie wenn der Freiherr von Mtinchhausen sich am eignen Zopf aus dem Sumpf zieht.

Ultramontane Stimmen über Kant

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aka, ine! raasdermen auch der Kr. dr. V. sien. ÉEbessowenig wissen wir. eb ausser dés Kr urn. aich noch die anderen Wera des Közizebergers auf den Index ge-etz. worden sind. Solite es noch nicht geschehen sein, =) bietet ja dir neue Akaderm-auszabe die beste (Gelegenheit das etwa Ver- saumte nachzuhslen: die Entente cordiale zwischen Berin und Rom wüni» dadurch ebensoweniy zeswärt werden. als dureh den famosen Canisiuserlass. Wir sind ja doch nicht mefr so naiv-optimistisch, wie Kaulbach im Jahre 1565: da entwarf dis-sr Künstler. der auch ein Denker war. seinen .Totentanz-. und darunter das merkwürdige satyrische Blatt „Papst und Tod*: Srllabus. Peterspfennis, Encvclica und das Dogma der unbefleckten Empfängnis eeben dem Papste das „Leben“. aber der anklopfenle Tod” bringt die Bibel, da- Leben Jesu. naturwissenschaftliche Bücher und Kant: Kritik der reinen Vernunft. Diese -ollten dem Papsttum den Garau- machen. Naive Schwärmerei!: Wenn je der Vatikan von dieser Satvre Kenntnis genommen hat, so wird man daselbst vielleicht über sie höhnisch gelächelt haben. Oder sollte man die Sache doch ernst genommen haben: Sollte die beriihmte Eneyelica ,Aeferni Patris* vom 4. August 1879 darauf die Antwort sein! Sollte der Rückgang auf den heiligen Thomas, den jene Encyclica inaugurierte, gegenüberzestellt werden dem Rückgang auf den unheiligen Kant, welcher seit den sechziger Jahren nicht bloss in protestantischen, sondern auch gleichzeitig in katholischen Ländern sich vollzogen hat: Man durfte schon früher diese Vermutung hegen, aber neuerdings hat dieselbe direkte Bestätigung erfahren; der Tübinger fessor Dr. Paul Schanz schreibt in der ersten Nummer der seit 1. Oktober 1399 von der österr. Leo-Gesellschaft herausgegebenen „Kultur“: „Der H. Vater hat in der Encvelica vom Jahr 1879 die Losung der Rückkehr zu Thomas ausgegeben. Zurück zu Thomas, zu Aristoteles wird dem Zurück zu Kant gegenfibergestellt.* Man weiss, welch ungeheuren Erfolg diese Eneyclica gehabt hat: die neuthomistische Strömung hat eine ungeahnte Höhe und Kraft erreicht. Das philosophische Bedürfnis der ganzen katholischen Welt wird mit verschwindend geringen Ausnahmen jetzt nur aus der Quelle des Aquinaten befriedigt. Nur wenige wagen wider den Stachel zu löcken. Unter diesen Wenigen befindet oder vielmehr befand sich Professor Sechll in Würzburg: er hat sich mundtot machen lassen. Aber merkwürdigerweise ist in Frankreich eine starke antithomistische Strömung unter den katholischen Philosophen vorhanden: dort hat Renouvier

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Ultramontane Stimmen über Kant. 885

die Geister Zune dr satithomstnchen Sim angel ee ad

Fea aye Stimmen, welche mat des Aion den Ko

rühmten. re Pt

dessen Kenntnis den Annales de "Phone Q Pom Grimes 19° Sr Novembre 1899, P. Mae 123 apa 8. ber 1899 und enthält nichts mehr er weniger Ba sins offizielle Warnung des Papstes. oz der Kantischen P Des Wir reproduzieren die Hauptstelle in der französischen Übersetzung genannten Zeitschrift.!)

Lettre RARES e de S. S. le Pape pooh XII

aux Archevéques, Evéques, et au Clergé de France.

Nous le disions dans Notre Eneyelique Æterni Patris, dont nous recommandons de nouveau la lecture attentive à vos Séminaristes et à leurs maîtres, et nous le disions, en nous appuyant sur l'autorité de saint Paul: c'est par les vaines subtilités de la mauvaise philosophie, per philosophiam ‚et inanem fallaciam, que l'esprit des fidèles se laisse le plus souvent es et que la pureté de la foi se corrompt parmi les hommes. Nous Ben et les événements accom] a pa bien tristement, les réflexions et les appı See que Nous exprimions alors: „Si Ton fait „attention aux con ions critiques du temps nous vivons, si l'on “embrasse par la pensée l'état des affaires tant publiques que privées, on

découvrira sans peine que la cause des maux qui nous oppriment comme „de ceux qui nous menacent one en ceci que des opinions

„sur toutes choses, divines et humaines, des écoles des sophes se sont peu à peu glissées dans tous les rangs de la société et sont arrivées à "se faire accepter d'un grand nombre d'esprits.*

Nous réprouvons de nouveau ces doctrines qui n'ont de la vraie philosophie que le nom, et qui, ébranlant la base même du savoir humain, conduisent logi Eee au scepticisme universel et à l'irréligion. Ce nous est, une profonde douleur d'apprende que, depuis quelques années, des catholiques ont cru pouvoir se mettre à la remorque d’une philosophie qui, sous le spécieux prétexte d'affranchir la raison humaine de toute i Bemönens et de tant illusion, lui dénie le droit de rien affirmer au delà

ses propres opérations, sacrifiant ainsi A un subjectivisme radical toutes les certitudes que la métaphysique traditionnelle, consacrée par l'autorité des plus vigoureux esprits, donnait comme nécessaires et inébranlables fondements à la démonstration de l'existence de Dieu, de la spiritualité et, de l'immortalité de l'âme, et de la réalité objective du monde extérieur. Il est profondément regrettable que ce scepticisme doctrinal, d'importation étrangère et d'origine protestante, ait pu être accueilli avec tant de faveur dans un pa, 8 justement célébre par son amour pour la clarté des idées et pour celle du langa; a Nous savons, Vénérables Frères, quel point vous partagez EE Pr justes RE et nous comptons que vous redoublerez de sollicitu le et de vigilance pour écarter de l'enseignement de vos Séminaires cette fallacieuse et dangereuse philosophie, mettant plus que jamais en honneur les méthodes que nous recommandions dans notre

cyclique précitée du 4 août 1879.

In diesem Schreiben ist die Kantische Philosophie zwar nicht mit Namen genannt, aber is ge ichnet, dass jeder Leser weiss, wer gemeint ist. Das Schreiben ist ein interessantes Document humain oder vielmehr inhwmain: die Kantische Philosophie wird als

4 Nachiriglich finden wir dieselbe Lettre Encyolique auch in der Oiviitk ıCattolica (Ser. XVII, Vol. VIII, 8. 5—28) und zwar da in ihrem vollständigen Wortlaut,

ir entnehmen daraus auch die anfallende Thatsache, dass dieses Rundschreiben schon ursprünglich „dans l'idiôme de la France“ abgefasst ist. Also der französische Klerus wird in seiner Nationalsprache vom Papst mageredet, eine Ehre, welche dem deutschen Klerus niemals widerfahren ist. Man Mebt wohl in Hom die deutsche Sprache nicht, welche einem Luther so viel verdankt?

Kantstudien V. 25

387 sotto la corteccia dei i sistemi, Emanuele Kant“ (IV, lerdings se A Ar Eu flees seo cae =

ee : es ist nur merkwürdig, dass ie nebulose* so nennt

V eee m Se

haben so; einigen olischen Philosophen selbst,

den ende ex: tiefsten (III, 416). So will er pen ered esau

(II, 414). Die Ausführungen sind aber so banal, so ich, so ab- en, dass mögen sie auch auf incauli den gewünschten

machen sie doch uns der Mühe überheben, uns were mit denselben

„a rendere falsa tutta quanta la conoscenza humana*. Und Kant wollte doch gerade reine (und angewandte) Mathematik und reine Naturwissenschaft auf festester Basis fundieren! Aber nein Kant muss ein „demolitore della scienza“ sein, damit seine angebliche Demolition des christlichen Glaubens und der christlichen Moral die rechte Parallele bekommt. Aber hat Kant denn den christlichen Glauben und die christliche Moral zerstört? Hat er sie nicht vielmehr , ttet“, indem er den Glauben vom Aber-

fenst schied? Oder sollte der Verfasser der

con maggiore efficaci la, miscredenzn © la immaraltà, pit che eglt non, abbia colla sua ia critica della ione pura, e della ragione pratica

. Sehr unzufrieden ist der Verfasser endlich auch mit den „tras- formazioni simboliche, che egli fa subire ai dommi fondamentali del Cristianesimo* (IV, 544). Aber hat der Verfasser denn ganz vergessen, dass auch be- deutende Kirchenväter und Mystiker den symbolischen Charakter der Dogmen vielfach behauptet haben? Ist nicht auch diesen dann der „freddo e ragionato cinismo* vorzuwerfen, den der Verfasser bei Kant finden will (IV, 548), und den Kant unter dem Schleier gemässigter Ausdrücke verbergen soll? Aber der Verfasser sieht in Kant überall nur den „Zermalmenden“, unein-

lenk seiner positiven Tendenzen. Jedoch wir freuen uns, diesen Bericht,

len wir mit einer Zustimmung zu einer schönen Äusserung begi

konnten, auch wieder mit ae schliessen zu können; HA 540 heisst es: „Laonde meritamente si deve attribwire al Kant Tuffizio di Cam 4 nell’ educazione di quello, che si chiama il pensiero moderno.” „Kant Erzieher“: das klingt bedeutend hübscher, wie: „Kant als Giftmischer*; such hat diese Bezeichnung den Vorteil, ein historisches Faktum treffend auszudrücken. Aber leider giebt es Geister und geistige Strömungen, gegen welche selbst die pädagogische Kunst eines Kant in alle Ewigkeit „vergebens kämpft“.

Einen Kantforscher eigener Art lernen wir in dem Gymnasialprofessor Dr. J. Straub keunen, der einen Aufsatz über Kant und die natür- liche Gotteserkenntnis im „Philosophischen Jahrbuch“ (herausgeg. v. ©. Gutberlet) veröffentlicht hat (XII, 1899, Heft 8 u. 4, Seite 261—270 u. 898—406). Der Verf. hebt also an: „Kant gilt in nichtkatholischen Kreisen noch immer als Stern erster Grösse in der deutschen Denkerwelt; das kann man täglich in allen philosophischen Schriften bestätigt finden, soweit sie ‚auf der Höhe der Zeit‘ stehen... Woher kommt nun dem Urheber des Kriticismus solche Ehre? Was erklärt die dauernde Be- geisterung für ein Gedankensystem, das am besten gar nicht entstanden wäre und bei einem gesunden, normalen Stande der Spekulation län; eine überwundene Position sein müsste? Die Quelle einer so auffalleı Sympathie liegt unstreitig vor Allem in dem grundstürzenden Radikalismus, wit dem Kant zugleich mit den einfachsten Prinzipien aller wahren Ver-

25*

Ultramontane Stimmen über Kant.

389 weiter: en sers N ne Kausalität durch Abstraktion zu gewinnen und dabei zugleich zu erkennen, dass dieses Gesetz absolut gar keine Ausnahme (265). Was bedeutet „von Haus aus“? Es steht in einer Polemik Kants Apri drückt aber (nur in etwas ungerhickter Form) ets anderes als den aj en Charakter des Kausall es aus, so dass wir nicht umhin können, auch hier wieder a ‚Philos.

keit, di nicht selten genau das Gegenteil von dem, was er meint, und das, was er meint, ist nicht von jener fein iffenen und scharf itzten Art, man sie mitunter in der Scholastik findet: was er zu bringt, ist ganz grobe Ware, und so sind auch seine Ausfälle gegen Kant nur von ns ben Sorte, die nimmermehr zu einem wissenschaftlichen

it eingestandenermassen aus von der vorausgesetzten transscendenten Giltigkeit des Ka es. Sehen wir darum, wie er diese gegen Kant Verteidigt. „Wer die Giltigkeit des Kausalitätsgesetzes auf die empirische Sinnenwelt beschränkt, ist um kein Haar klüger als der, welcher behauptet, es gebe nichts, als was man sehen, greifen und wägen kann. Es ist das eben ein sinnloser, willkürlicher, inkonsequenter ‚Dogmatismus‘, der allein schon genügen sollte, um dem ganzen Kantischen System das Urteil zu sprechen. Es handelt sich eben .., einfach darum, einen zureichenden Erklärungsgrund für das grosse Welt- und Menschenrätsel zu finden“ (396). Es ist deutlich, dass Str. an dem Problem der Vernunftkritik einfach vorübergeht. Das „grosse Welt- und Menschenrätsel“ findet er vor, also muss er es auch lösen können. Diese Folgerung ist vollkommen willkürlich; sie ist durch nichts unterstützt als durch Straubs subjektiven Willen. Kants sub- jektiver Wille ging freilich eben dahin: Kant sagt selbst, er habe das Schicksal, in die Metaphysik verliebt zu sein. Aber Kant war besonnen; er hütete sich vor willkürlichen Annahmen, und darum fragte er, ob die Macht der Vernunft denn auch zureiche, das grosse Rätsel zu lösen: er suchte nach objektiv begründeter Gewissheit. Und darum unternahm er die Arbeit, die Vernunft zu kritisieren. Wenn indessen auch Straub für seine Person darauf verzichtet, seine Verstandesfähigkeit der Kritik zu unter- ziehen, so hat er doch eine Ahnung davon, dass Kants Kritik der Gottes- beweise einem solchen Bestreben . Wenigstens lässt sich seine Bemerkung, dass der tiefste Grund der Kantischen Ausstellungen in der Lehre von den synthetischen Urteilen a priori liege (398), in dieser Weise deuten a an dabei, dass es sich hier nicht um eine blosse Lesefrucht handelt, deren Bedeutung ja dem Verf. nicht völlig zum Be- wusstsein gekommen zu sein braucht. Auf diese letztere Vermutung wird man nämlich geführt, wenn man die kritischen Bemerkungen ansieht, die Straub im Anschluss an diese für ihn auffallend hohe Erkenntnis macht. Er versichert zunächst, dass „T. Pesch u. a. längst schon schlagend nach- gewiesen“ haben, dass die synthetischen Urteile a priori „in Wahrheit die reinsten Widersprüche und Hirngespinste sind“, und fährt dann fort: „Auch das Kausalitätsgesetz: ‚Jede Wirkung muss eine zureichende Ur- Sache haben‘, soll ein solches synthetisches Urteil a priori darstellen, während es in Wahrheit nach Kantischer Terminologie Pandgreitiion ein analytisches Urteil ist, indem offenbar in der Wirkung, d. i, in dem

Ultramontane Stimmen über Kant. 391

ne rs Ferner: die Unmögli Reihe von i n ergebe sich daraus, |

es logische Beweis in den CE it münde, enn S, XXIV EI Kant selbst verfalle eweises, so beruht auf falscher Auslegung der en Stelle, die ohne jeden Zweifel zur Interpretation des kosmolog. Beweises gehört, nämlich eben der ontologischen Wendung, die dieser Beweis nach Kant macht.) Gegen Kants Widerlegung des ontologischen Argumentes wird eführt, dass sie den springenden Punkt gar nicht treffe: „Der ontol. Bew. irrt nicht, wenn er das Sein Gottes als reales, im Begriffe Gottes eingeschlossenes Prädikat betrachtet, er irrt aber darin, dass er die Richtigkeit der Gottesidee mit der Realität derselben rare eae a N rene RE ontingenten Dingen gesc) 7 es Seins a tt nur analog Si worden kann, nich: keinsnwegaunik deu Kölklichen Roma“ |. h. ihm nicht REN ist, m. a. W., er irrt, weil er eigentlich eine adäquate Erkenntnis Gottes voraussetzt. Kant aber fällt bei seiner Wider- legung des ontolog. Beweises sozusagen in den pubgensngesetaten Irrtum, er will auch das göttliche Sein nur als Setzung des göttlichen Wesens betrachten, d.h. er behauptet, unsere analoge Erkenntnis Gottes sei adäquat“ (XXV). Heinrich wendet sich dann zu Kants „falscher Er- kenntnistheorie“, in der der eigentliche Grund von Kants Stellung zum kosmolog. Beweis liegt, und skizziert ihr gegenüber die Prinzipien der thomistischen Noëtik. Die Unmöglichkeit der Mataphysik, die Lehre vom transscendentalen Schein, von der Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung werden hier in Betracht gezogen. Zum Schluss werden noch die Postulate der praktischen Vernunft als ein Versuch mit untauglichen Mitteln charakterisiert, um „das Haus wieder aufzubauen, das Kant bis in die Fundamente hinein durch die Kritik der reinen Vernunft für sich und seine Jünger zerstört hat“ (XXX). Mit Anerkennung sei noch hervor- gehoben, dass Heinrich im Gegensatz zur ultramontanen Mode den „sittlichen Ernst“ (XXX) der Kantischen Ethik nicht in Zweifel zieht.

In dem Buche „Der sittliche Gottesbeweis“ (Würzburg, Göbel, 1899, X VIII u. 230 S.) giebt Ch. Didio, der Verf. der früher IV, 820 f. be- sprochenen Schrift „Die moderne Moral und ihre Grundprinzipien“ weitere Ausführungen über die ethischen Probleme vom streng katholischen Stand- punkt aus. Von der ersten Seite an nimmt er gerne Reloneabelks Kant anzugreifen. Mehrfach bedient er sich dabei der in der Neoscholastik beliebten Methode, den unbequemen Gegner erst bequem zu machen, in- dem er ihn das sagen lässt, worüber er poe aburteilen will. Als Beleg mag folgende seltsame Stelle dienen; ts Behauptung, als ob die rein experimentelle Sinneserfahrung das einzige Erkenntnismittel der experi- mentellen Wissenschaft wäre, mag bei einer oberflächlichen Betrachtu: richtig scheinen; eine genauere Untersuchung zeigt aber sofort, dass a hier die Sinne nur der Vernunft Organe der Erkenntnis sind“ (82). Ein noch vollkommeneres Orakel ist folgende Bemerkung, die jedoch, zumal sie in ein sehr wirkungsvolles Milieu gesetzt ist, gewiss nicht verfehlen wird, den Abscheu des frommen Lesers vor dem Ketzer von Königsberg beträchtlich zu befestigen: „Nimmt man einmal an, dass der LT PE des Unbewussten das letzte Wort der Philosophie ist, dann ist für den Theismus kein Platz mehr. Kantischer Kriticismus und christlicher Theismus lassen sich eben nicht vereinigen“ 446). Vor allem aber sei folgender Trick Didios den Scholastikern zur Nacheiferung empfohlen: man gebrauche den Terminus ,Kriticismus* in ‚einem so unbestimmten Sinne, dass er gelegentlich allen Positivismus und

Was die logische Schärfe anlangt, so list sie mitunter zu wünschen übrig. S. 19/20 z. B. wird der (in Wirklichkeit analytische) Wirkung ohne Ursache“ zwar als synthetisch bezeichnet, ‘per

habe, dann muss es auch ein Wirkendes geben. Der enthält ja in sich den Begriff einer ursächlichen Thätigkeit*. Höher als seine Logik steht die katholische

Didio schliesst sich hier an E. v. Hartmann an: „Hartmann

haft Kants Perhorreszierung der Neigung in der sittlichen Hi und

mit Erfolg“ (104). „Kant sucht das Gesetz an und für sich als "zu

erklären, ohne eine Neigung im Wollen anzunehmen, muss aber selbst

zugestehen, dass er sich damit in ein unlösbares Problem verwickelt. Er

kennt eben keine andere Neigung, als die aus der Erfüllung des Sitten- setzes hervorgehende Lust, die er moralisches Gefühl nennt. Er ver- ennt eben auch den Unterschied zwischen der nach Befriedi, streben-

den Nei, des Begehrungsvermögens und der aus der hervor-

chenden Last (uietatio sh ietectatio)* (105). Uber den à ichtbegriff urteilt Didio, Kant sei hier auf halbem Wege ge-

blieben: Schopenhauer habe bereits nachgewiesen, dass ein Sollen ein

Befehlen voraussetzt (72). „Kant wird dem en. ohne es begründen zu können“ (208). Denn nur der e selbst könne hinreichende Ursache des sittlichen Bewusstseins sein. Die Thatsache des sittlichen Bewusstseins sei die empirische Grundlage für einen wissenschaftlich sicheren Gottesbeweis (208 I). Mit der weiteren Ausführung dieses Gottesbeweises kommt Didio Kant näher, als er

steht. Das wird am deutlichsten, wenn man die ziemlich kurz Erörterung betrachtet, die er Kants praktischem Postulat des

Gottes pa De lässt: „Manchmal wird auch der sittliche

angefochten, weil man seine Grundlage nicht recht ins Auge fasst. Man denkt sich den Beweis etwa folgendermassen: Die sittliche Ordnung ist ohne Gott unmöglich, dieselbe ist aber absolut notwendig, folglich giebt es einen Gott. In dieser Form ist Gott nur ein praktisches Postulat, wie Kant es aufstellt. Wir sind aber davon ausgegangen, dass wir durch Analyse unseres Bewusstseins bewiesen haben, dass die sittliche Ordnung eine feststehende Thatsache ist. Auf Grund dieser empirischen Thatsache haben wir durch das Gesetz von der genügenden Ursache erwiesen, dass Gott existiert, weil er allein der Urheber dieser Ordnung sein kann (224/65).

ok

Ultramontane Stimmen über Kant. 393

findet darin die Thatsache der en

ins Auge, so erscheint die Differenz zwischen und Didio noch

geringer, als letzterer hier durchblicken zu lassen nicht umhin

Der eigent liegt nicht da, wohin Didio deutet,

sondern er liegt darin, dass letzterer anders über den der Wissen-

schaft denkt als Kant. Das Verständnis von Kants er Philosophie setzt das seiner transscendentalen Logik voraus.

der 1899 bei Herder in Freiburg i. B. erschienene erste Band des „Lehr- buchs der Philosophie auf aristotelisch - scholastischer Grun« von

ruch 2 zu suchen“ (7/8). „„Das kirchliche Lehramt, hat das Recht, philosophische

zu verurteilen* (8). Ein Recht unbefangener hat mithin z. B. der Kantischen Lehre gegenüber unser Jesuit nicht. Er hält sich denn auch treu an die innerhalb der „philosophia perennis* perennierende Kantauffassung. Sein Buch bietet darum wenig Bemerkenswertes. Doch sei hervorgehoben, dass es die Kantische Hauptfrage, wie sich Vorstellungen auf Gegenstände beziehen, nicht ganz unerörtert lässt, wie das häufig gesehieht. Seite 198 findet sich folgende Bemerkung: „Wenn wir, so meint Kant, die äusseren Gegenstände für Dinge an sich gelten lassen, so ist es schlechthin unmög- lieh, zu begreifen, wie wir zur Erkenntnis ihrer Wirklichkeit kommen sollten, indem wir uns bloss auf die Vorstellung stützen, die in uns ist. Man kann doch ausser sich nichts See ee sondern nur in sich selbst, und das ganze Bewusstsein liefert uns lediglich nichts als unsere eigenen Empfindungen. Antwort: Dieses Bedenken verschwindet von selbst, wenn man bei der Vorstellung die ihr eigene doppelte Formalität, die sub- jektive und objektive, unterscheidet. Die Sinnesvorstellung als Modifikation oder Affektion des Sinnesist SA EE tives, dasaber, insofern es eine be- stimmte Modifikation ist, nicht vomsinnlichenVermögenallein verursacht wird, da das Vermögen als solches, ER der verschiedensten Vorstellungen fähig, dennoch aus sich selbst zu keiner determiniert ist. Die objektive Formalität der Sinnesvorstellung ist darin zu suchen, dass sie wesentlich darstellend ist und deshalb auf ein Anderes hinweist,“ Dass diese Ant- wort keine Antwort ist, weil unmöglich bewiesen werden kann, dass das „Andere“, auf das die Be hinweist (der Grund der bestimmten Erscheinung), mit der Erscheinung übereinstimmt, braucht kaum bemerkt zu werden. Erst der Nachweis dieser Übereinstimmung würde aber dazu berechtigten, „die äussern Gegenstände für Dinge an sich gelten zu lassen“. Der Abschnitt über den transse. Idealismus En giebt zuerst eine (sich an Kuno Fischers Darstellung anlehnende) Orientierung über den Hauptinhalt der Kr. d. r. V., und sodann die Kritik dieser Lehren. Letztere hält sich durchaus im Rahmen der in der scholastischen Litteratur üblichen Argumentationen und enthält nichts der besonderen Erwähnung Wertes. Öfters erwähnt wird Kant noch in dem Abschnitt über die Kategorien. Vgl. S. 885, 888, 892 über den Substanzbegriff; 412 u. bes. 417 f. über die Kausalität.

Constantin Gutberlet’s neues Werk „DerKampf um dieSeele, Vorträge über die brennenden Fragen der modernen Psychologie“ (Mainz, F. Kirchheim, 1899, VIII u. 501 8) ist eine Abfertigung der modernen Psychologie.’ Der wissenschaftliche Ertrag des starken Bandes ist sehr gering. Denn wenn auch G. ganz leidlich über die einschlägige Literatur

394 Ultramontane Stimmen über Kant, ‚orientiert ist, so fehlt es Um ‚doch

thee ‚keine '

Stanislaus v. Dunin-Borkowski in einer Maria. Tasche he (Jahrg, 1809, Heft 9,5. 428) Folgendes

vi ei

im FE ep Systems an seinen Ko also jener in sich einen Keim der Fäulnis tx

Afro KE nes Baum entfaltet hat. Nicht etw:

juenzmachereien, um die Verwechslu: Handelt, ist jedem Einsichtigen klar. enn wir mit dem

ach gleichem Rezept verfahren, den Baum nach den let, so würden nicht nur der Jesuitismus und die heiligen Ketzergerichte und das Blut des heiligen Januarius, die Lex H viele liche Einrichtı n, sondern auch sämtliche Häresien, Kirchenrevolution des 16. Jahrhunderts einbegriffen (aus der auch der Kantianismus hervorgewachsen ist), zu den in den Früchten gehören. Die Kritik, die Gutberlet an Kants verrät auffallende Unkenntnis. Der Haupteinwand ist fo] Kritik d. r. V.... krankt an einem innern Widerspruch, System vergi ‘Sie will nämlich nachweisen, dass die Vernunft was der wirklichen oder doch möglichen Erfahrung nicht zu erkennen absolut nicht imstande ist. Nun sieht aber ein, dass der Satz: Die Vernunft ist absolut unfähig, si fahrbares sicher zu erkennen, kein Erfahrungssatz ist uni kann, Also spricht Kant in demselben Atemzuge die U: Vernunft aus und behauptet sie“ (128/9). So schlecht wie die K des letzten Satzes ist das ganze Argument. Der Verf. scheint seine Kant kenntnis aus scholastischen Lehrbüchern geholt zu haben. Wo b Y denn Kant um von anderem, was sich hier einwenden liesse, zu schweigen —, dass nur —— sicher ‚erkannt. wenden Gaieay

‚objektiven Einfluss auf wissen wir nicht. r müssen di dass das Feuer das Stroh in keiner Weise können wir dass das Stroh wirklich vom Feuer I“ (181)! Wenn G. unter der Kantischen derartig Lehre versteht, kann man es ihm natürlich nicht er vom Kant nichts Gutes hofft und statt dessen „auf den heil. Thomas von Aquin zurückzu, ER tanten der einen, allgemeinen und ewigen hie,

durch die it aller folgenden Jahrhunderte erhofft werden kann“ (180/1)

Neuerdings wird nun auch das Gebiet der Ästhetik vor den Neutho- misten angebaut. Zwei Jesuiten, Gerhard Gietmann und Johannes Sörensen haben sich zusammen gethan und eine ,Kunstlehre* in Angriff

jommen, deren I. Teil als Ta, emeine asthetik“ erschienen ist (Freiburg i. B., Herder, 1899, 340 S). Über Kant haben die Verfasser sehr seltsame Anschauungen, so sprechen sie S, 82 von it und Kants Anschauungen von der Ureinheit des Idealen und Realen“! Von der bekannten Stelle am Anfang der transsc. asthetik meinen die Verf. S. 5, Schiller habe daraus wohl seine „Verachtung der asthetik“ gelernt! Bei Gelegenheit der merkwürdigen These: „Schönheit ist die lende Voll- kommenheit eines Dinges“ wird in einer kritischen Bemerkung (S. 97) Kants subjektivistische ER des Geschmacksurteils verworfen: der von Kant a te Unterschied des Erhabenen und Schönen wird 8, 128 verworfen; ebenso die von Kant, betonte subjektive Grundlage des Er- habenheitsgefiihls. Die moderne Ästhetik seit Kant hat ungenaue und missverständliche Lehren (S. 201). Zuletzt kommt der Trumpf (S. 297): „Der protestantische Rationalismus seit Herder schuf sich an der Hand a antiken Kunst ein neuheidnisches, das Humanitäts-

th

Die „Österreichische Leogesellschaft“, welche auch sonst eine sehr rührige Thätigkeit entfaltet, giebt seit dem 1. Oktober 1899 eine neue „Zeitschrift für Wissenschaft, Litteratur und Kunst“ unter dem Namen „Die Kultur“ heraus. Für uns kommt aus dem 1. Heft nur der you Prof, Dr. Paul Schanz in Tübingen geschriebene Einführungsartikel in Betracht: „Die geistigen Strömungen der Gegenwart*. Der Verf. spricht darin auch von dem ungünstigen Los der Philosophie; ihr Einfluss sei gering, soweit sie sich nicht den Lieblingsmeinungen des Tages an- schliesse als eine solche ,Lieblingsmeinung des Tages“ gilt ihm in erster Linie der Ruf und das Losungswort: „Zurück zu Kant“; Zeller,

, Liebinann und bes. Paulsen werden "als Vertreter angeführt; Paulsens in unsern ,Kantstudien* erschienener Programmartikel: „Kant der Philosoph des Protestantismus* wird mit Missfallen erwähnt. Kante Philosophie führe zu „dem trostlosen Resultat“, dass wir das wahre innerste Wesen der Substanz nicht zu erkennen vermögen. „Das Resultat der wissenschaftlichen Forschung ist die Unmöglichkeit der Erkenntnis! Und dies nennt man eine Befreiung, eine Befreiung von Vorurteil und Aber- glauben, in der That zugleich eine Befreiung von Glauben und Über- ieferung, von Gott und Gewissen.“ Nun haben wir's.

Wie sagt doch der Schwabe Schiller?

Dacht ich's doch! Wissen sie nichts Vernünftiges mehr zu erwidern, Schieben sies Einem geschwind in das Gewisson hinein.

‚Weiterhin wird dann der Pessimismus Kant ia die Schuhe geschoben, ebenso der Voluntarismus, dem die ,intellektualistische Metaphysik“ gegen-

en nur ein erlaubtes taktisches Manoeuvre, nicht eine sachlich . Enfant terrib)

lich notwendige le! EL Der Leser der KSt. erinnert sich, dass Paulsen in der D ıdschau* vom August 1898 mit Schärfe N

getreten dem .

Nostitz-Rieneck in den ,Stimmen aus Maria-Laach* 1899, Heft 1

il wurde. (Paulsens Antwort darauf s. KSt. IV, 80 f.; auch nächsten Passns dieser „Ultram. Stimmen*) Wir Bären ï

ulsens atz und über den Angriff des genannten Jesuiten auf Paulsen schon KSt. III, 472 und bemerkten damals bereits her weitere Artikel dieser Art von dem Verf. in Aussicht gestalt, seien. der That sind in Heft 8 und 4 desselben Jahrganges es Maria-Laach“ solche Fortsetzungen erschienen. Der erste dieser Aufsätze „Der neuentdeckte Königsberger Friede“ Ba) richtet seine Spitze direkt Paulsen, genauer dessen auf Kan! basierende Auffas: des Verhältnisses von issen und Glauben, während der andere „Worauf es in dem Streit zwischen Unglauben EX RS BE cd S. exerts ee:

sung dieser n die moderne Wissense] überhaupt, . auch se aehifechen 1 eziehung auf Paulsen, verteidigt. Misst ee Bedeutung der Artikel mit dem wissenschaftlichen Massstabe, so ist das Resultat ganz unbedeutend. Denn er bleibt dem Leser nur zu konstatieren übrig, dass v. N.-R. die Theorien, gegen die er He erst für seine Zwecke präpariert. Die Beweisführung des ersteren Artil läuft darauf hinaus, dass Kants Versöhnung von Wissen und Glauben durch Trennung der beiderseitigen Gebiete einen schneidenden Dualismus in den Menschen trage. Was gem zugesehen von dem Dualismus ül bleibt, ist die Thatsache, dass der Verstand nicht auf alle Fragen, die dem Menschen stellen, eine objektiv giltige Antwort geben kann. Indem aber v. N.-R. Verstand und Willen in ganz unpsychologischer Weise als

onstruiert er hieraus

trennte Seelenvermögen hinstellt, En it: „Wie kommt der Wille überhaupt an seine Objekte? Der geisti Rat ja keine Arme, um nach den Objekten zu 1

erreicht sie überhaupt nicht anders als dadurch, dass der Verstand sie vorstellt. Wenn der Wille nun Religion zu producers ee igt ist, muss der Verstand bei einer Sache mitwirken, die er missbilligt. schweigend, so wird er unehrlich; protestiert er aber, so ist der Friede dahin, und es giebt Scenen“ (257). Ausser der Einschwärzung einer psychologisch unhaltbaren Voraussetzung ist hier zu beanstanden, dass er Verstand bei einer Sache mitwirkend hingestellt ist, die er missbilligt, während es nur heissen dürfte: die er nicht allein bewältigen kann. Das- selbe probate Mittel, die Objekte zu präparieren, giebt dem zweiten Artikel seinen Charakter. Brunetiöre’s auf S. 485 citiertes Wort „als man uns mit Autorität darüber belehrte, wir dürften nie einer Autorität trauen . ..* lautet zwar recht geistreich und sagt übrigens genau dasselbe wie der Anfang des erstgenannten Artikels („Die grosse Zeitkrankheit kommt daher, dass aus der Wissenschaft ein pseudo-religiöses System gemacht ist, und für dessen Formeln unbedingte Anerkennung gefordert wird*). Richtig ist die Anwendung dieses Gedankens auf die moderne Wissenschaft weder im einen noch im andern Falle, soferne man wenigstens T. Pesch) unter der modernen Wissenschaft diejenige versteht, deren

ace

schnittes der Schrift gegen Eberhard: OR Bean gut Daten ie as rity man an Cicero, dem klassischen Autor; ob aber etwas philosophisch richtig

i denn „es giebt keinen is Autor der Philosophie“. = Freilich wird hier + '-R. meinen, er sei mit diesem Wort Kants völlig einverstanden. Hat er doch selbst schon, kirchliche und wissenschaftliche Autorität als wesentlich gleichartig behandelnd, unter Beziehung auf ein Wort Paulsens Manny mauve

nur

(Der Katholizismus als Prinz. d, . i yon Anfang 1899 haben aber den Beweis ge iefert, dass Schells eigenes geisti, Freiheitsinteresse dem

en Autoritätsprinzip nur gar zu fre ich war, und v. N.-R. giebt uns keinen Grund, von ihm etwas besseres zu erwarten. Darum können wir auch bei dem von ihm zum Schlusse immten Hymnus auf „die Imperative der Pflicht“, der fast an die b te Stelle in der Kr. d. pr. V.

genann stirnten Himmel über mir“ stellt, als wenn v. N.-R. nach den dithyram- bischen Worten von den beiden „sicheren Bürgen und lauten Zeugen für das Transscendente unseres Ursprungs und unserer Bestimmung, zugleich unabsetzbaren Richtern und unerbittlichen Rächern des religiösen Un- glaubens . . und unversiegbaren Quellen religiöser Ideen und Überzeug- ungen“ neben den Imperativen der Pflicht „die Gewalt des Verlangens nach Glück‘ nennt.

In den „Stimmen aus Maria-Laach* vom 28, November 1899 findet sich ein weiterer Artikel von R. von Nostitz-Rieneck 8. J., überschrieben „Autoritätsglaube und ‚Idiotismus‘, Ein zweites Wort der Abwehr wider Professor Paulsen“. Der Aufsatz wendet sich gegen die Abhand- lung Paulsens „Kant der Philosoph des Protestantismus*, speziell gegen deren Schluss, in dem ausgeführt war, dass der Autoritätsglaube zum Idiotismus führe. Der Artikel enthält, um uns die eigene Ausdrucksweise des Verf. zu Nutze zu machen, „nur Worte, Worte, Worte, aber nicht Be- weise, keine Beweise, ganz und gar keine Beweise“ (487); er besteht durchgehends in wertlosen Distinktionen und weitläufigen Wiederholungen, und, wie der Verf. ‚selbst sagt: „von weitläufigen Wiederholungen zum absolut Langweiligen ist weniger als ein Schritt“ (492). Der Artikel kämpft überall gegen die ,Freidenkerwissenschaft* (494) und spitzt sich zu dem Satze zu: „Man darf der Denkfreiheit mit der Paulinischen Frage begegnen: ‚oo oty i; zeuynos;' wo bleibt dein Rihmen?* Von der Paulsenschen Ab- handlung heisst es: „Durch das ganze Schriftchen hindurch grollt der wohlbekannte Denkfreiheitsdonner wider den kirchlichen Autoritätsglauben* (475). Nicht übel ist auch die Wendung, dass zwischen Vernunftgründen und Autoritätsglauben „prästabilierte, in der Natur des Menschen prästa- bilierte Harmonie besteht* (476). Zum Schluss noch folgende Stelle (484): „Diesseits von Kant weiss der Verstand schlankweg nichts Gott, und alle Gottesbeweise sind ‚nichtige Bemühungen‘, Und di nach Paulsen ‚folgerichtiger Protestantismus‘. Dessen Folgerichtigkeit besteht in nichts anderem als in unaufhaltsam fortschreitenden Ent-

Ultramontane Stimmen über Kant.

399

‚Rezensenten moquieren zu wollen. Diese hatten ‚recht: damit, se Hein Nabackinacas SOLLE ER a seinen „Summen“, und der Rezensent damit, dass er in seinem. Litteratur- bericht darauf aufmerksam macht. Aber dem Ketzer Kant wird mit einem anderen Mass gemessen: Sein ee Symbolismus wird darum als „Hoffart, Verlogenheit und Heu je weil Kant selbst erklärt, dass man dem Volk keine abstrakten Theorien bieten k: sondern dass man sich zu ihm herablassen muss, wenn man nicht grébste missverstanden sein will. Dass der Weg zum Herzen des Volkes durch dessen „Sinnlichkeit“ führt, weiss niemand besser, als die katholische Kirche. Kant geht nun freilich im Anempfehlen von Mitteln zu diesem eihrauch, bunten

Messgewiindern, Prozessionen mit Musikkorps; aber er t das wenigstens aus, dass er von der rhetorischen ‚Wirkung des ichen Gebets Ben Erfolg erwartet. Also so wenig wie über die „Herablassung“ hat der Vertreter des Katholicismus Grund, über die „Gel

zu spotten. Mit wie vielem Grund sich Kant auf Missverständnisse seines

deuten,

hält, ist übrigens kaum zu begreifen, Dass er aber den Kantischen Terminus „Postulat“ mit „Annahme“ übersetzt (28), verrät nicht nur ein schwaches Kantverständnis, sondern, was einem Jesuitenpater eigentlich nicht passieren dürfte, auch schwache Kenntnisse im Latein. enn er sich durch Nachschlagen in einem Lexikon von der Bedeutung des Wortes „postulatum“ (von postulare) überzeugt haben wird, wird er nicht mehr im

'nklaren darüber sein, weshalb er hier die Versicherung erhält, dass er mit der Argumentation, die er auf diese Übersetzung stützt, den Sinn der Kantischen Gedanken völlig verfehlt.

Victor Cathrein 8. J. hat in den „Stimmen aus Maria-Laach“, LVII,

Heft 2 (7. Februar 1900), S. 129—140, einen Artikel über „Die sittliche Autonomie“ veröffentlicht, in dem mit grösster Sorgfalt von jeder scharfen Begriffsbestimmung des Wortes „Autonomie“ Abstand genommen wird. Zwar wirft der Verfasser (181) die Frage auf: „Was besagt nun diese Autonomie im Sinne Kants und seiner Anhänger?“ Aber die Antwort so gegeben, dass kein unbefangener Leser den richti, Sinn ent- nehmen kann. Allerdings steht unter mehreren zweideuti; Lien: Sätzen auch der treffende Satz da: „Der Mensch als Vernunftwesen giebt sich selbst als Sinnenwesen Gesetz und verpflichtet sich selbst,“ Allein es wird kein Versuch gemacht, zu erklären, was ,Vernunftwesen* eigentlich bedeutet; und von dem richtigen Verständnis dieses Ausdrucks würde bei dieser Formulierung doch das Verständnis des Ganzen abhängen. Im übrigen wird fortgesetzt betont, dass nach Kant das Sittengesetz das eigene Gesetz des Menschen, und dass der Mensch Selbstzweck sei. Aber niemand wird aus der Art und Weise, wie dies gesagt wird, erraten können, dass hierbei zu ergänzen ist: so ferne der Mensch Vernunftwesen ist, d. h. so ferne sein indi eiduellet Wille in Ubereinstimmung steht mit dem allgemein- ältigen Vernunftwillen. Im Gegenteil wird durch Cathreins Polemik die uffassung geradezu unmöglich gemacht, dass nicht das Triebleben des individuellen Menschen sondern nur der universal giltige Vernunftwille das Sittengesetz, und dass nicht der individuelle Mensch sondern die Menschheit, sofern sie die Vernunft realisiert, Selbstzweck ist. Aber wozu dies Cathrein vorwerfen? Er konnte und durfte das ja nicht sagen. Seine Absicht war ja, nachzuweisen, dass Kants Prinzip der sittlichen Autonomie „den ganzen eutigen Anarchismus im Keime enthält“ (129). Die so gestellte Aufgabe würde aber natürlich mit der der Quadratur des Zirkels eine auffallende

Kants Bestimmung der Moralität. Von Dr. R. Soloweiczik. Aus dem psychologischen Seminar der Universität München.

Einleitung.

1. Vorbemerkung. Die Kantische Bestimmung der Moralität ist vielfachen Angriffen ausgesetzt worden, die zum Teil durch die ungenaue Fixierung der. Begriffe bei Kant bedingt sind. Die Fest- stellung und genauere Präcisierung dieser Begriffe erscheint darum als eine notwendige Angelegenheit, die hier im Anschlusse an. den Gedankengang in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ voll- zogen werden soll. Schon gegen die Problemstellung, die sich auf die Bestimmung der Moralität richtet, kann der Einwand erhoben werden und ist thatsächlich der Einwand erhoben worden, dass die Moralität gar nicht bestimmbar sei, weil die sittlichen Urteile zu ver- schiedenen Zeiten verschieden seien, und darum keine Grundlage der Untersuchung abgeben könnten. Wir müssen daher, von dem | Begriffe des sittlichen Urteils ausgehend, die eigentliche Thatsache, die der Behauptung von der Verschiedenheit der sittlichen Urteile zu Grunde liegt, feststellen, um zu sehen, ob diese Thatsache der Bestimmung der Moralität hinderlich sein kann. Durch die Zurück- weisung dieses Einwandes gelangen wir dann zugleich zu einer Fixierung des Kantischen Problems und des Weges, der eingeschlagen werden muss, um mit Kant dies Problem zu lösen. |

2. Das sittliche Urteil. Wenn ich ein sittliches Urteil fälle, so setze ich nicht eine Beziehung zwischen zwei objektiven That- beständen, sondern eine Beziehung zwischen einem objektiven That- bestande und mir, dem Subjekte, dem Urteilenden; mit anderen

Worten, das sittliche Urteil drückt eine Beziehung zwischen einem Kantstudien V. 26

402 Dr. R. Soloweiozik,

objektiven Thatbestande und meinem inneren Erleben aus. Das Er- lebnis besteht in einem Innewerden der Übereinstimmung des That- bestandes mit dem sittlichen Wesen des Subjekts, in einem sittlichen Gefühle der Übereinstimmung, der Billigung, oder in einem sittlichen Gefühle der Missbilligung, der Nichtübereinstimmung, der sittlichen Unmöglichkeit, der Verwerflichkeit. Von der positiven oder negativen Art dieses meines Erlebens dem Thatbestande gegenüber hängt die Anwendung des Prädikats sittlich resp. unsittlich auf den That- bestand ab.

3. Art der Beziehung. Die sittlichen Anschauungen sind ver- schieden; daraus glaubt man schliessen zu können, dass verschiedene Menschen verschieden sittlich urteilen, d. h. gegenüber einem und demselben Thatbestande verschiedene ethische, d. h. verschiedene Billigungserlebnisse haben. Wäre das der Fall, so könnte der be- treffende Thatbestand nicht der Grund jener Erlebnisse sein, denn es kann nicht der gleiche Grund verschiedene Erlebnisse zu seinen Folgen haben. Darum wird zwischen Thatbestand und ethischem Erlebnis eine Associationsbeziehung konstruiert; man sagt, es knüpfe sich an den Thatbestand durch Gewöhnung oder Erziehung das Gefühl der Billigung oder Missbilligung. Aber abgesehen davon, dass ein Thatbestand auf associativem Wege nur eine Erinnerung an ein Erlebnis, nie das Erlebnis selbst hervorrufen kann, was hier aber der Fall sein müsste, ist die Voraussetzung, die zur Annahme der Associationsbeziehung führt, nicht richtig: die Verschiedenheit der sittlieben Anschauungen ist bedingt nieht durch die Versehiedenheit des Urteilens, sondern des Beurteilten, oder anders ausgedrückt: der Thatbestand, der verschiedene ethische oder Billigungserlebnisse be- dingt, ist nicht jedesmal derselbe, wenn wir auch die Thatbestände mit demselben Worte bezeichnen.

4. Der „objektive“ und der „subjektive“ Thatbestand. Wenn das sittliche Urteil als eine Beziehung zwischen einem Thatbestande und meinem ethischen oder Billigangserlebnis definiert wurde, so muss beim Begriffe des Thatbestandes Zweifaches unterschieden werden. Wenn zwei Menschen vor demselben Stück Natur sich befinden, so ist ein ganz bestimmter ,,objektiver* Thatbestand gegeben. Es ent- steht aber für jeden ein ganz anderer „subjektiver‘ Thatbestand, je nachdem er durch natürliche Anlagen, Erziehung, Bildung, Interesse das eine oder das andere an dem „objektiven“ "Thatbestande „wahrnimmt“, sich „aneignet“, sich „vergegenwärtigt“, auf das eine oder andere seine „Aufmerksamkeit richtet“. Wenn nun mein Er-

Kants Bestimmung der Moralität. 408

leben durch einen Thatbestand bedingt sein soll, so kann es nur der »Wahrgenommene“, der ,,appercipierte“, kurz der „subjektive“ That- bestand sein. Daraus folgt zugleich, dass das Billigangserlebnis gegenüber einem Thatbestande nur dann objektiv giltig ist, wenn der „objektive“ und der „subjektive“ Thatbestand identisch sind. Andererseits wird jenes Erlebnis nur dann allgemein giltig sein, wenn der „subjektive“ Thatbestand für alle derselbe ist.

5. Der „objektive“ ethische Thatbestand. Wir fragen also zuerst, welches ist der objektive ethische Thatbestand. Wenn ich einen Mord als sittlich resp. unsittlich bezeichne, so ist der Mord, an und für sich betrachtet, eine Reihe von Bewegungen einzelner Körperteile, die einer ästhetischen, nicht aber einer ethischen Be- urteilung unterliegen können. Der Mord kann also von mir ethisch beurteilt werden, nur entweder seiner Folgen, oder seiner Ursachen wegen, d. b. der Gesinnung wegen, die sich darin kund giebt. Wenn wir aber in Betracht ziehen, dass unter Folgen hier wieder nicht die Veränderungen und Bewegungen in der objektiven Welt ver- standen werden können, sondern nur das Wohl und Wehe der Menschen, so können wir auch sagen: der objektive Thatbestand ist entweder das aus der Handlung thatsächlich folgende eigene und anderer Menschen Wohl und Wehe, oder er besteht in der thatsächlich vorhandenen Gesinnung. In jedem Fall ist damit der „objektive“ sittliche Thatbestand als ein soleher charakterisiert, der keine sinnlich wahrnehmbare Veränderung in der Welt, sondern ein innerer, mensch- licher, persönlicher, kurz psychischer Thatbestand ist.

6. Der „subjektive“ ethische Thatbestand. Da der ethische Thatbestand ein psychischer ist, so kann derselbe nie für alle Menschen identisch sein. Eine erste Modifizierung des objektiven That- bestandes für den Betrachtenden ist dadurch bedingt, dass dieser Thatbestand als psychischer von aussen nicht wahrgenommen werden kann, sondern aus eigenen psychischen Erlebnissen auf Grand wahr- genommener Zeichen von uns konstruiert werden muss. Daraus folgt 1., dass alle Momente am „objektiven“ Thatbestande, denen kein eigenes Erlebnis entspricht, gänzlich verloren gehen (so wie z. B. für einen Wilden, der nie erlebt hat, was bekleidet und unbekleidet herum- laufen heisst, der Thatbestand, den wir „unbekleidet“ nennen, nicht existiert). Es folgt 2., dass jeder den Thatbestand aus seinen Erlebnissen konstruieren wird (für einen Diener giebt es keinen Helden).

Eine zweite Modifizierung des objektiven Thatbestandes beruht

26*

404 Dr. R. Soloweiezik,

auf der Thatsache, die in den Worten: „appereipieren“, seine „Anf- merksamkeit richten“ angedentet ist: Da nur das in mir vom ob- jektiven Thatbestande Vorhandene mein sittliches Urteil bedingen kann, so fragt es sich natürlich, was ich jetzt an diesem in mir potenziell Vorhandenen hervorrufe, auf was ich meine „Aufmerk- samkeit richte“, und hierfür sind die natürlichen Anlagen, Erziehung, Bildung u. s. f. entscheidend. Darin allein besteht der Einfluss der herrschenden und gehörten Ansichten, dass sie meine Aufmerksamkeit auf dieses oder jenes Moment richten und so das Entstehen des- selben Thatbestandes in mir bewerkstelligen. „Gründe“, die mir vor- gebracht werden, sind die mir zum Bewusstsein landes gebrachten Momente am ,objektiven* Thatbestand.

7. Verschiedenheit des Beurteilten. Die Behauptung, dass die Menschen verschieden sittlich urteilen, d. h. gegenüber einem und demselben Thatbestande verschiedene Billigungserlebnisse haben, beruht auf einer „quaternio terminorum“, insofern nicht beachtet wird, dass der Thatbestand, der dem Subjekte in dem sittlichen Urteile ent- spricht, für verschiedene Individuen verschieden sein kann, obgleich er mit demselben Worte bezeichnet wird, und obgleich derselbe Komplex von Veränderungen in der Welt gegeben ist. Es wird nicht in Betracht gezogen, dass weder das Wort, noch der Komplex dieser Veränderungen den fraglichen Thatbestand ausmachen, sondern dass in den verschiedenen Fällen ganz verschiedene Thatbestände gegeben sind und der Natur der Sache nach gegeben sein müssen. Soweit der Thatbestand derselbe ist, wie etwa bei Angehörigen gleicher Gesellschaftsklassen, und soweit der Thatbestand in gleicher Weise dem Menschen entgegengebracht wird, wie z. B. auf der Bühne, wo er, streng umgrenzt, allen in gleicher Weise zum Miterleben aufge- zwungen wird, sind die sittlichen Urteile gegenüber dem Thatbe- stande auch thatsächlich identisch, Wir können also Folgendes fest- stellen: ein und derselbe „subjektive“ ethische Thatbestand bedingt in allen Menschen identische ethische oder Billigungserlebnisse, und wenn alle dieselben objektiven Thatbestände vollständig und in gleicher Weise sich vergegenwärtigten, also in gleicher Weise in subjektive That- bestände verwandelten, so würden ihre sittlichen Urteile gleich ausfallen. Die sittlichen Urteile wären endgiltig, wenn der ganze „objektive ethische Thatbestand überall mit dem subjektiven identisch wäre,

8. Das Problem. Wir sehen also, dass die Thatsache der Verschiedenheit der sittlichen Urteile zurückgeht auf die Thatsache, dass Menschen Verschiedenes kennen und appereipieren, und dass natur-

Kants Bestimmung der Moralität. 405

gemäss nur dieselben „subjektiven‘‘ ethischen Thatbestände in allen Menschen dieselben ethischen Erlebnisse, d. h. dasselbe Gefthl der sittlichen Billigung oder Missbilligung bedingen. Wenn dem aber so ist, so können wir fragen, welches sind die reinen Bedingungen, die das sittliche Erlebnis, nämlich das Gefühl der sittlichen Billigung verursachen, welches sind die Momente an dem subjektiven: That- bestande, von denen dieses ethische Erlebnis eigentlich abhängt ? Berücksichtigen wir, dass das Vorhandensein der Gesamtheit der Momente, die das Gefühl der sittlichen Übereinstimmung bedingen, im Menschen als „Moralität‘ bezeichnet wird, so erscheint die Frage gleichbedeutend mit der Frage: was ist Moralität, welches sind ihre Be- dingungen und Kennzeichen?

9. Kants Formulierung des Problems. Da wir ig Folgenden Kants Lösung des Problems interpretieren wollen, so miissen wir die von uns gegebene Formulierung des Problems mit der Kantischen in Einklang bringen. Wir sagten, es sollen diejenigen Momente am „subjektiven“ Thatbestand gesucht werden, die in allen Menschen das gleiche Gefühl der sittlichen Billigung bedingen. Wenn wir diese Momente ermittelt hätten, so wären offenbar diese Momente Subjekt in einem allgemeingiltigen praktischen (sittlichen) Urteile, denn wir haben oben gesehen, dass das sittliche Urteil eine Urteilsbeziehung zwischen einem Thatbestand und einem Gefühl der sittlichen Billigung oder Missbilligung ausdrückt. Das von uns gestellte Problem kann darum auch lauten: welche praktischen Urteile sind allgemeingiltig? Nun sind aber die fraglichen Urteile zweifellos im Sinne Kants synthetische Urteile, denn der Prädikatsbegriff ergiebt sich nicht aus der Analyse des Subjektsbegriffes. Endlich können allgemeingiltige und notwendige synthetische Urteile nach Kant nie aus der Er- fahrong stammen, sondern müssen a priori sein. Darnach lautet ganz folgerichtig das Kantische Problem: Welches sind die synthetischen praktischen Urteile a priori?

Um nun die Frage, welches die synthetischen praktischen Urteile a priori sind, oder welches diejenigen Momente sind, die unser Billigungserlebnis bedingen, zu beantworten, haben wir eine „Analyse der gemeinen praktischen Erkenntnis“ (IV, 240)') vorzunehmen; wir nehmen dazu sittliche Urteile der „gemeinen Erkenntnis“ und suchen diejenigen Momente oder Verhältnisse von Momenten herauszuschälen, die in allen, also auch in uns jenes Erlebnis hervorrufen. Es

1) Kants Werke. Ed. Hartenstein. Leipzig, 1867.

406 Dr. R. Soloweiezik,

ist das derselbe Weg, den ein Chemiker einschlägt, um zu be- stimmen, von weleben Elementen die Farbe einer Substanz abhängt. Es ist dabei ganz gleichgiltig, ob die sittlichen Urteile, die als Grundlage der Untersuchung genommen sind, auch endgiltig sind, d. h, ob alle Momente des „objektiven“ Thatbestandes in den „sub- jektiven“ übergegangen sind, denn es wird nur gefragt, was ist das Eigentümliche an dem Thatbestande, oder welches sind die Momente an dem Thatbestande, die das Billigungserlebnis hervorgerufen haben?

I. Moralitat. va

1. Moralität und Legalität, Bevor wir zu Kants Lösung des Problems übergehen, haben wir das Problem selbst genauer zu präcisieren, indem wir Zweifaches streng auseinanderhalten. Oben 4) wurde bestimmt, dass der Thatbestand, der unser ethisches Erlebnis, unser Gefühl der Billigung oder Missbilligung bedingen kann, entweder die Folgen der Handlung sind, oder die Gesinnung, aus der die Handlung entsprungen ist. Diese beiden Möglichkeiten des Thatbestandes müssen unterschieden werden, denn dieselbe Handlung kann ein anderes Billigungserlebnis bedingen, je nachdem wir den einen oder den anderen Thatbestand in Betracht ziehen. Eine Handlung kann in ihren Folgen wohlthätig sein, sie kann etwas Gutes schaffen, dann ist die Handlung eventuell für jemand sittlich; vielleicht ist aber die Handlung aus „selbstsüchtiger Absieht“ (IV, 245) geschehen, dann ist dieselbe Handlung eventuell nach jemands Ansicht unsittlich. Noch mehr, es kann Persönlich- keiten geben, denen es „durch eine besondere Ungunst des Schicksals oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmiitterlichen Natur gänzlich an Vermögen fehlt, ihre Absicht durchzusetzen“ (IV, 242); diese Per- sönliehkeiten können sittlich sein, obgleich hier keine Folgen vor- liegen, da nichts vollbracht worden ist. Um nun jede Missdeutung über die Thatbestände, die im einzelnen Falle unser Billigungs- erlebnis bedingen, auszuschliessen, müssen die diesen Erlebnissen ent- sprechenden Prädikate bei den einen und den anderen Thatbeständen verschieden bezeichnet werden. Wir nennen daher eine Handlung legal, pflichtmässig, wenn der Thatbestand, der unser ethisches oder Billigungserlebnis bedingt, die Folgen der Handlung sind. Da- gegen wenn wir auf die Gesinnung unsere Aufmerksamkeit richten und dann ein solches ethisches Erlebnis haben, so nennen wir die Handlung sittlich.

Kants Bestimmung der Moralität. 407

Diese Unterscheidung entscheidet nun zugleich über den Umkreis der Thatbestände, die hier allein untersucht zu werden brauchen. Denn die Frage der Moralität zielt einzig ab auf die Feststellung derjenigen Momente, die unser Gefühl der sittlichen Billigung be- dingen, wenn der Thatbestand die Gesinnung ist. Diese Ein- grenzung wird von Kant sofort im Anfange der Abhandlung gesetzt: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch ausserhalb derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut [d. b. sittlich] könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille“ (IV, 241). Kant gebraucht statt „Wille“ auch die Worte: „Charakter“ oder „Gesinnung“, und die Frage lautet nach ihm, „was ist ein scblechterdings guter Wille (IV, 285), oder in obiger Formulierung, welches sind diejenigen Momente an der Gesinnung, die unser ethisches Erlebnis bedingen?

2. Verhältnis von Moralität und Legalität. Wir sahen, dass nicht jede legale Handlung aus sittlicher Gesinnung entstanden zu sein braucht: es kann etwas in seinen Folgen Gutes auch aus einer wenig sittlichen Gesinnung entspringen. Dennoch besteht zwischen beiden eine Beziehung: wenn wir die äusseren Umstände, die bei Verwirklichung eines Willensentscheides hindernd auftreten können, ausser Betracht lassen, so kann gesagt werden, dass aus einer sitt- lichen Gesinnung immer notwendigerweise legale Willensentscheide entstehen müssen. Sittliche Gesinnung ist eben eine solche, aus der nicht zufällig, sondern notwendigerweise und jederzeit legale Willens- entscheide entstehen. Legalität ist also ein umfassenderer Begriff ‚gegenüber der Moralität, und Moralität schliesst Legalität notwendiger- weise ein. Indem Kant nun bestimmt, dass sittlich eine Persön- liehkeit ist, die nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht handelt, zeigt er demnach diejenigen Momente in der Gesinnung auf, aus welchen die Notwendigkeit des Entstehens legaler Willensent- scheide resultiert. Kant behauptet also, legale Willensentscheide entstehen notwendigerweise, wenn die Persönlichkeit nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht handelt,

Bekanntlich ist die Kantische Bestimmung der Moralität, dass sittlich eine Persönlichkeit sei, die nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht handelt, verschiedenen Missdeutungen und Angriffen ausgesetzt worden. Diese richteten sich in erster Linie gegen die Begriffe der Neigung und der Pflicht, Wir wollen daher diese Begriffe genauer fixieren, indem wir die verschiedenen möglichen Bedeutungen des Begriffes der Neigung und später der Pflicht aufzeigen und dann

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feststellen. welche Bedeutung des Begriffes Kant eigentlich im Auge hat. Daran anschliessend wollen wir untersuchen, ob thatsächlich bei dem festgestellten Sinne des Begriffes der Neigung resp. der Pflicht legale Handlungen notwendigerweise aus einer Persön- liehkeit, die nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht handelt, resultieren, Ist dies der Fall, dann haben wir nach dem vorhin Ausgeführten thatsiichlich diejenigen Momente in der Gesinnung aufgezeigt, von denen die Positivität -des ethischen Erlebens gegenüber der Ge- sinnung, d. h. von denen die sittliche Billigung der Gesinnung abhängt. |

8. Dreifache Bedeutung des Begriffes der Neigung. Die ein- fachste und verbreitetste Deutung ist, dass unter Neigung diejenige Befriedigung zu verstehen ‘ist, die beim Gedanken an die Verwirk- lichung unseres Vorhabens sich bei uns einstellt, und dass nach Kant diese Befriedigung, Freude oder Lust beim sittlichen Handeln sieh nicht vorfinden soll. Aber abgesehen davon, dass wir immer beim Gedanken an die Verwirklichung eines Zieles Befriedigung, wenigstens relative, erleben und erleben müssen, dass also diese Be- friedigung ebenso zum sittlichen wie zum nichtsittlichen (freien) Thun gehört, ist nicht einzusehen, warum es ausgeschlossen sein sollte, dass „Neigung“ in diesem Sinne notwendig legale Handlungen er- zeuge. Wir sahen aber, Neigung im Kantischen Sinne ist allerdings etwas, bei dessen Vorhandensein legale Willensentscheide nieht notwendigerweise resultieren. Die bezeichnete Deutung des Be- griffes der Neigung kann aus beiden Gründen nur dann als der Kantischen Auflassung ‚entsprechend hingestellt werden, wenn andere Deutungen entweder nicht vorhanden sind oder aber nachweisbar Kant nicht zugeschrieben werden können.

In seinem Epigramme gegen Kant spricht Schiller von einer Liebe, einer Neigung zum Freunde. Diese Neigung fällt nieht zu- sammen mit jener Befriedigung, die wir erleben, wenn wir unser Ziel als von uns verwirklicht vorstellen. Jene Befriedigung findet sich ebenso gut vor dann, wenn diese Neigung besteht, wie auch dann, wenn sie nicht besteht. Hier nun ist für uns ein Doppeltes wichtig. Einmal: diese Liebe, Zuneigung zu jemand, beruht auf einer ganz bestimmten Beziehung meiner zu der Person. Ebendarum kann sie sich vorfinden oder auch nicht. Und wenn sie sich vorfindet, so besteht sie eben bei mir nur jener bestimmten Person gegen- über, sie ist bedingt durch eine subjektive Beziehung meiner zu jener Person, die weder alle Personen, die mir, noch alle, die jener

Kants Bestimmung der Moralitit. 409

gleichen, mitamfasst. Und zweitens: Diese Neigung kann be- stehen, braucht aber nicht bestimmend zu wirken. Ich kann etwas für eine Person thun, ganz abgesehen davon, dass ich eine Neigung zu ibr habe, oder umgekehrt, ich kann mich fragen, wie verhielte ich mich, wenn ich eine Neigung zu ihr hätte. D. h. ich kann eine bestehende Neigung bei meiner Überlegung ausschalten, ich kann auch eine nicht bestehende künstlich einführen. Wir müssen also unterscheiden zwischen einer bestehenden und einer bestimmenden Neigung; denn Kant kann entweder meinen, dass man sittlich sein kann, nur wenn Neigungen nicht bestehen, oder nur wenn. Neigungen nicht bestimmen.

Aber noch eine dritte Deutung ist möglich. Wir thun etwas nicht aus Neigung, sondern mit Neigung, gern, frei, froh; hier ist. keine Rede mehr von unseren Beziehungen zu einer Person, sondern von der Art und Weise, wie wir etwas vollbringen. So gewiss wir etwas gern, frei, mit Neigung thun können, so können wir es auch ungern, ohne Neigung thun. Diese Thatsache steht nicht in Wider- spruch mit der vorher erwähnten Thatsache, dass jedes Ziel unseres. Wollens, als verwirklicht vorgestellt, Befriedigung gewährt, denn unter Ziel war hier das Endziel oder der Endzweck verstanden. Die Mittel aber, die wir verwirklichen missen, um zum Endziel zu gelangen, können allerdings an sich betrachtet, unlastvoll sein. Und immer, wenn. wir durch einen Endzweck uns genötigt sehen, die Verwirk- lichung von Mitteln zu erstreben, die im Gegensatz stehen zu dem, was wir an sich, d. h. abgesehen von dem Endzweck, . erstreben würden, so werden die Mittel ungern, ohne Neigung verwirklicht. Stösst dagegen ein solches auf ein Mittel zu einem Endzweck gerichtetes Streben in uns nicht auf Widerspruch, so vollbringen. wir unser Wollen gern, frei, froh, mit Neigung.

Wir haben also drei Arten der „Neigung“ zu unterscheiden: wir nennen sie: 1. bestehende Neigung zu Objekten; 2. bestimmende Neigung zu Objekten; und 3. Neigung zu unserem Willensentscheid. Demgemäss haben wir festzustellen, was meint Kant: bestehen beim sittlichen Handeln keine Neigungen zu Objekten, oder sind diese Neigungen beim sittlichen Handeln nicht bestimmend, oder schliesslich thut man nie etwas gern, mit Neigung, wenn man sittlich ist?

4. Bestehende Neigung zu Objekten und Neigung zum Willens- entscheid. Es ist in den Kantischen Werken nicht eine Stelle auf- zuzeigen, wo Kant die erste oder dritte Deutung vertritt. Kant. sagt vielmehr: Moralische Gesinnung „ist Unabhängigkeit von.

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Neigungen, wenigstens als bestimmenden (wenn gleich nicht als affizierenden) Bewegursachen unseres Begehrens.* (V, 123.)

Und Kant sagt an einer anderen Stelle: „Könnte ein vernünftig Geschöpf jemals dahin kommen, alle moralischen Gesetze völlig gerne zu thun, so würde,es so viel bedeuten, als: es finde sich in ibm auch nicht einmal die Möglichkeit einer Begierde, die es zur Abweichung von ihnen reizte; denn die Überwindung einer solehen kostet dem Subjekt immer Aufopferung, bedarf also Selbstzwang, d. i. innere Nötigung zu dem, was man nicht ganz gern thut, Zu dieser Stufe der moralischen Gesinnung aber kann es ein Geschüpf niemals bringen. Denn da es ein Geschöpf . ... . ist, so kann es niemals von Begierden und Neigungen ganz frei sein, die... .. es jederzeit notwendig machen, . . . . . die Gesinnung seiner Maximen zu gründen auf moralische Nötigung, nieht auf bereitwillige Ergebenheit und Liebe, .. . . gleichwohl aber diese letztere, nämlich die blosse Liebe zum Gesetze .... sich zum beständigen obgleich unerreichbaren Ziele seiner Bestrebungen zu machen“ (V, 88). „Herr Professor Schiller missbilligt in seiner mit Meisterhand verfassten Abhandlung über Anmut und Würde in der Moral diese Vorstellungsart der Verbind- lichkeit, als ob sie eine karthäuserartige Gemütsstimmung bei sich führte; allein ich kann, da wir in den wichtigsten Prinzipien einig sind, auchin diesen keine Uneinigkeit statuieren; wenn wir uns nur untereinander verständlich machen können. Ich gestehe gern, dass ich dem Pfliehtbegriffe, gerade um seiner Würde willen,

keine Anmut beigesellen kann ..... Aber die Tugend, d. i die festgegründete Gesinnung, seine Pflicht genau zu erfüllen, ist in ihren Folgen auch wohlthätig, . ... und das herrliche

Bild der Menschheit, in dieser ihrer Gestalt aufgestellt, verstattet gar wohl die Begleitung der Grazien, die aber, wenn noch von Pflicht allein die Rede ist, sich in ehrerbietiger Entfernung halten. Wird aber auf die anmutigen Folgen gesehen, welche die Tugend, wenn sie überall Eingang fände, in der Welt verbreiten würde, so zieht alsdann die moralisch gerichtete Vernunft die Sinnlichkeit... . mit ins Spiel. Nur nach bezwungenen Un- geheuern wird Hercules Musaget . . . Fragt man nun, welcherlei ist die ästhetische Beschaffenheit, gleichsam das Temperament der Tugend, mutig, mithin fröhlich, oder ängstlich gebeugt und nieder- geschlagen? so ist kaum eine Antwort nötig. Die letztere sklavische Gemütsstimmung kann nie ohne einen verborgenen Hass des Gesetzes

Kants Bestimmung der Moralität. ALL

stattfinden, und das frihliche Herz in Befolgung seiner Pflicht.. . ist Zeichen der Echtheit tugendhafter Gesinnung, selbst in der Frömmigkeit, die nicht in der Selbstpeinigung des reuigen Stinders, . ... sondern im festen Vorsatz, es künftig besser zu machen besteht, der durch den guten Fortgang angefeuert, eine fröhliche Gemütsstimmung bewirken muss, ohne welche man nie gewiss ist, das Gute auch lieb gewonnen zu haben.“ (VI, 117—118.)

Die angeführten Stellen zeigen deutlich Kants Meinung und zwar ersehen wir daraus Folgendes: 1. Ein Mensch kann sich nie von Neigungen befreien. 2. Die Neigungen dürfen nicht bestimmen, wenn sie auch immer als bestehend angenommen werden miissen. 3. Die Tugend, das höchste Ideal (wenn auch nicht erreichbar) besteht darin, dass der Mensch gerne, mit Neigung, frei, froh seine Pflicht erfüllt. Es kommt also nach Kant für die Beurteilung der sittlichen Gesinnung nicht auf die Thatsache an, ob ich zu jemanden Neigung habe; denn Neigungen affieieren alle Menschen, die Menschen können aber trotzdem sittlich sein. Ebensowenig soll ich etwas ungerne thun, vielmehr ist nach Kant das Höchste, seine Pflicht gerne, frei, früblich zu thun. Dagegen kommt es auf den Be- stimmungsgrund an, und der darf keine Neigung sein. Nun haben aber die Beispiele in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ zu solchen Deutungen Veranlassung gegeben, die mit der von uns gewonnenen im Widerspruch stehen. Wir müssen darum auf dieselben genauer eingehen, um zu sehen, ob unsere Deutung die richtige ist; wir werden dabei zugleich zu einer genaueren Präeisierung der Neigung gelangen.

5. Kants Beispiele: Die Wohlthätigkeit. (IV, 246.) „Wohl- thätig sein, wo man kann, ist Pflicht,“ d. b. eine pflichtmässige, legale Handlung. „Überdem giebt es manche so teilnehmend ge. stimmte Seelen, dass sie auch ohne einen anderen Bewegungsgrund der Eitelkeit oder des Eigennutzes, ein inneres Vergnügen daran finden, Freude um sich zu verbreiten, und die sich an der Zufrieden-« heit anderer, sofern sie ihr Werk ist, ergützen können.“ Eine solche Handlung hat aber keinen sittlichen Wert, denn sie ist nicht aus Pflicht, sondern aus Neigung vollbracht. „Gesetzt, das Gemüt jenes Menschenfreundes wäre vom eigenen Gram umwölkt, der alle Teil- nebmung an anderer Schicksal auslöscht, er hätte immer noch Ver- mögen, andern Notleidenden wohlzuthun, aber fremde Not rührte ihn nicht, weil er mit seiner eigenen genug beschäftigt ist, und nun,

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da keine Neigung ihn mehr dazu anreizt, risse er sich doch aus dieser tötlichen Unempfindlichkeit heraus und thäte die Handlung ohne alle Neigung, lediglich aus Pflicht, alsdenn hat sie allererst ihren echten moralischen Wert,“ Durch diesen Satz wird genau der Zustand beschrieben, bei welchem die Neigung verschwunden ist; wir fragen also, welche Neigung muss bei diesem Zustande ver- schwinden, denn Kant sagt ausdrücklich: ,,Nun reizt ihn keine Neigung mehr dazu“,

Wenn ein Mensch von Natur eine Neigung zum Wohlthätigsein hätte, wenn er von Natur gerne Zufriedenheit um sich verbreitete, es wäre ihm aber ein Unglück zugestossen, das jede Teilnehmung am Unglück anderer auslöscht, müsste dann unbedingt (denn Kant sagt: die Neigung ist verschwunden) die Neigung woblthätig zu sein, oder die Neigung, Freude um sich zu verbreiten, verschwinden, könnte er nicht vielmehr erst recht mit Neigung anderen Hilfe leisten? Ändern wir aber die Annahme bezüglich der Neigung: ein Mensch hat immer, wenn er einen Notleidenden sah, Mitleid mit ihm bekommen, eine „Neigung“ hat ihn erfasst, er ist ein Mensch von „gutartigem Temperament“ (ibid.), der sich durch augenblieklichen Eindruck beeinflussen lässt, er kann keine traurigen Gesichter um sich sehen, er hat das Bedürfnis, Personen, die ihm in den Weg kommen, freudig zu machen, und nun wäre ihm ein Unglück zuge- stossen, „das jede Anteilnahme an Anderer Schicksal auslöscht, fremde Not rührt ihn nieht mehr“, dann ist die Neigung zu dem Unglücklichen unbedingt verschwunden, denn „die Not rührt ihn nicht mehr“. Was nun versteht hier Kant unter Neigung anderes, als durch den persönlichen Eindruck, durch momentane Einwirkung entstandene Neigung zu dem Ungliicklichen; es ist nur eine subjektiv bedingte, „sinnlich“ bedingte Beziehung meiner zu einem Menschen, und diese Thatsache, dieser Anblick, diese meine Neigung darf nach Kant mich nicht bestimmen.

Kant sagt im gleichen Sinne weiter: „Wenn die Natur diesem oder jenem tiberhaupt wenig Sympathie ins Herz gelegt hätte, wenn er.... von Temperament kalt und gleichgiltig gegen die Leiden anderer wäre, vielleicht, weil er selbst gegen seine eigenen mit der besonderen Gabe der Geduld und aushaltenden Stärke versehen, dergleichen bei jedem anderen auch voraussetzt oder gar fordert; wenn die Natur einen solchen Mann... . nieht eigentlich zum Menschenfreunde gebildet hätte, würde er dann nicht noch in sich einen Quell finden, sich selbst einen weit höheren

Kants Bestimmung der Moralität. 413

Wert za geben, als der eines gutartigen Temperaments sein mag? Allerdings“, denn er ist wohlthätig nicht aus („gutartiger“) Neigung (zu Personen), sondern aus Pflicht. Wir sehen, Kant versteht auch hier unter Neigung nichts anderes, als eine subjektive Beziehung unser zu einem Objekte. Und diese Neigung kann kein Be- stimmungsgrund unseres Thuns sein, wenn wir sittlich sind.

Hat nun Kant recht mit dieser seiner Behauptung? Ist that- sächlich aus Neigungen handeln nicht sittlich? Wir suchten festzu- stellen, was Moralität sei, wir sahen, dass sittlich eine Persönlichkeit ist, aus der notwendigerweise legale Willensentscheide resultieren, wir fragten, wann resultieren notwendigerweise legale Willensent- scheide? Kant antwortet: Dann, wenn man sich nicht durch subjektive Beziehungen, durch momentanen Eindruck, durch rührende Teilnahme, die beim Anblick eines Unglücklichen entsteht. beeinflussen lässt, kurz, wenn man sich durch Neigungen nicht bestimmen lässt. Es ist aber klar, wenn mich jeder Anblick eines Unglücklichen rührt und wenn jedesmal diese Neigung mich bestimmt, wenn ich immer darnach strebe „Vergnügen um mich zu verbreiten“, mich „an der Freude anderer ergötze‘‘, so werden ebenso gut pflichtmässige wie pflichtwidrige Handlungen entstehen können, denn es kann Fälle geben und giebt genug solcher, wo man sich nicht durch sein „gut- artiges Temperament‘ hinreissen lassen darf, wenn man nicht Pflichtwidriges vollbringen will. Neigung der bezeichneten Art kann also zu pflichtwidrigen Handlungen verleiten, aus solchen Neigungen handeln ist darum nicht sittlich. Denn, wir wiederholen, sittlich ist eine solche Gesinnung, aus der notwendigerweise legale Hand- lungen entstehen, bei „Neigungen“ aber ist es vom Zufall abhängig, ob sie in einem bestimmten Falle zu eingx pflichtmässigen oder zu einer pflichtwidrigen Handlung führen. "

6. Weiteres Beispiel: Erhaltung des eigenen Lebens. (IV, 245.) „Sein Leben zu erhalten ist Pflicht“, d. h. eine legale pflicht- mässige Handlung, „und tiberdem hat jedermann dazu noch eine unmittelbare Neigung“. Ist hier unter Neigung zu verstehen: eine Neigung der Person ihr Leben zu erhalten, oder ist darunter zu ver- stehen eine durch glückliche Umstände berbeigeführte Freude am Leben, Neigung zum Leben? Ist das erste der Fall, so ist für mich immer Grund, dass ich mein Leben erhalte. Ich werde dann also immer pflichtmässig handeln. Ist die Neigung aber nur eine durch glückliches Leben entstandene Neigung, eine zufällige Neigung, eine subjektiv bedingte Wertung eines Gegenstandes, so wird im Falle

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eines Unglücks diese Neigung verschwinden, und ich werde, wenn ich nach meiner Neigung handle, eine pflichtwidrige Handlung be- gehen; denn in diesem Falle ist, wenn die Neigung verschwunden ist, kein Grund mehr vorhanden, mein Leben zu erhalten. Es ge- schieht nun, sagt Kant weiter, dass „Widerwärtigkeiten und hoffnungs- loser Gram den Geschmack am Leben gänzlich weggenommen haben ..... der Unglückliche wiinscht seinen Tod, liebt das Leben nicht mehr und erhält es doch, nieht aus Neigung, sondern aus Pflicht“, alsdann ist er moralisch. Die Neigung, die Kant hier ausschliesst, ist die Neigang zum Leben, d. h. die Neigung zu einem glücklichen Leben, sie ist der Geschmack am Leben; aber nicht die Neigung zu leben, oder die Neigung das Leben zu erhalten,

Es ist mir ein Unglück zugestossen, ich habe keine Freude mehr am Leben, ich erhalte es aber doch. Hier ist klar, dass ich es erhalte, weil ich eine Neigung habe, schlechtweg „mein Leben za erhalten“. Der Sachverhalt ist der, dass durch das Unglück die Neigung, mein Leben zu erhalten, nieht verschwunden ist. Diese ist es vielmehr, die mich jetzt vom Tode zurückhält. Wenn ich aber Glück hatte und darum Freude am Leben, Neigung zum Leben, und nun ist mir ein Unglück zugestossen, dann ist klar, dass diese. meine Freude am Leben, diese durch das frühere Glück bedingte Neigung zum Leben verschwindet, denn ich bin ja eben unglücklich. Wir sehen also, was Kant auch hier unter Neigung versteht: eine zufällige Beziebung meiner zu einem Objekte, eine subjektiv bedingte Wertung eines Gegenstandes.

7. Subjektiv bedingter Wert. Die Untersuchung zeigt uns also deutlich, was unter@Neigung bei Kant zu verstehen ist. Es ist weder die Thatsache, dass das zu Erreiehende, als verwirklicht vor- gestellt, Befriedigung gewährt, es ist ebenso wenig die Thatsache, dass wir etwas gern, frei, froh, mit Neigung thun, sondern unter Neigung versteht Kant eine subjektiv bedingte, durch zufällige sinn- liche Wahrnehmung, durch persönliche Erlebnisse entstandene, für uns giltige Wertung eines Gegenstandes. Diese Wertung besteht, denn es „affieieren“ den Menschen die Gegenstände, gemäss seiner individuellen Beschaffenheit und Lage, aber dieser subjektiv bedingte Wert eines Gegenstandes soll uns nicht bestimmen, denn bestimmt er uns, so können wir durch ihn auch zu pflichtwidrigen Hand- lungen verleitet werden. Wenn man also aus Neigungen handelt,

Kants Bestimmung der Moralität. 415

so können ebenso gut pflichtmässige, wie pflichtwidrige Handlungen entstehen. Sittlich ist aber eine Persönlichkeit, aus der not- wendigerweise legale Handlungen entstehen, also ist aus Neigungen handeln nicht sittlich.

Ich wiederhole: hiermit haben wir einmal den Begriff der Neigung, die Kant ausschliesst, präcisiert: unter Neigung ist eine subjektiv bedingte Wertung eines Objekts zu verstehen. Wir haben aber auch schon ausserdem festgestellt, dass Kant thatsächlich recht hat, wenn er behauptet, dass sittlich eine Persönlichkeit ist, die nicht aus Neigung handelt, da Handlungen aus Neigungen eben- so gut pflichtmässig, wie pflichtwidrig sein können. Dadurch ist die negative Seite der Kantischen Bestimmung vorläufig festgelegt.

Wir haben aber jetzt auch die Frage zu stellen und zwar ganz unabhängig von Kant, wann ist die Persönlichkeit sittlich, oder dasselbe anders ausgedrückt, wann resultieren aus einer Gesinnung notwendigerweise legale Willensentscheide.?

Dazu müssen wir einen Begriff einführen, der, obgleich er bei Kant nicht zu finden ist, doch als der Kantiechen Auffassung zu Grunde liegender sich später legitimieren wird, den wir in jedem Falle zur positiven Bestimmung der Moralität unbedingt nötig haben, nämlich den Begriff des objektiv bedingten Wertes im Gegensatze zum subjektiv bedingten.

8. Objektiv bedingter Wert. Alle Thatsachen, die vorliegen, und alle Zwecke, die ich setze, sind, insofern sie mich zum Handeln bestimmen, Motive meines Thuns, sie werden zu Motiven, indem sie affektiv auf mich wirken, d. h. ein Wertgefühl in mir hervorrufen. Dieses Wertgefühl kann subjektiv bedingt sein, wie wir sahen: durch Anblick, durch Wahrnebmung, durch zeitliche Nähe, durch persönliche Beziehung. Es giebt aber auch einen objektiv bedingten Wert; dieser Wert eines Gegenstandes ist nicht mein zufälliges, durch diese oder jene Umstände bedingtes Fürwerthalten, sondern er ist die ganze in dem Gegenstande selbst liegende, durch seine Natur bedingte Möglichkeit, ein Wertgefühl hervorzurufen; esist der Wert, dessen ich inne werde, wenn ich den Gegenstand mit allem dem, was er in sich schliesst, und so wie er ist, mir im Geiste vergegen- wärtige und ungehindert durch alle „Neigungen“ vollkommen und rein auf mich einwirken lasse.!) Es ist, kurz gesagt, der Wert des

1) Siehe Lipps, Die ethischen Grundfragen. 1899. 8S. 122.

Kants Bestimmung der Moralität. 417

Falle werden die Willensentscheide immer gleich ausfallen. Wäre ein Willensentscheiddurch Neigungen, oderdurcheinesubjektive Wertung eines Gegenstandes bedingt, so würde er in anderen Menschen, die diese Neigung nicht hätten, abgesehen von einzelnen Zufällen, nicht immer notwendig entstehen, ebenso auch nicht bei mir, wenn diese Neigung vorbei ist. Legale Willensentscheide entstehen also not- wendigerweise, wenn alle Motive ihr objektiv bedingtes Wert- gefühl in mir hervorrufen, oder wenn alle Motive ihre objektiv bedingte Motivationskraft ausüben.

Kurz zusammengefasst: Sittlich ist eine Gesinnung, aus der notwendigerweise legale Willensentscheide entstehen; legale Willens- entscheide entstehen notwendigerweise, wenn alle Motive ihre objektiv bedingte Motivationskraft ausüben, sittlich ist also eine Persönlichkeit, in der alle Motive objektiv geordnet oder in rein objektiv bedingter Weise gewertet werden, also im Reiche der Motive denjenigen Platz einnehmen, den sie nach ihrem objektiven Wert einzunehmen haben. Die Sittlichkeit der Gesinnung hängt nicht ab von dem Vorhandensein dieser oder jener Motive (Gegenstände des Begehrungs- vermögens), sondern von der Ordnung der vorhandenen Motive, denn sittlich ist die Gesinnung, in der die Motive objektiv bedingt geordnet sind. Insofern ist das Prinzip der Moralität ein „formales Prinzip“, „ein formelles Prinzip des Wollens“, „Prinzip a priori“, da es nicht abhängig ist von den Gegenständen des Begehrungsvermögens (IV, 248), sondern nur von der Ordnung der Motive.

10. Formel der Moralität, Motive üben ihre Motivationskraft aus und bewirken das Entstehen von Willensentscheidungen. Diese Motivationskraft kann sein eine subjektiv bedingte, durch meine Erlebnisse, Wahrnehmungen, durch meine Neigungen bedingte. Dann wird ein „subjektiver“ Willensentscheid entstehen, den ich mich ge- nötigt sehen kann aufzuheben, wenn diese „subjektiven“ Bedingungen in mir verschwinden, oder der anders ausfallen wird, wenn dieselben Motive in einer andern Person, bei der diese Neigungen nicht vor- handen sind, wirken. Üben aber die Motive ihre objektive Motivations- kraft aus, rufen sie dasjenige Wertgefühl in mir hervor, das sie ihrer Natur nach hervorrufen können, so entstehen objektiv bedingte, endgiltige, gesetzmässige Willensentscheide. Gesetzmässige weil es immer beim Vorhandensein derselben Motive zu demselben Willensentscheide kommen muss. Wenn ich nach vollkommener Überlegung aller objektiver Thatsachen, die irgend für mein Wollen jetzt in Betracht kommen können, zu einem Willensentschlusse ge-

Kantstudien V. 27

418 Dr. R. Soloweiezik,

kommen bin, so muss ich zu demselben Willensentschlusse kommen, wenn ich ein andermal auf Grund derselben objektiven That- sachen einen Entschluss zu fällen habe, mit anderen Worten, mein Willensentschluss ist dann objektiv giltig, wenn ich mich nieht genötigt sehe, unter denselben dafür in Betracht kommenden Umständen ihn anders zu fällen. Nenne ich die Abhängigkeits- beziehung meines Wollens von den gegebenen Umständen meine Maxime, so ist meine Maxime objektiv giltig oder sittlich, wenn ich die Maxime immer aufrecht erhalten kann, oder wenn ich „wollen kann, dass sie ein allgemeines Gesetz oder Natur- gesetz werden soll“. Kann ich immer, wenn ich diese Motive mir vor Augen halte, mein Wollen aufrecht erhalten, oder kann ich wollen, dass meine Maxime allgemeines Gesetz sein soll, dann beweist dies, dass meine Motive objektiv bedingt geordnet sind, „Was ich also zu thun habe, damit mein Wollen gut sei (pflicht- mässig), dazu brauche ich gar keine weitausholende Scharfsinnigkeit. Unerfahren in Ansehung des Weltlaufes, unfähig, auf alle sich er- eignende Vorfälle desselben gefasst zu sein, frage ich mich nur: Kannst du auch wollen, dass deine Maxime ein allgemeines Gesetz werde? Wo nicht, so ist sie verwerflich, und das zwar nieht um eines dir, oder auch Anderen daraus bevorstehenden Nachteils willen, sondern weil sie nicht als Prinzip in eine mögliche allgemeine Gesetz- gebung passen kann“ (IV, 251).

Hiermit sind wir wieder zu Kant zurückgekehrt, wir sind gelangt zu seiner Formel: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“. (IV, 269.) Wir gingen aus von dem Begriffe des objektiven Wertes, im Gegensatze zum subjektiven, durch Neigungen bedingten Werte. Wir sahen, dass pflichtmässige Willensentscheide dann notwendigerweise entstehen, wenn alle Motive ihre objektive Wert- ordnung einhalten, und wir stellten demnach fest, dass sittlich eine Gesinnung ist, in der alle Motive objektiv bedingt geordnet sind, Wir fanden dann weiter, dass man, um sich von der objektiven Ordnung der Motive zu vergewissern, versuchen muss, ob die Maxime sich immer aufrechterhalten lässt, d. h. ob man unter allen Umständen bei Voraussetzung derselben Motive dasselbe wollen kann oder oh man wollen kann, „dass die Maxime allgemeines Gesetz werde*. Dieses von uns gewonnene Mittel, um die objektive Ordnung der Motive festzustellen, fällt nun vollständig zusammen mit der oben eitierten Formel der Moralität bei Kant.

Kants Bestimmung der Moralität. 419

Da aber die ganze Ableitung der Formel bei Kant fehlt, so wollen wir nach seinen für die Erläuterung der Formel eingeführten Beispielen feststellen, ob diese Formel auch thatsächlich Nichts anderes ist, als ein Mittel, um die objektive Ordnung der Motive fest- zustellen. Ist das der Fall, so ist damit der von uns abgeleitete Unterbau der Formel mit dem Begriffe des objektiven Wertes als eine der Kantischen Auffassung zu Grunde liegende Annahme bewiesen, wie auch noch einmal die Deutung der Neigung, als des Gegensatzes zur objektiven Wertung, nämlich als einer subjektiven Wertung bekräftigt.

11. Beispiel Kants: Das Versprechen. (IV, 270.) Jemand „sieht sich durch Not gedrungen, Geld zu borgen. Er weiss wohl, dass er nicht wird bezahlen können, sieht aber auch, dass ihm nichts geliehen werden wird, wenn er nicht festiglich verspricht, es zu einer bestimmten Zeit zu bezahlen“. Ist es erlaubt, sich auf solche Art aus der Not zu helfen? Zunächst müssen wir im allgemeinen betonen, dass, wennichzu einem Willensentscheide kommen will, ich nur diejenigen Momente und Thatsachen in Betracht ziehen darf, die mir gegebensind, und es ist selbstverständlich, dass ich zu einem ganz anderen Willens- entscheide kommen werde, wenn ich mir den Fall ganz künstlich zusammenkonstruiere, und an Thatsachen und Umstände denken werde, die mir nicht gegeben sind, und die zu einem ganz anderen Willensentscheide führen müssen, weil eben der Komplex der Bedingungen für den Willensentscheid ein ganz neuer ist. Wie man sieht, stehen sich in diesem Beispiele zwei Motive gegenüber: ein falsches Versprechen geben, und zweitens, Geld bekommen. Welches von diesen beiden Motiven soll sich unter- ordnen? „Gesetzt, er beschlösse es doch, sich auf solche Art aus der Not zu helfen, so würde seine Maxime der Handlung so lauten: wenn ich mich in Geldnot zu befinden glaube, so will ich Geld borgen und versprechen, es zu bezahlen, ob ich gleich weiss, es werde niemals geschehen“. Er hat es beschlossen, weil er eben in Geldnot war; wenn er aber versuchen will, „die Zumutung der Selbstliebe in ein allgemeines Gesetz zu verwandeln und die Frage so zu stellen: wie es dann stehen würde, wenn seine Maxime ein allgemeines Gesetz würde,‘ würde er zu demselben Willensentscheide kommen? Man sieht: indem er die Frage stellt, ob er wollen könne, dass seine Maxime ein allgemeines Gesetz sein soll, schaltet er die Thatsache aus, dass er in der Notlage ist, er abstrahiert davon, setzt statt seiner einen „Menschen“; er sucht sich zu überzeugen,

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ob er auch daun zu demselben Entscheide komme, wenn er von diesem subjektiven Momente, von dieser Thatsache, dass er der Be- treffende ist, absieht. Kann er innerlich einem solchen Gesetze zu- stimmen, kann er innerlich aufrichtig wollen, dass es so sein soll, dann ist sein Willensentschluss pflichtmässig.

Das Beispiel zeigt klar, was die Formel der Moralität will: indem sie die Frage aufwirft, ob man wollen kann, dass die Maxime ein allgemeines Gesetz werde, fordert sie, dass alle subjektiven Be- dingungen, alle persönlichen Momente und Neigungen ausgeschaltet werden, dass die Lage „sub specie humanitatis“!) beurteilt wird, oder mit anderen Worten, sie fordert, dass die Motive nicht ihre subjektive, durch Neigung bedingte, sondern eine davon unabhängige, also objektiv bedingte Motivationskraft ausüben. Wir sehen also deutlich, dass die Bedingtheit des sittlichen Handelns durch die objektiven Werte eine der Kantischen Formel der Moralität zu Grunde liegende Annahme ist.

Aber freilich, Kant hebt diesen Begriff nicht direkt hervor, und so ist es nicht zu verwundern, wenn er ein Moment einführt, das ganz überflüssig ist; er sagt, die Maxime, dass man Geld borgen kann und versprechen, es zu bezahlen, obgleich man weiss, dass es nie mehr geschehen werde, kann kein Gesetz sein, weil sie einen logischen Widerspruch in sich enthält: „Die Allgemeinheit eines Gesetzes, dass jeder, nachdem er in Not zu sein glaubt, versprechen könne, was ihm einfällt, mit dem Vorsatz, es nicht zu halten, würde das Versprechen und den Zweck, den man damit haben mag, selbst unmöglich machen, indem niemand glauben würde, dass ihm was versprochen sei, sondern über alle solche Äusserung, als eitles Vor- geben, lachen würde“ (IV, 270).

Kant missversteht sich selbst: es handelt sich doch nieht um logische Urteile, sondern um Willensentscheide, und wenn etwas einen logischen Widerspruch enthält, so folgt noch nicht daraus, dass es nieht sittlich ist; denn sittlich ist ein Willensentscheid, der unter denselben objektiven Bedingungen immer gleich ausfallen kann, der also so beschaffen ist, dass man dasselbe, was man früher wollte, auch jetzt wollen kann, Es kommt nicht darauf an, ob es als allgemeines Gesetz gedacht werden kann, sondern ob man, wie Kant selbst sagt, wollen kann, es solle ein solches werden.

1) Lipps, Die ethischen Grundfragen. S. 127.

Kants Bestimmung der Moralität. 421

12. Weiteres Beispiel Kants: der Notleidende. (IV, 271.) „Noch denkt ein Vierter, dem es wohl geht, indessen er sieht, dass andere mit grossen Mühseligkeiten zu kämpfen haben (denen er auch wohl helfen könnte): was geht's mich an? Mag doch ein jeder so glücklich sein, als es der Himmel will oder er sich selbst machen kann, ich werde ihm nichts entziehen, ja nicht einmal be- neiden; nur zu seinem Wohlbefinden oder seinem Beistande in der Not habe ich nicht Lust etwas beizutragen.“ Es ist klar, dass, wenn diese seine Maxime richtig ist, sie auch in jedem Falle stichhaltig sein muss, ganz abgesehen davon, ob ein anderer der Ungliickliche ist, oder er selber; und nun versuche er sich vorzustellen, „dass sich Fälle ereignet haben, wo er anderer Liebe und Teilnehmung bedarf“, würde er dann diese seine Maxime aufrecht erhalten können? Wir sehen wieder, dass es nur darauf ankommt, alle subjektiven Momente, wie auch Momente, die nieht zulassen, dass die Motive ihre objektive Motivationskraft ausüben, auszuschalten, um so zu einem objektiv giltigen Willensentscheide zu gelangen. Nicht an den Egoismus wird hier appelliert, sondern es wird der Thatsache Rechnung getragen, dass fremde Not nie so bestimmend, motivierend wirkt, wie die eigene. Die Thatsache der Not bleibt aber dieselbe, ob ich oder ein anderer unter derselben leide, da aber meine Not viel eher diejenige Motivationskraft ausübt, die ihr zukommt, so wird hier versucht, ob die Maxime sich auch aufrecht erhalten lässt, wenn ich der Betreffende bin. Kant drückt diesen Gedanken nicht ganz deutlich aus: „Ein Wille, der dieses beschlösse, würde sich selbst widerstreiten, indem der Fälle sich doch manche ereignen können, wo er anderer Liebe und Teilnehmung bedarf, und wo er durch ein solches aus seinem eigenen Willen entsprungenes Natur- gesetz sich selbst alle Hoffnungen des Beistandes, den er sich wünscht, rauben würde“ Aber egoistisch wäre die Überlegung, die Kant dem Betreffenden zuschreibt, nur dann, wenn der Betreffende wüsste, dass thatsächlich von dieser seiner Verhaltungsweise das Verhalten anderer Menschen zu ihm abhängt, und, da er kein solches Verhalten sich gegenüber wünscht, auch den Anderen gegenüber sich anders zu verhalten beschlösse. Aber in Wirklichkeit stellt er sich nur vor, ob er seine Maxime aufrecht erhalten könnte, wenn er der Betreffende wäre? Da er sie dann nicht aufrecht erhalten kann, so beweist dies, dass sein Willensentscheid nicht objektiv giltig ist, und dass seine Motive nicht die objektiv bedingte Motivationskraft ausgeübt haben.

422 Dr. R. Soloweiczik,

Dass diese Deutung des Beispieles die allein zulässige ist, er- hellt aus folgender Stelle (V, 73): „Die Regel der Urteilskraft unter Gesetzen der reinen praktischen Vernunft ist diese: Frage dich selbst, ob die Handlung, die du vorhast, wenn sie nach einem Gesetze der Natur, von der du selbst ein Teil wärest, geschehen sollte, sie du wohl, als durch deinen Willen möglich, ansehen könntest? Nach dieser Regel beurteilt in der That jedermann Handlungen, ob sie sittlieb gut oder böse sind. So sagt man: wie, wenn ein jeder, wo er seinen Vorteil zu schaflen glaubt, sich erlaubte, zu betrügen, oder befugt hielte, sich das Leben abzukürzen, sobald ihn ein völliger Überdruss desselben befüllt, oder Anderer Not mit völliger Gleich- giltigkeit ansähe, und du gehürst mit zu einer solchen Ordnung der Dinge, würdest du darin wohl mit Einstimmung deines Willens sein? Nun weiss ein jeder wohl, dass, wenn er sich ins- geheim Betrug erlaubt, darum eben nicht jedermann es auch thue, oder wenn er unbemerkt lieblos ist, nicht so- fort auch jedermann gegen ihn es sein würde, daher ist diese Vergleichung der Maxime seiner Handlung mit einem allgemeinen Naturgesetze auch nicht der Be- stimmungsgrund seines Willens,

Aber das Letztere ist doch ein Typus der Beurteilung der Ersteren nach sittlichen Prinzipien.“ Wenn auch Kant seinen Gedanken nicht ganz deutlich formuliert, so sehen wir doch, was eigentlich diese ganze Formel der Moralität will. Sie ist ein „Typus der Beurteilung“ von Maximen nach sittlichen Prinzipien, d. h. sie ist nichts weiter als ein Mittel, um festzustellen, ob die Maxime sittlich sei, in unserer Sprache, ob der Willensentscheid ob- jektiv giltig oder legal sei. Dies wird erreicht, indem man ver- sucht, ob bei Anwendung der Formel der Willensentscheid aufrecht erhalten werden kann,

Wenn aber das riehtig ist, so folgt daraus, dass die Be- urteilung nach diesem „Typus“ sittliche Willensentscheide ergiebt. Die Beurteilung gemäss der Formel bewirkt, dass „Neigungen“ ver- schwinden und keine subjektive Wertung bestimmend ist. Da aber doch Willensentscheide entstehen, und zwar objektiv giltige, so muss eine andere Wertung. nämlich eine solche, die nicht durch Nei- gungen bestimmt wird, also eine objektiv bedingte bestehen.

Wird so der Begriff des objektiv bedingten Wertes implieite der Formel der Moralität als zu Grunde liegend gedacht, so ist der ganze Gedankengang klar und zusammenhängend. Es bestehen

Kants Bestimmung der Moralität. 423

zwei Wertungen: eine subjektive und eine objektive. Die letztere Wertung nämlich die objektive kann, wenn sie durch Nei- gungen beeinträchtigt ist, dadurch zu ihrem Rechte gelangen, dass man versucht, die Formel der Moralität anzuwenden. Die Formel der Moralität ist also nur ein Mittel, um die objektive Ordnung der Motive festzustellen. Diese ganze Untersuehung über dieFormel derMoralität zeigt uns zugleichvon neuem die Bedeutung der Neigung bei Kant, nämlich als einer subjektiven Wertung, und die Stellung, die sie bei der Bestimmung der Moralität einnimmt. Sie bekräftigt uns das gleiche bereits früher gewonnene Resultat. Wir sehen aber auch zugleich die in der Formel implicite liegende positive Bestimmung der Moralität und den Sinn und die Bedeutung der Formel,

13. Der „sinnliche“ Mensch und das „vernünftige“ Wesen. Das bis jetzt gewonnene können wir folgendermassen fixieren. Jeder Mensch, so wie er ist, ist „geneigt“, sein Interesse zu richten auf dasjenige, was ihn persönlich angeht, oder was ihm zeitlich oder räumlich näher steht. Auch „Neigungen“ zu Personen bestimmen ihn, manches zu thun, was er anderen gegenüber nicht thäte. Auch Kurzsichtigkeit, Enge des Geistes, Stumpfheit, Trägheit, Gewohnheit bedingen verschiedene Neigungen im Menschen. So entstehen sub- jektiv bedingte, durch „Neigungen“, durch die „Sinnlichkeit“ bedingte Willensentscheide, Willensentscheide des „sinnlichen“, des „empirischen“ Menschen. Der Mensch kann aber von allen seinen subjektiven Neigungen, von seinen durch die Sinnlichkeit bedingten Interessen abstrahieren und die Thatsachen nach ihrem objektiven Werte be- urteilen; der Mensch kann auch überall, wo er durch Trägheit oder durch Stumpfheit fremde Erlebnisse nicht genügend stark mit- erlebt, sich dieselben deutlich vorstellen und miterleben, wenn er diese fremden Erlebnisse, als ob sie die seinen wären, betrachtet. Durch dieses Abstrahieren von seinen Neigungen, durch diesen Ver- such, seine Maxime als ein allgemeines Gesetz zu denken, bringt er es dahin, dass die Motive ihre objektive Motivationskraft ausüben, und dass auf diesem Wege objektiv giltige, notwendig legale, oder sittliche Willensentscheide entstehen. Insofern alle Thatsachen der Welt einen objektiven Wert haben können, und unter gewissen Be- dingungen auch thatsächlich haben, insofern also für den Menschen eine objektive Wertordnung der Thatsachen der Welt existiert, in- sofern ist der Mensch ein vernünftiges Wesen. Es kann freilich Fälle geben, wo der Mensch trotz seines Bemühens von allen sub-

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jektiven Bedingungen und Neigungen zu abstrahieren, zu keinem Entscheide kommen kann, wo die Thatsachen ihn einerseits zu einem, andererseits zum entgegengesetzten Entschlusse treiben, aber ganz Analoges liegt auch auf dem theoretischen Gebiete vor. Auch hier scheinen öfter die Thatsachen, trotz des grössten Bemtihens objektiv zu denken, auf das eine wie auf das andere zu weisen. Wir zweifeln aber doch nicht, dass alle Bewusstseinsobjekte ihre logische Moti- vationskraft haben.

In solchen Fällen müssen wir auf dem praktischen Gebiete ebenso handeln, wie auf dem logischen, d. h. „nach bestem Wissen und Gewissen“ entscheiden.

Hiermit wäre der Begriff der Neigung fixiert. Neigung ist die subjektiv bedingte Wertung eines Gegenstandes, eine subjektiv be- dingte Beziehung meiner zu einem Bewusstseinsobjekte. Dem gegen- tiber steht die objektiv bedingte Wertung “eines Gegenstandes, das- jenige Wertgefühl meiner gegenüber einem Bewusstseinsobjekte, das einzig und allein durch die volle in der Natur des Objektes liegende Möglichkeit, das Gefühl zu beeinflussen, bedingt ist. Thatsachen können also ebenso eine subjektive, wie auch ihre objektive Moti- vationskraft ausüben. Ist das erstere der Fall, bestimmen demnach Neigungen, so können nur zufällig legale oder objektiv giltige Willensentscheide entstehen; trifft das zweite zu, dann entstehen not- wendigerweise legale Willensentscheide. Wir sahen aber, dass sittlich eine Gesinnung ist, aus der nicht zufällig, sondern notwendigerweise pflichtmässige, d. h. objektiv giltige Willensentscheide entstehen, es musste demnach auch bestimmt werden, dass sittlich eine Gesinnung ist, in der alle Thatsachen ihre objektiv bedingte Motivordnung ein- nehmen, und dass, wo dieselbe nicht besteht, durch die Anwendung der Formel der Moralität dieselbe bewirkt werden kann. Die Sittliebkeit der Gesinnung ist abhängig nicht von diesem oder jenem „Gegenstande des Begehrungsvermögens“, sondern einzig und allein „von dem formellen Prinzip des Wollens“, d.h. sittlich ist eine Gesinnung, in der alle Motive objektiv geordnet sind, und nicht die Gesinnung, in der diese oder jene Motive vorhanden sind.

II. Bewusstsein des Sollens.

1. Vorbemerkung. Das bis jetzt gewonnene Resultat, dass sittlich eine Gesinnung sei, in der nicht Neigungen, sondern objek- tive Wertungen bestimmend wirken, zeigt nicht, was eigentlich der zweite Begriff, nämlich der der Pflicht bei Kant soll, denn man

Kants Bestimmung der Moralität. 425

kann doch nicht ohne weiteres die Pflicht mit der objektiven Wertung identifizieren. Wir müssen vielmehr, um diesen Begriff fixieren zu können, auf den Gegensatz der hypothetischen und kategorischen Imperative bei Kant eingehen. Erst wenn wir den Sinn dieser Be- griffe festgestellt haben, wird uns auch die Bedeutung des Begriffes der Pflicht klar werden.

Auch hier, beim Begriffe der Pflicht, werden wir auf eine Mehrdeutigkeit seines Sinnes stossen, eine Mehrdeutigkeit, die wieder zu verschiedenen Angriffen und Missdeutungen Veranlassung gegeben hat, die aber nach Fixierung dieses Begriffes nur so weit als be- rechtigt anzuerkennen sein werden, als sie gegen die thatsäch- liehe Bedeutung, die Kant bei diesem Begriffe im Auge hat, ge- richtet sind, resp. gerichtet sein können.

2. Objektivitätsgefühl. (IV, 260.) „Ein jedes Ding der Natur wirkt nach Gesetzen“, z.B. gewisse Stoffe, wenn sie in den menschlichen Körper eingeführt werden, verursachen das Sinken der Temperatur des menschlichen Körpers. „Nur ein vernünftiges Wesen hat das Vermögen, nach der Vorstellung der Gesetze, d. i. nach Prinzipien zu handeln, oder einen Willen.“ Indem der Mensch von diesem gesetzmässigen Zusammenhange Kenntnis hat, kann er den Willens- entschluss fällen, diese Stoffe einzunehmen, um auf diesem Wege das Sinken der Temperatur zu erreichen. Während in der Natur also das Verhältnis von Ursache und Wirkung besteht, verwandelt sich bei einem willensbegabten Wesen dieses Verhältnis in die Be- ziehung zwischen Mittel und Zweck. „Da zur Ableitung der Hand- lungen von Gesetzen Vernunft erfordert wird, so ist der Wille nichts anderes, als praktische Vernunft.“ Wenn ein Mensch zur Erreichung eines Zweckes sich entscheidet, diejenigen Mittel anzuwenden, die ihm nach seiner Kenntnis des gesetzmässigen Zusammenhanges der Natur als im Verhältnisse von Ursache (Mittel) und Wirkung (Zweck) stehend bekannt sind, so ist ein soleher Willensentscheid ein objek- tiver, weil er auf Grund der Kenntnis der objektiven Wirklichkeit entstanden ist, und ein solcher objektiver Willensentschluss ist immer begleitet von dem Gefühle des „Richtighandelns“, des ,.Recht- handelns“, der „Objektivität.“

3. Die Gesetzmässigkeit. Ein Willensentscheid ist objektiv und ist begleitet von einem Gefühl der Objektivität, wenn zwischen dem zu Bewirkenden oder dem Mittel, das angewendet werden soll, und dem Zweck, der dadurch erreicht werden soll, ein gesetz- mässiger Zusammenhang, d, h. ein Verhältnis von Ursache und

426 Dr. R Soloweiczik,

Wirkung besteht, Der Arzt, der sich entschliesst, unter bestimmten Umständen eine Operation auszuführen, lässt sich leiten durch seine Kenntnis der Wirkung der Operation bei diesen gegebenen Verhält- nissen; der gesetzmässige Zusammenhang lautet: jedesmal, wenn diese Umstände vorliegen, so bedingt diese bestimmte Operation diese bestimmten Folgen, d. h. der Betreffende wird gesund, und da der Arzt die Herstellung der Gesundheit bezweckt, so fasst er den Entschluss, die Operation auszuführen. Ein objektiver Willens- entscheid besteht also dann, wenn alle Thatsachen betrachtet werden in Beziehung auf den Wert, den sie mit Bezug auf den bestimmten Zweck haben, oder anders ausgedrückt, wenn alle Thatsachen sich ordnen nach jener Ordnung, die sie auf Grund der Kenntnis der Gesetzmässigkeit der Natur mit Bezug auf einen ganz be- stimmten Zweck haben.

4. Passivitätsgefühl. Ein Willensentscheid ist objektiv giltig und ist begleitet von einem Gefühle der Objektivität, wenn er auf Grund der Kenntnis des gesetzmässigen Zusammenhanges der Dinge gefällt ist. „Bestimmt aber die Vernunft für sich allein den Willen nicht hinlänglich, ist dieser noch subjektiven Bedingungen unter- worfen, die nicht immer mit den objektiven übereinstimmen“ (IV, 261), so entstehen zwei Willensentscheide, ein objektiver und ein sub- jektiver. Wenn ich z. B,, um meine Gesundheit herzustellen, auf Grund meiner Kenntnisse der objektiven Thatsachen und ihres ge- setzmässigen Zusammenhanges zum Entscheid mich genötigt sehe, gewisse Medikamente einzunehmen, so ist dieser Willensentscheid ein objektiver, weil ich durch nichts als durch diejenigen That- sachen und ihren gesetzmässigen Zusammenhang, die bei diesem von mir gesetzten Zwecke in Betracht kommen, mich bestimmen lasse, Es ist mir aber bekannt, dass diese Medikamente einen schlechten Geschmack haben. Wenn ich mich nun durch diese Thatsache, die doch in keinem gesetzmässigen Zusammenhänge mit meinem Zwecke steht, da sie nicht als ein Mittel zur Erreichung meines Zweckes dient, bestimmen lasse und davon nicht abstrahiere oder abstrahieren kann, so entsteht der entgegengesetzte subjektive Willensentscheid, Stehen ein objektiver und ein subjektiver Willensentscheid einander gegenüber, so nimmt der objektive Willensentscheid den Charakter des nötigenden gegenüber dem subjektiven Willensentscheide an, oder es entsteht das Gefühl der Passivität dem objektiven Willens- entscheide gegenüber. Wenn also zwei Willensentscheide sich gegen- über stehen, von welchen einer mit dem Gefühle der Objektivität,

Kants Bestimmung der Moralität. 427

der andere mit dem Gefühle der Subjektivität verbunden ist, so entsteht das Gefühl der Passivität, oder Nötigung. „Ist der Wille nicht an sich völlig der Vernunft gemäss (wie es bei Menschen wirklich ist), so sind die Handlungen, die objektiv als notwendig erkannt werden, subjektiv zufällig, und die Bestimmung eines solchen Willens, objek- tiven Gesetzen gemäss, ist Nötigung, d. i. das Verhältnis der objek- tiven Gesetze zu einem nicht durchaus guten Willen wird vorgestellt als die Bestimmung des Willens eines vernünftigen Wesens zwar durch Gründe der Vernunft, denen aber dieser Wille seiner Natur nach nicht notwendig folgsam ist.“ (1V, 261.)

5. Hypothetischer Imperativ. „Die Vorstellung eines objek- tiven Prinzips, sofern es für einen Willen nötigend ist, heisst ein Gebot (der Vernunft) und die Formel des Gebotes heisst Imperativ. Alle Imperative werden durch ein Sollen ausgedrückt, und zeigen dadurch das Verhältnis eines objektiven Gesetzes der Vernunft zu einem Willen an, der seiner subjektiven Beschaffenheit nach dadurch nicht notwendig bestimmt wird (eine Nétigung).“ (IV, 261.) Ein Kaufmann, der sich als Zweck gesetzt hat, Geld zu verdienen, sieht sich zum Entschlusse genötigt, wenn er alle Thatsachen, die vor- liegen, in ihrer Bedeutung, die sie für Erreichung seines Zweckes haben, sich vergegenwärtigt, eine Reise zu unternehmen; dieser Ent- schluss ist ein objektiver, weil er die Thatsachen in ihrem Werte zur Erreichung seines Zweckes in Betracht gezogen hat. Nun lockt ibn aber Faulheit, den gefassten Entschluss nicht auszuführen, er beschliesst seiner Faulheit nachzugeben und zu Hause zu bleiben. Dieser Entschluss wäre ein subjektiver, weil er die Thatsachen und ihren gesetzmässigen Zusammenhang nicht mit Bezug auf den Zweck, den er vorhat, betrachtet, d. h. weil er die Thatsachen ein- ordnet nicht nach ihrem Werte in Bezug auf seinen Zweck, sondern nach demjenigen Werte, den sie ganz abgesehen von seinem Zweck jetzt und unter gegebenen Verhältnissen für ihn haben. Dann stehen zwei Willensentscheide einander gegenüber: ein objektiver und ein subjektiver. Der objektive Willensentscheid nimmt in diesem Falle den Charakter des Nötigenden, des Seinsollenden an; „die Reise sollte ich eigentlich unternehmen“, sagt sich der Kaufmann, „aber ich möchte zu Hause bleiben“. Dies Bewusstsein des Sollens ist das Passivitätsgefübl, das entsteht, wenn einem objektiven ein subjektiver Willensentscheid gegenüber steht. Objektive Willens- entscheide, indem sie den Charakter des Seinsollenden annehmen, treten in Form von Vorschriften, Imperativen auf. „Du sollst dies

428 Dr. R. Soloweiezik,

und jenes thun, wenn du gesund sein willst.“ Dieser Imperativ stellt vor ein objektives Prinzip (d. h. ein solches, das auf Grund der Gesetzmässigkeit der Natur entstanden ist), das für einen Menschen nötigend ist, weil der Mensch den Zweck will. (IV 263.) „Ob der Zweck vernünftig und gut sei, davon ist hier gar nicht die Frage, sondern nur, was man thun müsse, um ihn zu erreichen. Die Vor- schriften für den Arzt, um seinen Mann auf gründliche Art gesund zu machen, und für einen Giftmischer, um ihn sicher zu töten, sind insofern vom gleichen Wert, als eine jede dazu dient, ihre Absicht vollkommen zu bewirken.“ Die Imperative stellen also „die praktische Notwendigkeit einer möglichen Handlang als Mittel zu etwas anderem, was man will oder doch möglich ist, dass man es wolle, zu gelangen vor.“ Weil die Imperative nan sagen, dass die Handlungen gut seien zu irgend einer möglichen oder wirklichen Absicht, so sind sie hypo- thetisch. Die Imperative sind hypotbetisch, „weil die Ratgebung zwar Notwendigkeit enthält, dieselbe aber bloss unter subjek- tiver zufälliger Bedingung, ob dieser oder jener Mensch dieses oder jenes erstrebe, gelten kann.“ Der Kaufman soll die Reise machen, weil er Geld verdienen will, will er es aber nicht, so ver- schwindet für ihn die Notwendigkeit, diese Reise auszuführen. Auch die Medizin soll man nehmen, wenn und weil man gesund sein will. Will man es aber nicht, so hat die Vorschrift nichts Nötigendes mehr, der Imperativ verschwindet; er war nur hypothetisch. Insofern also ein von uns gesetzter Endzweck da ist, der auf Grund der Gesetzmässigkeit der Natur uns nötigt, einen Willensentscheid zu fällen, ist der Imperativ hypothetisch und der objektive Willens- entscheid ist nur hypothetisch objektiv.

5. Die Nötigung. (IV, 265.) „Nun entsteht die Frage: wie sind . . . diese Imperative möglich? Diese Frage verlangt nicht zu wissen, wie die Vollziehung der Handlung, welche der Imperativ gebietet, sondern wie bloss die Nötigung des Willens, die der Imperativ in der Aufgabe ausdrückt, gedacht werden könne.“ Es stehen einander zwei Willensentscheide gegenüber, der eine der »meinige“, den ich „möchte“, der andere der „objektive“, der nötigende, den ich „soll“, aber „nicht möchte“. Wie kommt es dazu, dass wir uns genötigt sehen, nicht dasjenige auszuführen, was wir mögen, sondern dasjenige ausführen können, was wir nicht „mögen“, aber „sollen“.

Wie ein soleher Imperativ möglich ist, „bedarf wohl keiner be- sonderen Erörterung. Wer den Zweck will, will (sofern die Vernunft

Kants Bestimmung der Moralität. 429

auf seine Handlungen entscheidenden Einfluss hat) auch das dazu unentbehrlich notwendige Mittel, das in seiner Gewalt ist. Dieser Satz ist, was das Wollen betrifft, analytisch; denn in dem Wollen eines Objektes, als einer Wirkung, wird schon meine Kausalität, als handelnder Ursache, d. i. der Gebrauch der Mittel, gedacht, und der Imperativ zieht den Begriff notwendiger Handlungen zu diesem Zwecke schon aus dem Begriff eines Wollens dieses Zweckes heraus; (die Mittel selbst zu einer vorgesetzten Absicht zu bestimmen, dazu ge- hören allerdings synthetische Sätze, die aber nicht den Grund be- treffen, den Actus des Willens, sondern das Objekt wirklich zu machen). Dass, um eine Linie nach einem sicheren Prinzip in zwei gleiche Teile zu teilen, ich aus den Enden derselben zwei Kreuz- bogen machen müsse, das lehrt die Mathematik freilich nur durch synthetische Sätze; aber dass, wenn ich weiss, durch solehe Handlung allein könne die gedachte Wirkung geschehen, ich, wenn ich die Wirkung vollständig will, auch die Handlung wolle, die dazu er- forderlich ist, ist ein analytischer Satz; denn etwas als eine auf ge- wisse Art durch mich mögliche Wirkung, und mich, in Ansehung ihrer auf dieselbe Art handelnd vorstellen, ist ganz einerlei.“

Kant sagt, im Wollen des Zweckes liegt nicht nur das Streben, dass Etwas sei, sondern der Entschluss Etwas zu verwirklichen, d. h. nichts anderes als alle nötigen Mittel anzuwenden, die den Zweck auch thatsächlich verwirklichen können. Das Wollen von Etwas ist nicht der Wunsch, dass Etwas sein möge, sondern der Entschluss, die Mittel zur Verwirklichung von Etwas anzuwenden. Im Begriffe des Wollens von Etwas liegt also das Wollen von Mitteln mit eingeschlossen, also der Begriff des Wollens der Mittel ergiebt sich analytisch aus dem Begriffe des Wollens des Zweekes; insofern ist der Satz, wer den Zweck will, will auch die dazu nötigen Mittel ein analytischer Satz. Wenn ich z. B. gesund sein will, so heisst das, nach Kant, nichts anderes, als: ich will alle notwendigen Mittel anwenden, um gesund zu sein. Will man aber das Wollen weiter fassen, nicht als den Entschluss, etwas zu verwirklichen, sondern als das Streben, dass Etwas sei, dann liegt in diesem Wollen das Wollen der Mittel nicht eingeschlossen; hier wäre das Nötigende der gesetzmässige Zusammenhang der Wirklichkeit. Will ich also gesund sein, und fasse ich das Wollen im engeren Sinne, dann besagt dieses mein Wollen: ich will alle notwendigen Mittel anwenden, um gesund zu sein (analytischer Satz). Will ich gesund sein, und fasse ich das Wollen im weiteren Sinne als das

430 Dr. R. Soloweiezik,

Streben gesund zu sein oder als: ich möchte gesund sein, dann nötigt mich der gesetzmässige Zusammenhang der Wirklichkeit; die Erfahrung lehrt nämlich, dass diese Medikamente die Gesundheit herstellen, und da ich gesund sein will, so muss ich diese Medikamente nehmen,

Hiermit haben wir wenigstens kurz angedeutet, was unter hypothetischem Imperativ zu verstehen sei. Fälle ich einen Willens- entscheid, Etwas zu thun, was im gesetzmässigen Zusammenhang steht mit meinem Zwecke, d. h, was notwendigerweise meinen Zweek verwirklicht, so ist ein soleher Willensentscheid objektiv und ist be- gleitet von dem Gefühle der Objektivität; tritt dem gegenüber ein subjektiver Willensentscheid, d. h. ein solcher, der nicht ein Mittel zur Verwirklichung meines Zweckes sein kann und dabei der Ver- wirklichung der Mittel hinderlich ist, so entsteht das Bewusstsein des Sollens, indem der objektive Willensentscheid den Charakter des nötigenden, des imperativistischen annimmt. Der Imperativ ist nur hypothetisch, weil der Endzweck ein solcher ist, den ich wollen und auch nicht wollen kann. Die Nötigung, die in diesem Imperative vorhanden ist, kann auf zweifache Weise erklärt werden. Fasst man das Wollen im engeren Sinne, dann nötigt uns unser eigenes Wollen (die Vernunft), fasst man das Wollen im weiteren Sinne, dann nötigt uns beim Vorhandensein eines Zweckes der gesetz- mässige Zusammenhang der Wirklichkeit. Wie wir auch dies Entstehen der Nötigung uns erklären wollen, jedenfalls liegt eine Notwendigkeitsbeziehung vor, die als nötigend auftritt, wenn ein subjektiver Willensentscheid dem objektiven entgegentritt, die aber ebensogut besteht, wenn das nicht der Fall ist, und dann dasjenige ist, was das Bewusstsein der Objektivität bedingt.

7. Pflichtbewusstsein als Objektivitätsbewusstsein. Hypothetische objektive Willensentscheide, die begleitet sind von einem Gefühle der Objektivität, beruhen auf der Gesetzmässigkeit der Natur. Nun giebt es sittliche objektive Willensentscheide; dieselben entstehen, wie wir gesehen haben, wenn alle Motive ihre objektiv bedingte Motivationskraft ausüben, d. h. wenn der Mensch sich nicht durch Neigungen, durch den subjektiv bedingten Wert eines Objektes, sondern durch den objektiv bedingten Wert bestimmen lässt. Solche Willensentscheide sind nicht hypothetisch, sondern kategorisch und endgiltig, denn sie behalten ihre Objektivität unter allen Umständen und nicht nur unter der Bedingung, dass der Endzweek aufrecht er- halten wird, wie es beim hypothetischen Willensentscheide der Fall

Kants Bestimmung der Moralität. 431

ist. Auch solche kategorischen Willensentscheide sind begleitet von dem Gefühle „des Rechthandelns“, des „Richtighandelns‘“, der „Ob- jektivität“, welches in diesem Falle das Gefühl der Pflicht, oder das Pflichtbewusstsein genannt wird. Das Pflichtbewusstsein entsteht also immer, wenn Motive ihre objektiv bedingte Motivationskraft ausüben, oder wenn der Willensentscheid kategorisch ist.

8. Pflichtbewusstsein als Passivitätsbewusstsein. Ebenso wie einem hypothetischen objektiven Willensentscheide ein subjektiver gegenüber stehen kann, ebenso kann bei einem Wesen, bei dem Neigungen vorhanden sind, wo also die Motive nicht ihre objektiv bedingte Motivationskraft haben, sondern erst dieselbe durch eine Abstraktion von den Neigungen bewirkt werden kann, und wo die- selbe sich erst als eine solche ausweist, wenn die Maxime als all- gemeines Gesetz gedacht werden kann, bei einem solchen Wesen kann auch einem objektiven kategorischen Willensentscheid ein subjektiver Willensentscheid gegenübertreten. (IV, 260.) Wenn also die Vernunft den Willen nicht hinlänglich bestimmt und dieser noch subjektiven Bedingungen unterworfen ist, die nicht immer mit den objektiven übereinstimmen, so ist die Bestimmung eines solchen Willens objektiven Gesetzen gemäss Nötigung. Die Vorstellung eines objektiven Prinzips heisst ein Gebot und die Formel des Gebotes Imperativ, der durch ein Sollen ausgedrückt wird. Dieser Imperativ ist kategorisch, weil er (IV, 262) „eine Handlung als für sich selbst ohne Beziehung auf einen anderen Zweck objektiv notwendig vorstellt.“ Wo sich nun zwei Willens- entscheide gegenüber stehen, ein kategorisch objektiver (wo also das Gefühl der Objektivität oder Pflichtbewusstsein besteht) und ein subjektiver aus Neigungen entstandener (mit dem Gefühl der Sub- jektivität verbundener), wo, anders ausgedrückt, einem „Sollen“ ein „Mögen“ gegenübersteht, da ist der objektive Willensentscheid der nötigende und es entsteht das Gefühl der Passivität, was in diesem Falle auch ein Pflichtbewusstsein ist, aber nicht das blosse Bewusst- sein der Objektivität, sondern das Bewusstsein durch etwas Objektives genötigt zu sein.

9. Drei Deutungen des Begriffes der Pflicht. Drei Deutungen des Begriffes der Pflicht haben sich für uns ergeben: 1. verstehen wir unter Pflicht eine pflichtmässige Handlung : „es ist die Pflicht des Menschen, sein Leben zu erhalten.“ Damit wird gesagt, dass sein Leben erhalten eine pflichtmässige oder legale Handlung ist. 2. verstehen wir unter Pflicht das Pflichtbewusstsein, das Bewusst-

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sein der Objektivität. „Ich erfülle die Pflicht, weil es meine Pflieht ist.“ D. h. ich erfülle eine pflichtmässige Handlung, weil ich das Bewusstsein habe, dass so zu handeln recht, richtig ist. Dies be- sagt, dass der Betreffende das Bewusstsein der Objektivität oder des ,Richtighandelns“ hat, Auch die schönste unter den „schönen Seelen“ hat dies Bewusstsein, wenn unter der „schönen Seele* eine solche verstanden wird, die notwendigerweise legale oder objektiv giltige Handlungen vollbringt; wo aber objektiv giltige Willensent- scheide entstehen, da ist auch das Gefübl der Objektivität oder Pflichtbewusstsein in diesem Sinne vorhanden,

„Ein vollkommen guter Wille würde also ebensogut unter ob- jektiven Gesetzen stehen, aber nicht dadurch als zu gesetz- mässigen Handlungen genötigt vorgestellt werden können, weil er von selbst, nach seiner subjektiven Beschaffenheit, nur durch die Vorstellung des Guten bestimmt werden kann. Daher gelten für einen göttlichen und überhaupt für einen heiligen Willen keine Imperative, das Sollen ist hier am unrechten Ort, weil das Wollen schon von selbst mit dem -Gesetze notwendig einstimmig ist.“ (IV, 261.) Es bleibt aber auch hier das Gefühl der Objektivität (Pflichtbewusstsein) bestehen, weil ein solcher Wille unter objektivem Gesetze steht.

„Zu dieser Stufe... kann es aber ein Geschöpf niemals bringen, denn da es ein Geschöpf ist, ....so kann es niemals von Be- gierden und Neigungen ganz frei sein, die....es jederzeit notwendig machen, . . . die Gesinnung seiner Maximen zu gründen auf moralische Nötigung, nicht auf bereitwillige Ergebenheit . .. und Liebe... ., gleichwohl aber diese letztere, nämlich die blosse Liebe zum Gesetze.... sich zum beständigen, obgleich unerreich- baren Ziele seiner Bestrebung zu machen.“ (V., 88.) Wenn also Kant das wirkliche Vorkommen einer „schönen Seele“ leugnet, so nennt er eine solche, falls sie vorkommen sollte, nicht nur sittlich, sondern stellt das Erreichen eines solchen Zustandes als ein Ideal hin, Aber auch in einzelnen Fällen, wo objektiven Willens- entscheiden subjektive nicht gegenüberstehen, ist das Pfliehtbewusst- sein oder das Gefühl der Objektivität vorhanden, weil alle Motive objektiv geordnet sind oder weil der Willensentscheid objektiv ist. Aber im Menschen bestehen nun einmal, wie Kant richtig hervor- hebt, Neigungen und Begierden, daher gelten für den Menschen Imperative, denn „Imperative sind Formen, das Verhältnis objektiver Gesetze des Wollens überhaupt zu der subjektiven Unvollkommenheit

Kants Bestimmung der Moralitit. 433

des Willens dieses oder jenes vernünftigen Wesens, z. B. des mensch- lichen Willens, auszudrücken.“ Das Verhältnis objektiver Gesetze zu einem subjektiv bedingten Willen ist aber Nötigung, und so ent- steht bei einem Menschen das Gefühl der Nötigung oder Passivität, was den dritten Sinn des Begriffes der Pflicht ausmacht. In diesem Sinne wäre Pflicht sich genötigt sehen etwas zu thun, etwas ungern, ohne Neigung thun. Hier sehen wir deutlich die Begriffe „aus Neigung“ thun und „mit Neigung“ thun heraustreten. Aus Neigung thun -— ist einen subjektiven Willensentscheid ausführen. mit Neigung thun ist einen Willensentscheid ausführen, dem kein subjektiver Willensentscheid entgegentritt wo also keine Nötigung besteht, also Pflicht im dritten Sinne nicht besteht, wohl aber Pflicht im zweiten Sinne. Man kann also seine Pflicht (d. h. eine pflicht- mässige Handlung) thun aus Pflicht (d. bh. sodass das Bewusstsein der Objektivität besteht) aber doch mit Neigung (d. h. sodass das Be- wusstsein der Passivität fehlt).

10. Die subjektive Triebfeder. Wenn diese Unterscheidung hinsichtlich des Begriffes der Pflicht festgehalten wird, so können wir den Standpunkt Kants folgendermassen fixieren. Es ist nicht so, als ob Kant der Meinung wäre, dass Pflicht im dritten Sinne, also im Sinne der Nötigung bestehen muss, wenn die Persönlichkeit für ihn sittlich sein soll. -— Vielmehr sagt er, dass das höchste, wenn auch nicht erreichbare Ziel des Menschen sein muss, dass diese Nötigung, also Pflicht im dritten Sinne verschwinden muss. Kants Rigorismus besteht lediglich darin, dass er im Gegensatz zu anderen das Vorhandensein „schöner Seelen“ leugnet. Besteht aber eine solche, oder sind beim einzelnen Willensentscheide keine subjektiven Neigungen vorhanden, dann wird die Nötigung auch für Kant nicht notwendig sein, und die Persönlichkeit wird auch für ihn sittlich sein, wenn nämlich alle Motive objektiv bedingt geordnet sein werden, denn sittlich ist eine Persönlichkeit, in der alle Motive objektiv geordnet sind. Ist das aber der Fall, ist die subjektive Beschaffen- heit eine solche, dass alle Motive objektiv geordnet sind, ist, anders ausgedrückt, jemand eine „schöne Seele“, so kann man doch auch hier von Pflicht sprechen, und man kann Handlungen einer solchen Person Handlungen aus Pflicht nennen, denn auch hier besteht das Pflichtbewusstsein; man muss sich aber darüber klar sein, dass unter Pflicht hier nicht das Bewusstsein der Passivität, der Nötigung. sondern das Bewusstsein der Objektivität zu verstehen ist. Da aber für Kant „Neigungen“ den Menschen ‚afficieren“, so treten

Kantstudien V. 28

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objektiven Willensentscheiden, d. h. solchen, die aus objektiver Ord- nung der Motive entstanden sind, subjektive, oder aus Neigung entstandene gegenüber, mit anderen Worten, einem Sollen tritt ein Mögen gegenüber, d. h. es entsteht die Nötigung, oder Pflieht im dritten Sinne. Wenn also die Vernunft volle Gewalt über das Be- gehrungsvermögen hat, so ist von Nötigung gar keine Rede, und bei einer Persönlichkeit, bei der ihrer objektiven Beschaffenheit nach die Motive notwendig objektiv geordnet sind, miissen die Willens- entscheide pfliehtmässig ausfallen.

Da nun beim Menschen die Motive nicht notwendig objektiv geordnet sind, und bei ihm objektiven Willensentscheiden subjektive gegenübertreten können, so wird es sich fragen, worin die subjektive Triebfeder bei ihm bestehen muss, damit notwendigerweise legale Willensentscheide bez. die objektive Ordnung der Motive entstehen sollen, oder anders ausgedrückt, worauf beim Menschen die Nötigung für den objektiven Willensentscheid beruht. Wir haben gesehen, worin die Notwendigkeit besteht, wenn der Willensentschluss hypothe- tisch ist: wer den Zweck will, muss auch die dazu notwendigen Mittel wollen. „Das ist ein analytischer Satz.“ „Dagegen wie der Imperativ der Sittlichkeit möglich sei, ist ohne Zweifel die einzige einer Auflösung bedürftige Frage; da er gar nicht hypothetisch ist, und also die objektiv vorgestellte Notwendigkeit sich auf keine Voraussetzungen stützen kann, wie bei den hypothetischen Imperativen* (IV, 267). Ich soll Medizin nehmen, weil ich gesund werden will; waram soll ich aber nicht lügen, wenn die Wahrheit zu sagen mir unangenehm ist? Wenn wir also bestimmt haben, worin die Sitt- lichkeit der Gesinnung besteht, nämlich in der Ordnung der Motive, so haben wir den „objektiven Grund des Wollens“, aber nieht die subjektive ,Triebfeder‘ des Begehrens angegeben. „Wenn unter Triebfeder der subjektive Bestimmungsgrund des Willens eines Wesens verstanden wird, dessen Vernunft nieht schon vermöge seiner Natur dem objektiven Gesetze notwendig gemäss ist“ (V, 76), so lautet die Frage: worin besteht diese Triebfeder bei den Menschen. Wie kommt es, dass der Mensch sich für die objektive Ordnung der Motive entscheiden kann an Stelle der subjektiven. Was treibt ihn, dasjenige, was Pflicht ist (im Sinne der Objektivität), zu erfüllen, was nötigt ihn dazu, worin besteht die Notwendigkeit?

Kant nun antwortet, die subjektive Triebfeder ist die Pflicht, wobei die Pflicht die Notwendigkeit einer Handlung aus Ach- tung fürs Gesetz ist (IV, 248). Wir sahen im Anfange unserer

Kants Bestimmung der Moralität. 485

Abhandlung, dass sittlich für Kant eine Handlung ist, die nicht aus Neigung, sondern aus Pflicht vollbracht ist. Wir bestimmten die Neigung als die subjektive Wertung, und bestimmten als sittlich eine Persönlichkeit, in der alle Wertungen objektiv giltig sind. Da aber für Kant im Menschen die objektiv bedingten Wertungen nicht schon seiner subjektiven Natur nach notwendig vorhanden sind, sondern erst durch Überlegung, resp. Anwendung der Formel der Moralität hergestellt werden, so stellte Kant als den Gegensatz zur Neigung nicht die objektive Wertung auf, sondern diejenige Trieb- feder, die zur objektiven Wertung nötigt, nämlich die Pflicht, d. h. die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz.

11. Die Notwendigkeitsbeziehung. Wir fragten, worin die Triebfeder für den objektiven Willensentscheid besteht, oder, anders ausgedrückt, worauf sich die Nötigung gründet. Wir sahen die Antwort Kants beim hypothetischen Imperativ: die Nötigung besteht, weil im Wollen des Zweckes das. Wollen der Mittel notwendig ein- geschlossen ist. Die Notwendigkeit des Wollens der Mittel nötigt nun nur dann, wenn dem objektiven hypothetischen Willensentscheid ein subjektiver gegenübertritt, sie liegt aber thatsächlich vor, auch wenn jene Nötigung nicht vorhanden ist. In diesem Falle bedingt diese Notwendigkeit das Bewusstsein der Objektivität.

Nun sagt Kant, dass beim kategorischen Imperativ die Pflicht die Triebfeder sei, und er bestimmt dieselbe als die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz. Die Nötigung bestebt also, weil eine Notwendigkeitsbeziehung vorliegt zwischen einer pflichtmässigen Handlung und der Achtung fürs Gesetz. Obgleich wir noch nicht wissen, welcher Art die Notwendigkeitsbeziehung ist, noch was unter Achtung fürs Gesetz zu verstehen ist, so sehen wir doch, dass auch beim kategorischen Imperativ die Nötigung sich auf eine Notwendigkeitsbeziehung gründet. Es wird sich also auch hier so verhalten, dass die Notwendigkeitsbeziehung thatsächlich vor- handen ist, wenn auch kein Gefühl der Nötigung besteht, denn letzteres entsteht nur dann, wenn ein subjektiver Willensentscheid einem objektiven gegenüber tritt. -- Die Notwendigkeit muss be- stehen, wenn sie auch nicht als nötigend auftritt, d. h. wenn das Pflichtbewusstsein im zweiten Sinne, im Sinne der Objektivität besteht, denn sie kann als nötigend nur auftreten, wenn sie thatsächlich auch schon früher vorlag, aber da kein subjektiver Willensentscheid entgegentrat, als nötigend nicht auftreten konnte. Die Pflicht oder die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz

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liegt objektiv vor, ganz gleich, ob Pflichtbewusstsein im zweiten oder im dritten Sinne vorhanden ist; sie ist aber auch dasjenige, was das Pflicht- hewusstsein im zweiten Sinne bedingt, indem wir das Bewusstsein des Rechthandelns, des Richtighandelns haben, denn dieses Bewusstsein besteht ja in der Einsicht, dass etwas objektiv richtiges, notwendiges in dem Willensentscheid vorliegt. Diese Notwendigkeitsbeziehung ist also dasjenige, was das Pflichtbewusstsein als das Bewusstsein der Objekti- vität bedingt, ebenso wie sie Pfliehtbewusstsein als Bewusstsein der Passivität bedingt, indem der Charakter des Nötigenden dann auftritt, wenn ein subjektiver Willensentscheid vorhanden ist. Wir sehen also, was hier unter Pflicht zu verstehen ist: es ist weder eine pflichtmässige Handlung, noch das Bewusstsein des Rechthandelns oder der Nötigung, sondern ist dasjenige, was wie dem Bewusstsein des Rechthandelns ebenso dem Bewusstsein der Passivität zu Grunde liegt, und ist die subjektive Triebfeder für den objektiven Willens- entscheid, 4

12. Gesetz und Achtung fürs Gesetz. Was Kant unter dem Gesetze, d. h. dem Sittengesetze versteht, haben wir ermittelt: es ist die objektive, nur durch die Motive bedingte und nicht die subjek- tive, durch die Neigungen bedingte Ordnung derselben. „Nun soll eine Handlung aus Pflieht den Einfluss der Neigung und mithin jeden Gegenstand des Willens ganz absondern, also bleibt nichts für den Willen übrig, was ihn bestimmen könnte, als objektiv das Gesetz und subjektiv seine Achtung fürs praktische Gesetz“ (IV, 248). Da aber das Gesetz die objektive Motivordnung ist, so bestimmt also nach Kant objektiv die objektive Motivordnung, und subjektiv die Achtung vor derselben. Da aber dasjenige, was mich bestimmt, Motiv ist, so ist also das Gesetz, d. h. die objektive Ordnung der Motive nicht nur Grund des sittlichen Handelns, d. h. dasjenige, bei dessen Vorhandensein pflichtmiissige Willensentscheide entstehen, sondern auch Motiv für dieselbe sich zu entscheiden, und da Motiv und Zweck nach unserer Bestimmung dasselbe ist, wenn auch von verschiedenen Seiten gesehen, so ist das Gesetz oder die objektive Ordnung der Motive nicht nur Grund, sondern auch Zweck des sittlichen Handelns, Dieser Zweck ist bestimmend, ist also Motiv, d. h. dieser Zweck ruft ein Wertgefühl in uns hervor. Dieses Wert- gefühl dem Gesetze gegenüber ist die Achtung fürs Gesetz. Wenn wir die Pficht als Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz bezeichnet haben, so können wir sie dahin präeisieren, dass es eine Notwendigkeitsbeziehung ist zwischen einer pflichtmässigen

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Kants Bestimmung der Moralität. 437

Handlung und dem Wertgefühl gegenüber der objektiven Ordnung der Motive, oder deutlicher ausgedrückt, zwischen dem Wollen dieser pflichtmässigen Handlung und dem Wollen der objektiven Ordnung der Motive besteht eine Notwendigkeitsheziehung. Dieselbe ist nötigend, sie kann es aber nur darum sein, weil das Wollen der objektiven Ordnung der Motive da ist, diese letztere besteht aber, indem Achtung vor dem Gesetze besteht, d. h. ein Wertgefühl gegen- über der objektiven Ordnung der Motive. Wir haben dieses Wert- gefühl gegenüber der objektiven Ordnung der Motive, oder die Achtung fürs Gesetz jetzt zu bestimmen.

13. Die Gesetzmässigkeit des Geistes. Es besteht ein Gesetz der Gesetzmässigkeit des Denkens, oder der Konsequenz des Denkens, welches besagt: „In unserem Denken verhält es sich so, dass unter gleichen Voraussetzungen Gleiches gedacht werden muss, oder aus Gleichem ergiebt sich für das Denken Gleiches, oder gleiche Gründe haben für das Bewusstsein gleiche Folgen.“ ')

Ein solches Gesetz gilt aber nicht nur auf dem theoretischen Gebiete, sondern auch auf dem praktischen, auf dem des Wollens, Entscheidens. Wenn die Motive eines Wollens nicht ihre objektive, sondern ihre subjektive Motivationskraft ausgeübt haben, und ein subjektiver Willensentscheid ausgeführt wurde, so ereignet es sich, dass wo dieselben objektiven Thatsachen wieder vorliegen, aber die subjektiven Momente verschwunden sind, oder wo eine Über- legung nochmals nach der vollzogenen Handlung stattfindet und die subjektiv bedingte Wertung verschwunden ist, weil die Handlung bereits vollzogen ist, und die „Neigung“ befriedigt wurde, dann ereignet es sich, dass trotz derselben objektiven Thatsachen der Mensch einen anderen Willensentscheid fällen muss. Wenn ich nun einen Willensentscheid fälle, der anders ausfällt, als er früher bei denselben objektiven Thatsachen ausgefallen ist, so bleibt es nicht dabei, dass eben eine Verschiedenheit des Entschliessens ob- jektiv vorliegt, sondern auch subjektiv, persönlich fühlen wir einen Widerspruch, eine Verneinung unserer selbst, eine Demiitigung, etwas unsere Selbstachtung verletzendes. Das Gesetz der Gesetzmässigkeit besagt also auf dem praktischen Gebiete: Da, wo dieselben ob- jektiven Thatsachen vorliegen, muss auch derselbe Willensent- scheid gefällt werden, wenn nicht das Gefühl des inneren Wider- spruches entstehen soll. Es tritt aber nicht immer ein, dass, wo dieselben objektiven Thatsachen vorliegen, auch derselbe Willens-

1) Lipps, Grundztige der Logik. S. 149.

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entschluss gefällt wird, denn die objektiven Thatsachen können ihre subjektive Motivationskraft ausüben, diese subjektive Motivationskraft kann unter anderen Umständen wieder verschwinden, und so kann es sich thatsächlich ergeben, dass wir trotz derselben objektiven Thatsachen verschiedene Willensentscheide fällen. Psychologisch betrachtet ist in beiden Fällen ein gesetzmässiges Verhalten da: im ersten Falle veranlasste der eine Komplex von Bedingungen den ersten Willensentscheid, im zweiten ist es ein anderer Komplex von Bedingungen, wodurch ein anderer Willensentscheid bedingt ist. Aber nicht darum handelt es sich, sondern lediglich um die objektiven Thatsachen, die mich, den den Willensentscheid fällenden, be- stimmen; diese Thatsachen bleiben für mich bei meiner Über- legung dieselben, und wenn ich trotzdem einen andern Willens- entscheid fälle, weil Neigungen mich dazu treiben, so verstosse ich gegen das Gesetz der Gesetzmässigkeit, das sich mir kund giebt in einem Gefühle der Selbsterniedrigung, der Selbstmissachtung. (Ge- naueres siehe bei Lipps, Die ethischen Grundfragen, Vortrag 5 und 6.) Das Gegenteil derselben ist die Achtung, von der Kant redet. Die Achtung vor dem Gesetz oder das Wertgefühl ihm gegenüber ist nicht die Achtung vor einem abstrakten Gesetze, sondern Achtung vor dem ureigensten Gesetze unseres „Ich“, es ist Achtung vor der „Vernunft“ in uns, es ist letzten Grandes Selbstachtung. Das Gesetz ist „nichts Minderes, als was den Menschen über sich selbst (als einen Teil der Sinnenwelt) erhebt, was ihn an eine Ordnung der Dinge knüpft, die nur der Verstand denken kann, und die zugleich die ganze Sinnenwelt.... unter sich hat. Es ist nichts anderes, als die Persönlichkeit, d. i. die Freiheit und Unabhängigkeit von dem Mechanismus der ganzen Natur, doch zugleich als ein Ver- mögen eines Wesens betrachtet, welches eigentümlichen, nämlich von seiner eigenen Vernunft gegebenen reinen praktischen Gesetzen, die Person also, als zur Sinnenwelt gehörig, ihrer eigenen Persönlichkeit unterworfen ist, sofern sie zugleich zur intelligiblen Welt gehört“ (V, 91). :

14. „Menschheit“ im Menschen. Die Achtung vor dem Gesetz ist nichts anderes, als die Achtung vor der Gesetzmässigkeit des Geistes, und insofern ein Verstossen gegen diese Gesetzmässigkeit das Negieren der eigenen Persönlichkeit in sich schliesst, Achtung vor der Persönlichkeit, Selbstachtung. „Achtung geht jeder- zeit nur auf Personen, niemals auf Sachen. Die letzteren können Neigung, und wenn es Tiere sind, .... sogar Liebe oder auch Furcht,

Kants Bestimmung der Moralität. 439

wie das Meer, ein Vulkan, ein Raubtier, niemals aber Achtung in uns erwecken .... Ein Mensch kann mir auch ein Gegenstand der Liebe, der Furcht oder der Bewunderung, sogar bis zum Erstaunen, und doch darum kein Gegenstand der Achtung sein. Seine scherz- hafte Laune, sein Mut und Stärke, seine Macht durch seinen Rang, den er unter anderen hat, können mir dergleichen Empfindungen einflössen, es fehlt aber immer noch an innerer Achtung gegen ihn. Fontenelle sagt: Vor einem Vornehmen bücke ich mich, aber mein Geist bückt sich nicht. Ich kann hinzusetzen: vor einem niedrigen, bürgerlich-gemeinen Mann, an dem ich eine Rechtschaffenheit des Charakters in einem gewissen Masse, als ich mir von mir selbst nicht bewusst bin, wahrnehme, bückt sich mein Geist, ich mag wollen oder nicht, und den Kopf noch so hoch tragen, um ihn meinen Vorrang nicht übersehen zu lassen. Warum das? Sein Beispiel hält mir ein Gesetz vor, das meinen Eigendünkel niederschlägt, wenn ich es mit meinem Verhalten vergleiche, und dessen Befolgung, mit- hin die Thunlichkeit desselben, ich durch die That bewiesen vor mir sehe. .... Achtung ist ein Tribut, den wir dem Verdienste nicht verweigern können, wir mögen allenfalls äusserlich damit zu- rückhalten, so können wir doch nicht verhüten, sie innerlich zu empfinden‘ (V, 81/2). „Diese Achtung erweckende Idee der Persönlich- keit ist selbst der gemeinsten Menschenvernunft natürlich und leicht bemerklich. Hat nicht jeder, auch nur mittelmässig ehrliche Mann bisweilen gefunden, dass er eine sonst unschädliche Lüge, dadurch er sich entweder selbst aus einem verdriesslichen Handel ziehen, oder wohl gar einem geliebten oder verdienstvollen Freunde Nutzen schaffen konnte, bloss darum unterliess, um sich insgeheim in seinen eigenen Augen nicht verachten zu dürfen? Hält nicht einen rechtschaffenen Mann im grössten Unglücke des Lebens, das er vermeiden konnte, wenn er sich nur hätte über die Pflicht wegsetzen können, noch das Bewusstsein aufrecht, dass er die Menschheit in seiner Person doch in ihrer Würde erhalten und geehrt habe, dass er sich nicht vor sich selbst zu schämen und den inneren Anblick der Selbstprüfung zu scheuen Ursache habe?“ (V, 92). „Die Menschheit im Menschen“ seine „Vernunft“, oder ‚die Gesetzmässigkeit‘‘ seines Geistes sind dasjenige, was ihm Achtung gebietet, und diese Achtung vor dem Gesetze, vor „der Menscheit im Menschen‘, dies ist die Triebfeder, die den Menschen nötigt, für den objektiven sittlichen Willensentscheid gegentiber dem subjektiven sich zu entschliessen.

15. Die Persönlichkeit. Wir können also jetzt die subjektive

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Triebfeder genau bestimmen. Wir saben, dass die subjektive Triebfeder die Notwendigkeitsbeziehung zwischen der pflichtmässigen Handlung und der Achtung fürs Gesetz ist. Wir ermittelten dann, dass die Achtung fürs Gesetz nichts anderes ist, als das Wertgetühl gegenüber der objektiven Ordnung der Motive. Diese objektive Ordnung der Motive ist also Motiv. oder die subjektive Triebfeder, denn eine Notwendigkeitsbeziehung kann nur dann nötigend sein, wenn das Endglied der Kette Motiv ist. Wir fragten dann, wieso kann die objektive Ordnung der Motive Motiv sein. oder wieso kann man die Pflicht „um der Pflicht willen- oder „um des Gesetzes willen- thun? Und da ergab sich für uns die Thatsache. “dass um des Gesetzes willen etwas thun. nichts anderes bedeutet, als etwas thon. um die Selbstachtung bewahren zu können, etwas than aus Achtung vor der ..Menscbheit- im Menschen, d. h. vor demjenigen. was den Menschen ausmacht. Die Achtung vor dem Gesetze ist also nichts anderes. als Achtung vor der Persönlich- keit. oder Bewusstsein von Persönlichkeitswert.

Hier sind wir zu einem Grundpfeiler der Kantischen Ethik ge- langt. wie wir bald genauer sehen werden.

Wir wollen aber zuerst noch die Notwendigkeitsbeziehung be- stimmen, die zwischen der pflichtmässigen Handlung and der Selbet- achtung besteht. Es ist nicht die Beziehung von Mittel und Zweck, denn die Verwirklichung der Mittel (das pflichtmässige Handeln) be- dingt nicht das Entstehen des Zweckes (der Selbstachtung) als einer Wirkung, vielmehr wird durch das Vollbringen einer pflichtmässigen Handlung die Selbstachtung aufrecht erhalten, wie umgekehrt das Nichtverwirklichen einer solchen Handlung das Verschwinden der Selbstachtang zur Folge hat Weil aber diese Beziehung keine Beziehung von Mittel und Zweck ist, so ist der objektive sittlieke Willensentscheid kategorisch. Will man aber die Beziehung doeh eine Beziehung von Mittel und Zweck nennen, so bleibt der Willens- entscheid kategorisch. weil die Persönlichkeit ein absoluter, d.h. ein unbedingter und notwendiger Zweck. und nicht wie beim hypothe- tischen Willensentschluss ein nur möglicher oder wirklicher ist Was das bedeutet. haben wir jetzt zu bestimmen.

16. Absoluter Zweck. Beim hypothetischen Sollen war die Gesetzmässigkeit der Natur und der Zweck, der gesetzt war. das jenige. was den Menschen nôtigte. für den objektiven Willensentscheid sich zu entschliessen. Beim kategorischen Sollen ist es die Gesets- mässigkeit unseres Geistes und die Achtung vor der „Menschheit im

Kants Bestimmung der Moralität. 441

Menschen“, vor der „Persönlichkeit“, die uns nötigt, für den objek- tiven Willensentscheid uns zu entschliessen. Diesen Gedanken kann man auch folgendermassen ausdrücken: beim hypothetischen Sollen ist ein Zweck, der jetzt Wert hat, das Nötigende, beim kategorischen Sollen ist es ein Zweck, dessen Dasein an sich selbst einen absoluten Wert hat, was als Zweck an sich selbst der Grund eines mög- lichen kategorischen Imperativs ist. Ein solcher Zweck an sich selbst oder absoluter Zweck ist die „Menschheit im Menschen‘ oder die Persönlichkeit, d. h. das Positive, das Gute, das Sittliche in ihr. Dass dem so ist, dass das Sittliche im Menschen oder die Mensch- heit im Menschen der absolute Zweck ist, muss hier als eine Behaup- tung hingestellt werden. Dieselbe würde aber als eine unzweifelhafte psychologische Thatsache dastehen, wenn wir untersuchen wollten. was jeder Mensch als das absolut Wertvolle setzt. Dann wtirde sich herausstellen, dass jeder Nützlichkeitswert oder Glückswert nur relativ sei, und dass ‚ein unparteiischer Zuschauer sogar am Anblicke eines ununterbrochenen Wohlergehens eines Wesens, das kein Zug eines reinen und guten Willens ziert, nimmermehr ein Wohlgefallen baben kann, und so der gute Wille die unerlässliche Bedingung der Würdig- keit glücklich zu sein, auszumachen scheint“ (IV, 241). Alle Glücks- oder Lustwerte sind bedingt durch die Wtirdigkeit der Person. sie haben einen „Marktpreis“ oder „Affektionspreis“, nur der Zweek an sich selbst das Sittliche hat keinen „relativen Wert, d. h. einen Preis, sondern einen inneren Wert, d. h. Würde“ (IV, 283).

Wir sind jetzt an der Wurzel des Gegensatzes zwischen Neigung und Pflicht: es ist der Gegensatz zwischen den Objektswerten und Persönlichkeitswerten. Die Objektswerte. d. b. die Werte, die Objekte für uns haben, sind nicht die sittlichen Werte. sondern sind alle ins- gesamt relativ und abhängig von den Persönlichkeitswerten, die allein sittliche Werte sind. ‚Nur die Sittlichkeit und die Menschheit, sofern sie derselben fähig ist. ist dasjenige, was allein Würde hat~ (IV. 283). Weil dem so ist, so kann das Sittengesetz lauten statt: Ordne all Motive objektiv bedingt ein: setze das höchste Motiv oder den abs- luten Zweek an die höchste Stelle, oder handle so. dass du di Aehtung vor dir. vor der Menschheit in dir bewahrst. oder „handle so. dass du die Menschheit, sowohl in deiner Person als in der Per- son eines jeden anderen, jederzeit zugleich als Zweck. niemals bloss als Mittel brauchst“ ıIV. 277).

Indem Kant diese zweite Formel aafstellt. gerät er nicht in Wider- spruch mit seiner ersten; „die Forderung. dass die Achtang und

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sonst nichts unser Wollen bestimme, ist die Forderung, dass die sitt- liche Persönlichkeit uns überall als das absolut Wertvolle vorschwebe und leite. So ist es denn auch durchaus berechtigt, wenn Kant schliesslich dem obersten Gesetze einen sehr bestimmten Inhalt gibt. Darin liegt keine Inkonsequenz, sonderneine notwendige Konsequenz'‘.') „Die vernünftige Natur nimmt sich dadurch von den tibrigen aus, dass sie ihr selbst einen Zweck setzt. Dieser würde die Materie eines jeden guten Willens sein. Da aber in der Idee eines ohne einschränkende Bedingung (der Erreichung dieses oder jenes Zweckes) schlechterdings guten Willens durchaus von allem zu bewirkenden Zwecke abstrahiert werden muss, so wird der Zweck hier nicht als ein zu bewirkender, sondern selbständiger Zweck, mithin nur negativ gedacht werden müssen. d. i. dem niemals zu- wider gehandelt... . werden muss .... Das Prinzip: handle in Beziehung auf jedes vernünftige Wesen (auf dich selbst und andere) so, dass es in deiner Maxime zugleich als Zweck an sich selbst gelte. ist demnach mit dem Grundsatze: handle nach einer Maxime, die ihre eigene allgemeine Giltigkeit für jedes vernünftige Wesen zugleich in sich enthält, im Grunde einerlei. Denn dass ich meine Maxime im Gebrauche der Mittel zu jedem Zwecke auf die Bedingung ihrer Allgemeingiltigkeit. als eines Gesetzes für jedes Subjekt ein- schränken soll, sagt eben so viel, als: Das Subjekt der Zwecke, d. i. das vernünftige Wesen selbst muss niemals bloss als Mittel. sondern als oberste einschränkende Bedingung im Gebrauche aller Mittel, d. i. jederzeit zugleich als Zweck, allen Maximen der Hand- lungen zum Grunde gelegt werden“ (IV, 285/6).

17. Schlussbemerkung. Der Gedankengang dieser Abhandlung war folgender: wir suchten zuerst die Problemstellung zu fixieren. indem wir sagten. dass die Frage lautet: Welches sind diejenigen Momente am Thatbestande, die das Subjekt im sittlichen Urteile ausmachen, von welchen unsere sittliche Billigung abhängt? Wir bestimmten ferner, dass der Thatbestand ein zweifacher sein kann, und stellten dann fest, dass Kant die Momente in der Ge- sinnung bestimmen will. Wir führten dann die Bestimmung Kants ein und gingen über zu ihrer Fixierung. Wir unterschieden dabei die verschiedenen möglichen Bedeutungen des Begriffes der Neigung und bestimmten dieselbe nach längerer Untersuchung als die subjektiv bedingte Wertung. Wenn auch nicht zu verkennen ist, dass in manchen Beispielen Kant als den Gegensatz zur subjektiven Wertung die logische Widerspruchslosigkeit aufstellte, also intellek- tualistisch den Gegensatz bestimmte, so sahen wir, dass es auch für Kant

1, Lipps, Ethische Grundfragen, S. 159.

Kants Bestimmung der Moralität. 443

klar ist, dass diese Bestimmung nicht durchführbar sei. Er stellte darum neben der Unmöglichkeit „zu denken“ die Unmöglichkeit „zu wollen“ als den Gegensatz zur Neigung auf. Inden wir die intel- lektualistische Auffassung abwiesen, führten wir die Unmöglichkeit „zu wollen“ auf ihre psychologische Basis zurück, indem wir als den Gegensatz zur Neigung, der subjektiven Wertung, die objektive Wertung setzten, und fanden demnach die Sittlichkeit der Gesinnung in einer objektiven Ordnnng der Motive. Hiermit stellten wir das „for- male Prinzip“ Kants fest. Zugleich ergab sich für uns der Sinn und die Bedeutung der Formel der Moralität.

Wir sahen dann weiter, dass zwei Willensentscheide zugleich möglich sind: ein aus subjektiver und ein anderer aus objektiver Wertung entstandener. Falls nun nicht beide ausführbar sind, so bedingt das Bestehen beider das Entstehen des Bewusstseins der Nötigung oder der Pflicht. Wir kamen so zum Begriffe der Pflicht und unterschieden drei mögliche Bedeutungen desselben. Wir stell- ten dabei fest, wiees mit dem „Rigorismus“ Kants bestellt sei, und gingen dann über zu der Frage Kants, worauf das Bewusstsein der Nötigung beruht, und führten Kants Bestimmung der Pflicht ein. Bei weiterer Untersuchung ergab sich, dass Pflicht unmittelbar und Bewusstsein der Nötigung mittelbar letzten Grundes auf dem Werte der Persönlichkeit als dem absoluten Werte basiere. Und so kamen wir zu dem Ergebnisse, dass die sittliche Persönlichkeit das Sittliche sei, in zweifacher Weise: dass nämlich die Sittlichkeit der Persön- lichkeit (die objektive Ordnung) Grund des sittlichen Handelns sei, dass aber die Sittlichkeit der Persönlichkeit auch Zweck und zwar absoluter Zweck sei. Der Gegensatz zwischen Neigung und Pflicht zeigte in seiner Wurzel den Gegensatz zwischen Objektswerten und Persönlichkeitswerten, wobei die letzteren als die sittlichen Werte von Kant bestimmt wurden.

Wenn es auch nicht zu verkennen ist, dass die Kritik der Kanti- schen Bestimmung der Moralität in vielen Punkten insofern berech- tigt ist, dass Kant selbst zu vielen Missverständnissen Veranlassung gegeben hat, teils durch seine Ausdrucksweise, teils durch Einführung nicht eindeutiger Begriffe, teils durch thatsächliche Unrichtigkeiten, so erweist sich die Kritik als kaum berechtigt, wenn man dasjenige, was eigentlich den Kern der Kantischen Ethik bildet, herauszuschälen und zu fixieren versucht. Dies aber zu thun, nämlich diesen Kern bei Kant genau zu bestimmen und so indirekt die kritischen Ein- wände abzuwenden, war der Zweck der vorliegenden Abhandlung.

Die transscendentale Deduktion der Kategorien in Kants „Kritik der reinen Vernunft“. ’)

Von Dr. Eduard Zwermann.

Das Verständnis der „Kritik der reinen Vernunft“ ist bedingt durch eine richtige Auffassung der Deduktion der Kategorien. Das Problem der Deduktion ist das Problem der Kritik. Nicht ohne Grund hat Kant in der Vorrede zur ersten Ausgabe der Kritik gerade auf diese Ausführungen nachdrücklich hingewiesen mit den Worten: „Ich kenne keine Untersuchungen, die zur Ergründung des Vermögens, welches wir Verstand nennen, und zugleich zur Bestimmung der Regeln und Grenzen seines Gebrauchs wichtiger wären, als die, welche ich in dem zweiten Hauptstücke der transscendentalen Analytik, unter dem Titel der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe. angestellt habe; auch haben sie mir die meiste, aber, wie ich hoffe, nicht un- vergoltene Mtihe gekostet.“ (8.)*) Leider ist die Darstellung gerade in diesem Hauptabschnitt des Werkes so wenig klar und durchsichtig, dass sich verstehen lässt, wie bisher fast jeder Forscher seine eigene Meinung hineinzuinterpretieren vermochte. Kant selbst hat diesen Mangel sehr wohl empfunden und, um demselben abzuhelfen, die Deduktion in der zweiten Ausgabe vollständig umgearbeitet, ohne jedoch auch hier za einer grösseren Klarheit gelangt zu sein. In den folgenden Ausführungen ist nun der Versuch gemacht, die Grund- gedanken der Deduktion im Zusammenbange wiederzugeben, um an der Hand derselben eine einheitliche und widerspruchslose Auffassung des Kantischen Gedankengebäudes, die trotz der Dunkelheit des Vor- trages sehr wohl möglich ist, zu gewinnen.

Das Problem, welches die Deduktion der Kategorien zu lösen hat, besteht in der Frage nach der Möglichkeit der Beziehung des

1) Erlanger Inaugural-Dissertation. 2) Die „Kritik der reinen Vernunft“ ist nach der Ausgabe von Kehrbach eitiert: auf diese beziehen sich die den Citaten in ( ) beigeftigten Seitenzahlen.

Die transscendentale Deduktion. 445

Verstandes auf Gegenstände zum Zwecke des Erkennens derselben. „Es sind nur zwei Fälle möglich, unter denen synthetische Vorstellung und ihre Gegenstände zusammentreffen, sich auf einander notwendiger- weise beziehen und gleichsam einander begegnen können. Entweder wenn der Gegenstand die Vorstellung, oder diese den Gegenstand allein möglich macht.“ (109.) Kant lehnt die Möglichkeit ab, dass Objekte in der Empfindung wahrgenommen werden könnten; denn die Reflexion über die Faktoren, welche die Vorstellung eines Gegen- standes ausmachen, hatte ergeben, dass das, was in dieser das eigent- lich objektive Element ist, in einer Denkfunktion, der Kategorie, be- steht. Der Sensualismus nimmt Dinge an sich an und lässt durch ihren Einfluss auf unsere Sinne objektive Vorstellungen entstehen. Hier setzt der Sensualist die Dinge, die in der Vorstellung erst ent- stehen, voraus, und diese petitio principii ermöglicht es ihm, die Vor- stellung des (Gegenstandes, die er schon hat, in die Sinne zu ver- legen. Gehen wir dagegen von den Sinnen aus, so finden wir bier nur zerstreute Eindrücke; jeder einzelne Sinn liefert uns nur einen Eindruck. Empfindungen aber bleiben Empfindungen, auch wenn ich sie addiere. Es kann niemals begriffen werden, wie aus blossen Empfindungen die Vorstellung eines Gegenstandes entstehen kann.

Wenn es also solchergestalt nicht zu begreifen ist, wie ich objektive Vorstellungen haben kann. wie ist es denn anders zu denken? Die transscendentale Untersuchung geht ebenfalls von der Gegebenheit der Objekte aus, nun aber nicht, wie der Sensualismus, von Objekten ausser uns, um zur Erklärung der Thatsache der Vor- stellung in uns zu gelangen; sondern von den Objekten in uns, um aus ihrem Begriffe ihre Möglichkeit zu deduzieren. Objekte sind nur im Bewusstsein gegeben. Die Vorstellung des Gegenstandes ist ein Faktum, das aus Mitteln des Bewusstseins begriffen werden muss. Wir gehen vom gegebenen Bewusstsein aus und nicht von unbe- kannten Dingen ausser uns. Die Schwierigkeit wegen der Empfin- dung der Synthesis ist bei diesem Ausgange gehoben. Wir sagen nicht, dass wir Objekte wahrnehmen, sondern, dass wir objektive Vorstellungen haben. Letzteres kann niemand bezweifeln. Der Hume- sche Zweifel erstreckte sich nicht auf die objektiven Vorstellungen, sondern auf die Übereinstimmung dieser Vorstellungen mit den Ob- jekten, die ihnen in der Wahrnehmung zu Grunde liegen sollen: Wenn sich nun zeigen lässt, dass die sogenannten Objekte vielmehr in den objektiven Vorstellungen bestehen, dass die Beziehung objek- tiver Vorstellungen auf Objekte ausser uns blosser Schein ist, so

346 De Edaaré Zwermiss.

ware dam der Humescae Zweilel schräen Wena wir also von zu untersuchen haben. worin dieser Inhalt bessche

sie das Mannigfaltigr der Sinnliehkeit oder Anschassae. Von unserem Assgangspankt ans kann nicht zusart werden dass dieses Mannig- falage auf Affektion der Dinse anser uns beruht: es it vielmehr gezeben. im Bewusstsein als Modifikation dieses Bewusstseins zegeben. and nur als solches wird es wahrzenommen Vom resebenen Bewusst- sein aus wissen wir pur von Veranderuncen dieses Bewusstseins. Wir dürten daber nicht von einem Aifiziertwerden der Sinnlichkeit reden: das Affiziertwerden setzt immer einen atfimerenden Gegen- stand voraus. Wenn wir uns das Bewusstsein vorstellen. noch bevor es das Mannizfaltige der Anschauunz zur Vorstellung des Gegen- ssandes verknüpft hat so hat auf dieser Stufe des Bewusstseins das Mannigfaltige noch gar keine Beziehung auf einen Gezenstand, der wahrgenommen wird oder das Bewusstsein aftiziert. Erst nach er- tolgter Objektivierang entsteht der Schein. als ob dieses objektivierte Mannigfaltize das die “inne aflizierende Objekt ware. Dieser Schein kann also erst entstehen und findet sich erst vor im fertigen Be- wusstsein. das im Besitze objektiver Vorstellungen ist. und nur eine sorgfältige Analyse des gegenenen Erfabrungsinbalts kann diesen Sehein zerstören. Da es also widersinnig ist. zu sagen. dass etwas. was als Vorstellung. also als Bewausstseinsinhalt erkannt ist, äussere Ursache dieser Vorstellung sei. so ist hiermit zugleich bewiesen. dass Objekte nur im Bewusstsein als objektive Vorstellungen vorbanden sind. dass von Objekten nur die Rede sein kann. als von solchen im Bewusstsein.

Indem Kant nun aber trotzdem von einem Atfiziertwerden der Sinnlichkeit redet. bat er selbst den Grand zu dem Missverständnis gegeben. als ob durch die Kategorien, die der Grund der Vorstellung des Mannigfaltigen als Gegenstand sind. indem sie das gegebene Mannigfaltige zum Objekt verknüpfen. als ob durch diese Kategorien das Ding an sich gedacht würde. das die Sinnlichkeit affiziert.

Nun sagt Kant zwar nirgends. dass Dinge an sich die Sinnlich- keit affizieren. aber das Missverständnis ist doch durch den Begriff der Affektion gegeben. Die Sinne werden affıziert; wodurch? Natür- lich durch einen Gegenstand. Fin Gegenstand wird aber durch die Kategorien gedacht; und so ist es denn wieder derselbe Gegenstand, der als Vorstellung erst im Bewusstsein entstanden zugleich als die

Die transscendentale Deduktion. 447

Ursache der Empfindung gedacht wird. So entsteht immer wieder der die objektive Vorstellung in der Empfindung erzeugende Gegen- stand, der als unbekannt, Ding an sich, und doch wieder als bekannt durch die Kategorien gedacht wird, und dadurch der Streit wegen der Anwendung der Kategorien auf Dinge an sich. Kant denkt nicht den Gegenstand, der die Empfindung verursacht, durch die Kategorien; nur irrtümlich übertragen wir den Begriff von einem Gegenstande tiberhaupt auf Dinge ausser uns. Das war ja gerade der fundamentale Irrtum des Sensualismus, der sich einbildete, die Dinge zu erkennen, wie sie an sich sind, dass das wahre Wesen der Dinge ihm in der Vorstellung enthüllt wäre. Dem gegenüber macht der kritische Idealismus Front, der dem Sensualismus die Anmassung der Erkennbarkeit der Dinge an sich nimmt und damit zugleich dem Skeptizismus die Waffen entringt, mit denen er die Möglichkeit objek- tiver Erkenntnis überhaupt bekämpft. Die Möglichkeit objektiver Erkenntnis ist gesichert, wenn wir anerkennen, dass die erkannten Objekte nicht Dinge an sich sind, sondern nur unsere Vorstellungen. Zur Anerkennung dieser Thatsache will uns die Kritik bringen, dass wir ausser unseren Vorstellungen uichts haben, was wir denselben als korrespondierend gegenüber setzen könnten.

Kant schliesst den Abschnitt vom „Übergang zur transscenden- talen Deduktion der Kategorien“ in der ersten Bearbeitung mit der Aufzählung der drei ursprünglichen Quellen {Fähigkeiten oder Ver- mögen der Seele), welche die Bedingungen der Möglichkeit aller Erfahrung enthalten und selbst aus keinem andern Vermögen des Gemüts abgeleitet werden können, nämlich Sinn, Einbildungskraft und Apperception. Darauf soll sich gründen 1. die Synopsis des Mannigfaltigen durch den Sinn, 2. die Synthesis dieses Mannigfaltigen durch die Einbildungskraft und 3. die Einheit dieser Synthesis durch ursprüngliche Apperception. Was nach Abzug der Empfindung von der objektiven Vorstellung übrig geblieben war, war der Begriff von einem Gegenstande überhaupt, auf den das Mannigfaltige bezogen gedacht wurde. Dieser Begriff ist das gesuchte a priori, das zwar in jeder empirischen Vorstellung enthalten sein muss, aber selbst nicht aus der Erfahrung, das ist der Empfindung. stammen kann. Die Empfindung lieferte uns nur das unbestimmte Mannigfaltige, die Kategorie enthält die Bestimmung, das heisst, sie ermöglicht erst die bestimmte Vorstellung, den Gegenstand im Bewusstsein. Deshalb nennt Kant die Kategorien auch „Begriffe von einem Gegenstande überhaupt, dadurch dessen Anschauung in Ansehung einer der logischen

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Funktionen zu Urteilen als bestimmt angeseben wird - (1112) „Wenn es also reine Begrifle a priori giebt. so können diese zwar freilich nichts Empirisches enthalten: sie müssen aber gleichwohl lauter Be- dingungen a priori zu einer möglichen Erfahrung sein als worasui allein ihre objektive Realität beruben kann - 1113)

Die Kategorien beruben auf dem Verstande. Worauf beruht aber der Verstand und worin besteht er’ Unter den oben aufge- zählten drei Grundvermögen der Seele iss er nieht genannt. Wir werden zu untersuchen haben. wie sich diese drei in der Erfahrung bethätigen. um zu erkennen. was es mit den Seelenvermögen für eine Bewandtnis hat und worin die Leistung des Verstandes für das Ganze der Erfahrung besteht. Wenn ich also dem Sinne deswegen, weil er in seiner Ansehauong Mannigfaltiekeit entbält, eine Synopsis beilege. so korrespondiert dieser jederzeit eine Synthesis und die Rezeptivität kann nur mit Spontaneität verbunden Erkenntnisse mög- lieb machen.‘ Wir sehen. dass die Synopsis hier schon aus dem Apparate des Erkennens ausgeschaltet ist Die Synopsis soll keine Synthesis sein, denn in die Sinne darf ja die Synthesis nicht verlegt werden: sie soll nicht auf der Rezeptivität der Eindrücke beruhen, sondern auf der Spontaneität des Verstandes.

„Diese (nämlich die Spontaneität) ist nun der Grund einer drei- fachen Synthesis, die notwendigerweise in allem Erkenntnis vorkommt: nämlich, der Apprehension der Vorstellungen. als Modifikationen des (semüts in der Anschauung, der Reproduktion derselben in der Ein- bildung und ihrer Rekognition im Begriffe.- (114.)

Wir sehen, an die Stelle der drei subjektiven Erkenntnisquellen sind jetzt drei Funktionen der Synthesis getreten. Wie verhält es sich nun mit diesen? Das Mannigfaltige der Anschauung kann nur unter der Bedingung sich als eine Vorstellung, als Vorstellung eines (Gegenstandes, im Bewusstsein abheben, dass es zusammengefasst wird, „welche Handlung ich die Synthesis der Apprehension nenne, weil sie geradezu auf die Anschauung gerichtet ist, die zwar ein Mannigfaltiges darbietet, dieses aber als ein solches. und zwar in einer Vorstellung enthalten, niemals ohne eine dabei vorkommende Synthesis bewirken kann.“ (115.)

Man könnte meinen, dass mit diesen beiden Bedingungen, dem Mannigfaltigen einerseits und der Synthesis in der Apprehension andererseits der Gegenstand erzeugt wäre; dem ist aber nicht so. Im Begriffe eines Gegenstandes liegt mehr als das Mannigfaltige und die Synthesis. Die objektive Vorstellung ist die Vorstellung einer

Die transscendentale Deduktion. 449

notwendigen Synthesis des Mannigfaltigen. Im Begriffe des Objekts liegt die Vorstellung der Einheit oder notwendigen Zusammen- gehörigkeit des darin vorgestellten Mannigfaltigen. „Der Begriff der Verbindung führt ausser dem Begriffe des Mannigfaltigen und der Synthesis desselben, noch den der Einheit desselben bei sich. Ver- bindung ist Vorstellung der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen. Die Vorstellung dieser Einheit kann also nicht aus der Verbindung entstehen, sie macht vielmehr dadurch, dass sie zur Vorstellung des Mannigfaltigen hinzukommt, den Begriff der Verbindung allererst möglich.“ (658 f.) Verbindung ist Vorstellung der synthetischen Ein- heit des Mannigfaltigen, das heisst Verbindung ist Vorstellung eines Objekts. Hier wird unter Verbindung die notwendige, objektive Synthesis verstanden. Habe ich die Vorstellung der Verbindung im Bewusstsein, so habe ich eben die Vorstellung eines Objekts. Wenn Kant dann weiter sagt: die Vorstellung der Einheit kann nicht aus der Verbindung entstehen, so vergisst er, dass nach der obigen Definition des Begriffs der Verbindung derselbe den Begriff der Ein- heit bereits involviert. Er meint offenbar: die Vorstellung des Objekts enthält ausser der Vorstellung des Mannigfaltigen und der Synthesis, wenn wir unter Synthesis noch nicht die notwendige Synthesis, das heisst, die Verbindung verstehen, noch den Begriff der Einheit. Die Vorstellung einer Synthesis als einer notwendigen entsteht erst auf Grund einer objektiven Einheit im Bewusstsein. Ein Beispiel macht die Sache vielleicht klar. Ich habe die Vorstellung eines Hauses; dieselbe hebt sich als Einheit im Bewusstsein ab, das heisst, ich stelle mir das Mannigfaltige in dieser Vorstellung als verbunden oder als zusammengehörig, und nicht etwa als willkürlich verknüpft vor. Erst auf Grund der Einheit, erst an einem Objekte kann die Synthesis als eine notwendige erkannt werden. Kant führt zur Er- läuterung dieser Thatsache das empirische Gesetz der Association der Vorstellungen an: „Es ist zwar ein bloss empirisches Gesetz, nach welchem Vorstellungen, die sich oft gefolgt oder begleitet haben, mit einander endlich vergesellschaften, und dadurch in eine Ver- kntipfang setzen, nach welcher, auch ohne die Gegenwart des Gegen- standes, eine dieser Vorstellungen einen Übergang des Gemtits zu der anderen, nach einer beständigen Regel, hervorbringt. Dieses Gesetz der Reproduktion setzt aber voraus: dass die Erscheinungen selbst wirklich einer solchen Regel unterworfen seien, und dass in dem Mannigfaltigen ihrer Vorstellungen eine, gewissen Regeln ge- mässe, Begleitung oder Folge stattfinde; denn ohne das würde unsere Kantstudien V. 29

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empirische Einbildungskraft niemals etwas ihrem Vermögen gemässes za thun bekommen, also, wie ein totes und uns selbst unbekanntes Vermögen im Innern des Gemüts verborgen bleiben. Würde der Zinnober bald rot, bald schwarz, bald leicht, bald schwer sein, ein Mensch bald in diese, bald in jene tierische Gestalt verändert werden, am längsten Tage bald das Land mit Früchten, bald mit Eis und Schnee bedeckt sein, so könnte meine empirische Einbildungskraft nieht einmal Gelegenheit bekommen, bei der Vorstellung der roten Farbe den schweren Zinnober in die Gedanken zu bekommen, oder würde ein gewisses Wort bald diesem, bald jenem Dinge beigelegt, oder auch eben dasselbe Ding bald so, bald anders benannt, ohne dass hierin eine gewisse Regel, der die Erscheinungen schon von selbst unterworfen sind, herrschte, so könnte keine empirische Synthesis der Reproduktion stattfinden.“ (116.)

Also auf die Regel kommt es an, auf die Synthesis, die in den reproduzierten Vorstellungen als das Gesetz der Association erfahrungsgemäss stattfindet. Dieses Gesetz der Reproduktion oder vielmehr der Association der Vorstellungen setzt aber voraus, dass die Erscheinungen selbst wirklich einer solchen Regel unterworfen sind. Die Einbildungskraft kann nur unter der Bedingung etwas als Einheit reproduzieren, wenn es schon vorher als solehe in der Apprehension gegeben ist. Das Problem, das uns das empirische Gesetz der Reproduktion aufgiebt, besteht darin, dass wir nach einem Grunde forschen müssen, der selbst erst diese Reproduetion der Erscheinungen, nämlich als Einheiten möglich macht, dadurch dass er der Grund a priori einer notwendigen synthetischen Einheit derselben ist.

Wir sehen also jetzt, weshalb die Synthesis der Apprehension zur Erklärung der Möglichkeit objektiver ‚Vorstellungen noch nicht ausreicht: denn da alle Apprehension des Mannigfaltigen suecessiv ist, das heisst der Zeit, als der Form des inneren Sinnes, unterworfen ist, so können wir auf Grund dieser Synthesis allein noch nicht begreifen, wie Objekte als bestimmte Einheiten im Bewusstsein möglich sind. Wenn wir nun fragen, worin besteht also das Plus, das die Synthesis der Reproduktion über die Synthesis der Apprehension hinaus zur Möglichkeit der Erfahrung leistet, so giebt uns Kant darüber folgende Auskunft: „Nun ist offenbar, dass, wenn ich Linie in Gedanken ziehe, oder die Zeit von einem Mittag zum andern denken, oder auch nur eine gewisse Zahl mir vorstellen will, ich erstlich notwendig eine dieser mannigfaltigen Vorstellungen

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nach der anderen in Gedanken fassen müsse. Würde ich aber die vorhergehende (die ersten Teile der Linie, die vorhergehenden Teile der Zeit, oder die nach einander vorgestellten Einheiten) immer aus den Gedanken verlieren, und sie nicht reproduzieren, indem ich zu den folgenden fortgehe, so würde niemals eine ganze Vorstellung, und keiner aller vorgenannten Gedanken, ja gar nieht einmal die reinsten und ersten Grundvorstellungen von Raum und Zeit ent- springen können.“ (117.) Genau dieselbe Function übte aber schon die Syntbesis der Apprehension aus. Was die Synthesis der Repro- duktion leisten sollte, war aus dem empirischen Gesetze der Association gefolgert, das ist, sie sollte die Reproducibilität oder die Möglichkeit der Assoeiation der Vorstellungen begreiflich machen, indem sie den Grund der gesetzmässigen Verknüpfung des Mannigfaltigen zu Erscheinungen in der Wahrnehmung aufdeckte; das Gesetz, auf Grund dessen wir das Mannigfaltige als zusammengehörig in der Erfahrung erkennen können; das Gesetz, das der Synthesis der Assoeiation die Einheit des Gegenstandes verleiht. Kant hatte ja an der Synthesis der reproduzierten Vorstellungen angezeigt, was der Synthesis der Apprehension noch fehlte, um den Wert einer gegenständlichen Synthesis, den Wert einer „Verbindung“ zu erhalten. Auf Grund dieses Gesetzes, nämlich des Gesetzes der Assoeiation, hatte Kant ja auch für die Apprehension die Notwendigkeit einer Synthesis der Reproduktion gefordert, das heisst einer Synthesis, wie sie in dem Gesetze der Reproduktion oder Association der Vorstellungen sich bethätigt. Jetzt erfahren wir nur, dass die nacheinander vor- gestellten Einheiten oder Teile einer ganzen Vorstellung im Bewusst- sein reproduziert werden müssen, wenn eben diese ganze Vorstellung möglich sein soll. Das leistete aber schon die Synthesis der Apprehension,

Wenn Kant dann fortfährt: „Die Synthesis der Apprehension ist also mit der Synthesis der Reproduktion unzertrennlich verbunden,* so werden wir sagen müssen, dass es vielmehr ein und dieselbe Synthesis ist, die wir später als die produktive werden kennen lernen,

Es bleibt nun noch die Synthesis der Rekognition im Begriffe übrig. Der Begriff besteht in dem Bewusstsein der Einheit der Synthesis, das ist des Gegenstandes. „Und hier ist es denn notwendig, sich darüber verständlich zu machen, was man denn unter dem Ausdruck eines Gegenstandes der Vorstellungen meine.“ (118.)

Erscheinungen sind nichts als Vorstellungen, die an sich, in eben 29*

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derselben Art, nicht als Gegenstände (ausser der Vorstellungskraft) angesehen werden dürfen. „Was versteht man denn, wenn man von einem der Erkenntnis korrespondierenden, mithin auch davon unter- schiedenen Gegenstand redet? Es ist leicht einzusehen, dass dieser Gegenstand nur als etwas tiberhaupt X müsse gedacht werden, weil wir ausser unserer Erkenntnis doch nichts haben, welches wir dieser Erkenntnis als korrespondierend gegentiber setzen könnten. Wir finden aber, dass unser Gedanke von der Beziehung aller Er- kenntnis auf ihren Gegenstand etwas von Notwendigkeit bei sich führe, da nämlich dieser als dasjenige angesehen wird. was dawider ist, dass unsere Erkenntnisse nicht aufs Geratewohl, oder beliebig, sondern a priori auf gewisse Weise bestimmt seien. weil, indem sie sich auf einen Gegenstand beziehen sollen, sie auch notwendiger Weise in Beziehung auf diesen unter einander übereinstimmen, d. 1. diejenige Einbeit haben müssen, welche den Begriff von einem Gegenstande ausmacht.“ (119.)

Die Kritik des Sensualismus hatte ergeben, dass die Möglichkeit objektiver Vorstellungen nicht eingesehen werden kann unter der Voraussetzung affizierender Dinge. Der Sensualismus begeht einen doppelten Fehler. indem er einmal unerklärt lässt, wie die Synthesis empfunden werden kann. und indem er zweitens den vorgestellten Gegenstand für die Ursache dieser Vorstellung selbst halt. Wenn man den Sensualisten fragt: Woher stammen also deine Vorstellungen? so weist er auf die Erscheinung hin, ohne zu bedenken, dass diese Erscheinung. die doch als solche auch nur in unserer Vorstellung und nicht etwa abgesondert vom Bewusstsein besteht. nicht zugleich auch als Grund der Vorstellung angesprochen werden darf. Wenn wir aber nicht begreifen können, wie der Gegenstand ausser uns Grund .der Vorstellung in uns sein kann, so dürfen wir nicht die- selben Eigenschaften, die wir unseren Vorstellungen beilegen, zugleich auch auf die Dinge an sich übertragen. Der Gegenstand ausser uns ist uns in jeder Weise unbekannt; ich kann aber nicht etwas Unbekanntes als Grund von etwas Bekanntem ausgeben. Der Grund der Reproducibilität, das ist die Affinität der Vorstellungen, darf nicht in etwas ausserhalb des Bewusstseins, sondern muss im Be- wusstsein selbst gesucht werden. Die Berufung auf ein affizierendes Ding an sich als den Grund objektiver Vorstellungen ist als eine transscendente Hypothese zu verwerfen. Der Begriff der Affektion gehört als ein transscendenter überhaupt nicht in die Vernunftkritik. die nur einen immanenten Verstandesgebrauch zulässt.

Die transscendentale Deduktion. 453

Die Objektivität soll nur im Bewusstsein liegen; kann dieselbe aus dem Bewusstsein allein begriffen werden? Die Möglichkeit der Vorstellung des Gegenstandes soll gezeigt werden; wenn nun aber der Gegenstand selbst nur in der Vorstellung bestehen, nur der Inbegriff von Vorstellungen sein soll, so gilt es also die Möglichkeit des Gegenstandes selbst zu zeigen. Der Gegenstand soll nur im Bewusstsein vorhanden sein. Kann er dies und unter welchen Bedingungen? das ist die Frage. Es war als unmöglich erkannt, dass die Empfindung die Synthesis erzeugen, dass die Synthesis a posteriori aus der Erfahrung stammen könne. Es fragt sich, ob die Synthesis a priori im Bewusstsein auch ohne Wahrnehmung möglich ist. Ist sie dies, so lässt sich unter dieser Bedingung die Möglichkeit der Erfahrung begreifen. Wenn es möglich, das heisst begreiflich ist, dass das aus dem Bewusstsein a priori stammen kann, was nach Abzug der Empfindung von der objektiven Vorstellung übrig geblieben war, so ist damit gezeigt, wie Gegenstände im Bewusstsein möglich sind. A priori sind die Synthesen möglich, das beweist die Mathematik und die reine Naturwissenschaft, in denen sie wirklich sind. In diesen Wissenschaften brauche ich nicht erst auf die Wahrnehmung zu warten, sondern bier beruht die Synthesis allein auf dem reinen Verstande.

Wenn es also vorher in der Erfahrung unbegreiflich war, wie die Synthesis auf der Wahrnehmung heruhen konnte, so ist es jetzt durch das Faktum der Mathematik und reinen Naturwissenschaft bewiesen, dass sie auf dem Verstande beruhen kann. Vorher wussten wir nur, dass die Synthesis nicht in der Empfindung liegen konnte. und die Frage war offen gelassen, ob die Synthesis auch ‘auf dem Verstande beruhen kann; vorher hiess es: „Die Kategorien des Verstandes dagegen stellen uns garnicht die Bedingungen vor, unter denen Gegenstände in der Anschauung gegeben werden, mithin können uns allerdings Gegenstände erscheinen, ohne dass sie sich notwendig auf Funktionen des Verstandes beziehen miissen. und dieser also die Bedingungen derselben a priori enthielte.“ (107.) Wir miissen auf das „können“ hier wohl Acht geben. Es soll nicht so gemeint sein, als ob Gegenstände uns wirklich ohne Synthesis erscheinen könnten; indessen ist diesem Missverständnis schon durch den Zusatz „in der Anschauung“ vorgebeugt. In der Anschauung kann das Mannigfaltige immerbin obne Synthesis gegeben sein; aber die Anschauung allein giebt noch nicht die bestimmte Vorstellung. Die bestimmte Vorstellung ist vielmehr erst möglich, wenn das

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Mannigfaltige unter die Kategorie subsumiert, das heisst verknüpft ist, und „alsdann ist alle empirische Erkenntnis der Gegenstände solchen Begriffen notwendiger Weise gemäss, weil, ohne deren Vor- aussetzung, nichts als Objekt der Erfahrung möglich ist“, (110.)

Also die Gegenstände der Erfahrung müssen der Synthesis a priori, wie wir sie in der Mathematik und der reinen Naturwissen- schaft haben, notwendig gemäss sein, da ich sonst in der Erfahrung keine objektive Vorstellung würde haben können. Die Kategorien bilden die Elemente zu den Begriffen, vermittelst deren die Natur- wissenschaft ihre Gesetze, die Gesetze der Erscheinungen formuliert. Naturgesetze werden nieht empfunden, sondern beruhen auf dem Verstande.

Also die Gegenstände, die wir wahrzunehmen vermeinen, sind nichts weiter als Vorstellungen, deren Möglichkeit auf Gesetzen beruht, die als nur im Verstande vorstellbare erkannt sind. Gegen- stände sind als Vorstellungen wirklich; dass sie als solche auch möglich sind, das heisst, dass es möglich ist, dass sie eben nor in der Vorstellung bestehen können, das beweist die reine Natar- wissenschaft, welche die Gesetze aufdeckt, als deren Fälle die Erscheinungen zu denken sind. Die Gesetze sind die Ursachen der Dinge, also auch der Vorstellungen, deren Inbegriff der Gegen- stand ist.

Nun ist es nicht mehr das unbekannte Etwas, das unserer Vorstellung korrespondieren soll, das Ding an sich oder der trans- seendentale Gegenstand —X, was als Ursache der objektiven Vor- stellung angesprochen wird; sondern das Objekt enthält den Grund seiner Möglichkeit in sich selbst, in den Naturgesetzen, die es erzeugen und zwar als Erscheinung oder Vorstellung erzeugen müssen, da die Gesetze, auf denen es beruht, als solche des Be- wusstseins, als Denkgesetze erkannt sind. Die Gesetze, denen die Dinge unterworfen, als deren Fälle sie erkannt sind, machen es; „dass unsere Erkenntnisse nicht aufs Geratewohl, oder beliebig, sondern a priori auf gewisse Weise bestimmt sind“. Wir erkennen Objekte, so wahr wir Naturgesetze erkennen, auf denen sie beruhen, Die Möglichkeit objektiver Erkenntnis ist gegen den Skeptieismus Hume's gerettet dadurch, dass den Objekten ihre Existenz, die ihnen als Dingen an sich genommen war, im Bewusstsein wiedergegeben ist Kant löst das Problem der Möglichkeit objektiver Erkenntnis durch den Nachweis, dass Objekte nur Vorstellungen und nur als Vorstellungen möglich sind, da sie sonst für uns niehts wären.

Die transsoendentale Deduktion. 455

Die Objekte, von denen wir annahmen, dass sie uns affizierten und dadurch objektive Vorstellungen in uns erzeugten, sind selbst nur als der Inbegriff dieser Vorstellungen erkannt. Deshalb „habe ich in Absicht auf die Wirklichkeit äusserer Gegenstände eben so wenig nötig zu schliessen, als in Ansehung der Wirklichkeit des Gegen- standes meines innern Sinnes, (meiner Gedanken), denn sie sind beiderseitig nichts als Vorstellungen, deren unmittelbare Wahr- nehmung (Bewusstsein) zugleich ein genugsamer Beweis ihrer Wirk- lichkeit ist. Also ist der transscendentale Idealist ein empirischer Realist und gestehet der Materie, als Erscheinung, eine Wirklichkeit zu, die nieht geschlossen werden darf, sondern unmittelbar wahr- genommen wird“, (314.)

Das Objekt, welches ich wahrzunehmen vermeine, ist nieht zweimal vorhanden, einmal als Objekt an sich und ausserdem noch als Vorstellung in mir; sondern nur einmal als Gegenstand für oder in einem Bewusstsein. Man wende nicht ein, dass durch die Auf- nahme des Objekts in das Bewusstsein Kant dem Berkeley’schen Idealismus verfallen sei, als ob unter diesen Bedingungen kein Unterschied mehr zwischen einem Gegenstande und einem blossen Phantasiegebilde bestünde. Als Vorstellung, das heisst als Bewusst- seinsinhalt, unterscheidet sich das Objekt in nichts von jedem anderen beliebigen Inhalt, für den ich nur subjektive Geltung in Anspruch nehme. Aber durch das objektive Gesetz, das diese Vorstellung zu einer notwendigen, der subjektiven Willkür entrückten, allgemein- giltigen erhebt, ist dieselbe vor dem Verdachte des Subjektivismus genugsam verwahrt.

Die Reflexion über den Begriff des Gegenstandes hatte den Gang der Untersuchung der psychologischen Vermögen, auf denen die Mögliebkeit der Erfahrung beruhen soll, unterbrochen. Hierauf bezieht sich das, was Kant in der Vorrede zur ersten Ausgabe sagt: „Diese Betrachtung, die etwas tief angelegt ist, hat aber zwei Seiten. Die eine bezieht sich auf die Gegenstände des reinen Verstandes und soll die objektive Giltigkeit seiner Begriffe a priori darthun und begreiflich machen; eben darum ist sie auch wesentlich zu meinen Zwecken gehörig. Die andere geht darauf aus, den reinen Verstand selbst, nach seiner Möglichkeit und den Erkenntnis- kräften, auf denen er selbst beruht, mithin ihn in subjektiver Be- ziehung zu betrachten.“ (8.)

Die Frage, worin denn eigentlich der Gegenstand der Erfahrung besteht, was wir darunter zu verstehen haben, taucht erst auf

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innerhalb der Untersuchung, wie die Erfahrung eines Gegenstandes entsteht. Als ob nicht der Gegenstand vorausgesetzt werden müsste, wenn wir begreifen wollen, wie er erfahren wird!

Und das Resultat der objektiven Deduction? Objekte sind nur der Inbegriff der Vorstellungen, bestehen nur als Vorstellungen und können also selbst erst in der Erfabrung mitden Vorstellungen entstehen. Wie wird sich nunmehr aufGrund dieses Ergebnisses die Entstehung der Erfahrung gestalten? Erfahrung ist nurmöglich unter derV oraussetzung einer dureh- gängigen und synthetischen Einheit der Wahrnehmungen. In den Wahrnehmungen müssen schon die apriorischen Elemente enthalten sein, wenn Erfahrung daraus entstehen soll. Die Wahrnehmung liefert uns die Erscheinungen, also müssen in derselben die Be- dingungen a priori enthalten sein, welche den Gegenstand der Erfahrung ermöglichen. „Die Bedingungen a priori einer möglichen Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung.‘ (124.)

Wir hatten oben gesehen, wie Kant auf Grund der Überlegung, dass reproduzierte Vorstellungen doch nur möglich sind nach vorher- gegangener Apprehension derselben, zu dem Schluss gekommen war, dass dieselbe Synthesis, die in den reproduzierten Vorstellungen als die Synthesis der Assoeiation oder Reproduktion sich bethätigte, auch schon in der unmittelbaren Wahrnehmung enthalten sein müsse. Dies veranlasste nun Kant, die Synthesis der Reproduktion und die Einbildungskraft selbst als das Vermögen der Synthesis der Reproduktion in den Akt der Wahrnehmung hineinzuziehen, Natürlich passt nun der Terminus „reproduktive“ Synthesis nieht mehr auf die Synthesis der unmittelbaren Wahrnehmung. Und wenn Kant oben noch zwischen der Synthesis der Apprehension und der Reproduktion unterschied als zwei verschiedenen Arten der Synthesis, die aber stets unzertrennlich verbunden sein sollen, so sehen wir jetzt, dass sie beide auf dieselbe Synthesis hinauslaufen; die „produktive“. Die reproduktive Synthesis in der Association ist identisch mit der produktiven Synthesis in der Apprehension der Vorstellungen; das heisst, die Einbildungskraft als das Vermögen der reproduzierten Vorstellungen ist produktiv in der Wahrnehmung, „Dass die Einbildungskraft ein notwendiges Ingredienz der Wahr- nehmung selbst sei, daran hat wohl noch kein Psychologe gedacht. Das kommt daher, weil man dieses Vermögen teils nur auf Repro- duktionen einschränkte, teils, weil man glaubte, die Sinne lieferten uns nicht allein Eindrücke, sondern setzten solche auch sogar ZU-

Die transscendentale Deduktion. 457

sammen, und brächten Bilder der Gegenstände zuwege, wozu obne Zweifel ausser der Empfänglichkeit der Eindrücke, noch etwas mehr, nämlich eine Funktion der Synthesis derselben erfordert wird.“ (130).

Darin besteht also der neue Inhalt, den Kant dem Begriffe der Erfahrung giebt: Erfahrung darf nicht als eine Summe von blossen Wahrnehmungen, das ist Empfindungen der Sinne, gedacht werden, wie dies der Sensualist will. Obne die Funktion der Synthesis in dem Manntigfaltigen der Wahrnehmungen würde dieses zu keiner Erfahrung gehören, „folglich ohne Objekt, und nichts als ein blindes Spiel der Vorstellungen, d. i. weniger als ein Traum sein.“ (124.)

Wie unterscheidet Kant nun aber in den Prolegomenen zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen? Hat diese Unterscheidung bei der Gleichsetzung der Begriffe Wahrnehmung und Erfahrung überhaupt noch einen Sinn?

Wenn Kant dort sagt, dass das Wahrnehmungsurteil noch keine Beziehung auf ein Objekt habe, so wird diese Behauptung schlagend widerlegt durch die andere der Kritik, dass die Einbildungskraft ein notwendiges Ingredienz der Wahrnehmung selbst sei. Kant versteht aber bier unter Wahrnehmung wieder Empfindung. Das Wahr- nehmungsurteil soll ein Urteil sein, das sich nur auf die subjektive Empfindung bezieht und noch nicht auf das objektivierte Mannig- faitige; dann ist es aber tiberhaupt kein Urteil, denn jedes Urteil enthält auf Grund der Kategorie, die in ihm wirksam ist, eine Be- ziehung auf ein Objekt. Ist die Einbildungskraft ein notwendiges Ingredienz der Wahrnehmung, so erhebt sie eben damit die Wahr- nehmung zur Erfahrung, und ihre Urteile haben eine Beziehung auf Gegenstände der Erfahrung.

Nun entsteht aber hier noch ein anderes Bedenken. Wenn die produktive Einbildungskraft als das Vermögen der Synthesis in die Wahrnehmung hineingezogen wird, so kann sich der Verdacht er- heben, dass wir die Dinge produzieren. Es würde uns hier auch alle Berufung auf die besondere Synthesis, die aus der Erfahrung stammen soll, nichts nützen. Denn das ist ja gerade die Frage: wie kann die Synthesis aus der Erfahrung stammen? Und die Antwort: nur unter der Bedingung, dass wir sie hineinlegen. Und hier ist nun der Punkt, an dem Fichte und die idealistischen Nach- folger Kants anknüpften, um aus dem Ich vermittelst der produktiven Synthesis der Einbildungskraft das Ganze der Erfahrung hervorzu- zaubern. Demgegenüber werden wir zu beachten haben, dass das,

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458 Dr. Eduard Zwermann,

was wir Grundkräfte oder Vermögen der Seele nannten, auf Grund einer Analyse nicht des subjektiven Erkenntnisvermögens, sondern des objektiven Bewusstseinsinhaltes gewonnen war. .

„Der Verstand ist der Gesetzgeber der Natur“ heisst nicht: der Verstand gieht die Gesetze, sondern besteht in denselben. Das Ich produziert so wenig die Dinge, dass es vielmehr obne dieselben garnicht gedacht werden darf. Form besteht nicht ohne Inhalt und Inhalt nicht ohne Form. Es sind dieselben Bedingungen, auf denen das Bewusstsein sowohl als die Dinge beruhen, heisst: es giebt nur eine Erfahrung, welche im Bewusstsein der Dinge besteht. Es ist nun nieht mehr die Rede von Erkenntnisvermögen, sondern von Er- kenntnisgesetzen. Der Gesetzgeber der Natur ist die Natur selbst als der Inbegriff der Naturgesetze. Und wir dürfen nur dann auch sagen: der Verstand ist der Gesetzgeber der Natur, wenn wir unter Verstand den Inbegriff dieser Gesetze verstehen. Dann ist der Ver- stand auch der Gesetzgeber der besonderen Naturgesetze, die zwar auf Erfahrung beruhen, in der aber der Verstand nur die Gesetze seiner eigensten Natur aufdeckt, Ebensowenig wie ich nun erkennen kann, was die besonderen Naturformen notwendig macht, wie aus dem Chaos unter dem Einfluss der Gesetze die gegebenen Er- scheinungen entstehen müssen, ebensowenig kann ich begreifen, weshalb die Dinge gerade so und nicht anders apprehendiert werden müssen. Uns ist in der Wahrnehmung nicht formlose Materie ge- geben zur Formung durch die Kategorie, sondern Erscheinungen sind uns gegeben, an denen Form und Inhalt nur in der erkenntnis- theoretischen Abstraktion getrennt werden können,

Wir haben bisher immer vom Verstande geredet, sind aber die Definition desselben als „Erkenntnisvermögen“ noch schuldig ge- blieben. Von den drei subjektiven Erkenntnisquellen haben wir die Apperception noch nicht kennen gelernt. Die Apperception definiert Kant als „das Bewusstsein der Identität der reproduktiven Vor- stellungen mit den Erscheinungen, dadurch sie gegeben waren“ (127), oder als „das Bewusstsein der Einheit der Synthesis“. „Die Einheit der Apperception in Beziehung auf die Synthesis der Einbildungs- kraft ist der Verstand“. (129.) Die Apperception in Verbindung mit der Einbildungskraft bedeutet also wieder nichts weiter, als die Einheit der Naturgesetze. Sie könnte ebensogut für den Verstand selbst stehen, und thatsächlich tritt sie auch in der zweiten Bear- beitung der Deduktion, wo Kant immer von der synthetischen Einheit der Apperception redet, auch an dessen Stelle. „Und so ist die synthe-

Die transscendentale Deduktion. 459

tische Einheit der Apperception der höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik, und, nach ihr, die Trans- scendentalphilosophie heften muss, ja, dieses Vermögen ist der Ver- stand selbst.“ (660.)

Es erleichtert das Verstindnis der Vernunftkritik ungemein, wenn man sich klar macht, dass Verstand, synthetische Einheit der transscendentalen Apperception oder auch die transscendentale Apperception allein, als welche ja in dem Bewusstsein der Einheit der Synthesis bestehen soll, sowie auch die produktive Einbildungs- kraft im Grunde genommen immer dasselbe bedeuten. „Die Ein- bildungskraft ist also auch ein Vermögen einer Synthesis a priori, weswegen wir ihr den Namen einer produktiven Einbildungskraft geben, und, sofern sie in Ansehung alles Mannigfaltigen der Er- scheinung nichts weiter, als die notwendige Einheit in der Synthesis derselben zu ihrer Absicht hat, kann diese die transscendentale Funktion der Einbildungskraft genannt werden.“ (132.) Hier besteht also die produktive Einbildungskraft allein schon in der Einheit der Synthesis, während oben die Apperception noch hinzukommen sollte, um die Einheit der Synthesis und damit den Verstand zu er- möglichen.

Wenn man bedenkt, dass Kant nach den Bedingungen forschte, auf denen die Möglichkeit der Erfahrung und damit zugleich “der Gegenstände der Erfahrung beruhen soll, und diese in dem unbestimmten Mannigfaltigen einerseits und den Kategorien oder den Gesetzen des Verstandes andererseits gefunden hatte, so lässt sich begreifen, wie die ursprünglich unterschiedenen drei subjektiven Erkenntnisquellen, sowie die drei Arten der Synthesis sich auf diese beiden Bedingungen reduzieren mussten.

Nun ist aber offenbar, dass einen Gegenstand vorstellen und einen Gegenstand erkennen nicht einerlei ist. Die im Bewusstsein gegebene Erscheinung bildet die notwendige Voraussetzung für ihre Erkenntnis. Der Verstand liefert die Begriffe, die Einbildungskraft die Vorstellungen. Die Synthesis ist in beiden dieselbe. Aber die Synthesis des Mannigfaltigen durch die Einbildungskraft kann ,,an- fänglich noch roh und verworren sein, so dass sie der Analysis be- darf.“ (94) Die Synthesis dieses Mannigfaltigen durch die Ein- bildungskraft giebt noch keine Erkenntnis. ‚Die Begriffe, welche dieser reinen Synthesis Einheit geben, und lediglich in der Vor- stellung dieser notwendigen synthetischen Einheit bestehen, thun das dritte zum Erkenntnisse eines vorkommenden Gegenstandes, und be-

460 Dr. Eduard Zwermann,

ruhen auf dem Verstande.“ (95.) Und ebendort heisst es: „Die Synthesis überhaupt ist, wie wir zukünftig sehen werden, die blosse Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele, obne die wir überall gar keine Erkenntnis haben würden, der wir uns aber selten nur einmal bewusst sind, Allein diese Synthesis auf Begriffe zu bringen, das ist eine Funktion, die dem Verstande zukommt, und wodurch er uns allererst die Er- kenntnis in eigentlicher Bedeutung verschaffet.“ (95.)

Das Geschäft des Verstandes besteht also darin, die Synthesis der Einbildungskraft auf Begriffe zu bringen, das heisst, die ge- gebenen Vorstellungssynthesen zu analysieren und vermittelst der analytischen Einheit der Begriffe die logische Form eines Urteils zu- stande zu bringen: „Wo aber der Verstand vorher nichts verbunden hat, da kann er auch nichts auflösen, weil es nur durch ihn als verbunden der Vorstellungskraft hat gegeben werden können.“ (658.) Wir werden jetzt besser dafür sagen: wo die Einbildangskraft vorher nichts verbunden hat, da kann auch der Verstand nichts auflösen. Dieses Verhältnis der Einbildungskraft zum Verstande ist in der ersten Bearbeitung der Deduktion noch nicht so bestimmt formuliert. Es heisst dort z. B.: „Diese Apperception ist es nun, welche zu der reinen Einbildungskraft hinzukommen muss, um ihre Funktion intellektuell zu machen. Denn an sich selbst ist die Synthesis der Einbildungskraft, obgleich a priori ausgeübt, dennoch ‚jederzeit sinnlich, weil sie das Mannigfaltige nur so verbindet, wie es in der Anschauung erscheint, z. B. die Gestalt eines Triangels. Durch das Verhältnis des Mannigfaltigen aber zur Einheit des Apperception werden Begriffe, welche dem Verstande angehören, aber nur ver- mittelst der Einbildungskraft in Beziehung auf die sinnliche An- schauung zustande kommen können.“ (133) Hier wird klar und deutlich zwischen der sinnlichen Vorstellung, dem Bilde, einerseits und dem Begriffe andererseits unterschieden. Aber das Bild wird nicht dadurch zum Begriffe, dass die Apperception zur Einbildungs- kraft hinzukommt, sondern dass die Funktion der Einbildungskraft intellektuell gemacht, das ist auf Begriffe gebracht wird. Die Ein- bildungskraft soll das Mannigfaltige der Anschauung in einem Bilde vereinigen, der Verstand die Synthesis auf Begriffe bringen.

Das diese Funktion ausübende Bewusstsein ist aber in beiden Fällen dasselbe. Es heisst dann an dieser Stelle weiter: „Wir haben also eine reine Einbildungskraft, als ein Grundvermögen der menschlichen Seele, das aller Erkenntnis a priori zum Grunde liegt.

Die transscendentale Deduktion. 461

Vermittelst deren bringen wir das Mannigfaltige der Anschauung einerseits mit der Bedingung der notwendigen Einheit der reinen Apperception andererseits in Verbindung. Beide äusserste Enden, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, miissen vermittelst dieser trans- scendentalen Funktion der Einbildungskraft notwendig zusammen- hängen; weil jene sonst zwar Erscheinungen, aber keine Gegenstände eines empirischen Erkenntnisses, mithin keine Erfahrung geben würden.“ (133.) Wir werden vielmehr sagen: weil jene (die Sinn- lichkeit) sonst zwar Anschauungen, aber keine Erscheinungen, d. i. Vorstellungen von Gegenständen geben würde. Auch hier ist das Verhältnis der Einbildungskraft zum Verstande noch nicht klar ge- stellt. Dieselbe soll eine Vermittlerrolle austiben zwischen den beiden Erkenntnisbedingungen, nämlich Sinnlichkeit und Apperception oder Verstaud, von denen die Funktion des letzteren mit der ihrigen identisch ist.

Erst in der zweiten Bearbeitung der Deduktion wird das Ver- hältnis der Beiden richtig dahin bestimmt: „dass die Synthesis der Apprehension, welche empirisch ist, der Synthesis der Apperception, welche intellektuell und gänzlich a priori in der Kategorie enthalten ist, notwendig gemäss sein müsse. Es ist eine und dieselbe Spon- taneität, welche dort unter dem Namen der Einbildungskraft, hier des Verstandes, Verbindung in das Mannigfaltige der Anschauung bringt.“ (679.) Das Verhältnis der Einbildungskraft zum Verstande ist ganz klar das der Apprehension zur Apperception, oder des wahrgenommenen zum erkannnten Gegenstande. Die Synthesis des Mannigfaltigen der sinnlichen Anschauung, die auf der Einbildungs- kraft beruht, wird „figürlich“ (synthesis speciosa) genannt zum Unterschiede von derjenigen, welche in der blossen Kategorie gedacht wird, und „Verstandesverbindung“ (synthesis intellectualis) heisst. „Da nun alle unsere Anschauung sinnlich ist, so gehört die Ein- bildungskraft, der subjektiven Bedingung wegen, unter der sie allein den Verstandesbegriffen eine korrespondierende Anschauung geben kann, zur Sinnlichkeit; sofern aber doch ihre Synthesis eine Aus- übung der Spontaneität ist, welche bestimmend, und nicht, wie der Sinn, bloss bestimmbar ist, mithin a priori den Sinn seiner Form nach der Einheit der Apperception gemäss bestimmen kann, so ist die Einbildungskraft sofern ein Vermögen, die Sinnlichkeit a priori zu bestimmen, und ihre Synthesis der Anschauungen, den Kategorien gemäss, muss die transscendentale Synthesis der Einbildungskraft sein, welches eine Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit und

462 Dr. Eduard Zwermann,

die erste Anwendung desselben (zugleich der Grund aller übrigen) auf Gegenstände der uns möglichen Anschauung ist. Sie ist, als figürlich, von der intellektuellen Synthesis ohne alle Einbildungskraft bloss durch den Verstand unterschieden.“ (672.)

Das spontane Hineinlegen der Synthesis a priori in die Er- fahrung ist also nunmehr als ein „Notwendig gemäss sein“ er- kannt. Freilich können wir nicht a priori wissen, was uns die Er- fabrung in Zukunft noch enthüllen mag; aber das wissen wir, dass alle mögliche Erfahrung den Kategorien, also den Bedingungen, auf denen die Möglichkeit der Erfahrung überhaupt beruht, notwendig gemäss sein muss. Und damit ist dann auch der Verdacht des Pro- duzierens oder Konstruierens der Gegenstände zerstreut. Aber wohl gemerkt: die Synthesis der Apprehension, d. i. der empirischen Wahrnehmung muss der Synthesis der Apperception oder dem reinen Verstandesbegriffe notwendig gemäss sein und nicht umgekehrt. Nicht der gemeinen Erfahrung verdanken wir die Erkenntnis der Natur, denn die Sinne können uns auch täuschen; sondern das wissenschaftliche Denken ist es, welches objektiv giltige Urteile erzeugt. Darin bestebt ja eben die veränderte Methode der Denkungs- art, welche die kritische Philosophie lehrt, dass sie die Dinge sich um unsere Begriffe drehen lässt. „Es ist hiermit eben so, als mit den ersten Gedanken des Copernieus bewandt, der. nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zu- schauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen und dagegen die Sterne in Ruhe liess.“ (17/18.)

Es verhält sich also die Apprehension zur Apperception wie die sinnliche Vorstellung zum Begriffe, oder der wahrgenommene Gegen- stand zum erkannten. Diesem Ergebnisse gemäss erhält nunmehr auch die Trennung zwischen Wahrnehmungs- und Erfahrungsurteilen Sinn und Bedeutung. Wahrnehmen ist noch kein Erkennen; aber die Beziehung auf ein Objekt Jiegt schon in der Wahrnehmung und also auch im Wahrnehmungsurteil, Zum Erkenntnis wird die Wahr- nehmung aber erst dadurch, dass ich die Synthesis der sinnlichen Anschauung auf Begriffe bringe, die Apprehension zur Appereeption erhebe. Die anschauliche Vorstellung ist zu unterscheiden von der begrifflichen, wäre aber jene von dieser toto genere verschieden, so wäre es unbegreiflich, wie ich eine Erkenntnis von Gegenständen der Sinne würde haben können. Begreiflich wird es nur dadurch, „dass

Die transscendentale Deduktion. 468

es dieselbe Spontaneität ist, welche dort unter dem Namen der Ein- bildungskraft, hier des Verstandes, Verbindung in das Mannigfaltige der Anschauung bringt“. (679.) Um allem Missverständnis zu be- gegnen, wäre es daher vielleicht sinngemässer, zwischen Wahrnehmungs- und Erkenntnisurteilen zu unterscheiden anstatt zwischen Wahr- nehmungs- und Erfahrungsurteilen. Die weitere Ausführung dieses Gedankens: unter welcher Bedingung nämlich der Begriff mit der sinnlichen Vorstellung gleichartig sein kann, gehört in das Kapitel vom Schematismus, wo gezeigt wird, dass es das Schema ist, welches die Vereinigung von Bild und Begriff vollzieht.

Wir haben bisher, indem wir dem Gange der Untersuchung in der ersten Bearbeitung der Deduktion folgten, die Bedingungen, auf denen die Möglichkeit der Erfahrung beruht, als solche erkannt, auf denen auch die Möglichkeit des Gegenstandes der Erfahrung beruht. Aber nicht allein die Vorstellung des Objekts enthält die Erfahrung, sondern auch die des identischen Ich, Alle Objektivität besteht in der gesetzmässigen Verknüpfung des Mannigfaltigen; die Kategorie ist der allgemeine Ausdruck für diese Gesetzmässigkeit; daher ist ihre Anwendung auf Gegenstände der Erfahrung nicht nur möglich, sondern sogar notwendig, denn ohne dieselbe würde ich überhaupt keine objektiven Vorstellungen haben können. Dieselbe transscenden- tale Bedingung nun, die den Objekten in der Erfahrung zu Grunde liegt, liegt auch dem Ich in der Erfahrung zu Grunde,

In der zweiten Bearbeitung der Deduktion hat Kant das Problem von dieser Seite aus in Angriff genommen, Doch finden sich auch sehon in der ersten Stellen, an denen die transscendentale Appercep- tion als die notwendige Bedingung auch für die Möglichkeit des empirischen Selbstbewusstseins bezeichnet wird. „Diese Einheit des Bewusstseins wäre unmöglich, wenn nicht das Gemüt in der Erkennt- nis des Mannigfaltigen sich der Identität der Funktion bewusst werden könnte, wodurch sie dasselbe synthetisch in einer Erkenntnis ver- bindet. Also ist das ursprüngliche und notwendige Bewusstsein der Identität seiner Selbst zugleich ein Bewusstsein einer eben so not- wendigen Einheit der Synthesis aller Erscheinungen nach Begriffen, d. i. nach Regeln, die sie nieht allein notwendig reproducibel machen, sondern dadurch auch ihrer Anschauung einen Gegenstand bestimmen, d. i. den Begriff von etwas, darin sie notwendig zusammenhängen : denn das Gemtit konnte sich unmöglich die Identität seiner Selbst in der Mannigfaltigkeit seiner Vorstellungen und zwar a priori denken, wenn es nicht die Identität seiner Handlung vor Augen

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hätte. welche alle Synthesis der Apprehension (die empirisch ist) einer transscendentalen Einheit unterwirft und ihren Zusammenhang nach Regeln a priori zuerst möglich macht.“ (121 f.)

Dem empirischen Selbstbewusstsein muss ein transscendentales zu Grunde liegen. Die transscendentale Apperception als der Grund der notwendigen Einheit der Synthesis aller Erscheinungen ist iden- tisch mit dem reinen oder transscendentalen Selbstbewusstsein. Das ursprüngliche und notwendige Bewusstsein der Identität des Ich ist zugleich das Bewusstsein der Synthesis des Mannigfaltigen in den objektiven \orstellungen. Erst auf Grund dieser objektiven Synthesis kann die Vorstellung eines bei allem Wechsel der Erscheinungen identischen Ich. auf welches diese Erscheinungen bezogen werden, entstehen. Das empirische Selbstbewnsstsein ist daher von dem transscendentalen wohl zu unterscheiden. Das transscendentale ist identisch mit den Kategorien oder der transscendestalen Appereeption und der Grund des empirischen. Da nun die Vorstellung „Ich“ ein Denken und nicht ein Anschauen ist das reine Selbstbewusstsein also im Denken besteht, so kann es auch für die objektive Gesetzes- einheit stehen und die Ableitung des Gegenstandes demgemäss aus dem Selbstbewusstsein erfolsen. Die Affinität der Erscheinungen. dadurch sie unter beständicsen Gesetzen stehen und darunter gehören müssen. beraht auf der numerischen Idenutat des Ich in aller Er- fabrung. Da nur diese Identität notwendig in die Svnthesis alles Mannisfaltisen der Erscheinuncen. »fern sie empirische Erkenntnis werden sell bineinkommen muss so sind die Erscheinungen Bedin- cunsen a priori unterworfen. welchen ihre Svnthesis (der Apprehension) durcheänzie mis sein mu” (12%: „Alle Vorstellungen haben eine notwendic Reziehunr ant ein mictcbes empirisches Bewusst- sain: denn hätten sie dieses nicht und wäre es cänzlich unmictich. sch ihrer bewusst zu werden: so würde das so viel sagen. se exitierten car nicht. Alles empirische Bewustæin hat aber eine miwendice Reriebuns auf ein wanswemientaks (vor aller besonderen Erfahrung vorbergebendes: Rewusssein nambich das Bewusstsein meiner Sellsz ak die urspriincliche Appercepten. Es nt ako schlecht bin mtwendic. cas in meinem Ertenrimise alles Bewusstsein zu einem BRewassteun meiner Selist. cebire- «TEN:

Diese Nitre enthahen die Fundamensaicedanken der Vernunft- knuk: Das twasceendentak Rewastein der das identicche Ich ist das Gesetz der Erscheimanren. Die Dince existieren 98 wie sie ums

Die transscendentale Deduktion. 465

hoben. Die Naturgesetze sind nicht die Gesetze der Dinge an sich, sondern der Dinge als Vorstellungen in uns. Das ganze Selbst- bewusstsein liefert uns nichts, als lediglich unsere eigenen Bestim- mungen. Die Gegenstände der Erfahrung sind als Fälle von Ge- setzen zu betrachten; diese Gesetze sind Denkgesetze, beruhen auf Begriffen; das begriffliche Bewusstsein ist das Selbstbewusstsein, folglich beruhen alle Gegenstände der Erfahrung auf dem Selbstbewusstsein als der transscendentalen Bedingung ihrer Möglichkeit überhaupt. So verkettet sich in der ersten Bearbeitung der Deduktion der Zusammenhang der Kantischen Gedanken. Die Beziehung des Ver- standes auf Gegenstände der Sinne ist nicht nur möglich, sondern sogar notwendig, weil ohne synthetische Einheit in den Wahrnehmungen niemals Einbeit der Erfahrung daraus zu stande kommen könnte. „Alsdann fiele aber auch alle Beziehung der Erkenntnis auf Gegenstände weg, weil ihr die Verknüpfung nach allgemeinen und notwendigen Gesetzen mangelte, mithin würde sie zwar gedankenlose Anschauung, aber niemals Erkenntnis, also für uns so viel als garnichts sein.“ (123 f.) Es wtrde damit aber auch die Beziehung der Wahrnehmungen auf das identische Selbst wegfallen, denn an dem unverbundenen Mannigfaltigen kann das Ich die Identität seiner Selbst nicht rekognos- zieren. Das Bewusstsein der Identität seiner Selbst ist zugleieb das Bewusstsein einer ebenso notwendigen Einheit der Synthesis aller Erscheinungen. An dieses Resultat der ersten Deduktion knüpft die zweite direkt an, indem sie an die Stelle des identischen Ich das: Ich denke setzt, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können. Auf Grund der Einheit des Selbstbewusstseins in allen Vor- stellungen, an dem doch wohl niemand zweifeln kann, wird dem Skepticismus gegenüber die Möglichkeit, ja sogar die Notwendigkeit einer objektiven, d. i. gesetzmässigen Erfahrung, deduriert Das „Ich denke“ involviert eine Synthesis der Vorstellungen und ist nur durch das Bewusstsein dieser Synthesis möglich. „Denn das empirische Bewusstsein, welches verschiedene Vorstellungen begleitet. ist an sich zerstreut und ohne Beziehung auf die Identität des Subjekts. Diese Beziehung geschieht also dadurch noch nicht, dass ich jede Vor- stellung mit Bewusstsein begleite, sondern dass ich eine zu der andern hinzusetze und mir der Synthesis derselben bewusst bin. Also nur dadurch, dass ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem Bewusstsein verbinden kann, ist es möglich, dass ich mir die Identität des Bewusstseins iu diesen Vorstellungen selbst vor- stelle . . .; denn sonst würde ich ein so vielfärbiges verschiedemes Kantetudien V. 30

466 Dr. Eduard Zwermann,

Selbst haben, als ich Vorstellungen habe, deren ich mir bewusst bin ... Dieser Grundsatz der notwendigen Einheit der Apperception ist nun zwar selbst identisch, mithin ein analytischer Satz, erklärt aber doch eine Synthesis des in einer Anschauung gegebenen Mannig- faltigen als notwendig, ohne welche jene durchgängige Identität des Selbstbewusstseins nicht gedacht werden kann . . . Ich bin mir also des identischen Selbst bewusst, in Ansehung des Mannigfaltigen der mir in einer Anschauung gegebenen Vorstellungen, weil ich sie ins- gesamt meine Vorstellungen nenne, die eine ausmachen. Das ist aber so viel, als, dass ich mir einer notwendigen Synthesis derselben a priori bewusst bin, welche die ursprüngliche synthetische Einheit der Apperception heisst, unter der alle mir gegebenen Vorstellungen stehen, aber unter die sie auch durch eine Synthesis gebracht werden müssen.“ (660 ff.)

Es ist freilich nur ein identischer Satz, dass ohne Bewusstsein nichts vorgestellt werden kann, aber dieses Bewusstsein, welehes in den allgemeinen Ausdruck „Ich denke“ zusammengefasst werden kann, besteht in der Identität der Synthesis des Mannigfaltigen aller Erscheinungen und erklärt eben damit die synthetische Einheit der- selben als notwendig. Die ursprüngliche Einheit des Selbstbewusst- seins ist die objektive, synthetische, wovon die subjektive, analytische, die blosse Folge ist. „Die synthetische Einheit des Bewusstseins ist also eine objektive Bedingung aller Erkenntnis, nicht deren ich bloss selbst bedarf, um ein Objekt zu erkennen, sondern unter der jede Anschauung stehen muss, um für mich Objekt zu werden, weil auf andere Art, und ohne diese Synthesis, das Mannigfaltige sich nicht in einem Bewusstsein vereinigen würde.“ (663.) Das Selbstbewusst- sein geht also nicht vor der Vorstellung des Gegenstandes vorher, sondern entsteht an und mit der Synthesis; die Kategorie ist kein Produkt eines subjektiven Erkenntnisvermögens, sondern ist der Ver- stand selbst, das objektive Gesetz der Erscheinungen. Folglich ist auch die Erscheinung kein Produkt subjektiver Erkenntnisvermögen; das spontane, die Dinge erzeugende, Ich besteht in den objektiven synthetischen Einheiten, den Kategorien.

Somit sehen wir auch hier wieder das Resultat, welches wir aus der ersten Bearbeitung der Deduktion gewonnen hatten, bestätigt, dass die subjektiven Erkenntnisvermögen vielmehr als objektive Erkenntnisgesetze zu betrachten sind. Die Receptivität des Bewasst- seins verhält sich zur Spontaneität wie das Mannigtaltige im Bewusst: sein zu seiner Form. Wir können nicht begreifen, wie Erfahrung

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entsteht, weil wir nicht begreifen können, wie das Bewusstsein ent- steht, noch wie aus dem Mannigfaltigen und dem Gesetze die Dinge entstehen. Das Naturgesetz ist die Spontaneität in den Dingen, das objektive Bewusstsein und nicht das subjektive. Wir machen nicht den Zinnober rot und schwer, indem wir das in der Wahrnehmung gegebene Mannigfaltige spontan zum Gegenstande verknüpfen; denn isoliert genommen enthält weder das unverbundene Mannigfaltige noch die Kategorie die Nötigung zu einer so bestimmten Verkntipfung. Demgemäss heisst es auch in den Prolegomenen: „Um alles bisherige in einen Begriff zusammenzufassen, ist zuförderst nötig, die Leser zu erinnern, dass hier nicht von dem Entstehen der Erfahrung die Rede sei, sondern von dem, was in ihr liegt.“ ($ 21a.)

Thatsichlich kann auf Grund des Ergebnisses der Deduktion: dass das Objekt in der objektiven Vorstellung besteht, das Entstehen der Erfahrung überhaupt nicht begriffen werden, weil wir nicht be- greifen können, wie durch das Einwirken der Spontaneität auf die Receptivität, d. i. der Bestimmung auf das Bestimmbare, die Bestimmt- heiten im Bewusstsein entstehen können. Objektive Vorstellungen sind als Einheiten im Bewusstsein gegeben; an diesen können wir die beiden Bestandteile unterscheiden, nämlich das Mannigfaltige und die Kategorie, die sich verhalten wie Receptivität zur Spontaneität. Diese beiden Bestandteile sind aber niemals getrennt vorhanden. Das Mannigfaltige ist nicht schon vor der Aufnahme in das Bewusst- sein, etwa als zerstreutes, noch unverbundenes vorhanden, das seine Verbindung erst durch das Bewusstsein erhielte. Vielmehr ist es nur im Bewusstsein gegeben, als Modifikation desselben und nur in Verbindung mit der Kategorie, das heisst an einem Gegenstande. „Z. B. wenn ich mir rot überhaupt vorstelle, so stelle ich mir dadurch eine Beschaffenheit vor, die (als Merkmal) irgend woran angetroffen, oder mit anderen Vorstellungen verbunden sein kann; also nur ver- möge einer vorausgedachten möglichen synthetischen Einheit kann ich mir die analytische vorstellen. Eine Vorstellung, die als ver- schiedenen gemein gedacht werden soll, wird als zu solchen gehörig angesehen, die ausser ihr noch etwas Verschiedenes an sich haben, folglich muss sie in synthetischer Einheit mit anderen (wenn gleich nur möglichen Vorstellungen) vorher gedacht werden, ehe ich die analytische Einheit des Bewusstseins, welche sie zum conceptus communis macht, an ihr denken kann.“ (660.)

Das Mannigfaltige beruht also nicht auf der Receptivität der Sinnlichkeit, gleichwie die Kategorie nicht auf der Spontaneität des

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468 Dr. Eduard Zwermann,

Verstandes beruht, sondern beide Bedingungen sind als Bestandteile an einer objektiven Vorstellung im Bewusstsein gegeben. Spontanei- tät und Receptivität sind nicht Funktionen des Bewusstseins in der Wahrnehmung, sondern diese Trennung wird vollzogen am Wahr- genommenen, bezieht sich auf den Bewusstseinsinhalt. Die Sinn- lichkeit besteht im Mannigfaltigen, bezeichnet das Mannigfaltige, wie auch der Verstand in der Kategorie besteht. Wir haben den objek- tiven Bestand der Erfahrung auf seine Bedingungen hin analysiert. Und nur so lässt es sich verstehen, wie wir objektive Vorstellungen haben können, wenn wir nämlich die Objekte nur in den Vor- stellungen bestehen lassen, aber nicht, wenn wir die objektiven Vor- stellungen durch den Einfluss äusserer Objekte entstehen lassen. Wenn der Gegenstand nur im Bewusstsein besteht, so kann von einer Entstehung objektiver Vorstellungen auf Grund der Wahrnehmung keine Rede mehr sein. Die Receptivität und Spontaneität des Be- wusstseins auf die Wahrnehmung bezogen, zur Erklärung der Mög- liehkeit des Entstehens objektiver Vorstellungen, musste zu unendlich vielen Missverständnissen Anlass geben.

Wir dürfen nun nicht mehr sagen, dass Objekte wahrgenommen werden, denn das apprehendierende Bewusstsein und der apprehen- dierte Gegenstand sind nicht getrennt vorhanden; sondern dass Objekte in der Wahrnehmung gegeben sind. Das Mannigfaltige kommt nieht durch die Sinne in uns, sondern liegt in den Sinnen, aber die Synthesis liegt nicht in den Sinnen, sondern im Verstande. Und darum muss die Einbildungskraft ein notwendiges Ingredienz der Wahrnehmung sein; sie heisst „produktiv“, nicht weil sie die Verknüpfung a priori notwendig macht, sondern weil ihre Synthesis, die Synthesis der Apprehension, welche empirisch ist, der Synthesis der Apperception, welche intellektuell und gänzlich a priori in der Kategorie enthalten ist, notwendig gemäss sein muss. Das produk- tive Ich ist das Gesetz in den Dingen; und weil dieses Gesetz ein Denkgesetz ist, darum muss der empirische Gegenstand dem a priori im wissenschaftlichen Bewusstsein gedachten notwendig gemäss sein, da er sonst für uns nichts sein würde. Von einer verknüpfenden Thätigkeit des Ich in der Wahrnehmung kann keine Rede mehr sein, weil dieses Ich selbst in der Kategorie besteht, in dem Gesetze, auf dem die Dinge beruhen.

“Kant fasst das Resultat dieser Deduktion der Verstandesbegriffe am Schlusse der zweiten Bearbeitung in folgenden Sätzen zusammen: „Wir können uns keinen Gegenstand denken, ohne durch Kategorien;

Die transscendentale Deduktion. 469

wir können keinen gedachten Gegenstand erkennen, ohne durch Anschauungen, die jenen Begriffen entsprechen. Nun sind alle unsere Anschaunngen sinnlich, und diese Erkenntnis, sofern der Gegenstand derselben gegeben ist, ist empirisch. Empirische Er- kenntnis aber ist Erfahrung. Folglich ist uns keine Erkenntnis a priori möglich, als lediglich von Gegenständen möglicher Er- fahrung ... Nun sind nur zwei Wege, auf welchen eine notwendige Übereinstimmung der Erfahrung mit den Begriffen von ihren Gegen- ständen gedacht werden kann: entweder die Erfahrung macht diese Begriffe, oder diese Begriffe machen die Erfahrung möglich. Das erstere findet nicht in Ansehung der Kategorien (auch nicht der reinen sinnlichen Anschauung) statt; denn sie sind Begriffe a priori, mithin unabhängig von der Erfahrung (die Behauptung eines empirischen Ursprungs wäre eine Art von generatio aequivoca). Folglich bleibt nur das Zweite übrig (gleichsam ein System der Epigenesis der reinen Vernunft): dass nämlich die Kategorien von seiten des Verstandes die Gründe der Möglichkeit aller Erfahrung überhaupt enthalten .. Wollte jemand zwischen den zwei genannten einzigen Wegen noch einen Mittelweg vorschlagen, nämlich, dass sie weder selbstgedachte erste Prinzipien a priori unserer Erkenntnis, noch auch aus der Erfahrung geschöpft, sondern subjektive, uns mit unserer Existenz zugleich eingepflanzte Anlagen zum Denken wären, die von unserem Urheber so eingerichtet worden, dass ihr Gebrauch mit den Gesetzen der Natur, an welchen die Erfahrung fortläuft, genau stimmte, (eine Art von Präformationssystem der reinen Vernunft), so würde (ausser dem, dass bei einer solchen Hypothese kein Ende abzusehen ist, wie weit man die Voraussetzung vorbe- stimmter Anlagen zu künftigen Urteilen treiben möchte) das wider gedachten Mittelweg entscheidend sein: dass in solchem Falle den Kategorien die Notwendigkeit mangeln wiirde, die ihrem Begriffe wesentlich angehört.“ (681ff.)

Dieser Grund ist es indessen nicht allein. Vielmehr würden wir bei der Annahme, dass wir durch die Kategorien die Dinge erkennen, wie sie an sich sind, einerseits in die Antinomie des Weltbegriffs geraten, und andererseits würde kein Raum mehr sein für die intelligible Welt. Nicht die Möglichkeit objektiver Erkennt- nis wäre damit in Frage gestellt; denn die Naturwissenschaft geht ihren sicheren Weg, auch ohne eines Beglaubigungsscheines von der Philosophie zu bedürfen; sondern die Möglichkeit der über- sinnlichen Welt, der Welt der Ideen. Freiheit, als die notwendige

370 Dr. Edusrd Zwermann, Die transscendentale Deduktion.

Voraussetzung aller Sittlichkeit, wäre nicht möglich in einer Welt, in welcher der Naturmechanismus allein als wirkende Ursache gilt. Die Kritik lehrt die Dinge in zweierlei Bedeutung nehmen, als Gegenstände der Erfahrung und als Dinge an sich. Die Deduktion rechtfertigt den Gebrauch der reinen Verstandesbegriffe von Er- fahrungsobjekten, und schränkt damit zugleich alles theoretische Erkennen auf blosse Erscheinungen ein. Damit ist der spekulativen Vernunft die Anmassung tibersinnlicher Einsichten benommen. Aber dieses anscheinend negative Resultat nimmt alsbald einen eminent positiven Charakter an, „wenn man inne wird, dass die Grundsätze, mit denen sich spekulative Vernunft über ihre Grenze hinauswagt, in der That nicht Erweiterung, sondern . . Verengung unseres Ver- nunftgebrauchs zum unausbleiblichen Erfolg haben, indem sie wirklich die Grenzen der Sinnlichkeit . . über alles zu erweitern und so den reinen (praktischen) Vernunftgebrauch gar zu verdrängen drohen“. (22.)

Zu Hemans „Kant und Spinoza“.

Von Friedrich Paulsen.

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Prof. Heman hat seinem Artikel „Kant und Spinoza“ (im vorigen Heft der KSt.) Bemerkungen über eine Auffassung dieses Verhältnisses, die angeblich in meinem Kant sich finden soll, eingefügt. Es heisst dort, dass ich „als die Kant und Spinoza gemeinsame religiöse Anschauung ihnen einen Pantheismus zuschreibe folgenden Inhalts: Gott ein supramundanes Wesen, dem die Wirklichkeit immanent ist“. Und daran schliessen sich dann Belehrungen darüber, dass dies weder die Anschauung Kants noch Spinozas sei (S. 816 ff.).

Es ist mir nicht bekannt, dass ich jemals gesagt oder geglaubt habe, dass die obige Formel, die ich zur Bezeichnung der Kantischen Auf- fassung von dem Verhältnis Gottes zur intelligiblen Wirklichkeit gebraucht habe (Kant, 2. Aufl. S. 266), zugleich auch Spinozas Lehre über das Ver- hältniss von Gott und Welt zu bezeichnen tauglich sei. Ich werde daher, bis Heman mich eines andern belehrt, die Zurechtweisungen, die er mir über Spinozas Pantheismus erteilt, als durchaus deplaciert ansehen.

Ob die Formel zur Bezeichnung der Kantischen Ansicht, wofür ich sie allein gebraucht habe, geeignet ist, das mag jemand mit so guten Gründen, als er kann, bezweifeln. Ich ersuche ihn aber, sie nicht, wenn er sie widerlegen will, erst willkürlich zu verändern, wie es Heman thut, indem er, mich berichtigend, sagt: „nach Kant ist wohl Gott supramundan, aber eben deswegen nicht der Welt immanent“, was ein offenbarer Widerspruch wäre. Der Widerspruch gehört nicht mir, sondern ausschliesslich Heman an. Ich sage nicht: nach Kant ist Gott ein supramundanes und zugleich ein der Welt immanentes Wesen, sondern: die Wirklichkeit (die intelligible, nicht die phänomenale Welt) ist Gott immanent, Gott aber ist supramundan, d. h. er geht schlechterdings nicht in der Welt als dem Inbegriff der Er- scheinungen auf. Ich denke richt, dass die Verschiedenheit dieser Sätze leicht zu verfehlen oder zu übersehen ist.

Es ist ein weiterer Irrtum Hemans, wenn er mich in diesem Gedanken die „religiöse“ Anschauung Kants (und Spinozas) sehen lässt. Ich sehe darin nichts als die Fassung eines metaphysischen Gedankens. Der religiöse Inhalt des Gottesbegriffs besteht nach Kant nicht in den metaphysischen, sondern in den moralischen Prädikaten.

Auf die Sache selbst, das Verhältnis des Kantischen Gottesbegriffes zum Spinozistischen, gehe ich nicht ein. Dass die Frage mit der Formel Hemans: „Spinozas Gott und Kants Gott haben nichts gemein als den

472 Paulsen, Za Homens , Kant und Spinosa- Heman, Nachwert.

flatus vocis*. nicht abgethan sei, findet er selbst am Ende in einer Stunde rahigerer Überlegung, oder vielmehr. er deutet es selbst am Schluss seines Aufsatzes an. dass auch ein positires Verhältnis stattfindet Übrigens wird ja durch keinen Wind heftiger Worte die Thatsache aus der Welt geschafft. das in dem idealistischen Pantheismus der spekulatiren Philosophie Kantische und Spinozistische Elemente zusammengeschmolzen sind Und das Kants Gottesbeenff mit seinem blofs „symbolischen Anthropomorpkismus* dem Gottesteerff Spinozas näher steht, als der Gottesbegriff des heil Thomas, der Gow Vernunft und Willen nm eigentlichen, wenn anch nicht im menschbchen Sinne beilegt. wird schhesslieh auch Heman nicht in Abrede Steller. wollen. wotz seiner Behauptung: Kant thut mit der Ab:zreifung des Antkropomorphismus „nicht mehr und nicht weniger. al: alle Theologen vor ike. zethan haben, er ist Theist, woe alle vor ihm*. Dass aber Kants Gottesbegniff die Züge des naturalsusschen Panthessmes Spanozas an sath trage oder dass Kant die Natur vergécniche, habe ich natürlich ebenso- wenig behauptet. als dass Spinoza die Supramundanitäz Gottes lehre.

Pojemik hat ibr Recht und ihren Nutsen Aber nur wenn se den Gegner simmt wie er it sonst führ die Sache re nichts zu mchts als sichern apesspresebeher Ausemandersetzungen. wie diese hier.

Nachwert.

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Recensionen.

Stange, Carl, Lic. Privatdozent der Theologie an der Universität Halle. Einleitung in die Etkik. I. System und Kritik der Ethischen Systeme. Leipzig, Dieterich 1900. (194 S.)

Von S.81 bis zum Schluss dieser Arbeit, also in ihrer weitaus grösseren Hälfte, handelt St. über die Ethik Kants. Welchen Wert er mit Recht auf diesen Teil seiner Ausführungen legt, hebt er selbst hervor: „Wenn der Kantischen Ethik die vornehmste Stelle eingeräumt wird, so soll damit die Überzeugung zum Ausdruck gebracht werden, dass die Kantische Ethik auch für die Gegenwart noch aktuelle Bedeutung hat. Über Kant hinaus wird die wissenschaftliche Ethik erst dann gelangen können, wenn die Kantische Ethik selbst eine historische Grösse geworden ist, d. h. wenn das Verständnis dessen, worin die Grösse und worin die Schranke der Kantischen Interpretation des Sittlichen besteht, nicht mehr ein Problem und ein Gegenstand des Streites ist. In dieser Beziehung aber ist, glaube ich, auch durch die eingehenden Untersuchungen von Cohen, Hegler und Windelband das letzte Wort noch nicht gesprochen worden. Die Auslegung der Kantischen Ethik ist vielmehr in einer ganzen Reihe von wesentlichen Punkten noch durchaus ein Problem.“ (S. Vf.)

Der Recensent glaubt, dass nach der vorliegenden trefflichen Arbeit die Auslegung der Kantischen Ethik aufhören wird, in den wesentlichsten Punkten ein Problem zu sein. Nicht als ob der Verfasser in seinen klaren, eindringenden und folgerichtigen Ausführungen alles, was zum Verständnis der Kritik d. pr. V. dient, erschöpft hätte. Die bedeutungsreiche Lehre Kants von der „Einschränkung“ der Neigungen durch das kategorische Gesetz der Vernunft hätte z. B. mehr herangezogen werden können. Sie hätte dem Abschnitt über die Parallele zwischen der Kritik der reinen und der pr. V. noch einen neuen Gesichtspunkt zugeführt (vgl. meinen Aufsatz KSt. II, ö0ff., 259 ff). Im übrigen liegt hier eine Durchdenkung und Durchprüfung der Kantischen Morallehre vor. die man als mustergültig bezeichnen darf. Zumal freut es Recensenten, dass sich das Resultat dieser sorgfältigen Analyse mit der Meinung deckt, die er selbst bezüglich der Ethik Kants vertritt, dass zwar Kant durch seine Krit. d. pr. V. die ethische Theorie auf das äusserste befruchtet habe. Hat er doch erst wieder die unvergleichliche Eigenart des Sittlichen entdeckt und den unverlierbaren Begriff von der Autonomie des sittlichen Willens geschaffen. Aber er bat die Bedeutung dieses Begriffs durch seinen Rationalismus wieder verdunkelt, so verdunkelt, dass sein eignes System, vom Gesichtspunkte eines entschlossenen Willensapriorismus betrachtet (vgl. meine „Psy-

Kecensionen. 474 " Wllens Zur Grundlegung der Ethik’ den Charakter Morsllehre annimmt. Eben hier begegnen sich die ee denen des Rec. Will man sich davon überzeugen, Ynchsnungen St 4 ye itationalismus zum Vers’äcini- der ~ittlichen Urteile ungpetsnel Nes Veröffentlichung. | 7 | "mn wir belehrt, Kant von den Urtelien der gemeinen Inden, werden à he, suche er durch ‘He Arairse der in diesen Brille die prinzipielle Eixertöüm.:rikeit des Sittlichen Ne Atsittlichen dentlich zu mac:.-n. um dann weiterhin gen Bedingungen aufzuweisen. auf denen diese Hierbei werde das Verständnis des Kantischen ert, dass der Aufbai Qesselben nicht lediglich durch RER | immt sei. die sich aus dem Gegenstand der „olehe ben. Der Gedankenzans, dem RK. in der Kr. othisehen Wissensehä die Methode, die sich in der Ar dr. V. als A pr. N false. sel vielfach beeinflusst worden Umsomehr erhebe sich Inauechlar erwiesth teresse am Par«ilelismns beider Systeme in der Sache de Frage. ob Kb nicht der yruktischen Philosuphie durch jene hegrundet ser! ‚wat pesc hein Dement=prechend habe es die Dar- Paralion serune hen Etbik mir einer doppelten Aufyabe zu thun. Sie abus der À n KS repreitzieren, so Wie er es im Hinblick auf das unse | as N ischer Veruunf? entwickeit habe. Sie müsse U. unter- Rss det De der Parallelismmus zwischen der theoretischen und der NE. u ft berechtizt svi und inwieweit dieser Parallelismus des gi" u ufbaus die wissenschaftliche Interpretation des Sittlichen re ust habe N. S5f.

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Interachied vom Nie! in ‘er Vernunft digen! Renrilfe ruhen (8. 88. DIE dadureh erschW ( vesiehtspunkee

e's Darstellung der ‚Kantischen Morallehre. ‚or Parallele zur Kr d. r. V. zerfalle auch die Kr. d. pr. V. in hv ne Teil beschaftigze sich mit der Fraze nach den apriorischen et a pr. V. (Analytikı, währen! es der zweite Teil mit dem er Erweiterung unserer Erfahrungserkenntnis durch pr. V. ne zu thun habe. Die Untersuchungen der Analytik zerfallen in Een „Giebt es reine praktische Vernunft?” und .Giebt es

yet tische Vernunft?” ıS. 90). | et le erste dieser beiden Fragen: ist praktische Vernunft als reine k ich: beantworte Kant zuerst hypothetisch und sodann Erstens nämlich: praktische V. ist als reine V. möglich, wenn Gesetze ziebt. Und zweitens: praktische V. ist als reine V. N es praktische Gesetze giebt ib... Hierbei versteht K. unter Be Gesetzen” solche, in denen formale Bestimmungsgründe im PS gu materialen den Willen bestimmen (S. 92f.), und die uns a, mit einer objektiven Notwendigkeit im Unterschiede von der eisen Notwendigkeit der (materialen) Maximen der Selbstliebe (S. 96).

Nachdem Kant auseinandergesetzt habe, dass praktische Vernunft , Vernunft möglich ist. wende er sich weiterhin zu der Darlegung, a Ÿ. praktisch sein könne, d. h., dass eine Beeinflussung des

Recensionen. - 475

menschlichen Handelns durch reine Vernunft möglich sei. Nun könne man in doppelter Weise von einer Beeinflussung des Handelns reden: einmal insofern es sich darum handle, dass der Wille überhaupt zum Handeln bestimmt werde, sodann insofern es sich darum handle, dass der Wille zu einer ganz bestimmten Handlung bestimmt werde. Bei der Frage, wie reine V. praktisch sein könne, handle es sich dementsprechend erstens um die Frage: wie kann durch reine V. der Wille überhaupt zum Handeln bestimmt werden, d. h. wie ist es möglich, dass reine V. Bestimmungsgrund des Willens wird? und zweitens um die Frage: wie kann durch reine V. der Wille zu einer ganz bestimmten Handlung bestimmt werden, d.h. wie ist es möglich, dass reine V. dem Willen einen bestimmten Inhalt giebt? Die erste dieser Fragen beantworte K. in seiner Lehre von der Freiheit: die reine V. könne deswegen Bestimmungsgrund des Willens sein, weil der Mensch ein Vermögen habe, sich durch reine Vernunft bestimmen zu lassen, nämlich die Freiheit (S. 98, 100. Mit der zweiten Frage beschäftige sich insbesondere der Abschnitt „von der Typik der reinen praktischen Urteilskraft* (S. 98). Dort antworte K. auf diese Frage mit dem Hinweis auf die Allgemeingültigkeit des rein formalen Gesetzes. Reine Vernunft bestimme den Inhalt der sittlichen Handlung, indem sie von der Maxime die Allgemeinheit eines Naturgesetzes fordere (S. 102).

8. Nach der Beantwortung der Probleme der Analytik geheK. nicht sogleich zur Dialektik der reinen praktischen V. über. In einem dritten Hauptstück der Analytik handle er vorher „von den Triebfedern der reinen praktischen Vernunft.* Man könne versucht sein, zu meinen, dieser Abschnitt habe es mit der Frage zu thun, wie esvon seiten des moralischen Gesetzes zur konkreten Willensbestimmung komme. Indessen darum sei es K. nicht zu thun. Genug, dass nach ihm die Triebfeder des sitt- lichen Willens niemals etwas andres als das moralische Gesetz sein könne. Wie es das mache, gelte ihm für ein der menschlichen Vernunft unauflösliches Problem. Statt dessen sehe K. selbst die Aufgabe dieses Abschnitts darin, „zu bestimmen, auf welche Art das moralische Gesetz Triebfeder werde und was, indem sie es ist, mit dem menschlichen Begehrungsvermögen als Wirkung jenes Bestimmungsgrundes auf dasselbe vorgehe.“ Hierdurch rücke der Abschnitt „von den Triebfedern der reinen praktischen V.“ inParallele mit der „transscendentalen Ästhetik“ der reinen spekulativen Vernunft. Wie dir tr. Ästh. mit den apriorischen Elementen unserer Anschauung, habe es das dritte Hauptstück der Analytik in der reinen praktischen Vernunft mit dem „praktisch gewirkten“, d. h. durch reine praktische V. verursachten und apriori erkennbaren Gefühl zu thun (S. 108f). Das Interesse, das K. an diesem Abschnitt habe, bestehe darin, dass er, nachdem er von den Grundsätzen der reinen pr. V. (1. Hauptstück) und von den Begriffen der reinen pr. V. (2. Hauptstück) gehandelt hat, endlich zu den Sinnen“ übergehe, um auch auf dem Gebiete der Sinnlichkeit die reine pr. V. in ihren Wirkungen nachzuweisen. Diese Anordnung sei in bewusster Rücksicht auf die in umgekehrter Reihenfolge geordnete Analytik der reinen theoretischen V. zustande gekommen (S. 104). Das Ergebnis, zu dem K. gelange, beweise aufs neue, wie wenig das

476 Recensionen.

moralische Gesetz von einem (Gefühl der Lust oder Unlust abhänge. Es wirke ein Gefühl, die Achtung. Diese sei ein der Vorstellung des Ge- setzes anhängendes Gefühl, das weder Lust noch Unlust sei. Sie spiele auch nicht als Antrieb zur Handlung erst die Vermittlerrolle zwischen dem Gesetze der reinen Vernunft und dem sinnlich afficierten Willen des Menschen. Die Achtung als „das Bewusstsein einer freien Unterwerfung des Willens“ unter das Gesetz sei vielmehr gerade die Garantie dafür, dass der Gehorsam gegen das moralische Gesetz unabhängig von allen Bestimmungsgründen der Neigung lediglich um des Gesetzes willen, d. h. aus Pflicht geleistet worden sei (S. 107).

Ebenso sorgfältig, wie diese Darstellung der Analytik in der Kritik der praktischen V. ist die der Dialektik. Sie soll hier nicht reprodzuiert werden. Man könnte übrigens zweifeln, ob, wie St. glaubt, als der Inhalt der vernunftbestimmten Handlung im Sinne K.'s die Allgemeinheit der sittlichen Maxime gelten müsse. Diese Maxime hat in jener Allgemeinheit sprachüblicher ihre Form. Freilich lässt sich selbst die allgemeine Form der Maxime, sofern sie etwas dem Willen von der Vernunft Überkommenes ist, als ein ihm von der Vernunft mitgeteilter Inhalt anzusehen. Das letzte Wort kann sich hier nur aus einem Studium der Kantischen Lehre von der „Einschränkung der Neigungen durch die blosse gesetzliche Form* ergeben.

II. Stange s Kritik der Kantischen Morallehre.

Die eben nachgewiesene Parallelisierung der Kr. d. praktischen V. mit der Kr. d. reinen V. wird nach St. nicht bloss nicht durch den Gegen- stand der Kr. d. pr. V. gefordert. Vielmehr sei die Interpretation der Sittlichen durch jene Parallelisierung erheblich gestört und gehemmt worden (S. 117).

1. Zunächst zeigt St. dass K. den Begriff des Apriori, ohne es selbst zu merken, in der Kr. d. pr. V. anders als in der Kr. d. r. V. ge- braucht. An die Stelle des Gegensatzes von apriorisch und empirisch, der in der Kr. d. r. V. sowohl auf dem Gebiet der Vernunft, wie auf dem Gebiet der Sinnlichkeit konstatiert werden konnte, trete der Gegen- satz von Vernunft und Sinnlichkeit. Apriorisch und empirisch bedeute in der Kr. d. pr. V. nicht mehr einen verschiedenen Geltungswert innerhalb jedes einzelnen der verschiedenen Vermögen der menschlichen Seele, sondern bezeichne einen verschiedenen Geltungswert der verschiedenen Vermögen unter einander (S, 121). Dementsprechend habe in der Kr. d. pr. V. sowohl das Merkmal der „Allgemeinheit“ (S. 124), wie das der „Notwendigkeit“ (S. 126) aufgehört, Erkennungszeichen des Apriori zu sein. Denn auch das Glückseligkeitsstreben, sei, wie K. einräumen müsse, all- gemein und subjektiv notwendig (ib.).

Doch K. spricht den ethischen Prinzipien objektive Notwendigkeit zu und hält sie deshalb für apriorische Elemente der pr. V. Hierauf ent- gegnet St., eben jene objektive Notwendigkeit der ethischen Prinzipien behaupte K. wieder nur infolge eines Missverständnisses. Die Thatsache, dass sich die ethischen Bestimmungsgründe von allen anderen Bestimmungs- gründen des Willens durch den bedingungslosen Anspruch auf Anerkennung unterscheiden, sei für ihn das Motiv, in den ethischen Sätzen Aussagen der

Recensionen. 477

reinen Vernunft zu sehen (S. 128). Statt dessen, meint unser Autor, lasse sich aus dem Begriff der Imperative deutlich machen, dass die kategorischen Imperative nicht Gesetz der Vernunft sein könnten. Sie drückten die Unterordnung eines Willens unter Autoritäten aus, sie seien nicht Gesetze, sondern Satzungen (S. 180f.). Auch aus dem Gegensatze der materialen Prinzipien der Selbstliebe und der formalen Natur der ethischen Urteile habe K. den Beweis für die Vernunft-Natur des sittlichen Gesetzes nicht erbracht. Dieser Gegensatz sei in der Kr. d. pr. V. gleichfalls ein andrer als in der Kr. d. r. V. (S. 181ff). Er sei ausserdem überhaupt kein klar bestimmter Begriffsgegensatz, sondern eine sachlich unhaltbare Formel. K. habe ihn mit Hilfe einer Doppeldeutigkeit konstruiert (S. 184). K. ver- stehe nämlich unter Materie nicht bloss die Materie des Gesetzes, sondern daneben auch die Materie des Begehrungsvermögens. Mitder letzteren Bedeutung operiere er, die erstere aber brauche er, um schliessen zu dürfen, dass „ausser der Materie des Gesetzes nichts weiter in demselben als die gesetzgebende Form enthalten sei“. Mit der Aufdeckung dieser Äquivokation falle die Richtigkeit des von K. gezogenen wichtigen Schlusses (S. 186 f.).

2. Die falsche Parallelisierung der pr. und der r. V. habe, fährt St. fort, K.'s Beurteilung des Sittlichen verhängnisvoll beeinflusst. Nachdem K. darauf habe verzichten müssen, aus der Allgemeinheit der ethischen Sätze ihren apriorischen Charakter zu erweisen, folgere er umgekehrt aus der Apriorität der ethischen Sätze, dass sie das Merkmal der Allgemein- gültigkeit haben müssen. Dies Merkmal künstle er ihnen dementsprechend hinterher an als ein vermeintliches Hilfsmittel, um daran diesittlicheNaturvon Maximen zu erkennen. Die Folge ist, abgesehen von der sachlichen Unbrauch- barkeit (S. 147 ff.) des Kriteriums, dass das sittliche Urteil, im Gegensatz zu anderen entschiedenenÄusserungenK.'s,keinunmittelbaresmehrseinkönne (S. 148f). Ebenso widerspreche jene Reflexion auf die Allgemeingültigkeit der Maxime auch dem absoluten Charakter des sittlichen Urteils: „Besteht nämlich die Eigentümlichkeit des sittlichen Urteils darin, dass es eineu absoluten. nicht bloss relativen Wert zum Ausdruck bringt, indem es die Handlung nicht bloss in Beziehung auf die Folgen, sondern als an sich gut bezeichnet, so wird nun demgegenüber das sittliche Gebot von den Folgen der Handlung abhängig gemacht. Die sittliche Möglichkeit einer Handlung hängt davon ab, ob sie den Bestand einer übersinnlichen Naturordnung befördert oder aufhebt. Im Gegensatz zu den eudämonistischen Prinzipien treten allerdings an die Stelle der sinnlichen Zwecke über- sinnliche Zwecke. Aber indem das Gebot überhaupt zu irgend welchem Zweck in Beziehung gesetzt wird, verliert es seine absolute Geltung. Die Geltung des sittlichen Gebots hängt davon ab, ob der Wert der übersinnlichen Zwecke anerkannt wird oder nicht.“ Nicht minder komme bei K.s Rationalismus der kategorische Charakter des sittlichen Urteils zu kurz. Die Reflexion auf die Allgemeinheit und die durch dies Merkmal gekennzeichneten übersinnlichen Zwecke werde nämlich unausbleiblich zu einem Bestimmungsgrunde des Willens. Und doch solite nach K. lediglich die Form des Gesetzes, das Soll des katego- rischen Imperativs. den Willen bestimmen (S. 144f.)!

478 Recensionen. Selbstanzeigen.

Dies St.'s Kritik an Kants Analytik der praktischen V. Ebenso sorg- fältig, umfassend und folgerichtig ist St.'s Darlegung und Kritik der Dialektik der pr. V. Im gleichen Sinne sind die Erörterungen gehalten, die der Verfasser in demselben Buche den Morallehren von Schleiermacher und Herbart widmet.

Halle a.S. H. Schwarz.

Selbstanzeigen.

Reininger, Robert. Kants Lehre vom inneren Sinn und seine Theorie der Erfahrung. Wien und Leipzig, Wilhelm Braumiiller, 1900. (154 S.)

Der Begriff des inneren Sinnes spielt in der Kantischen Philosophie eine zweifache Rolle: Einmal als Wahrnehmungsorgan der spezifisch inneren Vorgänge, dann aber auch als ein auch den äusseren Sinn umfassendes sinnliches Universalvermögen überhaupt. Von diesen beiden Auffassungen ist nur die erste als die legitime, von Kant ursprünglich seinem System zu Grunde gelegte anzusehen. Die unkritische Vermischung beider Auf- fassungen aber brachte es mit sich, dass Kant von dem neugewonnenen Standpunkte des transscendentalen Idealismus unvermerkt wieder zu dem von ihm zurückgewiesenen empirischen Idealismus abgedrängt wurde. Dadurch wurde aber bereits in die Grundlagen des Systems ein Widerspruch gebracht, dessen Folgen insbesondere in Kants Theorie der Erfahrung zu Tage treten. Thatsächlich hätte er diese zwei wesent- lich verschiedenen Formen annehmen müssen, je nachdem die eine oder die andere der genannten Auffassungen des inneren Sinnes ihr zu Grunde gelegt wurde.

Die vorliegende Schrift stellt sich nun die Aufgabe, in ihrem ersten Teile die Annahme jener zweifachen Auffassung des inneren Sinnes zu be- gründen, in ihrem zweiten Teile aber, die Kantische Theorie der Er- fahrung unter Berücksichtigung ihrer verschiedenen Ausgangspunkte nach jeder ihrer beiden Richtungen selbständig und möglichst widerspruchslos zu entwickeln. Nicht in dem vergeblichen Versuch einer apologetischen Vereinigung des Unverträglichen, sondern in der Auswicklung und schar- fen Sonderung der so vielfach verschlungenen Gedankenreihen unseres Philosophen erblickt der Verfasser die Möglichkeit, das Wertvolle und Charakteristische derselben zu einem dankbaren Gegenstande philosophischer Untersuchung zu machen. Insofern jene beiden Richtungen der Kantischen Erfahrungslehre als in ihrer Art typisch aufgefasst werden, ist die Absicht dieser Schrift nicht allein eine historisch-kritische, sie will vielmehr auch zeigen. welcher relativ befriedigenden Lösung die Probleme der Erfahrungs-

Selbstanzeigen. 479

lehre auf idealistischem Boden überhaupt fähig sind. Diese Endabsicht erforderte es aber, die Kantische Darstellung in zahlreichen Punkten im Sinne ihres Urhebers zu ergänzen und weiterzuführen.

Wien. Dr. phil. Robert Reininger.

Schultess, Justus. Der Pantheismus bei Kant. Leipziger Diss. 1900. (85 S.)

Unter Zugrundelegung der dem praktischen und teleologischen Teil der Kantischen Philosophie angehörigen Hauptschriften Kants („Kritik der praktischen Vernunft“, „Kritik der teleologischen Urteilskraft“, „Metaphysik der Sitten“ und „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“) versucht die Dissertation den Nachweis zu erbringen, dass, wenn wir den Anschauungen und Aussagen Kants über das Verhältnis Gottes zur Welt und zum Menschen, sowie über die Beziehungen des letzteren zu Gott und zur Welt (der sinnlichen und übersinnlichen) mit logischer Schärfe nachgehen, wir auf Resultate geführt werden, die specifisch pantheistisches Gepräge tragen. Nachdem in einem „Ersten Abschnitt“ das Wesen der pantheistischen Weltanschauung näher erörtert (Kap. I) und eine kurze Darstellung der den in Betracht kommenden Schriften Kants gemeinsamen Grundgedanken (Kap. II) gegeben worden ist, wendet sich die Untersuchung im „Zweiten Abschnitt“ zunächst dem praktischen Teil der Kantischen Philosophie zu und kommt, indem sie das gegenseitige Verhältnis von Gott, Welt und Menschheit näher ins Auge fasst, zu dem Resultat, dass, obwohl Kant ein über der Welt stehendes selbständiges göttliches Wesen postuliert, es unmöglich wird, an dieser Selbständigkeit festzuhalten, wenn wir daran denken, dass wir infolge der aller Orten nachweisbaren Analogien uns genötigt sehen, die Aussagen über Gott, sein Wesen, seine Eigenschaften, sein Verhältnis zum moralischen Gesetz etc. auf den Menschen als intelligibles Wesen mit gleichem Rechte zu übertragen selbst der „Gottesbeweis* (Kap. VI) vermag ein selbständiges göttliches Wesen nicht zu beweisen —, so dass wir mit Rücksicht darauf, dass bei Kant der Mensch als Herr und in gewissem Sinne auch als Schöpfer der Sinnenwelt erscheinen muss, insofern als die Idee der natura archetypa in ihm ihn bestimmt, der Sinnenwelt die Form zu erteilen (Kap. III), zu dem Schluss kommen müssen, dass der Mensch das Medium ist, durch welches Gott sich in der Welt selbst darstellt: S. 88: „Gott stellt durch Vermittlung des intelligiblen Menschen, in dem er sich selbst so objektiviert und manifestiert, wie er ist, in der Natursichselbstdar, indem dieser Mensch seine mit den göttlichen verwandten und die- selben repräsentierenden Ideen in der Erscheinungswelt zur Wirklichkeit werden lässt.“ So erscheint einerseits Gott als sich in der Welt objektivierend (erstes pantheistisches Moment vgl. Kap. I,} und andererseits der Mensch als die vollkommenste Selbstdarstellung jenes Gottes, sein Wesen stellt sich dar „als die höchste Stufe des sich Dar- und Auslebens Gottes in der Welt“ (zweites pantheistisches Moment vgl. Kap. In). Auf ein anderes pantheistisches Moment scheint der „Unsterblichkeitsbeweis“ der „Kritik der praktischen Vernunft“ zu führen, der, wenn man die sonstigen Aussagen über den „intelligiblen Menschen“

480 Selbstunscigen.

and sein Verhältnis zum göttlichen Wesen in semen Rahmen hmen- zapamen versucht, in der Form: „der Mensch soll sich emtwickeln zur moralischen Persönlichkeit“ oder wa dasselbe sagen will: „der Mensch soll sich von unten herauf zu Gott entwickeln‘. uns schhessheh wie die Untersuchung glanbt annehmen zu dürfen erinnern muss an die letzte Konsequenz des panthsistischen Grundgedankens ivgi Kap. 1 ,,): dass wir uns Gott im letzten Grunde zu denken haben als ein sich mehr und mebr vom Unbewussten und Unpersönlichen entwickelndes Bewusste» und Persönliches «+Evolutionismusı. Jenes unendliche Werden ist nichts anderes als ein schon Geworden-Sein. ein ins Unendliche gehendes Gott-Werden und doch schon Gott-Geworden- Sein; Gott und das Ich (vgi auch „Kritik der reinen Vernunft*, „Von den Paralogismen der reinen Vernunft“. Kehro. 297 f.) laufen als unendliche Parallelen bis ins Unabsehbare nebeneinander her und stehen zugleich in Wechselwirkung.

Eine Untersuchung der -teleologischen Urteilskraft* (Zweiter Ab- schnitt) führt. dem Gange dieser Schrift folgend. auf ähnliche Resultate. Der Mensch, der als Subjekt der Moralität Endzweck der Schöpfung ist, ist das Medium. ohne welches und ohne dessen Vermittlung die Kette der «inander untergeordneten Zwecke nicht vollständig gegründet sein würde. die Idee zur Schöpfung. die allein in ihm zu suchen ist, hat den Schöpfer bei der Schöpfung geleitet und sich am vollkommensten dargestellt und objektiviert in dem Menschen als Sinnenwesen, deralsdie „Erscheinung“ des „moralischen Menschen“ anzusehen ist, und von ihm aus geht nun stufenweise eine Entwicklung der anderen niedrigeren Naturwesen aus bis hinab zur rohen Materie: Das ist die dem Pantheismus eigentümliche Idee der Ausgestaltung Gottes zur Welt. Vollends analog den Resultaten der Untersuchung des prak- tischen Teils werden die Ergebnisse da, wo der Gang der ,Urteilskraft* auf das Gebiet des ,Moralisch-Praktischen“ hinübergeleitet erscheint, in der Ethikotheologie, vor Allem wegen der auch hier wieder überall nach- weisbaren Analogien.

Ein „Anhang“ (Kap. XIV) endlich macht es sich zur Aufgabe, ver- wandt« Resultate bei Fichte aufzuzeigen und zwar unter Zugrundelegung des „Versuchs einer Kritik aller Offenbarung“. Sowohl eine Herrschaft Gottes über die Natur, als auch eine Vereinigung von Natur- und Moral- gesetz ist nur als möglich zu denken durch Vermittlung des Menschen vermöge des in ihm liegenden Triebes (Willens). Der Mensch ist auch hier das Medium. Auch der Unsterblichkeitsbeweis Fichtes führt sogar noch sicherer wie der Kants zu dem Resultat, dass das Wesen Giottes bestimmt ist durch das Gesetz sich zu entwickeln. Nehmen wir die Aussagen der „Grundlage der gesamten Wissenschafts- lehre* hinzu, so sehen wir auch bei Fichte gerade wie bei Kant zwei Reihen vor uns, die parallel nebeneinander herlaufen und doch im Grunde eins sind: Gott und das Ich.

Das sind logische Resultate. Sucht man nach einem realen Resultat, indem man das Kantische System im Grossen und Ganzen be- trachtet und von denjenigen Momenten absieht, die ein jeweiliges Hin-

Selbstanzeigen. 481

neigen, sei es zum Pantheismus, sei es [zum Deismus verraten, so dürfte da vielleicht die Ansicht Paulsens die natürlichste und darum annehmbarste sein: dass nämlich die Kantische Weltanschauung am besten und treffend- sten zu kennzeichnen sei als ein „Theismus in der Form eines symbolischen Anthropomorphismus.“ (Paulsen „Kants Verhältnis zur Metaphysik“, KSt. IV, 480.)

Dresden-Blasewitz. Dr. J. Schultess.

Scheler, Max. Dietransscendentale und die psychologische Methode. Eine grundsätzliche Erörterung zur philosophischen Methodik. Leipzig, Dürr'sche Buchhandlung, 1900. (181 S.)

Die Arbeit, deren nächster Zweck die Erlangung der venia legendi an der Universität Jena gewesen ist, will ein selbständiger Beitrag zur Lösung der philosophischen Methodenfrage sein. Die transscendentale und die psychologische Methode innerhalb der Erkenntnistheorie und der sog. Normwissenschaften, insbesondere der Ethik, werden dargestellt und einer eingehenderen Kritik unterworfen. Unter „transscendentaler Methode“ ver- steht der Verfasser nicht die vielverschlungene und keineswegs auf eine einfache Formel zurückführbare Methodik Kants, sondern die methodo- logische Vereinfachung, welche ein Teil der an Kant anknüpfenden Denker der letzten 80 Jahre vorgenommen hat. Indem Verfasser die transscendentale Methode aus der mannigfachen Verschlingung, in die sie bei ihrer An- wendung mit anderen methodischen Hilfskräften thatsächlich zu geraten pflegt, rein herausschält und sie so gewissermassen auf sich selbst stellt, erweist sie sich ihm als unfähig, die Probleme zu lösen. Nicht minder un- fähig erweist sich hierzu die rein isolierte psychologische Methode.

Aus der Kritik, welche die beiden Methoden gegenseitig aneinander üben, ergiebt sich dem Verfasser der Begriff einer philosophischen Methode, die zwar die beiden kritisierten Arten des Vorgehens von sich ausschliesst, trotzdem aber die berechtigten Bestandteile dieser prinzipiell (nicht synkretistisch) in sich zu vereinigen strebt.

Jena. Max Scheler.

Lindheimer, Franz, Dr. Beiträge zur Geschichte und Kritik der Neukantischen Philosophie. Erste Reihe: Hermann Cohen. (Berner Studien zur Philosophie und ihrer Geschichte, herausgegeben von L. Stein. Bd. XXI.) Bern, Sturzenegger, 1900.

Die Betrachtungen, deren erstes Heft hiermit der Öffentlichkeit übergeben wird, wollen nicht so sehr auf die Verschiedenartigkeit der Ausgestaltung Kantischer Grundgedanken bei den Neukantianern als auf die Verdienste derselben um die Lösung der ewigen Probleme der Philo- sophie hinweisen. Wenngleich nun die architektonische Einheit des Welt- geschehens erkenntnistheoretisch nur ein Postulat unseres Denkens sein mag, so ist und bleibt sie für uns doch das Problem der Philosophie. Die Erkenntnistheorie betrachten wir von diesem Standpunkte aus nicht als die Philosophie, sondern als eine Teilwissenschaft derselben (wenn auch als eine grundlegende), deren Ergebnisse nicht im Widerspruch zu den Ergebnissen anderer Wissenschaften stehen sollen.

Kantstudien V. 81

Selbstanzeigen. 488 |

realisiert sich nicht am Inhalt der Gegenstände, sondern an ihren äusseren Formen.

Im 4. Kapitel wird der Versuch gemacht, die Grundgedanken der Cohenschen Philosophie zu einem System zusammenzustellen. Die trans- scendentale Analyse hatte die Bausteine zu Tage gefördert, welche zum Bau der Transscendentalphilosophie verwendet werden.

Die Bewusstseinsrichtungen der einzelnen Kulturgebiete sind aus einem allgemeinen Quell entsprungen, welchen Cohen „Bewusstsein“ nennt. Diese spezifisch verschiedenen Richtungen: theoretisches, praktisches, ästhetisches Bewusstsein haben sich erst im Fortschritt der Kultur aus diesem Quell herausgebildet, in welchem sie anfangs als Bewusstsein der Vorstellung, der Bewegung, des Fühlens eingeschlossen waren. In jeder der später ausgebildeten Richtungen wirken die drei ursprünglichen zusammen. In und auf diesem Grund und Boden des Bewusstseins mit seinen drei ursprünglichen Richtungen ruhen also alle Fundamente der Kulturgebiete, hier entkeimt alle menschliche Kultur.

Im Zusammenhang mit diesen Gedanken werden die Grundprinzipien des Cohenschen transscendentalen Idealismus erörtert. Die Einheit von subjektiv und objektiv, von ideal und real wird dargethan durch die erkenntnistheoretische Überwindung des Gegensatzes von Ich und Nichtich, welcher durch den von Erscheinung und Ding an sich, Noumenon und Phänomenon (in ganz eigentümlicher Deutung dieser Kantischen Termino- logie) ersetzt wird. Die Dinge an sich sind nämlich für Cohen, so gut wie die Phänomene, ein Erzeugnis des Kulturgebiete hervorbringenden Bewusstseins, ein Bestandteil in der Gesamtheit der Realitäten, und man darf darunter nicht das „objektive Innere“, welches mittelst subjektiver Denkformen nicht zu erkennen sei, verstehen. Noumena oder „Ideen“ giebt es viele, und Cohen charakterisiert sie als: „Gegenbild zum Sinn- lichen“, „Aufgabe“, ,Grenzbegriffe“ (insofern sie an der Grenze der Er- fahrung entstehen und walten) und als „Wendepunkte des Geistes“.

Im Schlusskapitel werden einige wesentliche Abweichungen Cohens von Kant nachgewiesen, und es wird festgestellt, inwiefern Cohens trans- scendentaler Idealismus der zu Beginn dieser Anzeige aufgestellten An- forderung an die Philosophie entspricht.

London. Franz Lindheimer.

Ascher, Maurice, Dr. Renouvier und der französische Neu- Kriticismus. (Berner Studien zur Philosophie und ihrer Geschichte. Bd. XXII.) Bern, Sturzenegger, 1900. (55 S.)

Einer der bedeutendsten philosophischen Denker dieses Jahrhunderts ist unstreitig Charles Renouvier, der Begründer des französischen Neu- Kriticismus. Auf Kantischen Prinzipien baut Renouvier ein System von strengem Phänomenalismus auf. Mit Kantischen Waffen wird vernichtet, was Kant nach den Prinzipien seiner eigenen Lehre noch hätte vernichten müssen. Mit Kants Apriorismus übereinstimmend, versucht Renouvier die noumenale Metaphysik Kants aus seinem System zu verbannen und eine Lehre zu schaffen, die den Bereich menschlicher Erkenntnis nicht über- schreitet. Kant giebt zu, dass wir die „Dinge an sich“ nicht kennen, aber

81*

484 Selbstanzeigen.

behauptet, dass wir sie uns als möglich denken können. Renouvier be- streitet überhaupt das Dasein von Dingen an sich. Kant behauptet nur, dass es uns unmöglich sei, die Metaphysik zu begreifen, Renouvier bestreitet überhaupt jede Metaphysik. Die Moral und Religion des französischen Neu-Kriticismus sind nicht nur auf das rein Ideale gerichtet, sondern sind auch praktisch ausführbar. Der Renouvier'sche Neu-Kriticismus nimmt auf das Leben und Treiben der Menschen Rücksicht und rechnet mit den Bedürf- nissen und Notwendigkeiten des menschlichen Lebens, ja sogar mit den menschlichen Schwächen. Es ist in der That Renouvier zum grossen Teil gelungen, eine Lehre zu schaffen, die innerhalb der Grenzen mensch- lichen Erkennens einzig die Wirklichkeit erklärt. Trotz aller Abwei- chungen vom Haupt-Kriticismus bekennt Renouvier gleichwohl bei jeder Gelegenheit, wie sehr viel er seinem Meister Kant verdanke. Der Name Neu-Kriticismus allein beweist ja schon, dass Renouvier nur beabsichtigt, die Kantische Lehre umzuarbeiten, ohne ihre Thesen zu bestreiten. Hamburg. Dr. M. Ascher.

v. Schoeler, Heinrich, Dr. Probleme. Kritische Studien über den Monismus. Leipzig, Engelmann, 1900. (VIII und 107 S.)

„Bigentlich unternehmen wir umsonst, das Wesen eines Dinges aus- zudrücken. Wirkungen werden wir gewahr, und eine vollständige Geschichte dieser Wirkungen umfasste wohl allenfalls das Wesen jenes Dinges. Ver- gebens bemühen wir uns, den Charakter eines Menschen zu schildern; man stelle dagegen seine Handlungen, seine Thaten zusammen und ein Bild des Charakters wird uns entgegentreten.“ Dieser Ausspruch Goethes drückt wohl am vollendetsten das aus, was man Wirklichkeits - Philosophie nennen könnte jenen Standpunkt, auf den sich mehr und mehr die Vertreter der Naturwissenschaften, besonders in unseren Tagen, gestellt haben, und der in der schroffen Abweisung aller Fragen nach den letzten Gründen der Dinge gipfelt. Für sie sind die Rätsel der Welt durch die moderne Naturforschung gelöst, und es giebt keine Probleme mehr.

Indes, sehen wir uns doch den obigen Goetheschen Satz etwas näher an was lehrt er? Da wird von Wirkungen der Dinge und Hand- lungen der Menschen gesprochen: beide weisen aber auf Ursachen hin, denen sie entspringen! Nun wohl, diese selbständige Kraft in den Dingen ist es, was Kant als das An sich der Dinge bezeichnet hat, als das Real- wesen der Natur, d.i. den ersten, inneren Grund alles dessen, was einem gegebenen Dinge notwendig zukommt, und in seiner unsterblichen Vernunft- kritik enthüllt er die transcendentale Idealität unserer Vorstellungswelt durch den Nachweis, dass die Welt nicht ohne Rest in unseren Gedanken aufgeht. Kant zeigt ferner, dass dieser Realgrund der Natur unerforsch- lich ist, weil er ausserhalb der Grenzen alles Erfahrbaren liegt.

Die vorliegende Schrift stellt sich nun die Aufgabe, die angebliche Lüsung der Welträtsel durch die Naturwissenschaft als eine illusorische zu entlarven und an der Hand einer sachkundigen Analyse ihrer Leistungen zu zeigen, wie in jedem Problem, dessen Lösung sie unternimmt, eben das als unauflösliches x stehen bleibt, was Kant tiefsinnig als das über- sinnliche Substrat der Dinge bezeichnet hat.

Selbstanzeigen. 485

Ein zweites Goethewort verdient hier angereiht zu werden, weil es. beweist (entgegen der Annahme der Haeckelianer und übrigen Monisten, die sich so gern auf Goethe berufen), wie sehr die philosophischen Über- zeugungen unseres Dichterfürsten sich im Grunde mit der Kantischen Philosophie berühren: „Das Wahre, mit dem Göttlichen identisch, lässt sich niemals direkt erkennen: wir schauen es nur in seinem Abglanz, im Bei- spiel, Symbol, in einzelnen und verwandten Erscheinungen; wir werden es gewahr als unbegreifliches Leben, und können dem Wunsch nicht entsagen, es dennoch zu begreifen!“

Wer denkt bei diesen Worten die am Schluss des Faust noch ein- mal anklingen nicht an die berühmten Untersuchungen Kants über das Verhältnis von Zweckvorstellung und Naturmechanismus in der „Kritik der Urteilskraft“ ?

Leipzig. Dr. Heinrich von Schoeler.

Aars, Kr. Birch-Reichenwald, Dr. Zur psychologischen Ana- lyse der Welt. Projektionsphilosophie. Leipzig, J. A. Barth. 1900. (VI u. 295 S.)

In diesem Buche werden die subjektiven Funktionen, durch welche eine objektive äussere Wirklichkeit und: die objektive Existenz er- lebender Mitmenschen vorgestellt werden, einer Analyse unterworfen.

Zunächst wird dabei unterschieden zwischen den psychischen Ble- menten, deren Seiten, und den Formen ihres Zusammenseins, wie: 1. Ver- gleichen des Simultanen, 2. Auffassen der Succession, 8. Zustand der Er- wartung, 4. Prozess der Assimilation und Symbolbildung.

Zweitens wird unterschieden zwischen dem einfachen Vergleichen subjektiver Erlebnisse, und denjenigen Prozessen der Symbolik und der Projektion, durch welche das Existierende erst den Erlebnissen gegenüber gestellt werden kann. Die äussere Wirklichkeit ist eine sym- bolische Idee, deren Wesen darin besteht, dass die erlebte Sache so vor- gestellt wird, als ob ihre Dauer grösser wäre als die Dauer des einzelnen Erlebnisses, und spezieller gross genug, um zwei oder mehrere Erlebnisse zu verbinden. Die „Erhaltung des Stoffes“ ist diejenige Vollendung dieser Projektion, durch welche die Dauer des projizierten Dinges unendlich gemacht ist. In der Idee der objektiven Wirklichkeit ist demnach die der objektiven Dauer oder der objektiven Zeit als symbolische Projektions-Idee eingeschlossen. Die des objektiven Raumes ebenso. Eine fernere symbolische Projektion ist die Idee, dass ausser mir noch etwas erlebt wird, dass fremde Wesen Erlebnisse haben. Diese Projektions-ldee ist in der Praxis mit der Idee des Gegenstandes verbunden, und zwar so, dass das fremde psychische Erlebnis als direkte Ursache der Handlung eines Lebewesens aufgefasst wird. Eine Form des „fremden Erlebnisses“ sind auch die neuerdings vielfach angenommenen unterbewussten Erlebnisse der Ganglien-Systeme.

Eine dritte Projektion behauptet die Konstanz der Ursache der psychischen Erlebnisse. Ob diese als „Seele“ bezeichnet wird, oder als „psychische Disposition“ des Atoms, ist in erkenntnis- psychologischer Hinsicht gleichgiltig.

486 Selbstanzeigen. Bibliographische Notizen.

Im Gegensatz zu der Kantischen Philosophie des A priori wird also die Zeit nicht als eine einheitliche apriorische Form der Anschauung auf- gefasst, sondern wird scharf unterschieden zwischen der subjektiven Dauer, als elementarer Seite des Erlebens, und der objektiven Zeit, als symbolischer Projektions-Idee. Ebenso wird der Raum nicht als einheitliche apriorische Form der Anschauung aufgefasst, sondern wird unterschieden zwischen der subjektiven Ausdehnung oder Entfernung, als elementarer Seite des Er- lebens, und der Ausdehnung oder Entfernung der Gegenstände, dem objek- tiven Raume als symbolischer Projektions-Idee. Ferner wird gelehrt, dass Raum, Zeit und mit ihnen die sogenannten „Phänomene“ gar nicht Er- scheinung sind, weil sie eben symbolisch Vorgestelltes oder Projiziertes sind,

Die Projektionen, als „apriorisch“, ausschliesslich auf die eingeborenen Eigenschaften der „Vernunft“ oder der Seele zurückzuführen, ist nicht be- rechtigt und um so weniger geboten, als die Vernunft oder die Seele eben so wenig wie der Raum subjektiv gegeben, sondern wie dieser symbolisch Vorgestelltes oder Projiziertes ist.

Paris. Kr. B.-R. Aars.

Bibliographische Notizen.

Im Verlage von E. Günther in Leipzig erscheinen „Dr. Carl du Prels ausgewählte Schriften“. Der I. Band, 1900 erschienen, enthält den Neudruck der schon 1889 erschienenen „Vorlesungen Kants über Psychologie, mit einer Einleitung über Kants mystische Weltanschauung“; du Prel gab darin den Abdruck derjenigen Stellen aus den Pölitzschen Vorlesungen Kants über Metaphysik, welche sich auf die Psychologie beziehen, um den Nachweis zu liefern, dass Kant mit Swedenborg viel mehr übereinstimme, als man gewöhnlich annimmt. Eine Anzeige dieser Publikation aus der Feder des Herausgebers der KSt. findet sich in Steins Archiv f. Ge- schichte der Philosophie, Bd. IV, S. 721. Der jetzt erfolgte Neudruck ist ohne die nötige Sorgfalt gemacht. Es fehlt z. B. die Angabe des Jahres, in welchem die Publication du Prels zum ersten Male erschien, u. A.

In der Yale University (New Haven) wurde am 27., 28. und 29. De- zember 1899 die 8. Versammlung der „American Psychological Asso- ciation” abgehalten. In der „Philosophischen Sektion“ der „Association“ wurde u. a. eine Abhandlung ,,Kant’s Doctrine of Apperception and the Use of the Categories“ von Professor J. H. Hyslop vorgelegt.

Tiefgehende Untersuchungen über „Die Grundfragen der Ästhetik im Lichte der immanenten Philosophie“ von Franz Marschner finden sich in der „Zeitschr. f. immanente Philos.“ Bd. IV, S. 1—56 u. 147—216. Die Ausführungen, die eine umfassende Kenntnis der einschlägigen

Bibliographische Notizen. 487

Litteratur verraten, nehmen allenthalben Bezugnahme auf Kant. Den „Höhepunkt Kantischen Denkens“ sieht der Vert. „in jener transscenden- talen Synthesis, der ursprünglichen Apperception, durch welche nicht bloss die Erkenntnistheorie zu ihrem Fundament, sondern auch die Einbildungs- kraft und mit ihr die Einheit sämtlicher Seiten des Bewusstseins zu ihrem Rechte kommt“ (162).

Viele Auszüge aus Kants ethischen Schriften finden sich in der um- fangreichen Anthologie: „Gut und Böse. Fragmente zur Ethik und psychologie aus der Weltlitteratur, gesammelt und herausgegeben von Dr. Paul v. Gizycki. Berlin, Dümmler, 1900“ (= Vom Baume der Er- kenntnis III).

Im „Magazin für Litteratur“, 1900, No. 5 und 6 ist ein Vortrag zum Abdruck gelangt, den Alma von Hartmann, die Gemahlin Eduard von Hartmanns, in einer Gesellschaft in Berlin über den Pessi- mismus gehalten hat. Kant wird zu den pessimistischen Philosophen gezählt: er habe die prinzipielle Befreiung der Sittlichkeit von allem eudämonistischen Beiwerk durchgeführt aus der pessimistischen Erkenntnis heraus, dass nicht in der Hingabe an eudämonistische Ziele sich die auto- nome Moral des Menschen bewähre, sondern in der Hingabe an das von der Vernunft geforderte Ideal. Kants Bestimmung des Verhältnisses von Sittlichkeit und Glückseligkeit wird als eine pessimistische charakterisiert, in der „die Reform der Moral im pessimistischen Sinne im Keime geborgen“ liege. Freilich habe Kant seinem Zeitalter darin Rechnung getragen, dass er sich zu einem transscendenten Optimismus flüchtete, ohne den damals der irdische Pessimismus keine Existenzerlaubnis erhalten hätte. Aber Kants eigene Lehre, dass nicht das Individuum sondern die Gattung den Zweck der Menschheit zu erfüllen habe, widerstreite seinem optimistischen Unsterb- lichkeitspostulat. „Der Pessimismus ist so eng mit der Ethik verbunden, dass man sagen kann: es giebt keine Ethik ohne Pessimismus.“ Man ver- gleiche hierzu den Aufsatz von E. v. Hartmann selbst in unseren „Kant- studien“, V, 1, S. 21—29: „Kant und der Pessimismus“.

Théodore Ruyssen, den Lesern der „KSt.“ bekannt durch seine Teilnahme an der „Französischen Kontroverse über Kants Ansicht vom Kriege“ (vgl. „KSt.“ IV, 1, 56f.) hat unter dem Titel „La Guerre et la Paix d'après Kant“ eine eingehende Darstellung der Kantischen An- schauung über diese Frage in der Monatsschrift „La Paix par le Droit‘ (Paris, A. Charles) veröffentlicht. In übersichtlicher Gruppierung der auf sein Thema bezüglichen Abschnitte analysiert der Verf. höchst sorgfältig, was Kant über Krieg und Frieden geäussert hat in der Rechtslehre, der Schrift zum ewigen Frieden, der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in welt- bürgerlicher Absicht, der Kr. d. Urt., der Abhandlung über den Gemein- spruch: Das mag in der Theorie richtig sein u. s. w., dem Streit der Fakul- täten. Durch Bezugnahme auf den Haager Kongress bekommt der Artikel zugleich den Reiz der Aktualität. Der Aufsatz war eine vorläufige Publi- kation aus einem kürzlich in der „Collection des grands philosophes“ (bei Alcan in Paris) erschienenen grösseren Werke Ruyssens über Kant, auf das wir noch zurückkommen werden.

Die „Monatschrift für Wissenschaft des Judentums“ bringt in ihrem 48. Jahrgang S. 855—400 u. 488—449 einen Beitrag von Hermann Cohen unter dem Titel: „Das Problem der jüdischen Sittenlehre. Eine Kritik von Lazarus’ Ethik des Judentums.“ (Vgl. die Notiz in den „KSt.“ IV, 847/8.) Cohens Beurteilung ist sehr streng; insbesondere tadelt er scharf, dass Lazarus im Gegensatz zu seinem (allerdings unberechtigten) Prinzip, unter Ausschluss aller nicht-jüdischen Philosophie und Kultur seine „systematische Ethik“ allein aus dem „Gesamtgeist des Judentums“ zu ent- wickeln, dennoch den „Grundgedanken des ganzen Buches, um keinen

488 ‚Bibliographische Notizen.

Le . „Di ik des Judentums hat damit aber das

zip der jüdischen Gotteslehre aufgegeben. Und der 2

Ten IM Mich (au eter Evwetienous vatichigeen ier seine

Differenz vom Christentum verschwindet“ (396), Cohen legt die

Ses Verhaltnis der wissenschaflchen ER zur Leo à

das Verhältnis der wi: chen Ethik zur Idee Gottes (483 3 idender Kritik zeigt er dabei das Schwankende und

in der Lazarus'schen Kantauffassung sowohl wie in seiner Auffassung der

jüdischen Glaubenslehre und Ethik.

Rinks Ausgabe der Kantischen Pi ik ist. in englischer Über- P erschienen, Das Buch tigt den Wie; Kant om Em ogik), Translated into English by Annette Churton, 0 egan Pat Co., 1899. (XIX u. 121 pp.) Der Charente ist eine leitung von Mrs. Rhys Davids beigegeben, in Kante Stellung inner. halb der pädagogischen Bewegung seiner Zeit und besonders Roussenu’s. Einfluss erörtert wird.

Über das Antinomienproblem äussert sich mit Bezugnahme auf die Kantische Lehre Heinrich Brömse in dem Aufsatz „Quelle und Ne des philosophischen Denkens“ (Nord und Süd, Februar 1900, 269—266).

Im Verlag von Gräfe und Sillem in Hamburg ist ein im ärztlichen Bezirksverein St. Pauli-Eimsbüttel gehaltener Vortrag von Ad, Rauschen-

lat „Über den Idealismus“ erschienen (1899, 29 S.). Der Verfasser, Parwikist, tritt lebhaft. ein für den theoretischen und praktischen. Idealiemu im Anschluss an Rokitansky, Kant und Spinoza.

„Jacob Frohschammers Philosophisches System im Grundriss“ nach seinen Vorlesungen. veröffentlicht Albert, Attennperger (Guabeaiaee Lachmann, 1899, 214 S). S. 66ff. wird Frohschammers i entwickelt; Fr. stellt auch Wesen und Erscheinung, Endlichkeit und Un- endlichkeit, sowie Zweckmässigkeit unter die Kategorien; die Ideen sind ihm das Wahre, das Gute, das Rechte und das Absolute.

„Das Pathos der Resonanz.“ Eine Philosophie der modernen Kunst und des modernen Lebens. Von Otto Lyon“ (Leipzig, B. G. Teubner 1900, 202 S.). Ein etwas sonderlicher Titel, der offenbar im zu Nietzsche's „Pathos der Distanz“ gebildet ist. „Resonanz“ ist des Verf.s Lieblingsausdruck statt Wechselwirl ; „Pathos“ der Resonanz ist die ganz besonders lebhafte Empfindung dieser Wechselbeziehung aller wie sie speziell im künstlerisch empfindenden und schaffenden Individuum zus stande kommt. Der Verf. spricht nach Art des Rembrandtdeutschen von allem Möglichen und Unmöglichen, und kommt auch gelegentlich auf Kant, von dem er S. 72ff. u. 96 mit grosser Hochachtung ch

Von Dr. Udo Gaede ist eine Broschüre erschienen: „Schillers Ab- handlung Über naive und sentimentalische Dichtung, Studien zur Ent stehungsgeschichte“ (Berlin, A. Duncker, 1899, 72 S.). Die Absicht des Ver- fassers ist, „die Entstehung der letzten und reifsten Arbeit der philosophii Periode Schillers in ihren Grundzügen zu begreifen“ (9). ie die hierbei dem Kantstudium Schillere aufälle wird gebührend

18 ff), „Allerdings finden sich auch hier (d. h. in den Jugendwerken chillers] Stellen, welche die künftige Gedankenbildung im Keime ent- halten. Aber eben auch nur im Keime. Sie entfaltet sich zur vollen Blüte

Bibliographische Notizen. 489

erst auf dem Boden der Kantischen Philosophie. Mit dem Studium Kants beginnt für Schiller die Zeit der Reife. Auf ihm beruhen seine gesamten philosophisch - ästhetischen Schriften. Auf ihn haben wir auch die Ent- stehung der Begriffe Natur und Freiheit zurückzuführen“ (18). Ausführ- lich geht Gaede darauf ein, wie sich Sch. von dem Kantischen Begriff des Naiven, den er in den Kalliasbriefen vertritt, losmacht und neben das „Naive der Überraschung“, das bei Kant allein berücksichtigt ist, das „Naive

er Gesinnung“ stellt (23 ff.). Über die in bewusstem Gegensatz zu Kant, speziell zu dessen Lehre vom radikalen Bösen, entwickelte Theorie der „schönen Seele“ vgl. S. 28.

„Das Zeitalter Kants und Goethes“ heisst das erste Kapitel in der Schrift von Dr. R. Steiner „Welt- und Lebensanschauungen im neunzehnten Jahrhundert“ (Bd. XIV des Sammelwerkes „Am Ende des Jahrhunderts, Rückschau auf 100 Jahre geistiger Entwicklung“), Berlin, S. Cronbach (167 S.) Das Kapitel zeigt, dass Steiner seit dem, was ihm „KSt.“ III, 182ff. von Vorländer gesagt worden ist, nichts zugelernt hat. An einigen Stellen finden sich direkte Fehler, so wenn S. 24 gesagt ist: „Kant war bis in sein 45. Jahr gläubiger Anhänger Wolfs‘. Im Übrigen ist die Darstellung teilweise immerhin anregend; so sei z. B. auf folgende Stelle S. 57/8 hingewiesen: „Wie Kant das Wissen entthront hat, um für den Glauben Platz zu bekommen, so hat Fichte das Erkennen für wertlos erklärt, um für das lebendige Handeln, für die moralische That freie Bahn vor sich zu haben. Ein Ähnliches hat auch Schiller versucht. Nur nahm bei ihm die Stelle, die bei Kant der Glaube, bei Fichte das. Handeln beanspruchte, die Schönheit ein.“

Man findet nicht selten Kantiana in Schriften, in denen man sie auf den ersten Blick gewiss nicht suchen würde So ist in dem Werke „Zur modernen Dramaturgie, Studien und Kritiken über das deutsche Theater“ von Eugen Zabel (Oldenburg, Schulze, 1900, 544 S.) ein besonderer Abschnitt enthalten, betitelt: „Immanuel Kant auf der Bühne und im Leben“ (S. 878—886). Heinrich Landsberger (Pseudonym: Heinrich Lee) hat im Jahre 1894 in einem Lustspiel „Das Examen“ Kant als komische Figur auf die Bühne gebracht! Im Gegensatz zu dieser wunderlichen Kantauffassung entwirft Zabel ein zwar nur skizzenhaftes, aber doch durch sichere Zeichnung charakteristisches Bild des Königsberger Philosophen nach seiner gesellschaftlichen Seite. Er giebt eine anschau- liche Schilderung des (1893 abgebrochenen) Wohnhauses Kants, beschreibt seine Einrichtung und erzählt von dem Leben, das sich dort abspielte; er spricht von der finanziellen Lage Kants, und bei alle dem sagt er gar Vieles, was auch dem unbekannt sein mag, der in Kants Werken recht gut zu Hause ist. Mit besonderer Liebe erzählt Z. von den Mittagsgesell- schaften, die in dem einfachen Speisezimmer abgehalten wurden. „Kants Mittagsgesellschaften waren fast ebenso berühmt wie seine Kritik der reinen Vernunft“ (879). Eingehend bespricht Zabel das Dörstlingsche Gruppen- bild, das sich eine solche Mittagsgesellschaft zum Thema genommen hat. Was Dörstling mit den Mitteln der darstellenden Kunst angestrebt hat, näm- lich „Kant nicht nur als grossen Philosophen zu feiern, wie es das Stand- bild von Rauch thut, sondern in erster Linie seine ungewöhnlichen mensch- lichen Eigenschaften zu betonen‘ (886), das ist auch der Zweck der recht anziehend geschriebenen Schilderung Zabels, welche ursprünglich als Feuilleton der „Nationalzeitung“ erschienen war, aber es sehr wohl verdient, auf diese Weise der Vergessenheit entrissen zu werden.

Über Kants Lehre von der Zweckmässigkeit der Natur als einem transscendentalen Prinzip der Urteilskraft finden sich Bemerkungen in der Abhandlung „Über die Grundlagen der ästhetischen Beurteilun der Säugetiere“ von K. Möbius (Sitzungsberichte d. kgl. preuss. Akad. d. Wissenschaften zu Berlin vom 15. März 1900). Mit Rücksicht auf Kants

Bibliographische Notizen. Neue Kantlitteratur. 491

In dem Werke: Le rationnel, Paris 1898, stellt Ch. Milhaud, dessen Angriff auf Kant wir I, 474 und 488 erwähnten, eine Theprie der rationalen Erkenntnis auf, welche nach Art vorkantischer Theorien eine prästabilierte Harmonie zwischen den rationalen Ideen und der Realität poniert.

Dr. Paul Carus, der verdiente Herausgeber des „Monist*, welcher in Amerika bei mehrfachen Gelegenheiten energisch für die Kantische Philosophie eingetreten ist, hat sich in den letzten Jahren auf vergleichende Religionsforschung geworfen, nicht bloss aus rein theoretischem Interesse. sondern zugleich in der praktischen Absicht, eine neue synthetische und universale Weltreligion eine Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft dadurch vorzubereiten. Mag diese Hoffnung auch, um mit Kant zu reden, ein „Abenteuer der Vernunft“ sein, so verdient ihre energische Verfolgung durch Carus doch alle Anerkennung. Unter diesen religions-

schichtlichen Studien können diejenigen, die sich auf die chinesische eligion und Philosophie beziehen, im jetzigen Augenblick, wo die anze Welt sich mit China beschäftigt, besonderes Interesse erwecken. Im ahre 1898 veröffentlichte Carus eine Studie: „Chinese Philosophy“ (Chicago, Open Court Publishing Company), welche schon eine sehr gründliche - schäftigung mit diesem Thema verriet und welche sogar von dem „Tsungli Yamen“ eine offizielle Anerkennung erhielt. Schon damals stellte Carus Lao-tze über Confucius. Eine spätere Publikation ist ganz dem Lao-tze ewidmet: „Lao-tze’s Tao-teh-King. Chinese and english“ (in demselben erlag). Es ist dies eine handliche ausgabe des berühmten Buches Tao- teh-King, wörtlich: Vernunft-Tugend-Kanon, auf 845 Seiten, mit wörtlicher englischer Übersetzung. Tao = Vernunft entspricht etwa dem griechischen A0yos und enthält nach der Meinung von Carus auch Elemente dessen, was Kant die „reine Vernunft“ nennt. Eine Prüfung dieser Parallele können wir nicht vornehmen und machen nur auf das interessante Kaktum aufmerksam, dass Lao-tze die Vorschrift giebt: Vergieb Böses mit utem.

Neue Kantlitteratur.

Ausser den unter den Rubriken: Recensionen, Litteraturbericht, Selbstanzeigen, Bibliographische Notizen, Zeitschriftenschau u. s. w. schon b ish er besprochenen Publikationen. Nebst einigen Nachtrigen aus friheren

en.

Einzelbesprechung vorbehalten.

I. Direkte Kantlitteratur.

a) Neue Ausgaben der Schriften von Kant.

Kants gesammelte Schriften, hrsg. v. d. Kgl. Preuss. Akad. d. Wissen- schaften, Bd. XI. Zweite Abteilung: Briefwechsel. II. Bd. (1789—1794). Herausgegeben von R. Reicke. Berlin, Reimer, 1900, 617 S.

Kant, I. Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, siehe unter

öller.

492 Neue Kantlitteratur.

Kaat, I., Cosmogony, s. unter W. Hastie.

ternal Peace, Translated by F. Trueblood. Boston, American Peace

ciety.

Dreams of a Spirit - Seer, illustrated by Dreams of Metaphysics. Trans- lated by Emanuel F. Goerwitz and edited, with an Introduction and Notes by Frank Sewall („The Philosophy at Home Series“ No. 18). London, Swan Sonnenschein & Co. New York, Macmillan, 1900, XI u. 162 S., davon 38 S. Introduction.

Marzenia Jasnowidzacego, wyttumaczone przez marzenia metafizyki (Polnische Übersetzung der „Träume eines Geistersehers. . . .*). War- szawa, Verlag des „Przeglad Filozoficzny“ 1898.

b) Publikationen über Kant.

Bell. F. Ein unbekannter Brief und ein akademisches Gutachten Kants.

Beil. z. Münch. Allg. Z. vom 27. Okt. 1900 (No. 247). Brief an Penzel vom 12. August 1777. Gutachten, betr. den akademischen Senat. Bellert, M. Materie in Kants Ethik. Arch. f. Gesch. d. Philos. XIII, 4

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Vier Preisaufgaben tiber Kant.

Die philosophische Fakultät der Universität Strassburg i. E. hat folgende Preisaufgabe gestellt: „Johann Heinrich Lambert, seine Philosophie und seine Stellung zu Kant.“ Die Ablieferung hat bis zum 15. Februar 1901 zu geschehen.

An der Universität Halle ist für den sog. Krugpreis folgendes Thema gestellt worden: „Wie bestimmt Kant das Verhältnis, von Wissen und Glauben?* (Referent: Vaihinger.)

An der Universität Leipzig ist für den sog. Krugpreis folgendes Thema gestellt worden: „Kants fugendbegriff.~ (Referent: Heinze.)

Von der „Haager Gesellschaft zur Verteidigung der christlichen Religion“ ist folgende Preisaufgabe gestellt worden: 1. Kann man für die Theorie des Indeterminismus (Kants transscendentale Freiheit des Willens) sich mit Recht berufen auf Thatsachen des Seelenlebens? 2. Kann man diese Theorie vindizieren gegenüber dem, was neuere wissenschaftliche Untersuchungen lehren von Regelmässigkeit in meuschlichen Willens- äusserungen, Zusammenhang zwischen physiologischen und psychischen Erscheinungen etc.” 8. Welche Bedeutung hat diese Theorie für Religion und Sittlichkeit? Beantwortungen (auch in deutscher Sprache) bis zum 15. Dez. 1901 an Pfarrer Dr. theol. H. P. Berlage in Amsterdam.

Sach-Register.

Absolute, das 228.

Abstraktion 48.

Achtung 484 ft.

Ästhetik 148, 220. 245 f. 895. 482. 486. 489.

Ather 854. 859.

Affektion 12. 16. 264. 446. 462.

„Als ob“ 62.

Analogie, Erkenntnis nach 65. 818. 816.

Analytisch und synthetisch 6. 44. 95.

Anarchismns 899.

Anschauung 14f. 146 ff. 2401. 268. 446. 4601.

Anthropomorphismus 818. 815 ff. 472. 481.

Antinomie 68. 469. 488.

Aposteriori 126.

Apperception, transso. 88 f. 228f. 287. 447. 459. 464. 486 f.

Apprehension 448 ff.

Apriori 126. 268. 889. 894. 476. 486.

Apriorismus 81 ff. 189. 281.

Arbeit 70, 248.

Architektonischer Verstand 68 f. 309.

Association 449.

Atheismus 99. 287. 289 f. 885.

Atom 844. 850. 866 ff. 868. 876 ft.

Aufklärung 140. 886. 399.

Ausdehnung 822.

Autonomie 282. 242. 256f. 899. 478. 487.

Axiom 278 ft.

Bedingung 199.

Begriff 46. 49f. 288.

Bewegung 348 ff.

Bewusstsein 9. 129. 152. 868 ff. 464 ff.

Billigung 402.

Böse, d. radikale 285. 244.

Chinesische Philos. 491.

Christentum 189. 387.

Dasein 39. 42. 135. 177.

Definition 278 ff.

Demonstration 279 ff.

Denken 146 ff, 186. 322. 346 ft.

Denkfreiheit 109 f.

Dependenz 298 ff. 824.

Ding an sich 9f. 88ff. 41. 48. 128. 185.

| 929. 997 ff. 260. 286 f. 881 ff. 861 ff.

| 880. 898. 446. 452 f. 482 ff.

Dogmatismus 231. 840 ff.

Dualismus 348

Einbildungskraft 6. 184. 151. 161. 447 ft. 469.

Emanation 302 ff.

Empfindung 846 ff. 869. 445.

Empirismus 81. 227. 281. 445.

Endzweck 69. 480.

| Energie 846 848 f. 862 ff. 876.

| Erfahrung 1f. 814. 106. 126. 186. 148 ff. 182 ff. 227. 852. 478.

Erkenntnis 884. 445.

Erkenntnistheorie 1 ff. 82. 125 ff. 1458. 182 ff. 226 ff. 281. 274 ft. 840 ff. 444ff. 418. 481 ft.

Erscheinung 10 ff. 154. 227. 260. 286.

| 848. 462.

Ethik 21 ff, 40. 67. 88. 187. 215ff. 2311. 242 ff, 266 ft. 387 ff. 401 ff. 473 ff, 482, 487 500.

Eudämonismus 21 fl. 261 f. 487.

Evidenz 87

Evolutionismus 21. 848.

Fatalismus 292.

Freiheit 28. 68. 67. 218. 244 f. 255. 268. 884. 469. 476. 500.

Ganglienzellen 853 ff.

Gebet 89, 898.

Gedächtnis 354,

Gefühl, moralisches 228.

Gegenstand 81. 49f. 186. 145. 240. 866. 898. 445 ff.

Gehirn 868 ff. 871.

| Gemeinsehatt 228.

: Geschichtswissenschaft 72.

| Gesetzlichkeit 223.

Gesinnung 407 ff.

; Gewissen 248, 895. 424.

| Glaube 4. 40. 89. 99. 290.

| Gltickseligkeit 21 ff. 68. 220 f. 225. 897.

Gltickwürdigkeit 27.

502

Gott 79 ff. 99. 216. 221. 242. 274 ff. 348 f. 885. 471 f. 479.

Grundsatz d. r. Verst. 18. 229. 239.

Grund, Satz vom 202.

Hôchstes Gut 221.

Hypothetischer Imperativ 425 ff.

Ich 86. 135. 229. 289 ff. 464.

ldealismus, erkenntnistheoretischer 10 ff. 42. 152. 185. 324. 865 ff. 457. 478. 488.

Idealismus, ethischer 28. 188.

Idee 219.

Immanenz 9. 129. 185 ff. 157. 189. 228. 452.

Indische Philos. 235.

Inhärenz 298 ff. 324.

Innerer Sinn 478.

Intellektuelle Anschauung 165. 228.

Judentum 487 f.

Kant. Geschichtliche Stellung 225. Leben 84 ff. 92 ff. 489. Entwicklung 86. Vorfahren 272. Ubersetzung d. Werke ins Lateinische

110.

Censurkonflikt 139. Stoa Kantiana 143.

ne ne ee

Künigsberger Geburtstagsfeier 141. |

Druckfehler 123 ff. 207 ft. 268 ff. Preisaufgaben 143. 500. Kantausgabe, die neue 73 ft. 141. Kantautograph 272. Kantbibliographie 411 ft. Kantbiiste 138 ft. Kantporträts 143 f. 489. Kategorie 7. 18. 47. 125. 146 ff. 226 ff. 239 fi. 268. 393. 444 fi. 486. 488. Kategorischer Imperativ 137. 225. 282. 257 f. 268. 392. 418. 425 ff. 477. 490. Katholizismus 257. 384 ff. Kausalität 1ff 45. 49. 182 ff. 240. 255. 388 HF. Körperlichkeit 343. Kongress, Philosophischer in Paris 142f. Kosmogonie 268. Kosmologie 321 ft. Kraft 185. 190. 297 ff. 824. 345 £. Kultur 70f. 244. 257.

Qh. 186.

Natur 58. 67.

Register.

Kunst 216. Lebenskraft 138. Legalität 406 ff. 416 f. Logik und Ethik 420. Lokal- und Temporalzeichen 18. Lust und Unlust 24 ff. 58. Materialismus 280 f. 248. 840 ff. Materie 186. 848 ff. 466. Mathematik 48. 95. 128. 276 ff. 468. Maxime 418. Mechanik 876. Mechanismus 60. 846. 470. Mensch 884 f. 440 ff. 480. Metageometrie 46. 259. Metaphysik 46. 62. 87. 94. 97. 102. 118. 222. 225 fl. 282. 851. 886 ff. 471. 484. Methode 45. 126 ff. 216. 274 f. 474. 481. Möglichkeit 288. Möglichkeit d. Erf. 127. 148 ff. Monismus 848 ff. 484 f. Mysterien 108 f. Mystik 802 ff. Nativismus 281 t. 237. 131 ff. 166.

142. 230.

222. 252.

205. 885. 849. 468. 470.

Naturwissenschaft 16. 48. 132. 229 fi. 268. 340 ff. 408. 482. 484.

Naturzweck 55 ff. 69. 296. 489.

| Neigung 242. 392. 407 ff.

185. ,

149.

Nerven 871.

Neukantianismus 256. 481 ff. Notwendigkeit 2 ff. 85. 48. 46. Notwendig u. allgemeingiltig 176. 476. Noumenon 64. 165 f. 170. 286. Objektivität 126 ff. 402 ff. 425 ft. 453. Occasionalismus 255.

Offenbarung 898.

Ontologie 42. 810.

. Optimismus 21 fl. 487.

Organismus 64.

Pädagogik 80. 40f. 111. 224. 256 ff. 488. Panentheismus 820.

Pantheismus 296. 849. 471 f. 479. Parallelismus, psychophys. 860. 364. Persönlichkeit 223. 489 ff.

Register.

Pessimismus 21 ff. 895. 487.

Pflicht 242. 407. 424 ff.

Phänomenalismus 47. 164. 190. 288. 246. 324. 488 f.

Philanthropin 91. 111.

Physiologie 866.

Positivismus 246.

Postulat 219. 290 ff. 89]. 482.

Praktische Vernuntt 41. 268. 290.

Protestantismus 257. 261. 886 ff.

Psychologie 81. 188 ff. 216. 281. 249 fl. 363 ff. 898 ff. 486 f.

Qualitäten, primäre 868 ff.

Mationalisnius 186. 228. 227. 478.

Raum 872 ff.

Raum und Zeit 12f. 28. 47f. 82. 125. 238. 256. 260. 298. 816 ff. 881. 451. 485 f. 490.

Realismus 9 ft. 162. 178. 189. 865 f. 455.

Realität 33. 41. 152. 289.

Receptivität 467.

Rechtsphilosophie 215 ft.

Regel 6 ff.

Regulative Prinzipien 61. 260.

Reich d. Zwecke 71.

Reich Gottes 148.

Rekognition 448 ff.

Relativitat 246 f.

Religionsphilosophie 218 ff. 284 t. 268.

283. 289. 471. 491. 500.

Reproduktion 448 ff.

Rigorismus 242. 892. 407 ff. 488. Schine Seele 482 f.

Scholastik 80 ff. 257 ff. 884 ft. Schwärmerei 99. 109. 189. 288. 802 ff. Seele 27. 844. 898.

Seelenwanderung 286.

Sensualismus 445.

Sinnlichkeit 410. 446 ff.

Sinnlichkeit u. Vernunft 26. 251. 256. Sittengesetz 121. 288. 899. 484 ff. 475. Sittlichkeit 22. 120 ft. 470. Skepticismus 4 f. 16. 84. 118. 385. SSocialphilosophie 218. 252 ff. Sollen 424 ff. Spontaneität 461 ff. Sprache 184. Staat 215. 288. 400.

503

Subjektiv 402 ff.

Subjektivismus 81 ff. 126. 886 ff.

Substanz 87. 48. 129. 185. 281. 266. 292 ff. 848 ff. 398 ff.

Succession 188.

Stinde 284.

Symbolismus 899. 472. 481.

Synopsis 447 f.

| Synthese 186. 445. 447 ff.

Synthetische Urteile a priori 48. 2656. 280. 889 ft. 406.

Teleologie 21 ff. 85. 42. 61 ff. 132f. 220. 241. 256. 295. 806.

Thätigkeit 120. 248.

Theismus 64. 290 f. 319 ft. 891.

Theologie 143. 220. 284. 238 ff. 261.

Thomismus 380 ft.

Transscendentalphilosophie 125 fi. 838.

Transscendentalpsychologie 240.

Transscendenz 27. 128. 157.

Triebfeder 438 ff.

Ultramontanismus 384 ff.

Unbedingte, das 246.

Unsterblichkeit 121. 885 f. 386.

Urteilskraft 47. 54 ff.

Veränderung 184.

Vernunft 41 f. 216. 309. 337.

Verstand 458 f.

Voluntarismus 282.

Vorstellung 185. 366. 468.

| Wahrheit 82 ft. 126.

Wahrnehmung 1 ff. 866.

Wahrnehmungs- u. Erfahrungsurteile 467 fi.

Wechselwirkung 196. 287.

Welt 274 ff. 821. 848. 471. 479.

Weltanschauung 842 f.

Wert 48. 242 ff. 414 ff.

Wille 53. 65. 191 ff. 395 f. 473.

Wirken 188.

Wirklichkeit 32 ff. 162.

Wissen u. Glauben 40, 343. 396. 500.

Würde 243.

Zeit 134. 182 ff. 193.

Zweck 561 ft. 241. 248. 426 ff.

Zweifel 86.

220. 286. 265.

281 244. 309.

504 Register. Personen-Register.

Adickes 76. ! Heinrich 890. Napoleon I. 260.

Anselm v. Canterbury 810. | Heinze 76. Natorp 286 f.

812. | Helmholtz 148. Nietzsche 490. Aristoteles 182. 884. | Heman 471 f. Nostitz-Rieneck, R.v.896ff. Basedow 91. | Herbart 256 f. 320. 386. Beattie 179 f. Herder 88. nn 141. 394 ff. 471f.

Bering 101 f. | Hertz, H. 876 Pesch, T. 386.

Biedermann 238. Biester 106. Boltzmann 377. Borowski 81. Büchner 340 f. Campe 111. Carlyle 70. Cathrein 899 f. Classen 248. Cohen 229. 481 ff. Couturat 490. Czolbe 381. Dauriac 245 f.

Descartes 36ff. 48. 180.278. |

Didio 891.

Dilthey 78. Eberhard 297. Erdmann, B. 177 ft. Erhard 106 f. Erhardt 490. Eucken 894.

Fichte 125. 187. 222. 284-

244. 457. 180. Fischer, Kuno 822 ff.

Friedrich d. Gr. 109. 189. Friedrich Wilhelm LI. 109.

18s. Fries 126. Frohschammer 488. Gietmann 895. Goethe 107. Grunwald 275 f. Gutberlet 886. 398. Haeckel 280. 340 ff. Hamann 79. 90. Hamilton 246. Hartmann, E. v. Hegel 125. 257.

892.

247.4841.489.

| Herz 86 ff. vs 98 f. 108.

Hufeland 117.

Hume 1 ff. 16. 20. 116 ff. 147. 177 ff. 445 f.

| Jacobi 97 ft. | 388 f.

| Jakob 97. 102. 288 f. i Jenisch 104.

| Kant, J. H. 34. 114.

| Karamsin 120 ft.

| Kaulbach, W. 384.

Keyserling, Graf 112.

ı Kirchhoff 877.

' Kleist, H. v. 250.

Knobloch, Ch. v. 98. Kraus 114.

' Krueger 256 f.

Lambert 82. 500.

Lange, F. A. 344. 882.

Laplace 132. 256.

Lavater 88 ff. 121.

Lazarus 487.

Lehmen 393.

Leibnitz 129. 202. 289.

297 f. 324. Leo XIII. 385. Lessing 282. Liebmann 853. 380. Lipps 415. 420. 487 f. : Lipsius 2388. ' Locke 81. 368. Lotze 259. Maimon 116. Meiners 113. Mendelssohn 96 ff. 81. Mercier 30 ff.

289.

276. 281 ff.

276.

Petronievics 272. Pistorius 286 ff. 320. ı Plessing 107 ff. ' Reicke 76f. ' Reinhold 103f. 111. 116 ¢f. Renouvier 143. 245 f. 259. | 264. 483. 490. | Reville 143. ı Riehl 135. 180. Rink 224. Ritschl 238. | Rousseau 80. 82 f. 91. | Schanz 384. 395. Schelling 125. 318. ; Schiller 395. 408. 488. | Schopenhauer 145 ff. | 9249. 268. | Schiitz 99 ff. | Schultess 336 ff. : Schultz, J. 94 ff. | Sembritzki 272. ' Sigwart 1 ff. 17 ff. 49. 135. ı 182 ff. | Sörensen 395. Spinoza 231. 273 ft. 348 ff. ‘86d. 471f. : Stadler 229. | Stammler 218. ' Stilling 247 fi. ; Straub 387 ff. | Sulzer 87. . Swedenborg 88. Thomas v. Aquino 30. 261. 884 ff. 472 . Ulrich 104. 106.

Waihinger 180. 226. Vernet 144.

| Paulsen 315. |

395. 410.

286.

Register.

Willmann 898. Windelband 88. 41. 140.

Villers, Ch. de 249. Vogt 861. Wartenberg 272. Wentscher 21ff. .

247 f.

Wittrien 141.

505

Wolff 251. 278. 289. 400. Wundt 66.

Heller 148.

Ziegler 247 f.

Besprochene Kantische Schriften. (Chronologisch.)

Vorkritische Schriften 118.

Gedanken v. d. wahr. Schätzung d. leb. Kräfte 78.

Vers. üb. d. Optimismus 79. 268.

Einzig mögl. Beweisgrund 177f. 268.

Preisschrift üb. d. Deutlichkeit d. Grundsätze 82.

Dissertation (1770) 86.

Kritik der reinen Vernunft 48. 62. 89. 94 ff. 116. 218. 228. 268 ff. 287. 384. 393 ff. 474. Erste u.

458. Vorrede z. zweiten Aufl. 40.

zweite Aufl. 88ff 101.

Tr. Ästbetik 18. 186. 229. 288. 264.

Tr. Logik 18.

Tr. Analytik 147 ft. 229.

Leitfaden d. Entdeckung aller r. Verstandesbegr. 96.

Tr. Deduktion 9. 89. 46. 148. 186.

444 ff. Schematismus 229.

Regul. Grundsätze d. r. Verst. 86.

Analogien d. Erf. 482. Widerleg. d. Idealism. 128 f. 187. Paralogismen 180, 240. Antinomien 74. 246. 268. 490. Gottesbeweise 888. 490. Disziplin d. r. V. 277. Kanon d. r. V. 219. Prolegomena 81. 106. 113. 178. 269. 457. 461. Idee z. einer allg. Geschichte 106. 258. 487. - Recens. v. Herders ,Ideen . . .“ 100. Über die Vulkane im Monde 180.

en

Grundlegung z. Met. d. Sitten 42. 100. 106. 207 ff. 240. 401 ff. 479.

Was heisst sich im Denken orientieren? 98 f. 287.

Bemerkungen zu Jakobs Prtifung d. Mendelssohnschen Morgenstunden 288. 287. 291. |

Über d. Gebrauch teleol. Prinzipien in d. Philosophie 52.

Beantwortung d. Frage: Ist es eine Erfahrung, dass wir denken? 88. Kritik d. prakt. Vernunft 40f. 52f. 106. 116. 211 ff. 219. 240. 292. 816.

320. 422. 488f. 478. 479.

Kritik d. Urteilskraft 52 ff. 116. 220. 247. 295 f. 806. 479. 486. 487.

Über eine Entdeckung 297.

Misslingen d. Theodicee 268.

Religion 27. 89. 189. 218. 284. 898. 400.

Ub. d. Gemeinsprach: Das mag i. d. Theorie u. 8. w. 487.

Ende aller Dinge 268. 302.

Uber Philosophie überhaupt 52.

Zum ewigen Frieden 487.

Metaphysik d. Sitten 479.

Rechtslehre 288. 487.

Vermeintes Recht, aus Menschenliebe zu lügen 248.

Streit d. Fakultäten 487.

Anthropologie 90.

Briefwechsel 73 ff.

Briefe von 1749—1760 77-81. Briefe von 1760-1770 81-86. Briefe von 1770—1781 41. 86—94. Brief an Herz (1772) 74.

506 Register. Über Pädagogik (Rink) 224. 266. ! Opus posthumum 275. 818 888 f. | Vorlesungen üb. d. Metaphysik 28. 226. 275. 292. 302. 307 ff. 486.

Briefe von 1781—1788 94— 115. Brief an Herz (1786) 282.

Brief an Reinhold (1787) 51. Brief an Herz (1789) 289.

. Reflexionen 74.

Verfasser besprochener Novitäten.

Aars 4185. Hönigswald 229. 280. : Ribert 268. Ascher 483. Hyslop 486. | Ruyssen 487. Attensperger 488. Jerusalem 236. Schanz 395. Baumann 216. Minkel 229. | Scheler 481. oe ae > Kistiakowski 262. | Schmidt, K. 228. Boo ree 50. Lofkovits 288. v. Sehoeler 484. Ga ae Lehmen 393. Schultess 386. 479. arus 390 Leo XIII. 386. Schwarz 281. re 188. Leser 126. | Schweitzer 218. Cohen 187 ° Liebman 131. Sembritzki 272. Dana ©. Lindheimer 481. | Sorensen 396. Davide. 246. Lipps 242. | stage 472. avids £88. Liidemann 238. Steiner 189. Dimitroff 187. ne 486. | Straub 887. Dunan 490. | Marvin 148. | Eitzbacher 216. Mengel 221. ion es 490 Erdmann 269 Mercier 30. Ulrich 249. Fénart 261 | M'Ewen 128. Van Rovy 260. Festugiére 263. Monies 191. | Wagner 268. Gaede 488. 5 us 489. Walgrave 261. Gietmann 395. Nikoltschoff 244. Wartenberg 185.

Gizycki 487. (sutberlet 393.

v. Nostitz-Rieneck 397. 398.

396.

Weerts 222. 234. Werckmeister 129.

Haeckel 340. Petronievics 227. Willmann 256. Hafterberg 490. du Prel 486. | Windelband 248. v. Hartmann, A. 187. Rauschenplat 188. | Zabel 489.

v. Hartmann, E. 226. Regout 490. | Ziegler 247. Heinrich 390. Reininger 478. | Ziehen 185. Henry 232, Renouvier 246. | Zocooli 268.

A. W. Iayn's Erben, Berlin und Potsdam.

125587 entstudien;philosophische zeitschrift.