KANT UND GOETHE

ZUR GESCHICHTE DER MODERNEN WELTANSCHAUUNG

VON

»

GEORG SIMMEL

KURTWOLFF VERLAG LEIPZIG

öenmy

DEM HAUSE JASTROW IN ALTER FREUNDSCHAFT

IN die Zustände der Halbkulturen, aber auch in dieKultur vor der Herrschaft desChristen* tums pflegen wir die Einheit von Lebensele^ menten zu verlegen, die die spätere Entwicklung auseinandergetrieben und zu Gegensätzen aus* gestaltet hat. So hart der Kampf um die phy* sischen Existenzbedingungen, so unbarmherzig die Vergewaltigung des Individuums durch die gesellschaftlichen Forderungen gewesen sein mag zu dem Gefühl eines fundamentalen Risses innerhalb des Menschen und innerhalb der Welt, zwisdien dem Menschen und der Welt, scheint es vor dem Verfall der klassischen Welt nur ganz vereinzelt gekommen zu sein. Selbst Piatos Loslösung einer jenseitigen Welt der „Ideen'7 von der empirischen die sich ihm so wendete, als wäre die letztere von der ersteren, der allein im vollen Sinne realen, abgespalten wurde zunächst wieder rückgängig gemacht. Das Christentum erst hat den Gegensatz zwisdien

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dem Geist und dem Fleisch, zwischen dem na* türlichen Sein und den Werten, zwischen dem eigenwilligen Ich und dem Gott, dem Eigenwille Sünde ist, bis in das Letzte der Seele hinein empfunden. Aber da es eben Religion war, hat es mit derselben Hand, mit der es die Ent* zweiung stiftete, die Versöhnung gereicht. Es mußte erst seine bedingungslose Macht über die Seelen verlieren, seine Lösung des Problems mußte erst mit dem Beginn der Neuzeit zweifeU haft geworden sein, ehe das Problem selbst in seiner ganzen Weite auftrat. Daß der Mensch von Grund aus ein dualistisches Wesen ist, daß Entzweiung und Gegensatz die Grundform bildet, in die er die Inhalte seiner Welt auf* nimmt und die deren ganze Tragik, aber auch ihre ganze Entwicklung und Lebendigkeit be* dingen das hat das Bewußtsein erst nach der Renaissance als seine Ägide erfaßt. Mit diesem Herabreichen des Gegensatzes in die tiefste 6

und breiteste Schicht unser selbst und unseres Bildes vom Dasein wird die Forderung seiner Vereinheitlichung umfassender und heftiger/ in** dem sich das innere und äußere Leben in sich bis zum Brechen spannt, sucht es nach einem um so kräftigeren, um so lückenloseren Bande, das über den Fremdheiten der Seinselemente ihre trotz allem gefühlte Einheit wieder begreif* lieh mache.

Zunächst ist es das Gegenüber von Subjekt und Objekt, das die Neuzeit zu schärfstem Gegensatz herausarbeitet. Das denkende Ich fühlt sich souverän gegenüber der ganzen, von ihm vorgestellten Welt, das: „Ich denke, und also bin ich und also ist auch die Welt" ~> wird, wie umgestaltet und weiterentwickelt auch immer, zur einzigen Unbezweifelbarkeit des Daseins. Aber andrerseits hat diese objektive Welt doch eine unbarmherzige Tatsächlichkeit, gerade nach dieser Trennung erscheint das Ich

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als ihr Produkt, zu dem ihre Kräfte sich nicht anders als zu der Gestalt einer Pflanze oder einer Wolke verwebt haben. Und so entzweit lebt nicht nur die Welt der Natur, sondern auch die der Gesellschaft. In ihr fordert der Einzelne das Recht der Freiheit und Besonderheit, während sie ihn nur als ein Element, das ihren über** persönlichen Gesetzen Untertan ist, anerkennen will. In beiden Fällen droht die Selbstherrlichkeit des Subjekts entweder von einer ihm fremden Objektivität verschlungen zu werden oder in anarchistische Willkür und Isolierung zu ver^ fallen. Neben oder über diesen Gegensatz stellt die moderne Entwicklung den zwischen dem natürlichen Mechanismus und dem Sinn und Wert der Dinge. Die Naturwissenschaft deutet, seit Galilei und Kopernikus, das Weltbild mit steigender Konsequenz als einen Mechanismus von strenger, mathematisch ausdrückbarer Kau<* salität. Mag dies unvollkommen durchgeführt 8

oder durchführbar sein, mögen Druck und Stoß, auf die alles Weltgeschehen schließlich reduzierbar schien, noch anderen Prinzipien neben sich Raum geben mindestens bis zu den Weltanschau- ungsversuchen der letzten Gegenwart bleibt dieses Geschehen prinzipiell ein naturgesetzlich determiniertes Hin** und Herschieben von Stoffen und Energien, ein abrollendes Uhrwerk, das aber nicht, wie das von Menschen konstruierte, Ideen offenbart und Zwecken dient. Durch das mechanistisch** naturwissenschaftliche Prinzip scheint die Wirklichkeit in völligen Gegensatz zu allem gestellt, was dieser Wirklichkeit bis dahin Sinn zu geben schien : sie hat keinen Raum mehr für Ideen, Werte, Zwecke, für religiöse Bedeutung und sittliche Freiheit. Aber da der Geist, das Gemüt, der metaphysische Trieb ihre Ansprüche an das Dasein nicht aufgeben, so erwächst dem Denken, seit dem 17. und be^ sonders dem 18. Jahrhundert die große Kultur**

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aufgäbe, die verlorene Einheit zwischen Natur und Geist, Mechanismus und innerem Sinne, wissenschaftlicher Objektivität und der gefühlten Wertbedeutung des Lebens und der Dinge auf einer höheren Basis wiederzugewinnen.

ON zwei prinzipiellen Gesinnungen, z in sehr mannigfaltigen Ausgestal* tungen die Kultur durchziehen, gehen die nächst* liegenden Vereinheitlichungen des Weltbildes aus : von der materialistischen und der spiritua* listischen jene alles Geistige und Ideelle in seiner Sonderexistenz leugnend und die Körper* weit mit ihrem äußeren Mechanismus für das allein Seiende und Absolute erklärend, diese um* gekehrt alles Äußerlich* Anschauliche zu einem nichtigen Schein herabsetzend, und in dem Geistigen mit seinen Werten und Ordnungen die ausschließliche Substanz des Daseins er* blickend.

Neben beiden haben sich zwei Weltanschau* ungen gebildet, deren Einheitsgedanke jenem Dualismus unparteiischer gerecht wird: die Kan* tische und Goethesche. Es ist die ungeheure Tat Kants, daß er den Subjektivismus der neueren Zeit, die Selbstherrlichkeit des Ich und seine Un*

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zurückführbarkeit auf das Materielle zu ihrem Gipfel hob, ohne dabei die Festigkeit und Be~ deutsamkeit der objektiven Welt im geringsten preiszugeben. Er zeigte, daß zwar alle Gegen- stände des Erkennens für uns in nichts anderem bestehen können, als in den erkennenden Vor^ Stellungen selbst, und daß alle Dinge für uns nur als Vereinigungen sinnlicher Eindrücke, also subjektiver, durch unsere Organe bestimmter Vorgänge existieren. Aber er zeigte zugleich, dal) alle Zuverlässigkeit und Objektivität des Seins gerade erst durch diese Voraussetzung begreiflich würde. Denn nur, wenn die Dinge nichts sind als unsere Vorstellungen, kann unser Vorstellen, über das wir niemals hinauskönnen, uns ihrer sicher machen,- nur so können wirun- bedingtNotwendiges von ihnen aussagen, nämlich die Bedingungen des Vorstellens selbst, die nun von ihnen, weil sie eben unsere Vorstellungen sind, unbedingt gelten müssen. Müßten wirdarauf 12

warten, daß die Dinge, uns wesensfremde ExU stenzen, in unsern Geist von außen hineinge^ schüttet würden, wie in ein passiv aufnehmendes Gefäß, so könnte das Erkennen nie über den Einzelfall hinausgehen. Indem nun aber die vor^ stellende Tätigkeit des Idh die Welt bildet, sind die Gesetze unseres geistigen Tuns die Gesetze der Dinge selbst. Der Verstand, so drückt er es mit unerhörter Kühnheit aus, schreibt der Natur ihre Gesetze vor,- denn „Natur", d. h. ein begreiflich ^gesetzmäßiger Zusammenhang des Daseins, wird das Chaos der Sinneneindrücke, eines bloßen blinden Materials, erst dadurch, daß es von den ordnenden Kräften unseres Ver* Standes in geordnete Reihen eingestellt wird, Das Idh, die nidit weiter erklärliche Einheit des Bewußtseins, bindet die sinnlichen Eindrücke zu Gegenständen der Erfahrung zusammen, die unsere objektive Welt restlos ausmachen. Da** hinter, jenseits aller Möglichkeit des Erkennens,

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mögen wir uns die Dinge*an*sich denken, d. h.

also die Dinge, die nicht mehr für uns da sind/

und in ihnen können alle Absolutheiten der Ver*

nunft, alle Forderungen des Gemüts, alle Ideale

der Phantasie verwirklicht sein, während sie in

der Welt unserer Brfahrungen, die für uns

allein Objekt sein kann, keine Stelle finden.

Genauer angesehen, ist die Kantische Lösung

des Hauptproblems, des Dualismus von Sub*

jekt und Objekt, Geistigkeit und Körperlichkeit,

die: daß diesem Gegensatz die Tatsache des

Bewußtseins und Erkennens überhaupt unter*

gebaut wird,- die Welt wird, mit allen Fremd*

heiten ihrer Inhalte, durch die Tatsache be^

stimmt, dal) wir sie wissen. Denn auch die

Bilder, in denen wir uns selbst erkennen und

für uns selbst existieren, sind, ebenso wie die

körperliche Welt, die Erscheinungen eines Et*

was, das uns in seinem An-sich verborgen ist.

Körper und Geist sind Erscheinungen, Erfah* 14

rungen innerhalb eines allgemeinen Bewußtseins^ Zusammenhangs, aneinander gebunden durch das Faktum, dal) sie beide vorgestellt werden und den gleichen Bedingungen des Erkennens unterliegen. In der Erscheinungswelt selbst, innerhalb deren allein sie unsere Objekte sind, sind sie nicht aufeinander zurückführbar, weder der Materialismus, der den Geist durch den Körper, noch der Spiritualismus, der den Körper durch den Geist erklären will, sind zulässig, jedes muß vielmehr nach den ihm allein eigenen Gesetzen verstanden werden. Aber dennoch fallen sie nicht auseinander, sondern bilden eine Erfahrungswelt, weil sie von dem erkennenden Bewußtsein überhaupt, dem sie erscheinen, und seiner Einheit zusammengehalten werden, und weil jenseits beider die zwar nie erkennbaren, aber doch immerhin denkbaren Dinge*» an * sich ruhen,- und diese mögen so können wir glauben <— in ihrer Einheit den Grund jener

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Erscheinungen bewahren, die nun, von unseren Erkenntniskräffen ergriffen und zerlegt, in die Zweiheit von Geist und Körper, von empiri** schem Subjekt und empirisdiem Objekt aus** einandergehen. Während also die äußere Na** tur, als Objekt für uns, keine Spur von Geist enthalten darf, so daß die vollendete Wissen** Schaft von ihr nur Mechanik und Mathematik wäre, und während der Geist seinerseits völlig anderen, immanenten Gesetzen folgt, binden die beiden Gedanken des übergreifenden, erkennen** den Bewußtseins und des Dinges** an* sich, in dem ideale Ahnungen den gemeinsamen Grund aller Erscheinungen finden, beide zu einer ein** heitlichen Weltanschauung zusammen. Damit ist die wissenschaftlich**intellektualistische Deu** tung des Weltbildes auf ihren Höhepunkt ge** kommen: nicht die Dinge, sondern das Wissen um die Dinge wird für Kant das Problem schlechthin. Die Vereinheitlichung der großen 16

Zweiheiten: Natur und Geist, Körper und Seele gelingt ihm um den Preis, nur die wissen** schafilichen Erkenntnisbilder ihrer vereinen zu wollen,- die wissenschaftliche Erfahrung mit der Allgleichheit ihrer Gesetze ist der Rahmen, der alle Inhalte des Daseins in eine Form: die der verstandesmäßigen Begreifbarkeit, zusammen** faßt.

Nach einer ganz anderen Norm mischt Goethe die Elemente, um aus ihnen eine gleich beruhig gende Einheit zu gewinnen. Allerdings fehlt ihm nicht nur die Systematik, sondern die ganze Ab** sieht der Philosophie als Wissenschaft: unser Gefühl vom Wert und Zusammenhang des. Weltganzen in die Sphäre abstrakter Begriffe zu erheben,- unser unmittelbares Verhältnis zur Welt, das innere Anklingen und Mitfühlen ihrer Kräfte und ihres Sinnes spiegelt sich, wenn wir wissenschaftlich philosophieren, in dem ihmgleich^ sam gegenüberstehenden Denken,- dieses drückt 2 17

in der ihm eigenen Sprache jenen Sachverhalt aus, mit dem es direkt gar nicht verbunden ist. Wenn ich aber Goethe recht verstehe, handelt es sich bei ihm immer nur um eine unmittelbare Äußerung seines Weltgefühles ,• er fängt es nicht erst in dem Medium des abstrakten Denkens auf, um es darin zu objektivieren und in eine ganz neue Existenzart zu formen, sondern sein un* vergleichlich starkes Empfinden der Bedeutsame keit des Daseins und seines inneren Zusammen** hanges nach Ideen treibt seine „philosophischen" Äußerungen hervor wie die Wurzel die Blüte. Mit einem ganz freien Gleichnis: Goethes Philo** sophie gleicht den Lauten, die die Lust** und Schmerzgefühle uns unmittelbar entlocken, wäh** rend die wissenschaftliche Philosophie den Worten gleicht, mit denen man jene Gefühle sprachlich*» begrifflich bezeichnet. Da er nun aber zuerst und zuletzt Künstler ist, so wird jenes natürliche Sich** Geben von selbst zu einem Kunstwerk. 18

Er durfte „singen, wie der Vogel singt", ohne daß seine Äußerung ein unförmig zudring** licher Naturalismus wurde, weil die Kunstform sie von vornherein, an ihrer Quelle, gestaltete gerade wie das wissenschaftliche Erkennen von vornherein durch bestimmte Verstandeskate* gorien geformt wird, die in der sachlich vorließ genden Erkenntnis als deren Formen aufzeigbar sind, Er selbst benutzt diesen Vergleich zur Erklärung eines Satzes, den er einmal zu Schiller ausspricht: „Nicht allein die Gegenstände der Kunst, sondern schon die Gegenstände zur Kunst haben eine gewisse Idealität an sich,- denn indem sie bezüglich zur Kunst betrachtet werden, so werden sie durch den menschlichen Geist schon auf der Stelle verändert/' Sein Betrachten der Dinge bedeutete schon, daß sie in künstlerische Formen <im weitesten Sinne des Wortes) auf* genommen, in sie hineingebildet wurden,- sie selbst, wie sie als Vorstellungen in ihm zustande v 19

kamen, waren künstlerische, weil sein Vor* stellen ein künstlerisches war. Es ist deshalb in Hinsicht auf die letzte und entscheidende Ge* sinnung vollkommen richtig, was, äußerlich ge* nommen, ganz unbegreiflich scheint, wenn er sagt: „Von der Philosophie habe ich mich immer frei erhalten." Darum wird eine Darstellung der Philosophie Goethes bis zu einem gewissen Grad ganz unvermeidlich eine Philosophie über Goethe sein. Nicht um Systematisier ung seines Denkens handelt es sich das wäre ihm gegen* über ein sehr minderwertiges Unternehmen ~- sondern darum, die unmittelbare Fortsetzung und Äußerung des Gefühls für Natur, Welt und Leben bei ihm in die mittelbare, abge* spiegelte, einer ganz anderen Region und Dirnen* sion angehörige Form des begrifflichen Denkens überzuführen.

Der entscheidende und ihn von Kant absolut scheidende Grundzug seiner Weltanschauung ist 20

der, daß er die Einheit des subjektiven und des objektiven Prinzips, der Natur und des Geistes, innerhalb ihrer Erscheinung selbst sucht. Die Natur selbst, wie sie uns anschaulich vor Augen steht, ist ihm das unmittelbare Produkt und Zeugnis geistiger Mächte, formender Ideen. Sein ganzes inneres Verhältnis zur Welt ruht, theoretisch ausgedrückt, auf der Geistigkeit der Natur und der Natürlichkeit des Geistes. Der Künstler lebt in der Erscheinung der Dinge als in seinem Element,- die Geistigkeit, das Mehr** als^Materie und ^Mechanismus, das seinem Hinnehmen und Behandeln der Welt allerdings erst einen Sinn gibt, muß er in der greifbaren Wirk*» lichkeit selbst suchen, wenn es für ihn überhaupt bestehen soll. Dies bestimmt seine besondere Bedeutung für die Kulturlage der Gegenwart. Die Reaktion auf den spekulativen Idealismus der Weltanschauung vom Beginn des 19. Jahrhun^ derts war der Materialismus der 50er und 60er

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Jahre. Das Verlangen nach einer Synthese, die beide in ihrem Gegensatz überwand, rief in den 70er Jahren den Ruf: zurück zu Kant! hervor. Aber die wissenschaftliche Lösung, die dieser allein geben konnte, forderte einen Ausgleich,- und den Weg zu einem solchen schienen die ästhetisdien Interessen zu weisen, die um die Jahrhundertwende die Führung des geistigen Lebens in weitem Ausmaß übernahmen und deren Weiterwirkung, in welchen Umsetzungen auch immer, aus den bevorstehenden Wen* düngen des deutschen Geistes nicht ausgelöscht werden kann. Indem sie eine Form boten, den Geist wieder in die Realität aufzunehmen, die sich der Kantischen entgegensetzte und sie irgendwie ergänzte, verdichteten sie sich in den Ruf: zurück zu Goethe! Für ihn sind die beiden Wege verschlossen, auf denen Kant jenen fun* damentalen Dualismus überwindet: er steigt nicht unter die Erscheinungen hinab, um sie, als 22

bloße Vorstellungen, durch das Ich oder die Erkenntnisfunktion umschließen zu lassen, noch kann er sich, über sie hinweg, mit der Idee der Dinge* an * sich und ihrer unanschaulichen, ab* soluten Einheit begnügen. An dem ersteren hindert ihn die Unmittelbarkeit seines geistigen Wesens, die ihm alles Theoretisieren über das Erkennen fernstellt.

„Wie hast du's denn so weit gebracht? Sie sagen, du habest es gut vollbracht/' „Mein Kind, ich habe es klug gemacht: Ich habe nie über das Denken gedacht/' Und:

„Ja, das ist das rechte Gleis,

Daß man nicht weiß, was man denkt,

Wenn man denkt:

Alles ist als wie geschenkt.''

Seiner im höchsten Sinne praktischen Natur

war die Beschäftigung mit den Vorbedingungen

des Denkens widrig, weil diese das Denken

selbst, seinen Inhalten und Resultaten nach, nicht

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förderten. „Das Schlimmste ist/' sagt er zu Eckermann, „daß alles Denken zum Denken nichts hilft,- man muß von Natur richtig sein, so daß die guten Einfälle immer wie freie Kinder Gottes vor uns dastehen, und uns zurufen: da sind wir." Die Abneigung gegen Erkenntnis^ theorie, die aus solchen Gründen seiner inneren Praxis hervorging, entfernte ihn von dem Kantischen Weg, in den Bedingungen des Erkennens, in dem Bewußtseinszusammenhang, der die empirische Welt trägt, die Versöhnung ihrer Diskrepanzen zu suchen obgleich er sich der Tiefe und Bedeutung dieses Gedankens keineswegs verschloß. Das Absolute aber, in dem diese Versöhnung gefunden wird, aus der Erscheinung heraus in die Dinge- an*» sich zu verlegen, würde für ihn die Welt sinnlos machen. „Vom Absoluten im theoretischen Sinne wag' ich nicht zu reden,- behaupten aber darf ich: daß, wer es in der Erscheinung anerkannt 24

und immer im Auge behalten hat, sehr großen Gewinn davon erfahren wird." Und ein andere mal: „Ich glaube einen Gott. Das ist ein schönes und löbliches Wort,- aber Gott anerkennen, wie und wo er sich offenbare, das ist eigentlich die Seligkeit auf Erden." Nicht außerhalb der Er^ scheinungen, sondern in ihnen fallen Natur und Geist, das Lebensprinzip des Ich und das des Objekts zusammen. Dieser anschauende Glaube hat in ihm sein äußerstes, das ganze Weltfühlen durchdringendes Bewußtsein erlangt. Auf der Voraussetzung, daß Natur und Geist, oder Wirklichkeit und Wert nicht ihrem Wesen nach auseinanderklaffen, sondern daß ihre tiefe Einheit an dem einzelnen Werk nur eine be^ sonders überzeugende Deutlichkeit gewinne darauf steht die Existenz jedes Künstlers. Sie würde leer und sinnlos sein, wäre er nicht über^ zeugt, daß die Schönheit und Bedeutsamkeit, die die Erscheinung unter seinen Händen annimmt,

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kein äußeres Hinzufägsel ist, sondern die eigent> lidie Wahrheit, das von allen Verfälschungen befreite Wesen dieser Wirklichkeit ausspricht. In diesem Sinne ist freilich jede Kunst „Naturalis* mus", weil für den Künstler als solchen „Natur" eben von vornherein die Einheit des Realen und des Idealen bedeutet. Wenn Goethe, nach seinem eignen Wort, „die Idee mit Augen sieht/' so heißt das, dal) ihm Wert und Vollendung der Dinge, die für uns andre nur wie ein mehr oder weniger traumhaftes Gebilde über ihnen zu schweben scheint, in ihrer Wirklichkeit wohnte, wie er sie zu sehen verstand.

Der tiefe Gegensatz der beiden Weltan* schauungen, die doch dem gleichen Problem gegenüberstehen, tritt in dem Verhältnis hervor, das sie beide zu dem berühmten Satz Hallers haben, daß „kein erschaffener Geist ins Innere der Natur dringt". Beide bekämpfen ihn mit förmlicher Entrüstung, weil er jenen Abgrund 26

zwischen Subjekt und Objekt verewigen möchte, den es gerade auszufüllen galt. Aber auf wie verschiedene Motive hin ! Für Kant ist der ganze Ausspruch ein logischer Widersinn, weil er die Unerkennbarkeit eines Objekts beklagt, das es als Objekt für uns gar nicht gibt. Denn da die Natur von vornherein nur Erscheinung, d. h, Vorstellung in einem vorstellenden Subjekt ist, so hat sie überhaupt kein Inneres. Wenn man von einem Inneren ihrer Erscheinung sprechen wollte, so sei es dasjenige, in das Beobachtung und Zer^ gliederung der Erscheinungen wirklich dringen. Wenn die Klage sich aber auf dasjenige be** zieht, was hinter aller Natur liegt, also nicht mehr Natur, weder ihr Außeres noch ihr Inneres ist so ist sie nicht weniger töricht, weil sie etwas zu erkennen verlangt, was seinem Begriff nach sich den Bedingungen des Erkennens ent** zieht. Das Absolute hinter der Natur ist eine bloße Idee, die niemals angeschaut, also audi

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nicht erkannt werden kann. Goethe hingegen, solcher erkenntnistheoretischen Überlegung ganz fern, verwirft jenen Spruch aus dem unmitteU baren Mitfühlen mit dem Wesen der Natur heraus :

Natur hat weder Kern

Noch Schale.

Alles ist sie mit einem Male.

Und:

Denn das ist der Natur Gestalt, Daß innen gilt, was außen galt.

Und:

Müsset im Naturbetrachten Immer eins wie alles achten, Nichts ist drinnen, nichts ist draußen, Denn was innen, das ist außen. Dal) das Tiefste, Innerste und Bedeutsamste, nach dem man sich sehnen kann, nicht auch in der Wirklichkeit ergreitbar sein sollte, ist ihm schlechthin unerträglich. Der ganze Sinn seiner künstlerischen Existenz wäre ihm dadurch er-* 28

schüttert. Wenn er deshalb jenem Spruch ent> gegenhält:

Ist niefit der Kern der Natur Mensdien im Herzen

so ist dies nur scheinbar der Kantischen Ansicht gleich, die die Natur und ihre Gesetze in das menschliche Erkenntnisvermögen, als dessen Produkte, hin ein verlegt. Denn Goethe will sagen: das Lebensprinzip der Natur ist zugleich auch dasjenige der menschlichen Seele, beides sind gleichberechtigte Tatsachen, aber hervorgehend aus der Einheit des Seins, die die Gleichheit des schöpferischen Prinzips in die Mannigfaltigkeit der Gestaltungen entwickelt,- so dal) der Mensch in seinem eigenen Herzen das ganze Geheimnis des Seins und vielleicht auch seine Lösung zu finden vermag. Der ganze künstlerische Rausch der Einheit von Innen und Außen, von Gott und Welt, bricht in ihm, aus ihm hervor. Solcher Behauptungen über die Dinge selbst enthält sich

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Kant. Er sagt nur das über sie aus, was sich aus den Bedingungen ihres Erkanntwerdens ergibt. Nicht weil Natur und Menschenseele ihrem Wesen, ihrer Substanz nach einheitlich sind, kann man das eine aus dem andern ab«* lesen, sondern weil die Natur eine Vorstellung in der Menschenseele ist, so dal) die Form und Bewegung dieser allerdings die allgemeinsten Gesetze jener bedeuten muß. Man kann den Gegensatz, um den es sich handelt, im Hinblick auf jenen Hallerschen Spruch zu einer kurzen Formel zuspitzen,- fragt man nach dem eigenen Wesen der Natur, so antwortet Kant: sie ist nur Außeres, da sie ausschließlich aus räumlich* mechanischen Beziehungen besteht,- und Goethe: sie ist nur Inneres, da die Idee, das geistige Schöpfungsprinzip, auch ihr ganzes Leben aus* macht. Fragt man aber nach ihrem Verhältnis zum Menschengeist, so antwortet Kant: sie ist nur Inneres, weil sie eine Vorstellung in uns 30

ist/ und Goethe: sie ist nur Äußeres, weil die Anschaulichkeit der Dinge, auf der alle Kunst beruht, eine unbedingte Realität haben muß. Goethe meint nicht, wie Kant, daß das geistige Innere des Subjekts das Zentrum der Natur sei,- sondern daß dieses letztere, wie und weil überall, so auch im Menschengeist zu finden sei. Beides sind gleichsam parallele Darstellungen des göttlichen Seins, das sich in der Natur, dem Äußeren, mit derselben Realität entwickelt, wie in der Seele, dem Inneren,- so daß die Natur ihre unbedingte äußere, anschauliche Wirklichkeit behält, ohne ihre Wesenseinheit mit dem Menschenherzen auf* zugeben, und dazu nicht erst, wie von Kant, in eineVorstellung in diesem verwandelt zu werden braucht. Beide stellen sich gleichmäßig jenseits des Gegensatzes von Materialismus und Spiri* tualismus. Kant, weil sein Prinzip die Materie und den Geist, die beide bloße Vorstellungen sind, gleichmäßig und gegensatzlos unter sich

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begreift, Goethe, weif beide, die er als absolute Wesen hinnimmt, doch unmittelbar eines bildeten,- er meint zu Schiller, die materialistischen Philo** sophen kämen nicht zum Geiste, die idealistischen aber nicht zu den Körpern, „und dal) man also immer wohltut, in dem philosophischen Natura Stande zu bleiben und von seiner ungetrennten Existenz den besten, möglichen Gebrauch zu machen".

Soll aber eine objektive, d. h. hier, über dem Bewußtsein gelegene Einheit des Seins ge*» sucht werden, so könnte sie für Kant nur in Gott liegen, den er ja auch ausdrücklich heran*» zieht, wo es sich um die Vereinigung der dU vergentesten Lebenselemente, der Sittlichkeit und der Glückseligkeit handelt: ein transszendenter Gott, ein Ding^an^sich, jenseits aller Anschau*» lichkeit des Seins. Für Goethe aber kommt alles darauf an, dal) die Einheit der Dinge nicht jen** seits der Dinge selbst liegt,- er verwirft nicht nur 32

den Gott, „der nur von außen stieße7' das würde auch Kant tun/ sondern, indem er das „Bedrängtsein" des göttlichen Prinzips in der Erscheinung anerkennt, betont er doch, wie sehr wir uns verkürzen, wenn wir es „in eine vor unserem äußern und innern Sinne verschwind dende Einheit zurückdrängen". Er kann sich die Einheit der Welt nur retten, wenn sie nicht in die Einheit eines Wesens projiziert wird, das, indem es der ihm gegenüberstehenden Welt die Einheit erst verliehe, sie in Wirklichkeit aus ihr heraussaugen würde.

Bei allen scheinbaren Analogien zwischen Goetheschen und Kantischen Anschauungen darf diese Grundverschiedenheit nie übersehen werden, daß Goethe die Gleichung zwischen Subjekt und Objekt von der Seite des Objekts her löst, Kant aber von der Seite des Subjekts, wenngleich nicht des zufälligen und personal^ differenzierten, sondern des Subjekts, das der 3 33

überindividuelle Träger der objektiven Erkennt** nis ist.

Wissenschaftlich methodisch angesehen, ist Kant natürlich der objektive, unparteiische Den** ker, Goethe der subjektive, das Daseinsbild nach seiner leidenschaftlichen Individualität gestaltende. Weltanschaulich aber, nach dem inhaltlichen Re** sultat, ist Kant der Subjektivist, der die Welt in das menschliche Bewußtsein hineinlegt und von dessen Formen gestalten läßt, während Goethe nur die selbstgenugsame Objektivität des Da** seins anerkennt, innerhalb dessen auch das Sub** jekt und sein Leben ein Pulsschlag des All* Lebens der Natur ist. Wenn Goethe also sagt: „War7 nicht das Auge sonnenhaft, Wie könnt' die Sonne es erblicken? War' nicht in uns des Gottes eigne Kraft, Wie könnt' uns Göttliches entzücken?"

so erscheint dies zwar als eine Paraphrase der 34

Kantischen Idee, daß wir die Dinge der Welt nur erkennen, weil und insofern ihre Formen a priori in uns ruhen. Tatsächlich aber ist es etwas ganz anderes. Goethe greift unter den Gegensatz von Subjekt und Objekt hinunter und gründet die Erkenntnisbeziehung zwischen ihnen auf eine Wesensgleichheit zwischen ihnen, wie es in primitiver Form schon Empedokles getan hatte, als er lehrte : dadurch, dal) die Ele- mente aller Dinge in uns selbst sind, können wir die Dinge erkennen: das Wasser durch das Wasser, das Feuer durch das Feuer in uns, den Streit in der Natur durch den Streit in uns, die Liebe durch die Liebe. Nicht das Auge bildet die Sonne, und kann sie deshalb erkennen wie man jenen Vers Kantisdi interpretieren müßte sondern Auge und Sonne sind gleichen objektiven Wesens, gleichberechtigte Kinder gött^ licher Natur, und dadurch befähigt, sich mir-* einander zu verständigen, sich ineinander auk* y .. 35

zunehmen. Die Kantische und die Goethesche Lösung des Weltproblems, die erkenntnistheo^ retische und die metaphysische wobei Goethe sozusagen keine Metaphysik hat, sondern Metaphysik ist verhalten sich wie zweierlei - Beziehungen von Menschen, die äußerlich an** gesehen den gleichen Inhalt und Bedeutung dar*» bieten, von denen die eine aber durch die sug** gestive Aktivität der einen Partei so daß sie die andere gleichsam nach ihrem Bilde und ihrem Ideal des Verhältnisses formt aufrecht erhalt ten wird, die andere aber durch die wurzelhafte Einheit und natürliche Harmonie beider Parteien.

Gerade in Hinsicht des Verhältnisses zwi^ sehen der mitgebrachten Innerlichkeit des Geistes und der Äußerlichkeit seiner Gegenstände ist die Polarität der beiden Weltanschauungen um so "bedeutsamer, je mehr eine gewisse formale Ähnlichkeit sie verdecken möchte. Daß Kant keine andere gegenständliche Welt als die innere

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halb unseres Bewußtseins anerkennt, gibt doch dem Tiefsten, Eigensten, Entscheidenden in uns keine andere Macht, als dal) es die Formen bietet, denen das passiv hinzunehmende Sinnes« material sich fügt, die es zu einer Gegenstands« weit gestalten. Wo dieses Material im letzten Grunde herkommt, ist für Kant gleichgültig,- es ist einfach gegeben, und zwar „von außen7' wenn dieses Außen auch nicht räumlichen Sinn hat, sondern nur den Ursprung außerhalb der geistigen Machtsphäre bedeutet, und wenn die besondere Qualität dieser Eindrücke auch durch die Verfassung unserer Sinnesorgane bestimmt ist. Aus einer unbedingt eigenen geistigen Ge« staltungskraft und einem nur Aufzunehmenden webt die Erkenntnis sich zusammen. Wie an« ders Goethe die Rollen des mitgebrachten Inne« ren und des hinzugebrachten Äußeren verteilt, zeigt am besten ein Wort, das, zunächst nur ein Selbstbekenntnis, doch die Art, wie er sich

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Erkenntnis da Ate, ganz allgemein verkündet: „Hätte ich nicht die* Welt durch Antizipation bereits in mir getragen, ich wäre mit sehenden Augen blind geblieben, und alle Erforschung und Erfahrung wäre nichts gewesen als ein ganz totes und vergebliches Bemühen."

Hier ist es also nicht die Form, sondern das ganze Dasein, die Einheit von Form und In** halt, die in irgendeiner geheimnisvollen Weise von dem Innern des Menschen mitgebracht wird. Das „Gesetz, nach dem du angetreten", ent^ wickelt auch das jedem mögliche und notwen^ dige Weltbild in ihm. Und Siegel und Vollen^ dung dieses innerlich Erwachsenden schildert er wenn auch zunächst nur für „besonders be^ gabte Menschen" so, dal) sie „zu allem, was die Natur in sie gelegt hat, noch in der äußeren Welt die antwortenden Gegenbilder suchen und dadurch das Innere völlig zum Ganzen und Gewissen steigern". Was außerhalb des Ich 38

liegt, liefert also nicht den Stoff zu dessen for** malen Funktionen, sondern zeigt die Ganzheit des wirklichen Daseins als Gegenbild des gei*> stigen, Der Leistungsvereinigung der Formung von innen und des Stoffes von außen bedarf es nicht „denn was innen, das ist außen7'. Mög^ lieh aber ist das, weil es ein Leben der göttlichen Natur ist, das sich, vollständiger oder bruch^ stückhafter, so in den Gebilden des Geistes dar** lebt, wie in den angeschauten Wirklichkeiten. Goethe gibt dem Geiste mehr und weniger als Kant. Er löst ihn nicht von dem Wurzelgrund der Natur los, um ihm dann eine gewissere maßen in der Welt einsame und für sich allein noch leere Formungsgewalt zu geben,- er läßt die erkannte Ganzheit des Daseins aus ihm sich entfalten, aber nur, weil und insofern die objektive Ganzheit des Daseins sich durch ihn hindurch ausspricht. Den Gegensatz des Innen und Außen, den Kant innerhalb des Geistes

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versöhnt, indem er dem Außen nur den „blin* den" Stoff entlehnt, den erst der Verstand zur „Natur" formt, hebt er von vornherein auf, weil das Innen und das Außen nur zwei Pulsschläge des einen „so natürlichen wie göttlichen" Lebens sind. Daß sich für Kant wie für Goethe das Sein aus dem Bewußtsein gebiert, erscheint so nur als die einheitlich erscheinende begriffliche Hülle, unter der sich zwei völlig verschiedene Verhältnisse zwischen Sein und Bewußtsein verbergen.

An diesem Punkt tritt die persönliche Wesens** richtung Goethes ganz besonders deutlich als Träger seiner Weltanschauung hervor. Als die glücklichste Beanlagung des Menschen in seinem Verhältnis zur Natur kann es wohl gelten, wenn die eigenste, nur den Bedürfnissen und Ten** denzen des Ich folgende Entwicklung zu einem reinen Aufnehmen und Bilde der Natur führt, als ob die Kräfte beider sich wie in einer vor* 40

bestimmten Harmonie äußerten, die einen den Index für die anderen bildeten. Diese Konstel^ lation traf bei Goethe auf das vollendetste zu. In allem, was er äußerte und wirkte, entwickelte er nur seine Persönlichkeit/ den ganzen Umkreis seiner Betrachtung und Deutung des Daseins erfüllte er, weil er sich selbst auslebte, und man hat den Eindruck, als ob ihm sein Bild der Na- tur, das, bei allen sachlichen Einwänden, immer*» hin eines von unvergleichlicher Geschlossenheit, Beobachtungstreue und Hoheit der Auffassung ist entstanden wäre, indem er nur die eigene Richtung seiner mitgebrachten Denk- und Ge*» fühlsenergien entfaltet hätte. So schreibt er am Anfang der italienischen Reise: „Manchmal macht's mich fürchten, daß so viel auf mich gleichsam eindringt, dessen ich mich nicht er** wehren kann -~ und doch entwickelt sidi alles von innen heraus." Deshalb beglückt es ihn auch so sehr, wenn er aus Schillers Äußerung

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über den Meister entnehmen kann, „dal) ich im Ganzen, was meiner Natur gemäß ist, auch hier der Natur des Werkes gemäß hervorgebracht habe". Nur deshalb darf er vom Künstler for* dem was nachher noch näher zu deuten ist ~, daß er „höchst selbstsüchtig" verfahre. Diese, glückliche, zur objektiven Natur harmonische Richtung seines subjektiven Wesens rechtfertigt es, daß er,obwohl dieses letztere mit völliger FreU heit entfaltend, überall die Natur zum Spiegel der eigenen Vergeistigung machend, doch immer be* haupten kann: er gäbe sich der Natur mit der größten Selbstlosigkeit und Treue hin, er spräche nur aus, was sie ihm diktiert, er vermeide jede subjektive Zutat, die die Unmittelbarkeit ihres Bildes trübte. Wir wissen von vielen der größten bildenden Künstler, und zwar auch solcher, die die strengste Stilisierung, die souveränste Umfor* mung des Gegebenen übten, daß sie sich für Na* turalisten hielten, ausschließlich das, was sie sahen, 42

abzuschreiben meinten. Tatsächlich sehen sie von vornherein so, dal) es zu dem Gegensatz innere halb des unkünstlerischen Lebens: zwischen der inneren Anschauung und dem äußeren Objekt

bei ihnen nicht kommt. Vermittelst der ge* heimnisvollen Verbindung des genialen Men* sehen mit dem Wesen alles Daseins ist sein ganz individuelles, eigengesetzliches Sehen für ihn und, im Maße seiner Genialität, auch für andere

zugleich die Ausschöpfung des objektiven Gehaltes der Dinge. In Goethe war es tatsädi* lieh ein ganz einheitlicher Prozeß, der sich von der einen Seite als Entwicklung seiner eigenen Geistesrichtung, von der anderen als Auf* nehmen undErkennen der Natur darstellte. Dar* um muß jene Kantische Vorstellung, daß unser Verstand der Natur ihre allgemeinen Gesetze vorschreibt, ihm innerlich völlig fremd, ja eigent* lieh widrig sein. Der Gegensatz von Subjekt und Objekt muß ihm damit unsäglich übertrieben

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erscheinen: jenes viel zu selbständig, statt de*» mütig aufnehmender Hingabe an die Natur ein vergewaltigendes Vorgreifen in sie,- dieses, mit der letzten Absolutheit seines Wesens dennoch nicht in das Subjekt aufgehend, der ungeheuren Anstrengung des Subjekts, es in sich einzu^ ziehen, spottend. Ihm, der sein Ich von vorn** herein gleichsam in Parallelität mit der Natur fühlte, mußte es scheinen, als ob die Kantische Lösung dem Subjekt einerseits zu viel, andrere seits zu wenig zuspräche, und als ob sie dem Objekte einerseits Gewalt antäte, statt sich ihm in Treue hinzugeben, während es ihr andrer** seits doch als ein Unerfaßbares ein „Ding an sich" aus den Händen glitte.

Mit dieser Konsequenz zeigen die beiden Welt** anschauungen auch in bezug auf die Grenzen des Erkennens die gleiche Entgegengesetztheit bei scheinbarer Verwandtschaft. Wie Kant fort** während die Unerkennbarkeit dessen betont, 44

was die Welt jenseits unsrer Erfahrung von ihr sei, so Goethe, daß hinter allem Erforsch^ liehen noch ein Uner forschliches liege, dal) wir nur „ruhig verehren" könnten, ein Letztes, Un^ sagbares, an dem unsre Weisheit ein Ende habe. Für Kant bedeutet dies die absolute, durch die Natur unsres Erkennens logisch gesetzte Grenze desselben,- für Goethe bedeutet es nur jene Schranke, die aus der Tiefe und dem ge^ heimnisvollen Dunkel des letzten Weltgrundes hervorgeht wie auch der Fromme sich be** scheidet, Gott hienieden ni cht schauen zu können, aber nicht eigentlich, weil er sich prinzipiell dem Schauen entzöge, sondern weil unser Schauen dazu einer erst im Jenseits gewährten Steige- rung, Kräftigung, Vertiefung bedürfte. Darum sagt er:

„Sieh, so ist Natur ein Buch lebendig. Unverstanden, doch nicht unverständlich."

Von den letzten Mysterien der Natur trennt

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uns freilich eine unendliche Entfernung, aber sie liegen doch gleichsam in derselben Ebene mit der erkennbaren Natur, weil es ja nichts als Natur gibt, die zugleich Geist, Idee, das Göti> liehe ist. Für Kant aber liegt das Ding^an^sich in einer völlig anderen Dimension als die Natur, als das Erkennbare, und man mag in dieser Region bis ans Ende fortschreiten, so wird man nie auf jenes treffen. Goethe schreibt einmal an Schiller: „Die Natur ist deswegen unergründ^ lieh, weil sie nicht ein Mensch begreifen kann, obgleich die ganze Menschheit sie wohl begreifen könnte. Weil aber die liebe Menschheit niemals beisammen ist, so hat die Natur gut Spiel, sich vor unsern Augen zu verstecken/' Nach den Kantischen Voraussetzungen aber ist dasjenige allerdings vorhanden, was Goethe hier als das Beisammensein der Menschheit vermißt. Jene Formen und Normen, deren Anwendung Er^ kennen bedeutet, weil durch sie eben erst das 46

Vorstellungsobjekt für uns geschaffen wird, sind nichts Persönliches, sondern sie sind das allge* mein Menschliche in jedem Individuum,- in ihnen liegt das Verhältnis restlos beschlossen, das die Menschheit überhaupt zu ihren Erkenntnis* objekten hat. Der Natur im allgemeinen gegen* über bestehen also nicht jene individuellen Un* zulänglichkeiten, die Goethe erst durch das Bei* sammensein aller auszugleichen glaubt. Deshalb ist für Kant die Natur prinzipiell völlig durch* sichtig und nur die Empirie über sie ist unvoll* ständig. Da für Goethe aberdieNatur selbst von der Idee, vom Absoluten durchdrungen ist, so kommt in der Natur selbst der Punkt, an dem die Intensität und Tiefe der Vorgänge uns weiteres Eindringen versagt,- für Kant, der das Über* sinnliche völlig aus der Natur hinausverlegt, liegt die Grenze des Erkennens nicht mehr inner- halb ihrer, sondern erst dort, wo sie Natur zu sein aufhört. Für Goethe ist es deshalb nur so*

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zusagen eine quantitative, keine prinzipielle In** konsequenz, wenn er gelegentlich zu Schiller äußert, die Natur habe kein Geheimnis, das sie nicht irgendwo dem aufmerksamen Beobachter nackt vor die Aupn stellte, und ein andermal meint: „Isis zeigt sich ohne Schleier nur der Mensch, er hat den Star" während Kant ab** solut inkonsequent wird, wenn er uns doch einen Blick in das Reich des Intelligiblen verstattet/ wo*» von wir übrigens hier nicht untersuchen, ob es ihm mit Recht oder Unrecht insinuiert wird.

Wenn man den Rhythmus der inneren Be<* wegungen dieser beiden Geister nach ihrem End** ziel bezeichnen darf ~- obgleich solche letzten Ziele nur der Ausdruck der Wesenskräfte und ihrer inneren Gesetze sind, nicht aber das selb** ständig gesetzte Ziel, das von sich aus jenen die Richtung gäbe so ist die Formel des Kantig sehen Wesens: Grenzsetzung, die des Goethes sehen: Einheit. Für Kant kam alles darauf an, 48

und so läßt sich seine gesamte Leistung zu** sammenfassen, die Kompetenzen der inneren Mächte, die das Brkennen und die das Handeln bestimmen, gegeneinander abzugrenzen: der Sinnlichkeit ihre Grenze gegen den Verstand, dem Verstand die sein ige gegen die Vernunft, der Vernunft die ihrige gegen den Glückseligkeits** trieb, der Individualität die ihre gegen das Allgemeingültige zu setzen. Damit sind zugleich in der Objektivität von Welt und Leben die Grenzstriche für die Kräfte, Ansprüche und Bedeutsamkeiten der Dinge selbst gezogen,- es gilt für ihn, das praktische wie das theoretische Leben vor den Übergriffen, Ungerechtigkeiten und Verschwommenheiten zu schützen, die aus dem Mangel genauer Grenzen zwischen den subjektiven ebenso wie zwischen den objektiven Faktoren hervorgehen. Als so grundlegend er die Bedeutung der Synthese anerkennt, so ist sie ihm doch sozusagen nur die natürliche Tat* 4 49

sache, die er vorfindet, und an der nun erst seine Aufgabe, die Analyse und Grenzsetzung zwischen den Elementen des Seins beginnt. Zu jener großen Absicht, das Subjekt mit dem Objekt in ein einheitliches Verhältnis zu setzen, brachte er, als Werkzeuge seiner Detailarbeit daran, von Natur gleichsam die Instrumente des Markscheiders mit. Ersichtlich verhält sich der Künstler den Erscheinungen gegenüber um** gekehrt. So sehr er auch zunächst das verwirrende Ineinander der Qualitäten, Betätigungen und Bedeutungen der Dinge auseinanderlegen muß, so macht doch seine innere Bewegung erst an der wiedergewonnenen Einheit Halt, der gegen** über alle Grenzsetzungen Interessen zweiten Ranges sind und die nur das Gegenbild der von vornherein bestehenden, durch den ganzen Prozeß hindurchwirkenden kosmischen Einheit ist. Ge- wiß ist die schließliche Einheit der Elemente und damit der Weltanschauung auch für Kant das 50

Definitivum. Aber die persönliche Note, mit der er gleichsam die Tonart der dahin mündenden Bewegungen bestimmt, ist doch das Interesse an der Grenzsetzung/ dies ist die große Geste, die seine Arbeit charakterisiert, wie die inneren Bewegungen Goethes in der Vereinheitlichung der Elemente ihren letzten Ausdruck finden: „Trennen und Zählen", bekennt Goethe, „lag nicht in meiner Natur",- und ausdrücklich sagt er : „Dich im Unendlichen zu finden, mußt untere scheiden und dann verbinden", während Kant die Verbindung vorfindet, und ihre Sdieidung für sein dringlichstes Problem hält. Für Goethe ist die Einheit das Helle, die Getrenntheit das Dunkle ~ für Kant umgekehrt.

Wie in Kant das Prinzip der Grenzsetzung, so setzt sich bei Goethe das der Einheit aus der allgemeinen Anschauung der Natur in die Einzelheiten fort. Indem die Einheit der Natur sich in diesen dokumentiert, muß sich unter ihnen 4- 51

eine durchgehende Verwandtschaft zeigen, die höchstens einer Abstufung des Entwidklungs» maßes, aber keiner prinzipiellen Verschiedenheit mehr Raum gibt. Die „Gott>Natur", die „göti> liehe Kraft, die überall entwickelt, die ewige Liebe, die überall wirksam ist", läßt keinen Punkt des Daseins aus der Umfaßtheit durch ihren abso** luten Wert heraus während für Kant aller** dings gleichfalls in der Natur keinerlei Unter** schiede des Wertes bestehen,- nun aber nicht, weil alles gleich wertvoll, sondern alles gleich wertfremd ist, Denn seine mechanistische An«» schauung verlegt alle Werte aus der Natur heraus, und noch am Menschenwesen in dasjenige, was an ihm über alles „Naturhafte" hinaus liegt. Zu jener, auf der Göttlichkeit der Natur gegründeten Wesensverwandtschaft aller Existenzen will ich nur ein paar Äußerungen Goethes hervorheben, die zugleich das plumpe Mißverständnis: seine angeblich hochmütig * aristokratische Weltan* 52

schauung, zurückweisen. Er betont einmal, daß zwischen dem gewöhnlichen Menschen und dem Genie doch eigentlich nur ein sehr geringer Unten* schied, gegenüber dem, was ihnen gemeinsam wäre, bestünde. „Das poetische Talent", sagt er ein anderes Mal, „ist dem Bauer so gut ge~ geben wie dem Ritter, es kommt nur darauf an, dal) jeder seinen Zustand ergreife, und ihn nach Würden behandle."

„Wollen die Menschen Bestien sein,

So bringt nur Tiere zur Stube herein/

Das Widerwärtige wird sich mindern,

Wir sind eben alle von Adams Kindern/'

Und endlich ganz umfassend: „Auch das Un*» natürlichste ist Natur. Auch die plumpste PhU listerei hat etwas von ihrem Genie. Wer sie nicht allenthalben sieht, sieht sie nirgendwo recht." Die Einheit der Natur ergreift für ihn also auch das, was nach der Skala der Werte aufs äußerste einander entgegengesetzt scheint.

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Weil Äußeres und Inneres des gleichen Wesens sind, und zwischen ihren letzten Gründen keine Grenzsetzung möglich ist, so kann die Ver** schiedenheit des Maßes, in dem sie sich zu den einzelnen Erscheinungen mischen, keine wesent** liehe Verschiedenheit dieser begründen. Und wie zwischen den Menschen, so innerhalb des ein^ zelnen Menschen. Er äußert den „Unmut", den ihm die Lehre von den unteren und oberen Seelenkräften erregt habe. In dem menschlichen Geist, sowie im Universum, sei nichts oben noch unten,- alles fordere gleiche Rechte an einen gemeinsamen Mittelpunkt, der sein geheimes Dasein eben durch das Verhältnis aller Teile zu ihm manifestiert. „Alle Streitigkeiten der Älteren und Neueren bis zur neuesten Zeit ent** springen aus der Trennung dessen, was Gott in seiner Natur vereint hervorgebracht. Wer nicht überzeugt ist, daß er alle Manifestationen des menschlichen Wesens, Sinnlichkeit und Ver^ 54

nunft, Einbildungskraft und Verstand zu einer entschiedenen Einheit ausbilden müsse, der wird sich in einer unerfreulichen Beschränkung immer** fort abquälen." Alles dieses würde Kant wohl prinzipiell auch zugeben,- allein gerade an dieser Tatsache hebt sich die Divergenz der Denkrich^ tungen am deutlichsten ab. Für Goethe kommt es auf die Einheit an, die trotz der Grenzen der Seelenvermögen besteht,- für Kant auf die Grenzen der Seelen vermögen, die trotz ihrer Einheit bestehen. Die Grenzsetzung ist für ihn das unmittelbare Korrelat der Einheit,- er sagt einmal, nachdem er zwischen nahe benachbarten Wissensgebieten eine scharfe Grenze gtzogtn hat: „Diese Absonderung hat noch einen be** sonderen Reiz, den die Einheit der Erkenntnis bei sich führt, wenn man verhütet, dal) die Grenzen der Wissenschaft nicht ineinanderlau^ fen, sondern ihre gehörig abgeteilten Felder ein^ nehmen."

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Es wird für immer ein Schauspiel von weit- geschichtlicher Symbolik sein, wie zwei der größten Geister aller Zeiten um die Verein- heitlichung der in Zersplittertheit sich darbieten- den Welt rangen,- wie die errungenen GestaU tungen, letzte und vorletzte, sich oft in sozusagen zwillingshafter Ähnlichkeit darbieten,- und wie zu dieser Ähnlichkeit in dem einen Richtungen des Seins und Wollens gewirkt haben, die denen des anderen im tiefsten fremd und entgegen** gesetzt sind. So entgegengesetzt, daß man von Feindseligkeit sprechen müßte, wenn nicht die Sphäre der höchsten Geistigkeit auch die un* versöhntesten Scheidungen in einen Burgfrieden schlösse. Niemand freilich wird sich unterfangen, zu entscheiden, ob unterhalb soldier Polaritäten doch noch eine letzte Einheit allen Geistes^ lebens liegt, die sich in jenen gleichsam punk^ tuellen Begegnungen wie aus der Ferne an^ deutet. So wenden beide sich gegen jene Ge^

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trenntheit der Erkenntniskräfte, auf der die überlieferten Theorien des Erkennens ruhten. Die Sinnesempfindungen, mit denen allein die äußere Welt sich uns kundzutun scheint, waren für den Sensualismus auch die alleinige Quelle und Gewähr des Wissens um die Welt,- der Rationalismus umgekehrt, alle sinnliche Er- kenntnis für bloßen Schein erklärend, sucht Wahr** heit allein in dem verstandesmäßigen, der lo- gischen Notwendigkeit nachgehenden Denken. Dem gegenüber erwies Kant die Erfahrung als das einzige uns gegebene Erkennen der Wirkliche keit zugleich aber, daß Erfahrung nicht das Hinnehmen der Sinneseindrücke ist, sondern deren Formung durch jene Notwendigkeiten des Verstandes. Nur wo der Verstand nach den ihm eigenen Kategorien die Synthese an den sinnlichen Gegebenheiten übt, entsteht uns, über deren Subjektivität und Zufälligkeit hinaus, das verläßlidie Erkenntnisbild der Gegenstände.

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Wenn nun auch für Goethe, wie ich anführte, die Getrenntheit der Seelenkräfte höchst ver*» werflich ist, wenn er ihr Wirken nur in Ein** heit anerkennt so spiegelt sich der tiefste Unterschied beider Wesenheiten darin, daß für Goethe das Erkennen eine unmittelbare orga** nische Funktion des Lebens ist, in dem Maße zulänglich und wahr, in dem es aus der Einheit des Grundes und des Weltverhältnisses eben dieses Lebens aufsteigt. Wird das Leben also in seiner Auseinanderzweigung in einzelne Seelen** kräfte angesehen, so wirken freilich diese alle zum Erkennen zusammen ,• allein in jeder einzelnen wirkt das ganze Leben und dessen einheitliche Wurzel ist doch schließlich das Her vortreibende und Bestimmende. Für Kant ist Erkenntnis die Synthese von eigentlich einander fremden, von verschiedenen Himmelsrichtungen des Geistes herkommenden Kräften,- auf Goethes Bild des Erkennens, mag er seine Geistesart auch selbst 58

als eine synthetische bezeichnen, paßt dieser Be- griff nicht. Denn er fügt nicht zuvor Getrenntes zusammen, sondern behauptet ein Ursprünge liches, vor aller Scheidung, die eine nachträgliche Synthese forderte, gelegnes Einssein. Die geistige Einheit, von der beide, im Gegensatz zu Sen** sualismus und Rationalismus, das Erkennen tragen lassen, ist bei Kant im Grunde eine mechanistische, bei Goethe dagegen eine vita*» listische zu nennen.

Entsprechend wenden sich beide gegen die Vorstellung von den „Naturzwecken". Dal) in der Natur geistige Kräfte in einer Art, die der menschlichen Zwecktätigkeit entspricht, real wirk*? sam walten,- daß Bau und Funktion der Or** ganismen die Absicht eines Baumeisters ver** raten, der sie menschlichen Maschinen analog konstruiert habe,- daß das Universum von einem göttlichen Bewußtsein darauf angelegt sei, als ein Mittel für das Wohl des Menschen zu dienen

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die Gegnerschaft gegen die Weltanschauung, von der dies die Äußerungen sind, offenbart die Gemeinsamkeit der Kantisdien und der Goethe^ sehen Kulturtendenz ,■ ihre Begründungen dieser Gegnerschaft offenbaren freilich ihre Differenz. VonNaturzwecken in einem irgendwie konkreten Sinne, so meint Kant, kann nur für die innere Struktur der Lebewesen die Rede sein. Denn nur an ihnen findet sich das Merkwürdige, daß der einzelne Teil und seine Wirksamkeit über*» haupt nur durch seine Beziehung auf das Ganze begriffen werden kann,- ein jeder dient in Wechsel** Wirksamkeit jedem anderen, d. h. er dient dem Ganzen, und nur indem wir Leben und Er- haltung dieses Ganzen als Endziel denken, wird unsdie Funktion jedes einzelnen Teiles verstände lieh im Unterschied gegen allen Medianismus, dem gemäß jedes Element einfach mit den in ihm gesammelten Energien weiterwirkt, so daß ein Ganzes sich nur als die Summe von Elementen 60

und Effekten ergibt, nicht aber zum Verständnis der einzelnen Wirkungen schon vorausgesetzt werden muß. Nun können wir uns aber ein Ganzes, das gewissermaßen vor seinen Teilen da wäre und deren Leistungen nach seinem Lebenszweck bestimmte, in keiner realen Weise denken. Dieses Ganze und sein Leben als Zweck besteht vielmehr nur als Idee eines mensch^ liehen Betrachters, der diese als Leitfaden für das Begreifen der organischen Funktionen benutzt. Als objektiv und in empirischer Anschauung gültig können wir nur das mechanistische Prinzip zulassen,- wenn wir aber dem Organismus gegen*» über jeden Teil fragen müssen; wozu dient er innerhalb des Ganzen? ~ so ist das ein sub^ jektives Hilfsmittel, das einzige, das nach der Art unseres Verstandes uns die Struktur des Lebewesens allmählich verstehen läßt. Daß dies in der Natur selbst objektiv, als eine bestimmende Absicht ihrer wirke, dürfen wir nicht behaupten.

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Dieser Kantisdien Theorie bekennt Goethe „eine höchst frohe Lebensepoche schuldig" zu sein vielleicht aber doch nur, weil er sie gar zu sehr in seinem eigenen Sinne deutete. Er hat nicht empfunden, daß das eigentliche Ideal, mit dessen Erreichung Kant das Verständnis auch der or** ganischen Natur für abgeschlossen halten würde, doch der Mechanismus des Geschehens ist,- nur daß Kant die Unmöglichkeit hiervon wohl zu^ gab, aber nur, weil unser Verstand eben nicht anders eingerichtet sei und sich deshalb der Teleologie als einer wie wir heute sagen würden bloßen Arbeitshypothese bedienen müsse. Goethe aber weist Wirklichkeit und Wirk^ samkeit von Naturzwecken aus ganz anderen Motiven zurück: Die Natur, sagt er, „ist zu groß, um auf Zwecke auszugehen, und hat es auch nicht nötig". Gründe für oder gegen die Teleologie, die in unserer Erkenntnisart liegen, entscheiden für ihn nicht. Aus dem Wesen der 62

Natur selbst heraus urteilt er, weil er in ihr seine Brkenntnis wurzeln fühlte,sodal) er in der letzteren gar keineBedingungen zu suchen brauchte, die nicht unmittelbar mit denen der ersteren zusammen* fielen eine Überzeugung, die seiner anderen von der Individualisiertheit und dem rastlosen Wechsel menschlicher Einsicht eben darum nicht widersprach, weil ihm dieNatur selbst einfließen* des und sich ewig neu gestaltendes, umgestalten* des Leben war. Er überwindet den Gegensatz zwischen den Erklärungen nacfi mechanistischen und nach Zweckprinzipien, indem ihm das Leben der Organismen wie des Weltganzen *- etwas Einziges, Unvergleichbares wie Unzerlegbares ist, das jenseits solcher einseitigen, der Ab* straktion verdankten Begriffe steht. Er findet zwar in der Natur „große Maximen ": Polarität und Steigerung, Metamorphose und Typen* bildung und andere,- allein damit beschreibt er nur die Formen, in denen sich ihr Leben voll*

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zieht, nicht aber die Triebkräfte dieses Lebens selbst, die vielmehr nur die eine sind das AlULeben überhaupt, das wir nicht weiter be* schreiben oder mit einem einzelnen Begriff decken können. So entfernt ist er von allem Mechanist mus, daß er den Naturgesetzen, wie er sie sich denkt, „Ausnahmen" zugesteht, auch diese freilich umfaßt von einem höchsten unaussprechlichen „Gesetz, von dem in der Erscheinung nur Aus*' nahmen aufzuweisen sind" so entfernt auch von allerTeleologie, daß er auch das Unnütze und Schädliche als ein Sinnvolles im „notwendigen Kreis des Daseins" anspricht. So ist die Zurückweisung der Naturzwecke bei beiden in den Grundpositionen und deren Unterschied ver*» ankert: Kant spricht aus unserer Wissenschaft* liehen Erkenntnismöglichkeit heraus, die für ihn das Sein einschließt, Goethe aus dem Sein heraus, das für ihn auch unsere Erkenntnis einschließt Alle Analogie der erscheinenden Resultate 64

also findet ihre innere Grenze von Seiten des letzten Motivs her, aus dem überhaupt ihre An* schauungsweise quillt und das bei dem einen ein wissenschaftliches, bei dem andern ein künstle* risches ist. Die Wissenschaft befindet sich immer auf dem Wege zu der absoluten Einheit des Weltbegriffes, kann sie aber niemals erreichen,- auf welchem Punkte sie auch stehe, es bedarf von ihr aus immer eines Sprunges in eine andre Denkweise: religiöser, metaphysischer, mora* lischer, ästhetischer Art um das unvermeid* lieh Fragmentarische ihrer Ergebnisse zu einer völligen Einheit zu ergänzen und zusammen* zuschließen. Das hat Kant sehr gut gewußt, und er bestimmt deshalb mit großer Entschiedenheit die Schranken nicht nur innerhalb seines Welt* bildes, sondern auch dieses Weltbildes selbst, so* weit er es als wissenschaftlich anerkennt, gegen* über demldealder unbedingten Einheit der Dinge. Für Goethe andrerseits wird die Grenze, bis

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zu der die Analyse gehen darf, durdi ein nicht weniger bestimmtes Kriterium gegeben/ sie ist ihm von dem Punkt an unzulässig, wo sie die Schönheit der Dinge zerstört. Schönheit, so könnte man in Goethes Sinne sagen, ist die Form, in der Stoff und Idee, oder Materie und Geist sich gegenseitig innewohnen. Daß Schön* heit da ist, daß wir sie empfinden, daß wir sie selbst bilden können, istdieGewähr dafür, daß jene Ein* heit der Weltelemente besteht, nach der die Ideen* bewegung der Zeit suchte, ist die Gewähr dafür, daß das geistige Subjekt und die objektive Natur sich begegnet sind,- und sie können sidh nur be* gegnen so darf man ihn weiter ausdeuten wenn und weil sie von vornherein identisch sind. Wir müssen vielleicht auf die geheimnisvolle Ge* stalt Lionardo da Vincis zurückgehen, um einen Zweiten zu finden, der die Welt so restlos ästhe* tiscfi genossen, so jede Wirklichkeit zugleich als Schönheit empfunden hat. Weil Schönheit die 66

Verkörperung ideellen Gehalts im realen Sein ist, so bedeutet die Durchgängigkeit ihrer Herr** schaff die Auflösung jenes fundamentalenGegen* satzes zwischen dem geistigen und dem natür* liehen, dem subjektiven und dem objektiven Prin* zip des Seins, bedeutet die Erkenntnis seiner Nichtigkeit. Darum findet Goethe in der Schön* heit das niemals trügende Kriterium für die Richtigkeit der Erkenntnis: in dem Augenblick, wo die ~- äußere oder intellektuelle Zer* gliederung des Objekts die Schönheit seiner Er* scheinung nicht mehr bestehen ließe, wären auch die Ergebnisse jener als unwahre erwiesen. Das Auseinanderreißen der Natur „mit Hebeln und mit Schrauben" ist ihm sozusagen theoretisch falsch, weil es ästhetisch falsch ist. Die Aner* kennung der Geognosie ringt er sich nur schwer ab, da sie „doch den Eindruck einer schönen Erd* Oberfläche vor dem Anschauen des Geistes zer* stückelt". Daher auch sein Haß gegen die Zer* 67

Stückelung Homers,- er will ihn „als Ganzes den* ken", weil er nur so seine Schönheit bewahre. Von analytischen Geistern, die die dichterisch synthe* tische Auffassung der Dinge zerstören, meint er:

„Was wir Dichter ins Enge bringen, Wird von ihnen ins Weite geklaubt. Das Wahre klären sie an den Dingen, Bis niemand mehr dran glaubt.".

In sehr tiefgreifender Weise bezeichnet dies das kleine Gedicht: „Die Freude." Er entzückt sich an den Farben einer Libelle, will sie in der Nähe sehen, verfolgt und faßt sie undsieht ein traurig, dunkles Blau. „So geht es dir, Zergliederer deiner Freuden !"Mit der zu weit getriebenen Zergliede* rung, die den ästhetischen Genuß zerstört, ent* schwindet also nicht etwa eine Illusion, sondern das ganz reale Bild des Gegenstandes. Ja, seine Abneigung gegen Brillen ist schließlich doch auch nur die gegen das scharfe Zerfasern der Er<* scheinungen, gegen das Zerstören des natürlich 68

schönen Verhältnisses zwischen den Objekten und dem aufnehmenden Organ. Mit mindestens teilweisem Recht meint Helmholtz, das letzte Motiv für seine Polemik gegen Newtons Farben*» lehre verrieten die Stellen, wo er über die durch viele enge Spalten und Gläser hindurchgequälten Spektra spottet, und die Versuche im Sonnen* schein unter blauem Himmel nicht nur als be* sonders ergötzlich, sondern auch als besonders beweisend preist. Die Zerstörung des ästhe~ tischen Bildes ist ihm zugleich die Zerstörung der Wahrheit. Die rechnerische Vorstellung der Dinge, wie die mathematische Naturwissenschaft sie durch Zerlegung in ihre, womöglich qualitäts* losen, Elemente gewinnt, muß ihm wegen ihres Mankos an ästhetisch*anschaulichem Werte ein ebenso großer Frevel und Irrweg sein, wie um* gekehrt für Kant dieses ästhetische Kriterium ein solcher gegenüber den Gegenständen des Naturerkennens wäre.

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DER großen Zweiheit der Weltelemente, durch deren mannigfaltige Versöhnungen hin sich die Weltanschauung der neueren Zeit entwickelt, steht eine andere zur Seite, die sich viel früher als jene aufarbeitet, in ihrem Bildungs** Schicksal aber mit ihr verwandt ist: der prak*» tische Dualismus zwischen dem Ich und der ge*» sellschafilichen Gesamtheit, aus dem man die Probleme der Sittlichkeit entspringen zu lassen pflegt. Auch hier beginnt die Entwicklung mit einem Indifferenzzustand: die Interessen des Ein*» zelnen und der Gesamtheit haben in primitiven Kulturen überhaupt noch keine nennenswerte oder bewußte Entgegengesetztheit: der naive Egoismus hat zwar gelegentlich, aber noch nicht prinzipiell einen anderen Inhalt als der Gruppen*» egoismus. Sehr bald freilich bildet sich mit der anhebenden Individualisierung der Persönlich*» keiten ein Gegensatz zwischen beiden heraus, und damit die Forderung an den Einzelnen, 70

sein persönliches Interesse dem der Allgemein** heit unterzuordnen: dem Wollen tritt ein Sollen gegenüber, der natürlichen Subjektivität ein ob*» jektives Moralgebot. Und abermals erhebt sich die Einheitsforderung: diesen Dualismus durch Unterdrückung der einen Seite oder durch gleich** mäßige Befriedigung beider aufzuheben/ wobei es sich hier ersichtlich um eine Lösung handelt, die den Wert des Lebens überhaupt auf sein Maximum bringt.

Die Antwort vollzieht sich bei Kant und Goethe in fast genauem Parallelismus mit dem Verhältnis ihrer theoretischen Weltanschauungen. Bei Kant durch ein objektives Moralgebot, das jenseits jeglichen besonderen Interesses steht,aber in der Vernunft des Subjekts wurzelt,- bei Goethe durch eine unmittelbare innere Einheit der siti> lich**praktischen Lebenselemente, durch eine die Gegensätze einschließende Natur des Menschen und der Dinge. Kants zentraler Gedanke be**

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ruht hier auf der völligen Scheidung zwischen der Sinnlichkeit und der Vernunft/ einen Wert erhalte das Handeln erst dadurch, dal) es unter absoluter Rücksichtslosigkeit gegen die erstere ausschließlich der letzteren gehorche. Diese aber enthält zwei Momente: einmal die Selbständige keit des Menschen, die verneint ist, sobald sinn** liehe Motive uns bestimmen, deren Anregung und Befriedigung von außen, von der Gegen* wart bestimmter Objekte abhängig ist,- zweitens die völlige Objektivität des Sittengesetzes, das mit allen individuellen Reserven, Besonderheiten und Velleitäten schonungslos aufräumt und den ganzen Wert des Menschen ausschließlich dar** auf gründet, daß er seine Pflicht erfüllt, und zwar nicht nur äußerlich erfüllt, sondern auch um der Pflicht willen,- sobald sich irgendein anderes Motiv als dieses in die Handlung mischt, hat sie keinen Wert mehr. Ist diese Bedingung aber erfüllt, so ist der Mensch in eine höhere, über* 72

empirische Ordnung eingestellt, und gewinnt so durch sein Handeln einen Wert, eine absolute Bedeutung, hinter der all sein bloßes Denken und Erkennen, das sich nur auf Empirisches und Relatives bezieht, weit zurücksteht.

An diesem letzteren, äußerst charakteristischen Punkte der Kantischen Lehre, dem „Primat der praktischen Vernunft vor der theoretischen" ist Goethe mit ihm völlig einverstanden. Unaufhör** lieh betont er, wieHandeln im sittlichen Sinne unser erstes Interesse zu bilden habe. Wie er es als der Weisheit letzten Schluß erklärt, daß man sich das Leben täglich praktisch erobere, wie er den Begriff des Menschen mit dem des Kämpfers identifiziert, so erklärt er, daß er überhaupt nur handelnd denken könne, und daß ihm alle bloße Belehrung direkt verhaßt wäre, wenn sie nicht zugleich seine Tätigkeit belebte. Der Primat der sittlich **prak^ tischen Tüchtigkeit vor aller bloßen Intellektua** lität und Theorie steht ihm ebenso fest wie Kant.

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Für ihre ethische Anschauung bedeutet dies die gleiche Übereinstimmung wie für ihre allge** meine Weltanschauung die Überwindung des oberflächlichen Dualismus der inneren und der äußeren Natur. Aber sogleich trennen sich, hier wie dort, die Wege oberhalb oder unterhalb dieser gleichsam nur punktuellen Gemein^ samkeit. Wie für Kant das Unerkennbare des Daseins ein absolutes Jenseits ist, von allem Gegebenen brückenlos geschieden, für Goethe aber nur die in das Mystische sich verlierende Tiefe der Anschauungswelt, in die der Weg von dieser, wenn auch unbeendbar, so doch ohne Sprung fährt so liegt für Kant der sittliche Wert in einer dem Wesen nach anderen Welt, als alles andere Dasein und seine Bedeutungen, von diesen aus nur durch eine radikale Wendung und innere „Revolution" zu erreichen. In der Goetheschen Anschauung aber ist der sittliche Wert mit den übrigen Lebensinhalten in einer 74

einheitlichen, kontinuierlich aufsteigenden Reihe verbunden, und sein auch für ihn unbezweifel*» barer Primat ist jenen gegenüber der Rang des primus inter pares. Jener fundamentale und un*» versöhnliche Wertunterschied zwischen der sinnlichen und der vernünftigen Seite unseres Wesens, auf dem die ganze Kantische Ethik steht, muß Goethe ein Horror sein wie über** haupt sein eigentlicher Todfeind der christliche Dualismus ist, der die Sichtbarkeit der Welt und ihren Wert auseinanderreißt. Die metaphysische Einheit der Lebenselemente muß sich für ihn praktisch in eine Werteinheit derselben umsetzen. Daß er, wie wir sahen, das Innere und das Äußere nicht trennen kann, daß er statt der „oberen und unteren Seelenkräfte" einen gemeinsamen MitteU punkt des psychischen Daseins fordert das entstammt doch wohl der in die letzten Tiefen seiner Persönlichkeit hineinreichenden und allem Beweisen und Widerlegen unzugänglichen Emp**

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findung einer Gleichheit und Harmonie aller unserer Wesensseiten in bezug auf den Wert, den jede besitzt. Wie für ihn in der anschaulichen Welt nichts so klein, flüchtig oder abseitsliegend ist, daß sich nicht seine ganze Aufmerksamkeit darauf richten könnte und dal) es ihm nicht zum Spiegel ewiger Gesetze, zum Repräsentanten der Gesamtheit des Alls würde, so läßt es in der subjektiven Welt die gewaltige Einheit seines Lebensgefühles nicht zu einem prinzipiellen Wert- unterschiede seiner einzelnen Energien kommen. Goethes Existenz wird durch das glücklichste Gleichgewicht der drei Richtungen unserer Kräfte charakterisiert, deren mannigfaltige Proportionen die Grundform jedes Lebens abgeben: der auf« nehmenden, der verarbeitenden, der sich äußern^ den. In diesem dreifachen Verhältnis steht der Mensch zur Welt: zentripetale Strömungen, das Außere dem Inneren vermittelnd, führen die Welt als Stoff und Anregung in ihn ein, zen- 76

trale Bewegungen formen das so Erhaltene zu einem geistigen Leben und lassen das Außere zu einem Ich und seinem Besitz werden, zentri* fugale Tätigkeiten entladen die Kräfte und In* hafte des Ich wieder in die Welt hinein. Wahr* scheinlich hat dieses dreiteilige Lebensschema eine unmittelbare physiologische Grundlage, und der seelischen Wirklichkeit seiner harmonischen Erfüllung entspricht eine gewisse Verteilung der Nervenkraft auf diese drei Wege ihrer Betäti* gung. Beachtet man nun, wie sehr das Über* gewicht eines derselben die anderen und die Ge* samtheit des Lebens irritiert, so möchte man ihre wundervolle Ausgeglichenheit in Goethes Natur als den physisch^psychischen Ausdruck für deren Schönheit und Kraft ansehen. Er hat innerlich sozusagen niemals vom Kapital gezehrt, sondern seine geistige Tätigkeit war fortwährend von der rezeptiven Hinwendung zur Wirklichkeit und allem, was sie bot, genährt,- seine inneren Be*

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wegungen haben sich nie gegenseitig aufgerieben, sondern seine ungeheure Fähigkeit, sich nach außen hin handelnd und redend auszudrücken, verschaffte jeder die Entladung, in der sie sich völlig ausleben konnte: in diesem Sinne hat er es so dankbar hervorgehoben, daß ihm ein Gott gegeben hat, zu sagen, was er leidet. So könnte man in seiner Denkrichtung aussprechen: wenn irgendeine Lebensenergie prinzipiell einer an** deren untergeordnet ist, so sei sie eben dadurch, daß sie diese ihr zukommende Stelle ausfüllt, ge* rade so wertvoll wie die höhere, die auch nichts kann, als ihre Funktion ausüben, und das eben erst im Zusammenwirken mit der ersterenkann,- so daß jene antiaristokratische Meinung über die annähernde Gleichwertigkeit der Menschen vor der er übrigens selbstverständlich im Em** pirischen und nach dem einmal rezipierten Maß** Stab den Unterschied zwischen der blöden Menge und den großen Menschen nie übersieht ~* ihre 78

Analogie innerhalb des einzelnen Menschen, in Beziehung auf seine Wesenselemente findet. Wenn ich vorhin die Einheit des Inneren und des Äußeren, des Subjektiven und des Objekt tiven, des Ideellen und des Realen als die Vor** aussetzung der künstlerischen Weltanschauung hervorhob, so kommen wir hier vielleicht auf die noch tiefere Fundamentierung dieses Funda^ ments,- jenes In^ und Miteinander der Welt«* elemente ist doch vielleicht nur der Ausdruck, man könnte sagen: die metaphysische Rechtfertig gung ihrer Wertgleichheit, die er empfindet. Das mag auch der Grund sein, weshalb das antike Un^ verhülltsein seiner sinnlichen Derbheiten immer künstlerisch wirkt, weil es jene Gleichberechti^ gung der Wesensseiten aufs schärfste verdeut* licht, die, zu einer allgemeinen Weltanschauung geformt, die Metaphysik aller Kunst ausmacht.

Indem ihm so das auf das eigene und sinnliche Glück gerichtete Ideal mit dem Vernunftideal

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eine Einheit bildet, erhebt er sich ganz über den Gegensatz zwischen eudämonistischer und ra* tionalistischer Moral, auf dem die Kantische Ethik ruht. Vielen Mißverständnissen gegenüber muß durchaus betont werden, daß seine Fremdheit gegen die logische Strenge der Vernunftethik ab* solut nicht bedeutet, er habe das Leben einem sinnlichen und Genußideal Untertan machen wollen. Ja, um seinen Abstand hiervon zu be* greifen: er kann es direkt aussprechen <1818), es sei Kants unsterbliches Verdienst, daß er die Moral „dem schwankenden Kalkül einer bloßen Glückseligkeitsrheorie entgegengestellt'7 und sie in ihrer höchsten übersinnlichen Bedeutung erfaßt habe. Das widerstreitet gar nicht dem Ausruf in den Lehrjahren: „O der unnötigen Strenge der Moral, da die Natur uns auf ihre liebliche Weise zu allem bildet, was wir sein sollen/' Denn die Ubersinnlichkeit, die er dort meint, ist eben nicht die Kantische, die einerseits eine ex* 80

klusive Vernunftherrschaft, andrerseits unsere Einstellung in eine transszendente Ordnung der Dinge bedeutet. Goethes Übersinnliches will hier nur die allumfassende Natur besagen, die freilidi ebensowenig einseitige Sinnlichkeit ist wie ein* seitige Vernünftigkeit. Das spricht er ganz un* zweideutig einige Jahre später in einem Briefe an Carlyle aus: „Einige haben den Eigennutz als Triebfeder aller sittlichen Handlungen an** genommen / andere wollten den Trieb nach Wohl* behagen, nadi Glückseligkeit als einzig wirksam finden,- wieder andere setzten das apo* diktische Pflichtgebot obenan: und keine dieser Voraussetzungen konnte allgemein an* erkannt werden, man mußte es zuletzt am ge* ratensten finden, aus dem ganzen Komplex der gesunden menschlichen Natur das Sittliche sowie das Schöne zu entwickeln," Die eigentliche Gr oß* artigkeit des Kantischen Moralismus, die uns immer wieder über seine Verengerung und V er* 6 81

einseitigung der Wertsphären tröstet, hat Goethe freilich niemals erfaßt. Das sittliche Sollen ist für Kant die eine Karte, auf die der ganze Wert des Lebens gesetzt ist,- und daran mußte Goethe vor allem die ungeheure Vergewaltigung aller anderen Lebensgebiete fühlen. „Alles Sollen ist despotisch/' sagt er, und ihm, dem aus der tiefen EinheitlichkeitdesSeinsdiegleichbereditigteFreU heit all seiner Elemente quoll, erschien dies un<* erträglich, weil er nicht in die Tiefe der Kan** tiscfien Lehre drang, in der dieses Sollen sich als die äußerste und unbedingte Freiheit des Ich offenbarte. Denn den„Despotismus" jenesSollens kann nach der Kantischen Deutung weder ein Gott noch ein Staat, weder ein Mensch noch eine Sitte uns auferlegen, sondern allein wir selbst. Die ganze Peripherie des Lebens erscheint Kant von Mächten mindestens mitbestimmt, die außerhalb des tiefsten Ich liegen, und nur an dem Punkte der sittlichen Freiheit, d.- h. an dem 82

Gesetze, das wir uns selbst auferlegen, bricht dieses hervor in unversöhnlichem Gegen« satz freilich zu dem Künstler, dem alles schein« bar Äußerliche der Ort für die Bewährung seiner tiefsten Persönlichkeitskräfte ist

Wenn unsere Natur einheitlich ist, weil die Natur überhaupt es ist, so zeigt sich damit der ethisch«praktische Konflikt nicht nur in uns, sondern auch außerhalb unser als nichtig. Sie muß das Ich und seine Interessen mit der so« zialen Gesamtheit ebenso versöhnen, wie die Sinnlichkeit mit der Vernunft. Daraus erklärt sich, daß Goethe den eigentlich sozialen Pro« blemen auch in ihren allgemeinsten Formen ganz fremd gegenübersteht. Denn immer handelt es sich in diesen darum, das unzulängliche oder verschobene Gleichgewicht zwischen dem Indi« viduum und seinem sozialen Kreise herzustellen. Goethe steht hier ganz auf dem Boden seiner Zeit, die von dem Einzelnen als Sozialwesen

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nur zu fordern pflegte, dal) er seine persönliche Kraft und Einzelinteresse ganz individuell be- währe. Völlig im Tone des landläufigen Liberalis- mus bemerkt er gegen die Saint ^Simonisten, dal) jeder bei sich anfangen und zunächst sein eigenes Glück machen müsse, woraus denn zuletzt das Glück des Ganzen unfehlbar ent* stehen werde. Allein ein tiefstes metaphysisches Motiv liegt dem zugrunde. „Glück" versteht er nicht als ein isoliertes Wohlbefinden desMenschen, sondern als sein harmonisches Verhältnis zum Ganzen des Seins, mit dem allein dieVollendet** heit des individuellen Seins zustande kommt. „Wenn man mit sich selbst einig ist," sagt er einmal, „ist man es auch mit andern." Sein Gefühl für die Einheit des Weltlebens duldet es nicht, daß zuhöchst, definitiv, die Vollen** dung einer persönlidien Existenz der Vollendung der andern widerspräche. Darum ist es allen* dings unmöglich, dal) jemand „Glück" in diesem 84

tiefen, den Umfang des Wesens erfüllenden Sinne, finde, ohne daß der Kreis, der für ihn die Welt bedeutet, die gleiche Entwicklung erführe, Diese vielleicht allzuschnelle Übertragung eines meta^ physischen A1U Gefühles auf empirische Ver** hältnisse wird, wie ich glaube, bei ihm durch ein ästhetisches Moment ergänzt. Er verlangt einmal vom Künstler, er solle „höchst selbstsüchtig" verfahren, nur das tun, was ihm Freude und Wert ist Für die Kunst ist dieser Liberalismus auch völlig angebracht, weil hier tatsächlich ein Maximum von Gesamtwert entsteht, wenn jeder Künstler seinem individuellen Ideale nachgeht,- und weil das objektiv Wertvolle der Kunst, das j enseits des Gegensatzes von Idi und Du steht sich dem Künstler allerdings in der Form eines persönlich leidenschaftlichen Begehrens darstellt. Für ästhetisch angelegte geringwertige Naturen droht hiermit freilich die Gefahr eines Liberi tinismus, der die ästhetischen Werte ausschliel)lidi

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ihrer subjektiven Genußseite wegen kultiviert, unter dem Selbstbetrug, dal) sie, als ästhetische, an sich selbst etwas Überindividuelles, objektiv Wertvolles seien. Solche Tendenz auf den Genuß als das Letztentscheidende lag Goethe völlig fern, wenn er das egoistische Prinzip betonte. Er war sich bewußt, nur seine einheitliche Pen» sönlichkeit zu entwickeln und dasselbe von andern zu verlangen die freilich eine sub*» jektive und eine objektive Seite hatte,- wobei es denn sozusagen nur eine technische Frage war, welche von beiden gelegentlich die Führung übernahm. Der künstlerische, der Produktion objektiver Werte sich bewußte Egoismus verhält sich deshalb durchaus kühl den Aufgaben gegen;* über, die aus der Spaltung der Individuen hervor*» gehen und deren Versöhnung nun gerade durch . den Verzicht aufallen Egoismus gewinnen wollen. Statt der Versuche, jenem sozialen Antagonist mus der Menschen eine bestimmte Form zu geben 86

oder ihn zu überwinden, interessiert Goethe vielmehr das „Allgemein *M enschliche" als der unmittelbare Ausdruck,sozusagen als die mensch* licheForm der metaphysischen Einheit der Natur,- die menschliche Natur ist ebensowenig eigentlich zu korrigieren, sondern nur zu entwickeln, wie unsere Theorie sie sich nicht durch künstliche, ihr Wesen alterierende Experimente, sondern nur durch ruhige Beobachtung ihrer freiwilligen Entfaltung nahe zu bringen habe. „In jedem Besonderen", so hofft er, „wird man durch Natio* nalität und Persönlichkeit hindurch jenes A1U gemeine immer mehr durchleuchten sehen." In ähnlicher Gesinnung hat dann Nietzsche, trotz oder wegen des leidenschaftlichen Interesses für den Menschen und die Gesamtentwicklung der Menschheit, eine absolute Gleichgültigkeit gegen alle sozialen Fragen an den Tag gelegt. Dagegen ist für den Sozialforscher oder ^politiker der Mensch überhaupt kein Problem, sondern nur

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die Menschen. Kants Moralgesetz ist, wie Schleiermacher sagte, „nur ein politisches": es gibt die präzise und erschöpfende Formel für denMenschen, der seinen sozialen Pflichten gleidi** sam von Natur feindlich gegenübersteht und ein Verhalten sudit, mit dem dennodi ein Zu** sammenleben aller möglich ist. Der äußere wie der innere Dualismus des Menschen bleibt für Kant, im Praktischen nicht weniger als im Theo*» retischen, im Vordergrund des Bewußtseins, und seine Lösung ist gleichsam nur eine labile, die , mit dem Weiterbestand des Konflikts rechnet. Wenn Goethe aber es als sein Ideal bezeichnet, „eine gewisse sittlich^freisinnige Übereinstim^ mung durch die Welt zu verbreiten/' so ist die Voraussetzung dafür die Negation eben jener Scheidung und Entgegengesetztheit zwischen Individuum und Gruppe und zwischen Gruppen untereinander, aus der die sozialen Probleme entspringen. Das kosmopolitische Ideal Goethes 88

ist Ausdruck und Gegenbild der einheitlichen Menschennatur, deren Wesensseiten sich gleich^ berechtigt durchdringen und so sehr der Aus** druck eines metaphysischen Sinnes sind, wie die Elemente der menschlichen Gesellsdiaft und der Welt überhaupt.

Da nun aber die Moral in dem landläufigen Sinne des Wortes sich auf jener von Kant ak^ zeptierten Spaltung innerhalb des Menschen und zwischen den Menschen erhebt, so kann die Goethesche Weltanschauung in diesem Sinne keine moralische heißen,- selbstverständ^ lieh ist sie darum keine unmoralische, sondern steht jenseits dieses Gegensatzes. Da die Na«» tur an sidi schon Ort und Darstellung der Idee ist, so ist das Höchste, wozu Menschen ge* langen, der Inhalt der höchsten Forderung an sie, daß sie das, was die Natur in sie gelegt hat, aufs vollständigste und reinste ausbilden. Das Moralische im engeren Sinne ist wohl

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eine Seite davon, aber weil es eben nur eine Seite ist, kann sie gelegentlich hinter einer an*» ders gerichteten zurücktreten müssen, wenn da- durch eine vollständigere Entwicklung der Na- tur oder der Idee der Person erreicht wird. Von Klopstock sagt er einmal, er wäre, „von der sinnlichen wie von der sittlichen Seite betrachtet, ein reiner Jüngling" gewesen. Daß er so die sinnliche Reinheit noch von der sittlichen unter- scheidet, zeigt einen Sittlichkeitsbegriff, der über die Moral im engeren Sinne weit hinausgeht: er deutet damit an, daß die sinnliche Reinheit noch lange keine sittliche, vielleicht sogar, daß die sittliche noch keine sinnliche zu sein braucht. So sind auch seine Vorstellungen über das Ver- hältnis der Geschlechter oder über die Taten Napoleons oder über die Verbindung des Ein- zelnen mit seiner Nation sicher den gewöhn- lichen ethischen Idealen keineswegs adäquat/ sie werden eben ganz von dem darüber gelegenen 90

Ideal der Natur beherrscht: dal) der Mensch so könnte man In Goethes Sinne sagen seine Triebe und Anlagen in der Art und mit der Auswahl zu entwickeln habe, daß ein MaxU mum von Gesamtentwicklung herauskommt. Da das Sein und der Wert nichts Getrenntes sind „am Sein erhalte dich beglückt!7' so ist die' höchste Steigerung des Seins auch die des Wertes. Ihren tiefsten Ausdruck scheint mir diese übermoralische Moral in dem folgen** den merkwürdigen Satz zu gewinnen, den er sich aus antiker Quelle aneignet: „Was die Menschen gesetzt haben (nämlich als Gesetze), das will nicht passen, es mag recht oder unrecht sein,- was aber die Götter setzen, das ist immer am Platz, recht oder unrecht." Uber den Gegen** satz von Recht und Unrecht, also über den am Kriterium der Moral entstandenen, stellt er hier einen höheren Begriff: das „Passen", d. h. die Fähigkeit der Einzelheit, sich in den letzten,

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höchsten Zusammenhang und Harmonie der Dinge einzustellen. Hiermit ist aufs entschied denste bezeichnet, wie weit er über den Mora^ lismus Kants hinausgeht. Kant sieht in dem sittlichen Menschen den Endzweck der Welt, den alleinigen, absoluten Wert. Der sittliche Mensch hat für ihn etwas Unendliches, weil er die Lösung eines eigentlich unlösbaren Konflikts ist. Diesen fundamentalen Zwiespalt gibt es für Goethe nicht. Darum kann audi die Moral nicht sein Absolutes und Letztes sein, sondern nur eines der Lebensprobleme und andern koordU niert während sie bei Kant die schlechthin ein*» zige Stellung einnimmt: allein aus der Welt des Lebens in die transszendente hinaufzureidien, in dem der Mens ch im sittlichen Handeln alle sinnlich** empirischen Triebfedern hinter sich läßt. Während er mit Goethe in dem negativen Teile derWerU frage übereinstimmt, und beide die Glücksemp** findung als definitiven Lebenswert weit von sich 92

weisen, bleibt Kant an dem Gegenteil haften, indes Goethe sich über den ganzen Gegensatz erhebt und die harmonische Einheit des Seins, in der Glück und Unglück, Sittlichkeit und Unsitte lichkeit nur einzelne Momente sind, als den letzten Sinn, das absolute Mal) alles Lebens er* kennt ~~ auch dies also einer der Fälle, in denen die Gleichheit eines erscheinenden Resultates oder eine gemeinsame Feindschaft nicht über die Gegenrichtung der Quellen täuschen darf, aus denen diese schließliche Gleichheit sich speist. Ich stehe nicht an, jenen angeführten Satz für eine der tiefsten und größten Deutungen vom Sinn des Daseins zu halten,- er läßt uns einen fundamen* talen Zusammenhang, eine gegenseitige Be* ziehung aller Dinge ahnen, in dem die Einheit der Natur besteht oder sich offenbart und demgegen* über es ein kleinlicher Anthropomorphismus ist, in dem zufälligen Ausschnitt, den wir als Moral bezeichnen, den Höhepunkt des Seins zu erblicken.

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Niemand wird die Kraft und Größe der Kantischen Überzeugungen leugnen wollen, daß nichts innerhalb, ja außerhalb der Welt denkbar wäre, was ohne Einschränkung gut genannt werden dürfe, als allein ein guter Wille,- daß aller religiöse Glaube nur als Folge und als Forderung der Moral ein Recht habe,- daß, wenn man einen Bndzweck der Natur über* haupt denken wollte, dies nur der Mensch unter moralischen Gesetzen sein könne. Dennoch ist es nicht ohne weiteres abzuweisen, daß hierin vielleicht ein Größenwahn des Menschen zum Durchbruch kommt. Man mag die Würde und Heiligkeit der sittlichen Freiheit und der Pflicht innerhalb des menschlichen Seins noch so hoch steigern,- aber daß sie über dessen Umkreis hin* ausgreift, um das metaphysische Weltbild zu dominieren das ist eine eigenartige Über* Steigerung, begreiflich aus einer Philosophie her* aus, der die Welt ein Bewußtseinsinhalt und 94

der Verstand der Gesetzgeber der Natur ist. Trotz der Verehrung, die Goethe stets für die Kantische Moral ausgesprochen hat die übrigens, soviel ich sehe, immer nur ihrer mensch*» lich^sittlichen. Bedeutung, nicht ihrer metaphysU sehen gilt ~, müßte ihm diese letztere als eine Unfrömmigkeit und Überhebung gelten. Denn es hat einen ganz anderen Sinn, wenn auch Goethe gelegentlich den Menschen als das End** ziel der Welt bezeichnet. Nach der Schilderung eines harmonisch vollendeten Menschen, dessen „gesunde Natur als ein Ganzes wirkt", fährt er fort: „Dann würde das Weltall, wenn es sich empfinden könnte, als an sein Ziel gelangt, aufjauchzen und den Gipfel des eignen Wer*» dens und Wesens bewundern. Denn wozu dient all der Aufwand von Sonnen und Planeten, von gewordenen und werdenden Welten, wenn sich nicht zuletzt ein glücklicher Mensch unbewußt seines Daseins erfreute?" Offenbar ist die Rieh**

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tung des Wertgefühles hier die umgekehrte als bei Kant. Für diesen kommt der Wert vom Menschen her über die Natur, für Goethe aber von der Natur her über den Menschen, dessen Vorzugstellung gerade nur darauf ruht, daß die Natur sich zu ihm, als zu ihrem höchsten Ge** bilde, emporentwickelt hat. Daß der Mensch als Endziel der Weltentwicklung gilt, setzt ihn bei Kant allem sonstigen Dasein gegenüber und in eine absolute Höhe, deren Schroffheit nach der Seite der Natur hin dadurch keineswegs ge^ mildert wird, daß nicht der empirische Mensch, sondern nur sozusagen die Idee seiner aber eben doch die Idee seiner auf ihr thront. Und dieses selbe, daß der Mensch als das End** ziel der Weltentwicklung gilt, stellt ihn für Goethe ganz in diese Entwicklung ein, läßt ihm aus dem Ganzen des natürlichen Seins den Wert zufließen, den Kant umgekehrt diesem Sein nur als eine Art ihm innerlich fremden Abglanzes 96

mens chlich vernünftiger Würde zu gewinnen weil).

Dal) das Handeln des Menschen eine Wert> bedeutung hat, die den bloß theoretischen Inhalt seines Wesens überragt, daß mit jenem sozu^ sagen seine Weltstellung eine tiefer gegründete, in die letzten Zusammenhänge enger verflocht tene ist, als wenn er, als Wissender, ein noch so treuer Spiegel der Wirklichkeit wäre das steht mit alledem freilich für beide Geister fest. Allein wenn man dies den „Primat der prak** tischen Vernunft vor der theoretischen" nennen kann, so hat dieser Ausdruck Kants für ihn einen anderen Sinn, als er für Goethe haben kann. Er bedeutet bei Kant, dal) wir aus den ethischen Interessen heraus einen Glauben an Gott, an unsere Freiheit, ja, an eine Existenz nach dem Tode gewinnen, die uns als Realie täten, d. h. als Gegenstände des Wissens völlig versagt sind. Wie uns die Sittlichkeit schon durch 7 97

die Selbstlosigkeit der Pflicht in eine übersinn** liehe Ordnung einstellt, so öffnet sie uns durch den moralischen Glauben den Blick in ein Reich der Gerechtigkeit, der Ausgleichung von Tu* gend und Glückseligkeit, das nicht von dieser Welt ist, und das dem auf die Erscheinungen der Wirklichkeit eingeschränkten Wissen ver* schlössen ist. Für Goethe aber handelt es sich darum, dal) wir mit der Tätigkeit und den durch sie realisierten Werten gerade erst unser Ver* hältnis zu der Gesamtheit der Welt eben der erscheinenden, der realen ganz vollziehen. Kants Primat der praktischen Vernunft vor der theoretischen besiegelt die abgründige Fremd* heit zwischen dem sittlichen Werte unserer Existenz und der Realität des Daseins, indem nur jener uns an eine Welt der Ideen, des Seinsollenden, des Metaphysisch- Guten rühren läßt, an die alle unsere auf Wirklichkeit ge* richtete Erkenntnis nicht heranreicht. Von der 98

ebenso zu benennenden Uberzeugung Goethes wird umgekehrt jene Kluß gerade überbaut, weil die rechte Wirksamkeit des Menschen ihn in die Totalität des Daseins einstellt, in der Sinnliches und Ubersinnliches, Brfahrung und Idee eine undurchbrochene Einheit bilden* ) . Wäh* rend bei Kant die Tat des Menschen zwei Seiten hat, die innere, unserem „Ding* an* sich" an* gehörige, und die äußere, allein wirklich erkenn* bare, und damit in zwei unversöhnten Welten wohnt, ist für Goethe die reine Tätigkeit, die im Sichtbaren verläuft und in das Empirische hineinwirkt, eben damit die Offenbarung der Idee des Menschen, mit ihr wird unser Sein ein Element und eine Kraft innerhalb der Welt, unser Letztes und Eigentlichstes in diese einordnend,

*>Ich sehe hier von gewissen dualistisch gestimmtenAußerungen Goethes, namentlich aus seiner Spätzeit, ab, da es sich hier nicht um Goethes Gesamterscheinung, sondern um diejenigen ihrer Seiten handelt, mit denen sich eine jedenfalls in sich geschlossene Weltanschauung, die das Gegenbild der Kantischen bietet, aufbaut.

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und im Maße unsres sittlichen Wertes, d, h. uns** rer „Reinheit" den absoluten Sinn des Seins über** haupt verwirklichend. Das Tun hat hier den Primat vor dem Erkennen, weil es die Welt in ihrer zugleich physischen und metaphysischen Vollendung bilden hilft, die am Erkennen erst ein nachträgliches Abbild gewinnt.

Und hier kann auch darauf hingedeutet wer** den, dal) Goethes Weltanschauung in letzter Instanz nicht nur über dem Moralismus, sondern auch über dem Asthetizismus stehen dürfte. Gewiß überragt das ästhetische Motiv bei ihm an Wirksamkeit alle in dem gleichen Niveau stehenden, und man kann es, wie wir es getan haben, überall zur Interpretation seines Stande punktes benutzen alle Einzelheiten führen dar- auf wie auf ihren Schnittpunkt hin. Allein den* noch liegt unterhalb seiner eine noch tiefere, so* zusagen elementarere Beschaffenheit, sein eigent* liebstes Sein, von dem auch das künstlerische 100

Motiv nur die Erscheinung und Darstellung in empirischem Material ist. Wenn sich nämlich das Goethesche Existenzbild so darbietet, dal) die Identität von Natur und Geist, das pan^ theistische Eins in Allem, Alles in Einem als Konsequenz seiner ästhetischen Grundten^ denz auftritt, so kann sehr wohl im letzten Fun** damente der Zusammenhang der umgekehrte sein : die tiefste Schicht seiner Natur, jenes ganz Primäre und Absolute, in dem alles eigentlich Benennbare des Wesens erst wurzelt, mag eben ein Gefühl von dem elementaren und ihn selbst einschließenden Zusammenhang alles Seins ge*» wesen sein. Mehr als irgend jemand, von dem wir wissen auch Spinoza nicht ausgeschlossen T-, scheint jene geheimnisvolle Einheit aller Exi** Stenz, an der die Philosophie von jeher herum** getastet hat, in ihm den Inhalt des Lebensgefühls selbst ausgemacht zu haben. Gerade wie man von religiös begeisterten Menschen sagt, dal) der

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Gott in ihnen lebt, so war offenbar in seinem subjektiven Existenzgefühl dasjenige lebendig, was man, um irgendeinen Ausdruck dafür zu haben, nur die metaphysische Einheit der Dinge nennen kann,- ja, daß sie so in ihm lebt, das machte ihn eben aus, das war es. Dieser Bestimmtheit seines Seins überhaupt gegenüber, die sich im Selbstbewußtsein erst spiegelt, erscheint seine künstlerische Anschauung und Betätigung doch nur als das Verhältnis, das eine so qualifizierte Natur zu der besonderen Richtung ihrer Talente, zu ihrer kulturell und historisch bestimmten Um* gebung, zu äußeren Anregungen und Wirkungs** möglichkeiten gewinnt, als ein Ausdruck seines eigentlichen Wesens, aber nicht als das Wesen selbst. Als Existenz überhaupt, gleichsam als Substanz, mit der er in die Formen und Be* wegungen der Welt eintritt, steht er jenseits des Ästhetischen, das sich vielmehr erst im Zu*» sammenschlage jener mit diesen Formen und 102

Bewegungen ergab und sein empirisches Bild gestaltete. Diese letztinstanzliche Bedeutsamkeit des Lebens, auf die man schließlich nur von einer unüberwindlichen Distanz her hinzeigen, die man aber nie mit unzweideutigen Begriffen ergreifen kann, muß der merkwürdigen Äußerung zu** gründe liegen, die er zu Eckermann tut, als von seiner Theaterleitung und den vielen, für sein künstlerisches Schaffen dadurch verlorenen Jahren die Rede ist. Im Grunde gereue ihn dieser Ver* lust doch nicht, sagt er. „Ich habe all mein Wir** kenundLeisten immer nur symbolisch angesehen, und es ist mir im Grunde ziemlich gleichgültig gewesen, ob ich Töpfe machte oder Schüsseln." So erscheint ihm selbst also sein künstlerisches Tun als ein bloßes Sich* Ausprägen, Sich^Um* setzen einer tiefer gelegenen Realität, statt dieses Letzte, eigentlich Wirkliche und Wirksame selbst zu sein. Von hier aus verstehen wir nun noch gründlicher sein fortwährendes Drängen auf

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praktische Betätigung, sein Fühlen und Werten seiner selbst als handelnden Wesens. Denn das Handeln ist die Form, durch die jener absolute Urgrund des persönlichen Seins in die sichtbare Wirklichkeit tritt und die deshalb im allerum- fassendsten Sinn die Einheit des Subjektiven und Objektiven ausmacht, das in der bloßen Theorie getrennt, einander gegenübergestellt erscheint.

Wenn für ihn nach alledem die Aufgabe des Menschen nur ist, seine Kräfte bis zum vollen Ausschöpfen aller Möglichkeiten zu entwickeln, damit gleichsam die Natur in ihm zu ihrem vollen Sinn komme, so zeigt doch jeder Blick auf das empirische Leben, daß es die Zeit und die Be*» dingungen zu einer so vollständigen Entwicklung nur sehr wenigen, vielleicht niemandem gewährt. In Wirklichkeit ist dies eine der großen Menschen** tragödien, daß die menschlichen Kräfte sich in menschlichen Verhältnissen nicht vollkommen 104

ausleben und entfalten können. Was als Be* gabung, als Spannkraft in uns lebt ganz ab** gesehen von Velleitäten könnte nur durch den merkwürdigsten Zufall die Möglichkeit restloser Bewährung finden / es fehlt hier, sichtbarer als sonstwo, die vorbestimmte Harmonie oder die nachbestimmende Anpassung. Und es handelt sich nicht nur darum, dal) das vollendete Werk Befriedigung auf uns zurückstrahle, sondern um diejenige eigentlich unerläßliche Genugtuung, die in der Lösung der gespannten Kräfte, in der Funktion, die unser Können ganz zum Ausdruck bringt, gelegen ist. Wo diese Inkommensurabilität zu vollem Bewußtsein gelangt, muß der Mensch untergehen. Das drückt Faust aus,- bliebe er in seinen ursprünglichen empirischen Verhältnissen, so würde er sich verzehren, die unentfalteten Kräfte würden ihn töten. Das Bündnis mit Me** phisto, die Herstellung seines Lebenswerkes durch dämonische Kräfte ist nur die positive

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Wendung davon: überempirische Verhältnisse müssen herbeigerufen werden, um die Ent> wicklung der Kräfte zu ermöglichen. Aus der Forderung an die Natur, daß es bei diesem Widerspruch nicht sein Bewenden haben könnte, entspringt die Äußerung zu Eckermann über die Unsterblichkeit: „Wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke, so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins anzuweisen, wenn die jetzige meinem Geist nidit ferner auszuhalten vermag." Und eine spätere Bemerkung betont nochmals den besonderen Sinn und Grund dieser Unsterblichkeit: wir seien zwar unsterblich, aber doch nicht alle „auf gleiche Weise",- vielmehr nur nach dem Maße der Kraft, die wir einzusetzen und auszuleben haben.

Es ist nun sehr merkwürdig, wie auch an diesem Punkt Kantische Argumente eine äußere Ähnlichkeit mit den Goetheschen zeigen, bei vöU liger Divergenz der grundlegenden Gesinnung. 106

Kant stellte fest, daß wir, als endliche und natura liehe Wesen, den Trieb nach Glückseligkeit als eine nicht zu leugnende und nicht zu beseitigende Tatsache in uns finden, gerade wie als moralisdie Wesen die Forderung des Sittengesetzes. Über diesen beiden Tatsachen erhebt sich das Verlangen nach ihrer Harmonie: die Weltordnung wäre nichts als eine große Dissonanz, wenn nicht das Mal) des genossenen Glücks dem Mal) der sittlichen Vollendung entspräche. Tatsächlich aber ist diese Proportion im irdischen Leben nicht vorhanden,- zwischen Sittlichkeit und Glückseligkeit zeigt die Erfahrung keinerlei gerechtes und harmonisches Verhältnis. Da man aber bei dieser Unerträglich** keit schledithin nicht Halt machen und sie nicht der Ordnung der Dinge als ein Endgültiges aufbürden kann, so postuliert Kant die Un^ Sterblichkeit der Seele, weil diese nur in einem Jenseits und durch den Maditwillen eines Gottes ihre Vollendung: die Harmonie ihres sittlichen

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und ihres eudämonistischen Seins finden kann. Es ist also sozusagen das gleiche Schema, in dem sich die Kantische und die Goethesche Un* Sterblichkeitslehre vollzieht/ beide finden gewisse Forderungen in der Wirklichkeit des mensch* liehen Wesens unmittelbar angelegt, zu deren Erfüllung es unter den empirischen Verhältnissen nicht kommen kann,- da sie aber bei diesem Widerspruch nicht stehen bleiben können, so beanspruchen sie von der Ordnung der Dinge, das Versprechen, das sie mit der Organisation unseres Wesens gegeben hat, wenigstens in einem Jenseits einzulösen. Nun aber zeigt sich sofort die tiefe Unterschiedenheit der Weltbilder: für Goethe könnte die Natur nichts so Sinnloses tun, als uns Kräfte zu verleihen, denen sie die Entwicklung abschneidet,- für Kant könnte sie nichts so Unmoralisches tun, als der Sittlichkeit ihr Äquivalent vorzuenthalten. Kant fordert die Unsterblichkeit, weil die empirische Entwicklung 108

des Menschen einer Idee nicht genügt, Goethe, weil sie den wirklich vorhandenen Kräften nicht genügt,- Kant, weil die an sich getrennten Ele* mente, Sittlichkeit und Glückseligkeit, doch eine Binheit gewinnen müßten, Goethe, weil der ganze einheitliche Mensch doch das in Wirk* lichkeit werden müßte, was er der Möglichkeit nach von vornherein sei. Man erkennt auch hier, daß Kant die Elemente des menschlichen Wesens außerordentlich weit auseinander treibt, so daß sie nur in ganz fernen und neuen Dimensionen und Ordnungen sidi wieder zusammenfinden können, während diese Einheit für Goethe in unserer unmittelbaren Wirklidikeit gegeben ist und es sich sogar in der Unsterblichkeitsfrage nur um eine konsequente Weiterentwicklung schon gegebener Richtungen handelt. Der Über* gang der Seele von dem irdischen in den trans* szendenten Zustand ist für Kant der radikalste, für den sein Denken Raum hat, für Goethe

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ein Fortschreiten in umgeänderter Richtung, ein bloßes Freiwerden vorhandener Energien. Auch dieser vorgeschobenste Posten der beiden Welt* anschauungen spiegelt ebenso den Rhythmus des Kantischen Wesens, das die Momente des Seins untereinander und von ihrem Wert schei* det, um sie erst oberhalb oder unterhalb der Wirklichkeit wieder zu versöhnen, wie den des Goetheschen, für den das Sein in sich und mit seinem Wert von vornherein ein einheitliches ist. Hier wie überall ist das Schema ihrer Diver* genzen dies, dal) Kant der Entwicklung eines analytischen Zustandes, Goethe der eines syn* thetischen genauer : eines noch vor dem Gegen* satz von Analyse und Synthese gelegenen ~ nachgeht. Goethe steht mit dem gesteigertsten Bewußtsein und der vertieftesten Begründung auf dem Boden undifferenzierter Einheitlichkeit, die der Ausgangspunkt aller geistigen Bewe* gungen gewesen ist. Kant akzentuiert die Zwei* 110

heit, in die diese auseinandergegangen ist; gegen« über jenem sozusagen paradiesischen Zustand hat bei ihm das scientes bonum et malum die äußerste Schärfe erlangt, die Einheit, die er ge^ winnt, trägt die Spuren der Entzweiung, die Nähte sind nicht völlig verwachsen*).

Aber eben jener Flug an ein äußerstes Ziel des Betrachtens und Empfindens der Welt hat Goethe über so manche Stationen sich hinweg* setzen lassen, die das langsame geschichtliche Vorschreiten nicht übergehen kann,- so mögen auf dem Zickzackweg der Geistesentwicklung Strecken kommen, die der Richtung des Goethe* sehen Weges, selbst wenn diese die definitive und objektiv richtige wäre, direkt entgegenlaufen. Und so stand es in der Wissenschaft der letzten hundert Jahre. Denn diese will oder wollte

•> Die ausführlichere Entwicklung dieses wie anderer hier berührter Motive findet sich in meinen Büchern : Kant, 3. Aufl. 1913, und: Goethe, 1913.

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wenigstens wirklich der Natur ihre Geheim* nisse mit Hebeln und mit Schrauben abzwingen,- sie will wirklich das Wahrheitsinteresse davon ganz unabhängig machen, ob es die Schönheit der Erscheinung zerstört oder nicht,- sie will wirk* lieh nicht von einer Idee des Ganzen, sondern von möglichst atomisierten Elementen ihren Ausgang nehmen,- sie sieht wirklich den seelen* losen Mechanismus zweckfremder Stoffe und Kräfte als einziges Konstruktionsprinzip des Naturbildes an,- ihr liegt aller Sinn, alle über* mechanische Bedeutung derselben hinter der Erscheinung, in dem Reich des Intelligiblen, das in das der Sichtbarkeit und Erfahrung nie und nirgends hineinreiche,- sie hat weder im Theo* retischen noch im Ethischen jenes Zutrauen zu dem unmittelbar harmonischen Verhältnis zwischen der Natur und unseren Idealen. In alledem ist dagegen Kant der Mitbegründer und Genosse des modernen wissenschaftlichen 112

Geistes,- er, der einerseits in allem Wissen nur so viel wirkliche Wissenschaft sah, wie Mathe** matik darin ist, und der andrerseits die Gültig* keit der Mathematik auf unsere Anschauungsart beschränkte und Erkennbarkeit allem absprach, was nicht unmittelbar erscheinen kann,- er, der den Geist und Zweck in der Natur für eine bloße „subjektive Maxime" ihrer Beurteilung erklärte, die ihr eigenes Sein gar nicht berühre/ er, der das Auseinanderklaffen unserer tiefsten Wesensbedürfnisse mit erbarmungsloser Schärfe erkannte, um dem Verlangen nach ihrer Har* monie schließlich das Almosen eines transszen* dierenden Glaubens zu gewähren. Wir können uns nicht verhehlen, daß die Gleichung zwischen diesen beiden Weltanschauungen noch nicht ge* fanden ist, so sicher erst mit ihr alles erfüllt wäre, was wir von unserem geistigen Verhält* nis zur Welt begehren. Vielleicht aber ist es irrig, nach einem stabilen Gleichgewicht beider 8 113

zu suchen,- vielleicht ist es der eigentliche Rhyth* mus und Formel des modernen Lebens, daß die Grenzlinie zwischen der mechanistischen und der Goetheschen Auffassung der Welt mag man sie metaphysisch, künstlerich oder vita- listisch nennen in fortwährender Verschiebung bleibe, so dal) die Bewegung zwischen ihnen, der Wechsel ihrer Ansprüche auf das Einzelne, die Entwicklung ihrer Gegenwirkungen ins Un* endliche dem Leben den Reiz gewährt, den wir von der unauffindbaren definitiven Entscheid dung zwischen ihnen erhofften.

Dies erscheint freilich als Epigonentum, wenn auch zugleich als Ausnutzung der Gunst, die die Natur der Sache den Epigonen gewährt: dal) sie, wenn ihnen die Größe der Einseitig* keit mangelt, dafür der Einseitigkeit der Größe entgehen. Vielleicht aber ist es doch noch mehr. Denn zunächst handelt es sich nicht um ein willkürliches Schwanken zwischen dem mecha- 114

nistischen und dem künstlerische vitalistischen Prinzip, sondern um die Anwendung des einen und des anderen auf getrennte Problemgruppen. Hier fehlt freilich das einheitliche Definitivum aber die Notwendigkeit eines solchen, ent* gegen einer auch in den Prinzipien pluralisti* sehen Anschauungsweise, ist ein bloßes Dogma,- und dieses selbst zugegeben, könnte die Einheit noch immer ein für uns im Unendlichen liegen** des Ziel sein, eines, das nicht prinzipiell, son* dem nur tatsächlich für uns unerreichbar ist. Allein der Kampf und die Alternierung zwischen den beiden Weltauffassungen fände noch tiefere Begründung, wenn man gewissen letzten Inten* tionen der Philosophie nachginge, die den Be* griff des Lebens in das metaphysische Zentrum rücken. Denn nun könnte die wechselnde Zu* wendung zu dem einen und dem anderen Mo* tiv unmittelbar der Pulsierung des Lebens über* haupt entsprechen, seinem überall bewährten

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Rhythmus, dessen einfachstes Zeichen das Bin** und Ausatmen ist/ oder der Kampf zwischen beiden offenbarte den kämpferischen Charakter aller Lebensbewegtheit, die unvermeidliche Par*» teiung, die deren äußere wie innere Form ist/ aber auch ohne eigentlichen Kampf sei es das Wesen des Lebens, den Widerspruch gegen den Inhalt jedes Momentes zu erzeugen, jedes Ge** setzte durch seinen Gegensatz und diesen wieder durch jenes zu ergänzen. Was man die Einheit beider nennen könnte, liege dann in dem Leben das sie gebiert und erlebt, eine Einheit, die ihrer Gegensätzlichkeit nicht das geringste abträgt, sondern gerade an dieser sich vollzieht. Ein Kompromiß, ein Halb** und Halbtum zwischen ihnen, das die Einheit wieder in die Sachgehalte, statt in deren Erleben legte, wäre gerade damit beseitigt. Für die Weltanschauung der jetzt wohl abgeschlossenen Geistesperiode bleibt der Besitz, den wir an den Parteien haben, an die 116

Formel gebunden: Kant oder Goethe! Die kommende Epoche aber wird vielleicht im Zei* chen von Kant und Goethe stehen, jede flaue Vermittlung zwischen ihnen ablehnend, ihre be** grifflichen Gegensätze nkht „versöhnend", aber sie durch die Tatsache ihres Brlebtwerdens ver^ neinend.

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KURT WOLFF VERLAG / LEIPZIG

REMBRANDT

Ein kunstphilosophisdher Versuch

3. 5. Tausend

IESER kunstphilosophische Versuch ist

-L^ ein Meisterwerk, weil selbst seine kühnsten Abstraktionen sich stets in innigster Nähe des Kunstwerkes selber vollziehen, da sie sich nie** mals auf eine abgeleitete Theorie, sondern stets auf den beweglichen und bewegenden Ursprung des gegenwärtigen Erlebnisses gründen.

von

GEORG SIMMEL

{Leipziger Tageblatt.)

GEDRUCKT BEI POESCHEL <&> TREPTE IN LEIPZIG

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